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German Pages 619 [620] Year 2015
Handbuch des Antisemitismus Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart
Handbuch des Antisemitismus Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart Im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin herausgegeben von Wolfgang Benz in Zusammenarbeit mit Werner Bergmann, Rainer Kampling, Juliane Wetzel und Ulrich Wyrwa Redaktion: Brigitte Mihok Band 1 Länder und Regionen Band 2 Personen Band 3 Begriffe, Theorien, Ideologien Band 4 Ereignisse, Dekrete, Kontroversen Band 5 Organisationen, Institutionen, Bewegungen Band 6 Publikationen Band 7 Literatur, Film, Theater und Kunst
Handbuch des Antisemitismus Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart Herausgegeben von Wolfgang Benz
Band 7
Literatur, Film, Theater und Kunst
De Gruyter Saur
Gefördert von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und der Hans-Böckler-Stiftung. Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Stiftungen dar. Für inhaltliche Aussagen tragen die AutorInnen die Verantwortung.
ISBN 978-3-11-025873-8 e-ISBN 978-3-11-034088-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039555-6
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Vorwort Im siebten Band des Handbuchs des Antisemitismus ist Judenfeindschaft in der Kultur Gegenstand der knapp 300 Lemmata. Antisemitismus ist in der Literatur, im Film, auf der Theaterbühne, in der Bildenden Kunst und Musik auf vielfältige und oft überraschende Weise artikuliert. Dass Wilhelm Raabes „Hungerpastor“ einschlägig zu verorten ist, gehört zur Allgemeinbildung – dass die Brüder Thomas und Heinrich Mann in frühen Jahren an einer eindeutig antisemitischen Zeitschrift („Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt“) mitarbeiteten, ist weniger bekannt. Heinrich Mann machte seine in frühen Jahren ausgeprägte Abneigung gegen Juden dann auch in seinem ersten Roman „Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten“ (München 1900, weitere Auflagen bis 6. Auflage 2006) überaus deutlich. Die zur literarischen Metapher stilisierte Person des Joseph Süßkind Oppenheimer, von 1733 bis 1737 Finanzienrat am Hof des Württembergischen Herzogs Karl Alexander, ist in Novellen und Romanen, in Theaterstücken und Opern seit seiner Hinrichtung 1738 zumeist als Inkarnation des bösen Juden dargestellt worden. Mehr als 20 Titel sind im Überblicksartikel „Jud Süß in der Literatur“ behandelt, darunter so bekannte wie Wilhelm Hauffs Novelle (1828), Lion Feuchtwangers Roman (1925) und die Studie von Selma Stern (1929) sowie weniger bekannte wie Paul Kornfelds Drama (1930) und Eugen Ortners Volksstück (1933) sowie die Opern von Detlev Glanert (1999) und Gottlieb Blarr (2000). Dem berüchtigten NS-Film „Jud Süß“ unter Veit Harlans Regie (1940) widmet sich ein eigener Eintrag, und in einem weiteren wird Jud Süß als Sujet des deutschen Nachkriegsfilms betrachtet. Einige weitere Themen erforderten zusammenfassende Darstellungen wie die nationalsozialistische Filmpolitik, die nationalsozialistische Kunstpolitik, die NS-Musikpolitik und die NS-Literaturpolitik, außerdem die Fülle antisemitischer NS-Filmproduktionen. Aus guten Gründen gibt es auch Lemmata, die den Überblick über Norwegische Kriminalliteratur oder Schwedische Karikaturen bieten. Sinnvoll erschien es in einigen Fällen zudem, Informationen zu bündeln wie im Artikel „Musikwissenschaft“, der für Deutschland und Österreich das 19. und 20. Jahrhundert zusammenfasst. Eine Inkunabel des gesellschaftlich akzeptierten Antisemitismus im Wilhelminischen Kaiserreich und darüber hinaus in der Weimarer Republik war das berüchtigte „Borkum-Lied“, das als Symbol des ausgrenzenden Bäderantisemitismus von Kurkapellen intoniert, von Badegästen gesungen und auf Postkarten verbreitet wurde: „Und wer dir naht mit platten Füßen Mit Nasen krumm und Haaren kraus Der soll nicht Deinen Strand genießen Der muss hinaus, der muss hinaus!“ Trotz der Sanktionen, mit denen nach dem Ersten Weltkrieg das infame Lied bekämpft wurde, entstanden neue Strophen, die bewiesen, dass Judenhass in der bürgerlichen Bevölkerung breiten Konsens fand. Unter dem Stichwort Judenspottkarten wird ein ähnliches Medium, weit verbreitet und wegen seines vermeintlichen Humors weithin akzeptiert, vorgestellt. In Deutschland im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, aber
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Vorwort
auch in vielen anderen Ländern in Mode, wurden die gängigen Stereotype gegen die Minderheit bildlich akzentuiert. Als Ansichts-, Gruß- und Glückwunschkarten waren sie ein Massenmedium, das die Botschaft der Judenfeindschaft transportierte und allgegenwärtig machte. Motive der Bildenden Kunst wie „Ecclesia und Synagoga“ oder die „Judensau“ und Medien wie Karikaturen im 19. Jahrhundert, Judenspottkarten, rechtsextreme Comics oder Stürmer-Karikaturen sind so ausführlich beschrieben und exemplifiziert wie einzelne Kunstwerke, etwa die Heiligengraber Hostienfrevelbilder aus dem 16. Jahrhundert oder Signorellis „Comunione degli Apostoli“, Kaulbachs „Zerstörung Jerusalems“ (1846) oder Liebermanns „Zwölfjähriger Jesus im Tempel“. In einem Lemma ist die Ausstellung „Entartete Kunst“ analysiert, thematisiert sind auch Monumente, die teils aus künstlerischen, teils aus politischen Antrieben kreiert oder nur geplant bzw. zerstört und wieder errichtet wurden wie das Mendelssohn-Bartholdy-Denkmal in Leipzig, das Richard-Wagner-Nationaldenkmal und das Fritsch-Denkmal. Als erstes antisemitisches Denkmal Deutschlands gefeiert, wurde 1935 im Berliner Bezirk Zehlendorf ein Monument zu Ehren des Publizisten Theodor Fritsch errichtet. Eine fast drei Meter hohe Bronze-Skulptur zeigte den Verfasser des „Antisemiten-Katechismus“, der als „Handbuch zur Judenfrage“ hohe Auflagenzahlen erlebte. Mit dem Denkmal wurde die Aufnahme der Ideologie des Judenhasses in den Kanon der Hochkultur propagiert. Dargestellt ist ein nackter Mann, der eine am Boden liegende drachenartige Gestalt bezwingt und ausholt, um ihr mit einem Hammer auf den Kopf zu schlagen. Kriegsbedingt endete die Existenz des Monuments 1943, als die Bronzefigur eingeschmolzen wurde. Das Lemma „Deggendorfer Gnad“ zeigt, wie lange antijudaistische Traditionen, transportiert durch Bilder, Wallfahrten und Volksfrömmigkeit, wirken. Eine neue Tradition entsteht vor anderem politischen und kulturellen Hintergrund, in der muslimischen Gesellschaft, mit neuem Vehikel, dem Fernsehen. Die 41-teilige TV-Serie „Faris bila Gewad“ [Reiter ohne Pferd] ist ein prominentes Beispiel dafür. Erstmals während des Fastenmonats Ramadan ab November 2002 von einem ägyptischen Privatsender ausgestrahlt, wurde die Serie in 22 arabische Staaten verkauft und häufig wiederholt. Als Leitmotiv des Historiendramas, das im 19. Jahrhundert im britisch dominierten Ägypten spielt, dienen die „Protokolle der Weisen von Zion“, die aktualisiert und kontextualisiert in den Dienst der antizionistischen Tendenz gestellt werden und mit einprägsamen Bildern beim Publikum antisemitische Übereinstimmung schaffen. Weithin unbekannte Quellen zum Schicksal der Juden wie die Tagebücher des rumänischen Arztes Emil Dorian (1891–1956) sind ebenso thematisiert wie das Tagebuch der Anne Frank, Informationen zum Film „Schindlers Liste“ finden sich neben Erläuterungen zur Judenfeindschaft im Bänkelsang oder in mittelalterlichen Passionsspielen. Anti-Antisemitische Karikaturen waren ebenso in den Katalog der Lemmata einzubeziehen wie die Sammlungen von antisemitischen Gegenständen. Antisemitismus oder dessen Bekämpfung im Kabarett ist in mehreren Beiträgen zu finden. Mittelalterliche Fastnachtspiele sind auf andere Weise als die Deutsche Wochenschau 1938–1945 für die Verbreitung von Judenfeindschaft wichtig gewesen, und den Stürmer-Karikaturen musste ebenso Raum gegeben werden wie dem von der iranischen Zeitung „Hamshari“ ausgelobten „Internationalen Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb“, mit dem 2006 auf
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die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung „Jyllands-Posten“ geantwortet werden sollte. Die Kontroversen um den Roman und den Film „Nackt unter Wölfen“ sind Gegenstand der Darstellungen wie Wilhelm Buschs Bildergeschichte „Plisch und Plum“ oder die Gemeinschaftskomposition „Jüdische Chronik“ als Reaktion auf die antisemitischen Schmierereien Weihnachten 1959. Bedeutende Dramen wie Shakespeares „Kaufmann von Venedig“, Rolf Hochhuths wirkungsreiches Stück „Der Stellvertreter“ und Thomas Bernhards „Heldenplatz“ sind im Handbuch vertreten; aber auch weniger überzeugende Beispiele der Verarbeitung antisemitischen historischen Geschehens wie „Defiant Requiem“ finden sich in diesem Band. Romane und Bühnenstücke, Filme und Werke der Bildenden Kunst sind als Vehikel der Judenfeindschaft behandelt und nicht zuletzt auch literarische Versuche, den Holocaust zu verstehen oder dem Antisemitismus zu wehren. Ein abschließender 8. Band wird in Bälde folgen. Er hat sich als notwendig erwiesen für Nachträge, aber auch für ausführliche Generalregister, die das Gesamtwerk erschließen. Der Verlag hat dankenswerterweise dieser Notwendigkeit ohne Vorbehalt zugestimmt und damit die langjährige gute Zusammenarbeit einmal mehr bewiesen. Der Dank an die Autoren ist obligat, aber herzlich, nicht minder der Dank an alle Mitwirkenden, an ihrer Spitze Brigitte Mihok, der Redakteurin und Chefin der Logistik des Handbuchs. Angelika Königseder hat auch für diesen Band wieder das Schlusslektorat übernommen und Korrektur gelesen.
Berlin, im Juli 2014 Wolfgang Benz
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Inhaltsverzeichnis A Abrahams Gold (Film von Jörg Graser, 1989). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 The Act of Killing (Film von Joshua Oppenheimer, 2012) → Holocaust Admonter Passionsspiel → Passionsspiele Adolf (Comic von Osamu Tezuka, 1983–1985) → Comics Affäre Blum (Film von Erich Engel, 1948). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Aktien (Theaterstück von Otto Glagau, 1877). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Allein unter allen (Comic von Miriam Katin, 2006) → Comics Alsfelder Passionsspiel → Passionsspiele Der alte und der junge König (Film von Hans Steinhoff, 1935) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Die Amazone (Novelle von Franz Dingelstedt, 1868) . . . . . . . . . . . . . . . . 7 An uns glaubt Gott nicht mehr (Film von Axel Corti, 1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Ånden i krukken (Erzählung von Johan Woll, 1941) → Norwegische Kriminalliteratur Anderssonskans Kalle på nya upptåg (Film, 1923) → Schwedische Kinoproduktionen Andorra (Drama von Max Frisch, 1961) 10 André Hugon-Filme (Frankreich, 1930– 1937). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Der Anfang der Wahrheit (Film von Sergiu Nicolaescu, 1994) → Începutul adevărului Angst (Buch von Jan T. Gross, 2012) → Strach Anne Frank-Tagebuch. . . . . . . . . . . . . . . 13 Anti-antisemitische Karikaturen . . . . . . . 15 Antijüdische Objekte → Sammlungen antijüdischer Objekte L’AntisÉmite (Film von Dieudonné, 2012). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Antisemitentheater → Das arische Theater in Wien
Apostelkommunion (Gemälde von Luca Signorelli, 1512) → Comunione degli Apostoli Die Arche → Jüdisch-Politisches Cabaret L’Argent (Roman von Émile Zola, 1891) → L’Argent (Film) L’Argent (Film von Marcel L’Herbier, 1928 und Film von Pierre Billon, 1936). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Das arische Theater in Wien (1898– 1903). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Die armen Polen schauen auf das Ghetto (Essay von Jan Błoński, 1987) → Biedni Polacy patrzą na getto Arrangement mit dem Tod (Roman von Hedda Zinner, 1984) → Die Schauspielerin Asch-Schatat (Fernsehserie von Fathallah Omar, Syrien 2003) . . . . . . 24 Assistenzarzt Dr. Feil (Film von Otto Dierichs, 1960) → Zwischenfall in Benderath Augsburger Heiligkreuzspiel (15. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Augsburger Passionsspiel → Passionsspiele Aus dem dunkelsten Berlin (KrimiReihe von Adolf Sommerfeld, 1920er-Jahre) → Das Ghetto von Berlin Aus Vergangenheit und Gegenwart (Erzählung von Marcus Lehmann, 1876) → Jud Süß in der Literatur Auschwitz (Comic von Pascal Croci, 2004) → Comics B Bänkelsang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bagatelles pour un massacre (Buch von Louis-Ferdinand Céline, 1937). . . . . . Ballade von der Judenhure Marie Sanders (Bertolt Brecht, 1937). . . . . . Der Befehl des Gewissens (Roman von Hans Zöberlein, 1937) . . . . . . . . . . . . Berlin Days. 1946–1947 (Buch von George Clare, 1989) → Taking Sides
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Inhaltsverzeichnis
Beruf Neonazi (Dokumentarfilm von Winfried Bonengel, 1993) . . . . . . . . . 34 Biedni Polacy patrzą na getto (Essay von Jan Błoński, 1987) . . . . . . . . . . . . . . . 38 Les bienveillantes (Roman von Jonathan Littell, 2006) → Die Wohlgesinnten (Roman von Jonathan Littell, 2008) Biercabaret Simplicissimus → Simpl Bildplakate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Bismarck (Film von Wolfgang Liebeneiner, 1940) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Den blodiga tiden (Film von Erwin Leiser, Schweden 1960) → Mein Kampf (Film von Erwin Leiser, Deutschland 1960) Blut und Boden (Film von Rolf von Sonjevski-Jamrowski und Walter Ruttmann, 1933) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Der Bockerer (Posse von Ulrich Becher und Peter Preses, 1946) . . . . . . . . . . . 42 Der Bockerer (Film von Franz Antel, 1981) → Der Bockerer (Posse) Bohemia, mein Schicksal (Roman von Jan Koplowitz, 1979) → Hotel Polan und seine Gäste Das Boot ist voll (Roman von Alfred A. Häsler, 1967) → Das Boot ist voll (Film) Das Boot ist voll (Film von Markus Imhoof, 1980). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Borkum-Lied. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Der Büttnerbauer (Roman von Wilhelm von Polenz, 1895). . . . . . . . . . . . . . . . 48 C Cabaret Fledermaus → Marietta-Bar Campo di fiori (Gedicht von Czesław Miłosz, 1943) → Biedni Polacy patrzą na getto The Canterbury Tales (Geoffrey Chaucer, 14. Jahrhundert). . . . . . . . . . 49 Carl Peters (Film von Herbert Selpin, 1941) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Le Carnet de chèques (Comic-Album von Caran d’Ache, 1892) . . . . . . . . . . 51
Le Chagrin et la pitié (Dokumentation von Marcel Ophüls, 1969) → Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm Christ und Jude → Hans Folz-Dichtung Chronik eines Mordes (Film von Joachim Hasler, 1965) → Zwischenfall in Benderath Comics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Comics, französische → Französische Comics Comics, rechtsextreme → Rechtsextreme Comics Comunione degli Apostoli (Gemälde von Luca Signorelli, 1512). . . . . . . . . 56 Conspiracy (Dokudrama, USA 2001) → Die Wannseekonferenz (Fernsehspiel von Heinz Schirk, 1984) Contra Iudaeos-Lieder (Michel Beheim, 15. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 D Daghani-Tagebuch (Rumänien, 1942– 1943). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Damen med kameliorna (Film, 1925) → Schwedische Kinoproduktionen David Golder (Roman von Irène Némirovsky, 1929) . . . . . . . . . . . . . . . David Golder (Theaterstück von Nozière, 1930) → David Golder (Roman) David Golder (Film von Julien Duvivier, 1931) → David Golder (Roman) Davids Witz-Schleuder → JüdischPolitisches Cabaret The Death Trap (Roman von Robert William Cole, 1907) . . . . . . . . . . . . . . Defiant Requiem („Konzert-Drama“). . . Deggendorfer Gnad. . . . . . . . . . . . . . . . . Deggendorfer Lied . . . . . . . . . . . . . . . . . Deuling-Tonwoche → Deutsche Wochenschau Deutsch-jüdischer Parnaß (Artikel von Moritz Goldstein, 1912) . . . . . . . . . . . Der deutsche Christus (Buch von Max Bewer, 1907) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsche Wochenschau (1938–1945). . .
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Inhaltsverzeichnis Die Diaspora (Fernsehserie von Fathallah Omar, Syrien 2003) → Asch-Schatat Dnewnik Pisatelja (Literarisch-politische Zeitschrift, 1873–1881) . . . . . . . . . . . Doktor Kohn (Drama von Max Nordau, 1898). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dollarmiljonen (Film, 1926) → Schwedische Kinoproduktionen Donauwellen (Komödie von Fritz Kortner, 1949) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorian-Tagebuch (Rumänien, 1938– 1944). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drame au Vel d’Hiv (Film von Maurice Cam, 1949) → Vélodrome d’HiverRazzia im Kinofilm Dreyfus (Film von Richard Oswald, 1930). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Duell mit dem Tod (Film von Paul May, 1949). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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E Ecclesia und Synagoga (Darstellungen des Mittelalters) . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Ecclesia und Synagoga (Darstellungen nach 1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 De Eeuwige Jood (Film, 1941) → Der ewige Jude Ehe im Schatten (Film von Kurt Maetzig, 1947) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Ein armer Christ schaut auf das Ghetto (Gedicht von Czesław Miłosz, 1943) → Biedny Polacy patrzą na getto Ein deutscher Minister (Roman von Salomon Kohn, 1886) → Jud Süß in der Literatur Ein ganz normaler Fall → Tatort Ein Lebender geht vorbei (Interviewfilm von Claude Lanzmann, 1997) → Shoah Ein Robinson (Film von Arnold Franck, 1940) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Ein Tag (Fernsehfilm von Egon Monk, 1965). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Eine Krone für Zion (Satirischer Essay von Karl Kraus, 1898) . . . . . . . . . . . . 93
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Elle s’appelait Sarah (Film von Gilles Paquet-Brenner, 2010) → Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm Emelka-Tonwoche → Deutsche Wochenschau En norsk amatørdetektivs eventyr (Kriminalroman von Thorvald Bogsrud, Kristiania/Oslo 1900) → Norwegische Kriminalliteratur Enderung und schmach der bildung Marie von den juden bewissen (Gedicht, Straßburg um 1515) . . . . . . 94 Endinger Judenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . 96 The Enemy in Our Midst (Roman von Walter Wood, 1906) . . . . . . . . . . . . . . 98 Entartete Kunst (Ausstellung 1937) . . . . 99 Entartete Musik (Ausstellung 1938) . . . 101 Entehrung und Schmach des Marienbildnisses durch die Juden (Gedicht, Straßburg um 1515) → Enderung und schmach Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede (Martin Walser, 1998) 103 Erik XIV (Film, 1928) → Schwedische Kinoproduktionen Die Ermittlung (Drama von Peter Weiss, 1965). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Der ewige Jude (NS-Propagandafilm von Fritz Hippler, 1940) . . . . . . . . . . 107 Der ewige Quell (Film von Fritz Kirchhoff, 1940) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Des ewigen Juden erster Fetzen (Johann Wolfgang Goethe, 1774) . . . . . . . . . 111 Ewiger Wald (Film von Hanns Springer, 1936). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 F Der falsche Messias → Hans Folz-Dichtung Faris bila Gawad (Fernsehserie von Muhammad Subhi, Ägypten 2002) 115 Fastnachtspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Father-Brown-Erzählungen (Gilbert K. Chesterton, 1909–1935) . . . . . . . . . . 118 Feinde (Film von Viktor Turjanski, 1940) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
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Inhaltsverzeichnis
Film-„Kunst“, Film-Kohn, FilmKorruption (NS-Propagandaschrift, 1937). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Fips → Stürmer-Karikaturen Flickorna på Uppåkra (Film, 1936) → Schwedische Kinoproduktionen Folz-Dichtung → Hans Folz-Dichtung Fox Tönende Wochenschau → Deutsche Wochenschau Frankfurter Dirigierrolle → Passionsspiele Frankfurter Passionsspiel → Passionsspiele Französische Comics . . . . . . . . . . . . . . 121 Friesennot (Film von Peter Hagen, 1935) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Theodor Fritsch-Denkmal (Berlin, 1935– 1943). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 From Hell to Hell (Film von Dmitri Astrachan, 1996) . . . . . . . . . . . . . . . 124 Die Fromme Helene (Bildergeschichte von Wilhelm Busch, 1872). . . . . . . . 126 Der Führer schenkt den Juden eine Stadt → Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet Furcht und Elend des III. Reiches (Dramatischer Szenenzyklus von Bertolt Brecht, 1937/38). . . . . . . . . . 128 G Gärungen – Klärungen (Roman von Adam Müller-Guttenbrunn, 1903) . . 130 Galerie historischer Gemaehlde (Samuel Baur, 1806) → Jud Süß in der Literatur Der Galiläer (Film von Dimitri Buchowetzki, 1921) → Jesusfilme Der Garten der Finzi Contini (Film von Vittorio De Sica, 1970). . . . . . . . . . . 131 Gebürtig (Film von Robert Schindel und Lukas Stepanik, 2002) . . . . . . . . . . . 133 Gedanken (Buch von Max Bewer, 1892) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Das Geheimnis des Golem → Tatort Der gelbe Fleck (Theaterstück, Warschau 1934) → Professor Mamlock (Drama von Friedrich Wolf, 1934)
Die Geschichte des Joseph Oppenheimer genannt Jud Süss (Theaterstück, 2011) → Jud Süß in der Literatur Die Geschwister Oppermann (Roman von Lion Feuchtwanger, 1933). . . . . 137 Das Ghetto von Berlin (Kriminalroman von Adolf Sommerfeld, 1923) . . . . . 139 Giriga händer (Film, 1937) → Schwedische Kinoproduktionen Die Glocke (Buch von Johann Gottlieb Munder, 1849) → Jud Süß in der Literatur Gockel, Hinkel und Gackeleia (Kunstmärchen von Clemens Brentano, 1811) . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Goldene Ernten (Buch von Jan T. Gross und Irena Grudzińska-Gross, 2011) → Złote żniwa Die Goldschilds (Roman von Friedrich Fürst Wrede, 1912). . . . . . . . . . . . . . 143 Golgotha (Film, Frankreich 1935) → Jesusfilme The Great Dictator (Film von Charlie Chaplin, 1940) . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 The Great War of England in 1897 (Roman von William Le Queux, 1894). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Groapa este în livada de vişini (Tagebuch von Arnold Daghani, Bucureşti 1947) → Daghani-Tagebuch Der große Diktator (Film von Charlie Chaplin, 1940) → The Great Dictator Das große Experiment (Gemälde von Ilja Glasunow, 1990) . . . . . . . . . . . . 148 Der große König (Film von Veit Harlan, 1942) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Der große Krach (Roman von Max Ring, 1875). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Les Guichets du Louvre (Film von Michel Mitrani, 1974) → Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm H Ha-Yehudi Zis (Theaterstück von Mordechai Avi-Shaul, 1933) → Jud Süß in der Literatur Hans Folz-Dichtung (15. Jahrhundert) 152
Inhaltsverzeichnis Hans Folz-Meisterlieder → Hans FolzDichtung Hans Westmar (Film von Franz Wenzler, 1933) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Der Heilige Kasimir → Litauisches Scheunentheater Heiligengraber Hostienfrevelbilder (Tafelbilder, unbekannter Maler, 1532). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Heimkehr (Film von Gustav Ucicky, 1941). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Der Heldenplatz (Drama von Thomas Bernhard, 1988) . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Der Herr Karl (Theaterstück von Carl Merz und Helmut Qualtinger, 1961) 159 Der Herr und die Bauern → Litauisches Scheunentheater Herren der Welt (Drama von Oskar Singer, 1935) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Der Herzog von Burgund → Fastnachtspiele Heute gehört uns die Straße (Buch, 1993) → Wahrheit macht frei (Dokumentarfilm) Hitlerjunge Quex (Film von Hans Steinhoff, 1933) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Höre Israel (Aufsatz von Walther Rathenau, 1897) . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Hollywood-Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Holocaust (TV-Serie, USA 1978) . . . . . 167 Hotel Polan und seine Gäste (Film von Horst Seemann, 1982) . . . . . . . . . . . 171 Hotel Terminus (Film von Marcel Ophüls, 1988) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Hugon-Filme (Frankreich, 1930–1937) → André Hugon-Filme Der Hungerpastor (Roman von Wilhelm Raabe, 1863). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Hustru för en dag (Film, 1933) → Schwedische Kinoproduktionen I Im Schlaraffenland (Roman von Heinrich Mann, 1900) . . . . . . . . . . . 177 In jenen Tagen (Film von Helmut Käutner, 1947) . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
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Începutul adevărului. Oglinda (Film von Sergiu Nicolaescu, 1994) . . . . . . . . . 183 Internationaler-Holocaust-KarikaturenWettbewerb (2006) . . . . . . . . . . . . . . 184 J Jahrestage (Roman von Uwe Johnson, 1970–1983). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Jahwismus → Kosmiker Jakob der Lügner (Roman von Jurek Becker, 1969) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Jedwabne-Debatte → Sąsiedzi Jesus Christ Superstar (Film, USA 1973) → Jesusfilme Jesusfilme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Jetzt und in der Stunde meines Todes (Film von Konrad Petzold, 1963) → Zwischenfall in Benderath Jew Suess (Film von Lothar Mendes, 1934) → Jud Süß in der Literatur Joseph Süß Oppenheimer, ein Finanzmensch des 18. Jahrhunderts (Abhandlung von Manfred Zimmermann, 1874) → Jud Süß in der Literatur Die Journalisten (Komödie von Gustav Freytag, 1852) . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Jud Sauer (Theaterstück von Adriana Altaras, 2002) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Novelle von Wilhelm Hauff, 1828) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Theaterstück von Albert Leo Dulk, 1848) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß oder Württemberg wie es war von 1734 bis 1737 (Roman von Theodor Griesinger, 1860) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Drama von Fritz Runge, 1912) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Roman von Lion Feuchtwanger, 1925) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß Oppenheimer (Buch von Curt Elwenspoek, 1926) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Studie von Selma Stern, 1929) → Jud Süß in der Literatur
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Inhaltsverzeichnis
Jud Süß (Drama von Paul Kornfeld, 1930) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Volksstück von Eugen Ortner, 1933) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Pamphlet von Oskar Gerhardt, 1936) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Buch von Hans Hömberg, 1941) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Studie von Barbara Gerber, 1990) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Studie von Hellmut G. Haasis, 1998) → Jud Süß in der Literatur Jud-Süß-Drama (Klaus Pohl, 1999) → Jud Süß in der Literatur Jud-Süß-Oper (Detlev Glanert, 1999) → Jud Süß in der Literatur Jud-Süß-Kammeroper (Gottlieb Blarr, 2000) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Film von Veit Harlan, 1940) 194 Jud Süß im deutschen Film nach 1945 197 Jud Süß in der Literatur. . . . . . . . . . . . . 201 Der Jude (Roman von Carl Spindler, 1827). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Der Jude im Dorn (Märchen von Jacob und Wilhelm Grimm, 1815) . . . . . . . 208 Der Jude von Malta (Tragödie von Christopher Marlowe, 1590) . . . . . . 211 Die Juden (Lustspiel von Gotthold Ephraim Lessing, 1754) . . . . . . . . . . 212 Die Juden in der Karikatur (Buch von Eduard Fuchs, 1921). . . . . . . . . . . . . 214 Juden ohne Maske (NS-Propagandafilm, 1937) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Juden, Läuse, Wanzen (NSDokumentarfilm, 1941) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Das Judenauto (Erzählung von Franz Fühmann, 1962) . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Die Judenbuche (Erzählung von Annette von Droste-Hülshoff, 1842) . . . . . . . 217 Judenfeindliche Karikaturen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Judengestalten auf der deutschen Bühne (Buch von Elisabeth Frenzel, 1940) 221 Das Judengrab (Erzählung von Ricarda Huch, 1905) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Judenhass (Comic von David Sim, 2008) → Comics Judenkunst in Deutschland (Buch von Walter Hansen, 1941) . . . . . . . . . . . . 225 „Judensau“-Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Die Judenschule (Schwank von Karl Borromäus Sessa, 1815) → Unser Verkehr Judenspottkarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Judith (Roman von Pierre Sabatier, 1928) → La Vénus de l’Or Judith und Holofernes (Theaterstück von Johann Nestroy, 1849) . . . . . . . . . . . 232 Jüdin aus Algier → Juive d’Alger (Gemälde von Eugène Delacroix, 1833) Jüdisch-Politisches Cabaret (Wien, 1927–1938). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Jüdische Chronik (Musikalische Komposition, 1960) . . . . . . . . . . . . . 235 Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft (Buch von Adolf Bartels, 1925) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Die jüdische Selbstverwaltung in Theresienstadt → Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet Jüdischer Wucher → Hans Folz-Dichtung Jüdisches Heurigen-Duo → JüdischPolitisches Cabaret Le Juif et la France (Ausstellung, Frankreich 1942) . . . . . . . . . . . . . . . 239 Juive d’Alger (Gemälde von Eugène Delacroix, 1833). . . . . . . . . . . . . . . . 242 Jurnal din vremuri de prigoană (Tagebuch von Emil Dorian, 1996) → Dorian-Tagebuch K Kabarett der Komiker (KadeKo) → Kabarett im Nationalsozialismus Kabarett im Nationalsozialismus . . . . . 244 Kära släkten (Film, 1933) → Schwedische Kinoproduktionen El Kahal/Oro (Roman von Hugo Wast, 1935). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Kaiser Constantinus → Fastnachtspiele
Inhaltsverzeichnis Der Kampf um die Bohemia (Erzählung von Jan Koplowitz, 1970) → Hotel Polan und seine Gäste Kanske en gentleman (Film, 1935) → Schwedische Kinoproduktionen Karikaturen → Anti-antisemitische Karikaturen, → Bildplakate, → Internationaler-HolocaustKarikaturen-Wettbewerb, → Die Juden in der Karikatur, → Judenfeindliche Karikaturen im 19. Jahrhundert, → Judenspottkarten, → Mjölnir – Zeichner des Nationalsozialismus, → Schwedische Karikaturen, → Stürmer-Karikaturen Der Karski-Bericht (Interviewfilm von Claude Lanzmann, 2010) → Shoah Das Karussell → Kabarett im Nationalsozialismus Katakamobe → Kabarett im Nationalsozialismus Der Kaufmann von Berlin (Theaterstück von Walter Mehring, 1929) . . . . . . . 249 Der Kaufmann von Venedig (Komödie von William Shakespeare) → The Merchant of Venice Kellner-Tagebücher (1938–1945) . . . . . 252 King of the Kings (Film, USA 1927) → Jesusfilme Klein Zaches, genannt Zinnober (Märchen von E.T.A. Hoffmann, 1819). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Kleiner Lucidarius (Lehrgedichte, 13. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Klemperer-Tagebücher (1933–1945) . . 257 Kommen wird der Tag! (Roman von Roderich Müller-Guttenbrunn, 1921) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Das Komplott (Comic von Will Eisner, 2006) → The Plot Kosmiker (Künstler- und Intellektuellengruppe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Kraft durch – Feuer (Drama von Rudolf Frank, 1938/39) . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Kunst im Widerstand (A.-Paul-WeberKontroverse). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Der Kunstwart (Kulturzeitschrift, 1887– 1932). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
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Kunstwart-Debatte → Deutsch-jüdischer Parnaß Kurtlar Vadisi (Filmserie, Türkei 2003– 2005). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 L Landser-Band (Berliner Rockmusikband). . . . . . . . . . . . . . . . 274 Lang ist der Weg (Film von Herbert B. Fredersdorf und Marek Goldstein, 1947). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Larifari → Kabarett im Nationalsozialismus Lasst mich leben! (Tagebuch von Arnold Daghani, 2002) → Daghani-Tagebuch The last Illusion (Film von Josef von Báky, 1949) → Der Ruf Das Leben ist schön (Film von Roberto Benigni, 1997) → La vita è bella Leben und Tod des berüchtigten Juden, Joseph Süß Oppenheimer, aus Heidelberg (Buch von Wilhelm Johann Casparson, 1738) → Jud Süß in der Literatur Lebende Ware (Film von Wolfgang Luderer, 1966) . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 La légende du juif errant (Bilder von Gustave Doré, 1856). . . . . . . . . . . . . 282 Leinen aus Irland (Film von Heinz Herbig, 1939) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Der Letzte der Ungerechten (Interviewfilm von Claude Lanzmann, 2013) → Shoah Die letzte Chance (Film von Leopold Lindtberg, 1945). . . . . . . . . . . . . . . . 283 Die letzten Vier (Drama von Max Brusto, 1940) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Levins Mühle (Roman von Johannes Bobrowski, 1964) . . . . . . . . . . . . . . . 286 Lévy & Cie → André Hugon-Filme Der liebe Augustin (Wiener Kleinkunstbühne) . . . . . . . . . . . . . . . 288 Liebe Deinen Nächsten (Film, 2004) → Miluj blížneho svojho Lippoldsberger Dichtertage . . . . . . . . . 290 Litauisches Scheunentheater. . . . . . . . . 292 Livet på landet (Film, 1924) → Schwedische Kinoproduktionen
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Inhaltsverzeichnis
Löjen och tårar (Film, 1924) → Schwedische Kinoproduktionen M Madonna della Vittoria (Gemälde von Andrea Mantegna, 1496) . . . . . . . . . 294 Manko (Film von Johannes Knittel, 1960) → Zwischenfall in Benderath Les Mariages de Mademoiselle Lévy → André Hugon-Filme Marietta-Bar (Wiener Kabarettbühne) 295 Die Masken fallen (Drama von Hans Schubert und Mark Siegelberg, 1940) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Master Race (Kurzgeschichte, 1953) → Comics Maus (Comic von Art Spiegelmann, 1986 und 1991) → Comics Mein Kampf (Film von Erwin Leiser, Deutschland 1960) . . . . . . . . . . . . . . 298 Memoiren eines Antisemiten (Roman von Gregor von Rezzori, 1979) . . . . 300 The Memory of Justice (Film von Marcel Ophüls, 1973/74) . . . . . . . . . 301 Mendelssohn-Bartholdy-Denkmal Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 The Merchant of Venice (Komödie von William Shakespeare). . . . . . . . . . . . 304 Miejsce urodzenia (Dokumentarfilm von Paweł Łoziński) → Pokłosie Miluj blížneho svojho (Film von Dušan Hudec, 2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Miracolo dell’Ostia profanata (Predella von Paolo Uccello, 1465–1469) . . . . 308 Mirakelspiel → Augsburger Heiligkreuzspiel Los Misterios del Rosario (Film, Spanien 1957) → Jesusfilme Mit versiegelter Order (Film von Karl Anton, 1938) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Die Mitläufer (Film von Erwin Leiser und Eberhard Itzenplitz, 1984). . . . . 310 Mjölnir – Zeichner des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Mohammed-Karikaturen → Internationaler-HolocaustKarikaturen-Wettbewerb (2006)
Moïse et Salomon parfumeurs → André Hugon-Filme Monsieur Bégonia → André Hugon-Filme Monsieur Klein (Film von Joseph Losey, 1976) → Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm Mordverläufe (Roman von Manfred Franke, 1973) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Morituri (Film von Artur Brauner, 1948) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Mr. Death (Dokumentarfilm von Errol Morris, USA 1999). . . . . . . . . . . . . . 320 Der Müll, die Stadt und der Tod (Theaterstück von Rainer Werner Fassbinder, 1975) . . . . . . . . . . . . . . . 323 Müller. Chronik einer deutschen Sippe von Tacitus bis Hitler (Roman von Walter Mehring, 1935) . . . . . . . . . . . 327 Musikwissenschaft (Deutschland und Österreich, 19. und 20. Jahrhundert) 328 N Nachbarn (Buch von Jan T. Gross, 2001) → Sąsiedzi Die Nachbarn (Dokumentarfilm von Agnieszka Arnold, 2001) → Nasza klasa Nachlese (Film von Władysław Pasikowsi, 2012) → Pokłosie Nacht und Nebel (Film von Alain Resnais, 1956) → Nuit et Brouillard Nackt unter Wölfen (Roman von Bruno Apitz, 1958) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Nackt unter Wölfen (Film von Georg Leopold, 1960) → Nackt unter Wölfen (Roman) Nasza klasa (Theaterstück von Tadeusz Słobodzianek, 2009). . . . . . . . . . . . . 334 Nathan der Weise (Drama von Gotthold Ephraim Lessing, 1779) . . . . . . . . . . 335 Nationalsozialistische Filmpolitik . . . . 337 Nationalsozialistische Filmproduktionen . . . . . . . . . . . . . . . 343 Nationalsozialistische Kunstpolitik . . . 351 Nationalsozialistische Literaturpolitik 353 Nationalsozialistische Musikpolitik . . . 357 The new inquisition (Buch von Konrad Heiden, 1939) → Der Pogrom
Inhaltsverzeichnis Nicht schuldig? (Dokumentarfilm von Max Ophüls, 1978) → The Memory of Justice Nichts mehr im Griff → Tatort Nie-Boska Komedia (Drama von Zygmunt Krasiński, 1835) . . . . . . . . Noc a nadĕje (Buch von Arnošt Lustig, 1957) → Transport z ráje Norwegische Kriminalliteratur . . . . . . . Nürnberger Simon-Gedicht (15. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nuit et Brouillard (Film von Alain Resnais, 1955) . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Patrioten (Film von Karl Ritter, 1937) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Pettersson & Bendel (Film, 1933) → Schwedische Kinoproduktionen 360
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O Oberammergauer Passionsspiele → Passionsspiele Odessa in fiamme (Film von Carmine Gallone, 1942) . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Odessa în flăcări → Odessa in fiamme Odessa in Flammen → Odessa in fiamme Ohm Krüger (Film von Hans Steinhoff, 1941) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Operette als Widerstand → Operette in der NS-Zeit Operette in der NS-Zeit. . . . . . . . . . . . . 368 Der operierte Goj (Kurzgeschichte von Salomo Friedlaender, 1922) . . . . . . . 373 Der operierte Jud’ (Kurzgeschichte von Oskar Panizza, 1893) . . . . . . . . . . . . 375 Das Original Jüdische Heurigen-Duo Teller und Schlesinger → JüdischPolitisches Cabaret P Panik (Film, 1939) → Schwedische Kinoproduktionen Panoptikum → Kabarett im Nationalsozialismus Paracelsus (Film von G. W. Pabst, 1942) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Die Passion Christi (Film von Mel Gibson, USA 2004) → Jesusfilme Passionsspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
Die Pfeffermühle (Literarisch-politisches Kabarett, 1933–1937). . . . . . . . . . . . 380 Platzl → Kabarett im Nationalsozialismus Plisch und Plum (Bildergeschichte von Wilhelm Busch, 1882) . . . . . . . . . . . 382 The Plot (Comic von Will Eisner, 2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Der Pogrom (Textsammlung von Konrad Heiden, 1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Pokłosie (Film von Władysław Pasikowski, 2012) . . . . . . . . . . . . . . 386 Der Pole im Schrank (Videodokumentation von Artur Żmijewski, 2007) . . . . . . . . . . . . . . . 389 Portretul luptătorului la tinereţe (Film von Constantin Popescu, 2010) . . . . 390 Pour le mérite (Film von Karl Ritter, 1938) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Professor Mamlock (Drama von Friedrich Wolf, 1933) . . . . . . . . . . . . 391 Professor Mamlock (Film von Adolf Minkin und Herbert Rappaport, 1938) → Professor Mamlock (Drama) Professor Mamlock (Film von Konrad Wolf, 1961) → Professor Mamlock (Drama) Professor Mannheim (Theaterstück, Zürich 1934) → Professor Mamlock (Drama) Der Prozeß (Film von G. W. Pabst, 1948). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Der Prozess wird vertagt (Film von Herbert Ballmann, 1958) → Zwischenfall in Benderath Q The Quality of Witness (Tagebuch von Emil Dorian, 1982) → Dorian-Tagebuch
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Inhaltsverzeichnis
R Der Rabbi von Bacherach (Romanfragment von Heinrich Heine, 1840) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 La Rafle (Film von Rose Bosch, 2010) → Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm Die Rassen (Drama von Ferdinand Bruckner, 1933) . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Rechtsextreme Comics . . . . . . . . . . . . . 401 Rechtsrock. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Reiter ohne Pferd (Fernsehserie von Muhammad Subhi, Ägypten 2002) → Faris bila Gawad Die Reiter von Deutsch-Ostafrika (Film von Herbert Selpin, 1934) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Reitet für Deutschland (Film von Arthur Maria Rabenalt, 1941) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Rembrandt (Film von Hans Steinhoff, 1942) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Rendsburg Prinzessinstrasse (Comic von Elke Steiner, 2001) → Comics Revolusjon i Bergen (Erzählung von Gerhard Severud, 1943) → Norwegische Kriminalliteratur Revue „Der achtjährige Krieg“ (1928) → Jüdisch-Politisches Cabaret Revue „Ho-Ruck nach Palästina“ (1933) → Jüdisch-Politisches Cabaret Revue „Juden hinaus!“ (1927) → Jüdisch-Politisches Cabaret Revue „Rassisches und Klassisches“ (1937) → Jüdisch-Politisches Cabaret Richard-Wagner-Nationaldenkmal des Deutschen Volkes → MendelssohnBartholdy-Denkmal Leipzig Die Ritter vom Gelde (Roman von Karl Türk, 1891). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Ritterspelunke → Kabarett im Nationalsozialismus Robert Koch (Film von Hans Steinhoff, 1939) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Robert und Bertram (Film von Hans Heinz Zerlett, 1939) . . . . . . . . . . . . . 407
Rock- und Popmusik. . . . . . . . . . . . . . . Das Römische Reich → Hans FolzDichtung Rosen für den Staatsanwalt (Film von Wolfgang Staudte, 1959) . . . . . . . . . Rosenzweigs Freiheit (Fernsehfilm von Liliane Targownik, 1998) . . . . . . . . . Die Rothschilds (Film von Erich Waschneck, 1940) . . . . . . . . . . . . . . Der Ruf (Film von Josef von Báky, 1948/49) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rundköpfe und die Spitzköpfe (Drama von Bertolt Brecht, 1932– 1938). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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S SA-Mann Brand (Film von Franz Seitz, 1933) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Sammlung Ehrenthal → Sammlungen antijüdischer Objekte Sammlung Finkelstein → Sammlungen antijüdischer Objekte Sammlung Schlaff → Sammlungen antijüdischer Objekte Sammlungen antijüdischer Objekte . . . 423 Sąsiedzi (Buch von Jan T. Gross, 2000) 426 Der Schächter → Tatort Schatten der Engel (Film von Daniel Schmid, 1975) → Der Müll, die Stadt und der Tod Der Schatten von gestern (Film von Joachim Kunert, 1960) → Zwischenfall in Benderath Die Schauspielerin (Film von Siegfried Kühn, 1988) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 Schedelsche Weltchronik (1493) . . . . . 432 Schindlers Liste (Film von Steven Spielberg, 1993) → Schindler’s List Schindler’s List (Film von Steven Spielberg, 1993) . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Schwarzer Kies (Film von Helmut Käutner, 1960/61). . . . . . . . . . . . . . . 437 Schwedische Karikaturen . . . . . . . . . . . 439 Schwedische Kinoproduktionen in den 1920er- und 1930er-Jahren. . . . . . . . 445 Der Schweizerische Schriftstellerverein 450
Inhaltsverzeichnis Sebastian-Tagebuch (Rumänien, 1935– 1944). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Shoah (Dokumentarfilm von Claude Lanzmann, 1985) . . . . . . . . . . . . . . . 454 Shylock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Silvesterlegende aus der „Kaiserchronik“ (Mitte des 12. Jahrhunderts) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 Simon i Backabo (Film, 1934) → Schwedische Kinoproduktionen Simpl (Wiener Kabarettbühne) . . . . . . . 460 Sobibor, 14. Oktober 1943 (Dokumentarfilm von Claude Lanzmann, 2001) → Shoah Söder om landsvägen (Film, 1936) → Schwedische Kinoproduktionen Soll und Haben (Roman von Gustav Freytag, 1855) . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 Das Spinnennetz (Roman von Joseph Roth, 1922/23) . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Spuren der Gerechtigkeit (Dokumentarfilm von Marcel Ophüls, 1976) → The Memory of Justice Die Stadt ohne Juden (Roman von Hugo Bettauer, 1922) . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Die Stadt ohne Juden (Film von Hans Karl Bresslauer, 1924) → Die Stadt ohne Juden (Roman) Stärker als Paragraphen (Film von Jürgen von Alten, 1936) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Der Stellvertreter (Drama von Rolf Hochhuth, 1963). . . . . . . . . . . . . . . . 468 Strach (Buch von Jan T. Gross, 2006) 474 Die Studenten von Hohenstadt (Roman von Roderich Müller-Guttenbrunn, 1943). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Stürmer-Karikaturen . . . . . . . . . . . . . . . 477 T Tagebuch eines Schriftstellers (Literarisch-politische Zeitschrift, 1873–1881) → Dnewnik Pisatelja Tagebücher → Anne Frank-Tagebuch, → Daghani-Tagebuch (Rumänien, 1942–1943), → Dorian-Tagebuch (Rumänien, 1938–1944), → KellnerTagebücher (1938–1945),
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→ Klemperer-Tagebücher (1933– 1945), → Sebastian-Tagebuch (Rumänien, 1935–1944) Taking Sides (Film von István Szabó, 2001). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 Tal der Wölfe (Filmserie, Türkei 2003– 2005) → Kurtlar Vadisi Tangoul morţii (Gedicht von Paul Celan, 1947) → Todesfuge Tanz- und Liebesstunde (Roman von Pavel Kohout, 1989). . . . . . . . . . . . . 482 Tatort (Fernseh-Krimiserie) . . . . . . . . . 484 That Goldheim (Roman von F. E. Eddis, 1918). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (1944) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Theresienstädter Requiem (Josef Bor, 1964) → Defiant Requiem Tingel-Tangel-Theater → Kabarett im Nationalsozialismus Tod eines Kritikers (Roman von Martin Walser, 2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 Tod im Jaguar → Tatort Todesfuge (Gedicht von Paul Celan, 1944/45) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Todesmühlen (US-Dokumentarfilm, 1945). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 Togger (Film von Jürgen von Alten, 1936/37) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Train de vie (Film von Radu Mihaileanu, 1998). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 Transport aus dem Paradies (Film von Zbyněk Brynych, 1962) → Transport z ráje Transport z ráje (Film von Zbyněk Brynych, 1962). . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Der travestierte Nathan der Weise (Posse von Julius von Voss, 1804). . . . . . . . 502 Triumph des Willens (Film von Leni Riefenstahl, 1934) . . . . . . . . . . . . . . 504 Trötte Teodor (Film, 1931) → Schwedische Kinoproduktionen Der Tunnel (Roman von Bernhard Kellermann, 1913) . . . . . . . . . . . . . . 506
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Inhaltsverzeichnis
U Ufa-Tonwoche → Deutsche Wochenschau Ulmer Simon-Gedicht (15. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 Um das Menschenrecht (Film von Hans Zöberlein und Ludwig SchmidWildly, 1934) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Unser Verkehr (Posse von Karl Borromäus Sessa, 1815) . . . . . . . . . . 509 Unsere Klasse (Theaterstück von Tadeusz Słobodzianek, 2009) → Nasza klasa V Le Veau gras (Theaterstück von Bernard Zimmer, 1924) . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm (Frankreich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 La Vénus de l’Or (Film von Jean Delannoy, 1938) . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Venus vor Gericht (Film von Hans Heinz Zerlett, 1941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Verbrennen der Scheune (Performance von Rafał Betlejewski, 2010) . . . . . . 517 Die Verkommenen (Roman von Max Kretzer, 1883). . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 Der Verlorene (Film von Peter Lorre und Axel Eggebrecht, 1951) . . . . . . . . . . 520 Die verlorene Bibliothek (Buch von Walter Mehring, 1952) . . . . . . . . . . . 521 La vita è bella (Film von Roberto Benigni, 1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Das Volk und seine Treiber (Roman von Rudolf Ludwig Oeser, 1859) . . . . . . 525 Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt (Tagebuch von Mihail Sebastian, 2005) → Sebastian-Tagebuch Vollkommene Historie und LebensBeschreibung des fameusen und berüchtigten Württembergischen Aventuriers Jud Süß Oppenheimer (Arnoldus Liberius, 1738) → Jud Süß in der Literatur Von Hölle zu Hölle (Film von Dmitri Astrachan, 2000) → From Hell to Hell
Die Vorladung (Film von Wolfgang Luderer, 1980) → Zwischenfall in Benderath W Wahrheit macht frei (Dokumentarfilm von Michael Schmidt, 1991) . . . . . . 527 Wahrsagebeeren → Hans Folz-Dichtung Wangerooger Judenlied → Borkum-Lied Die Wannseekonferenz (Fernsehspiel von Heinz Schirk, 1984). . . . . . . . . . 530 Die Wannsee-Konferenz (Dokumentartheater, 2012). . . . . . . . 531 Welcome in Vienna (Film von Axel Corti, 1985/1986) . . . . . . . . . . . . . . . 531 Weltanschauliche Erziehung und kulturelle Betreuung der KZWachmannschaften (1933–1945) . . . 533 Die Weltverschwörer (Roman von Roderich Müller-Guttenbrunn, 1926) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 Werther, der Jude (Roman von Ludwig Jacobowski, 1892) . . . . . . . . . . . . . . 539 When William came (Roman von Hector Hugh Munro, 1913) . . . . . . . . . . . . . 541 Wien 1910 (Film von E. W. Emo, 1942) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Wiener Totentanz (Roman von Roderich Müller-Guttenbrunn, 1921) . . . . . . . 542 Wiltfeber (Roman von Hermann Burte, 1912). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 Wohin und zurück (Filmtrilogie von Axel Corti, 1982–1986) → Welcome in Vienna, → An uns glaubt Gott nicht mehr Die Wohlgesinnten (Roman von Jonathan Littell, 2008) . . . . . . . . . . . 547 Württembergische Prinzen (Schauerroman von Friedrich Bühlau, 1853) → Jud Süß in der Literatur Y Yossel, 19. April 1943 (Comic von Joe Kubert, 2003) → Comics Z Zedlers Universallexikon (Leipzig und Halle, 1744) → Jud Süß in der Literatur
Inhaltsverzeichnis Das Zeitventil (Politisches Kabarett, Österreich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 Die Zerstörung Jerusalems (Gemälde von Wilhelm von Kaulbach, 1846) 549 Zinnowitz-Lied → Borkum-Lied Złote żniwa (Buch von Jan T. Gross und Irena Grudzińska-Gross, 2011) . . . . 552 Zug des Lebens (Film von Radu Mihaileanu, 1998) → Train de vie Das Zwanzigste Jahrhundert (Monatshefte, 1890–1896) . . . . . . . . 553 Zwé Juden als Schmoggler (Theaterstück von Louis Biren, Luxemburg 1918) . . . . . . . . . . . . . . . 555 Zwischen gestern und morgen (Film von Harald Braun, 1947) . . . . . . . . . . . . . 558
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Zwischenfall in Benderath (Film von Janos Veiczi, 1956). . . . . . . . . . . . . . 561 Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Gemälde von Max Liebermann, 1879). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 38 – Auch das war Wien (Film von Wolfgang Glück, 1986) . . . . . . . . . . 566 1925. The Story of a fatal Peace (Roman von Edgar Wallace, 1915) . . . . . . . . 568
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . 571 Register der Personen . . . . . . . . . . . . . . 577 Register der Orte und Regionen . . . . . . 593
Abrahams Gold (Film von Jörg Graser, 1989)
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Abrahams Gold (Film von Jörg Graser, 1989) Jörg Grasers Film „Abrahams Gold“ von 1989 zitiert das Genre des Heimatfilms, um die Abgründe der Vergangenheit zu zeigen, die sich hinter der Fassade von Heimat, heiler Welt und Geborgenheit auftun. Bereits die ersten Bilder des Films, welche die 14-jährige Annamirl zeigen, die mit Stiefeln, Mantel und roter Kappe wie Rotkäppchen im Wald Pilze sammelt, deuten das noch unsichtbare, aber anwesende „Böse“ an. Annamirl wächst bei ihrem liebevollen Großvater Alois Hunzinger, dem angesehenen Wirt der Dorfkneipe, auf. Als ihre Mutter Bärbel wieder in dem niederbayerischen Dorf auftaucht, bekommt die intakte Dorfwelt erste Risse: Der Großvater zeigt im Konflikt mit ihr ein anderes Gesicht und stellt sich als verbohrter Altnazi heraus. Später wird er mit seinem Freund Karl Lechner nach Auschwitz fahren, wo er zu Kriegsende eine Kiste Zahngold vergrub. Mit der Bergung des Goldschatzes kommt jedoch noch mehr Vergangenes an die Oberfläche: Karl erfährt, dass er das Kind der jüdischen Familie Sternenmeer ist, das als Baby von einer Angestellten, seiner (vermeintlichen) Mutter, gerettet wurde. Infolgedessen kündigt er Alois die Freundschaft. Dieser fühlt sich durch Karls Wissen um seine NS-Täterschaft (und seinen paranoiden Antisemitismus) bedroht und zwingt seine Enkelin Annamirl, Karl wegen sexueller Belästigung anzuzeigen. Sie schafft es zwar, die Anzeige zurückzuziehen, kann sich der familiären Gewaltsituation dann aber nur noch durch Selbstmord entziehen. Karls Versuche, Alois anzuzeigen, scheitern an den Ressentiments und der Parteilichkeit der örtlichen Polizei. Er verlässt – wie auch Bärbel – nach der Beerdigung Annamirls das Dorf. Grasers Anti-Heimatfilm unternimmt zweierlei: Er erzählt ein Generationendrama, in welchem die uneingestandene, ungesühnte Täterschaft der (Groß-)Eltern, die nie bereut wurde, die nachgeborene Generation zu Opfern der fortwirkenden Geschichte werden lässt – Bärbel flieht und Annamirl begeht Suizid. Gleichzeitig kritisiert der Film, wie die ‚Täter‘ in der (Dorf-)Gemeinschaft geschützt werden und wie diese zusammenrückt angesichts eines Störenfrieds von außen, der sie mit der unliebsamen Vergangenheit konfrontiert. Dabei wird in „Abrahams Gold“ Antisemitismus primär der Figur Alois Hunzinger zugeschrieben: Er ist weltverschwörerisch und paranoid, unter anderem fürchtet er, wie Eichmann entführt und „geköpft“ zu werden. Er empfindet weder Reue noch den Drang, sich zu rechtfertigen. Die Zeit nach 1945 scheint weltanschaulich keine Veränderung in ihm hinterlassen zu haben. Durch die plakative und überspitzte Gestaltung der Figur des Alois Hunzinger erscheinen die Nachgeborenen – aber auch andere zentrale Figuren seiner Generation – neben ihm unschuldig und rechtschaffen. Es entsteht eine dichotomische Darstellung von ‚Tätern‘ und ‚Opfern‘, die kaum einen Graubereich zulässt. Während die Figur Alois somit fast wie die Karikatur eines Antisemiten wirkt, ist die Darstellung des Schutzes, den er in der Dorfgemeinschaft erfährt, subtiler und differenzierter. Darin ähnelt „Abrahams Gold“ dem im gleichen Jahr entstandenen „Das schreckliche Mädchen“ (1989, Regie: Michael Verhoeven), der ebenfalls in der bayerischen Provinz angesiedelt ist und eine bedrohliche Facette von „Heimat“ angesichts der nationalsozialistischen Vergangenheit enthüllt. Auch dieser Film erzählt von Schweigen, Verstrickung und Verschleierungsversuchen, denen sich die Protagonistin Sonja (Lena Stol-
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Affäre Blum (Film von Erich Engel, 1948)
ze) gegenübersieht, als sie die Geschichte ihrer (fiktiven) Heimatstadt Pfilzing während des Nationalsozialismus zum Gegenstand eines Aufsatzes machen will. „Abrahams Gold“ zeigt mit der Sequenz, in der Karl Alois erfolglos anzuzeigen sucht, den gleichen „Filz“ von Schweigen, Täterschaft und gegenseitigem Protegieren, auf den auch Sonja in Pfilzing stößt. „Abrahams Gold“, der 1990 auf dem Filmfestival in Cannes in der Kategorie „Un Certain Regard“ lief und den Zuschauerpreis gewann, wurde von der Kritik vorgeworfen, ein Lehrstück zu sein, die Figuren verkörperten keinerlei Widersprüchlichkeit, sie seien Typen. Auch der Identitätswechsel der Figur Karl Lechner/David Sternenmeer mag wenig glaubwürdig scheinen in der Geschwindigkeit, in der er vollzogen wird, doch die generationelle Auseinandersetzung mit der Schuld und dem Antisemitismus der Vätergeneration, der in „Abrahams Gold“ unternommen wird, ist aufschlussreich für das Selbstverständnis der nachgeborenen Generation zum Ende der alten Bundesrepublik.
Lea Wohl von Haselberg
Literatur Hanno Loewy, Großvater, warum hast Du so große Zähne … Zu Jörg Grasers Abrahams Gold, in: Deutsches Filminstitut/Arbeitsgruppe Cinematographie des Holocaust (Hrsg.), Die Vergangenheit in der Gegenwart. Konfrontationen mit den Folgen des Holocaust im deutschen Nachkriegsfilm, München 2001, S. 72–75. Inga Scharf, Nation and Identity in the New German Cinema. Homeless at Home, New York 2008. Martina Thiele, Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film, Münster 2001.
The Act of Killing (Film von Joshua Oppenheimer, 2012) → Holocaust Admonter Passionsspiel → Passionsspiele Adolf (Comic von Osamu Tezuka, 1983–1985) → Comics
Affäre Blum (Film von Erich Engel, 1948) Der 1948 in der sowjetischen Besatzungszone unter der Regie des erfahrenen Filmund Theaterregisseurs, Brecht-Schülers und späteren Leiters des „Berliner Ensembles“ Erich Engel in schwarz-weiß gedrehte DEFA-Film „Affäre Blum“ konzentriert sich als Einziger der frühen deutschen Nachkriegsfilme nicht auf den Antisemitismus in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern will seine historische Entwicklung zeigen. Er greift dazu einen authentischen Fall auf, die „Affäre Helling“ bzw. den „HaasKölling-Prozess“, der sich in der Weimarer Republik im Jahre 1926 in Magdeburg ereignet und die Öffentlichkeit beschäftigt hatte. Einer der Arbeitstitel des Films war deshalb „Der Magdeburger Mord“ gewesen. Der Kriminalfall, in dessen Verlauf der jüdische Industrielle Rudolf Haas unschuldig in den Fokus der Ermittlungen wegen des Mordes an dem Kaufmann Hermann Helling geriet und zwei Monate in Haft saß, bevor der Täter gefasst und zum Tode verurteilt wurde, geriet zum „größten Justizskandal der deutschen Republik“, man sprach sogar von einem deutschen Gegenstück der „Dreyfus-Affäre“. Er wurde zum Gegenstand von Buchpublikationen mehrerer Beteiligter und eines im Nordischen
Affäre Blum (Film von Erich Engel, 1948)
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Rundfunk Hamburg ausgestrahlten Hörspiels „Justizwillkür ges. gesch.“, in dem das Bild einer antisemitischen deutschnationalen Justiz gezeichnet wurde. Einer der Autoren des Hörspiels, Rudolf A. Stemmle, aus dessen Feder als Regisseur der Ufa und später der DEFA zahlreiche Kinoerfolge vor und nach 1945 stammten, veröffentlichte 1948 den Roman „Affäre Blum“, auf dem dann das Drehbuch zum Film basierte. 1953 wurde der Stoff unter seiner Regie erneut in einer Hörspielfassung durch bundesdeutsche Rundfunkanstalten ausgestrahlt. 1961 schrieben R. A. Stemmle und Erich Engel „Affäre Blum“ als Fassung für eine Theateraufführung in den Münchener Kammerspielen, und Stemmle drehte für das Deutsche Fernsehen (SWF) 1962 ein Remake des Films als Dokumentarspiel. Im Vorspann des Films von 1948 wird darauf hingewiesen, dass die Handlung auf Tatsachen, nämlich auf einer zwanzig Jahre zurückliegenden Affäre beruhe. Der Film selbst beginnt zur historischen Einstimmung mit einer Überblendung auf zeitgenössische Presseartikel, in denen über die Mobilisierung einer faschistischen Miliz, Arbeitslosigkeit, einen Stahlhelm-Aufmarsch und eine antisemitische Kundgebung berichtet wird. Ein Sprecher zieht daraus das Fazit: „Es waren damals unruhige Zeiten.“ Die Handlung setzt damit ein, dass der arbeitslose ehemalige Freikorpsmann und engagierte Hakenkreuzler Gabler den arbeitslosen Buchhalter Platzer durch ein Stellenangebot in sein Haus lockt und ihn dort ermordet, um so an die von jenem mitgebrachte Kaution zu kommen. Die Leiche verscharrt er zusammen mit seiner Freundin in seinem Keller. Platzers Schwester und seine Braut melden bei der Polizei dessen Verschwinden und deuten an, dass dieser bei den Behörden Anzeige wegen Steuerhinterziehung in der Firma Blums habe erstatten wollen. Der ermittelnde Kommissar Schwerdtfeger glaubt sich einem Kapitalverbrechen auf der Spur („doller Fall“), zumal sich der Verdacht wegen Devisenvergehen gegen eine „jüdische Firma“ und ihre „Helfershelfer“ richtete. In dem Nachweis, „dass auch ein Jude killen kann“, sehen er und seine antisemitischen Kollegen die Chance, die Ermordung des jüdischen Außenministers Walther Rathenau durch rechtsextreme Attentäter (die unangenehme „Rathenau-Sache“) zu konterkarieren. Gabler wiederum gerät aufgrund von Indizien in Verdacht und wird verhaftet. Er erfindet dann im Verhör, bestärkt durch den Verdacht der Ermittler gegen Blum, zwei unbekannte dunkelhaarige Männer, die ihn zu einer „dunklen Geschichte“ hätten anstiften wollen, die Sache dann aber für den Abend abgeblasen hätten. Aus dem Mantel eines der Männer habe er ein Scheckbuch und eine Armbanduhr gestohlen, also das Eigentum Platzers, das er dem Kommissar präsentiert. Der Kriminalkommissar und der Untersuchungsrichter Landgerichtsrat Konrad, die mit antisemitischen deutschnationalen Kreisen sympathisieren, ziehen daraus den Schluss, dass Blum und sein Chauffeur Platzer ermordet hätten. Blum wird frühmorgens rüde aus dem Bett geholt, und Gabler identifiziert ihn und seinen Chauffeur bei der vom Kommissar geschickt arrangierten Gegenüberstellung als die Männer, die ihn zum Mord angestiftet hätten. Beide kommen daraufhin in Haft. In den Ermittlungen werden alle Entlastungsmomente für Blum ignoriert und eindeutige Indizien, die gegen Gabler, der wegen seiner Vergangenheit als Freikorpskämpfer die Sympathie der Polizisten und der Justiz genießt, sprechen, werden beiseite geschoben. Obwohl Blum und seine nicht-jüdische Ehefrau über gute politische Kontakte zum sozialdemokratischen Regierungspräsidenten verfügen, der sich für ihn einsetzt, kann dieser die Er-
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Affäre Blum (Film von Erich Engel, 1948)
mittler nicht umstimmen, im Gegenteil bietet die „Affäre Blum“ der rechtsgerichteten Justiz sogar die Chance, den linken politischen Gegner zu düpieren. In dieser Notlage gelingt es den politischen Freunden Blums, den erfahrenen Berliner Kommissar Bonte nach Magdeburg zu holen, der gegen den Widerstand seiner dortigen Kollegen auf eigene Faust zu ermitteln beginnt und Schritt für Schritt eine immer lückenlosere Beweiskette schmiedet, sodass Gabler schließlich in die Enge getrieben und von seinen Unterstützern fallengelassen die Tat gesteht und schließlich zum Tode verurteilt wird. Die Justiz kehrt den skandalösen Fall unter den Teppich und die beteiligten Magdeburger Beamten werden, abweichend vom historischen Fall, nicht ihrer Ämter enthoben. Wieder in Freiheit, blickt Blum angesichts des im Verlaufe des Verfahrens sichtbar gewordenen Antisemitismus skeptisch in die Zukunft. Während seine Frau der Meinung ist, das Recht habe gesiegt („Wir leben schließlich in einem Rechtsstaat“), artikuliert Blum seine Skepsis mit den in die anschwellende Marschmusik hineingesprochenen Worte: „Das ist noch nicht vorbei, das fängt erst an.“ Der Film zeigt am Beispiel eines reaktionären Komplotts die Existenz antisemitischer Überzeugungen in rechtskonservativen Kreisen der Weimarer Republik, insbesondere in der Justiz, aber auch in der völkischen Presse. Damit sollen die schon in dieser Zeit angelegten ideologischen Voraussetzungen des Nationalsozialismus entlarvt werden. Dies wird durch Zugehörigkeit des Mörders zu den „Hakenkreuzlern“ sowie über anonyme, mit Hakenkreuzen versehene Briefe an Blum angedeutet. Im Unterschied zu anderen frühen DEFA-Filmen zum Nationalsozialismus und zur Judenverfolgung wie „Die Mörder sind unter uns“ oder → „Ehe im Schatten“ wird bei diesem Film der Einfluss der marxistischen Faschismustheorie spürbar. Die Kritik sah in der unmissverständlichen Kontrastierung der Typen der politischen Lager eine Stärke des Films. Vor allem rechtsgerichtete Figuren werden wenig individuell gezeichnet, sondern primär als Repräsentanten einer politischen Ideologie. Diese Typisierung gerät mitunter an die Grenze der Karikatur, wenn die Personen über Accessoires wie Säbel, Stehkragen, Monokel, Bierhumpen und ein Hindenburg-Bild sowie durch ihr zackiges Auftreten politisch charakterisiert werden. Neben dem Antisemitismus wird über die Figuren der Freikorpskämpfer Gabler und Schwerdtfeger der Militarismus und über die Figur eines zwischenzeitlich verhafteten jungen Kommunisten auch der Antikommunismus dieser rechtskonservativen Kreise angeprangert. Die beiden jüdischen Figuren des Films, der Fabrikant Dr. Blum und sein Anwalt Dr. Wormser, werden nicht nur durch ihre „jüdischen Namen“, sondern auch rassistisch über ihre Physiognomie als Juden identifiziert. Hinzu treten andere antisemitische Klischees wie der offensichtliche Reichtum des jüdischen Unternehmers Blum, die Eleganz seiner Frau Sabine, seine Freimaurerei sowie die Verbindung zu linken Kreisen, personifiziert durch die Freundschaft zum sozialdemokratischen Regierungspräsidenten. Die rechtskonservativen Gegner bedienen sich der typischen antisemitischen Unterstellungen, indem sie eine Verschwörung wittern („wer steckt dahinter“, „andere Mächte“) und Blum ein raffiniertes Vorgehen bei der Devisenschieberei unterstellen („jüdischer Dreh“). Indem Blum bei der Gegenüberstellung mit dem wahren Mörder Gabler den Satz des Apostels Petrus „Ich kenne diesen Menschen nicht“ verwendet, mit dem Petrus Christus verleugnet hat, wird das Bild des jüdischen Verräters aufgerufen.
Aktien (Theaterstück von Otto Glagau, 1877)
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Die Uraufführung des Films fand am 3. Dezember 1948 im „Babylon“ im Ostsektor Berlins statt, kurz darauf folgten die Erstaufführungen am 19. Dezember 1948 in den Westsektoren Berlins und in der britischen Zone (am 8. April 1949 in Hamburg). Der Film wurde 1954 im DDR-Fernsehen und 1958 im bundesdeutschen Fernsehen (ARD) ausgestrahlt. Für die Jahre 1946–1950 wird eine Zuschauerzahl von 4,3 Millionen angegeben, bis 1959 sollen es über 5 Millionen gewesen sein. Der Film nimmt damit in der Publikumsresonanz Platz 27 aller DEFA-Produktionen ein. Die Geschichte balanciert auf einem schmalen Grad zwischen einer Farce und einem bedrückenden Bericht über die Verblendung der Weimarer Justiz durch antisemitische Vorurteile. Die Figuren werden in ihrem sozialen Milieu verortet, und der Film zeigte hervorragende neue Schauspieler wie Hans-Christian Blech (Gabler) und Gisela Trouwe (seine Freundin Christina). Die Rezensionen fielen in der Ostzone wie in den Westzonen sehr positiv aus („Ein großer Filmerfolg“, „Internationale Spitzenklasse“, „ein Film fast ohne Fehl“). Ihm wurde die „geschlossenste und in ihrer Wirkung stärkste Leistung der deutschen Nachkriegsfilmproduktion“ attestiert. „Affäre Blum“ wurde als ein „Zeitfilm ohne jeden falschen Ton“ gelobt und fand auch beim Publikum „ungeteilte enthusiastische Aufnahme“. In anderen Filmkritiken zeigen schon die Überschriften, wie „Rückschau und Mahnung“, dass man den Film als historisches Lehrstück verstand. Auch in späteren Filmanalysen wurde „Affäre Blum“ als „feinfühlig inszeniert und von vorzüglichen Schauspielern getragen“ gelobt. Der Film habe für die „Darstellung eines Justizverbrechens der Weimarer Zeit […] einen satirisch pointierten realistischen Bildstil“ gefunden.
Werner Bergmann
Literatur Bettina Greffrath, Gesellschaftsbilder der Nachkriegszeit. Deutsche Spielfilme 1945–1949, Pfaffenweiler 1995. Ulrich Gregor, Enno Patalas, Geschichte des Films 2, München 1973. Bernd Kölling, Tod eines Handlungsreisenden. Die Affäre Helling und der Antisemitismus in der Weimarer Republik, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 7 (1998), S. 150– 174. Peter Pleyer, Deutscher Nachkriegsfilm 1946–1948, Münster 1965.
Aktien (Theaterstück von Otto Glagau, 1877) „Aktien“ ist ein „Historisches Schauspiel aus der allerjüngsten Vergangenheit in fünf Akten“, das der Journalist Otto Glagau (1832–1892) unmittelbar nach dem Gründerkrach von 1873 schrieb, um die wirtschaftlichen Missstände zu entlarven und zu fordern, dass „das wahre und ewige Capital – die Arbeit wieder zu Ehren“ kommt, wie es im Drama heißt. Weil das Stück zunächst auf Ablehnung stieß, verzögerte sich seine Veröffentlichung bis 1877. Zur Entstehungszeit des Dramas zeigten jedoch die Hoftheater kein Interesse an diesem Werk. Auch die Privatbühnen, an die sich Glagau wandte, waren nicht bereit, eine Aufführung zu wagen, sodass das Stück nur in „zwei ganz obscuren Lokalen“ auf die Bühne gebracht werden konnte. Nachdem Glagau auf Ablehnung der Theater
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Aktien (Theaterstück von Otto Glagau, 1877)
gestoßen war, wandte er sich 1874/75 mit einer Artikelreihe in der „Gartenlaube“ zum Thema „Börsen- und Gründerschwindel“ einer breiteren Leserschaft zu und erlangte somit eine gewisse Berühmtheit. Trotzdem schätzte Glagau mehrmals die potenzielle Auswirkung des Dramas viel höher ein und behauptete 1880 in seiner eigenen Zeitschrift „Der Kulturkämpfer“ sogar: „Hätten die ‚Aktien‘ ihren Lauf über Deutschlands Bühnen genommen, sie hätten, gegenüber dem Börsenschwindel, der Revolver-Presse und der Judenfrage, eine unendlich größere Wirkung geübt, als alle socialpolitischen Schriften Glagaus zusammen genommen.“ Das Drama selbst stellt die Sieger und Verlierer der Gewinnsucht kurz vor dem Krach von 1873 dar und beginnt damit, dass der Bankier Tugendhold jene ökonomische „Epidemie“ beschreibt, von der eingeweihte Börsenjobber wie er besonders profitiert hätten. Trotz seines wirtschaftlichen Aufstiegs will sich Tugendhold zudem mit den alten Eliten verbinden und hat vor, seinen Sohn Jakob mit der Tochter einer adeligen Familie zu verheiraten. Der Grund dafür ist eine kalkulierte Überlebensstrategie: „Wir müssen streben uns zu verknüpfen mit den obern Klassen, damit sie uns helfen und fördern in unsern Unternehmungen, auf daß wir an ihnen gewinnen Schutz und Beistand für Zeiten der Gefahr.“ Jakob, der sich selbst Jacque nennt, um seine Herkunft zu vertuschen, erklärt seinem Vater hingegen, dass er lieber mit ihm an der Börse arbeiten würde. Darauf erklärt sich der geschmeichelte Tugendhold erfreut: „Wunderbar, wie das doch im Blute steckt!“ Und bald stellt sich das jüngste Opfer ein. Herr von Gleinen will zunächst nur sichere Anleihen kaufen, doch Tugendhold überredet ihn, stattdessen Aktien zu kaufen. Als er hört, dass Gleinen eine Tochter hat, bietet ihm Tugendhold besonders günstige Bedingungen an, um den Adeligen als möglichen Schwiegervater für seinen Sohn zu gewinnen. Darauf bringt Tugendhold Jakob zum Gleinenschen Gut, um ihn Louise von Gleinen vorzustellen. Um Herrn von Gleinen zu imponieren und ihn in gute Laune zu versetzen, erklärt Tugendhold, dass er für die neulich gekauften Aktien schon 40 Prozent einkassiert hätte. Danach überredet er Gleinen, sein Gut zu verkaufen und das ganze Vermögen in Börsenaktien anzulegen. Nebenher stellt Tugendholds Buchhalter Vortheil ein finanzielles „Pyramidensystem“ auf. Als Tugendhold erfährt, dass Vortheil spekuliert und dabei sein eigenes Geld aufs Spiel setzt, entlässt er ihn. Ohne Zeit zu verlieren, wird Vortheil Direktor einer „Allgemeinen Spar-, Leih- und Speculationsbank“ und besticht als solcher den Herausgeber der Börsenzeitung, Dr. Wanze, um positive Nachrichten zu erhalten. Doch auf einmal kracht die Börse zusammen. Die Kunden stürmen Vortheils Bank, aber er hat sich mit dem ganzen Bargeld schon davon gemacht. Gleinen verzweifelt, als er diese Nachricht hört, und Tugendhold schlägt ihm Aktienbetrug vor. Schließlich bietet er ihm seinen Sohn als Rettungsring aus dem Bankrott an. Doch Gleinen lehnt beide Vorschläge ab. Dennoch kann die Familie gerettet werden, weil Jakob den richtigen Wert einer von Louise unterschätzten Anleihe erkennt. Aufschlussreich ist obendrein Glagaus ausdrückliche Unterscheidung im Vorwort zwischen den jüdischen und christlichen Figuren im Drama: „Tugendhold und Wanze sind Juden, aber dafür ist Vortheil, vielleicht schlimmer als jeder von Beiden – Christ.“ Damit unterstellte der Autor den verschiedenen Religionen ein anderes Ethos und legte einen höheren Maßstab an die Christen an. Des Weiteren lieferte Glagau im
Die Amazone (Novelle von Franz Dingelstedt, 1868)
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Vorwort eine fantasievolle Statistik, um eventuelle Vorwürfe der Judenfeindschaft im Voraus abzuwehren: „Die Gründer und Börsianer waren überwiegend, zu mehr als 90 Prozent, Juden. Das ist notorisch und nicht meine Schuld.“ Auffällig sind außerdem die Anmerkungen zum Stück, die das Judentum scheinbar herunterspielen: „1) Weder Tugendhold noch Wanze dürfen zu stark jüdeln. Jakob läßt die jüdische Sprechweise nur anklingen“, und weiter „2) Vortheil ist nicht Jude.“ Glagau wollte damit eine karikaturhafte Darstellung der Juden vermeiden und ein Bild vom scheinbar harmlosen, assimilierten Juden vermitteln und den Vorwurf eines offenen Antisemitismus abwehren.
Matthew Lange
Literatur Daniela Weiland, Otto Glagau und „Der Kulturkämpfer“. Zur Entstehung des modernen Antisemitismus im frühen Kaiserreich, Berlin 2004.
Allein unter allen (Comic von Miriam Katin, 2006) → Comics Alsfelder Passionsspiel → Passionsspiele Der alte und der junge König (Film von Hans Steinhoff, 1935) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Die Amazone (Novelle von Franz Dingelstedt, 1868) Die Novelle (so die offizielle Bezeichnung) „Die Amazone“, von Franz Dingelstedt 1868 in zwei Bänden veröffentlicht, gleicht in Inhalt und Aufbau einem Unterhaltungsroman. Ein Großteil der Handlung spielt im Künstlermilieu, dem antipodisch die Finanzwelt gegenübergestellt wird. Die Welt der Künstler steht dabei für Dingelstedt eindeutig über jener der Geldwirtschaft. Durch das Buch zieht sich ein ironischer Grundton, der in der Schilderung der jüdischen Nebenfiguren stark antisemitische Züge trägt. Im Zentrum der Handlung stehen fünf Personen: Seraphine Lomond, die titelgebende, sogenannte Amazone, Opernsängerin und Muse des Malers Roland (eigentlich Paphnutius Meyer), der Diplomat Graf Wallenberg, ein Freund Rolands, der reiche Bankier Hans Heinrich Krafft und dessen Tochter Armgard, die bei Roland Malunterricht nimmt. Einem klassischen Lustspielschema folgend ist jede der Figuren in eine andere verliebt, diverse Hindernisse stehen allerdings den jeweiligen Verbindungen im Weg. Es bilden sich zunächst die „falschen“ Paare, am Ende aber löst sich alles in Wohlgefallen auf, Künstler findet zu Künstlerin, praktisch denkender Graf zu pragmatisch denkender, reicher Erbin. Der Spekulant und Bankier, wesentlich älter als die anderen Charaktere, bleibt allein. 1868 verfasste der 1814 in Rinteln geborene und 1881 in Wien verstorbene Dichter, Journalist, Dramatiker, Übersetzer und Theaterleiter Franz Dingelstedt beide Bände der „Amazone“. Dingelstedt hatte seine schriftstellerische und journalistische Karriere schon in seiner Zeit als Lehrer in Kassel und Fulda begonnen. In dieser sehr produktiven Phase stand er den Dichtern des Jungen Deutschland nahe. Wie sie wandte er sich in seiner politischen Lyrik gegen die gesellschaftlichen Zustände im vorrevolutionären
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Die Amazone (Novelle von Franz Dingelstedt, 1868)
Deutschland, was ihm Probleme mit der Zensur einbrachte. Ab 1841 arbeitete er als Journalist und Redakteur für verschiedenene, oft oppositionelle Blätter. Als Auslandskorrespondent für die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ war er in Paris, London und Wien tätig. Ab den 1840er-Jahren arrangierte er sich allerdings mit den herrschenden Autoritäten. Er arbeitete zunächst für den König von Württemberg als Bibliothekar und Vorleser, später dann an den Hoftheatern in Stuttgart, München und Weimar als Dramaturg und Intendant. 1867 wechselte er nach Wien, wo er bis zu seinem Tod die Wiener Hofoper und das Hofburgtheater leitete. Antisemitische Passagen finden sich in einigen Werken Dingelstedts. In „Die Amazone“ bedient er sich vor allem bei der Zeichnung der Nebenfiguren antijüdischer Stereotypen und Ressentiments, augenscheinlich um damit einen ironisierenden bis humoristischen Effekt zu erzielen. Dafür lässt er die Juden im Buch in einer Art eingedeutschtem Jiddisch sprechen, das die Lächerlichkeit der Figuren unterstreichen soll. Keiner der jüdischen Charaktere wird von den nicht-jüdischen ernst genommen. Besonders klar wird diese Vorgangsweise anhand der beiden Kulturjournalisten Meyer Hirsch und Hirsch Meyer. „Sie gehören zu der interessanten Gattung von Säugethieren, die ein Staatsmann der Gegenwart mit dem Namen ‚Preßjuden‘ taufen wollte“, heißt es über die beiden beruflichen Konkurrenten, die sich im Roman den Künstlern wie den Adeligen gleichermaßen anbiedern und andienen. Ewig verfeindet und stets gegensätzlicher Meinung stehen sie als Negativbeispiele Einfluss heischender und leicht manipulierbarer Journalisten. Nur ein einziges Mal ziehen sie gemeinsam an einem Strang, als die Amazone einen Geldschein in zwei Teile schneidet und beiden jeweils eine Hälfte gibt. Gemeinsam kleben sie den Schein, tauschen ihn gegen einen gültigen ein und gehen dann wieder ihrer Wege. Laut Marini hat sich Dingelstedt bei dieser Zeichnung jüdischer Figuren an den Präferenzen seines Publikums orientiert. Er konnte „mit Zustimmung rechnen bei seiner fatal antisemitisch wirkenden Ironisierung des Kunstjournalismus“. Aber auch anhand einer nicht-jüdischen Figur werden antijüdische Ressentiments deutlich. Ein zentraler Charakter des Buches, Hans Heinrich Krafft, ein durch Spekulationen zu großem Reichtum gekommener Bankier, betont mehrmals, dass er „kein Jud“ sei. „Beleibe nicht, Herr Krafft. Sie sind ein braver Mann, ein gemeinnütziger Mann, kein Geldmacher, kein Blutsauger, kein Jud!“, wird ihm diese Selbsteinschätzung im Roman bestätigt; er sei ein „deutscher, ein christlicher Bürger“. „Die Amazone“ ist das letzte belletristische Werk Dingelstedts, der heute vor allem noch als Autor des von Gustav Pressel vertonten „Weserliedes“, der „Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters“ und als einflussreicher Theaterleiter der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannt ist.
Martina Aicher
Literatur F. Martini, Franz Dingelstedt „Die Amazone“ (1868). Analyse eines unterhaltenden Gesellschaftsromans im bürgerlichen Realismus, in: Formen realistischer Erzählkunst, Nottingham (1979), S. 128–141.
An uns glaubt Gott nicht mehr (Film von Axel Corti, 1982)
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An uns glaubt Gott nicht mehr (Film von Axel Corti, 1982) Der Fernsehfilm „An uns glaubt Gott nicht mehr“ ist der erste Teil der „jüdischen Trilogie“ des Regisseurs Axel Corti und seines Drehbuchautors Georg Stefan Troller. Troller verarbeitete seine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen als vertriebener und exilierter Wiener Jude aus den Jahren 1938–1945 in den Drehbüchern, die das Schicksal vorwiegend jüdischer Verfolgter schildern. Jeder Teil von „Wohin und Zurück“, so der Übertitel der Trilogie, steht dabei für einen Teilaspekt dieser Erfahrung – „An uns glaubt Gott nicht mehr“ befasst sich mit der Flucht, der zweite Teil „Santa Fé“ mit dem Exil und → „Welcome in Vienna“, der letzte Teil, mit der Rückkehr. „An uns glaubt Gott nicht mehr“ entstand als Koproduktion der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ZDF, SRG und ORF und war zunächst Teil einer anderen Trilogie zum Thema Emigration, bei der jede der Fernsehanstalten ihren eigenen Film zum Thema in Auftrag gab. „An uns glaubt Gott nicht mehr“ war der österreichische Beitrag. Der Titel entstammt einem Gedicht von Franz Werfel, das dieser auf der Flucht vor den Nationalsozialisten verfasst hatte und das sich an „sein Volk, das einmal auserwählt gewesene jüdische Volk“ wendet. Die Handlung des Films setzt mit dem Novemberpogrom 1938 in Wien ein. Der Vater der Hauptfigur, des jugendlichen Wiener Juden Ferry Tobler, wird dabei ermordet. Ferrys Versuche, Österreich legal zu verlassen, scheitern. Mithilfe eines Schleppers flieht er illegal über die tschechoslowakische Grenze nach Prag, wobei er andere in derselben Bedrängnis kennenlernt, zum Beispiel einen politisch verfolgten Deutschen mit Spitznamen Gandhi, der gemeinsam mit Ferry die Flucht durch halb Europa antritt. Auch Alena, eine Tschechin, die in Prag ein Hilfskomitee betreibt, das Verfolgten Papiere und Ausreisemöglichkeiten verschafft, und die nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in der Tschechoslowakei ebenfalls fliehen muss, schließt sich ihnen an. Ihre Flucht führt sie weiter nach Paris. Nach Ablauf ihrer Papiere werden sie von den französischen Behörden in Lagern interniert, wo sie abermals den Einmarsch deutscher Truppen erleben. Sie wollen weiter Richtung Marseille, als Gandhi auf dem Weg dorthin festgenommen und ermordet wird. Die beiden anderen erreichen die Stadt, es bleibt aber offen, ob ihnen die Flucht aus Europa gelingen wird. So, im Mai 1941, endet der Film. Neben diesen drei Hauptfiguren kommen auch andere Flüchtende vor. Manche treffen immer wieder auf Ferry, Gandhi und Alena, andere werden getötet, bringen sich selbst um, oder ihre Spur verliert sich und ihr weiteres Schicksal bleibt unklar. Damit stehen die Charaktere stellvertretend für die ca. 130.000 österreichischen Juden, die zwischen März 1938 und September 1939 das Land verlassen mussten. Den Fokus legen die beiden Filmemacher dabei bewusst auf den österreichischen Anteil an der Vertreibung und Judenverfolgung. Antisemitismus bildet den ganzen Film über den beständigen roten Faden des Geschehens. Zu Beginn wird die alltägliche Judenfeindschaft als Selbstverständlichkeit der Wiener (und österreichischen) Verhältnisse geschildert, die viele Nicht-Juden so ungeniert wie skrupellos Kapital und Vorteile aus der prekären Situation der Juden schlagen lässt. Aber auch die weiteren Stationen der Flucht sind für die jüdischen Charaktere im Film geprägt von Misstrauen, Ablehnung und feindlicher Haltung ihnen gegenüber – und den bewusst geschaffenen bürokratischen Hürden, die für viele
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Andorra (Drama von Max Frisch, 1961)
zu unüberwindbaren Barrieren wurden und eine lebensrettende Emigration verhinderten. Inhaltlich wie visuell vermeiden Corti und Troller bewusst bekannte Stereotypen und Topoi des „holocaust cinema“. In schwarz-weiß gedreht, erzählt der Film konsequent aus der Sicht der Flüchtenden, einer naturgemäß heterogenen Gruppe, die in der Außenwahrnehmung aber homogen als „die Juden“ wahrgenommen wird. Gemeinsam ist ihnen die Erfahrung der Verfolgung und der erzwungenen Emigration. Vertreter des nationalsozialistischen Regimes – außer in den wenigen eingefügten Wochenschaubildern – kommen nicht vor. „An uns glaubt Gott nicht mehr“ steht filmisch mit am Beginn einer überfälligen Neubewertung des Anteils Österreichs am nationalsozialistischen Regime: weg von der Selbstwahrnehmung als erstes Opfer des Nationalsozialismus und dem Herunterspielen der österreichischen Mitverantwortung, hin zu einer Auseinandersetzung mit der aktiven Rolle Österreichs und von Österreichern im Dritten Reich. Der erste Teil der „jüdischen Trilogie“ von Corti und Troller war ein Vorbote dieser die Mitte der 1980er-Jahre in Österreich bestimmenden gesellschaftspolitischen Diskussion, die rund um die Waldheim-Affäre 1986 ihren Höhepunkt erlebte und zu einem Wendepunkt in der österreichischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Anteil an den Verbrechen des Faschismus wurde.
Martina Aicher
Literatur Wolfgang Kindermann, Der Paradigmenwechsel im österreichischen Nachkriegsfilm am Beispiel von Axel Corti, Wien 1992. Robert Neumüller, Ingrid Schramm, Wolfgang Stickler (Hrsg.), Axel Corti. Filme, Texte und Wegbegleiter, Weitra 2003. Christopher J. Wickham, Wohin und zurück (Somewhere and Back): Perspectives on Axel Corti’s Jewish Trilogy, in: Willy Riemer (Hrsg.), After Postmodernism. Austrian Literature and Film in Transition, Riverside/California 2000, S. 106–126.
Ånden i krukken (Erzählung von Johan Woll, 1941) → Norwegische Kriminalliteratur Anderssonskans Kalle på nya upptåg (Film, 1923) → Schwedische Kinoproduktionen
Andorra (Drama von Max Frisch, 1961) Das Drama „Andorra“ des Schweizer Schriftstellers Max Frisch (1911–1991) wurde am 2. November 1961 am Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt, in Deutschland fand die Uraufführung 1962 in München statt. Protagonist des Dramas ist Andri, der Sohn des Lehrers Can. Der Vater gibt seinen Sohn als „gerettetes Judenkind“ aus, das er vor den „Schwarzen“, einem feindlichen Nachbarvolk, gerettet habe. Grund ist, dass Andri einer außerehelichen Beziehung entstammt. Er wächst auf als Jude in einer vorurteilsgeprägten Gesellschaft, in der er stets Außenseiter bleibt. Durch „vorbildliches Verhalten“ versucht er sich anzupassen. Sein Bemühen ist jedoch zum Scheitern verurteilt, denn er wird permanent mit anti-
André Hugon-Filme (Frankreich, 1930–1937)
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semitischen Stereotypen konfrontiert. Die Voreingenommenheit der Andorraner führt dazu, dass Andri sich „jüdisch“ fühlt. Als er um die Hand von Barblin, der Tochter des Lehrers, anhält, wird ihm dies verweigert, da die beiden Halbgeschwister sind. Nach wie vor in Unwissenheit über seine Herkunft lebend, führt Andri dies auf sein Judentum zurück. Enttäuscht fügt er sich in sein Schicksal und kämpft nicht weiter gegen die Ungerechtigkeiten und die Voreingenommenheit seiner Mitmenschen. Als ein Pater Andri seine wahre Identität eröffnet, weigert er sich, die Wahrheit anzuerkennen. Er sei und bleibe ein Jude und „Sündenbock“. Nach dem Einmarsch der feindlich gesinnten „Schwarzen“ in Andorra findet auf dem Hauptplatz eine „Judenschau“ statt. Hierbei sind die Einwohner Andorras gezwungen, ihre Schuhe auszuziehen und barfuß über den Platz zu laufen. Barblin versucht vergeblich, den Widerstand der Andorraner zu wecken. Ein „Judenschauer“ identifiziert Andri aufgrund seines Ganges als Juden und er wird exekutiert. Andris Vater begeht daraufhin Selbstmord. Die Andorraner bedauern diese Vorgänge halbherzig, fühlen sich aber gänzlich unschuldig. Es fehlt jegliches Bewusstsein um die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für diese Ereignisse. „Andorra“ thematisiert komplexe Fragestellungen zu antisemitischen Vorurteilen und deren Auswirkungen auf die Betroffenen. Zudem greift Max Frisch die Frage nach der Schuld der Mitläufer bzw. der Zuschauer auf. In der Forschung herrscht weitgehend Konsens darüber, dass „Andorra“ den Leser bzw. Zuschauer mit dessen eigenen Vorurteilen konfrontiert und seine Selbstgerechtigkeit gegenüber anderen – „den Andorranern“ – thematisiert. Frisch gelingt es jedoch, deutlich zu machen, dass sich die Rezipienten nicht mehr von „den Andorranern“ distanzieren können. Er fügt hinzu, dass „die Andorraner ihren Jud nicht töteten, sie machen ihn nur zum Jud in einer Welt, wo das ein Todesurteil ist“. Wiederholt wurde Max Frisch vorgeworfen, ein vermeintliches „Urbild“ von Juden zu zeichnen sowie mit Blick auf die historischen Referenzen, wie sie in der „Judenschau“ dargestellt sind, die Judenverfolgung des nationalsozialistischen Regimes zu verharmlosen. Max Frisch wandte dagegen ein, dass „Andorra“ die Auswirkungen und Gefahren kollektiver Vorurteilsstrukturen thematisiere und nicht die Verbrechen des NS-Regimes aufarbeiten wolle. Die Rezeptionsgeschichte zeigt schließlich, dass Andorra auch „ein Modell der Missverständnisse“ (Peter Pütz) ist. Oftmals wird das Stück auf die Verankerung des Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft verkürzt oder als Lehrstück zur Bekämpfung gesellschaftlicher Vorurteilsstrukturen betrachtet.
Verena Buser
Literatur Klaus Müller-Salget, Max Frisch, Stuttgart 1996. Peter Pütz, Max Frischs „Andorra“ – ein Modell der Mißverständnisse, in: Walter Schmitz, Ernst Wendt (Hrsg.), Frischs Andorra, Frankfurt am Main 1984, S. 122–132. Walter Schmitz, Ernst Wendt (Hrsg.), Frischs Andorra, Frankfurt am Main 1984.
André Hugon-Filme (Frankreich, 1930–1937) Die „jüdische Saga“ von André Hugon (1886–1960) umfasst fünf zwischen 1930 und 1937 gedrehte Filme: „Lévy & Cie“, „Les Galeries Lévy & Cie“, „Moïse et Salomon
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André Hugon-Filme (Frankreich, 1930–1937)
parfumeurs“, „Les Mariages de Mademoiselle Lévy“ [Die Hochzeiten des Fräulein Lévy] und „Monsieur Bégonia“, dessen Name in dieser Aufzählung fremd wirkt, wenn man nicht weiß, dass der ursprünglich angedachte Titel „Moïse et Salomon couturiers“ war. Die Meinungen über diese Saga gehen auseinander: Einige sehen in ihr nur einen „harmlosen“ Antisemitismus, während andere dort die ausgetretensten Stereotype über Juden ausfindig machen. Wieder andere verteidigen einen Regisseur, der ein positives Bild von der jüdischen Gemeinde habe zeigen wollen, und verlangen das Erscheinen dieser Filme auf DVD. Begutachtet man die Filme und liest die Drehbücher, die in der Cinémathèque in Paris aufbewahrt werden, besteht jedoch kein Zweifel daran, dass alle Stereotypen, die in den 1930er-Jahren über Juden zirkulierten, hier mit einer gewissen Beiläufigkeit, doch unmissverständlich aufgegriffen wurden. Dies zeigt sich auch sehr gut an den Werbematerialien und den zeitgenössischen Kritiken, die von „youpins“ (ein abfälliger Ausdruck für Juden) und von „ihrem oft schmutzigen Geschäftsgebahren“ sprachen. Während Moïse [Moses/Moshe] und Salomon anfangs als bescheidene Ladenbesitzer gezeigt werden – die den Aufstieg dennoch schaffen werden, bis sie schließlich in „Les Galeries & Cie“ ein Warenhaus mit mehreren Etagen besitzen –, ist ihr Cousin Cohen (der seinen Namen in d’Avray geändert hat, „seit er vom Papst zum Grafen ernannt wurde“) ein „allgemein bekannter“ Bankier, Direktor von Crédit Mondial, dessen Vater „Ebenezer Cohen Kleinhändler in Galizien war“. Er ist jedoch ein sonderbarer Bankier, der nur den sehr Reichen Kredit gibt: „Zeigen Sie mir Bilanzen, die Gewinne von 4 bis 5 Millionen Francs aufweisen und das Geschäft ist gemacht“, antwortet er zwei Brüdern, die sich bescheidene 50.000 Francs leihen möchten. Selbst zu dieser Zeit forderten solche Klischees die Kritik der sehr populären Zeitschrift „Cinémonde“ heraus, die „derartige Gemeinplätze über den Geiz der Juden und ihre Vorliebe für das Geschäft“ bedauerte. Doch alle Kritiken bemerkten, dass sich das Publikum blendend amüsierte. Die Brüder Lévy (gespielt von Charles Lamy und Léon Bélières, die fortan auf Judenrollen beschränkt waren) sind mit allen Attributen einer Judenkarikatur ausstaffiert – was wiederum die Karikaturisten erfreute: So sprechen beide mit einem sehr seltsamen Akzent, der eine Art Jiddisch sein sollte. Diese Stereotypen bestimmen auch die Handlung in „Monsieur Bégonia“, dem letzten Film der Saga. Ein junger Mann, der sich Max Durand nennt, stellt sich als Modedesigner in einem jüdischen Modesalon vor (dessen Eigentümer heißen subtilerweise „Herr und Frau Merchant“, englisch für „Händler“), doch das Gespräch endet sehr schnell, weil er kein „Itzig“ ist („Jude“, präzisiert der Chef sehr zum Erstaunen des Bewerbers). Max versteht das nicht, denn der Kassenführer ist auch kein Jude: „Es ist Tradition in unseren Häusern, dass die Kassenführer niemals Israeliten sind“, antwortet der Chef, der damit im Subtext zu verstehen gibt, dass er mit einem jüdischen Kassenführer Gefahr laufen würde, bestohlen zu werden. Max kehrt schließlich als Jude verkleidet zurück: mit Kraushaar-Perücke, kleinem Spitzbart, falscher Hakennase (eine Nase „jüdischer Art“, wie es im Manuskript des Drehbuchs heißt) und Nickelbrille. Der ganze Film schöpft aus dieser Verkleidung und aus den ewigen Klischees über Juden. Die Kritiker gingen hart mit der Konzeption des Films ins Gericht, wäh-
Anne Frank-Tagebuch
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rend das Werk später noch einmal in die Kinos kam – 1943, unter dem Besatzungsregime. Die Karikaturen im Programmheft und das Filmplakat von Roger Cartier lassen keinen Zweifel am Antisemitismus zu, den der Film transportierte.
Chantal Meyer-Plantureux Übersetzung aus dem Französischen von Bjoern Weigel
Der Anfang der Wahrheit (Film von Sergiu Nicolaescu, 1994) → Începutul adevărului Angst (Buch von Jan T. Gross, 2012) → Strach
Anne Frank-Tagebuch „Wenn Menschen nur ein einziges Buch über die Opfer des Nazismus gelesen haben, ist es wahrscheinlich das Tagebuch der Anne Frank“, vermutete Alvin H. Rosenfeld 1996. Selbst Jahrzehnte später üben die Aufzeichnungen des jungen Mädchens, das seine Beobachtungen und Erfahrungen in seinem Amsterdamer Versteck in der Prinsengracht 263 notierte, weiterhin große Faszination auf die vornehmlich jugendlichen Leser aus und sorgen dafür, dass die Bekanntheit ihrer Autorin ungebrochen bleibt. Das kleine gebundene Notizbuch und damit die Grundlage ihres inzwischen weltbekannten Tagebuchs erhielt Anne Frank an ihrem 13. Geburtstag, dem 12. Juni 1942. Am selben Tag verfasste sie ihre erste Eintragung und führte das Buch bis zum 1. August 1944 fort. Im Frühjahr 1944 entschied sich Anne Frank, ihre Texte zu überarbeiten und sie für eine spätere Publikation vorzubereiten. Angeregt wurde sie durch den im Radio Oranje übertragenen Aufruf eines Ministers der niederländischen Exil-Regierung. Gerrit Bolkestein hatte am 28. März 1944 die Zuhörer aufgefordert, private Dokumente und Texte zu bewahren, um nach dem Krieg Zeugnis über die Besatzungszeit ablegen zu können. Bis zum 1. August 1944 fertigte Anne Frank eine umfangreiche handschriftliche Neufassung (Fassung B) ihrer ursprünglichen Eintragungen an (Fassung A). Neben stilistischen Anpassungen vereinheitlichte sie u. a. auch die Adressaten der Tagebucheinträge, sodass sich Fassung B ausschließlich an „Kitty“ richtet. Frank verwendete in Fassung B zudem Pseudonyme, um bei einer Veröffentlichung die Privatsphäre der beschriebenen Personen zu schützen. Drei Tage nach Anne Franks letztem Tagebucheintrag wurden die Untergetauchten von SS-Oberscharführer Josef Silberbauer und niederländischen Mitarbeitern des SD aufgespürt. Sie verhafteten die Familie Frank, die Familie van Pels und Fritz Pfeffer sowie deren Unterstützer Victor Kugler und Jo Kleiman am Morgen des 4. August 1944. Kugler und Kleiman kamen in das SD-Gefängnis Euterpestraat. Weitere Aufenthalte in Amsterdamer Gefängnissen folgten, bevor sie ins „Polizeiliche Durchgangslager Amersfoort“ gebracht wurden. Beide überlebten die Gefangenschaft. Nach kurzzeitiger Inhaftierung in der Weteringschans gelangten die Untergetauchten am 8. August 1944 in das Durchgangslager Westerbork und trafen am 5. September 1944 in Auschwitz ein, wo sie nach Geschlechtern getrennt wurden. Ende Oktober wurden Margot und Anne Frank nach Bergen-Belsen deportiert. Sie starben zwischen Februar und März 1945 während einer Typhusepidemie. Von allen in der Prinsen-
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Anne Frank-Tagebuch
gracht 263 untergetauchten Personen überlebte Otto Frank als Einziger den Holocaust. Zwei Helferinnen, Miep Gies und Bep Voskuijl, entgingen der Verhaftung. Es gelang ihnen, einen Großteil der vom SD verstreuten Seiten des Tagebuchs aus dem Versteck zu bergen und einen Lagerarbeiter mit der Sammlung weiterer beschriebener Papiere zu beauftragen. Die unbearbeiteten Aufzeichnungen von Dezember 1942 bis Dezember 1943 sind bis heute verschollen. Anne Franks erhaltene überarbeitete Fassung deckt jedoch die Ereignisse aus diesem Zeitraum ab. Miep Gies plante, die Texte bis zu Franks Rückkehr aufzuheben. Als feststand, dass Anne nicht überlebt hatte, übergab sie die zusammengetragenen Notizen an Otto Frank. Dieser entschied sich, die Aufzeichnungen seiner Tochter ihrem Wunsch gemäß zu veröffentlichen. Er stellte aus den beiden erhaltenen Fassungen A und B ein Manuskript zusammen (Fassung C). In der Annahme, dass die im Buch aufgegriffenen sexuellen Themen Verleger von der Publikation abhalten könnten, strich Otto Frank einige intime Zeugnisse seiner Tochter aus dem Manuskript. Auch entfernte er vereinzelte negative Schilderungen von Mitbewohnern, um das Andenken der Verstorbenen zu schützen. Otto Frank vermachte sämtliche Originalaufzeichnungen (die Fassungen A, B und C) nach seinem Tod 1980 dem Rijksinstitut voor Oorlogsdocumentatie in Amsterdam (heute: Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie). Spätere Editionen des Tagebuchs basieren auf diesen Originaltexten, sodass die in den 1950er-Jahren von Otto Frank gestrichenen Passagen inzwischen durch Anne Franks eigene Ausführungen ergänzt wurden. Trotz der Bemühungen Otto Franks um eine zeitnahe Veröffentlichung des Tagebuchs war das Interesse aufseiten der Verleger gering. Das änderte sich schlagartig, als ein Artikel in der Tageszeitung „Het Parool“ am 3. April 1946 über das Buch berichtete. 1947 erschien die erste Auflage von „Het Achterhuis: Dagboekbrieven van 12 Juni 1942 – 1 Augustus 1944“ [Das Hinterhaus: Tagebuchbriefe vom 12. Juni 1942 – 1. August 1944] mit 1.500 Exemplaren. 1950 folgte die deutsche Erstauflage, 1952 die amerikanische und japanische Fassung. Im Gegensatz zu anderen Zeugnissen von Verfolgten war die Resonanz auf das Tagebuch äußerst positiv. In der „New York Times“ hieß es am 15. Juni 1952: Es sei „keine düstere Ghetto-Geschichte, keine Zusammenstellung von Schrecken“, sondern ein Text, „der einfach vor Freude, Liebe und Entdeckung sprudelt“. Vor allem das 1955 am Broadway uraufgeführte Theaterstück prägte die Wahrnehmung des Tagebuchs als optimistisches und Hoffnung spendendes Werk nachhaltig. Franks jüdische Herkunft spielt im Stück nur eine untergeordnete Rolle und auch die Bedrohung der Familie wird lediglich angedeutet, ein gewaltsames Zusammentreffen von Verfolgern und Verfolgten findet nicht statt. Stattdessen endet die Aufführung mit einem Zitat vom 15. Juli 1944, in dem Anne Frank betont, dass sie „noch immer an das innere Gute im Menschen glaube“. In den darauffolgenden Jahren erhielten das Theaterstück sowie dessen Verfilmung (1959) mehrere Auszeichnungen, darunter den Pulitzer Preis und drei Oscars. Angeregt durch den Erfolg stieg zugleich die Nachfrage nach dem Buch. Es eroberte die internationalen Bestsellerlisten. Die Neuauflage der deutschen Fassung erschien 1955 als Taschenbuch und wurde prompt zum erfolgreichsten deutschsprachi-
Anti-antisemitische Karikaturen
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gen Taschenbuch der gesamten Dekade. Bis Mitte der 1990er-Jahre wurden allein im deutschsprachigen Raum mehr als 2,5 Millionen Exemplare des Tagebuchs der Anne Frank verkauft. Inzwischen liegen Übersetzungen in 70 Sprachen vor, und weltweit wurde das Tagebuch über 30 Millionen Mal erworben.
Miriam Bistrovic
Literatur Laureen Nussbaum, Was ist so einzigartig an Anne Franks Tagebuch?, in: Inge HansenSchaberg (Hrsg.), Als Kind verfolgt. Anne Frank und die anderen, Berlin 2004, S. 109– 119. Alvin H. Rosenfeld, Popularization and Memory. The case of Anne Frank, in: Lessons and Legacies. The Meaning of the Holocaust in a Changing World, Evanston 1996, S. 248– 278. Marion Siems, Anne Frank. Tagebuch, Stuttgart 2003.
Anti-antisemitische Karikaturen Antisemitische Karikaturen haben nicht erst seit den Sammlungen von Eduard Fuchs (→ Die Juden in der Karikatur) breite wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen, das Thema ist in der Antisemitismusforschung von verschiedenen historischen, bildwissenschaftlichen oder soziologischen Gesichtspunkten aus vielfach untersucht worden. Dass neben der großen Zahl von antisemitischen Karikaturen indes auch Antisemiten immer wieder karikiert worden sind, hat bisher kaum Beachtung gefunden. Tatsächlich erschienen seit der Entstehung des Antisemitismus als sozialer und politischer Bewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vor allem in sozialdemokratischen und liberalen Zeitungen und Zeitschriften immer wieder Karikaturen, die sich über antisemitische Einstellungen und Aktionen sowie die maßgeblichen Protagonisten der antisemitischen Bewegung lustig machten. Schon Anfang der 1870er-Jahre, als nach der Bankenkrise in der Öffentlichkeit neue judenfeindliche Ressentiments in Erscheinung traten, nahm die liberale Zeitung „Berliner Wespen“ in ihrer Karikatur „Das Lied von den schlimmen Juden“ die antisemitische Agitation der konservativen „Neuen Preußischen Zeitung“ (Kreuzzeitung) aufs Korn und zeigte, wie sehr sich diese vor allem gegen liberale Politiker richtete und dass insbesondere jüdische Bankiers als Hassobjekte dienten. Die Bildsprache der anti-antisemitischen Zeichnungen nahm vor allem konkrete antisemitische Akteure ins Visier. Besonderer Beliebtheit erfreute sich dabei der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker. Bereits unmittelbar nach seiner ersten antisemitischen Rede erschien in dem humoristisch-satirischen Wochenblatt „Kladderadatsch“ die Karikatur „Der moderne Reformator“, die Stoeckers antisemitisches Auftreten und seine fanatisch einseitige Agitation parodierte. Nachdem es zu ersten Ausbrüchen antisemitischer Gewalt gekommen war, karikierte „Der wahre Jacob“ den Berliner Hofprediger als „Schutzheiligen der Radaubrüder“, und im Zusammenhang mit den Krawallen in Pommern und Westpreußen zeichnete die in Altona erscheinende sozialdemokratische Zeitung „Die Reform. Ein Volksblatt“ unter der Überschrift „Saat und Frucht“ die Gewalt gegen Juden als Folgen von Stoeckers antisemitischen Reden. Selbst in österreichischen anti-antisemitischen Karikaturen war Stoecker ein beliebtes Bildmo-
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Anti-antisemitische Karikaturen
tiv, und die Zeichner haben auch hier immer wieder den Widerspruch zwischen dem Prediger der Nächstenliebe und dem antisemitischen Agitator gezeigt. Neben Stoecker persiflierten anti-antisemitische Karikaturen insbesondere den durch seine politischen Erfolge und öffentlichen Skandale hervorgetretenen Antisemiten Hermann Ahlwardt. So zeichnete „Der wahre Jacob“ 1893 in der Karikatur „Aus der Zeit“, wie Hermann Ahlwardt, die Säge Antisemitismus in der Hand, in konzertierter Aktion mit konservativen, wirtschaftsliberalen, militaristischen und klerikalen Kräften an die Zerstörung der „Gesellschaftsordnung“ geht. Die folgende Nummer dieser Zeitschrift zeigt Ahlwardt dann als einen vom Publikum gefeierten Bänkelsänger, die Gitarre in der Hand auf einem Stapel seiner antisemitischen Flugschriften sitzend. In österreichischen Satirezeitschriften wiederum stand der christlichsoziale Politiker Karl Lueger im Vordergrund. Schon vor seinen durchschlagenden politischen Erfolgen karikierte die in Wien erscheinende politisch-humoristische Wochenschrift „Der Floh“, wie Lueger sich je nach Publikum in seiner Propaganda der antisemitischen Sprache bediente, und das Wiener humoristisch satirische Arbeiterblatt „Glühlichter“ zeichnete in der Karikatur „Medicin und Hygiene nach antisemitischen Begriffen“ den Arzt Lueger, der einem Kranken die Medizin „Christlichsocialer antisemitischer Blödsinn“ verabreicht, von der stündlich ein Esslöffel einzunehmen sei. 1890 erschien in den „Glühlichtern“ eine Karikatur, in der Lueger in vereinten Kräften mit einem Kleriker mittels des Rammbocks „Antisemitismus“ die Mauer der „Hochburg des Liberalismus“ zu schleifen versucht. Im Zuge der verstärkten antisemitischen Agitation Luegers zeichneten die „Glühlichter“ im September 1893 unter der Überschrift „Antisemitische Hirschjagd“, wie Lueger mit einem Stock auf einen Juden einprügelt. Auf dem Höhepunkt der antisemitischen Kampagnen Luegers zeigt eine Karikatur derselben Zeitschrift, wie Lueger zusammen mit Parteifreunden und einem Geistlichen Juden in einen auf dem Feuer brodelnden Suppentopf wirft und daraus einen „Klerikal-christlichsocialen-antisemitischen Volks-Verdummungs-Brei“ kocht. Neben Lueger karikierten österreichische Zeitschriften den alldeutschen Antisemiten Georg Ritter von Schönerer. Im „Floh“ war dieser als „Hexe“ gezeichnet. Zusammen mit anderen Antisemiten rührte Schönerer ein Giftgebräu an, und in dem zu dieser Karikatur gehörenden Gedicht taucht immer wieder die Zeile: „Alle Juden müssen bluten“ auf. Eine Karikatur der „Glühlichter“ von 1907 wiederum nahm Schönerers Trinkgewohnheiten aufs Korn, und 1912, nach dem durchschlagenden Erfolg der SPD bei den deutschen Reichstagswahlen, verspotteten die „Neuen Glühlichter“ Luegers Resignation. Der Prager Professor für katholische Theologie August Rohling wiederum, gegen dessen Ritualmord-Anschuldigungen der österreichische Rabbiner Josef Bloch einen erfolgreichen Gerichtsprozess geführt hatte, wurde in einer Karikatur als klerikaler Finsterling gezeichnet, gegen den Bloch mit der Fackel der Aufklärung zu Felde zog. Anti-antisemitische Karikaturen machten sich aber nicht nur über einzelne Protagonisten lustig, immer wieder wurden auch die politischen Konstellationen, in denen antisemitische Strategien zum Tragen kamen, und die internen Konflikte unter den divergierenden Akteuren des Antisemitismus ikonografisch umgesetzt. In der Karikatur „Germania rüstet sich für die Weltausstellung in Chicago“ zeichnet „Der wahre Jacob“ 1892 Hermann Ahlwardt und Otto von Bismarck als siamesische Zwillinge, und
Anti-antisemitische Karikaturen
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die „Glühlichter“ zeigten 1893, wie das skandalträchtige Auftreten von Hermann Ahlwardt und dessen politische Erfolge die Strategien der miteinander im Streit liegenden Antisemiten wie dem christlichsozialen Stoecker und dem rassistischen Max Liebermann von Sonnenberg durcheinanderbrachte. Dass sowohl deutsche als auch österreichische Antisemiten mit kapitalismuskritischer Rhetorik auftraten, veranlasste die Zeitschrift „Glühlichter“ zu der Karikatur „Der europäische Augiasstall“, der ihnen als Symbol des Kapitalismus diente. Nicht die beiden Antisemiten Ahlwardt und Lueger aber können diesen mit ihren lädierten und geflickten Besen säubern, sondern nur der Herkules „Sozialismus“. Schließlich finden sich anti-antisemitische Bildmotive in Karikaturen, die die Widersprüche der Zivilisation und die Gespaltenheit der bürgerlichen Moral kritisierten. Die 1890 in den „Glühlichtern“ erschienene Karikatur „Kulturblüten aus dem weissesten Europa“ etwa zeigte, wie ein Fabrikbesitzer seine Arbeiter mit einer Peitsche traktierte, wie unter dem Titel „Humanität“ ein Rekrut von seinem Vorgesetzten angebrüllt und mit der Faust bedroht wurde oder wie unter dem Stichwort „Rechtspflege“ Arbeitern mit juristischen Mitteln der Mund verschlossen wird. Unter der Überschrift „Toleranz“ schließlich schlägt ein bärtiger Bürger mit einem Knüppel auf einen Juden ein. 1892 erschien in derselben Zeitschrift die Karikatur „Unsere goldene akademische Jugend“, die neben sich betrinkenden und schlagenden Studenten einen jungen Wissenschaftler zeigt, der unter dem Titel „Akademische Bildung“ einen Juden würgt und mit einem Stock verprügelt. Im Unterschied zur antisemitischen Ikonografie entwarfen anti-antisemitische Karikaturen keinen generalisierenden Typus des antisemitischen Akteurs. Sie gaben den Antisemiten keine stereotypisierte Physiognomie. Auch ist der Begriff Antisemitismus ikonografisch nicht zu einem Emblem oder Symbol verdichtet worden. Lediglich in einer, 1888 im „Wahren Jacob“ erschienenen Karikatur ist „der Antisemitismus“ in der Figur eines räudigen, lefzenden Hundes verdichtet, der Stoecker und nationalliberalen Politikern hinterherlief. Ein Bildmotiv aber taucht in den anti-antisemitischen Karikaturen immer wieder auf: die Hepp-Hepp-Keule. Schon die Karikatur von Stoecker als „modernem Reformator“ zeigt diesen in Lutherschem Habitus beim Anschlag von „95 Thesen gegen die Juden“, die sich jedoch auf ein einziges, 95-mal wiederholtes Wort reduzieren: „Hepp-Hepp“. Die „Radaubrüder“, denen Stoecker in der Karikatur des „Wahren Jacob“ als „Schutzheiliger“ diente, schwangen Hepp-Hepp-Prügel, und die „Siamesischen Zwillinge“ Ahlwardt und Bismarck hatten ebenfalls Hepp-Hepp-Keulen in den Händen. Die Zeichner der anti-antisemitischen Karikaturen blieben zumeist anonym. Zu den namentlich genannten Karikaturisten gehörten Friedrich Kaskeline (1863–1931), Fritz Graetz (1875–1915) oder Moriz Jung (1885–1915).
Ulrich Wyrwa
Literatur Ulrich Wyrwa, The Image of Antisemites in German and Austrian Caricatures, in: Quest. Issues in Contemporary Jewish History. Journal of Fondazione CDEC, 3 (2012) – Onlineversion.
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L’AntisÉmite (Film von Dieudonné, 2012)
Antijüdische Objekte → Sammlungen antijüdischer Objekte
L’AntisÉmite (Film von Dieudonné, 2012) Dieudonné M’Bala M’Bala, ein Komiker, der in den 1990er-Jahren unter seinem Vornamen bekannt wurde, engagierte sich Ende der 1990er-Jahre zunächst auf der politischen Linken. Mit Beginn des nächsten Jahrzehnts radikalisierte sich sein Denken und trug ihn ins rechtsextremistische Lager, das er vorher bekämpft hatte. Im Jahr 2009 trat er der „Antizionistischen Partei“ (Parti Anti Sioniste/PAS) bei. Seither häufen sich die Provokationen in seinen Bühnenauftritten und auf seiner Internetseite, die ihm mehrfach Verurteilungen wegen Anstiftung zum Rassenhass (Incitation à la haine raciale, ein Straftatbestand, der dem der Volksverhetzung im deutschen Recht entspricht) eingebracht haben. Im Jahr 2011 schrieb und drehte Dieudonné seinen ersten eigenen Film, „L’AntisÉmite“ [Der Antisemit], in dem er auch selbst mitspielte. Er erzählt die Geschichte der Dreharbeiten zu einem Film über einen zwanghaften Antisemiten, der sich auf Bitten seiner Frau einer Psychoanalyse gegen sein Leiden unterzieht. Der Film beginnt mit einem Kurzfilm in schwarz-weiß, der die Bilder von der Befreiung der Konzentrationslager 1945 parodiert, wobei erklärt wird, dass die Amerikaner, die Auschwitz befreien würden (sic!), Komplizen der Juden bei der Erschaffung des Shoah-Mythos seien. „L’AntisÉmite“ besteht im Folgenden aus Sequenzen eines Films, der gerade gedreht wird, und Bildern eines vermeintlichen „Making-offs“. Zwischen den Aufnahmen eskalieren die Spannungen innerhalb des Filmteams, bis ein islamistischer Kameramann die jüdische Darstellerin ermordet. Der Film endet mit dem Song „Shoananas“ (ein Wortspiel aus „Shoah“ und „Ananas“), einem der Erkennungszeichen der Dieudonné-Fans. Nach dem Abspann werden herausgeschnittene Szenen gezeigt, von denen einige noch stärker antisemitisch sind als die im Film belassenen. Die Dreharbeiten fanden an neun Tagen im Sommer 2011 statt. Produziert wurde der Film von der Firma „Les productions de la Plume“, die von Dieudonnés Ehefrau geleitet wird und die Einnahmen aus Dieudonnés verschiedenen Aktivitäten verwaltet, obwohl Dieudonné in ihren Statuten nicht auftaucht (was es ihm ermöglichte, sich Anfang 2014 für bankrott zu erklären, obwohl das Unternehmen für 2012 einen Jahresumsatz von mehr als 1,8 Millionen Euro bekannt gab). Der Komiker schloss sich daneben mit dem iranischen Produzenten Mohsen Ali-Akbari zusammen, der aufgrund seines „antizionistischen Glaubens“ einwilligte, den Film zu produzieren. Die Verbindungen Dieudonnés zum Iran gehen auf seinen Aufenthalt dort im Jahr 2009 zurück, drei Jahre, nachdem er Syrien besucht hatte. Infolge seines Zusammentreffens mit dem iranischen Präsidenten Ahmadinedschad widmete er ihm 2010 seine Show „Mahmoud“. „L’AntisÉmite“ sollte am 16. Januar 2012 herauskommen, wurde jedoch nie ausgestrahlt – er kann aber auf Dieudonnés offizieller Internetseite von deren Abonnenten erworben oder angesehen werden. Der Film vereint den ganzen Dunstkreis, der sich um Dieudonné herum bewegt, von der extremen Linken bis zur extremen Rechten. Alain Soral, ein ehemaliger Kommunist, der ins rechtsextreme Lager wechselte und sich als „nationaler Sozialist“ definiert, ist seit 2009 der neue politische Mentor Dieudonnés. In „L’AntisÉmite“ ist er in der Rolle eines übermächtigen und verächtlichen jüdischen Produzenten zu sehen.
L’AntisÉmite (Film von Dieudonné, 2012)
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Der Holocaustleugner Robert Faurisson spielt die Rolle eines Kollegen von Dieudonné, der ihn dazu bringt, einen vom Himmel herabgestiegenen Engel, „die Heilige Shoah“, mit dem Auto zu überfahren. Diesen Engel spielt María Poumier, eine „antizionistische“ Hochschullehrerin, die 1996 von ihrer Arbeit an der Universität Paris VIII entbunden wurde, nachdem sie an der Verbreitung des Werkes „Les mythes fondateurs de la politique israélienne“ [Die Gründungsmythen der israelischen Politik] des Holocaustleugners Roger Garaudy beteiligt gewesen war. Schließlich ist auch Ahmed Moualek, Gründungsmitglied der „Antizionistischen Partei“, im Film zu sehen – er spielt einen Kameramann. Die Arbeit mit dem Bild im Bild und der Ton des Films, der humoristisch sein soll, erlauben es Dieudonné, seine Figuren die furchtbarsten Dinge sagen zu lassen. Doch die Handlung, die Denkweise, alles bis hin zum Namen seiner Figur ist derart dicht an seiner eigenen Identität, dass sich eine Metaebene nur schwer entdecken lässt. Zusätzlich bestätigt die Zahl an Darstellern, die weder Schauspieler noch Komiker, sondern politisch aktiv sind, dass es sich bei „L’AntisÉmite“ nicht um eine Komödie, sondern um ein Pamphlet handelt. Der Film macht sich praktisch sämtliche Vorurteile über Juden zunutze und ergänzt sie um ein paar neue: Geld, Sex, Macht, Manipulation, Lüge, Homosexualität, Pädophilie, Verbindungen zur Freimaurerei, Unterjochung der Palästinenser. Ganz wie die biologistischen Antisemiten am Anfang des 20. Jahrhunderts ist Dieudonné von Krebsgeschwüren besessen. Im Film sind sowohl seine Frau als auch er davon betroffen. Doch der „Krebs“ des Dieudonné ist nicht – wie man den ganzen Film über glaubt – der Antisemitismus. Auf dem Sterbebett erklärt ihm seine Frau doppeldeutig: „Der Krebs, der dich zerfrisst, das sind die Juden“. Der nachfolgende Film Dieudonnés, „Métastases“ [Metastasen], erzählte denn auch die Geschichte zweier an Krebs erkrankter Personen, die zwei verschiedene Therapien versuchen. Der Film ist wichtig in der Biografie Dieudonnés, denn er lässt sich als ein Glaubensbekenntnis seiner Ideologie lesen, in der sich verschiedene Entwicklungen des Antisemitismus seit den 1970er-Jahren kristallisieren. War es Faurisson, der bereits 1979 die Verbindung zwischen „dem angeblichen Genozid an den Juden“ und dem Schicksal der Palästinenser konstruierte, stellte erst die Garaudy-Affäre 1995 eine Verbindung zwischen dem linksextremen und dem rechtsextremen Antisemitismus her. Dieudonné stellt sich in diese Entwicklung und integriert darin einen Teil der afrikanisch-stämmigen Bevölkerung, die einer Erinnerungskonkurrenz verpflichtet ist, sowie Anhänger von Verschwörungskonstrukten. Nicht zuletzt bringen ihm das Internet und soziale Netzwerke eine große Öffentlichkeit, die sich in seiner „gegen das System“ gerichteten Denkweise wiedererkennt. Dieudonné zeigte seinen Film als Vorpremiere vor geladenem Publikum am 15. Januar 2012. Anlässlich dessen erklärte er: „Dies ist eine Posse“. Infolge eingereichter Klagen wird der Film ausschließlich über Dieudonnés Internetseite vertrieben, wo er den Abonnenten zur Verfügung steht. Anlässlich der Filmfestspiele in Cannes versuchte der iranische Produzent im Mai 2012, den Film unter dem Titel „Yahod Setiz“ im Rahmen des Programms Marché du film [Filmmarkt; geschäftlicher Teil des Festivals, wo Filme zum Verkauf an internationale Verleihfirmen angeboten werden] zu zeigen, was von den Verantwortlichen jedoch abgelehnt wurde. Die wenigen Kritiken
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L’Argent (Film von Marcel L’Herbier, 1928 und Film von Pierre Billon, 1936)
in Filmzeitschriften waren sich einig und werden gut von der Zeitschrift „Première“ zusammengefasst, die den Film als „vor allem unansehbar, das letzte Werk eines Typen […], der über den Zwang zu endlosen Wiederholungen verrückt geworden ist“, bezeichnete. Obwohl keine Zahlen existieren, um die Verbreitung des Films bemessen zu können, muss konstatiert werden, dass er trotz über 750.000 Fans der FacebookSeite Dieudonnés in deren Kommentaren quasi nicht existent ist. Unter der Androhung, sein neues Bühnenprogramm verbieten zu lassen, wurde Dieudonné vom französischen Innenminister Ende 2013 dazu gezwungen, es umzuschreiben. Schwierigkeiten mit dem Fiskus wegen ausstehender Steuerzahlungen in großer Höhe haben dazu geführt, dass Dieudonné seither etwas zurückhaltender agiert.
Fabrice Teicher Übersetzung aus dem Französischen von Bjoern Weigel
Literatur Valérie Igounet, Histoire du négationnisme en France, Paris 2000. Annie Kriegel, Vérité historique et mensonges politiques. Diversions et révisions sur l’antisémitisme, in: Commentaire 3 (Winter 1980/81) 12, S. 551–558. Pierre-André Taguieff, La Nouvelle judéophobie, Paris 2002. Fabrice Teicher, L’Affaire Garaudy-Abbé Pierre dans la presse nationale française, Université Paris I – Panthéon Sorbonne, Paris 2001.
Antisemitentheater → Das arische Theater in Wien Apostelkommunion (Gemälde von Luca Signorelli, 1512) → Comunione degli Apostoli Die Arche → Jüdisch-Politisches Cabaret L’Argent (Roman von Émile Zola, 1891) → L’Argent (Film)
L’Argent (Film von Marcel L’Herbier, 1928 und Film von Pierre Billon, 1936) „L’Argent“ [Das Geld], der 1891 erschienene Roman Émile Zolas, der sich anhand des Kampfes zwischen den beiden Bankiers Saccard und Gunderman mit Börsenspekulationen auseinandersetzt, wurde zweimal verfilmt: Der Film von Marcel L’Herbier kam 1928 heraus, der von Pierre Billon 1936. Wenn sich die Regisseure auch in der Behandlung der Charaktere stark unterscheiden, ist der Antisemitismus in beiden Filmen vorhanden. In dem Stummfilm „L’Argent“ von Marcel L’Herbier wird Antisemitismus in der gegensätzlichen Darstellung der beiden Protagonisten sichtbar; die ersten Sequenzen, in denen die Bankiers Saccard und Gunderman vorgestellt werden, sind besonders aufschlussreich. Saccard, der „Urfranzose“, gespielt von Pierre Alcover, ehemals Schauspieler an der Comédie Française, wird in den Zwischentiteln als „wagemutiger Finanzier“ (financier audacieux) beschrieben: übersprudelnd vor Manneskraft, willensstark und sanguin, ein echter Napoleon. Die Kamera zeigt mehrfach die Statuette des Kaisers, die auf seinem Schreibtisch steht, und bleibt einen Moment lang bei der
L’Argent (Film von Marcel L’Herbier, 1928 und Film von Pierre Billon, 1936)
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Hand Alcover/Saccards stehen, während diese unter seine Weste gleitet, was das Bild eines mit der Geschichte Frankreichs verbundenen Mannes verdeutlicht. Gunderman wird von Alfred Abel dargestellt, einem deutschen Schauspieler, der durch die Rolle des Alleinherrschers Joh Fredersen in „Metropolis“ Berühmtheit erlangte. Über den Bankier Gunderman heißt es auf den Texttafeln, er kontrolliere „einen großen Teil des weltweiten Öls“ und besitze „eine vorzügliche Organisation“ von „Agenten“, die ihn über alle Geschäfte der Welt unterrichten. Diese Vorstellung entspricht allen gängigen Klischees über „jüdische Banken“: Kosmopolitismus und Verschwörung. Um Gunderman zu beschreiben, folgt die Kamera seinem Strohmann Salomon Massias, gespielt von Alexandre Mihalesco (spezialisiert auf stereotype Judenrollen), durch die riesige verwaiste Empfangshalle im Stadtpalais des Bankiers. Ein Hausangestellter öffnet mit verschwörerischer Miene eine verborgene Tür (das Komplott) und lässt ihn in ein kreisförmiges Zimmer eintreten, dessen Wände aus einer Erdkarte bestehen, über die Schiffe der Bank Gunderman verstreut sind, die in der Welt unterwegs sind. Sodann öffnet sich eine zweite, in den Kulissen nicht sichtbare Geheimtür, die das beeindruckende Büro des Bankiers zeigt. Dieser sitzt beim Frühstück in Begleitung zweier kleiner weißer Pommerscher Spitze (ein weiterer unterschwelliger Hinweis auf Deutschland), die nie von seiner Seite weichen (er trägt sie, streichelt sie, gibt ihnen zu fressen). Kalt und emotionslos, zeigt Alfred Abel manirierte Gesten: Er tupft sich die Lippen ab, isst ein Ei mit abgespreiztem kleinen Finger und gießt sich in derselben Weise ein Glas Milch ein. Das Wechselspiel zwischen Saccard – rührsam, gesprächig und willensstark – und Gunderman – verweiblicht, beinahe wortlos und eisig – bestimmt den Film. Der Zuschauer von 1929 konnte von der Macht des jüdischen Bankiers nur verstört sein, der alle Ängste dieser Zeit vereinte: Verweiblichung, Kosmopolitismus und Verschwörung. Die deutsche Herkunft des Schauspielers und der Figur – ein „importierter Finanzier“, wie ihn L’Herbier in seinen Memoiren („La tête qui tourne“, 1978) bezeichnete – erinnerte stark an die Person Rothschilds, des Bankiers, der als Sündenbock der Antisemiten für alle Übel Frankreichs zu dieser Zeit herhalten musste. Der Film ist umso gefährlicher, da es sich um ein Meisterwerk der französischen Avantgarde handelt und nicht um einen kleinen, unbedeutenden Film, wie sie damals in großer Zahl gedreht worden sind. Die Leinwandadaption des Zola-Romans von Pierre Billon während der Volksfront-Regierung fällt in diese zweite Kategorie: Der Antisemitismus tritt hier ohne Umschweife und karikaturhaft hervor. Wie im Film von L’Herbier speist sich der Antisemitismus aus dem Gegensatz der zwei Bankiers, doch wird dieser hier bis ins Groteske überzeichnet. Der Bankier Gunderman – ausstaffiert mit seinen Söhnen, von denen einer wie der andere noch klischeehaftere Judenkarikaturen sind – macht krumme Geschäfte und klüngelt herum, während der Bankier Saccard (gespielt von einem der Stars dieser Zeit, Pierre Richard-Willm, der auf Aristokraten- und Schönlings-Rollen beschränkte Schauspieler) ein Wohltäter ist, der seinen Reichtum und seine Zeit den Waisenkindern des Hauses widmet, das er selbst gegründet hat. Beide Filme sind recht weit von der Romanvorlage entfernt, in der Zola die mit dem Geld zusammenhängenden Makel zu gleichen Teilen auf seine beiden Bankiers
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Das arische Theater in Wien (1898–1903)
verteilte. Und wenn auch ihre Lebensweisen, ihre Reaktionen, ihre Persönlichkeiten sehr unterschiedlich sind, wird ihr Verhalten dem Geld gegenüber doch nicht durch ihre „Rasse“ (wie es in der damaligen Terminologie hieß) bestimmt. Zola prangert in seinem Roman die Spekulation an der Börse und die Herrschaft des Geldes an, jedoch ohne dies einer einzelnen Bevölkerungsgruppe zuzuschreiben, woran er in seinem Artikel „Pour les Juifs“ [Für die Juden] erinnerte, der fünf Jahre nach dem Erscheinen seines Romans auf der Titelseite der Zeitung „Le Figaro“ veröffentlicht wurde: „Dass es in den Händen einiger Juden eine schmerzliche Anhäufung von Reichtum gibt, ist Fakt. Doch dasselbe Anhäufen gibt es bei den Katholiken und bei den Protestanten.“ Die beiden Filmemacher teilten diese Meinung offenbar nicht.
Chantal Meyer-Plantureux Übersetzung aus dem Französischen von Bjoern Weigel
Das arische Theater in Wien (1898–1903) Das Kaiserjubiläums-Stadttheater in Wien wurde 1898 zum 50. Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph I. eröffnet. Vor allem 1898–1903, unter der Direktion von Adam Müller-Guttenbrunn, wurde das Theater „Arisches Theater“ bzw. „Antisemitentheater“ genannt. Heute wird das Haus von der Volksoper Wien genutzt. Anlässlich des bevorstehenden Thronjubiläums von Kaiser Franz Joseph I. wurde im damaligen Wiener Bezirk Währing eine Initiative gegründet, die den Bau eines Theaters im Sinn hatte. Diesem „Kaiserjubiläums-Stadttheater-Verein“ gehörten u. a. Guido List und der christlichsoziale Wiener Bezirksvorsteher von Währing Anton Baumann, der auch für die Besetzung der Direktion verantwortlich war, an. Der Verein, hier vor allem christlichsoziale und deutschnationale Mitglieder, forcierten den Journalisten, Autor und ehemaligen Direktor des Raimundtheaters Adam Müller-Guttenbrunn als Direktor und Pächter. Dieser hatte aufgrund seiner bisherigen Tätigkeiten den Ruf eines Antisemiten. So lobte Guido List z. B. in der deutschnationalen Zeitung „Ostdeutsche Rundschau“ Müller-Guttenbrunns Qualifikationen als Theaterdirektor. Baumann unterschrieb den Vertrag mit Müller-Guttenbrunn erst, als ihm dieser schriftlich zusicherte, „das Theater keinem jüdischen Einfluß zugänglich zu machen, wissentlich keine jüdischen Schauspieler zu engagieren und das Werk keines Juden zur Aufführung zu bringen“. Das Zustandekommen des Vertrags mit Müller-Guttenbrunn hatte zur Folge, dass liberale Kreise das Theater fortan „Antisemitentheater“ nannten. Die „Neue Freie Presse“ lehnte die Publikation des Theaterprogramms ab, was Müller-Guttenbrunn veranlasste, dies mittels bezahlter Inserate in der „Neuen Freien Presse“ zu publizieren, woraufhin Karl Kraus in der „Fackel“ kritisierte, dass die „Neue Freie Presse“ gegen Geld auch für Antisemiten Propaganda mache. Nach dieser Attacke lehnte die liberale Zeitung die Veröffentlichung der bezahlten Inserate ab. Als erstes Stück entschied sich Müller-Guttenbrunn für Kleists „Hermannsschlacht“. Dem damaligen christlichsozialen Bürgermeister Karl Lueger missfiel diese Wahl, da er sich Volksstücke und Possen wünschte, und so bezeichnete er die „Hermannsschlacht“, die ihm zu wenig volkstümlich war, als „Schandstück“.
Das arische Theater in Wien (1898–1903)
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Zwanzigmal ließ Müller-Guttenbrunn Shakespears „Kaufmann von Venedig“ aufführen. Das Stück, in dem sich in der Person des Shylock antisemitische Ressentiments bündeln lassen, hatte jedoch keinen großen Erfolg beim Publikum. Die deutschnationale und antisemitische Presse feierte dagegen die Aufführung. So schrieb das „Deutsche Volksblatt“ von einer „meisterhaften Symphonie der jüdischen Gier und des jüdischen Durstes nach Rache“. Das Stück „Der Rechtschaffene“ des „Kikeriki“-Redakteurs Theodor Taube (eigentlich: Theodor Herdlicka) ist angelehnt an den Prozess um Viktor von Ofenheim. Der Protagonist des Stücks, ein einfacher Gewerbetreibender, ist Geschworener in einem Prozess gegen einen jüdischen Börsenspekulanten, der der Korruption angeklagt ist. Der Gewerbetreibende verliert schließlich durch jüdische Betrügerei Ehre und Geld und verfällt am Ende dem Wahnsinn. Die antisemitische Presse lobte MüllerGuttenbrunn für seinen Mut, dieses Stück zu produzieren. Der „Kikeriki“ sprach von der „ersten, wirklich antisemitischen Novelle“, die am Theater zur Aufführung gekommen sei. Die Aufführung der offen antisemitischen Stücke „Söhne Israels“ und „Harte Hände“ wurden Müller-Guttenbrunn von der Zensur verboten. Daraufhin ließ er die Werke drucken und verbreiten. Zur Aufführung gelangten auch Werke von O.F. Berg (eigentlich: Ottokar Franz Ebersberg), des Begründers der satirischen Wochenschrift „Tritsch-Tratsch“ und des Herausgebers des antisemitischen „Kikeriki“. Aber auch Werke von Schiller, Goethe und Kleist wurden aufgeführt. Den österreichischen Klassikern wurde mit Grillparzer und Raimund Rechnung getragen. Auch „Heimatdichter“ wie Anzengruber und Rosegger wurden gespielt. Müller-Guttenbrunn, der auch Pächter des Theaters war, geriet mit dem Kaiserjubiläums-Stadttheater zusehends in finanzielle Schwierigkeiten. So verfasste er 1902 einen Brief an Karl Lueger mit der Bitte, die Stadt möge finanzielle Abhilfe schaffen. Lueger lehnte jedoch ab und verwies Müller-Guttenbrunn an den Theaterverein, der aber ebenfalls abwinkte. Ein neu gegründeter Verein, der es sich zum Ziel setzte, in Wien eine Volksoper zu erbauen, trat an Müller-Guttenbrunn heran und schlug ihm vor, die geplante Volksoper im Gebäude des Kaiserjubiläums-Stadttheater zu beheimaten. Am 25. Juni 1903 einigte sich Müller-Guttenbrunn mit dem Vereinsvorsitzenden Rainer Simons, schied aus dem Theater aus und Simons wurde Direktor der nun neuen Volksoper. In späteren Darstellungen rechtfertigte sich Müller-Guttenbrunn, er wollte nur ein „judenreines“, aber kein „antisemitisches, mit dem Knüppel winkendes Theater“. 1902 jedoch bezeichnete er es als seinen Erfolg, dass das Land Niederösterreich einen Preis für ein „arisches niederösterreichisches Stück“ geschaffen hatte, da seiner Meinung nach ein Mangel an publikumswirksamen antisemitischen Stücken bestand.
Christian Pape
Literatur Richard S. Gehr, Adam Müller-Guttenbrunn and the Aryan Theater of Vienna, 1898–1903. The Approach of cultural Fascism, Göppingen 1973. Gerald Stieg, Karl Kraus und Adam Müller-Guttenbrunn, in: Antal Mádl, Anton Schwob (Hrsg.), Vergleichende Literaturforschung. Internationale Lenau-Gesellschaft 1964 bis 1984, Wien 1984, S. 456–463.
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Asch-Schatat (Fernsehserie von Fathallah Omar, Syrien 2003)
Erika Weinzierl, Kein „Judentempel“. Adam Müller-Guttenbrunn und das Wiener „Antisemitentheater“, in: Jüdisches Echo. Zeitschrift für Kultur und Politik 44 (1995), S. 159– 163. Hans Weresch, Adam Müller-Guttenbrunn. Sein Leben, Denken und Schaffen, Band 1 und 2, Freiburg im Breisgau 1975.
Die armen Polen schauen auf das Ghetto (Essay von Jan Błoński, 1987) → Biedni Polacy patrzą na getto Arrangement mit dem Tod (Roman von Hedda Zinner, 1984) → Die Schauspielerin
Asch-Schatat (Fernsehserie von Fathallah Omar, Syrien 2003) „Asch-Schatat“ [Die Diaspora] ist eine Fernsehserie des an der Universität Aleppo lehrenden Wissenschaftlers Dr. Fathallah Omar über „den Zionismus“. Die durch die private syrische Filmgesellschaft Linn produzierte 29-teilige Fernsehserie wurde im Ramadan 2003 erstmalig in Syrien ausgestrahlt. Sie wurde erfolgreich ins Ausland verkauft und lief im selben Jahr ebenfalls bei al-Manar, dem vom Libanon aus operierenden Sender der Hizbollah. Verantwortlich für das Drehbuch der als historische Dokumentation über das Judentum inszenierten Serie zeichnet Dr. Fathallah Omar. Unterstützt wurde er durch den Historiker Dr. Suheil Zakar, der als „Sachverständiger“ wiederholt mitteilte, die Serie beruhe ausschließlich auf historischen Fakten. Die Serie erhebt den Anspruch, die reale Geschichte des Zionismus von 1812 bis zur Staatsgründung Israels zu erzählen. Dabei würden nur authentische Quellen des Judentums Verwendung finden, so eine zu Beginn jeder Folge gezeigte Bibliografie, darunter Herzls „Der Judenstaat“, der „Talmud“ und die „Tora“. Um einer ähnlichen Kritik, wie sie gegen die ägyptische Serie → „Faris bila Gawad“ [Reiter ohne Pferd] vorgebracht wurde, vorzugreifen, betonten die Autoren, ihre Dokumentation greife in keiner Weise auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ zurück. Und in der zu Beginn jeder Folge ausgestrahlten Bibliografie finden diese tatsächlich keine Erwähnung. Gleichwohl sind auch ihre Leitmotive Bestandteil der Serienhandlung, wenn es um die verschwörungstheoretische Deutung historischer Ereignisse geht. „Die Diaspora“ gibt zwar vor, eine der historischen „Wahrheit“ verpflichtete Dokumentation zu sein, bedient aber die gängigen antisemitischen Verschwörungstheorien. So werden unter anderem der Niedergang des Osmanischen Reiches und des zaristischen Russland sowie der Ausbruch des Ersten und Zweiten Weltkriegs zionistischen Machenschaften zugeschrieben. Das Ziel dabei sei immer der vermeintliche Plan zur „zionistischen Weltherrschaft“ mit der Etablierung des Staates Israel als Meilenstein. So wird in einer Folge die Sitzung einer zionistischen Geheimregierung unter Vorsitz der Rothschilds gezeigt, die den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges feiert. Sie berät darüber, wie die anstehende Vernichtung der europäischen Juden die Weltöffentlichkeit „erweichen“ wird, der Gründung eines jüdischen Staates zuzustimmen. Hierbei berufen sich die Diskutierenden explizit auf die „Protokolle“ und den angeblich in ihnen enthaltenen Verschwörungsplan. Doch nicht nur der verschwörungstheoretische Antisemitismus wird in „Asch-Schatat“ bedient, auch auf Ritualmordlegenden wird
Augsburger Heiligkreuzspiel (15. Jahrhundert)
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zurückgegriffen. Detailliert wird etwa in einer Folge gezeigt, wie ein christlicher Junge geschächtet wird, aus dessen Blut dann Matzen gebacken werden. Durch ihren Anspruch, eine historische Dokumentation über Judentum und Zionismus zu sein und dabei authentische Quellen zu verwenden, vermittelt „Asch-Schatat“ seinem Publikum, dass „die Zionisten“ hinter allen Großereignissen der Geschichte stünden. Die besondere Brisanz der Serie liegt darin, historische „Wahrheit“ zu zeigen, die in antisemitischer Bildsprache von professionellen Schauspielern vorgetragen wird. Stattdessen fußt diese vorgeblich der wissenschaftlichen Objektivität verpflichtete Dokumentation in allen wesentlichen Aussagen auf antijudaistischen und antisemitischen Verschwörungstheorien.
Malte Gebert
Literatur Wolfgang Benz, Die Protokolle der Weisen von Zion – Die Legende der jüdischen Weltverschwörung, München, 2007, S. 103.
Assistenzarzt Dr. Feil (Film von Otto Dierichs, 1960) → Zwischenfall in Benderath
Augsburger Heiligkreuzspiel (15. Jahrhundert) Das „Mirakelspiel“ thematisiert legendarische Stoffe um das Kreuz Christi und Konstantin den Großen. Die Handlung umfasst zum einen den Sieg Konstantins über Maxentius und die Auffindung des Kreuzes Christi durch die heilige Helena (die Mutter Konstantins), zum anderen den Raub des Kreuzes durch den Perserkönig Costras und die Rückführung des Kreuzes nach Jerusalem. Dabei spielt die Figur des Judas-Quiriacus eine tragende Rolle. Dieser Konvertit wird bühnenwirksam den „unbelehrbaren“ Juden gegenübergestellt. Das „Augsburger Heiligkreuzspiel“ vom Ende des 15. Jahrhunderts hat man bisher wegen der (revisionsbedürftigen) Lokalisierung nach Tirol eher unpolitisch als erbauliches „Mirakelspiel“ gedeutet. Vor dem Hintergrund der Wiener Ereignisse ab 1420 (Pogrom oder Gesera) ist jedoch eine religionspolitische Deutung nicht weniger wahrscheinlich. Bekanntlich unterstellte man den Juden, mit den Hussiten im Bunde zu stehen. Tatsächlich schienen beide, Juden wie Hussiten, aus christlicher Perspektive das Altarsakrament zu beflecken, sei es durch vermeintliche Hostienschändungen (wie im Falle der Juden von Enns), sei es durch den Laienkelch, den die hussitischen Kämpfer sogar auf ihren Fahnen führten. Dazu passt, dass jenes „Augsburger Heiligkreuzspiel“ ursprünglich sicher nicht am Lech, aber, wie gegen die gängige, nur auf revisionsbedürftige schreibsprachliche Argumente gestützte Auffassung zu beachten wäre, auch nicht an der Etsch entstanden ist; ebenso wenig wird der Tiber mit der Milvischen Brücke in diesem Drama erwähnt, statt dessen ist ausdrücklich von der Donau die Rede, die Konstantins Konkurrent überschreiten will. Die „Legenda Aurea“ kennt zwar einen Barbareneinfall von nördlich der Donau, den Konstantin zurückschlägt, aber dieser ist von der Schlacht an der Milvischen Brücke und dem berühmten in „hoc signo vinces“ deutlich getrennt. Im „Mirakelspiel“ wird die Donau zum Schicksalsstrom, an dem sich das Geschick des (Heiligen) Römischen Reichs und des Christen-
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Augsburger Heiligkreuzspiel (15. Jahrhundert)
tums entscheidet. Das im Spiel mehrfach herausgestellte Kreuz Christi wird dann mit Hilfe eines Juden Judas alias Quiriacus, wie er nach seiner Taufe heißt, tatsächlich gefunden. Gegner des Kreuzes ist der über die Donau ins Reich eine Invasion planende heidnische Maxentius ebenso wie der Heidenkönig Costras. Im Mittel- und Frühneuhochdeutschen sind mit „heiden“ gewöhnlich Muslime gemeint. Aber der heidnische Kreuzesräuber mit seiner gefährlichen Militärmaschinerie gleicht mehr noch als einem türkischen Sultan einem hussitischen Heerführer. Über deren Gefährlichkeit war man auch in universitären Wiener Kreisen durch kriegswissenschaftliches Schrifttum, das etwa Abbildungen der berüchtigten kanonenbestückten hussitischen Wagenburgen zeigte, gut informiert. Bekanntlich trafen die Kriegszüge der Hussiten Österreich nördlich der Donau empfindlich. Ebenso ließ Erzherzog Albrecht die österreichischen Prälaten das Kreuz gegen die Hussiten predigen, was im „Mirakelspiel“ durchaus ein Pendant findet. Nach dem Sieg Kaiser Konstantins unter dem Kreuzeszeichen lässt die Kaiserinmutter Helena im „Mirakelspiel“ jenes Kreuz Christi suchen. Dabei setzt sie gegen Judas und die anderen Juden in Jerusalem als Druckmittel – wie in der „Legenda Aurea“ – den Scheiterhaufen und den Hungerturm ein. Dies waren aber auch Methoden der Gewalt gegen die österreichischen Juden beim Wiener Pogrom. Die Abschrift dieses Heiligkreuzspiels ist um 1500 in eine Augsburger Sammelhandschrift eingebunden worden, weist aber selbst nicht ostschwäbischen, sondern bairischen Sprachstand auf. Dennoch hätte das Spiel durchaus am Augsburger Augustinerchorherrenstift Heilig Kreuz aufgeführt worden sein können, wofür bis heute allerdings der archivalische Nachweis fehlt. Dagegen ist eine Spielbruderschaft für das Augsburger Stift zum Heiligen Kreuz nachgewiesen. Ebenso hat man dort neben der obligatorischen Kreuzesreliquie ein sogenanntes „Kostbarliches Gut“, eine wundertätige, einst allerdings durch Christen von Schändung bedrohte Hostie verehrt. Die Wallfahrt zum „Kostbarlichen Gut“ fundierte die Einkünfte des Stiftes in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Noch wichtiger im Kontext des Antijudaismus ist die dem Stift benachbarte Judengasse und der Friedhof der Augsburger Juden. Dieser Judenfriedhof, von den Augsburger Juden einst auf eigene Kosten in die Stadtbefestigung integriert, wurde nach der Vertreibung der Augsburger Juden seit 1440 seiner Grabsteine beraubt, die etwa für das gotische Rathaus zweckentfremdet wurden. Eine Aufführung des „Augsburger Heiligkreuzspiels“ auf dem wüsten Gelände des Judenfriedhofs, übrigens in Nachbarschaft zur städtischen Richtstätte, scheint nicht unwahrscheinlich zu sein, zumal christliche Friedhöfe nicht selten Bühnenstandorte für Passionsspiele abgaben. Die Wanderung des ursprünglich wohl österreichischen „Mirakelspiels“ nach Augsburg kann mit der Raudnitzer Reform der Augustinerchorherren erklärt werden, wobei das Augsburger Chorherrenstift 1475 von Indersdorf aus reformiert wurde, dessen bayern- und schwabenweit agierender Reformprior Johannes Rothut wiederum in Wien studiert hatte.
Klaus Wolf
Literatur Elke Ukena, Die deutschen Mirakelspiele des Spätmittelalters. Studien und Texte, 2 Bände, Bern, Frankfurt am Main 1975. Klaus Wolf, Hof – Universität – Laien. Literatur- und sprachgeschichtliche Untersuchungen zum deutschen Schrifttum der Wiener Schule des Spätmittelalters, Wiesbaden 2006.
Bänkelsang
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Klaus Wolf, Theater im mittelalterlichen Augsburg. Ein Beitrag zur schwäbischen Literaturgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben, Band 101 (2007), S. 35–45.
Augsburger Passionsspiel → Passionsspiele Aus dem dunkelsten Berlin (Krimi-Reihe von Adolf Sommerfeld, 1920er-Jahre) → Das Ghetto von Berlin Aus Vergangenheit und Gegenwart (Erzählung von Marcus Lehmann, 1876) → Jud Süß in der Literatur Auschwitz (Comic von Pascal Croci, 2004) → Comics
Bänkelsang Bänkelsang ist der öffentliche Vortrag einer spektakulär aufgemachten Geschichte, die von Liebe, Mord und Totschlag, von Räubern und Wilderern, von Unglücksfällen, Kriegen und Naturkatastrophen aller Art handeln kann. Das „Bänkel“, von dem herab der Sänger vortrug, gab dieser populären, moralisierenden Kunstform des Jahrmarkts ihren Namen. Entstanden ist sie im Laufe des 17. Jahrhunderts aus dem frühneuzeitlichen Zeitungslied, gehalten hat sie sich in Deutschland bis in die 1930er-Jahre, in anderen Ländern noch länger. Gesungen wurden die Bänkellieder (oder auch „Moritaten“) meistens nach den Melodien bekannter Volks- oder Kirchenlieder und begleitet durch Drehleier und Drehorgel. Mit einem Zeigestock verwies der Sänger dabei auf großformatige, gefelderte, farbige Bildtafeln, die erhöht aufgehängt wurden und auf denen die wichtigsten Szenen der erzählten und gesungenen Geschichte dargestellt waren. Während des Vortrags oder danach wurden Moritatenzettel oder -heftchen verkauft; darüber hinaus wurden sie auch im Kolportagehandel mit anderer populärer Kleinliteratur vertrieben. Sie enthielten die von anonymen Autoren verfassten Erzählungen in Prosa und meistens ein dazugehörendes balladeskes Lied mit abschließender Moralstrophe. Vom Verkauf dieser populären Lesestoffe lebten die Sänger. Mit der zunehmenden Lesefähigkeit des Publikums wuchs auch der Umfang der Prosa-Teile dieser Heftchen. Das Gewerbe professionalisierte sich im 19. Jahrhundert. Größere Verlage (Kahlbrock in Hamburg, Reiche in Schwiebus), nicht mehr nur meist anonyme Winkeldrucker, besorgten in der Spätphase die Herstellung der Heftchen. Im Dienste moralischer oder geistiger Belehrung betont der Bänkelsang eindringlich die Faktizität der geschilderten sensationellen Vorkommnisse. Am vermeintlich konkreten Einzelfall wird effektvoll vorgeführt, wie die soziale und religiöse Ordnung gefährdet und wieder hergestellt wird. Der Bänkelsang ist also grundsätzlich affirmativ. Man hat sein Formprinzip deshalb als emblematisch charakterisiert (Braungart, 1985). Er eignete sich in seiner ganzen medialen Inszenierung besonders zur ideologischen Beeinflussung. Deshalb unterlag er immer der Zensur. Quellen für den Bänkelsang waren Zeitungsmeldungen oder der ganze Komplex der Hinrichtungsliteratur, besonders die „Urgicht“. Stofflich und motivisch gibt es vielfältige Bezüge zu den verschiedensten Traditionen populären Erzählens (siehe dazu die umfangreiche Dokumentation der Arbeitsstelle „Enzyklopädie des Märchens“ in Göttingen).
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Bänkelsang
Das Effektheischende, Grelle des Bänkelsangs und seine demonstrative Didaxe provozierten schon im 18. Jahrhundert die uneigentliche Verwendung des Begriffs für schlechte Dichtkunst, für Travestie und Parodie, für das inszenierte Spiel mit dem schlechten Geschmack. Diese literarisch überaus produktive Wirkungsgeschichte des historischen Bänkelsangs ist lang. Er beeinflusste stark die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehende Gattung der Kunstballade. Das beginnt bei Johann Ludwig Gleim und führt über Wedekind bis Brecht, Degenhardt und Biermann. Manche Kunstballade (wie Gleims „Marianne“ oder Bürgers „Lenore“) fand auch wieder den Weg zurück auf den Jahrmarkt. Zur Wirkungsgeschichte des „schrägen Tons“ gehören aber auch die oft tränenseligen und zugleich ironischen oder humoristischen sogenannten „Küchenlieder“ des 19. Jahrhunderts, die bis heute immer wieder publiziert werden (etwa „Sabinchen war ein Frauenzimmer“). Noch 1972 trat Freddy Quinn mit „Moritaten und Bänkelliedern“ an die Öffentlichkeit. Seit der frühneuzeitlichen „Medienrevolution“ (Michael Giesecke) standen mit der sich entwickelnden Massenpublizistik, zu der man neben Flugblatt und Flugschrift auch die Moritatenheftchen der Bänkelsänger zählen muss, neue ideologisch und demagogisch nutzbare Medien zur Verfügung. Während sich im Flugblatt jedoch häufiger Antisemitismus nachweisen lässt, der oft religiös oder ökonomisch motiviert ist (z. B. Hostienfrevel), und obwohl man für die populären Lieder und Lesestoffe insgesamt davon ausgehen muss, dass sie „Vorurteile und Aversionen“, auch antisemitische, und „reaktionäre Haltungen und Meinungen förderten und zementierten“ (Schenda), scheint sich im historischen Bänkelsang deutlicher Antisemitismus erstaunlicherweise selten belegen zu lassen. Über die Gründe dafür kann man nur spekulieren. Eignet sich das Sensationslüsterne und zugleich Erbauliche des Bänkelsangs insgesamt weniger für antisemitische Ausfälle? In den gedruckten Textsammlungen, die freilich fast alle erst nach 1945 zusammengestellt wurden, findet sich nur eine Geschichte eines jüdischen Räubers, die auf seine „Schlauheit und Verschmitztheit“ abstellt (Braungart, 1985). Intensivere Forschungen zum Antisemitismus im Bänkelsang und zum moritatenhaften „Küchenlied“ des 19. Jahrhunderts stehen aber noch aus. Dafür böte sich die umfangreiche Sammlung des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg/Breisgau an. Anders ist es in einem Fall satirischer Adaption der populären Gattung Moritat/ Bänkellied: Hannes Kremer, 1941/42 Leiter des Hauptamtes Kultur in der Reichspropagandaleitung der NSDAP und Autor u. a. von „Gottes Rune“, ein „Buch von Glaube und Treue, das Epos der Kampfzeit“, veröffentlichte 1941 in München „Moritaten“ mit rassistisch-antisemitischen Ausfällen.
Wolfgang Braungart
Literatur Wolfgang Braungart (Hrsg.), Bänkelsang. Texte – Bilder – Kommentare, Stuttgart 1985. Wolfgang Braungart, Bänkelsang, in: Klaus Weimar u. a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band 1, Berlin, New York 1997, S. 190–192. Tom Cheesman, The Shocking Ballad Picture Show. German Popular Literature and Cultural History, Oxford, Providence 1994. Ulrike Eichler, Bänkelsang und Moritat. Ausstellung der Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart 1975.
Bagatelles pour un massacre (Buch von Louis-Ferdinand Céline, 1937)
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Leander Petzoldt, Bänkelsang, Stuttgart 1975. Rudolf Schenda, „Volk ohne Buch“. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910, München 19772.
Bagatelles pour un massacre (Buch von Louis-Ferdinand Céline, 1937) „Bagatelles pour un massacre“ [Unbedeutende Zutaten für ein Massaker/Kleinigkeiten, um ein Massaker anzuzetteln] aus dem Jahr 1937 wird heute als einer der wirkmächtigsten Texte der französischsprachigen antisemitischen Literatur betrachtet. Das Buch wurde alsbald als Pamphlet bezeichnet, obgleich dieser Begriff im Allgemeinen für einen recht kurzen polemischen Text verwendet wird und das Werk immerhin 384 Seiten umfasst. Es wurde im Dezember 1937 im Pariser Verlag Denoël veröffentlicht und verkaufte sich in rund 75.000 Exemplaren, bis das Décret Marchandeau (aufgrund dessen zahlreiche antisemitische Publikationen eingestellt und verboten wurden) der Hetzschrift ein (vorläufiges) Ende setzte. Unter dem Vichy-Regime brachte der Verlag 1942 und 1943 neue Auflagen heraus, eine gekürzte deutsche Ausgabe war 1938 unter dem wenig subtilen Titel „Die Judenverschwörung in Frankreich“ erschienen. Sicher ist, dass Céline die „Bagatelles“ in der Folge seines vorhergehenden antisowjetischen Werkes „Mea Culpa“ verfasst hat, das nur 20 Seiten umfasste und – wohl aus verlegerischen Gründen – um den Text seiner medizinischen Doktorarbeit ergänzt worden war. Louis-Ferdinand Céline (1894–1961), eigentlich Louis Destouches, ist in der Tat sowohl als Mediziner wie auch als Schriftsteller bekannt geworden. „Bagatelles pour un massacre“ war sein fünftes Buch, doch seine Berühmtheit verdankte der Autor schon seinem ersten publizierten Werk, dem Roman „Voyage au bout de la nuit“ [Reise ans Ende der Nacht], für den ihm 1932 – aufgrund des Eingreifens von Verlegern – der Prix Goncourt versagt blieb. Céline galt als rebellischer Autor, der die bürgerliche Ordnung infrage stellte, die akademische Schriftstellerei erschütterte und die Sprache revolutionierte, indem er volkssprachliche Elemente, mündliche Rede und Umgangssprache mit einfließen ließ. Nach seinem Debüterfolg arbeitete Céline an einem großen Bildungsroman, „Mort à crédit“ [Tod auf Raten], dessen Stil von der Einarbeitung psychoanalytischer Erkenntnisse geprägt ist. Die Kritik zeigte sich wenig begeistert, feststellbar ist jedoch eine neue Radikalisierung in den Äußerungen Célines, der sich kurz darauf entschloss, in die Sowjetunion zu gehen und seine Tantiemen dort auszugeben. Er kehrte mit der Schmähschrift „Mea Culpa“ zurück, die recht gut aufgenommen wurde – das Projekt „Bagatelles pour un massacre“ entstand in ihrem Nachgang. Der Judenhass ist das vordergründigste, wenn auch nicht das einzige Thema des Buches. Es beginnt mit einem Dialog zwischen dem Künstler Ferdinand und dem Juden Léo Gutman: Ferdinand erzählt Gutman von seinen Ballett-Projekten an der Oper und für die Weltausstellung 1937, deren Ablehnung er den Juden in die Schuhe schiebt. Die Kunstfeindlichkeit der Juden sehe man ja an der UdSSR, einem Land, das in jüdischer Hand sei. Auf den folgenden rund 250 Seiten wird nun mittels des inneren Monologs Ferdinands durchdekliniert, woran „die Juden“ Schuld seien bzw. was sie alles kontrollierten. Den Leser erwartet dabei inhaltlich nichts außer gängige
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Bagatelles pour un massacre (Buch von Louis-Ferdinand Céline, 1937)
Stereotype: Frankreich sei vollständig in jüdischer Hand, Hollywood ebenso, „die Juden“ wollten den Krieg und strebten nach der Weltherrschaft etc. Selbst vor einem erfundenen Gespräch mit Hitler schreckte Céline nicht zurück: „Und wenn Hitler mir sagen würde: ‚Ferdinand, das ist das große Teilen! Wir teilen alles!‘, dann wäre er mein Kumpel! Die Juden haben versprochen zu teilen, sie haben wie immer gelogen […].“ 80 Seiten vor dem Schluss folgt dann ein Dialog mit Gustin, der Ferdinands Ansichten nicht teilt, in dem Themen wie Rasse, Sexualität, „Verjudung“ und Krieg behandelt werden. Das Buch endet mit Ferdinands Rückkehr in die UdSSR, wo er dem St. Petersburger Marinskij-Theater sein Ballett anbietet, das aber auch hier abgelehnt wird. „Bagatelles pour un massacre“ ist ein Werk, das gleichwohl einige Spezifika besitzt, die man in anderen antisemitischen Texten dieser Zeit nicht findet – einige dieser Besonderheiten wurden jedoch recht schnell von Schreiberlingen der extremen Rechten aufgegriffen. Zunächst einmal ist der Text in einem pöbelhaften Tonfall gehalten und imitiert mit einer Aneinanderreihung von Plattitüden (vor allem solchen, die durch Anti-Intellektualismus gekennzeichnet sind) die Sprechweise des „Mannes von der Straße“. Weiterhin hebt sich „Bagatelles pour un massacre“ noch deutlicher durch einen regelrechten Angriff auf die Literaturkritik, der an mehreren Stellen wiederholt wird, von anderen Werken ab. Generell stellt Céline die Schriftsteller und bildenden Künstler schonungslos infrage und betrachtet sie im Licht einer rassistischen Sicht auf die Welt, der regelmäßig die Rückendeckung durch den Mediziner vorangestellt wird. Zwischen Reihen von beleidigenden Bildern über das französische Bürgertum ergeht sich Céline auch in hemmungslosen Tiraden gegen die angelsächsische Welt. Wenig überraschend hielt sich die Literaturkritik eher an der literarischen Arbeit als am politischen Inhalt des Werkes auf. Sein nächstes Buch war eine Streitschrift, die sich ausgiebig aus den „Protokollen der Weisen von Zion“ und aus diversen vom antisemitischen „Welt-Dienst“ in Erfurt finanzierten Propagandabroschüren bediente. Der Autor beschrieb sie in seinen Briefwechseln seinerzeit als ausdrücklich judenfeindlich. Nach dem Krieg behauptete er hingegen, nicht rassistische Motive, sondern sein Pazifismus und die Entrüstung angesichts des sich abzeichnenden Kriegs hätten ihn umgetrieben. So seien das Massaker und die Leichen, auf die die Titel der Pamphlete „Bagatelles pour un massacre“ und „L'École des cadavres“ [Die Schule der Leichen] von 1938 Bezug nehmen, gar nicht die der in den Texten verherrlichten Pogrome, sondern die zukünftigen Opfer eines Krieges gegen Hitler-Deutschland, den ausschließlich die einflussreiche jüdische Minderheit gewollt habe. Céline untersagte nach seiner Rückkehr nach Frankreich 1951 (er war 1944 nach Deutschland und anschließend nach Dänemark geflohen) jegliche Wiederveröffentlichung der „Bagatelles“ und seiner anderen Pamphlete. Lange Zeit war „Bagatelles pour un massacre“ daher nur antiquarisch erhältlich, machte in den letzten Jahren jedoch eine zweite Karriere: als Onlineangebot zum Herunterladen, in illegalen Neuauflagen und ganz aktuell als „kritische“ Ausgabe eines kanadischen Verlegers, der meint, nicht an das französische Urheberrecht gebunden zu sein. Kann mit dieser Rückkehr auch die Schädlichkeit des Textes wiederaufleben? Einige Kommentatoren möchten davon überzeugen, dass man vom Lesen der „Bagatelles
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pour un massacre“ nicht zum Antisemiten wird. Dies darf zu Recht bezweifelt werden.
André Derval Übersetzung aus dem Französischen von Marie-Christin Lux und Bjoern Weigel
Literatur André Derval, L’Accueil critique de „Bagatelles pour un massacre“ [„Bagatelles pour un massacre“ im Spiegel der Kritik], Paris 2010. Hanns-Erich Kaminski, Céline en chemise brune [Céline im Braunhemd], Paris 1977. Alice Yaeger Kaplan, Relevé des sources et citations dans „Bagatelles pour un massacre“ [Aufstellung der Quellen und Zitate in „Bagatelles pour un massacre“], Tusson 1987. Régis Tettamanzi, Esthétique de l’outrance: Idéologie et stylistique dans les pamphlets de L.-F. Céline [Ästhetik der Übertreibung: Ideologie und Stilistik in den Pamphleten von L.-F. Céline], Tusson 1999.
Ballade von der Judenhure Marie Sanders (Bertolt Brecht, 1937) In Bertolt Brechts Exillyrik spielt die nationalsozialistische Judenverfolgung eine nicht zu vernachlässigende Rolle, auch wenn der Marxist Brecht (1898–1956) im Allgemeinen andere Aspekte der gewaltsamen Machtausübung des deutschen Faschismus ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückte. Einige dieser Gedichte widmen sich ihrem Gegenstand auf satirische Weise (z. B. „Der Jude, ein Unglück für das Volk“, 1938). Das bekannteste thematisch einschlägige Gedicht, die „Ballade von der Judenhure Marie Sanders“, wählt jedoch eine andere Darstellungsweise, indem es in eindringlicher Weise einen fiktiven, aber exemplarischen Fall antisemitischer Drangsalierung schildert. Entgegen der durch die erste Verszeile („In Nürnberg machten sie ein Gesetz“) nahegelegten zeitlichen Situierung entstand das Gedicht nicht im unmittelbaren zeitlichen Kontext der „Nürnberger Rassengesetze“ vom 15. September 1935, die Ehen und Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden verboten, sondern 1937. Es basiert aber auf Zeitungsberichten über die praktischen Auswirkungen dieses Gesetzes, mit dem der Antisemitismus juristisch institutionalisiert wurde. Das Gedicht wurde 1937 in der von Brecht mitredigierten, in Moskau erscheinenden Exilzeitschrift „Das Wort“ erstveröffentlicht; 1939 nahm Brecht es in seine Sammlung „Svendborger Gedichte“ auf (Erscheinungsort London). In späteren Publikationen wurde der Titel gelegentlich dahingehend variiert, dass die diskriminierende Bezeichnung „Judenhure“ in Anführungszeichen gesetzt und damit als Zitat aus der antisemitischen Ideologie markiert habe wurde. Die Ballade behandelt, auch wenn eingangs explizit auf die „Nürnberger Rassengesetze“ verwiesen wird, nicht die rechtsförmige Sanktionierung der „Rassenschande“, sondern die öffentliche Erniedrigung, die Juden und Nichtjuden seit 1933 in Fällen tatsächlicher oder behaupteter Sexualkontakte erleiden mussten. In vier ungereimten, zwischen drei und fünf Verszeilen umfassenden Strophen, denen sich jeweils ein gereimter Refrain anschließt, wird durch verschiedene Sprecherrollen das exemplarische Schicksal der Marie Sanders geschildert. Dem historischen Hinweis auf die „Nürnberger Gesetze“ folgt eine Anrede an Marie Sanders, in der sie aufgefordert wird, den
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Kontakt zu ihrem Geliebten, der „zu schwarzes Haar“ habe, abzubrechen. In der dritten Strophe bittet Marie Sanders ihre Mutter, ihr „den Schlüssel“ zu geben, damit sie ihrem Geliebten den gewohnten nächtlichen Besuch abstatten kann; eine Gefährdung durch den herrschenden Antisemitismus bestreitet sie unter Hinweis auf die Unveränderlichkeit des als romantisches Symbol fungierenden Mondes. Die letzte Strophe zeigt die Konsequenzen: Marie Sanders wird am nächsten Morgen im „Hemd, um den Hals ein Schild, das Haar geschoren“, unter dem allgemeinen Johlen der Gasse durch die Straßen gefahren, worauf sie mit einem kalten Blick reagiert. Brecht greift damit die schon seit 1933 gebräuchliche Praxis auf, „Rassenschänder“ mit einem Schild um den Hals (eine häufig nachgewiesene Aufschrift lautete: „Ich bin am Ort das größte Schwein und laß mich nur mit Juden ein“) zu stigmatisieren und dem öffentlichen Hohn auszusetzen. Der Refrain verallgemeinert und kommentiert dieses Geschehen, indem er die im Bild der schlagenden Trommeln thematisierte antisemitische Propagandatätigkeit mit dem wachsenden, an den steigenden Fleischpreisen ablesbaren sozialen Elend verbindet. Der letzte Refrain spitzt die Relevanz der Ideologie noch zu, indem er eine nächtliche Rede Julius Streichers, des berüchtigtsten antisemitischen Propagandisten NSDeutschlands, erwähnt. Möglicherweise ist mit dem „Streicher“ auch Hitler gemeint, den Brecht in seiner Exillyrik häufig mehrdeutig als „Anstreicher“ tituliert. Dem klaren Aufbau der Schilderung kontrastieren sprachliche Mehrdeutigkeiten. Die Refrainzeile „Das Fleisch schlägt auf in den Vorstädten“ wurde beispielsweise von dem mit Brecht befreundeten Walter Benjamin als Bild eines nächtlichen Pogroms verstanden, von Brecht aber als Preisaufschlag in den proletarischen Vorstädten erläutert (im Erstdruck lautete die Zeile, dieser Brechtschen Intention deutlicher Ausdruck gebend, noch „Das Brot schlägt auf in den Vorstädten“ – warum Brecht die Änderung trotz Benjamins „Missverständnis“ in den weiteren Drucken zu seinen Lebzeiten dann doch beibehielt und den ihm durch Benjamins Interpretation bekannten Nebensinn nicht vermeiden wollte, ist ebenso unklar wie die Frage, warum er als Beispiel für das soziale Elend gerade nicht mehr die Verteuerung des Grundnahrungsmittels Brot, sondern des vergleichsweise luxuriösen Fleisches wählte). Nicht eindeutig sind auch die Schlussverse „Großer Gott, wenn sie ein Ohr hätten / Wüßten sie, was man mit ihnen macht“, die sich sowohl auf die bedrohten, aber das Ausmaß ihrer Verfolgung – noch – nicht erkennenden Juden beziehen könnten als auch auf die sich von der antisemitischen Hetze von der eigenen soziale Notlage ablenken lassenden nichtjüdischen Deutschen. In jedem Fall stellt Brecht in seiner Ballade eine Massenunterstützung für die öffentliche Demütigung der „Judenhure“ heraus. Anders als viele zeitgenössische Nazigegner geht Brecht hier davon aus, dass der Antisemitismus der NS-Herrschaft durchaus auf massenhaften Zuspruch stößt. In der Vertonung durch Hanns Eisler (1937) wurde die „Ballade von der Judenhure Marie Sanders“ – mit einigen offenbar von Eisler vorgenommenen Textveränderungen – in der Nachkriegszeit sehr bekannt und vielfach interpretiert; berühmt sind die Darbietungen durch Therese Giehse, Gisela May und – in italienischer Übersetzung – Milva. Ein bemerkenswertes Rezeptionszeugnis der Ballade ist Margarethe von Trottas Film „Die bleierne Zeit“ (1981), der sich mit Gudrun Ensslin und ihrer Schwester
Der Befehl des Gewissens (Roman von Hans Zöberlein, 1937)
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Christiane befasst: In einer auf die gemeinsame Schulzeit in der Adenauer-Ära rückblickenden Szene kritisiert die in der Jugend wesentlich rebellischere Schwester Christiane (Filmname: Juliane) im Deutschunterricht Rainer Maria Rilkes Gedicht „Herbsttag“ als „Kitsch“ und fordert, stattdessen die „Ballade von der Judenhure Marie Sanders“ oder Paul Celans „Todesfuge“ zu lesen. Brechts Gedicht fungiert hier als Referenztext kritischer Gegnerschaft zur restaurativen und die NS-Vergangenheit verdrängenden Nachkriegsbundesrepublik.
Carsten Jakobi
Literatur Christiane Bohnert, Brechts Lyrik im Kontext. Zyklen und Exil, Königstein/Ts. 1982. Jan Knopf, Gelegentlich: Poesie. Ein Essay über die Lyrik Bertolt Brechts, Frankfurt am Main 1996. James K. Lyon, Ballade von der Judenhure Marie Sanders, in: Jan Knopf (Hrsg.), BrechtHandbuch in fünf Bänden, Band 2: Gedichte, Stuttgart, Weimar 2001, S. 289–291. Edgar Marsch, Brecht-Kommentar zum lyrischen Werk, München 1974.
Der Befehl des Gewissens (Roman von Hans Zöberlein, 1937) „Der Befehl des Gewissens. Ein Roman von den Wirren der Nachkriegszeit und der ersten Erhebung“ (München 1937) zählte mit knapp 500.000 verkauften Exemplaren zur erfolgreichsten NS-Belletristik. Der Autor Hans Zöberlein (1895–1964) schildert in dem Buch den Werdegang des Schuhmachersohnes und Frontsoldaten Hans Krafft zum überzeugten Nationalsozialisten. Im Mittelpunkt stehen die Kämpfe der Freikorps und die Anfänge der nationalsozialistischen Bewegung, die als Fortsetzung des Kriegseinsatzes der Frontkämpfer erscheinen. Chronologisch knüpfte Zöberlein an seinen 1931 erstmals erschienenen Weltkriegsroman „Der Glaube an Deutschland“ an, dem Hitler ein Geleitwort widmete. Zöberlein arbeitete in seinen Romanen mit autobiografischen Bezügen. Als Sohn eines Schuhmachers in Nürnberg geboren, ließ er sich zum Maurer ausbilden. Im Ersten Weltkrieg erreichte Zöberlein den Rang eines Vizefeldwebels und wurde mehrfach ausgezeichnet. Nach Kriegsende ging er zum Freikorps Epp; 1919 war er an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik beteiligt. 1921 trat Zöberlein der NSDAP und der SA bei und nahm 1923 am Hitler-Putsch teil. Zöberleins Romane dienten der Verbreitung zentraler Elemente der nationalsozialistischen Ideologie. So gilt der sprachlich wie inhaltlich primitive Roman „Der Befehl des Gewissens“ in der Forschung als eines der übelsten antisemitischen Machwerke der gesamten NS-Belletristik. Zöberlein lässt im Verlauf der Handlung das radikalantisemitische Weltbild der Nationalsozialisten entstehen, als dessen logische Konsequenz die Vernichtung der Juden erscheint. Im Kapitel „Die Judenfrage“ werden Juden explizit mit „Ungeziefer“ gleichgesetzt und als Bedrohung für die Existenz des deutschen Volkes dargestellt („Diese Judenschweine richten uns zugrunde, das ganze Blut versauen sie uns.“ „Und Blut ist das Beste und das Einzige, was wir noch haben.“). Die vermeintliche Gefahr wird noch einmal am Beispiel „mauschelnder Ostjuden“ verdeutlicht, denen Protagonist Krafft begegnet („Ein frischer Transport ist wohl soeben am Bahnhof eingetroffen und hat seinen verlausten, schmierigen Inhalt
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Beruf Neonazi (Dokumentarfilm von Winfried Bonengel, 1993)
in die Stadt ergossen.“). Für Krafft ist klar, dass diese „Ostjuden“ binnen Kurzem „zum Herrn über Deutschlands Boden und Kultur“ werden. Als solche werden im Roman auch die assimilierten deutschen Juden präsentiert. So erscheinen Presse, Politik, Justiz und Wirtschaft als von Juden dominiert. Im Dialog zwischen Krafft und der „schönen Jüdin“ Mirjam wird schließlich das Konstrukt einer „jüdischen Rasse“ entwickelt, die in naturgegebenem unvereinbaren Gegensatz zum „deutschen Blut“ stehe („Ich bin so geboren, aus dem anderen Blut! Und Sie sind daher genauso Gegnerin meiner Rasse und meines Volkes.“). Die Rücknahme der Emanzipation der Juden, seit 1933 erklärtes Ziel nationalsozialistischer Politik, erscheint in dieser Perspektive als legitime Gegenwehr des gleichermaßen bedrohten wie unterdrückten deutschen Volkes. Im selben Kapitel wird noch einmal das Motiv einer Gleichsetzung von Juden mit „Ungeziefer“ aufgenommen: „Der Jude“ sei der „Rattenkönig“ unter den Völkern, in seinen Adern fließe „Schmarotzerblut“. Er lebe nicht nur von der Arbeit anderer Völker, sondern auch von deren Blut. Liebesbeziehungen zwischen Nichtjuden und Juden seien daher streng abzulehnen, denn der damit verbundene Bluttransfer halte das Judentum am Leben („Wenn die anderen Rassen alle sich weigern würden, Blut abzugeben an jüdische Weiber, oder aber die anderen Weiber keinen Juden mehr nähmen, dann müßte dieser Rattenkönig in absehbarer Generationsfolge einmal ausgestorben sein.“). Hier scheinen die Prinzipien der 1935 erlassenen „Nürnberger Gesetze“ durch. Die unverhohlenen Vernichtungsdrohungen, die den Roman durchziehen, weisen indes bereits in Richtung eines Genozids an den europäischen Juden.
Petra Rentrop-Koch
Literatur Christian Adam, Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich, Berlin 2010. Tobias Schneider, Bestseller im Dritten Reich. Ermittlung und Analyse der meistverkauften Romane in Deutschland 1933–1944, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 52 (2004) 1, S. 77–97.
Berlin Days. 1946–1947 (Buch von George Clare, 1989) → Taking Sides
Beruf Neonazi (Dokumentarfilm von Winfried Bonengel, 1993) Der deutsche Dokumentarfilm „Beruf Neonazi“ des Regisseurs Winfried Bonengel aus dem Jahr 1993 porträtiert den zeitweise als „neuen Führer“ geltenden deutschen Neonazi Bela Ewald Althans. Vor allem weil der Film auf einen distanzierenden Kommentar verzichtet, rief er heftige Proteste hervor und wurde mit Aufführungsverboten belegt. Wegen seiner Äußerungen wurde der mit dem Neonazismus brechende Althans im Nachgang zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Im Mittelpunkt des Films sollte mit Ingo Hasselbach zunächst der bekannteste Neonazi aus der ehemaligen DDR stehen. Da dieser – u. a. als Resultat der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Regisseur Winfried Bonengel – aus der Szene ausstieg, schwenkte Letzterer auf Bela Ewald Althans als Protagonisten um. Althans (geb. 1966), der bereits seit mehreren Jahren in rechtsextremen bzw. neonazistischen Krei-
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sen aktiv war, hatte größere Bekanntheit erlangt, als er 1990 eine geschichtsrevisionistische Veranstaltung im Münchener Löwenbräukeller organisierte, bei der der Holocaustleugner David Irving vor 800 Alt- und Neonazis aus dem In- und Ausland auftrat (→ Wahrheit macht frei). Da Althans nicht in das gängige Wahrnehmungsraster eines Neonazis passte, galt er als Vertreter eines neuen, umso bedrohlicheren Typus und wurde vielfach als „Nazi-Yuppie“ bezeichnet: Er war auf sein Äußeres bedacht und seriös gekleidet, statusorientiert und von sich selbst eingenommen, intelligent, gebildet, welt- und redegewandt und aus gutem Elternhaus; zudem hatte er sich in früher Jugend in der „Aktion Sühnezeichen“ engagiert. Bonengel begleitete den in München ansässigen, einen „orthodoxen Nationalsozialismus“ vertretenden Althans von April bis November 1992 und zeigt ihn in unterschiedlichen Situationen und Funktionen, darunter als Redner vor meist jugendlichen Zuhörern, bei der Arbeit in seinem Propaganda-Vertrieb, beim Stadtrundgang mit Gesinnungsgenossen, bei Versammlungen und Besprechungen, bei der Nachbearbeitung von Propagandavideos oder beim Besuch der Gedenkstätte in Auschwitz. Neben Althans lässt Bonengel auch die Personen aus dessen Umfeld zu Wort kommen, darunter Althans’ Mentor, den NS-Propagandisten Ernst Zündel in Toronto (Kanada). Auch ein Streitgespräch von Althans mit seinem Vater und seiner Stiefmutter wird gezeigt, die, liberal eingestellt, seine politische Auffassung ablehnen. Hier behauptet Althans, er sei in der Lage, die sich seit Mitte 1992 vollziehenden ausländerfeindlichen Gewalttaten und Pogrome zu „stoppen“. Sich selbst beschreibt er als „Sündenbock“, der „einen Judenstern in der Form eines Hakenkreuzes“ trage. Vor allem in den Interviewsequenzen werden Einblicke in Aktivitäten, Struktur, Organisation, Strategie und Finanzierung von Althans und seiner Netzwerke ermöglicht. Althans bezeichnet sich als „bewussten Herrenmenschen“ und einen der „Himmlers und Heydrichs“ des von ihm bewunderten Zündel, der ihm seinerseits prophezeit, er könne für „Deutschland eine neue Ordnung schaffen“. Als zentrale Szene des knapp 85-minütigen Films gilt der Besuch Althans’ in Auschwitz. Die ungefähr sechs Minuten dauernde Sequenz zeigt Althans beim Kauf von Broschüren, beim Gang durch das Stammlager Auschwitz („das ist eine völlige riesengroße Verarschung, die hier stattfindet“) sowie in dem dortigen – nach 1945 wieder aufgebauten, aber nicht als Rekonstruktion ausgewiesenen – Krematorium und der angrenzenden Gaskammer. Hier, neben den Verbrennungsöfen und vor zahlreichen Besuchern, entwickelt sich ein durch die Kamera nur unvollständig dokumentierter hitziger Streit zwischen Althans und einem englischsprachigen Touristen sowie mehreren deutschsprachigen Besuchern. Im Verlauf dessen bezeichnet Althans die Ausführungen einer Touristenführerin als technisch unmöglich oder zweifelhaft („der Rauch kann hier nicht raus“; „Warum hat die Gaskammer drei Türen?“) und betont, „ich lasse mich nicht weiter schuldig machen für Dinge, die ich nicht getan habe“. Nachdem der Streit sich zunächst zwischen Althans und dem englischsprachigen Besucher abspielte, mischen sich auch andere Touristen mit ablehnenden Zwischenrufen ein („Halten Sie die Klappe“; „Das ist eine Unverschämtheit, wie Sie hier auftreten“), diesen hält Althans entgegen: „Sie wissen nicht einmal, wie Zyklon B funktioniert“ und „ich stelle mich hierher und wehre mich dagegen, dass Millionen von Menschen hier durch Attrappen geführt werden. Ich wehre mich dagegen, dass hier Lügen ver-
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breitet werden und dass junge Menschen das einfach glauben“. Später, nachdem Althans sich außerhalb des Gebäudes nochmals mit ersterem Besucher auseinandergesetzt hatte („Wir haben sie [die Juden] nicht vernichtet, sie haben alle überlebt und kassieren nun Geld von Deutschland“) beklagt er sich hämisch grinsend über herumfliegende Insekten: „Die ganzen Läuse müssen vergast werden. Flugläuse – müssen ausgerottet werden.“ Mit dem symbolträchtigen Bild des Händewaschens endet der Film. „Beruf Neonazi“ ist kein ausschließlich dokumentarisch-beobachtender und Althans lediglich passiv begleitender Film. Vielmehr wurden zahlreiche Situationen vom Regisseur inszeniert oder sogar herbeigeführt, allen voran der Besuch in Auschwitz. Der nicht chronologisch strukturierte Film weist – auch wenn in Interviewsequenzen Bonengels Nachfragen zu hören sind – keinerlei Kommentierung und keine Text-Einblendungen auf, die Aufschluss über die auftretenden Personen oder die besuchten Orte geben würden; selbst der Vor- und Abspann verzichtet hierauf. Fremdsprachige Passagen wurden nicht übersetzt und keine Musik eingesetzt. In einer ersten Fassung um die Jahreswende 1992/93 fertiggestellt, erfuhr der Film im Juni 1993 auf einem Filmfestival in Potsdam seine Uraufführung, der Kinostart erfolgte am 18. November 1993. Eine FSK-Freigabe wurde nicht beantragt, sodass er nur von Besuchern über 18 Jahren gesehen werden konnte. Größere Aufmerksamkeit erzielte „Beruf Neonazi“ erst kurz vor dem (nur in wenigen kleinen Kinos angesetzten) offiziellen Filmstart. Am 15. November 1993 erschien im „Spiegel“ ein Artikel, der den Film skandalisierte, eine heftige und scharfe Debatte auslöste und auch juristische Schritte nach sich zog. Der Artikel prangerte an, dass „Beruf Neonazi“, obwohl mit 370.000 DM von vier Bundesländern gefördert, Propaganda für Neonazis mache: Mit „schmeichelnder Kamera“ und weil es keinen distanzierenden oder widersprechenden Kommentar gebe, sei der Regisseur „schlichten Gemüts“ dem „Selbstdarsteller“ Althans mit einem „naiven Porträt“ „auf den Leim gegangen“. Andere Kommentatoren bezogen die Gegenposition: Nicht der Film sei das Problem, sondern die von ihm abgebildete Realität; gerade durch den Verzicht auf einen Kommentar sei Althans der Selbstentlarvung preisgegeben, gleichzeitig werde jedoch dem Publikum die „schützende Barriere zwischen ihm und dem Nazi“ vorenthalten und „das Denken“ nicht abgenommen. Die gegenseitigen Vorwürfe der Vertreter beider Positionen waren noch Monate nach dem Filmstart harsch: Während „Beruf Neonazi“ mitunter in eine Reihe mit den NS-Filmen → „Jud Süß“ und → „Der ewige Jude“ gestellt oder als „antisemitisch“ bezeichnet wurde, qualifizierte Bonengel Kritik teilweise als „ziemliche Frechheit“, als „haarsträubend“ und „verlogen“ und beschuldigte den „Spiegel“, die öffentliche Meinung „manipuliert“ zu haben. Schon kurz nach dem Kinostart wurden u. a. für Hessen Aufführungsverbote ausgesprochen und Filmkopien beschlagnahmt. Kultusminister sprachen sich dafür aus, die Verbreitung des unkommentierten Films zu verhindern und leiteten teils Verfahren zur Rückforderung der eingesetzten Mittel ein. Umgehend wurden von staatlicher und privater Seite auch juristische Schritte gegen den Film sowie die Produktions- und Verleihfirma und den Regisseur eingeleitet sowie Strafanzeigen gegen Althans gestellt, Anfang Dezember 1993 zog der Verleih den Film vorübergehend aus dem Verkehr. In den kommenden Wochen und Monaten, in denen „Beruf Neonazi“ – wenn
Beruf Neonazi (Dokumentarfilm von Winfried Bonengel, 1993)
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auch unter der Auflage, nicht unkommentiert beziehungsweise nicht ohne anschließende Diskussionsveranstaltungen vorgeführt zu werden – wieder zu sehen war, verhinderten Demonstranten in vielen Fällen die Vorführung. Anfang 1994 ergänzte die Verleihfirma den Film um einen kurzen Vorspann, in dem betont wurde, dass die Filmemacher sich nicht mit dem Inhalt und den durch Althans erfüllten Straftatbeständen identifizierten. Die Proteste gegen den Film gipfelten Mitte Februar 1994 in einem Offenen Brief, den u. a. Margarete Mitscherlich, Wolf Biermann, Marcel Reich-Ranicki und Ignatz Bubis unterzeichneten. Dieser bewirkte, dass eine für den 19. Februar 1994 angekündigte Ausstrahlung von „Beruf Neonazi“ im Rahmen einer Ausgabe von „Spiegel TV“ (Vox) kurzfristig abgesagt und lediglich eine 30-minütige Kurzfassung gesendet wurde. Ein halbes Jahr später, am 10. September 1994, wurde der Film an gleicher Stelle schließlich in voller Länge gezeigt, dieses Mal jedoch ohne nennenswerte Proteste. Zur selben Zeit erhob die Staatsanwaltschaft Berlin Anklage gegen Althans. Im August 1995 wurde er aufgrund der in „Beruf Neonazi“ getätigten Äußerungen wegen Volksverhetzung, Beleidigung, Verunglimpfung des Staates und des Andenkens Verstorbener zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Gericht ging dabei über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinaus, eine Revision wurde im Juli 1996 abgewiesen. Althans führte an, Bonengel vor Drehbeginn darauf hingewiesen zu haben, dass er (nicht zuletzt wegen seiner Homo- bzw. Bisexualität) schon um 1989 mit dem Neonazismus gebrochen habe und dass er den Film als Schlussstrich und als Absage an diese Vergangenheit verstehe. So habe er in vielen kritisierten Szenen geschauspielert und bereits längst abgelegte Positionen vertreten. Mit dem Film war Althans, obwohl er offenbar zunächst Zustimmung signalisierte, „im Prinzip nicht zufrieden“, und er beklagte, dass „all die wichtigen Kernaussagen“, die er gerne im Film gesehen hätte, fehlten. Auch bestritt er, den Holocaust geleugnet zu haben – Entsprechendes sei durch Schnitte des unzulässigerweise heimlich gefilmten Materials erzeugt worden. Bonengel widersprach dieser von Althans bis heute aufrechterhaltenen Darstellung. Im nicht verwendeten Rohmaterial finden sich zudem zahlreiche weitere Beispiele strafrechtlich relevanter antisemitischer und den Holocaust leugnender Aussagen.
Christian Mentel
Literatur David Bathrick, Anti-Neonazism as Cinematic Practice. Bonengel’s „Beruf Neonazi“, in: New German Critique 67 (1996), S. 133–146. Hans-Dieter König, Postmoderner Geschichtsverlust. Über Bonengels Film „Beruf Neonazi“ und die Auschwitz-Inszenierungen seines Hauptdarstellers Althans, in: Jörn Rüsen, Jürgen Straub (Hrsg.), Erinnerung, Geschichte, Identität, Band 2: Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein, Frankfurt am Main 1998, S. 417–450. Heinz Steinert, Genre Selbstdarstellung. Zur Einordnung des Films von Winfried Bonengel, in: Hans-Dieter König (Hrsg.), Sozialpsychologie des Rechtsextremismus, Frankfurt am Main 1998, S. 320–331.
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Biedni Polacy patrzą na getto (Essay von Jan Błoński, 1987)
Biedni Polacy patrzą na getto (Essay von Jan Błoński, 1987) Am 11. Januar 1987 veröffentlichte die katholische Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“, offiziell geduldetes Presseorgan der polnischen Opposition, einen Essay des angesehenen Krakauer Literaturwissenschaftlers Jan Błoński (1931–2009) unter dem Titel „Biedni Polacy patrzą na getto“ [Die armen Polen schauen auf das Ghetto]. Auf Grundlage zweier Gedichte des Dichters und Literaturnobelpreisträgers von 1980 Czesław Miłosz (1911–2004) reflektiert Błoński die Konsequenzen des Holocaust für das polnisch-jüdische Verhältnis. Im ersten Gedicht „Campo di fiori“, das Miłosz unter dem Eindruck des Warschauer Ghettoaufstands im Jahr 1943 schrieb, wird die Gleichgültigkeit der nichtjüdischen Polen angesichts des Massenmords an den polnischen Juden thematisiert. Auch wenn das Gedicht an die Einsamkeit der Opfer erinnert, auch wenn es die Gleichgültigkeit der Menschen außerhalb des Ghettos beklagt – die entscheidende Frage, so Błoński, sei in diesem Gedicht nicht gestellt: Kann man als passiver Beobachter des Massenmords seine Unschuld behalten oder macht man sich gar zum Helfer der Mörder? In einem zweiten Gedicht von Miłosz, das den Titel „Ein armer Christ schaut auf das Ghetto“ (1943) trägt, findet Błoński die verdrängten Aspekte derselben Frage: Das Verhältnis der nichtjüdischen polnischen Gesellschaft zu den Juden und zum Holocaust ist im großen Maße geformt durch die (mitunter auch unbewusste) Angst, zu den Gehilfen der Mörder gerechnet zu werden. Błoński erklärt, die polnische Gesellschaft könne sich von dieser Angst nur befreien, wenn sie offen und ehrlich die schmerzliche Frage nach der Mitverantwortung stelle, ohne wie bisher – mit Verweis auf die eigene Gefährdung und auf einzelne Rettungsaktionen von Juden – um mildernde Umstände zu feilschen. Sein Text ist eine Aufforderung zum Eingeständnis einer Mitschuld am Völkermord durch Unterlassung und ungenügende Gegenwehr. Die polnische Gesellschaft stehe vor der Aufgabe, ihr Verhältnis zu den Juden zu klären. Diese Aufforderung war neu und provokant zu einem Zeitpunkt, als zwar die aggressive antijüdische Polemik der 1968er-Jahre abgeklungen war, aber der Mythos, die Mehrheit der polnischen Bevölkerung habe sich während der Besatzungszeit aufopfernd und heroisch der Rettung von Juden gewidmet, nicht infrage gestellt werden durfte. Entsprechend reagierte die staatliche Presse auf den Artikel. Sie warf Błoński vor, gegen sein eigenes Volk zu polemisieren und auf diese Weise den Feinden Polens Argumente an die Hand zu geben. Deutlich differenzierter war die in den folgenden Monaten geführte Diskussion im „Tygodnik Powszechny“, dessen Autoren- und Leserschaft sich vor allem aus den Kreisen der katholischen Intelligenz rekrutierte. Zahlreiche Artikel bezogen sich positiv auf Błońskis Vorstoß, äußerten Erleichterung, dass dieses im Raum stehende Thema endlich aufgegriffen, das Schweigen gebrochen würde. Sie forderten eine offene und selbstkritische gesellschaftliche Auseinandersetzung über das polnisch-jüdische Verhältnis. Es gab aber auch Stimmen wie die von Władysław Siła-Nowicki (1913– 1994), einem angesehenen Oppositionellen, der kaum anders als die offizielle Presse argumentierte. Ebenso wie die kommunistische Propaganda bezog er sich in starkem Maße auf die Positionen der nationalistischen Rechten der Vorkriegszeit, die den Juden vorwarf, sich nicht assimiliert und auf ihrer Eigenständigkeit beharrt zu haben.
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Während der Besatzung seien die Juden im Gegensatz zu den widerständigen Polen passiv geblieben. Die Błoński-Debatte zeigt, dass bereits vor dem Fall des Eisernen Vorhangs eine innerpolnische Debatte zur Haltung und Verantwortung der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung angesichts des Judenmords stattgefunden hatte, die zwar anders als die Debatten über die Bücher von Jan Tomasz Gross (→ Sąsiedzi → Strach, → Złote żniwa) keine breite Öffentlichkeit erreichte, aber eine wichtige Rolle für die Formierung des Diskurses über das polnisch-jüdische Verhältnis spielte und Signal und Vorbote für die Diskussionen ab dem Jahr 2000 war.
Andrea Rudorff
Literatur Abdruck des Błoński-Essays in: Adam Michnik (Hrsg.), Przeciw antysemityzmowi 1936– 2009 [Gegen Antisemitismus 1936–2009], Band 2, Kraków 2010, S. 1076–1090. Deutsche Übersetzung des Błoński-Essays in: Barbara Engelking, Helga Hirsch (Hrsg.), Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden, Frankfurt am Main 2008, S. 24–39. Michał Głowiński, Esej Błońskiego po latach [Błońskis Essay wiedergelesen], in: Zagłada Żydów. Studia i materiały 2 (2006), S. 12–20. Anthony Polonsky (Hrsg.), My brother’s keeper. Recent Polish debates on the Holocaust, London 1990. Michael C. Steinlauf, Bondage to the Dead. Poland and the Memory of the Holocaust, Syracuse 1997.
Les bienveillantes (Roman von Jonathan Littell, 2006) → Die Wohlgesinnten (Roman von Jonathan Littell, 2008) Biercabaret Simplicissimus → Simpl
Bildplakate Neben der Zeitschriftenkarikatur, der Pressefotografie, dem Lichtbild und dem Film war das Bildplakat nach 1918/19 eines der Medien der Propagierung des antisemitischen Feindbildes. Während die rassistische Ausgrenzungspropaganda vornehmlich durch die Objektivität suggerierenden modernen technischen Bildmedien Fotografie, Lichtbild und Film betrieben wurde, zumal diese den Anforderungen des parteioffiziell verordneten „Antisemitismus der Vernunft“ am ehesten zu entsprechen schienen, fand die antisemitische Deutung der Welt im Medium Plakat bildhaften Ausdruck. Zugleich popularisierte das antisemitische Bildplakat seit Kriegsbeginn den gelben Judenstern als Stigmatisierungszeichen. Innerhalb der Wahlpropaganda der NSDAP vor 1933 war das antisemitische Bildplakat nur eine Randerscheinung. Eine stärkere Rolle spielte es in der Anfangs- wie auch in der Endphase der Republik nach 1928. Inhaltlich propagierte es einen sozialen Antisemitismus, der die Rolle der Juden als heimliche „Drahtzieher“ in Politik und Wirtschaft betonte, wie in einem Plakat des Völkischen Blocks von 1924, einer Tarnorganisation der verbotenen NSDAP in Bayern, in dessen Bildmittelpunkt ein jüdischer Kapitalist stand. Von dessen in den Hosentaschen steckenden Händen liefen
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feine Drähte, an denen marionettenhaft die Arbeiterschaft hing. In dem Blatt flossen gleich mehrere Bildtraditionen zusammen: das in der Publizistik der Arbeiterbewegung populäre sozialkritische Klischee des fettleibigen kapitalistischen Bonzen mit Bowler und Frack sowie das traditionelle karikaturenhafte Bild des Juden, wie es sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte und Juden stereotyp in untersetzter Gestalt mit negativ hervorgehobenen körperlichen Attributen und Davidstern zeigte. Das erste antisemitische Plakat der NSDAP selbst stammte von Hans Schweitzer alias → „Mjölnir“, dem späteren Reichsbeauftragten für künstlerische Formgebung der Regierung Hitler, das dieser zur Reichstagswahl vom November 1924 entworfen hatte. Wie das Blatt des Völkischen Blocks zeigte es einen kleinen, untersetzten jüdischen Bonzen mit Hakennase, der auf der Schulter eines von ihm mit einer Kette gefesselten übermächtigen Arbeiters thronte. Ziel des Plakats: für die Knebelung Deutschlands durch den Versailler Vertrag das Judentum verantwortlich zu machen. Schnittmengen in der frühen antisemitischen Bildrhetorik der NSDAP gab es zur DNVP sowie zur KPD, die zum Teil ebenfalls auf antisemitische Ressentiments der Wähler spekulierten. Nicht repräsentativ für die NSDAP vor 1933 waren die sogenannten Stürmer-Plakate, mit denen der fränkische Gauleiter Julius Streicher für seine Zeitung warb. Hierbei handelte sich zumeist um von Philipp Rupprecht alias „Fips“ (→ Stürmer-Karikaturen) gestaltete, rassistisch argumentierende Karikaturenplakate. Allerdings widersprachen diese dem offiziell erwünschten „Antisemitismus der Vernunft“. Ab 1928 galt ein rassistisch argumentierender Antisemitismus in der Außenpropaganda als nicht mehr opportun. Allenfalls wurde die Republik als von Juden unterwandert verhöhnt. Auf den Plakaten von 1932 erschien der Jude nur mehr als ein Gegner unter anderen. Auch nach 1933 blieben antisemitische Bildplakate die Ausnahme. Eine rassistische Bildrhetorik fand in anderen Medien statt. Zur Zeit der Olympischen Spiele verbannte die Reichsregierung antisemitische Plakate aus der Öffentlichkeit. Erst nach dem NSDAP-Reichsparteitag von 1936 tauchten sie vereinzelt wieder auf. Aus der Flut der Plakate ragte 1937 das Blatt „Der ewige Jude“ von Horst Schlüter heraus, das auf leuchtend gelbem Grund einen Ostjuden mit schwarzem Kaftan zeigte, der in der linken Hand eine Peitsche hielt und in der rechten einige Golddukaten betrachtete. Zwischen Arm und Körper trug er den Umriss einer Deutschlandkarte, auf der in roter Farbe die sowjetischen Symbole Hammer und Sichel prangten. Bei dem Blatt, das das antisemitische mit dem antibolschewistischen Ressentiment verband und mit den Farben gelb und rot verknüpfte, handelte es sich um das offizielle Plakat zur Wanderausstellung „Der ewige Jude“. Begleitet wurde die Ausstellung u. a. durch eine von dem Verlag Heinrich Hoffmann herausgegebene antikommunistische Bildtafel mit dem Titel „Der Ewige Jude! Parasit und Blutsauger aller Kulturvölker!“ Auf dem Plakat „Parole der Woche“, der parteiamtlichen Wandzeitung der NSDAP, vom April 1939 hieß es dann: „Die Juden wollen Krieg“. Das textlastige Plakat zeigte eine Porträtfotografie des amerikanischen Präsidenten inmitten eines Davidsterns. Eine Verschärfung und Zuspitzung erlebte der antisemitische Bilddiskurs mit Kriegsbeginn. Auf dem Plakat von Bruno Rehak zum Kinofilm → „Jud Süß“ von 1940 erschien der Jude als bedrohlich-finstere Gestalt, deren dämonischer Blick den Betrachter fixierte. Seit 1940 setzte sich auf den Plakaten der gelbe Judenstern als om-
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nipotentes Zeichen zur Stigmatisierung der Juden durch, so auf dem Filmplakat → „Der ewige Jude“, das von einem großen Judenstern dominiert wurde. Explizit auf die Einführung des Judensterns nach dem September 1941 bezogen waren diverse Plakate, die mit den Worten „Wer dieses Zeichen trägt, ist ein Feind unseres Volkes“ vor der vermeintlich jüdischen Gefahr warnten und den gelben Judenstern als Stigmatisierungszeichen popularisierten. Mit dem Kriegseintritt der USA und dem Überfall auf die Sowjetunion konzentrierte sich der antisemitische Plakatdiskurs primär auf die Durchsetzung von zwei Deutungsmustern: „Der jüdische Weltfeind“ sollte als Verursacher des Weltkriegs identifiziert und zugleich für die spürbaren Belastungen des Krieges im Alltag verantwortlich gemacht werden. So kam nach dem Kriegseintritt der USA 1942 eine sechsteilige Plakatserie zum Anschlag, in der das „internationale Judentum“ als Geldgeber und Drahtzieher hinter den Kriegsplänen der USA dargestellt wurde. Die collagenförmigen Blätter stellten die US-Finanz-, Rüstungs- und Medienwirtschaft als völlig „verjudet“ dar. Zugleich fokussierte die Bildpropaganda auf die Identifizierung von Judentum, amerikanisch-britischem „Plutokratismus“ und Bolschewismus, die zu einem gemeinsamen „Weltfeind“ zusammengeführt wurden, den es niederzuwalzen galt. Auf etlichen Plakaten wie auf dem Blatt von Bruno Hanich „Hinter den Feindmächten: der Jude“ erschien der jüdische Bonze hinter einem Vorhang. Dies war die visuelle Umsetzung jener populären Verschwörungstheorie, wonach Juden hinter den Kulissen die Drähte zogen. Auf dem Plakat „Der ist schuld am Krieg“ vom Frühjahr 1943 offerierte „Mjölnir“ dem Betrachter schließlich den jüdischen Bonzen mit Davidstern als alleinigen Schuldigen für den Krieg und dessen Belastungen. Während der Judenmord voll im Gange war, wies der proletarische Zeigefinger auf den Hauptfeind: einen feisten, mit Zylinder und Judenstern dargestellten Juden. Mit Schweitzers Plakat gewann die paranoide Vorstellung, von jüdischen Kriegstreibern eingekreist und bedroht zu sein, seine prägnanteste visuelle Referenz. Zugleich popularisierte das Plakat die Legende der jüdischen Kriegserklärung, auf die das Dritte Reich präventiv reagiert habe. Auftraggeber und Hersteller der antisemitischen NS-Plakate waren u. a. die Reichspropagandaleitung der NSDAP, der parteioffizielle Verlag Franz Eher Nachf., der Verlag Heinrich Hoffmann in München, der Stürmer Verlag in Nürnberg, die Deutsche Film-Herstellungs- und Verwertungs-Gesellschaft (DFG) sowie das dem Propagandaministerium unterstehende Deutsche Propaganda Atelier (DPA) in Berlin. Die Gestalter der Plakate machten nach 1945 unterschiedliche Karrieren. Schweitzer überstand die Entnazifizierung 1949 als „Mitläufer“. In den folgenden Jahren war er für das Bundespresseamt, die FDP, die US-Armee und die NPD tätig. Rehak machte sich als Grafiker von Filmplakaten wie „Und immer lockt das Weib“ (1957), „Frühstück bei Tiffany“ (1960) und „Frankenstein“ (1957) einen Namen. Hanich gestaltete Plakate und Werbeartikel für den Axel Springer Verlag u. a. mit dem Mecki von „Hör Zu“. Einzig Ruprecht wurde als Hauptschuldiger eingestuft und zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt.
Gerhard Paul
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Der Bockerer (Posse von Ulrich Becher und Peter Preses, 1946)
Literatur Wolfgang Benz, „Der ewige Jude“. Metaphern und Methoden nationalsozialistischer Propaganda, Berlin 2010. Hanno Loewy, „Der ewige Jude“. Zur Ikonografie antisemitischer Bildpropaganda im Nationalsozialismus, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder, Band 1: 1900– 1949, Göttingen 2009, S. 542–549. Friedrich Medebach, Das Kampfplakat. Aufgabe, Wesen und Gesetzmäßigkeit des politischen Plakats, nachgewiesen an den Plakaten der Kampfjahre von 1918–1933, Frankfurt am Main 1941. Gerhard Paul, Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, Bonn 19922. Gerhard Paul, „Prolet-Arier“. „Mjölnir“, Body Politics und die Bilderwelt der „Generation des Unbedingten“, in: BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und des 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013, S. 45–100. Thomas Weidner, Henning Rader (Hrsg.), Typographie des Terrors. Plakate in München 1933 bis 1945 (Ausstellungskatalog), Hildesheim, Berlin 2012.
Bismarck (Film von Wolfgang Liebeneiner, 1940) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Den blodiga tiden (Film von Erwin Leiser, Schweden 1960) → Mein Kampf (Film von Erwin Leiser, Deutschland 1960) Blut und Boden (Film von Rolf von Sonjevski-Jamrowski und Walter Ruttmann, 1933) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Der Bockerer (Posse von Ulrich Becher und Peter Preses, 1946) Obwohl Peter Preses bereits 1946 nach Wien zurückkehrte und „Der Bockerer. Tragische Posse“ noch im selben Jahr in einem Wiener Verlag erschien, kam die im New Yorker Exil entstandene Posse erst nach der Rückkehr Ulrich Bechers am 2. Oktober 1948 im kurz davor eröffneten Neuen Theater in der Scala mit Fritz Imhoff in der Titelrolle zur Uraufführung (Regie: Günther Haenel). Mit 80 Reprisen war „Der Bockerer“ einer der größten Publikumserfolge des Theaters. Der satirische Umgang mit der jüngsten Vergangenheit, insbesondere der Schluss, erregte allerdings auch Widerstand bei einem Teil des Publikums. Titel und Untertitel verweisen auf einen störrischen, bockigen Menschen, der der Realität mit einem von Ideologie und Propaganda unverstellten humanen Blick trotzt. Die satirische Wirkung entsteht durch die Konfrontation von „Weltgeschichte“ mit Privatem. Explizit wird auf zeitgenössische Ereignisse Bezug genommen und ausführlich der gesellschaftlich weitverbreitete Antisemitismus thematisiert. Eine spätere Druckauflage (1978) zeigt in der eingefügten Szene „Vorm Stadtpark“ anschaulich die antisemitische neue Ordnung: die Verhöhnung der straßenwaschenden Juden und die überlegene Mitleidlosigkeit gegenüber einer verzweifelten Mutter, deren Tochter in den nur „Ariern“ vorbehaltenen Park gelaufen ist. Erzählt werden in drei Akten und zwölf (bzw. dreizehn) – abwechselnd possenhaft, tragischen, satirischen und parodistischen – Szenen die sieben Jahre der österreichischen „Ostmark“-Geschichte aus der Sicht des Kleingewerbetreibenden Karl Bocke-
Der Bockerer (Posse von Ulrich Becher und Peter Preses, 1946)
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rer, der in persönlicher Betroffenheit mit Pseudonaivität und Wiener Schmäh dem NS-Terror trotzte. Grundsätzlich unpolitisch, ist er widerspenstig und Autoritäten gegenüber misstrauisch. Dem nach dem „Anschluss“ in Österreich gesetzlich legalisierten und allzu bereit akzeptierten Antisemitismus begegnet Karl Bockerer durch perfekt ausgespielte politische Ignoranz. Bereits die allwöchentliche Tarockpartie mit dem jüdischen Rechtsanwalt Rosenblatt im Hause des „bürgerlichen Fleischhauers und Selchermeisters“ Karl Bockerer scheint durch dessen verspätetes Eintreffen gefährdet. Die übrigen Spielpartner, seine Ehefrau Binerl und der Postoffizial Hatzinger finden das Ausbleiben dieses „rassenfremden Elementes“ weder unerwartet noch unangenehm und bemühen sich, auch den Hausherren für die neuen Ideen und die „Nürnberger Gesetze“ zu gewinnen. Als Rosenblatt verspätet eintrifft, muss Bockerer erkennen, dass es eben diese Gesetze sind, die Tarockpartien mit dem Freund in Zukunft verhindern; mit einem amerikanischen Visum wird er das Land verlassen. Seine juristischen Kenntnisse zum letzten Mal nützend lässt sich Binerl die Anforderungen des eigenen „Ariernachweises“ erklären und wird ob der vielen Fragezeichen immer kleinmütiger. „Da hast eahm jetzt, dein Ariernachweis! Ein Krscz mit an Fragezeichen!!“ – weist sie Bockerer zurecht, bevor er sich vergnügt seinem Kartenspiel widmet: „Ihr Blatt, Herr Rosenblatt“. Der Krieg hinterlässt seine Spuren: Nicht nur sein jüdischer Freund Rosenblatt war zur Emigration gezwungen, sein sozialistischer Freund, der Widerstandskämpfer Hermann, wird in Dachau ermordet und sein einziger Sohn, ein SA-Mitglied, fällt an der russischen Front. 1943 ist von der einstigen Begeisterung für den Führer nichts mehr zu spüren. 1945 schmückt die durch Schaden klüger gewordene Binerl mit dem duckmäuserisch-autoritätshörigen Hatzinger die leere Auslage des Fleischerladens mit allen vier Fahnen der Befreier. Das Ende nimmt die Anfangsszene wieder auf: Rosenblatt, nun Montgomery Royce, besucht in amerikanischer Uniform, den französischen Cognac in der Hand, seinen alten Freund. Bockerer lässt sich seine Überraschung nicht anmerken und überreicht ihm – die vor seiner Abreise am Westbahnhof übernommenen – ungebrauchten Geräte: Besen und Emaileimer. Als mahnende Symbole stehen sie beim wieder aufgenommenen Tarockspiel: „Is leider Gottes no allerweil möglich, daß – [...] Man kann ja nie wissen. Aufpassn müssen mer halt, [...] wia-r-a Luchs.“ Sein Pathos zurücknehmend lädt er (fragend) zum Spiel: „Ihr Blatt, Herr Rosenblatt?“ Indem eine lange Zeitspanne (1938–1945) vorgeführt wird, erinnern sich die Protagonisten immer wieder an vorherige Ereignisse, die auch der Zuschauer oder Leser aus der Anschauung kennt: Die Vergangenheitskonstruktionen der Figuren lassen – repräsentativ für das österreichische kollektive Gedächtnis bis in die 1990er-Jahre – jedes Eingeständnis von Mitschuld vermissen. Wirkungsästhetisch mahnte der in eine scheinbare Rondeau-Form verpackte offene Schluss die (zu leistende) Trauerarbeit an, während Bockerers satirisch überspitzter Privatwiderstand als Aufforderung zur Zivilcourage verstanden werden kann. Inszenierungen in Tübingen, für das österreichische Fernsehen (1963) und Mannheim (1978) gingen der Neuinszenierung in 13 Szenen in Anwesenheit des Autors Ulrich Becher am Wiener Volkstheater (Regie: Dietmar Pflegerl) am 26. April 1980 voraus. Die Besetzung der Hauptrolle mit dem aus der TV-Serie „Ein echter Wiener geht
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Das Boot ist voll (Film von Markus Imhoof, 1980)
nicht unter“ (ORF 1975–79) bekannten Karl Merkatz trug maßgeblich zum Publikumserfolg bei. Die Presse feierte einhellig die „Wiederentdeckung“ der nun zum „echten“ Volksstück erklärten „tragischen Posse“. Differenzen zeigten sich hinsichtlich der geschichtlichen Relevanz, wobei die „Kronen Zeitung“ sogar von „Verharmlosung der Wirklichkeit“ sprach und die „Presse“ andere Stücke empfahl, um „die Augen für politische Gefahren“ zu öffnen. 1992 bepflasterte die Gruppierung „nationalistische Front“ das Klagenfurter Stadttheater bei der „Bockerer“-Eröffnungsvorstellung des neuen Intendanten Pflegerl mit rechtsradikalen Parolen. Zur späten Bühnen-Rezeption des „Bockerer“ im deutschen Sprachraum trug auch die Verfilmung von Franz Antel (1981) ebenfalls mit Karl Merkatz in der Titelrolle bei. Allerdings entsprach die Verfilmung nicht mehr der ursprünglich „tragischen Posse“, sondern mutierte zu einem „tragikomischen Widerstandsmelodram“, das durch unterlegte Dokumentaraufnahmen vom März 1938 historische Authentizität suggerierte. Durch inhaltliche Änderungen führte Franz Antel einen „erweiterten Opferbegriff“ zur Entlastung des kollektiven österreichischen Bewusstseins ein: Während er in der ersten, dem Jahr 1938 gewidmeten Filmhälfte ausschließlich Juden als Opfer zeigte, authentisiert ein Erzähler gegen Ende des Films alle zu Opfern. Der Film-Bockerer hatte sich weit von der Bühnen-Vorlage entfernt, die Fortsetzungen „Bockerer“ II (Österreich ist frei, 1996) und „Bockerer“ III (Die Brücke von Andau, 2000) und IV (Prager Frühling, 2003) „entwendeten“ den Autoren endgültig ihre „große“ ideologiefreie Figur, die parteilos lediglich auf die Menschenrechte pochte und daher Widerstand leistete.
Elisabeth Großegger
Literatur Hilde Haider-Pregler, Der Bockerer und die Folgen. Varianten und Mutationen des „Homo Viennensis“, in: Jeanne Benoy, Alfred Pfabigan, Anne Saint Souveur (Hrsg.), Österreichische Satire (1933–2000). Exil – Remigration – Assimilation, Bern 2003, S. 363–394. Georg-Michael Schulz, Von der tragischen Posse zum österreichischen Leinwand-Epos. Der Bockerer von Ulrich Becher und Peter Preses. Text – Bühne – Film, in: Achim Barsch, Helmut Scheuer, Georg-Michael Schulz (Hrsg.), Literatur–Kunst–Medien. Festschrift für Peter Seibert zum 60. Geburtstag, München 2008, S. 458–472.
Der Bockerer (Film von Franz Antel, 1981) → Der Bockerer (Posse) Bohemia, mein Schicksal (Roman von Jan Koplowitz, 1979) → Hotel Polan und seine Gäste Das Boot ist voll (Roman von Alfred A. Häsler, 1967) → Das Boot ist voll (Film)
Das Boot ist voll (Film von Markus Imhoof, 1980) In seinem Spielfilm „Das Boot ist voll“ setzt sich Markus Imhoof kritisch und nuanciert zugleich mit einem dunklen Kapitel der Schweizer Geschichte auseinander: der Asylpolitik während des Zweiten Weltkriegs. Gestützt auf Alfred A. Häslers gleichna-
Das Boot ist voll (Film von Markus Imhoof, 1980)
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miges Buch (1967) und eigene Recherchen stellt dieses Werk das im Kalten Krieg weithin geteilte Selbstbild infrage, dass die Schweiz den vom NS-Regime verfolgten Menschen über Jahre großzügig Zuflucht gewährt habe. Eine von Überfremdungsängsten, Antisemitismus und „Sacro egoismo“ inspirierte Abwehrhaltung führte vielmehr dazu, dass Bern „Flüchtlingen nur aus Rassegründen, z. B. Juden“ den Anspruch auf Asyl grundsätzlich verweigerte. Wie die Bergier-Kommission 2001 belegte, wies die Schweiz im Zweiten Weltkrieg mindestens 24.000 jüdische Flüchtlinge an der Grenze ab und schickte viele von ihnen im vollen Wissen um die Shoah in den sicheren Tod. Es war der konservative Bundesrat Eduard von Steiger, der am 30. August 1942 die Metapher von der Schweiz als einem vollen Rettungsboot prägte und damit die harte Haltung der Behörden zu rechtfertigen versuchte. Markus Imhoof kam 1941 in Winterthur zur Welt. Er wuchs in einem bildungsbürgerlichen Elternhaus auf, besuchte das Humanistische Gymnasium und studierte an der Universität Zürich Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. Nach dem Studium wurde er am Schauspielhaus Zürich Assistent des bekannten Theaterregisseurs Leopold Lindtberg. Geprägt durch die 68er-Bewegung setzte sich Imhoof in seinen ersten Filmen kritisch mit dem schweizerischen Strafvollzug auseinander und machte sich in der Folge einen Namen als wichtiger Vertreter des Neuen Schweizer Films. Mit der hartherzigen, ja inhumanen Flüchtlingspolitik griff er ein brisantes Thema auf, das wissenschaftlich zu jener Zeit wenig erforscht war und in seiner ganzen Dramatik noch nicht Eingang ins kollektive Geschichtsbewusstsein der Schweizerinnen und Schweizer gefunden hatte. Das Schweizer Fernsehen, das ZDF und der ORF sicherten die Finanzierung des Projekts. Imhoofs Film spielt im Spätsommer 1942 in einem schweizerischen Grenzdorf. Erzählt wird die Geschichte von anfänglich sieben, dann sechs Flüchtlingen, die sich in die Schweiz ins Verderben retten, wie Friedrich Dürrenmatt schrieb. Zu Beginn sieht man, wie Schweizer Soldaten einen Eisenbahntunnel in Richtung Deutschland zumauern – eine starke Metapher für die sich abschottende Schweiz. Ein Zug der Reichsbahn stoppt des neuen Hindernisses wegen in Grenznähe. Im Führerstand der Lokomotive sind sieben Flüchtlinge versteckt: ein älteres Ehepaar Ostrowskij aus Wien und ihre Enkelin Gitty; die junge Judith Krüger und ihr Bruder Olaf Landau, ein französischer Waisenjunge und ein Wehrmachtsdeserteur. Mit Ausnahme des Soldaten sind alle Juden. Sechsen aus der Gruppe gelingt die Flucht über die Grenze. Einzig die alte Frau (gespielt von Ilse Bahrs) wird von deutschen Soldaten aufgegriffen und in einer grausamen Szene vor die Wahl gestellt, ob sie lieber mit den Füßen oder dem Kopf voran im Heizkessel der Lokomotive sterben wolle. Inzwischen haben sich die Entkommenen in einem Schuppen auf schweizerischem Territorium versteckt. Dort werden sie von einer Frau mittleren Alters entdeckt, die sie in ihren Gasthof führt und ihnen in der Küche ein karges Mahl bereitet. Als ihr bärbeißiger Ehemann (Matthias Gnädinger) die Flüchtlinge in der Küche antrifft, beschimpft er sie in übler antisemitischer Manier. „Wer weiß, was die angestellt haben, dass sie draußen haben verschwinden müssen“, meint er ignorant, bevor er seinen Knecht beauftragt, den Dorfpolizisten über die illegal Eingereisten zu informieren. Inzwischen erkundigt sich die Wirtin beim Pfarrer, ob es nicht doch einen Weg gäbe,
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um die Menschen zu retten. Der ängstliche Geistliche meint, dass es eine Ausnahmeregelung für Familien mit Kindern unter sechs Jahren gäbe. „Aber sagen Sie um Gottes willen nicht, dass Sie das von mir haben.“ In ihrer Verzweiflung stellen die Flüchtlinge daraufhin eine falsche Familie zusammen. Ein Problem stellt der kleine französische Waisenjunge dar, der kein Wort Deutsch spricht. Der falsche Großvater (Curt Bois) versucht ihm in einer wunderbar gespielten Szene klar zu machen, dass er im kommenden Verhör mit dem Polizisten auf gar keinen Fall etwas sagen dürfe. Der aus der Not geborene Schwindel fliegt bald auf – mit schlimmen Konsequenzen für die Flüchtlinge. Vier von ihnen – der alte Mann, Judith, Gitty und Olaf – werden an der Grenze den Deutschen übergeben und kommen dort rasch ums Leben. Einzig der Deserteur und der kleine französische Bub können in der Schweiz bleiben. Der Film endet mit einer langen Einstellung, in der man eine Brücke mit geschlossenem Schlagbaum im Dauerregen sieht – ein Symbol für die Linie, die das Land der Lebenden von dem der Ermordeten scheidet. Imhoofs Meisterwerk spielt fast ausschließlich in geschlossenen Räumen, kommt ganz ohne Musik aus und besticht durch großartige Schauspielerleistungen. Der Film zeigt nicht nur ein breites Spektrum schweizerischen Verhaltens gegenüber jüdischen Flüchtlingen, sondern stellt auch die Frage nach der persönlichen Schuld der sogenannten „Aktivdienstgeneration“. Die dargestellte düstere Seite des schweizerischen Davon-Gekommenseins löste in der Schweiz kontroverse Reaktionen aus. Der für die Filmförderung zuständige Innenminister Hans Hürlimann (CVP) versagte dem Werk mit der Begründung: „Dem Projekt fehlt die historische Distanz und Würdigung. Es wirkt dramaturgisch veraltet und erinnert in negativem Sinn an Volkstheater“ eine finanzielle Unterstützung. Neben Bombendrohungen gegen die Filmvorführungen in Bern und einigen Hakenkreuzschmierereien stieß der Film auch auf viel Zuspruch. Er förderte einen allmählichen Bewusstseinswandel, der 1995 zu einer offiziellen Entschuldigung der Schweiz durch Bundespräsident Kaspar Villiger führte. Der Film entwickelte sich rasch zu einem internationalen Großerfolg. Er wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Silbernen Bären, ausgezeichnet und war für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert.
Aram Mattioli
Literatur Alfred A. Häsler, Das Boot ist voll. Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933–1945, Zürich 19929. Markus Imhoof, Das Boot ist voll. Ein Filmbuch. Mit einem Vorwort von Friedrich Dürrenmatt, Zürich 1983. Annette Insdorf, Indelible Shadows. Film and Holocaust, Cambridge, New York 20033. Dennis F. Mahoney, Personalizing the Holocaust: Das Boot ist voll, in: Modern Language Studies 19 (1989), S. 3–11.
Borkum-Lied Zu den Begleiterscheinungen des Bäder-Antisemitismus in Deutschland gehörten antisemitische Hetzlieder mit einem spezifischen Ortsbezug (Borkum-Lied, ZinnowitzLied, Wangerooger Judenlied), die häufig von Kurkapellen gespielt oder antijüdisch
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eingestellten Badegästen gesungen wurden, um die Diskriminierung von Juden in bestimmten Kur- und Badeorten symbolisch und hörbar zu vollziehen. In der Regel wurde der Text der erwähnten Lieder auf Postkarten nachgedruckt, die in den Andenkenläden der Badeorte verkauft wurden und so für eine weite Verbreitung der Liedtexte sorgten. Dabei spielte das Borkum-Lied insofern eine wichtige Rolle, als es bereits im Kaiserreich entstanden war und entsprechende Nachahmungen andernorts inspirierte. Bereits in den 1890er-Jahren wurde es auf Borkum nach der Melodie des sogenannten „Kaisermarsches“ (Hipp-Hipp-Hurra) gesungen und endete mit den Zeilen: „Und wer dir naht mit platten Füßen/Mit Nasen krumm und Haaren kraus/Der soll nicht deinen Strand genießen/Der muss hinaus, der muss hinaus!“ Nach 1918 kamen weitere Strophen hinzu, mit denen sich Borkum aggressiv von der benachbarten Konkurrenz abgrenzte, dem Seebad Norderney, das als „Judeninsel“ verspottet wurde („Borkum, der Nordsee schönste Zier/bleib Du von Juden rein/lass Rosenthal und Levysohn/in Norderney allein“). Auch in anderen Seebädern zogen antisemitische Badegäste nach und dichteten neue Lieder bzw. fügten bestehenden weitere Strophen hinzu – ein Vorgang, der die Radikalisierung des Bäder-Antisemitismus in der Weimarer Republik andeutete. Nachdem die Behörden des Kaiserreiches gegen das Spielen und Singen des Borkum-Liedes nie eingeschritten waren, regte sich mit dem Übergang zur Weimarer Republik jedoch öffentlich Widerstand: Sowohl die Borkumer SPD als auch der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) forderten ein öffentliches Spielverbot. Dieses war aber nicht leicht durchzusetzen, weil das Abspielen und Singen des Liedes allein als Störung der öffentlichen Ordnung unterbunden werden konnte und einige Behörden und Gerichte die öffentliche Diskriminierung und Verhöhnung der jüdischen Minderheit keineswegs als eine Störung der öffentlichen Ordnung einstuften. Ein öffentliches Spielverbot konnte erstmals 1922/23 durch Jann Berghaus (DDP), den Regierungspräsidenten in Aurich, durchgesetzt werden, nachdem dessen kaisertreuer Vorgänger in den Ruhestand versetzt worden war. Der Landrat in Emden, Walter Bubert (SPD), setzte gegen das öffentliche Spielen des Liedes sogar polizeiliche Zwangsmittel ein, ließ die Borkumer Kurkapelle verhaften und konfiszierte deren Instrumente. Die Justiz fiel der Politik jedoch in den Rücken und hob teilweise die Spielverbote wieder auf, so zum Beispiel das Preußische Oberverwaltungsgericht in Berlin, das 1925 zwar das öffentliche Singen, nicht aber das Spielen des Liedes als Störung der öffentlichen Ordnung einstufte. Die spitzfindige Begründung lautete, dass beim bloßen Spielen des Liedes ja der inkriminierte Text nicht gesungen werde. Dennoch setzte sich bis zum Ende der Weimarer Republik das Spielverbot des Borkum-Liedes durch, nachdem es gelungen war, einen seiner Hauptpropagandisten, den Pastor Ludwig Münchmeyer, einen späteren „Reichsredner“ der NSDAP, seines Priesteramtes zu entheben und von der Insel zu verweisen. Die Auseinandersetzungen um das Borkum-Lied zeigen einerseits, dass sich der alltägliche Antisemitismus in der Weimarer Republik radikalisierte, unter den Bedingungen einer rechtsstaatlichen Demokratie aber zugleich Möglichkeiten der Gegenwehr zur Verfügung standen. Diese
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Der Büttnerbauer (Roman von Wilhelm von Polenz, 1895)
konnten durchaus erfolgreich mobilisiert werden, ehe die Nationalsozialisten 1933 nicht nur Rechtsstaat und Republik beseitigten, sondern auch die vollständige Vertreibung von Juden aus Kur- und Badeorten durchsetzten.
Frank Bajohr
Literatur Frank Bajohr, „Unser Hotel ist judenfrei“. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003³. Jacob Borut, Antisemitism in Tourist Facilities in Weimar Germany, in: Yad Vashem Studies 28 (2000), S. 7–50.
Der Büttnerbauer (Roman von Wilhelm von Polenz, 1895) Der Roman „Der Büttnerbauer“ erschien 1895. Er gilt nach formalen Gesichtspunkten als bedeutendes Werk des Naturalismus. Verfasst von Wilhelm von Polenz (1861– 1903) zeigt er dessen antisemitische Anschauungen. Polenz, 1883–1885 Mitglied im „Verein Deutscher Studenten“ und sehr an Nationalökonomie interessiert, stellt mit seinem Roman den Niedergang des Bauernstandes dar. Der Roman spielt vor dem Hintergrund des ostelbischen Strukturwandels, der Landflucht und den englischen Agrarverhältnissen. Er handelt vom Untergang des Bauern Traugott Büttner, einem traditionsverhafteten Großbauern. Dieser gerät in Geldnot, als er seine Geschwister auszahlen muss, und verschuldet sich bei einem reichen Juden. Zeitgleich erzählt er auch die Geschichte des Bauernsohnes, der sich den Migrationsströmen vom Land in die Städte anschließt. Die antisemitischen Überzeugungen treten bei Polenz durch sprachliche Mittel und durch stereotype Figuren in Erscheinung. So besitzt der Jude äußerlich wenig Anziehendes. Das Bild des unansehnlichen Juden mit „Dachsbeinen“ und einem „häßlichen Mund“ wird mit der Zuschreibung schlechter Wesenszüge kombiniert. Erwähnt werden „die versteckte Lüsternheit seines Wesens“, seine verschlagene Art und berechnende Lebensweise. Die Töchter des Titelhelden machen sich über das Aussehen des jüdischen Händlers Samuel Harrasowitz lustig, dessen „Hemdkragen nicht vom reinsten“ und auf dessen heller Weste „verschiedene Fettflecken“ zu sehen waren. Die offensichtliche Lächerlichkeit des äußeren Erscheinungsbildes verbindet Polenz mit der Gefahr, die vom schlechten Wesen und Geiz des jüdischen Händlers ausgeht, zu dem bedrohlichen jüdischen Stereotyp. Polenz spricht als Erzähler von der „modernen Hörigkeit“, in die verschuldete Bauern durch jüdische Spekulanten geraten. „Der ausgleichende und versöhnende Kitt der Tradition“ fehle den Juden, es herrsche „die parvenuehafte Macht von gestern protzig und frivol, die herzlose Unterjochung unter die kalte Hand des Kapitals.“ Personifiziert wird diese Hand durch den jüdischen Kreditfinancier Isidor Schönberger mit dem „mißmutigen verächtlichen Ausdruck, den er für alles auf der Welt hatte, was sich nicht in Zahlen ausdrücken ließ“, dessen „weiße, welke, mit vielen Ringen geschmückte Hand“ des Titelhelden „derbe rote Bauernfaust“ dankbar drückt. Auch alle anderen jüdischen Figuren tragen die negativen Eigenschaften des jüdischen Stereotyps, äußerlich wie innerlich: Sie sind reich und verschwenderisch, abgebrüht, schonungslos, sie haben unheilvolle Augen, struppiges Haar, eine Hakennase
The Canterbury Tales (Geoffrey Chaucer, 14. Jahrhundert)
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und schiefe Beine. Anders als in vergleichbarer antisemitischer Literatur sprechen die jüdischen Figuren grammatikalisch richtiges und lautreines Deutsch, während die anderen Figuren starken Dialekt sprechen und dadurch ihre lange Verbundenheit mit dem Ort ausdrücken. „Judendeutsch“ taucht bei Polenz nur auf, wenn jüdische Geschäftemacher zweifelhafte Geschäfte betreiben oder den Untergang des Bauern einfädeln, während dieser mithört. Das angeblich Jiddische wird als Gaunersprache ausschließlich negativ konnotiert.
Angelika Benz
Literatur Martin Gubser, Literarischer Antisemitismus, Göttingen 1998. Klaus-Michael Bogdal, Matthias Holz, Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart, Weimar 2007.
Cabaret Fledermaus → Marietta-Bar Campo di fiori (Gedicht von Czesław Miłosz, 1943) → Biedni Polacy patrzą na getto
The Canterbury Tales (Geoffrey Chaucer, 14. Jahrhundert) Die „Canterbury Tales“ gehören zu den berühmtesten Werken der englischsprachigen Literatur überhaupt. Ihr Verfasser Geoffrey Chaucer (um 1343–1400) wird weithin mit diesem Werk identifiziert. Nach 1387 begann er seine Arbeit daran, von den geplanten 120 Geschichten wurden nur 21 fertiggestellt, deren bleibendes Verdienst es allerdings ist, das seinerzeit fast ausschließlich als Volkssprache gängige Englisch als Literatursprache (Mittelenglisch) etabliert zu haben. Zwar war Chaucer nicht der Erste, der Mittelenglisch schrieb, doch für eine Zeit, in der literarische Arbeiten in der Regel entweder auf Latein oder Anglonormannisch (eine romanische Sprache, die sich nach der normannischen Eroberung Englands 1066 als Hofsprache etablierte) verfasst waren, markieren die „Canterbury Tales“ einen Durchbruch. Um ihre antisemitischen Passagen betrachten zu können, bedarf es zunächst eines Blickes auf die Konzeption und die fertiggestellten Geschichten: 30 Pilger sind auf dem Weg zum Grab des heiligen Thomas Becket in Canterbury. In einem Wirtshaus schlägt ihnen der Gastwirt vor, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen, der beste Erzähler erhalte eine freie Mahlzeit. Jedem Pilger waren vier Geschichten zugedacht. Die Pilger, unter ihnen der Autor selbst, verkörpern alle Schichten der englischen Gesellschaft – vom adeligen Ritter über die Nonne bis zum leibeigenen Bauern. Im Prolog wird jeder von ihnen in einem sehr realistischen Portrait charakterisiert. Es war Chaucers Verdienst, nicht nur eine glaubwürdige Rahmenhandlung, sondern auch jedem Pilger eine eigene Sprache und eine passende Geschichte geschrieben zu haben. Das Ergebnis war ein seinerzeit einmaliger Realismus in der Darstellung. So sind die Geschichten in Versform verfasst, zwei jedoch in Prosa. Die „Canterbury Tales“ sind in verschiedenen Handschriften überliefert (allerdings ist keine von Chaucer selbst geschriebene bekannt), die naturgemäß leicht voneinander abweichen und in denen die
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The Canterbury Tales (Geoffrey Chaucer, 14. Jahrhundert)
einzelnen zehn Fragmente teilweise in anderer Reihenfolge stehen. Substanzielle Veränderungen des Inhalts sind jedoch nicht nachweisbar. Religion und Religiosität gehören zu den beinahe durchgängigen Leitmotiven der „Canterbury Tales“. Mithin kommen aber auch religiös motivierte Xenophobien zum Tragen. Zunächst treten Muslime und Heiden auf, die allesamt als hinterlistige Betrüger dargestellt werden. Juden folgen in der „Prioress’s Tale“, der Geschichte, die einer Priorin und mithin Vertreterin der Kirche in den Mund gelegt wird: Jeden Tag geht ein siebenjähriger Junge durch die jüdische Straße einer christlichen Stadt und singt ein populäres mittelalterliches Preislied zu Ehren Marias, der Muttergottes. Der Teufel stiftet die Juden dazu an, den Jungen zu ermorden. Seine Leiche werfen sie auf einen Misthaufen. Die Mutter findet die Leiche, die „loude and cleere“ [laut und deutlich] den Marienpreis singt. Die Mörder sind schnell gefunden: die Juden, denn der Teufel „hath in Jewes herte his waspes nest“ [der Teufel hat im Herzen des Juden sein Wespennest]. Sie werden gefangen genommen und gevierteilt, was mit der Zeile „Yvele shal have that yvele wol deserve“ [Das Böse soll bekommen, wer es verdient] kommentiert wird. Chaucer untermauert diese Geschichte am Ende mit einem vorgeblich historischen Ereignis: „O yonge Hugh of Lyncoln, slayn also / With cursed Jewes...“ [Oh kleiner Hugh von Lincoln, ebenso ermordet von verfluchten Juden]. Die Geschichte vom kleinen Hugh, der im Jahr 1255 in Lincoln angeblich von Juden ermordet wurde, fand in vielen zeitgenössischen Chroniken und Urkunden Erwähnung. Damit wird in Chaucers Erzählung die klassische antijüdische Ritualmordlegende ausgebreitet, wenn er auch nicht ihr Erfinder war. Die erste dokumentierte Ritualmordbeschuldigung ist aus dem Jahr 1150 im ersten Band des Werkes „The Life and Passion of Saint William the Martyr of Norwich“ des Thomas of Monmouth überliefert (die symbolische Kreuzigung eines Jungen soll sich 1144 zugetragen haben). Schon zu Chaucers Zeiten waren Ritualmordlegenden gängig, jedoch waren es die „Canterbury Tales“, durch die die Legende Eingang in die abendländische Literatur fand und zum festen Motiv wurde. Ohne den Rekurs auf die schon seinerzeit mehr als 130 Jahre alte Geschichte vom Mord an Hugh of Lincoln wäre die „Prioress’s Tale“ allerdings gar nicht ausgekommen, denn schon damals war es rund 100 Jahre her, dass die Juden aus England vertrieben worden waren und die Erzählung der Priorin folglich nicht in England, sondern „in Asye, in a greet citee“ spielte, deren Name allerdings nicht genannt wird. Eine literaturwissenschaftliche Kontroverse über den Antijudaismus besonders in der „Prioress’s Tale“ erreichte ihren Höhepunkt in den 1960er-Jahren. Analog zu anderen großen Werken der englischen Literatur, insbesondere Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ (→ Merchant of Venice), war auch im Falle Chaucers versucht worden, sein Werk vom Makel der Judenfeindschaft freizusprechen – einige Autoren behaupteten sogar, er habe den Judenhass demaskieren wollen. In der Tat weist der Text einige sehr ungewöhnliche Merkmale auf: Die Priorin spricht mit einem französischen Akzent, was auf ihren hohen sozialen Stand verweist, und trägt eine Halskette mit dem für eine Nonne durchaus zweifelhaften Motto „Amor vincit omnia“ [Die Liebe besiegt alles]. Dazu ist ihre Geschichte in einem von Chaucer neu geschaffenen Reimschema, dem „Rhyme royal“, verfasst, dessen elaborierter Ton einer höfischen Liebeserzählung würdig ist, aber kaum zum Gehalt der Geschichte einer Priorin passt, die
Le Carnet de chèques (Comic-Album von Caran d’Ache, 1892)
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von simpler Frömmigkeit spricht. Einige Literaturkritiker wiesen also aufgrund von Sprache und Struktur ihres Prologs und ihrer Geschichte darauf hin, dass Chaucer sich über die Priorin lustig gemacht habe und mithin auch ihr Antijudaismus in diesem Licht zu betrachten sei. Stichhaltiger erscheint jedoch die Argumentation von Florence H. Ridley, die betonte, dass Toleranz gegenüber Minderheiten wohl keine Haltung ist, die Chaucer mit dem heutigen Leser geteilt hätte. Sie schrieb, hinsichtlich der religiösen Intoleranz zu Zeiten des Dichters sollte dies niemanden überraschen; es wäre absolut ungewöhnlich für einen englischen Dichter des 14. Jahrhunderts gewesen, eine Nonne und eine Jungfrauen-Legende zu verspotten, um damit den Antisemitismus bloßzustellen. Wenn also die „Prioress’s Tale“ durchaus als Satire auf die Kirche und Geistlichkeit interpretiert werden kann – wofür allein schon spricht, dass sie in der Volkssprache geschrieben ist und zahlreiche, für mittelalterliche Satiren übliche Merkmale aufweist –, kann dies jedoch nicht als Satire auf den christlichen Antijudaismus verstanden werden. Dieser dient vielmehr dazu, der Satire einen glaubwürdigen Hintergrund zu geben, damit sie funktioniert. Es bleibt festzuhalten, dass die antijüdischen Passagen in Chaucers Werk über gängige Stereotype und Legenden seiner Zeit nicht hinausgehen. Zu Chaucers Zeiten war dies freilich von geringer Bedeutung, da ohnehin keine Juden in England lebten. Durch die enorme Wirkung der „Canterbury Tales“ allerdings fanden sie ihren festen Platz in der Tradition der englischen und abendländischen Literatur und blieben über Jahrhunderte virulent.
Bjoern Weigel
Literatur Harold Bloom, Geoffrey Chaucer, Broomall Pa 2003. Albert B. Friedman, The Prioress’s Tale and Chaucer’s Anti-Semitism, in: Chaucer Review 9 (1974–1975), S. 118–129. Raymond Preston, Chaucer, His Prioress, the Jews and Professor Robinson, in: Notes & Queries CCVI (January 1961), S. 7–8. Florence H. Ridley, The Prioress and the Critics, Berkley 1965. Gillian Rudd, The Complete Critical Guide to Geoffrey Chaucer, London 2001.
Carl Peters (Film von Herbert Selpin, 1941) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Le Carnet de chèques (Comic-Album von Caran d’Ache, 1892) „Le Carnet de chèques“ [Das Scheckheft] ist ein Comic-Album des Karikaturisten Caran d’Ache (von russisch: Karandasch [Bleistift], eigentlich Émmanuel Poiré, 1858– 1909), das 1892 im Verlag E. Plon, Nourrit & Cie. erschien. Mit 44 Seiten Umfang, in schwarz-weiß gedruckt, nahm die Publikation auch optisch die Form eines Scheckhefts auf, wie sie seinerzeit üblich war. Sie ist eine klare Anspielung auf den PanamaSkandal (1892/93): Im Auftrag von Cornelius Herz, einem franko-amerikanischen Geschäftsmann, und Jacques de Reinach, einem französischen Bankier deutscher Herkunft, der 1892 unter mysteriösen Umständen tot aufgefunden wurde, war Émile
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Arton hierbei die zentrale Figur bei der Bestechung eines großen Teils der republikanischen Abgeordneten der französischen Nationalversammlung. Die jüdische Herkunft von Arton (eigentlich Léopold Émile Aron, 1849–1905), Herz und de Reinach war der Vorwand für eine heftige antisemitische Kampagne, die hauptsächlich Édouard Drumont und seine Zeitung „La Libre Parole“ [Das freie Wort] führten. Hier wurde auch die Liste der korrumpierten Abgeordneten veröffentlicht, die den wenig schmeichelhaften Namen „Chéquards“ [„Scheckempfänger“] bekamen. Im „Scheckheft“ von Caran d’Ache notiert der Autor – in einer Mischsprache, die Jiddisch imitiert – die Bemerkungen des Unterzeichneten (Arton) über die Schwierigkeiten, diesen oder jenen Abgeordneten zu bestechen. Auf der gegenüberliegenden Seite zeigen jeweils ein oder zwei Zeichnungen den jüdischen Bestecher in Aktion. Er taucht während jeder denkbaren Alltagshandlung des Politikers auf, ob dieser nun in der Versammlung oder seinem Badezimmer ist, um zu unterstreichen, wie schwer es ist, dem Verführer zu entkommen, der unablässig mit dem Scheck winkt, alle Waffen der Überredungskunst einsetzt, mit Drohung, Verlockung oder Hypnose arbeitet. Bei Widerstand des Abgeordneten steigt die Summe und der Kommentator wettert: „Ich beginne zu glauben, dass das ein Jude ist!“ „Le Carnet de chèques“ war eine anekdotische Publikation ohne weitreichende Wirkung, doch ihre Thematik (die Korruption von Volksvertretern) wurde noch jahrelang von katholischen, royalistischen und bonapartistischen Reaktionären aufgenommen, bis ihre Verwendung während der Dreyfus-Affäre kulminierte. „Le Carnet de chèques“ machte Caran d’Ache zu einem der Begründer des modernen grafischen Antisemitismus.
Didier Pasamonik Übersetzung aus dem Französischen von Bjoern Weigel
Literatur Michel Dixmier, Jacqueline Lalouette, Didier Pasamonik, La République et l'Église, les images d’une querelle, Paris 2005. Marie-Anne Matard-Bonucci, L’image, figure majeure du discours antisémite, in: Vingtième Siècle 72 (2001), S. 27–39. Jean-Yves Mollier, Le Scandale de Panama, Paris 1991. François Solo, Dico Solo, Vichy 2004.
Le Chagrin et la pitié (Dokumentation von Marcel Ophüls, 1969) → Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm Christ und Jude → Hans Folz-Dichtung Chronik eines Mordes (Film von Joachim Hasler, 1965) → Zwischenfall in Benderath
Comics Im Zweiten Weltkrieg dienten Comics in den USA auch zu Propagandazwecken. Die Helden kämpften gegen die Achsenmächte oder wurden bei der Unterstützung der Truppen gezeigt. Nationalsozialistische Comics sind nicht überliefert, stattdessen wur-
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de das Medium als „primitivste Hasspropaganda gegen Deutschland“ verurteilt. Als Reaktion auf „How Superman would end the War“ folgte am 25. April 1940 die Replik „Jerry Siegel greift ein“ in „Das schwarze Korps. Zeitung der Schutzstaffeln der NSDAP“. Bereits im Titel prangte statt eines i-Punkts ein Davidstern, während der Rest des Textes einen der Superman-Erfinder als „geistig und körperlich Beschnittenen“ und mit den Worten „Siegellack stinkt“ diffamierte. Bis in die frühen 1950er-Jahre genossen Comics in den USA mitunter größere Freiheiten als die Filmindustrie, was die Veröffentlichung der ersten Kurzgeschichte „Master Race“ (1953) ermöglichte, die sich ansatzweise den Nachwirkungen des Holocaust auf Überlebende widmete. Doch die Stimmung änderte sich und Comics galten nun u. a. als Mitverursacher von Jugendkriminalität. Die aus den USA übernommenen Vorurteile gegen Comics, dem „Opium der Kinderstube“, sowie der Vorwurf des „Bildidiotismus“ und der „verstümmelten Lesefähigkeit“ waren in den 1950er-Jahren und lange danach sowohl in der BRD als auch der DDR anzutreffen. Am Erfolg des Mediums änderte das jedoch wenig. Antisemitismus ist nicht nur in Comics vom rechten Rand (→ rechtsextreme Comics) oder als perpetuiertes Stereotyp anzutreffen, sondern auch ein Thema, mit dem sich Comics kritisch auseinandersetzen. Das kann in autobiografischer, dokumentarischer, fiktiver oder pädagogischer Form erfolgen. Als Art Spiegelman 1986 den ersten Band von „Maus“ veröffentlichte (Band 2: 1991), brach er ein unausgesprochenes Tabu. Nach dem ersten Sturm der Entrüstung zeigte sich jedoch, dass es sich bei „Maus“ weder um eine plakative noch um eine bagatellisierende Darstellung des Holocaust handelte. Vielmehr vereinte Spiegelman Elemente des Comics, des Romans, der Biografie, der Autobiografie und der Oral History zu einem beeindruckenden Gesamtwerk. Die Verfremdung der Akteure durch Tiermasken ermöglichte es, den Holocaust zu thematisieren und dabei zugleich die Grenzen des Darstellbaren miteinzubeziehen. Spiegelman visualisiert Erinnerungen, ohne ihnen einen dokumentarischen Charakter zu verleihen. Er verzichtet auf geschlossene Erzählungen und Sinngebung: Die Lektüre von „Maus“ offeriert keine Katharsis und keine Kohärenz. Gerade darin zeigt sich die besondere Qualität des Comics, der 1992 den Pulitzer Preis erhielt. Miriam Katins „Allein unter allen“ (2006) ist ein Beispiel für den weitreichenden Einfluss von „Maus“. Für Katin war Spiegelmans Comic ein maßgeblicher Impuls, dem eigenen Erlebten eine bildliche Form zu geben. Zwischen den Comics existieren einige Parallelen, so beinhalten beide Aussagen der Elterngeneration und verschiedene Zeitebenen. Doch trotzdem überwiegen die Unterschiede, da sich Katins Comic sowohl im Umfang, dem zurückhaltenden Ton, der Perspektive und dem skizzenhaften Stil nebst Farbwahl stark von Spiegelmans Werk abgrenzt. Wie Spiegelman setzte sich auch Will Eisner intensiv mit Fragen der jüdischen Identität und des Antisemitismus auseinander. Vor allem seine späteren Werke (1978: A Contract with God, 1991: To the Heart of the Storm, 2003: Fagin, the Jew und 2005: The Plot) sind dabei äußerst vielschichtig und brechen mit den Seitenaufbauund Erzähltraditionen des Comics. Während sein autobiografischen Werk „To the Heart of the Storm“ den im Amerika der Vorkriegszeit erlebten Antisemitismus noch
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en passant behandelt, steht die Entstehungsgeschichte der „Protokolle der Weisen von Zion“ im Mittelpunkt des posthum erschienenen → „The Plot“ [Das Komplott]. Bei den dokumentarischen Erzählungen zum Holocaust steht weder der persönliche Bezug des Autors noch das individuelle Schicksal im Vordergrund. Stattdessen liegt der Fokus auf exakter Wiedergabe der Fakten. Dieter Kalenbachs und Friedemann Bedürftigs ambitioniertes Projekt einer zweibändigen Hitlerbiografie (1989) scheiterte, obwohl sich die Bundeszentrale für politische Bildung 1993 für den Vertrieb einer gekürzten einbändigen Fassung als Bestandteil des Medienpakets „Gewaltherrschaft und Demokratie“ entschied. Die öffentliche Resonanz war jedoch verheerend und das Medienpaket wurde eingezogen. Gründe für den Misserfolg gab es einige: Die an Collagen erinnernden Text-Bild-Montagen wiesen kaum Handlungsbezüge auf, und die Quellen- und Literaturnachweise für den zitatlastigen Text sowie seine auf fotografischem Propagandamaterial beruhenden und zum Teil stark ästhetisierten Grafiken fehlten. Wie sich Quellenangaben in Comics einbinden lassen, ohne den Erzählfluss zu behindern oder die verstörende Wirkung des Gezeigten abzumildern, illustriert David Sims „Judenhass“ (2008). In größtenteils auf Fotos basierenden Bildern umreißt Sim mit Zitaten und Fakten die Geschichte der religiösen Judenfeindschaft, des Antisemitismus und des Holocaust. Sims Comic geht dabei auch auf die Erinnerung und den aktuellen Diskurs ein, wobei er Überlebende und berühmte Persönlichkeiten gleichermaßen zu Wort kommen lässt. Dass eine historisch akkurate, berührende Schilderung auch ohne drastische Bilder auskommen kann, beweist Elke Steiners „Rendsburg Prinzessinstrasse“ (2001), das auch als Comic Strip in der „Jüdischen Allgemeinen“ erschien. Es erzählt die Geschichte der jüdischen Gemeinde Rendsburg seit dem 17. Jahrhundert und thematisiert dabei den Antisemitismus, dem die Mitglieder ausgesetzt waren, und dessen Auswirkungen auf den Einzelnen. Die dritte Gruppe vereint akkurat recherchierte Hintergründe mit fiktiven Akteuren. So ist „Yossel, 19. April 1943“ (2003), die bildliche Schilderung des Warschauer Aufstands, zugleich eine „was wäre wenn“-Erzählung Joe Kuberts, dessen Familie 1926 nach Amerika auswanderte. Als Basis verwendete er Briefe seiner Verwandten und verzichtete auf fotografische Vorlagen. Der fiktive Charakter wird dabei in der Einleitung und skizzenhaften Ausführung des Comics betont. „Adolf“ (1983–1985) von Osamu Tezuka verknüpft die Geschichte von realen und fiktiven Personen zu einem krimiartigen Plot: Neben Adolf Hitler treten der fiktive Adolf Kaufmann, der sich zum glühenden Anhänger der NS-Ideologie entwickelt, sowie dessen jüdischer Jugendfreund Adolf Kamil auf. Dennoch ist „Adolf“ nicht effektheischend inszeniert und zeigt sowohl Täter- als auch Opferperspektiven auf das Geschehen. In Pascal Crocis „Auschwitz“ (2004) wird die Rahmenhandlung in den jugoslawischen Bürgerkrieg verlegt. Ein fiktives Ehepaar, dem es gelang, Auschwitz zu überleben, wird 1993 erschossen. Die in Rückblenden geschilderte Erzählung beruht auf Gesprächen mit Zeitzeugen, Dokumentationen und Quellen. Trotz Quellennähe ist Croci auch kritisiert worden: Er würde durch seine Bilder Gewalt „grafisch zelebrieren“.
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Pädagogische Comics unterliegen von vornherein besonderen Anforderungen. Sie sollen nicht nur Fakten interessant schildern und dabei ihre Leser motivieren, sie müssen auch den zeitlichen und didaktischen Rahmenbedingungen des Schulunterrichts gerecht werden. Einer der Vorreiter ist das erstmalig 2005 vom Innenministerium Nordrhein-Westfalen herausgegebene Heft „Andi“. Bisher existieren Hefte zu folgenden Themen: Rechtsextremismus, Islamismus und Linksextremismus. Für den Zeichenstil hatte die Zielgruppe der 12–16-Jährigen in einer Umfrage gestimmt. Obwohl die Erstauflage im August 2005 mit 100.000 Exemplaren gedruckt wurde, war sie bereits zum Jahresende vergriffen. Zahlreiche Neuauflagen folgten und die Nachfrage hält an. 2010 wurde „Die Suche“ (2007: „De Zoektocht“) vom Anne Frank Haus herausgegeben. Der Comic kombiniert fiktive Personen mit historischen Tatsachen und entstand als pädagogisches Produkt mit Unterrichtsmaterialien wie Arbeitsheften und Lehrerhandreichungen. Mitunter wurden der an „Tim und Struppi“ erinnernde Zeichenstil und der Verzicht auf Gewaltdarstellungen kritisiert. Letztere waren bewusst vermieden worden, denn es sei „gar nicht möglich, das ganze Ausmaß des Grauens darzustellen“, auch wurden die einzelnen Bilder in intensiven Gesprächen mit Wissenschaftlern diskutiert und geprüft. Die deutsche Ausgabe richtet sich primär an Hauptund Realschüler, wobei die bisherige Resonanz an Schulen positiv war. Für eine weniger kindgerecht anmutende Außenwirkung entschieden sich die Autoren der „Episoden aus Auschwitz“. Die Reihe entsteht seit 2009 in Kooperation mit dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Aufmachung und Sprache wurden mit Hinblick auf die jugendliche Zielgruppe gewählt. Die Comics basieren primär auf Zeitzeugenberichten und werden durch Aktenzitate und Aufzeichnungen ergänzt. Dank ihrer quellennahen Umsetzung sollen die „Episoden aus Auschwitz“ als Lehrmaterialien und zur Vorbereitung für den Museumsbesuch geeignet sein, wo die Jugendlichen sich auf die Spuren der Protagonisten begeben können.
Miriam Bistrovic
Literatur Anne Frank Zentrum (Hrsg.), Holocaust im Comic – Tabubruch oder Chance? Geschichtscomics am Beispiel der Graphic Novel „Die Suche“. Eine Fachtagung des Anne Frank Zentrums 10. Oktober 2008, Berlin 2008. Marco Behringer, Der Holocaust in Sprechblasen. Erinnerung im Comic, Marburg 2009. Bernd Dolle-Weinkauff, Das Dritte Reich im Comic. Geschichtsbilder und darstellungsästhetische Strategien einer rekonstruierten Gattung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1993), S. 298–332. Axel Dunker, „Time flies“. Mediale Selbstreflexivität in Art Spiegelmans Holocaust-Comic Maus, in: Matías Martínez (Hrsg.), Der Holocaust und die Künste. Medialität und Authentizität von Holocaust-Darstellungen in Literatur, Film, Video, Malerei, Denkmälern, Comic und Musik, Bielefeld 2004, S. 79–98. Marianne Fix, Politik und Zeitgeschichte im Comic mit einer annotierten Bibliographie für Öffentliche Bibliotheken, in: Bibliothek – Forschung und Praxis 20 (1996) Nr. 2, S. 161– 190. Christine Gundermann, Jenseits von Asterix. Comics im Geschichtsunterricht, Schwalbach 2007.
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Comunione degli Apostoli (Gemälde von Luca Signorelli, 1512)
Jüdisches Museum Berlin (Hrsg.), Helden, Freaks und Superrabbis. Die jüdische Farbe des Comics, Berlin 2010. Andreas C. Knigge, Zeichen-Welten. Der Kosmos der Comics, in: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, Sonderband Comics, Mangas, Graphic Novels (2009), S. 5–34. Wolfram Knorr, Will Eisner. Oder: Das visuelle Rauschgift des Bilderromans, in: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, Sonderband Comics, Mangas, Graphic Novels (2009), S. 74–90. Maria Linsmann, Bernhard Schmitz, Struwwelpeter begegnet Monsieur Cryptogame. Einflüsse der Bildgeschichte und des Comics auf die Bilderbuchillustration, in: kjl&m 61 (2009) 3, S. 3–15. René Mounajed, Geschichte in Sequenzen. Über den Einsatz von Geschichtscomics im Geschichtsunterricht, Frankfurt am Main 2009. Ralf Palandt, Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics, in: Ralf Palandt (Hrsg.), Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics, Berlin 2011, S. 6–51. Arlene F. Wilner, „Happy, Happy Ever After“. Story and History in Art Spiegelman’s Maus, in: Deborah R. Geis (Hrsg.), Considering Maus. Approaches to Art Spiegelman’s „Survivor’s tale of the Holocaust“, Tuscaloosa, London 2007, S. 105–121. James E. Young, Ekkehard Knörer, Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur, Hamburg 2002.
Comics, französische → Französische Comics Comics, rechtsextreme → Rechtsextreme Comics
Comunione degli Apostoli (Gemälde von Luca Signorelli, 1512) Luca Signorelli (ca. 1450–1523) schuf das Gemälde „Comunione degli Apostoli“ ursprünglich für den Hochaltar der Chiesa del Gesù in Cortona. Das insbesondere für die italienische Kunst ungewöhnliche Motiv zeigt anders als auf dem Bildtypus des letzten Abendmahls die Apostel in einer gleichsam kirchlich-liturgischen Situation. Die Aussage des Bildtypus verschiebt sich von der Einsetzung des Sakraments hin zur Sakramentspraxis. Signorelli kannte die Darstellung der Apostelkommunion des Joos van Ghent, die dieser als Altarbild 1474 für die Kirche Corpus Domini in Urbino vollendete. Das Gemälde von Joos van Ghent enthält keine antijüdischen oder polemischen Elemente, es ist allerdings durch Paolo Uccellos Predella des Hochaltars, 1465– 1469 entstanden, mit Darstellungen der Pariser Hostienfrevellegende eindeutig judenfeindlich konnotiert. Signorelli transportiert in seinem Bild anhand der Figur des Judas Iskariot judenfeindliche Motive. Er löst dadurch das Problem, das sich der Theologie seit der Spätantike stellte, nämlich ob Judas am Abendmahl teilgenommen und wie sich das auf sein Tun und sein Heil ausgewirkt hat. Judas kniet im Vordergrund und wendet sich dem Betrachter zu. Er verzehrt die Hostie nicht, sondern steckt sie in eine am Gürtel befestigte Geldtasche, die dreißig Silberlinge, den Lohn für den Verrat Jesu, enthält. Damit wird zunächst auf das Stereotyp der jüdischen Geldgier verwiesen, die ihren Anfang bei Judas hat, der als Prototyp der Juden gezeigt wird. Diese Identifikation ist bereits seit der Spätantike bekannt und kann immer wieder in Varianten antijüdisch
Comunione degli Apostoli (Gemälde von Luca Signorelli, 1512)
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und polemisch eingesetzt werden, indem den Juden ein spiegelbildliches Verhalten zu dem des Judas zugeschrieben wird. Die behauptete Geldgier der Juden realisiert sich nach diesem Stereotyp insbesondere im Wucher, der als christus- und christenfeindlich gedeutet und mit Elementen der Passionsmetaphorik aufgeladen wird. Als Motive gehören Geldgier und Wucher der Juden zum festen Inventar der antijüdischen Predigten der Minderbrüder im Zusammenhang der Errichtung der Monte di Pietà, die explizit die Verdrängung von Juden aus dem wirtschaftlichen Gefüge der Städte und Stadtstaaten zum Ziel hatte. In Cortona hatten die Prediger zum Ende des 15. Jahrhunderts mit ihrer Politik Erfolg und es kam zum Verbot des Geldhandels durch Juden, die zeitweilig der Stadt verwiesen wurden. Zur Zeit der Fertigstellung des Bildes lebten zwar einige Juden in Cortona, jedoch in äußerst fragilen sozialen und rechtlichen Verhältnissen. Durch Signorellis Bild wird der zeitgenössische Betrachter auf diesen Kontext hingewiesen. Allerdings evoziert die Verbindung von Hostie und Geldtasche einen anderen antijüdischen Topos, nämlich den des Hostienfrevels. Zunächst ist in dem Handeln des Judas ein Akt der Blasphemie dargestellt: Der Leib Christi wird durch die Vermengung mit Geld entheiligt. Diese Vorstellung findet ihre Entsprechung in der Exposition der Hostienfrevellegende, nach der Juden sich die Hostie durch Kauf aneignen. Die Analogie zu Judas ist dabei das Objekt des Kaufes, Jesus Christus, und das verwendete Geld. Signorelli hatte bereits in seinem Fresko „Predica e morte dell’Anticristo“ in der Cappella di San Brizio des Doms von Orvieto, entstanden 1499–1502, einen reich gekleideten Juden dargestellt, der einer christlichen Frau ein Geldstück gibt. Das Bild in Cortona verbindet verschiedene Elemente antijüdischer Stereotype. Neben Wucher und Geldgier wird der Hostienfrevel als ein Grundereignis der Kirche und ihres Gegenübers, der Juden, behauptet. Mit dieser Enthistorisierung wird Judas als „Vater“ der Juden dargestellt, dem sie nachfolgen. Auf diese Weise wird eine im Anfang gründende unüberwindbare Dichotomie behauptet, nach der aufseiten der Christen Heiligkeit und Heil, aufseiten der Juden Gotteslästerung und Unheil stehen. Die berechtigte Frage, aus welchen Gründen Juden hätten meinen können, die Hostie sei der Leib Christi, wird damit erledigt, es als ein Signum des Jüdischseins anzusehen, Jesus Christus je neu zu verraten.
Rainer Kampling / René Koch
Literatur Daniel Bornstein, Law, Religion, and Economics. Jewish Moneylenders in Christian Cortona, in: John A. Marino, Thomas Kuehn (Hrsg.), A Renaissance of Conflicts. Visions and Revisions of Law and Society in Italy and Spain, Toronto 2004, S. 241–256. Tom Henry, The life and art of Luca Signorelli, New Haven 2012. Dana E. Katz, The Jew in the Art of the Italian Renaissance, Philadelphia 2008. Ariel Toaff, Jews, Franciscans, and the First monti di Pieta in Italy (1462–1500), in: Steven J. McMichael, Susan E. Myers (Hrsg.), Friars and Jews in the Middle Ages and Renaissance, Leiden 2004, S. 239–254. Giacomo Todeschini, The Incivility of Judas. “Manifest” Usury as a Metaphor, in: Juliann Vitullo, Diane Wolfthal (Hrsg.), Money, Morality, and Culture in Late Medieval and Early Modern Europe, Farnham 2010, S. 33–52. Giacomo Todeschini, Christian Perceptions of Jewish Economic Activity in the Middle Ages, in: Michael Toch (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzungen, München 2008, S. 1–16.
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Contra Iudaeos-Lieder (Michel Beheim, 15. Jahrhundert)
Conspiracy (Dokudrama, USA 2001) → Die Wannseekonferenz (Fernsehspiel von Heinz Schirk, 1984)
Contra Iudaeos-Lieder (Michel Beheim, 15. Jahrhundert) Der Handwerkersohn Michel Beheim (geboren um 1420 in Sülzbach bei Weinsberg, dort am Ende eines unsteten Wanderlebens und mit dem Amt des Schultheißen versehen um 1480 ermordet) gehörte zu den produktivsten Dichtern des 15. Jahrhunderts. Seine thematisch weit gefassten, in die Hunderte gehenden Lieder in mehreren selbst komponierten Tönen (Weisen oder Melodien) trug er persönlich an Adelshöfen und Residenzen (München, Heidelberg, Wien, Prag) und reichsweit in großen wie kleinen Städten vor, wobei er aber auch die Lektüre seiner Werke als Buchdichtung intendierte und forcierte. Der weit gereiste Soldat, Berufsliterat, Laientheologe und fahrende Hofsänger sowie Reimchronist (in Diensten der Habsburger und Wittelsbacher) war auf die Gunst wohlhabender Gönner angewiesen, denen er nicht selten nach dem Munde sang. Immerhin gelang es ihm durch solchen Opportunismus bei führenden Dynastien seiner Zeit im deutschsprachigen Raum mitunter über längere Zeit Fuß zu fassen, nicht zuletzt bei den Habsburgern. Neben traditionellen, überzeitlichen (gnomischen) Themen der Sangspruchdichtung zeigen viele Lieder aktuellen politischen und religiösen Bezug, wenn sie etwa Hussiten-, Türken- oder Judenthematik abhandeln. Dabei schöpfte Michel Beheim keineswegs nur aus dem ungefähren Hörensagen, sondern bediente sich mit durchaus wissenschaftlichem Anspruch (im Sinne der Meistersinger) exzellenter Quellen in der Volkssprache. Frühneuhochdeutsche Wissensliteratur gelehrter Herkunft und nicht selten volkssprachige Traktatprosa sogar universitärer Provenienz wurde mitunter wortgetreu versifiziert und sangbar gemacht. So hat Michel Beheim, der besonders lange Zeit in Österreich wirkte, als eifriger Rezipient der Wiener Schule zu gelten, der in seinem Lied „Von der hahen schul zu Wien“ die theologische Überlegenheit der Universität gegenüber den Juden hervorhebt. Bekanntlich suchten die Wiener Professoren Heinrich von Langenstein und Nikolaus von Dinkelsbühl die theologische Auseinandersetzung mit den Wiener Juden. Wiener Studenten und Universitätsabsolventen verdeutschten die christliche und antijüdische Apologetik der lateinisch schreibenden Professoren. Die Wiener Universität selbst gehörte als Institution zu den Profiteuren des Pogroms von 1420 (Wiener Gesera), weil etwa die Steine der zerstörten Synagoge für die universitäre Bautätigkeit Verwendung fanden. Neben der Wiener Schule profitierte Michel Beheim für seine „Contra Iudaeos-Lieder“ auch von weiteren österreichischen Quellen, wie Irmhart Ösers Übersetzung der (fiktiven) „Epistel des Rabbi Samuel an Rabbi Isaac“ und dem Prosatraktat „Von der Juden Irrsall und Irem ungelawben“ aus der Feder des Österreichischen Bibelübersetzers, einem Anonymus aus Österreich, der eine im Spätmittelalter weitverbreitete Vollbibel in flüssiger frühneuhochdeutscher Prosa schuf. Die antijudaistischen Lieder Michel Beheims beschimpften in der Regel gleich am Beginn die „törichten“, „blinden“ und „verstockten“ Juden, um dann die Glaubensirrtümer dieser „Kinder des Teufels“ und „Höllenhunde“ aus der heiligen Schrift zu beweisen. Besonders der Talmud wird als Quelle aller jüdischen „Lügen“ wiederholt ge-
Daghani-Tagebuch (Rumänien, 1942–1943)
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brandmarkt. Dabei scheut sich der Dichter auch nicht, jene christlichen Obrigkeiten heftig (als korrupt) zu tadeln, welche die Juden in ihrem jeweiligen Herrschaftsbereich vor Verfolgung schützten. Michel Beheim bereiste mit seinem antijudaistischen Liedgut die deutschsprachigen Fürstenhöfe und gelangte auch an den Heidelberger Hof der Wittelsbacher, wo seine „Contra Iudaeos“-Lieder sogar im Autograf erhalten sind. Der nicht zuletzt durch sein wenig schmeichelhaftes „Buch von den Wienern“ überregional bekannte Reimchronist Michel Beheim konnte bei den pfälzischen Wittelsbachern zumindest ex post auf dankbare Rezeption rechnen, da die Heidelberger Universität, welche 1386 gegründet worden war, noch im 14. Jahrhundert die Gebäude der Judengemeinde für ihre Zwecke requirierte und die darin wohnenden Juden aus Heidelberg vertreiben ließ. Die Heidelberger Synagoge wurde, wie auch häufiger andernorts, so etwa in Regensburg oder Würzburg, in eine Marienkirche umgewandelt. So dürften die Lieder Michel Beheims insgesamt in antijudaistischen Kreisen an nicht wenigen Höfen und in vielen Städten des Heiligen Römischen Reichs, die im 15. Jahrhundert ihre Juden vertrieben oder vertreiben wollten, auf dankbares Publikum gezählt haben.
Klaus Wolf
Literatur Hans Gille, Ingeborg Spriewald (Hrsg.), Die Gedichte des Michel Beheim. Nach der Heidelberger Hs. Cpg 334 unter Heranziehung der Heidelberger Hs. Cpg 312 und der Münchener Hs. Cgm 291 sowie sämtlicher Teilhandschriften, Band I-III, Berlin 1968, 1970, 1972. Friederike Niemeyer, Ich, Michel Pehn. Zum Kunst- und Rollenverständnis des meisterlichen Berufsdichters Michel Beheim, Frankfurt am Main 2001. Manuela Niesner, Die „Contra-Iudaeos-Lieder“ des Michel Beheim. Zur Rezeption Irmhart Ösers und des Österreichischen Bibelübersetzers im 15. Jahrhundert, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 126 (2004), S. 398–424. Manuela Niesner, „Wer mit juden well disputiren“. Deutschsprachige Adversus-Iudaeos-Literatur des 14. Jahrhunderts, Tübingen 2005. Klaus Wolf, Hof – Universität – Laien. Literatur- und sprachgeschichtliche Untersuchungen zum deutschen Schrifttum der Wiener Schule des Spätmittelalters, Wiesbaden 2006.
Daghani-Tagebuch (Rumänien, 1942–1943) Der vor allem als Maler bekannt gewordene Arnold Daghani (1909–1985) wurde in der jüdischen Familie Korn in Suceava geboren. Er besuchte deutsche Schulen, denn Suceava (damals Suczawa) gehörte bis 1918 zum österreichischen Kronland Bukowina. 1932 zog er zum Studium nach Bukarest und arbeitete für eine Handelsfirma. Er malte viel und nahm den Künstlernamen „Daghani“ (von „dagan“, hebräisch für Korn) an. Im November 1940 zog er mit seiner Frau nach Czernowitz. Diese Stadt gehörte zur Nordbukowina, die Rumänien im Juni 1940 an die Sowjetunion hatte abtreten müssen. Im Juni 1941 besetzten rumänische und deutsche Einheiten die Nordbukowina, Daghani musste als Straßenfeger arbeiten. Im Juni 1942 wurden er und seine Frau mit einem größeren Gruppentransport nach Ladyschino in das rumänische Besetzungsgebiet Transnistrien deportiert. Der Lagerleiter lieferte im August Daghani und andere Bukowiner als Zwangsarbeiter an die SS aus, diese kontrollierte den Bau
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Damen med kameliorna (Film, 1925)
der Durchgangsstraße IV, die Galizien mit dem Kaukasus verbinden sollte. Entlang des südlichen Bugs, der die Grenze zu Transnistrien bildete, wurden deutsche Baufirmen über die Organisation Todt an dem Großprojekt im Reichkommissariat Ukraine beteiligt. Daghani und andere Bukowiner des Lagers Mihailowka wurden der Firma Dohrmann KG aus Remscheid zugeteilt. Durch seine künstlerischen Fähigkeiten konnte sich Daghani Papier und Stifte beschaffen, indem er seine Bewacher porträtierte. Gleichzeitig nutzte er diese, um stenografische Notizen über das Lagerleben festzuhalten. Später fasste er die Notizen zu einem Tagebuch zusammen und versah sie mit Skizzen. Seine Eintragungen begannen am 18. August 1942 mit der Auslieferung der Gruppe an die SS. Ausführlich notierte er die schwere Arbeit im Steinbruch und die kümmerliche Verpflegung. Seine Gruppe von 480 Männern, Frauen und Kindern aus der Bukowina wurde schnell kleiner. Zuerst wurden die Alten ermordet, dann alle, die das Arbeitstempo nicht schafften. So kamen bereits im September die Eltern von Paul Celan um. Im Dezember 1942 starb die 18-jährige Selma Meerbaum-Eisinger an Typhus. Ein von ihr verfasster Gedichtband erschien 1960 in Israel. Daghani hielt nicht nur die Namen aller Opfer fest, sondern auch die der deutschen Polizisten und litauischen Wachmänner. Daghanis Bericht erschien 1947 in Bukarest unter dem Titel „Groapa este în livada de vişini“ [Das Grab ist im Weichselgarten]. Das ist der letzte Satz des Tagebuches und vermerkt den Ort, wo seine Mitgefangenen im Dezember 1943 exekutiert wurden. 1958 fand in Bukarest eine Ausstellung mit Daghani Bildern statt, von denen viele das Leiden der Deportierten darstellten. Kurz darauf erhielt er die Ausreiseerlaubnis nach Israel. 1960 erschien dort die deutsche Version des Tagebuchs unter dem Titel „Laßt mich leben!“. Sie führte dazu, dass die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg die darin genannten Täter zu suchen begann. 1965 vernahm die Staatsanwaltschaft 39 Verdächtige der Massenerschießung von 25.000 jüdischen Zwangsarbeitern an der Durchgangsstraße IV. Die Notizen von Daghani gingen in das Verfahren ein. Zwar wurden die Ermittlungen 1974 eingestellt, doch besonders aufgrund von Daghanis Tagebuch begannen Historiker, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Eine englische Version des Tagebuchs war 1961 erschienen. Bilder von Daghani sind im Staatlichen Kunstmuseum Bukarest, in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und anderen Museen zu sehen.
Mariana Hausleitner
Literatur Helmut Braun, Deborah Schultz (Hrsg.), Der Maler Arnold Daghani, Springe 2006. Arnold Dagani, Groapa este în livada de vişini [Das Grab ist in dem Weichselgarten], hrsg. von Lya Benjamin, Bucureşti 20042. Felix Rieper, Mollie Brandl-Bowen (Hrsg.), Lasst mich leben! Stationen im Leben des Künstlers Arnold Daghani, Lüneburg 2002. Deborah Schultz, Edward Timms (Hrsg.), Arnold Daghani’s Memories of Mikhailowka. The Illustrated Diary of a Slave Labour Camp Survivor, London, Portland 2009.
Damen med kameliorna (Film, 1925) → Schwedische Kinoproduktionen
David Golder (Roman von Irène Némirovsky, 1929)
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David Golder (Roman von Irène Némirovsky, 1929) „Vor vierzig Jahren war er aus einem abgelegenen Ghetto Süd-Russlands gekommen, auf dem Zwischendeck der Emigranten, inmitten der ärmlichen, schmutzigen und übel riechenden Herde seiner Glaubensgenossen, angezogen von einem Köder, der Gewinn und die Eroberung des Abendlandes versprach.“ Mit diesen Worten beginnt das Resümee des Films, das ein Kritiker 1931 in der Filmzeitschrift „La Petite Illustration cinéma“ veröffentlichte. Der Roman von Irène Némirovsky (1903–1942) war zwei Jahre zuvor erschienen und hatte schon für Polemik gesorgt; einige Kritiker zögerten nicht, vom Antisemitismus des Romans und von der Figur des David Golder als von einem „Juden für Antisemiten“ zu sprechen. Dieser David Golder ist ein jüdischer Finanzier, der sich vom armen russischen Emigranten zu einem äußerst erfolgreichen Geschäftsmann im internationalen ErdölGeschäft hochgearbeitet hat – doch die Menschen um ihn herum (inklusive seiner eigenen Familie) sind nur auf sein Geld aus. Gebrochen und abgekämpft stirbt Golder schließlich nach einem letzten erfolgreichen Geschäftsabschluss, der einzig dazu diente, seine undankbare und geldgierige Tochter finanziell abzusichern. „David Golder“ wurde jedoch nicht von einem Antisemiten, sondern von einer Jüdin russischer Herkunft geschrieben, die mit dem Roman aufs Neue den „Selbsthass“ pflegte. Die Journalistin Nina Gourfinkel, auch sie eine Jüdin russischer Herkunft, brachte die Meinung ihrer Gemeinde zum Ausdruck und schrieb an Némirovsky: „Ihr Werk zeichnet eine derart abstoßende jüdische Gesellschaft, dass die [jüdische] Öffentlichkeit darüber besorgt ist.“ Während David Golder nahezu der Karikatur des „jüdischen“ Geschäftsmanns entspricht, wie sie seinerzeit in allen möglichen Formen beschrieben wurde, sind seine Frau und seine Tochter (für die er ein Vermögen anhäuft, das von beiden ohne den geringsten Dank sofort verprasst wird) sogar noch schlimmer als die Stereotypen, die in den 1930er-Jahren über Juden zirkulierten. Die Rechte an dem Roman für eine Bühnenadaption wurden sehr schnell von Nozière (eigentlich Fernand Weyl, 1874–1931) erworben, einem jüdischen Kritiker und Dramatiker, dessen selbst geschriebenes Stück „La Baptême“ [Die Taufe] schon 1907 auf geradezu erstaunliche Weise einer antisemitischen Kampagne der Zeitung „La Libre Parole“ gedient hatte. Seine Adaption für das Theater, aus der die Feinsinnigkeit des Romans vollständig getilgt war, betonte all die bekannten Stereotype, wie FrancNohain (Pseudonym von Maurice Étienne Legrand, 1872–1934) in der Zeitung „L'Écho de Paris“ bedauerte: „Es bleibt nichts als die Schändlichkeit dieser jüdischen Familie, die nur von einem Band zusammengehalten wird: dem Geld.“ Denn um David Golder herum sind ständig jüdische Figuren, denen Nozière absichtlich Wichtigkeit verlieh: „Es gibt den Juden Fischl, der beunruhigende Spekulationsgeschäfte macht. Es gibt den Juden Soifer, der seine Millionen hinter seinem armseligen Äußeren verbirgt. Es gibt Golders Geschäftspartner Marcus, der von den tiefst stehenden Vergnügungen ganz verbraucht ist“, erläuterte er in einem Interview vor der Premiere, die im Dezember 1930 im Théâtre de la Porte-Saint-Martin in Paris stattfand. Die Kritik der einflussreichen kommunistischen Zeitung „L’Humanité“ gab sich politisch: David Golder und „die auf tragische Weise niederträchtigen Figuren, die den Finanzier umgeben“, seien Symbole dieser fauligen kapitalistischen Gesellschaft, die die Kommunisten bekämpften.
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Davids Witz-Schleuder
Doch mit der Wahl des Schauspielers Harry Baur (1880–1943) für die Titelrolle – er ersetzte glücklicherweise den eigentlich vorgesehenen Aurélien Lugné-Poë, der auf der Bühne bereits mehrere Juden karikiert hatte, u. a. in „Le Baptême“ und „Les Cinq messieurs de Francfort“ [Die fünf Herren aus Frankfurt] über die fünf RothschildSöhne – verhinderte Nozière zumindest, dass sein Stück ganz in der Lächerlichkeit versank. 1931 erschien sein Stück – übersetzt von dem österreichischen Dramatiker Anton Hamik – auch auf Deutsch in Wien. Harry Baur verkörperte David Golder schließlich auch auf der Leinwand und gab ihm eine menschlichere Komponente. Der Film, der am 6. März 1931 in die französischen Kinos kam (und noch im selben Jahr auch in Deutschland), ist zweifelsohne besser gelungen als das Stück und alle Kritiker zollten dem ersten abendfüllenden Spielfilm von Julien Duvivier (1896–1967) Respekt. Die großen Blätter vermieden sogar, die Worte „Jude“ oder „Antisemit“ zu benutzen. Zwar fand sich in der „Action Française“ ein Satz über die Figur des Soifer aus der Feder von François Vinneuil (Pseudonym des schriftstellernden Antisemiten und späteren NS-Kollaborateurs Lucien Rebatet, das er für seine Filmkritiken benutzte): „Natürlich sieht man auch den Juden, wie er im Buche steht, der auf Zehenspitzen läuft, um nicht seine Schuhsohlen abnutzen zu müssen“, doch selbst Rebatet benutzte den Film nicht, um seinen Antisemitismus zu verbreiten. Alle Kinozeitschriften lobten „ein kraftvolles Werk, rau und schroff“ und unterstrichen die beeindruckende Leistung Harry Baurs. Eine offenkundige Ausnahme bildete die Kinobeilage der Zeitschrift „La Petite Illustration“, die die ganze Mehrdeutigkeit des Films betonte: „Soifer, ein armseliger alter Jude in schmutzigem Umhang […], der in seinem Elendsquartier eifersüchtig ein Vermögen aus Edelsteinen versteckt.“ Der Film entfernt sich vom Ende des Némirovsky-Romans, wenn der Tod David Golders mit hebräischen Gesängen unterlegt wird, worüber der Kritiker der Tageszeitung „Le Figaro“ schrieb, dass es sich dabei „um eines der schönsten Bilder, die uns je zu sehen und zu hören gegeben wurden“, handle. Mehr noch ist diese bewegende Szene schließlich frei von Antisemitismus, bis der junge Jude, den Charles Dorat (Pseudonym von Charles Goldblatt, 1906–1997, der 1936 den Rabbiner Jacob in Duviviers Film „Le Golem“ spielte) verkörpert und der für den sterbenden Golder sorgt, davon träumt, ebenfalls Karriere als Finanzier zu machen. Seine Figur heißt „der Emigrant“, und ein jüdischer Emigrant kann offenbar nicht anders als darauf erpicht zu sein, mit allen Mitteln ein Vermögen zu machen. Irène Némirovsky wurde 1942 nach Auschwitz deportiert und starb dort völlig entkräftet im Krankenbau, Harry Baur verstarb 1943 an den Folgen seiner viermonatigen Gestapo-Haft – ein Denunziant hatte behauptet, Baur sei Jude, was aber nicht stimmte.
Chantal Meyer-Plantureux Übersetzung aus dem Französischen von Bjoern Weigel
David Golder (Theaterstück von Nozière, 1930) → David Golder (Roman) David Golder (Film von Julien Duvivier, 1931) → David Golder (Roman) Davids Witz-Schleuder → Jüdisch-Politisches Cabaret
The Death Trap (Roman von Robert William Cole, 1907)
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The Death Trap (Roman von Robert William Cole, 1907) Der 1907 in London erschienene Roman „The Death Trap“ von Robert William Cole handelt von Hochverrat, Profitgier, jüdischen Kriegsprofiteuren sowie Heldenmut und Charakterstärke auf der anderen Seite sowie einer britischen Regierung, die sich durch Gleichgültigkeit und Unfähigkeit auszeichnet, all dies vor dem Hintergrund einer deutschen Invasion. Mit der Wahl ebendieser Rahmenhandlung fügte Cole sein Werk in das Genre der Invasions- und Spionageromane, die in Großbritannien im ausgehenden viktorianischen Zeitalter entstanden, ein. Diesen Romantypus charakterisierte das Aufklärungsmotiv ihrer Autoren: Sie alle wollten nicht nur unterhalten, sondern hatten eine politische Botschaft. Im Zentrum der Geschichte steht die Figur des integranten Bösewichts, des „großen deutschen Finanziers“, Herrn Scheintz, eines Juden. Scheintz hat einen deutschen Einwanderungshintergrund, ist jedoch eingebürgerter, naturalisierter Brite. Entlang der öffentlichen Diskussionen um Staatsbürgerschaft und Einbürgerung in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wählte Robert Cole für seine Negativfigur die Bezeichnung „naturalisierter Deutscher“. Der Roman setzt ein mit der Nachricht einer unmittelbaren militärischen Bedrohung durch das Deutsche Reich, das Kriegsvorbereitungen trifft. In Englands schwerster Stunde sind nahezu alle Regierungsmitglieder außer Landes auf privaten Reisen, während der Premierminister seinen Golfurlaub in Schottland genießt und die außenpolitischen Spannungen und Bedrohungen ebenso wenig ernst nimmt wie sein Außenminister. Auch die Londoner Gesellschaft lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und gibt sich weltlichen Vergnügungen, Genusssucht und Profitstreben hin. Der Premier wird über die Lage und ein deutsches Ultimatum durch ein Telegramm informiert, das er jedoch erst nach langem Zögern auf dem Golfplatz entgegennimmt. Schließlich begibt er sich dann doch nach London zurück. Die als geheim und wichtig eingestufte Depesche hatte er auf dem Golfplatz unachtsam einfach fallen lassen. Nun schlägt die Stunde des Herrn Scheintz, der sich unter den Golf spielenden Gästen des Premiers befunden hatte. Scheintz bringt sich in den Besitz des Telegramms und erkennt seine Chance: Von ihm war bekannt, dass er schon zu einem früheren Zeitpunkt versucht hatte, ein Weizenmonopol aufzubauen. Dieses Vorhaben setzt er nun zusammen mit anderen Spekulanten in die Tat um. Diese „deutschen Finanziers“ handeln in England auf Weisung des deutschen Kaisers und kaufen binnen 24 Stunden alle Weizen- und Getreidevorräte auf. Neben der Bedrohung durch die feindlichen Truppen tritt nun für die englische Bevölkerung eine akute Lebensmittelknappheit. „Fette Männer und Juden mit Hakennasen beraten im Stillen mit teuflischer Findigkeit, wie sie die Brotpreise am besten in die Höhe treiben könnten.“ Eine „Bande von Juden hat das Land an den Kaiser verkauft.“ England erlebt eine restlose Niederlage, Politik und Militär sind unvorbereitet und schlecht ausgerüstet. Das Blatt wendet sich, als der Monarch eingreift, die Demokratie außer Kraft setzt und den Helden, Lord Eagleton, zum Militärdiktator ernennt. Die Nation erwacht, und es bilden sich Bürgerwehren, die die Invasoren letztlich zurückdrängen und besiegen. Mit dem Aufbegehren des Volkes kommt auch das Ende der Umtriebe des Herrn Scheintz. Er wird festgenommen und Lord Eagleton vorgeführt. Scheintz ist ebenso unverschämt wie feige. Der englische Held bietet Scheintz ganz fair an, ihm und dem Syndikat den Weizen zum Preis des Vorjahres abzukaufen, was Scheintz ablehnt. Als er nun von
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Defiant Requiem („Konzert-Drama“)
Lord Eagleton zum Tode verurteilt wird, entpuppt er sich als erbärmlicher Feigling: „Der deutsche Jude wird vor Angst schwitzend und quiekend aus dem Gebäude gezerrt.“ Der edle englische Held wiederum hält jedoch an Recht und Gesetz fest. Er setzt die Exekution zugunsten einer Verhaftung und eines ordentlichen Gerichtsverfahrens wegen Hochverrats aus. William Robert Cole benutzte krude antisemitische Bilder in seiner Erzählung, die zudem die in der Öffentlichkeit seit der Jahrhundertwende und dem Südafrikanischen Krieg anhaltende Debatte um nationale Leistungsfähigkeit weiterführte. Die jüdischen Figuren verkörpern Selbstsucht und rücksichtslosen Kapitalismus. „Der Jude“ diente mit Zuschreibungen mangelnder Männlichkeit, Ehrlichkeit und Loyalität als Gegenbild zu dem Entwurf des englischen Gentlemans und tapferen Helden. Es wird augenfällig, wie sehr diese Motivwahl, neben den genannten politischen Botschaften, der Diskussion von individuellen und kollektiven Werten diente.
Susanne Terwey
Literatur Susanne Terwey, Moderner Antisemitismus in Großbritannien, 1899–1919, Würzburg 2006.
Defiant Requiem („Konzert-Drama“) Im Ghetto Theresienstadt wurde 16-mal unter Leitung von Rafael Schächter Verdis „Messa da Requiem“ aufgeführt. Ein Klavier ersetzte das Orchester, ein Chor aus 150 Sängern und vier exzellente Solisten bildeten das Ensemble. Ob eine katholische Totenmesse geeignet sei, im Ghetto für Juden aufgeführt zu werden, fragten sich manche. Als schärfster Kritiker erwies sich Dr. Kurt Singer, Arzt und Musiker, der einst die städtische Oper in Berlin geleitet hatte und Intendant des Jüdischen Kulturbunds gewesen war. Auch H. G. Adler nannte die Wahl des Werkes einen „argen Mißgriff“. Der in Theresienstadt inhaftierte Komponist Viktor Ullmann äußerte in einer vielzitierten Kritik jedoch, die Aufführung habe großstädtisches Niveau gehabt. Josef Bor, der als Freund des Dirigenten Schächter dessen Intention teilte und der die Probenarbeit begleitet hatte, schrieb zwanzig Jahre später eine Novelle, die die Aufführung des Verdi-Requiems als Sujet der Tragödie jüdischer Künstler im böhmischen Ghetto nutzte. Fast alle handelnden Personen, die Sänger und andere Mitwirkende des „Theresienstädter Requiems“, das 1964 zuerst in tschechischer Sprache in Prag, 1975 in der DDR und in vielen weiteren Ländern und Sprachen erschien, sind fiktiv. Als Gegenfigur zu Rafael Schächter erscheint aber ein armseliger Bettler, charakterisiert als ins Elend gefallener einstiger „Hofrat“. Gemeint war mit dieser Gestalt der frühere Berliner Opernintendant Dr. Kurt Singer. In Erinnerung an das musikalische Ereignis 1943/1944 im Ghetto und dessen Mitwirkende, die größtenteils in Auschwitz ermordet wurden, inszenierte der amerikanische Dirigent Murry Sidlin erstmals 2002 ein „Konzert-Drama“, das unter dem Titel „Defiant Requiem“ seither 24-mal aufgeführt wurde, u. a. in Washington, New York, Jerusalem, Budapest, Prag, Terezín (2006), zuletzt in Berlin (2014). Die Inszenierung „Verdi at Terezin“ versteht sich als Monument der Erinnerungskultur mit der unausgesprochenen Absicht, Antisemitismus durch Gedächtnistheater
Deggendorfer Gnad
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zu bekämpfen. Zum „Konzert-Drama“ hat Sidlin die Partitur Verdis durch die Einspielung von Zeitzeugenberichten auf eine Leinwand, Ausschnitte aus dem „Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ (→ Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm) und die Rezitation von Texten angereichert. Ohne Scheu vor Stereotypen und Geschichtsklitterung, auf höchste Emotionalität setzend, ist die Produktion der „Defiant Requiem Foundation“, die auch als Dokumentarfilm gezeigt wird, kein Beitrag der Information zum Verständnis der Folgen des Holocaust, der mit Antisemitismus begann, sondern aufwendiges Gedächtnistheater mit einer Botschaft, die die historischen Aufführungen in Theresienstadt als Akt des Widerstands, als heilige Handlung der Menschheit gegenüber darzustellen versucht.
Wolfgang Benz
Literatur H. G. Adler, Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Tübingen 1955 (Reprint Göttingen 2005 und 2012). Josef Bor, Theresienstädter Requiem, Berlin 1975. Wolfgang Benz, Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung, München 2013.
Deggendorfer Gnad Beinahe so alt wie das Christentum selbst und ebenso weitverbreitet sind Erzählungen vom „jüdischen Hostienfrevel“ und wundertätigen Hostien im Gefolge. Freilich gewinnt die Mär vom jüdischen Hostienfrevel erst im Gefolge von Durchsetzung und Popularisierung der eucharistischen Transsubstantiationslehre an Bedeutung. Von Paris aus, einem Zentrum (auch akademischer) abendländischer Theologie dürfte sich seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert das Erzählmotiv der jüdischen Hostienschändung, wobei die geweihte Hostie als Leib Christi letztlich unverletzt zu bleiben hatte, auch im Heiligen Römischen Reich ausgebreitet haben. Zwar hat man im deutschsprachigen Raum Hostienfrevel bisweilen durchaus einzelnen Christen angelastet, doch bleibt der Vorwurf an die Juden, nicht zuletzt im Zusammenhang mit den gleichzeitigen passionsfrommen Vorwürfen an die spätmittelalterlichen Juden als Gottesmörder ebenso wie im volksfrommen Kontext der Ritualmordvorwürfe (Simon von Trient als Pseudo-Christus-Kind und infantiler Quasi-Leib-Christi), virulent. In der Summe bildeten all diese antijüdischen Unterstellungen und Vorwürfe nicht selten willkommene Anlässe für Pogrome im spätmittelalterlichen Reich seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. In diesem reichsweiten, ja europäischen Kontext ist das judenfeindliche Phänomen der „Deggendorfer Gnad“ zu sehen. Allerdings war beim Pogrom an den Deggendorfer Juden 1338 zunächst von einem jüdischen Hostienfrevel nicht die Rede. Nach neueren historischen Forschungen suchten Deggendorfer Stadtbürger, unterstützt vom Adel im Umkreis der Stadt, die Juden als lästige Gläubiger loszuwerden. Im Nachhinein erfuhr dieser bewusst geplante Mord aus Habgier an den Deggendorfer Juden sogar juristische Exkulpation durch die wittelsbachische Landesherrschaft. Der Ausbau einer Wallfahrt zur Deggendorfer Kirche zum Heiligen Grab gab später, wohl schon im ausgehenden 14. Jahrhundert, den Anlass, den Judenpogrom im Nachhinein als
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Deggendorfer Lied
Strafe für einen Hostienfrevel der Deggendorfer Juden zu rechtfertigen. Die dabei angeblich geretteten und als wundertätig angepriesenen Hostien fundierten fortan die eucharistische Wallfahrt für das gesamte Bistum Regensburg, zu dem Deggendorf gehörte. Kräftige Propaganda in Wort und Bild machten die „Deggendorfer Gnad“ zu einem Anziehungspunkt weit über die Bistumsgrenzen hinaus. Die Massenwahlfahrt zur „Deggendorfer Gnad“ ist demnach als Hostienwallfahrt anzusprechen, wobei angeblich wundertätige und – wie in Wandgemälden und Bildtafeln vor Ort augenfällig dokumentiert – einst vermeintlich von Juden geschändete Hostien im Mittelpunkt der obrigkeitlich geförderten und für die Stadt überaus einträglichen Volksfrömmigkeit standen. Die im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit blühende Wallfahrt fundierte nämlich nicht unwesentlich die Einkünfte der kleinen, aber verkehrsgünstig an der Donau liegenden Stadt, die sich insofern als überregionales Wallfahrtsziel geradezu anbot. Noch 1785 sollen rund 50.000 Pilger den Ort aufgesucht haben. Trotz kritischer Einwände seit der Aufklärung und verstärkt im 19. Jahrhundert, etwa durch den bekannten bayerischen Schriftsteller Ludwig Steub, vermochte sich die „Deggendorfer Gnad“ nicht zuletzt im Rahmen einer regelmäßig durchgeführten Diözesanwallfahrt bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu halten. Passionsspielartige Bühnendarstellungen trugen darüber hinaus zur Popularisierung der „Deggendorfer Gnad“ bei. Erst spät, letztlich im Gefolge der seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil betriebenen Aussöhnung der römisch-katholischen Kirche mit dem Judentum und systematisch angestellten historisch-kritischen Forschungen vor Ort wurde die Deggendorfer Wallfahrt samt den zugrundeliegenden Geschichtsfälschungen und Pseudo-Wundern nicht zuletzt aufgrund des energischen Betreibens des Regensburger Diözesanbischofs Manfred Müller 1992 eingestellt.
Klaus Wolf
Literatur Manfred Eder, Die „Deggendorfer Gnad“ – Entstehung und Entwicklung einer Hostienwallfahrt im Kontext von Theologie und Geschichte, Deggendorf, Passau 1992. Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Hamburg 1991. Stadt Deggendorf (Hrsg.), „Die Gnad“. Tatsachen und Legende, Deggendorf 1993. Ludwig Steub, Altbayerische Culturbilder, Leipzig 1869. Michaela Willeke, Der Vorwurf des Hostienfrevels als ein Höhepunkt des spätmittelalterlichen Antijudaismus. Die „Deggendorfer Gnad“ (1338), in: Arne Domrös, Thomas Bartoldus, Julian Voloj (Hrsg.), Judentum und Antijudaismus in der deutschen Literatur im Mittelalter und an der Wende zur Neuzeit. Ein Studienbuch, Berlin 2002, S. 61–83.
Deggendorfer Lied Das bis in die Neuzeit in mehreren Fassungen und wiederholten, auch gedruckten Umformungen popularisierte Lied schildert in geschichtsklitternder Weise die Wallfahrtsätiologie für die sogenannte → „Deggendorfer Gnad“. Ursprünglich dürfte eine Auftragsdichtung des 15. Jahrhunderts als Werbetext für die Wallfahrt zugrunde gelegen haben.
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Der anonyme Dichter der Erstfassung des Lieds (oder des sangbaren Reimpaarspruchs) fingiert dabei seine Augenzeugenschaft der in Deggendorf zu bestaunenden Wallfahrt und die absolute Glaubwürdigkeit jener der Wallfahrt angeblich zugrunde liegenden Ereignisse. Demnach beginnt das Mirakelgeschehen im „Deggendorfer Lied“ mit dem Verkauf einer gestohlenen Hostie durch eine Christenfrau an Deggendorfer Juden. Die Juden misshandeln die Hostie mit Dornen, Feuer, Hämmern und anderem mehr, wobei die wundertätige Hostie blutet. Dabei kommt es auch zu Erscheinungen des Jesuskinds. Als der Hostienfrevel bei der christlichen Bevölkerung Deggendorfs bekannt wird, schließen sich Deggendorfer Stadtbürger im Verein mit Adeligen zur blutigen Rache an den Juden zusammen. Aus den wegen des christlichen Rachefurors brennenden Judenhäusern entschwebt die Hostie auf wunderbare Weise unversehrt, um sich im Schoß eines alten, frommen Mannes niederzulassen. Danach wird die Hostie durch einen Priester in die Kirche überführt. Im Gefolge kommt es noch zu Heilungswundern. Das diese Mirakel erzählende Lied dürfte sich auf einen entsprechend erzählenden Deggendorfer Bilderzyklus bezogen haben (Wandgemälde, erst im 18. Jahrhundert motivlich entsprechende, noch heute erhaltene Tafelgemälde). Bei der Erstfassung des Lieds hat es sich wohl um die Auftragsarbeit eines Berufssprechers gehandelt, der damit für die Wallfahrt werben wollte. Wiederholte Neufassungen und Umdichtungen (vor allem im 15. und 16. Jahrhundert, aber auch darüber hinaus) bezeugen die bleibende Aktualität und lang anhaltende Popularität einer solchen gesungenen Wallfahrtsätiologie, die nicht zuletzt aufgrund ihres Antijudaismus für die Volksfrömmigkeit (weniger im gelehrt-aufgeklärten Milieu Bayerns) lange Zeit attraktiv blieb. Das somit weitverbreitete „Volkslied“ dokumentiert nicht zuletzt die über Deggendorf und die Diözese Regensburg hinaus populäre „Deggendorfer Gnad“.
Klaus Wolf
Literatur Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, gesammelt und erläutert von Rochus von Liliencron, Erster Band, Leipzig 1865. Björn Berghausen, Von Tegkendorff das geschicht waz den schalckhafftigen Juden ist worden zu lon. Das Lied von Deggendorf – Fiktion eines Hostienfrevels, in: Ursula Schulze (Hrsg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen, Tübingen 2002, S. 233–253. Ludwig Steub, Altbayerische Culturbilder, Leipzig 1869. Burghart Wachinger, Der Judenmord von Deggendorf, in: Kurt Ruh, Burghart Wachinger [u. a.] (Hrsg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Band 4, Berlin, New York 1983², Sp. 893–896. Michaela Willeke, Der Vorwurf des Hostienfrevels als ein Höhepunkt des spätmittelalterlichen Antijudaismus. Die „Deggendorfer Gnad“ (1338), in: Arne Domrös, Thomas Bartoldus, Julian Voloj (Hrsg.), Judentum und Antijudaismus in der deutschen Literatur im Mittelalter und an der Wende zur Neuzeit. Ein Studienbuch, Berlin 2002, S. 61–83.
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Deutsch-jüdischer Parnaß (Artikel von Moritz Goldstein, 1912)
Deutsch-jüdischer Parnaß (Artikel von Moritz Goldstein, 1912) Im März 1912 veröffentlichte der jüdische Journalist Moritz Goldstein (1880–1977) in der konservativen Kulturzeitschrift „Der Kunstwart“ einen Artikel mit dem Titel „Deutsch-jüdischer Parnaß“. Darin stellte er die provokante These auf, dass die Assimilation der Juden an die deutsche Kultur gescheitert sei, weil die Deutschen in den Juden keine legitimen Träger ihrer Kultur erkennen würden. Daraufhin entstand in Zeitungen und Zeitschriften eine kontroverse Grundsatzdebatte um die Rolle der Juden in der Kultur sowie um Stand und Perspektiven der Assimilation. In der Kunstwart-Debatte spiegelten sich die widersprüchlichen Zukunftserwartungen des Antisemitismus auf der einen und der deutschen Juden auf der anderen Seite. Die Reichstagswahl von 1912 hatte den Rechtsparteien eine schwere Niederlage beschert. Die antisemitischen Splitterparteien und völkischen Zirkel bewegten sich am Rande der Bedeutungslosigkeit. Gleichzeitig boomte die antisemitische Publizistik, und der gesellschaftliche Antisemitismus feierte ungeahnte Erfolge bei der Diskriminierung von Juden im Vereinswesen. Hauptträgerschichten des gesellschaftlichen Antisemitismus waren das Klein- und Bildungsbürgertum. Vor allem die nach dem Ende der liberalen Ära geborenen Angehörigen dieser Schichten waren von einer Mischung aus Radikalnationalismus und Kulturpessimismus geprägt und entdeckten zunehmend „den Juden“ als „inneren Reichsfeind“ und Agenten verhasster Modernisierungsprozesse. Der Antisemitismus spaltete zunehmend das deutsche Judentum. Während die Mehrheit am Selbstverständnis des „deutschen Staatsbürgers jüdischen Glaubens“ festhielt, gelang es seit der Jahrhundertwende dissimilatorischen Tendenzen, Fuß zu fassen. Vor allem junge Juden, wie auch Goldstein selbst, erkannten im Zionismus und in der Jüdischen Renaissancebewegung Alternativen zur deutsch-jüdischen Doppelidentität. Goldstein verstand seinen Essay „Deutsch-jüdischer Parnaß“ nicht als eine sachliche Zustandsbeschreibung, sondern als ein persönliches Bekenntnis. Seine pessimistische Bewertung der Assimilation speiste sich aus Verbitterung über sein Scheitern als Dramatiker und Empörung über den Antisemitismus. Goldstein behauptete, die Juden hätten geradezu eine Vorherrschaft im deutschen Kulturbetrieb errungen. Dies gehe allerdings nicht mit einer Akzeptanz vonseiten der Mehrheitsgesellschaft einher. „Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht. […] Wir Juden unter uns mögen den Eindruck haben, als sprächen wir als Deutsche zu Deutschen. […] Aber mögen wir uns immerhin ganz deutsch fühlen, die anderen fühlen uns ganz undeutsch.“ Die Juden sollten sich vom Deutschtum lösen und sich am Aufbau einer spezifisch jüdischen Nationalkultur beteiligen. Dann könnten sich Deutsche und Juden auf der Ebene europäischer Kultur gleichberechtigt bewegen. Für sich selbst und seine eigene Generation, die zu tief im Deutschtum verwurzelt sei, hielt Goldstein das allerdings nicht mehr für realistisch. Obwohl er die Antisemiten scharf angriff (namentlich Houston Stewart Chamberlain und Adolf Bartels), bekräftigte er in seinem Essay ihre Aussagen zur dominanten Rolle der Juden in der deutschen Kultur und die Forderung nach der „reinlichen Scheidung“ von Deutschtum und Judentum. In späteren Publikationen, die allerdings kaum beachtet wurden, distanzierte sich Goldstein vom essentialistischen Nations- und Kulturverständnis des Parnaß-Essays. Die Überwindung hybrider Identitäten hielt er nicht
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mehr für zwingend. Er näherte sich Hermann Cohen und Friedrich Nietzsche an, die eine deutsch-jüdische Symbiose befürworteten. Im Oktober 1933 emigrierte Goldstein nach Italien, 1939 nach Großbritannien und 1947 schließlich in die USA. Auch im Exil befasste er sich weiterhin mit dem Themenkreis der deutsch-jüdischen Identitätsproblematik. Obwohl die Geschichte Goldsteins Assimilationskritik Recht gegeben hatte, bedauerte er rückblickend den Verlauf der Kunstwart-Debatte, weil sie den Antisemiten in die Hände gespielt habe. In der historischen Forschung ist die Kunstwart-Debatte bislang als ein innerjüdischer Disput zwischen Assimilanten und Zionisten eingestuft worden, während den Antisemiten als dritter Debattenpartei wenig Beachtung geschenkt wurde. Dabei griffen führende Vertreter der völkischen Bewegung in die Diskussion ein, und einige Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten zudem anonyme antisemitische Zuschriften. Die Antisemiten führten Goldstein als Kronzeugen für ihre eigenen Exklusionsforderungen in der „Judenfrage“ an. Im Gegensatz zu Goldstein machten sie für das Scheitern der Assimilation allerdings nicht die unüberwundene Judenfeindlichkeit der Mehrheitsgesellschaft verantwortlich, sondern die angebliche nationale und rassische Fremdheit der Juden. Daher könnten die Juden deutsche Kultur allenfalls imitieren oder ihre eigene Kultur – durch ihre angebliche Dominanz in der Presse und der großstädtischen Kulturszene – als deutsch ausgeben. In den Konsequenzen, die aus der Verhältnisbestimmung zwischen Deutschtum und Judentum zu ziehen seien, waren sich die Antisemiten allerdings nicht einig. Moderate und kulturalistisch orientierte Antisemiten bedauerten zwar die Assimilation und bestritten die Fähigkeit der Juden, Schöpfer deutscher Kultur sein zu können. Auf der Ebene eines übernationalen Menschentums hätten aber einzelne Juden durchaus große kulturelle Leistungen hervorgebracht. So argumentierten beispielsweise Friedrich Lienhard und Karl Storck in der Zeitschrift „Der Türmer“. Ferdinand Avenarius, der Herausgeber des „Kunstwart“, vertrat ähnliche Positionen. Obwohl er sich als neutraler Moderator der Debatte verstand, verraten viele seiner Formulierungen starke Vorbehalte gegenüber der Teilhabe der Juden an der deutschen Kultur. Avenarius veröffentlichte im Augustheft des „Kunstwart“ eine Fülle von Debattenbeiträgen unter dem bezeichnenden Titel „Aussprache mit Juden“, sodass die jüdischen Debattenteilnehmer von vornherein als Außenstehende erschienen. Eine radikalere Position als Lienhard, Storck und Avenarius nahmen die Rassenantisemiten ein. Philipp Stauff und Adolf Bartels deuteten die angebliche Unterwanderung der deutschen Kultur als Bestandteil einer Strategie der Juden, die gesamte Gesellschaft zu infiltrieren und eine „Judenherrschaft“ zu installieren. Alle Anpassungsversuche von jüdischer Seite seien taktisch motiviert. Taufe, Mischehen und Assimilation würden den Juden eine willkommene Tarnung verschaffen, ohne etwas an ihrer rassischen Identität zu ändern. Konsequenterweise dehnten Stauff und Bartels ihre Polemik auch auf die Teilhabe von „Halbjuden“ an der deutschen Kultur aus. Unverfälschtes Deutschtum in der Kultur könne man nur wiedergewinnen, wenn man alles Jüdische ausschließe. Die von Avenarius angestrebte „Aussprache mit Juden“ fand nie statt. Vielmehr zerfällt die Kunstwart-Debatte in zwei kaum miteinander verbundene Stränge. Während die jüdischen Diskussionsteilnehmer über Sinn und Perspektiven der Assimilation kontrovers diskutierten, bot die Kunstwart-Debatte den Antisemiten einen will-
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kommenen Anlass, vor der Gefahr einer jüdischen Überfremdung zu warnen. Die Frontenstellung von Assimilanten, Zionisten und Antisemiten sowie die vorgebrachten Argumente ähneln stark den Kontroversen um Werner Sombarts Buch „Das Judentum und das Wirtschaftsleben“ (1911). Tatsächlich gingen beide Debatten häufig ineinander über, als ob Goldstein Sombarts Thesen vom Feld der Wirtschaft auf das Feld der Kultur übertragen hätte.
Thomas Gräfe
Literatur Elisabeth Albains, German-Jewish Cultural Identity from 1900 to the aftermath of the First World War. A comparative study of Moritz Goldstein, Julius Bab and Ernst Lissauer, Tübingen 2002. Moritz Goldstein, Berliner Jahre. Erinnerungen 1880–1933, München 1977. Moritz Goldstein, German Jewry’s Dilemma. The story of a provocative Essay, in: Leo Baeck Institute Year Book 2 (1957), S. 236–254. Till Schicketanz, Im Schatten des „Parnaß“. Moritz Goldstein und die Jüdische Renaissance, in: Aschkenas 18/19 (2008/2009), S. 249–267. Julius H. Schoeps (Hrsg.), Deutsch-jüdischer Parnaß. Rekonstruktion einer Debatte, Berlin 2002. Manfred Voigts, Moritz Goldstein, der Mann hinter der Kunstwart-Debatte. Ein Beitrag zur Tragik der Assimilation, in: Heinrich Mann-Jahrbuch 13 (1995), S. 149–184.
Der deutsche Christus (Buch von Max Bewer, 1907) Das Buch „Der deutsche Christus“ des völkischen Schriftstellers Max Bewer (1861– 1921) enthält Aufsätze, Gedichte und Aphorismen, die sich kritisch mit dem konfessionellen Christentum auseinandersetzen. Bewer brandmarkte die Konfessionsspaltung und die universalistische Ethik des zeitgenössischen Christentums als Ursache für ein defizitäres deutsches Nationalbewusstsein. Das Christentum müsse sich germanisieren und in ein antisemitisches Deutschchristentum verwandeln. „Der deutsche Christus“ erschien 1907 in Bewers eigenem Goethe-Verlag in Dresden-Laubegast. Den Untertitel bilden die drei Kapitelüberschriften „War Christus Jude? War Christus Sozialdemokrat? Wie wird Deutschland glaubenseinig?“ Als Grundirrtum des Christentums bezeichnet Bewer die Annahme, dass Jesus Jude gewesen sei. In Anlehnung an ähnliche Spekulationen von Adolf Wahrmund, Theodor Fritsch und Houston Stewart Chamberlain behauptet der Autor, dass sich in Palästina arische Galiläer und semitische Nomadenstämme feindlich gegenübergestanden hätten. Jesus habe als galiläischer Arier und Antisemit gegen die Juden gepredigt und sei aus Rache von ihnen gekreuzigt worden. Die Kirchen hätten Herkunft und Lehre Christi verfälscht und nachträglich semitisiert. Außerdem habe sich eine universalistische und rassenindifferente Ethik im Christentum durchgesetzt. Davon würden in der Gegenwart vor allem die Sozialdemokraten mit ihrem Internationalismus und ihrer Kapitalismuskritik profitieren. Dabei gelte es, nicht den „deutschen Händlerfleiß“, sondern ausschließlich jüdische „Schacherei und Wucherei“ zu bekämpfen. Das konfessionelle Christentum habe den „Reichsfeinden“ Judentum und Sozialdemokratie nichts entgegenzusetzen, weil die Protestanten zu sektiererisch, liberal und philosemitisch und die
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Katholiken zu ultramontan seien. Die konfessionelle Zerrissenheit müsse, so Bewer, in einem antisemitischen Deutschchristentum überwunden werden, das die Juden als gemeinsamen Feind aller Christen und aller Deutschen bekämpfe. Diese Ökumene auf Kosten der Juden werde sich in der Entstehung eines „Dritten Reiches“ vollenden. Das erste Reich sei katholisch-universalistisch, das zweite Reich protestantisch-philosemitisch gewesen und das Dritte Reich werde christlich, deutsch und antisemitisch sein. „Es (das Dritte Reich) wird vollendet sein, wenn der christlich-konfessionelle Knochenbruch, in dem heute der jüdische Brand seine glaubens- und sittenzersetzende Verfallsarbeit schon sehr weit getrieben hat, in einem Zusammenschluss von Katholiken und Protestanten dauernd geheilt wird.“ Wenn schon der zeitgenössische Klerus nicht in der Lage sei, offensiv gegen die Juden zu predigen, so werde einst Christus selbst als Führer der Deutschen im Kampf gegen die Juden wiederkehren: „Die Hand vor Augen, so schaue ich/ nach dir im Morgenscheine -/ Ich weiß deinen Weg, er führet dich/ vom Jordan an den Rheine./ Das Ohr auf die Erde festgedrückt,/ spür ich nach deinen Tritten -/ du kommst nicht unter das Kreuz gedrückt,/ du kommst wie ein Gott geschritten./ Das Kind ward Mann, das Kreuz ward Schwert/ und Rosen die Dornenreiser./ Dein Reich ist die Welt und Deutschland dein Herd;/ Wann kommst du heimlicher Kaiser?“ Max Bewers eigenwillige antisemitische Theologie reiht sich in eine Fülle von völkisch-religiösen und neognostischen Publikationen ein, die um die Jahrhundertwende erschienen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Kenntnis einiger dieser Schriften Sigmund Freud zu der häufig missverstandenen These vom Antisemitismus als christlichem Selbsthass inspirierte. Denn typisch für diese heterodoxen Ansätze war, den Antisemitismus als Vehikel für die Artikulation von Unzufriedenheit mit dem konfessionellen und kirchlichen Christentum zu nutzen, indem man jüdische Einflüsse für Defizite im Christentum verantwortlich machte. Diese Vorgehensweise ist auch bei seriöseren Philosophen wie Friedrich Nietzsche und Ludwig Klages zu finden. Ein Alleinstellungsmerkmal Bewers war hingegen, einen antiultramontan geläuterten Katholizismus als Ausgangspunkt für die Germanisierung und „Entjudung“ des Christentums zu empfehlen. Dies stieß in der völkischen Bewegung, die im Kaiserreich noch überwiegend kulturprotestantisch geprägt war, auf wenig Verständnis.
Thomas Gräfe
Literatur Wolfgang Fenske, Wie Jesus zum „Arier“ wurde. Auswirkungen der Entjudaisierung Christi im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2005. Thomas Gräfe, Katholischer und völkischer Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Schnittmengen und Übergänge am Beispiel des Schriftstellers Max Bewer, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 20 (2010), S. 156–179. Rainer Lächle, Germanisierung des Christentums – Heroisierung Christi. Arthur Bonus – Max Bewer – Julius Bode, in: Stefanie von Schnurbein, Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 165–183.
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Deutsche Wochenschau (1938–1945)
Deutsche Wochenschau (1938–1945) Die Wochenschau als Nachrichtenmedium spielte in der NS-Zeit zunehmend eine wichtige Rolle für die Präsentation politischer und zeitgeschichtlicher Ereignisse. Sie diente zwar der Vermittlung politischer Informationen, kann sowohl aufgrund der Produktionsumstände als auch im Hinblick auf ihre Tradition nicht mit heutigen Nachrichtensendungen verglichen werden. Eine Wochenschau wurde, zumeist neben einem Beiprogrammfilm, an einen Spielfilm gekoppelt. Ein derartiges Programm startete zunächst in den großen Kinosälen, wurde anschließend sechs Wochen und noch länger in den kleineren Kinos vorgeführt, sodass Aktualität ein nachrangiges Kriterium für die Inhalte einer Wochenschau war. Sie war nicht tagesaktuell angelegt und sollte unterhalten, war ein „Attraktionsmedium“. Die durchschnittliche Lauflänge einer Wochenschau betrug um 1933 zehn bis zwölf Minuten und umfasste acht bis zwölf Sujets, wie diese Beiträge bezeichnet werden, die „Vermischten Meldungen“ entsprechen. 1933 wurden für den deutschen Kinomarkt vier Wochenschauen produziert: die Ufa-Tonwoche, die Deuling-Tonwoche, die Fox Tönende Wochenschau und die Emelka-Tonwoche, die in den 1930er-Jahren mehrfach den Titel wechselte. Die Ufa-Tonwoche und Deuling-Tonwoche wurden beide von der Ufa produziert. Ab 1935 wurden alle Wochenschauen von einer eigens zu diesem Zweck gegründeten Abteilung im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) kontrolliert. Die Ufa-Produktion der Wochenschauen wurde 1937 vollständig verstaatlicht, aus diesen ging 1938 die Deutsche Wochenschau hervor, die unter der Aufsicht des RMVP und der persönlichen Kontrolle des Propagandaministers Joseph Goebbels produziert wurde. Mit Kriegsbeginn 1939 änderte sich der Charakter der Deutschen Wochenschau. Die Berichterstattung über das Kriegsgeschehen erhielt vorrangige Bedeutung, ohne dass dabei der Attraktionscharakter aufgegeben wurde. Es wurden Berichterstatter ausgebildet, die als Kameramänner und Soldaten der Propagandakompanien an der Front eingesetzt waren. Deren Filmmaterial wurde nach Berlin geschickt und dort entwickelt. In der Wochenschau-Redaktion wurden dann die jeweiligen Sujets konzipiert, montiert und kommentiert. Erst nach der Abnahme durch das RMVP wurden die Wochenschauen zur Vorführung freigegeben und verliehen. In diesem Sinne waren die Propagandakompanien der Wehrmacht ein wichtiger Teil der Kriegsführung. Im Ergebnis der Durchsicht überlieferter Wochenschauen fällt auf, dass antisemitische Sujets nicht sehr häufig, dafür aber akzentuiert eingesetzt wurden. Man war sich dessen bewusst, dass die Wochenschau sehr stark internationaler Aufmerksamkeit unterlag. Aus diesem Grund sind bestimmte Beiträge nur im Kontext innenpolitischer Ereignisse oder als Teil eines umfassenden medialen Angebotes in ihrer Tragweite zu ermessen. Festzustellen ist, dass die Gestaltung und der Einsatz der wenigen, aber sehr dezidiert eingesetzten Sujets antisemitischen Inhalts mit den von Saul Friedländer definierten Phasen der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden einhergehen. Friedländer bezeichnet die Spanne 1933 bis 1939 als die „Jahre der Verfolgung“ und 1939 bis 1945 als die „Jahre der Vernichtung“. Diese zweite Phase untergliedert er in die Abschnitte Terror, Massenmord und Shoah.
Deutsche Wochenschau (1938–1945)
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In der ersten Phase verlief die Indoktrination bzw. Begleitung der Etablierung eines staatlichen Antisemitismus subtiler und folgte damit „Hitlers Vision des jüdischen Feindes“, der als Dualität von übermenschlicher Kraft und als „untermenschliche Ursache von Ansteckung, Zerfall und Tod“ (Friedländer) auftrete. Beide Bereiche dieser Vision spielen auf etwas per se nicht Darstellbares an. Dies führt zu einer Dualität in den Medien: Dem vermeintlich überall lauernden Phantom stellen sich die als solche erkennbaren Vertreter des „Dritten Reiches“ entgegen. Die Deuling-Tonwoche über den Boykott von 1933 beginnt mit einem überregionalen und einem regionalen Beitrag ohne jede politische Brisanz. An dritter Stelle wird das Sujet zum ersten landesweiten Boykott der jüdischen Geschäfte mit dem Satz eingeleitet: „Trotz Boykott Ruhe und Ordnung in Berlin.“ Aus einer Szene, die Bilder einer normalen Geschäftigkeit zeigen, wird zum „Tag der Abwehr“ übergeleitet. Diese Sequenz beginnt mit einer die Leinwand füllenden Aufnahme eines Schildes, mit dem die Menschen auf Deutsch und Englisch aufgefordert werden, nur bei Deutschen zu kaufen. Geschlossene Türen der Warenhäuser und entsprechende Schilder in Schaufenstern und vor Geschäften werden mit Aufnahmen von auf der Straße patrouillierenden SA-Männern montiert. Beinahe beiläufig ist im Hintergrund einer Einstellung die Kinowerbung für „Blutendes Deutschland“ (Regie Johannes Häußler, 1933) zu erkennen, der als „Film der nationalen Bewegung“ beworben wurde und international Proteste ausgelöst hat. Man kann davon ausgehen, dass man auch aus rein pragmatischen Gründen davon absah, jüdische Bürger Berlins vorzuführen. Für lange Zeit bleibt dies das einzige direkt adressierte antisemitische Sujet in den deutschen Wochenschauen. Implizit wirkende Sujets gab es in diesen ersten Monaten jedoch mehrere. Das Phänomen der Vision einer vermeintlich nicht darstellbaren Macht führt zu einer Umkehrung in der Propaganda, die den Auserwähltheitsmythos des Nationalsozialismus unterstreicht: Zupackende und erfolgversprechende junge Deutsche oder aktiv für „Ordnung“ sorgende Uniformierte treten in den Vordergrund. Deutsche jüdischer Herkunft wurden so aus dem Blick gelöscht und jeder Stimme beraubt. In Szene gesetzt wurde dagegen die „arische Volksgemeinschaft“. So in den Wochenschauen, die das Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Universitäten begleiten, in dessen Folge nicht-arische Schüler und Studenten relegiert wurden. Die Deuling-Tonwoche vom 26. April 1933 sowie die Ausgabe vom 17. Mai 1933 stellen die Generation zukünftiger Studenten und Wissenschaftler vor, die nach ihrem freiwilligen Einsatz im Arbeitsdienst Medizin, Geologie und Biologie, aber auch Theologie, Philosophie und Volkswirtschaft oder Kunstgeschichte studieren oder Hauswirtschaftsschulen besuchen werden. Die Deuling-Tonwoche vom 24. Mai 1933 korrespondiert mit dem Gesetz, das deutschen Juden verbietet, in der Landwirtschaft zu arbeiten oder selbst ein Landwirtschaftsgewerbe zu besitzen und zu betreiben. In einer Montage verschiedener Reden wird betont, dass dem „deutschen Bauern“ nun sein „Recht und angestammter Platz“ zurückgegeben werde. Auszüge von Reden mit eindeutig antisemitischen Verweisen gibt es in Ausgaben der Wochenschau erst ab 1935, dem Jahr der „Nürnberger Gesetze“. Zum Beispiel spricht Joseph Goebbels in der Ufa-Tonwoche vom 25. September 1935 über „Juden und Untermenschentum, das die Kultur als solche“ bedrohen würde.
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Deutsche Wochenschau (1938–1945)
1938 finden sich die ersten pointiert eingesetzten Visualisierungen eines Zerrbilds des „Juden“ in einzelnen Sujets der Wochenschauen. In einem Beitrag der Ufa-Tonwoche vom 2. März 1938 über den Karnevalsumzug in Köln ist die Karikatur einer Jüdin mit Davidstern als „Lügentante der Weltpresse“ zu sehen. Die Ostmark Wochenschau berichtet über die Wiener Station der Ausstellung „Der ewige Jude“. In der Ufa-Tonwoche und der Tobis-Tonwoche vom 23. November 1938 wird die Beerdigung des Gesandtschaftsrates in Paris zum Anlass genommen, um Herschel Grynszpan als jüdischen Attentäter anzuprangern. Hitlers Rede vom 30. Januar 1939 im Reichstag, in der er mit der „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ droht, wurde am 1. Februar 1939 gleichzeitig in der UfaTonwoche, Tobis-Wochenschau und Deuling-Tonwoche gezeigt. Mit dem Beginn des Feldzuges gegen Polen ändert sich auch die Visualisierung und Personalisierung des Antisemitismus. In einer ab dem 14. September 1939 über vier Wochen laufenden Propaganda-Offensive war der vermeintlich kriminelle „OstJude“ das vorherrschende Objekt der Wochenschauen. In der Ufa-Tonwoche und der Tobis-Wochenschau vom 14. September 1939 werden einige Männer bezichtigt, die Ermordung von Deutschen angestiftet und begünstigt zu haben. Die Ufa-Tonwoche sowie die Tobis-Wochenschau vom 20. September 1939 zeigen einen zerstörten Ort, in dem einzig die Synagoge verschont blieb, und berichten von vertriebenen, verwundeten und hungernden Deutschen. Dagegen werden in einer raffiniert gestalteten Montage „Ost-Juden in bester Laune“ gesetzt. In der Ufa-Tonwoche vom 20. September 1939 werden Männer bei Straßenarbeiten gezeigt und der Kommentar behauptet höhnisch, dass diese das erste Mal in ihrem Leben arbeiten müssten. In der Ufa-Tonwoche und der Tobis-Wochenschau vom 4. Oktober 1939 wird u. a. berichtet, dass die deutsche Verwaltung in den besetzten Gebieten vor allem mit der „Judenfrage“ konfrontiert sei und deutsche Soldaten aus „Ghetto-Palästen“ beschossen worden wären. Die vierte Wochenschau dieser Reihe vom 18. Oktober 1939 zeigt das zerstörte Warschau. In der letzten, erkennbar inszenierten Sequenz werden Männer bei Straßenbauarbeiten gezeigt und es wird darauf verwiesen, dass Arbeit ungewohnt für diese Juden sei. Darüber hinaus wird betont, dass diese Arbeit sie davon abhalten würde, die Situation für sich auszunutzen. 1941 wird die Deutsche Wochenschau vom Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda persönlich kontrolliert und läuft nun durchschnittlich 30 bis 35 Minuten. Das Publikum soll auf den Feldzug gegen die Sowjetunion eingestimmt werden. „Der Bolschewist“ und „der Jude“ werden in den Beiträgen dieser Wochenschauen zum Sinnbild des „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörers“. Diese Propagandaoffensive über die „jüdisch-bolschewistische“ Sowjetunion lief in der Wochenschau über vier Monate. Das alte Feindbild als das omnipotente Böse sollte ein neues Gesicht bekommen. Porträtiert wurden in diesen Ausgaben Männer, die als „Massenmörder, Attentäter und Giftmörder“ geschildert wurden. Zur selben Zeit, als die Juden in der Wochenschau als Massenmörder geschildert wurden, begann der systematische Völkermord. Die antisemitischen Sujets, die während des Sommers 1941 gezeigt wurden, waren durch das ausgewählte Material, Kommentar, Musikauswahl und Montage affektiv und schockierend im Sinne der Attraktionsmontage gestaltet. Beispielhaft erwähnt sei hier die Deutsche Wochenschau vom 10. Juli 1941, die
Dnewnik Pisatelja (Literarisch-politische Zeitschrift, 1873–1881)
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zwei korrespondierende Sujets enthält. Sie beginnt mit einem Bericht über die Eroberung von Lemberg. Der Bericht lässt die Einwohner die deutschen Soldaten als Befreier vom „bolschewistischen Terror“ begrüßen, der vor allem durch „die jüdisch-bolschewistischen Agenten“ organisiert worden sei. In der Montage unterschiedlicher Bilder unzähliger Toter, weinender Frauen und tröstender Soldaten, eines pointierten Kommentars im Wechsel mit nur musikalisch unterlegten Einstellungen wird eine hoch affektive Wirkung erzielt. Nahaufnahmen zeigen „sowjetische Typen“ und deklarieren sie zu „Verbrechern schlimmster Sorte“. Der zweite Teil folgt nach fünfzehn Minuten Darstellung kämpfender deutscher Truppen. In der nun folgenden Sequenz lässt sich ein Muster erkennen, dass in den Ausgaben der Deutschen Wochenschauen 567 bis 570 geringfügig variiert wird: Eine kleine Stadt in der Ukraine wurde vollkommen zerstört, alleine die Synagoge blieb stehen. Deutsche Soldaten jagen im jüdischen Viertel Männer. Der Kommentar erklärt diese verantwortlich für die Zerstörung und den Terror. Durch die ritualisierte Wiederholung von Motiven, Anschuldigungen und Abläufen wird ein Gefühl des Grauens und der permanenten Bedrohung hergestellt. Erst wieder 1944 wird in der Wochenschau zur Mobilisierung der letzten Kräfte noch einmal auf die alte „Bedrohung“ verwiesen. Antisemitische Propaganda wurde in den Wochenschauen sehr gezielt als Teil massenmedialer Beeinflussung eingesetzt. Stets wird ein Feindbild heraufbeschworen und den zeithistorischen Umständen entsprechend gestaltet – zunächst als eine imaginierte gesichtslose Projektion, später als der anders aussehende Fremde. Diese wenigen, aber pointiert gestalteten Sujets bilden eine Facette der gesamten medialen Propaganda. In den Wochenschauen wurden die ikonografischen Zeichen gesetzt, die im populären Spielfilm implizit aufgerufen werden und affektiv weiterwirken.
Kerstin Stutterheim
Literatur Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, München 2008. Kay Hoffmann, „Sinfonie des Krieges“. Die Deutsche Wochenschau im Zweiten Weltkrieg, in: Peter Zimmermann, Kay Hoffmann (Hrsg.), Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, Stuttgart 2005, S. 645–690. Klaus Kreimeier, Frühes Infotainment. Entwicklungstendenzen der Wochenschau, in: Klaus Kreimeier, Antje Ehmann, Jeanpaul Goergen (Hrsg.), Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, Stuttgart 2005, S. 322–347. Kerstin Stutterheim, Das Bild des Juden in der deutschen Wochenschau 1933–1945, in: Filmblatt 15, Berlin, Winter 2010/11 (Nr. 44), S. 23–36.
Die Diaspora (Fernsehserie von Fathallah Omar, Syrien 2003) → AschSchatat
Dnewnik Pisatelja (Literarisch-politische Zeitschrift, 1873–1881) 1873 bis 1881 gab Fjodor Dostojewski (1821–1881) als „Tagebuch eines Schriftstellers“ (Dnewnik Pisatelja) eine literarisch-politische Zeitschrift mit seinen eigenen Beiträgen heraus, zunächst als Teil des konservativen Wochenblatts „Grashdanin“ [Staatsbürger], später als eigenständige Monatsschrift von beträchtlichem Erfolg. Wie
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Dnewnik Pisatelja (Literarisch-politische Zeitschrift, 1873–1881)
in Dostojewskis literarischem Schaffen zuvor spielte das Thema „Juden“ zunächst keine prägnante Rolle. Doch fanden sich im „Tagebuch“ Anwürfe gegen die Juden als Ausbeuter, die an Elend, Alkoholismus und Sittenverfall schuld seien, etwa: „Die Juden werden das Blut des Volkes trinken und von der Verderbtheit und der Erniedrigung des Volkes leben“ (Grashdanin 21/1873). Solche Aussagen wurden gemacht, als handle es sich um nicht weiter erklärungsbedürftige Tatsachen. Ebenso umstandslos bezeichnete Dostojewski Juden abwertend als „Shid“. Als er kritische Briefe jüdischer Leser erhielt, widmete er der „Jüdischen Frage“ in der März-Nummer 1877 ein eigenes Kapitel. Darin erklärte er, diese für ihn zu große Frage gar nicht beantworten zu können. Er wolle sich nur gegen die Kritik wehren, er hasse Juden als Volksstamm und nicht nur als Ausbeuter. Er warf den Juden dagegen vor, sich stets für die am meisten Verfolgten zu halten: „Man könnte meinen, dass nicht sie in Europa herrschen, dass nicht sie mindestens die Börsen und folglich auch die Politik, die inneren Angelegenheiten und die Sittlichkeit der Staaten regieren.“ In Russland seien die Bauern mehr als die Juden unterdrückt, würden aber von den Gutsbesitzern immer noch besser als von den Juden behandelt, die sich nach der Aufhebung der Leibeigenschaft auf das Volk gestürzt hätten. In der Geschichte dieses Weltvolkes gebe es Hunderttausende solcher Tatsachen. Diese könnten keine Reaktion auf Not oder Ablehnung durch die Mehrheit sein. Im russischen Volk gebe es keinen stumpfen oder religiös begründeten Hass gegen die Juden. Er selbst habe erlebt, wie deren seltsame Gebete stets respektiert wurden. Vielmehr blickten die Juden auf die anderen herab. Welche Rechte hätten – bei Umkehr der realen Verhältnisse – drei Millionen Russen unter 80 Millionen Juden? Dürften dann die Russen wie jetzt die Juden frei beten, oder müssten sie nicht – wie die Völker der Antike – ihre Ausrottung durch die Juden befürchten? Die Juden hätten in dieser Stärke nicht ohne einen „Staat im Staat“ jahrhundertelang existieren können. Dostojewski kannte Juden persönlich kaum und das Leben im Ansiedlungsrayon gar nicht aus eigener Anschauung. So folgte er (ohne Quellennennung) Jakow Brafmans „Buch vom Kahal“ und unterstellte den Juden eine geheime Organisation mit dem Ziel: „Vernichte die anderen oder mache sie zu deinen Sklaven oder beute sie aus.“ Darauf würden die Juden auch dann nicht verzichten, wenn es zur Gleichberechtigung komme. Diese müsse dazu führen, dass die Juden völlige Überlegenheit erhielten, die sie aber nie zum Nutzen der Gesamtheit gebrauchen würden: Statt der Anhebung des Niveaus des Volks bewirke der Jude überall Erniedrigung und Verderben des Volkes, Sinken der Bildung, Steigen der Armut. In den Grenzgebieten Russlands wisse man, dass die Juden nur von Erbarmungslosigkeit angetrieben seien. Dort müsse man den schwächeren Russen helfen, um sie nicht völlig der Ausbeutung zu überlassen. Aber auch in Westeuropa, das Befürworter der Emanzipation mit dem Verweis der wirtschaftlich wichtigen Rolle der Juden anführten, sei der „Staat im Staat“ gefährlich. „Jeder für sich und nur für sich und auch jede Gemeinschaft mit anderen Menschen – nur für sich“, sei zum Prinzip der Mehrheit geworden. Die „unumschränkte Herrschaft“ der Juden stehe bevor, das Ende der christlichen Menschenliebe sei gekommen, abgelöst von Materialismus und Geldanhäufung mit allen Mitteln. Dem widerspreche nicht, dass die Mehrheit der Juden in Russland arm sei. Immer treibe der Jude Handel mit fremder Arbeit. Die jüdische Oberschicht wolle die
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Menschheit beherrschen – und auch wenn es Beispiele guter Menschen unter den Juden gebe, selbst einen Rothschild: Es gehe um seine „jüdische [Shid-]Idee“, die die ganze Welt umfasse. Obwohl er pauschale Angriffe gegen die Juden als ethnisch-religiöse Gemeinschaft formulierte, glaubte Dostojewski, in der Aufspaltung in Jude und „Shid“ dem Vorwurf zu entgehen, Hass zu schüren. Dazu gehörte auch, dass sein Artikel mit einem Aufruf „Es lebe die Brüderlichkeit“ endete. Hier forderte er gemäß dem „Gesetz Christi“ trotz des Hochmuts der Juden deren rechtliche Gleichstellung, sofern sie bewiesen, diese nicht zum Schaden des Volkes ausnutzen zu wollen. Das Folgekapitel im „Tagebuch“ schilderte die Begräbnisfeiern für einen deutschen Arzt in Minsk, der besonders von der jüdischen Bevölkerung betrauert wurde. Nur im Verhalten als „Allmensch“ und „gemeinsamer Liebe“ – schloss Dostojewski – liege die Lösung der „Judenfrage“. Doch dies hielt ihn nicht davon ab, auch in der Folge im „Tagebuch“ immer wieder pauschale Vorwürfe gegen Juden zu erheben. Eine wichtige Rolle spielte seine Kriegspropaganda für ein Engagement gegen die Türkei und für die Befreiung der Balkanslawen. Auch hier sah er die Widersacher im „Judentum“, geführt von Benjamin Disraeli, dem „spanischen Shid“, und einer globalen Verschwörung einschließlich der kriegsunwilligen „Verjudeten“ in Russland selbst. Denen hielt Dostojewski entgegen, dass „uns weder alle Juden von ganz Europa, noch die Millionen ihres Goldes, noch die Millionen ihrer Armeen besiegen können“ (April 1877). Die Juden waren in ihrem angeblichen Absonderungsstreben der Gegenpol zum russischen Volk, das die Menschheit mit einer allumfassenden Vereinigung retten werde. Dies zeige sich im Werk Puschkins, auf den Dostojewski 1880 eine vielbeachtete und im „Tagebuch“ abgedruckte Rede hielt: Der Russe sei mehr als jeder andere zur Aufnahme der Weltkultur bei Erhalt seiner Identität fähig. Dabei verwies Dostojewski auf den Willen der Russen, sich mit allen „Völkern des arischen Stammes“ zu vereinen – ignoriert von den Europäern: „Die Türken und Semiten sind ihnen geistig verwandter als wir Arier“ (Januar 1881). Mit diesem Vokabular ging es weniger um eine rassistische Definition von Nichtjuden und Juden als um eine weitere Ausgrenzung der letzteren, die utopische Vereinigung aller Menschen musste ja auch sie einschließen. Im jüdischen Wucherer, Schankwirt oder „Geldsack“ hatte Dostojewski den Schuldigen am immer wieder beklagten Zustand des zugleich messianisch verklärten russischen Volkes gefunden. Daher und angesichts seiner erniedrigenden Erfahrungen mit Schulden (doch fast nie bei jüdischen Gläubigern) stellte er den ökonomischen Aspekt seiner Judeophobie so klar in den Vordergrund. Auch wenn er die Eigenschaften der Juden aus religiösen Traditionen ableitete, verzichtete er im „Tagebuch“ auf typische Klischees. Dabei war etwa seine Meinung zu Ritualmordvorwürfen ambivalent, wie aus Briefen, aber auch einer Stelle in den „Brüdern Karamasow“ hervorgeht. Und trotz unveröffentlichter Aussagen über den „Shid“ in den revolutionären Bewegungen fehlt auch diese Facette im „Tagebuch“. Die Gefahr des atheistischen Kommunismus sah er nicht in einer Verschwörung der Juden, sondern vor allem des Katholizismus, den er als weiteren „Staat im Staat“ angriff. So schloss Dostojewski mit seinem „antikapitalistisch“ getönten Antisemitismus auf widersprüchliche Weise an den sozialkri-
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Doktor Kohn (Drama von Max Nordau, 1898)
tischen Impetus seines Frühwerks an – und erfuhr gerade mit dem „Tagebuch“ zugleich großen Zuspruch seitens der reaktionärsten Vertreter der zaristischen Elite.
Matthias Vetter
Literatur Fedor Michailovič Dostoevskij, Polnoe sobranie sočinenij v 30 tomach [Gesammelte Werke in 30 Bänden], Band 21–27, Leningrad 1980–1984. F. M. Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, hrsg. von Alexander Eliasberg, 4 Bände, München 1921–1923. David Goldstein, Dostoyevsky and the Jews, Austin, London 1981. Felix Philipp Ingold, Dostojewskij und das Judentum, Frankfurt am Main 1981.
Doktor Kohn (Drama von Max Nordau, 1898) Im Drama „Doktor Kohn. Ein Lebenskampf“ mit dem ursprünglichen Untertitel „Ein bürgerliches Trauerspiel aus der Gegenwart“ beschreibt Max Nordau verschiedene Formen des um die Wende zum 20. Jahrhundert verbreiteten Antisemitismus und drückt seinen Pessimismus gegenüber der Wirksamkeit diverser Maßnahmen dagegen aus. Sein Protagonist, Doktor Kohn, ein wissenschaftlich erfolgreicher jüdischer Mathematiker, der zwar den Preis einer schwedischen Akademie erhält, jedoch keine Professur an seiner Universität verliehen bekommt, verliebt sich in Christine Moser, Tochter eines assimilierten und getauften Kommerzienrates jüdischer Herkunft und einer evangelischen Mutter, und hält um ihre Hand an. Dies führt zum Bruch der Familie Moser, da die Eltern sich nicht einigen können und endet mit einem Duell zwischen Karl, einem der Brüder Christines, und Doktor Kohn, der dabei stirbt. Das Umfeld Kohns in „einer kleinen mitteldeutschen Universitätsstadt“ ist geprägt von Korpsstudenten, die offen einen rassistisch motivierten Antisemitismus pflegen und sich über die Physiognomie der Gäste eines Festes bei ihrem Rektor, Professor Kielholt, auslassen. Auch die Kollegen an der Universität äußern sich abfällig und rassistisch, außer dem Rektor hat niemand Sympathien für Kohn. Professor Havermann unterstellt sogar, Kohn habe sich den schwedischen Preis erschlichen, und bezeichnet die Juden unter dem Vorwurf, nur Wucher betreiben zu können, als minder originell und wissenschaftlich kreativ: „Sie wissen so gut wie ich, daß ein Jude nie etwas wirklich Eigenartiges und Neues geschaffen hat!“. Rektor Kielholt hingegen pflegt einen sogenannten positiven Rassismus, er attestiert den „Juden […] eine natürliche Hinneigung zur Mathematik“. Die Familie Christines hingegen vertritt gleich mehrere Formen des Antisemitismus. Die Brüder Ernst und Karl, obwohl selbst väterlicherseits aus einer jüdischen Familie stammend, präsentieren sich als Nationalisten und Militaristen, die Juden aus ihrer Vaterlandsliebe exkludieren. Ferner ist die Familie geprägt durch die strenggläubige evangelische Mutter, deren Bruder Leberecht von Quincke Superintendent und damit ein Würdenträger der Kirche ist. Er verkörpert zusätzlich zu einer rassistischen Haltung, die sich in dem Wunsch nach „reinem Blut“ äußert, auch einen religiös motivierten Antijudaismus, der im Vorwurf des „Gottesmordes“ formuliert wird. Seine Wut über Christines Plan, einen Juden zu heiraten, der seine ganze Verachtung für sei-
Donauwellen (Komödie von Fritz Kortner, 1949)
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nen Schwager offenbart und mit der Entdeckung endet, dass Moser seinen christlichen Glauben nur oberflächlich teilt, gipfelt schließlich mit dem Verbot an seine eigene Tochter, ihren Cousin Karl zu heiraten. Daraufhin kommt es zum Bruch zwischen den Eheleuten Moser und den Brüdern Christines mit ihrem Vater. Nordau entlarvt auch Kommerzienrat Mosers Assimilation als eine antisemitische Haltung, da er seine Herkunft verleugnet und Kohn darlegt, dass er die christliche Gesellschaft für höherwertig hält und gezielt Ehen zwischen Juden und Christen befürwortet, um „unter den Deutschen zu verschwinden“, wie Kohn es beschreibt. Zum Ende des Stückes kommt Moser jedoch darauf, dass er seiner jüdischen Identität nicht entfliehen kann, schon allein deswegen, weil sein Umfeld ihm dies nicht gestattet. Karl fordert Kohn zum Duell, dem er auch zustimmt, weil eine Verweigerung die ganze „Satisfaktionsfähigkeit“ der Juden infrage gestellt hätte. Kohn schießt jedoch in die Luft und wird wegen dieser im Duell als weitere Beleidigung aufgefassten Formverletzung angeschossen und stirbt schließlich an der Schusswunde. (Gelber) Auch an den Personen der Eltern stellt Nordau die Assimilation als eigentlich antisemitischen Impuls dar. Er veranschaulicht die Hierarchisierung von Assimilierten und orthodoxen Ostjuden. Kohn bekennt sich zwar zu seinem Judentum und hat ein liebevolles Verhältnis zu seinen Eltern, beschreibt sie jedoch selbst als rückständig: „Mein Vater und meine Mutter sind beide Juden alten Schlags, die anstößiges Judendeutsch reden und von ihren wunderlichen Bräuchen nicht lassen wollen.“ Diese Äußerung ist zwar im Kontext ironisch gemeint, zeigt jedoch die innerjüdische Entfremdung durch die Anpassung gegenüber der religiösen Tradition. Nordau weist auf die Ausweglosigkeit der Juden hin, im christlichen Umfeld Fuß zu fassen. Weder die Methode der Assimilation noch der Vermeidung hilft den jüdischen Personen des Dramas, den Ansprüchen der Mehrheitsgesellschaft zu entkommen oder gerecht zu werden. Nordau bietet keinen Verbesserungsvorschlag innerhalb des Dramas an. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass er die Trennung beider Gesellschaften für unausweichlich hält und seiner Ansicht nach nur der Zionismus mit dem Ziel eines eigenen Staates den Druck auf die Juden nehmen wird.
Wiebke Krohn
Literatur Mark H. Gelber, La „Satisfaktionsfähigkeit“ juive dans „Das neue Ghetto“ de Herzl et „Doktor Kohn“ de Nordau. Une étude sur la réception, in: Delphine Bechtel, Dominique Bourel, Jacques le Rider (Hrsg.), Max Nordau (1849–1923). Critique de la dégénerance, médiateur franco-allemand, père fondateur du sionisme, Paris 1996, S. 201–226.
Dollarmiljonen (Film, 1926) → Schwedische Kinoproduktionen
Donauwellen (Komödie von Fritz Kortner, 1949) Fritz Kortners Komödie „Donauwellen“ (Uraufführung 15. Februar 1949 in München) handelt von Alfred Duffek, einem Friseur und Gewinner aller Systeme, der in Wien einen Friseursalon „arisiert“ hatte und in der dargestellten Gegenwart in den letzten Tages des Krieges und den darauffolgenden Wochen Angst hat, den florierenden Laden wieder an den Sohn der Vorbesitzer, Sigi Spitz, zurückgeben zu müssen. Dieser
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Donauwellen (Komödie von Fritz Kortner, 1949)
Sohn, der als Kind sogar einige Nächte halbherzig von Duffek versteckt worden war, hat zur Überraschung des Friseurmeisters die Shoah überlebt und stellt somit für dessen Existenz eine Bedrohung dar, die er sich in Gesprächen mit Angestellten, Kunden, seiner Tochter Grete und Vertretern der Alliierten in Wien in wiederkehrenden Szenarien ausmalt. Obwohl die anderen Figuren des Stückes diverse politische Richtungen darstellen, von offenen Nationalsozialisten wie Fabrikant Schorff bis hin zu Josef Kern, einem Angehörigen des kommunistischen Widerstandes, der sich des Weiteren mit Duffeks Tochter verlobt, droht ihm von dieser Seite keine Gefahr für seine Zukunft. Er fürchtet den Verlust seines Geschäfts im Falle einer Unterstellung seines Stadtviertels unter sowjetische Besatzung und stellt sich widerstrebend mit Kern und seinem Gesellen Franz, einem Sozialisten, gut, um Leumundszeugen zu haben. Währenddessen wird die Gefahr für Duffek im Verlaufe des Stückes durch das Erscheinen des amerikanischen Soldaten Bill Russel, der mit Sigi Spitz befreundet ist, fast real, da dieser der Einzige ist, der ihm wirklich mit einer Enteignung droht. Doch der Vorgesetzte Russels entkräftet sofort die Befürchtungen mit dem Hinweis auf die Wahrung von Ruhe und Ordnung, Duffek kommt mit einem autosuggestiv beruhigten, nicht allzu schlechten Gewissen ungeschoren davon und kann seinen Salon bis über das Ende des Stücks hinaus behalten. (Brand) Die satirische Darstellung des Mitläufers Duffek, der es schafft, auf allen politischen Wellen an der Donau mitzureiten, wurde vom Publikum nach der Uraufführung in München wohlwollend aufgenommen, während die Kritik eher verhalten war und Kortners beinahe liebevollen Blick auf den Protagonisten, anstatt einen unversöhnlichen Ton anzuschlagen, hervorhob. (Völker) Doch gerade die komödiantische Gestaltung des unbeholfen lavierenden Duffeks ist entlarvend durch ihr eigentlich hohes Identifikationsangebot an den Zuschauer. So löste das Stück in Wien Unbehagen aus, dort wurde es erst 1987 aufgeführt. Offenbar fühlte sich das deutsche Publikum von diesem Wiener Typen nicht gemeint. In Österreich hingegen wollte man diesen erstaunlich frühen Widerspruch gegen die allgemeine Amnestiestimmung nicht hinnehmen. (Critchfield) Denn trotz aller Derbheit der Darstellung wird in der Komödie durch die Ängste des Protagonisten, seine immer klarer zutage tretende Schuld an der Familie Spitz und seine Versuche, sämtliche Kontakte für sich zu nutzen, deutlich, dass hier keine Ausnahme, sondern der Prototyp des kleinen Mitläufers auf der Bühne steht, der auf die immer gleiche Art und Weise seine Haut rettet. Damit ist Duffek ein Symbol der Kontinuitäten in den Jahren vor und nach 1945, ein Affront gegen die Auffassung des Nachkriegs-Österreichs, es habe bei Kriegsende eine „Stunde Null“ gegeben. Ferner steht die stereotype wienerische Volkstümlichkeit des Friseurmeisters bei eindeutiger Benennung seiner aktiven Rolle bei der „Arisierung“ des Salons dem bis weit in die Gegenwart in Österreich verbreiteten Bedürfnis nach dem Mythos, das erste Opfer der Nationalsozialisten gewesen zu sein, im Wege.
Wiebke Krohn
Literatur Matthias Brand (Hrsg.), Fritz Kortner, Theaterstücke, Köln 1981. Richard D. Critchfield, From Shakespeare to Frisch: The Provocative Fritz Kortner, Heidelberg 2008. Klaus Völker, Fritz Kortner, Schauspieler und Regisseur, Berlin 1987.
Dorian-Tagebuch (Rumänien, 1938–1944)
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Dorian-Tagebuch (Rumänien, 1938–1944) Emil Dorian wurde 1891 in einer jüdischen Lehrerfamilie in Bukarest geboren. Neben seiner Tätigkeit als Arzt verkehrte er im literarischen Zirkel „Zburătorul“ [Der Fliegende]. Seine erste Gedichtsammlung erschien 1923, danach publizierte er auch Prosawerke. Trotz geringer Resonanz verfasste er bis zu seinem Tod 1956 literarische Schriften und Übersetzungen vor allem aus dem Deutschen. Einige erschienen in jüdischen Publikationen wie „Adam“ und „Infrăţirea“. Seit 1933 gab er fünf Jahre lang die von ihm gegründete Fachzeitschrift „Tribuna medicală“ [Medizinische Tribüne] heraus. Durch den zunehmenden Antisemitismus in der rumänischen Gesellschaft wurde er immer stärker ausgegrenzt. 1937 verlor er seine Stelle bei der staatlichen Sozialversicherung. Er war danach als Arzt und Lehrer für Anatomie an einem jüdischen Gymnasium tätig. In seiner Freizeit arbeitete er an einer Anthologie jüdischer Schriftsteller, sie erschien erst 1996. Er übersetzte viele Texte aus dem Jiddischen, wie etwa die Fabeln des Bukowiner Autors Eliezer Steinbarg (1955). Dorian führte seit 1938 Tagebuch, und es sollte sein wichtigstes Werk werden. Darin verzeichnete er nicht nur persönliche Gedanken und Gefühle. Er war auch ein gut informierter Beobachter der politischen Vorgänge in Rumänien und insbesondere der Angriffe auf das Judentum. Seine Eintragungen betreffen alle Stufen der Ausgliederung der Juden aus der rumänischen Gesellschaft. Empört notiert er, dass infolge des Gesetzes zur Revision der Staatsbürgerschaft von 1938 eine Viertelmillion Juden staatenlos wird. Er verzeichnet 1940, dass in der Ärztekammer von Bukarest sich nur ein Rumäne gegen die Entfernung der jüdischen Kollegen wendet. Besonders eindringlich sind seine Beschreibungen der Plünderungen und Morde während des Bukarester Pogroms im Januar 1941. Nach Rumäniens Eintritt in den Krieg gegen die Sowjetunion hält er minutiös alle Informationen fest, die er über die Massenmorde in Iaşi Ende Juni 1941 erhält. Freunde und Bekannte erfahren trotz der Pressezensur von den Tausenden Juden, die in zwei Zügen während der mehrtägigen Reise zu einem Lager erstickten und verdursteten. In Dorians Eintragungen wird deutlich, welche Informationen von dem Massensterben der in das rumänische Besatzungsgebiet Transnistrien deportierten Juden nach Bukarest gelangten. Anfang August 1942 liest er im „Bukarester Tageblatt“ die Ankündigung, dass alle Juden aus Rumänien bis 1943 vertrieben werden sollen. Bald darauf werden Freunde von ihm verhaftet, um aus Bukarest deportiert zu werden. Er hebt hervor, dass einige Rumänen sich für den Regisseur des jüdischen Theaters einsetzten. Voller Hoffnung notiert Dorian eine Rede von Churchill, in der dieser Politikern, die Juden verfolgen, mit Sanktionen drohte. Mitte Oktober 1942 distanzierte sich die rumänische Regierung vom Plan des Reichssicherheitshauptamtes, nach dem die Juden Rumäniens in das Vernichtungslager Bełźec deportiert werden sollten. Als jüdische Waisenkinder aus Transnistrien repatriiert werden, nimmt die Familie Dorian im April 1944 vorübergehend ein Mädchen auf. Er stellt ihre Unterernährung und panische Angst vor allen, die Rumänisch sprechen, fest. Dorian verkehrte in den Kriegsjahren mit Juden, die linke Sympathien hatten. Voller Erwartung verzeichnet er den Vormarsch der sowjetischen Truppen und begrüßt begeistert die Verhaftung des Marschalls Ion Antonescu. Dorian arbeitet wieder als Arzt und gründet eine Gewerkschaft der Ärzte.
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Dreyfus (Film von Richard Oswald, 1930)
Der zweite Band dokumentiert das Leben rumänischer Juden in den Jahren 1945 bis 1948 und der dritte die Zeit bis 1956. In diesen Bänden kommt Antisemitismus nur selten zur Sprache, denn er trat nicht mehr offen auf. Doch enttäuscht stellte Dorian 1945 fest, dass viele Rumänen sich nicht für die Prozesse gegen die Kriegsverbrecher interessieren, die den Tod vieler Juden zu verantworten hatten. Der zweite Band behandelt die Auseinandersetzungen in der Jüdischen Gemeinde von Bukarest, der dritte gibt Einblick in die Strukturen im rumänischen Sozialismus. Als Arzt lernte Dorian die Alltagsprobleme der Menschen aus vielen Schichten kennen. Er starb 1956 in Bukarest. Die vierzehn Hefte mit seinen Aufzeichnungen wurden erst in den 1980er-Jahren aus Rumänien herausgeschmuggelt und gelangten zu seiner in die USA emigrierten Tochter. Der erste Teil von Dorians Tagebuch, der die Jahre bis 1944 umfasst, erschien in einer englischen Ausgabe, „The Quality of Witness. A Romanian Diary (1937– 1944)“ (Philadelphia, 1982) und im rumänischen Original unter dem Titel „Jurnal din vremuri de prigoană [Tagebuch aus Zeiten der Verfolgung]“, herausgegeben von Marguerite Dorian (Bucureşti, 1996). Der zweite und dritte Band erschienen nur in rumänischer Sprache: „Cărţile au rămas neterminate. Jurnal 1945–1948 [Die Bücher blieben unvollendet]“, Bucureşti 2006; „Cu fir negru de arnici. Jurnal 1949–1956 [Mit einem schwarzen Faden aus Baumwollgarn]“, Bucureşti 2013.
Mariana Hausleitner
Drame au Vel d’Hiv (Film von Maurice Cam, 1949) → Vélodrome d’HiverRazzia im Kinofilm
Dreyfus (Film von Richard Oswald, 1930) Ende des Jahres 1930 fanden in der Weimarer Republik Wahlen statt. Die NSDAP erging sich in antisemitischer Propaganda und verzeichnete großen Zuwachs an Sympathien bei der Wählerschaft. Dieses Klima veranlasste den Regisseur Richard Oswald, die „Dreyfus-Affäre“ von 1898 als Stoff aufzugreifen und einen aufklärerischen Film gegen Antisemitismus als Bekenntnis für die Rechtsstaatlichkeit zu drehen. (Kornberg) Oswald, der bereits in den Jahren 1914 bis 1916 das Thema Antisemitismus verfilmt hatte, war persönlich häufig rassistischen Diffamierungen ausgesetzt. (Pawer) Diesen Erfahrungen entspringt die scharfsinnige Analyse der gängigen Klischees im Film, in dem die Gegner Alfred Dreyfus' Spekulationen und Charakterisierungen über ihn aussprechen. Siegbert Salomon Prawer spricht von einem „Jewish Profile“ in zehn Punkten: Hauptmann Joseph Hubert Henry wirft Dreyfus im Film vor, sich 1. abzukapseln, 2. überaus ehrgeizig zu sein, 3. sehr schnell beruflich erfolgreich gewesen zu sein und 4. aufgrund seiner elsässischen Herkunft keine klare nationalistische Loyalität zu Frankreich zu empfinden, deutschfreundlich, wenn nicht durch seine Familie gar internationalistisch eingestellt zu sein. Major Armand Paty de Clam ergänzt die berufliche Charakterisierung mit dem Hinweis darauf, dass Dreyfus 5. der einzige Jude und damit sicher ein Spion sei. Dafür spreche auch 6. das private Vermögen der Familie unerklärlicher Herkunft. Weitere Verdächtigungen betreffen sein familiäres
Duell mit dem Tod (Film von Paul May, 1949)
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Umfeld. Die Bemühungen Lucy Dreyfus', der Ehefrau des Beschuldigten, dessen Unschuld zu beweisen, verleiten Paty de Clam 7. Dreyfus' Verbundenheit mit seiner Familie als Widerspruch zu einer angemessenen Vaterlandsliebe zu definieren, 8. die kriminalistischen Versuche der Ehefrau und des Bruders des Opfers, Licht in die Affäre zu bringen, als unlautere „Wühlerei“ und damit die Machenschaften der Juden als dubios darzustellen. Aufgefundene Schriftstücke, die durch Handschriftenvergleiche eigentlich entlastend wirken sollen, deutet Paty de Clam als 9. unverfrorene Fälschungen, die ebenfalls den undurchsichtigen Charakter der beteiligten Juden hervorhöben. Schlussendlich kommt noch der eigentliche Spion, Ferdinand Walsin-Esterházy zu Wort und begründet seine Tat mit dem Umstand, dass er im Gegensatz zu anderen keine Kontakte zur Familie Rothschild habe. Damit wird auch noch 10. das Stereotyp der Kontrolle staatlichen Geschehens durch reiche Juden erwähnt. (Prawer) Oswald lässt keinen Zweifel an der Aktualität dieser Klischees und ermöglicht dem Kinopublikum nicht, diese Geschichte als Stoff der Jahrhundertwende abzutun. Spätestens die Aufschrift der Zellentüren im Gefängnis, wo Dreyfus zunächst inhaftiert ist und die das Datum der Reichstagswahlen 1930 abbilden, sind eine überdeutliche Anspielung auf die Aktualität der Problematik. (Kornberger) Zusätzlich zu diesen Bezügen tragen auch die reduzierte Bildsprache des Werks und die distanzierte Haltung Fritz Kortners in der Rolle des Dreyfus zu großer Überzeugungskraft bei. Der Film wurde vom Zentralorgan der NSDAP, dem „Völkischen Beobachter“, wütend attackiert. (Schütze) Goebbels beschuldigte Kortner, seine Talente im Wahlkampf propagandistisch gegen die Nationalsozialisten zu missbrauchen. (Critchfield) Damit hatte er zweifelsohne die Intention Oswalds, Kortners und des ganzen Films erfasst. Dreyfus’ Entgegnung auf den Jubelruf „Lang lebe Dreyfus“ anlässlich seiner Rehabilitierung nach dem Exil lautet im Film „Lang lebe das Vaterland“. Siegbert Salomon Prawer sieht darin zu Recht eine Botschaft an alle, die glaubten, durch die Vertreibung der Juden dem Staat zu dienen, während in der Realität die antisemitischen Kräfte dem Ansehen und der Integrität des Staates schadeten.
Wiebke Krohn
Literatur Richard D. Critchfield, From Shakespeare to Frisch: The Provocative Fritz Kortner, Heidelberg 2008. Silvia Kornberger, Richard Oswalds „Dreyfus“ – ein Film als zeitgenössische Warnung vor Antisemitismus und Faschismus, München 2007. Siegbert Salomon Prawer, Between two worlds. The Jewish Austrian Film, 1910–1933, New York, Oxford 2005. Peter Schütze, Fritz Kortner, Reinbek bei Hamburg 1994.
Duell mit dem Tod (Film von Paul May, 1949) Der Spielfilm „Duell mit dem Tod“ wurde 1949 unter der künstlerischen Oberleitung Georg Wilhelm Pabsts produziert. Regie führte Paul May, der auch gemeinsam mit Pabst das Drehbuch verfasste. Der Film wurde 1950 erstmals aufgeführt. Die Hauptfigur ist der Wiener Physikprofessor Dr. Ernst Romberg (Rolf von Nauckhoff), der
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Duell mit dem Tod (Film von Paul May, 1949)
nach Ende des Zweiten Weltkriegs wegen Mordes und als vermeintlicher SS-Offizier von den Amerikanern vor Gericht gestellt wird. Zunächst läuft die Verhandlung sehr schlecht für Romberg, bis er selbst die Möglichkeit erhält, in einer umfassenden Darstellung die Ereignisse zu erklären. In Rückblenden erzählt Romberg dem Tribunal, wie es zu dem vermeintlichen Mord gekommen war. Romberg, der 1942 Soldat war und als Dozent aus seiner antifaschistischen Haltung keinen Hehl machte, wird denunziert und auf einen Kasernenhof geholt. Vor versammelten Soldaten wird er von einem Oberleutnant erniedrigt. Als sich jedoch ein Tieffliegerangriff ereignet, nützt Romberg die Chance, schlägt den Oberleutnant nieder und flieht. In einer Dienstbaracke entdeckt er die Uniform eines SS-Hauptsturmführers und bemächtigt sich dieser, wodurch ihm schließlich endgültig die Flucht gelingt. Bei dem katholischen Pfarrer Menhardt (Hintz Fabricius) findet der nun Fahnenflüchtige Unterschlupf und holt seine Frau Maria (Annelies Reinhold) nach. Mithilfe gefälschter Dienststempel und der entwendeten Uniform wird aus Romberg ein hoher SS-Offizier, der „im besonderen Auftrag“ reist. Nun schart sich um Romberg, seine Frau und den Priester eine Widerstandsgruppe, die Leute vor der Gestapo rettet und Juden vor dem Abtransport in Sicherheit bringt. Bei einer Befreiungsaktion droht die Gruppe jedoch durch den tschechischen Schneidermeister Franz Lang (Ernst Waldbrunn) enttarnt zu werden, Lang kommt dabei angeblich durch Selbstmord zu Tode. Vor Gericht bekennt sich Romberg nun des Mordes schuldig und führt aus, dass er Lang erschossen hatte, da es Ziel seiner Gruppe war, Menschenleben zu retten. Romberg wird schließlich vom Gericht freigesprochen, da er in Notwehr gegen einen Unrechtsstaat gehandelt habe. Der Film von Pabst und May behandelt 1949 die Frage nach Schuld und Mitschuld, und für Pabst war die Produktion sicherlich auch eine Aufarbeitung seiner Vergangenheit. Trotz antinazistischer Haltung blieb er in NS-Deutschland und produzierte in dieser Zeit weiterhin Filme, was ihm von Kollegen und später von Historikern den Ruf eines Opportunisten einbrachte. Die produzierten Filme mögen keine Propagandawerke gewesen sein, jedoch mussten sie zumindest dem NS-Staat konform gewesen sein. Die Widerstandsgruppe wird im Film als vollkommen unpolitisch gezeigt. Das einzige Ziel war, die Demokratie wiederherzustellen. Widerstand wird als Summe individueller Erfahrungen dargestellt. Die Einbettung in einen katholischen Kontext bedient das österreichische Publikum der Nachkriegszeit und entschuldet zudem in einem gewissen Maße die Haltung der katholischen Kirche in Österreich. „Duell mit dem Tod“ entspricht somit dem Zeitgeist Nachkriegsösterreichs, in dem es galt, die Rolle als erstes Opfer des Nationalsozialismus zu verfestigen.
Christian Pape
Literatur Christian Dewald (Hrsg.), Filmhimmel Österreich, Nr. 57, Wien 2007. Wolfgang Jacobsen (Hrsg.), G.W. Pabst, Berlin 1997. Eric Rentschler (Hrsg.), The Films of G.W. Pabst. An Extraterritorial Cinema, New Brunswick, London 1990.
Ecclesia und Synagoga (Darstellungen des Mittelalters)
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Ecclesia und Synagoga (Darstellungen des Mittelalters) In zwei häufig als Typus und Antitypus auftretenden allegorischen Frauengestalten, Ecclesia und Synagoga, manifestieren sich in der abendländischen Kunst des Mittelalters christliche Überlegenheitsvorstellungen und tief verankerte antijüdische Einstellungsmuster. Am Südportal des Straßburger Münsters (um 1230) steht Ecclesia als stolze Repräsentantin des Christentums mit den Attributen der Macht und des Triumphes: aufrecht, gekrönt, in ihrer Rechten den Kreuzstab, in ihrer Linken den Kelch haltend, mit stolzem Blick. Synagoga, die Verkörperung des Judentums, ist bei aller Vornehmheit mit den Attributen der Niederlage ausgestattet: barhäuptig, mit gesenktem Kopf, blind, gebeugt, in ihrer Rechten die Fahnenlanze (Vexilium) mehrfach gebrochen. Die in Stein gehauene Botschaft: Ecclesia ist von Gott erwählt, Synagoga ist, solange sie Jesus nicht als den Messias und Gottessohn akzeptiert, verworfen. „Glaube“ steht so gegen „Unglaube“, „Treue“ (fides) gegen „Untreue“ (perfidia), „Erkenntnis“ gegen „Blindheit“. Die antijüdische Perspektive in der christlichen Kunst des Mittelalters kann ohne deren theologischen Hintergrund nicht verstanden werden. Hierbei ist auf eine grundlegende Ambivalenz im christlichen Denken hinzuweisen. Einerseits genießt Synagoga erkennbar als „ältere Schwester“ der Ecclesia Respekt. Das Christentum ist aus dem Judentum entstanden. Die jüdischen Wurzeln zu leugnen ist weder historisch noch theologisch möglich. Jesus von Nazareth, Maria, die Apostel waren Juden. Das „Alte Testament“ ist integraler Bestandteil der christlichen Bibel. Andererseits steht das Christentum seit seiner Entstehung in Konkurrenz zum Judentum, dem es seinen traditionellen Rang als Volk Gottes streitig macht. Das Judentum wird zum Volk des „Alten Bundes“. Die Christenheit sieht sich nun exklusiv mit Gott im „Neuen Bunde“. Nach Auffassung des traditionellen christlichen Antijudaismus akzeptieren die Juden Jesus nicht als Messias und Gottessohn, weil sie „blind“ und „verstockt“ sind. Zudem wurde ihnen, die historischen Tatsachen verleugnend, die Schuld am Tode Jesu zugeschrieben („Mörder Christi“). Beide Aspekte der christlichen Theologie (Wertschätzung der Synagoga als von Gott Erwählte, ihre Verdammung als „verblendete Gottesleugnerin“) spiegeln sich in der Entwicklung der bildenden Kunst wider. Wie Synagoga ins Bild gesetzt wird, ist ein Indikator für den Grad der Judenfeindschaft im jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Kontext. Kunsthistorische Analysen belegen, dass im Mittelalter zunehmend eine dezidiert judenfeindliche Sicht der Synagoga in der Kunst dominiert. Insgesamt hat die christliche Kunst in starkem Maße zur Verfestigung und Popularisierung von antijüdischen Vorstellungen beigetragen. Zunächst noch vereinzelt zeigt sich dies seit dem 4. Jahrhundert in der Literatur sowie seit der Mitte des 9. Jahrhunderts zunehmend in der bildenden Kunst. Das allegorische Frauenpaar Ecclesia-Synagoga befindet sich häufig unter Kreuzigungsszenen, also ganz nah am Kern der christlichen Botschaft. Auf einer Elfenbeintafel des Evangeliars des Bischofs von Metz, Adalbero II., (spätes 10. Jahrhundert) z. B. fängt Ecclesia mit ihrem Kelch das Blut Jesu auf, während Synagoga dem Gekreuzigten den Rücken zuwendet. Auf ihren (noch ungebrochenen) Fahnenstab gestützt, blickt sie zurück. Eine Elfenbeintafel aus Unteritalien (11. Jahrhundert) zeigt die Verstoßung der Synagoga. Während Ecclesia von einem Engel herangeführt wird, drängt ein zweiter Engel mit beiden Händen eine
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Ecclesia und Synagoga (Darstellungen des Mittelalters)
gestikulierende, als alte Frau dargestellte Synagoga weg. Der Liber Floridus des Kanonikus Lambert von St. Omer (um 1120) geht einen Schritt weiter: Während Christus Ecclesia krönt, drängt er Synagoga zur Seite. Sie hält ihr zerbrochenes Vexillium in der Linken und bewegt sich auf ein geöffnetes Höllenrad zu. Das Missal von Nyon (vor 1250) zeigt Synagoga als Gottesmörderin. Sie stößt mit verbundenen Augen eine Lanze durch das Opferlamm, die Verkörperung Christi. Am Ende eines langen historischen Abwertungs- und Verteufelungsprozesses der Synagoga richtet Gott sie mit eigener Hand („Lebendes Kreuz“, wie im Kirchenfenster von St. Johannis in Werben an der Elbe, Mitte des 15. Jahrhunderts, und die Initiale A aus dem Codex Monacensis aus dem späten 15. Jahrhundert). Seit Anfang des 12. Jahrhunderts wird die Herabsetzung der Synagoga an exponierter Stelle, in Stein gehauen und für die Ewigkeit gedacht, öffentlich präsentiert – als monumentale Portalplastik französischer Kathedralen und deutscher Dome. Zu nennen sind hier, neben dem Straßburger Kunstwerk, Ecclesia und Synagoga am Portal von Notre Dame in Paris (um 1220), an der Südfassade der Kathedrale zu Reims (ca. 1220–1235), an der Nordseite der Kathedrale von Chartres (um 1220), am Fürstenportal des Bamberger Doms (um 1230), an der Elisabethkirche in Marburg (um 1240), in der Nordvorhalle des Magdeburger Doms (um 1250), an der Liebfrauenkirche in Trier (um 1250), an der Südseite von St. Seurin in Bordeaux (ca. 1270), in der Eingangshalle des Münsters in Freiburg im Breisgau (ca. 1290–1295), am Südportal des Wormser Doms (1290–1300), am Portal von Saint-Maurice in Vienne/Isere (um 1400) und von St. Martin in Landshut (Mitte des 15. Jahrhunderts). Die öffentliche Herabwürdigung der Synagoga setzt sich im Innern der christlichen Gotteshäuser nicht selten fort: Das Passionsfenster in der Kathedrale von Chartres (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts) zeigt z. B., wie ein Teufel Synagoga mit einem Pfeil ins Auge schießt. An die Stelle des die Augen bedeckenden Schleiers, der noch gelüftet werden kann, tritt so ewige Blindheit. Eine Chorgestühlwange im Erfurter Dom zeigt Ecclesia im Kampf gegen eine Synagoga, die mit Judenhut auf einer Sau reitet (um 1400–1410). Mit dem Beginn der Reformation und den hiermit verbundenen konfessionellen und politischen Konflikten tritt das Ecclesia-Synagoga-Motiv in der Kunst seltener auf. Ein Grund hierfür liegt in der historischen Tatsache, dass im 14. und 15. Jahrhundert viele jüdische Gemeinden in Deutschland durch Mord und Vertreibung ausgelöscht wurden. Aktuelle politische Motive, traditionelle antijüdische Feindbilder zu exponieren, schwanden deshalb. Dennoch wirkten die alten Hassbilder fort und verschwanden keineswegs. Sie rückten – auch durch die Aufklärung und durch den Trend zu Säkularisierung der europäischen Gesellschaften – in Gesellschaft und Kunst in den Hintergrund.
Bernward Dörner
Literatur Herbert Jochum (Hrsg.), Ecclesia und Synagoga. Das Judentum in der christlichen Kunst. Ausstellungskatalog Alte Synagoge Essen, Regionalgeschichtliches Museum Saarbrücken, Ottweil 1993. Alfred Raddatz, Die Entstehung des Motivs „Ecclesia und Synagoge“. Geschichtliche Hintergründe und Deutung, Diss. Humboldt Universität Berlin 1959.
Ecclesia und Synagoga (Darstellungen nach 1945)
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Nina Rowe, The Jew, the Cathedral and the Medieval City: Synagoga and Ecclesia in the Thirteenth Century, Cambridge 2011.
Ecclesia und Synagoga (Darstellungen nach 1945) Das aus dem Frühmittelalter stammende Bildmotiv Ecclesia und Synagoga, das vor allem aufgrund des historistischen Kirchenbaus noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitet war (1910–1912 Gnadenstuhlmosaik in der Sakramentskapelle der Basilika in Maria Laach; 1914–1916 Tympanon des Hauptportals der Heilig-Kreuz-Kirche in Dortmund, 1911–1927 Chorbogen der Herz-Jesu-Kirche in Berlin-Prenzlauer Berg), findet sich auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Judenverfolgung in der Sakralkunst. Diese Tatsache zeigt, dass 1945 zwar eine historische Zäsur darstellt, die jedoch mentalitätsgeschichtlich kaum wirksam war, sodass in der Ikonografie nahezu ungebrochen antijüdische Motive weiter verwendet wurden. Hierzu gehört auch die Darstellung von Juden mit Judenhut, wie etwa auf den 1962–1964 entstandenen Chorfenstern der Pauluskirche in Bochum. Die ungebrochene Verwendung dieser Motive verweist auf ein Beharrungsvermögen, das teilweise hinter die Entwicklungen in Theologie und Kirche zurückfällt. Ob es sich hierbei um eine bewusst antijüdische Haltung der Künstler bzw. ihrer kirchlichen Auftraggeber oder um eine unreflektierte Übernahme des Bildprogramms aus dem reichen Fundus sakraler Kunst handelt, ist aufgrund der bisher fehlenden kritischen Aufarbeitung dieser Werke kaum feststellbar. Als bedeutendes Beispiel dieser Darstellungen ist zunächst der zwischen 1947– 1953 von dem Bildhauer Josef Henselmann (1898–1987) geschaffene Hochaltar im Passauer Dom St. Stephan zu nennen, der auf Vorarbeiten von Joseph Schmuderer (1881–1964) zurückgeht. Hier wird in Anlehnung an die neutestamentliche Apostelgeschichte der Moment der Steinigung des Stephanus festgehalten. Über die biblische Geschichte hinausgehend, hat der Künstler an der unteren rechten Seite (heraldisch links) einen Pharisäer und in der Mitte der Komposition die zwei schwebenden Figuren Ecclesia und Synagoga eingefügt. Durch diese drei Gestalten symbolisiert die Steinigung die Trennung des Christentums vom Judentum. Der sich das Ohr zuhaltende Pharisäer und die sich vom Geschehen abwendende allegorische Figur der Synagoga repräsentieren beide das Judentum, das sich der christlichen Wahrheit verschließt. Auch wenn die Blindheit des Judentums ikonografisch nur durch das Abwenden charakterisiert ist, so steht dieses Kunstwerk doch für eine christliche Substitutionstheologie, da der Stab der Synagoga – wie in den mittelalterlichen Darstellungen auch – zerbrochen ist, während der Stab der Ecclesia mit einer Siegespalme verziert ist. Wenn durch die allegorischen Figuren Ecclesia und Synagoga die Steinigung zu einem Konflikt zwischen Juden und Christen wird, dann lässt sich ferner fragen, ob die Steiniger, die der Künstler als Ausdruck „nackter Gewalt“ und „tückischer List“ gestalten wollte, als Juden zu deuten sind. Juden werden dann – nur wenige Jahre nach der Shoah – als Täter dargestellt, die einen am Boden liegenden Christen töten. Zwei weitere Beispiele: 1950 hat der österreichische Künstler Oswin Amann (1927–2007) die Glasfenster der Namen-Jesu-Kirche in Wien neu gestaltet. Im zentralen Mittelfenster wird Christus als König dargestellt, dem Ecclesia und Synagoga zur
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Ecclesia und Synagoga (Darstellungen nach 1945)
Seite stehen. Ecclesia hält einen Kelch in der einen Hand und weist mit der anderen auf Christus hin. Hinter ihr ist eine Kirche (die Namen-Jesu-Kirche) abgebildet. Auf der anderen Seite steht Synagoga mit zerbrochenem Stab und verbundenen Augen, hinter ihr ein zerfallenes Gebäude, das vermutlich eine Synagoge darstellen soll. Zu den neueren Kunstwerken mit antijüdischen Ecclesia und Synagoga-Darstellungen gehören neben dem 1985 in der Herz-Jesu Kirche in Hostenbach (Saarland) entstandenen Hochaltar-Sgraffito der 1991 von dem Bildhauer Elmar Hillebrand für das Münster St. Vitus in Mönchengladbach geschaffene Ambo, der an den Seiten Figuren und Szenen aus dem Alten und Neuen Testament abbildet. Auf der Buchauflage des Ambo befindet sich ein Relief mit einer Kreuzigungsdarstellung, die Christus an einem Baumkreuz zeigt, welches aus dem offenen Grab Adams herausgewachsen ist. Unter dem Kreuz stehen Maria und Johannes (Motiv der Kreuzigungsgruppe nach Joh 19, 25–27). Hinter Maria steht dem Kreuz zugewandt mit einem Kelch in der Hand die Ecclesia, ihr gegenüber – hinter Johannes – wendet sich die Synagoga mit verbundenen Augen vom Geschehen ab. Der Stab, den die Frauengestalt in den Händen hält, ist zerbrochen. Angelehnt ist die Darstellung an den in der Schatzkammer des Münsters befindlichen „Gladbacher Tragaltar“ aus dem 12. Jahrhundert, auf dem eine ähnliche Darstellung zu sehen ist. Neben antijüdischen Ecclesia und Synagoga-Darstellungen finden sich nach 1945 aber auch solche, die das erneuerte Verhältnis von Juden und Christen reflektieren und bewusst auf die pejorativen Elemente dieses Bildmotivs zu verzichten suchen. 1995 hat der Glasmaler Paul Weigmann (1923–2009) die Seitenschifffenster der St. Barbara-Kirche in Bonn-Ippendorf erneuert. Das sogenannte Martyria-Fenster, das einen Grundvollzug des christlichen Gemeindelebens, das Glaubenszeugnis, zum Ausdruck zu bringen versucht, bildet in der Mitte zwei weibliche Figuren ab, von denen die eine ein Kreuz in der Hand hält, die andere eine Thorarolle. Die jeweils andere Hand der Figuren verweist auf den sie charakterisierenden Gegenstand. Damit wird zum einen eine mittelalterliche Deutung der beiden Frauengestalten wiederbelebt, die nicht den Konflikt, sondern die Zusammengehörigkeit bzw. Einheit der beiden Figuren zum Ausdruck zu bringen versucht (Concordia-Darstellung). Zum anderen wird im Anschluss an die theologische Erneuerung der christlichen Kirchen gezeigt, dass die Synagoga bzw. das Judentum als Volk der Erwählung eine bleibende Bedeutung für die Ecclesia bzw. das Christentum besitzt. Verstärkt wird diese Interpretation durch zwei weitere weibliche Figuren, die sich über den allegorischen Figuren befinden: die zum Christentum konvertierte und 1942 in Auschwitz ermordete Edith Stein hält ihre jüdische Mutter im Arm. Ein weiteres Beispiel stellt die 1999 von dem Bildhauer und Theologen Franz Hämmerle für die Versöhnungskirche in Dachau geschaffene Statue dar, bei der die Synagoga – in Anlehnung an die Pietà-Motive der christlichen Kunst – Jesus in den Armen hält und stützt, die Ecclesia aber als gesichtslose Stele hinter diesem Geschehen steht.
Markus Thurau
Literatur Franz Böhmisch, Exegetische Wurzeln antijudaistischer Motive in der christlichen Kunst, in: Das Münster 50 (1997), S. 345–358.
Ehe im Schatten (Film von Kurt Maetzig, 1947)
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Herbert Jochum, Ecclesia und Synagoga. Alter und Neuer Bund in der christlichen Kunst, in: Hubert Frankemölle (Hrsg.), Der ungekündigte Bund? Antworten des Neuen Testaments, Freiburg/Breisgau 1998, S. 248–276. Koordinierungsausschuss für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (Hrsg.), Ecclesia und Synagoga in der christlichen Kunst von 850 bis 2000. Sonderheft zur Ausstellung in Wien. Erzbischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Wien, 20. Februar bis 6. April 2002, Wien 2002.
De Eeuwige Jood (Film, 1941) → Der ewige Jude
Ehe im Schatten (Film von Kurt Maetzig, 1947) Kurt Maetzigs „Ehe im Schatten“ ist einer der ersten Filme der 1946 gegründeten ostdeutschen DEFA und einer der wenigen Nachkriegsfilme, die die Auswirkungen der „Nürnberger Rassegesetze“ thematisieren. Er zeigt am Beispiel des Schauspielerpaars Elisabeth und Hans Wieland, aber auch weiterer Personen aus dem Umfeld des Paares, wie sich die Situation von Jahr zu Jahr verschärft. Elisabeth, eine gefeierte Schauspielerin, kann als Jüdin nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ihren Beruf nicht mehr ausüben. Die Ehe mit ihrem Kollegen Hans soll sie vor Verfolgung und Deportation schützen, doch leben beide in ständiger Furcht, die sich durch die Pogrome im November 1938 und den Krieg noch einmal steigert. Elisabeth denkt an Emigration, lässt sich aber von Hans überreden auszuharren. Die Situation eskaliert nach einer Premierenfeier, zu der Elisabeth Hans verbotenerweise begleitet hat. Vor die Alternative gestellt, sich scheiden zu lassen oder an die Front zu müssen, was die Inhaftierung seiner Frau zur Folge hätte, sieht Hans nur einen Ausweg: den gemeinsamen Suizid. „Ehe im Schatten“ basiert auf der wahren Geschichte des Schauspielerpaars Meta und Joachim Gottschalk, die sich 1941 das Leben nahmen, um der Deportation zu entgehen. Als Vorlage für das Drehbuch diente die unveröffentlichte Novelle „Es wird schon nicht so schlimm“ von Hans Schweikart, einem Freund der Gottschalks. Kurt Maetzig hat diesen Stoff auch aus persönlichen Gründen aufgegriffen. Er entstammt einer „Mischehe“ und seine Mutter hatte ebenfalls unter dem Druck des rassistischen Regimes Selbstmord begangen. Die Schlussszene des Films zeigt das Begräbnis und endet mit der Einblendung des Satzes: „Dieser Film ist dem Andenken des Schauspielers Joachim Gottschalk gewidmet, der im Herbst 1941 mit seiner Familie in den Tod getrieben wurde, und mit ihm zugleich denen, die als Opfer fielen.“ „Ehe im Schatten“ startete im Oktober 1947 in allen vier Berliner Sektoren gleichzeitig und wurde kurz darauf auch in den Westzonen gezeigt. Bei der Hamburger Premiere kam es zu einem Eklat. Anwesend waren nämlich auch Veit Harlan, der Regisseur des antisemitischen Films → „Jud Süß“, und seine Ehefrau, die Schauspielerin Kristina Söderbaum. Sie wurden vom Produzenten des Films Walter Koppl, einem KZ-Überlebenden, und dem Kinobesitzer Heinz B. Heisig aufgefordert, den Saal zu verlassen. Harlans schriftliche Beschwerden beantworteten Koppl und Heisig mit einem offenen Brief in der Zeitschrift „Film-Echo“, in dem sie die steile Karriere des Filmemachers und seiner Frau während der NS-Zeit ansprachen.
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Ein Tag (Fernsehfilm von Egon Monk, 1965)
Mit mehr als zehn Millionen Besuchern zählte „Ehe im Schatten“ zu den erfolgreichsten deutschen Nachkriegsfilmen. Kurt Maetzig und sein Kameramann Friedl Behn-Grund wurden mit dem DDR-Nationalpreis II. Klasse ausgezeichnet, im Westen mit einem Bambi. In den zeitgenössischen Filmkritiken überwiegt das Lob für den erschütternden Film, doch fragen manche Kritiker auch, was die Zuschauer wohl mehr bewegt hat, das Ausmaß des rassistischen Terrors oder die konkrete Geschichte, erzählt als filmisches Melodram am Beispiel eines Paares. Gefühl, so der Einwand, ersetze keine politische Analyse. Auch Maetzig selbst sieht manches im Nachhinein kritisch, etwa Elemente des „Ufa-Stils“, von denen man sich in „Ehe im Schatten“ noch nicht befreit habe. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand aber findet der aufklärerische Anspruch des Films und die Tatsache, dass er das Mitläufertum der Mehrheit der Deutschen nicht ausblendet, wieder stärkere Beachtung. Zudem rücken Geschlechterkonstellationen im deutschen Nachkriegsfilm ins Bewusstsein. Tim Gallwitz verweist in seinen Studien darauf, dass in allen Filmen, die das Thema „Mischehen“ aufgreifen, immer die Ehefrau Jüdin ist und damit ein beschützenswertes Opfer darstellt. Der Ehemann hingegen verkörpert den „anständigen“, nichtjüdischen Deutschen, der am Ende die Frau solidarisch in den Tod begleitet. Er stelle ein Identifikationsangebot an das Kinopublikum dar und eine Absage an die Kollektivschuldthese.
Martina Thiele
Literatur Tim Gallwitz, Unterhaltung – Erziehung – Mahnung. Die Darstellung von Antisemitismus und Judenverfolgung im deutschen Nachkriegsfilm 1946 bis 1949, in: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.), „Beseitigung des jüdischen Einflusses … .“ Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main, New York 1999, S. 275–304.
Ein armer Christ schaut auf das Ghetto (Gedicht von Czesław Miłosz, 1943) → Biedny Polacy patrzą na getto Ein deutscher Minister (Roman von Salomon Kohn, 1886) → Jud Süß in der Literatur Ein ganz normaler Fall → Tatort Ein Lebender geht vorbei (Interviewfilm von Claude Lanzmann, 1997) → Shoah Ein Robinson (Film von Arnold Franck, 1940) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Ein Tag (Fernsehfilm von Egon Monk, 1965) Das dokumentarische Fernsehspiel „Ein Tag. Bericht aus einem deutschen Konzentrationslager 1939“ schildert einen Tagesablauf im Januar 1939 in einem fiktiven Konzentrationslager „Aufbaulager Altendorf“ nahe einer deutschen Großstadt. Es ist der erste Film in der Bundesrepublik Deutschland, dessen zentrales Sujet vom System eines KZ handelt. Das Filmgeschehen wenige Wochen nach den Novemberpogromen
Ein Tag (Fernsehfilm von Egon Monk, 1965)
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von 1938 ist bewusst vor Ausbruch des Weltkriegs und vor Beginn der Deportationen der jüdischen Bevölkerung angesiedelt. Es zeigt das von Brutalität, Willkür und Mord sowie pervertiertem militärischen Drill, akribischer Bürokratie und todbringender Lagerstatistik gekennzeichnete Alltagsleben in einem Konzentrationslager, aber auch die Normalität paralleler deutscher Alltagswelten. Unter dem Eindruck des Jerusalemer Eichmann-Prozesses von 1961/62 und des ersten Auschwitz-Prozesses von 1963– 1965 entwickelten Egon Monk (1927–2007), Regisseur des Films, und Claus Hubalek (1926–1995), NDR-Chefdramaturg, zusammen mit dem NDR-Drehbuchautor und ehemaligen Sachsenhausen-Häftling Gunther Reinhold Lys (1907–1990) die Idee für den mehrfach ausgezeichneten, aber in Deutschland selten gezeigten Schwarz-WeißFilm „Ein Tag“. Egon Monk studierte nach Kriegsende Schauspiel, ging als Regieschüler zur DEFA und anschließend als Schauspieler ans Berliner Ensemble, wo er mehrere Jahre als Regieassistent bei Bertolt Brecht arbeitete. 1953 verließ er die DDR und wurde Hörspielregisseur und Autor beim West-Berliner Rundfunk RIAS. Als Regisseur, Dramaturg und Autor wechselte er 1957 zum NDR in Hamburg, wo er die „Hamburger Dramaturgie“ prägte und den KZ-Film „Ein Tag“ realisierte. Einem breiteren Publikum wurde Monk durch seine Fernsehfilme „Bauern, Bonzen, Bomben“ (1973), „Die Geschwister Oppermann“ (1983) und „Die Bertinis“ (1992) bekannt. Gunther R. Lys, tätig als Autor, Lektor, Übersetzer und Fotograf, 1941–1945 politischer Häftling im KZ Sachsenhausen und – selbst nicht jüdisch – in dessen Außenlager Lieberose „Revierschreiber“, hatte im Lager einer Widerstandsgruppe angehört. Nach der Befreiung berichtete er Anfang Juni 1945 in der „Berliner Zeitung“ über den Massenmord an den jüdischen Häftlingen im Zuge der Evakuierung des Außenlagers. Lys war 1963–1965 Zeuge in mehreren KZ-Prozessen, so auch 1963 und 1965 im Auschwitz-Prozess und 1965 im Lieberose-Prozess. Zu dieser Zeit war er auch Drehbuchautor und Cheflektor in Monks Abteilung beim NDR. 1966 wanderte Lys mit seiner zweiten Frau nach Israel aus. Als Monk und Hubalek Ende 1963 Lys aufforderten, einen KZ-Film zu schreiben, verweigerte Lys dies zunächst: „Das geht nicht. Das kann keiner.“ Für das Projekt gewonnen, bedeutete das Verfassen des Drehbuches für Lys, „die volle Lagerrealität abermals innerlich zu erleben“ (Lys). Gedreht wurde das „inszenierte Dokument“ im Januar/Februar 1965 mit Schauspielern, ehemaligen KZ-Häftlingen und anderen Laien in einem aus alten Baracken nachgebauten Lager. Für die authentische Genauigkeit war Lys bei den Dreharbeiten immer zugegen. Zugleich versuchten die Filmemacher, dem Publikum „Brücken“ zu bauen, um Nähe und auch einen Gegenwartsbezug herzustellen, so wurde im Film in insgesamt sieben deutschen Dialekten und teilweise einer Art Jugendsprache gesprochen. In sieben Kapitel mit eingeblendeten Titeln gliedert sich dieser eine Tag im KZ: „Ankunft“, „Appell“, „Alltag“, „Geschäfte, Schwierigkeiten, Sorgen“, „Tod des Anwalts Katz“, „Appell“ und „Unter ordentlichen Menschen“. Neuankömmlinge werden in einen LKW gepfercht in das Lager verschleppt, ein toter Häftling hängt im elektrischen Lagerzaun. Sinnlose Schikanen, Strafen und tödliche Misshandlungen, Selektionen als Aufgabe der Häftlinge, Misstrauen und Verdächtigungen, Bürokratie, Hierarchien, pervertierte Disziplin und Mord als Lageralltag, auch Details einer Normalität
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Ein Tag (Fernsehfilm von Egon Monk, 1965)
der SS-Schergen wie ihrer privaten Konversation oder jugendlichen Blödelei werden dokumentarisch erzählt. Nur kurze und nüchterne szenische Blicke auf individuelle Personen tun sich auf, genau gezeichnet, ohne Klischees, ohne Helden und ohne Identifikationsangebote. Im Mittelpunkt des Tagesgeschehens steht eine riesige Grube, die die Häftlinge auf dem Appellplatz ausheben müssen, um sie bis zum Abend wieder zuzuschütten. Dreimal sind Dokumentaraufnahmen in das Fernsehspiel integriert: Während der frühmorgendlichen Fahrt im LKW zum KZ ein Blick auf Berlin: „Dunkelheit, Lichter, Läden und plötzlich eine erleuchtete Straßenbahn mit Menschen, die [...] herübersehen“ (Thomas Koebner); Hitlers Neujahrsempfang 1939 in der Reichskanzlei und jubelnde Massen; und parallel zu den Schreckensszenen des endlosen Abendappells Originalbilder einer Tanzmeisterschaft erst ohne Ton, bis plötzlich die Tanzmusik anschwillt und überlaut erschallt, dann wieder überblendet von einem brutalen Strafakt im Lager. Die Geräusche der fortgesetzten Misshandlungen während des Abendappells begleiten noch im letzten Kapitel die Bilder des im Restaurant speisenden Lagerführers. Monk gelingt es, mit den Überblendungen und seiner Montagetechnik von Ton und Bild die Gleichzeitigkeit des KZ-Terrors und der Normalität eines scheinbar unberührten deutschen Alltagslebens miteinander zu konfrontieren. Einzelne dramatische Extremsituationen werden genauer ausgeführt, vor allem der angekündigte Mord an dem Judenältesten, dem jüdischen Anwalt Katz, als die Häftlinge im Chor „Und Juda den Tod“ brüllen müssen, Katz’ Mütze geworfen wird, Katz seine Stiefel auszieht und einer Häftlingsgruppe zuwirft, und der junge Schütze im Wachturm sich seinen Sonderurlaub verdient: auf der Flucht erschossen. An dieser Stelle zeigt der Film die 1938/39 bereits erkennbare Bedrohung der Juden als nicht nur schwächstes Glied der Häftlingsgesellschaft ohne jede Chance auf wirkliche Gegenwehr. Sichtbar potenzieren sich ihnen gegenüber „Rechtlosigkeit und Entmenschlichung“ (Karl Prümm), und das rassistische Vorurteil und der Vernichtungswille sind ins Totale gesteigert. „Ein Tag“ wurde erstmals am 6. Mai 1965 in der ARD ausgestrahlt und stieß auf eine breite und positive Presseresonanz. Der Film erhielt Preise, 1978 kaufte ihn die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem an. In der BRD wurde er nur selten im Fernsehen wiederholt: 1967, 1979 und zuletzt 1989.
Monika Schmidt
Literatur Thomas Koebner, Rekonstruktion eines Schreckensortes. Egon Monks Film „Ein Tag“, in: Augen-Blick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft 11 (1995) 3, S. 52–64. Egon Monk, Anmerkungen zu „Ein Tag“. Rede zur Verleihung des DAG-Fernsehpreises in Berlin am 23. April 1966, in: Augen-Blick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft 11 (1995) 3, S. 65–71. Karl Prümm, Dokumentation des Unvorstellbaren. Ein Tag. Bericht aus einem deutschen Konzentrationslager 1939. Hinweis auf einen noch immer verkannten Film, in: Waltraud „Wara“ Wende (Hrsg.), Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis, Stuttgart 2002, S. 123–140. Sonja M. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film. Von „Triumph des Willens“ bis „Inglorious Basterds“, Berlin 2012. Martina Thiele, Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film, Berlin 2007².
Eine Krone für Zion (Satirischer Essay von Karl Kraus, 1898)
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Andreas Weigelt, Gunther Reinhold Lys (1907–1990). Mensch und Werk, in: Gunther R. Lys, Geheimes Leid – Geheimer Kampf. Ein Bericht über das Außenlager Lieberose des KZ Sachsenhausen, Berlin 2007, S. 223–408.
Eine Krone für Zion (Satirischer Essay von Karl Kraus, 1898) Im Alter von 24 Jahren veröffentlichte Karl Kraus (1874–1936) den satirischen Essay „Eine Krone für Zion“ (Wien 1898). Darin wendet er sich gegen die Delegierten des Basler Zionistenkongresses und vor allem gegen Theodor Herzls „Der Judenstaat“ von 1896. (Murauer) Kraus ist der Auffassung, dass die Zionisten durch ihr Streben nach einem eigenen Staat im damaligen Palästina und dem Ziel der Einbürgerung möglichst aller Juden aus der Galuth (der jüdischen Diaspora) den Argumenten der Antisemiten, namentlich der Politiker der Christlichsozialen Partei in Österreich, Vorschub leisteten. Da sowohl die Christlichsozialen als auch die Zionisten eine Abwanderung einer als unterschiedlich vom Rest der Bevölkerung definierten und künftig als eigene Nation zu behandelnden Gruppe befürworteten, stellt Kraus sie auf eine Ebene und bezeichnet Herzl und seine Unterstützer als „jüdische Antisemiten“. Im Gegensatz zu beiden Gruppierungen sieht der Autor die Ursachen der jüdischen Absonderung nicht als äußeren Druck an, sondern als Problem falscher eigener Zugehörigkeitsgefühle. Kraus grenzt sich ausdrücklich von den damals verstärkt aus Galizien nach Wien zugezogenen orthodoxen Gläubigen ab, deren Armut er auf die „politische Ungeschicklichkeit“ zurückführt, sich nicht als Proletarier zu verstehen und Hilfe bei den Sozialisten zu suchen. Kraus negiert eine spezifisch durch rassistische Sanktionen bedingte Form der Armut, die nicht einenteils durch die Arbeiterbewegung kuriert werden könne, anderenteils durch Assimilation an die christlich geprägte Mehrheitsgesellschaft, vor allem in Hinblick auf einen korrekten Sprachgebrauch. Dieser besteht für Kraus darin, die Schriftsprache zu sprechen und keine jiddischen oder religiösen Begriffe zu verwenden oder an das Jiddische erinnernde Vokalfärbungen zuzulassen. Andererseits erscheint ihm die automatische Anpassung während der Diaspora auch bereits zu weit fortgeschritten, um in einem noch zu gestaltenden Staat eine einheitliche Nation bilden zu können. Gleichzeitig bezichtigt er die Zionisten als lebensferne Romantiker, die sich mit den realen wirtschaftlichen Bedingungen in Palästina nicht auseinandersetzen wollten, eine Haltung, die er ebenfalls auf die starke Verwurzelung des Westjudentums in Europa zurückführt. Um die paternalistische Haltung der west- und mitteleuropäischen Zionisten gegenüber dem Ostjudentum zu beschreiben, bedient sich Kraus dann selbst antisemitischer Klischees wie z. B. des „ewigen Juden“. Er beschreibt die Rage der nationalreligiösen Gruppierungen als Zorn gegen die „Ahasveristen“, die ihre Ausgrenzung ohne Widerspruch annähmen. Dennoch entlarvt er durch sein Wortspiel im Titel auch die Zionisten als Anhänger einer seiner Meinung nach anachronistischen Idee. Die zur Unterstützung des Kongresses und für Investitionen in Palästina gedachten Geldsammlungen in der Landeswährung „Krone“ wertet er um als Instrument zur Krönung eines Königs (gemeint ist Herzl), die er in dessen unkritischer Anhängerschaft sieht. Darüber hinaus ist ihm, der zu dieser Zeit noch ein überzeugter Verfechter des Sozialismus war, die Gründung eines den grassierenden Nationalismus in Europa spiegelnden
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Enderung und schmach der bildung Marie von den juden bewissen (Gedicht)
Staates suspekt, ebenso wie das Bekenntnis zu einer aus religiöser Herkunft automatisch resultierenden Identität (Theobald), wie die Anspielung durch den Begriff „Zion“, der die Wohnstatt Gottes in Jerusalem beschreibt, nahelegt.
Wiebke Krohn
Literatur Markus Murauer, Karl Kraus und das Judentum. Von den frühen Stellungnahmen in der Fackel bis zur Darstellung des „Jüdischen“ in den Letzten Tagen der Menschheit, Univ. Dipl.-Arbeit, Salzburg 1999. John Theobald, The Paper Ghetto. Karl Kraus and Anti-Semitism, Frankfurt am Main u. a. 1996.
Elle s’appelait Sarah (Film von Gilles Paquet-Brenner, 2010) → Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm Emelka-Tonwoche → Deutsche Wochenschau En norsk amatørdetektivs eventyr (Kriminalroman von Thorvald Bogsrud, Kristiania/Oslo 1900) → Norwegische Kriminalliteratur
Enderung und schmach der bildung Marie von den juden bewissen (Gedicht, Straßburg um 1515) Das um 1515 in Straßburg bei Matthias Hupfuff gedruckte anonyme Gedicht „Enderung und schmach der bildung Marie von den juden bewissen und zu ewiger gedechtnüß durch Maximilianum den römischen keyser zu malen verschaffet in der löblichen stat kolmer, von dannen sy ouch ewig vertriben syndt“ wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den Germanisten Adam Klassert und Moritz Meier Spanier dem Franziskanermönch Thomas Murner (1475–1537) zugeschrieben. Das Gedicht ist zweigeteilt. Erzählt wird im ersten Teil die Geschichte von fünf Juden, die in der Grafschaft Hennegau ein Marienbild verhöhnten, bespuckten und es zerschnitten, worauf dieses aus den zugefügten Verletzungen zu bluten begann. Ein Schmied, der Augenzeuge des Geschehens wurde und den Juden, der das Bild zerstach, an Ort und Stelle töten wollte, wird von einem Ordensmann davon abgehalten. In der weiteren Erzählung wird der Schmied zu einem frommen Christen stilisiert, der die Ehre der Jungfrau Maria wiederherzustellen hat: So muss er zwei weiteren Geistlichen den Fall schildern, die ihm aber raten, vorsichtig zu sein und abzuwarten, da die Juden versuchen würden, die Sache zu vertuschen. Erst nachdem Maria selbst ihm erschien und ihn aufforderte, er möge die Sache nicht auf sich beruhen lassen, trägt er den Fall der weltlichen Macht, dem Grafen, vor. Der Schmied kämpft daraufhin mit dem die Tat leugnenden Juden und besiegt ihn. Die Niederlage gilt als Schuldeingeständnis (Gottesurteil), woraufhin der überführte Täter kopfüber zwischen zwei Hunden aufgehängt und anschließend verbrannt wird. Diese besonders ehrlose Form der Hinrichtung wird vom Autor durch die Schwere des Falles (Blasphemie und Leugnung der Schuld) legitimiert. Der Kern der Geschichte ist eine populäre mittelalterliche Legende, nach der im frühen 14. Jahrhundert ein getaufter Jude in dem Zisterzienserkloster Cambron ein
Enderung und schmach der bildung Marie von den juden bewissen (Gedicht)
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Marienbild geschändet hatte. Das Marienbild fing in dieser Legende ebenfalls zu bluten an und dem Juden widerfuhr anschließend das gleiche Schicksal. Kaiser Maximilian I. (1459–1519), der 1477 bei einem Besuch Cambrons von dieser Legende erfahren hatte, ließ für die Dominikanerkirche von Colmar einen Bilderzyklus über die Legende anfertigen, nachdem auf seine Anordnung hin die Juden aus der Stadt (1510) vertrieben worden waren. Vertreibung und Bilderzyklus nahm der anonyme Autor zum Anlass des Gedichts. Der Dramatiker und Satiriker Pamphilius Gengenbach (um 1480–1524/25) hat die Geschichte als Meisterlied unter dem Titel „Daz ist ein erschrockenliche history von fünff schnöden juden / wie sie das bild Marie verspottet und durchstochen haben“ weiter popularisiert. Klassert hat den Nachweis erbracht, dass Gengenbach das Gedicht als Vorlage benutzt hat. Der zweite Teil des Gedichts trägt etliche „historische“ Beispiele jüdischer Freveltaten vor, um mit ihnen zu zeigen, dass es typisch für Juden sei, solche blasphemischen Dinge zu tun, die nicht nur den christlichen Glauben verhöhnen, sondern Christen auch körperlichen Schaden zufügen. Neben Hostienfrevel, Brunnenvergiftung und Wucher wird ausführlich der Ritualmord geschildert. Dieser werde vor allem wegen des Blutes begangen, da der Autor in Anlehnung an die biblische Geschichte (Ex 12) davon ausgeht, dass das Blut an Pessach das Zeichen dafür sei, dass die eigene Gruppe gestärkt und die gegnerische vernichtet werde. Juden, so der Autor, seien die Todfeinde der Christen, die grausame Taten (grusam schanden) verübten, wozu auch der Mord an christlichen Kindern gehöre. Wenn der Autor schreibt, dass der Bilderfrevel typisch für Juden sei – „ein iüdsche sach“ – dann ist dies eine bewusste Typisierung der Juden als blasphemisch, da im 16. Jahrhundert Bilderfrevel als Synonym für Blasphemie galt. Neuere Studien (Schnitzler) gehen daher davon aus, dass diese und ähnliche Bilderfrevellegenden gegen christlichen Ikonoklasmus vorgingen, indem durch sie christliche Kritiker an der Bilderverehrung als Judaisierende diffamiert werden konnten. Da sich die Schilderung trotz ihrer Brutalität innerhalb eines christlich-theologischen Interpretationsrahmens bewegt, etwa wenn angenommen wird, dass Juden die Wunder als Bekehrungszeichen sehen können oder Maria explizit als Jüdin bezeichnet wird, erscheint das Bedauern des Autors, dass man in der Pestzeit nur einige Tausend Juden verbrannt habe, ungewöhnlich drastisch. Hier fordert der Autor mehr Entschlossenheit, indem er wünscht, dass alle Juden verbrannt würden, um so der „Sache“ ein Ende zu bereiten. Typisch für diese gesteigerte Form des christlichen Antijudaismus ist die Umkehrung der Tatsachen: Der hasserfüllte und gewaltverherrlichende Text eines christlichen Autors behauptet, Juden wären von Hass gegen Christen getrieben und übten vermeintliche Freveltaten gegen diese aus.
Markus Thurau
Literatur Winfried Frey, „keyn volck vff erden nymer dreyt / Also grossen haß im muot / alß der iud zuom christen duot.“ Zu einem antijüdischen Text aus dem frühen 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 7 (1992/93), S. 159–179.
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Endinger Judenspiel
Adam Klassert, Entehrung Mariae durch die Juden. Eine antisemitische Dichtung Thomas Murners mit den Holzschnitten des Straßburger Hupfuffschen Druckes, in: Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Literatur Elsaß-Lothringens 21 (1905), S. 78–155. Moritz Meier Spanier, Thomas Murners Beziehungen zum Judentum, in: Elsaß-Lothringisches Jahrbuch 11 (1932), S. 89–108. Norbert Schnitzler, Der Vorwurf des „Judaisierens“ in den Bilderkontroversen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Peter Blickle u. a. (Hrsg.), Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte (Historische Zeitschrift. Beihefte 33), München 2002, S. 333–358.
Endinger Judenspiel Das „Endinger Judenspiel“ berichtet in Form eines Dramas über einen angeblichen jüdischen Ritualmord und seine Aufdeckung. 1462 sollen die Juden im badischen Endingen eine vierköpfige christliche Bettlerfamilie ins Haus des Rabbiners Elias gelockt und dort ermordet haben. Die Schreie der Opfer hätten die Juden durch lautes Beten übertönt. Der Nachbar Jacob Metzger zeigte dem Bürgermeister an, dass er verdächtige Geräusche aus dem Judenhaus gehört habe. Dem wurde aber zunächst nicht nachgegangen. Als um Ostern 1470 das Beinhaus der Peterskirche einstürzte, wurden die Leichen der Bettlerfamilie entdeckt. Sie seien kaum verwest gewesen, wiesen zahlreiche Schnitt- und Stichwunden auf, und die Köpfe fehlten. Der herbeigerufene Pfarrherr ging davon aus, dass es sich um Hingerichtete handele. Doch als er achtlos mit dem Fuß an die Leichen stieß, sei er an allen Gliedern lahm geworden. Als man dem Bürgermeister diese wundersame Begebenheit berichtete, erinnerte er sich an die Anzeige Metzgers. Die Juden Elias, Eberlin und Merckhlin wurden verhaftet, verhört und nach einem eilig anberaumten Prozess hingerichtet. Die übrigen Juden wurden aus Endingen vertrieben. Hier endet die Handlung des Dramas, nicht aber die Geschichte des „Ritualmordfalls“. Die Geständnisse Elias’, Eberlins und Merckhlins zogen weitere Verhaftungen, Prozesse und Hinrichtungen in Pforzheim nach sich. Der Endinger Fall entwickelte eine Eigendynamik, vergleichbar mit den Hexenprozessen des 16. und 17. Jahrhunderts. Dies wurde im Mai 1470 von Kaiser Friedrich III. unterbunden, der ein weiteres Vorgehen gegen die Badener Juden untersagte. In der lokalen Erinnerungskultur blieben die Ereignisse von 1462 und 1470 aber noch lange präsent. Bis ins 18. Jahrhundert sollen die Einwohner Endingens den „Ritualmordfall“ jedes Jahr zu Ostern als Volksschauspiel nachgestellt haben. Im Copialbuch der Stadt Freiburg ist ein Verhörprotokoll zum Endinger „Ritualmordfall“ überliefert, das allerdings frühestens 30 Jahre nach den Ereignissen niedergeschrieben wurde. Es bestätigt, dass drei Endinger Juden wegen des rituell motivierten Mordes an einer christlichen Bettlerfamilie verhört, verurteilt und hingerichtet wurden. Von Jacob Metzger und dem Pfarrherrn ist in dieser Quelle nicht die Rede. Auch die hochkarätige Zusammensetzung des Gerichts dürfte eine nachträgliche Erfindung des „Endinger Judenspiels“ sein. Die Authentizität des Judenspiels selbst muss als fragwürdig gelten. Es ist in keiner zeitgenössischen Quelle überliefert. Die ältesten Erwähnungen sind in einer Tagebuchaufzeichnung des Freiburger Studenten Thomas Mallinger von 1616 und in einer Predigt des Franziskaners Albuin Wahl aus
Endinger Judenspiel
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dem Jahre 1754 zu finden. Sieben Handschriften aus dem 19. Jahrhundert enthalten den Text des Judenspiels. Mit Ausnahme einer Handschrift, die sich im Freiburger Stadtarchiv befindet, sind auch die neuzeitlichen Quellen heute nicht mehr im Original greifbar. Historiker sind daher auf die Quellenedition des Münchener Rechtshistorikers Karl von Amira aus dem Jahre 1883 angewiesen, die auf den Handschriften beruht. Amira äußerte zwar Zweifel am mittelalterlichen Ursprung des Judenspiels, ging aber noch davon aus, dass den neuzeitlichen Schreibern eine verschollene Originalquelle vorlag. Auch das muss mittlerweile aufgrund sprachlicher Anachronismen als fragwürdig gelten. Keinerlei Zweifel bezüglich der Authentizität des Judenspiels hegte hingegen Otto Glagaus Zeitschrift „Der Kulturkämpfer“. Sie veröffentlichte 1882 einen Artikel, in dem der Endinger Fall als nachgewiesener jüdischer Ritualmord dargestellt wurde. Dies entsprach wohl auch der Wahrnehmung der Endinger Bürger. Bis 1834 gab es am angeblichen Tatort eine Bildertafel mit der Inschrift: „Die Mordtat ist in diesem Hause von den Juden vollbracht, anno 1462.“ Bis 1967 wurden die Gebeine der „Ritualmordopfer“ in einem Glasschrein in der Peterskirche von Endingen ausgestellt. Das „Endinger Judenspiel“ mischt mittelalterliche mit modernen Elementen des Ritualmorddiskurses. Als mittelalterlich kann die Aufdeckung der Tat durch Zeichen und Wunder gelten. Jüngeren Ursprungs ist hingegen das unterstellte Motiv, die Juden hätten sich für die schlechte Behandlung durch die Christen rächen wollen, während der rituelle Blutgebrauch in den Hintergrund tritt. Laut dem deutlich älteren Verhörprotokoll wurden die Juden sehr ausführlich nach der Nutzung des Christenbluts befragt. Verräterisch modern ist die Behauptung, die Juden hätten „ohn alle marter und auch pein“ gestanden. Für einen mittelalterlichen Autor hätte keine Notwendigkeit bestanden, die Anwendung der damals bei Kapitalverbrechen üblichen Folter zu leugnen. Die Formulierung wird zwar auch im Verhörprotokoll benutzt, allerdings in dem Sinne, dass die Angeklagten, der Rechtsordnung entsprechend, die erpressten Geständnisse später ohne Einfluss der Folter wiederholten. Neben dem „Judenspiel“ widmete sich auch ein Volkslied dem Endinger „Ritualmordfall“. Es ist in denselben Handschriften wie das „Judenspiel“ enthalten und stellt die Rolle Jacob Metzgers in den Vordergrund. Er sei von den Juden ausgewuchert und betrogen worden und habe durch die Aufdeckung der Mordtat seine späte Genugtuung erfahren. Das Volkslied stammt auch in der Einschätzung Amiras aus dem 19. Jahrhundert. Eine zuverlässige Datierung des „Endinger Judenspiels“ ist aufgrund der Quellenlage nicht möglich. Sein eigentlicher historischer Kontext scheint aber das 19. Jahrhundert gewesen zu sein. Im Rahmen der Debatten um die Judenemanzipation und des Kulturkampfs lässt sich auf katholischer Seite eine Reaktivierung des Ritualmordvorwurfs beobachten. Dies ging mit der impliziten Botschaft einher, die Juden hätten die Gleichberechtigung eigentlich nicht verdient und sollten sich aus dem Konflikt zwischen säkularem Staat und katholischer Kirche heraushalten. Das „Endinger Judenspiel“ ist geradezu ein klassisches Indiz dafür, dass alte judenfeindliche Mythen wie die Ritualmordlegende nicht über kontinuierliche Tradierung ihren Weg in den modernen Antisemitismus fanden. Vielmehr wurden sie von den Antisemiten im
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The Enemy in Our Midst (Roman von Walter Wood, 1906)
Sinne einer „Erfindung von Tradition“ (Eric Hobsbawm) gezielt wieder aufgegriffen und teilweise modernisiert.
Thomas Gräfe
Literatur Karl von Amira, Das Endinger Judenspiel, Halle 1883. Winfried Frey, Das Endinger Judenspiel, in: Rainer Erb (Hrsg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen die Juden, Berlin 1993, S. 201–221. Ronnie Ro-Chia Hsia, The Myth of Ritual Murder. Jews and Magic in Reformation Germany, New Haven, London 1988. Hillel J. Kieval, Representation and Knowledge in Medieval and Modern Accounts of Jewish Ritual Murder, in: Jewish Social Studies 1 (1994/95), S. 52–72.
The Enemy in Our Midst (Roman von Walter Wood, 1906) Der 1906 in London erschienene Roman „The Enemy in Our Midst. The Story of a Raid on England“ von Walter Wood gehört in das Genre der Invasions- und Spionageromane, die in Großbritannien im ausgehenden viktorianischen Zeitalter entstanden. Diesen Romantypus charakterisierte das Aufklärungsmotiv ihrer Autoren: Sie alle wollten nicht nur unterhalten, sondern hatten eine politische Botschaft. Wood benutzte das Bild des subversiv im Land tätigen Deutschen, unterlegte es mit fremden- und judenfeindlichen Tönen und ergänzte es mit einem Appell gegen die Anwesenheit von „aliens“, Ausländern, im Land und für den Aufbau einer starken Flotte. Zudem forderte er die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht. Der Roman entpuppt sich als Reaktion und Antwort auf den „Aliens Act“ von 1905. Dieses Gesetz war die erste moderne Regelung von Einwanderung und eine Reaktion auf die Immigration osteuropäischer Juden seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Der Verabschiedung des Acts war eine jahrelange Debatte über Einwanderungskontrollen vorausgegangen. Das Thema der Einwanderung behandelt Wood über die Frage ihrer negativen Folgen für die Nation: Alle, die ihr von innen heraus schaden, ob es nun die Massen armer „aliens“ im East End Londons sind oder aber eine Handvoll deutscher Drahtzieher im Land, sind aufgrund der weitestgehend offenen Grenzen nach Großbritannien gelangt. „The Enemy in Our Midst“ ist die Geschichte einer deutschen Invasion, die durch die Zusammenarbeit von „aliens“ und Deutschen in England praktisch unterstützt wird. Faktisch waren Deutsche in England auch Ausländer („aliens“), allerdings ist Wood daran gelegen, beide Typen zu besetzen, also sowohl die vornehmlich im Londoner East End lebenden jüdischen Einwohner als auch deutsche Staatsbürger. Er rief seinen Lesern die Anwürfe gegen die osteuropäisch-jüdischen Immigranten, wonach jene unreinlich wären und Engländern Arbeit, Lohn und Wohnraum nähmen, die die Debatten seit Beginn der Einwanderung begleitet hatten, ins Gedächtnis, indem er seine positiv besetzte Hauptfigur, den Arbeiter John Steel, sie unmittelbar mit Einsetzen der Handlung aufzählen lässt. Steel wird als „kräftiger britischer Arbeiter“ und Veteran vorgestellt; hiermit sowie mit der Namenswahl („Stahl“) entsteht ein Gegenbild zu jenem des körperlich schwächlichen, armen Einwanderers aus Osteuropa. Als Folge der Konkurrenz durch die Einwanderer ist Steel kaum in der Lage, seine Familie zu ernähren. Hinzu kommt eine weitere Bedrängnis: Sein Vermieter, ein Deutscher,
Entartete Kunst (Ausstellung 1937)
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setzt ihn nach einem Streit auf die Straße. Ein weiterer Handlungsstrang verfolgt dann die Machenschaften zweier Deutscher in London, eines Kapitäns Mahler und seines Mitarbeiters Schussler. Mahler ist die zentrale Figur in einem Netzwerk von Deutschen im Land, die von London aus eine „Alien Army“ aufgebaut hatten. Als nun die deutsche Flotte die britischen Inseln von außen angreift, erheben sich diese Kämpfer. Die Behörden wie das Militär versagen kläglich und das Land stürzt in einen Abgrund von Chaos, Zerstörung und Tod. Wiederholt wird die missliche Lage Englands mit der Präsenz von Ausländern, Fremden des „niedrigsten Typs“, erklärt, die eine Bedrohung für die Nation darstellten. Schuld daran trugen die politisch Verantwortlichen, die jahrzehntelang untätig gewesen waren. Das Blatt wendet sich für Britannien in dem Moment, als es zu einem klassenübergreifenden Zusammenschluss von rechtschaffenen Bürgern kommt: Adelige und Arbeiter kämpfen gemeinsam. Als dann vom Kontinent noch Hilfe durch Frankreich eintrifft, kann auch das deutsche Militär zurückgedrängt und besiegt werden. Der Verschwörer Kapitän Mahler wird gerichtet. Abschließend kommt wieder John Steel als der Archetyp des einfachen, aufrichtigen, christlichen Briten zu Wort. Steel schildert in einem Brief an einen Marineoffizier, dem er im Kampf gegen die „Alien Army“ begegnet war, die Versäumnisse der Regierung, die das Desaster begünstigt hatten, und legt die notwendigen Konsequenzen dar. Noch einmal werden alle wesentlichen Vorwürfe, die in Großbritannien gegen die aus Osteuropa eingewanderten „aliens“ erhoben worden waren, aufgelistet und die Ereignisse der zurückliegenden Wochen mit der Politik allzu offener Häfen und Grenzen erklärt. Mit „The Enemy in Our Midst“ legte Walter Wood ein Manifest für schärfste Grenzkontrollen und gegen Einwanderung vor. Dies verband er mit der Forderung nach der Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht und harscher Kritik an der Regierung. Er vermied es, von „Juden“ zu schreiben, aber seine Anspielungen, wie die wiederholte Bezeichnung des Londoner East End als „Neues Jerusalem“ waren unzweideutig und hatten allesamt die Debatten im Vorfeld des „Aliens Act“ als Bilder und Vorwürfe geprägt. Der Roman wurde zu einem Bestseller und während des Ersten Weltkrieges mehrfach neu aufgelegt.
Susanne Terwey
Literatur Susanne Terwey, Moderner Antisemitismus in Großbritannien, 1899–1919, Würzburg 2006.
Entartete Kunst (Ausstellung 1937) 1933 wurden in mehreren Städten Deutschlands die Bestände des jeweiligen Museums an moderner Kunst angeprangert. Diese lokalen Initiativen gingen meist von Mitgliedern des „Kampfbundes für Deutsche Kultur“ aus. Die Dresdner Ausstellung trug bereits den Titel „Entartete Kunst“ (23. September–18. Oktober 1933). Sie wanderte von Februar 1934 bis März 1937 durch zwölf Städte und machte 1936 auch in München Station (4.–31. März 1936), was gelegentlich zu Verwechslungen mit der zentralen Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937 führte. Unter anderem durch Wolfgang Willrichs Buch „Säuberung des Kunsttempels. Eine kunstpolitische Kampfschrift zur Gesundung deutscher Kunst im Geiste nordi-
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Entartete Kunst (Ausstellung 1937)
scher Art“ (München/Berlin 1937), das er im Juni 1937 las, fühlte sich Goebbels bestärkt, mit einer zentralen Femeausstellung Klarheit über die NS-Kunstpolitik bezüglich der Moderne zu schaffen. Am 30. Juni ermächtigte er den Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste Adolf Ziegler „aufgrund einer ausdrücklichen Vollmacht des Führers“, „die im deutschen Reichs-, Länder- und Kommunalbesitz befindlichen Werke deutscher Verfallskunst seit 1910 auf dem Gebiet der Malerei und Bildhauerei zum Zwecke einer Ausstellung auszuwählen und sicherzustellen“. Eine eilig zusammengestellte Kommission bereiste in elf Tagen 20 Städte, um aus den Museen Gemälde, Plastiken und Papierarbeiten für die Ausstellung zu beschlagnahmen. Zusätzlich wurde aus Stettin und Erfurt je ein Werk angefordert und die Dresdner Wanderausstellung nach München geschafft. Dort standen demnach an die 1.000 Kunstwerke zur Verfügung, von denen schließlich knapp 700 in der Ausstellung gezeigt wurden. Der Aufbau der Ausstellung erfolgte innerhalb von zwei Wochen in den Räumen der Gipsabgusssammlung in den Münchner Hofgartenarkaden. Zur Eröffnung am 19. Juli sprach Adolf Ziegler. Am Tag zuvor hatte Hitler die „Große Deutsche Kunstausstellung“ im neu errichteten „Haus der Deutschen Kunst“ eröffnet. Die Gegenüberstellung von „entarteter“ und „guter deutscher“ Kunst gehörte schon bei den meisten Vorläuferausstellungen zum Konzept. In den engen Räumen der Ausstellung „Entartete Kunst“ wurden die Bilder dicht, zum Teil übereinander gehängt. Neben den Herkunftsmuseen wurden oft auch die Ankaufspreise (zum Teil Inflationspreise) angegeben und rote Zettel mit der Aufschrift „Bezahlt von den Steuergroschen des arbeitenden deutschen Volkes“ darunter geklebt. Wandüberschriften, mehrfach mit antisemitischen Formulierungen, und provokante Zitate trugen zur Diffamierung der Kunstwerke bei. Der Raum, in dem explizit Werke jüdischer Künstler unter der Überschrift „Offenbarung der jüdischen Rassenseele“ gezeigt wurden, war nur klein und enthielt auch einen „Aufmarschplan der Kulturbolschewisten“, die als „Jude“, „Bauhauslehrer“, „Ringarchitekt“ u. ä. klassifiziert wurden. Die Propaganda wurde durch auf Seitenwände geschriebene Zitate von Hitler, Rosenberg oder Goebbels ergänzt. Diese aufwendige Gestaltung konnte aufgrund der Eile nicht in allen Räumen durchgehalten werden. Die sogenannte grafische Abteilung im Erdgeschoss, die allerdings auch Gemälde enthielt, konnte auch erst ein paar Tage nach der Eröffnung fertiggestellt werden. Änderungen innerhalb der Ausstellung fanden vor allem da statt, wo die Polemik des Propagandaministeriums gegen den für Museen und die Akademie der Künste zuständigen Minister Bernhard Rust oder gegen Rosenberg allzu deutlich wurde. Bis zu ihrer Schließung Ende November hatte die Ausstellung nach offiziellen Angaben mehr als zwei Millionen Besucher. Nur ein kleiner Teil davon dürften Freunde der modernen Kunst gewesen sein. Da Ressentiments ihr gegenüber in der Bevölkerung weitverbreitet waren, konnten sich die Organisatoren auf breite Zustimmung zu ihrem Konzept der Denunziation verlassen. Zum Zeitpunkt des Beginns der konkreten Kriegsvorbereitungen beschwor die Ausstellung noch einmal das Gespenst der „jüdisch-bolschewistischen Verschwörung“ gegen die deutsche Kultur herauf und half dadurch, das benötigte Feindbild zu schärfen. Die Hast der Vorbereitungen hatte ein noch unausgegorenes Konzept zur Folge. In der Ausstellung überwog bei Weitem die expressionistische Kunst. Der gegen Ende der Laufzeit erschienene Ausstellungsführer repräsentiert ein gewandeltes Konzept,
Entartete Musik (Ausstellung 1938)
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wie es dann ab 1938 in der Wanderausstellung verwirklicht wurde. Danach wurden die Exponate neun inhaltlichen Gruppen zugeordnet, in denen die sozial- und gesellschaftskritische Kunst als Angriffsziel wichtiger wurde. Sowohl im „Führer“ als auch in den folgenden Ausstellungsstationen wurden die modernen Kunstwerke außerdem solchen von psychisch Kranken aus der Heidelberger Sammlung des Psychiaters Hans Prinzhorn gegenübergestellt. Die vom Institut für Deutsche Kultur- und Wirtschaftspropaganda organisierte Tournee begann in Berlin (26. Februar–8. Mai 1938). Die begleitenden Texte waren nun aus praktischen Gründen auf Transparente und Schilder geschrieben. Dabei fällt eine striktere Betonung antisemitischer und antibolschewistischer Aspekte auf. Immer wieder wurde die maßgebliche Rolle jüdischer Kunsthändler und Kritiker bei der Durchsetzung der Moderne betont. Zu den Werken jüdischer Künstler hieß es: „Gewissenlosigkeit und Frechheit sind die Merkmale der von Juden fabrizierten Aftermachwerke. Gewissenlosigkeit und Frechheit sind die Merkmale der jüdischen Rasse!“ Bis August 1939 durchlief die Ausstellung zehn Stationen in Deutschland und Österreich. Zahlreiche bedeutende Werke wurden in dieser Zeit abgezogen, um sie für den Verkauf ins Ausland zur Verfügung zu haben, sodass schließlich Druckgrafiken und Werke nur regional bekannter Künstler überwogen. Für die Zeit ab 1939 bis zur Auflösung der Ausstellung im November 1941 sind noch fünf Stationen nachgewiesen. Da die Ausstellung aber 1940 dreigeteilt wurde und in mehreren Städten gleichzeitig lief, muss von einer noch größeren Zahl ausgegangen werden.
Andreas Hüneke
Literatur Stephanie Barron (Hrsg.), „Entartete Kunst“. Das Schicksal der Avantgarde im NaziDeutschland, München 1992. Katrin Engelhardt, Die Ausstellung „Entartete Kunst“ in Berlin 1938. Rekonstruktion und Analyse, in: Uwe Fleckner (Hrsg.), Angriff auf die Avantgarde. Kunst und Kunstpolitik im Nationalsozialismus, Berlin 2007. Peter-Klaus Schuster (Hrsg.), Die „Kunststadt“ München 1937. Nationalsozialismus und „Entartete Kunst“, München 19985. Stationen der Moderne. Die bedeutenden Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Berlin 1988. Christoph Zuschlag, „Entartete Kunst“. Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland, Worms 1995.
Entartete Musik (Ausstellung 1938) Am 24. Mai 1938 eröffnete der Weimarer Staatsrat und Intendant Hans Severus Ziegler (1893–1978) mit einer langen Ansprache in Halle 7 des Düsseldorfer Kunstpalasts die Ausstellung „Entartete Musik“. Der glühende Wagnerianer und Freund Adolf Hitlers hatte diese Propagandaschau auf eigene Initiative organisiert, angeregt durch die im Vorjahr in München gezeigte Ausstellung „Entartete Kunst“. Das dort Gesehene versuchte Ziegler auf die Musik zu übertragen. Da er selbst kein Musikfachmann war, ließ er sich vom Musikwissenschaftler Otto zur Nedden und dem Weimarer Generalmusikdirektor Paul Sixt beraten. Ziegler bezog außerdem Gedanken des befreundeten
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Entartete Musik (Ausstellung 1938)
Dirigenten und Musikwissenschaftlers Ernst Nobbe mit ein sowie eine Ausstellung, die 1936 in Weimar an die 75-jährige Geschichte des Allgemeinen Deutschen Musikvereins erinnert hatte. Im Oktober 1937 hatte Reichsleiter Alfred Rosenberg erstmals von Zieglers Ausstellungsplänen erfahren. Er schaltete daraufhin das in Berlin ansässige Institut für Deutsche Kultur- und Wirtschaftspropaganda ein, das schon die Ausstellung „Entartete Kunst“ betreut hatte. Dieses Institut wandte sich im März 1938 an Friedrich Brand, den Sachbearbeiter für musikpolitische Sonderaufgaben in der Reichsmusikkammer, der in einem Artikel in der „Deutschen Sängerbundes-Zeitung“ eine musikalische Ergänzung zur „Entarteten Kunst“ in Form eines „umfassenden Mißklangmuseums“ gefordert hatte. Einige von Brands Vorschlägen wurden in der Düsseldorfer Propagandaschau realisiert. Ziegler bestätigte später, dass das Amt Rosenberg die Herstellungskosten für seine Ausstellung getragen und auch technische Hilfe geboten habe. Die inhaltliche Konzeption sei allerdings allein von ihm und seinen Weimarer Mitarbeitern geleistet worden. Schon 1930, als in Thüringen die NSDAP an der Landesregierung beteiligt war, hatte sich Ziegler als Fachberater für das Theaterwesen scharf gegen den Jazz gewandt, welcher der „Negerkultur“ zum Sieg verhelfe. Ernst Kreneks 1927 in Leipzig uraufgeführte Oper „Jonny spielt auf“ empörte ihn, war doch die Titelfigur ein schwarzer Jazzmusiker. Im Amtsblatt des Thüringischen Ministeriums für Volksbildung wurde im April 1930 sein Erlass „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“ veröffentlicht. Auch in der Düsseldorfer Ausstellung hob Ziegler Kreneks Oper als Musterbeispiel für „Entartung“ hervor. Auf dem Titelblatt der im Völkischen Verlag Düsseldorf gedruckten Ausstellungsbroschüre prangte ein schwarzer Saxofonspieler, der an die Jonny-Figur erinnerte. Angeblich ohne Rücksprache mit Ziegler hatte der Grafiker Ludwig Tersch dabei die weiße Nelke im Knopfloch des Musikers durch einen Davidstern ersetzt. Die Ausstellung gehörte zu den 1938 erstmals von der Musikabteilung des Propagandaministeriums organisierten Reichsmusiktagen. Als historischer Rückblick hatte sie angeblich keine neuen Verfolgungen auslösen wollen. Zu den von Ziegler diffamierten Künstlern gehörte allerdings auch der damals noch in Berlin lebende Paul Hindemith, der daraufhin Deutschland verließ. Aus Protest gegen die ohne seine Mitwirkung organisierte Ausstellung forderte Peter Raabe, der Präsident der Reichsmusikkammer, schon vor ihrer Eröffnung seinen eigenen Rücktritt. Angesichts weiterer interner Kritik, u. a. vom Frankfurter Staatsrat Friedrich Krebs, wies Goebbels die Presse an, nicht an herausragender Stelle über die Ausstellung zu berichten. Nachdem sie in Düsseldorf vorzeitig geschlossen worden war, reiste sie noch nach Weimar (März 1939) und Wien (Mai 1939), wo sie jeweils mit der Ausstellung „Entartete Kunst“ kombiniert wurde. In Wien sahen 147.000 Besucher die Doppelausstellung. Ergänzend zur Ausstellung hatte Otto zur Nedden in Düsseldorf mehrfach über „Tonale und atonale Musik in ihren geschichtlichen und rassischen Grundlagen“ referiert, was allerdings Fachleute wie Friedrich Blume als dilettantisch kritisierten. Zeitzeugen berichteten außerdem, viele Besucher hätten die zur Abschreckung vorgeführten Musikbeispiele von Igor Strawinsky und Kurt Weill mit großem Interesse gehört. Paul Graener, der Vizepräsident der Reichsmusikkammer, meinte im Oktober 1938
Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede (Martin Walser, 1998)
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bei einer öffentlichen Ansprache, notwendiger als eine Ausstellung über „Entartete Musik“ sei eine Ausstellung „Der entartete Hörer“. Zustimmung zur Düsseldorfer Schau kam dagegen aus dem Umkreis Alfred Rosenbergs. Autoren wie Walter Abendroth, Herbert Gerigk, Friedrich Wilhelm Herzog und Walter Trienes griffen das Thema „Entartete Musik“ in eigenen Publikationen auf. Im März 1939 empfahl Herbert Gerigk in einem Gutachten für das Amt Rosenberg Zieglers Ausstellungsbroschüre für Schulungszwecke. Gerigk gab ab 1940 das berüchtigte „Lexikon der Juden in der Musik“ heraus. Gestützt darauf beschlagnahmte der Sonderstab Musik der Reichsstelle Rosenberg in den besetzten Gebieten das Eigentum jüdischer Musiker wie Wanda Landowska und Darius Milhaud.
Albrecht Dümling
Literatur Albrecht Dümling, Ein wahrer Hexensabbat. Die Ausstellung „Entartete Musik“ im Widerstreit, in: Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.), Übertönte Geschichten. Musikkultur in Weimar, Göttingen 2011, S. 189–206. Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt am Main 1982, S. 278–280.
Entehrung und Schmach des Marienbildnisses durch die Juden (Gedicht, Straßburg um 1515) → Enderung und schmach
Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede (Martin Walser, 1998) Martin Walsers Dankesrede „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“, die er anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche hielt, löste eine lang anhaltende und scharfe Kontroverse über die deutsche Erinnerungskultur und ein „Ende der Schonzeit“ aus, die als Walser-Bubis-Debatte firmierte und in allen überregionalen deutschen Zeitungen von Herbst 1998 bis Frühjahr 1999 geführt wurde. Walser beklagte in seiner Rede die „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“, Auschwitz sei zur omnipräsenten „Moralkeule“ verkommen. Gegen die von ihm wahrgenommene „Ritualisierung“ des öffentlichen Gedenkens plädierte Walser für die Verlagerung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in das individuelle Gewissen und damit einhergehend für „Gewissensfreiheit“. Die vom Fernsehen übertragene Rede erfuhr durch die 1.200 Festgäste, aber auch in der breiten Öffentlichkeit große Zustimmung. Gelobt wurde in zahlreichen Leserbriefen und Schreiben an den Autor vor allem ihre „befreiende Wirkung“: Was man vorher nur hinter vorgehaltener Hand habe äußern dürfen, sei nun öffentlich kommunizierbar geworden. Diese von Walser vorformulierte „Kultur des Wegschauens“ forderte den Widerspruch des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, heraus, der zwei Tage darauf seine Rede zum 60. Jahrestag des 9. November als kritische Replik ankündigte. Walser sei ein „geistiger Brandstifter“, der den bislang latent gehaltenen Wunsch der nichtjüdischen Deutschen nach einem Schlussstrich gesellschaftsfä-
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Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede (Martin Walser, 1998)
hig gemacht habe. Indem Walser sein persönliches Wegschauen propagiere, öffne er den politisch zulässigen Diskursraum für rechtsradikales Gedankengut. Die direkt nach Bubis’ Ankündigung seiner Gegenrede einsetzende mediale Kontroverse, deren ideologische Fronten quer durch die Zeitungsredaktionen verliefen, kreiste zunächst um die Zulässigkeit inkriminierter Begrifflichkeiten: Walsers „Moralkeule“ Auschwitz sei nichts anderes als die „Auschwitzkeule“ der rechtsradikalen Presse; der Autor versuche anspielungsreich und durch subtile Begriffsverschiebungen wie der von „Schuld“ zu „Schande“, Stammtischparolen hoffähig zu machen. Die Verteidiger Walsers wiesen dagegen vor allem Bubis’ Vorwurf des „latenten Antisemitismus“ kategorisch zurück, da er einen Autor treffe, der sich zeitlebens in seinen Texten mit der schuldhaften deutschen Vergangenheit befasst habe; zudem spreche ein Schriftsteller mit einer anderen Sprache als ein Politiker, die Rede lasse sich daher nicht wie ein Pamphlet lesen, sondern sei ein mehrstimmiger, literarischer Text. Zwar wurde am Rande auch darüber diskutiert, inwieweit Walsers Konzept der Innerlichkeit in Bezug auf Auschwitz angemessen sei, im Gegensatz zur Debatte um das Holocaustmahnmal in Berlin jedoch kaum über konkrete Möglichkeiten des Gedenkens. Stattdessen dominierte die in Walsers Rede behauptete „unerbittliche Entgegengesetztheit von Tätern und Opfern“ die Diskussion. Dieser Zug der Debatte wurde insbesondere durch Klaus von Dohnanyi verstärkt, der vehement für Walser eintrat. Der Sohn eines deutschen Widerständlers sprach Bubis ab, als Jude verstehen zu können, worum es Walser und seinem Publikum gegangen sei. Eine revisionistische Note erhielt von Dohnanyis Einlassung durch den Nachsatz, es „müßten sich natürlich auch die jüdischen Bürger in Deutschland fragen, ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 ‚nur‘ die Behinderten, die Homosexuellen und die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären“. Bubis warf daraufhin von Dohnanyi vor, mit dieser „bösartigen“ Frage noch expliziter geworden zu sein als Walser; über beide mutmaßte er, „‚es‘ denkt in ihnen“ antisemitisch. Trotz dieser Eskalation in der Auseinandersetzung zwischen nichtjüdischen und jüdischen Deutschen wurde Walsers Rede in der großen Mehrheit ihrer Besprechungen nicht als antisemitischer Text gewertet. Die Antisemitismusforschung ist jedoch relativ zeitnah zu anderen Ergebnissen gekommen. So erkennt etwa Klaus Holz in der Friedenspreis-Rede ein eingeführtes rhetorisches Muster der Täter-Opfer-Umkehr, indem die in Walsers Rede implizit aufgeworfene Frage nach denjenigen, welche die Deutschen durch die „Vorhaltung unserer Schande“ maßregelten, nicht allen möglichen Antworten offen sei, sondern – gerade im Rahmen der zeitgleich verlaufenden Verhandlungen um eine Zwangsarbeiterentschädigung – auf die Beschuldigung der Opfergruppe hinauslaufe. In eben diesem Sinne verengte Walser den Gehalt seiner Rede bei einem von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ organisierten Treffen mit Bubis, das als Höhepunkt der Walser-Bubis-Debatte angesehen werden kann: Nunmehr erhob er den Vorwurf der Instrumentalisierung von Auschwitz, der „Dauerpräsentation unserer Schande“ und eines „grausamen Erinnerungsdienst[es]“ nicht mehr gegen ungenannte intellektuelle „Meinungssoldaten“ und „die Medien“, sondern gegen die Opfergruppe selbst. Zu den skandalträchtigsten Äußerungen Walsers in diesem Gespräch vom 12.
Die Ermittlung (Drama von Peter Weiss, 1965)
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Dezember 1998 gehörte zweifellos seine Selbstinszenierung als Vorreiter bundesrepublikanischer Aufarbeitung, der dem ehemaligen Lagerhäftling und später als Immobilienkaufmann in den Frankfurter Häuserkampf (Fassbinder-Kontroverse) involvierten Bubis vorwarf, „ich war in diesem Feld beschäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt“. Auch in Bezug auf gesellschaftliches Engagement sprach Walser dem jüdischen Gegenüber jegliche Zuständigkeit ab. Wenn Bubis sich anlässlich von rechtsradikalen Übergriffen in den Medien äußere, sei dies ohne sachliche Rechtfertigung „sofort zurückgebunden an 1933“. Damit wurde der jüdischen Minderheit nahegelegt, sich öffentlich zurückzuhalten, wenn es um nationale Belange geht. Diese Haltung korrespondiert mit der strikten Abgrenzung eines nationalen „Wir“ in der Friedenspreis-Rede und der Walser-Bubis-Debatte, das sich über die Täterschaft des Kollektivs definiert. Jüdische Deutsche und ihre Opfererfahrung werden in diesem Konzept nationaler Identität vom Deutschsein ausgeschlossen.
Matthias N. Lorenz
Literatur Martin Dietzsch u. a. (Hrsg.), Endlich ein normales Volk? Vom rechten Verständnis der Friedenspreis-Rede Martin Walsers. Eine Dokumentation, Duisburg 1999. Klaus Holz, Ist Walsers Rede antisemitisch?, in: Kultursoziologie 8 (1999) 2, S. 189–193. Wulf D. Hund, Auf dem Unsäglichkeitsberg. Martin Walser, Ignatz Bubis und die tausend Briefe, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 44 (1999) 10, S. 1245–1254. Jan-Holger Kirsch, Identität durch Normalität. Der Konflikt um Martin Walsers Friedenspreisrede, in: Leviathan 22 (1999), 3 S. 309–354. Johannes Klotz, Gerd Wiegel (Hrsg.), Geistige Brandstiftung. Die neue Sprache der Berliner Republik, Berlin 2001. Matthias N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser, Stuttgart, Weimar 2005. Frank Schirrmacher (Hrsg.), Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1999.
Erik XIV (Film, 1928) → Schwedische Kinoproduktionen
Die Ermittlung (Drama von Peter Weiss, 1965) Peter Weiss (1916–1982) begann nach bild- und filmkünstlerischen Werken nach 1945 verstärkt mit schriftstellerischen Arbeiten. Auf seine frühen Versuche [„Der Turm“ (1949), „Die Versicherung“ (1952) und „Nacht mit Gästen“ (1963)] gelang ihm mit „Die Verfolgung und Ermordung Jean-Paul Marats“ (1963) der internationale Durchbruch, der auch für „Die Ermittlung“ (1965) eine aufmerksame Weltöffentlichkeit garantierte. An gleich 15 Bühnen in der BRD, DDR und England wurde das „Oratorium in 11 Gesängen“ am 19. Oktober 1965 mit großem internationalen Erfolg gleichzeitig aufgeführt. Das Stück basiert auf den Verhandlungen des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses vom 20. Dezember 1963 bis zur Urteilsverkündigung am 19. und 20. August 1965, die Weiss teilweise besucht hatte; vor allem aber war er bei dem Lokaltermin des Gerichts in Auschwitz im Dezember 1964 anwesend. Das Resultat seines Besuches, der Aufsatz „Meine Ortschaft“, zeigt dann auch schon deutlich die Grundkon-
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Die Ermittlung (Drama von Peter Weiss, 1965)
zeption des gleichzeitig entstehenden Stücks. Unter Benutzung zahlreicher Dokumente und der protokollierten Aussagen von Zeugen und Angeklagten vor Gericht entwirft der Text in 11 „Gesängen“ eindrückliche Szenarien von äußerster, stellenweise verstörender Brutalität und Rassismus. Die Angeklagten leugneten in ihrer Mehrzahl nicht, dass massenhaft getötet wurde, doch bestritten alle jegliche eigene Schuld, oftmals in eklatantem Widerspruch zu den Zeugenaussagen und Indizien. Weiss nutzt in seinem Stück eben diese dramatische Gegenläufigkeit von offensichtlicher Verstrickung und Schuld sowie dreistem Leugnen der eigenen Verantwortlichkeit. Die meisten Angeklagten lassen verdeckt erkennen, dass sie ihre Handlungen nicht bedauerten, sondern auch weiterhin als korrekt und notwendig empfanden. Fast alle sahen sich als Opfer und nicht als Täter. Das Erschrecken, das das Stück im Betrachter auslöst, gründet zu guten Teilen in eben dieser Diskrepanz von Schuld und Rechtfertigung. Dabei erscheinen die Angeklagten äußerlich als unauffällige Mitbürger und nur ausnahmsweise als krankhafte Sadisten. Die offenkundige Nähe von Grausamkeit, antisemitischem Vernichtungswillen und bürgerlicher Ordnung im Nachkriegsdeutschland wirkte auf viele Betrachter zutiefst verstörend; jeder Nachbar konnte sich derartiger Verbrechen schuldig gemacht haben. Unterstützt wird diese Rezeptionssicht durch die detaillierte Darstellung des Leidens der Häftlinge; auch hier wurde erstmals unabweislich dasjenige beschrieben, was in der Öffentlichkeit gerne verdrängt wurde. Die Faktizität der ursprünglichen Zeugenaussagen erfährt dabei im Stück durch Verdichtung und Auswahl eine beträchtliche Steigerung der Wirkung. Trotz der weit reichenden Rezeption und der anerkannt antifaschistischen Tendenz des Stücks wurde schnell Kritik an der Grundaussage geäußert. An keiner Stelle werden die Opfer, die mit einer Ausnahme („Gesang vom Ende der Lili Tofler“) auch namenlos bleiben, als Juden erkannt, während die Angeklagten namentlich genannt werden. Nicht nur jüdische Kritiker sahen darin eine eklatante Verzerrung der historischen Wahrheit und Missachtung der Opfer. Weiss entindividualisiert die Opfer und beraubt sie ihrer jüdischen Identität, um zwei Thesen zu verdeutlichen: Das System der Konzentrationslager ist demnach nur die notwendige Folge und Zuspitzung des Kapitalismus (die sogenannte Dimitroff-Theorie). Außerdem seien die Positionen von Opfer und Täter zufällig, „und wären sie nicht zum Häftling ernannt worden/ hätten auch sie einen Bewacher abgeben können“. Gegen diese von sozialistischen Positionen beeinflusste Abstraktion von den konkreten Umständen wird bis in die Gegenwart immer wieder Einspruch erhoben, auch deshalb, weil Weiss an anderer Stelle im Drama die sowjetischen Kriegsgefangenen als konkrete Opfergruppe identifiziert. Der Grund für dieses Verfahren des Autors dürfte aber neben politischen Rücksichtnahmen in dem schwierigen Verhältnis zu seiner eigenen jüdischen Herkunft und der komplexen Autorenpsychologie liegen. Trotz aller Kritik an diesen Erscheinungen gehört das Stück zum Kernbestand der internationalen Holocaust-Literatur. „Die Ermittlung“ war über viele Jahre Schullektüre und dient noch heute als herausragendes Beispiel für das Dokumentartheater der 1960er-Jahre, auch wenn es von den Bühnen weitgehend verschwunden ist.
Andreas Solbach
Der ewige Jude (NS-Propagandafilm von Fritz Hippler, 1940)
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Literatur Klaus L. Berghahn, „Our Auschwitz“: Peter Weiss’s „The Investigation“ Thirty Years Later, in: Jost Hermand, Marc Silberman (Hrsg.), Rethinking Peter Weiss, New York u. a. 2000, S. 93–118. Rolf D. Krause, Faschismus als Theorie und Erfahrung. „Die Ermittlung“ und ihr Autor Peter Weiss, Frankfurt am Main u. a. 1982. Marita Meyer, Eine Ermittlung. Fragen an Peter Weiss und an die Literatur des Holocaust, St. Ingbert 2000. Christoph Weiß, Die Ermittlung, in: Martin Rector, Christoph Weiß (Hrsg.), Peter Weiss’ Dramen. Neue Interpretationen, Opladen, Wiesbaden 1999, S. 108–154. Scott Windham, Peter Weiss’s „Die Ermittlung“: Dramatic and Legal Representation and the Auschwitz Trial, in: Aukje Kluge, Benn E. Williams (Hrsg.), Re-examining the Holocaust Through Literature, Newcastle 2009, S. 29–60.
Der ewige Jude (NS-Propagandafilm von Fritz Hippler, 1940) Der Kompilationsfilm „Der ewige Jude“ steht in der Tradition der Münchner Ausstellung, die 1937 im Deutschen Museum gezeigt wurde, und benutzt die dort entwickelten Stilelemente der Denunziation bis in Einzelheiten. Der Film „Der ewige Jude“ gehörte zu Goebbels’ ureigensten Obsessionen, er wurde zur Metapher nationalsozialistischen Judenhasses schlechthin. Fritz Hippler, 1909 geboren, mit 17 Jahren NSDAP-Mitglied, ab Januar 1939 im Propagandaministerium zuständig für die → „Deutsche Wochenschau“, dann Abteilungsleiter Film, 1940 von Goebbels zum Ministerialrat ernannt, führte Regie als „Gestalter“ des Films „Der ewige Jude“. 1940 wurde er auf Goebbels’ Vorschlag für seine Leistungen mit einer steuerfreien Dotation Hitlers von 60.000 Reichsmark bedacht. Nach 1945 bemühte er sich, seinen Anteil an der antisemitischen Propagandainszenierung herunterzuspielen. Er gab sich als innerlich unwilliger Auftragnehmer. Hippler war im Juni 1943 laut Goebbels u. a. wegen Alkoholproblemen von seinen Posten im Ministerium abgelöst worden (nach anderer Lesart war er in Ungnade gefallen, weil er den Schriftsteller Erich Kästner protegierte) und tat Dienst in einer Kriegsberichterstatterkompanie. 1945 bis 1948 war er im Internierungslager Neuengamme, dessen Bedingungen er als viel schlechter schildert als die Zustände in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Er blieb unbelehrbarer Nationalsozialist, auch in Diensten verschiedener Firmen als Werbeleiter oder der frühen nordrhein-westfälischen FDP, zuletzt als Inhaber eines Reisebüros in Berchtesgaden, wo er 2002 gestorben ist. In einem Rechtfertigungstraktat stritt Hippler die intellektuelle Verantwortung für den Film ab, der nationalsozialistischen Fachpresse war Hippler seinerzeit mit größerem Werkstolz entgegengetreten: Der „Filmwelt“ hatte er 1940 ein Interview gegeben: „Wir haben uns besonders markante Typen von Getto-Juden herausgesucht und sie so porträtiert, wie sie im Getto herumzulaufen pflegen mit Peies und Vollbart, Kappe und Kaftan. Dann haben wir sie geschoren und rasiert, sie in europäische Anzüge gesteckt und dann wieder in derselben Art aufgenommen, dergestalt, daß dieses Bild aus dem ersten herausblendet – und siehe da, der Getto-Jude war nicht wiederzuerkennen, wenngleich auch die zweite Erscheinungsform nicht gerade besonders anziehend aus-
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sieht. Jeder Beschauer kann sich selbst vorstellen, welches Bild diese Juden abgeben, wenn sie erst einige Jahre in der Umwelt einer europäischen Großstadt zugebracht haben.“ Hippler bezeichnete seine Eindrücke damals als eine einzige „Symphonie des Ekels und des Grauens. Verbrecherische Neigungen, Skrupellosigkeit und Zynismus blicken aus den Physiognomien. Die Wohnungen starren von Schmutz. Das Untermenschentum hat in diesen Gettos sein Dorado.“ Der „Illustrierte Filmkurier“, die maßgebende Fachzeitschrift der NS-Zeit, beschreibt den Film, der zusammen mit den Spielfilmen, → „Die Rothschilds“ und → „Jud Süß“, eine antisemitische Trilogie bildete, mit folgenden Worten: „Der Film beginnt mit einem eindrucksvollen Streifzug durch die jüdischen Ghettos in Polen. Er führt uns hinein in die jüdischen Behausungen, die man nach unseren Begriffen nicht mehr als Wohnungen ansprechen kann. In diesen schmutzstarrenden Räumen lebt und betet ein Volk, das sich seinen Unterhalt nicht durch Arbeit, sondern durch Schachern und Gaunern verdient. Vom kleinen Bengel bis zum Greis stehen sie in den Straßen und handeln und feilschen. Durch klare Trickbilder wird dargestellt, wie das jüdische Rassengemisch in Kleinasien entstand und von da aus die ganze Welt überschwemmte. Eine verblüffende Parallele dazu sehen wir in den Wanderwegen der Ratten, die die Schmarotzer und Giftträger unter den Tieren, wie es die Juden unter den Menschen sind. Der Jude hat sich in seinem Äußeren stets an seine Gastvölker anzupassen verstanden. Nebeneinanderstellungen der gleichen Judentypen, zuerst als Ostjude mit Kaftan, Bart und Peies, und dann als glattrasierter westeuropäischer Jude, beweisen schlagend, mit welchen Mitteln er die arischen Völker getäuscht hat.“ Hitler war, wie die Tagebucheintragungen Joseph Goebbels’ zeigen, persönlich in die Entstehung des Films involviert und ebenso steht es fest, dass Goebbels den Film mehr als andere Projekte mit eigener Anteilnahme begleitete, dass er mitwirkte, immer wieder zu ändern befahl und eingriff. Auch die Idee ging auf ihn zurück. Die willige Ausführung war freilich Sache Hipplers und anderer, die das Drehbuch schrieben, die Musik komponierten, Ideen beisteuerten und sie in Szene setzten. Am 5. Oktober 1939, die Ghettoisierung der polnischen Juden durch die deutsche Besatzungsmacht hatte gerade begonnen, setzte Goebbels Hippler auseinander, dass in Polen ein „Ghettofilm“ gedreht werden müsse, als Fanal antisemitischer Propaganda. Er zog einen anderen Fachmann hinzu, Oberregierungsrat Eberhard Taubert, im Propagandaministerium zuständig für „Kirchliche Angelegenheiten und Bolschewismus“, außerdem Leiter der „Antisemitischen Aktion“, ehemals „Institut zum Studium der Judenfrage“ und enger Mitarbeiter des Ministers. Goebbels diktierte am 6. Oktober 1939 in sein Tagebuch: „Mit Hippler und Taubert einen Ghettofilm besprochen. Das Material dazu wird jetzt in Polen gedreht werden. Das soll ein Propagandafilm erster Klasse werden. Ich gebe den Grundriß dazu an.“ Hippler reiste unverzüglich mit einem Kamerateam nach Łódź. Die Aufnahmen, die Goebbels am 17. Oktober sah, begeisterten ihn: „Schilderungen, so grausam und brutal in den Einzelheiten, dass einem das Blut in den Adern gerinnt. Man schaudert zurück vor soviel Rohheit. Dieses Judentum muss vernichtet werden.“ Goebbels berichtete Hitler häufig über die Fortschritte des Films, der immer wieder umgearbeitet wurde, bis er im Herbst 1940 den Beifall des Propagandaministers fand.
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Zur Premiere lud die Reichspropagandaleitung der NSDAP am 28. November 1940 in den UfA-Palast am Zoo in Berlin. Es gab zwei Vorstellungen, um 16 Uhr wurde eine kurze Fassung (ohne Schächtszenen), um 18.30 Uhr die vollständige Version gezeigt. Frauen war der Zutritt nur zur 16-Uhr-Vorstellung gestattet. Zu beiden Premierenterminen fand sich Prominenz aus Staat und Partei, Wehrmacht, Kunst und Wissenschaft ein. Die Presse folgte mit hymnischen Besprechungen den Intentionen der amtlichen Propaganda. In der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ war zu lesen: „Der ewige Jude ist kein Spielfilm, sondern ein Dokumentarfilm über das Weltjudentum. Er porträtiert, er berichtet kühl und sachlich, er arbeitet im Stil der Filmreportage, die nur durch das unbestechliche Bild wirken will.“ Ab 29. November war der Film in 66 Kinos zu sehen, aber das Publikum folgte den Appellen, sich die Augen über „das Judentum“ öffnen zu lassen, nur zögernd oder widerwillig. Der Film war kein Kassenerfolg. Die Dramaturgie des geplanten Films wurde schon in den Szenen, die Hippler in Łódź drehen ließ, deutlich, und alle Beteiligten waren sich darin einig, dass es eine inszenierte Denunziation jüdischen Lebens war. Der Zuschauer sollte glauben, die überfüllten jüdischen Quartiere in Łódź seien selbstbestimmter Aufenthalt. Der hämische Kommentar des Films über das Leben auf der Straße als gewollte Daseinsform, die dem unruhigen „jüdischen Charakter“ entspringe, stellte das jüdische Leben in Polen als ununterbrochene und gern gelebte Ghetto-Existenz dar und erwähnte mit keiner Silbe, dass das Stetl vor 1939 etwas anderes war als das Ghetto, das die deutsche Besatzungsmacht ab Herbst 1939 errichtete, später hermetisch gegen die Umwelt abriegelte und damit Lebensumstände für die unfreiwilligen Bewohner kreierte, die denen im Konzentrationslager mindestens ähnlich waren. Eine Schlüsselszene des Films, die in der Propaganda besonders herausgestellt wurde, bilden die Sequenzen über die Schlachtung nach jüdischem Ritus. Angekündigt waren die gegen Ende des Films montierten Passagen (denen die Schlussapotheose mit der Reichstagsrede Hitlers vom 30. Januar 1939 sowie jubelnde „deutsche Volksgenossen“ auf dem Marsch in die nationalsozialistische Zukunft folgten) mit dem Rolltitel: „Einer der aufschlußreichsten Bräuche der jüdischen sogenannten Religion ist das Schächten der Tiere. Die hier folgenden Bilder sind Originalaufnahmen, sie gehören zu den grauenhaftesten, die je eine Kamera erfasst hat. Wir zeigen sie trotzdem, ohne Rücksicht auf geschmackliche Einwände. Denn wichtiger als alle Einwände ist, daß unser Volk die Wahrheit über das Judentum erkennt. Empfindlichen Volksgenossen wird empfohlen, die jetzt folgenden Bilder nicht anzusehen.“ Während zunächst eine Kuh zu sehen ist, dann ein lächelnder bärtiger Mann mit erhobenem Messer erscheint, von der Kamera in Untersicht gezeigt, beginnt der gesprochene Kommentar: „Angeblich gebietet den Juden ihre sogenannte Religion, nur geschächtetes Fleisch zu essen. Sie lassen deshalb die Tiere bei lebendigem Leibe verbluten. Diese Grausamkeit bezeichnen die Juden selbst, zur Täuschung harmloser Nichtjuden, als die humanste Schlachtart.“ Die darauf folgende Inszenierung illustriert das Stereotyp vom tierquälerischen, sadistischen Juden mit Bildern lachender, in bedrohlicher Untersicht aufgenommener jüdischer Akteure im Kontrast zum Todeskampf der Tiere, untermalt von greller Musik und garniert mit Zeitungsartikeln und Textproben „wissenschaftlicher Abhandlungen“, aus denen hervorgeht, dass Juden ih-
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rer Art entsprechend Tierquäler sind, „Arier“ sich hingegen durch die edle Eigenschaft der Tierliebe auszeichnen. Die Schächtszenen spielten auch bei der Werbung für den Film eine erhebliche Rolle. Vermittelt wurde dem Publikum, es habe – starke Nerven vorausgesetzt – die seltene Gelegenheit, einen Blick in den Abgrund jüdischer Bosheit zu tun. In den Annoncen war jeweils angegeben, ob die Version ohne Schächtszenen oder der Film in voller Länge zu sehen war. Die Wirkung dieser Propaganda hält an bis zur Gegenwart, denn schon die Erwähnung des Films setzt entsprechende Assoziationen auch bei denen frei, die den Film nie sahen. Zum Erfolg des Films beim Publikum geben die „Meldungen aus dem Reich“, die Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, einige Hinweise. Der „politische Aufklärungsfilm“ sei aufgrund der Vorankündigungen vom Publikum mit großer Spannung erwartet worden, hieß es dort, und die hohen Erwartungen seien erfüllt worden. Der Film „Der ewige Jude“ habe „aufklärender, überzeugender und einprägsamer gewirkt [...] als viele antijüdische Schriften“. Gerühmt wurden die kartografischen und statistischen Darstellungen über die Ausbreitung des Judentums; der Vergleich mit den Ratten wurde als besonders einleuchtend hervorgehoben. Die eingeschnittenen Spielfilmszenen über die Familie Rothschild wurden von vielen als Realität verstanden, wozu die wissenschaftlich aufgemachten genealogischen Grafiken beitrugen. Die Inszenierung erfolgte durch Kompilation ganz verschiedener Motive, Stereotype, Klischees, die in diskriminierender Absicht kommentiert und in einen durchgehend pejorativen Zusammenhang montiert wurden. Für die Musik des Films war Franz R. Friedl verantwortlich. Der gebürtige Österreicher schrieb für UfaFilme Musik, er gehörte dem nationalsozialistischen „Kampfbund für deutsche Kultur“ an. Ab 1941 war er musikalischer Leiter der Kriegswochenschau. Für die Filmmusik zum „ewigen Juden“ hatte er von Hippler genaue Vorgaben. Nach jüdischen Liedern und sakralen Motiven sollte er „eine möglichst dissonante und persiflierende“ Musik produzieren, die zur Denunziation des Jüdischen diente. Zur Apotheose des „Arischen“ zitierte er klassische Musik, so zweimal Johann Sebastian Bachs Orgeltoccata d-moll. Die Musik war illustrativ und suggestiv, schrill und bedrohlich, wenn sie zu Jüdischem den Hintergrund bildete, und martialisch, heroisch, wenn die „arische“ Gegenwelt zu untermalen war. Perfide eingesetzt sind die Statistiken, deren Behauptungen vermeintliche Tatsachen suggerieren, die der Zuschauer für bare Münze nehmen sollte, da er den Wahrheitsgehalt des dogmatisch Verkündeten nirgendwo verifizieren konnte. Weil es keine Kriminalstatistik gab oder gibt, die Delikte nach der ethnischen, religiösen oder kulturellen Zugehörigkeit oder Herkunft der Täter aufschlüsselt, sind alle Angaben über jüdische Kriminalität frei erfunden. Die Feststellung, der Mädchenhandel sei weltweit zu 98 Prozent in jüdischer Hand, ist absurd und infam, aber auch nicht widerlegbar, weil sie in einem Raum jenseits von Logik und Rationalität angesiedelt und durch kein Referenzsystem zu erfassen ist. Der Film wurde als zu grobschlächtig von vielen abgelehnt, die kurz zuvor den opulent ausgestatteten und künstlerisch aufwendig besetzten Spielfilm „Jud Süß“ gesehen hatten. Wenigstens gaben sie das als Grund an. Der Sicherheitsdienst der SS berichtete, dass einzelne Besucher die Vorstellung vorzeitig verlassen hätten unter Be-
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merkungen wie „wir haben Jud Süß gesehen und haben nun genug von dem jüdischen Dreck“. Häufig wurde geäußert, der Spielfilm habe das Judentum so überzeugend dargestellt, dass es eines unmittelbar anschließenden „Dokumentarfilms“ nicht mehr bedurfte. Auch über Mundpropaganda gegen den Film (insbesondere wegen der Schächtszenen), die als „Nervenbelastung“ apostrophiert war, wurde berichtet. Überzeugten Antisemiten und fanatischen Nationalsozialisten war der Film freilich willkommen: Aus „politisch aktiven Bevölkerungskreisen“ sei gemeldet worden, dass der Film „als außerordentlich eindrucksvolles Dokument sehr dankbar aufgenommen worden ist“. Der Film wurde auch in den besetzten Gebieten gezeigt. Die niederländische Version hieß „De eeuwige Jood“, enthielt ein paar zusätzliche Szenen aus Amsterdam, bestand im Übrigen aber aus einer wortgetreuen Übersetzung des Originals. In Belgien lief „De eeuwige Jood“ im April 1941 in vielen Kinos. Eine Sondervorstellung am 14. April auf Veranlassung von René Lambrichts, dem Chef der rechtsextremen Bewegung „Volksverwering“, im Antwerpener Kino Rex fand vor 1.500 geladenen Gästen statt. Die Rede des Parteiführers und der Film lösten einen Pogrom aus: 200 fanatisierte Anhänger der Volksverwering und des Vlaamsch Nationaal Verband (VNV) randalierten nach der Vorstellung auf der Straße, zertrümmerten Schaufenster jüdischer Geschäfte, demolierten die Einrichtung zweier Synagogen und steckten sie in Brand. Auch im besetzten Frankreich wurde der Film unter dem Titel „Le Péril Juif“ vorgeführt.
Wolfgang Benz
Literatur Yizhak Ahren, Stig Hornshøj-Møller, Christoph B. Melchers, „Der ewige Jude“ oder wie Goebbels hetzte. Untersuchungen zum nationalsozialistischen Propagandafilm, Aachen 1990. Wolfgang Benz, „Der ewige Jude“. Metaphern und Methoden nationalsozialistischer Propaganda, Berlin 2010. Hilmar Hoffmann, „Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit“. Propaganda im NS-Film, Frankfurt am Main 1988. Stig Hornshøj-Møller, „Der ewige Jude“. Quellenkritische Analyse eines antisemitischen Propagandafilms, Göttingen 1995. Hanno Loewy, „Der ewige Jude“. Zur Ikonografie antisemitischer Bildpropaganda im Nationalsozialismus, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder, Band 1: 1900– 1949, Göttingen 2009, S. 542–549.
Der ewige Quell (Film von Fritz Kirchhoff, 1940) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Des ewigen Juden erster Fetzen (Johann Wolfgang Goethe, 1774) „Des ewigen Juden erster Fetzen“ ist das Fragment eines Epos in Knittelversen, an dem Goethe im Jahre 1774 zu arbeiten begann, es bezieht sich auf die Legende vom Juden Ahasver. Die insgesamt 289 Verse zum Eposfragment sind in vier Handschriften überliefert und wurden, da Goethe 1819 erklärte, sich gegen eine Publikation der Fragmente entschlossen zu haben, erst nach seinem Tod veröffentlicht.
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Des ewigen Juden erster Fetzen (Johann Wolfgang Goethe, 1774)
Der christlichen Legende nach, die 1602 unter dem Titel „Volksbuch vom ewig wandernden Juden“ erstmals schriftlich veröffentlicht wurde, handelte es sich bei Ahasver um einen jüdischen Schuster, vor dessen Tür Jesus unter dem Gewicht des Kreuzes auf dem Weg nach Golgatha zusammenbrach. Ahasver verweigerte ihm eine kurze Rast an seiner Haustür und beschimpfte ihn heftig, woraufhin Christus ihm prophezeite, von nun an ewig ruhelos durch die Welt ziehen zu müssen, bis sie sich eines Tages auf Erden wieder begegnen würden. Goethe war diese Legende seit langer Zeit bekannt, so berichtet er in „Dichtung und Wahrheit“ von dem „wunderlichen Einfall, die Geschichte vom ewigen Juden, die sich schon früh durch die Volksbücher bei mir eingedrückt hatte, episch zu behandeln, um an diesem Leitfaden die hervorstehenden Punkte der Religions- und Kirchengeschichte nach Befinden darzustellen“. Doch blieb es bei der Planung eines geschlossenen Werkes, die Umsetzung gelangte tatsächlich nicht über Bruchstücke von Anfang und Ende hinaus. Mögliche Gründe für diesen Umstand führt der Dichter selbst an: „[...] der Anfang, zerstreute Stellen, und der Schluss waren geschrieben; aber mir fehlte die Sammlung, mir fehlte die Zeit, die nötigen Studien zu machen, […] und es blieben die wenigen Blätter um desto eher liegen, als sich eine Epoche in mir entwickelte, die sich schon als ich noch den Werther schrieb, und nachher dessen Wirkung sah, notwendig anspinnen musste.“ Es ist nicht überliefert, ob Goethe sich im Laufe seiner Arbeit am „Ewigen Juden“ eventuell bewusst dafür entschieden hat, sein Werk unvollendet zu belassen, denn Fragmente können auch als eine Art Metapher für das Unvollständige, Unvollkommene, Unerreichte und Unfertige gedeutet werden. So entsteht die Möglichkeit, auch ästhetisch und stilistisch festzuhalten, dass die Geschichte vom ewig umherwandernden Christus eine nicht-endende ist. Goethes Fragment erzählt davon, wie Christus auf die Erde zurückkehrt, schmerzlich den Verfall der christlichen Lehre erlebt und durch eine christusferne Menschheit enttäuscht wird, deren lieblosem, weltlichem Treiben der Sinn seiner Botschaft vollständig verloren ging. Die habgierigen Fürsten und Geistlichen, die das Volk ausbeuten und sich selbst nicht an die von ihnen gepredigten Werte halten, werden bloßgestellt und das ungerechte Verhalten der oberen Stände drastisch angeprangert. So werden die Geistlichen als „Sünder wie andere Leut“ enttarnt, weiterhin heißt es: „Die Fürsten lästern Gott und preisen den anderen Dreck“ und Christus muss erfahren, dass „man für lauter Creuz und Krist / Ihn eben und sein Kreuz vergisst.“ Der Text bricht ab, bevor Christus überhaupt auf Ahasver trifft. Somit beschreibt „Des ewigen Juden erster Fetzen“ ausschließlich Christi Wanderschaft und nicht, wie der Titel vermuten lässt, jene von Ahasver. Auffällig ist, dass im Eposfragment nicht an den Juden Kritik geübt wird, sondern an den Christen. Dies ist insoweit interessant, da Goethe sich zum Judentum im Allgemeinen und zu jüdischen Personen, Gebräuchen, Ereignissen im Besonderen recht häufig kritisch bis ablehnend äußerte. So stammt eine der bedeutungsvollsten Stellungnahmen zur neuen „Judenordnung“, die 1823 für das Fürstentum Weimar erlassen wurde und den Juden fortan freie Ausübung ihrer Religion, den Zutritt zu Gymnasien und zur Universität, die Erlaubnis, Christen zu heiraten und die freie Wahl handwerklicher Berufe gewährte, von Goethe. Dieser habe, so berichtete der Kanzler von Müller, in einem Gespräch am 23. September 1823 „seinen leidenschaftlichen Zorn über unser neues Judengesetz“ zum Ausdruck
Ewiger Wald (Film von Hanns Springer, 1936)
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gebracht. „Er ahnte die schlimmsten und grellsten Folgen davon, behauptete, wenn der Generalsuperintendent Charakter habe, müsse er lieber seine Stelle niederlegen, als eine Jüdin in der Kirche im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit trauen. Alle sittlichen Gefühle in den Familien, die doch durchaus auf den religiösen ruhten, würden durch ein solch skandalöses Gesetz untergraben.“ Goethes Vorbehalte gegen die Neuregelung beruhten wohl vor allem auf Vorurteilen gegenüber dem Judentum, die zwar nicht unbedingt als eindeutig antisemitisch gelten können, aber doch von einem starken Misstrauen gegenüber dem Judentum zeugen. Gegen eine eindeutig judenfeindliche Haltung Goethes spricht dagegen, dass er den Lehrmeinungen des jüdischen Philosophen Spinoza angehangen hat, dass er mit manchen Juden gut bekannt, mit einigen sogar eng befreundet war, und dass er die Qualität jüdischer Schriftsteller nicht anders bewertete als die christlicher Schriftsteller. Auch wenn Goethes Vorbehalte gegen das Judentum gelegentlich nicht frei von religiösen Motiven zu sein scheinen, so ist doch festzuhalten, dass er prinzipiell keines Menschen Wert nach seiner Religionszugehörigkeit bemaß. Das friedliche Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Glaubensgemeinschaften war ihm, nicht anders als Lessing, ein striktes Gebot der Humanität.
Kristin Nieter
Literatur Karina Becker, Der andere Goethe – die literarischen Fragmente im Kontext des Gesamtwerkes, Frankfurt am Main u. a. 2012. Benedikt Jeßing, Bernd Lutz, Inge Wild (Hrsg.), Metzler Goethe Lexikon, Stuttgart, Weimar 1999. Norbert Oellers, Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Judentum, in: Conditio Judaica – Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Erster Teil, Hans Otto Horch und Horst Denkler (Hrsg.), Tübingen 1988, S. 108–130.
Ewiger Wald (Film von Hanns Springer, 1936) „Ewiger Wald“ ist ein von der Nationalsozialistischen Kulturgemeinde (NSKG) in Auftrag gegebener abendfüllender „Kulturfilm“, dessen Ziel es war, radikale, anti-katholische und rassistische Weltanschauung im Sinne von Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ der breiten Masse der deutschen Bevölkerung näherzubringen. Der Film wurde nach fast zweijährigen Dreharbeiten unter der Regie von Hanns Springer am 16. Juni 1936 auf der vierten (und letzten) Reichstagung der NSKG in München uraufgeführt. Er wurde eher verhalten besprochen und fand kein großes Publikum, weshalb ihm auch kein kommerzieller Erfolg beschieden war. Die 1934 unter der Leitung von Alfred Rosenberg ins Leben gerufene NSKG hatte es sich zum Ziel gesetzt, mithilfe ihrer kulturpolitischen Arbeit der durch die künstlerischen Tendenzen der Moderne vermeintlich unterdrückten deutschen Kunst wieder stärkere Geltung zu verschaffen und der deutschen „Volksgemeinschaft“ die wesentlichen Elemente der NS-Ideologie näherzubringen. Dies versuchte sie sowohl durch propagandistische Kampagnen gegen „undeutsche“ Kulturaktivitäten als auch durch Kunstausstellungen, Theateraufführungen und Vortragsveranstaltungen zu erreichen.
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Ewiger Wald (Film von Hanns Springer, 1936)
Der Filmarbeit kam dabei eine besondere Rolle zu, da man hier das größte propagandistische Potenzial zur Verbreitung der eigenen Kultur- und Ideologievorstellungen sah. Das aufwendigste und größte dieser Projekte der NSKG war schließlich die als „Filmdichtung“ verstanden werden wollende Produktion „Ewiger Wald“, die Elemente des historischen Spielfilms und des Kulturfilms zu einer ideologisch unterfütterten filmischen „Symphonie“ zu verbinden suchte. Der Film erzählt die vermeintliche Geschichte der „Deutschen“ von der Jungsteinzeit bis zum Nationalsozialismus und versucht anhand ausgewählter historischer Ereignisse die angebliche Verbindung und symbiotische Beziehung des deutschen Volkes zum Wald herauszustellen. So werden zum Beispiel die „Hermanns-Schlacht“ zum nationalen Kampf der Germanen gegen die waldfremden Römer, die Bauernkriege als Freiheitskampf gegen den waldvernichtenden römisch-katholischen Klerus und die Holzreparationsforderungen des Versailler Vertrags als Zerstörung des Waldes stilisiert. Die Zeit der Weimarer Republik kommentiert der Erzähler des Filmes schließlich mit den Worten: „Verrottet, verkommen, von fremder Rasse durchsetzt. Wie trägst du Volk, wie trägst du Wald die undenkbare Last?“ Konsequenterweise lautet die Aufforderung dann auch: „Schlagt aus, was rassefremd und krank!“, bevor der Film mit dem Bild eines hakenkreuzgeschmückten Maibaums schließt, begleitet von den Worten: „Volk unterm Baum ruft dich und mich. Singt mir das neue Lied der Zeit: Volk steht wie Wald in Ewigkeit!“ Ideologisch aufbauen konnten die Filmemacher hierbei auf bereits im frühen 19. Jahrhundert entstandene Traditionen, in denen der Wald zunächst als deutsches Nationalsymbol und später in Form des „ethnisierten Waldes“ Verwendung fand. Diese weltanschauliche Instrumentalisierung des Waldes gewann schließlich im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik eine neue Qualität, nicht zuletzt durch die rassistische Agitation des 1923 unter der Schirmherrschaft von Paul von Hindenburg gegründeten „Deutscher Wald e.V. – Bund zur Wehr und Weihe des Waldes“, der auch erstmals explizite „historische“ Feinde des „deutschen“ Waldes und Volkes nannte, unter anderem die Juden als „Wüstensprösslinge“ und Frankreich als „welsches Schlächtergesindel“. Dem Film „Ewiger Wald“ blieb der Erfolg jedoch trotz seines Anknüpfens an bekannte Motive verwehrt. Wegen des esoterischen Sprechtextes und seiner künstlerisch überfrachteten Gestaltung galt er bei den Betreibern der Lichtspielhäuser als kommerziell wenig erfolgversprechend und wurde vielerorts gar nicht erst ins Programm aufgenommen. Bereits im Jahr 1937 wurde außerdem die NSKG in die Robert Ley unterstehende „Kraft durch Freude-Gemeinschaft“ überführt. Der Versuch des Aufbaus einer eigenständigen Filmpropaganda Rosenbergs für seine im „Mythus des 20. Jahrhunderts“ beschriebene Weltanschauung war damit gescheitert, und der Film „Ewiger Wald“ blieb sein erster und einziger Versuch der Schaffung eines abendfüllenden „Kulturfilms“.
Sebastian Thoma
Literatur Ulrich Linse, Der Film „Ewiger Wald“ – oder: Die Überwindung der Zeit durch den Raum. Eine filmische Umsetzung von Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“, in: Ulrich Herrmann (Hrsg.), Formative Ästhetik im Nationalsozialismus: Intentionen, Medien und
Faris bila Gawad (Fernsehserie von Muhammad Subhi, Ägypten 2002)
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Praxisformen totalitärer ästhetischer Herrschaft und Beherrschung, Weinheim u. a. 1993, S. 57–75. Johannes Zechner, „Die grünen Wurzeln unseres Volkes“: Zur ideologischen Karriere des „deutschen Waldes“, in: Uwe Puschner, G. Ulrich Großmann (Hrsg.), Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 179–194. Johannes Zechner, „Ewiger Wald und ewiges Volk“: Die Ideologisierung des deutschen Waldes im Nationalsozialismus, Freising 2006.
Der falsche Messias → Hans Folz-Dichtung
Faris bila Gawad (Fernsehserie von Muhammad Subhi, Ägypten 2002) Die 41-teilige Fernsehserie „Reiter ohne Pferd“ (Faris bila Gawad) wurde erstmals ab dem 6. November 2002 vom ägyptischen Privatsender Dream TV2 während des Fastenmonats Ramadan ausgestrahlt. Als Produzent trat neben Dream TV2 auch das saudi-arabische Arab Radio and Television Network auf. Mit Muhammad Subhi führte einer der bekanntesten ägyptischen Medienschaffenden Regie. Zusätzlich übernahm er neben der Hauptrolle noch 13 Nebenrollen. Die Serie war in Ägypten ein großer Erfolg und wurde in 22 weitere arabische Staaten verkauft. Konzipiert als Historiendrama über die britische Kolonialbesatzung Ägyptens im ausgehenden 19. Jahrhundert und die zionistische Einwanderung nach Palästina, dienen vor allem die „Protokolle der Weisen von Zion“ als roter Faden der Serie. Ihre Leitmotive werden durch das Drehbuch aktualisiert und neu kontextualisiert, indem die Protokolle als Hintergrund für die historischen Ereignisse der Zeit dargestellt werden. So seien etwa das Sykes-Picot-Abkommen 1916 und die Balfour-Erklärung 1917 Schritte auf dem Weg zu einer angeblichen „zionistischen Weltherrschaft“. Im Zentrum der Handlung der Serie steht die Lebensgeschichte des durch Subhi verkörperten ägyptischen Nationalhelden Hafiz Naguib, dem kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Ausgabe der Protokolle in die Hände fällt. Während Naguib mit dem Buch den vermeintlichen Schlüssel zum Verständnis der politischen Ereignisse seiner Zeit in den Händen hält, unternehmen die ägyptischen Zionisten alles, um ihre Verschwörung geheim zu halten. Ihr Verschwörungsplan, so referiert die Serie den zentralen Entstehungsmythos des Buches, sei 1897 beim zionistischen Kongress in Basel festgehalten worden und bestehe darin, auf dem Weg zur Weltherrschaft die arabischen Regionen zu unterwerfen. In der Serie folgt ein Katz-und-Maus-Spiel, das die Konventionen des Agentenfilm/Thriller-Genres erfolgreich zu integrieren versteht. So versuchen „die Zionisten“ das Buch durch Mord und Erpressungen an sich zu bringen. Währenddessen gelingt es Hafiz, eine Widerstandsgruppe um sich zu scharen und die Protokolle nach und nach ins Arabische übersetzen zu lassen. Dabei finden immer wieder Originalpassagen des Buches ihren Weg in die Serie, beispielsweise als Naguib in der 18. Folge mit seiner Gruppe den Weg der „zionistischen Schlange“ – wie als Sinnbild im dritten Protokoll beschrieben – von 429 v. Chr. bis in die Gegenwart der Serie verfolgt, wo der Kopf des Reptils über Palästina verharrt. So wird im Verlauf der 41 Folgen deutlich, dass die zionistischen Verschwörer, all dem Ideenreichtum und Idealismus ihrer
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Fastnachtspiele
Gegner zum Trotz, fast allmächtig sind. Sie gebieten nicht nur über gewaltige Geldmengen, sondern kontrollieren in Teilen auch die britische Kolonialmacht. Konsequenterweise verzichtet die Serie auf ein Happy-End. Die Zionisten bringen die Protokolle in ihren Besitz, ermorden große Teile der Widerstandsgruppe und gründen den israelischen Staat. „Reiter ohne Pferd“ gelingt hiermit ein Transfer der „Protokolle“ in die ägyptische Gegenwart. Die Serie vermittelt – eingewoben in eine Liebes- und Spionagegeschichte – einem Millionenpublikum die Leitmotive der „Protokolle“. Ihr großer Erfolg besteht nicht nur in der Umdeutung ägyptischer Geschichte, sondern vor allem in der medialen Aufbereitung des Stoffes selbst. Mit dem strahlenden Helden Naguib ist eine Figur geschaffen, mit der sich die Zuschauer umstandslos identifizieren können. In der dualistischen Darstellung der Serie ist er der strahlende Held, der gegen die anhand antisemitischer Stereotype dargestellten Zionisten kämpft. Gleichzeitig bringt „Reiter ohne Pferd“ die in verschiedenen Vorworten der „Protokolle“ auftauchenden Entstehungs- und Verbreitungsmythen mit ein und synthetisiert diese mit den Leitmotiven des Buches. Folgerichtig ist es daher, dass gleichzeitig zum Ausstrahlungsbeginn 2002 im regierungsnahen Verlagshaus Akhbar al-Yawm unter dem Titel „alMuamara“ (Die Verschwörung) eine Neuausgabe der Protokolle mit einem sich auf die Serie beziehenden Vorwort erschien.
Malte Gebert
Literatur Malte Gebert, Knight without a Horse. Die Indienstnahme eines antisemitischen Klassikers für eine ägyptische Historysoap, in: Gideon Botsch, Christoph Kopke, Lars Rensmann, Julius H. Schoeps (Hrsg.), Politik des Hasses. Antisemitismus und radikale Rechte in Europa, Hildesheim 2010, S. 307–317. Rifka Yadlin, Rider without a Horse on Egyptian TV: The Protocols as Vox Populi, in: Robert Wistrich (Hrsg.), Antisemitism International, Jerusalem 2004, S. 53–60.
Fastnachtspiele Seit dem 14. Jahrhundert bis um 1500 sind weit mehr als 100 Fastnachtspiele überliefert, der Großteil davon aus Nürnberg. Diese Zahl muss nicht einmal literaturgeschichtlich repräsentativ sein, sondern kann gemäß den üblichen Zufällen mittelalterlicher Überlieferungsgeschichte nur die Spitze eines Eisberges darstellen, zumal bei einer Gattung, in der mit besonders hohen Verlusten aufgrund von Ge- und Verbrauch der Überlieferungsträger im Zuge der Aufführungspraxis zu rechnen ist. Jedenfalls zeigen archivalische Nachrichten, dass das mittelalterliche weltliche Schauspiel, zu dem als wichtigster Gattungsvertreter das Fastnachtspiel gehört, im gesamten deutschen Sprachraum weitverbreitet war. Zumindest ist (vor dem Hintergrund der überaus breit dokumentierbaren Passionsspielaufführungen mit antijudaistischem Charakter) damit zu rechnen, dass Juden im deutschen Sprachgebiet in Fastnachtsveranstaltungen weit häufiger Objekte des Spottes abgeben mussten, als dies die bis heute überlieferten Fastnachtspiele nahelegen. Bei den tatsächlich überlieferten mittelalterlichen Fastnachtspielen handelt es sich in der Mehrzahl um eher kurze Stücke mit einer durchschnittlichen Länge von rund
Fastnachtspiele
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200 Reimpaarversen, was einer gewöhnlichen Spieldauer von ungefähr nur einer Viertelstunde entspricht. Aufführungsorte waren Trinkstuben und Wirtshäuser. Die Aufführungszeit ist zunächst auf die Vorfastenzeit beschränkt. Für Nürnberg ist ein Zusammenhang etwa mit dem fastnächtlichen Brauchtum des Schembartlaufs wahrscheinlich. Spielträger waren dementsprechend (entgegen älterer Vorstellungen) nicht nur Handwerker oder speziell Handwerksgesellen, sondern auch (junge) Patrizier. Im Laufe der Fastnachtsfeierlichkeiten zog eine eher kleine Spieltruppe von Haus zu Haus, wo die Bühne und szenische Darstellung mit einfachsten Mitteln improvisiert wurden. Neben dem häufigeren Typus des Reihenspiels, bei welchem die nebeneinander gruppierten Schauspieler ihren Text aufsagten, gab es auch (längere) Handlungsspiele auf der Grundlage der (aus dem geistlichen Spiel stammenden) Simultanbühne. Eine Innovation bedeutete dagegen im 16. Jahrhundert die Bühnenform des Hans Sachs. Die Komik wurde allein schon durch die Besetzung auch der weiblichen Rollen durch Männer erreicht, was beim mittelalterlichen geistlichen Spiel aber nicht durchweg komisch wirken durfte. In vielen Fastnachtspielen herrschte allerdings in erster Linie eine fäkalische und sexuelle Komik. Opfer dieses derben Humors sind aus stadtbürgerlicher Perspektive Außenstehende und Außenseiter wie Bauern und eben auch Juden. Für dementsprechend dezidiert antijüdische Fastnachtspiele ist der Nürnberger Meistersinger Hans Folz berühmt-berüchtigt (→ Hans Fölz-Dichtung). In diesen Stücken machte sich der Autor zum Sprachrohr der innerstädtischen Meinung und der Nürnberger Politik, denn 1499 wurden die Juden aus der Reichsstadt vertrieben. Den Typus des längeren (stadt-) politischen Fastnachtspiels hat Folz freilich nicht erfunden, sondern vermutlich nach dem älteren Nürnberger Muster von „Des Türken Fastnachtspiel“ (wohl Hans Rosenplüt) weiterentwickelt. Antijüdische Politagitation prägt dementsprechend Folzens Fastnachtspiele „Die alt und neu ee“, „Kaiser Constantinus“ und „Der Herzog von Burgund“, mit dem Philipp der Schöne, der Sohn Maximilians I., gemeint ist. Gerade in letzterem Spiel erweist das derbe bühnenwirksame Ausagieren des Motivs der Judensau mit den Tabubrüchen Zoophilie und Verzehr von Fäkalien die aggressive antijüdische Stoßrichtung bei Hans Folz. Hier handelt es sich um eine der weitestgehenden antijüdischen Darstellungen in der mittelalterlichen deutschsprachigen Literatur überhaupt, die Polemik mit einschlägiger Belesenheit paart, was Nürnberger patrizische Kreise in dieser Kombination nicht ungerne sahen. Denn der ursprünglich aus Worms stammende Barbierer und (mit akademischen wie jüdischen Medizinern konkurrierende) handwerkliche Wundarzt Folz (um 1440–1513) brachte es in Nürnberg unter patrizischer Protektion zu Ansehen und Wohlstand, wobei ihm seine nicht unbeträchtliche Bildung, die neben Lateinkenntnissen offenbar auch gewisse Kenntnisse des Hebräischen und des Talmuds umfasste, zustatten kam. So publizierte er als Autor, Buchdrucker und Verleger seine eigenen Werke erfolgreich. Alle drei genannten Folzschen Fastnachtspiele variieren mit jeweils verschiedenen Stoffen das Generalthema der judenfeindlichen Agitation. Das Spiel vom alten und neuen Bund wird von zwei Bauernfiguren als Einschreier eröffnet, die zum Standardpersonal der Gattung gehören, um dann der Polemik gegen den Talmud breiten Raum auf der Bühne zu geben. Als Diskussionsgegner erscheinen zeitgenössische Juden,
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Father-Brown-Erzählungen (Gilbert K. Chesterton, 1909–1935)
aber auch die allegorische Gestalt der karikierten Synagoga, während christlicherseits vor allem die Gestalt des überlegen argumentierenden „Doctors“ das Wort führt. Durch manipulative Talmudrezeption und geschickte Dialogführung (sogar unter Einbeziehung der aktuellen Türkengefahr) wird am Ende der Sieg der christlichen Partei inszeniert. Das Fastnachtspiel mit dem kaiserlichen Protagonisten Konstantin nimmt die → Silvesterlegende als Stoff, wobei die darin enthaltene dialogische jüdischchristliche Disputation einer Dramatisierung Vorschub leistet. Bühnenwirksamer Höhepunkt ist die Erweckung eines schon toten Ochsen (in den Quellen handelt es sich um einen Stier) zum Leben als christliches Wunder, nachdem das Tier (in der Logik des Spiels) zuvor durch den geflüsterten Namen des jüdischen Gottes, der eigentlich ein Teufelsname ist, getötet worden war. Das Spiel klingt im inszenierten mit gattungsgemäß skatologischer Lust gepaarten Gelächter aus. Belustigend soll auch die Karikierung jüdischer Messiashoffnungen im „Herzog von Burgund“ wirken. Hier knüpft der Verfasser an populäre endzeitliche Vorstellungen an, um am Ende eine Orgie sadistischer bis skatologischer Straffantasien über die Juden auszugießen, die dann auch vertrieben werden. Solche aggressiven Auswüchse eines eigentlich heiteren Fastnachtsbrauchtums erweisen Hans Folz als Protagonisten mittelalterlicher antijüdischer Agitation in der Volkssprache.
Klaus Wolf
Literatur Klaus Ridder, Hans-Hugo Steinhoff (Hrsg.), Frühe Nürnberger Fastnachtspiele, Paderborn, München, Wien, Zürich 1998. Regine Schiel, Die giftigen würm das seit ir. Antijudaismus in Fastnachtspielen des Nürnberger Meistersängers Hans Folz (Ende 15. Jahrhundert), in: Arne Domrös, Thomas Bartoldus, Julian Voloj (Hrsg.), Judentum und Antijudaismus in der deutschen Literatur im Mittelalter und an der Wende zur Neuzeit. Ein Studienbuch, Berlin 2002, S. 147–167. Matthias Schönleber, der juden schant wart offenbar. Antijüdische Motive in Schwänken und Fastnachtspielen von Hans Folz, in: Ursula Schulze (Hrsg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen, Tübingen 2002, S. 163–182. Edith Wenzel, Do worden die Judden alle geschant. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen, München 1992.
Father-Brown-Erzählungen (Gilbert K. Chesterton, 1909–1935) Der englische Schriftsteller Gilbert K. Chesterton (1874–1936) zählte zu den führenden sozialkonservativen Intellektuellen Großbritanniens zur Zeit Georgs V. Nach einer gescheiterten Karriere als Politiker wandte sich Chesterton vom Liberalismus ab und gab seit 1912 gemeinsam mit Hillaire Belloc (1870–1953) die regierungskritische Zeitschrift „New Witness“ heraus. Vor allem im Zusammenhang mit dem MarconiSkandal (1912/13) vertrat die Zeitschrift einen radikalen Antisemitismus, der die Juden für Kapitalismus und Korruption verantwortlich machte. Doch auch in Chestertons literarischem Werk, das vielfach seine politischen Überzeugungen spiegelt, treten antisemitische Stereotype gelegentlich in Erscheinung. Das gilt beispielsweise für die
Feinde (Film von Viktor Turjanski, 1940)
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Father-Brown-Erzählungen, die dem Autor internationalen Ruhm verschafften und deren Stoff als Filmvorlagen diente. In den Erzählungen, die zwischen 1909 und 1935 erschienen, geht es um einen Priester, der durch Menschenkenntnis und präzise Beobachtung verzwickte Kriminalfälle aufklärt, an denen die Ermittlungsbehörden scheitern. Die Father-Brown-Erzählungen spiegeln Chestertons Sympathie für den Katholizismus, in dem sich seiner Überzeugung nach Moral, Vernunft und Gerechtigkeitssinn ideal verbinden. Unter dem Einfluss seines Freundes Father O’Connor, der Chesterton als reale Vorlage für die Figur des Father Brown diente, konvertierte der Schriftsteller 1922 zum Katholizismus. Die in den Father-Brown-Erzählungen auftretenden jüdischen Charaktere gehören zur kriminellen Halbwelt und repräsentieren zeitgenössische Judenstereotype. Neben der Bezeichnung als „fremde Rasse“ und der Stigmatisierung über die Physiognomie („scharf gebogene Nasen“) werden den Juden insbesondere minderwertige Moralvorstellungen attestiert. In der Erzählung „Der unsichtbare Mann“ verbinden Isidore Smythe und James Welkin einen Heiratsantrag mit einer Wette. Wer zuerst ein Vermögen macht, soll die von beiden begehrte Dame ehelichen. Als Smythe zu Geld kommt, bringt Welkin ihn in der Verkleidung eines Briefträgers um. In der Erzählung „Die Ehre des Israel Gow“ verfügt der Earl of Glengyle, dass sein Diener Israel Gow all sein Gold erben soll. Nach dem Tod des Earls öffnet Israel Gow das Grab und entnimmt den Schädel, um die Goldzähne des Verstorbenen herauszubrechen. Die Erzählung „Das Duell des Dr. Hirsch“ spielt auf die Dreyfus-Affäre an. Der französische Wissenschaftler Dr. Hirsch wird von dem Offizier Dubosc beschuldigt, geheime militärische Forschungsergebnisse an Deutschland verraten zu haben. Die Beweise entpuppen sich jedoch als plumpe Fälschung, Dubosc entzieht sich Hirschs Duellforderung durch Flucht, und der von der Volksmenge gefeierte Wissenschaftler ist auf der ganzen Linie rehabilitiert. Doch Father Brown und seine Mitstreiter finden heraus, dass es sich bei Hirsch und Dubosc um ein und dieselbe Person handelt. Die inszenierte Spionageaffäre diente dazu, Hirschs tatsächliche Spionagetätigkeit zu decken und ihn moralisch unangreifbar zu machen. Der Antisemitismus ist kein dominantes Element in den Father-Brown-Erzählungen. Auch andere gesellschaftliche Gruppen, die Chestertons Vorstellungen von Religion und sozialer Gerechtigkeit widersprachen, wie Adlige, Millionäre, Bolschewisten, Kalvinisten, Puritaner und Atheisten werden sehr negativ dargestellt.
Thomas Gräfe
Literatur Ian Boyd (Hrsg.), The Novels of G.K. Chesterton. A study in art and propaganda, London 1975. Ann Farmer, Chesterton, religion, anti-Semitism and the politics of the underdog, in: Chesterton Review 34 (2008), S. 163–189. Ian Ker, G.K. Chesterton. A biography, Oxford 2011.
Feinde (Film von Viktor Turjanski, 1940) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
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Film-„Kunst“, Film-Kohn, Film-Korruption (NS-Propagandaschrift, 1937)
Film-„Kunst“, Film-Kohn, Film-Korruption (NSPropagandaschrift, 1937) Die NS-Propagandaschrift „Film-‚Kunst‘, Film-Kohn, Film-Korruption – ein Streifzug durch vier Filmjahrzehnte“ (Verlag Hermann Scherping, Berlin 1937) richtet sich unter dem Deckmantel einer wissenschaftlichen Untersuchung der Geschichte der Filmindustrie mit drastischen antisemitischen Aussagen gegen „undeutsche“, „verjudete“ Filme, Regisseure, Produzenten und Schauspieler. Die Verfasser des Werkes sind Carl Neumann, ein ehemaliger Kinobesitzer und späterer Oberregierungsrat, Curt Belling, ein NS-Theoretiker, sowie Hans-Walther Betz, der als Filmkritiker und -theoretiker tätig war. Sie sahen es als ihre Pflicht, der deutschen Bevölkerung der späten 1930er-Jahre in einem fünf Kapitel umfassenden Buch die negativen Einflüsse der jüdischen Künstler vor Augen zu führen und es von der Wichtigkeit zu überzeugen, jene auch in Zukunft völlig aus der Filmindustrie auszuschließen. Schon in der Einleitung wird die verfolgte Absicht hervorgehoben: „Es ist kein Geschichtsbuch […]. Aber es ist ein polemisches Buch, weil die den geschichtlichen Ablauf des Films entscheidend beeinflußende jüdische Filmherrschaft und Filmwirtschaft bis 1933 nur ihre rücksichtslose Entschleierung zuließ. Für den Gewissenhaften ist es nicht möglich, eine Filmgeschichte dieser Zeit zu schreiben, ohne jenen beherrschenden Einfluß in den Vordergrund zu rücken. Bei aller Beschränkung auf das Wesentliche und die großen Zusammenhänge war er als typisches Merkmal vor allem zu untersuchen und aufzuzeigen.“ In den folgenden Kapiteln werden sämtliche antisemitischen Klischees aufs Äußerste ausgeschlachtet. Das „typische“ jüdische Aussehen, die Geldgier und der schlechte jüdische Charakter im Allgemeinen ziehen sich als Hauptthema stetig und dauernd wiederholend durch sämtliche Kapitel. Die den Verfassern besonders wichtig erscheinenden Stellen werden dabei, wie in einem Schulbuch, eingerückt und fett gedruckt, um die Einprägsamkeit noch zu steigern. So heißt es z. B.: „Ihr stechender Blick ist unruhig. Sie mögen die Helligkeit nicht. Es schaut kein Funke Geist aus ihnen, es sei denn der des erbärmlichen Händlers. Es schimmert kein Glanz einer Seele aus ihnen, es sei denn die starre Leblosigkeit eines kleinen und kläglichen Krämergemüts. Es leuchtet kein Gedanke aus ihnen, es sei denn die Gier, zu schachern und die feixende Lust, wieder einmal jemanden übertölpelt zu haben. Diese Augen können niemanden und nichts klar und ruhig ansehen. Sie können nur abschätzen, wieviel Geld der andere besitzt und wert ist, und wieviel Schläue er aufbringt, sein Scheckbuch zu schützen.“ Untermauert werden die Aussagen durch Fotografien von bekannten jüdischen Schauspielern und Regisseuren der Zeit, die unter der Überschrift: „‚Schöne‘ Männer“ als Beweise für das vorher beschriebene abstoßende und fremdartige Äußere dienen sollen. Die von Juden gefertigten Filme, oder auch solche, in denen jüdische Schauspieler mitwirkten, werden in einem eigenen Kapitel untersucht: „Wir werden uns freilich darauf beschränken müssen, aus der Flut des Schlamms und der Minderwertigkeit einige wenige charakteristische Bildstreifen auszulesen. Doch diese kleine Auswahl
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wird schon genügen, um das ungeheure Verbrechen der Filmjuden an der deutschen Seele zu kennzeichnen.“ Das letzte Kapitel beschreibt persönliche Erlebnisse der Autoren, die den Wahrheitsgehalt des Vorangegangenen verdeutlichen sollen und den Stolz der Verfasser, dass eine neue Zeit angebrochen sei, in der der „wahre deutsche Film“ endlich eine Chance erhalte. Das Schlusswort lautet pathetisch: „Wie immer also auch ein Kampf um den deutschen Film zu führen war und von welcher Grundstellung aus er auch eröffnet wurde, – immer wieder, unumgänglich und unweigerlich hatte er sich zunächst gegen jene Film-‚Kunst‘, gegen jenen Film-Kohn und gegen jene Film-Korruption zu wenden.“ Das Buch „Film-‚Kunst‘“, Film-Kohn, Film-Korruption“ ist eine antisemitische Hetzschrift, die mit der Auseinandersetzung der Filmgeschichte kaum am Rande zu tun hat. In der Blütezeit des Nationalsozialismus dürfte die Schrift den Nerv der zu großen Teilen judenfeindlichen Gesellschaft getroffen haben, deren Feindbild mittels dieses Pamphlets ein weiteres Mal ausgebaut und scheinbar untermauert wurde.
Kristin Nieter
Fips → Stürmer-Karikaturen Flickorna på Uppåkra (Film, 1936) → Schwedische Kinoproduktionen Folz-Dichtung → Hans Folz-Dichtung Fox Tönende Wochenschau → Deutsche Wochenschau Frankfurter Dirigierrolle → Passionsspiele Frankfurter Passionsspiel → Passionsspiele
Französische Comics Der antisemitische Comic hat eine lange Geschichte, weil es gezeichnete erzählerische Sequenzen über Ritualmorde und Hostienschändungen in ganz Europa seit dem 17. Jahrhundert gab („Hostienschändung“ in Passau, „Die von einem Juden gekreuzigte Hostie“ auf Holzscheiten in Paris, „Das Wunder des heiligen Sakraments“ in Brüssel etc.). Die negativ geprägte Sicht auf Juden ging in das Allgemeinwissen über und man findet sie genauso bei Shakespeare (→ „The Merchant of Venice“) wie bei Dickens („Oliver Twist“), Balzac („Splendeurs et misère des courtisanes“) oder Jules Verne („Hector Sevadac“). Die Stigmata finden sich jedoch auch bei den ersten Comic-Autoren wie Hergé (eigentlich Georges Prosper Remi, 1907–1983) in seinem Album „Tintin au pays des Soviets“ (1929, dt. „Tim im Lande der Sowjets“) oder in späteren Comic-Alben wie „Il cacciatore di serpenti – Avventure sensazionali di un audace esploratore“ (1934) [Der Schlangenjäger – Die sensationellen Abenteuer eines furchtlosen Entdeckers] von Corrado Sarri (1861–1944) und der Comic-Zeitschrift „L’Avventuroso“ (1934–1943) [Der Abenteuerlustige] aus Italien. Sie vermitteln das Bild des wuchernden oder rachsüchtigen Juden, wie z. B. in dem christlich-antijudaistischen Album „Le Triomphe de la croix“ [Der Sieg des Kreuzes] des Franzosen Pi-
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lamm (eigentlich Pierre Lamblot, 1929–2005), wo der Jude als jemand beschrieben wird, der Jesus mit seiner ewigen Anprangerung verfolgt. Dieses Album erschien 1950 im belgischen Verlag Casterman und wurde 1987 im ebenfalls belgischen Verlag Brepols neu aufgelegt. Die mit Abstand hervorstechendste Thematik der ersten Produktionen des christlichen Antijudaismus ist „Der ewige Jude“, dessen von der Imagerie d’Épinal ab 1802 produzierte Bildtafel eine der meistverbreiteten des Jahrhunderts war. Anfangs war dieses Bild jedoch relativ harmlos, denn der Jude, den es präsentierte, war eher zu bedauern: Genauso wie Kain ist er eine leidende Seele, schuldig daran, sich an Christus vergangen zu haben. Zum Herumziehen verdammt, wird seine Zeugenschaft der Passion Christi mit Respekt aufgenommen, in einigen Versionen erschien er gar als Konvertit. Der Romancier Eugène Sue (1804–1857) gewann dem Motiv in „Le Juif errant“ (1844) sogar antiklerikale Züge ab: Die Juden waren hier Opfer der Unterdrückung durch die Kirche, die sie unablässig mit ihrer Grausamkeit verfolgte. Doch begünstigt durch die Immigration von Juden nach Westeuropa und durch das Erstarken von Nationalismen auf dem ganzen Kontinent wurde dieses Bild von dem des heimatlosen Juden überlagert, der zwangsläufig ein Verräter sein musste, weil er nicht an die Erde gebunden war, auf der er geboren wurde. Dieses Muster wurde bekanntlich zum Leitmotiv der Dreyfus-Affäre. Ein anderer Grund, der das negative Bild der Juden im Comic verstärkte, war der „wissenschaftliche“ Rassismus, der den „Judendarstellungen“ neuen Auftrieb verschaffte, noch dazu weil die europäischen Nationen sich mitten in ihrer „zivilisatorischen“ Mission der Kolonisation befanden, die die Überlegenheit einiger Rassen über andere mit einbegriff. Die Juden wurden am Ende des 19. Jahrhunderts zum „gewöhnlichen“ Thema, das man mobilisieren konnte, um antiklerikaler Propaganda mit mindestens der gleichen Heftigkeit entgegenzutreten. In Frankreich machten sich die bekanntesten Zeichner während der Dreyfus-Affäre Luft: Caran d’Ache (eigentlich Émmanuel Poiré, 1858–1909) und Jean-Louis Forain (eigentlich Louis-Henri Forain, 1852–1931) in der antisemitischen Zeitschrift „Psst… !“, Henri de Sta (eigentlich Arsène-Henry de Saint-Alary, 1846–1920) in der „Libre Parole illustrée“. Diese Bewegung entwickelte sich in ganz Europa und sogar in den USA, in Japan und Südamerika. Die antisemitischen, faschistischen Regime zur Zeit des Zweiten Weltkriegs bestimmten den Juden zum inneren Feind: In dem Album „Spirou, vedette de cinéma“ (1940) [Spirou, der Leinwandstar] des Belgiers Jijé (eigentlich Joseph Gillain, 1914– 1980) sabotiert „der Jude“ die Produktion eines Films, in „Tintin et l’étoile mystérieuse“ (1942; dt. „Der geheimnisvolle Stern“) von Hergé finanziert der Bankier Blumenstein die gegen Europa gerichtete amerikanische Expedition. In der Zeitschrift „Le Téméraire“ [Der Verwegene] (erschienen vom 15. Januar 1943 bis 1. August 1944), der einzigen nationalsozialistischen Comic-Zeitschrift, die während der Besatzungszeit in Frankreich erschien, machten derweil ausländische Völker, angeführt von „Vénine“ (gebildet aus den Worten „Venin“ [Gift] und „Lénine“ [französische Schreibweise von Lenin]), Jagd auf die blonde „arische“ Bevölkerung, die dort ursprünglich lebte. In Italien griffen die faschistische Jugendzeitschrift „Il Balilla“ und
Theodor Fritsch-Denkmal (Berlin, 1935–1943)
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hierin speziell der Comic „Assalone Mordivò“ von Enrico De Seta (1908–2008) antisemitische Themen auf. Nach dem Krieg, insbesondere nach der traumatisierenden Erfahrung der Shoah, waren antisemitische Darstellungen von Juden im Comic kaum noch zu finden. Entsprechend den Zensurbestimmungen in der Folge des französischen Gesetzes zum Schutz der Jugend von 1949 und dem US-amerikanischen „Comics Code“ von 1954, die jedwede rassistische Produktion ahnden sollten, fanden sie sich nur noch sporadisch in einigen Produktionen, die der extremen Rechten zuzurechnen sind.
Didier Pasamonik Übersetzung aus dem Französischen von Bjoern Weigel
Literatur Michel Dixmier, Jacqueline Lalouette, Didier Pasamonik, La République et l’Église, les images d’une querelle, Paris 2005. Sylvie Martin-Mercier, Lexiques et matérialité de l’écrit dans quelques périodiques illustrés pour enfants et adolescents pendant le fascisme, Diss., Grenoble 1994. Pascal Ory, Le Petit Nazi illustré. Vie et survie du „Téméraire“ (1943–1944), Paris 2002. Didier Pasamonik, Les sources anticléricales du dessin antisémite, in: L’Arche N°581, septembre 2006. Didier Pasamonik, Bande dessinée et Shoah, in: Georges Bensoussan, Jean-Marc Dreyfus, Édouard Husson, Joël Kotek (Hrsg.), Dictionnaire de la Shoah, Paris 2009. Didier Pasamonik, Bande dessinée – Du racisme à l’antiracisme, in: Pierre-André Taguieff (Hrsg.), Dictionnaire historique et critique du racisme, Paris 2013. Solo, Dico Solo en couleurs: plus de 5.000 dessinateurs de presse & 600 supports en France de Daumier à l’an 2000, Vichy 2004.
Friesennot (Film von Peter Hagen, 1935) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Theodor Fritsch-Denkmal (Berlin, 1935–1943) Als das „erste antisemitische Denkmal Deutschlands“ bezeichnete der Berliner Staatskommissar Julius Lippert eine knapp drei Meter hohe Bronze-Plastik, die 1935 im bürgerlichen Bezirk Zehlendorf für den antisemitischen Publizisten Theodor Fritsch (1852–1933) errichtet wurde. Fritsch nahm eine zentrale Rolle in der Geschichte des politischen Antisemitismus in Deutschland ein. Nach dem Maschinenbaustudium an der Technischen Hochschule Berlin war er als Ingenieur für Mühlenbau in Leipzig tätig. In seinem „Hammer“-Verlag veröffentlichte Fritsch zahlreiche antisemitische Hetzschriften, darunter die deutsche Fassung der „Protokolle der Weisen von Zion“. 1882 erschien seine bekannteste Publikation, der „Antisemiten-Katechismus“, der seit 1907 „Handbuch zur Judenfrage“ hieß. Judenhass wurde hier in Form der RatgeberLiteratur für den Hausgebrauch verbreitet. Bis heute liegt keine Monographie über Theodor Fritsch vor. Mit dem Denkmal sollte der von Fritsch propagierte Antisemitismus zum traditionsreichen Bestandteil deutscher Hochkultur stilisiert werden. Gestalterische Grundlage war eine Interpretation des Siegfried-Mythos: Die Plastik stellte einen nackten, muskulösen Mann dar, der auf einer am Boden liegenden drachenähnlichen Gestalt in
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From Hell to Hell (Film von Dmitri Astrachan, 1996)
bezwingender Pose reitet. Anders als in der Nibelungensaga streckte der Held das Ungeheuer jedoch nicht mit einem Schwert nieder, sondern holte mit einem Hammer zum Schlag auf dessen fratzenhaften Kopf aus. Das Denkmal sei ein „Mahnmal für alle Deutschen“, befand der NS-nahe Schriftsteller Max Jungnickel. Initiator des Denkmals war der damalige Zehlendorfer Bürgermeister Walter Helfenstein (1890–1945). Bereits als 16-Jähriger hatte er sich in nationalistischen Sammlungsverbänden des Kaiserreichs betätigt. Als er im Mai 1925 im Alter von 35 Jahren in die NSDAP eintrat, hatte er umfangreiche Erfahrungen als Funktionär und Agitator in immer radikaleren völkischen Parteien gesammelt. Für die Nationalsozialisten baute er in Berlin Ortsgruppen in Kreuzberg und Zehlendorf auf, wo er 1935 zum Bezirksbürgermeister ernannt wurde. Mit der Gestaltung des Fritsch-Denkmals beauftragte er den in Zehlendorf lebenden Künstler Arthur Wellmann (1885–1960). Für den damals 49-Jährigen war es der erste Auftrag für eine monumentale Skulptur. Folgeaufträge machten ihn zum Gestalter der beiden wichtigsten NS-Denkmäler im Berliner öffentlichen Raum. So erstellte er auch das sogenannte Berliner SA-Denkmal auf dem ehemaligen Bülowplatz. Noch heute stehen zwei Serien von 1938 errichteten Kleinplastiken in den Berliner Bezirken Neukölln und Treptow. Die Einweihung des in der Nähe des Mexikoplatzes errichteten Fritsch-Denkmals plante die Zehlendorfer Bezirksverwaltung als kommunales Großereignis von überregionaler Bedeutung. Eingeladen wurden im Bezirk lebende NS-Parteigrößen wie Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Baldur von Schirach, zahlreiche Vertreter von Reichs- und Staatsbehörden, aller Berliner Stadt- und Bezirksverwaltungen sowie des Zehlendorfer öffentlichen Lebens. Auf Wunsch der Angehörigen von Fritsch erhielten auch die in Dahlem wohnende Leni Riefenstahl sowie Generale des Heeres, der Kriegsmarine und der Luftwaffe eine Einladung. Das Fritsch-Denkmal war der Beginn einer weiteren antisemitischen Umstrukturierung des öffentlichen Raums in Zehlendorf. Fast alle Vertreter des deutschsprachigen Antisemitismus erhielten eine nach ihnen umbenannte Straße. Während einzelne dieser Straßenumbenennungen noch heute existieren, verschwand das Fritsch-Denkmal 1943. Es wurde als „Metallspende“ für die Rüstungsproduktion eingeschmolzen.
Thomas Irmer
Literatur Thomas Irmer, Das „erste antisemitische Denkmal Deutschlands“ – zur Errichtung eines Denkmals für Theodor Fritsch im kommunalen öffentlichen Raum in Berlin 1935–1943, in: Gideon Botsch, Christoph Kopke, Lars Rensmann, Julius H. Schoeps (Hrsg.), Politik des Hasses. Antisemitismus und radikale Rechte in Europa, Hildesheim u. a. 2010, S. 153–170.
From Hell to Hell (Film von Dmitri Astrachan, 1996) Zum 50. Jahrestag des Pogroms in Kielce/Polen 1996 ließ der deutsche Filmproduzent Artur Brauner unter der Regie des Weißrussen Dmitri Astrachan den Spielfilm „From Hell to Hell“ [Von Hölle zu Hölle], eine deutsch-weißrussische Koproduktion, drehen, der den 42 Opfern gewidmet ist. Brauner musste das Geld für den Film selbst aufbrin-
From Hell to Hell (Film von Dmitri Astrachan, 1996)
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gen, weil die deutsche Filmförderung keine Unterstützung gewährte. In die Kinos kam der Film erst vier Jahre später, wurde aber bereits 1997 als weißrussischer Beitrag für den Oscar eingereicht. In den Hauptrollen spielten Anja Kling (Helene Golde), Gennadi Svir (Hendrik Golde) und Valeria Valeeva (Fela) sowie Alla Kliouka-Schafer (Anna Sikorski) und Gennadi Nazarov (Andrzej Sikorski). Der weißrussische Maler Mai Danzig übernahm die Rolle eines gewissen Dr. Richter, der das „Jüdische Haus“ leitet. Gedreht wurde in der Nähe von Minsk in Weißrussland. 1997 gewann Alla Kliouka-Schafer für ihre Rolle als Ziehmutter beim bedeutenden russischen Filmfestival „Kinotavr“ in Sotschi den Preis für die beste Hauptdarstellerin. Der Film beginnt mit der bevorstehenden Deportation von Helene und Hendrik, die ihre Tochter Fela retten wollen. Sie vertrauen ihr Kind der katholischen Freundin Anna und ihrem Mann an. Das Ehepaar hatte kurz zuvor sein eigenes Kind verloren. Helene und Hendrik überleben den Holocaust und kehren in ihre Heimatstadt Kielce zurück. Ihre Tochter hat sich längst an ihr neues Zuhause gewöhnt; die Eltern sind ihr fremd. Insbesondere Anna widersetzt sich der Rückgabe des Ziehkindes und hetzt sie gegen die Eltern auf. Die Bewohner von Kielce solidarisieren sich mit den christlichen Nachbarn und hetzen gegen die zurückgekehrten Juden. Allmählich beginnt Fela wieder Vertrauen zu ihren Eltern zu fassen und begleitet sie in das „Jüdische Haus auf der Plenta“, in dem Überlebende des Holocaust Unterschlupf gefunden haben, nachdem sich die christlichen Bewohner der Stadt ihre ursprünglichen Wohnungen während ihrer Abwesenheit einfach angeeignet hatten. Hendrik wird Anführer einer Gruppe von Überlebenden, die sich gegen den polnischen Antisemitismus wehren und versuchen, ihre ehemaligen Wohnhäuser zurückzubekommen. Der erbitterte Streit um die ehemaligen jüdischen Besitzungen kulminiert in einem gewalttätigen Übergriff der Bewohner der Provinzstadt. Eines Tages sind alle Überlebenden versammelt und feiern, plötzlich nähert sich der Mob der Stadt, bewaffnet mit Eisenstangen, Schaufeln und Äxten, und überfällt die friedlichen Hausbewohner. 42 jüdische Männer, Frauen und Kinder, die den Holocaust überlebt haben, werden ermordet. Die Hausbewohner hatten die Miliz telefonisch über die Ereignisse informiert; sie sagte Hilfe zu. Tatsächlich aber hatten sich die Polizisten über den angsterfüllten Anrufer lustig gemacht. Der Milizionär sagt zu seinem Kollegen: „Hör zu da hinten auf der Plenta verprügeln sie die Juden.“ Die beiden Ordnungshüter diskutieren, welchen Grund sie vorschieben könnten, nicht hinfahren zu müssen: „Und wenn uns ganz plötzlich das Benzin ausgegangen ist?“ Sie helfen nicht und die Juden werden brutal ermordet. Wegen der drastischen Szenen wurde der Film erst ab 16 Jahren freigegeben. Die Ereignisse entsprechen insofern nicht der historischen Vorlage, als der Pogrom in Kielce im Juli 1946 auf einer Ritualmordlegende basierte und nicht ein Streit über Wohnungseigentum zu den Übergriffen führte. Ein christlicher Junge hatte behauptet, er sei von Juden entführt worden, die ihn töten wollten, um sein Blut für das ungesäuerte Brot zu Pessach zu gewinnen. Obwohl der Bericht des Jungen als ein typisches antisemitisches Gerücht entlarvt wurde, kamen 42 Juden bei dem Pogrom ums Leben. Dies entspricht der Zahl, die im Film „From Hell to Hell“ genannt wird. Im Abspann des Films werden die jüdischen Opfer von Kielce (37 und „5 Unbekannte“) in alphabetischer Reihenfolge vor einem Standfoto, das dem Originalfoto der Beerdigung der
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Die Fromme Helene (Bildergeschichte von Wilhelm Busch, 1872)
42 Ermordeten nachempfunden ist, namentlich erwähnt. Die Aufzählung der Namen endet mit folgendem Insert: „Gefoltert, Geschändet, Gesteinigt, Massakriert – Dies geschah am 4. Juli 1946.“ Weltpremiere hatte der Film im Januar 1997, als Artur Brauner ihn im Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles vorführte. Der Kinostart erfolgte erst am 28. September 2000. Zum ersten Mal im Fernsehen wurde der erfolglose Kinofilm am 5. März 2002 in einer neuen deutschen Fassung im Rahmen der „Woche der Brüderlichkeit“ im ZDF gezeigt, allerdings erst um 23:45 Uhr. Noch später in der Nacht (1:00 Uhr) wurde er bei seiner zweiten Ausstrahlung am 30. Juni 2005 im ZDF gesendet (Einschaltquote 0,25 Millionen; 9,7 Prozent Marktanteil).
Juliane Wetzel
Literatur Jan T. Gross, Fear. Anti-Semitism in Poland after Auschwitz. An Essay in Historical Interpretation, Princeton, Oxford 2006. Angelika Königseder, Juliane Wetzel, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, aktualisierte Neuausgabe Frankfurt am Main 2004. Juliane Wetzel, Der Pogrom in Kielce und der jüdische Massenexodus aus Polen, in: Beate Kosmala (Hrsg.), Die Vertreibung der Juden aus Polen 1968. Antisemitismus und politisches Kalkül, Berlin 2000, S. 43–48.
Die Fromme Helene (Bildergeschichte von Wilhelm Busch, 1872) Wilhelm Busch (1832–1908) wird in der Literatur zum Antisemitismus immer wieder als einer derjenigen Autoren des 19. Jahrhunderts herangezogen, der durch humoristische Geschichten und Bilder entscheidend zur Verbreitung judenfeindlicher Klischees und zur Popularisierung des Antisemitismus beigetragen habe. Genannt wird in diesem Kontext vor allem die Bildergeschichte „Die Fromme Helene“, neben „Max und Moritz“ das erfolgreichste Werk von Wilhelm Busch. In den Strophen, auf die sich die Bemerkungen über Buschs angeblichen Antisemitismus beziehen, wird das großstädtische Leben geschildert und darin heißt es: „Und der Jud mit krummer Ferse, Krummer Nas und krummer Hos’ Schlängelt sich zur hohen Börse, Tiefverderbt und seelenlos.“ In der Tat ist hier das antisemitische Klischee des Börsenjuden gezeichnet, aus dem Kontext der Geschichte aber ergibt sich, dass es sich bei dieser Episode um ein Rollengedicht handelt, in dem Busch die antisemitische Einstellung und Großstadtfeindlichkeit kleinbürgerlicher Schichten karikiert. Um den Gefahren der Großstadt zu entgehen, die Episode ist Teil dieser Schilderung, wird die junge Helene, ein Waisenkind, von dem Vormund zu ihrem Onkel und ihrer Tante aufs Land verschickt. Dort angekommen verübt sie, Max und Moritz ähnlich, allerlei Streiche gegen den Onkel. Herangewachsen kommt der Vetter Franz zu Besuch, den sie mit voyeuristischem Blick durch das Schlüsselloch bei der Morgenwäsche beobachtet, wobei sie erhebliches Unheil im Haus des Onkels anrichtet. Bald
Die Fromme Helene (Bildergeschichte von Wilhelm Busch, 1872)
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verliebt sie sich in den Vetter, es kommt gar zu einem Kuss. Helene schreibt dem Franz einen Liebesbrief, wird vom Onkel dabei erwischt, mit schlimmen Folgen für Helene. Sie rächt sich mit erneuten Streichen am Onkel, woraufhin dieser sie des Hauses verweist. Nach weiteren turbulenten Szenen heiratet sie einen wohlhabenden, aber ungebildeten und stumpfsinnigen Bürger. Die Hochzeitsreise wird für sie zu einer einzigen Enttäuschung. Die Scheinheiligkeit christlicher Moral karikierend schildert Busch, wie Helene sich in bürgerlichen Frömmigkeitspraktiken und in Wohltätigkeitsarbeit übt, auch schickt er Helene auf eine Wallfahrt, wo sie ihren zum Geistlichen gewandelten Vetter Franz wiedertrifft. Nach der Geburt von Zwillingen stirbt der Gatte unvermittelt an einem opulenten Mahl. Helene sucht daraufhin Trost bei dem frommen Franz. Der jedoch hat eine Affäre mit der Dienstmagd, wird dabei vom Knecht, dem Ehemann der Magd, erwischt und erschlagen. Helene, erschüttert vom Schicksal des angeblich so frommen Vetters, versucht nun ihrerseits ein frommes Leben zu führen, kann aber den Versuchungen des Alkohols nicht widerstehen, sodass sie schließlich stirbt. Von Busch in turbulenten Szenen beschrieben, holt der Teufel schließlich im letzten, „Triumph des Bösen“ überschriebenen Kapitel, die Seele von Helene. Am Schluss tritt erneut der Onkel mit der Bemerkung auf, dass er das Schicksal Helenes geahnt habe, und selbstzufrieden bekundet er, dass er ja kein so sündiges Leben führe. Die als Beleg für Buschs Antisemitismus herangezogene Szene stammt somit allein aus dem Prolog, in dem Busch nicht nur die Frömmelei und Bigotterie des Onkels karikiert, sondern auch dessen antisemitische Einstellung. Dem entspricht, dass Busch in diese Episode nicht nur die Börse, sondern auch weitere, für die antisemitische Semantik zentrale Motive aufgreift, wie die Vorwürfe gegen die Presse, den Liberalismus und die spezifischen Formen des großstädtischen Kulturlebens. Busch propagiert in der „Frommen Helene“ somit keine antisemitischen Bilder, er verspottet vielmehr antisemitische Einstellungen in derselben Weise, in der er sich über die Scheinheiligkeit und die Heuchelei des kleinbürgerlichen Lebensstils lustig macht. Auch später äußerte sich Busch abfällig über den Antisemitismus in seiner Novelle „Eduards Traum“ von 1891, positiv hingegen über Juden, so in seinem Briefgedicht „Zirrwitt! Diddelitt“ von 1892. Die „Fromme Helene“, 1872 im Verlag von Bassermann in Heidelberg erschienen und zunächst in einer Auflage von 6.000 Exemplaren gedruckt, erfuhr im selben Jahr drei weitere Auflagen, sodass 1872 insgesamt 14.500 Exemplare vorlagen. Es folgten neue Auflagen, 1882 war die Zahl von 50.000 gedruckten Exemplaren überschritten, zur Jubiläumsausgabe 1893 100.000, und bis zu Wilhelm Buschs Tod im Jahr 1908 lag die Auflage bei 200.000 Exemplaren.
Ulrich Wyrwa
Literatur Wilhelm Busch, Die Bildergeschichten. Historisch-kritische Gesamtausgabe in drei Bänden, hrsg. von Herwig Guratzsch und Hans Joachim Neyer, bearbeitet von Hans Ries, Hannover 2002. Michaela Diers, Wilhelm Busch. Leben und Werk, München 2007. Gert Ueding, Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature, Frankfurt am Main 1977.
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Furcht und Elend des III. Reiches (Bertolt Brecht, 1937/38)
Der Führer schenkt den Juden eine Stadt → Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet
Furcht und Elend des III. Reiches (Dramatischer Szenenzyklus von Bertolt Brecht, 1937/38) Wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor hat sich Bertolt Brecht (1898–1956) mit dem Nationalsozialismus befasst. Die Auseinandersetzung beginnt bereits vor 1933 und setzt sich im Exil und Nachexil bis zu Brechts Tod fort. Im dramatischen Werk vollzieht sie sich, charakteristisch für die Techniken des epischen Theaters, häufig in historisch oder parabolisch verfremdeter Form. Der NS-Antisemitismus bleibt dabei vergleichsweise randständig, was Brecht in einem Brief damit begründete, schon „als Sozialist“ habe er „überhaupt keinen Sinn für das Rassenproblem selber“. Seine weitaus einlässlichste Analyse des Antisemitismus findet sich bereits früh in dem Parabelstück → „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ (1932–1938). Der Szenenzyklus „Furcht und Elend des III. Reiches. 27 Szenen“ thematisiert die Judenverfolgung in drei Szenen. Das Stück, eine Abfolge von zwischen 1933 und 1938 in verschiedenen deutschen Städten angesiedelten, in sich abgeschlossenen Szenen, entstand 1937 und 1938. Einzelne Szenen wurden in Exilzeitschriften und -verlagen publiziert; am 21. Mai 1938 wurden einige von ihnen mit großem Erfolg unter dem Titel „99 %“ in Paris unter Beteiligung deutscher Exilanten uraufgeführt. 1944 erschien in New York eine englischsprachige, 1945 eine deutschsprachige Erstausgabe des gesamten Zyklus, dessen Szenenzahl allerdings in den verschiedenen Ausgaben variierte. Die zyklische Anlage des Stücks intendiert, einen gesellschaftlichen Querschnitt durch die NS-Gesellschaft von ihrer Formierung bis zum „Anschluss“ Österreichs zu zeichnen. „Furcht“ und „Elend“ sind dabei die Lebensweisen, die dieses Regime seinen Untertanen bereitet, und zwar klassenspezifisch differenziert: Das Bürgertum lebt unter der Furcht vor Bespitzelung und Diskriminierung, während die Arbeiterklasse das sich aus der Aufrüstungspolitik ergebende soziale Elend hinzunehmen hat. Die drei Szenen, in denen der Antisemitismus thematisiert wird, gehören in den bürgerlichen Komplex und sind Teil eines Analyserahmens, der das nationalsozialistische Deutschland als Gesellschaft der Lüge und des (Selbst-)Betrugs zeichnet. Die Szene „Rechtsfindung“ entwirft das Bild einer zu allem bereiten Justiz unter dem NS-Regime, und zwar in Form einer bitteren Satire. Ein Amtsrichter versucht sich vor Prozesseröffnung Klarheit zu verschaffen über den Anschlag dreier SA-Leute auf einen jüdischen Juwelier – ein politisch verwickelter Fall, bei dem die divergierenden Interessen verschiedener NS-Repräsentanten ein Urteil unmöglich machen, das allen Machtträgern politisch oder wirtschaftlich genehm ist (von Rechtsprechung im Sinne einer Wahrheitsermittlung kann ohnehin keine Rede mehr sein). Unter ständigem Verweis auf seine Familie fasst der Amtsrichter sein Dilemma zusammen: „Ich bin ja zu allem bereit […]. Ich entscheide so und ich entscheide so, wie man das verlangt, aber ich muß doch wissen, was man verlangt!“ Wie die meisten Szenen des Zyklus endet auch diese mit einem offenen Schluss: Welches Urteil der Richter fällen wird, d.h. zu welcher politisch motivierten Rechtsbeugung er sich entscheiden wird,
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bleibt unausgesprochen. Das Unrecht gegen den jüdischen Juwelier ist hier das Anschauungsmaterial dafür, dass das Recht vollkommen in den Dienst der Macht gestellt ist. Auch die Szene „Physiker“ befasst sich satirisch mit den Reaktionsformen nichtjüdischer Figuren auf den für ihre beruflichen Interessen hinderlichen Antisemitismus des NS-Regimes. Zwei Physiker erhalten indirekt einen für ihre Forschung unentbehrlichen Ratschlag des emigrierten Albert Einstein, dessen Name unter dem Vorzeichen der Kampagnen gegen die ‚jüdische Physik‘ nicht genannt werden darf. Als einem der beiden Physiker im Forschungseifer dennoch der Name Einsteins entfährt, sieht sich der andere genötigt, für etwaige Spitzelohren eine demonstrativ laute Distanzierung zu formulieren: „Ja, eine echt jüdische Spitzfindigkeit! Was hat das mit Physik zu tun?“ Die für den Themenkomplex Judenverfolgung weitaus wichtigste Szene des Zyklus trägt den Titel „Die jüdische Frau“. In ihr beschließt die titelgebende Figur, Ehefrau eines nichtjüdischen Arztes, ihren Mann zu verlassen und nach Amsterdam zu emigrieren, da die soziale Diskriminierung unter den Vorzeichen des staatlich verfügten – oder sich ins Recht gesetzt sehenden – Antisemitismus unerträglich geworden ist und dem Ehemann auch zunehmende berufliche Schwierigkeiten bereitet werden. Die Szene spitzt sich zu in einem Abschiedsgespräch der Ehepartner, das von beiden Seiten beschwichtigend und die Tatsache eines endgültigen oder jedenfalls langen Abschieds verleugnend geführt wird. Der Ehemann demonstriert darin seinen Willen, sich trotz aller Vorbehalte mit dem NS-Regime zu arrangieren, und an dieser keineswegs dämonisierten, sondern als alltagspragmatisch gezeichneten Verhaltensweise zerbricht die Ehe. Wie im Szenenzyklus insgesamt besteht die Kritik am Nationalsozialismus, hier an der Judenverfolgung, nicht in einem moralischen Vorwurf, sondern in einer Analyse der Mechanismen eines bürgerlichen Konformismus. Die nüchterne Illusionslosigkeit, mit der Brecht hier die Destruktivität des Antisemitismus zeigt, verleiht dem Stück und der Szene einen Ausnahmecharakter in der Exil- und Nachkriegsliteratur.
Carsten Jakobi
Literatur Walter Benjamin, Das Land, in dem das Proletariat nicht genannt werden darf. Zur Uraufführung von acht Einaktern Brechts, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Band II.2, Frankfurt am Main 1991, S. 514–518. Walter Busch, Bertolt Brecht. Furcht und Elend des Dritten Reiches, Frankfurt am Main, Berlin/West, München 1982. Carsten Jakobi, Der kleine Sieg über den Antisemitismus. Darstellung und Deutung der nationalsozialistischen Judenverfolgung im deutschsprachigen Zeitstück des Exils, Tübingen 2005. James K. Lyon, Furcht und Elend des III. Reiches, in: Jan Knopf (Hrsg.), Brecht-Handbuch in fünf Bänden, Band 1: Stücke, Stuttgart, Weimar 2001, S. 339–357. Franz Norbert Mennemeier, Modernes Deutsches Drama. Kritiken und Charakteristiken, Band 2: 1933 bis zur Gegenwart, München 1975. John J. White, Ann White, Bertolt Brecht’s „Furcht und Elend des Dritten Reiches“. A German exile drama in the struggle against fascism, Rochester, NY [u. a.] 2010.
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Gärungen – Klärungen (Roman von Adam Müller-Guttenbrunn, 1903)
Gärungen – Klärungen (Roman von Adam Müller-Guttenbrunn, 1903) „Gärungen – Klärungen. Wiener Roman“ wurde von Adam Müller-Guttenbrunn (1852–1923) unter dem Pseudonym Franz Josef Gerhold publiziert. Der Roman bedient sich einer breiten antisemitischen Wortwahl. Der Journalist, Schriftsteller und Theaterdirektor Adam Müller-Guttenbrunn begann die Arbeit an „Gärungen – Klärungen“ im März 1897 und brachte im Mai 1897 den Roman zu Ende. Ursprünglich war geplant, das Werk unter dem Titel „Unter den Nomaden“ zu publizieren, veröffentlicht wurde das 304 Seiten umfassende Buch jedoch erst 1903 unter dem Titel „Gärungen – Klärungen. Wiener Roman“ in der Österreichischen Verlagsanstalt Wien. Da Müller-Guttenbrunn befürchtete, die Publikation des Romans würde ihm Feinde schaffen, machte er die strengste Wahrung seines Pseudonyms zur Bedingung für die Veröffentlichung. Jedoch dürfte die Publikation auch ein Entgegenkommen an die antisemitische Presse gewesen sein, die ihn wegen seiner Tätigkeit beim „Neuen Wiener Tagblatt“ angriff. Nicht zuletzt war Müller-Guttenbrunn 1903 zudem in finanziellen Nöten, da er kurz zuvor die Stelle eines Theaterdirektors verlor. Am 6. März 1904 wurde der Roman z. B. in der Zeitung „Deutsche Wacht“ als „fesselnder nationaler Lesestoff“ beworben, der besonders realistisch in der Schilderung eines „gewissen Zeitungs- und Kunstgetriebes“ sei. Auch der deutschnationale Wiener Schriftsteller Karl Wache war überzeugt von Guttenbrunns Werk und meinte 1930, der Roman sei eine der stärksten antisemitischen Streitschriften. Der Roman spielt in den 1890er-Jahren und ist laut Müller-Guttenbrunn „eine Wiener Chronik aus jener Halbgesellschaft, die sich um den Journalismus, die Börse und das Theater herumlagert“. Die Protagonisten des Romans sind u. a. der Eigentümer und Chefredakteur der „Morgenpresse“, Moriz Ehrenreich, der Feuilletonist Dr. Martin Gruber und der Dozent an der Universität Wien Dr. Karl Reibenstein. Ehrenreich ist der Sohn armer Hausierer, die aus Galizien nach Wien gekommen sind. Durch seinen Ehrgeiz bringt er es schließlich zum Chefredakteur der „Morgenpost“, gründet jedoch seine eigene Zeitung, die „Morgenpresse“, die schließlich die „Morgenpost“ verdrängt. Bereits hier erscheint das Motiv des geschäftstüchtigen und dabei rücksichtslosen Juden. Die Haupthandlung spielt in der Redaktion der „Morgenpost“ und im Palais der Familie Ehrenreich, das ein Treffpunkt der Wiener Gesellschaft wird. Gruber wird im Roman durch seine Erfahrungen mit Moriz Ehrenreich zum überzeugten deutschnationalen Antisemiten. Anlässlich einer Einladung in das Palais Ehrenreichs glaubt Gruber in der dortigen Gesellschaft einen „galligen Witz und eine gewisse feige Rachsucht“ zu erkennen. Was mit „Wiener Nomaden“ gemeint ist, beschreibt Gruber in Müller-Guttenbrunns Roman: „Von Ost und West, von Süd und Nord fallen sie seit Jahrzehnten wie Heuschrecken auch in die Wienerstadt [...]. Sie machen unsere öffentliche Meinung, sie machen unsere Politik, [...] sie spielen an der Börse, [...] sie schieben ihre gierigen Hände zwischen den Produzenten und Konsumenten, [...] sie wühlen und hetzen gegen bestehende Einrichtungen, die sie beengen und wenn sie auch nicht herrschen, so gewinnen sie entweder finanziell oder moralisch bei jeder Erschütterung des Staates.“
Der Garten der Finzi Contini (Film von Vittorio De Sica, 1970)
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Die hier vorgebrachten Biologismen und Vorurteile entstammen einem breiten antisemitischen Repertoire. Die Figur des Dr. Gruber erinnert an Müller-Guttenbrunn selbst. So wie Gruber verfasste auch er Theaterstücke, Romane und Novellen und betätigte sich als Feuilletonist. Gruber schimpft im Roman auf die Presse, die gegen ihn hetze, nur weil er einmal äußerte, dass sämtliche Fabriken von Juden betrieben würden. Müller-Guttenbrunn lässt Gruber auch sagen, dass sich das große christlich-germanische Volk von einem Häuflein Juden suggerieren lasse, was es denken und tun dürfe. Diese Äußerungen kommen jenen gleich, die von Antisemiten gegen Juden vorgebracht wurden, speziell in Bezug auf das Pressewesen. Gruber spricht auch von Schmarotzern, die an der Kraft des Volkes saugen. Zudem hält er den „jüdischen Geist“ seiner Zeit für den „schlimmsten Feind des deutschen Volkes“ und die Emanzipation für einen weltgeschichtlichen Irrtum. Liberale Anschauungen, den Kulturkampf, die Internationalisierung der Sozialdemokratie, die Korrumpierung der Wirtschaft, der Kunst und der Gesellschaft hält er für das Werk von Juden. Im Roman „Gärungen – Klärungen“ gibt es jedoch auch die Figur des guten Juden, Baron Reibenstein. Auch über seinen Vater wird berichtet. Dieser, ein berühmter liberaler Politiker, hat das „Judenerschlagen“ im Wiener Prater abgeschafft. Dies war die Schlussszene aller Kasperltheateraufführungen, in der der Kasperl das Publikum fragte, ob er den vor sich liegenden Juden mit einem Hammer erschlagen solle, was das Publikum mit stürmischem Beifall bejahte. Die renommierte Zeithistorikerin Erika Weinzierl spricht von der „Vorwegnahme nationalsozialistischer Ideen“ im Roman und beschrieb das Buch als „massivste Streitschrift gegen die Juden“. Tatsächlich verwendet Müller-Guttenbrunn in seinem Buch antisemitische Codes und Stereotypen, deren Kontinuität sich bis in die Gegenwart fortsetzen.
Christian Pape
Literatur Anton Schwob, Adam Müller-Guttenbrunn – ein Heimatdichter? Probleme seiner literaturhistorischen Einordnung, in: Antal Mádl, Anton Schwob (Hrsg.), Vergleichende Literaturforschung. Internationale Lenau-Gesellschaft 1964 bis 1984, Wien 1984, S. 437–446. Erika Weinzierl, Kein „Judentempel“. Adam Müller-Guttenbrunn und das Wiener „Antisemitentheater“, in: Jüdisches Echo. Zeitschrift für Kultur und Politik 44 (1995), S. 159– 163. Hans Weresch, Adam Müller-Guttenbrunn. Sein Leben, Denken und Schaffen, Band 1 und 2, Freiburg im Breisgau 1975.
Galerie historischer Gemaehlde (Samuel Baur, 1806) → Jud Süß in der Literatur Der Galiläer (Film von Dimitri Buchowetzki, 1921) → Jesusfilme
Der Garten der Finzi Contini (Film von Vittorio De Sica, 1970) „Der Garten der Finzi Contini“ war der erste Spielfilm, der die systematische Unterdrückung der jüdischen Italiener nach dem Erlass der faschistischen „Rassengesetze“
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Der Garten der Finzi Contini (Film von Vittorio De Sica, 1970)
(1938) als Thema aufgriff. Bereits Jahre vor der Besetzung Norditaliens durch Wehrmacht und SS wurden diese im italienischen Faschismus diskriminiert, ausgegrenzt und in Lagern interniert. Die Salò-Faschisten erklärten die Juden schließlich zu Staatsfeinden und begannen im Herbst 1943 damit, sie in das Durchgangslager Fossoli zu deportieren, das für viele von ihnen zur Vorhölle auf dem Weg nach Auschwitz wurde. Vittorio De Sicas historisches Drama basiert auf einer sehr freien Adaption des gleichnamigen Romans von Giorgio Bassani aus dem Jahr 1962, der als eines der herausragenden Werke der italienischen Nachkriegsliteratur gilt. Die Romanvorlage trug unverkennbar autobiografische Züge, erlebte und überlebte der antifaschistische Schriftsteller doch Diktatur und Krieg als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Arztes in Ferrara. Leise zwar, aber doch unübersehbar warf der Film erstmals die Frage nach dem Verhalten und moralischen Versagen vieler Italiener angesichts des faschistischen Staatsantisemitismus auf, den die meisten von ihnen gleichgültig hingenommen hatten. „Der Durchschnittsitaliener ist bei Bassani nicht gut, sondern taub, blind und stumm“, hat es der Historiker Hans Woller auf den Punkt gebracht. Vittorio De Sica (1902–1974) war einer der international angesehensten Regisseure in der Blütezeit des italienischen Autorenkinos. In seiner mehr als 50 Jahre währenden Karriere wirkte er in über 150 Filmen als Schauspieler mit und führte in 35 Kinoproduktionen selber Regie. Zur Zeit des Faschismus spielte er in seichten Filmkomödien mit und begründete damit seinen Ruhm. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte er sich mit Meisterwerken wie „Sciuscià“ (1946), „Ladri di biciclette“ (1948), „Miracolo a Milano“ (1951) und „Umberto D.“ (1952) als einer der Hauptvertreter des Neorealismus einen Namen, bevor er sich dem Hollywood-Kino annäherte. De Sica war 1968 überrascht, als ihm und nicht Luchino Visconti der schwierige Stoff von Bassanis Roman für eine Verfilmung angeboten wurde. Doch empfand er eine moralische Verpflichtung, den Film zu drehen. „Ich selber empfand Scham, weil wir alle Schuld am Tod von Millionen Juden sind“, umschrieb er seine Motivation. De Sicas Film erzählt die Geschichte der großbürgerlichen Finzi-Continis, die auf einem herrschaftlichen Anwesen umgeben von einem weitläufigen Park in Ferrara leben. Anders als die meisten anderen jüdischen Familien der norditalienischen Stadt halten sie Distanz zum Mussolini-Regime. Die Familie besteht aus Professor Ermanno, seiner Frau Olga, ihren inzwischen erwachsenen Kindern Alberto und Micòl (gespielt von Helmut Berger und Dominique Sanda) und einer Großmutter. Eine prominente Rolle nimmt in der Handlung der Freundeskreis von Alberto und Micòl ein. Zu ihm gehören junge Leute, die im Begriff sind, Fuß in der Berufswelt zu fassen. Zuvor müssen Micòl und ihr ehemaliger Schulfreund Giorgio (Lino Capolicchio) jedoch ihre Universitätsabschlüsse machen. Allerdings ist dies seit dem Herbst 1938 fast unmöglich, weil jüdische Studenten von den Universitäten ausgeschlossen sind und sie die staatlichen Bibliotheken nicht mehr betreten dürfen. Immer wieder treffen sich die Freunde auf dem Anwesen der Finzi-Continis zum Tennisspiel, das nur noch dort möglich ist, weil Juden die Mitgliedschaft im örtlichen Tennisclub inzwischen verboten ist. Der feinsinnige Giorgio verliebt sich in die ebenso schöne wie rätselhafte Micòl, die er seit Kindertagen kennt. Micòl macht Giorgio zunächst Hoffnungen, weist ihn
Gebürtig (Film von Robert Schindel und Lukas Stepanik, 2002)
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aber schließlich zugunsten des draufgängerischen Chemikers Giampiero Malnate (Fabio Testo) zurück, der mit linken Ideen sympathisiert. Nachdem Italien an der Seite Deutschlands in den Krieg eingetreten ist, zerfällt der Freundeskreis rasch: Alberto stirbt an einer heimtückischen Lungenkrankheit, Malnate fällt als Soldat des italienischen Expeditionskorps im Russlandfeldzug, während Giorgio als Einzigem die Flucht ins Ausland gelingt. Micòl und ihre Familie werden Ende 1943 Opfer einer antisemitischen Razzia. Zusammen mit den anderen Juden ihrer Heimatstadt werden sie in einem Schulhaus zusammengepfercht, wo sie ihre baldige Deportation erwarten. Der Film endet mit einer jüdischen Totenklage, die darauf verweist, dass die FinziContinins, Giorgios Vater und die anderen Mitglieder der jüdischen Gemeinde Ferraras in den Vernichtungslagern den Tod fanden. Wie der Roman stieß auch der Film auf großes Publikumsinteresse, unbesehen davon, dass der Romancier der Filmadaption Verrat an der Figurenzeichnung der literarischen Vorlage vorwarf. 1971/72 gewann De Sicas Werk mehrere bedeutende Filmpreise, darunter den Goldenen Bären in Berlin und den Oscar für den besten ausländischen Film.
Aram Mattioli
Literatur Áine O’Healy, Vittorio De Sica in the Garden of the Finzi-Continis, in: Roberta Antognini, Rodica Diaconescu Blumenfeld (Hrsg.), Poscritto a Giorgio Bassani. Saggi in memoria del decomi anniversario della morte, Mailand 2011, S. 499–516. Millicent Marcus, Italian Film in the Shadow of Auschwitz, Toronto 2007. Emiliano Perra, Conflicts of Memory. The Reception of Holocaust Films and TV Programmes in Italy, 1945 to the Present, Oxford, Bern 2010. Hans Woller, Die Juden von Ferrara in den „Erinnerungen des Herzens“. Giorgio Bassanis Roman „Die Gärten der Finzi-Contini“, in: Johannnes Hürter, Jürgen Zarusky (Hrsg.), Epos Zeitgeschichte. Romane des 20. Jahrhunderts in zeithistorischer Sicht, München 2010, S. 101–116.
Gebürtig (Film von Robert Schindel und Lukas Stepanik, 2002) Der Film „Gebürtig“ ist eine österreichisch-deutsch-polnische Koproduktion aus dem Jahr 2002. Als Vorlage des Drehbuches diente der gleichnamige Roman des österreichischen Schriftstellers Robert Schindel aus dem Jahr 1992. Schindel übernahm zusammen mit Lukas Stepanik die Regie und das Drehbuch, an dem auch Georg Stefan Toller mitwirkte. Die Geschichte spielt in den 1980er-Jahren und wird aus der Sicht von Danny Demant erzählt. Er ist Jude, lebt in Wien und arbeitet als Kabarettist. Seine Mutter ist Holocaustüberlebende, sein Vater wurde im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Danny Demant erinnert in seiner Biografie an den Autor Robert Schindel, der sich als Schriftsteller selbst intensiv mit jüdischen Identitäten in Österreich auseinandersetzt. Ausgehend von der Perspektive von Demant werden weitere Charaktere in die Handlung eingebaut: Herrmann Gebirtig, ein erfolgreicher Musicalschreiber, der in New York lebt, er ist Überlebender des Konzentrationslagers Ebensee, seine Eltern wurden von den Nationalsozialisten ermordet; Susanne Ressel, die Tochter eines kommunisti-
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Gebürtig (Film von Robert Schindel und Lukas Stepanik, 2002)
schen Widerstandskämpfers und Ebensee-Überlebenden; Konrad Sachse, der Sohn eines SS-Lagerarztes des Vernichtungslagers Auschwitz, der bei den Nürnberger Prozessen zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Die Geliebte von Danny Demant ist die Notärztin Christiane (Crissie) Kalteisen. Danny Demant, die zentrale Figur des Filmes, erzählt die Geschichte aus dem Off, von ihm ausgehend entwickeln sich die Handlungsverläufe. Demant übernimmt eine Rolle in einem US-Holocaustfilm, der in Auschwitz gedreht wird. Bei den Dreharbeiten lernt er Konrad Sachse kennen, der als Journalist eine Story zu diesem Film schreiben soll und unter der Verbrechensgeschichte seines Vaters leidet. Demants Freundin Susanne Ressel ist eine Bekannte von Sachse. Sie war in Österreich in den Bergen mit ihrem Vater, wobei dieser den ehemaligen SS-Oberscharführer Rudolf Pointner in einer Hütte wiedererkennt. Vor Aufregung stirbt Susannes Vater. Pointner, der eine neue Identität angenommen hat, wird angeklagt. Der einzige noch lebende Zeuge für den Prozess ist Herrmann Gebirtig, der sich vorerst weigert, nach Österreich für den Prozess zurückzukommen. Susanne Ressel gelingt es schließlich, Gebirtig zu überreden, gegen Pointner auszusagen. Trotz der Aussage von Gebirtig wird Pointner aber freigesprochen, Gebirtig kehrt überstürzt nach New York zurück. Der Film zeigt Menschen, die verschiedene Erinnerungsnarrative verbinden und trennen. Die Erinnerungen sowohl der Opfer als auch der Täternachkommen werden als traumatische Erfahrungen dargestellt. Dieser gemeinsame Bezug zur NS-Vergangenheit ist gleichsam das spezifische Merkmal der unterschiedlichen Identitäten. Die Geschichte des US-amerikanischen Holocaust-Filmes in dem Film thematisiert Visualisierungsformen von NS-Verbrechen und Erinnerung, wodurch sich „Gebürtig“ selbst reflektiert. Antisemitismus ist ein wichtiges Grundthema des Filmes. Die Handlung ist in die Jahre der sogenannten Waldheim-Affäre gelegt, im Zuge derer durch die Thematisierung der NS-Vergangenheit von Kurt Waldheim und seines aggressiv geführten Bundespräsidentenwahlkampfes kontroverse erinnerungspolitische Debatten in Österreich geführt wurden. Diese Kontroversen bilden den Hintergrund der Erzählung. So argumentiert etwa Gebirtig anfangs, aufgrund der drei Worte „Jetzt erst recht“ nicht nach Wien zurückkommen zu wollen. Diese Worte wurden von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) im Zuge des Wahlkampfes für Waldheim als Antwort auf die Aufdeckung seiner Vergangenheit plakatiert. Wien wird in einem Kabarettstück von Danny Demant so charakterisiert: „Einst Welthauptstadt des Antisemitismus, ist sie heute Vergessenshauptstadt worden.“ In dieser Szene sitzt Demant auf einem Holzpferd, das vom österreichischen Künstler Alfred Hrdlicka als Zeichen des Protestes gegen Waldheim gestaltet wurde (in Zusammenhang mit Waldheims Mitgliedschaft bei der Reiter-SA), und im Hintergrund ist eine Karikatur von Kurt Waldheim in einer Sonne über der Skyline von Wien zu sehen. Die Verknüpfung des gegenwärtigen Wien mit der NS-Geschichte beschäftigt auch Herrmann Gebirtig während seines Wienaufenthalts, insbesondere als er Orte seiner Jugend aufsucht und die Barrieren zwischen sich und anderen Zeitgenossen erkennt. „Gebürtig“ ist ein Film, in dem die persönlichen Folgen der NS-Vernichtungspolitik thematisiert werden, die „gläserne Wand“ zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen Nachkommen der Überlebenden und der Täter in Österreich. Das öffentliche
Gedanken (Buch von Max Bewer, 1892)
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Wiedererstarken antisemitischer Diskurse im Österreich der 1980er-Jahre unterstreicht die pessimistische Grundstimmung des Filmes.
Lukas Meissel
Literatur Christoph Houswitschka, Erkennedichfremd in Robert Schindels Film Gebürtig (2002), in: Iris Hermann (Hrsg.), Fährmann sein. Robert Schindels Poetik des Übersetzens, Göttingen 2012, S. 147–162. Andrea Kunne, „Verschwinden. Zwischen den Wörtern“. Sprache als Heimat im Werk Robert Schindels, Innsbruck, Wien, Bozen 2009.
Gedanken (Buch von Max Bewer, 1892) Das Buch „Gedanken“ ist eine Aufsatz-, Gedicht- und Aphorismensammlung des völkischen Schriftstellers Max Bewer (1861–1921). Es erschien 1892 in drei Auflagen anonym im Dresdner Glöß-Verlag. Das Werk vereint nationalistische, rassistische und religiöse Feindbildkonstruktionen und versucht eine Synthese aus katholischem und völkischem Antisemitismus. Stilistisch lehnt sich Bewers „Gedanken“ an das Bestsellerwerk „Rembrandt als Erzieher“ (1890) des Kulturphilosophen Julius Langbehn (1851–1907) an. Ähnlich wie Langbehn operierte Bewer mit apodiktischen Setzungen, kruden Vergleichen sowie Analogien und propagierte einen wissenschaftsfeindlichen Vitalismus. Inhaltlich ist der Antisemitismus bei Bewer allerdings ungleich zentraler und radikaler. Alles „Jüdische“ wird in einen diametralen Gegensatz zum „Deutschen“ gesetzt: „Edle Juden gibt es nicht. Was in den Juden edel ist, ist deutsch, auf jeden Fall ist es nicht jüdisch. Ein edler Jude fängt damit an, dass er aufhört, Jude zu sein und Juden zu dulden. […] Alles, was sympathisch an den Juden ist, ist auf arisches Blut zurückzuführen.“ In den „Gedanken“ wird ein Antisemitismus vertreten, der gleichermaßen nationalistisch und rassistisch wie religiös geprägt ist. Mit dieser Kombination versuchte Bewer, den katholischen Antisemitismus seiner niederrheinischen Heimat mit dem nationalistischrassistischen Antisemitismus der völkischen Bewegung Sachsens, in der der Schriftsteller seit 1890 verkehrte, zusammenzuführen. Den Rassebegriff wollte der Autor daher nicht biologistisch verstanden wissen. Vielmehr seien physische und charakterliche Rassenmerkmale als Lohn oder Strafe Gottes aufzufassen. Dieses Zugeständnis an christliche Vorstellungen trug allerdings keineswegs zur Milderung von Bewers Antisemitismus bei. Im Gegenteil verlieh die Betonung des Faktors Religion Bewers Judenfeindlichkeit eine apokalyptische Note. So stellte er die Deutschen als auserwähltes Gottesvolk dar, das ausersehen sei, anlässlich der Wiederkunft Christi ein Strafgericht über die Juden, die den Teufel auf Erden repräsentierten, abzuhalten. Passend zur Fusion von Nationalismus, Rassismus und Christentum bemühte sich Bewer um den Nachweis, dass Jesus nicht Jude, sondern Arier und Antisemit gewesen sei. Jesus sei ein Nachfahre niederdeutscher Einwanderer Galiläas gewesen. Den Übergang des Reiches Gottes an die Heiden (Math. 21,43) interpretierte Bewer als Übergang an die Deutschen. Auch Bewers Auslassungen über die Ritualmordlegende zeugen von dem Bemühen, christliche und nationalistisch-rassistische Elemente des Antisemitismus zusammenzuführen. Anlässlich des Xantener Knabenmordes (1891)
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Die Geschichte des Joseph Oppenheimer genannt Jud Süss (Theaterstück, 2011)
stützte Bewer das Gerücht eines jüdischen Ritualmordes. Allerdings benötigten die Juden das Christenblut nicht für religiöse Rituale, sondern für eine isopathische Therapie zur Reinhaltung ihrer Rasse. An die religiösen Themen, die Bewer in seinem Buch → „Der deutsche Christus“ (1907) vertiefte, schließen sich in den „Gedanken“ gesellschaftskritische Betrachtungen an. In Übereinstimmung mit Bewers Gesinnungsgenossen Langbehn, dessen Rembrandtbuch er überschwänglich pries, prangerte er Urbanisierung, Wissenschaftsdenken und kapitalistische Wirtschaftsgesinnung an. All das führe zur Entfremdung der Deutschen von ihrer ländlichen und regionalen Verwurzelung und begünstige, unter den Vorzeichen von Aufklärung, Toleranz, Liberalismus und Sozialismus, die Juden: „Das Vieh schächten die Juden, ohne es vorher zu betäuben; die Völker versetzen sie vorher in eine Humanitäts- und Toleranznarkose.“ Abzuwenden sei die „Judenherrschaft“ nur durch die Rücknahme der Judenemanzipation, Ausnahmegesetze, Ausweisung und notfalls auch durch genozidale Gewalt im Rahmen eines apokalyptischen Endkampfes zwischen Deutschtum und Judentum. Frömmigkeit, Bauerntum und niederdeutsche Regionalkultur sollten mittels einer völkischen Regeneration vor dem Verfall gerettet werden. Den Ausgangspunkt hierfür erkannte Bewer im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen nicht im Kulturprotestantismus, sondern in einem antiultramontan geläuterten Katholizismus: „Die deutsche Gesellschaft, die von der Sozialdemokratie bedroht, vom Judentum zersetzt und vom Protestantismus individualisiert wird, kann nur durch den Katholizismus von Neuem organisiert werden.“ Bewers „Gedanken“ wurde von der völkischen Presse überwiegend positiv besprochen, so unter anderem von den „Bayreuther Blättern“. Außerhalb völkischer Kreise war das Buch hingegen kaum bekannt. Bewers Versuch, katholischen und völkischen Antisemitismus zusammenzuführen, erntete im Kaiserreich auf protestantischer wie katholischer Seite nur geringe Resonanz. Das änderte sich in der Weimarer Republik. Die Nationalsozialisten erzielten ihre frühen Erfolge im Münchener Raum mit diesem ideologischen Ansatz und verfügten, wie Derek Hastings nachgewiesen hat, über das Profil einer völkisch-katholischen Regionalpartei. Inwiefern die Nationalsozialisten dabei tatsächlich auf Bewers Schriften zurückgriffen, ist noch nicht erforscht.
Thomas Gräfe
Literatur Thomas Gräfe, Katholischer und völkischer Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Schnittmengen und Übergänge am Beispiel des Schriftstellers Max Bewer, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 20 (2010), S. 156–179. Derek Hastings, Catholicism and the roots of Nazism. Religious Identity and National Socialism, Oxford 2010.
Das Geheimnis des Golem → Tatort Der gelbe Fleck (Theaterstück, Warschau 1934) → Professor Mamlock (Drama von Friedrich Wolf, 1934) Die Geschichte des Joseph Oppenheimer genannt Jud Süss (Theaterstück, 2011) → Jud Süß in der Literatur
Die Geschwister Oppermann (Roman von Lion Feuchtwanger, 1933)
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Die Geschwister Oppermann (Roman von Lion Feuchtwanger, 1933) Der ursprünglich unter dem Titel „Die Geschwister Oppenheim“ publizierte Roman Lion Feuchtwangers kann als erste literarische Verarbeitung des NS-Terrors nach der Machtübertragung gelten. 1933 bereits erschien das Werk erstmals bei Querido in Amsterdam, im selben Jahr wurde es auch in einer englischen und einer französischen Übersetzung herausgebracht. Die Erzählung, die Feuchtwanger im Exil in Sanary sur mer verfasste, ist der zweite Teil seiner Trilogie „Der Wartesaal“. Der Roman schildert die Geschichte der Möbelhändlerfamilie Oppermann und setzt am 50. Geburtstag des Seniorchefs Dr. Gustav Oppermann ein. Dieser kann es sich leisten, das Tagesgeschäft seinem Bruder Martin zu überlassen und stattdessen als Privatgelehrter in seiner Villa am Rande des Grunewalds zu leben. Während des Romangeschehens schreibt er ausgerechnet an einer Biografie Lessings, die er allerdings nicht vollenden wird. Sein zweiter Bruder Edgar arbeitet als angesehener Kehlkopfspezialist an der Charité in Berlin und seine Schwester Klara ist mit dem erfolgreichen jüdisch-amerikanischen Geschäftsmann Jacques Lavendel verheiratet. Der Roman spielt 1932 bis 1933 und enthält keine „wirklichen, sondern historische Menschen“, wie Feuchtwanger in seinem kurzen Nachwort betont. Zwar sei die Erzählung „bildnishaft“ verdichtet, sie gründe sich aber auf tatsächliche Quellen: „Material über die Anschauungen, Sitten und Gebräuche der ‚Völkischen‘ in Deutschland findet sich in Adolf Hitlers Buch ‚Mein Kampf‘, in den Berichten jener, die aus den Konzentrationslagern entkamen, sowie insbesondere in den amtlichen Bekanntmachungen des ‚Deutschen Reichsanzeigers‘, Jahrgang 1933.“ Die Oppermanns erleben – und unterschätzen – in ihren jeweiligen Lebensbereichen den Aufstieg der Nationalsozialisten. Besonders Gustav artikuliert immer wieder seine Überzeugung, dass „die weitaus meisten Deutschen […] keine Hakenkreuzler [sind]. Mit ihrem ganzen Geld und Schmierenzauber haben [die Nationalsozialisten nur] knapp ein Drittel der Bevölkerung dummmachen können. […] Nein, […] das Volk ist gut.“ Freilich müssen die Oppermanns bald registrieren, dass der Antisemitismus, dem sie anfangs noch argumentativ oder abwartend begegnen wollen, nicht nur längst salonfähig geworden ist, sondern beginnt, handfeste Auswirkungen zu haben. Während Martins Sohn Berthold in der Schule in eine existenzielle Auseinandersetzung mit seinem nationalsozialistischen Lehrer Dr. Vogelsang gerät und nach einem Vortrag in die Enge getrieben und gedemütigt werden soll, werden die Inhaber des Möbelhauses zu immer weiterreichenden Zugeständnissen an ihren Widersacher Heinrich Wels gedrängt. Zunächst hat es noch den Anschein, als könnte die Umwandlung zweier Filialen in die „Deutsche Möbelwerke AG“ zumindest einen Teil des Familienbetriebs retten, doch schon bald wird klar, worauf die Verhandlungen mit dem sich immer antisemitischer gerierenden Wels hinauslaufen: auf einen kompletten Verlust der Firma und eine „Arisierung“ – wenngleich im Roman der Begriff nicht benutzt wird. Allmählich wird die gesamte Familie Opfer der „Völkischen“: Berthold hält den Druck nicht mehr aus und ist nicht bereit, sich öffentlich demütigen zu lassen – zumal er weiß, dass er nicht falsch gehandelt hat und der Konflikt mit Vogelsang unvermeid-
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Die Geschwister Oppermann (Roman von Lion Feuchtwanger, 1933)
bar war. Er nimmt eine Überdosis Schlaftabletten und stirbt. Edgar verliert seine Stellung als Professor und emigriert mit seiner Familie; seine Tochter Ruth, die sich als Antwort auf die zunehmende Barbarei der Nationalsozialisten immer stärker zionistisch engagierte, geht nach Palästina. Martin muss noch Bekanntschaft mit den Methoden der SA-„Landsknechte“ in einem der berüchtigten Keller machen, weil er sich den „Anordnungen“ des Betriebsrats, jüdische Mitarbeiter zu entlassen, widersetzt hat. Schließlich flieht er mit seiner Ehefrau außer Landes. Und auch die Familie der Schwester Klara muss ihre Existenz in Deutschland aufgeben: „Jetzt hatten die Oppermanns keinen Mittelpunkt mehr […]. Was drei Generationen in Berlin, was drei mal sieben Generationen von ihnen in Deutschland aufgebaut hatten, ist hin.“ Doch es soll noch schlimmer kommen: Gustav, der in seinem Schweizer Exil von den Grausamkeiten in Deutschland erfährt und ertragen muss, dass sein ältester Freund in einem Konzentrationslager zu Tode gequält wurde, entschließt sich, unter falscher Identität in sein Heimatland zurückzukehren. Er will mit eigenen Augen sehen, wie es nun zugeht – doch wird diese gefährliche Reise auch zu einer Art Sühnefahrt: Er konnte es nicht verwinden, selbst davongekommen zu sein, während andere im Reich ausharren wollten oder mussten. So bekommt auch seine unvermeidliche Verhaftung für ihn einen höheren Sinn: „Dumpf, tief im Innern, hatte er immer gespürt, daß sein Unternehmen ein solches Ende haben werde, hier zu stehen, den Körper gestrammt, grausam beaufsichtigt von dummen, gutartigen Jungens. Trotzdem hatte er sich seiner Aufgabe lustvoll hingegeben.“ Erst kurz bevor er im Konzentrationslager Moosach zusammenbricht, erkennt er, wie sinnlos sein Unterfangen wirklich war. Doch da ist es bereits zu spät: Obgleich Gustav noch einmal freikommt, stirbt er an den Folgen der Misshandlungen. Feuchtwangers Absicht, mit seinem Roman nicht nur eine exemplarische Geschichte vom nationalsozialistisch forcierten Niedergang einer Familie und damit eine Art jüdischer Buddenbrook-Variante zu erzählen, sondern den fiktionalen Rahmen auch zu benutzen, um dokumentarisches Material über den Terror im Deutschen Reich zu verbreiten, ist an vielen Stellen deutlich. Dieses Anliegen, den Roman zu einer eigenständigen Quelle zum Alltag im jungen „Dritten Reich“ zu machen, führt öfter zum Verlust der literarischen Dynamik – allerdings entspricht es Feuchtwangers Verständnis seiner schriftstellerischen Tätigkeit in diesen Jahren. Er war von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler auf einem Empfang in Washington überrascht worden, vorher hatte er noch in Interviews zuversichtlich geäußert: „Hitler is over.“ Jetzt aber verstand er sofort – und wollte mit literarischen Mitteln dokumentieren, was vor sich ging. Sein nunmehr neues Statement „Hitler means war“ wurde weltweit zitiert. Der Roman, der ursprünglich aus einem Filmprojekt hervorging, das von der britischen Regierung in Auftrag gegeben, dann aber nicht realisiert wurde, stieß auf ein geteiltes Echo: Während Klaus Mann das Werk lobte, befand Kurt Tucholsky es als „ganz schlecht – strohig, aus Pappe“. Auch Feuchtwanger selbst sah seinen antifaschistischen Roman später kritisch. Er habe sich „in einigen Kapiteln zu sehr von den Eindrücken des Augenblicks hinreißen lassen“. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – wurde der Roman zum Longseller, der 1983 auch noch erfolgreich verfilmt wurde.
Sascha Feuchert
Das Ghetto von Berlin (Kriminalroman von Adolf Sommerfeld, 1923)
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Literatur Lion Feuchtwanger, Die Geschwister Oppenheim, Amsterdam 1933 [ab 1949 dauerhaft unter dem eigentlichen Titel „Die Geschwister Oppermann“ wiederaufgelegt, zuletzt Berlin 2013]. Heike Krösche, „Ja. Das Ganze nochmal“. Lion Feuchtwanger: Deutsch-Jüdisches Selbstverständnis in der Weimarer Republik, Oldenburg 2004. Peter Thalheim, Lion Feuchtwanger, Die Geschwister Oppermann. Interpretation, München 1994. Roland Weinert, Lion Feuchtwangers „Wartesaal-Trilogie“. Zur Konzeption des Zeitromans vom „Typ Feuchtwanger“, Köln 1988.
Das Ghetto von Berlin (Kriminalroman von Adolf Sommerfeld, 1923) Adolf Sommerfeld ist heute in keinem der einschlägigen Handbücher und Nachschlagewerke mehr zu finden. In den Autorenverzeichnissen wird er erstmals 1913 genannt, die letzten Einträge finden sich 1932. Den wenigen Angaben zufolge wurde Sommerfeld am 13. Juli 1870 in Schroda in der Provinz Posen geboren. Als Autor wandte er sich der Politik sowie der Belletristik zu und verfasste Übersetzungen aus dem Italienischen, Französischen und Spanischen. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit war er auch als Dramaturg, Drehbuchautor und Filmregisseur tätig. Verschiedene Indizien weisen auf eine jüdische Abstammung Adolf Sommerfelds hin, u. a. auch das abrupte Ende seiner Publikationstätigkeit und das Fehlen in späteren Autorenverzeichnissen. Sommerfeld erzielte vor allem in den 1920er- Jahren mit seiner mehrbändigen Krimi-Reihe „Aus dem dunkelsten Berlin“ große Erfolge beim Publikum. Darunter befand sich auch der 1923 erschienene Roman „Das Ghetto von Berlin – Aus dem Scheunenviertel“, der in den 1990er-Jahren neu aufgelegt wurde. Die Milieustudie zeichnet ein Bild des Berliner Scheunenviertels, d. h. jener Region, die sich in BerlinMitte zwischen dem Hackeschen Markt und dem Rosa-Luxemburg-Platz befindet. Zu einer Art Ghetto wurde das Scheunenviertel, da sich dort zum Ende des 19. Jahrhunderts viele Juden aus dem Osten ansiedelten, die vor den Pogromen aus ihren Heimatländern, vor allem aus Russland und Galizien geflohen waren. Das heruntergekommene Viertel bot dank seiner günstigen Mieten vielen jüdischen Auswanderern eine neue Heimat, die schließlich deutlich durch das äußere Erscheinungsbild der Einwanderer sowie durch deren traditionelle Lebensweise geprägt wurde. Die billige Wohnsituation zog allerdings auch Klein- und Großkriminelle, Arbeitslose, Prostituierte und Zuhälter an. In diesem lebhaften, nicht ganz ungefährlichen Umfeld ist Sommerfelds Kriminalroman angesiedelt. Noa Pufeles, ein Ostjude aus Krakau, kommt nach Berlin und mietet sich bei der ehemaligen Leichenwäscherin Rochel Machschewes und deren schöner Tochter Esther in der Grenadierstraße ein. Im Haus wohnt eine bunte Mischung aus Prostituierten, Arbeitslosen und kleinbürgerlichen Familien mit ihren kleinen und größeren Nöten. Fast alle versuchen mit legalen oder illegalen Mitteln das Beste aus ihrem Leben zu machen. Beliebter Umschlagplatz für die kriminellen Energien ist die
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Gockel, Hinkel und Gackeleia (Kunstmärchen von Clemens Brentano, 1811)
Kneipe im Erdgeschoss des Hauses, in welcher verbotene Glücksspiele veranstaltet werden, gefälschte Dokumente den Besitzer wechseln und alle Arten zwielichtiger Geschäfte getätigt werden. Noa Pufeles, der sich bald Nero Pufèles nennt, um weltgewandter und weniger jüdisch zu wirken, lebt sich schnell in die Berliner Halbwelt ein und macht gewinnbringende Geschäfte mit Drogen, Schmuggel und Börsenspekulationen. Unter anderem plant er, einen lukrativen Mädchenhandel aufzuziehen und die schöne Esther an ein Bordell zu verkaufen. Unterdessen bereitet eine der im Haus wohnenden Prostituierten zusammen mit ihrem Zuhälter einen Einbruch in die Wohnung des reichen Hausbesitzers vor, der schließlich erfolgreich in die Tat umgesetzt wird. Neben all den Ganoven wohnen aber auch ein paar ehrliche Charaktere im Haus. So stellt die Familie des Rabbinatskandidaten Speckowski das genaue Gegenteil der anderen Mietparteien dar: Sie ist freundlich, gesetzestreu und hält die religiösen Sitten ehrenhaft ein. Die Figuren in „Das Ghetto von Berlin“ wirken nicht zuletzt so lebensnah, weil sie zumeist im alltäglichen Jargon sprechen und viele jüdische Begriffe in die Dialoge eingeflochten werden. Auffällig ist, dass sich Sommerfeld stellenweise sehr verallgemeinernd über die Ostjuden äußert, so beschreibt er Frau Machschewes und Noa Pufeles: „Beide blieben das, wozu ihre Heimat und die jahrhundertelange Isolierung sie erzogen und gezüchtet hatte: materiell gerichtete Menschen, die nur im Geldbesitz das allein zu erstrebende Glück suchten, denn mit dem Gelde ließen sich ihrer Ansicht nach alle Freuden des Lebens käuflich erwerben.“ Solchen antisemitischen Klischees, die mittels Äußerungen dieser Art eindeutig bedient werden, stehen jedoch die vielen positiven Eigenschaften einzelner Figuren gegenüber, sodass vordergründig im Fokus steht, dass edle und schlechte Charaktereigenschaften – unabhängig vom religiösen Hintergrund – überall zu finden sind. „Das Ghetto von Berlin“ spiegelt letztlich kritisch, aber nicht abwertend, den jüdischen Alltag im Scheunenviertel der 1920er-Jahre, in dem Verbrechen, Armut und Missgunst ebenso stattfinden wie Ehrlichkeit, Nächstenliebe, und Nachbarschaftshilfe.
Kristin Nieter
Giriga händer (Film, 1937) → Schwedische Kinoproduktionen Die Glocke (Buch von Johann Gottlieb Munder, 1849) → Jud Süß in der Literatur
Gockel, Hinkel und Gackeleia (Kunstmärchen von Clemens Brentano, 1811) Eines der großen Kunstmärchen der Romantik ist Brentanos „Gockel, Hinkel und Gackeleia“, das auf Motiven des neapolitanischen Textes „La pietra del gallo“ von Giambattista Basile basiert. Brentano schrieb die erste Fassung 1811, die Spätfassung 1837/1838. Das Märchen ist durch mehrere Umschwünge gekennzeichnet, jeweils durch einen Zauberring verursacht, mit dem man sich nicht nur Jugend, Reichtum und
Gockel, Hinkel und Gackeleia (Kunstmärchen von Clemens Brentano, 1811)
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Glück, sondern auch Schreckliches wünschen kann. Als Handelnde stehen sich der rechtmäßige Erbe des Ringes Raugraf Gockel von Hanau und drei Juden gegenüber. Gockel, der frühere Hühnerminister der Könige von Gelnhausen, kehrt, in Ungnade gefallen, mit seiner Gattin Hinkel und der Tochter Gackeleia auf das verfallene Schloss seiner Vorfahren zurück. Manchmal lässt er die Familie allein, zum Beispiel, um zwei Mäuse vor einer Katze zu retten. Während seiner Abwesenheit verschulden Hinkel und Gackeleia den Tod der Stammhenne Gallina und ihrer Küken. Auch der Stammhahn Alektryo will daraufhin sterben, zumal sein Tod die Familie retten könnte, wie er dem erstaunten Gockel erzählt. Widerstrebend köpft dieser seinen heldenhaften Hahn. Aus dem Kropf des toten Alektryo fällt der Ring Salomonis, ein alter Besitz der Raugrafen von Hanau. Er verhilft Gockel und den Seinen zu Schönheit, Wohlstand und Ansehen in Gelnhausen. Auch freundet sich Gackeleia mit dem Königssohn Kronovus an. Das Mädchen verschuldet jedoch den Verlust des Zauberringes. Es lässt sich von drei jüdischen Petschierstechern überlisten, und die Familie fällt wieder in Armut zurück. Obendrein vermissen die Eltern zunächst ihre Tochter, die versucht, den Ring zurückzubekommen. Sie hat Glück. Das früher vom Vater gerettete Mäusepaar hilft ihr aus Dankbarkeit. Wieder im Besitz des Zaubersteins bestraft Gackeleia die Petschierer. Alektryo erwacht dank der Zauberkraft des Steins zu neuem Leben. Gackeleia heiratet Kronovus und wird Königin von Gelnhausen. Zuletzt wünscht sie sich, dass die Hochzeitsgesellschaft in schöne fröhliche Kinder verwandelt wird, die dann alle um den Hahn Alektryo herumsitzen, der ihnen die Geschichte der Familie erzählt. Dreimal stürzt die Familie ins Unglück. Als Verursacher stellen sich in jedem Fall „die Juden“ heraus: Sie haben nicht nur Gackeleia getäuscht und somit den Ring erobert, sondern sie hatten schon zuvor die Entlassung Gockels am Hof von Gelnhausen betrieben und auch die mordlustige Katze auf Alektryos Familie angesetzt. Von ihnen geht alles Unglück der Titelhelden aus. Sie erscheinen von Beginn an als skrupellose, geldgierige und geizige Handelsleute. Schon als die drei Juden, als „große Naturphilosophen“ betitelt, zum ersten Mal die Szenerie betreten, versuchen sie mit viel Heimtücke, Gockel seinen wertvollen Hahn für einen geringen Preis abzukaufen. Ihre Geldgier wird ihnen schließlich zum Verhängnis: Jeder von ihnen will den Ring tragen, sie befürchten, der andere könne ihm „den Tod wünschen“. Sie benutzen den Ring nur, um sich Geld, Hofämter und Titel zu verschaffen: „Da sah ich drei junge, freche Gesellen in einem Saale in heftigem Zank, und zwischen ihnen lag ein schöner Ring […]. Sie hatten jeder eine andere seltsame Uniform und nannten sich Kommerzienrat, Hoffaktor und Hoflieferant und schrien und lärmten ganz gewaltig. Jeder warf dem andern vor, er wolle ihn übervorteilen, jeder wollte den Ring vor allen andern haben“, schreibt Brentano im Märchen. Durch die Aufnahme tradierter antijüdischer Klischees gewinnt der Text sozialpolitische Brisanz: Nicht nur, weil der in den Debatten der Zeit gravierende Vorwurf der „Verstellungskunst“ akzentuiert wird, wenn einer der Petschierstecher sich als gütiger alter Mann ausgibt und so durch Betrug der naiven Gackeleia den Ring abjagt. Wichtiger erscheint, dass „die Juden“ als handlungsfähiges Kollektiv vorgestellt werden, das über finanzielle Vorteile hinaus auch gesellschaftliche Macht erlangen will. Sie wünschen sich neben „Gold und Ehr und Glanz“ eine höfische Laufbahn und den da-
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Gockel, Hinkel und Gackeleia (Kunstmärchen von Clemens Brentano, 1811)
mit verbundenen Einfluss: „Mache uns zu Hofagenten, Hoffaktoren, Konsulenten, Rittern und Kommerzienräten, Kommissaren und Propheten! […] Mach uns glücklich ganz enorm, Orden gieb und Uniform!“ Die drei Juden wollen nicht nur reich sein, sie wollen als moderne Karrieristen auch die Entwicklung der Gesellschaft in ihrem Sinne mitgestalten. Gegen „die Welt“ halten sie zusammen, untereinander aber sind sie uneins. Ähnlich wie in Lessings Ringparabel erweist sich jedoch auch hier richtiges Handeln als Indikator für den wahren „Erben“ und Besitzer des Rings. Die Petschierstecher disqualifizieren sich bis zuletzt durch Diebstahl, Streit untereinander und auch dadurch, dass sie mit dem Ring niemanden „glücklich“ machen und mit ihrem Geschäftsgebaren die Wirtschaft des Landes ruinieren. Am Schluss werden sie in Esel verwandelt. Gockel und seine Familie haben dagegen gelernt, sich „das Richtige“ zu wünschen. Und einen weiteren, aber negativ konnotierten Entwicklungsweg zeigt Brentano in seinem Text. Aus den sogenannten Messejuden mit Bart, Bock und Ziege werden durch die Möglichkeit der bürgerlichen Emanzipation Petschierstecher, ein Beruf, der aber nur in betrügerischer Absicht erlernt wird. Damit nicht zufrieden, wollen die drei durch Betrug Hofämter und Adelstitel erwerben. Die Spätfassung des Gockelmärchens verstärkt noch die Warnung vor dem emanzipierten Judentum, den Vertretern des Neuen und Bösen. Die jüdischen Männer werden von Beginn an Petschierstecher genannt. Ihr Eingeständnis, alles unternommen zu haben, um „Jugend und Reichtum, alle Güter der Welt“ zu erlangen, wird in der Fassung von 1837/38 noch durch den Zusatz „Geld! – Geld! – Geld! – Geld!“, den alle drei wiederholen, pointiert. Generell verstärkt die Spätfassung die klischeehafte Darstellung. Auf die alte Typendarstellung verweist die Tätigkeitsbeschreibung, der „Handel mit Vieh, alten Kleidern und Hasenpelzen“. Der negative Handelsaspekt wird besonders durch die detaillierte Beschreibung des Puppenbetrugs unterstrichen, aus dem hervorgeht, dass der „Alte“ Geld verleiht und durch die Zahlungsunfähigkeit eines Schuldners in den Besitz der Kleider gelangt ist: „Ich verstehe nichts davon, Doch ein hoher Kunstpatron, Der mir schuldet, leider, leider! Zahlte mich durch diese Kleider.“ Beim Puppenbetrug wird auch der Aspekt des Zauberischen betont, der schon durch die Einführung der drei als „Naturphilosophen, Kabbalisten und Petschierstecher“ (in der Urfassung von 1811 waren sie nur „Naturphilosophen“) angedeutet wurde. Erwähnt werden in dieser Szene auch zwei für die Darstellung jüdischer Figuren auf der Bühne typische Kennzeichen: Speisegesetze und Nachahmung vermeintlich jüdischer Sprechweise. Verstärkt sind der Geldaspekt und das negative Erscheinungsbild der Juden, sie sind nicht mehr nur „drei alte bärtige Männer“, sondern „drei alte schmutzige Männer mit langen Bärten“. Zu diesen Theater-Klischees kommen die neuen hinzu, die in Ablehnung der Emanzipationsbewegung entstanden sind. Eine Abschwächung der antijüdischen Tendenz ist in der Spätfassung nur an drei Stellen festzustellen, zweimal, wenn die Bezeichnung „Juden“ durch „Petschierstecher“ und „Männer“ sowie einmal „Betrüger“ durch „Petschierstecher“ und „Salzgrafen“ ersetzt wird. Jedes Mal steht als Ersatz ein Synonym für das emanzipierte Judentum. Die plakative Betitelung fällt weg, dafür werden die Angriffe auf die Emanzipation umso deutlicher. Im Unterschied zur Quelle von Basile scheint die Etikettierung der Händler als „jüdisch“ von Brentano zu stammen. Dieser ändert auch den Ausgang der Erzählung: Ba-
Die Goldschilds (Roman von Friedrich Fürst Wrede, 1912)
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sile lässt die Esel von einem Felsen herabstürzen, bei Brentano müssen sie als Sündenböcke und als Beispiel für das Versagen des aufklärerischen Bildungs- und Toleranzgedankens weiter bleiben.
Ramona Ehret
Literatur Marco Puschner, Antisemitismus im Kontakt der Politischen Romantik. Konstruktionen des „Deutschen“ und des „Jüdischen“ bei Arnim, Brentano und Saul Ascher, Tübingen 2008. Martina Vordermeyer, Antisemitismus und Judentum bei Clemens Brentano, Frankfurt am Main u. a. 1999.
Goldene Ernten (Buch von Jan T. Gross und Irena Grudzińska-Gross, 2011) → Złote żniwa
Die Goldschilds (Roman von Friedrich Fürst Wrede, 1912) Der österreichische Schriftsteller Friedrich Eugen Ignatz Fürst von Wrede (1870– 1945) ist heute wenig bekannt. Er lebte in Salzburg und veröffentlichte auch unter dem Pseudonym Friedrich (vom) Stein. Der Roman „Die Goldschilds. Die Geschichte einer jüdischen Familie“ (Berlin 1912) beginnt im Jahr 1850. Er ist in vier Bücher unterteilt, die alle entweder mit konkreten Daten oder aber mit sich auf die vorherigen Kapitel beziehenden Zeitabschnitten eingeleitet werden, was dem Inhalt einen Realitätsbezug verleiht. Anhand der Familie Goldschild zeichnet Wrede die Geschichte der wiederholten Vertreibung und Wanderung einer jüdischen Familie nach, die bis ins 14. Jahrhundert zurückgeht. Zu Beginn des Romans kehrt der junge David Goldschild nach Abschluss seines Studiums und geprägt von seinem Engagement in der Revolution von 1848 zurück in sein Heimatstetl, und der Leser lernt mit den verschiedenen Protagonisten auch gleich die jüdischen Prototypen kennen. Schnell wird im ersten Absatz mit der Vorstellung des „reichen Viehhändlers Aron Spitzer“ und seines Beifahrers David, dessen „bleiches, eingefallenes Gesicht […] jene scharfe Ausbildung der nicht unschönen Züge, die der semitischen Rasse eigen ist und ihrer Jugend frühzeitig den Anschein geistiger Reife verleiht“, in den Roman eingeleitet und sogleich ein gängiges (hier wohl als positiv-rassistisch zu verstehendes) Stereotyp zum Judentum bedient. Das Bild des intelligenten, aber unpraktischen jüdischen Jünglings wird u. a. ergänzt durch die Schilderungen des geizigen und in Gelddingen eifrigen Onkels Nathan, des strengen und starren Rabbiners, dessen verwelkter Frau Miriam, durch Sarah, die alte „Apfel-Jüdin“, die strenggläubig Äpfel für die Kinder brät und ihnen die Geschichte ihres Volkes erzählt. Wredes meist positiv-rassistische Zuschreibungen entsprechen den Stereotypen seiner Zeit, auch wenn er in der Schilderung jüdischer Rituale und durch das Einbeziehen und Erklären jiddischer Begriffe sein Interesse und seine Kenntnis des Judentums zu verdeutlichen sucht. Drei Vettern mit unterschiedlicher Biografie und Bildung lässt Wrede die zeitgenössische politische Situation diskutieren, und die unterschiedlichen Meinungen, Hoffnungen oder Befürchtungen werden in den Positionen des Studenten David, des Rabbinersohnes Raphael und des Gasthausbesitzers und Geldverleihersohnes Isack deutlich.
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The Great Dictator (Film von Charlie Chaplin, 1940)
Bezüglich seines augenscheinlichen Interesses am Judentum wird Wrede von den Redakteuren der „Welt. Zentralorgan der Zionistischen Bewegung“, gegründet von Theodor Herzl und in den Jahren 1897 bis 1914 erschienen, ein sehr kenntnisreicher Umgang mit dem europäischen Judentum attestiert, und es wird positiv hervorgehoben, dass „Fürst Wrede […] nicht blind gegen die Fehler der Juden ist […], wenn er den jüdischen Schädling darstellt“, ist es doch „zufällig derselbe Schädling, den auch wir von unserem zionistischen Standpunkte bekämpfen“, so die Autoren der „Welt“. Mit den gegensätzlichen Vettern wird zum Teil recht plump der gute, freigeistige und intelligente Mensch (Jude) dem schlechten egoistischen und berechnenden Menschen (Juden) gegenübergestellt. „Auch Fürsten haben gegen Vorurteile zu kämpfen, die ihnen das Leben sauer machen.“ Mit diesen Worten beginnt der wohlwollende Artikel der „Welt“, die auch den Roman Wredes in einer Serie druckte. Der adelige Schriftsteller wird in Heft 25 vom 24. Juni 1898 sehr lobend mit seinem bisherigen Werk vorgestellt. Auch seine journalistischen Tätigkeiten für das „Berliner Tageblatt“, „Deutsche Revue“, „Nord und Süd“, „Gesellschaft“, „Neue Freie Presse“ und „Über Land und Meer“ werden erwähnt. Der Roman „Die Goldschilds“ wird im Artikel aber als das „beste und reifste Werk“ Wredes bezeichnet, das „von einer großartigen Auffassung der Bedeutung und der Aufgaben Israels am Ende des 19. Jahrhunderts“ durchzogen sei. In einem anderen Beitrag der „Welt“ wird Wrede im Zuge einer Umfrage nach seiner Meinung zu Zionismus und der Errichtung eines jüdischen Staates befragt. Bezogen auf den Antisemitismus führt Wrede aus: „Ich gefalle mir darin, vom Menschengeschlechte eine viel zu hohe Meinung zu haben, als daß dem Racenunterschiede ein so weitgehender Einfluß zuzuschreiben wäre. Denn jeder instinctive Haß ist etwas unbedingt häßliches. Er ist sogar verwerflicher als etwas häßliches – er ist kleinlich.“ Er erläutert weiterhin seine Ansichten zur Idee eines jüdischen Staates und scheint sich nicht entscheiden zu können, ob der mit der Realisierung dieser Idee verbundene Abschied von der Sehnsucht nach dem geistigen Ideal es wert sei, was im Hinblick auf die Geschichte naiv anmutet. Freigeistig und menschenfreundlich wie Friedrich Fürst Wrede sich „selbst gefällt“, scheint er kein Antisemit. Trotzdem spiegeln sich in seinen Protagonisten die gängigen salonfähigen Stereotype seiner Zeit.
Katharina Kretzschmar
Literatur Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisches und bibliographisches Handbuch von Wilhelm Kosch, Zweiter Band, Halle (Saale) 1930, S. 99.
Golgotha (Film, Frankreich 1935) → Jesusfilme
The Great Dictator (Film von Charlie Chaplin, 1940) Charles Chaplins (1889–1977) erster und letzter Tonfilm „The Great Dictator“ [Der Große Diktator] feierte 1940 Premiere und handelt von einem namenlosen jüdischen Friseur und dem Diktator von Tomanien, Adenoid Hynkel – beide gespielt von Chaplin –, die im Verlauf der Handlung unbeabsichtigt die Rollen tauschen, ohne dass
The Great Dictator (Film von Charlie Chaplin, 1940)
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beide Hauptfiguren je aufeinandertreffen. Chaplin nutzt die physische Ähnlichkeit – die er als rein zufällig darstellen will – zwischen dem Friseur und dem Diktator Hynkel, um beide Charaktere gegenüberzustellen. Auf der einen Seite steht der Friseur, der alles Menschliche verkörpert, auf der anderen Seite der Diktator, dessen Grausamkeit nur von seiner Verachtung der Menschen überboten wird. Gleichzeitig besteht die Hauptaufgabe der Verwechslung des jüdischen Friseurs und des „arischen“ Diktators darin, die wirren Rassentheorien der Nationalsozialisten ad absurdum zu führen. Ähnlichkeit und Verwechslung spielt auch bei der Auswahl der Namen eine große Rolle. So ist für die Zuschauer recht eindeutig, dass mit Hynkel Hitler gemeint ist. Doch bemerkenswert ist auch der Zufall, dass der Mann in der Reichskulturkammer, der die Oberaufsicht über den Jüdischen Kulturbund und damit die Entscheidungsgewalt über dessen Programm innehatte, Hans Hinkel hieß. Anders als zur Entstehungszeit gilt „Der Große Diktator“ heute als Meisterwerk der Filmgeschichte. Charlie Chaplin hatte erhebliche Schwierigkeiten, das Projekt zu realisieren, da er nicht nur Drohungen von Sympathisanten Hitlers erhielt, sondern auch vonseiten der US-Regierung vor einem möglichen Verbot des Film gewarnt wurde. Doch weder davon noch von der fehlenden Unterstützung Hollywoods ließ sich Chaplin beirren. Er investierte aus seinem Privatvermögen zwei Millionen Dollar, und als Mitinhaber von United Artists stand ihm außerdem ein Studio zur Verfügung, sodass er allen Widrigkeiten zum Trotz sein Vorhaben beenden konnte. Aus der historischen Distanz betrachtet ist der Film sowohl visionär als auch revolutionär. Als erster westlicher Künstler traute sich Charlie Chaplin, die Vorgänge in Deutschland und die Machenschaften der Nationalsozialisten öffentlich anzuprangern, während Regierungen und Medien zunächst versagt haben. Die Unterdrückung der jüdischen Bevölkerung, die absurden Rassentheorien, die Konzentrationslager und die Allmachtsfantasien Hitlers hat sich Chaplin nicht ausgedacht. Sie waren für jeden sichtbar, der hinschauen wollte. Tragischerweise übertraf die Realität sogar die Fiktion: Nicht nur die recht humanen Bedingungen, die in dem Konzentrationslager des Films herrschten, entsprachen nicht annähernd der schrecklichen Wahrheit. In einer Szene berichtet Feldmarschall Herring (hier wird ganz eindeutig Hermann Göring persifliert) von einem neuartigen Gas, welches todsicher sei. Was als komische Zuspitzung von vorangegangenen fehlgeschlagenen Erfindungen gedacht war, stellt sich als die grausamste Vorahnung des Films heraus. Dies mag auch einer der Gründe gewesen sein, warum Chaplin trotz des überragenden Erfolgs im Nachhinein in seinen Memoiren bemerkt hat, dass er den Film niemals gedreht hätte, wenn er die späteren Gräuel in den Vernichtungslagern gekannt hätte. Eine Szene, die Chaplins Scharfsinn und Beobachtungsgabe unter Beweis stellt, ist die Anfangssequenz, die sich während des Ersten Weltkriegs abspielt und die Zeit anschließend bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in einigen wenigen Zeitungsschlagzeilen zusammenfasst. Hier hat Chaplin die historischen Ereignisse richtig gedeutet, die den Nationalsozialisten und dem Faschismus den Boden erst geebnet haben: Die hohen Reparationszahlungen, der Börsencrash und die darauffolgende Arbeitslosigkeit und Ausweglosigkeit der Menschen. Zu den komischsten Szenen der Filmgeschichte gehört das Zusammentreffen der beiden Diktatoren, Adenoid Hynkel aus Tomanien und Benzino Napoloni aus Bakte-
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The Great War of England in 1897 (Roman von William Le Queux, 1894)
ria. Ihre Versuche, den jeweils anderen an Größenwahnsinn zu übertreffen, entlarven die wahre Natur aller Gewaltherrscher, die so lächerlich und bemitleidenswert sind, dass sie nur durch Einschüchterung und Terror ihre Machtansprüche aufrechterhalten können. Die überbordende Gestik, die aggressive Sprache, die aus kaum verständlichen Lauten besteht, die Selbstverliebtheit und die intellektuellen Unzugänglichkeiten schaffen es, dass Chaplins geniale Darstellung des Diktators Hynkel bis heute unübertroffen bleibt. Dem gegenüber stellt Chaplin ein letztes Mal die Figur seines Lebens, die des tollpatschigen Landstreichers, der es immer wieder schafft zu überleben. Wie dieses Mal auch. Nur dass dieses Mal nicht nur das eigene Überleben auf dem Spiel steht, sondern das der ganzen Menschheit. Darum geht es dann in der umstrittenen Schlussrede des Films. Damals wurde sie sehr kritisch beurteilt, da sie einen Bruch in der Handlung darstellt. Heute wird sie einerseits als Appell für die Menschlichkeit geliebt, andererseits als zu pathetisch empfunden. Hier legt Chaplin seine Rollen ab – erkennbar an der weißen Haarsträhne – und richtet sich mit seiner persönlichen Meinung an die Zuschauer. In seiner Rede prangert er die allgemeine Entfremdung an, die durch den technischen Fortschritt verstärkt zu werden scheint, und ruft alle zu Nächstenliebe und Toleranz auf. Dabei hatte er nicht nur die in Deutschland verfolgten Juden im Sinn, sondern auch die afroamerikanische Bevölkerung der USA, die zu der Zeit unter ähnlicher Diskriminierung litt. Damit war er ein weiteres Mal seiner Zeit voraus.
Patricia Fromme
Literatur Ilan Avisar, Screening the Holocaust. Cinema’s Images of the Unimaginable, Bloomington, Indianapolis 1988. Caroline Joan Picart (Hrsg.), The Holocaust Film Sourcebook, Vol. II, Westport, Connecticut 2004. Reiner Rother, Karin Herbst-Meßlinger (Hrsg.), Hitler darstellen. Zur Entwicklung und Bedeutung einer filmischen Figur, München 2008. Sonja M. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film. Von Triumph des Willens bis Inglourious Basterds, Berlin 2012.
The Great War of England in 1897 (Roman von William Le Queux, 1894) Im ausgehenden viktorianischen Zeitalter entstand in Großbritannien das Genre der Invasions- und Spionageromane. Eine Besonderheit dieses Romantypus war, dass die jeweiligen Autoren nicht nur unterhalten wollten, sondern sich in politische Debatten einmischten und politische Position bezogen. Sie nahmen Rekurs auf Themen, die aktuell im Zentrum öffentlicher Auseinandersetzungen standen. Der Journalist William Le Queux kann als Geburtshelfer des modernen englischsprachigen Spionageromans bezeichnet werden, er war der wohl erfolgreichste und meist gelesene Autor des Genres in seiner Zeit. Er verband das Motiv einer Invasion mit dem Bild eines in deren Vorfeld in England selbst agierenden feindlichen Spions, der strategische Informationen sammelte und sie seinen Dienstherren auf dem Kontinent zuspielte.
The Great War of England in 1897 (Roman von William Le Queux, 1894)
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1894 veröffentlichte William Le Queux seinen ersten Roman „The Great War in England in 1897“ (London). Der Autor erzählte die Geschichte einer Invasion Englands durch Frankreich, das sich in einer Allianz mit Russland befindet; Hilfe und Rettung kommen durch das Deutsche Reich, das aufgrund eines kurz zuvor geschlossenen Geheimabkommens Bündnistreue demonstriert und die Invasoren letztlich zurückdrängen kann. Mit der Figur des Spions und Bösewichts Graf von Beilstein vergab Le Queux die Schlüsselrolle an einen so explizit benannten „deutschen Juden“. Der Roman beginnt mit der Schilderung der feindlichen Invasion und stellt zudem die beiden Hauptfiguren vor: den englischen Helden Geoffrey Engleheart und seinen Gegenspieler Graf von Beilstein. Fulminant setzt die Erzählung mit der Kriegserklärung Russlands an Großbritannien ein. In einem Manifest am Tag der Kriegserklärung legt der Zar unüberwindbare britisch-russische Gegensätze in Bosnien dar und erinnert Frankreich an seine Bündnisverpflichtungen. Mit der Wahl dieses Bündnisrahmens für seinen Roman blieb William Le Queux eng am politischen Tagesgeschehen, denn 1894 war das Jahr des russisch-französischen Zweibundes. Im weiteren Verlauf versinkt England im Chaos; die sofort angesetzte Mobilmachung wird zum Offenbarungseid für die militärisch und politisch Verantwortlichen: Nach Jahren der Apathie ist das Land nun nicht imstande, auch nur ein Regiment mit der nötigen Ausrüstung in Marschbereitschaft zu versetzen. Die Presse berichtet derweil, dass dem Feind durch eine undichte Stelle im Foreign Office die Abschrift des deutsch-britischen Geheimabkommens zugespielt wurde, dessen Kenntnis die russische Kriegserklärung beförderte. Wessen verräterische Aktivitäten England in solche Bedrängnis brachten, versteht der junge Held, Geoffrey Engleheart, schlagartig, als er den Zeitungsbericht liest. Engleheart, Sohn aus gutem Hause, ist im Foreign Office beschäftigt: Während er dort vor Kurzem das besagte Geheimabkommen transkribierte, bekam er unerwarteten Besuch, der wiederum offenbar in einem unbeobachteten Moment den Text seinerseits kopiert hatte. Der Besucher war Graf von Beilstein. Der Name und der Adelstitel des Spions waren frei erfunden; der Kosmopolit tritt mit geschliffenen Manieren auf, bewegt sich in der Londoner Gesellschaft und ist Mitglied der Handelskammer. Der Graf kann auf ein bewegtes Leben zurückblicken, das im Frankfurter Judenviertel begonnen hatte: Kreditbetrug in Brüssel, Diamantenraub in Amsterdam sowie weitere Eigentumsdelikte in Deutschland. In St. Petersburg wurde er zu 12 Jahren Straflager verurteilt; seine Freiheit hatte er sich dann mit der Einwilligung erkauft, künftig in Westeuropa als Agent des Zaren tätig zu sein. Er ist rücksichtslos und brutal und schreckt vor dem Mord an einem britischen Offizier nicht zurück. Das Land wird durch die einfallenden Truppen verwüstet und das Blatt wendet sich erst, als das Deutsche Reich zu Hilfe kommt. Nun ist auch das Schicksal des Spions besiegelt; mit seiner Exekution und der Hochzeit des Helden Engleheart endet der Roman. Die Figur des „deutschen Juden“ vereinigt auf sich alle negativen Werte, und dies unabhängig von einem sehr positiven Deutschland- und Deutschenbild. Der „deutsche Jude“ wird dem Helden gegenüber positioniert, der für Integrität, Patriotismus und Rechtschaffenheit steht. Der Roman diskutiert somit Werte, die positiv mit England und dem idealen Engländer verbunden waren.
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Das große Experiment (Gemälde von Ilja Glasunow, 1990)
„The Great War in England in 1897“ erschien zunächst als Fortsetzungsroman in der Tagespresse; nach dem sensationellen Erfolg seines Werkes publizierte Le Queux den Text in Buchform.
Susanne Terwey
Literatur David A. T. Stafford, Spies and Gentlemen: The Birth of the British Spy-Novel, 1893–1914, in: Victorian Studies 24 (1981), S. 489–509. Susanne Terwey, Moderner Antisemitismus in Großbritannien, 1899–1919, Würzburg 2006. Malcolm J. Turnbull, Victims and Villains: Jewish Images in Classic English Detective Fiction, Bowling Green 1998.
Groapa este în livada de vişini (Tagebuch von Arnold Daghani, Bucureşti 1947) → Daghani-Tagebuch Der große Diktator (Film von Charlie Chaplin, 1940) → The Great Dictator
Das große Experiment (Gemälde von Ilja Glasunow, 1990) Das 1990 entstandene Monumentalgemälde „Das große Experiment“ (Velikij ėksperiment) ist eines der populärsten Werke des prominenten russischen Malers Ilja Glasunow (Il’ja Glazunov, geb. 1930). Das detailreiche, collageartige Bild mit Elementen einer plakativen Comic-Agitationskunst zeigt von links nach rechts berühmte Gestalten und Szenen aus der Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert in chronologischer Folge: von der leuchtenden Zeit des Zarismus über die finstere Herrschaft der Bolschewiki bis zu den Wirren der Perestrojka. Beherrscht wird die Mitte des Bildes von den roten Konturen eines fünfzackigen Sterns oder Pentagramms, eines, so Glasunow, „alten kabbalistischen Zeichens, Symbols des Bösen“. Lenin, Stalin und Nikolaj Bucharin sind innerhalb des Sterns zu sehen, vor allem aber führende Marxisten und Bolschewiki jüdischer Abstammung: Karl Marx, Lew Trotzki, Grigori Sinowjew, Jakow Swerdlow, Moissej Urizki, Lew Kamenew, Lasar Kaganowitsch, Karl Radek, Rosa Luxemburg, Alexander (Israil) Parvus-Helphand, Béla Kun. Am Rand des Sterns erkennt man den jüdischen Zarenmörder Jakow (Jankel) Jurowski, der aus einem Glas eine blutrote Flüssigkeit trinkt. Seine Opfer, Nikolaus II. und dessen Familie, sind von einem Heiligenschein umgeben, unter ihnen lodert ein Flammenmeer, in dem sich eine Schlange windet, die mit fünfzackigen Sternen übersät ist. Der heilige Georg, Schutzpatron Moskaus, durchbohrt ihren Kopf mit einer Lanze. Nur scheinbar bietet das Bild ein verwirrendes Panoptikum von Szenen und Porträts; tatsächlich enthält es eine eindeutige Botschaft. In der Mitte des roten Sterns, also gleichsam im Zentrum des Bösen, befindet sich ein kleineres mit kabbalistischen, alchemistischen und astrologischen Zeichen versehenes Pentagramm, das den Schlüssel zum Verständnis des grausigen Geschehens bildet. Es handelt sich um das „Siegel des Antichrist“. Glasunow hat es dem Titelblatt einer 1911 erschienenen russischen Ausgabe der „Protokolle der Weisen von Zion“ entnommen, jenes angeblich authenti-
Das große Experiment (Gemälde von Ilja Glasunow, 1990)
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schen, in Wirklichkeit jedoch fiktiven Plans einer jahrhundertealten jüdisch-freimaurerischen Verschwörung zur Zerstörung der christlichen Staaten und der Errichtung einer jüdischen Weltherrschaft. In Glasunows ebenso plumper wie demagogischer Symbolik erweisen sich die Bolschewiki als internationale Agenten der „jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung“, ihre Opfer sind das heilige Russland und sein gottgesalbter Herrscher. Die Schlange auf dem Bild aber ist die „Symbolische Schlange“, die in den „Protokollen“ den Weg der Verschwörer beschreibt: Ausgehend von Jerusalem zur Zeit Salomons, kriecht sie durch die Staaten Europas bis sie mit der zionistischen Einwanderung nach Palästina wieder an ihren Ursprungsort zurückkehrt und damit die Weltherrschaft Zions symbolisiert. Glasunow zeigt auch die angeblich kabbalistischen Zeichen an der Wand des Kellerzimmers im Ipatjew-Haus, die den rituellen Charakter der Ermordung des Zaren und seiner Familie durch die jüdischen Agenten des Antichrist belegen sollen. Immer wieder hat der Maler die These vertreten, dass es sich bei der Tragödie in Jekaterinburg um einen „Ritualmord“ gehandelt habe, ausgeführt auf Befehl einer „auserwählten Minderheit“. Die antisemitische Legende kennt noch ein weiteres prominentes „Ritualmordopfer“ – den Zarewitsch Dmitri Iwanowitsch, der 1591 in Uglitsch auf rätselhafte Weise ums Leben gekommen ist. Glasunow hat es sich denn auch nicht nehmen lassen, den bleichen, ausgebluteten Knaben mit einer klaffenden Schächtwunde am Hals zu porträtieren. Glasunow, den man zu Sowjetzeiten im Westen für einen Dissidenten und „religiösen Mystiker“ (Norbert Kuchinke) hielt und der diese Pose ebenso raffiniert wie werbewirksam zu inszenieren wusste, war der Hofmaler des Zentralkomitees und einer der privilegiertesten und höchstdekorierten Künstler der Sowjetunion mit zahlreichen Einzelausstellungen im In- und Ausland. Seit den 1960er-Jahren verkehrte er in nationalistischen und antisemitischen Kreisen des sowjetischen Establishments. Er gehörte zu den Gründern informeller national-patriotischer Vereinigungen, wie des Klubs „Heimat“ (1962–1968), des antisemitischen „Russischen Klubs“ (gegr. 1968) und der „Allrussischen Denkmalschutzgesellschaft“ (gegr. 1966), aus der um die Mitte der 1980er-Jahre die aggressive Pamjat-Bewegung hervorging. Deren Führer Dmitri Wassiljew war viele Jahre Glasunows Privatsekretär. Auch zu Gesinnungsgenossen im Ausland unterhält der Maler, der sich selbst als Monarchist und Anhänger einer Ständeordnung bekennt, seit Langem Kontakte: So rühmt er sich, seit 1968 mit dem französischen Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen befreundet zu sein. In zahlreichen Artikeln und Interviews, vor allem aber in seiner Autobiografie „Das gekreuzigte Russland“ (Rossija raspjataja, 2004–2008) entfaltet Glasunow sein manichäisch-konspirologisches Weltbild, wonach die Geschichte von einer geheimen satanischen Macht manipuliert werde, die sich bei ihrem Streben nach Weltherrschaft der zersetzenden Wirkung von Humanismus, Liberalismus und Demokratie bediene und planmäßig die Vernichtung Russlands sowie den „Genozid am russischen Volk“ betreibe.
Michael Hagemeister
Literatur Michael Hagemeister, Anti-Semitism, Occultism, and Theories of Conspiracy in Contemporary Russia – The Case of Ilya Glazunov, in: Vladimir Paperni, Wolf Moskovich (Hrsg.),
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Der große Krach (Roman von Max Ring, 1875)
Anti-Semitism and Philo-Semitism in the Slavic World and Western Europe, Haifa, Jerusalem 2004, S. 235–241.
Der große König (Film von Veit Harlan, 1942) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Der große Krach (Roman von Max Ring, 1875) „Der große Krach“ von Max Ring (1817–1901) ist als Fortsetzungsroman vom 1. Oktober 1874 bis 18. Januar 1875 im „Pester Lloyd Abendblatt“ erschienen. Vor dem Hintergrund der Wiener Weltausstellung und des Börsenkraches von 1873 schildert Ring den Niedergang des zunächst angesehenen Kommerzienrates Selden, der unter den Einfluss des Spekulanten Gutmann gerät. Gutmann missbraucht Seldens guten Namen zur Ausweitung seiner riskanten Börsenspekulationen, die nur ihm allein Gewinn einbringen. Am Ende des Romans stirbt Selden, seinen Kindern entfremdet und fast um sein ganzes Vermögen gebracht. Spekulant Gutmann verliert den Verstand. Die Handlung setzt in einem Kursalon in Ostende ein, wo sich der verwitwete Kommerzienrat Selden ohne seine beiden erwachsenen Kinder, die inzwischen in der „Residenz“ die Geschäfte weiterführen, aufhält. Der ehemalige Pfandleiher und jetzige Bankbesitzer und Börsenspekulant Gutmann weilt samt seiner Entourage aus wenig vertrauenswürdigen Aristokraten ebenfalls dort. Gutmann erkennt die Chance, über Selden Zugang zu den „besseren Kreisen“ bekommen zu können. Taktisch umgarnt er Selden nicht nur geschäftlich, sondern er stiftet auch eine Ehe zwischen Selden und Wanda, einer verarmten Adeligen, die ihrerseits unter Gutmanns Einfluss steht. Damit beginnt Gutmanns gesellschaftlicher Aufstieg wie Seldens Niedergang. Die Beziehungen zu Gutmann und die Ehe mit Wanda entfremden Selden von seinen Kindern und lassen ihn seine frühere kaufmännische Sorgfalt vergessen. Gegen den Rat seines Sohnes investiert er in Gutmanns hochspekulative Geschäfte und fungiert als Partner; zusätzlich gibt Wanda als seine Ehefrau große Summen für Repräsentationszwecke aus, um gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen. Gutmann hingegen ist dank Selden Teil der „Börsenaristokratie“ geworden: „Der verrufene Börsenjobber war der Kompagnon […] des hochangesehenen Kommerzienrates Selden, gewissermaßen rehabilitiert und in die Gesellschaft aufgenommen.“ Selden büßt im Laufe der Handlung aber nicht nur seinen Status als seriöser Geschäftsmann ein, er wird auch zum Betrüger. Als das Ausmaß seiner Verluste klar wird und eine versuchte Erpressung Gutmanns scheitert, kommt es zum Bruch zwischen Gutmann und Selden. Nur durch Unterschlagung eines Dokuments kommt Selden an das nötige Geld, um Gutmann auszuzahlen, was die Freundschaft zu einer benachbarten Fabrikantenfamilie belastet, mit der die Seldens geschäftlich wie privat eng verbunden sind. Die Tat wird aber nicht Selden selbst, sondern seinem Sohn angelastet, der dafür ins Gefängnis geht. Im Sterben gesteht Selden, der zuvor durch seine Ehefrau von seiner Familie und Freunden abgeschottet wurde, seine Schuld und sein Sohn kommt frei. Ring schildert in „Der große Krach“ das gesellschaftliche Klima, in dem Spekulationen wie jene vor dem Börsenkrach von 1873 möglich waren, und die dahinter liegende Gier, die im Namen schneller Gewinne alle Dünkel überwindet: „Die verlo-
Les Guichets du Louvre (Film von Michel Mitrani, 1974)
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ckende, nivellierende Macht des Geldes besiegte alle Bedenken und Vorurtheile des Standes und der Religion. Man sah jetzt Christen mit Juden, Fürsten mit Gründern Hand in Hand gehen und die edlen Nachkommen der ersten Kreuzfahrer, deren Stammbäume bis zu den fränkischen Königen und dem alten Sachsenkönig Wittekind reichten, verschmähten nicht mit den einst so verachteten Geldsäcken, den Söhnen Abrahams, an einem Tisch zu sitzen.“ Prototypisch steht im Roman dafür die Vätergeneration, also Gutmann, der „durch den Zauber des Geldes“ herrschte, „der mächtiger als der Ring Salomons, als der kräftigste Talisman, als alle Zeichen und Sprüche der Kabbala war“, und Selden, Angehöriger der „echten, alten Geldaristokratie“. Die Generation der Töchter und Söhne wird die „Bedenken und Vorurtheile des Standes und Religion“ am Ende des Romans wieder als gültige Richtlinien einsetzen. Bei der Zeichnung der Figur Gutmanns (wie auch seines Sohnes, einer Nebenfigur) bedient sich Max Ring antisemitischer Stereotypen. Damit liegt er in der Stimmung der Zeit, da als die Hauptverantwortlichen an der auf den Börsenkrach folgenden wirtschaftlichen Rezession die Juden ausgemacht wurden und es in diesem Zusammenhang zu einer Vielzahl antisemitischer Kommentare kam. Der Autor griff in seinem Roman also ein aktuelles Thema auf, die Auswirkungen der geschilderten Börsenkrise waren 1874/75 noch deutlich spürbar. Max Ring wurde 1817 in Oberschlesien geboren und durch seinen Vater jüdisch erzogen. In den Erinnerungen an seine Kinder- und Jugendzeit schildert er die selbstverständliche religiöse Toleranz in diesem konfessionell gemischten Gebiet. Schon während seiner Schulzeit zeigte sich sein schriftstellerisches Talent, er entschied sich aber zunächst für ein Medizinstudium in Breslau und Berlin. In seinen Berliner Studienjahren (1838–1840) war er Teil des Kreises um Bettina von Arnim, der ihn menschlich wie schriftstellerisch prägte. Nach seinem Studium ging er zurück nach Schlesien, wo er sich als Arzt niederließ. Seine Erlebnisse als Landarzt in einer armen Gegend fanden auch Eingang in seine sozialkritische Literatur. So beschrieb er den Hungertyphus in Schlesien ebenso, wie er die politischen wie gesellschaftlichen Zustände kritisch schilderte. Das brachte ihm mehrmals Probleme mit der Zensur bzw. Publikationsverbote ein. Neben seiner Tätigkeit als Mediziner blieb er dem Schreiben treu, verfasste Dramen, Kritiken und Bücher und schrieb für Zeitschriften wie „Die Gartenlaube“. Ab 1862 widmete er sich ganz der Schriftstellerei und verlegte seinen Lebensmittelpunkt nach Berlin, dem er bis zu seinem Lebensende treu bleiben sollte und mit dem er sich auch literarisch auseinandersetzte. Zeit seines Lebens ein Vielschreiber, sind die meisten seiner Texte heute nur mehr Eingeweihten bekannt. „Der große Krach“ wurde zuletzt Ende des 19. Jahrhunderts verlegt.
Martina Aicher
Literatur Max Ring, Erinnerungen, Berlin 1898.
Les Guichets du Louvre (Film von Michel Mitrani, 1974) → Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm
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Hans Folz-Dichtung (15. Jahrhundert)
Ha-Yehudi Zis (Theaterstück von Mordechai Avi-Shaul, 1933) → Jud Süß in der Literatur
Hans Folz-Dichtung (15. Jahrhundert) Der um 1440 in Worms geborene und 1513 in Nürnberg gestorbene Hans Folz gilt als einer der produktivsten deutschsprachigen Dichter des Spätmittelalters, der rund 100, vielfach sogar im Autograf erhaltene und noch von Hans Sachs gelobte Meisterlieder, rund ein Dutzend → Fastnachtspiele und etwa 50 Texte in Reimpaarversen sowie Fachprosa verfasste. Wie ein roter Faden durchziehen nahezu all diese Gattungen und viele Einzeltexte starke antijudaistische Einstellungen und im- wie explizite judenfeindliche Aussagen. Dabei können (im Kontext des Antijudaismus bislang nur wenig gewürdigte) dogmatische Meisterlieder mit Marienfokussierung oder Trinitätsthematik auch vor dem Hintergrund antijüdischer Polemik verstanden werden, zumal der Unglaube der Juden mitunter direkt in den Meisterliedern angesprochen wird. Die Lateinkenntnisse des Handwerkerliteraten Hans Folz, die auf eine schulische Bildung in Worms schließen lassen, prädestinierten Folz dazu, in Nürnberg neben seinem erlernten Handwerk als Wundarzt und Barbier auch ein florierendes Gewerbe als Schriftsteller und Drucker auszuüben, sodass er zum wohlhabenden Hauseigentümer avancierte. Dabei verlegte er so erfolgreich seine eigenen Werke, dass er es nach einem Wanderleben als Handwerksgeselle, das ihn quer durch Europa (u. a. Spanien) führte, nicht nur zu bescheidenem Wohlstand, sondern auch zu Ansehen im patrizisch regierten Nürnberg brachte, wo er seit 1459 das Bürgerrecht besaß und seit 1486 als erfolgreicher Handwerksmeister der Wundarznei sowie des Barbierhandwerks und schließlich 1498 gar als Oberaufseher dieses Gewerbes bezeugt ist. Gleichwohl fungierte Folz in dieser Reichsstadt trotz eigener Druckerpresse nicht als selbständiger Politiker, der etwa die Interessen der bei den Juden verschuldeten Handwerker vertrat, sondern mehr oder weniger nur als Sprachrohr des autoritären patrizischen Ratsregiments, namentlich bei dessen gegen die Juden gerichteter Politik, die nach jahrelangem (seit 1473) Bemühen in der Ausweisung der Nürnberger Juden kulminierte, die aber zunächst immer wieder am Widerstand Kaiser Maximilians I. scheiterte und erst 1498 durchgesetzt werden konnte. Daneben spielten bei den antijüdischen Polemiken des Dichters wohl auch persönliche Motive eine Rolle. Denn als handwerklich arbeitender „Heilpraktiker“ hatte Hans Folz nicht nur die Konkurrenz der akademischen Mediziner (Buchärzte) zu fürchten, sondern auch der Judenärzte, was seine antijüdische Polemik durchaus beeinflusst haben könnte. In Reimpaarform sind die im Gefolge der Nürnberger Judenmission durch den Dominikaner Petrus Nigri entstandene Disputation „Christ und Jude“ oder (im Sinne der Ratspolitik) „Jüdischer Wucher“ gehalten. In der schwankhaften Reimpaarerzählung „Wahrsagebeeren“ fallen Juden auf einen Quacksalber herein, der ihnen seine Exkremente als wunderwirkende Mittel andrehen kann. Ein Rabbi soll mit ihrer Hilfe die Ankunft des wahren Messias prophezeien. Als der Betrug auffliegt, kann sich der Quacksalber geschickt aus der Affäre ziehen. Während das Epimythion der ersten Fassung vor derartigen Kurpfuschern warnt, endet die zweite Fassung in einer derben fäkalischen Beschimpfung der Juden. In ähnlich gehässiger Weise werden die Juden in der Reimpaarerzäh-
Heiligengraber Hostienfrevelbilder (Tafelbilder, unbekannter Maler, 1532)
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lung „Der falsche Messias“ lächerlich gemacht. Darin gelingt es einem Studenten, ein jüdisches Mädchen zu verführen und zu schwängern. Um dem elterlichen Zorn zu entgehen, gelingt es dem Studenten ferner, den Eltern weiszumachen, ihre Tochter würde den jüdischen Messias gebären. Umso peinlicher für die Juden ist dann die Geburt eines Mädchens, das ebenso wie seine Mutter getauft wird. „Das Römische Reich“ ist eine umfängliche politische Darstellung über die Ursprünge des Reichs und mündet in eine Klage über dessen gegenwärtige Ohnmacht angesichts des Vorrückens der Türken und der Selbstsucht der Fürsten sowie nicht zuletzt angesichts des Einflusses der Juden. Ein breites, auch nicht lesefähiges Publikum vermochte Hans Folz mit seinen antijüdischen Fastnachtspielen zu erreichen. Das Stück „Die alt und neu ee“ („Das Alte und das Neue Testament“) bringt Synagoge und Ecclesia auf die Bühne, wobei der christliche Sieger von vorneherein feststeht. Freilich wird immerhin auch die wirtschaftliche Problematik getaufter Juden gesehen. Weniger differenziert sind die beiden Fastnachtspiele „Kaiser Constantinus“, das die bekannte Silvesterlegende auf die Bühne bringt, sowie der „Herzog von Burgund“, das am Ende in ebenso derbe wie hasserfüllte Polemik umschlägt.
Klaus Wolf
Literatur August L. Mayer (Hrsg.), Die Meisterlieder des Hans Folz. Aus der Münchener Originalhandschrift und der Weimarer Handschrift Q.566 mit Ergänzungen und anderen Quellen herausgegeben, Berlin 1908 (Nachdruck: Hildesheim 2001). Regine Schiel, Die giftigen würm das seit ir. Antijudaismus in Fastnachtspielen des Nürnberger Meistersängers Hans Folz (Ende 15. Jahrhundert), in: Arne Domrös, Thomas Bartoldus, Julian Voloj (Hrsg.), Judentum und Antijudaismus in der deutschen Literatur im Mittelalter und an der Wende zur Neuzeit. Ein Studienbuch, Berlin 2002, S. 147–177. Matthias Schönleber, Der juden schant wart offenbar. Antijüdische Motive in Schwänken und Fastnachtspielen von Hans Folz, in: Ursula Schulze (Hrsg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen, Tübingen 2002, S. 163–182.
Hans Folz-Meisterlieder → Hans Folz-Dichtung Hans Westmar (Film von Franz Wenzler, 1933) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Der Heilige Kasimir → Litauisches Scheunentheater
Heiligengraber Hostienfrevelbilder (Tafelbilder, unbekannter Maler, 1532) Die im Museum des ehemaligen Zisterzienserinnenklosters Heiligengrabe in der Prignitz aufbewahrten Tafelbilder, die die Gründungslegende des Klosters wiedergeben, waren Teil des umfassenden Gesamtkonzepts, die Bedeutung des Klosters als Wallfahrtsort zu inszenieren. Hierzu gehören neben den Gemälden Drucke in verschiedenen Sprachen und eine umfangreiche Bautätigkeit. Innerhalb der Geschichte der Tradierung der Hostienfrevellegende ist Heiligengrabe dahingehend von besonderer Be-
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Heiligengraber Hostienfrevelbilder (Tafelbilder, unbekannter Maler, 1532)
deutung, dass sich hier zeigen lässt, dass die Legende nicht einmal mehr eines tradierten vorgängigen Narrativs bedurfte, um als behauptetes Geschehen bei der Durchsetzung aktueller Interessen instrumentalisiert werden zu können. Die Gründung des Klosters geht auf das Jahr 1287 zurück. 1317 wird es erstmals mit dem Namen „Heiligengrabe“ in Verbindung gebracht, jedoch ohne irgendeinen Hinweis auf Hostienwunder oder Wallfahrten. Vielmehr dürfte der Name auf ein rituelles Bestatten der geweihten Hostien am Gründonnerstag zurückgehen. Vor dem Jahre 1516 gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass sich mit Heiligengrabe bzw. der Gründung des Klosters ein Hostienwunder oder ein Hostienfrevel verbinden lässt. Erst 1516 begegnet in einem Druck die angebliche Gründungslegende in lateinischer Fassung, dem 1521 ein Rostocker Druck in niederdeutscher Sprache folgt. Diesem Druck waren 15 Holzschnitte beigegeben, die chronologisch den Hergang des angeblichen Hostienfrevels illustrierten. Diese Holzschnitte wiederum waren Vorlage für die Tafelbilder, von denen sieben noch existieren. Auftraggeberin war die Äbtissin Anna von Rohr, die mit dieser medialen Strategie das Ziel verfolgte, das Kloster als Wallfahrtsort zu etablieren und damit in Konkurrenz zu anderen Wallfahrtsorten der Mark zu treten, insbesondere zur Wunderblutkirche St. Nikolai in Wilsnack, von der ab 1520 ebenfalls Legendendrucke verbreitet wurden. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass die Konzentration auf das katholische Eucharistieverständnis, das der Hostienfrevellegende vorausgesetzt ist, einen starken antireformatorischen Impetus beinhaltet; nach dem Subtext der Legende wären die Reformatoren dem Juden der Legende gleichzusetzen. Der Maler der erhalten gebliebenen Tafeln ist unbekannt. Auf keiner der Tafeln finden sich Elemente des bildlichen Typus des Juden, wie er sich infolge der Kennzeichnungspflicht durch das 4. Laterankonzil (1215) herausgebildet hatte. Der Unterschied zwischen dem Juden und den Christen, im Narrativ Bauern, wird durch den Wert der Kleidung ausgedrückt; der Jude ist offensichtlich luxuriös und reich gekleidet, womit auch noch ein ökonomisches Stereotyp eingebracht wird. Wenn auch der kunsthistorische Wert der Tafeln zu diskutieren ist, liegt ihre Bedeutung doch darin, dass man an ihnen ablesen kann, welche Elemente der Legende die Auftraggeberin als notwendig erachtete, um ihr Ziel zu erreichen. Ohne Zweifel ersetzt sie das Motiv des Kaufs der Hostie durch den des Diebstahls unter Bezugnahme auf den Berliner Hostienschänderprozess von 1510, dem der Diebstahl einer Monstranz aus der Dorfkirche von Knobloch (Havelland) als Vorwand für die Lynchjustiz diente. Die darauf folgenden antijüdischen Exzesse, die die gesamte Mark betrafen, bilden damit den historischen Kontext der Fiktion, erklären zugleich aber wohl auch, aus welchem Grund gerade in einem Hostienfrevel die Möglichkeit zur Etablierung einer Wallfahrt gesehen wurde. Auffallend ist die Vermehrung der Elemente von Wundererzählungen, die in den Text der Heiligengraber Legende integriert wurden, wie etwa die Bewegungsunfähigkeit des jüdischen Diebes und seine blutigen Hände. Um der Fiktion den Anschein des Geschehenen zu verleihen, werden bemerkenswert viele Zeugen benannt, die zum Teil erst durch Wunder überzeugt werden müssen; so der Bischof von Havelberg, der Markgraf Otto V. und die Äbtissin von Neuendorf. Traditionell ist dagegen die Erzählung vom Bluten der Hostie, von der Auffindung des Juden und von dessen schrecklichem Ende.
Heimkehr (Film von Gustav Ucicky, 1941)
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Trotz des medialen Großeinsatzes wurde Heiligengrabe nicht zu einem zentralen Wallfahrtsort, dessen Ende mit der Einführung der Reformation gegeben war. Bemerkenswert lange jedoch ging man auch in der historischen Forschung davon aus, dass die Gründungslegende tatsächlich einen wie auch immer gearteten historischen Kern habe. Erst quellenkritische Untersuchungen des 20. Jahrhunderts erwiesen die völlige Fiktionalität des Behaupteten. Grundsätzlich sollte die Heiligengraber Legende samt ihrer medialen Begleitumstände zu einem kritischen Umgang mit solcher funktionalen religiösen Literatur nötigen. Wenn hier gewiss auch ein besonderer Fall vorliegt – die Ersterwähnung eines Ereignisses an die 250 Jahre nach seinem behaupteten Geschehen –, so wäre zu überprüfen, ob nicht für andere Fälle ein ähnliches Konstrukt vorliegt. Heiligengrabe belegt somit einerseits, dass die Imagination keinerlei Anhalt in der Wirklichkeit bedarf, andererseits, dass die antijüdische Grundstimmung so verbreitet war, dass man meinte, sich ihrer leicht bedienen zu können.
Rainer Kampling / René Koch
Literatur Elisabeth Hackstein, Die Legendentafeln des Klosters Heiligengrabe. Das Kloster Stift zum Heiligengrabe stellt sich seiner Geschichte (Online-Version). Lieselotte Kötzsche, Das wiedergefundene Hostiengrab im Kloster Heiligengrabe/Prignitz, in: Berliner Theologische Zeitschrift 4 (1987), S. 19–32. Hartmut Kühne, Wallfahrt? Deutung der Heiligengraber Wallfahrtsüberlieferung im historischen Umfeld, in: Friederike Rupprecht (Hrsg.), Von blutenden Hostien, frommen Pilgern und widerspenstigen Nonnen. Heiligengrabe zwischen Spätmittelalter und Reformation, Berlin 2005, S. 33–60. Lucia Raspe, Heilige Gräber bei den deutschen Juden des Spätmittelalters, in: Ursula Röper, Martin Treml (Hrsg.), Heiliges Grab – Heilige Gräber. Aktualität und Nachleben von Pilgerorten, Berlin 2014, S. 126–136. Dirk Schumann, Die Legendentafeln des Zisterzienserinnenklosters Heiligengrabe, in: Friederike Rupprecht (Hrsg.), Von blutenden Hostien, frommen Pilgern und widerspenstigen Nonnen. Heiligengrabe zwischen Spätmittelalter und Reformation, Berlin 2005, S. 61–77. Gerlinde Strohmaier-Wiederanders, Untersuchungen zur Gründungslegende von Kloster Heiligengrabe, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 57 (1989), S. 259–275.
Heimkehr (Film von Gustav Ucicky, 1941) Der nationalsozialistische Propagandafilm „Heimkehr“ wurde 1941 unter der Regie von Gustav Ucicky in der Produktion der Wien-Film GmbH hergestellt. In den Hauptrollen spielen u. a. Paula Wessely und Attila Hörbiger, der Ehemann Wesselys. Die Produktion des Filmes, der auf eine Initiative Joseph Goebbels’ zurückging, startete am 2. Januar 1941 in den Rosenhügel-Ateliers in Wien. Die Außenaufnahmen entstanden im polnischen Chorzele. Die Uraufführung fand am 31. August 1941 zur Eröffnung der 9. Filmbiennale in Venedig in Anwesenheit von Joseph Goebbels statt. Als einer von insgesamt vier Filmen erhielt „Heimkehr“ die höchste Auszeichnung „Film der Nation“, nachdem er bereits als „staatspolitisch und künstlerisch besonders wertvoll“ und als „jugendwerter Film“ klassifiziert worden war.
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Heimkehr (Film von Gustav Ucicky, 1941)
Der antipolnische Propagandafilm spielt im polnischen Luzk, wo die deutsche Minderheit unter dem zunehmenden Druck der polnischen Mehrheit leidet. Im März 1939 demolieren Polen in einem Ort die deutsche Schule. Der Protest der Lehrerin Maria Thomas (Paula Wessely) nützt nichts. Gemeinsam mit ihrem Verlobten Dr. Fritz Mutius (Carl Raddatz) plant sie, vor Gericht Beschwerde einzulegen. Begleitet werden Maria und Fritz von ihrem Freund Karl Michalek (Hermann Erhardt). Vor dem Gerichtstermin gehen sie am Abend ins Kino, wo es zum Eklat kommt. Als die polnische Hymne erklingt und das Publikum begeistert mitsingt, Maria, Fritz und Karl sich jedoch weigern, wird ein polnischer Soldat handgreiflich und die Meute schlägt auf die drei ein. Fritz wird schwer verletzt, findet im Krankenhaus jedoch keine Aufnahme und stirbt daraufhin. Auch Marias Vater wird Opfer eines Anschlags, bei dem zwei junge Polen aus dem Hinterhalt auf ihn schießen. Er erblindet daraufhin. Ludwig Launhardt (Attila Hörbiger) muss seinen Gasthof „Deutsches Haus“ entschädigungslos räumen. Martha Launhardt (Ruth Hellberg) wird von einem Polen die Kette mit einem Hakenkreuz-Anhänger vom Hals gerissen; danach wird sie vom Mob gesteinigt. Als sich die Deutschen in einer Scheune versammeln, um Hitlers Rede vor dem Reichstag am 1. September 1939 zu hören, werden sie verhaftet und in ein Gefängnis verbracht, wo sie von der Wachmannschaft gequält werden. Schließlich werden sie in einen Keller verschleppt. Dort entgehen sie knapp einem Massaker durch polnische Soldaten, da mittlerweile deutsche Truppen in Anmarsch sind und sie retten. Danach bereiten sie die Heimkehr nach Deutschland vor. Am Straßenrand steht ein riesiges Plakat, das Adolf Hitler abbildet. Zum Schluss ertönt das Deutschlandlied. Ein antisemitischer Aspekt in „Heimkehr“ kommt gleich zu Beginn des Filmes vor. Maria geht am Stand des Krämers Isaak Salomonson, der einer typischen Nazi-Karikatur gleicht, vorbei und erklärt: „Nee, Salomonson, Sie wissen ja, wir kaufen nichts bei Juden.“ Trotz der Heimkehr der Deutschen ins „Reich“ wird im Film der Anspruch auf „deutschen Lebensraum im Osten“ vehement vermittelt. „Heimkehr“ sucht explizit eine Rechtfertigung und Heroisierung des deutschen Einmarschs in Polen. Gleichzeitig dient der Einmarsch der Befreiung der „gutdeutschen Frau“ (Wessely) aus den schmutzigen Händen der „Untermenschen“. Die überlegene Figur und Instanz des Films ist die Lehrerin Maria. Sie muss nicht nur ihre persönliche Ehre, sondern auch die „Reinheit“ ihres Blutes und ihre „rassische und völkische Identität“ verteidigen. Wessely galt als eine der großen Entdeckungen des Tonfilms der 1930er-Jahre. Ihr Engagement in der NS-Filmproduktion überschattete jedoch ihre Nachkriegskarriere. Nach dem Ende des Nationalsozialismus wurde „Heimkehr“ als Verbotsfilm eingestuft und durfte nicht gezeigt werden. Wie zwiespältig die Rolle Wesselys im Nationalsozialismus war, machen u. a. ihre engen Kontakte zu Juden klar. Nach dem Ende des Nationalsozialismus erhielt sie von den Alliierten Auftrittsverbot, nicht jedoch in der französischen Besatzungszone. Am 15. Dezember 1945 wurde das Auftrittsverbot in allen Besatzungszonen aufgehoben. Bereits 1946 spielte sie, trotz Interventionen u. a. von Bertolt Brecht, im Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ im Theater in der Josefstadt.
Der Heldenplatz (Drama von Thomas Bernhard, 1988)
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Wessely rechtfertigte ihr Mitwirken in „Heimkehr“ damit, dass sie als Mutter zweier Töchter nicht den Mut gehabt habe, sich zu widersetzen. Sie habe Angst gehabt, da das Regime wusste, sie sei keine Nationalsozialistin, und weil ihre katholische Gesinnung und ihr großer Kreis jüdischer Freunde bekannt waren. Zudem habe sie Regisseur Ucicky gebeten, ihre antisemitischen Dialogpassagen streichen zu lassen. Auch soll sie über einen Ausstieg aus der Produktion verhandelt haben, jedoch sei ihr mit Arbeitsverbot gedroht worden. Zum Film selbst meinte sie, dessen ungeheure suggestive Wirkung sei ihr erst bewusst geworden, nachdem sie ihn gesehen hatte. Vor der Premiere betonte sie, es sei eine hohe und verantwortungsvolle Aufgabe, die ihr gestellt wurde, die sie jedoch mit Freude übernommen habe. Eine abschließende Deutung der Rolle Paula Wesselys im Nationalsozialismus muss vage bleiben. Auch ist unklar, inwieweit sie in die Konzeption des Films involviert war. Tatsache ist jedoch, dass sie sich systemkonform verhalten hat und insbesondere durch die Mitwirkung an „Heimkehr“ zumindest mit ihrer Filmrolle auch eine systemerhaltende Funktion übernommen hat.
Christian Pape
Literatur Klaus Kanzog, „Staatspolitisch besonders wertvoll“. Ein Handbuch zu 30 deutschen Spielfilmen der Jahre 1934 bis 1945, München 1994. Armin Loacker (Hrsg.), Im Wechselspiel. Paula Wessely und der Film, Wien 2007. Oliver Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich, Wien 1991. Maria Steiner, Paula Wessely. Die verdrängten Jahre, Wien 1996.
Der Heldenplatz (Drama von Thomas Bernhard, 1988) Eine zwanzigminütige Schrei-, Pfeif- und Applausschlacht vor laufenden TV-Kameras beendete am 4. November 1988 nicht nur die Uraufführung von Thomas Bernhards Stück „Heldenplatz“ im Wiener Burgtheater, sondern auch die seit Wochen öffentlich inszenierte und international rezipierte Skandalisierung. Wegen befürchteter antisemitischer Äußerungen standen das Theater und seine Umgebung am Premierenabend unter Polizeischutz. Eine vor dem Burgtheater abgeladene Fuhre Mist markierte den öffentlichen Unmut. Auslöser der Ablehnung waren aus dem Rollen-Zusammenhang gerissene Zitate gewesen, die unter dem Titel „Österreich 6,5 Millionen Debile“ als Aufmacher der auflagenstärksten Zeitung Österreichs den Tatbestand der „Österreich-Beschimpfung“ zu erfüllen schienen. Diese von Bernhard bekannten „Übertreibungstiraden“ trafen zwei Jahre nach der Bundespräsidentenwahl auf die verdrängte Scham all jener, die trotz der bekannt gewordenen Anschuldigungen, seine NS-Vergangenheit zu verheimlichen, dem Präsidentschaftskandidaten Waldheim zum Wahlsieg verholfen hatten. Die Hausangestellten Frau Zittel und Herta bereiten am Morgen des Begräbnisses von Professor Joseph Schuster die Auflösung der großbürgerlichen Wohnung vor. Ihre Unterhaltung führt in die jüdische Familie ein: Joseph Schuster und sein Bruder Robert verbrachten die Jahre des „Anschlusses“ in England im Exil und lehrten an EliteUniversitäten. Nach ihrer Rückkehr 1955 hört die „Frau Professor“ immer noch das Jubelgeschrei der Massen auf dem Heldenplatz. Kurz vor der lange hinausgezögerten
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Der Heldenplatz (Drama von Thomas Bernhard, 1988)
Abreise und Re-Immigration nach Oxford stürzt sich der Professor aus dem Fenster seiner Wohnung auf den Heldenplatz. Aus der Vertreibung entstandene psychische Schäden vermitteln sich dem Publikum über die von Frau Zittel kolportierten Aussagen des Professors. Die Erfahrung der politischen Unterdrückung gab er, als politisch machtloser Mensch, im privaten Bereich an seine Frau, seine drei Kinder und seine Angestellten weiter. Sein Bruder, der seit Kindertagen herzkranke „Professor Robert“, begegnet dem „ewigen Judenhass“ mit Distanz, hin und wieder gönnt er sich dennoch eine „Erregung“ über das seit 1938 unverändert „katholisch-nationalsozialistische“, also antisemitische Österreich und die menschliche Gemeinheit. Auf dem Heimweg vom Begräbnis im nebelverhangenen Volksgarten in Begleitung seiner beiden Nichten werden die Ringstraßengebäude in Blickweite zu Stichwortgebern seiner vernichtenden Gesellschaftskritik. Im Speisezimmer der leer geräumten Wohnung, auf die Frau des verstorbenen Professors wartend, stimmen die Trauergäste in den kulturellen und intellektuellen Abgesang ein und malen ein bildungsbürgerliches Wiener Sittenbild der politischen Charakter- wie intellektuellen Geistlosigkeit und gesellschaftlichen Verkommenheit. Als Lukas endlich mit seiner Mutter erscheint, setzen sich die Gäste zu Tisch. Die Suppe wird aufgetragen. Nur für die Witwe des Professors hörbar setzt das Sieg-Heil Massengeschrei vom Heldenplatz ein. Als es immer lauter wird, schließlich alles übertönt fällt sie vornüber auf die Tischplatte. Der Titel „Heldenplatz“ verweist auf den Platz, auf dem 1938 weite Teile der Bevölkerung den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich bejubelt haben. „Heldenplatz“ dient im Stück als symbolischer Ort der verdrängten kollektiven Erinnerung. Antisemitismus als Deutungshintergrund für die Rezeption durch rechts-konservative Kreise prägte nicht nur die Skandalisierung im Vorfeld, sondern wurde auch als Vorwurf an den Autor ausgesprochen. Bernhard habe die „Juden missbraucht“, um seine Anklage und „überzogenen Hassausbrüche“ zu formulieren. Joseph Schuster wurde – indirekt durch den Mund dritter Personen – nicht nur als jüdisches Opfer, sondern auch als Familientyrann dargestellt, der nicht wie sein Bruder Robert vor der Realität des Antisemitismus resigniert hat. Durch die Darstellung der Folgen der Shoah und des Exils bei jüdischen Überlebenden, der Verdrängung bei gleichzeitigem Fortbestehen nationalsozialistischer Mentalität verdeutlichte Bernhard mit Hilfe einer „synthetischen Kunstfigur“ individuelle Beziehungsmuster als Resultate überindividuellen historisch-politischen Geschehens. Die interpersonelle Abhängigkeit zwischen Frau Zittel und ihrem Arbeitgeber, dem verstorbenen Professor Schuster, führt Bernhard „als anal-sadistische Kollusion“ vor, die das gemeinsame Thema Macht im Sinne von Herrschen und Beherrscht-Werden miteinander inszenieren. „Heldenplatz“ erweist sich damit als Reflexion über politische Unterdrückung und ihre möglichen Auswirkungen auf die interpersonellen Bindungen der Opfer, die im Gegenzug zu Tätern werden. Auf diese Weise wird auch jede Einfühlungsästhetik durchkreuzt. Dem Publikum wird Mit-Leid und Identifikation verweigert. Als Auftragswerk des Burgtheaters musste „Heldenplatz“ aufgrund der Koinzidenz unterschiedlicher Anlässe verquere Erwartungen erfüllen: einerseits das 100jährige Bestehen des Hauses an der Ringstraße (1888) und andererseits das Gedenkjahr des
Der Herr Karl (Theaterstück von Carl Merz und Helmut Qualtinger, 1961)
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„Anschlusses“ an NS-Deutschland (1938). Obwohl der Text bis zur Uraufführung geheim bleiben sollte, wurden Passagen zusammenhanglos und ohne den Rollencharakter zu beachten vorab veröffentlicht und lösten eine politische Kampagne in der Öffentlichkeit aus. Der FPÖ-Parteivorsitzende Haider forderte mit Karl Kraus’ Diktum „Hinaus mit dem Schuft!“ sowohl den Autor Bernhard als auch den Regisseur Peymann auf, das Land zu verlassen. Der ÖVP-Vorsitzende Mock empfahl dem Publikum, den Vorstellungen fernzubleiben. Der Kolumnist der „Kronen Zeitung“ Staberl warf Bernhard Antisemitismus vor, er funktionalisiere die Juden für seinen Österreich-Hass. Und Bundespräsident Waldheim ersuchte das Burgtheater, das „Stück voll Österreich-Hass“ nicht zu bringen. Thomas Bernhard reagierte mit dem Text auf das kollektive Teilbewusstsein und die seit 1938 nicht aufgearbeitete Mentalität, die auch den Bundespräsidentschaftswahlkampf 1986 geprägt hatte: Trotz Anschuldigungen an den Kandidaten Kurt Waldheim, seine NS-Vergangenheit jahrzehntelang verschwiegen zu haben, und eines noch vor der Wahl verhängten Einreiseverbots in die USA (Watchlist) war Waldheim mit Slogans wie „jetzt erst recht“ zum Bundespräsidenten gewählt worden. Durch die daran anschließende Einsetzung einer Historikerkommission zur Untersuchung seiner NS-Vergangenheit kam es zu einer die seit 1945 gültige „Opfer-These“ relativierenden Debatte (Waldheim-Debatte). Thomas Bernhard trug mit „Heldenplatz“ wesentlich dazu bei. „Heldenplatz“ wurde zu einem der meist gespielten Repertoirestücke des Burgtheaters (122 Aufführungen). In der Neuinszenierung 2011 im Theater in der Josefstadt erinnerte Regisseur Philipp Tiedemann im Schlussbild durch die sich öffnenden Türen an die Aufführung 1988 und die immer noch bedenkliche Grundsituation.
Elisabeth Großegger
Literatur Burgtheater (Hrsg.), Heldenplatz. Eine Dokumentation, Wien 1989. Markus Reitzenstein, Der unsympathische Jude. Rezeptionsästhetische Analyse des Tabubruchs in Thomas Bernhards Heldenplatz, in: Johann Georg Lughofer (Hrsg.), Thomas Bernhard. Gesellschaftliche und politische Bedeutung der Literatur, Wien u. a. 2012, S. 153–161. Mireille Tabah, Thomas Bernhard und die Juden. Heldenplatz als „Korrektur“ der Auslöschung, in: Johann Georg Lughofer (Hrsg.), Thomas Bernhard. Gesellschaftliche und politische Bedeutung der Literatur, Wien u. a. 2012, S. 163–171.
Der Herr Karl (Theaterstück von Carl Merz und Helmut Qualtinger, 1961) Als „Der Herr Karl“ am Abend des 15. November 1961 als Fernsehaufzeichnung ausgestrahlt wurde (Regie: Erich Neuberg), versprach sich das österreichische Publikum vor 1,9 Millionen Fernsehapparaten aufgrund des aus Kabarettprogrammen bekannten Darstellers Helmut Qualtinger und Ankündigungen in den Zeitungen einen „freundlich-satirischen Rückblick“ mit Gags und ernsten Wahrheiten. Der satirische Umgang mit der Vergangenheit der letzten dreißig Jahre, insbesondere das schonungslose Eingeständnis des Herrn Karl, „unpolitisch“, aber begeistert überall mitgetan und es sich „gerichtet“ zu haben, löste telefonische und schriftliche Zuschauerproteste bei den
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Der Herr Karl (Theaterstück von Carl Merz und Helmut Qualtinger, 1961)
Poststellen des Senders und auf den Leserbriefseiten der Wiener Zeitungen aus, die in Dringlichkeitsanfragen im Parlament mündeten. Der Kritiker Hans Weigel kommentierte die Aufregung im Dezember in der „Kronen Zeitung“: „Der Herr Karl“ wollte einem Typus auf die Zehen treten, und ein ganzes Volk schrie „Au!“ Der Titel verweist auf einen Durchschnittsbürger, der vertraut und doch auch unbekannt ist, sodass man ihn ausschließlich unter seinem Vornamen kennt. Als kleinbürgerlicher Opportunist reduziert sich für ihn „Weltgeschichte“ auf einen privaten Sensationswert. Scheinbar charmant enthüllt sich bald der Kosmos seiner Anschauungen voll Bösartigkeit, Egoismus und latentem Antisemitismus. Sein Alltagsantisemitismus, der ohne Empathie jüdische Abstammung als „Pech“ beurteilt und sich selbst wehleidig als Opfer sieht, das von den „Arisierungen“ nicht profitieren konnte, markiert den Höhepunkt der Satire und traf ins Zentrum der österreichischen Nachkriegsmentalität. Erzählt werden in einem 55-minütigen Monolog dreißig Jahre österreichische Geschichte von der Ersten Republik über Ständestaat, NS-, Kriegs- und Nachkriegszeit, Staatsvertrag und Wirtschaftswunder aus der Sicht des Kleingewerbetreibenden Herrn Karl, der sich aus allem eine „Hetz“ zu machen weiß und sich mit allem arrangiert. Grundsätzlich „unpolitisch“, ist er willfährig und zollt als moralisch stumpfer Mitläufer, ausbeuterischer und arbeitsscheuer Gesinnungslump jedem System Beifall. Mit zwei Sprachmasken wird seine Nicht-Haltung demaskiert: eine dem Dialekt angenäherte Standardsprache markiert mit Halbsätzen und Füllwörtern persönliche Befindlichkeiten, während in Hochsprache die öffentlichen Diskurse, Sprache der Politiker und pathetische Phrasen einfließen. Das Publikum wird dabei durch frontale Kameraführung nicht nur zum Voyeur und Mitwisser, sondern durch die mit Halbsätzen angedeuteten Inhalte, die es performativ vervollständigt, zum Mittäter. Im Keller einer Delikatessenhandlung ist der Herr Karl damit beschäftigt, Waren zu ordnen und einen Lehrbuben einzuweisen. Der Keller wird zur Bühne der Initiation. Seine Aufgaben bewusst vernachlässigend, lässt er zwischendurch Kleinigkeiten mitgehen und schweift immer weiter ab in seine politischen und erotischen Erinnerungen, die er direkt in die Kamera „wie zu einer anderen Person spricht“. Statt Waren ordnet er sein Leben aus der Perspektive der 1960er-Jahre und ästhetisiert die Ereignisse zur „Hetz“. Bis 1934 Sozialist, Anhänger der sozialen Utopie des roten Wien, engagierte er sich danach bei den „Schwarzen [...] für die Heimwehr“ und als Illegaler bei den Nationalsozialisten und um 5 Schilling ging er demonstrieren, für die Schwarzen wie für die Braunen: „Ma hat ja von was leben müssen.“ 1938 war er dabei am Heldenplatz, „des war eine Begeisterung“. Er war Parteimitglied, aber „ka Nazi“. Ohne Schuldbewusstsein wurde er schuldig am Juden Tennenbaum, den er „zum ‚Pflasterreiben‘ [...] hing’führt [hat], dass er’s aufwischt [...] a Hetz [...] is eahm eh nix passiert“. Nach dem Krieg ist Herr Tennenbaum zurückgekommen. „Hab i ihm auf der Straßen getroffen, hab i g’sagt: ‚Habedieehre, Herr Tennenbaum‘, hat er mi net an’gschaut. I grüaß ihm noch amal: ‚– diehre, Herr Tennenbaum …‘ Er schaut mi wieder net an. Hab i mir denkt … na bitte, jetzt is er bees … Dabei … irgendwer hätt’s ja wegwischen müaßn … I maan, der Hausmaster war ja aa ka Nazi. Er hat’s halt net selber wegwischen wollen.“
Der Herr Karl (Theaterstück von Carl Merz und Helmut Qualtinger, 1961)
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Seine unreflektierte Haltung ermöglicht ihm, den Amerikanern gleichermaßen zu Diensten zu sein wie den Nationalsozialisten, „weil i scho die ganze Zeit die Arbeit gemacht hab für die Gemeinschaft … net? Um den Westen zu verteidigen“ – und den Staatsvertrag 1955 ebenso zu bejubeln wie einst Hitler am Heldenplatz. „Da san ma zum Belvedere zogn … san dag’standen … unübersehbar … lauter Österreicher … wie im Jahr achtadreißg … eine große Familie … a bissel a klanere … weil ’s Belvedere is ja klaner als der Heldenplatz.“ Bei seinem Rückblick in der Gegenwart angekommen, blickt er selbstzufrieden „ruhig in die Zukunft“. Vor den Fernsehern in den Gaststätten machte sich nach anfänglich guter Laune bald Beklemmung breit, am Ende blieb man stumm sitzen. Erboste Zuseher beschwerten sich über Diskriminierung und „Beleidigung der österreichischen Bevölkerung“. Viele Reaktionen bestätigten mit Verwünschungen der Autoren und der Sendeverantwortlichen die aufrechte NS-Mentalität, die mit dem Monolog des „Herrn Karl“ entlarvt werden sollte. „Kaum ist Gras über die Geschichte gewachsen, kommt so ein Kamel und frißt es wieder ab“, fasste ein Kritiker zusammen. Qualtinger und Merz hatten mit der (nach einem realen Vorbild verdichteten) Figur des Herrn Karl eine lange Wiener Typen-Tradition fortgesetzt. Qualtingers Spiel, seine wandlungsreiche Mimik, die sich für Sekunden verdunkeln und den Ausdruck Hitlers annehmen konnte, und Neubergs Regie, die die Kamera als Dialogpartner einsetzte, bezog das Publikum mit ein und schuf eine Authentisierung, die beklemmend „echt“ wirkte und Figur und Darsteller als Einheit erscheinen ließ. Durch direkten Blickkontakt machte er den einzelnen Zuschauer zum Mitwisser; und er untergrub, gerade weil er sich als Opfer sah, die Opfer-Lebenslüge der Österreicher. Dem Publikum wurde in nächster Nähe vorgeführt, wie einer, der Täter war, sich als Opfer darstellte. Als das Theater dann die Inszenierung übernahm, saß das Publikum einer „harmlosen“ literarischen Figur gegenüber. Jene, die die Fernsehausstrahlung nicht gesehen hatten und im Theater das Versäumte nachzuholen versuchten, verstanden die Empörung und den Protest nicht. Am 30. November 1961 fand die Uraufführung des „Herrn Karl“ im Kleinen Theater der Josefstadt im Konzerthaus (Regie: Erich Neuberg) statt. Die Vorstellung war allabendlich ausverkauft und übersiedelte am 5. März 1962 auf die größere Bühne der ebenfalls zum Josefstädtertheater gehörigen Kammerspiele. Nach insgesamt 168 Aufführungen folgten Tourneen durch Deutschland, Frankreich und die Schweiz und im Folgejahr sogar nach Amerika. Im Ausland wurde „Der Herr Karl“ in Qualtingers Darstellung mit überwältigender Begeisterung als „europäische Figur“ aufgenommen. Die akkreditierten Auslandsjournalisten zeichneten „Herrn Karl“ als „interessantesten Österreicher des Jahres 1961“ aus. Die Plattentasche der bei Preiserrecords im gleichen Jahr produzierten LP war mit Emblemen und Requisiten aus der „großen Zeit“ des „Herrn Karl“ gestaltet: Krukenund Hakenkreuz, Judenstern und Hitlermaske und Austria-3-Zigarettenstummel, was die Kölner Staatsanwaltschaft veranlasste, 100 Schallplatten als „gesetzeswidrig“ zu beschlagnahmen. Die seit 1945 gültige „Opfer-These“ hatte durch den „Herrn Karl“ 1961 Risse bekommen. Zeitgleich mit der Bundespräsidentenwahl 1986, bei der Kurt Waldheim trotz Anschuldigungen seine NS-Vergangenheit verschwiegen zu haben, gewählt wor-
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Herren der Welt (Drama von Oskar Singer, 1935)
den war, stand ab 1. Oktober 1986 (nach dem plötzlichen Tod Helmut Qualtingers) Erwin Steinhauer als „Herr Karl“ im Wiener Akademietheater auf der Bühne (bis 30. März 1988, 64-mal). 1987 erschien eine CD nach der Plattenaufnahme, im Jahr darauf eine Videoaufnahme der Fernsehinszenierung von 1961. Der neuerlichen Ausstrahlung durch den ORF am 8. Januar 1992 folgte als Wendepunkt die Rede des Bundeskanzlers Franz Vranitzky im Juni 1993 in Jerusalem, bei der er erstmals auf die besondere Verantwortung der Republik Österreich gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus hinwies. 2010 wurde „Der Herr Karl“ von Nikolaus Habjan als hyper-reales Puppenspiel für das Wiener Schubert Theater adaptiert (Regie: Simon Meusburger). Im Hundertjahrjubiläum der Kammerspiele, ab 21. Oktober 2010, gab Martin Zauner den „Herrn Karl“ (Regie: Herbert Föttinger) als janusköpfig dämonische Figur, abstoßend und verführerisch sympathisch zugleich.
Elisabeth Großegger
Literatur Sabine Krangler, Helmut Qualtinger oder: die Demaskierung einer Volksseele. Eine Abhandlung des Werks „Herr Karl“ zum politischen und gesellschaftlichen Zeitgeschehen und dessen Medienecho, Diplom-Arbeit, Universität Wien 2006. Alfred Pfabigan, Orgien im Gemeindebau. Der Herr Karl als Zeitgenosse, in: Jeanne Benay, Gerald Stieg (Hrsg.),Österreich (1945–2000). Das Land der Satire, Bern, Wien 2002, S. 57–80.
Der Herr und die Bauern → Litauisches Scheunentheater
Herren der Welt (Drama von Oskar Singer, 1935) Oskar Singer (1893–1944) arbeitete in den 1930er-Jahren als Journalist bei verschiedenen deutschsprachigen Zeitungen in Prag. Als engagierter Zionist entwickelte er ein besonderes Interesse an der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Dieses Interesse und die zionistische Position prägen auch sein Zeitstück „Herren der Welt“, das am 9. Mai 1935 an den Jüdischen Kammerspielen in Prag seine Uraufführung erlebte. Das Stück wurde im gleichen Jahr in einem Prager Verlag publiziert, 2001 erfolgte eine kommentierte Neuveröffentlichung. Das Stück widmet sich – auch wenn der Autor als pragerdeutscher Jude kein Exilant war – einer in der Emigration seit 1933 vieldiskutierten Frage, inwieweit sich nämlich zwischen Deutschen und Nazis unterscheiden lasse und welche Konsequenzen die verfolgten Juden daraus zu ziehen hätten. Diese Frage wird an der Figur des jüdischen Erfinders Walter Bergmann entwickelt, der mit einer Nichtjüdin verheiratet und in der Leitung der Industriewerke seines Schwiegervaters tätig ist. Bergmann erfindet eine Wunderwaffe, ein Flugabwehrsystem, das einen hundertprozentigen Schutz gegen feindliche Luftangriffe bieten würde: „Das bedeutet Weltherrschaft“ – so charakterisiert Bergmann die politischen Wirkungen seiner Erfindung für den Staat, der sie nutzen kann. Als deutschem Patrioten erscheint es ihm selbstverständlich, die Pläne dazu dem NS-Staat zu überlassen, obwohl dieser die Juden aus dem Kreis seiner Rechtssubjekte ausschließt. Die antisemitischen Diskriminierungen sind Bergmann keineswegs entgangen, er glaubt aber, dem Staat als Gegenleistung für seine höchst
Herren der Welt (Drama von Oskar Singer, 1935)
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willkommene und für dessen imperialistische Ambitionen außerordentlich nützliche Erfindung eine Rücknahme der antijüdischen Gesetze abverhandeln zu können. Diese Forderungen erhebt er in dem staatsbürgerlichen Bewusstsein, mit seiner Erfindung die Staatstreue der deutschen Juden hinreichend bewiesen und daher ein Anrecht auf deren moralische und politische Anerkennung durch den NS-Staat erworben zu haben. Dieser Glaube wird im Stück als weltfremde Illusion entlarvt. Singer zielt darauf ab, eine prinzipielle Unvereinbarkeit zwischen jüdischer Identität und deutscher Staatstreue zu zeigen. Er tut dies bereits in der vorangeschickten Charakterisierung seiner dramatischen Figuren, in der er Walter Bergmann mit Max Naumann vergleicht, dem Vorsitzenden des antizionistischen und antikommunistischen „Verbandes nationaldeutscher Juden“, der den nationalsozialistischen Machtantritt begrüßt hatte und vehement gegen die ‚Ostjuden‘ agitierte. Auch der Verlauf der Handlung widerlegt Bergmanns deutschpatriotische Illusionen: Die nationalsozialistische Obrigkeit eignet sich seine Erfindung an, ohne auch nur im geringsten auf seine Forderungen nach rechtlicher Anerkennung der Juden einzugehen; nur mit knapper Not kann sich Bergmann der Verfolgung entziehen und ins sichere Prag flüchten. Singer stellt dem naiven Walter Bergmann in Gestalt seines Bruders Robert die Figur eines politisch realistischen Juden gegenüber. Robert verficht den zionistischen Standpunkt, dass die Juden ein eigenes Staatsvolk – wenn auch noch ohne Staat – darstellten und sich daher ideell und politisch von der deutschen Staatsmacht, und zwar gleichgültig welcher politischen Ausrichtung, lossagen müssten: „Alle schönen Theorien von Konfession und Staatsbürgertum, von Loyalität und Assimilation sind falsch. Waren immer falsch.“ Und: „Der Jude, der heute noch deutsch fühlt, ist entweder ein Narr oder … charakterlos.“ Die Festlegung auf einen alternativen, nämlich jüdischen Patriotismus führt das Stück jedoch nicht konsequent zu Ende: Es bietet nämlich mehrere nichtjüdische deutsche Figuren auf, die die von Robert aufgemachte Gleichsetzung von Deutschland und Nationalsozialismus dementieren: Der Großteil seiner angeheirateten nichtjüdischen Familie entzieht sich dem Nationalsozialismus und folgt den Brüdern Bergmann ins Prager Exil; und mit einem listenreichen kommunistischen Widerstandskämpfer, der zwei Gestapo-Agenten entlarvt, steht der Zionist Robert im besten Einvernehmen. Das Stück ist insofern das Dokument einer politischen Übergangssituation, die für die Zeit bis 1945 und zum Teil darüber hinaus charakteristisch ist: Der von vielen deutschen Exilanten verfochtenen Position, dass es ein „Anderes (d. h. nicht-faschistisches) Deutschland“ gebe oder geben könne, mag sich auch Singer, der sich politisch für den Zionismus entschieden hat, in „Herren der Welt“ nicht ganz verschließen. Oskar Singer wurde nach dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei Opfer des Holocaust. 1941 wurde er in das Ghetto Lódź/Litzmannstadt deportiert, wo er eine seit ihrer Publikation im Jahre 2007 vielbeachtete Ghetto-Chronik redigierte. Von dort wurde er 1944 nach Auschwitz, Sachsenhausen und schließlich ins KZ Dachau weiterdeportiert, in dessen Außenlager Kaufering er starb.
Carsten Jakobi
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Höre Israel (Aufsatz von Walther Rathenau, 1897)
Literatur Sascha Feuchert, Oskar Rosenfeld und Oskar Singer. Zwei Autoren des Lodzer Gettos. Studien zur Holocaustliteratur, Frankfurt am Main u. a. 2004. Carsten Jakobi, Der kleine Sieg über den Antisemitismus. Darstellung und Deutung der nationalsozialistischen Judenverfolgung im deutschsprachigen Zeitstück des Exils, Tübingen 2005. Hansjörg Schneider, Ein unbekanntes Stück. „Herren der Welt“ von Oskar Singer, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 1 (1991) 2, S. 410–417.
Der Herzog von Burgund → Fastnachtspiele Heute gehört uns die Straße (Buch, 1993) → Wahrheit macht frei (Dokumentarfilm) Hitlerjunge Quex (Film von Hans Steinhoff, 1933) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Höre Israel (Aufsatz von Walther Rathenau, 1897) Im März 1897 erschien in Maximilian Hardens „Zukunft“ der Aufsatz eines W. Hartenau „Höre Israel“, der einen Sturm der Entrüstung auslöste. Unter dem leicht entschlüsselbaren Pseudonym agierte der knapp dreißigjährige Walther Rathenau, Sohn des AEG-Gründers, selbst in der Elektrobranche als Unternehmer tätig und von publizistischem Ehrgeiz getrieben. Der Essay begann mit dem Satz „Von vorneherein will ich bekennen, daß ich Jude bin“ und der daran anschließenden rhetorischen Frage, ob es einer Rechtfertigung bedürfe, wenn er in anderem Sinne schreibe als dem „der Judenverteidigung“. Tenor des kurzen Aufsatzes war eine Anklage gegen das deutsche Judentum aus völkischer und rassistischer Position, die in der Forderung nach vollkommener Assimilation (ohne Taufe) gipfelte. Im Nachlass Rathenaus findet sich ein Entwurf, in dem der Autor noch eindeutiger seinem Bekenntnis, Jude zu sein, die rhetorische Frage anschließt „Bedarf es einer Erklärung, daß ich zum Antisemitismus neige?“ Rathenau hat den Artikel fünf Jahre später in seine Anthologie „Impressionen“ (Leipzig 1902) aufgenommen, sich damit als Verfasser bekannt und die Anfeindungen aus allen jüdischen Lagern, von den Zionisten bis zu den jüdisch-deutschen Patrioten des Central-Vereins in Kauf genommen. Es entstand die Legende, sein Vater, der AEG-Chef Emil Rathenau, habe alle erreichbaren Exemplare aufkaufen und vernichten lassen. Später hat der Verfasser eingeräumt, der Text sei in unglücklichster Stimmung seiner trübsten Zeit entstanden, und er hat ihn auch nicht in die Gesammelten Werke aufgenommen. Rathenau bediente sich in „Höre Israel“ eines ausgesprochen rassistischen und sozialdarwinistischen Vokabulars, als er die „Kulturfrage“ der sozialen Existenz des deutschen Judentums erörterte: Er nannte die Juden einen „abgesondert fremdartigen Menschenstamm“ und, noch drastischer, „Auf märkischem Sand eine asiatische Horde“ oder „kein lebendes Glied des Volkes, sondern ein fremder Organismus in seinem Leibe“. Solche Metaphorik kannten die Zeitgenossen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aus den Traktaten des sich formierenden Antisemitismus.
Hollywood-Kritik
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Rathenau forderte „die bewußte Selbsterziehung“ der jüdischen „Rasse“ (die er auch mit geläufigen Attributen wie Materialismus oder Ghettoschwüle charakterisiert) als Metamorphose der Aneignung germanischer Tugenden. Rathenaus Essay spiegelt vor allem die depressiven und autoaggressiven Züge des Autors, dessen Prominenz (zusammen mit der Mentoren-Rolle, die Maximilian Harden dabei spielte) die Schrift zum Skandalon machte.
Wolfgang Benz
Literatur Wolfgang Brenner, Walther Rathenau. Deutscher und Jude, München 2005. Shulamit Volkov, Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland 1867–1922, München 2012.
Hollywood-Kritik Die Anfänge der amerikanischen Filmindustrie, zuerst in New York und später im kalifornischen Hollywood, wurden von osteuropäischen Juden der ersten und zweiten Einwanderergeneration maßgeblich mitgeprägt. In den 1910er- bis 1940er-Jahren wurden sechs der acht großen Filmstudios (Paramount, 20th Century Fox, Universal, Radio-Keith-Orpheum, United Artists, Metro-Goldwyn-Mayer) von Juden gegründet und geführt. Diese Konstellation verleitete viele Hollywoodkritiker dazu, alles was ihnen in wirtschaftlicher, moralischer und politischer Hinsicht an der amerikanischen Filmindustrie missfiel, der jüdischen Dominanz in diesem Sektor zuzuschreiben. Nicht nur unter Antisemiten wurde seit den 1920er-Jahren von „Jewish Hollywood“ gesprochen und die „Judenfrage“ als „Hollywoodfrage“ gestellt. Berechtigte Kritik an fragwürdigen wirtschaftlichen Praktiken und der Monopolstellung der großen Filmstudios mischte sich mit religiös-moralischem Eifer gegen die als zu freizügig empfundene Darstellung von Sexualität und Kriminalität in Filmen. Juden, so die Argumentation, seien nicht auf christliche Werte verpflichtet und hätten daher weniger Hemmungen, den dumpfen Massengeschmack gewinnbringend zu bedienen. Des Weiteren schürte die Anti-Hollywood-Propaganda Sozialneid und rassistische Vorurteile gegen ostjüdische Einwanderer und fand in jüdischen Produzenten und Studioinhabern („movie moguls“) bevorzugte Zielscheiben. Verschwörungstheorien bezichtigten die Juden vor allem in den 1940er-Jahren, ihre Stellung in der Filmindustrie zu nutzen, um eine unamerikanische politische Agenda zu verbreiten. Die Hollywood-Kritiker nahmen für sich in Anspruch, die traditionellen Werte des ländlichen Amerika gegen die „dekadente“ Großstadtkultur der Ost- und Westküste zu verteidigen. Die Verbindung von Antisemitismus und Medienschelte hielt sie allerdings nicht davon ab, sich selbst moderner Massenmedien wie Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunk zu bedienen. Der Industrielle Henry Ford stellte mit seinem „Dearbon Independent“ eines der aktivsten Blätter im Kampf gegen „Jewish Hollywood“. Die meisten anderen Agitatoren entstammten einem christlich-fundamentalistischen Umfeld, wie der Radioprediger Charles Coughlin und der Methodistenpriester Bob Shuler. In den 1930er-Jahren kamen faschistische Organisationen wie die Silver Shirts und der Deutsch-Amerikanische Bund hinzu. Die Anti-Hollywood-Propaganda ent-
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Hollywood-Kritik
wickelte aus dem älteren Stereotyp vom jüdischen Theaterbaron das neue Stereotyp vom jüdischen „movie mogul“. Der „movie mogul“ sei als Parvenü nicht einmal der englischen Sprache mächtig, beherrsche aber dennoch mittels der Filmindustrie die öffentliche Meinung. Er sichere seine Stellung durch Korruption und Vetternwirtschaft und nutze sie aus, um unamerikanische Werte (Anarchismus, Kommunismus, Atheismus) zu verbreiten und Rassenschande mit von ihm abhängigen christlichen Schauspielerinnen zu treiben. In den 1930er-Jahren wurde in den USA ein abgewandeltes Rassenschande-Flugblatt der NSDAP verbreitet. Es zeigt ein „arisches“ Mädchen und einen Juden im Profil vor einem offenen Sarg. Die Bildunterschrift „Deutschland“ hatte man durch „Hollywood“ ersetzt. Die Studios reagierten zurückhaltend auf die antisemitische Propagandawelle, um ihren wirtschaftlichen Erfolg nicht zu gefährden und Schwierigkeiten mit der Production Code Administration, der Selbstkontrollinstanz der Filmindustrie, aus dem Weg zu gehen. Die 1934 gegründete Production Code Administration stand unter ihrem Vorsitzenden Joseph Breen zumeist auf der Seite der antisemitischen Hollywoodkritiker. Erst 1937 begannen die Studios damit, Initiativen zur Bekämpfung des Antisemitismus zu finanzieren. In den 1940er-Jahren bedienten sich die Isolationisten der Anti-Hollywood-Propaganda. Sie behaupteten, die Juden würden im Bündnis mit Großbritannien und der Roosevelt-Administration in Filmen gezielt Stimmung gegen das Dritte Reich machen, um den Kriegseintritt der USA zu erwirken. 1941 befasste sich das von isolationistischen Senatoren dominierte House Un-American Activities Committee mit diesen Vorwürfen und lud prominente jüdische Filmschaffende zu Anhörungen vor. Tatsächlich waren vor 1941 nur wenige Anti-Nazi-Filme, wie „Confessions of a Nazi Spy“ (1939) und → „The Great Dictator“ (1940), in Hollywood entstanden. Die Befragungen zeigten, dass sich die Komiteemitglieder ausschließlich von antisemitischen Ressentiments leiten ließen, während sie die beanstandeten Filme nicht einmal gesehen hatten. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor und dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg stellte das Komitee seine Arbeit ein, ohne einen Abschlussbericht vorzulegen. Seit 1947 wandelte sich das House Un-American Activities Committee zum Instrument der Kommunistenverfolgung. Zwar wurde Hollywood auch in diesem Zusammenhang unter Generalverdacht gestellt. Dieser nahm jedoch nur noch selten antisemitische Formen an. Zum einen trug hierzu der allgemeine Rückgang des Antisemitismus in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg bei. Zum anderen kamen die Filmstudios mit einer rigorosen Selbstzensur möglichen Kommunismusvorwürfen zuvor. In Form des für multikulturelle Gesellschaften typischen Phänomens der Minderheitenkonkurrenz trat die Anti-Hollywood-Propaganda gelegentlich auch außerhalb der Kreise weißer protestantischer Angloamerikaner in Erscheinung. In den 1920erJahren protestierten beispielsweise irische Katholiken gegen die Herabwürdigung ihrer ethnischen und religiösen Herkunft in „jüdischen“ Hollywoodfilmen. In der Gegenwart sind es vor allem radikale Interessenvertreter der Afroamerikaner, die gegen eine vermeintliche jüdische Dominanz in Hollywood polemisieren.
Thomas Gräfe
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Literatur Lawrence Baron, Treatment of Antisemitism in Hollywood, in: Richard S. Levy (Hrsg.), Antisemitism. A historical encyclopedia of prejudice and persecution, Band 1, Santa Barbara 2005, S. 315–316. Harold Brackman, The attack on “Jewish Hollywood”. A chapter in the history of modern Anti-Semitism, in: Modern Judaism 20 (2000), S. 1–19. Paul Buhle (Hrsg.), Jews and American Popular Culture, Band 1: Movies, Radio, and Television, Westport 2007. Steven Alan Carr, Hollywood and Anti-Semitism. A Cultural History up to World War II, Cambridge, Mass., 2001.
Holocaust (TV-Serie, USA 1978) Als erster Spielfilm, der in Westdeutschland nach dem Krieg 1947 entstand, gilt → „Lang ist der Weg“, der in Deutsch, Polnisch und Jiddisch im Auftrag der US Army Information Control Division gedreht wurde. Der Weg einer jüdischen Familie bildet die Handlung. Erste Station ist das Warschauer Ghetto, der Sohn schließt sich polnischen Partisanen an. Die Eltern machen die Erfahrung mehrerer Konzentrationslager, der Vater wird dort ermordet. Mutter und Sohn treffen sich nach der Befreiung und machen sich auf die Suche nach einem neuen Heimatland. Die Geschichte ist aus jüdischer Perspektive erzählt und macht auch den Aspekt des Entwurzeltseins nach der Befreiung, das Dasein als Displaced Person, zum Gegenstand. Das Thema Judenmord fand aber erst drei Jahrzehnte später ein großes Publikum in der mit den Stilmitteln der „soap opera“ gefertigten vierteiligen US-amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“, die ein weltweiter Erfolg wurde. Die US-Fernsehgesellschaft NBC plante 1976, unter dem Eindruck des Riesenerfolges des TV-Films über Sklaverei in den USA „Roots“, den die konkurrierende ABC produziert hatte, eine Serie, die den Völkermord an den Juden Europas zum Gegenstand haben sollte, das schien (als Pendant zu den Sklavenschicksalen in „Roots“) ein zugkräftiges Sujet. Mit der Regie wurde Marvin Chomsky, ein Routinier und Spezialist für Schnellschüsse, betraut, dem die Aufgabe gestellt war, die Geschichte der Verfolgung und Ermordung der Juden zwischen 1935 und 1945 am Schicksal fiktiver Familien zu erzählen. Als Drehbuchautor wurde Gerald Green gewonnen, der mit seinem Roman „Holocaust“ – 1,5 Millionen verkaufte Exemplare (vor Ausstrahlung der Serie) – gewaltigen ökonomischen Erfolg, aber kein literarisches Renommee erzielte. Die Serie wurde von Juli bis November 1977 in Europa an „originalen“ Schauplätzen wie Berlin und Mauthausen gedreht. Die Szenen im Warschauer Ghetto wurden in Berlin aufgenommen, die Szenen in den KZ Buchenwald und Auschwitz in Mauthausen. Drehgenehmigungen in Ungarn, der Tschechoslowakei und Jugoslawien wurden verweigert, in Polen und der DDR gar nicht beantragt. In den USA wurde „Holocaust“ im April 1978 ausgestrahlt und von 120 Millionen Zuschauern gesehen. Vor dem Start der Serie in der Bundesrepublik war sie in mehr als 30 Nationen verkauft worden. Außer dem wirtschaftlichen Erfolg machte die Serie den Begriff „Holocaust“ als Bezeichnung des Genozids an den Juden populär, er ist seitdem in vielen Sprachen eingebürgert. Der Aufklärungserfolg wird unterschiedlich
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beurteilt, jenseits der Intentionen der Hersteller stieß „Holocaust“ anhaltende Debatten über Trivialität, Ästhetik und Moral im Umgang mit dem Völkermord an. Der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel schrieb im April 1978 in der „New York Times“, der Film versuche das darzustellen, was sich der Vorstellungskraft entziehe, er verwandele „ein ontologisches Ereignis in eine Seifenoper“ und urteilte: „Als Fernsehproduktion ist der Film eine Beleidigung für die, die umkamen und für die, die überlebten“. Seifenopern haben den Zweck, ein günstiges Umfeld zu schaffen für die systemimmanente Unterbrechung durch Werbeblocks. Stilmittel sind ein stringentes Gut-BöseSchema, Identifikationsangebote durch Personalisierung und Konstellation der Figuren. Die „soap opera“ ist eine Geschichte ohne Anfang und Ende, die weder durch Handlung noch durch Dramatik die Zuschauer überfordert, Katastrophen kommen nicht vor, das Erzähltempo ist niedrig, die Folgen erstrecken sich über einen sehr langen Zeitraum. Einige dieser Elemente sind in der nur vierteiligen Serie „Holocaust“ nicht beachtet, deren Erzähltempo hoch ist und die – ganz untypisch – die Menschheitskatastrophe des Judenmords zum Gegenstand hat. Die emotionalen, psychologischen und ästhetischen Komponenten des Genres sind jedoch in „Holocaust“ verwirklicht, insbesondere die Zusammenfassung des Geschehens in zwei Familiengeschichten. In insgesamt sieben Stunden wird die Geschichte der Judenverfolgung und der Shoah von 1935 bis 1945 in der Gegenüberstellung der deutsch-jüdischen Familie Weiss und der Nazifamilie Dorf erzählt. Die Figuren bedienen Klischeevorstellungen: Der jüdische Arzt Dr. Josef Weiss, seine Frau Berta, die Tochter Anna, die Söhne Rudi und Karl einerseits und der arbeitslose Jurist Erik Dorf andererseits, der sich erfolgreich um die Stelle des persönlichen Referenten Reinhard Heydrichs bewirbt, zum Akteur der Wannseekonferenz und als SS-Offizier in einer Einsatzgruppe aufsteigt, bis er in US-Gefangenschaft ohne Reue durch Selbstmord endet. Die Schicksale der beiden Familien sind in der Erzählung auf vielfache Weise verschränkt: Dorf war Patient bei Dr. Weiss und warnt ihn vor dem Kommenden, bewohnt dann dessen Haus, Frau Dorf spielt auf dem Flügel, der vor der „Arisierung“ der Familie Weiss gehörte usw. Die Mitglieder der Familie Weiss durchlaufen die verschiedenen Stationen des Judenmords. Karl Weiss, der Sohn des Arztes Dr. Josef Weiss, ist Künstler, er heiratet die Nichtjüdin Inga Helms, die katholisch ist, er kommt nach Buchenwald, von dort aus nach Theresienstadt, schließlich nach Auschwitz. Sein Bruder Rudi schließt sich einer jüdischen Partisanengruppe in der Ukraine an, wird gefangen und ins Vernichtungslager Sobibor deportiert, aus dem er bei dem Aufstand der Gefangenen entflieht. Die Eltern, Josef und Berta Weiss, müssen nach der „Reichskristallnacht“ in ihre polnische Heimat zurückkehren, werden dann aus dem Warschauer Ghetto nach Auschwitz deportiert. Rudi Weiss ist am Ende der einzige Überlebende. Bis auf Inga, die Frau von Karl Weiss, die mit ihrem Kind nicht mehr in Deutschland leben will, ist die Familie vernichtet. Rudi Weiss wandert nach Palästina aus. Das Bemühen, alle wichtigen Orte des Judenmords und alle wichtigen Themen anzusprechen und sie in zwei Familiengeschichten einzubinden, führte zwangsläufig zu Konstrukten, die mit der historischen Realität im Detail nicht immer kongruent waren. Der Westdeutsche Rundfunk kaufte die Serie für 1,2 Millionen DM, nachdem SPDPolitiker sich dafür ausgesprochen hatten. Der bayerische Ministerpräsident Franz-Jo-
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sef Strauß (CSU) lief dagegen Sturm, schimpfte über Geschäftemacherei, sah die historische Wahrheit bedroht und polarisierte die politischen Lager SPD (Befürworter) und CDU/CSU (Gegner) gegenüber der Fernsehserie. Die Publizität vor der Ausstrahlung war enorm, und neben dem politischen Streit gab es Auseinandersetzungen der Intellektuellen über die ästhetischen Probleme der Serie „Holocaust“. Peter SchulzeRohr, damals an der Spitze des Ressorts Fernsehspiel im Südwestfunk, nannte den Film „fahrlässig gemacht“, kritisierte die Wagenburgmentalität der Politiker und resümierte sein Verdikt: „Den Vorwurf, aus Indifferenz und mangelnder Courage Schund zu einem Thema gesendet zu haben, zu dem man keinen Schund senden darf“, werde man nicht durch den Kompromiss los, ihn in die Dritten Programme zu verbannen. Vor der Ausstrahlung wurde in den Feuilletons über die Resonanz in den USA, Großbritannien und Israel berichtet und der Antagonismus von Inhalt und Form des Fernsehstücks thematisiert. In der „Süddeutschen Zeitung“ (20. September 1978) nannte es Thomas Thieringer zwar „ein Machwerk, das Informationseifer, Engagement und Ernsthaftigkeit vorgibt, um gute Geschäfte zu machen“, sprach sich aber doch für die Ausstrahlung aus, weil er sich eine Debatte über massenmediale Geschichtsvermittlung erhoffte: „Ein Film wie Resnais’ → Nacht und Nebel sagt mehr über die deutsche Wirklichkeit zwischen 1935 und 1945 als dieser grausam sentimentale Fernsehschinken. Ihn den Zuschauern aber vorenthalten hieße, sich billig vor einer notwendigen Diskussion zu drücken und die Zuschauer für unmündig zu erklären.“ In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ orakelte Günther Rühle, dass die TVSerie die Meinungen spalten würde, und in der „Zeit“ (19. Januar 1979) konstatierte Dieter E. Zimmer: „Die Geschichte, die dieser Film erzählen will, ist grauenhaft. Der Film ist ästhetisch grauenhaft. Und grauenhaft ist die Vorstellung, daß viele Mitmenschen nur durch eine ästhetische Grauenhaftigkeit von der Grauenhaftigkeit der Geschichte zu überzeugen sein dürften.“ Der israelische Humorist Ephraim Kishon irritierte sein deutsches Publikum, als er in der Funkillustrierten „Hörzu“ (3. Januar 1979) drei Wochen vor der Ausstrahlung von „Holocaust“ zu Protokoll gab: „Wer aber an diesem Film Kritik übt, ist für mich schon wieder verdächtig, weil er damit den Antisemitismus wieder wachruft.“ Die Serie wurde am 22., 23., 25. und 26. Januar 1979 in sämtlichen Dritten Programmen der ARD ausgestrahlt. Das Publikum war durch begleitende Sendungen auf „Holocaust“ eingestimmt worden („Endlösung“ von Paul Karalus, 18. Januar 1979; „Antisemitismus“ von Erhard Klöss; „Aus einem deutschen Leben“ von Theodor Kotulla, 28. Januar 1979). Die Entscheidung der Intendanten der ARD-Anstalten, die Serie nur in den Dritten Programmen zu senden, zeugt nicht nur von der Unsicherheit der Fernsehfunktionäre, die sich zaghaft an den Politikern orientierten und Angst vor ablehnenden Publikumsreaktionen hatten, sie schloss auch weitgehend Zuschauer in der DDR aus. So blieb die Ausstrahlung vor allem ein Medienereignis in der Bundesrepublik. Das Interesse des Publikums war überwältigend, die Einschaltquoten stiegen von 31 Prozent bei der ersten auf 40 Prozent bei der vierten Folge. Fast ebenso rege war die Beteiligung bei den anschließenden Diskussionsrunden. 30.000 Zuschauer riefen beim WDR an, um Fragen zu stellen oder Kommentare abzugeben. Sehr viele schrieben auch Briefe an den Sender, teils um Aufklärungsmaterial anzufordern, teils um
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emotionale Bewegung auszudrücken. Die Vokabel „Betroffenheit“ bekam Konjunktur. Die überraschend positive Resonanz der TV-Serie bei den Zuschauern löste auch bei einigen Kritikern Nachdenklichkeit aus. Marion Gräfin Dönhoff, die Chefin der Wochenzeitung „Die Zeit“, der Publizist Eugen Kogon, der Herausgeber des „Stern“ Henri Nannen revidierten öffentlich ihre anfänglich negative Einstellung. Der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll plädierte gegen einen Dauerstreit zwischen Emotion und Aufklärung, als er erklärte: „Arroganz gegenüber Emotion ist nicht angebracht, schließlich ist nichts, aber auch gar nichts Verwerfliches daran, wenn da Zuschauer bewegt werden, wo doch Aufklärung (Dokumentation) nicht unbedingt totale Unbewegtheit bedeutet.“ Heinrich Böll konstatierte auch, dass „Holocaust“ eine Zäsur im bundesrepublikanischen Geschichtsdiskurs bedeutete. Wie in der Chronologie der deutschen Wirtschaftsgeschichte, in der die Währungsreform 1948 die Wegmarke bildet, so werde es in Zukunft in der Kulturgeschichte ein „Vor-Holocaust“ und ein „Nach-Holocaust“ in der Beschäftigung mit den Themen „Endlösung“ und Antisemitismus geben. Die ästhetisch fragwürdige TV-Serie war jedenfalls nicht nur ein großer kommerzieller Erfolg, sie war (wie später Daniel Jonah Goldhagens wissenschaftlich fragwürdiges Buch „Hitlers willige Vollstrecker“) Anlass einer öffentlichen Debatte über den Judenmord, wie es sie zuvor noch nicht gegeben hatte. Frustriert fühlten sich Historiker, die enttäuscht der Kluft zwischen seriöser Fachwissenschaft und medialer Inszenierung gewahr wurden (auch dies wiederholte sich im Falle Goldhagen 1996). „Der Spiegel“ nannte das Ereignis einen „Schwarzen Freitag für die Historiker“ (29. Januar 1979), in der „Frankfurter Allgemeinen“ konstatierte Joachim Fest schadenfroh die „selten so sichtbar gewordene Entfremdung zwischen Fachleuten und Öffentlichkeit“ (29. Januar 1979), und Martin Broszat, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, artikulierte seinen Ärger über den vermeintlichen Sieg des Betroffenheitsgefühls über die Aufklärung in einem wissenschaftlichen Aufsatz. Marion Dönhoff resümierte die Bedeutung von „Holocaust“, als sie die kritischen Einwände dem Ethos des Films entgegenstellte: „...melodramatische Schnulze, triviales Unterhaltungsklischee, Love-Story und Horror-Story in unzulässiger Mischung – als ob diesen ästhetischen Kategorien gegenüber der moralischen Dimension und Botschaft dieses Films auch nur geringste Bedeutung zukäme. Bei manchen Kritikern ist die Überschätzung und Überbewertung des Ästhetischen auf Kosten des Moralischen zuweilen wirklich erschreckend“ (Die Zeit, 2. Februar 1979). Die unmittelbare Wirkung des Films war allerdings nicht von Dauer. Wiederholungen in der ARD (November 1982), im WDR (November 1983) und im Privatsender Tele 5 (Januar 1991) fanden nur noch mäßiges Interesse. Die Debatte über die Ethik filmischen Inszenierens und Dokumentierens des Sujets Völkermord wurde unter veränderten Vorzeichen noch mehrmals geführt, freilich mit geringerer Intensität und bei abnehmendem öffentlichen Interesse. Anlässe bildeten vor allem die Filme → „Shoah“ (1985), → „Schindlers List“ (1993), → „La vita è bella“ (1997), → „Train de vie“ (1998). Der Film des US-amerikanischen jüdischen Regisseurs Joshua Oppenheimer „The Act of Killing“ (2012), der wegen seiner künstlerischen Qualitäten mehrfach preisgekrönt wurde, der auf Festivals wie der Berlinale 2013 gezeigt wurde, fällt aus diesem Rahmen. Er verstört als Selbstinszenierung von Massenmördern, die ihre Taten vor der Kamera nachspielen und sie ohne erkennbares
Hotel Polan und seine Gäste (Film von Horst Seemann, 1982)
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Bedauern prahlend erklären. Der Dokumentarfilm will über die politisch gewollte Ermordung von rund einer Million Menschen in Indonesien aufklären, die als Kommunisten 1965 von Todesschwadronen gejagt und getötet wurden. Da die Opfer sich nicht vor die Kamera wagten, weil die Kumpane der Mörder noch Machtfunktionen ausüben, hat der Regisseur die Täter ermuntert, ihr Handeln zu erläutern, es nachzuspielen, sich selbst in Szene zu setzen. Sie wirken sympathisch, freundlich, pflegen vor der Kamera vertrauten Umgang mit dem Regisseur, der dadurch zum Komplizen wird. Der Nachvollzug des Geschehens ohne Kommentar macht die Bilder aber selbständig, lässt den Betrachter ratlos zurück oder stiftet Empathie mit den als Schauspielern agierenden Mördern. Da die Distanz zum Geschehen fehlt – als würden in einem Film über Auschwitz der Kommandant Höß, seine Gehilfen und Vorgesetzten die Ermordung von Juden nachspielen –, kann der ambitioniert gemachte, intellektuell anspruchsvolle Dokumentarfilm „The Act of Killing“ keine aufklärerische Wirkung zum Thema Völkermord entfalten, wie sie der TV-Serie „Holocaust“ trotz aller Einwände gelang.
Wolfgang Benz
Literatur Frank Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von „Holocaust“ zu „Der Untergang“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 1–32. Martin Broszat, „Holocaust“ und die Geschichtswissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 27 (1979), S. 285–298. Catrin Corell, Der Holocaust als Herausforderung für den Film. Formen des filmischen Umgangs mit der Shoah seit 1945. Eine Wirkungstypologie, Bielefeld 2009. Peter Märthesheimer, Ivo Frenzel (Hrsg.), Im Kreuzfeuer: Der Fernsehfilm Holocaust. Eine Nation ist betroffen, Frankfurt am Main 1979. Martina Thiele, Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film, Münster 20072. Waltraud „Wara“ Wende (Hrsg.), Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis, Stuttgart 2002.
Hotel Polan und seine Gäste (Film von Horst Seemann, 1982) Als Ende der 1970er-Jahre eine Nachricht aus den USA in Europa die Runde machte, man drehe mit großem Einsatz von Mitteln und Schauspielern eine Serie über den Judenmord, die auch nach Deutschland kommen sollte (→ „Holocaust“), kam erneut Bewegung in ein Projekt des DDR-Fernsehens, das dort seit längerer Zeit in den Schubladen lag, aber aus vielerlei Gründen nicht realisiert wurde. Bei dem Projekt handelte es sich um eine Literaturverfilmung. Bereits 1970 hatte Jan Koplowitz (1909–2001), den man in erster Linie mit sozialistischer Aufbauliteratur verband, eine semiautobiografische Erzählung „Der Kampf um die Bohemia“ veröffentlicht, in der er das Bild einer jüdischen Familie über drei Jahrzehnte zeichnete. Besser bekannt ist heute Koplowitz’ knapp 700 Seiten starker Roman „Bohemia, mein Schicksal“, in den er 1979 die Erzählung umarbeitete. Die Chronik der Familie Polan beginnt kurz nach der Jahrhundertwende: Die Polans führen im böhmischen Grenzland ein gut besuchtes, koscheres Hotel, die Bohemia. Es kommen Gäste aus aller Welt, darunter ein Querschnitt europäischer Juden.
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Hotel Polan und seine Gäste (Film von Horst Seemann, 1982)
Aber im deutschnationalen Bad Grenzbrunn neidet man den Polans ihren Erfolg. Bereits die Großeltern haben mit Missgunst und versteckten Ressentiments zu kämpfen; ihre Kinder, allen voran ihre Tochter, die Erbin des Hotels Esther, bekommen den mit den Nationalsozialisten offen ausbrechenden Antisemitismus existenziell zu spüren. Die Familie und ihre Hotelgäste reagieren auf die Bedrohung verschieden: Einige verschließen die Augen oder beharren trotzig auf ihren Rechten, andere emigrieren oder schließen sich dem Zionismus an, wieder andere wählen den „Königsweg“ zum Kommunismus. Diese Entscheidung trifft Esthers Sohn Peter (alter ego des Autors), was einhergeht mit seiner Abkehr vom religiösen Judentum und die familiären Bande zerreißt. Seine Mutter stirbt in den Gaskammern von Auschwitz. Als man nun in der DDR von der in Produktion befindlichen US-amerikanischen Serie erfährt, beginnt abermals – unter erheblichem Zeitdruck – die Arbeit an den Szenarien für „Hotel Polan und seine Gäste“, so der Titel des Fernsehmehrteilers. Die Dramaturgen unterstreichen: Die Fabel biete die Möglichkeit, „die politische Entscheidung“ für den Kommunismus als einzig richtige „im Kampf gegen Faschismus und Krieg“ plausibel zu machen und zugleich den „gefährlichen Irrweg zu zeigen, den der Zionismus und seine Anhänger beschreiten. [...] Alle Beteiligten sind sich bewusst, dass der Gegner an ähnlichen Geschichten arbeitet, um die Historie zu verfälschen und den Sozialismus und seine ethischen Grundlagen zu diffamieren. Deshalb ist die Pflicht, über einen Teil deutscher Geschichte auszusagen, für uns noch dringender geworden.“ Als Regisseur wurde schließlich Horst Seemann verpflichtet, der sich nach seinem viel gelobten Film → „Levins Mühle“ (1980) gewissermaßen als „Spezialist“ für jüdische Geschichte und Kultur empfahl. Seemann beschrieb sein Anliegen damit, ein Stück jüdische Kultur detailgetreu in Szene setzen zu wollen, und bereitete sich dafür akribisch vor. Das Resultat gelangte dennoch nicht über verkitschte, zum Teil hoch problematische Stereotype des „Jüdischen“ in einer publikumstauglichen Fernsehästhetik hinaus. Seemann inszenierte das Bild einer jüdischen Familie mit dem Blick auf das faszinierend „Fremde“. Den Prozess der Verbürgerlichung europäischer Juden, der im Laufe des 19. Jahrhunderts stattgefunden hatte, verspielte er, in dem er die jüdischen Gäste der Bohemia optisch zurück ins Ghetto versetzte. Es dominierte – von Ausnahmen abgesehen – die Ikonografie des Ostjudentums, wie es sich die Filmemacher verklärt vorzustellen schienen (sehr zum Unwillen des Autors der literarischen Vorlage). Sprache und Gestik sind die sofort erfassbaren Signale, dass es sich bei den Charakteren um „Juden“ handelt. Die „Schönheit und Kraft“ jüdischer Bräuche, der „eigentümliche“, „viel zu lange fremde Kulturkreis“ einer „längst versunkenen Welt“, von der die Presse in Ost wie West bei „Hotel Polan“ schwärmte, war als Romantisierung nach 1945 ein genuin nicht-jüdisches Phänomen, und ein merkwürdiges Verlangen nach einem vermeintlich authentischen jüdischen Leben, als dieses durch die deutschen Verbrechen unwiederbringlich vernichtet war. Exotisierung und Romantisierung entsprachen aber durchaus dem Zeitgeist der 1980er-Jahre und waren zudem ein gesamtdeutsches Phänomen – vielleicht auch ein Grund für den gesamtdeutschen Erfolg des Dreiteilers. „Hotel Polan“ exotisierte „Jüdisches“ und verwandelte es in Folklore. Das bot die Möglichkeit, ein Publikum zu gewinnen, das der ewig gleichen Bilder vom antifaschistischen Wi-
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derstand müde war, die die DDR zeit ihres Bestehens produzierte. Darüber hinaus gab sich die SED-Regierung seit Ende der 1970er-Jahre besorgt um die verbliebenen jüdischen Orte und Gemeinden, um eine Art „museales“ Judentum zu schaffen, das man dann „als kulturelles Erbe der ‚vorsozialistischen‘ Gesellschaftsordnung“ pflegen könne (Nachama). Einzig irritierend empfand man Seemanns, mit völlig anderen Mitteln inszenierte und nur wenige Sekunden währende Abschlusssequenz, in der er unmissverständlich auf das Ende seiner Protagonistin in den Gaskammern von Auschwitz verwies. Ein „Schock“ nach all der Opulenz, der „vermeidbar gewesen wäre“, wie der Verband der Film- und Fernsehschaffenden der DDR meinte. Doch „Hotel Polan“ romantisierte nicht nur, er politisierte, mehr noch: Er zündelte. Er stellte das religiöse Judentum als „finsterstes orthodoxes Mittelalter“ dar, „mit vorsintflutlichen Riten und Gebräuchen“ (wie der vom Glauben abgefallene Kommunist Peter das Familienleben seiner orthodoxen Freundin Channah diffamiert). Bedenkt man, dass in der DDR Religion als Anachronismus galt, verwundert das kaum. Die Diffamierung steht unweigerlich in einer (christlichen) Tradition, die im Festhalten der Juden an ihrem Glauben die Ursache sehen wollte, dass die Juden nicht in die westliche Kultur zu integrieren seien. Damit nicht genug, die „orthodoxen Juden“ treten als raffgierige, Strippen ziehende Geschäftemacher, militante Zionisten und skrupellose Rassisten auf. Ausgestattet mit den nötigen finanziellen Mitteln, setzen sie sich entweder ins sichere Ausland ab oder machen gemeinsame Sache mit den Nazis, um die Einwanderung nach Palästina zu beschleunigen. Koplowitz’ Vorlage machte aus der Ablehnung des Zionismus keinen Hehl. Doch bei Seemann ging der Zionismus über Leichen. „Hotel Polan“ gehörte zu einer Reihe von israelkritischen, ja antizionistischen Büchern und Dokumentarfilmen, die besonders in den 1980er-Jahren in beträchtlicher Zahl in der DDR erschienen. Zur Zeit des Libanon-Krieges 1982, dem Ausstrahlungsjahr von „Hotel Polan“, erreichten die Kampagnen gegen Israel wieder einmal einen Höhepunkt: Rezensionen verglichen die „Flüchtlingslager der PLO“ mit den „faschistischen Vernichtungslagern“. Kritik am Zionismus und an Israel war von offizieller Seite gern gesehen – zudem wenn sie, wie im Fall des Autors Koplowitz, von einem Juden kam. Sie gab der außenpolitischen Haltung der DDR-Regierung Rückendeckung: „Zionismus“ als „bürgerlicher Nationalismus“ war bis 1989 ein Pejorativ und der Staat bekämpfte ihn propagandistisch, während der 1950er-Jahre sogar strafrechtlich. Über das Medium Fernsehen gelangte die ideologische Auseinandersetzung mit Kapitalismus und Zionismus in die Wohnzimmer. Nach der Ausstrahlung von „Hotel Polan“ reagierten jüdische Zuschauer ob der „antijüdischen, antizionistischen Hetz- und Hasstiraden à la Stürmer“ entsetzt und forderten Änderung, vereinzelt sogar das Verbot des Films. Koplowitz selbst wurde als „jüdischer Antisemit“ beschimpft, eine Kritik, die ihn schwer getroffen hat, wie er später gestand. Wohl auch deshalb nahm er eine kleine, aber gewichtige Änderung an seinem Roman vor. In der ersten Auflage eröffnete er „Bohemia, mein Schicksal“ mit dem Motto-Gedicht seines Freundes Erich Fried „Höre, Israel“ (1975), das Israel mit NS-Deutschland verglich. Ab der fünften Auflage von 1982 war das Gedicht durch die Widmung ersetzt: „Meiner in Auschwitz ermordeten Mutter“.
Lisa Schoß
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Hotel Terminus (Film von Marcel Ophüls, 1988)
Literatur Gabriele Eckart, The GDR and Antisemitism? A Comparison of Jan Koplowitz’ Novel „Bohemia, mein Schicksal“ (1979) and Horst Seemann’s Film „Hotel Polan und seine Gäste“ (1981), in: Shofar 26 (2008) 3, S. 68–86.
Hotel Terminus (Film von Marcel Ophüls, 1988) Der Film „Hotel Terminus. The Life and Times of Klaus Barbie“ (USA 1988) wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter einem Oscar 1988 als bester Dokumentarfilm. Marcel Ophüls, der 1927 in Frankfurt am Main als Sohn des Filmregisseurs Max Ophüls geboren wurde, ab 1933 in Frankreich lebte, 1938 die französische Staatsbürgerschaft erwarb, 1940 in die USA floh, arbeitete nach der Rückkehr nach Europa als Regieassistent und war bis 1960 für den Südwestfunk Baden-Baden tätig. Er etablierte sich dann als Film- und Fernsehregisseur in Frankreich, Deutschland und den USA mit Dokumentarfilmen. Sein monumentales Werk über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess → „The Memory of Justice“ [„Nicht schuldig?“] 1973/74 begründete seinen Ruhm endgültig, nachdem er 1969 in Frankreich mit seinem Film „Das Haus nebenan – Chronik einer französischen Stadt im Kriege“ Legenden über die Resistance zerstört und eine öffentliche Diskussion über die Kollaboration des Vichy-Regimes mit den Nationalsozialisten ausgelöst hatte. Ophüls sollte für die New Yorker Wochenzeitung „The Nation“ über den Prozess gegen den Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, berichten, der im Februar 1983 von Bolivien an Frankreich ausgeliefert worden war. Der Prozessbeginn verzögerte sich immer wieder bis Mai 1987. In dieser Zeit, als nicht sicher war, ob „der Schlächter von Lyon“ überhaupt vor Gericht kommen würde, da er über französische Kollaborateure und Verräter unangenehme Aussagen machen könnte, weil er nach 1945 für einen US-Geheimdienst in Deutschland gearbeitet hatte, weil er über südamerikanische Waffen- und Drogengeschäfte zu viel wusste, beschloss Ophüls, die historische Wahrheit in einem Dokumentarfilm festzuschreiben. Die Biografie Barbies (1913–1991), der 1935 in den Sicherheitsdienst (SD) der SS eingetreten war, interessierte Ophüls nicht hauptsächlich, sondern die politischen und sozialen Hintergründe des Falles. In den Niederlanden tat Barbie als SS-Obersturmführer 1940–1942 Dienst beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei (Sipo) und des SD, ab November 1942 war er in Lyon als Leiter der Abteilung Gegnerbekämpfung beim Kommandeur der Sipo und des SD damit beschäftigt, Widerstandskämpfer aufzuspüren, zu foltern und zu liquidieren. Sein prominentestes Opfer war der Resistance-Chef Jean Moulin. Barbie war an der Vernichtung eines jüdischen Kinderheims selbst beteiligt, er misshandelte auch viele Gefangene persönlich in seinem Lyoner Hauptquartier, das er im dritten Stock des Hotels Terminus in der Stadt etabliert hatte. Im November 1944 zum SS-Hauptsturmführer befördert, konnte er Frankreich noch rechtzeitig vor der Befreiung des Landes verlassen. Barbie war 30 Jahre alt, als seine Karriere als NSTäter endete. Französische Gerichte beschuldigten ihn, an 4342 Morden beteiligt gewesen zu sein, ebenso wie an der Verhaftung und routinemäßigen Folterung von 14.311 Widerstandskämpfern. Am 16. Mai 1947 und am 28. November 1952 wurde Barbie in Abwesenheit zum Tode verurteilt.
Hugon-Filme (Frankreich, 1930–1937)
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Seit 1951 lebte Barbie, über die „Rattenlinie“ mithilfe der Amerikaner und der Katholischen Kirche nach Südamerika entkommen, als „Klaus Altmann“ in Bolivien. Obwohl Beate Klarsfeld 1971/72 die Identität Barbies öffentlich machte, blieb er dank glänzender und lukrativer Beziehungen zur herrschenden Kaste Boliviens, für die er 1952 eine politische Polizei aufbaute, unbehelligt, bis er unter veränderten Verhältnissen von der neuen demokratischen Regierung Boliviens Anfang 1983 nach Frankreich ausgewiesen wurde. Wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit stand Barbie ab 11. Mai 1987 in Lyon vor Gericht. Der Prozess hatte große politische Brisanz, da der Verteidiger Jacques Vergés entschlossen war, über die juristische Notwendigkeit hinaus die französische Gesellschaft aufzurütteln und sich mit der Lebenslüge vom geschlossenen nationalen Widerstand auseinanderzusetzen. Barbie wurde am 4. Juli 1987 zur Höchststrafe, lebenslange Haft, verurteilt. Das Gericht hatte mehr als 100 Zeugen gehört zu den drei Hauptanklagepunkten Deportation von 44 jüdischen Kindern, Verhaftung und Deportation von 86 jüdischen Bürgern, Deportation von 650 Juden und Widerstandskämpfern am 11. August 1944. Ophüls’ monumentaler Film (267 Minuten Dauer) wurde aus 82 Interviews mit 120 Stunden Aussagen komponiert. Nach 40 Drehtagen in zwei Jahren in fünf Ländern entstand im Schneideraum ein ebenso ironisches wie leidenschaftliches, distanziertes wie dichtes Meisterwerk, das nur aus Zeugenaussagen montiert ist, ohne Erklärungen und Kommentare zu den „entlarvenden gnadenlosen Gegenüberstellungen“ („Der Spiegel“). Die Musik hat verfremdende und distanzschaffende Funktion, wenn die Wiener Sängerknaben deutsche Volksweisen („Das Wandern ist des Müllers Lust“) darbieten oder Hannes Wader die „Internationale“ singt. Partner im Interview sind Schulkameraden, Gestapoleute, Geheimdienstler, Resistance-Veteranen, Kollegen und Angestellte des erfolgreichen Nachkriegsgeschäftsmannes Barbie. Die Zeugen waren Mitwisser, Mittäter, Opfer, Gleichgültige. Ophüls hatte seinen Film als Forschungsprojekt über die Unmenschlichkeit angelegt. Die Biografie des NS-Verbrechers diente ihm als Folie für ein „monumentales Sittenbild“, gewonnen aus schonungsloser Betrachtung von Mitmachern und Wegschauern. Ophüls interessierte Barbie als „ein makelloses Verbindungsglied zwischen der Welt der kultivierten, gestiefelten und kosmopolitischen Nazi-Spießer und dem gewissenlosen modernen Management-Zynismus“ („Der Spiegel“, 3. April 1989). Hotel Terminus gehört neben Claude Lanzmanns → „Shoah“ und Steven Spielbergs → „Schindlers List“ zu den großen Filmen über den Holocaust, die den Rang von Kunstwerken haben.
Wolfgang Benz
Literatur Lothar Baier, Firma Frankreich. Eine Betriebsbesichtigung, Berlin 1988. Ralph Eue, Constantin Wulff, Widerreden und andere Liebeserklärungen. Texte zu Kino und Politik, Berlin 1997. Heiner Gassen (Red.), Marcel Ophüls – Söldner des Dokumentarfilms, München 1990.
Hugon-Filme (Frankreich, 1930–1937) → André Hugon-Filme
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Der Hungerpastor (Roman von Wilhelm Raabe, 1863)
Der Hungerpastor (Roman von Wilhelm Raabe, 1863) Ein Vorabdruck von Wilhelm Raabes (1831–1910) erfolgreichstem Roman, der zu Lebzeiten des Autors 34 Auflagen erlebte, erschien in den ersten 12 Heften des Jahrgangs 1863 der „Deutschen Roman-Zeitung“, das Buch im folgenden Jahr bei Otto Jahnke in Berlin. Der Roman orientiert sich am Vorbild von Gustav Freytags Roman → „Soll und Haben“ (1855) und ermöglichte seinem Autor die erfolgreiche Positionierung als freier Schriftsteller auf dem prosperierenden Buchmarkt in der Zeit zwischen Nachmärz und Reichsgründung. Der aus einer Beamtenfamilie stammende Raabe hatte Schule und Buchhandelslehre vorzeitig abgebrochen und einige Semester als Gasthörer an der Berliner Universität verbracht; die Anfänge seiner Schriftstellerei bezahlte seine verwitwete Mutter. Die literarische Handlung spielt zunächst im Arme-Leute-Milieu der fiktiven Landstadt Neustadt, wo gleichzeitig zwei Jungen geboren werden, Hans, Sohn des Schuhmachermeisters Anton Unwirsch, und Moses, Sohn des Trödlers Samuel Freudenstein. Als eine Art experimenteller Entwicklungsroman verfolgt „Der Hungerpastor“ die Lebensläufe der beiden, bis sie Mitte dreißig sind und sich etabliert haben. Dies entspricht etwa den Jahren 1819 bis 1853. Früh Halbwaise, muss Hans sich durchbeißen, um überhaupt auf das Gymnasium zu kommen und dann Theologie studieren zu können. Nach verschiedenen Stationen, u. a. als Hauslehrer bei einem adligen Gutsherren mit dem sprechenden Namen „Holoch“, bei einem Fabrikanten, wo er eine Hungerrevolte der Arbeiter miterlebt, und schließlich bei der Familie eines Berliner Geheimrats, wo er nicht nur seine spätere Frau, sondern vor allem auch erneut seinen Jugendfreund trifft, heiratet er und wird endlich Pastor einer armen Gemeinde an der Ostsee. Wann immer er in eine Krise gerät, erfährt er Hilfe und Unterstützung aus einer liebevoll gezeichneten Subkultur von Sonderlingen und gesellschaftlichen Außenseitern, die ein literarisches Markenzeichen Raabes darstellen und gleichsam eine Gegengesellschaft im mit realistischem Anspruch gezeichneten Universum des Romans bilden. Blass wirken dagegen die Schilderungen der Großen Welt des Adels, der reichen Bourgeoisie und der Berliner intellektuellen Zirkel und Salons – Milieus, die der Autor nie kennengelernt hat. Der alte Freudenstein hatte das im Text nicht weiter erläuterte, offensichtlich das Schacher- und Wucher-Juden-Klischee bedienende Kunststück fertiggebracht, in der pauperisierten Vorstadt reich zu werden, was den Lebensweg seines Sohnes ungemein erleichtert. Mit Hans Unwisch befreundet, seit der ihm auf dem Schulhof gegen eine antijüdisch motivierte Attacke der Mitschüler beistand, absolviert Moses Freudenstein, der später konvertieren und sich fortan Theophile Stein nennen wird, das kleinstädtische Gymnasium als Klassenprimus. Seine vor allem philosophischen Studien schließt er mit einer von Spinoza inspirierten Dissertation ab, was dezent das antisemitische Klischee bestätigt, dass auch ein getaufter Jude „Jude“ bleibe. Anschließend reist er nach Paris, wo er sich offenbar hauptsächlich als Intellektueller avant la lettre und als Verführer betätigt. Als Gast im Salon des Berliner Geheimrats brillierend, der Unwirschs Arbeitgeber ist und gleichzeitig dessen Geliebter eine Art Asyl gewährt, verführt Stein die Tochter des Hauses, entführt und heiratet sie, um sie nur wieder zu verstoßen, als sie enterbt wird.
Im Schlaraffenland (Roman von Heinrich Mann, 1900)
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Es sind vor allem die kleinen Züge, die den Antisemitismus dieses Romans ausmachen, indem sie Freudenstein mit Kälte, Gier, Zweckrationalität assoziieren und ihm die Fähigkeit zur Empathie absprechen. So demütigt der Intellektuelle Stein einen tölpelhaften alten Professor, mit dem alle anderen, auch die Leser, nur Mitleid haben. Mitleid ist eben eine zentrale Kategorie der christlichen Tradition, dieses Vermögen hat der Konvertit bei der Taufe nicht erworben. Wie andere Autoren des Bürgerlichen Realismus auch, hat Raabe sich dagegen verwahrt, als Antisemit zu gelten. Dazu hat er auf seine beiden späteren Erzählungen „Frau Salome“ und „Höxter und Corvey“ (letztere die sozialhistorisch überzeugende literarische Analyse der Interessen eines landstädtischen Pogroms im Barock-Zeitalter) verwiesen, deren narratives Konstrukt in der Tat ungleich weniger klischeehaft und kitschig ist. Außerdem richte sein Hungerpastor sich gegen Konvertiten und nicht gegen das alte Juda. Obwohl diese Verteidigungslinie fragwürdig ist, da auch Vater Freudenstein denunziert wird, ist ihr die Germanistik nach 1945 gefolgt und hat sie u. a. durch biografische Parallelen zu zeitgenössischen Konvertiten zu untermauern versucht. Tatsächlich dürfte der Erfolg des Romans darin bestanden haben, dass es bürgerlichen Lesern gelang, zahlreiche antijüdische Elemente auf der Basis der eigenen kulturellen Codes zu identifizieren. So konnte der eigene Antisemitismus als reflektiert, als Ergebnis einer geistigen Auseinandersetzung erscheinen und ermöglichte eine Abgrenzung gegenüber einem als vulgär empfundenen Krawall-Antisemitismus.
Michael Schmidt
Literatur Ruth Krüger, Die Säkularisierung des Judenhasses am Beispiel von Wilhelm Raabes „Der Hungerpastor“, in: Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz, Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart 2007, S. 103–110.
Hustru för en dag (Film, 1933) → Schwedische Kinoproduktionen
Im Schlaraffenland (Roman von Heinrich Mann, 1900) „Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten“ ist ein satirischer Gesellschaftsroman von Heinrich Mann. Er schrieb diesen zwischen 1898 und 1900 während seiner Aufenthalte in Rom und Riva am Gardasee. Noch vor Abschluss des letzten Kapitels schickte Mann das Manuskript an den Verlag Albert Langen in München, der sich spontan für den Druck entschied. Der Roman, der nach Ansicht des Autors „sehr viel Karikatur und Excentricität“ enthält, erschien im Frühjahr 1900, binnen Jahresfrist folgte eine zweite Auflage. Heinrich Mann beschreibt darin den Berliner Kulturbetrieb und die dekadente Schickeria der 1890er-Jahre. Er verarbeitete dabei eigene Erfahrungen, die er in Berlin als Volontär beim S. Fischer Verlag und als Gasthörer an der Universität gemacht hatte. Im „Schlaraffenland“ geht es um den Aufstieg und Fall des Protagonisten Andreas Zumsee in den Jahren 1893/94. Der Student aus dem rheinländischen Gumplach hält sich zum Studium in der Metropole Berlin auf, bricht dieses jedoch ab, da er nach dem Examen doch nur als mittelloser Schulamtskandidat „nach Gumplach zurückkehren und auf eine Anstellung am Progymnasium warten“ könne. Zumsee fühlt sich aber
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Im Schlaraffenland (Roman von Heinrich Mann, 1900)
zu Höherem berufen und träumt von einer Karriere als Dichter. Seine erste Station auf dem Weg dorthin ist das „Cafe Hurra“, wo sich Journalisten und Literaten der Stadt treffen. Dem Empfehlungsschreiben eines väterlichen Freundes aus Gumplach ist es zu verdanken, dass Zumsee von Chefredakteur Bediener vom „Nachtkurier“ in den Salon des Bankiers James Louis Türkheimer eingeführt wird, dem Schlaraffenland, wo das Geld „unter den Möbeln umherrollt“ und nur noch aufgehoben werden muss. Dort lernt er die Hausherrin und Ehefrau des Bankiers, Adelheid Türkheimer, kennen, deren Liebhaber er wird. Sie hält Zumsee finanziell aus und unterstützt ihn auch in seinem Vorhaben, Dichter zu werden. Laut Adelheid könne er es ohne Weiteres mit dem Verfasser des naturalistischen Proletarierstückes „Rache“ – Heinrich Mann spielt damit auf Gerhart Hauptmanns „Weber“ an – aufnehmen. Zumsee schreibt in kurzer Zeit ein Drama mit dem Titel „Die Verkannte“. Dadurch zu Ruhm und Ansehen gelangt, ist Zumsee nun vollends in der Schlaraffenlandgesellschaft mit ihrem schwelgenden Lebensstil angekommen. Adelheids Protektion eröffnet ihm zudem den Zutritt zum hochfeudalen Jeuclub. Nach und nach wird er von den Raffinessen der Geldaristokratie verführt. Umgeben von Börsianern, Journalisten, Bankiers, Kunstkritikern und Schauspielern, die sich dem süßen Nichtstun hingeben, fühlt er sich in der Welt des Schlaraffenlandes angekommen und aufgenommen. Doch sein Glück währt nicht lange, denn auf dem Höhepunkt seines Erfolges beginnt er aus Übermut und Langeweile eine Affäre mit Türkheimers Mätresse, der dem Proletariat zugehörigen Agnes Matzke, und wendet sich von Adelheid ab. Die Rache des Ehepaares Türkheimer lässt nicht lange auf sich warten. Sie besinnen sich ihrer gesellschaftlichen und finanziellen Interessen, sorgen dafür, dass Zumsee sein Geld verliert und zwingen ihn, Agnes Matzke zu heiraten. Zu guter Letzt wird er auf einen kleinen Redakteursposten abgeschoben. Aus der feinen Gesellschaft des Schlaraffenlandes ist er damit entlassen. „‚Berliner Nachtkurier‘: so hieß die erste Haltestelle auf seiner Fahrt durch das Schlaraffenland, und so hieß die letzte. Die Reise war beendet.“ Die Roman-Gesellschaft besteht aus etwa 40 Personen, angefangen vom Proletarierkind bis hin zum Millionär, doch zum überwiegenden Teil aus Angehörigen des Bürgertums. Innerhalb dieser Gesellschaft wird die Abhängigkeit von Geld und Macht sichtbar. Die „feinen Leute“ im Schlaraffenland beherrschen die Börse und die Presse, die eng zusammenarbeiten und als „typisch jüdisch“ gelten, wie Heinrich Mann in seinem Essay „Reaction!“ schreibt. Sie bilden einen Hofstaat um den Bankier und Börsianer Türkheimer, der „als Landstreicher aus dem wilden Osten“ kommt, sich aber mit seinen Millionen bereits über alle anderen erhoben hat. Zumsee bezeichnet diese Gesellschaft als die „neudeutsche Kultur“, die „nun mal was Östliches“ habe. Die Fantasie des Aufstiegs eines Ostjuden im Westen wird hier deutlich. Wenn auch das Börsengeschäft die allgegenwärtige Kulisse des Schlaraffenlandes ist, befindet sich in seinem Zentrum jedoch der jüdische Salon der Türkheimers mit seinen Feierlichkeiten und Gelagen. Emanzipation, eheliche Untreue und Prostitution bestimmen den Umgang im Salon. Die Besucher, die dort verkehren, sind ihren Namen zufolge fast ausschließlich Juden: neben Türkheimer besonders Abell, Bediener, Kaflisch Ratibohr, Goldherz, Schmeerbauch, Liebling oder Süß. Sie sind häufig mit physischen Stigmata ausgestattet, beispielsweise mit der „Adlernase“, der „gelbledernen Gesichtshaut“ und dem struppigen schwarzen Haar des Doktor Abell oder mit
In jenen Tagen (Film von Helmut Käutner, 1947)
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„galliger Gesichtsfarbe“ und einer „Habichtnase“, wie Ratibohr sie hat. Vor allem der Bankier Türkheimer, der uneingeschränkte Herrscher des Schlaraffenlandes, ist deutlich als Jude erkennbar. Obwohl er nie als solcher angesprochen wird, macht dies schon sein Name sichtbar. Zudem trägt er einem gängigen Stereotyp entsprechend rot gefärbte Koteletten und leidet an Hautausschlag und Diabetes, einer Krankheit des Blutes. Der rassentheoretische Diskurs hatte diese zur jüdischen Krankheit erklärt: Das Blut der Juden sei vergiftet und verunreinigt, „gesundes“ Blut dagegen könne nur das Attribut der Nichtjuden sein. Zumsee macht sich gern über seinen Gönner Türkheimer lustig: Er „begann durch fingierte Kotelettes zu streichen und sich am Kinn zu scheuern. Er setzte sich einen Klemmer, den er vom Tisch nahm, vorn auf die Nase und ging mit kleinen unsicheren Schritten, den Bauch vorgeschoben, auf Köpf zu. ‚Mein Name ist Ausspuckseles‘, sagte er mit Türkheimers schleppender, leicht näselnder Stimme, ‚Generalkonsul Ausspuckseles, und hier ist meine Frau, geborene Rinnsteiner‘.“ Der jüdische Geschäftsmann wird hier zu etwas „Ausgespucktem“ und seine Frau „Rinnsteiner“ zu einer Person von der Straße. Der jüdische Habitus wird im Roman häufig als Rolle vorgespielt, auch von jüdischen Personen. So wird der Architekt Kokott von Türkheimer aufgefordert, seine „Judenfratze“ zu ziehen. Dieser drückte sich den Klemmer „auf die plötzlich plattgewordene Nasenspitze, schob die Lippen wulstig vor und zog die Stirn in schmutzige Falten. Sein Gesicht bekam unversehens einen schlaff gierigen, besorgten und hinterhältigen Ausdruck.“ Der Roman ist eine Abrechnung mit der Gesellschaft der „feinen Leute“. In närrischer Verzerrung bringt Mann Verfallserscheinungen zur Sprache und zeichnet ein satirisch-groteskes Bild des wilhelminischen Deutschland. Seine Geringschätzung der „feinen Leute“ im Schlaraffenland enthält dabei eine deutlich antisemitische Tendenz. Die zeitgenössische Rezeption reichte vom Vorwurf, Mann habe ein obszönes Machwerk produziert, bis hin zur Aussage, „Im Schlaraffenland“ sei einer „der glänzendsten Romane der letzten Zeit“. Mann selbst verband mit diesem Roman den Beginn seiner literarischen Laufbahn, und bezeichnete ihn rückblickend als seinen ersten eigentlichen Roman. So schrieb er 1943 an den Schriftsteller und Publizisten Alfred Kantorowicz: „Mit Zwanzig konnte ich gar nichts. Gegen Dreißig lernte ich an meinem ‚Schlaraffenland‘ die Technik des Romans.“
Carina Baganz
Literatur Franziska Schößler, Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola, Bielefeld 2009. Rolf Thiede, Stereotypen vom Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann. Zum antisemitischen Diskurs der Moderne und dem Versuch seiner Überwindung, Berlin 1998.
In jenen Tagen (Film von Helmut Käutner, 1947) Der Film „In jenen Tagen“ war die dritte Spielfilmproduktion in der britischen Besatzungszone, produziert von Helmut Käutners Firma „Camera-Film“ in Hamburg. Die
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In jenen Tagen (Film von Helmut Käutner, 1947)
Dreharbeiten liefen ab Juni 1946 ohne Atelier und unter den widrigen Bedingungen des kalten Winters 1946/47 bis März 1947. Der Film basiert auf einem bereits vor Kriegsende von Käutner und Ernst Schnabel verfassten Drehbuch. Käutner, der in der Zeit des Nationalsozialismus seit 1939 sehr populäre, aber eher unpolitische Filme gedreht hatte („Romanze in Moll“, 1943; „Große Freiheit Nr. 7“, 1943/44; „Unter den Brücken“, 1944/45), führte auch Regie. In dem Film treten Schauspieler wie Winnie Markus, Bettina Moissi, Ida Ehre, Erwin Geschonneck, Werner Hinz, Hans Nielsen, Carl Raddatz und Erich Schellow auf. Der Titel des Episodenfilms bezieht sich auf Lebensschicksale in der NS-Zeit, in denen Menschen gezeigt werden, die ihrem Gewissen oder ihrem Herzen folgten und Verfolgten halfen, sich mit ihnen solidarisierten oder sich sogar für sie opferten. Die Episoden reichen vom Tag der Machtübernahme der Nationalsozialisten bis in die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges und nehmen dabei zum Teil historische Daten wie den 30. Januar 1933 oder den 20. Juli 1944 als Angelpunkt einer Episode. Die Kritik lobte den Verzicht auf das Erzählen einer Geschichte zugunsten einer fragmentarischen Sicht auf die Zeit des „Dritten Reiches“. Mit den Themen erzwungene Emigration, Berufsverbot für „entartete“ Künstler, Judenverfolgung, Widerstand, Krieg im Osten und Flucht aus den Ostgebieten werden entsprechende Schicksale vorgestellt. „In jenen Tagen“ ist einer der ersten Nachkriegsfilme, die sich mit der jüngeren Vergangenheit auseinandersetzen. Käutner hat nach eigener Aussage jedoch keinen „Zeitfilm“ machen wollen, und tatsächlich bleiben die historischen Situationen nur angedeutet, sie dienen eher als Rahmen dafür, dass man sich auch in solch unmenschlichen Zeiten in existenziellen Grenzsituationen human verhalten konnte. Der Film bietet also eher Lebenshilfe als eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. „In jenen Tagen“ besteht aus sieben chronologisch angeordneten Episoden über die jeweiligen Besitzer eines Autos zwischen 1933 und 1945, die in eine Rahmenhandlung eingefügt sind, in der zwei Automechaniker, Carl und Willi, sich in einer inmitten einer Trümmerlandschaft stehenden Garage beim Ausschlachten des Wagens über die derzeitige Lage unterhalten, womit der Film an die trostlose Lebenssituation seiner Zuschauer anknüpfte. Carl stellt sich die Frage, ob es heute noch Menschen gibt, und beantwortet diese selbst negativ: „Es gibt keine Menschen mehr.“ Das Auto gibt eine andere Antwort, indem es sieben Episoden seines „Lebens“ erzählt, die Beispiele von Menschlichkeit unter NS-Herrschaft sind. Die in die Windschutzscheibe des Wagens eingeritzte Zahl 30133 etwa stammt von einem Paar, das in dem Wagen durch das nächtliche Berlin fährt und vom Fackelzug der SA am Tag der Machtübernahme der Nationalsozialisten gestoppt wird. Angesichts dieses bedrohlichen Aufmarsches entscheidet sich die Frau, die von zwei Männern umworben wird, für den Mann, der als Verfolgter ins Ausland fliehen muss. Die zweite Episode, die im Sommer 1935 spielt, wird durch den Fund eines Kammes eingeleitet, der einer Tochter den Beweis lieferte, dass ihre Mutter ihren Vater mit dem Freund der Familie, einem Komponisten, betrügt. Obwohl sie selbst ebenfalls in den Komponisten verliebt ist und aus Rache die Affäre auffliegen lassen will, verzichtet sie darauf, als der Komponist erzählt, dass seine Musik als „entartet“ verboten wurde. Im Mittelpunkt der dritten Episode steht das in „Mischehe“ lebende Ehepaar Sally und Wilhelm Bienert, das seit Langem beziehungslos nebeneinander her lebt. Sie han-
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delt vom Antisemitismus und der Verfolgung der Juden in der NS-Zeit. Die Episode spielt am 9. und 10. November 1938. Das Ehepaar Bienert wird beim Beladen des Autos mit Kisten und Koffern gezeigt, die sie in ihr Schrebergartenhäuschen bringen wollen. Im Gespräch der missgelaunten Eheleute erfährt man, dass die Ehefrau offenbar beständig auf die Vergrößerung des Geschäfts gedrungen („genörgelt“) hatte. Dem folgenden Offenbarungseid waren sie mit der Überschreibung des Ladens und des Autos auf die Ehefrau begegnet. Damit wurde es ein „jüdisches Geschäft“, das mit einem weißen Schriftzug gekennzeichnet werden müsste. Der Ehemann sträubt sich dagegen und wirft seiner Frau ihre ewige „Drängelei“ vor und gibt ihr damit die Schuld an der jetzigen Lage. Im Schrebergarten erklärt die Frau wegen des zunehmenden Verfolgungsdrucks dort wohnen bleiben und sich von ihrem Mann scheiden lassen zu wollen, da ihre Ehe ja ohnehin erkaltet und dies auch wegen des Geschäfts das Richtige sei. In dieser Notlage werden sich die Eheleute ihrer Zuneigung wieder bewusst und der Ehemann lehnt eine Trennung ab. Beide fahren zurück in die Stadt. Es ist der Abend der „Reichskristallnacht“ und die Zerstörung jüdischer Geschäfte ist bereits im Gange. Obwohl sein Geschäft noch nicht als jüdisches markiert ist, wirft Wilhelm Bienert aus Wut und Verzweiflung einen Stein in sein eigenes Auslagenfenster. Das Ehepaar erkennt seine tödliche Bedrohung und fährt mit dem Auto zurück in den Schrebergarten, wo es Selbstmord durch Gas begeht. Am nächsten Morgen steht vor dem Schrebergarten eine Menschenmenge und ein Polizist nimmt den Fall auf. Als er den Namen der Ehefrau, Sally, hört, nickt er nur verstehend mit dem Kopf und sagt „Ach so!“ Damit erscheint der Suizid einer verfolgten Jüdin gerade als ein schicksalhaft eintretendes, erwartbares Ereignis. Über dieses persönliche Schicksal hinaus wird die Judenverfolgung nur durch die kurze Szene der Novemberpogrome ins Bild gesetzt. Auch in dieser Episode, die als die künstlerisch gelungenste des Films gewertet wird und die neben der siebten Episode die meiste Beachtung fand, erscheint das Opfer, gespielt von der jüdischen Schauspielerin Ida Ehre, die selbst die NS-Zeit in einer „Mischehe“ überlebt hatte, als eine wenig sympathische Persönlichkeit, die durch Gewinnsucht und Ehrgeiz, zwei verbreitete antijüdische Klischees, getrieben wird. Doch in der Gefahr stehen die Eheleute zueinander. Sie verlieren zwar ihr Leben, aber nicht ihre Menschlichkeit. Die „Mischehe“ einer jüdischen Frau und eines „arischen“ Mannes, der mit ihr in den Tod geht, ist eine typische Konstellation in den frühen deutschen Nachkriegsfilmen (→ „Ehe im Schatten“, → „Zwischen gestern und morgen“). Die vierte Episode wird eingeleitet durch ein Hufeisen, in dem einst das Foto einer Frau, deren Mann (Jochen), ein Widerstandskämpfer, verschwunden ist. Ihre Schwester gesteht ihr, dass sie ebenfalls im Widerstand aktiv ist und Jochen und sie einander lieben und ins Ausland fliehen wollen. Als die Frau erfährt, dass ihr Mann von der Gestapo „auf der Flucht“ erschossen wurde und sie selbst in Gefahr sei, warnt sie ihre Schwester, sie solle auf dem geplanten Weg ins Ausland flüchten, Jochen sei die Flucht gelungen. Die Frau selbst wird von der Gestapo verhaftet. Einschusslöcher auf dem Rücksitz des Wagens leiten zur fünften Episode über, in der das Auto als Wehrmachtsfahrzeug dient, in dem ein erfahrener älterer Frontsoldat 1943 an der Ostfront einen gerade angekommenen, unerfahrenen jungen Leutnant abholen soll. Der Soldat rät, wegen der Partisanengefahr am Tag zurückzufahren, doch
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drängt der unerfahrene Leutnant auf sofortige Abfahrt. Während der nächtlichen Autofahrt, in der der alte Soldat dem Jüngeren den Wahnsinn des Krieges vergeblich klarzumachen sucht, kommt es zu einem nächtlichen Partisanenangriff, bei dem der Soldat getötet wird. In der sechsten Episode versucht das frühere Dienstmädchen die alte Baronin von Thorn, Mutter eines der adligen Attentäter des 20. Juli 1944, mit dem Auto in Sicherheit zu bringen. Die beiden Frauen werden aber von einem Polizisten verhaftet. Erst jetzt wird der Baronin bewusst, dass das Dienstmädchen ihr geholfen hatte, obwohl sie um die Beteiligung ihres Sohnes am Attentat und damit die Gefahr für sich selbst wusste. In der letzten Episode trifft ein Kradmelder in einer Scheune eine Frau mit ihrer kleinen Tochter, die auf der Flucht aus Schlesien dort Zuflucht gesucht haben. Sie finden das Auto in der Scheune unter Heu versteckt und der Kradmelder bringt Frau und Kind befehlswidrig nach Hamburg. Auf dem Rückweg wird er von einer Streife als Deserteur festgenommen und soll erschossen werden, der damit beauftragte Posten schießt jedoch nur in die Luft und lässt ihn laufen. Die Auswahl der Themen deckt zwar wichtige Aspekte der NS-Zeit ab, doch ist sie höchst einseitig: Der Widerstand und die Leiden der deutschen Bevölkerung stehen im Mittelpunkt, ihre aktive Mitwirkung an den Verbrechen des Regimes bleibt aber weitgehend ausgeblendet. Nur am Rande kommen Mitläufer und Gestapo-, SS- und SA-Männer vor. Diese Organisationen werden in den Gesprächen der Protagonisten nie namentlich erwähnt, obwohl sich einige Gespräche um deren Terrormaßnahmen drehen. Selbst Hitler wird nicht beim Namen genannt, sondern nur einmal als der „Dingsda“ erwähnt. Käutner will mit diesem Film Kritik am Nationalsozialismus üben, doch bleibt sie „unpräzise und verschwommen“, da der Text sich auf Andeutungen und Umschreibungen beschränkt, das Wort Nationalsozialismus kommt nicht vor. Während die deutsche Kritik das Nichtauftreten der Machthaber positiv wertete, bemängelte die englische Rundfunk-Zeitschrift „The Listener“, „dass alle Hauptrollen dieses Films Antinazis darstellen. Nach allem, was geschehen ist, kann das kaum eine wahre Darstellung des Deutschland der letzten zehn Jahre sein.“ Die NS-Herrschaft wird zwar negativ als eine Macht gezeichnet, die Opfer erzwang, doch werden Menschen gezeigt, die sich im Privaten „menschlich“ verhalten haben. So resümiert das Auto, das als Sprecher fungiert, die Erlebnisse seiner verschiedenen Besitzer mit dem Satz, „die Zeit war stärker als sie, aber ihre Menschlichkeit war stärker als die Zeit“. Der Nationalsozialismus erscheint als eine Zeit, die Menschen die Möglichkeit zu moralischer Bewährung bot bzw. diese erzwang. Am 13. Juni 1947 hatte „In jenen Tagen“ im Waterloo-Theater in Hamburg Premiere, vier Tage danach lief er in West-Berlin an, erst über ein Jahr später im Osten der Stadt (17. September 1948). Die Premieren waren ein voller Erfolg. Es war der erste deutsche Spielfilm, der in der britischen Zone uraufgeführt wurde und entsprechend groß waren die Erwartungen. In Deutschland bekam der Film das Prädikat „besonders wertvoll“, und auf dem Filmfest in Locarno, wo „In jenen Tagen“ als erster deutscher Film nach dem Krieg gezeigt wurde, wurde er prämiert. Dennoch waren die Aufführungen nach den Premieren in anderen Städten weniger gut besucht. Der Film wurde 1955 (ARD) und 1964 (ZDF) im deutschen Fernsehen gezeigt. Die späteren Analysen und Kritiken des Films weichen deutlich von den zeitgenössischen ab. Hatte man 1956 „In jenen Tagen“ noch als einen ausgesprochen politischen Film
Începutul adevărului. Oglinda (Film von Sergiu Nicolaescu, 1994)
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angesehen, der eine Abrechnung mit dem Dritten Reich dargestellt habe, so wird seit Mitte der 1960er-Jahre gerade das Unpolitische an dem Film kritisiert. Man hat dem Film moralische Unaufrichtigkeit vorgeworfen, da der Nationalsozialismus als politischer Hintergrund nur fingiert werde, da sich letztlich nicht er, sondern die Unmenschlichkeit im Menschen selbst (Eifersucht, Verlassen eines anderen in seiner Not) als das zu bekämpfende Übel erscheint.
Werner Bergmann
Literatur Wolfgang Becker, Norbert Schöll, In jenen Tagen. Wie der deutsche Nachkriegsfilm die Vergangenheit bewältigte, Opladen 1995. Tim Gallwitz, „Unterhaltung – Erziehung – Mahnung“. Die Darstellung von Antisemitismus und Judenverfolgung im deutschen Nachkriegsfilm von 1946–1949, in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), „Beseitigung des jüdischen Einflusses …“: Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus, Jahrbuch 1998/99, Frankfurt am Main 1999, S. 275–304. Bettina Greffrath, Gesellschaftsbilder der Nachkriegszeit. Deutsche Spielfilme 1945–1949, Pfaffenweiler 1995. Institut Jugend, Film, Fernsehen (Hrsg.), Zentrale Filmografie. Politische Bildung, Band 1, Opladen 1981. Peter Pleyer, Deutscher Nachkriegsfilm 1946–1949 (Studien zur Publizistik, Bd. 4), Münster 1965. Peter Reichel, Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München 2004.
Începutul adevărului. Oglinda (Film von Sergiu Nicolaescu, 1994) Der Historienstreifen „Începutul adevărului – Oglinda“ [Der Anfang der Wahrheit – Der Spiegel] kam am 12. Februar 1994 in die rumänischen Kinos und ist eine Hommage an den rumänischen faschistischen Militärdiktator Ion Antonescu (1940–1944). Der Autor dieses 154 Minuten langen Films, Sergiu Nicolaescu (1930–2013), gehörte in der Zeit des Kommunismus zu den bekanntesten und erfolgreichsten Filmemachern Rumäniens. Insbesondere seine Kriegsfilme und historischen Filme (Dacii – Die Daker, 1967; Mihai Viteazul – Michael der Tapfere, 1971; Pentru Patrie – Für das Vaterland, 1978; Noi, cei din linia întâi – Wir aus der ersten Linie, 1986; Mircea, 1989) waren als kinematografische Spiegelbilder der nationalistischen Ideologie des Ceauşescu-Regimes gedacht und transportieren politische Botschaften, die der offiziellen Propaganda entsprachen. In all diesen großzügig mit staatlichen Mitteln geförderten Streifen werden Dialoge, Szenen, einschlägige Handlungen und historische Vorgänge in der Absicht eingebaut, in den Zuschauern nationalistische und patriotische Gefühle zu wecken. Gleichzeitig sollten diese Filme der historischen Untermauerung der offiziellen, national ausgerichteten Politik des damaligen Regimes dienen und eine direkte Verbindungslinie zwischen einer romantisch verschleierten, glorreichen Vergangenheit und der Gegenwart suggerieren. Der konventionell inszenierte Antonescu-Film ist eine thematische Ausweitung früherer vaterländischer Produktionen. Nicolaescu konzentriert sich auf die letzte Phase der Antonescuzeit und setzt im
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Internationaler-Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb (2006)
Stil eines Doku-Dramas auch authentisches Filmmaterial ein, das 1946 während des Kriegsverbrecherprozesses und der stattgefundenen Hinrichtung des Diktators und einiger seiner engsten Mitarbeiter entstanden ist. Die vom damaligen König Mihai koordinierte und von den Vertretern der Bauernpartei (PNŢ), der Liberalen Partei (PNL), der Sozialdemokratischen Partei (PSD) und der Kommunistischen Partei (PCR) mitgetragene Entmachtung Antonescus am 23. August 1944 wird als eine unüberlegte Handlung dargestellt, als ein schändlicher Verrat an den vitalen Interessen Rumäniens und als ein Akt der Auslieferung des Landes an die Sowjetunion. Antonescu erscheint als unschuldiges Opfer widriger Umstände, als tragische Figur, die ihre Treue zu Hitler mit Berufung auf militärische und patriotische Tugenden begründet. Mit ähnlichen Argumenten wird auch die Teilnahme Antonescus am Vernichtungsund Eroberungskrieg an der Seite Hitlers untermauert, nachdem die 1940 infolge eines sowjetischen Ultimatums abgetrennten Provinzen, Bessarabien und die Nordbukowina, dem rumänischen Staatsgebiet kurz nach Beginn des Feldzugs gegen die UdSSR, ein Jahr später wieder angegliedert wurden. Das Aufkündigen der Verbindung mit den Achsenmächten 1944, das Waffenstillstandsabkommen mit der UdSSR und die Fortsetzung des Krieges an der Seite der Alliierten wird als eine nationale Tragödie gezeichnet, in deren Mittelpunkt der zum nationalen Märtyrer erhobene Antonescu steht, der bei seinem Prozess einen pathetischen Text vorliest, der in der Nachwendezeit von Ultranationalisten als „politisches Testament“ des von „jüdisch-bolschewistischen Verschwörern“ ermordeten „heroischen Führers“ wiederholt verbreitet wurde. Die unter Antonescu in Kraft getretene antijüdische Gesetzgebung, die Deportation in die Lager von Transnistrien, wo etwa 380.000 rumänische und ukrainische Juden den Tod fanden, der Pogrom von Iaşi mit über 13.000 jüdischen Opfern, die Todeszüge oder die Massenerschießungen in Odessa werden im Film völlig unterschlagen. Antonescus Bündnispartner Adolf Hitler wird als weiser und maßvoller Staatsmann gewürdigt. Die rudimentär-nationalistische Darstellung der jüngsten rumänischen Geschichte im Erfolgsfilm eines populären Regisseurs, die evidente Mystifizierung der Vorgänge sowie die prätentiöse Stilisierung eines faschistischen Militärdiktators zu einer vorbildlichen, makellosen und nachahmenswerten Persönlichkeit lösten keine nennenswerten kritischen Gegenreaktionen aus. Im Gegenteil: Der Film beflügelte die Befürworter einer juristischen Rehabilitierung Antonescus und seiner als Kriegsverbrecher verurteilten Mitarbeiter und diente rechtsradikalen Gruppierungen als propagandistische Stütze bei der Verbreitung ihrer nationalistischen Anschauungen.
William Totok
Literatur Tudor Caranfil, Dicţionar de filme româneşti. Lungmetraje de ficţiune [Lexikon rumänischer Filme], Bucureşti 2002.
Internationaler-Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb (2006) Der „Internationale-Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb“ wurde im Februar 2006 von der iranischen Zeitung „Hamshahri“ als Antwort auf die dänischen Mohammed-Kari-
Internationaler-Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb (2006)
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katuren ausgerufen. Am 30. September 2005 waren in der größten dänischen Tageszeitung „Jyllands-Posten“ unter dem Titel „Das Gesicht Mohammeds“ zwölf Mohammed-Karikaturen erschienen, die den Religionsstifter zum Gegenstand hatten. Die Abbildung des Propheten ist im Islam verboten, so folgten zahlreiche Proteste gegen die Zeitung und gegen Dänemark. In den Karikaturen wurden antiislamische Stereotypen bedient. So zeigte eine Karikatur Mohammed mit einem Turban in Form einer Bombe, bei der die Zündschnur brennt. Einige islamische Gelehrte riefen infolgedessen zum Widerstand gegen die „von Juden und Amerikanern gesteuerte Kampagne“ auf. Der arabische Fernsehsender „Al-Dschazira“ etwa sprach von einer „kreuzzüglerischen Zionistenkampagne“. Auch im iranischen Fernsehen wurden „schmutzige Zionisten“, die die „volle Kontrolle“ über Zeitungen und Medien hätten und auch die amerikanische Regierung leiten würden, für die Mohammed-Karikaturen verantwortlich gemacht. Bis zum Februar 2006 starben infolge des Karikaturenstreits 139 Menschen, 823 wurden verletzt. Auch der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan, das amerikanische Außenministerium, die „Anti Defamation League“ und der Vatikan sprachen sich gegen die Karikaturen aus. Als Antwort auf die Mohammed-Karikaturen schrieb die staatlich subventionierte iranische Tageszeitung „Hamshahri“ im Februar 2006 den „Holocaust-KarikaturenWettbewerb“ aus. Die Rechtfertigung lautete, der Iran wolle die Grenzen der „Meinungsfreiheit des Westens“ ausloten. Die zwölf besten Einsendungen sollten mit Geldpreisen prämiert werden. Aus rund 1.200 Einsendungen aus über sechzig Ländern wurden 204 Zeichnungen ausgewählt und am 14. August 2006 in der palästinensischen Vertretung in Teheran der Öffentlichkeit präsentiert. Kritik an dem Wettbewerb kam nicht nur aus dem Westen, sondern auch vonseiten der Muslime: Der iranische Zeichenwettbewerb beleidige und entwürdige den Islam und verstoße gegen das Mitgefühl und Erbarmen zwischen den Menschen, so muslimische Vertreter. Der erste Preis, der mit 12.000 US-Dollar dotiert war, ging an einen Marokkaner. Die eingereichte Karikatur des Siegers zeigt einen Baukran, der durch einen Davidsstern als ein israelischer Baukran kenntlich gemacht ist. Der Kran baut rund um eine im Hintergrund stehende Moschee eine Wand auf. Auf dieser ist das Bild des Eingangs zum Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau zu sehen. Den zweiten Preis, 8.000 US-Dollar, teilten sich ein Brasilianer und die Französin Françoise Pichard, die unter dem Pseudonym A. Chard am Wettbewerb teilnahm. Pichard arbeitete u. a. für das rechtsextreme Magazin „Rivarol“. Ihre Zeichnung stellt eine umgefallene Wand in Form einer Gaskammer dar, vor der zwei Juden stehen. Auf der Unterseite der Wand ist „Mythe des chambres a gaz“ zu lesen. Einer der Juden fragt: „Qui l’a mis par terre?“ Der andere antwortet ihm: „Faurisson!“ Pichard bezieht sich damit auf den Holocaustleugner Robert Faurisson, der nach Ansicht revisionistischer und antisemitischer Kreise die „Gaskammer-Lüge“ zu Fall brachte. Die Karikatur des brasilianischen Teilnehmers zeigt einen Palästinenser, der nahe einer Sperranlage in KZ-Häftlingskleidung steht und sich die Hand vor Augen hält. Statt dem gelben Judenstern trägt der Palästinenser an der Häftlingskleidung eine rote Mondsichel. Die weiteren Preise gingen an sechs Iraner, einen Marokkaner, Syrer, Jordanier, Italiener und zwei Brasilianer. Wie sehr die Karikaturen sich teilweise der Bildsprache
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Jahrestage (Roman von Uwe Johnson, 1970–1983)
nationalsozialistischer Propaganda bedienen, zeigt eine Einreichung, auf der die Welt in Form eines Apfels dargestellt ist. Aus dem Inneren des Apfels bohren sich vier Würmer den Weg ins Freie. Der Jude ist in Gestalt eines Wurmes dargestellt und wird so zum Symbol für den Eindringling, den Schädling und den Parasiten. Auch im „Stürmer“, in dem zahlreiche antisemitische Hass-Karikaturern dargestellt wurden, findet sich das Motiv des Apfels, aus dem sich ein Wurm durch den vermeintlich deutschen Geist, symbolisiert durch das makellose Fruchtfleisch, frisst. In den Karikaturen des Wettbewerbs finden sich auch antisemitische Stereotype des „Finanzjudentums“ und des „ewigen Juden“. Die eingereichten Karikaturen zum iranischen Wettbewerb greifen einerseits auf ein lang bestehendes antisemitisches Stereotypenreservoir zurück, andererseits bedienen sie sich antiisraelischer Ressentiments, die u. a. vom iranischen Staatspräsidenten Mahmud Ahmadinedschad politisch instrumentalisiert wurden. Als antisemitische Bezugspunkte paaren sich hier also NS-Vergangenheit und der bestehende Nahostkonflikt. Eine Antwort aus Israel auf den iranischen Wettbewerb war der Aufruf des Cartoonisten Amitai Sandarovich von der Tageszeitung „Yediot Ahronot“ an jüdische Zeichner, antisemitische Cartoons anzufertigen. Grund dafür waren zahlreiche Leserbriefe, die sich dafür aussprachen, der iranischen Provokation mit Humor entgegenzutreten. „Wir zünden keine Botschaften oder Flaggen an oder töten oder bedrohen Menschen. Wir machen Karikaturen, mit denen wir über uns selbst lachen“, so Sandarovich.
Christian Pape
Literatur Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan Sznaider (Hrsg.), Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt am Main 2004. Jasmin Waibl-Stockner, „Die Juden sind unser Unglück“. Antisemitische Verschwörungstheorien und ihre Verankerung in Politik und Gesellschaft, Wien 2009.
Jahrestage (Roman von Uwe Johnson, 1970–1983) In dem von 1970 bis 1983 in vier Bänden erschienenen Roman „Jahrestage“ von Uwe Johnson spielen Antisemitismus, der Holocaust und seine Folgen auf mehreren Ebenen eine zentrale Rolle. Zum einen erzählt die Protagonistin Gesine Cresspahl in New York vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 ihrer Tochter Marie ihr Leben in Mecklenburg sowie das ihrer Eltern Heinrich und Lisbeth Cresspahl, wobei auf der Mecklenburg-Ebene die NS-Herrschaft sowie die Verfolgung der Juden in dem kleinen Ort Jerichow breiten Raum einnehmen. Über diese familiäre Erinnerungsarbeit hinaus zeigen sich auf der Gegenwartsebene des Romans 1968 in New York die Kontinuität von Antisemitismus über 1945 hinaus sowie die wirkmächtige Nachgeschichte des Holocaust, sowohl für die Überlebenden dort als auch für die von Schuldkomplexen gequälte Gesine. In dem ständigen Wechsel zwischen diesen Ebenen bildet dieser Themenkomplex häufig eine Klammer. Im Zentrum des Romans steht neben der Erinnerungs- und Gedächtnisthematik die Frage nach der Schuld, der von Gesines Eltern, aber auch der Nachbarn und Bürger Jerichows, beginnend bereits mit dem Hinnehmen der nationalsozialistischen Herr-
Jahrestage (Roman von Uwe Johnson, 1970–1983)
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schaftsetablierung oder deren aktiver Unterstützung. Erscheinungsformen und Wirkungen des NS-Antisemitismus zeigen sich vor allem an der hierfür auf der Mecklenburg-Ebene zentralen Figur des Tierarztes Arthur Semig. Dieser wird von Johnson gewissermaßen als Prototyp des sozialprivilegierten und assimilierten Juden gezeichnet. Obwohl er getauft ist und sich selbst nicht als Jude sieht, wird er von den Bürgern Jerichows vor allem als solcher betrachtet und arrangiert sich schließlich selbst damit. Als Trauzeuge von Gesines Eltern zum Beispiel verlässt er vorzeitig die Feier, was ihm Gesines Großvater und andere noch lange „als erstaunlich taktvoll für einen Juden, und für einen Akademiker“ anrechnen. Lange Zeit halten viele den Kontakt zu Semig und helfen ihm auch bei dessen Ausreise. Dem gegenüber steht die Figur des Ladenbesitzers Oskar Tannebaum, dem vonseiten der Jerichower keine Hilfe zuteil wird. Sie sehen während des Novemberpogroms stumm zu, wie sein Geschäft verwüstet und seine Tochter getötet wird. Mehr noch: Die Hilfe für den einen gerät zur Entschuldigung für die Tatenlosigkeit im Falle des anderen. „Mit den Juden waren sie durch“, heißt es über die Jerichower. „Tannebaum war es überdies von Auswärtigen besorgt worden. Hatten sie nicht versucht, sich Arthur Semig privat zu halten, solange es ging?“ Anders aber als Semig, dessen Schicksal sich nach der Emigration verliert, überlebt Tannebaum. Das Überleben des einen können sich die Jerichower nicht zurechnen, die Hilfe für den anderen kann, da er wahrscheinlich umgekommen ist, ihr Gewissen nicht beruhigen. Auf der New York-Ebene des Romans zeigen sich die vielfältigen Nachwirkungen, angefangen von dem Ausgangspunkt für Gesines Erinnerungsarbeit, die letztlich 1945 von dem Schock beim Betrachten eines Bildes aus dem befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen ausgelöst wird: „Betroffen war die eigene Person: ich bin das Kind eines Vaters, der von der planmäßigen Ermordung der Juden gewußt hat. Betroffen war die eigene Gruppe: ich mag zwölf Jahre alt sein, ich gehöre zu einer nationalen Gruppe, die eine andere Gruppe abgeschlachtet hat in zu großer Zahl (einem Kind wäre schon ein einziges Opfer als Anblick zuviel gewesen).“ Dieser Erkenntnis versucht sie in ihrer skrupulösen Erinnerungsarbeit auf den Grund zu gehen. Zugleich affiziert dies nachhaltig ihr Leben: Nachrichten über jüdische Themen betrachtet sie oft vor der Folie des Holocaust, und die Begegnungen mit Überlebenden, insbesondere mit Mrs. Ferwalter in New York, zeigen deutlich die Grenzen zwischen Deutschen und Juden nach dem Holocaust und die Schuldkomplexe Gesines.
Markus Roth
Literatur Bernd Auerochs, „Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick“. Zum Holocaust und zum Verhältnis zwischen Deutschen und Juden in Uwe Johnsons „Jahrestagen“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 112 (1993), S. 595–617. Michael Hofmann, Uwe Johnson, Stuttgart 2001. Michael Hofmann, Dr. med. vet. Arthur Semig: Ein Jude in Jerichow. Zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in Uwe Johnsons „Jahrestagen“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 114 (1995), Sonderheft: Vom Umgang mit der Shoah in der deutschen Nachkriegsliteratur, hrsg. von Norbert Oellers, S. 65–85.
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Jakob der Lügner (Roman von Jurek Becker, 1969)
Susanne Knoche, Generationsübergreifende Erinnerung an den Holocaust. „Jahrestage“ von Uwe Johnson und „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss, in: Johnson-Jahrbuch 9 (2002), S. 297–316. Norbert Mecklenburg, Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa, Frankfurt am Main 1997. Rainer Paasch-Beeck, Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“. Die Verdrängung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Mecklenburgs im Spiegel der „Jahrestage“, in: Text + Kritik 65/66 (2001), S. 119–134.
Jahwismus → Kosmiker
Jakob der Lügner (Roman von Jurek Becker, 1969) Jurek Becker (1937–1997) wurde 1937 als Sohn jüdischer Eltern in Łódź geboren. Als er zwei Jahre alt war, wurde die Stadt in Litzmannstadt umbenannt, er und seine Familie lebten von da an im Ghetto. Von 1939 bis 1945 dezimierte sich die Großfamilie auf drei Überlebende. Jurek Becker, sein Vater und eine Tante überlebten in verschiedenen Lagern den Krieg. 1945 gelang es dem Vater, Jurek wiederzufinden (beschrieben in dessen 1976 erschienenen Roman „Der Boxer“), er siedelte sich mit ihm in Ostberlin an. Jurek machte sein Abitur, absolvierte den Wehrdienst und wurde SED-Mitglied. Er begann ein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin, das er 1960 aus politischen Gründen abbrechen musste. Seit 1962 war er nach kurzem Studium am Filmzentrum Babelsberg als Drehbuchautor bei der DEFA fest angestellt. 1973 veröffentlichte er „Irreführung der Behörden“, seinen zweiten Roman, der sich (in Grenzen) kritisch mit dem DDR-Alltag auseinandersetzte. Er wurde in den Vorstand des Schriftstellerverbandes der DDR gewählt, 1975 erhielt er den Nationalpreis. Wegen öffentlichen Protestes gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann wurde er aus der Partei und dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. 1977 reiste er mit einem Zweijahresvisum der DDR-Behörden nach Westberlin. Das Visum wurde später auf zehn Jahre verlängert. 1978 erschien „Schlaflose Tage“, ein Roman, der die Ereignisse um Wolf Biermann verarbeitet, 1986 „Bronsteins Kinder“, der dritte Roman, der den Holocaust zum Thema hat. Es folgten weitere Veröffentlichungen. Seinen größten Erfolg erlebte Becker jedoch als Drehbuchautor der Fernsehserie „Liebling Kreuzberg“. „Jakob der Lügner“, Beckers erster Roman, erschien 1969. Er spielt in einem polnischen Ghetto und erzählt die Geschichte von Jakob Heym, Bewohner des Ghettos und ehemals Betreiber eines kleinen Restaurants. Jakob wird eines Abends ins Revier geschickt, wo er zufällig im Radio hören kann, dass die russische Front nicht mehr weit entfernt ist. Da es zuvor noch nie vorkam, dass ein Jude, der aufs Revier beordert wurde, ungeschoren wieder herauskam, beschließt Jakob, nichts darüber zu erzählen, damit er nicht als Spitzel der SS verdächtigt wird. Als jedoch Mischa, ein junger Freund von ihm, ein paar Kartoffeln aus einem Wagen stehlen will und sich damit in tödliche Gefahr begibt, weiht er den Freund ein. Er behauptet, die Information aus einem Radio zu haben, das er versteckt hat. Die Nachricht verbreitet sich schnell und gibt den Ghettobewohnern Hoffnung.
Jakob der Lügner (Roman von Jurek Becker, 1969)
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Herschel Schtamm, ein Ghettobewohner, erzählt den in einem abgestellten Waggon Eingesperrten, trotz strengem Verbots der Deutschen, sich dem Waggon zu nähern, von dem Radio und den guten Nachrichten. Da wird er von einem Deutschen erschossen, der Schtamm entdeckt hat. Jakob ist verzweifelt, weil er sich die Schuld an Schtamms Tod gibt. Er stellt aber auch fest, wie wichtig die Nachrichten sind und denkt sich neue aus. Als Jakob von Professor Kirschbaum, einem Herzspezialisten, Vorwürfe erhält, das Radio gefährde alle Bewohner, rechtfertigt er sich. Er führt die stark gesunkene Selbstmordrate im Ghetto als Beweis dafür an, richtig zu handeln. Als Prof. Kirschbaum von den Deutschen abgeholt wird, um den Lagerkommandanten Hardtloff, der einen Herzanfall erlitten hat und dem nur ein Spezialist wie Kirschbaum noch helfen kann, zu retten, tötet er sich selbst mit Tabletten. Jakob droht am Ende unter der Last der Verantwortung und dem Geheimnis um das Radio zusammenzubrechen und vertraut sich seinem alten Freund Kowalski an. Dieser bringt sich daraufhin um. Jakob nimmt das fiktive Radio also wieder in Betrieb. Am Ende verkündet der Erzähler, dass sich Jakobs Geschichte dem Ende nähere, es gäbe zwei Varianten des Endes: ein ihm passend erscheinendes und ein tatsächliches. In der ersten zieht Jakob sich immer weiter zurück, er durchschneidet den Ghettozaun und wird dabei von einem Wachposten erschossen – gerade in dem Moment, als russische Panzer auffahren und das Ghetto befreien. Das tatsächliche Ende erzählt, wie das Ghetto geräumt wird und alle Bewohner, darunter auch Jakob, in Eisenbahnwaggons deportiert werden. Auf der Fahrt in ein Konzentrationslager erzählt Jakob dem Erzähler seine Geschichte. Jurek Becker entwirft ein eigenwilliges und vielschichtiges Bild des Ghettoalltags. Seine Hauptfigur lügt aus Altruismus, die Legitimation der Lüge erfolgt durch die Hoffnung, die er schenkt. Literarisch geschickt gestaltet, schafft Becker durch die kommentierenden Unterbrechungen des Ich-Erzählers eine ironische Distanz. Es ist eine melancholisch-heitere Geschichte, die kunstvoll komponiert mit Widersprüchen und moralischen Fragen spielt. Becker führte umfassende Recherchen über den Ghettoalltag durch und zeichnete in seinem Roman dann ein bewusst anderes Bild. Dies stieß nicht zuletzt bei seinem Vater auf herbe Kritik. Dieser war so entsetzt über die fiktive Welt in dem Roman, dass er für ein Jahr nicht mehr mit seinem Sohn sprach. Größter Kritikpunkt in der Rezeption war neben dem Vorwurf, dass die Lüge den aktiven Widerstand im Ghetto verhindert hätte, die Verwischung von Fakten und Fiktion. Becker sagte über sein Werk, es gehe zwar auf eine Erzählung seines Vaters zurück, der einem Ghettobewohner, der ein Radio besaß und dafür erschossen worden war, ein literarisches Denkmal setzen wollte, er habe aber nicht über Helden schreiben wollen, das hätten andere schon getan. Er wollte, wie der Erzähler in der Geschichte, kein Erklärer sein, sondern Erzähler einer Geschichte, „die ich selbst nicht verstehe“. 1971 erhielt Jurek Becker den Heinrich-Mann-Preis, 1975 den Nationalpreis der DDR für den Roman „Jakob der Lügner“. 1974 wurde er von Frank Beyer verfilmt. Es handelte sich um den einzigen Film der DDR, der eine Oscar-Nominierung erhielt. Eine Neuverfilmung als Hollywood-Produktion erfolgte 1999.
Angelika Benz
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Jesusfilme
Literatur Elke Kasper, Nicht zu erinnernde Vergangenheit. Zu Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner, in: Stephan Braese, Holger Gehle, Doron Kiesel, Hanno Loewy (Hrsg.), Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, Frankfurt am Main 1998.
Jedwabne-Debatte → Sąsiedzi Jesus Christ Superstar (Film, USA 1973) → Jesusfilme
Jesusfilme Der Jesusfilm ist so alt wie das Kino und gehört zu einem der populärsten Genres des religiösen Films. Bereits Ende der 1890er-Jahre kann vor dem Hintergrund einschlägiger Filmproduktionen in Frankreich, Italien, den Vereinigten Staaten und England von einem internationalen Genre des Jesusfilms gesprochen werden. Die vielschichtigen Thematisierungen der Gestalt Jesu Christi im Film reichen von kinematografischen Passion Plays bis zur Parodie. Der Diskurs über antijüdische Tendenzen im Jesusfilm bezieht sich in erster Linie auf den expliziten Jesusfilm, der den biblischen Jesus abzubilden sucht, und weniger auf Subgenres wie etwa die sich durch indirekte Bezugnahmen auf Jesus auszeichnenden Transfigurationen. Als 2004 dem in den Vereinigten Staaten überaus erfolgreichen Film Mel Gibsons „Die Passion Christi“ verschiedentlich Antijudaismus vorgeworfen wurde, ist dieser Diskurs erneut und diesmal auch in einer breiteren Öffentlichkeit belebt worden. Viele – jedoch nicht alle – Jesusfilme weisen antijüdische Motive auf, die bereits im → Passionspiel vorgebildet sind. Grundsätzlich ist zwischen visuellen und narrativen Diffamierungen und darin wiederum jeweils zwischen impliziten und expliziten Antijudaismen zu unterscheiden. Trotz dieser genretypischen Formen der Verleumdung knüpfen die antijüdischen Motive des Films an die antijüdische Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments an. Implizite Antijudaismen werden bereits in der Vermeidung der visuellen und narrativen Darstellung des Judeseins Jesu und seiner Jünger vor dem Hintergrund ihrer jüdischen Frömmigkeit und Religion grundgelegt. Die visuelle Diffamierung zielt auf die verzeichnende und letztendlich dämonisierende Darstellung der religiösen Autoritäten, während die narrative Diffamierung die Juden als verantwortlich für den Tod Jesu zeichnet und demgegenüber Pilatus als Opfer der aufgebrachten Menge und ihrer Führer entlastet. Zudem wird die narrative Diskreditierung der Juden noch dadurch hervorgehoben, dass sie – und nicht die Römer – Jesus im Umfeld der Geißelung verhöhnen. Der aufwendige historische Ausstattungsfilm „Der Galiläer“ von Dimitri Buchowetzki (Deutschland 1921), der auf der Bearbeitung des gleichnamigen Passionsspiels der Gebrüder Faßnacht fußt, zeichnet sich vor dem Hintergrund seiner Montage sowie seiner Nah- und Großaufnahmen durch eine ganze Reihe von Verleumdungen der Juden aus. Durch die Viragierung der Bilder werden die Szenen im Hohen Rat in einem giftigen Schwefelgelb geboten und legen darin eine Assoziation mit der Farbe des Teufels nahe, während die Jesusszenen in bräunlichen Farbtönen oder blau gefärbten Nachttönen gezeichnet werden. Die visuelle Diffamierung wird noch dadurch ge-
Jesusfilme
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steigert, dass die religiösen Autoritäten in ihrer Physiognomie als hässlich (schlechte Zähne, zottige Bärte) und in ihrem Minenspiel als verschlagen gezeichnet werden. Die narrative Verleumdung fußt ebenfalls auf der Dämonisierung der hohenpriesterlichen Kreise, deren gegen Jesus gerichtete Handlungen als verwerflich erscheinen. Während zunächst nur die religiösen Führer denunziert werden, wird schlussendlich dem ganzen jüdischen Volk die Schuld am Tod Jesu zugewiesen. Der Film „King of the Kings“ (USA 1927), der in einer späteren Tonfassung über Jahrzehnte hin immer wieder in das Fernsehprogramm der Vereinigten Staaten aufgenommen wurde, zeichnet vor allen Dingen die Figur des Kaiphas durch antijüdische Stereotype aus. Demgegenüber fallen die Filme „Golgotha“ (Frankreich 1935) und „Los Misterios del Rosario“ (Spanien 1957) durch eine Inszenierung der Geißelung und Verspottung Jesu auf, der die jüdische Menge jeweils in schaulustiger Manier beiwohnt. Indem der Film „Jesus Christ Superstar“ (USA 1973) die Figur des Pilatus als Streiter für Jesus deutlich entlastet, während die Mitglieder des Hohen Rates als finstere, in Leder ausstaffierte Gestalten dargestellt werden, typisiert er die Juden als Schurken und bedient die Vorstellung von ihrer Kollektivschuld am Tod Jesu. Der Film Mel Gibsons „Die Passion Christi“ (USA 2004) fällt durch eine negative Überzeichnung des Hohen Rates und breiter Schichten des jüdischen Volkes auf. Gibsons Film steht in der Tradition jener Jesusfilme, die die Römer hinsichtlich der Verantwortlichkeit für den Tod Jesu ent- und die Juden belasten, wobei viele Szenen eine antijüdische Tendenz aufweisen, die keinen Anhalt in den Evangelien haben. Die visuelle Diffamierung zeigt sich u. a. in der Physiognomie des Kaiphas und Annas, wobei Kaiphas durch schlechte sowie gelbe Zähne und Annas durch die fratzenhafte Verzeichnung des Gesichtes auffällt. Dass die Juden als geifernder Mob dargestellt werden, zeugt von einer narrativen Diskreditierung. Trotz kritischer Einsprüche hat Gibson auch nicht auf den sogenannten Blutruf (Mt 27,25) verzichten wollen; allerdings wurde dieser Satz „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“, den die Juden im Film auf Aramäisch schreien, sodann nicht mehr untertitelt. Indem Gibson in seiner vermeintlich historisierenden Inszenierung die Verantwortung für den Tod Jesu ausschließlich den Juden zuordnet, hat er sich weder der historischen Rückfrage hinsichtlich des Prozesses Jesu noch der theologischen Frage nach der Bedeutung des Todes Jesu stellen wollen. Es bleibt ein grundsätzliches Manko vieler Jesusfilme, dass sie in ihrer Inszenierung weder eine Sensibilisierung hinsichtlich der antijüdischen Wirkungsgeschichte der Evangelien, respektive des Kollektivschuldvorwurfes, erkennen lassen, noch berücksichtigen, dass die tendenzielle Darstellung einer jüdischen Mitbeteiligung an der Verhaftung und Verurteilung Jesu durch die Evangelien auf die theologische Konstruktion historischer Ereignisse zurückzuführen ist.
Matthias Blum
Literatur Yaakov Ariel, The Passion of the Christ and the Passion of the Jews: Mel Gibsons’s Film in Light of Jewish-Christian Relations, in: S. Brent Plate (Hrsg.), Re-viewing The passion: Mel Gibson’s film and its critics, New York 2004, S. 21–41.
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Die Journalisten (Komödie von Gustav Freytag, 1852)
Martin Ebner, Antijüdische Tendenzen in den neutestamentlichen Passionsgeschichten?, in: Reinhold Zwick, Thomas Lentes (Hrsg.), Die Passion Christi. Der Film von Mel Gibson und seine theologischen und kunstgeschichtlichen Kontexte, Münster 2004, S. 139–163. Amy Jill-Levine, Mel Gibson, the Scribes, and the Pharisees, in: S. Brent Plate (Hrsg.), Reviewing The passion: Mel Gibson’s film and its critics, New York 2004, S. 137–149. Adele Reinhartz, Violence Against the Jews. Anti-Judaism in the Jesus Movies, in: Reinhold Zwick (Hrsg.), Religion und Gewalt im Bibelfilm, Marburg 2013, S. 133–144. Alan F. Segal, The Jewish Leaders, in: Kathleen E. Corley, Robert L. Webb (Hrsg.), Jesus and Mel Gibson’s The Passion of the Christ. The Film, the Gospels and the Claims of History, London New York 2004, S. 89–102. Reinhold Zwick, Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur intermedialen Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments, Würzburg 1997. Reinhold Zwick, Antijüdische Tendenzen im Jesusfilm, in: Communicatio Socialis 30 (1997), S. 227–246. Reinhold Zwick, Oberammergau in Freiburg für Amerika. Dimitri Buchowetzkis DER GALILÄER (1921), in: Reinhold Zwick, Otto Huber (Hrsg.), Von Oberammergau nach Hollywood. Wege der Darstellung Jesu im Film, Köln 1999, S. 135–175.
Jetzt und in der Stunde meines Todes (Film von Konrad Petzold, 1963) → Zwischenfall in Benderath Jew Suess (Film von Lothar Mendes, 1934) → Jud Süß in der Literatur Joseph Süß Oppenheimer, ein Finanzmensch des 18. Jahrhunderts (Abhandlung von Manfred Zimmermann, 1874) → Jud Süß in der Literatur
Die Journalisten (Komödie von Gustav Freytag, 1852) „Die Journalisten“ ist das erfolgreichste Drama des politisch liberalen deutschen Germanisten, Kulturhistorikers und Literaturtheoretikers, Dramatikers und Romanciers, politischen Publizisten und zeitweiligen Reichstagsabgeordneten Gustav Freytag (1816–1895), der mit dem 1856 erschienenen Roman → „Soll und Haben“ einen Klassiker des bildungsbürgerlichen Antisemitismus vorlegte. Die im – auch als liberal – angesehenen Leipziger Verlag S. Hirzel 1854 erschienene Komödie erlebte dort bis 1942 etwa 40 Auflagen, außerdem wurde seit 1852 eine Bühnenversion vertrieben. Daneben lassen sich zahlreiche Nachdrucke als Schul-, Text-, Reclam- oder in WerkAusgaben nachweisen. Die Breslauer Uraufführung 1852 leitete einen zunächst eher zögerlichen Bühnenstart ein, bevor der Text ein festes und ungemein erfolgreiches Repertoirestück wurde: Z. B. wurden in der Saison 1899/1900 nicht weniger als 150 Aufführungen auf deutschsprachigen Bühnen gezählt und noch im vorletzten Kriegsjahr 1944 wurde das Stück am Staatstheater Dresden als Neuinszenierung gegeben. Diese Zahlen sind vor der Folie der enormen Wandlungen des Pressewesens vom Vormärz (als der Handlungszeit des Dramas) zum modernen Massenkommunikations- und, in totalitären Staaten, zum Massenpropaganda-Instrument sowie die entsprechende Professionalisierung der Journalistenrolle in diesen 90 Jahren umso erstaunlicher.
Jud Süß (Roman von Lion Feuchtwanger, 1925)
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Das Stück um einen trick- und intrigenreichen Wahlkampf zwischen einem konservativen und einem liberalen Kandidaten mit ihren jeweiligen Presseorganen, dem entsprechende Beziehungskonflikte zwischen zwei Paaren zugeordnet sind, verzichtet auf eine markante Hauptfigur. Rezeptionsgeschichtlich tritt eine Nebenfigur namens Schmock in diese Leerstelle; diese Rolle galt, unbeachtet ihres eher bescheidenen Umfangs, als die größte schauspielerische Herausforderung, der die Schauspieler mit übertreibenden Überspielen begegneten. Der Inversionsstil ihrer theatralischen Sprache macht Schmock im zeitgenössischen antisemitischen kulturellen Code unschwer als jüdische Figur erkennbar. Als der bei der konservativen Zeitung in einer subalternen Stellung (nämlich auf Zeilenbasis tätiger journalistischer Mitarbeiter) tätige Schmock in eine bessere Position beim liberalen Blatt wechseln will und dort auf sarkastische Skepsis trifft, spricht er den bekanntesten Satz des Dramas: „Wozu machen Sie sich Sorgen um das? Ich habe bei dem [konversativen Redakteur] Blumenberg gelernt, in alle Richtungen zu schreiben. Ich habe geschrieben links und wieder rechts. Ich kann schreiben nach jeder Richtung.“ Dieser ihm zugeschriebene Opportunismus soll ihn auf der Bühne als einen jüdischen Intellektuellen avant la lettre entlarven. Als er mit einigen im Papierkorb gefundenen Schriftstücken die positive Schlusswendung der Komödie einleitet, soll er von einem konservativen aristokratischen Offizier eine Gratifikation erhalten, die er als Kredit missversteht. Er bietet einen Wechsel, einen Schuldschein und schließlich „fünf Prozent“ an. Das spielte auf bekannte Klischees an und war leicht mit „Jude bleibt Jude“ oder „Einmal Jude, immer Jude“ zu übersetzen. So denunzierte der deutsche bürgerliche Realismus, ein im weltliterarischen gescheitertes Konzept, all-abendlich den aufklärerischen Ansatz einer „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden theatralisch als gescheitert. Fortan hatte der Ausdruck Schmock im Deutschen die Bedeutungen „Winkeljournalist“ oder „gesinnungsloser, käuflicher und skrupelloser Journalist“. Diese Wortbedeutung charakterisieren die Wörterbücher inzwischen als veraltet.
Michael Schmidt
Jud Sauer (Theaterstück von Adriana Altaras, 2002) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Novelle von Wilhelm Hauff, 1828) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Theaterstück von Albert Leo Dulk, 1848) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß oder Württemberg wie es war von 1734 bis 1737 (Roman von Theodor Griesinger, 1860) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Drama von Fritz Runge, 1912) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Roman von Lion Feuchtwanger, 1925) → Jud Süß in der Literatur
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Jud Süß (Film von Veit Harlan, 1940)
Jud Süß Oppenheimer (Buch von Curt Elwenspoek, 1926) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Studie von Selma Stern, 1929) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Drama von Paul Kornfeld, 1930) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Volksstück von Eugen Ortner, 1933) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Pamphlet von Oskar Gerhardt, 1936) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Buch von Hans Hömberg, 1941) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Studie von Barbara Gerber, 1990) → Jud Süß in der Literatur Jud Süß (Studie von Hellmut G. Haasis, 1998) → Jud Süß in der Literatur Jud-Süß-Drama (Klaus Pohl, 1999) → Jud Süß in der Literatur Jud-Süß-Oper (Detlev Glanert, 1999) → Jud Süß in der Literatur Jud-Süß-Kammeroper (Gottlieb Blarr, 2000) → Jud Süß in der Literatur
Jud Süß (Film von Veit Harlan, 1940) Die historische Person Joseph Süß Oppenheimer (1698/99–1738) und ihre antisemitische Zerrfigur Jud Süß (→ Jud Süß in der Literatur) ist wahrscheinlich das bekannteste Spiegelpaar deutsch-jüdischer Kulturgeschichte. Der NS-Film „Jud Süß“ (1940) ist der vielleicht berüchtigte deutsche antisemitische Spielfilm und gleichzeitig einer der bekanntesten in NS-Deutschland produzierten Filme. Joseph Süß Oppenheimer war im frühen 17. Jahrhundert erfolgreich im deutschen Handels- und Finanzierungswesen tätig und wurde 1733 von Herzog Karl Alexander von Württemberg als Hoffaktor nach Stuttgart berufen. Karl Alexander versuchte mit der Hilfe von Joseph Oppenheimer und dem katholischen Freiherren Franz Joseph von Remchingen Württemberg politisch, ökonomisch und militärisch zu modernisieren. Oppenheimer wurde Teil eines mehrschichtigen Konflikts um die Macht in Württemberg. Die Auseinandersetzungen zwischen dem Fürsten und dem Landtag des Herzogtums konzentrierten sich auf die fiskalische und politische Organisation des Fürstentums, aber auch auf Fragen der Verfassung und der Militärordnung. Überschattet wurden diese Konflikte von einem religiösen Gegensatz: Karl Alexander war katholisch, das Herzogtum protestantisch. Als Karl Alexander im März 1737 plötzlich verstarb, wurden Joseph Oppenheimer und Franz Joseph von Remchingen umgehend verhaftet. Auf päpstlichen Druck hin wurde der katholische Freiherr von Remchingen freigelassen und ins Exil nach Wien geschickt. An seiner statt wurde Joseph Süß Oppenheimer vor Gericht gestellt, zu Tode verurteilt und im Februar 1738 öffentlich hingerichtet. Bereits den Zeitgenossen war bewusst, dass das Verfahren ein Schauprozess war und den damals geltenden Rechtsprinzipien nicht standhielt. Der Film „Jud Süß“ war die erste deutschsprachige filmische Interpretation der Karriere von Joseph Oppenheimer. Inszeniert wurde der Film von Veit Harlan, einem der führenden Filmregisseure NS-Deutschlands.
Jud Süß (Film von Veit Harlan, 1940)
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Veit Harlans Film transformiert einen historischen, lokalen inner-deutschen Konflikt um Verfassungsfragen, Finanzen, Wirtschaftsformen und Religion (Protestantismus vs. Katholizismus) in einen existenziellen, tödlichen und persönlichen Konflikt zwischen Deutschen und Juden. Harlan führt seinen Hauptcharakter Joseph Süß Oppenheimer als betrügerischen, sex- und machtbesessenen Financier und Berater des Herzogs von Württemberg vor, der den Regenten, den Staat und seine Bewohner in den Untergang zu stürzen droht. Der Film stellte damit die historische Rolle Joseph Süß Oppenheimers im Herzogtum Württemberg in einer radikal antisemitischen Weise auf den Kopf. Der Film eröffnet seine Geschichte – nach dem Vorspann – mit den Feierlichkeiten im Herzogtum Württemberg anlässlich der Inthronisation eines neuen Herzogs. Im Laufe dieser Zeremonien macht der Film aber auch klar, dass der neue Mann, Herzog Karl Alexander, Schwächen hat: für junge Frauen, für Prunk. Schwächen, deren Befriedigung Geld kostet – Geld, das ihm von seiner Regierung verweigert wird. Karl Alexander nimmt Kontakt auf mit Joseph Süß Oppenheimer, um seiner Frau Schmuck zu schenken. Oppenheimer versorgt den Herzog mit Schmuck und erhält im Gegenzug Einlass nach Stuttgart. Damit nimmt, so der Film, das Unheil seinen Lauf. In Stuttgart finanziert Oppenheimer dem Herzog ein Ballett und damit den Zugang zu jungen Liebhaberinnen. Als Gegenleistung kann Oppenheimer neue Steuern erheben: Weg- und Brückenzölle. Oppenheimer führt weitere Steuern ein, die dem Herzog finanzielle Autonomie vom württembergischen Landtag und Regierung – den Landständen – verschaffen und Oppenheimer zu enormem Reichtum verhelfen. Widerstand in der einfachen Bevölkerung schlägt Oppenheimer brutal nieder. Schließlich plant Oppenheimer einen Staatsstreich: Der Herzog soll – finanziert mit Geld der jüdischen Gemeinde von Stuttgart – auswärtige Soldaten mieten, in Württemberg einmarschieren lassen, den Landtag auflösen und eine neue, nur dem Herzog ergebene Regierung einsetzen. Joseph Süß Oppenheimer führt im Film nicht nur eine politische Auseinandersetzung, sondern er trägt auch eine private Fehde aus. Er verliebt sich in Dorothea, die Tochter des Landschaftskonsulenten Sturm, eines führenden Mitglieds der Landstände, und hält um ihre Hand an. Sturm weist ihn ab und verheiratet sie mit ihrem Verlobten Faber, seinem jungen Assistenten. Faber und Sturm sind die politischen Gegenspieler von Oppenheimer. Aus Rache lässt Oppenheimer Sturm verhaften – parallel zu den Vorbereitungen für den Staatsstreich. Die Landstände entscheiden sich nun für einen Aufstand. Oppenheimer lässt deshalb auch Faber verhaften. Dorothea eilt zu Oppenheimer und bittet ihn, Faber freizulassen. Oppenheimer stellt seine Bedingung: Er will sie als Maitresse. Oppenheimer lässt Faber während Dorotheas Besuch foltern und vergewaltigt sie. Faber lässt er anschließend frei. Dorothea jedoch begeht in derselben Nacht Selbstmord. Auf Anraten von Oppenheimer wartet der Herzog in Ludwigsburg den Ausgang des Staatsstreiches ab. Unter der Führung Fabers eilt eine Delegation der Landstände nach Ludwigsburg und verlangt die Verhaftung Oppenheimers. Konfrontiert mit dem Verlangen der Notabeln erleidet Karl Alexander einen Herzinfarkt und stirbt. Oppenheimer wird verhaftet und in einem Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt. Der Film
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endet mit der Hinrichtung von Joseph Süß Oppenheimer und der Ausweisung der Juden aus Stuttgart. Veit Harlans Film zeigt Joseph Süß Oppenheimer als Eindringling in die deutsche Gesellschaft, der die politische und wirtschaftliche Ordnung in Gefahr bringt, den Staat an den Rand des Untergangs führt und deutsche Familien zerstört. Oppenheimer korrumpiert den Staat und die Gesellschaft Württembergs mit Geld und Sex. In Harlans Film verschwinden reale historische Ereignisse und Konflikte hinter antisemitischen Fantasien über Juden und Judentum. So wird beispielsweise aus dem katholischen Freiherrn von Remchingen – in Realität der damals führende Militär und wichtiger politischer Vordenker des Herzogtums – ein eitler und machtloser Einflüsterer des Herzogs im Dienste von Joseph Süß Oppenheimer. Anstelle des Konflikts zwischen katholischen Militärs und protestantischen Notabeln um die politische und ökonomische Ordnung Württembergs zeigt der Film eine sexuell aufgeladene, letztlich tödliche Auseinandersetzung zwischen einem amoralischen jüdischen Financier und moralischen Prinzipien folgenden deutschen Bürgern. Im Film sind die Einwohner Württembergs immer im Recht, während Oppenheimer und die jüdische Gemeinde grundsätzlich im Unrecht sind. Recht und Moral stehen im Film für ein nationalsozialistisches Verständnis von Recht und Moral. In Veit Harlans „Jud Süß“ wird Oppenheimer wegen „Rassenschande“ zum Tode verurteilt – aber nicht, wie man zuerst vermuten könnte, wegen versuchten Staatsstreichs oder Vergewaltigung. Mit anderen Worten: „Rassenschande“ gilt im Film als die massivste Verfehlung von Jud Süß. Dieser Straftatbestand existierte im frühen 18. Jahrhundert nicht. Er ist eine Erfindung des Dritten Reichs („Nürnberger Gesetze“). In diesem Urteil spiegelt sich am deutlichsten das nationalsozialistische Rechts- und Moralverständnis, wie es im Film inszeniert wird, wider. Juden und Deutsche, so Veit Harlans „Jud Süß“, können nicht zusammenleben. Einzig eine Exklusion der Juden und räumliche Trennung von jüdischen und deutschen Lebenswelten garantiert den Fortbestand Deutschlands und seiner Bevölkerung. Das deutsche Volk muss dafür sorgen, dass diese Trennung vollzogen wird, und es hat das Recht und die Pflicht, gegen Übertritte vorzugehen und Schuldige zu bestrafen. Für den Film gilt Sex – egal ob freiwillig oder erzwungen – als die ungeheuerlichste Form der Übertretung dieser Grenzen. Deshalb müssen, so die Logik des Films, Oppenheimer hingerichtet und die jüdische Gemeinde ausgewiesen werden. „Jud Süß“ wurde mit einem großen Staraufgebot aufwendig inszeniert – Publikumslieblinge wie Ferdinand Marian, Werner Krauß, Kristina Söderbaum und Heinrich George übernahmen die Hauptrollen und spielten sie mit Grandezza. „Jud Süß“ wurde finanziell zu einer der erfolgreichsten Film-Produktionen NS-Deutschlands. Heute darf der Film in Deutschland nur begleitet von einer kritischen Einführung aufgeführt werden.
Daniel Wildmann
Literatur Régine Mihal Friedman, L’image et son Juif. Le Juif dans le cinéma nazi, Paris 1983. Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.), „Jud Süß“. Propagandafilm im NS-Staat, Katalog zur Ausstellung, Stuttgart 2007.
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Dorothea Hollstein, „Jud Süß“ und die Deutschen. Antisemitische Vorurteile im nationalsozialistischen Spielfilm, Frankfurt am Main 1983. Alexander Przyrembel, Jörg Schönert (Hrsg.), „Jud Süß“. Hofjude, literarische Figur, antisemitisches Zerrbild, Frankfurt am Main 2006. Susan Tegel, Jew Süss, Life, Legend, Fiction, Film, London 2011.
Jud Süß im deutschen Film nach 1945 Zwischen 1945 und 2014 entstanden in Deutschland vier abendfüllende Spiel- und Dokumentarfilme, die explizit auf Veit Harlans NS-Film → „Jud Süß“ reagierten und entweder die historische Figur Süß Oppenheimer, den Regisseur Harlan oder Harlans Hauptdarsteller Ferdinand Marian ins Zentrum ihrer Geschichten stellten: „Joseph Süß Oppenheimer“ (ZDF, 1984); „Jud Süß – Ein Film als Verbrechen?“ (NDR, 2001); „Harlan. Im Schatten von Jud Süß“ (Blueprint Film, 2008) sowie „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ (Novotny & Novotny Filmproduktion, 2010). Der im Februar 1984 ausgestrahlte Fernsehspielfilm „Joseph Süß Oppenheimer“ von Rainer Wollfhardt erzählt die Geschichte eines Justizmordes. Ganz anders als Harlans Film orientiert sich die ZDF-Produktion an den Fakten der Biografie von Oppenheimer und der damaligen zeitgenössischen politischen Konflikte im Herzogtum Württemberg. Der Film folgt der Karriere von Süß Oppenheimer als unternehmerischem Financier und Hofjuden seit dessen ersten Kontakten mit Karl Alexander, dem späteren Herzog von Württemberg. Er zeigt den sozialen Aufstieg Oppenheimers in Württemberg, die heftigen antisemitischen Aversionen der protestantischen gesellschaftlichen Elite des Herzogtums, denen er ausgesetzt war, und schildert schließlich ausführlich den Schauprozess, den diese Elite gegen Süß Oppenheimer in Gang setzte und durchführte. Süß Oppenheimer wird als eine Figur präsentiert, die Teil der führenden Gesellschaft werden will – ohne zum Christentum übertreten zu müssen. Der Film legt zentrale innenpolitische Konflikte zwischen dem Herzog und den Landständen, der in der Verfassung verankerten quasi-parlamentarischen Vertretung der Württembergischen Oberschicht gegenüber dem jeweils regierenden Herzog, offen. Historisch zutreffend drehen sich diese Konflikte einerseits um Finanzfragen – die Landstände bestimmen über das Budget des Staates –, aber auch immer wieder um religiöse Differenzen. Württemberg ist protestantisch, der Herzog aber katholisch. Unterschiedliche Auffassungen über die Finanz- und Wirtschaftspolitik des Herzogtums, über Außenpolitik und über Glaubensbekenntnisse schüren – im Film präzise inszeniert – ein gegenseitiges, andauerndes Misstrauen zwischen diesen beiden zentralen politischen Instanzen des Staates: den Landständen und dem Herzog. Als der Herzog plötzlich stirbt, rächen sich die Landstände stellvertretend an Oppenheimer und lassen ihn nach einem für alle Beteiligten offensichtlich irregulären Prozess hinrichten. Die ZDF-Fernsehproduktion inszeniert das Verfahren gegen Süß Oppenheimer, historisch zutreffend, als antisemitisch geleiteten Racheakt der Württemberger Oberschicht gegen einen führenden, aber leicht angreifbaren Repräsentanten des verstorbenen und verhassten Regenten. Der Film „Jud Süß Oppenheimer“ stellt sich in seiner Erzählung klar gegen Harlans „Jud Süß“. Dennoch wirft die visuelle Inszenierung der jüdischen Filmfiguren einige
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Fragen auf. Sie unterscheiden sich von den christlichen Filmcharakteren sichtbar und hörbar, nämlich durch signifikante Differenzen von Kleidung und Sprache. Oppenheimer trägt dieselbe Kleidung wie andere Mitglieder der Oberschicht von Stuttgart. Andere führende jüdische Financiers und Unternehmer kleiden sich ebenfalls wie die Oberschicht, allerdings tragen sie – im Gegensatz zu Süß Oppenheimer – auch eine schwarze Kippa. Weniger etablierte Juden kleiden sich in schwarze Kaftane. Oppenheimer spricht Deutsch, während seine jüdischen Geschäftspartner alle Jiddisch sprechen – oder genauer ein von den Filmemachern erfundenes Jiddisch, das sich an verkürzten Vorstellungen des Duktus eines osteuropäischen Jiddisch orientiert. Verdrehte Wortstellungen, rasch auf- und absteigende Satzmelodien und eigenartige Grammatiken zeichnen diese erfundene Sprache aus. Kleidung und Sprache markieren die Zugehörigkeit zum Judentum und unterschiedliche Grade der Integration in die deutsche Gesellschaft. Zu Beginn des Films ist Levy, Oppenheimers Assistent, in einen Kaftan gekleidet, doch dann fordert Oppenheimer ihn auf, seine Kleidung zu ändern; Levy soll sich an die Kunden Oppenheimers anpassen. Oppenheimer spricht im Film zum ersten Mal Jiddisch, als er sich einem neuen jüdischen Geschäftspartner als jüdisch zu erkennen geben will. Sein Äußeres und seine von ihm im Film primär verwendete Sprache – Deutsch – geben ihn nicht als Juden zu erkennen. Dennoch wird Oppenheimer nicht Teil der Württemberger Gesellschaft. Sozial bleibt er ausgegrenzt. Einzig als Objekt des erotischen Begehrens dringt er in der ZDF-Produktion in die Mitte der Gesellschaft vor. Entspricht der Ausschluss einer sozialen Realität, so ist die Erotik eine letztlich antisemitische Angst- und Wunschvorstellung. Die ZDF-Produktion inszeniert Juden als anders. Dies ist nicht a priori ein Problem. Allerdings verwendet der Film eine filmische Sprache, die sich problematischen Bildtraditionen anschließt, ohne diese grundsätzlich infrage zu stellen. So wendet sich „Jud Süß Oppenheimer“ zwar klar gegen Harlans „Jud Süß“, führt aber gleichzeitig antisemitische Muster der Inszenierung von Juden und Judentum weiter. 2001 produzierte der NDR das Dokudrama „Jud Süß – Ein Film als Verbrechen?“ Im Zentrum des Films von Horst Königstein steht der Prozess vor dem Landgericht Hamburg gegen Harlan im Jahr 1949. Harlan wurde in Hamburg des Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt und freigesprochen. Der Film präsentiert eine dramatisierte Nachstellung des Prozesses – darin eingebaut fiktionale Rückblenden aus der Perspektive des Angeklagten und der geladenen Zeugen über die Art und Weise, wie „Jud Süß“ produziert wurde, und verknüpft dies mit aktuellen Interviews zum Prozess mit dem Publizisten und damaligen Gerichtsberichterstatter Ralph Giordano, Maria Körber, Schauspielerin und Tochter von Veit Harlan, und Lu Schlage, einer ehemaligen engen Mitarbeiterin des umstrittenen Regisseurs. Dazwischen werden Ausschnitte aus Harlans Film „Jud Süß“ montiert. Das Dokudrama beginnt seine fiktionale Erzählung mit der überstürzten Flucht der Familie Harlan aus Berlin im Jahre 1944 nach Hamburg und endet mit dem Jubel des Publikums über den Freispruch von 1949 – einer Nachahmung des berühmten Pressefotos, das zeigt, wie Harlan vor dem Gerichtsgebäude von Anhängern auf den Schultern getragen wird. Zwei Protagonisten stehen sich im Film gegenüber: Staatsanwalt
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Gerhard Kramer und Harlan. Zwischen beiden stehen Zeugen, wie der ehemalige Filmfunktionär Fritz Hippler, der Schauspieler Malte Jaeger oder der Filmproduzent Alfred Greven, die Anklage und Verteidigung aufbieten und die sich die Verantwortung am Film gegenseitig oder Joseph Goebbels zuschieben. Im Zentrum all dieser Aussagen steht die Behauptung, unfreiwillig am Projekt beteiligt gewesen zu sein. Nur ganz vereinzelt, beispielsweise in der Aussage der Journalistin Karena Niehoff, wird Harlans Nähe zum NS-Regime auch politisch interpretiert – als Resultat seiner politischen Überzeugungen und seines eigenen antisemitischen Denkens. Der Staatsanwalt versucht, Harlan anhand des Films „Jud Süß“ eine intellektuelle Beteiligung und Mitverantwortung an der NS-Judenpolitik nachzuweisen. Harlan und seine Verteidiger argumentieren, dass seine Arbeit unter Zwang zustande kam und behaupten maliziös, dass, wenn Harlan schuldig gesprochen werde, alle Deutschen schuldig seien. Das Fragezeichen im Titel des Dokudramas legt nahe, dass der Film zwei Fragen diskutieren möchte: Gibt es eine intellektuelle Verantwortung für die NS-Judenpolitik – speziell unter Künstlern – und: ist diese Verantwortung justiziabel? Diese Fragen sind berechtigte Fragen, die allerdings in dem Dokudrama nicht diskutiert werden; vielmehr werden leise, aber bestimmt die Positionen von Harlan übernommen. Er ist ein Opfer der Umstände. In seiner Inszenierung des Prozesses verschiebt der Film die Fragen von Verantwortung und Schuld auf die extensiv antisemitischen Zuschauer unter dem Prozesspublikum, während Harlan als nicht-politischer Künstler inszeniert ist, der nach 1945 verzweifelt darum kämpft, auch in Zukunft seine Familie als Regisseur ernähren zu können. Im Mittelpunkt der NDR-Produktion steht nicht, wie in Presseverlautbarungen angekündigt, das Fragezeichen im Titel des Films („Kann ein Film ein Verbrechen sein?“), sondern viel eher sind die Ängste Harlans um seine berufliche Zukunft thematisiert. Die Fragen nach intellektueller Täterschaft, Schuld und Verantwortung stehen tatsächlich im Mittelpunkt des Dokumentarfilms „Harlan. Im Schatten von Jud Süß“ aus dem Jahr 2008 von Felix Möller. Möller interviewte Harlans Söhne, Töchter und Enkel. Er schildert die Karriere von Harlan, seine Filme und Erfolge und erzählt, wie sich seine Familie bis in die Gegenwart mit der Person Harlan und seinen Filmen auseinandersetzt. Möllers Film legt tiefe Risse in Harlans Familie offen und extrem unterschiedliche Umgehensweisen mit dem „Schatten von Jud Süß“. Harlans Sohn Thomas beispielsweise, Schriftsteller und Filmemacher, brach mit seinem Vater und bezeichnet den Film „Jud Süß“ als Mordinstrument. Der Freispruch seines Vaters war und bleibt für ihn völlig unverständlich. Für Maria Körber hingegen, Schauspielerin und Harlans Tochter, ist ihr Vater unschuldig. Jessica Jacoby, Enkelin Harlans und verheiratet mit einem jüdischen Mann, dessen Eltern deportiert und in Minsk umgebracht wurden, bringt die Zerrissenheit deutscher und deutsch-jüdischer Geschichte und die Rollen ihrer unterschiedlichen Großväter darin auf einen Nenner: „Mein Großvater hat Karriere gemacht und Filme für die Nationalsozialisten gemacht, und zwar in einer Zeit, wo die Nazis meine anderen Großeltern ermordet haben.“ Der Film diskutiert nicht nur die Position Veit Harlans, sondern auch die Frage der transgenerationellen Verantwortung für die NS-Judenpolitik innerhalb einer deutschen Familie. Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Thomas Harlans Weg stößt auf radi-
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kale Ablehnung bei seinen Geschwistern. Die Enkel hingegen sind offener für Thomas’ Argumente. Dies sind Debatten, die vielleicht beispielhaft sind für Auseinandersetzungen in vielen deutschen Familien – insofern diese auch tatsächlich so intensiv geführt wurden wie bei den Harlans. Möller kombiniert die Interviews mit privaten Filmaufnahmen der Familie und Ausschnitten aus Veit Harlans Filmen. Der Schnitt des Dokumentarfilms, die Montage von Interview, Privatleben und NS-Film bringt die emotionale Geladenheit dieser Debatten ans Licht und stellt klar, wie sich die unterschiedlichen politischen Positionen der Familienmitglieder mit ihren Gefühlen zur Familie, zu ihrem Vater oder Großvater und zur Geschichte ihrer Familie verknüpfen. Möllers brillanter Film führt eindringlich vor, dass Kunst nicht unschuldig ist und der Frage nach Verantwortung, moralisch, politisch oder juristisch, nicht ausgewichen werden kann. Oskar Roehlers „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ aus dem Jahr 2010 stellt nicht Harlan, sondern Ferdinand Marian, den Darsteller des Jud Süß, ins Zentrum des Geschehens. Roehler interpretiert die Karriere Marians zwischen 1938 und 1946 sehr freizügig: Goebbels plant den Film „Jud Süß“ und bietet Marian die Hauptrolle an. Marian ist hin und her gerissen zwischen seinem Ehrgeiz als Schauspieler und seinen Gefühlen gegenüber seiner Frau Anna, die nach den Gesetzen NS-Deutschlands Vierteljüdin ist. Dennoch nimmt Marian, wenn auch nicht ganz freiwillig, die Rolle an und spielt sie mit Bravour. Der Erfolg des Films stürzt Marian in Schuldgefühle gegenüber seiner Frau. Er beginnt massiv zu trinken und wird von Goebbels gezwungen – der Minister verhaftet Anna –, den Film „Jud Süß“ im besetzten Osteuropa zu vermarkten. Marian dreht keine Filme mehr, sondern reist, in der Regel schwer betrunken, durch das besetzte Polen und präsentiert zwischen 1940 und 1945 „Jud Süß“ einem gewaltbereiten deutschen Publikum – vor allem Soldaten. Nach Kriegsende, im Sommer 1946, erfährt Marian von einem ehemaligen Berliner Kollegen, einem jüdischen Schauspieler, der Deportation, Ghetto und Konzentrationslager überlebt hat, dass Anna in einem KZ ermordet wurde. Verzweifelt begeht Marian Selbstmord. In seinem tatsächlichen Leben drehte Marian nach „Jud Süß“ mehrere erfolgreiche Filme für NS-Deutschland. Er tourte weder jahrelang durch das besetzte Osteuropa noch war er mit einer jüdischen Frau verheiratet. Fiktionale Filme können freizügig mit historischen Fakten und Figuren umgehen und müssen dies in der Regel auch. So sind beispielsweise Dialoge zwischen historischen Protagonisten in den seltensten Fällen überliefert. Die kreative Freizügigkeit verweist dafür umso deutlicher auf die Intentionen der Filmschaffenden. Zentral für die Intentionen von Roehler ist die Erfindung der nach NS-Gesetzen viertel-jüdischen Frau Marians, ihre Verhaftung durch Goebbels und ihre Ermordung im KZ. Marians Rolle in der Produktionsgeschichte von „Jud Süß“ wandelt sich dadurch in Roehlers Film vom Täter zum Opfer. Seine Schuldgefühle gegenüber seiner Frau lassen ihn zum exzessiven Alkoholiker werden und der gewaltsame Tod seiner Frau treibt ihn schließlich in den Selbstmord. In einer grotesken Verdrehung der Realität wird Marian selbst zum Opfer der NS-Judenpolitik. „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ stellt sich in eine Reihe von modernen deutschen Spielfilmen wie beispielsweise „Der Untergang“ (2004) oder „Unsere Mütter, Unsere Väter“ (2013), die zwischen Deutschen und Nationalsozialisten unterscheiden, um mit dieser Differenzierung Deutsche als Opfer der Nationalsozialisten beschreiben zu
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können. Selten gehen diese Filme aber so weit, Deutsche als Opfer der NS-Judenpolitik zu betrachten. In dieser Hinsicht ist Roehlers Film einer der radikalsten jüngeren deutschen Filme zu NS-Deutschland. Alle vier Filme reagieren auf den NS-Film „Jud Süß“. Die ZDF-Produktion „Joseph Süß Oppenheimer“ versucht, ein Gegenbild zu Harlans „Jud Süß“ zu etablieren – ohne allerdings ganz der antisemitischen Bildsprache dieses Filmes zu entkommen. Die drei anderen Produktionen kündigen an, sich der Frage der Verantwortung des Künstlers für die NS-Judenpolitik zu stellen. Allerdings einzig Moellers Dokumentarfilm versucht, Täter und Antisemitismus zusammen zu denken und davon ausgehend auf eine sehr intime Weise die Frage der Verantwortung tatsächlich zu diskutieren. In Möllers Film sind die Antisemiten nicht die anderen.
Daniel Wildmann
Literatur Régine Mihal Friedman, L’image et son Juif. Le Juif dans le cinéma nazi, Paris 1983. Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.), „Jud Süß“. Propagandafilm im NS-Staat, Katalog zur Ausstellung, Stuttgart 2007. Dietmar Pertsch, Jüdische Lebenswelten in Spielfilmen und Fernsehspielfilmen, Tübingen 1992. Alexandra Przyrembel, Jörg Schönert (Hrsg.), „Jud Süß“. Hofjude, literarische Figur, antisemitisches Zerrbild, Frankfurt a.M. 2006. Sonja M. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film. Von „Triumph des Willens“ bis zu „Inglourious Basterds“, Berlin 2012. Susan Tegel, Jew Süß, Life, Legend, Fiction, Film, London 2011.
Jud Süß in der Literatur Die Geschichte des Joseph Ben Issachar Süßkind Oppenheimer (1698–1738), genannt Jud Süß, wurde zu einem der wirkungsmächtigsten literarischen Topoi der Judenfeindschaft. Die Familie stammte aus dem Raum Worms, geboren wurde Joseph Oppenheimer wahrscheinlich in Heidelberg. Sein früh verstorbener Vater war Kaufmann gewesen, Joseph wuchs in Heidelberg bei einem Onkel, dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde, auf. Ab 1722 lebte Joseph Oppenheimer in Mannheim, etablierte sich als Geschäftsmann, der mit Waren handelte und Finanzierungen besorgte, war am Hof des Kurfürsten Karl Philipp als Verwalter des Stempelgeldes tätig. 1732 vertrat er die Interessen des hessischen Erbprinzen in Frankfurt am Main. Im gleichen Jahr lernte er in Wildbad im Schwarzwald den Thronprätendenten Karl Alexander von Württemberg kennen. Als dieser 1733 Herzog wurde, holte er Joseph Oppenheimer an den Hof nach Stuttgart, ernannte ihn zum Hoffaktor und Residenten in Frankfurt, 1736 zum „Geheimen Finanzienrat“. Karl Alexander wollte aus dem rückständigen Herzogtum Württemberg einen modernen absolutistischen Staat machen, dessen merkantilistische Grundlage sein jüdischer Berater schuf. Die traditionellen Eliten, die Landstände, leisteten Widerstand gegen die mit drückenden Abgaben verbundene Modernisierung. Karl Alexander, der aus einer Nebenlinie des Hauses Württemberg stammte, war in österreichischen Diensten Generalfeldmarschall gewesen und 1712 zum Katholizismus konvertiert. Seiner protestantischen Heimat war er
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längst entfremdet. Das rasante Tempo der unerwünschten Modernisierung Württembergs, die Privilegien, die der Herzog seinem Hoffaktor gewährte und traditioneller protestantischer Antijudaismus, der mit der Landesverfassung von 1514 („Tübinger Vertrag“) die Ansiedlung von Juden verboten hatte, sorgten für Spannungen, die sich nach dem plötzlichen Tod des Herzogs im März 1737 im Prozess gegen Jud Süß entluden. Joseph Oppenheimer war sofort verhaftet worden, er wurde in den Staatsgefängnissen Hohenneuffen und Hohenasperg eingekerkert und einem Inquisitionsprozess unterworfen. Das Verfahren, inszeniert als Rache der Landstände gegen den jüdischen Berater des Herzogs, endete mit dem Todesurteil und war ein Justizmord, der als Volksfest mit der Hinrichtung am 4. Februar 1738 begangen wurde. Joseph Süß Oppenheimer wurde in einem eisernen Käfig gehenkt, die Leiche blieb sechs Jahre lang darin am Galgen zur Schau gestellt. Keiner der Anklagepunkte wie Hochverrat, Majestätsbeleidigung, Beraubung der staatlichen Kassen, Ämterhandel, Münzfälschung, Schändung der protestantischen Religion war stichhaltig. (Das Delikt der Unzucht mit Christinnen, das ihm außerdem vorgeworfen wurde, hätte auch deren Bestrafung verlangt.) Zum 300. Geburtstag wurde Joseph Süßkind Oppenheimer in Stuttgart mit der Benennung eines Platzes (freilich an ziemlich verborgener Stelle) rehabilitiert. Die Wirkung der antisemitischen fiktionalen Figur des Jud Süß hält aber an. Schon zum Spektakel der Hinrichtung erschienen die ersten literarischen Manifestationen zur Causa Jud Süß: Einblattdrucke, Kupferstiche, Holzschnitte, Spottmedaillen, bebilderte Gedichte, Lieder. Das Genre im Geist pejorativer Judenfeindschaft und der Verachtung des unglücklichen herzoglichen Beraters und Unternehmers blieb über das Ende des 18. Jahrhunderts hinaus fruchtbar. Eine erste Biografie erschien bereits im Todesjahr: Wilhelm Johann Casparson, „Leben und Tod des berüchtigten Juden, Joseph Süß Oppenheimer, aus Heidelberg“ (Frankfurt am Main und Leipzig 1738). Ungefähr zeitgleich publizierte Arnoldus Liberius das Werk „Vollkommene Historie und Lebens-Beschreibung des fameusen und berüchtigten Württembergischen Aventuriers Jud Süß Oppenheimer“ (o. O. 1738). In „Zedlers Universallexikon aller Wissenschaften und Künste“ (Leipzig und Halle 1744) war ihm ein umfänglicher Artikel gewidmet, der alle Klischees des Antijudaismus jener Zeit bediente. Im 19. Jahrhundert stieg das Interesse am Schicksal des Stuttgarter Hofjuden im Zuge der Emanzipationsdebatte noch weiter. 1806 nahm Samuel Baur den Jud Süß in seine „Galerie historischer Gemaehlde aus dem XVIII. Jahrhundert“ als Band 6 (Hof 1806) auf. Die Novelle „Jud Süß“ von Wilhelm Hauff (1802–1827) wurde zuerst im Juli 1827 in 15 Fortsetzungen im Stuttgarter „Morgenblatt für die gebildeten Stände“ gedruckt. 1828 folgte eine Buchausgabe. Im Mittelpunkt steht der Konflikt zwischen den württembergischen Landständen und Herzog Karl Alexander, der mithilfe seines jüdischen Finanzberaters eine absolutistische Herrschaft (und Gerüchten zufolge den katholischen Glauben) einführen wollte. Hauff zeichnet den Hoffaktor Oppenheimer als Verursacher politischen Unglücks und als Ausbeuter des Landes. Dazu verwendet er antijudaistische Stereotypen, benutzt aber keine antisemitischen, d. h. rassistischen, Klischees. Eine freie Erfindung Hauffs ist Lea, die Schwester des Jud Süß, die er mit den Attributen der „schönen Jüdin“ ausstattet. Die unglückliche Liebe zum Sohn des Landschaftskonsulenten Lanbek, des Kontrahenten vom Herzog und von Jud Süß, en-
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det nach dem Sturz des jüdischen Günstlings im Freitod Leas. Hauff sieht das Todesurteil gegen Jud Süß kritisch, nennt seine Strafe barbarisch und macht deutlich, dass ihm die Schuld (auch) für die Verbrechen anderer aufgeladen wurde. Er geht nicht so weit, die Hinrichtung als Justizmord zu charakterisieren, vermeidet aber eine pauschale Stigmatisierung im Sinne des aufkommenden modernen Antisemitismus. Trotzdem ließ sich die Novelle mit wenigen Kunstgriffen zur Vorlage des antisemitischen Films von 1940 nutzen. 1849 war Joseph Oppenheimer im Erbauungsbuch des Pfarrers Johann Gottlieb Munder („Die Glocke. Historisches Unterhaltungsbuch für jeden Stand und jedes Alter“) Gegenstand eines „Zeitzeugen“-Berichts. Auf die Schauspielbühne hatte Albert Leo Dulk den Stoff 1848 gebracht, eine Darstellung im Stil des historischen Schauerromans bot der Leipziger Philosoph Friedrich Bühlau in seiner Sammlung über „Geheime Geschichten und Rätselhafte Menschen“ unter dem Titel „Württembergische Prinzen“ (o. O. 1853). Im Geist des entstehenden rassistischen Antisemitismus schrieb Theodor Griesinger einen zweibändigen Roman „Jud Süß oder Württemberg wie es war von 1734 bis 1737“ (o. O. 1860). Seriöser recherchiert bemühte sich dagegen Manfred Zimmermann mit seiner Abhandlung „Joseph Süß Oppenheimer, ein Finanzmann des 18. Jahrhunderts, ein Stück Absolutismus und Jesuitengeschichte, nach den Schriften der Zeitgenossen bearbeitet“ (Stuttgart 1874) um Objektivität. Jüdische Autoren beschäftigten sich erst spät mit dem Schicksal des Stuttgarter Glaubensgenossen. Eine Erzählung des Mainzer Rabbiners Marcus Lehmann thematisierte die Geschichte unter dem Titel „Aus Vergangenheit und Gegenwart“ (Berlin 1876), der Prager Salomon Kohn zeichnete im Roman „Ein deutscher Minister“ (Cincinnati 1886) das Bild eines fortschrittlichen Politikers, der seiner Zeit mit der Vision eines modernen Staates ohne ständische Hemmnisse voraus war und deswegen Anstoß erregte. Eine Bibliografie, erschienen 1903 in der „Zeitschrift für Bücherfreunde“, zusammengestellt von Hugo Hayn, umfasste bereits 51 Einträge über Jud Süß. Dazu gehörte auch ein Aufsatz des Kirchenrats Theodor Kroner über Joseph Oppenheimer in der „Zeitschrift des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ 1903. Kroner hatte erstmals die Erlaubnis gehabt, die Prozessakten zu benutzen, die Zensur schränkte dann allerdings den Erkenntniswert seiner Darstellung erheblich ein. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg war Jud Süß wieder Held eines Bühnenstücks. Fritz Runge hatte nach der Vorlage der Romane von Griesinger und Kohn den Stoff zum Drama bearbeitet, eigene Zutat war die Verstärkung der antisemitischen Tendenz durch die Charakterisierung des Jud Süß mit einem obsessiven Sexualtrieb und als Zuhälter (Jud Süß. Ein Schauspiel, Frankfurt am Main 1912). Der 1925 veröffentlichte Roman „Jud Süß“ Lion Feuchtwangers (1884–1958) hat der Verbreitung wie der Wirkung nach den Rang einer Ikone: Bis 1933 wurden in Deutschland 300.000 Exemplare verkauft. Die Gesamtauflage in 23 Sprachen wird auf über drei Millionen geschätzt. Der Roman wurde nicht als Reaktion auf die Ermordung Walther Rathenaus geschrieben, obwohl der Autor in einem Text auf die exemplarische Biografie des jüdischen Industriellen und Politikers in Analogie zu Jud Süß verwies. Feuchtwanger hatte den Roman, an dem er seit 1920 arbeitete, im Mai 1922 abgeschlossen, fand aber nur mit Mühe einen Verlag. Vorausgegangen war ein
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Theaterstück über Jud Süß, das Feuchtwanger 1916 verfasst hatte. Es wurde im gleichen Jahr in München uraufgeführt, 1917 erschien es im Druck. Ob vom Autor zurückgezogen oder von der Zensur verboten – Feuchtwanger nannte es rückblickend „nur eine Fassade dessen, was ich sagen wollte“, und konzentrierte sich auf den Roman, dessen Erfolg in Großbritannien und in den USA dem Werk auch in Deutschland den Weg ebnete. Feuchtwangers „Jud Süß“ wurde von den Zeitgenossen gelesen als Parabel deutschen Judentums in der Krise nach dem Aufstieg, bedroht von antisemitischen Anfeindungen in der Weimarer Republik. Die Zustimmung des jüdischen Publikums war nicht einhellig. Der „C. V. Zeitung“, dem Organ der Assimilierten, der „deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens“, erschien Feuchtwangers Zeichnung der Hauptfigur unwürdig, wogegen die zionistische „Jüdische Rundschau“ lobte, dass Feuchtwanger im individuellen Schicksal des Stuttgarter Hofjuden das „uralte Geschick seines Volkes empfunden“ und gestaltet habe. Einig waren sich die beiden jüdischen Richtungen, Zionisten und Assimilierte, in der positiven Bewertung der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, während auf orthodoxer Seite der Vorwurf blieb, Joseph Oppenheimer sei als Inkarnation des Obszönen gezeichnet und schade daher der Sache der Juden. Feuchtwanger selbst hatte sich zu seinem Roman in einer Weise geäußert, die alle Möglichkeiten der Interpretation offenließ: „Geplant jedenfalls war das Werk keineswegs als ein Epos vom Judentum, und beabsichtigt war nicht, für oder gegen das Judentum etwas darin zu bezeugen.“ Ganz unabhängig von der englischen Feuchtwanger-Dramatisierung, die auch auf deutschen Provinzbühnen zu sehen war, schrieb der expressionistische Dramatiker Paul Kornfeld (1889–1942) ein Stück, das 1930 in Berlin im Theater am Schiffbauerdamm unter Regie Leopold Jeßners mit Ernst Deutsch in der Hauptrolle uraufgeführt wurde. Der aus Prag stammende Autor, der 1942 im Ghetto Łódź („Litzmannstadt“) zugrunde ging, hatte sein Jud-Süß-Drama als Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus seiner Zeit und der Tendenz zur Orientierung an jüdischen Werten angelegt, wie sie der Protagonist nach seiner Verurteilung demonstriert. Das Stück hat die NSZeit überdauert, 1983 wurde es auf dem Bonner Marktplatz inszeniert, 2011 im Hessischen Staatstheater Darmstadt, wo Kornfeld 1927/28 als Dramaturg gearbeitet hatte. 1933 brachte das Habimah-Theater Tel Aviv einen hebräischen „Jud Süß“ („Ha-Yehudi Zis“ von Mordechai Avi-Shaul) heraus. Die englische Übersetzung des Buches durch Willa und Edwin Muir war Grundlage des erfolgreichen Films von Lothar Mendes „Jew Suess“ 1934. Der berüchtigte nationalsozialistische Tendenzfilm des Jahres 1940 von Veit Harlan (→ Jud Süß, Film von Veith Harlan, 1940) benutzte dagegen den Roman nicht als Vorlage. Feuchtwanger, der den Film nie sah, war aber davon überzeugt, dass sein Werk von den Nationalsozialisten ausgeschlachtet und in verfälschter Form zu antisemitischer Propaganda missbraucht worden sei. In einem offenen Brief an die Darsteller verwahrte er sich ganz entschieden gegen die Absichten des NS-Regimes und machte die Schauspieler verantwortlich für den angerichteten intellektuellen und moralischen Schaden und seine Folgen. Eine populärwissenschaftliche Darstellung, erstmals auf der ungehinderten Auswertung der Prozessakten und weiterem Material des Staatsarchivs, der württembergischen Landesbibliothek und der Universitätsbibliothek Tübingen basierend, legte Curt
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Elwenspoek (1910–1989) im Jahre 1926 vor. Der Autor, damals Dramaturg in Stuttgart, bemühte sich um ein objektives und gerechtes Bild in seiner Biografie „Jud Süß Oppenheimer. Der große Finanzier und galante Abenteurer des 18. Jahrhunderts“. In der Vorbemerkung bekannte sich der Autor zu seiner Sympathie für den Menschen Süß Oppenheimer und verwies für die wirtschaftspolitische Bedeutung des Finanzmannes auf die bevorstehende „fachwissenschaftliche Untersuchung des Fräulein Dr. Selma Stern“. Diese berühmte Arbeit erschien drei Jahre später, 1929, und setzte Maßstäbe für die Rezeption der Biografie des jüdischen Unternehmers Oppenheimer. Die Historikerin Selma Stern (1890–1981) stammte aus Baden und arbeitete seit 1920 bis zur Emigration an der Berliner Akademie für die Wissenschaft des Judentums, lebte dann in New York und wurde 1951 Gründungsmitglied des Leo Baeck-Instituts. Sterns gründlich recherchierte Arbeit stellte Joseph Oppenheimer erstmals in den politischen und sozialen Kontext der deutschen Geschichte und zugleich in den der jüdischen Assimilationsgeschichte. Selma Stern zeichnet ihn als visionären Staatsmann, verwies auf die wirtschaftshistorischen Determinanten seines Wirkens und trat mit ihrer Biografie erstmals in entschiedene Konkurrenz zum Anspruch auf Deutungshoheit der Literaten. Die Rezeption der Studie innerhalb des Judentums erfolgte fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der positiven Würdigung seiner politischen und ökonomischen Modernisierungsleistungen, die sich in die damals tagesaktuellen Abwehrdiskurse über den Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft gut einbringen ließen. Der ebenfalls zentrale Aspekt der Arbeit Sterns, die in der Person des Joseph Süß Oppenheimer angelegte Assimilationstendenz, wurde kaum rezipiert. Die strenge Wissenschaftlichkeit der Selma Stern blieb im Schatten des überragenden Romans von Lion Feuchtwanger, der das Bild des Jud Süß – auch bis in die antisemitischen Zerrbilder hinein – prägte. Trotz der grundsätzlich positiven Darstellung der Person des Hoffaktors beharrte Feuchtwanger auf den fiktionalen und legendären Zügen seiner Figur, weil er diese für die Erregung des Interesses im Publikum für notwendig hielt. Im „Dritten Reich“ wurde die Figur des Joseph Süß Oppenheimer in den Dienst judenfeindlicher Propaganda genommen. Als Zeichen der neuen Zeit kam 1933 ein bereits 1911 entstandenes völkisch-antisemitisches Volksstück mit dem Titel „Jud Süß“ von Eugen Ortner zur Uraufführung. Garniert mit zwei weiteren Episoden aus der württembergischen Geschichte, den Biografien der Mätresse des Herzogs Eberhard Ludwig, Wilhelmine von Graevenitz, und des Staatsministers Friedrich Samuel Graf von Montmartin, beide sind als böse Verderber des Landes gezeichnet, erschien als Sonderdruck des „Stuttgarter NS-Kuriers“ 1936 auch die Geschichte des Jud Süß, des „schlimmsten jüdischen Blutsaugers, dem Württemberg damals zum Opfer fiel“. Das Pamphlet hatte mehrere Auflagen und war als historischer Tatsachenbericht mit Bildern und Dokumenten aufgemacht. Der Autor der „aktenmäßigen Schilderung seines wahren Lebens“, Oskar Gerhardt, hatte Selma Sterns Studie geplündert, die Tatsachen verdreht und der Geschichte des Jud Süß die ideologisch konforme antisemitische Tendenz gegeben. Als Buch zum Film veröffentlichte der Ufa-Buchverlag 1941 den Roman „Jud Süß“, der in allen Einzelheiten inhaltlich wie intellektuell den Film Veit Harlans für ein anspruchsloses Lesepublikum adaptierte. Das Buch, mit Szenenfotos aus dem
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Film illustriert, bediente in der schwülstigen, mit Adjektiven überladenen Sprache der NS-Trivialliteratur in hoher Auflage die Anforderungen antisemitischer Propaganda und verband sie mit schlichtem Unterhaltungsangebot. Hinter dem Pseudonym des Verfassers J. R. George verbarg sich der NS-Autor Hans Hömberg (1903–1982), der für den „Völkischen Beobachter“ als Filmkritiker („Kunstbetrachter“) tätig war, Theaterstücke geschrieben hatte und nach 1945 unverfängliche Sachbücher wie „Hundert Weisen, auf Reisen zu speisen“ (1965) oder „Mollige Schlürflust“ (1970) publizierte. Das literarische Sujet „Jud Süß“ überdauerte die NS-Herrschaft und die damaligen antisemitischen Instrumentalisierungen. Während der Harlan-Film als „Vorbehaltsfilm“ nur noch bedingt in der Öffentlichkeit präsent ist, wurde der Stoff – nun mit deutlich philosemitischer Tendenz – im Abstand mehrerer Jahrzehnte neu dramatisiert und in das Bemühen um Aufarbeitung und Versöhnung eingebunden. Breit angelegte biografische Studien wurden von Barbara Gerber (1990) und Hellmut G. Haasis (1998) vorgelegt. Der Medienwissenschaftler Friedrich Knilli zeichnete in Büchern und Aufsätzen die Rezeptionsgeschichte vor allem des Filmes nach. Wissenschaftliche Konferenzen und daraus hervorgegangene Sammelbände wurden dem Thema gewidmet. Das Jud-Süß-Drama, das vom Stuttgarter Schauspielhaus bei Klaus Pohl in Auftrag gegeben und im Dezember 1999 uraufgeführt wurde, enttäuschte allgemein. „Die als erzspießig, korrupt und kleinkariert gezeigte Hofgesellschaft bietet den allzu holzschnittartigen Hintergrund für das gänzlich verzerrte Bild eines ebenso modernen wie extravaganten Träumers. Eine gut gemeinte, aber vertane Gelegenheit“ (Anat Feinberg). Andere Projekte wie die Jud-Süß-Oper Detlev Glanerts, die im Herbst 1999 in Bremen auf die Bühne kam und im Folgejahr einige Male in Regensburg gespielt wurde, fanden wenig Resonanz. Auch die Kammeroper von Gottlieb Blarr, nach dem Feuchtwanger-Roman 2000 in Düsseldorf gespielt, wurde nur begrenzt wahrgenommen. Als Hörspiel, im Fernsehfilm, als Ausstellung (Stuttgart, Haus der Geschichte Baden-Württemberg 2007/2008), in Theaterproduktionen wie „Jud Sauer“ von Adriana Altaras, die in einem jüdischen Altersheim spielt, (aufgeführt im Oktober 2002 im Maxim Gorki Theater Berlin) bleibt der Stoff in der Gegenwart präsent. Als letztes Beispiel seien die Nibelungen-Festspiele Worms genannt, die für die Spielzeit 2011 „Die Geschichte des Joseph Oppenheimer genannt Jud Süss“ in Auftrag gegeben hatten. Nach langwierigen Vorarbeiten legte Joshua Sobol die vierte Fassung eines Stückes vor, die dann vom Regisseur Dieter Wedel noch einmal umgearbeitet wurde, unter Einbezug aller wesentlichen Texte von Hauff über Feuchtwanger bis Kornfeld und Harlan. Joern Hinkel, als Dramaturg wesentlich an der Entstehung des Stücks beteiligt, das in Reaktion auf den Brandanschlag auf die Wormser Synagoge im Mai 2010 auf den Spielplan der Nibelungen-Festspiele gesetzt wurde, beschreibt die Intention der Neuaneignung des Stoffes: „Wir suchen in unserem neuen Stück über den Finanzier Joseph Süß nach der Geschichte hinter der Legende – und entdecken dabei frappierende Parallelen zur Gegenwart. Die Vorurteile und Vorverurteilungen, die Suche nach einem Sündenbock, die infame Propaganda in allen Medien gegen eine bestimmte Person beobachten wir ja fast täglich. Die atemlose Beschleuni-
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gung führt zu immer mehr Substanzverlust. Urteile werden gefällt, ohne dass überhaupt Anklage erhoben wurde. Und wenn die Jagd erst einmal eröffnet ist, wenn eine Person in das Fadenkreuz verschiedener Interessen gerät, dann ist der Gejagte kaum noch zu retten, auch wenn sich die Vorwürfe gegen ihn als völlig haltlos erweisen – so wie damals bei Joseph Süß Oppenheimer.“
Wolfgang Benz
Literatur Curt Elwenspoek, Jud Süß Oppenheimer, Der große Finanzier und galante Abenteurer des 18. Jahrhunderts. Erste Darstellung auf Grund sämtlicher Akten, Dokumente, Überlieferungen, Stuttgart 1926. Volker Gallé (Hrsg.), Joseph Süß Oppenheimer – ein Justizmord. Historische Studien zur Situation der Juden im Südwesten und der Hofjuden im 18. Jahrhundert, Worms 2010. Barbara Gerber, Jud Süß. Aufstieg und Fall im frühen 18. Jahrhundert; ein Beitrag zur historischen Antisemitismus- und Rezeptionsforschung, Hamburg 1990. Hellmut G. Haasis, Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer, Reinbek 1998. Jörg Koch, Joseph Süß Oppenheimer, genannt „Jud Süß“. Seine Geschichte in Literatur, Film und Theater, Darmstadt 2011. Alexandra Przyrembel, Jörg Schönert (Hrsg.), „Jud Süß“. Hofjude, literarische Figur, antisemitisches Zerrbild, Frankfurt am Main, New York 2006. Selma Stern, Jud Süss. Ein Beitrag zur deutschen und jüdischen Geschichte, München, 1973 (Erstdruck 1929).
Der Jude (Roman von Carl Spindler, 1827) Carl Spindler (1796–1855) zählte Mitte des 19. Jahrhunderts zu den meistgelesenen Unterhaltungsschriftstellern in Deutschland. Er schrieb innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl von Romanen, deren literarischer Qualität die Eile ihrer Produktion bisweilen deutlich anzumerken war. Trotz seiner Popularität zu Lebzeiten wurde er von der späteren Literaturgeschichtsschreibung weitgehend ignoriert. Der Roman „Der Jude“ (Stuttgart 1827) aus Spindlers Frühwerk ist zur Zeit des Konstanzer Konzils 1414 bis 1418 angesiedelt und schildert vor diesem historischen Hintergrund in abenteuerlichen Verwicklungen die Geschichte des Frankfurter Patriziersohns Dagobert Frosch, der im Laufe der Handlung seinen Platz im Leben finden und sich dabei gegenüber verschiedensten Unwägbarkeiten und Intrigen behaupten muss. Zentraler Gegenspieler Dagoberts ist der Titel gebende Jude Zodick, später zwangsgetauft Friedrich, der sein intrigantes Ränkespiel gegen Dagobert, dessen Familie und Heimatstadt betreibt. Zodick wird im Kontrast zu dem ehrenhaften Dagobert als grausam und skrupellos dargestellt und verkörpert sowohl in seinem intrigantverschwörerischen Verhalten als auch rein äußerlich („seine ungeschlachte Gestalt, sein rothes Haar, sein schielender Blick“) ein gängiges antisemitisches Stereotyp des 19. Jahrhunderts. Den Ausgangspunkt für den Konflikt dieser beiden so unterschiedlich geschilderten Figuren bildet die liebreizende Esther, die den christlichen Helden in Versuchung führt. Auch diese „schöne Jüdin“ entstammt dem Stereotypen-Arsenal des 19. Jahr-
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hunderts. Esther ist die Tochter von Ben David, Zodicks ehemaligem Lehrmeister. Jener erscheint im Roman im Gegensatz zu seinem Schüler als gutmütig und vernünftig, bedient jedoch gleichzeitig das Klischee jüdischen Profitstrebens. Esther ist eigentlich Zodick zur Ehe versprochen, weigert sich jedoch und fühlt sich stattdessen zu Dagobert hingezogen. Dieser erliegt der von Esther ausgehenden exotischen Verführung, zunächst ungeachtet der mit dieser bürgerlich nicht sanktionierten Allianz einhergehenden gesellschaftlichen Probleme. Der verschmähte Zodick schwört daraufhin ihrer Familie, den Juden und letztendlich der gesamten Menschheit Rache. Seine Pläne gipfeln in einem gigantischen Mordkomplott gegen die Bevölkerung Frankfurts, welcher beinahe auch gelingt, im letzten Moment aber von Dagobert verhindert wird, der den Intriganten zur Strecke bringt. Dagobert und Esther finden jedoch trotzdem nicht zueinander, da sie sich weigert, zu Lebzeiten ihres Vaters zum Christentum zu konvertieren. Daraufhin ehelichen beide ihrer eigenen Konfession angehörige Partner. Vor allem in der Charakterisierung der Figuren rekurriert „Der Jude“ auf eine Vielzahl antisemitischer Klischees. Bei der Darstellung der Lebensbedingungen der Juden im spätmittelalterlichen Frankfurt scheint es Spindler hingegen maßgeblich auf historische Korrektheit anzukommen: Er thematisiert die hoffnungslose Position der Juden am Rande der Gesellschaft, deren Ghettoisierung in der „Judengasse“ sowie schutzloses Ausgeliefertsein gegenüber antisemitischen Verbalattacken und gewaltsamen Übergriffen durch die christliche Mehrheit, ohne dass diese Herabsetzungen durch die Romanhandlung oder die Stimme des Erzählers gerechtfertigt würden. Ein antisemitischer Zug eignet jedoch wiederum der Wahl des Titels: Diese definiert Zodick, der nicht einmal die eigentliche Hauptperson des Romans ist und über weite Strecken gar nicht vorkommt, ausschließlich über seine kulturell-religiöse Zugehörigkeit. Damit beansprucht der Roman für jene durchweg negativ geschilderte Figur prototypischen Charakter hinsichtlich der Einschätzung von Juden im Allgemeinen.
Julia Nantke
Literatur Martin Gubser, Literarischer Antisemitismus: Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998.
Der Jude im Dorn (Märchen von Jacob und Wilhelm Grimm, 1815) Das Märchen „Der Jude im Dorn“ ist seit der 1. Auflage von 1815 in den Kinder- und Hausmärchen in den Ausgaben bis 1945 zu finden. Es geht auf mehrere ältere Fassungen des Stoffes zurück. Diese gleichen zwar strukturell der Grimmschen Bearbeitung, beinhalten aber anstatt der Figur des Juden einen diebischen Mönch. Der Jude wird 1604 von Tobias Mourenin aus Leitomischl (heute Litomyšl, Tschechien) eingeführt. Er nahm dem Text die antikatholische Spitze und lenkte den Spott auf den Juden. Den Gebrüdern Grimm standen sowohl Fassungen mit Mönch als auch mündliche, stark abweichende Fassungen mit einem Juden als Quelle zur Verfügung. Sie wählten nicht nur die Figur des Juden aus, sondern sie verstärkten auch, besonders in der dritten
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Auflage von 1837, die antijüdischen Züge und stellten den Juden explizit als Schuldigen dar. Ein „guter Knecht“ bekommt als Lohn für drei Jahre Arbeit von seinem geizigen Herrn nur drei Heller ausgezahlt. Da er „vom Geld wenig verstand“, ist er zufrieden und macht sich vergnügt auf den Weg. Bald trifft er ein kleines, altes Männchen, dies bittet ihn um sein Geld. Der Knecht verspürt Mitleid und „weil er ein gutes Herz hatte“, gibt er ihm seine gesamte Barschaft. Dafür bekommt er drei Wünsche erfüllt: ein unfehlbares Vogelrohr, eine Fiedel, die alle zum Tanzen animiert, sowie die Versicherung, dass ihm künftig niemand mehr eine Bitte abschlagen wird. Dann begegnet der gute Knecht einem alten Juden, der den Gesang eines Vogels nicht ertragen kann. Der Knecht erlegt den Vogel mit seinem Rohr und gebietet dem Juden, den in eine Dornenhecke gefallenen Vogel zu holen. Kaum ist der Jude, den er jetzt „Spitzbube“ nennt, in den Dornen, spielt der gute Knecht auf seiner Zaubergeige. Der Jude muss tanzen und kann sich erst mit einem „ganzen Beutel Gold“ von seiner Tortur freikaufen. Daraufhin verklagt er den Knecht beim Richter in der Stadt. Der Knecht wird gefangen und als Straßenräuber zum Galgen verurteilt. Seine Erklärung, der Jude habe ihm das Gold freiwillig gegeben, weil dieser „meine Musik nicht vertragen konnte“, wird ihm nicht geglaubt, denn „das tut kein Jude“. Aber der Knecht steigt „ganz ruhig“ die Leiter zum Galgen hinauf. Sein letzter Wunsch, noch einmal seine Geige spielen zu dürfen, wird ihm gewährt. Alle Anwesenden tanzen nun gezwungenermaßen. Unter der Drohung des Knechts, er werde erneut aufspielen, gesteht der Jude, das Geld gestohlen zu haben, und wird gehängt. Das Hauptmittel der Charakterisierung des Juden ist das traditionelle Klischee der jüdischen Geldgier. Der gute Knecht hingegen scheint zunächst überhaupt kein Verhältnis Geld gegenüber zu haben. Ist er anfangs noch mit drei Hellern für drei Jahre Arbeit zufrieden, muss es kurze Zeit später ein ganzer Beutel Gold sein. Als Motiv für das grausame Spiel mit dem Juden im Dorn wird zunächst reiner „Mutwille“ genannt, eine Erklärung, die jedoch sogleich präzisiert wird: „Du hast die Leute genug geschunden, nun soll dirs die Dornenhecke nicht besser machen.“ Zum einen quält der Knecht den Juden, zum Teil aufgrund einer vorgefassten Meinung über ihn, ohne dass dies auch nur durch ein Detail aus dem Leben dieses besonderen Juden belegt zu werden braucht; das grausame Spiel mit dem Juden in der Dornenhecke ist offenbar darauf angelegt, die Richtigkeit dieses Vorurteils zu beweisen. Zum anderen ist die Handlungsweise des Knechts als Ersatzhandlung erkennbar. Was der Jude zu spüren bekommt, ist der verdrängte Zorn des Knechts über die ungerechte Entlohnung durch seinen früheren Dienstherrn; er stellt den Sündenbock dar. Die Funktion des alten Männchens ist es, den Knecht mit magischen Mitteln auszustatten, damit er den Grund der ungerechten Verteilung des Reichtums zutage fördert – den Juden. Was diesem Märchen sein besonderes Profil gibt, ist die Rolle der Musik; sie erweist sich als ein unfehlbares Mittel der Ausgrenzung des Juden aus der Gesellschaft. Zweimal kommt die Zaubergeige zum Einsatz. Interessant ist dabei die anfängliche Motivierung. Der euphemistisch als „Mutwille“ dargestellte antijüdische Affekt hat, neben dem ökonomischen Motiv, eine weitere tiefere Bedeutung: die Musikfeindschaft des Juden. Ihm ist der Gesang des Vogels eine Qual und so ruft er dem Knecht zu: „Wer ihm doch Salz auf den Schwanz streuen könnte!“ Die Redensart ist zweideu-
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tig. Wer so redet, will den Vogel entweder gefangen oder getötet sehen. Der Knecht holt den Vogel mit einem unfehlbaren Schuss vom Baum. Seine nachfolgende Handlungsweise zeigt aber, dass er die von dem Juden veranlasste Tötung des Vogels bedauert. Er zahlt es seinerseits dem Juden mit Musik heim – einer Musik, die nun grausam wirkt. Die übrige Handlung ist darauf angelegt, die Musikfeindschaft des Juden zu unterstreichen und so die Handlungsweise des Knechts zu rechtfertigen. Der Jude versucht zunächst mit: „Lass der Herr das Geigen“, das Unheil abzuwenden, „ich begehre nicht zu tanzen“. Nach dem Tanz in der Dornenhecke ruft er dem Knecht nach: „du miserabler Musikant, du Bierfiedler!“ Und als der Tanz auf dem Richtplatz wieder beginnen soll, wehrt der Jude mit einem „Zetergeschrei“ verzweifelt ab: „Um Gotteswillen, erlaubts nicht … auh weih, auh weih! bindet mich an, bindet mich fest.“ Der Jude fürchtet sich in diesem Märchen vor der Musik und das aus gutem Grund. So verbindet sich in diesem Märchen das Geld-Motiv mit dem Musik-Motiv zu einer tödlichen Konsequenz. 1815 erschien das Märchen erstmalig. Änderungen wurden in späteren Auflagen, besonders in der dritten Auflage 1837 durch Wilhelm Grimm vorgenommen; es wird erheblich erweitert und mit Sprichwörtern, sprichwörtlichen Redensarten und volkstümlichen Floskeln aufgefüllt. Das betrifft vor allem die Figur des Juden, der nun stärker negativ charakterisiert wird. Die Stereotypen des Judenbilds werden hervorgehoben: „Bald darauf begegnete er einem Juden mit einem langen Ziegenbart“ heißt es nun; „Dornen zerrissen den schäbigen Rock“, „kämmten ihm den Ziegenbart“, auch sprachlich wird er nun stärker charakterisiert. Vor allem wird er lächerlich gemacht, als er unter dem Baum steht und dem Vogel lauscht: „Gotts Wunder“, rief er aus, „so ein kleines Tier hat so eine grausam mächtige Stimme! Wenn’s doch mein wäre!“ Schließlich werden die für das Fremdbild der Juden typischen Interjektionen verstärkt; mit „Au weih geschrien“ oder „Gott bewahr“ beginnt fast jeder seiner Sätze. Auch eine falsche Satzstellung wird in die Sprache des Juden eingeführt. Noch deutlicher wird die Tendenz, wenn man die Anrede und wertenden Bezeichnungen berücksichtigt, die bereits in der 1. Auflage den Juden als „Spitzbuben“ und „Schuft“ apostrophieren, während der Knecht ständig als der „gute Knecht“ bezeichnet wird. Geradezu infam aber erscheint die Begründung des Richters: „Das tut kein Jude“ (jemandem freiwillig Geld geben). Das Märchen vom „Juden im Dorn“ liefert wichtige Details zum gesellschaftlichen Bewusstsein im 18. Jahrhundert. Danach fungieren die Juden bei ihren Geldgeschäften als Wucherer und Betrüger. Sie leben in Ghettos, sind von ehrsamen Berufen ausgeschlossen, durch bestimmte Kennzeichen an der Kleidung stigmatisiert und rechtlos. Immerhin gibt es in der Erzählung einen Richter, der sich des Falles annimmt und zunächst auch Recht spricht. Doch dann sind es mehr als widrige Umstände, die dem Juden zum Verhängnis werden. Dass jemand im Märchen unschuldig zum Tod verurteilt wird, begegnet äußerst selten. Hier aber geschieht es. Der gute Knecht, zunächst als Tölpel dargestellt, der ohne Lohn arbeitet, lässt seinen aufgestauten Frust an einem Wehrlosen aus und wird zum Sadisten.
Ramona Ehret
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Literatur Erhard Korn, Der Märchenheld als Judenfeind, Antisemitismus in dem Brüder-Grimm-Märchen „Der Jude im Dorn“, in: Praxis Deutsch 17 (1990), S. 47–51. Hans Rudolf Vaget, „Der Jude im Dorn“ oder: Wie antisemitisch sind „Die Meistersinger von Nürnberg?“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (1995), S. 271–299.
Der Jude von Malta (Tragödie von Christopher Marlowe, 1590) Christopher Marlowes (1564–1593) um 1590 in Blankversen verfasste Tragödie „Der Jude von Malta“ wurde 1592 in London uraufgeführt. In dem Stück des elisabethanischen Dramatikers, ein Konkurrent seines berühmten Zeitgenossen William Shakespeare, steht ähnlich wie in dessen Komödie „Der Kaufmann von Venedig“ (→ The Merchant of Venice) ein Jude im Mittelpunkt des Geschehens. Der Konflikt der drei großen monotheistischen Weltreligionen ist dem Schauspiel thematisch übergeordnet. Dieser wird allerdings nicht wie später in Lessings (1729– 1781) aufklärerischem Drama → „Nathan der Weise“ (1779) durch die Idee der Toleranz aufgelöst. Stattdessen zeichnet der Autor ein düsteres Bild von einem Juden, der als blutrünstiger Bösewicht die Vertreter der Religionsparteien gegeneinander ausspielt, um seine materialistischen Interessen zu verteidigen. Schauplatz der Handlung ist die Mittelmeer-Insel Malta, die im 16. Jahrhundert Spanien unterstellt war und von dem militanten katholischen Ritterorden des heiligen Johannes zu Jerusalem regiert wurde. Marlowe lässt den Versuch der muslimischen Osmanen, die Insel 1565 zu stürmen, durch die Hilfe des Juden von Malta, Barabas, gelingen. Barabas rächt sich damit am maltesischen Gouverneur, der zuvor stellvertretend von ihm als reichem Kaufmann eine hohe Tributzahlung an die Türken eingefordert und sein Vermögen beschlagnahmt hatte. Der Plan von Barabas, die ihm von den Türken übertragene politische Macht gegen Geld an seinen christlichen Vorgänger wieder abzutreten, wird am Ende jedoch vereitelt. Die maltesische Regierung durchschaut das Intrigenspiel des Juden und lässt ihn vor den Augen der türkischen Gesandtschaft verbrennen. Während Shakespeares Werk in Deutschland auch nach 1945 eine freundliche Rezeption erfuhr, blieben die Reaktionen auf Marlowes Schauspielstück gehemmt. Denn im Gegensatz zu Shakespeares Gestaltung des Juden Shylock belegte Marlowe seinen Hauptcharakter nicht nur mit antijüdischen Klischees, sondern ließ ihn auch seine ungeheuerlichen Gewaltfantasien ausleben. Um seinen Besitz zu beschützen und zu vermehren, begeht der jüdische Kaufmann zahlreiche Morde und vergiftet sogar seine Tochter Abigail, die aus Sühne zum Christentum übergetreten war. Mit Aussagen wie „As for myself, I walk abroad o’ nights, And kill sick people groaning under walls; Sometimes I go and poison wells …“ spiegelt Barabas mittelalterlich-antijudaistische Vorwürfe wider, die der Autor durch machiavellistische Motive ergänzt. So wird Barabas zum Symbol von Eigennutz und Selbstinteresse: „Ego mihimet sum semper proximus“ (Mir selber bin ich stets mein nächster Freund). Er verkörpert nicht nur die theologische, sondern auch die säkulare Abspaltung der „universitas judaeorum“, der jüdischen Gemeinschaft, die im 16. Jahrhundert in vielen
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Teilen Europas vom politischen Leben ausgeschlossen war, innerhalb der gesellschaftlichen, ökonomischen und familiären Sphäre dagegen relativ autonom agieren konnte. Zudem erfindet Marlowe in der Kameradschaft zwischen Barabas und seinem türkischen Sklaven Ithamore ein Bündnis zwischen den beiden großen nicht-christlichen Gesetzesreligionen, die sich den Vorwurf der „Verstocktheit“ gefallen lassen müssen. Dass Marlowes „Jude von Malta“ mittlerweile wieder auf Bühnen inszeniert wird, ist dem gespaltenen Diskurs über das Stück geschuldet. Denn obwohl Marlowe die antisemitische Typisierung durchhält, wird die Figur des verräterischen Juden ähnlich wie bei Karl Marx („Zur Judenfrage“) auch als „rhetorisches Instrument“ gedeutet, „das eindrucksvoll genug ist, den tiefverwurzelten Volkshass in eine bestimmte Richtung zu lenken und sein wahres Objekt klar zu kennzeichnen“ (Stephen Greenblatt). Dieses Objekt ist das ökonomische und soziale Verbrechen, das nicht gegen die christliche Gesellschaft, sondern durch eben diese Gesellschaft begangen wird. Der Geist Machiavellis, der im Prolog des Dramas anklingt, schwebt über allem. So gesehen antwortet Barabas lediglich defensiv auf die Machenschaften der christlichen Regierung von Malta, die die Juden nur unter höheren Abgaben zu „ertragen“ bereit ist. Damit widerlegt Marlowe den Antisemitismus nicht, polemisiert aber gleichzeitig gegen das christliche Gemein-Interesse.
Saro Gorgis
Literatur The Cambridge Companion to Christopher Marlowe, hrsg. von Patrick Cheney, Cambridge 2004. Stephen Greenblatt, Marlowe, Marx und Antisemitismus, in: Christopher Marlowe, Der Jude von Malta, dt. Übersetzung von Erich Fried, mit Essays von Karl Marx und Stephen Greenblatt, hrsg. und mit einem Nachwort von Friedmar Apel, 2003².
Die Juden (Lustspiel von Gotthold Ephraim Lessing, 1754) „Meine Lust zum Theater war damals so groß, daß sich alles, was mir in den Kopf kam, in eine Komödie verwandelte“, so heißt es in der „Vorrede“ zum Dritten und Vierten Teil der 1754 von Gotthold Ephraim Lessing herausgegebenen „Schriften“, in denen das Lustspiel „Die Juden“ zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Als einer der ersten Dramatiker seiner Zeit thematisierte Lessing in diesem Stück die Situation der jüdischen Bevölkerung und machte gleichzeitig auf die Vorurteile gegenüber den Juden aufmerksam, erwies deren Fragwürdigkeit und versuchte deren verheerende Wirkung zu schwächen. „Die Juden“ handelt davon, dass ein wohlhabender, gebildeter „Reisender“ einen Baron vor einem Raubüberfall rettet, der von zwei als Juden verkleideten Dieben verübt wird. Der Gerettete sieht in dem ihm selbstlos zur Hilfe eilenden Fremden einen überaus edelmütigen, tapferen und sympathischen Menschen, dem er größte Anerkennung und Dankbarkeit zollt. Als er seinem Retter schließlich die Hand seiner Tochter anbietet, gibt sich der Reisende als Jude zu erkennen. Der Baron reagiert entsetzt: „Ein Jude? Grausamer Zufall! […] So giebt es denn Fälle, wo uns der Himmel selbst verhindert, dankbar zu seyn?“ Auch Christoph, der Diener des Reisenden, kann dessen Offenbarung, Jude zu sein, mit dessen edlem Charakter nicht übereinbringen und
Die Juden (Lustspiel von Gotthold Ephraim Lessing, 1754)
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in sein bestehendes Weltbild einordnen: „Nein, der Henker! Es gibt doch wohl auch Juden, die keine Juden sind.“ Einzig die Reaktion der jungen und naiv-unschuldigen Tochter, die ausruft: „Ei, was tut das?“, spiegelt eine vorurteilsfreie Haltung, die allein die Taten eines Menschen zählen lässt und nicht auf vorgefasste Meinungen zurückgreift. Der Überraschungseffekt am Schluss beruht auf der völligen Nicht-Verschiedenheit und Unauffälligkeit des Reisenden. Je mehr er von den Christen als Mensch mit den edelsten Charakterzügen verehrt wird, umso lächerlicher erscheinen die antisemitischen Vorurteile, die sich durch das ganze Stück ziehen. So spricht einer der Räuber, der den Baron überfallen hat, von den Juden als: „gottloses Gesindel […]. So viel als ihrer sind, keinen ausgenommen, sind Betrüger, Diebe und Straßenräuber. Darum ist es auch ein Volk, das der liebe Gott verflucht hat. Ich dürfte nicht König sein: ich ließ keinen, keinen einzigen am Leben. Ach! Gott behüte alle rechtschaffenden Christen vor diesen Leuten!“ Ein besonderer Effekt ergibt sich hier auch aus der Tatsache, dass sich gerade die Christen so verhalten, wie sie es den Juden unterstellen: Sie sind in Lessings Werk die Straßenräuber, stehlen, betrügen und lügen. Was Lessing zur Konzeption seines Lustspiels bewog, beschreibt er mit folgenden Worten: „Es war das Resultat einer sehr ernsthaften Betrachtung über die schimpfliche Unterdrückung, in welcher ein Volk seufzen muss, das ein Christ, sollte ich meinen, nicht ohne eine Art von Ehrerbietung betrachten kann. Aus ihm, dachte ich, sind ehedem soviel Helden und Propheten aufgestanden, und jetzo zweifelt man, ob ein ehrlicher Mann unter ihm anzutreffen sei? [...] Ich bekam also gar den Einfall, zu versuchen, was es für eine Wirkung auf der Bühne haben werde, wenn man dem Volke die Tugend da zeigte, wo es sie ganz und gar nicht vermutet.“ Lessing betont, dass ihm weniger daran gelegen war, die Juden als Beispiel für irgendein unterdrücktes Volk genutzt zu haben, als vielmehr, ihre gegenwärtige, konkrete Situation ganz lebensnah auf die Bühne zu bringen. Genau darin sollte dann auch das Provokative des Stückes bestehen, von denen die zeitgenössischen Rezensionen Zeugnis ablegen. So schreibt der protestantische Theologe und Professor der Philosophie Johann David Michaelis kurze Zeit nach Erscheinen des Stückes: „Der unbekannte Reisende ist […] so vollkommen gut, so edelmütig, so besorgt […], so gebildet, dass es zwar nicht unmöglich, aber doch allzu unwahrscheinlich ist, dass unter einem Volke von den Grundsätzen, Lebensart und Erziehung, das wirklich die üble Begegnung der Christen auch zu sehr mit Feindschaft oder wenigstens mit Kaltsinnigkeit gegen die Christen erfüllen muss, ein solches edles Gemüt sich gleichsam selbst bilden könne. Diese Unwahrscheinlichkeit störte unser Vergnügen desto mehr, je mehr wir dem edlen und schönen Bilde Wahrheit und Dasein wünschten. Aber auch die mittelmäßige Tugend und Redlichkeit findet sich unter diesem Volke so selten, dass die wenigen Beispiele davon den Hass gegen dasselbe nicht so sehr mindern, als man wünschen möchte.“ Daraufhin erklärt sich Lessing: „Er [Michaelis] gibt zur Ursache der Unwahrscheinlichkeit eines solchen Juden die Verachtung und Unterdrückung, in welcher dieses Volk seufzet, und die Notwendigkeit an, in welcher es sich befindet, bloß und allein von der Handlung zu leben. Es sei; folgt aber also nicht notwendig, dass die Unwahrscheinlichkeit wegfalle, sobald diese Umstände sie zu verursachen aufhören? [… ] Mein Jude ist reich, auf Reisen und bildet sich selbst. […] Besteht man aber dar-
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Die Juden in der Karikatur (Buch von Eduard Fuchs, 1921)
auf, dass Reichtum, bessere Erfahrung und ein aufgeklärter Verstand nur bei einem Juden keine Wirkung haben könnten: so muss ich sagen, dass dieses eben das Vorurteil ist, welches ich durch mein Lustspiel zu schwächen gesucht habe.“
Kristin Nieter
Literatur Karl S. Guthke, Lessing und das Judentum. Rezeption. Dramatik und Kritik. Krypto-Spinozismus, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Band IV, 1977, S. 229–272. Marion Gräfin Hoensbroech, Die List der Kritik – Lessings kritische Schriften und Dramen, München 1976, S. 106–112. Helmut Jenzsch, Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten des 18. Jahrhunderts, Hamburg 1971.
Die Juden in der Karikatur (Buch von Eduard Fuchs, 1921) Eduard Fuchs (1870–1940), einem in der Emigration in Paris gestorbenen Arbeiterintellektuellen mit einer wechselhaften Geschichte in der deutschen Linken (Huonker), ging es darum, den Antisemitismus durch genaue Analyse eines seiner Hauptmedien, der judenfeindlichen Karikatur, zu widerlegen. In seinem 1921 erstmals erschienenen Buch „Die Juden in der Karikatur“ legte er nicht nur eine Materialsammlung vor, die noch heute ihresgleichen sucht, sondern auch eine Methode, die – obwohl im weitesten Sinn der Kunstgeschichte entnommen –, von hoher Eigenständigkeit ist: Wie kein anderer zuvor hat sich Fuchs der spezifischen Darstellungsweise der Karikatur gewidmet und sie ikonografisch, motivgeschichtlich sowie – von marxistischer Ideologiekritik belehrt – als Ausdruck politischer Grundhaltungen und von Klasseninteressen erschlossen. Kein Geringerer als Walter Benjamin würdigte Fuchs dafür in einem großen Aufsatz. Dabei fällt freilich auf, dass Benjamin ausgerechnet Fuchs’ Studie zur judenfeindlichen Karikatur nicht erwähnt. Tatsächlich trägt die Studie von Fuchs einen Januskopf: So sehr nämlich Fuchs – als linker Vertreter einer universalistischen Moral stets solidarisch mit verfolgten Juden – den Antisemitismus als unreflektierte Reaktion auf die letztlich unbegriffene Geldwirtschaft und ihre sozialen Folgen darstellte, so wenig war doch auch er von im weitesten Sinne antisemitischen Annahmen frei. Fuchs, der den zivilisatorischen Fortschritt der Geldwirtschaft zu würdigen wusste, wollte nachweisen, dass dieser Fortschritt vor allem den Juden zuzurechnen ist, weshalb sich angesichts des Antisemitismus ein Erklärungsproblem stellt: „Gibt es einen innerlichen Widerspruch zwischen der geistigen Wesenheit des Judentums und derjenigen der in Europa vor dem Auftreten der Juden ansässigen Völker?“ Als Kronzeugen für die Beantwortung dieser Frage berief sich Fuchs auf den Wirtschaftshistoriker Werner Sombart, der seiner Überzeugung nach als bisher Einziger einen bedeutsamen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage geliefert habe. Für die Lösung dieses „Grundproblems“, so Fuchs, gebe es „nur einen einzigen größeren und bedeutsamen Beitrag“, nämlich das Buch von Werner Sombart „Die Juden und das Wirtschaftsleben“. Sombarts Buch erschien zehn Jahre vor Fuchs’ Studie. Werner Sombart (1863–1941) aber war einer der wenigen deutschen Professoren der wilhelminischen Zeit, der in seinem wissenschaftlichen Werk Karl Marx positiv
Juden ohne Maske (NS-Propagandafilm, 1937)
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bewertete – vor allem in seinem 1896 publizierten Buch „Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert“. Andere Werke Sombarts befassten sich sowohl mit der Kultur des Proletariats, mit der Frage, „Warum gibt es in den USA keinen Sozialismus?“, als auch mit der Rolle des Luxus in der Entwicklung des Kapitalismus. 1915 publizierte Sombart, jetzt Kriegssozialist, „Patriotische Besinnungen“ unter dem Titel „Händler und Helden“, 1934, zum bekennenden Nationalsozialisten geworden, veröffentlichte er die Schrift „Deutscher Sozialismus“ (Lenger). Das Ziel Sombarts beim Abfassen der Schrift über „Die Juden und das Wirtschaftsleben“ war es, Max Webers Untersuchung „Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ mindestens zu ergänzen, wenn nicht gar zu widerlegen. Vor allem wollte er das Wesen des besonders in den USA wirksamen Kapitalismus, genauer dessen „Geist“, den Weber dem Prädestinationsglauben der Calvinisten zugeschrieben hatte, anders erklären, denn, so Sombart (1911) „das, was wir Amerikanismus nennen, ist ja zu einem sehr großen Teile nichts anderes als geronnener Judengeist“. Eine genaue Analyse des Textes von Fuchs zeigt nun, dass er von Sombart nicht nur die Methode wirtschaftshistorischer Analyse, sondern – mit Blick auf das Judentum – auch dessen rassentheoretische Überzeugungen übernommen hat. Im Anschluss an Sombart war auch Fuchs davon überzeugt, dass die Juden eben doch eine andere Rasse gewesen seien, wenngleich Rassenunterschiede an und für sich noch keine Rassenkämpfe auslösen: „In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, dass es absolut nicht der Rassenunterschied zwischen Orientale und Europäer ist, der den Haß gegen die Juden in seinem Kern begründet, sondern dass es einzig der Jude als Kapitalist ist, der den Haß auslöst. Jede geschichtliche Nachprüfung dieser Materie (des Rassenhasses) erweist, dass die andere Rasse immer nur dann und erst dann gehasst wird, wenn sie als gefährlicher wirtschaftlicher Konkurrent auftritt.“ So bleibt ein ambivalenter Eindruck: Eduard Fuchs war als politischer Mensch mit den zumal im russischen Bürgerkrieg von den weißrussischen Bürgerkriegsarmeen verfolgten Juden unbedingt solidarisch, während er andererseits nicht in der Lage war, zu der auch von den meisten marxistischen Analytikern vertretenen These der großen Nähe der Juden zur Geldwirtschaft auf Distanz zu gehen. Dass Werner Sombarts „Die Juden und das Wirtschaftsleben“, das er seinen Analysen zugrunde legte, ein antisemitisches Buch war, scheint ihm darüber völlig entgangen zu sein.
Micha Brumlik
Literatur Walter Benjamin, Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band II, 2, S. 465–505, Frankfurt am Main 1980. Micha Brumlik, Innerlich beschnittene Juden. Zu Eduard Fuchs „Die Juden in der Karikatur“, Hamburg 2013. Thomas Huonker, Revolution, Moral & Kunst. Eduard Fuchs: Leben und Werk, Zürich 1985. Friedrich Lenger, Werner Sombart, 1863–1941. Eine Biographie, München 1994. Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911.
Juden ohne Maske (NS-Propagandafilm, 1937) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
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Das Judenauto (Erzählung von Franz Fühmann, 1962)
Juden, Läuse, Wanzen (NS-Dokumentarfilm, 1941) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Das Judenauto (Erzählung von Franz Fühmann, 1962) Im Erzählungsband „Das Judenauto. Vierzehn Tage aus zwei Jahrzehnten“ (Berlin 1962) setzt sich der Schriftsteller Franz Fühmann mit den Umbrüchen seiner Jugendzeit auseinander. Übergreifendes Thema ist die Wandlung vom überzeugten Katholiken zum Nationalsozialisten und schließlich zum Sozialisten. 1922 in Rochlitz an der Iser (Rokytnice nad Jiserou) im Riesengebirge geboren, besuchte der Apothekersohn bis 1936 das Jesuitenkonvikt Kalksburg bei Wien, danach die Gymnasien in Reichenberg (Liberec) und Hohenelbe (Vrchlabí). Nach der nationalsozialistischen Annexion des Sudetenlandes 1938 trat Fühmann der Reiter-SA bei. 1941 machte er Abitur und diente anschließend als Nachrichtensoldat in der Wehrmacht. 1945 kam Fühmann in sowjetische Kriegsgefangenschaft und wurde in eine Antifa-Zentral-Schule abkommandiert. 1949 ließ sich der zum Sozialismus Bekehrte in der DDR nieder. Bis 1958 arbeitete Fühmann nicht nur als Autor, sondern auch als kulturpolitischer Funktionär einer Blockpartei. Danach war er bis zu seinem Tod 1984 als freier Schriftsteller tätig. Dem Sozialismus stand Fühmann mit fortschreitendem Alter immer skeptischer gegenüber. Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968 wandelte er sich zum entschiedenen Kritiker des SED-Staates. Fühmann zählte zu den Erstunterzeichnern eines Protestbriefes gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, trat als Mentor für unangepasste Nachwuchsautoren auf und unterstützte die junge Friedensbewegung. Der autobiografische Text „Das Judenauto“ ist indes noch vom sozialistischen Realismus geprägt. Die Erzählungen gelten als oberflächlich und klischeehaft. Eine Ausnahme ist die Titelerzählung, die 1931 spielt. Hier zeigt Fühmann auf eindrückliche Weise, wie ein Kind Vorurteile aus der Erwachsenenwelt übernimmt und verinnerlicht. Zu Beginn der Erzählung wird eine Volksschulklasse durch die Schauergeschichte eines Mädchens über ein gelbes „Judenauto“ in Aufregung versetzt. Damit würden vier „schwarze, mörderische“ Juden umherfahren, um Mädchen zu fangen, zu „schlachten“ und aus ihrem Blut „Zauberbrot“ zu backen. Die Juden seien mit langen blutigen Messern unterwegs, und sogar vom Trittbrett des Autos tropfe Blut. In den Nachbardörfern seien ihnen bereits vier Mädchen zum Opfer gefallen: Die Juden hätten sie an den Füßen aufgehängt, ihnen die Köpfe abgeschnitten und das Blut in Pfannen auslaufen lassen. Der neunjährige Ich-Erzähler zweifelt keinen Augenblick am Wahrheitsgehalt dieser modernisierten Ritualmordfantasie. Zwar hat er noch nie Juden getroffen, doch er weiß von den Erwachsenen, dass Juden „krumme Nasen und schwarzes Haar“ hätten und an allem Schlechten in der Welt schuld seien. Zudem hassten sie die Deutschen zutiefst und wollten „uns alle“ vernichten. In der folgenden Schulstunde träumt der Junge, dass er eine heimlich verehrte Mitschülerin aus den Fängen der Juden rettet. Der Lehrer schlägt dem Träumenden mit dem Lineal auf die Hand und lässt ihn wegen Schlafens im Unterricht nachsitzen. Anschließend wagt der Junge sich nicht nach Hause, sondern wandert durch die Kornfel-
Die Judenbuche (Erzählung von Annette von Droste-Hülshoff, 1842)
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der um das Dorf. Als er auf einem Feldweg ein braunes Auto sieht, kommt ihm das „Judenauto“ in den Sinn. Bei näherer Betrachtung erscheint ihm der Wagen „mehr gelb als braun [...], eigentlich gelb, ganz gelb, grellgelb“. Zwar sieht er nur drei Personen im Auto, eine vierte aber könnte sich möglicherweise ducken, um ihn anzuspringen. Zutiefst erschrocken flüchtet der Junge ins Dorf. Am Morgen darauf erzählt er seinen Mitschülern, dass das „Judenauto“ ihn stundenlang gejagt habe und er den Messer schwingenden Juden nur mit Mühe entkommen sei. Während die meisten Kinder bewundernd lauschen, ergreift die heimlich verehrte Mitschülerin das Wort. Am Tag zuvor seien ihr Onkel und zwei Freunde mit dem Auto zu Besuch gekommen. Sie hätten einen Jungen mit grünen Lederhosen (wie der Junge sie trug) schreiend davonlaufen sehen. Solchermaßen bloßgestellt, flüchtet der Junge zur Schultoilette und bricht in Tränen aus. An dieser Demütigung, so schlussfolgert er schließlich nach dem Vorbild der Erwachsenen, trügen einzig und allein „die Juden“ die Schuld. Sie, die alles Elend in der Welt verursacht und auch seinen Vater ruiniert hätten, hätten nun auch bei ihm einen ihrer „hundsgemeinen Tricks“ angewendet, um ihn vor der Klasse zu blamieren.
Petra Rentrop-Koch
Literatur Günther Rüther, Franz Fühmann. Ein deutsches Dichterleben in zwei Diktaturen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B13/2000 (Online-Version).
Die Judenbuche (Erzählung von Annette von Droste-Hülshoff, 1842) „Die Judenbuche – Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen“ von Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) erschien zwischen dem 22. April und 10. Mai 1842 als Fortsetzung im „Morgenblatt für gebildete Leser“, einem bis Mitte des 19. Jahrhunderts weitverbreiteten Unterhaltungsblatt. Ab 1876 erhielt die Erzählung mit der Aufnahme in die Sammlung „Deutscher Novellenschatz“ einen breiten Bekanntheitsgrad. Heute existiert die „Judenbuche“ in acht Sprachen und in 160 Auflagen. Die Ausgangsgeschichte ist ein historisch belegter Kriminalfall, der in der ostwestfälischen Stadt Bökerhof stattgefunden hatte und in der ein Jude das Mordopfer war. Den Hintergrund bildet die Biografie des Dorfbewohners Friedrich Mergel, dessen Lebensweg durch seinen familiären verwahrlosten Hintergrund geprägt ist. Nach dem Tod des Vaters, der im örtlichen Wald, dem Brederholz, aufgefunden wird, zieht sich der Junge von der Außenwelt zurück. Friedrich lebt nun bei seinem Onkel und wird von Gleichaltrigen häufig verspottet. In ständiger Begleitung seines einzigen Freundes Johannes Niemand entwickelt er einen „Hang zum Großtun“, wird aber im Dorf auch gefürchtet. Während eines Dorffestes fordert ein Gläubiger, der Jude Aaron, Friedrichs Taschenuhr als Rückzahlung. Die anwesenden Dorfbewohner verhöhnen Aaron mit den Worten: „Packt den Juden! Wiegt ihn gegen ein Schwein!“ Mittlerweile ein selbstherrlicher und emotional rückständiger junger Mann, fühlt sich Friedrich vor der Dorfbevölkerung bloßgestellt und erschlägt den Juden in der Nacht unter einer Buche,
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Judenfeindliche Karikaturen im 19. Jahrhundert
die fortan den Namen „Judenbuche“ trägt. Er flieht gemeinsam mit Johannes Niemand und kann sich so der Strafverfolgung entziehen. 28 Jahre später kehrt er als „armseliger Krüppel“ aus türkischer Gefangenschaft in das Dorf zurück. Es treibt ihn die Hoffnung an, im Alter eine christliche Beerdigung zu finden. Friedrich erledigt einfache Botengänge, meidet jedoch das Brederholz, in dem die Buche steht. Schließlich begeht er Selbstmord und erhängt sich an der „Judenbuche“. Die Novelle endet mit den Worten: „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.“ Annette von Droste-Hülshoff beschreibt minutiös das Bild einer dörflichen Gesellschaft, in der christliche Frömmigkeit und Wilddiebstahl einander nicht ausschließen. Das „Sittenbild“, das die Dichterin zeichnet, zielt unmittelbar auf eine deutsche, dörfliche Doppelmoral, die auch den Mord an dem Juden Aaron nicht weiter verfolgt. Paradigmatisch sind die Worte der Mutter Friedrichs, als der Junge ihr berichtet, dass er Zeuge gewesen war, wie der Jude Aaron verprügelt wurde. Diese erhebt keinen Einspruch, da die Juden „alle Schelme“ seien. Die Autorin verwendet in der „Judenbuche“ antisemitische Klischees und Vorurteile, so etwa über Juden als Geldverleiher und Wucherer bzw. schreibt ihnen negative Eigenschaften wie Promiskuität zu, da Aarons Witwe bereits nach kurzer Zeit einen neuen Mann habe. Parallel dazu finden sich auch Stereotype des traditionellen christlichen Antisemitismus, z. B. in der Negativdarstellung der Witwe Aarons. Der „Judenvorbehalt“ der einem christlich-katholischen, konservativen Milieu entstammenden Droste-Hülshoff zeigt sich nach Norbert Mecklenburg aber auch in der nicht wertfreien Gegenüberstellung von Christentum und Judentum, dem Rachegelüste immanent seien. Demzufolge beinhaltet die Erzählung „eingelagerte antisemitische Akzente“, die „einen bedauerlichen Schatten auf dieses Meisterwerk deutscher Erzählkunst aus dem 19. Jahrhundert werfen“.
Verena Buser
Literatur Günther Bonheim, Von der Würde der Lebenden und der Toten. Annette von Droste-Hülshoffs „Die Judenbuche“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (2002), S. 212– 223. Winfried Freund, Erläuterungen zu Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche, Textanalyse und Interpretation, Hollfeld 2012. Norbert Mecklenburg, Der Fall „Judenbuche“. Revision eines Fehlurteils, Bielefeld 2008. Hartmut Steinecke, „Nun auf die Juden!“ Literarische Sittengemälde aus Westfalen, in: Confrontations – Accommodations. German-Jewish Literary and Cultural Relations from Heine to Wassermann, Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte 46 (2004), S. 173–185.
Judenfeindliche Karikaturen im 19. Jahrhundert Judenfeindliche Karikaturen sind kein spezifisch neuzeitliches Phänomen. Man findet sie bereits in mittelalterlichen Chroniken und Schriften. Während sie in der Vormoderne noch überwiegend in einem religiösen Kontext standen, lassen sich seit dem 18. Jahrhundert neue Darstellungsformen und Stereotype ausmachen, die bis ins 20. Jahrhundert hinein im Kern gleich bleiben und nur noch den jeweils intendierten politi-
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schen Aussagen angepasst wurden. Im 19. Jahrhundert sorgten in Europa und den USA Innovationen in der Drucktechnik, die Entstehung der Massenpresse und neue Formate wie illustrierte Zeitschriften im Einklang mit der Entstehung eines differenzierten politischen Massenmarktes für die weite Verbreitung antisemitischer Karikaturen. Zu beachten ist, dass judenfeindliche Karikaturen im 19. Jahrhundert nicht allein von Zeitungen und Satirezeitschriften verbreitet wurden. Vielfach bevorzugten die Antisemiten zur alltäglichen Agitation tauglichere Medien, die heute nur noch in Archiven und Privatsammlungen überliefert sind, wie beispielsweise Flugblätter, Volksund Bauernkalender, Bilderbogen, Bildpostkarten (→ Judenspottkarten), Klebemarken, Sammelbilder, Siegel- und Verschlussmarken. Moderne judenfeindliche Karikaturen definieren „den Juden“ über Körper- und Berufsstereotype, die in der Forschung auch als „Visiotype“ bezeichnet werden. Sie standardisierten die bildliche Darstellung von Juden und sorgten für ihre Erkennbarkeit über soziale, konfessionelle, nationale und sprachliche Grenzen hinweg. Die populären Körperstereotype wie Hakennase, besonders hagere oder fettleibige Gestalt, krauses schwarzes Haar, Plattfüße und gestikulierende Hände suggerierten über den Gegensatz zum vorherrschenden Schönheitsideal die ethnische oder rassische Fremdheit der Juden. Die Berufsstereotype schilderten das Agieren der Juden in Wirtschaft und Gesellschaft tendenziell als Bedrohung für die Nichtjuden. Dabei lassen sich zwei Kategorien von Berufsstereotypen ausmachen: zum einen der Ost- oder Landjude, dargestellt als aufdringlicher Hausierer, Trödel- oder Viehhändler mit Schläfenlocken, Kaftan und Zwerchsack, zum anderen der assimilierte Jude als Bankier, Börsianer, Journalist, seltener auch Arzt und Rechtsanwalt. Ausgestattet wurde dieser moderne Typus mit Attributen wie übertrieben modische Kleidung, Schmuck, Regenschirm, Geldsack, Wechsel, Kurszettel und Zeitungen. Sie sollten „den Juden“ als Kapitalisten, Parvenü und dekadenten Zivilisationsmenschen ausweisen. Im Zeitalter der Judenemanzipation und darüber hinaus wurde zunehmend der Übergang von der ersten zur zweiten Kategorie der Berufsstereotype („vom Ostjuden zum Bankier“) ins Bild gesetzt, in der Regel als abwertender Kommentar zu sozialem Aufstieg, rechtlicher Gleichstellung und bürgerlicher Akkulturation der Juden. In Bezug auf das 19. Jahrhundert ist die Präsenz von Körper- und Berufsstereotypen nur ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium zur Definition einer antisemitischen Karikatur. Diese millionenfach reproduzierten Stereotypen reiften in Europa und den USA zu einer kaum noch hinterfragten „sozialen Norm“ heran. Auch anti-antisemitische und jüdische Medien verwendeten sie gelegentlich in ihren Judendarstellungen. Der Antisemitismus verbirgt sich nicht in der Darstellungsweise der Judenfiguren, sondern in der politischen Botschaft, die die Karikaturen kommunizierten. Deshalb wäre es wünschenswert, wenn die zukünftige Forschung die ideologiekritische gegenüber der kunst- und kulturgeschichtlichen Analyse der Karikaturen stärker gewichten würde. Außerdem ist es problematisch, antisemitischen Bildquellen umstandslos eine größere Suggestivkraft gegenüber schriftlichen Quellen zuzubilligen, da antisemitische Karikaturen selten auf Text verzichteten und häufig erst die Kombination aus Bild und Text den antisemitischen Sinngehalt enthüllt. Während es bei den Körper- und Berufsstereotypen kaum nationale Unterschiede gab, variierten die gegen die Juden in den Karikaturen erhobenen Unterstellungen. In
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Großbritannien und den USA wurden die Juden vor allem als unerwünschte Einwanderer dargestellt, denen es an Loyalität gegenüber dem „Gastland“ mangele und die potenzielle Agenten ausländischer Mächte seien. Das Spionagemotiv dominierte auch in Frankreich zur Zeit der Dreyfus-Affäre. Ansonsten stellten die Gegner der Dritten Republik die Juden als Feinde der katholischen Kirche, Hintermänner des Sozialismus und kapitalistische Ausbeuter dar. In deutschen Karikaturen wurden die Juden besonders häufig mit Liberalismus, Kapitalismus und Kosmopolitismus identifiziert. Mittels der Herrschaft über Börse und Presse würden sie die Mehrheitsgesellschaft unterwandern und illegitim beeinflussen. Seit dem späten 19. Jahrhundert trat die Gleichsetzung von Juden und Sozialdemokraten hinzu. In Europa und den USA bedienten antisemitische Karikaturen im 19. Jahrhundert mehrheitlich sozioökonomisch und nationalistisch motivierte, eher seltener religiöse und rassistische Judenstereotypen. Dabei muss allerdings beachtet werden, dass die Diffamierung der jüdischen Religion nie völlig als Karikaturenthema verschwand und dass judenfeindliche Karikaturen aufgrund der Nutzung der Körperstereotypen per se rassistisch waren, auch ohne dieses Thema inhaltlich zu vertiefen. Folgt man der gruppensoziologischen Terminologie Gavin Langmuirs lassen sich im 19. Jahrhundert xenophobe und schimärische Aussagen in antisemitischen Karikaturen unterscheiden. Zunächst dominierten als antisemitische Antwort auf die Judenemanzipation und den sozialen Aufstieg vieler Juden ins Bürgertum xenophobe Aussagen, die sich gegen den Anspruch der Juden richteten, auch Bürger und Nationsgenossen zu sein. Juden wurden als Parvenüs dargestellt, die überall dazugehören wollen, ohne den normativen Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft zu genügen. Der belustigende Effekt der Karikaturen wurde häufig dadurch erzielt, dass Judenfiguren versuchen, bürgerliche Normen und Werte zu imitieren, an ihrem Habitus – festzumachen an Aussehen, Sprache (jiddischer Jargon), „talmudischer Gesetzesethik“, Materialismus und Handelsgeist, mangelnder Reinlichkeit und Tapferkeit – aber letztlich scheitern bzw. entlarvt werden. Während die xenophoben Aussagen der Karikaturen dazu dienten, „ingroups“ wie Bürgertum und Nation zu stabilisieren, prangerten schimärische Aussagen die Juden als Rassen- und Nationsfeinde an und machten sie für empfundene politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Missstände sowie für Krisen, Kriege und Revolutionen verantwortlich. Ausgangspunkt war nicht mehr ein beobachtbares oder auch nur plausibles Verhalten der Minderheit. Vielmehr rückten Verschwörungstheorien und erfundene Zuschreibungen in den Mittelpunkt. Im Unterschied zu Karikaturen mit xenophoben Aussagen fehlt bei Karikaturen mit schimärischen Aussagen jeglicher Belustigungseffekt. Stattdessen geht es diesem Karikaturentyp darum, mit möglichst drastischen Bildern vor der angeblich drohenden „Judenherrschaft“ zu warnen. In diesem Zusammenhang erfreute sich die Entmenschlichung durch Tiermetaphern wachsender Beliebtheit. An die Stelle der Judenfiguren traten Tiergestalten wie Raben, Geier, Spinnen, Ratten, Kraken und Scheine mit „Judengesichtern“. Obwohl in ganz Europa bereits im 19. Jahrhundert antisemitische Karikaturen mit schimärischen Aussagen kursierten, können die russische Oktoberrevolution und das Ende des Ersten Weltkriegs als Zäsur gelten. Fortan wurden zunehmend Verschwörungstheorien wie die Dolchstoßlegende, die „jüdische Weltverschwö-
Judengestalten auf der deutschen Bühne (Buch von Elisabeth Frenzel, 1940)
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rung“, „Rassenschande“ oder die Gleichsetzung von Juden und Bolschewisten kommuniziert. Da judenfeindliche Karikaturen gerade im 19. Jahrhundert Prozesse wie Emanzipation, Akkulturation und sozialen Aufstieg ins Bürgertum kommentierten, sind sie durchaus auch als sozial- und kulturgeschichtliche Quelle außerhalb der Antisemitismusforschung nutzbar. Dabei ist allerdings zu beachten, dass antisemitische Karikaturen niemals jüdische Lebenswirklichkeit spiegelten. Vielmehr übten sie über die ständige Wiederholung eines umfangreichen Stereotypenrepertoires judenfeindliche „Sehgewohnheiten“ ein. Wie erfolgreich die Etablierung von „Sehgewohnheiten“ war, lässt sich daran messen, dass im 20. Jahrhundert die Körper- und Berufsstereotypen der antisemitischen Karikaturen nahtlos auf die neuen Medien Fotografie und Film übertragen werden konnten. Im Unterschied zu den Karikaturen, deren Verfremdungsabsicht auch den zeitgenössischen Rezipienten bewusst war, dürfte die Realitätssuggestion negativer Judendarstellungen in Fotografie und Film ungleich größer gewesen sein.
Thomas Gräfe
Literatur Peter Dittmar, Die Darstellung der Juden in der populären Kunst zur Zeit der Emanzipation, München 1992. Isabel Enzenbach, Wolfgang Haney (Hrsg.), Alltagskultur des Antisemitismus im Kleinformat. Vignetten der Sammlung Wolfgang Haney ab 1880, Berlin 2012. Eduard Fuchs, Die Juden in der Karikatur. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte, München 1921. Thomas Gräfe, Antisemitismus in Gesellschaft und Karikatur des Kaiserreichs. Glöß’ Politische Bilderbogen 1892–1901, Norderstedt 2005. Michael Graetz, Vom Text zum Bild. Die antisemitische Karikatur, in: Michael Graetz (Hrsg.), Ein Leben für die jüdische Kunst. Gedenkband für Hannelore Künzl, Heidelberg 2003, S. 163–179. Michaela Haibl, Antisemitische Bilder – antijüdische Visiotype, in: Werner Bergmann, Ulrich Sieg (Hrsg.), Antisemitische Geschichtsbilder, Essen 2009, S. 231–254. Michaela Haibl, „Vom Ostjuden zum Bankier“. Zur visuellen Genese zweier Judenstereotypen in populären Witzblättern, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 6 (1997), S. 44– 91. Michaela Haibl, Zerrbild als Stereotyp. Visuelle Darstellung von Juden zwischen 1850 und 1900, Berlin 2000. Gavin Langmuir, Toward a Definition of Antisemitism, Berkeley 1990. Julia Schäfer, Verzeichnet. Über „Judenbilder“ in der Karikatur als historische Quelle, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10 (2001), S. 138–155. Regina Schleicher, Antisemitismus in der Karikatur. Zur Bildpublizistik in der französischen Dritten Republik und im deutschen Kaiserreich (1871–1914), Frankfurt am Main 2009.
Judengestalten auf der deutschen Bühne (Buch von Elisabeth Frenzel, 1940) Im März 1938 meldete sich die junge Germanistin und Theaterwissenschaftlerin Elisabeth Lüttig-Niese, spätere Frenzel (geb. 28. Januar 1915) an der Berliner Friedrich-
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Judengestalten auf der deutschen Bühne (Buch von Elisabeth Frenzel, 1940)
Wilhelms Universität zur Promotion an. Ihre Dissertation war in den Jahren zuvor vom Reichsdramaturgen Rainer Schlösser im Rahmen des „Reichsberufswettkampfs“ gefördert worden, an dem Frenzel als eine von vier Doktorandinnen der Berliner Universität teilgenommen hatte. Das Thema der Promotionsschrift lautete „Die Gestalt des Juden auf der neueren deutschen Bühne“, Berichterstatter waren der Vorstand des Theaterwissenschaftlichen Instituts, Julius Petersen, und der seit 1937 in Berlin lehrende Hennig Brinkmann. Die Druckausgabe der Dissertation erschien 1940 im Bühler Verlag „Konkordia“, die Buchhandelsausgabe aus dem gleichen Jahr trägt den Titel „Judengestalten auf der deutschen Bühne. Ein notwendiger Querschnitt durch 700 Jahre Rollengeschichte“ (München, Deutscher Volksverlag); eine zweite Auflage des Buches erschien 1942 in veränderter Ausstattung. In ihrer Arbeit dankt Frenzel, neben dem genannten Personenkreis, auch ihrem Ehemann Herbert A. Frenzel, den sie 1938 nach Abschluss der Promotion geheiratet hatte, für „die Erweiterung meines wissenschaftlichen Interesses auf die aktuellen kulturpolitischen Fragen“. Die Lektüre von Frenzels Arbeit hinterlässt ein ambivalentes Bild: Oberflächlich gibt sie einen materialreichen Längsschnitt über jüdische Theaterfiguren in der deutschsprachigen Literatur vom 13. Jahrhundert bis zum Jahr 1933 mit Seitenblicken vor allem nach Frankreich und England. Allerdings geht die motivgeschichtliche Studie weit über eine rein theaterwissenschaftliche Untersuchung hinaus und sieht sich als Beitrag zu aktuellen politischen Fragestellungen: „Übergeordneter Gesichtspunkt mußte der politische sein. Es sollte gezeigt werden, daß die Stellung, die das neue Deutschland heute zur Judenfrage wie zum Theater einnimmt, nicht an die politische Tagesnotwendigkeit gebunden, sondern in Deutschland von Ursprung an vorhanden gewesen ist.“ Unter dieser Prämisse wird die Arbeit zu einem Instrument antisemitischer Hetze, in der sich faktisches Wissen und nationalsozialistische Propaganda immer wieder miteinander verbinden. Frenzels Untersuchung ist daher in erster Linie als eine politische Verfallsgeschichte deutscher Kultur am Beispiel des Dramas zu lesen, die sich in aller Kürze so zusammenfassen läßt: Während es im mittelalterlichen Spiel noch einen „instinktiven, untheoretischen aber ganz eindeutigen Antisemitismus“ gibt, löst der spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommende „Philosemitismus […] mit Absicht die rassischen Unterschiede der Charaktere“ bis zur vermeintlichen Unkenntlichkeit aus. „Hatte zu Beginn der Judenbefreiung einst Lessing damit begonnen, die Juden gelten zu lassen, wenn sie sich nach deutschem Wertmaßstab bewährten, und hatten sich die Juden dem im 19. Jahrhundert unterworfen, so ließ die vom Gastvolk zum Herrentum aufgerückte Judenschaft nur noch die Deutschen gelten, die vor ihren Maßstäben bestehen konnten.“ Frenzels Studie ist durchsetzt mit antisemitischen Stereotypen und stellt sie als Kennzeichen der degenerativen Folgen einer jüdischen Überfremdung dar: Geldgier, Gewinnsucht, Wucher, Schacher, Arglist, Neid, Herrschsucht und Feigheit gehören ebenso zum Repertoire antisemitischer Rollenzuschreibungen wie Treulosigkeit, Betrug, Mauscheln, Verstellung, Lüsternheit und Zügellosigkeit. Lange Zeit sei der Jude auf dem Theater vor allem als komische Rolle angelegt gewesen und bildete eine notwendige Randfigur realistischer Bühnenrepräsentation. Erst die Theaterreformen des 18. Jahrhunderts habe den Juden als Rollenfach etabliert und ihm damit einen eigenen Platz im deutschen Theater gesichert, der sich immer mehr ausbaute und durchweg an
Das Judengrab (Erzählung von Ricarda Huch, 1905)
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Ernsthaftigkeit und Attraktivität gewann. Ein problematischer Höhepunkt dieser Entwicklung war nach Frenzel Lessings → „Nathan der Weise“; es kostet die Autorin einige Mühe, die durchweg jüdischen Kontexte dieser Theaterfigur aufzulösen und als Folgen einer zeitgebundenen Verirrung Lessings darzustellen, denn Lessing habe „die verderblichen Folgen der Expansion und Assimilation des Judentums nicht ahnen“ können. Vielmehr war der Fall Lessing für Frenzel ein perfides Beispiel von „Parasitentum“, das für sie ein Grundproblem der Assimilation bildete. Besonders die „Mischehe“ nennt sie als wiederkehrendes verderbliches Muster der in ihren Augen problematischen Verbindung von jüdischem Leben und deutscher Kultur. Die rassistische und antisemitische Ideologie der Zeit findet sich auf allen Ebenen des Buches. Selbst im Literaturverzeichnis sind die Namen jüdischer Autoren mit einem Sternchen („* = Jude º = Teiljude“) gekennzeichnet und damit deutlich von „arischen“ Autoren geschieden. Frenzels Dissertation war der Ausgangspunkt für ihren durchaus erfolgreichen beruflichen Werdegang im nationalsozialistischen Wissenschaftssystem: Ab Dezember 1940 bereitete sie als freie Mitarbeiterin für das „Institut zur Erforschung der Judenfragen“ und später als Leiterin des „Amtes Theater im Amt Rosenberg“ in Ratibor ein (verschollenes) „Lexikon der Juden im Theater und im Film“ vor. Es ist davon auszugehen, dass Frenzels „Lexikon“ faktisch dafür mitverantwortlich gewesen wäre, „die Existenz der Juden im öffentlichen Leben Deutschlands“ und besonders im Bereich Theater und Film endgültig auszulöschen. Auf die zahlreichen antisemitischen Schriften, die Frenzel bis 1945 publizierte, wurde in den 1960er- und den 1990er-Jahren immer wieder öffentlich hingewiesen (u. a. Boge, Goßens, Harders, Radvan, Wicclair). Frenzel selbst hat nie zu diesen Vorwürfen Stellung genommen und im Nachkriegsdeutschland eine Karriere als bekannte Handbuchautorin erlebt.
Peter Goßens
Literatur Birgit Boge, Die Anfänge von Kiepenheuer & Witsch. Johann Caspar Witsch und die Etablierung des Verlags (1948–1959), Wiesbaden 2009. Peter Goßens, „Vom Inhalt der Literatur“. Elisabeth Frenzel und die Stoff- und Motivforschung, in: Komparatistik 2000/2001. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Heidelberg 2001, S. 128–136. Levke Harders, Studiert, promoviert: Arriviert? Promovendinnen des Berliner Germanistischen Seminars (1919–1945), Frankfurt am Main u.a. 2004. Florian Radvan, „… mit der Verjudung des deutschen Theaters ist es nicht so schlimm“. Ein kritischer Rückblick auf die Karriere der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Frenzel, in: German Life and Letters 54 (2001) 1, S. 25–44. Walter Wicclair, Das fatale Loch in der Berliner Theatergeschichte (1966), in: Marta Mierendorff, Walter Wicclair, Im Rampenlicht der „dunklen“ Jahre. Aufsätze zu Theater im „Dritten Reich“, Exil und Nachkrieg, hrsg. von Helmut G. Asper, Berlin 1989, S. 17–42.
Das Judengrab (Erzählung von Ricarda Huch, 1905) Die Erzählung „Das Judengrab“ von Ricarda Huch (1864–1947) erschien 1905. Die Handlung setzt mit dem Zuzug des Juden Samuel nach Jeddam ein, durch den der la-
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Das Judengrab (Erzählung von Ricarda Huch, 1905)
tent vorhandene Antisemitismus der Bewohner dieses fiktiven Ortes zutage tritt. Seine konfessionell gemischte Familie – Samuels Frau Rosette ist auch nach ihrer Heirat katholisch geblieben und hat ihre gemeinsamen Kinder in diesem Glauben erzogen – ist ständigen Repressalien ausgesetzt, die in der Weigerung eines Arztes gipfeln, den schwer erkrankten Samuel zu behandeln. Daraufhin beschließt die Familie, den Ort zu verlassen. Da sie bei der Abwicklung ihres Eigentums große wirtschaftliche Verluste zu erwarten hätten, entschließen sie sich zu einer List. Sie geben den Tod Samuels bekannt, der allerdings gesundet ist und unbemerkt das Dorf verlässt. Um die Illusion von Samuels Tod aufrechtzuhalten, soll ein echtes Begräbnis stattfinden, bei dem eine Puppe an Samuels Stelle begraben werden soll. Herr Ive, ihr Gutsverwalter und Bräutigam der Tochter, wird mit der Organisation des Begräbnisses und der Abwicklung des Besitzes der Familie betraut. Rosette, die in Jeddam geboren wurde und deren Familie ein Grab auf dem örtlichen Friedhof besitzt, will ihren Mann ebendort begraben lassen. Sowohl die geistlichen wie die weltlichen Autoritäten verweigern ihr dies aber. „Du hast ein Greuel in deine Familie und unsre Gemeinde gebracht, Weib, aber auf unsern Friedhof sollst du ihn nicht bringen. Es gibt genug Kehricht auf der Erde, wohin ihr eure ungläubigen Knochen werfen könnt, unserm heiligen Gottesgarten sollen sie fernbleiben!“, erwidert der Pfarrer auf ihre Bitte und mobilisiert im Gegenzug die Bevölkerung von Jeddam gegen Rosette, ihre Familie und das Begräbnis. Der Gemeinderat spricht Rosette gleich ganz ihre Rechte ab („die Frau eines Juden hat keinerlei Recht mehr in Jeddam“), und der Bürgermeister argumentiert juristisch wie rhetorisch findig, dass Samuel ohnehin nie ein Teil der Bevölkerung Jeddams gewesen sei: „Es gibt hier keine jüdische Gemeinde, oder, was dasselbe sagen will, keine Juden. Gibt es aber keine Juden hier, so gibt es auch keinen Juden und so hat Herr Samuel, der ein Jude war, im rechtlichen Sinne hier niemals existiert. […] Die Gemeinde als solches muss ihn als nie dagewesen betrachten und kann ihn infolgedessen auch nicht begraben.“ Die Familie beharrt weiter auf einer Bestattung und so soll Samuel als Kompromisslösung in jener Ecke des Friedhofs begraben werden, in der die ungetauften Kinder bestattet sind. Neuerlich hetzt der Pfarrer die Bevölkerung auf, es kommt während des ersten Versuches, die Puppe Samuels zu begraben, zu Ausschreitungen und Krawallen, die erst enden, als der Bürgermeister vorgibt, den Kaiser um eine endgültige Entscheidung zu bitten. In Wirklichkeit holt er sich von dem Kommandanten einer benachbarten Garnison für den Fall weiterer Unruhen militärischen Beistand und kommt mit Soldaten nach Jeddam zurück. Das Begräbnis findet statt, die Konflikte aber bleiben und weiten sich aus: „Allmählich geriet der tote Jude, der die Ursache des langwierigen Kampfes gewesen war […], in Vergessenheit, und sie [die Dorfbewohner] benutzten die Gelegenheit, um allerlei alten Hader auszufechten, taten sich alle erdenklichen Übel an, und es gab so viel blutige Köpfe, gebrochene Gliedmaßen und brennende Scheuern, daß Ärzte, Bader, Polizei und Löschmannschaft Tag und Nacht vollauf zu tun und zu laufen hatten.“ Der Pfarrer, der für den Fall, dass ein Jude auf dem Friedhof bestattet würde, mit Mord und Totschlag als Konsequenz und göttlicher Strafe gedroht hatte, sieht sich bestätigt. Er ermuntert ein junges Paar, die Leiche Samuels auszugraben und in einen Fluss zu werfen. Dies geschieht, das Paar bemerkt den Schwindel, behält es aber für
Judenkunst in Deutschland (Buch von Walter Hansen, 1941)
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sich. Die Konflikte im Ort legen sich nach einiger Zeit, was der Pfarrer als Resultat seines Tuns und der Bürgermeister als Ergebnis seiner Absprachen mit dem Garnisonskommandanten sehen. Ricarda Huch war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine der bekanntesten deutschen Intellektuellen. 1864 in Braunschweig geboren, ging sie, um als Frau studieren zu können, 1888 in die Schweiz, wo sie an der Universität Zürich im Fach Geschichte promovierte. Ihr historisches Interesse schlug sich auch in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit nieder: Sie publizierte nicht nur Werke über schweizerische, deutsche, russische und italienische Geschichte, sondern entnahm oft auch die Stoffe für ihre Romane und Erzählungen diesen Themenkreisen. Als prononcierte Gegnerin nationalsozialistischer Politik verweigerte sie dem neuen Regime 1933 die verlangte Loyalitätsbekundung; 1937 wurde gegen sie wegen prosemitischer Äußerungen ein Gerichtsverfahren eingeleitet, das allerdings für sie ohne Folgen blieb. Huchs Werk verweigert sich einer eindeutigen Kategorisierung. Sie war wenig in den historisch-wissenschaftlichen Diskurs ihrer Zeit eingebunden und wurde viel mehr als Schriftstellerin denn als Historikerin wahrgenommen. Zu ihren Lebzeiten erfolgreich und geschätzt, sind ihre Bücher einem breiteren Publikum heute nahezu unbekannt.
Martina Aicher
Literatur Jutta Bendt, Karin Schmidgall (Hrsg.), Ricarda Hurch 1864–1947. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, Marbacher Kataloge 47, Marbach am Neckar 1994. Barbara Bronnen, Fliegen mit gestutzten Flügeln. Die letzten Jahre der Ricarda Huch 1933– 1947, Zürich, Hamburg 2007.
Judenhass (Comic von David Sim, 2008) → Comics
Judenkunst in Deutschland (Buch von Walter Hansen, 1941) Das Buch „Judenkunst in Deutschland“ von „Dr. Walter Hansen“ wurde „als Manuskript gedruckt“. Es trägt die Untertitel „Quellen und Studien zur Judenfrage auf dem Gebiet der bildenden Kunst“ und „Ein Handbuch zur Geschichte der Verjudung und Entartung deutscher Kunst 1900–1933“. Das Vorwort ist gezeichnet: „Im Felde 1941. Walter Hansen“. Es wird also auf den ersten Seiten alles getan, das Buch als solide Arbeit eines mit vollem Einsatz für Deutschland kämpfenden Wissenschaftlers erscheinen zu lassen. Diese scheinbare Wissenschaftlichkeit soll auch durch die zahlreichen Zitate und Auflistungen von Namen und Institutionen unterstrichen werden. Als Ziel wird im Vorwort benannt, „Aufschluß [zu] geben über das Ausmaß jüdischen Einflusses auf das deutsche Kunstschaffen vor der Machtübernahme“, denn: „Der Jude ist unser ärgster Feind, da er seit 1918 in seinem Gastlande planmäßig die Zersetzung des deutschen Geisteslebens auf allen kulturellen Gebieten betrieben hat.“ Das erste Kapitel über die „Politischen Hintergründe des Kunstverfalls“ wird eingeleitet mit einem Zitat Walther Rathenaus über die Vorteile des intellektuellen „preußischen Bolschewismus'“ gegenüber dem proletarischen russischen. Auf Rathenau als
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„Judensau“-Motiv
„Wortführer“ einer „asiatischen Horde auf märkischem Sande“ wird in dem Buch immer wieder Bezug genommen. Die folgenden Kapitel lauten: „Judenkunst und Freimaurertum“, „Verjudung deutscher Kunsterziehung“, „Jüdische und judenverseuchte Presse“, „Jüdische Künstler“, „Verjudung der Künstlerverbände und Kunstvereine“, „Jüdischer und judenhöriger Kunsthandel“ und „Museumspolitik der Systemzeit“. Mit der Darstellung oder Auflistung einer verwirrenden Fülle tatsächlicher und scheinbarer Beziehungsgeflechte wird immer aufs Neue versucht, jene „planmäßige Zersetzung“ nachzuweisen, wobei das Kapitel über den Kunsthandel erstaunlich kurz ausfällt. Im letzten Kapitel werden die „Erfolge“ der „Nationalsozialistischen Kunstpolitik“ dargestellt: „Die Entjudung der deutschen Kunst wurde von allen zuständigen Dienststellen der NSDAP. und des Staates mit größter Sorgfalt durchgeführt, denn nur so konnte das deutsche Volk den verschütteten Glauben an die deutsche Kunst wiedergewinnen.“ Dabei wird die Ausstellung → „Entartete Kunst“ von 1937, an der maßgeblich mitgewirkt zu haben Hansen sich mehrfach rühmt, als Schlüsselereignis in den Mittelpunkt gestellt. Der Autor, Walter Hansen (1903–1988), war Zeichenlehrer, Vorgeschichtler und Völkerkundler. Bereits in den zwanziger Jahren hatte er in Fachkreisen einen zweifelhaften Ruf. Wegen seines ausgeprägten Intrigantentums stieß er auch in nationalsozialistischen Führungskreisen auf Ablehnung. Trotzdem gelangte er immer wieder an einflussreiche Stellen. Das von Hansen im Auftrag des Erziehungsministeriums begonnene Archiv „Entartete Kunst“ blieb in den Anfängen stecken und wurde der Nationalgalerie übergeben. Als er bei einer Museumsleitertagung im November 1937 Rembrandt als „Ghettomaler“ diffamierte, verließen mehrere Direktoren unter Protest den Saal, was ein internationales Presseecho hervorrief. In einem Parteiverfahren wurde Hansen 1938 aus der NSDAP ausgeschlossen, 1940 durch das Oberste Parteigericht wieder aufgenommen. Nach dem Krieg hielt er sich einige Jahre auf Island auf und war danach unter dem Namen Haye W. Hansen als Zeichenlehrer an mehreren Schulen in Schleswig-Holstein tätig, wo er jeweils nach Protesten wegen seiner NSkonformen Kunstanschauungen versetzt bzw. schließlich entlassen wurde.
Andreas Hüneke
Literatur Anja Heuß, Walter Hansen – Ein gescheiterter Prähistoriker als NS-Kunstpolitiker, in: Jahresschrift für mitteldeutsche Vorgeschichte 85 (2002), S. 419–432. Christoph Zuschlag, „Entartete Kunst“. Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland, Worms 1995.
„Judensau“-Motiv Das im Mittelalter entstandene Schmähbild der „Judensau“ wurde acht Jahrhunderte lang in verschiedensten Varianten reproduziert. Mit wenigen Ausnahmen (Uppsala in Schweden, Evora in Portugal, Chartres in Frankreich) stammen die bekannten Darstellungen aus dem deutschen Sprachraum oder doch wenigstens aus seiner Nähe (Aerschot, hier als Variante mit einem Ziegenbock). Insgesamt lassen sich 48 Beispiele aus der plastischen Kunst nachweisen. Doch ist damit zu rechnen, dass die Zahl der
„Judensau“-Motiv
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Darstellungen früher höher war, da Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts von weiteren Schmähbildern sprechen, die heute nicht mehr genau lokalisierbar sind. Die Mehrzahl der nachgewiesenen Plastiken existiert noch heute, viele davon sind stark verwittert oder beschädigt. Die älteste bekannte Darstellung an einem Kapitell im Kreuzgang des Doms zu Brandenburg an der Havel stammt aus den Jahren um 1230. Sie zeigt ein Mischwesen mit einem Schweinekörper und einem menschlichen Kopf, der mit dem Judenhut bedeckt ist, einer Kopfbedeckung, die männlichen Juden seit dem IV. Laterankonzil 1215 als Standestracht vorgeschrieben war. Noch nach dem Ersten Weltkrieg kursierten Postkarten, die unter der Beischrift „Levys Werdegang“ einen Juden zeigen, der auf einem Schwein reitend einem anderen Juden einen prall gefüllten Geldbeutel übergibt. Zur selben Zeit verkaufte ein Bäcker aus dem unterfränkischen Dettelbach sogenannte Spottmodeln. Dieses Gebäck stellte ebenfalls einen Juden dar, der auf einem Schwein reitet. Im 13. Jahrhundert ist das „Judensau“-Motiv zunächst im Inneren verschiedener Kirchen nachweisbar, so im Xantener Dom, in der Eberswalder St. Maria Magdalena Kirche, einer Kapelle des Magdeburger Doms sowie der Marienkirche in Lemgo. Die älteste bekannte Darstellung am Außenbau, einem Wasserspeier an der Stiftskirche in Wimpfen, stammt aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Schon bald nach dem Auftauchen von Holzschnitten und Einblattdrucken im 15. Jahrhundert wird das „Judensau“-Motiv mittels dieser neuen Medien verbreitet (die älteste grafische Darstellung stammt aus dem Jahr 1470) und teilweise mit derb-fäkalischen Spruchbändern kommentiert. Im 15. Jahrhundert taucht das Motiv erstmals an Profanbauten auf, eines der ältesten Beispiele befindet sich am äußeren Tor der Burg im mittelfränkischen Cadolzburg, es ist zudem eine der größten bekannten Darstellungen des „Judensau“-Motivs. Im 13. Jahrhundert war der Bildtyp noch nicht festgelegt, nach dem Mischwesen aus Brandenburg taucht ein Jude auf, der das Schwein kniend küsst (Lemgo) oder sich an die Zitzen der Muttersau drängt und dabei ein Ferkel beiseiteschiebt (Bad Wimpfen). Im 14. Jahrhundert verfestigt sich das Motiv, das nun eine symbiotische Beziehung zwischen Mutterschwein und Juden suggeriert: In der Regel mit dem Judenhut gekennzeichnete männliche Juden machen sich an Maul oder Ohren, der Analregion und/oder den Zitzen der Sau zu schaffen (Wittenberg-Stadtkirche St. Marien, Regensburger Dom, Nürnberg-St. Sebald). Mitunter findet sich eine Figur, die – häufig verkehrt herum – auf ihr reitet. Letzteres wird vor allem im 17. und 18. Jahrhundert populär. Gelegentlich verbindet sich das „Judensau“-Motiv mit Ritualmordvorwürfen gegen Juden (Chorgestühl im Kölner Dom), namentlich beim Tod des zweieinhalbjährigen Simon von Trient 1475 (Wandgemälde in Frankfurt am Main, bis 1801 im Durchgang des alten Brückenturms sichtbar). In der Folgezeit wurde das Motiv in verschiedenen Einblattdrucken, plastischen Darstellungen, Spielkarten und Legenden weiter tradiert. Noch im 19. Jahrhundert waren verschiedene Varianten von „Judensau“-Darstellungen gebräuchlich. Besonders drastisch war das Titelbild der 1822 im schweizerischen Aarau erschienenen antisemitischen Hetzschrift „Die Judenschule“ des Hartwig von Hundt-Radowsky: Sechs Ju-
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Judenspottkarten
den saugen gierig an den Zitzen eines auf dem Boden liegenden Schweines, weitere drängen hinzu. Die Anfänge des Motivs im Kircheninneren schließen Juden als primäre Adressaten der Schmähfigur aus. Ursprünglich gehört das „Judensau“-Motiv in allegorische Laster- und Tugenddarstellungen. Für die christlichen Beobachter macht es Juden als Paradigma des sündigen Menschen erkennbar. Im Spätmittelalter verschwindet diese Dimension und in immer obszöneren Varianten wird das Motiv zum bloßen antijüdischen Schmähbild. Seine besondere Pointe erhält es dadurch, dass das Schwein in der christlichen Ikonografie ein Symbol für den Teufel ist. Die Polemik des Johannesevangeliums („Ihr habt den Teufel zum Vater und nach eures Vaters Gelüste wollt ihr tun“, vgl. Joh 8,44) findet in den säugenden Juden ihre bildliche Transformation. Die Darstellung am Regensburger Dom betont diesen Akzent, indem sie die „Judensau“Plastik in den Kontext einer Affenfigur stellt, auch sie ein Sinnbild des Teufels. An diese Verteufelungstradition knüpft Martin Luther in seiner Schrift „Von den Jüden und jren Lügen“ aus dem Jahr 1543 an. Ausgehend von der Wittenberger „Judensau“-Plastik an der Stadtkirche polemisiert er gegen den Talmud und stellt ihn als Erzeugnis der Sau vor. Seine Bildinterpretation gipfelt darin, dass er das Mutterschwein als Quelle des jüdischen Verständnisses vom unaussprechlichen Namen Gottes bezeichnete, womit das Tetragrammaton JHWH, mithin Gott selbst, gemeint ist. Luthers Tiraden passten sich nicht nur dem Niveau der „Judensau“-Plastik an, sondern wurden einige Jahrzehnte später als Inschrift („Rabini Schem HaMphoras“) oberhalb der Figur an der Stadtkirche dauerhaft eingemeißelt.
Axel Töllner
Literatur Hans-Christoph Dittscheid, Von Ecclesia und Synagoge zur „Synagogenkirche“. Der christlich-jüdische Konflikt in der Ikonographie der Regensburger Kunst, in: Das Münster 60 (2007), S. 74–86. Oliver Gußmann, Die so genannte „Judensau“, in: Begegnungen 3 (2001), S. 26–28. Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Hamburg 1991. Hermann Rusam, „Judensau“- Darstellungen in der plastischen Kunst Bayerns. Ein Zeugnis christlicher Judenfeindschaft, in: Begegnungen, Sonderheft März 2007. Isaiah Shachar, The Judensau. A Medieval Anti-Jewish Motif and its History, London 1974.
Die Judenschule (Schwank von Karl Borromäus Sessa, 1815) → Unser Verkehr
Judenspottkarten Judenspottkarten sind Bildpostkarten judenfeindlichen Inhalts aus der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Sie sind auch aus anderen Ländern bekannt (wie Russland, Polen, Tschechien, Frankreich, England, USA), dort aber weniger gut dokumentiert; viele der Motive sind ähnlich, wenn auch die Akzentsetzung gemäß dem gesellschaftlich-politischen Kontext variiert. So wird in den Karten aus dem rückständigen zaristischen Russland gegen Juden als raffgierige Bankiers und aufstrebende Stu-
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denten polemisiert (wohl wegen des hohen Anteils von Juden in diesen Bereichen), aber auch gegen Juden als radikale Revolutionäre; in der späteren Bildpropaganda der Weißgardisten werden Juden und Bolschewisten gleichgesetzt. In den polnischen und tschechischen Karten vor 1918 werden die Juden als scheinassimiliert und als Agenten fremder Interessen attackiert, aber auch als ausbeuterische Kapitalisten. Ähnliche Motive finden sich auf den zeitgleichen französischen Karten, während in den späteren Karten aus der Zeit der Wirtschaftskrise und der Volksfront unter Léon Blum die Gefahr einer „République juive“ beschworen wird. Die englischen Karten polemisieren gegen Juden als Bankiers und Börsianer oder als geheime Herrscher Englands, während die harmloseren amerikanischen Karten Juden als unzureichend angepasste Fremde – arme Trödler wie reiche Bankiers – verspotten. Die deutschsprachigen Judenspottkarten zeigen die verschiedensten Themen und Stereotypen: die physiognomische Diffamierung „jüdischer“ Gesichtszüge (Hakennase, Wulstlippe, fliehende Stirn, krause Haare), die Stigmatisierung der Juden als Wucherer, ihre Darstellung als armselige Trödler wie als reiche Bankiers, ihre Karikatur als feige Soldaten wie als gerissene Kriegsgewinnler; ebenso gibt es Bildsatiren auf jüdische Eigennamen, auf jüdische Gäste in Kur- und Badeorten (Bäderantisemitismus) wie auf jüdische Händler während der großen Messen; schließlich reichen die Satiren bis zum Vorwurf des Voyeurismus und der sexuellen Belästigung. Die Judenspottkarten sind ein triviales, aber aussagekräftiges Medium, an dem sich die vielfältigen Erscheinungsformen des Alltagsantisemitismus zeigen lassen. Das gilt vor allem für die Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs, als das Massenmedium der seit 1885 zugelassenen Bildpostkarten seine größte Verbreitung fand. Nach dem Ersten Weltkrieg ging der Gebrauch der Bildpostkarten und damit auch der Judenspottkarten deutlich zurück, wohl weil sie durch andere Medien (illustrierte Zeitschriften, Plakat und Telefon) zunehmend verdrängt wurden. Um die Jahrhundertwende, der Blütezeit der Judenspottkarten, waren jedoch die Bildpostkarten ein Massenmedium mit jährlich rund 500 Millionen gedruckten Exemplaren, vor allem Ansichts-, Grußund Glückwunschkarten. Nur ein relativ kleiner Teil (ca. 10 Prozent) war speziellen Themen gewidmet, wie der Verspottung bestimmter Gruppen, etwa der Juden. Diese judenfeindlichen Karten machen wiederum nur einen geringen Teil der Humor- und Spottkarten aus, bilden aber einen wichtigen, in der Antisemitismusforschung lange Zeit kaum beachteten Indikator für die Verbreitung judenfeindlicher Vorurteile und Stereotypen. Das gilt insbesondere für die Hauptbenutzer der Judenspottkarten, die Mittelschicht des städtischen Bürgertums. Den übrigen sozialen Gruppen waren die Bildpostkarten zu teuer (Arbeiter, Bauern) oder sie benutzten andere Formen der Kommunikation (wie die aristokratische Oberschicht). Der Großteil der Judenspottkarten stammt aus den Groß- und Universitätsstädten, ebenso aus Bade-, Kur- oder Messeorten. Bei den bürgerlichen Adressaten fällt der große Anteil der Beamten auf, gefolgt von Selbständigen, Handwerkern und Angestellten. Während die Bildpostkarten allgemein eher eine Domäne der Frauen bildeten, wurden die meisten Judenspottkarten von Männern verschickt. Man hat dies damit zu erklären versucht, dass viele der dargestellten Themenbereiche (wie Militär, Banken, Handel, Messen) Männerdomänen waren. Es könnte aber ebenso ein Indiz dafür sein, dass antisemitische Einstellungen damals bei Männern stärker verbreitet waren.
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Judenspottkarten
Die Judenspottkarten der Wilhelminischen Zeit gliedern sich nach Thematik und Stoßrichtung in zwei unterschiedlich große Gruppen: einerseits die Mehrheit der kommerziell vertriebenen Humor- und Spottkarten, in denen Juden nach den üblichen Stereotypen karikiert und lächerlich gemacht werden; andererseits die Minderheit der hasserfüllten, explizit antisemitischen Karten, die von antisemitischen Vereinen (Deutschsoziale antisemitische Vereine, Deutschvölkischer Verein Odin, DeutschÖsterreichischer Verein Antisemitenbund), Hotels („Kölner Hof“ Frankfurt, „Hotel zum Löwen“ Müllheim, „Deutscher Krug“ Chemnitz), Buchhandlungen und Verlagen (Buchhandlung Emil Keil Berlin, Heimatverlag Graz) verbreitet wurden. Diese extrem antisemitischen Karten propagieren den Ausschluss von Juden aus Hotels und Urlaubsorten, letztendlich sogar ihre Vertreibung und Vernichtung. Beide Gruppen – die judenfeindlichen Humor- und Spottkarten wie die antisemitischen Propagandakarten – sind in ähnlicher Weise durch den modernen, biologistisch-rassistisch argumentierenden Antisemitismus geprägt und gleichen darin den zeitgenössischen Witz- und Satireblättern (z. B. „Fliegende Blätter“, „Politische Bilderbogen“, „Kikeriki“), aus denen viele ihrer Themen und Darstellungen übernommen wurden. Die meisten Kartenmotive stammen jedoch aus der älteren Tradition der antijudaistischen Bildpolemik, wie z. B. der Jude als Wucherer, Bankier, Trödler und Soldat. Allerdings werden die Juden in der älteren Bildtradition nicht primär durch ihre Physiognomie, sondern durch ihre abweichende Lebensweise, Kleidung, Barttracht und jüdelnde Sprache als exotische Fremde karikiert, also durch Merkmale, die sich theoretisch ändern lassen. Die Judenspottkarten und zeitgenössischen Satireblätter polemisieren nicht nur gegen erworbene Fähigkeiten und Attribute der Juden, sondern vor allem gegen ihre durch Geburt und „Rasse“ bedingten, angeblich andersartigen, minderwertigen Eigenschaften und Körpermerkmale. Zwar wurden physiognomische Merkmale als Stereotyp bereits in der älteren antijüdischen Bildpolemik als Kennzeichen eingesetzt (so seit dem Mittelalter die Hakennase), in vielen Spottkarten stellen sie aber nun das einzige Thema dar (etwa auf einer wilhelminischen Karte mit dem frontal und im Profil wiedergegebenen Gesicht eines Bankiers mit krummer Nase, Wulstlippen und krausen Haaren, dessen Titulus ausschließlich die Gleichsetzung von Physiognomie und „Jude“ betont). In anderen, explizit antisemitischen Spottkarten der Zeit wird in pseudodarwinistischer Manier der Körper des Juden in seiner biologischen Herkunft von Tieren, wie Affe und Geier, abgeleitet. Zwar kehrt ein ähnliches Schema („Die Entwicklung nach der Darwinschen Theorie“) auch in Humorkarten wieder, die andere Gruppen aufs Korn nehmen (etwa Frauen und Burschenschaftler), jedoch fehlt dort das genuin rassistische Element. Ein ähnlicher Wandel der judenfeindlichen Bildpolemik findet sich auch bei den Spottkarten zu Juden im Militär. Während in der nur wenig älteren Tradition die angebliche militärische Ungeschicklichkeit und Feigheit der Juden bildlich verspottet wurden (im Zusammenhang ihrer erstmaligen Einberufung zum Militär bei den Befreiungskriegen), überwiegen bei den wilhelminischen Spottkarten die Musterungskarten, also Spottkarten zu der Institution, die von den emanzipationsfeindlichen Kreisen in Armee und Politik dazu benutzt wurde, die Juden vom Militärdienst fernzuhalten. Die jüdischen Musterungskandidaten sind in den Spottkarten nicht nur häufig von zwergenhaftem Wuchs und durch eine hässliche Hakennase entstellt (prototypisch
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vertreten durch die antisemitische Witzfigur des „Kleinen Cohn“), sondern sie werden auch mit körperlich Deformierten – wie Krüppeln, Buckligen und Fettsüchtigen – auf eine Stufe gestellt, wodurch die Juden als einzige spezifische Gruppe ausgegrenzt und ausgesondert werden. Dieser Aspekt findet sich in veränderter, zum Teil verschärfter Form auch in einem der neu eingeführten Motive, dem Thema des Juden in Bade- und Kurorten sowie in Hotels. Dabei tritt der Unterschied zwischen den kommerziellen Humorkarten und den explizit antisemitischen Propagandakarten deutlich hervor. In den kommerziellen Karten aus den renommierten böhmischen Kurorten Marienbad und Karlsbad wird vor allem die Ankunft und Anwesenheit der jüdischen Kurgäste, insbesondere aus Osteuropa, als störend und fremdartig verspottet. Demgegenüber geht es in den Karten aus notorisch antisemitischen Urlaubsorten und Hotels, die sich als „judenfrei“ deklarieren (wie die Nordseeinsel Borkum und der „Kölner Hof“ in Frankfurt), um den Ausschluss jüdischer Gäste, die bildlich mit einem Tritt hinausbefördert werden. Aus dem Umkreis dezidierter Antisemiten stammen auch Karten, auf denen in Bild und Text sogar die Vertreibung der Juden aus Deutschland propagiert wird. In der Zeit der Weimarer Republik, als die Verbreitung und Relevanz der Judenspottkarten deutlich abnimmt, herrschen demgegenüber eher aktuelle politische Themen vor, die sich auf den Ausgang des Ersten Weltkrieges (Juden als Hintermänner bei der Dolchstoß-Legende, Juden als Feinde der Germania bzw. des Deutschen Michel) oder auf die sozialen und wirtschaftlichen Konflikte beziehen (jüdischer Kapitalist als Ausbeuter des deutschen Arbeiters). Entscheidend für die gesellschaftlich-politische Bewertung der Judenspottkarten ist die schwierige Frage nach ihrem Gebrauch, nach den möglichen Intentionen und Reaktionen ihrer Benutzer. Ein wichtiges Indiz sind die Mitteilungen der Absender. Auffälligerweise nimmt die überwiegende Mehrheit dieser Mitteilungen, insbesondere auf den kommerziellen Humorkarten, keinerlei Bezug auf die judenfeindlichen Bildmotive. Die Mehrheit der Benutzer war offenbar so an die dargestellten judenfeindlichen Motive gewöhnt, dass sie daran keinen Anstoß nahmen, sondern sie eher witzig fanden, ohne jedoch zu antisemitischen Reaktionen verleitet zu werden. Die Absender dezidiert antisemitischer Karten nahmen demgegenüber die diffamierenden Darstellungen zum Anlass für hämische Kommentare. Steht somit die Mehrheit der kommerziellen Spottkarten für den eher latenten, „gewöhnlichen“ Antisemitismus, so vertritt die kleine Minderheit der aggressiv-hetzerischen Karten den expliziten, politischen Antisemitismus. Im Gesamtbereich zumindest der wilhelminischen Bildpostkarten bilden jedoch beide eine deutliche Minderheit.
Peter K. Klein
Literatur Peter K. Klein, „Judenspottkarten“ vom Kaiserreich zur NS-Zeit: Kontinuität und Umbruch judenfeindlicher Bildpolemik, in: Freddy Raphaël (Hrsg.), „... das Flüstern eines leisen Wehens ...“ Festschrift für Utz Jeggle, Konstanz 2001, S. 281–323. Peter K. Klein, Alltags-Antisemitismus im Kaiserreich. Das Beispiel der „Judenspottkarten“, in: Andrea Hoffmann u. a. (Hrsg.), Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Shoah, Tübingen 2006, S. 125–170. Otto May, „Deutsch sein heisst treu sein“. Ansichtskarten als Spiegel von Mentalität und Untertanenerziehung in der Wilhelminischen Ära (1888–1918), Hildesheim 1998. Abge-
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Judith und Holofernes (Theaterstück von Johann Nestroy, 1849)
stempelt. Judenfeindliche Postkarten. Auf der Grundlage der Sammlung Wolfgang Haney. Museum für Post und Kommunikation/Jüdisches Museum Frankfurt (Ausstellungs-Katalog), hrsg. von Helmut Gold, Georg Heuberger, Heidelberg 1999.
Judith (Roman von Pierre Sabatier, 1928) → La Vénus de l’Or
Judith und Holofernes (Theaterstück von Johann Nestroy, 1849) Johann Nepomuk Eduard Ambrosius Nestroy wurde am 7. Dezember 1801 in Wien als zweites von acht Kindern des Hof- und Gerichtsadvokaten Dr. jur. Johannes Nestroy und seiner Frau Maria Magdalena geboren. Wie sein Vater sollte er Jurist werden, doch schon früh zeigte sich, dass seine künstlerischen Interessen und Talente weit überwogen. So brach er 1822 sein Jurastudium ab und wendete sich ganz einer Gesangs- und Theaterkarriere zu. Im Laufe der Zeit wechselte er immer mehr ins lokalkomische Fach und begann bereits in den 1820er-Jahren erste Arbeiten an eigenen Stücken. Bis zu einem gewissen Grad wurden auf der Bühne des Vormärz die Weltanschauung und die Wünsche der kleinbürgerlichen Schichten durch einen gleichnishaften Weltbezug präsentiert, ohne dass das Theater den Anspruch erhob, eine Spiegelung der Wirklichkeit zu sein. Nestroys grotesker und parodistisch übertreibender Stil und die Konfrontation der scheinbar geordneten Welt mit ihrer eigenen Karikatur war neu im Wiener Volkstheater und fand bald ein begeistertes Publikum. Die am 13. März 1849 im Wiener Carltheater uraufgeführte Travestie „Judith und Holofernes“ ist eine direkte Bezugnahme auf Hebbels Tragödie „Judith“, die zwar bereits zehn Jahre vorher entstanden war, aber erst am 1. Februar 1849 in Wien Premiere hatte. Nestroy konzentrierte die fünf Akte der Hebbelschen „Judith“ in 24 Szenen des Einakters, übernahm jedoch Thematik und Handlung vollständig. Auch die Charaktere des Originals wurden, bis auf die Hauptperson Judith, in die Travestie übertragen. An Judiths Stelle tritt bei Nestroy ihr Bruder Joab, der seiner Schwester so ähnlich sieht, dass er in Frauenkleidern sogar Holofernes zu täuschen und zu bezaubern vermag. Neben diesem parodistischen Effekt, einen Mann als Frau verkleidet vorzuführen, liegt die Komik des Stückes nicht zuletzt darin begründet, dass das Geschehen ständig zwischen Bethulien und Wien wechselt, die Figuren Parallelen zum zeitgenössischen Geschehen ziehen und Nestroy seine Protagonisten einen breiten Wiener Dialekt sprechen lässt. Der anhaltende Vorwurf des Antisemitismus, dem sich Nestroy nach Erscheinen seines Werkes ausgesetzt sah, ergibt sich daraus, dass er die gottesfürchtigen Hebräer aus Hebbels Werk in seinem eigenen Stück zu klischeehaften Juden umformte, wie sie den zeitgenössischen Vorstellungen entsprachen. So sprechen die Bethulier in den Volksszenen den typischen „jüdischen Jargon“ von Wien, sind über alle Maßen gewinnsüchtig, verabscheuen körperliche Arbeit und erweisen sich als militärisch unfähig und feige. In „Judith und Holofernes“ scheint den Juden nichts wirklich heilig, alles wird auf Vor- und Nachteil, Gewinn und Verlust geprüft, und sogar die existenzbedrohende Hungersnot wird mitleidslos auf ihre Gewinnträchtigkeit hin analysiert. Selbst der stumme Prophet Daniel, der bei Hebbel das Sprachrohr Gottes verkörpert, stellt bei Nestroy die eigenen geschäftlichen Interessen über die Verkündigung seiner
Jüdisch-Politisches Cabaret (Wien, 1927–1938)
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göttlichen Eingebungen: Er will alle steinigen, denen er noch Geld schuldet, und nicht, wie bei Hebbel, nur diejenigen, die sich Holofernes widerstandslos unterwerfen wollen. Liegt bei Hebbel der Akzent noch auf dem auserwählten Volk, dessen Bestimmung nicht der Kampf, sondern die Befolgung der göttlichen Gesetze ist, bedient Nestroy mit „Judith und Holofernes“ eindeutig ein drastisches Bild der damals kursierenden Vorurteile über die Juden. Die Aufführung des Stückes im Carltheater war dementsprechend relativ gewagt, da dieses in einem Stadtteil lag, in dem um 1850 die meisten Juden wohnten. So war es nicht verwunderlich, dass sich viele jüdische Bürger angegriffen fühlten und das Stück, das anfänglich anonym aufgeführt wurde, vorübergehend vom Spielplan genommen wurde. Erst 1856 wurde es – diesmal unter Angabe des Autors – wieder aufgenommen und gelangte trotz anhaltender kritischer Stimmen zum Erfolg. Bis zu Nestroys Tod im Jahre 1862 wurde „Judith und Holofernes“ insgesamt 67-mal aufgeführt. Obwohl sich nicht genau klären lässt, ob Nestroy Antisemit war, oder sich „nur“ über die Wiener Juden lustig machen wollte, lässt sich unbestritten festhalten, dass er in seinem Stück viele judenfeindliche Klischees benutzte, die den Wiener Antisemitismus unterstützten.
Kristin Birkenmaier
Literatur Martin Gubser, Literarischer Antisemitismus – Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998. Ulrich Scheck, Parodie und Eigenständigkeit in Nestroys Judith und Holofernes – Ein Vergleich mit Hebbels Judith, Bern u. a. 1981.
Jüdin aus Algier → Juive d’Alger (Gemälde von Eugène Delacroix, 1833)
Jüdisch-Politisches Cabaret (Wien, 1927–1938) „Jüdisch-Politisches Cabaret“ ist nicht alleine der Name für ein Kabarettensemble in Wien zwischen 1927 und 1938, sondern steht für politisches Handeln gegen Antisemitismus und für die Stärkung jüdischen Selbstbewusstseins. Die Bezeichnung geht auf Oscar Teller (1902–1985) zurück. Er veröffentlichte 1982 eine Geschichte jüdisch-politischen Kabaretts, „Davids Witz-Schleuder“, in der er Kabarettprogramme und literarische Zeugnisse für jüdisch-politischen Witz versammelte. Mit diesem Buch verdeutlichte Teller seine Position, Witz als spezifische jüdische Emanzipations- und Überlebensstrategie, aber vor allem als Waffe gegen Antisemitismus einzusetzen. Zudem resümierte er seine Erfahrungen als Autor und Interpret von Kabarettprogrammen sowie Initiator und Organisator jüdisch-politischer Kulturarbeit in Wien bis 1938, im Exil in New York und dann in Israel. Teller promovierte 1932 an der Universität Wien zum Dr. jur., zuvor absolvierte er eine Stimmbildner-Ausbildung in Dresden. Er war seit 1919 Mitglied der zionistischen Mittelschulverbindung „Jedidea“ und in der zionistischen Jugendorganisation „T’chelet-Lawan“ aktiv. Mit der Gründung eines Sprechchors um 1923 begann Teller seine jüdische Theater- und Kulturarbeit. Die Produktionen des Chors zielten auf eine
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Bereicherung des jüdischen Festrepertoires, das nach den Erinnerungen Tellers vorwiegend auf Übersetzung jüdischer Dichtungen ins Deutsche basierte bzw. aus Adaptionen bestand. Einmal pro Woche probten an die 50 Mitglieder – Wiener jugendliche Zionisten – im Festsaal des Wiener jüdischen Sportvereins Hakoah. Eingeübt wurden u. a. Passagen aus Stefan Zweigs „Jeremias“, Chaim Nachman Bialiks „Nach dem Pogrom“ und „Jaacobs Traum“. 1923 gründete Teller ein zweites Ensemble, nämlich „Das Original Jüdische Heurigen-Duo Teller und Schlesinger“, gemeinsam mit Viktor Schlesinger (1903–1978) und dem Pianisten Arthur Reichenbaum. Nicht jüdische Dramatik und biblische Stoffe, welche die „Jüdischheit“ stärken sollten, standen dabei im Vordergrund, sondern der Kampf gegen Antisemiten. Mittels der populären sogenannten Heurigensänger – im Wiener Dialekt in Weinausschänken vorgetragene Lieder, die vom Alltagsleben der wenig privilegierten Schichten derb-komisch berichteten – zeigten Teller und Schlesinger den Alltagsantisemitismus der scheinbar gemütlichen Wiener. Das erste ihr Genre begründende Lied ging auf den Mord an einem jüdischen Teilzahlungsinkassanten zurück. Der Täter bekam eine lächerlich geringe Haftstrafe von drei Monaten. Die letzte Strophe zeigt den Zynismus und die Abgründigkeit des antisemitischen Wien der 1920er-Jahre, in dem Teller und Schlesinger dem Mörder folgende Worte in den Mund legten: „Ich nehm’s Messer, stoß ihm in den Leib, dann nehm ich Geld und Uhr. Und trotz dem Weinen seines Weibes Laß ich ihm die Mesuse nur. Und dann sag ich in sanfter Tonart: Zu sowas, da gehört kein Mut. Für das krieg höchstens ich drei Monat, mildernder Umstand: s’war a Jud.“ Teller erinnerte seine und Schlesingers Motivation, mit dieser Form dem Antisemitismus aggressiv entgegenzuwirken, Witz als Waffe zu verwenden. Ihr „Original Jüdisches Heurigen-Duo“ war in kürzester Zeit äußerst populär, verschiedenste zionistische Organisationen, aber auch assimilatorische wie der „Bund jüdischer Frontsoldaten“ oder die „B’nai B’rith“ engagierten sie. Aus dem wachsenden Repertoire gestalteten Teller und Schlesinger gemeinsam mit Fritz Stöckler unter dem Pseudonym Viktor Berossi ihre erste Revue „Juden hinaus!“, der dann die Gründung des „Jüdisch-Politischen Cabarets“ 1927 folgte. Bis 1938 wurden fünf Revuen produziert, namentlich bekannt sind „Der achtjährige Krieg“ (1928), „Ho-Ruck nach Palästina“ (1933) und „Rassisches und Klassisches“ (1937). „Juden hinaus!“ zählte zur meistgespielten Revue, deren politische Lieder 1930 in einer Auflage von einigen Tausend als Schlagerheft erschienen. Zum Ensemble gehörten Otto Presser, Kurt Riegelhaupt, Rosl Safir, Leopold Dickstein, als Autoren neben Schlesinger, Stöckler und Teller kamen 1932 Benno Weiser und ab 1935 Friedrich Torberg hinzu, als weiterer wird Curt Jung genannt. Bei der Wahl der Wiener Jüdischen Gemeinde 1932 warb das „Jüdisch-Politische Cabaret“ für das Wahlbündnis von „Allgemeinen Zionisten“ mit den „Revisionisten“, welches dann auch die Mehrheit erlangte, ebenso im Jahr 1936. Das „JüdischPolitische Cabaret“ gastierte in verschiedenen österreichischen Städten wie Graz, Innsbruck und Salzburg, 1935 auch mit „Juden hinaus!“ in Prag.
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Die Besonderheit und der Erfolg des „Jüdisch-Politischen Cabarets“ lag nach Tellers Einschätzung in der Originalität der Form, populären Wiener Liedern bzw. Schlagern gänzlich kritische Texte zu unterlegen, um so Lebenswirklichkeit von Juden in einer zutiefst judenfeindlichen Gesellschaft zu problematisieren und diese zum Widerstand zu aktivieren. „Der Erfolg“, so Teller „übertraf alle Erwartungen. […] Zum ersten Mal bekam ein jüdisches Publikum aggressive Satiren in eigener Sache zu hören, noch dazu in einer vertrauten eingängigen Form; zum ersten Mal erfolgte mit der Waffe des Witzes ein jüdischer Gegenangriff.“ Aus den erhalten gebliebenen Texten lässt sich erkennen, wie dieser Kampf gegen Antisemitismus geführt wurde: Kritik richtete sich an die assimilierten Juden, die die Werte der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft affirmierten. An prominenten Personen aus Politik und Kultur, so beispielsweise beim Wiener sozialdemokratischen Finanzstadtrat Hugo Breitner (1873–1946) oder dem Schriftsteller Jakob Wassermann (1873–1934), wurde der Hiatus von Assimilation und Jüdisch Sein in einer bedrohlich antisemitischen Gesellschaft gezeigt. Neben dem Nationalsozialismus und dem österreichischen Antisemitismus wurde die Gefahr anderer nationaler Antisemitismen, wie sie sich in Ungarn durch die Horthy-Anhänger oder seitens nationaler Tschechen äußerten, verwiesen. Wesentlich war auch die Problematisierung des Generationenkonflikts zwischen assimilierten Eltern und zionistisch orientierter Jugend. Nach März 1938 gelang es Teller und Schlesinger, nach New York zu emigrieren, wo sie bis in die 1950er-Jahre als „Jüdisches Heurigen-Duo“ an ihre Arbeit in Wien anknüpften. 1943 gründeten Teller und Erich Juhn das Exil-Kabarett „Die Arche“, für das u. a. Walter Mehring, Friedrich Torberg, Alfred Neumann, Hugo F. Königsgarten Texte zur Verfügung stellten, Komponisten und Musiker waren u. a. Franz Mittler, Fritz Spielmann und Jimmy Berg. Die Schauspielerinnen Vilma Kürer, Kitty Mattern, Ellen Schwanneke und Erna Trebitsch arbeiteten für „Die Arche“.
Birgit Peter
Literatur Oscar Teller, Davids Witz-Schleuder. Jüdisch-Politisches Cabaret. 50 Jahre Kleinkunstbühnen in Wien, Berlin, London, New York, Warschau und Tel Aviv, Darmstadt 1982. Oscar Teller, „Über die Jüdische Kulturstelle und Volkshochschule in Wien“, Tonbandaufnahme, aufgenommen durch Dr. Herbert Rosenkranz, Jerusalem, 18. Dezember 1979, Abschrift (Typoskript), Yad Vashem Archives, Record Group 0.85, Austrian Jewish Communities Collection, File Number 313.
Jüdische Chronik (Musikalische Komposition, 1960) Als es 1959 zunächst in der Bundesrepublik Deutschland und dann auch in der DDR zu einer Welle antisemitischer Schmierereien und Grabschändungen kam und am Heiligabend Neonazis Parolen wie „Deutsche, wir fordern: Juden raus“ an die Wände der neueröffneten Kölner Synagoge malten, sah sich der Ost-Berliner Komponist Paul Dessau (1894–1979) zu einer Gegenaktion herausgefordert. Er selbst hatte wegen seiner jüdischen Herkunft 1933 Deutschland verlassen müssen und 1942 seine Mutter in Theresienstadt verloren. Dessaus Idee war es, dass Komponisten aus beiden deutschen Staaten gemeinsam ein Werk des Protests schaffen sollten, in dem sie sich mit den
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Diffamierten solidarisierten. Im März 1960 sprach er daraufhin seinen jüngeren Kollegen Hans Werner Henze (1926–2012) an, der wiederum seinen in München lebenden Mentor Karl Amadeus Hartmann (1905–1963) für das Projekt gewann. Dessau forderte danach noch seinen ostdeutschen Kollegen Rudolf Wagner-Régeny (1903– 1969) sowie den in West-Berlin lebenden Boris Blacher (1903–1975) zur Mitarbeit auf. Diese fünf Komponisten hingen weder dem westlichen Avantgardismus der Darmstädter Schule noch der populären Linie des Sozialistischen Realismus an, sondern hatten sich bereits mit avancierter Musik im Sinne des Antifaschismus engagiert. Dessau, der ebenso Arnold Schönberg wie Bertolt Brecht zu seinen Vorbildern zählte, gewann den Lyriker Jens Gerlach (1926–1990) als Textautor. Dieser stammte wie Dessau aus Hamburg und war in die DDR übergesiedelt, wo er mit politischer Gebrauchslyrik hervortrat. Nach Gesprächen mit dem Komponisten schuf Gerlach für die neue Kollektivkomposition einen durch Refrains ergänzten Prosatext, in dessen Zentrum der Warschauer Ghetto-Aufstand von 1943 stand. Zum Zweck der Textverständlichkeit sollte er von zwei Sprechern, Alt- und Baritonsoli sowie einem Kammerchor im Wechsel von Singen und Sprechen vorgetragen werden. Um jede Sentimentalität zu vermeiden, wurden im Orchester Hörner, Violinen, Bratschen und Celli ausgespart. Dagegen sorgen mindestens fünf Kontrabässe, Pauken sowie reichhaltiges Schlagzeug für eine dunkle und geräuschhafte Grundfarbe. Während Boris Blacher die Dur-Moll-Tonalität beibehielt, sind die von Dessau, Henze und Wagner-Régeny komponierten Abschnitte durch eine gemeinsame Zwölftonreihe verbunden. Das fünfteilige Werk beginnt mit einem rezitativischen „Prolog“ (Blacher), der von der Gegenwart ausgeht, während Teil II (Wagner-Régeny) eine Brücke zur Vergangenheit bildet. Zum Schluss mahnen die Sprecher: „Die Verantwortung für Heute und Morgen ist den Heutigen auferlegt.“ Vom Warschauer Aufstand handeln die zentralen Teile III, „Ghetto“ (Hartmann), und IV, „Aufstand“ (Henze und Dessau), wobei sich die unterschiedlichen Tonsprachen der drei Komponisten eindrucksvoll ergänzen. Teil V, „Epilog“ (Dessau), knüpft an den Prolog an und führt wieder in die Gegenwart. Die letzten Worte lauten: „Seid wachsam!“ Als Kollektivkomposition von Künstlern aus Ost und West ist die im Frühsommer 1960 vollendete „Jüdische Chronik“ ein einzigartiges Werk. Die Uraufführung war als grenzüberschreitendes Fanal gedacht und sollte deshalb als Doppel-Premiere am 24. Oktober 1961 unter der Leitung von Witold Rówicki in Köln in der Reihe „musik der zeit“ des WDR und gleichzeitig in Leipzig unter Herbert Kegel in einem Konzert des DDR-Rundfunks stattfinden. Beide Konzerte sollten direkt übertragen werden. Der Mauerbau am 13. August 1961 machte diese Pläne zunichte. Da Karl Amadeus Hartmann und Boris Blacher angesichts der Zuspitzung des innerdeutschen Konflikts eine Rufmord-Kampagne befürchteten, baten sie dringend, die Aufführung zu verschieben. Ohnehin war zweifelhaft, ob die beteiligten Rundfunkanstalten immer noch an diesem Projekt festhielten. So konnte die Uraufführung erst nach dreieinhalb Jahren am 14. Januar 1966 in Köln unter Christoph von Dohnányi und kurz darauf in Leipzig unter Herbert Kegel stattfinden. Während in Köln einige Kritiker den Sinn engagierter Kunst bezweifelten und von einem gescheiterten Experiment sprachen, hoben Herbert Eimert und Hans Heinz Stuckenschmidt gerade die erstaunliche musikalische Einheit hervor. Die ästhetische
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Bewertung der Gemeinschaftskomposition verdrängte ihre politische Aussage. In Leipzig, wo es stürmischen Beifall gab, wurde der Antisemitismus als ein allein westdeutsches Phänomen abgetan. Obwohl die Aufführungen von Köln und Leipzig auch über Rundfunk und Schallplatten verbreitet wurden, beklagte Henze, dass die „Jüdische Chronik“ ihre eigentlichen Adressaten, die jungen Neonazis, nicht erreiche. Dennoch sollten die Künstler auch Tagesereignisse nicht übergehen: „Wir sind uns darüber einig, daß auch die kleinen Warnrufe besser sind als das auf Unempfindlichkeit oder Gleichgültigkeit hindeutende Sich-Entziehen ins Unpolitische.“
Albrecht Dümling
Literatur Ulrich Dibelius, Frank Schneider (Hrsg.), Neue Musik im geteilten Deutschland, Band 1, Berlin 1993, S. 324–363. Hanns-Werner Heister (Hrsg.), Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1945–1975, Laaber 2005, S. 142–146.
Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft (Buch von Adolf Bartels, 1925) „Judenriecherei“ nannte Kurt Tucholsky 1922 die systematischen Versuche von Adolf Bartels (1862–1945), jüdische Spuren in der deutschen Literaturgeschichte in größtem Umfang aufzuspüren. Der Autodidakt Bartels – er hat weder das Abitur abgelegt noch ein Universitätsstudium beendet – hat seine literaturhistorischen Theorien in zahlreichen Schriften verbreitet: Beginnend mit dem frühen Erfolgsbuch „Die deutsche Dichtung der Gegenwart“ (1897), über „Kritiker und Kritikaster Pro domo et pro arte“ (1903), „Heine. Auch ein Denkmal“ (1906) und „Lessing und die Juden“ (1918) bis hin zur „Geschichte der Deutschen Literatur“ (1901/1902), 1924–1928 (Große Ausgabe) und 1943 (19. Aufl.). Daneben veröffentlichte er antisemitische und rassistische Schriften, in denen er auch politisch Stellung bezog. Er gilt als einer der wichtigsten ideologischen Vorläufer des nationalsozialistischen Denkens. Steven Nyole Fuller bezeichnete ihn zu Recht als „The Nazi’s Literary Grandfather“, denn viele einflussreiche NS-Kulturpolitiker u. a. Baldur von Schirach, Rainer Schlösser, Hans Severus Ziegler zählten zu seinen Schülern. Adolf Hitler besuchte ihn 1925 bei seinem ersten Aufenthalt in Weimar. Bartels kurze und relativ späte Rechtfertigungsschrift „Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft. Eine gründliche Erörterung“ (Verlag des Bartels-Bundes, Leipzig) erschien 1925 und fällt in die zweite Phase seiner antisemitischen Karriere. Nachdem er sich in einer ersten Phase „durch publizistische Provokationen öffentlich profiliert“ hatte, versuchte er nun, „mit dem Nimbus der anerkannten Autorität auf die Führung der antisemitischen Verbände Einfluß“ zu nehmen (Rösner, 1996). In „Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft“ stellt Bartels die ganze Breite seiner Methodik vor, um den Anteil jüdischen Schrifttums in der Literaturgeschichte unter vermeintlich wissenschaftlichen Kriterien kenntlich zu machen. Der Band gliedert sich in vier Kapitel: Das erste Kapitel handelt von der „Notwendigkeit der Feststellung jüdischer Herkunft“ und ist in erster Linie eine Abrechnung mit der Literaturgeschichtsschrei-
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bung des 19. Jahrhunderts, der Bartels vorwirft, nicht oder nur wenig auf die Jüdischkeit von Schriftstellern geachtet zu haben, denn „man kann das Wesen der Dichter […] nicht voll erklären, wenn man ihre Herkunft nicht möglichst genau feststellt“. Juden sind für ihn ein „Volk ohne Heimat“, das „schmarotzend im Nationalkörper hausend, den eigenthümlichen Charakter unserer Literatur und Dichtung geradezu verdirbt“. Seine Suche nach „Juden und Judengenossen“ entspringt einem Gefühl der Bedrohung durch rassische Überfremdung und einer vermeintlich grundlegenden kulturellen Differenz zwischen beiden Kulturen. Nur durch die „große Assimilationsbegabung des Judentums“ werde seine „Volksfremdheit“ überdeckt. Bartels will diesen „Täuschungsversuch“ aufdecken und die „Möglichkeit der Feststellung jüdischer Herkunft“ – so der Titel des zweiten Kapitels – methodisch angehen. Zur Feststellung der jüdischen Herkunft legt er drei Kriterien zugrunde: Neben den Namen, für deren Identifizierung er vor allem Philipp Stauffs „Semi-Kürschner“ als Quelle nutzt, ist auch die Physiognomie ein eindeutiger Hinweis auf eventuelles Judentum: „Noch wichtiger als der Name ist […] die persönliche Anschauung oder, wenn diese nicht möglich, die Anschauung im Bilde.“ Als drittes, entscheidendes Kriterium dient ihm zudem ein Blick auf stilistische, d.h. hier: jüdisch-degenerative Aspekte eines Werkes, um „das Bild eines Autors ‚auf Grund der geistigen Struktur seiner Dichtungen‘ zu entwerfen, und so auch das Judentum festzustellen“. Ziel ist die „reinliche Scheidung“ von deutschen und jüdischen Schriftstellern, damit „kein Jude mehr deutscher Dichter heißen“ kann. Bartels Bibliothek, die vielleicht Aufschluss über die konkrete Textarbeit des Viellesers gegeben hätte, ist 2004 dem Brand der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar zum Opfer gefallen; sie war leider nicht aufgearbeitet. Der dritte und umfangreichste Teil des Buches ist eine „Vollständige Übersicht“ über die von Bartels identifizierten „Literaturjuden“. Im Wesentlichen besteht dieses Kapitel aus einer Auflistung von ca. 800 Autoren und Werken, die Bartels in seiner manischen Suche als Juden stigmatisiert, ohne dafür freilich oft mehr Belege als seine subjektive Anschauung von Name, Physiognomie oder Werk zu haben. Auf die große Fehlerlastigkeit dieses Unternehmens deuten u. a. Erratazettel, die seinen Büchern – nach 1934 auch auf Initiative der Reichsschrifttumskammer – immer wieder beigelegt wurden. Im einem „Anhang“ führt Bartels seine Methode an vier „schwierigen Fällen“ vor, bei denen die Frage nach der Jüdischkeit des Autors nicht oder nur schwer zu entscheiden sei: Neben dem rasseorientierten Literaturhistoriker Otto Hauser werden Walter von Molo, Georg Kaiser und Johannes R. Becher zum Exemplum. Bei Becher hatte Bartels schon früher „eine jüdische Herkunft oder doch eine jüdische Blutzumischung“ konstatiert, und ihn zudem aufgrund seines Werkes in deutlicher Nähe zu jüdischen Autoren gesehen. Johannes R. Bechers Brief an Bartels führt in anschaulicher Polemik die Absurdität von Bartels’ literaturgeschichtlichem Projekt vor. Auch wenn Bartels in „Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft“ seine pseudowissenschaftliche Methode grundlegend vorführen möchte, macht diese Schrift vor allem die Haltlosigkeit seines Denkens deutlich. Seine stereotypen Zuschreibungen entbehren jeder kulturhistorischen Grundlage, sie dienen einzig dazu, ein obskures Modell von Heimat, Rasse, Stamm und Volk gegen den Einfluss eines vermeintlichen Gastvolkes in Stellung zu bringen. Auch den Zweck bzw. den Nutzen einer solchen rassischen Trennung kann Bartels in keiner Weise konsistent begründen, zumal er ja
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auch nicht zu begründen ist. Nach 1933 wird Bartels von den Nationalsozialisten zwar als Vorkämpfer geehrt, aber seine Methode wird immer wieder kritisiert und durch andere rassistische Modelle ersetzt. Bartels gilt nach dem Zweiten Weltkrieg als Prototyp des antisemitischen Literaturhistorikers; sein Werk hat keine wissenschaftlichen Spuren hinterlassen.
Peter Goßens
Literatur Rainer Brändle, Antisemitische Literaturhistorik, in: Renate Heuer, Ralph-Rainer Wuthenow (Hrsg.), Antisemitismus – Zionismus – Antizionismus 1850–1940, Frankfurt am Main, New York 1997, S. 35–53. Steven Nyole Fuller, The Nazi’s Literary Grandfather. Adolf Bartels and Cultural Extremism 1871–1945, Bern u. a. 1996. Holm Kirsten, „Weimar im Banne des Führers.“ Die Besuche Adolf Hitlers 1925 bis 1940, Köln, Weimar, Wien 2001. Thomas Neumann, Völkischnationale Hebbelrezeption. Adolf Bartels und die Weimarer Nationalfestspiele, Bielefeld 1997. Thomas Rösner, Adolf Bartels, in: Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Handbuch zur Völkischen Bewegung 1871–1918, München 1996, S. 874–894. Manfred Stoppel, Adolf Bartels. Eine Bio-Bibliographie, Toppenstedt 2002. Kurt Tucholsky, Herr Adolf Bartels, in: Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke, Band 3 (1921–1924), Reinbek bei Hamburg 1975, S. 144–148.
Die jüdische Selbstverwaltung in Theresienstadt → Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet Jüdischer Wucher → Hans Folz-Dichtung Jüdisches Heurigen-Duo → Jüdisch-Politisches Cabaret
Le Juif et la France (Ausstellung, Frankreich 1942) Die Ausstellung „Le Juif et la France“ [Der Jude und Frankreich], die vom 5. September 1941 bis 15. Januar 1942 in den Sälen des Palais Berlitz im 2. Pariser Arrondissement gezeigt wurde, war eine der markantesten Aktionen antijüdischer Propaganda während der Besatzungszeit. Organisiert „unter der Schirmherrschaft des Institut d’Étude des Questions Juives“ (so die Formulierung, die am Eingang angebracht war) und finanziert von den deutschen Behörden, stand „Le Juif et la France“ in einer Reihe von Propagandaausstellungen zugunsten des „Dritten Reichs“: „La France européenne“ [Das europäische Frankreich, 1941–42], „Le Bolchévisme en Europe“ [Der Bolschewismus in Europa, 1942–43]. Doch die Ausstellung im Palais Berlitz verfolgte auch ein strikt nationales Ziel, nämlich die französische Bevölkerung in der besetzten Zone von den Wohltaten der antijüdischen Maßnahmen zu überzeugen. Die Idee zu einer großen antisemitischen Ausstellung in Paris kam von der deutschen Botschaft. Der deutsche Gesandte Otto Abetz war Befürworter einer entschlossenen intellektuellen und kulturellen Propagandaaktion in Richtung der Franzosen. Das Herz des Ganzen bildete die Informationsabteilung, von der die großen anti-freimaurerischen, antijüdischen und „europäischen“ Ausstellungen von 1941/42 ausge-
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gangen waren und die über große finanzielle Mittel verfügte. Im März 1941 hatte Abetz vor, die Organisation der Ausstellung dem Commissariat général aux Questions juives [Generalkommissariat für Judenfragen/CGQJ] zu übertragen, das kurz zuvor auf seinen Wunsch hin von der Regierung in Vichy geschaffen worden war. Doch das CGQJ unter Führung des katholischen Abgeordneten Xavier Vallat nahm rasch den Charakter eines riesigen politischen Verwaltungsapparats an, was recht weit von dem Propaganda-Amt entfernt war, das die NS-Funktionäre erträumt hatten. Die Schirmherrschaft über die Ausstellung wurde deshalb sehr bald dem Institut d’Étude des Questions Juives [Institut zur Erforschung von Judenfragen/IEQJ] übertragen. Das IEQJ wurde am 11. Mai 1941 in einem Haus in der Pariser Rue La Boétie 21 gegründet. Finanziert und unter der Hand geleitet wurde es von der Botschaft und vom Judenreferat des SD in Paris unter SS-Hauptsturmführer Theodor Dannecker, im Inneren kontrollierten es „Spezialisten“ aus Deutschland. Offiziell leitete eine Handvoll antisemitischer, mehr oder weniger obskurer Aktivisten das IEQJ: An ihrer Spitze standen Hauptmann Paul Sézille, ein notorischer Alkoholiker und ehemaliger Mitstreiter im „Rassemblement antijuif de France“ von Louis Darquier de Pellepoix, sowie Charles Laville, ein Gelehrter von Weltgeltung und ebenfalls ehemaliges Mitglied des „Rassemblement antijuif“. Das Institut, das knapp 2.000 Mitglieder zählte – von denen die Mehrzahl der Mittelschicht entstammte (Kaufleute, Buchhalter, Händler, Zahnärzte usw.), hinzu kamen Berufskollaborateure wie Paul Chack, Eugène Deloncle und Pierre Costantini –, war die wichtigste antijüdische Propaganda-Institution, die während der Besatzungszeit eingerichtet wurde. Ende Juli 1941 wurde das Palais Berlitz, das ein spanischer Staatsangehöriger verwaltete, auf Befehl des deutschen Militärbefehlshabers in Frankreich (seinerzeit Otto von Stülpnagel) beschlagnahmt. Anschließend wurde die Ausstellung aufgebaut. Ein Großteil der Exponate stammte aus antisemitischen Ausstellungen (vor allem „Der ewige Jude“), die in Deutschland, Österreich und Italien gezeigt worden waren. Zahlreiche Schilder, Objekte und Statistiken wurden hingegen vor Ort auf Grundlage der Dokumentation erstellt, die Laville und seine Freunde in der „wissenschaftlichen“ Sektion des IEQJ zusammengetragen hatten. Die wichtigsten Plakate entwarfen die Zeichner René Péron und Michel Jacquot. Schließlich kam noch ein Begleitbuch heraus, das von Jean Marquès-Rivière, einem seit 20 Jahren in antisemitischen und antifreimaurerischen Kreisen aktiven Journalisten redigiert wurde. Am 5. September 1941 öffnete die Ausstellung „Le Juif et la France“ ihre Pforten. In der Empfangshalle des Palais Berlitz, zugestopft mit einer gigantischen Gipsfigur namens „Das neue Frankreich befreit sich vom jüdischen Einfluss“, hielt Paul Sézille eine Eröffnungsrede. Die Ausstellung, die sich über zwei Etagen erstreckte, war in zwei Hauptteile gegliedert. Der erste, mit dem Etikett „Étude morphologique“ [morphologische Studie] versehen, war von den Arbeiten des Anthropologen, Mediziners und „Rassetheoretikers“ Georges Montandon beeinflusst, dem Autor des Werkes „Comment reconnaître le Juif“ [Wie man den Juden erkennt, Paris: Nouvelles éditions françaises, 1940]. Zahlreiche Gipsabdrücke sowie Fotografien von Gesichtern, Ohren, Nasen usw. sollten die Besucher von der Existenz einer negroiden und nicht assimilierbaren jüdischen Rasse überzeugen. Sie sollten ihnen auch helfen, „den Juden zu erkennen“, um „sich gegen den hebräischen Einfluss wehren“ zu können. Unter dem
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Eindruck dieses „morphologischen“ Teils der Ausstellung bezeichnete der Schriftsteller Patrick Modiano „Le Juif et la France“ im Scherz als „zoologische Ausstellung“. Der zweite Hauptteil, „Der Jude in der französischen Geschichte“ betitelt, war mit Tafeln garniert, die „wissenschaftlich“ zeigen sollten, wie sich der Jude das „Haus Frankreich“ angeeignet hätte: Kennzeichnend waren absurde Statistiken zum Anteil der Juden in der Presse, im Bankwesen oder auf Ministerposten und hasserfüllt präsentierte Fotografien von Persönlichkeiten wie dem Filmproduzenten Bernard Natan, dem Theaterautor Henry Bernstein und selbstverständlich auch dem Präsidenten des Rates der „Volksfront“, Léon Blum. Das Ziel des Rundgangs war es, den Besucher dazu zu bringen, „die ersten Verteidigungsmaßnahmen“ gutzuheißen, die von der Regierung in Vichy gegen die Juden ergriffen worden waren. Während der ersten drei Tage, so pries die französische Kinowochenschau „Les Actualités mondiales“ [Die Weltnachrichten] vom 12. September 1941, hätten sich 13.000 Besucher in das Palais Berlitz gedrängt. Das landesweite Radioprogramm und Radio-Paris (der deutsche Propagandasender in der Hauptstadt) besorgten die Werbung für die Ausstellung. Jeden Tag tat sich Paul Sézille mit einer Ansprache hervor und veranstaltete ein Gewinnspiel. „Mit dieser Ziehung werden wir weitermachen. Viel Glück dem Gewinner [sic]. Jüdische Gefahr, wenigstens wirst du Menschen glücklich machen“, äußerte er lauthals und ohne Furcht, sich lächerlich zu machen. Doch trotz aller Anstrengungen scheint der Besucherzustrom schnell stagniert zu haben. Insgesamt sahen bis Januar 1942 knapp 200.000 Besucher die Ausstellung „Le Juif et la France“. Außer den überzeugten Antisemiten kamen viele Neugierige, und etliche von ihnen verließen das Haus empört oder amüsiert angesichts einer ebenso niederträchtigen wie grotesken Propaganda. So verlangte zum Beispiel der Repräsentant des Commissariat général aux Questions juives im Oktober 1941, dass die Büste des berühmten Waffenhändlers Basil Zaharoff, der hier als raffgieriger und blutrünstiger Jude herhalten musste, entfernt würde: Der Gezeigte war gar kein Jude. Nach Januar 1942 wurde die Ausstellung noch in zwei Städten in der besetzten Zone Frankreichs gezeigt, in Nancy und Bordeaux. Nur ein begrenztes Publikum (etwa 130 Personen, darunter zahlreiche deutsche und italienische Offiziere) kam zur Eröffnung in Bordeaux und zu Sézilles Vortrag mit dem Titel „Warum die Ausstellung ‚Le Juif et la France‘?“ Das IEQJ scheiterte mit dem Vorhaben, sie auch in anderen Großstädten wie Lille, Rennes, Nantes oder Dijon zu zeigen. 1943 plante die „Union française pour la défense de la Race“ [Französische Vereinigung zur Verteidigung der Rasse], ein kurzlebiger Verein, dessen Gründer und Leiter Vichys Generalkommissar für Judenfragen Louis Darquier de Pellepoix war, eine rassistische Großausstellung in Marseille und Lyon zu zeigen. Da die deutschen Behörden weder Unterstützung zusagten noch ihr Einverständnis gaben, blieb es bei den Planungen. Im Frankreich der Jahre 1943/44 war es nicht mehr diskutabel, antisemitische Ausstellungen vor aller Augen zu inszenieren.
Laurent Joly Übersetzung aus dem Französischen von Bjoern Weigel
Literatur Raymond Bach, L’identification des Juifs: l’héritage de l’exposition de 1941, „Le Juif et la France“, in: Revue d’histoire de la Shoah 173 (2001), S. 170–191.
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Juive d’Alger (Gemälde von Eugène Delacroix, 1833)
Wolfgang Benz, „Der ewige Jude“. Metaphern und Methoden nationalsozialistischer Propaganda, Berlin 2010. André Kaspi, „Le Juif et la France“, une exposition à Paris en 1941, in: Le Monde Juif 79 (1975), S. 8–20.
Juive d’Alger (Gemälde von Eugène Delacroix, 1833) Das Bild „Juive d’Alger“ [Jüdin aus Algier] gehört unter diesem Titel der Kunst- und Darstellungsgeschichte. Wie jedoch seine Entstehungsgeschichte zeigt, sollte es „Jüdische Braut in Marokko“ heißen. Das Œuvre von Eugène Delacroix (1798–1863) enthält mindestens drei Bilder mit einer solchen Thematik: ein Aquarell (ca. 1832), eine Radierung (1833) und ein Ölgemälde (ca. 1852). Delacroix hielt sich Anfang 1832 in Nordafrika auf: Er gehörte zu einer diplomatischen Delegation unter der Führung des Herzogs de Mornay, deren Ziel es war, kurz nach der Eroberung Algeriens durch Frankreich die Lage zu stabilisieren. Die Delegation wurde vom Dragoman (Dolmetscher) des französischen Konsulates in Tanger, Abraham Benchimol, einem reichen Juden, begleitet. Dank ihm war Delacroix in der Lage, Juden in Marokko kennenzulernen und sogar am 21. Februar 1832 an einer jüdischen Hochzeit teilzunehmen. Dieses seltene Privileg für einen Nichtjuden führte ihn dazu, diese Augenblicke anhand von Notizen und Zeichnungen zu verewigen. In diesem Sinne ist seine Erschaffung der „Jüdin“ Teil der Entdeckung Nordafrikas, die auch Entdeckung der Juden ist, die dort angesiedelt sind, Juden, die als Vermittler zwischen Morgen- und Abendland gelten, Juden, die anders als die Juden Europas sind. Delacroix zeigt Typen, die angeblich seit biblischen Zeiten gleichgeblieben sind; er möchte den „reinen“ Stand der Dinge feststellen, bevor er unausweichlich durch den westlichen Einfluss zerstört wird. Delacroix beweist hier eine offene Wahrnehmung und eine echte Empathie, die nicht von Herablassung oder Rassismus begleitet wird, was damals selten war. Zwar hat er einen bestimmten Geschmack für das Pittoreske; dafür ist seine Beschreibung genau, indem sie ein echtes Verständnis der Menschen und der lokalen Sitten illustriert. Delacroix zeichnete eine dieser „schönen Jüdinnen“, der „Perlen Edens“, die die orientalistischen Maler abbilden (im Gegensatz zu den „abscheulichen jüdischen Männern“). Die „schöne Jüdin“ wird hier enthüllt, während sie im Grunde genommen nie zu sehen ist: „Diese Juden, die hier als unrein gelten, die dazu gezwungen sind, ihre Schuhe auszuziehen und barfuß im Schlamm zu gehen, wenn sie vor Moscheen vorbeigehen, finden zu Hause, gleich wie in einer Festung, ein ruhiges Asyl, wo sie ihre Reichtümer und die Milde des Familienlebens genießen können. […] Diese Frauen sind zugleich schön und hübsch, ihre Kleider haben eine bestimmte Würde, die weder Gnade, noch Koketterie ausschließt.“ (Tanger, 25. Januar 1832) Die jüdische Frau wird hier doppelt enthüllt, denn sie nimmt an der Hochzeit nicht teil (dem Ritus nach bleibt die Braut während der Feier in ihrer Unterkunft). Ihr Bild durch Delacroix entwickelt und bereichert sich. Der Radierung merkt man die Genauigkeit, mit der die Gegenstände aufgezeichnet werden, an. Der Hintergrund bleibt jedoch schmucklos, auch wenn die typische reiche Kleidung wiedergegeben wird, hier aber farblos. Die jüdische Frau wird von einer schwarzhäutigen Dienerin begleitet,
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die zu ihren Füßen sitzt. Das Aquarell, eine Studie, lässt die Dienerin verschwinden, lässt dafür aber Farben erscheinen, die an sich den bunten Eindruck besser zum Ausdruck kommen lassen. Das Ölgemälde schließlich fasst die vorigen Elemente zusammen: Wiederauftauchen der schwarzen Dienerin zu Füßen der jüdischen Braut; sie ist zwar barfuß, trägt aber eine reiche und bunte Bekleidung; sie ist reich bekleidet anlässlich einer Hochzeit, an der sie eigentlich persönlich nicht direkt teilnimmt; von Tüchern und Teppichen umgeben, feierlich geschmückt, Musikinstrumente sind auf dem Bild ebenfalls zu sehen. Diese weißhäutige, schöne, nachdenkliche Frau ist sehr typisch. Ihre Haltung findet man auf anderen Abbildungen Delacroix', die auch aus seinem nordafrikanischen Aufenthalt stammen: „Sitzende arabische Frau“ (1832); „Auf dem Boden sitzende arabische Frau“ (1833–1834); „Frauen aus Algier in ihrem Intérieur“ (o. D.); „Frauen aus Algier in ihrem Appartement“ (1834). Diese Bilder werden von einem Überschuss an Farben, Luxus, Exotismus, Sinnlichkeit charakterisiert, Eigenschaften, die mit dem damaligen europäischen Konformismus kollidieren, der die Salonmalerei der Zeit prägte. Die intime Szene der „Jüdischen Braut“ kontrastiert schließlich mit der Feier: die Vielfarbigkeit ist umso präsenter in der Abbildung der „Jüdischen Hochzeit in Marokko“ (ca. 1837–1841), die eine Begeisterung von Delacroix für die Farben und den Sinn zur Feier beweist, auch wenn seine Bemerkungen herablassend wirken, wenn er dem morgenländischen schlechten Geschmack den europäischen guten Geschmack entgegensetzt. Die „Jüdin aus Algier“ (besser: „Jüdische Braut“) und die „Jüdische Hochzeit“ können als Werke betrachtet werden, die „jüdische Typen“ in die orientalisierende Kunst einführen, als neutrale oder positive Abbildungen orientalischer Juden. Delacroix leitete durch seine zahlreichen Zeichnungen und Gemälde, die aus seinen Reiseeindrücken stammen, eine Bewegung ein: Zahlreiche andere Künstler folgten ihm und bildeten eine orientalisierende Welle, die sich später auf Ägypten und das Heilige Land konzentriert. Da finden sich wieder Juden, aus Bibelzeiten oder Zeitgenossen der Künstler. Die Entwicklung ging vom allmählichen Übergang der Empathie, die Delacroix charakterisiert, zu einer Kategorisierung, die mit der Zeit rassistische Züge annahm.
Dominique Trimbur
Literatur Eugène Delacroix, Souvenirs d’un voyage dans le Maroc, hrsg. von Laure Beaumont-Maillet, Barthélémy Jobert und Sophie Join-Lambert, Paris 1999. Maurice Arama, Eugène Delacroix, un voyage initiatique: Maroc, Andalousie, Algérie, Paris 2006. Maurice Arama, Eugène Delacroix au Maroc: Les heures juives, Paris 2012. De Delacroix à Renoir: l’Algérie des peintres, Paris 2003. Les Juifs dans l’Orientalisme, Musée d’art et d’histoire du judaïsme, Paris 2012.
Jurnal din vremuri de prigoană (Tagebuch von Emil Dorian, 1996) → Dorian-Tagebuch Kabarett der Komiker (KadeKo) → Kabarett im Nationalsozialismus
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Kabarett im Nationalsozialismus
Kabarett im Nationalsozialismus Neben der politischen Revue und dem Varieté bildete das politisch-literarische Kabarett das dritte Genre der sogenannten Kleinkunst, das gesellschaftskritische Inhalte mit künstlerischen Mitteln verband. Solch ein anspruchsvolles Kabarett konnte sich in Deutschland erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges entfalten, als die politische Vorzensur im Jahr 1919 wegfiel. Gleichwohl unterlag der kritisch-satirische Gehalt der Kabarettvorstellungen in der Weimarer Republik einigen Schwankungen: In den ersten Jahren bis 1924 erwartete das Publikum von Kabaretts wie der „Wilden Bühne“ oder dem „Café Größenwahn“ in Berlin scharfe Kommentare zu den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen, wenn es gegen den fortbestehenden Militarismus, die Verherrlichung des Krieges und die Propaganda der „Dolchstoßlegende“ oder um die Praxis der Rechtsprechung in der deutschen Justiz ging. In der vergleichsweise stabilen Phase der Republik traten – wie das Beispiel des „Kabaretts der Komiker“ in Berlin, auch „KadeKo“ genannt, zeigt – zeitkritische Anspielungen zugunsten des Amüsements der Besucher zurück. Erst um 1930, im Zuge der Weltwirtschaftskrise und des Aufstiegs der NSDAP, erlebte das politische Kabarett eine Renaissance; neue Kabaretts wie das „Larifari“, die „Katakombe“ und das „TingelTangel-Theater“ in Berlin entstanden. Obwohl die Machtübernahme der Nationalsozialisten keinen völligen Bruch im kulturellen Bereich darstellte, sie bis zum Kriegsbeginn aus innen- wie außenpolitischen Gründen einen eingeschränkten kulturellen Pluralismus für zweckmäßig hielten und versuchten, viele Künstler in ihren Bann zu ziehen, hatte ein Kabarett, das dem Publikum kritische Kommentare zur Tageslage bot, keinen Platz. Viele Lokale wurden geschlossen, einige wenige unter einer anpassungswilligen Leitung zunächst weitergeführt. Zu Letzteren gehörte auch das Münchner „Platzl“ des berühmten Volkssängers und Komikers Weiß Ferdl, der bereits in den frühen 1920erJahren mit den Nationalsozialisten sympathisierte, dem die Kritiker kurz nach der Machtübernahme bescheinigten, seine Texte besäßen „die Gabe, treffend und harmlos zugleich zu sein, frei vom Geist der Negation, voll des aufbauenden und versöhnenden Humors, der nottut“ und den die NS-Presse trotz versteckter Kritik und Reibereien mit dem Propagandaminister Goebbels als den „Komiker des Dritten Reiches“ feierte. Vor allem jüdische und linke Künstler und Künstlerinnen gingen ins Exil, darunter Persönlichkeiten wie Friedrich Hollaender vom „Tingel-Tangel-Theater“, Erika Mann von der → „Pfeffermühle“ oder Kurt Robitschek vom „KadeKo“. Jene, die blieben, mussten mit Auftritts- und Berufsverbot oder Inhaftierung im Konzentrationslager rechnen; die beiden jüdischen Conférenciers Paul Morgan und Fritz Grünbaum kamen im KZ Buchenwald bzw. Dachau ums Leben. Nachdem zunächst Vorstellungen der „Katakombe“ und des „Tingel-Tangel“ geduldet und selbst vom „Völkischen Beobachter“ als „Abend voll fröhlicher, geistreich zugespitzter Heiterkeit“ gelobt wurden, forderten im Mai 1935 die Gestapo und Mitarbeiter des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda die Schließung beider Lokale, in denen sie die „Brutstätten jüdischer und marxistischer Propaganda“ sahen. In einem Bericht der Gestapo zur „Katakombe“ hieß es: „Aus dem hierauffolgenden starken Applaus des anwesenden Publikums, etwa 60% Juden und Intellektu-
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elle, der Rest Arier, ist zu entnehmen, daß die Gestaltung der Programme ausschließlich auf erstgenannte Kreise zugeschnitten ist.“ Die Kabarettisten Günther Lüders, Walter Lieck, Walter Gross, Werner Finck und Heinrich Giesen wurden verhaftet und für sechs Wochen in das Konzentrationslager Esterwegen eingeliefert; anschließend erhielten sie ein Jahr Auftrittsverbot. Auch der Münchener Komiker Karl Valentin trat weiterhin in Kabaretts wie dem „KadeKo“ auf, eröffnete seine Grusel- und Kuriositätenschau „Panoptikum“ (ab 1939 „Ritterspelunke“) und drehte mit seiner Partnerin Liesl Karstadt zahlreiche Filme. Doch nachdem die Nationalsozialisten seinen Film „Die Erbschaft“ (1936) wegen „Elendstendenzen“ verboten hatten, der Pachtvertrag seiner „Ritterspelunke“ 1940 fristlos gekündigt worden war und die Rundfunkanstalten seine Platten nicht mehr spielen wollten, zog sich Valentin ins Privatleben zurück. Trotz des Vorgehens gegen die „Katakombe“ und das „Tingel-Tangel“ erkannten die Nationalsozialisten die Möglichkeiten des Kabaretts und wollten die Kleinkunstszene in ihrem Sinne umstrukturieren, wie es ihnen in anderen Bereichen der Unterhaltungskultur gelungen war. Kabarettisten traten nun vor allem bei Veranstaltungen der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ auf und neue NS-konforme Kabaretts entstanden: 1936 das Tourneekabarett „Die acht Entfesselten“ und 1937 „Die Arche“ in Köln. Unterhaltung, die die Alltagssorgen vertreibt, ein paar schöne Stunden beschert und für den nächsten Tag fit macht, so lautete die Richtschnur für eine „positives“ Kabarett im NS-Staat. Der spätere Leiter des „KadeKo“, Willi Schaeffers, ließ entsprechend verlauten: „Es soll ein Vergnügen werden, das nicht durch irgendwelche politischen oder sonstigen Anschauungen gestört wird“, und ließ gleichzeitig Schilder mit der Aufschrift: „Juden ist der Zutritt verboten“ anbringen. Doch auch ein Ensemble, das vom Propagandaministerium argwöhnisch beobachtet und schließlich mit Berufsverbot belegt wurde, fiel durch antisemitische Ausfälle auf: Von dem Berliner Gesangs-Trio „Die Drei Rulands“ vernahm das Publikum unmittelbar nach dem Novemberpogrom 1938 im Radio unter anderem folgende Zeilen: „Überall hat einst der Cohn sein Geschäft verrichtet, Waren aufgeschichtet. Doch heut weiß Hinz und Kunz: damit ist Schluss bei uns.“ Das Misstrauen gegenüber dem Kabarett blieb freilich bestehen und führte im Januar 1941 zu einem umfassenden Conférence- und Ansageverbot durch das Reichspropagandaministerium. Ein gesondertes Kapitel bilden die Kabaretts, die in den Konzentrationslagern und Ghettos ins Leben gerufen wurden. In Theresienstadt musste das Kabarett „Das Karussell“ unter der Leitung von Kurt Gerron sowohl an den Kulturveranstaltungen teilnehmen, die während eines Besuchs einer Delegation des Internationalen Roten Kreuzes inszeniert wurden, als auch an dem im Sommer 1944 gedrehten Propagandafilm mitwirken (→ Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm).
Mario Wenzel
Literatur Reinhard Hippen, Es liegt in der Luft. Kabarett im Dritten Reich, Zürich 1988. Volker Kühn, Deutschlands Erwachen. Kabarett unterm Hakenkreuz 1933–1945, Weinheim, Berlin 1989.
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El Kahal/Oro (Roman von Hugo Wast, 1935)
Jürgen Müller, „Willkommen, Bienvenue, Welcome …“ Politische Revue – Kabarett – Varieté in Köln 1928–1938, Köln 2008. Hans Sarkowicz (Hrsg.), Hitlers Künstler. Die Kultur im Dienst des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main, Leipzig 2004.
Kära släkten (Film, 1933) → Schwedische Kinoproduktionen
El Kahal/Oro (Roman von Hugo Wast, 1935) Hugo Wast, nom de plume des rechtskonservativ-katholischen Politikers Gustavo Martínez Zuviría (Córdoba/Argentinien, 22.10.1883 – Buenos Aires, 28.3.1962), war neben Manuel Gálvez der auflagenstärkste und erfolgreichste Schriftsteller der 1920er- bis 1940er-Jahre in Argentinien (Erausquin). Seine ab 1911 publizierten Romane erreichten z. T. Auflagen von über einer Million Exemplaren und erfuhren zu seiner Zeit national und international eine sehr positive Aufnahme, die sich in Mitgliedschaften in verschiedenen Akademien niederschlug (der argentinischen Akademie de Letras, korrespondierend in der kolumbianischen Akademie de Letras und der Real Academia Española). Die Publikation des zweiteiligen Romans „El Kahal/Oro“ fällt in einen Zeitraum, der in Argentinien von Wirtschaftskrisen, Erstarken des Nationalismus und antidemokratischer Gesinnungen sowie dem Militärputsch durch General Uriburu (1930) geprägt war und deshalb auch als „infame Dekade“ bezeichnet wird. Wasts literarisches Werk kann für die Verbreitung seiner national-konservativ antisemitischen Ideen als um einiges wirkmächtiger angesehen werden als die Tätigkeiten in seinen z.T. recht hohen Ämtern: als Abgeordneter für die Provinz Santa Fe (1916–1920), als offizieller Finanzprüfer in Catamarca 1941, als Direktor der Nationalbibliothek von 1931 bis 1955 und als Minister für Justiz und Bildung während des Militärregimes von Pedro Ramírez (Dezember 1943–Februar 1944). Darüber hinaus war er in der konservativkatholischen Bildungseinrichtung der Cursos de Cultura Católica tätig und war Leiter der Pressekommission für den in Buenos Aires 1934 abgehaltenen Eucharistischen Weltkongress. „El Kahal/Oro“ hat, so der Hinweis in der benutzten und letzten in internationalen Katalogen nachgewiesenen Ausgabe (Editorial AOCRA) von 1975, 22 Auflagen mit 106.000 Exemplaren erreicht und wurde in der ersten Auflage in einem Band, in der Folge dann oft getrennt gedruckt. Der Prolog zum Roman wurde auch separat unter dem Titel „Buenos Aires, futura Babilonia“ (Buenos Aires, 1935) veröffentlicht. Der Roman ist eine Nachahmung der „Protokolle der Weisen von Zion“, die in Argentinien ab den 1920er-Jahren, zusammen mit Henry Fords antisemitischer Schrift „The Eternal Jew“, rezipiert wurden (Lvovich). Doch ist ein entscheidender Unterschied zu vermerken: Während in den „Protokollen“ Reden simuliert werden, greift der Roman als Fingieren von Welt als auffälligstes, simples aber gleichwohl suggestivstes Verfahren auf interne Fokalisierung zurück, durch die der Leser in die Hauptfiguren direkt hineinversetzt wird und deren Gedankengänge, Motivationen, Beweggründe somit unmittelbar nachvollziehen muss. Für den Protagonisten Blumen, jüdischer Bankier und einer der reichsten Männer Argentiniens, ist es Streben nach Gewinn und Vorherrschaft um jeden Preis (damit agiert die in der Fiktion entworfene
El Kahal/Oro (Roman von Hugo Wast, 1935)
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Figur intranarrativ gemäß der Theorie der jüdischen Weltverschwörung). Sein Gegenspieler Kohen, ebenfalls jüdischer Bankier, ist ambivalenter gezeichnet und erfährt am Ende des Romans seine „Läuterung“ und Konversion zum Christentum als zuerst widerwilliger Teilnehmer des historischen Eucharistischen Weltkongresses. Der Leser erlebt aus unmittelbarer narrativer Nähe, als Innensicht, die spirituelle Übermacht des Christentums, also das, was Wasts Ideologie auszeichnet. Der Autor arbeitet mit deformierten und verfälschten Versatzstücken jüdischer Kultur sowie mit sehr aktuellen Bezügen zur argentinischen Lebenswelt, die zu Beginn der 1930er-Jahre von Krisenerfahrungen geprägt war. „Kahal“ bezeichnet ursprünglich nur eine organisierte jüdische Gemeinschaft, doch greift Wast auf die seit dem 19. Jahrhundert von antisemitischer Propaganda negativ aufgeladene Bedeutung zurück, nämlich als Organisation, die auf den materiellen Verderb des christlichen Handels zielt. (Erausquin) Bei Wast wird „Kahal“, die Idee von der jüdischen Weltverschwörung aufnehmend, wie sie die „Protokolle“ enthalten, zur Bezeichnung für eine jüdische Geheimorganisation, die auf Gewinnmaximierung und Beherrschung des nationalen und internationalen Kapitalmarkts ausgerichtet ist und vor skrupellosen Methoden und dem Ruin des eigenen Landes nicht zurückschreckt. Die Handlung ist, abgesehen von einem Vorspann, der die wenig heroische und wenig patriotisch-argentinische Vergangenheit des Protagonisten Zacarías Blumen darstellt, im Wesentlichen absolut tagesaktuell, also zeitnah zum Erscheinen des Romans, nämlich von 1930 bis 1935 situiert. „El Kahal“ beschreibt den Kampf einer christlichen und zweier jüdischer Bankiersfamilien um die finanzielle Vormacht in Argentinien, fokussiert auf die Frage nach dem Stellenwert des Goldes als Leitwährung und die Abhängigkeit des Finanzmarktes von Spekulationen. Der zweite Teil, „Oro“ [Gold], kreist um den vermeintlichen Erfolg, Blei in Gold zu verwandeln, nicht als Ergebnis jüdischer Alchimisten, sondern eines christlichen Forschers, der sich dem verschrieben hat, um die fatale Abhängigkeit der (christlichen) Wirtschaft von Gold und damit jüdischer Finanzvormacht zu beenden. Er wird damit zur zentralen Gefahr für jüdische Spekulanten, die um ihre Gewinne fürchten, sobald Gold industriell hergestellt werden kann. Die zwei jüdischen männlichen Protagonisten sind unterschiedlich charakterisiert, der eine, Zacarías Blumen, als Machtmensch, skrupellos, mit antisemitischen Klischees versehen, wie auch die Mitglieder des Kahal. Bei seinem Gegenspieler Mauricio Kohen hingegen sind schon in der direkten Beschreibung seines Aussehens durch die Erzählinstanz Möglichkeiten der Anbindung an das „Eigene“ (aus Sicht Wasts) angelegt. Diese Beschreibung nimmt die stärker rassistische Tendenz in Wasts Werk in den 1940er-Jahren vorweg und macht sehr deutlich, dass diese in den 1930er-Jahren bereits vorhanden ist, wenn es heißt: Kohen „sah eher aus wie ein Norweger als ein Angehöriger der Synagoge. Er war ein blonder schneidiger junger Mann, mit blauen Augen und vom Sport an der frischen Luft gebräunter Haut“. Genau diese Figur erfährt eine Wandlung und Läuterung hin zu der für Wast einzig möglichen Lösung im Zusammentreffen von Christen und Juden, der ausgesprochen pathetisch dargestellten Konversion zum Christentum als Höhepunkt von „Oro“. Denn zuvor, in dem ausführlichen Prolog, in dem es um die Gegensätze zwischen Christentum und Judentum geht, wird abschließend die Unvereinbarkeit des Jüdischen und des Argentinisch-Patriotischen postuliert, Letzteres verstan-
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den ausschließlich als Christliches. Eine andere, nicht hegemonial-christliche Konzeption von Nation ist für die Anhänger des rechten Nationalismus, neben Wast z.B. auch Meinvielle, nicht denkbar. Der Roman zeichnet deshalb essentialistische Gegensätze zwischen beiden Religionen und legt den Figuren wiederholt Diskussionen um ihren Stellenwert in den Mund. Die Frage nach dem Status der „Protokolle der Weisen von Zion“ als apokryph oder echt wird eingeflochten, ihre „Wahrheit“ jenseits textlicher oder juristischer Überlegungen jedoch gerade durch die romanimmanenten Handlungen des jüdischen Bankiers Blumen sozusagen „bestätigt“. Dies scheint eine Reaktion auf den Berner Prozess 1933–35 zu sein, in dem die „Protokolle“ per Gerichtsurteil als Plagiat und Fälschung bezeichnet wurden. Der christliche Bankier im Roman, mit dem symbolisch zu verstehenden Namen Fernando Adalid (der auf den Katholischen König „Fernando“ verweist und für hispanische, katholisch-konservative Werte steht, „adalid“ bedeutet Anführer, Vorkämpfer) geht weniger egoistisch vor, engagiert sich für das Wohl des Landes und ist nicht nur auf eigene Gewinnmaximierung bedacht. Zu dem religiös-ökonomischen Plot kommen gewisse melodramatische Züge und emotionale Verwicklungen hinzu, (vorerst) unerfüllte Liebe aufgrund konfessioneller Gegensätze, die zum einen zwar essentialistisch als nicht überwindbar und „unauslöschlich“ bezeichnet werden, allerdings aufgehoben werden können, wenn die Personen zum Katholizismus konvertieren und damit, so schildert es Wast am Ende von „Oro“, zu ihrem spirituellen Glück finden. Was macht Wast zu einem so populären Schriftsteller seiner Zeit? Es ist wohl, wie so oft bei Bestsellern und massentauglicher Literatur, die Fähigkeit, Ängste und Stimmungen einer wirtschaftlich und politisch unruhigen Zeit auf- und relativ einfache Erklärungen oder Schuldzuweisungen für diese Lage vorzunehmen. Ähnlich wie Meinvielle findet sich bei Wast ein eher theologisch als rassistisch motivierter Antisemitismus. Letzter ist allerdings, wie bereits erwähnt, vorhanden, wird aber in den 1940erJahren in seinem Roman „Juana Tabor – 666“ (1941) noch wesentlich manifester. Wasts Werk hat von Beginn an katholisch-konservativ hispanisch ausgerichtete Züge, doch die ideologischen, nationalistisch-antisemitischen Komponenten treten erst in den 1930er-Jahren, nach seinem Paris-Aufenthalt, dem Kennenlernen der „Action française“ hinzu (Oliveira-Cézar). Wie weit Werk und Person in christlich-konservativ-nationalistischen Kreisen noch bis in das 21. Jahrhundert nachwirken, zeigen Auseinandersetzungen der letzten Jahre um die offizielle Erinnerung an Hugo Wast/Gustavo Martínez Zuviría in Argentinien: Im Jahre 2010 wurde das nach ihm benannte Zeitschriftenarchiv in der Nationalbibliothek nach jahrelanger Diskussion umbenannt und trägt jetzt den Namen des Schriftstellers Ezequiel Martínez Estrada. 2002 wurde „El Kahal/Oro“ auf der Messe des katholischen Buches ausgestellt und erst nach heftigen Protesten vonseiten der jüdischen Gemeinde zurückgezogen; in der Ausstellung von 2011 wurde eine Halle nach ihm benannt, was wiederum auf Proteste stieß (Rubín). 2010 wurde vom staatlichen Institut gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus INADI (Instituto Nacional contra la Discriminación, la Xenofobia y el Racismo) angeregt, eine nach ihm benannte Straße in seiner Geburtsstadt Córdoba umzubenennen nach Sonia Torres, der lokalen Leiterin der Nicht-Regierungsorganisation der Großmütter der Plaza de Mayo, die gegen die Militärdiktatur (1976–1983) protestierten und bis heute nach dem Ver-
Der Kaufmann von Berlin (Theaterstück von Walter Mehring, 1929)
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bleib ihrer Kinder und ihrer in der Gefangenschaft geborenen Enkel forschen. Dieses Ansinnen stieß vonseiten der Familie und kirchlicher Kreise auf Protest und wurde bisher noch nicht umgesetzt.
Verena Dolle
Literatur Estela Erausquin, Manuel Gálvez et Hugo Wast: deux écrivains nationalistes et catholiques dans le bouleversement des années 30 en Argentine, Paris 1991. Daniel Lvovich, Nacionalismo y antisemitismo en la Argentina, Buenos Aires 2003. Daniel Lvovich, Trajetória de um mito conspirativo: circulação e usos dos „Protocolos dos Sábios de Sião“ e seus textos epigônicos na Argentina (1923–1945), in: Maria Luiza Tucci Carneiro (Hrsg.), O anti-semitismo nas Américas. Memória e História, São Paulo 2007, S. 111–146. Maria Oliveira-Cézar, La ideología de Gustavo Martínez Zuviría en la obra de Hugo Wast, in: Río de la Plata 20–21 (1998), S. 191–206. Sergio Rubín, Martínez Zuviría es eje de una nueva polémica, 2011 (Online-Version).
Kaiser Constantinus → Fastnachtspiele Der Kampf um die Bohemia (Erzählung von Jan Koplowitz, 1970) → Hotel Polan und seine Gäste Kanske en gentleman (Film, 1935) → Schwedische Kinoproduktionen Karikaturen → Anti-antisemitische Karikaturen, → Bildplakate, → Internationaler-Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb, → Die Juden in der Karikatur, → Judenfeindliche Karikaturen im 19. Jahrhundert, → Judenspottkarten, → Mjölnir – Zeichner des Nationalsozialismus, → Schwedische Karikaturen, → Stürmer-Karikaturen Der Karski-Bericht (Interviewfilm von Claude Lanzmann, 2010) → Shoah Das Karussell → Kabarett im Nationalsozialismus Katakamobe → Kabarett im Nationalsozialismus
Der Kaufmann von Berlin (Theaterstück von Walter Mehring, 1929) Als am 6. September 1929 im Berliner Theater am Nollendorfplatz die Uraufführung von Walter Mehrings Stück „Der Kaufmann von Berlin. Ein historisches Schauspiel aus der deutschen Inflation“ stattgefunden hatte, war die Stadt um einen Gesellschaftsskandal reicher. Fast einhellige Ablehnung schlug der Inszenierung von Erwin Piscator (und meist auch Mehrings Stück) entgegen. Doch Anlass zum Verriss boten die denkbar unterschiedlichsten politischen Ansichten – nur in den seltensten Fällen wurden theaterästhetische Kriterien ohne politische Instrumentalisierung angelegt. Antisemitismus – ob als Vorwurf an den Autor vor allem von jüdischen Kritikern geäußert, oder als Deutungshintergrund für die Rezeption durch rechts-konservative, völkische oder nationalsozialistische Kreise – spielte dabei die wesentliche Rolle.
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Der Kaufmann von Berlin (Theaterstück von Walter Mehring, 1929)
Ein „Mann aus dem Osten“, so wird der Protagonist vorgestellt, kommt mit dem Zug in Berlin an. Erst sieben Seiten später und nachdem der Mann schon zahlreiche antisemitische Schmähungen mit anhören musste (auf die er nicht reagiert), erfährt man seinen Namen: Simon Chaijm Kaftan heißt er, hat 100 Dollar dabei und „will koifn [...] far ein Dollar ganz Berlin“. Er gerät an den windigen völkischen Anwalt Müller, der ihn in die Finanzierung von geheimen Waffengeschäften mit der Reichswehr einbindet und ihn als Strohmann benutzt. Vor dem Hintergrund der galoppierenden Inflation wird Kaftan reich und bekannt: Er wird der Kaufmann von Berlin. Müller versteht es derweil, mit Kaftans auf Pump gebautem Reichtum die Potsdamer Militärs zu füttern und deren geplanten Putsch zu finanzieren. Der „Putsch“ entpuppt sich als Pogrom in der Grenadierstraße, die als Hauptstraße des Berliner Scheunenviertels gleichzeitig Zentrum und Symbol des ost-jüdischen Lebens war. Durch die plötzliche Stabilisierung der Reichsmark verliert Kaftan alles und wird von Müller fallengelassen – sein Nachfolger heißt Cohn, auch er ist ein Spekulant. Der Titel nimmt auf Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ (→ The Merchant of Venice) Bezug, und die Straßenkehrer-Szene (in der in Piscators Inszenierung schließlich ein toter Weltkriegssoldat auf den Müllkarren geworfen wird) ist stark an die berühmte Totengräber-Szene aus dem „Hamlet“ angelehnt. Doch „Der Kaufmann von Berlin“ war kein Historiendrama, sondern nahm explizit auf zeitgenössische Ereignisse Bezug, thematisierte ausführlich den gesellschaftlich weitverbreiteten Antisemitismus und zeigt dabei selbst starke antisemitische Tendenzen. Kaftan ist zwar nicht Shylock: Er ist nicht der „Jude an sich“, sondern trägt individuelle Züge. Gleichwohl sind diese antisemitisch konnotiert. Dass Mehring seinen Protagonisten mit jiddischem Akzent sprechen ließ – und Piscator gleich einen jiddisch-sprachigen Schauspieler aus New York für die Titelrolle engagierte – war dabei nicht das einzige antisemitisch auslegbare Element des „Kaufmanns von Berlin“: Zu deutlich verallgemeinerte die Figur des Kaftan Züge realer Inflationsgewinnler wie der Brüder Barmat, deren eilig zusammengekaufter Konzern Silvester 1924 spektakulär zusammengebrochen war. So wird Kaftan u. a. mit den Ausrufen geschmäht: „- Die Kaftanisierung des Außenhandels!/- Kaftans der Politik!/- Berlin das Eden der Kaftans!“, was teilweise (bis auf den Namen) wortgetreu die Kampagnen aufgreift, die aus der BarmatAffäre den „jüdischen Wirtschaftsskandal“ konstruierten und damit äußerst erfolgreich waren. Das Berliner NSDAP-Gaublatt „Der Angriff“ (16. September 1929) wollte in Kaftan den litauischen Betrüger Iwan Kutisker – auch er ein Jude, dessen Name zur antisemitischen Ausstaffierung des Barmat-Skandals herhalten musste – erkennen und warf Piscator Antisemitismus vor: „Du benimmst Dich reichlich antisemitisch. Wenn auch nicht aus Absicht [...] Und das hättest Du vermeiden müssen, denn Du bist [...] der von den Juden bezahlte ‚Kulturgoj‘.“ In der Tat erschienen sowohl im Stück als auch in der Inszenierung „Ostjuden“ pausenlos als Schieber und Inflationsgewinnler, Gegenbeispiele suchte man vergebens. Das liberale „Berliner Tageblatt“ (9. September 1929) brachte dieses Umgehen der wahren Ursachen und Schuldigen an der Inflation auf den Punkt: „Daß der Jude [Kaftan] eigentlich solide und anständig und nur von dem völkischen Rechtsanwalt und den bösen Potsdamer Offizieren mißbraucht ist, wirkt als bloße Ausrede [...] – ein laufendes Band jüdischer Schieber als
Der Kaufmann von Berlin (Theaterstück von Walter Mehring, 1929)
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Sinnbild der Inflation und Deflation, und wenn dann hin und wieder ‚Stinnes‘ gerufen wird, so klingt das wie der naive Versuch einer Ablenkung von der Realität.“ Genau dies verdiene „die allerschärfste Zurückweisung vom jüdischen Standpunkt aus“, wie Max Reinheimer („Wie Juden unbewußt Judenhaß schaffen. Zum ‚Kaufmann von Berlin‘“) schrieb, denn „so besorgt der sicherlich jüdischer Abstammung sich rühmende Herr Mehring die Geschäfte der Goebbels und Genossen“. Das eigentlich Entlarvende konnten Mehring und Piscator nicht vermitteln: Kaftans Bemühungen werden schon aufgrund seines Aussehens und seiner Sprache automatisch antisemitisch gedeutet, obwohl er sich lediglich einem System und einer Gesellschaft anpasst, in der alle auf die Jagd nach stabiler Währung gehen (schon um ihr Überleben zu sichern – wie auch Kaftan). Inmitten der Berliner Inflationsgewinnler und Schwarz-Geldtauscher kann sich Kaftan behaupten, jedoch ist es er – und nicht seine nicht-jüdischen „Kollegen“ – auf den die ganze Katastrophe der Inflation und Massenarmut projiziert wird. Nichts davon kam beim Zuschauer oder dem Leser des Stückes an. Die Antisemiten sahen eindrucksvoll ihr Vorurteil bestätigt, dass Juden (Mehring) und Kommunisten (Piscator) die Bühnen beherrschten und noch Kapital daraus schlugen, krumme Geschäfte „der Juden“ auf die Bühne zu bringen. So wetterte „Der Angriff“ noch am 1. März 1933 über „die schamlose Sudelei eines gewissen Mehring“, in der „eigens [...] eingeschleppte Ostjuden Kalauer stammeln mußten“. Aus jüdischer Sicht war das Scheitern des Vorhabens von Mehring und Piscator – nämlich antisemitische Vorurteile bloßzustellen – offenkundig. Max Reinheimer resümierte: „Und wie so häufig Kommunismus und Antisemitismus solidarisch sind [...], so werden auch hier, dank der Inszenierung des Kommunisten Piscator, die unschuldigen, verarmten Juden büßen müssen für die Sünden einiger weniger Schädlinge unter ihnen. Mehring hat sich, dem Judentum und der Sache, für die er streiten wollte, einen Bärendienst erwiesen.“ Dies verweist noch auf einen anderen Punkt: Der „Kaufmann“ kam in einer Zeit heraus, die von tatsächlichen Wirtschaftsskandalen geprägt war, in denen jüdische Unternehmer eine wesentliche Rolle gespielt hatten: Der Barmat-Skandal (1925), die Kutisker-Affäre (1924/25) und – nur 20 Tage nach der Premiere des „Kaufmanns“ – der Sklarek-Skandal, drei politisch extrem brisante Affären, die dem Antisemitismus der Weimarer Republik nachhaltig Vorschub leisteten. Vor diesem Hintergrund hatte das Stück kaum eine Chance, nicht antisemitisch gedeutet zu werden oder die Vorurteile derjenigen zu bestätigen, die ohnehin „den Juden“ die Schuld für alles gaben. Dass Mehring auch versteckte Aufrüstung, antidemokratischen Militarismus und die völkische Vetternwirtschaft scharf kritisierte, wurde durchaus gesehen: „Der deutsche Soldat, die deutsche Ehre, das ganze deutsche Volk wurde mit diesem Stück auf das gemeinste beschimpft“, schrieb „Der Angriff“ (1. März 1933). Auch hier standen reale Skandale („Panzerkreuzer A“, „Osthilfe“) im Hintergrund, die wirtschaftliche und finanzpolitische Schäden angerichtet hatten, gegen die alle vorgeblich „jüdischen“ Wirtschaftsskandale zusammen kaum ins Gewicht fielen. Doch diese Skandale waren zugunsten der leichter fassbaren, die Angst vor den „Ostjuden“ schürenden und aufgrund weitverbreiteter antisemitischer Vorurteile auch medial viel schneller aufgebauschten „jüdischen Wirtschaftsskandale“ im gesellschaftlichen Diskurs in den Hintergrund getreten; dasselbe passierte nun bei der Rezeption des „Kaufmanns von Ber-
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lin“. Die Reaktion der „C.V.-Zeitung“ (13. September 1929) ist so verständlich wie symptomatisch: „Wir lehnen dieses unwahrhaftige Tendenzstück ab und können ehrliebenden deutschen Juden den Besuch [...] nicht empfehlen.“ Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz brachte 2010 unter der Regie von Frank Castorf eine Neuinszenierung des „Kaufmanns“ auf die Bühne. Das Programmheft ging dabei ausführlich auf die problematische Rezeptionsgeschichte des Stückes ein.
Bjoern Weigel
Literatur Hans-Joachim Weitz (Hrsg.), Drei jüdische Dramen. Hermann Unger: Der rote General, Walter Mehring: Der Kaufmann von Berlin, Paul Kornfeld: Jud Süß. Mit Dokumenten zur Rezeption, Göttingen 1995.
Der Kaufmann von Venedig (Komödie von William Shakespeare) → The Merchant of Venice
Kellner-Tagebücher (1938–1945) Die Tagebücher Friedrich Kellners aus den Jahren 1938 bis 1945 zählen zu den wichtigsten autobiografischen Quellen der NS-Zeit. Die in zehn Bänden handschriftlich verfassten Aufzeichnungen liefern, ähnlich wie die Tagebücher Victor Klemperers (→ Klemperer-Tagebücher), einen illusionslosen Blick auf die mentale Befindlichkeit der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Der im oberhessischen Laubach lebende Justizinspektor (geboren 1885 in Vaihingen an der Enz, gestorben 1970 in der mittelhessischen Kleinstadt Lich) hält Tag um Tag die jahrelange Verblendung weiter Teile der Bevölkerung aufmerksam fest. Kellners Tagebücher überstanden Krieg und NS-Herrschaft in einem Geheimfach. Sie wären durch ihren Verfasser nach 1945 in einer Stimmung von Resignation beinahe vernichtet worden. Jahrzehntelang fanden sie keinen Verleger. „Es tut mir leid feststellen zu müssen, daß das primitive Denken des deutschen Volkes einen Grad erreicht hat, der schlechterdings nicht mehr zu überbieten ist. Das ist dein Werk, Propagandaminister! Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne! Man muß an den Menschen verzweifeln“, hält Friedrich Kellner am 26. September 1938 fest. Zu seinen Motiven, im Geheimen Aufzeichnungen anzufertigen, notiert er weiter: „Der Sinn meiner Niederschrift ist der, augenblickliche Stimmungsbilder aus meiner Umgebung festzuhalten, damit eine spätere Zeit nicht in die Versuchung kommt, ein ‚großes Geschehen‘ daraus zu konstruieren.“ Der überzeugte Sozialdemokrat und Weltkriegsteilnehmer Kellner erkennt im Gegensatz zur Mehrheit seiner Landsleute bereits während der Euphorie der „Blitzkriege“ die künftige totale Niederlage. Seine Aufzeichnungen zeigen, dass selbst höchstgeheime Operationen schon bald bekannt wurden: „Geheim zu halten ist überhaupt nichts. Wenn zwei etwas wissen, weiß es auch bald ein Dritter.“ (19.3.1940) Kellner registriert bereits im August 1939 vor dem Überfall auf Polen „untrügliche Zeichen einer geheimen Mobilmachung“. Kellners Augenmerk richtet sich vor allem auf das Kriegsgeschehen und die Haltung der Bevölkerung. Er registriert dabei zunächst die blinde Siegeszuversicht, dann
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die verzweifelte Durchhaltebereitschaft seiner Landsleute. Die allgemeine Judenfeindschaft steht für den Chronisten nicht im Vordergrund, sie fügt sich aber nahtlos in die allgemein herrschende Verblendung ein. Die wachsende Aggressivität des Antisemitismus hält Kellner beispielhaft fest: „Aus dem täglichen Leben: In der Kolonialwarenhandlung. […] Es kommt eine alte Frau an die Reihe. Wie heißen Sie? Katz. Sie sind Jüdin? Ja. Dann erhalten Sie von mir nichts. Ich verkaufe als Nationalsozialist nichts an Juden. Die alte Jüdin wendet eingeschüchtert ein, sie sei von der Polizei geschickt. Der Herr edle Nazi bleibt bei seiner Weigerung. – Warum sind wir ein so grausames Volk geworden?“ (14.9.1939). Kellner nimmt wiederholt auf die Verbrechen des NS-Regimes Bezug. Die Ermordung von Kranken und Behinderten wurde schon bald zu einem offenen Geheimnis: „In letzter Zeit mehren sich die Anzeigen über Todesfälle in der Heil- und Pflegeanstalt in Hadamar.“ (10.6.1941) „Die ‚Heil- und Pflegeanstalten‘ sind zu Mordzentralen geworden. Wie ich erfahre, hatte eine Familie ihren geistig erkrankten Sohn aus einer derartigen Anstalt in ihr Haus zurückgeholt. Nach einiger Zeit erhielt die Familie eine Nachricht des Inhalts, daß ihr Sohn verstorben und die Asche ihnen zugestellt werde! Das Büro hatte vergessen, den Namen auf der Todesliste zu streichen. Auf diese Weise ist die beabsichtigte vorsätzliche Tötung ans Tageslicht gekommen.“ (28.7.1941) Auch der millionenfache Mord an sowjetischen Kriegsgefangenen blieb nicht geheim: „Verwundete Soldaten haben im Lazarett in Gießen erzählt, die russischen Gefangenen würden umgebracht!! Grausames Banditenvolk! Ist das deutsche Volk ein Kulturvolk? Nein!“ (29.7.1941) Herausragende Bedeutung gewinnen Kellners Tagebücher vor allem deshalb, weil aus ihnen erkennbar wird, wie viel ein „Volksgenosse“ – ohne NSDAP-Mitglied, Soldat, Polizist zu sein und ohne jemals seine Heimatregion in Deutschlands Westen verlassen zu haben – vom Holocaust wissen konnte. Kellners Aufzeichnungen bestätigen, weil aus völlig anderer Perspektive verfasst, eindrucksvoll die Beobachtungen und Reflexionen Victor Klemperers. Schon kurz nach dem Überfall auf die UdSSR notiert Kellner: „Ausrottung der Juden, welche klüger sind als das deutsche Volk.“ (15.7.1941) Im Oktober 1941 erfährt Kellner Genaueres von den Umständen des Völkermordes: „Ein im Urlaub befindlicher Soldat berichtet als Augenzeuge fürchterliche Grausamkeiten in dem besetzten Gebiet in Polen. Er hat gesehen, wie nackte Juden u. Jüdinnen, die vor einem langen, tiefen Graben aufgestellt wurden, auf Befehl der SS von Ukrainern in den Hinterkopf geschossen wurden u. in den Graben fielen. Der Graben wurde zugeschaufelt. Aus den Gräben drangen oft noch Schreie!! […] Sämtliche Soldaten, die Kenntnis von der bestialischen Handlungsweise dieser Nazi-Untermenschen bekamen, waren der einheitlichen Meinung, daß das deutsche Volk heute schon vor einer Vergeltung zittern kann. Es gibt keine Strafe, die hart genug wäre, bei diesen Nazi-Bestien angewendet zu werden. Natürlich müssen bei der Vergeltung auch wieder die Unschuldigen mitleiden. 99 % der deutschen Bevölkerung tragen mittelbar oder unmittelbar die Schuld an den heutigen Zuständen.“ (28.10.1941) Zur Deportation der Juden hält Kellner fest: „Es verlautet, daß die Juden einiger Bezirke irgendwohin abtransportiert werden. Sie dürfen etwas Geld u. 60 Pf. Gepäck mitnehmen. […] Diese grausame, niederträchtige, sadistische, über Jahre andauernde Unterdrückung mit dem Endziel der Ausrottung ist der größte Schandfleck auf der
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Ehre Deutschlands. Diese Schandtaten werden niemals wieder ausgelöscht werden können.“ (15.12.1941) „In den letzten Tagen sind die Juden unseres Bezirks abtransportiert worden. Von hier waren es die Familien Strauß u. Heinemann. Von gut unterrichteter Seite höre ich, daß sämtliche Juden nach Polen gebracht u. dort von SS-Formationen ermordet würden.“ (16.9.1942) Auf die Ermordung der Juden geht Kellner immer wieder, insgesamt über einem Dutzend Mal, in seinem Tagebuch ein. Kellner richtet seinen Blick auch auf die Einstellungsmuster an der „Heimatfront“ während des Holocaust. So hält er z. B. fest, dass ein Richter in seinem beruflichen Umfeld den Völkermord ausdrücklich begrüßt: „Wenn wir alle Juden totgeschlagen hätten, dann wäre der Krieg nicht gekommen.“ (12.8.1942) „Ich hasse die Juden, sie müssen ausgerottet werden. An allen Kriegen sind die Juden schuld.“ (2.12.1942) Kellner hält nicht nur mündliche Äußerungen aus seinem Umfeld fest, die einen plastischen Eindruck des Verhaltens- und Einstellungsspektrums in der NS-Gesellschaft vermitteln. Er beobachtet aufmerksam das Verwaltungshandeln und die NSMedien und erkennt auch hier die tödliche Tendenz der NS-Judenverfolgung: „Nach einem Erlaß des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft vom 24. Maerz 1942 (IIc1 -1085) erhalten Polinnen und Jüdinnen keine Lebensmittelzulagen für werdende Mütter, Wöchnerinnen u. stillende Mütter. […] (Das kann wohl unter das Kapitel ‚Ausrottung der Juden und Polen‘ gebracht werden).“ (28.5.1942) Kellner entgeht auch nicht, dass die „Berliner Börsen-Zeitung“ am 8. September 1942 von der „vollständigen Entjudung“ der Slowakei schreibt, und er stellt fest: „Die sogenannte ‚Bereinigung‘ Europas von den Juden wird ein dunkles Kapitel in der Menschheitsgeschichte bleiben.“ (25.9.1942)
Bernward Dörner
Literatur Friedrich Kellner, „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne“. Tagebücher 1939–1945, hrsg. von Sascha Feuchert, Robert Martin Scott Kellner, Erwin Leibfried, Jörg Rieke und Markus Roth unter Mitarbeit von Elisabeth Turvold und Diana Nusko sowie Nassrin Sdeghi und Birgit M. Körner, Göttingen 2011. Markus Roth, Chronist der Verfolgung. Friedrich Kellners Tagebücher 1938/39 bis 1945. Beiheft zur Ausstellung: Die Last der ungesagten Worte. Die Tagebücher Friedrich Kellners 1938/39 bis 1945, Bonn 2009.
King of the Kings (Film, USA 1927) → Jesusfilme
Klein Zaches, genannt Zinnober (Märchen von E.T.A. Hoffmann, 1819) E.T.A. Hoffmanns Märchen „Klein Zaches, genannt Zinnober“ erschien im Januar 1819 im Berliner Verlag Ferdinand Dümmler mit zwei von Hoffmann selbst angefertigten Zeichnungen. In einem Brief an seinen Freund Theodor Gottlieb Hippel schrieb Hoffmann im selben Jahr: „Lies doch den Zinnober, das tolle Märchen wird dir gewiss, ich darf es glauben, manches Lächeln abzwingen. Wenigstens ist es bis jetzt das humoristischste, was ich geschrieben, und von meinen hiesigen Freunden als solches
Klein Zaches, genannt Zinnober (Märchen von E.T.A. Hoffmann, 1819)
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anerkannt.“ Dass Hoffmann mit dieser Einschätzung richtig lag, bewiesen die bald darauf folgenden positiven Rezensionen. Das Märchen, das in einem exemplarischen Fürstentum spielt, aus welchem zugunsten der Aufklärung alles Wunderbare verbannt worden ist, handelt von dem stark missgestalteten und kleinwüchsigen Zaches, der als Kind von einer Fee, die Mitleid mit dem verwachsenen Jungen hat, mit einem Zauber belegt wird, der sein abstoßendes Äußeres in der Wahrnehmung seiner Mitmenschen in die schönste und edelste Gestalt umkehrt. Der Zauber bewirkt außerdem, dass ihm die Verdienste anderer zugeschrieben werden und seine Dummheit jeweils seinen Widersachern angerechnet wird. Auf diese Weise steigt Zaches, der sich fortan Zinnober nennt, schließlich vom erfolgreichen Jurastudenten bis zum Minister auf und erwirbt sich die uneingeschränkte Bewunderung seines Umfeldes. Doch eines Tages trifft er auf den Studenten Balthasar, der sich nicht von dem Feenzauber blenden lässt und mithilfe des Zauberers Alpanus Prosper den Bann bricht. Der enttarnte Zaches/Zinnober wird verhöhnt und verspottet, bis er am Ende in seinem eigenen Nachtgeschirr ertrinkt. In „Klein Zaches, genannt Zinnober“ findet sich die ganze Bandbreite von idyllischen, märchenhaften, humoristischen und schließlich satirischen Darstellungsmitteln, um die Kraft einer kollektiv verblendeten Gesellschaft sowie die Diskrepanz zwischen aufgeklärtem Absolutismus und freiheitlichem, eigenständigen Denken herauszustellen. In der Forschungsliteratur tauchen die verschiedensten Deutungs- und Interpretationsansätze auf, die sich vor allem mit der Gesellschaftskritik vor dem politischen Hintergrund der Entstehungszeit, der Märchenmotivik und den darstellerischen Mitteln beschäftigen. Auf einen antisemitischen Gehalt ist das Märchen erst untersucht worden, nachdem es 1911 mit eindeutig judenfeindlichen Illustrationen des ungarischen Künstlers József von Divéky versehen worden ist. Da E.T.A. Hoffmann einer der am meisten illustrierten Autoren der deutschen Literatur ist und die Titelfigur seines Märchens so bildhaft gestaltet hat, zählt „Klein Zaches, genannt Zinnober“ zu den am häufigsten als Vorlage gewählten Werken. Doch Divékys antisemitische Interpretation der Figur des Zaches war vollkommen neu, denn keine der zeitgenössischen Rezensionen oder Interpretationen hat bis zu diesem Zeitpunkt in Betracht gezogen, dass Zaches als Judenkarikatur zu verstehen sein könnte. Dank der umfangreichen Illustrationsgeschichte ist eindeutig zu erkennen, dass József von Divékys Deutung eine Sonderstellung einnimmt. Zwar wird auch bei anderen Illustratoren des Klein Zaches z. B. dessen große Nase herausgestellt, doch nie im Sinne eines spezifisch „jüdischen Attributs“. Bei Divéky dagegen zeigen Initialen und ganzseitige Zeichnungen Zaches als karikaturistisch verhässlichten Juden – die fleischigen Lippen, die schweren Augenlider, die von abwartendem Misstrauen, von Unverschämtheit und Vulgarität bestimmte Haltung, die exzentrisch gestikulierenden Hände und die hochmütige Mimik, die er in seinen Bildern herausstellt, gehören zu den typischen Darstellungsmitteln der Judenkarikatur. Das Märchen selbst bietet jedoch keinen begründeten Ansatz für eine antisemitische Interpretation. So wird Zaches an keiner Stelle als Jude bezeichnet, ihm werden keine vermeintlich „typisch jüdischen Attribute“ zugeschrieben. Vielmehr scheint es, als wolle Hoffmann sich sogar gegen ein mögliches Missverständnis verwahren, in-
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Kleiner Lucidarius (Lehrgedichte, 13. Jahrhundert)
dem er Balthasar auf Pulchers Vermutung, „Zinnobers Macht stamme aus der Münze“, was als Anspielung auf die „Münzjuden“ zu verstehen sein könnte, antworten lässt: „Mit dem Golde zwingt es der Unhold nicht, es ist etwas anderes dahinter!“ Auch entstehungsgeschichtlich spielt der Kontakt zum Judentum in Hoffmanns Biografie nur eine Nebenrolle. Nichts in seinen überlieferten Briefen oder Tagebüchern deutet auf eine spezifisch antisemitische Haltung hin. Zwar hatte er neben vielen Freundschaften zu Mitmenschen jüdischen Glaubens auch Kontakt zu antisemitisch eingestellten Publizisten, doch insgesamt lassen Hoffmanns Briefe eher einen scharfen Blick auch auf die Schwächen der Juden, denen er begegnete, erkennen, nicht aber eine eindeutig antisemitische Einstellung.
Kristin Nieter
Literatur Gerhard R. Kaiser, Illustration zwischen Interpretation und Ideologie – Jozséf von Divékys antisemitische Lesart zu E.T.A. Hoffmanns Klein Zaches genannt Zinnober, in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 35 (1989), S. 21–48.
Kleiner Lucidarius (Lehrgedichte, 13. Jahrhundert) „Kleiner Lucidarius“ (früher fälschlich „Seifried Helbling“) ist eine Sammlung von 15 Lehrgedichten in mittelhochdeutschen Reimpaarversen vom Ende des 13. Jahrhunderts, verfasst von einem niederen Adeligen (Einschildritter) aus Niederösterreich. In Gedicht Nr. II, zu datieren vermutlich auf 1292/94, wird der in den meisten Gedichten übliche Dialog von Herrn und Knappen in eine simulierte Gerichtsszene gekleidet, wo der Knappe als Ankläger vor dem Herrn, der die Rolle des Herzogs übernimmt, auftritt. Angeklagt werden u. a. die verhassten Juden. Nirgends im 13. Jahrhundert kommt wohl sonst in einem deutschsprachigen Text eine solche Abneigung gegen die Juden zum Ausdruck. Der Knappe als Sprachrohr des Autors greift zwar ausdrücklich unter den Christen nur die Habgier der weltlichen Gewalt an, will aber unter der Hand, obwohl ein Laie und daher nicht zur Predigt berechtigt, die von der offiziellen kirchlichen Lehre behaupteten Gründe für das Bleiberecht der Juden unter den Christen aushebeln. Dieses sei vielmehr das größte denkbare Unrecht. Jedes Land, wohin seinerzeit nach der Zerstörung Jerusalems versklavte Juden gebracht wurden, sei von ihnen verunreinigt worden. Gerade im Herzogtum Österreich hätten sie sich besonders breitgemacht: „der huorenjuden ist gar ze vil / hie in disem lande“. Jede noch so kleine Stadt sei hier durch dreißig Juden mit Gestank und Unglauben erfüllt worden. Dies sei nur möglich, weil hier wie anderswo die verantwortlichen Landesfürsten sich nur an dem Besitz der Juden bereichern wollten und daher die Juden und sogar die ungehinderte Ausübung ihrer Religion duldeten. Dabei seien die Juden noch längst von Gott „verfluocht an lîp und an sêl“ und zur Hölle verdammt. Denn sie hätten schon seinerzeit das Goldene Kalb dem Gesetz Moses vorgezogen, folgerichtig dann den von ihren eigenen Propheten geweissagten, von der Jungfrau geborenen Messias abgelehnt und gemartert. In ihrem verstockten Unglauben sei ihnen auch die christliche Bedeutung von Psalm 44,10 verborgen geblieben. Sie seien aber nicht nur ungläubig, sondern ketzerisch, da sie das Gesetz Moses durch den Talmud ersetzt hät-
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ten. Doch nicht genug damit, sie trügen dieses Gesetz auch noch einfältigen Christen vor, betrieben also verbotenerweise Mission. Als höchster Trumpf wird hier auch noch der Vorwurf ausgespielt, der seit dem 12. Jahrhundert immer wieder erhoben wurde: Angeblich wiederholten die Juden Christi Marter alljährlich durch den Ritualmord an einem Christenknaben, der – trotz stets fehlender Beweise für die Schuld der Juden – mit seinem Tod zum Märtyrer avancierte. Ein solcher Fall führte nach Aussage der Zwettler Annalen 1293 (oder 1292) in Krems zu einem Pogrom. Vermutlich bezieht sich der Knappe auf ebendieses Ereignis, wenn er dem Landesfürsten indirekt die Mitschuld an den angeblichen Morden gibt und ausruft: „und waer ich ein fürst ze nennen,/ ich hiez iuch alle brennen,/ ir juden, swâ ich iuch kaem an“ [„hieße ich ein Landesfürst, wollte ich euch alle, ihr Juden, wo ich euer habhaft würde, verbrennen lassen“]. Nur so würde der Landesfürst zur Ehre des Landes und seiner eigenen Fürstenehre die gestörte „ordenunge“ im Lande, den verkehrten „landsit“ („Landesbrauch“) wiederherstellen. Der Text begnügt sich also nicht damit, die weltliche Gewalt dazu aufzurufen, den Juden ihre angeblichen Untaten und die Ausübung ihrer Religion in den Synagogen zu untersagen, sondern spricht ihnen ihr Existenzrecht unter den Christen ab und fordert ihre Verbrennung als Ketzer. Der Text ist damit ein wichtiges Zeugnis für die Verbreitung und Wirksamkeit der geistlichen Polemik im „Volk“ seit dem Pariser Talmudprozess in der Mitte des 13. Jahrhunderts.
Fritz Peter Knapp
Literatur Seifried Helbling, hrsg. von Joseph Seemüller, Halle an der Saale 1886. Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439, I. Teilband: Die Literatur in der Zeit der frühen Habsburger bis zum Tod Albrechts II. 1358, Graz 1999. Manuela Niesner, „Wer mit juden well disputiren“. Deutschsprachige Adversus-Judaeos-Literatur des 14. Jahrhunderts, Tübingen 2005.
Klemperer-Tagebücher (1933–1945) Die Tagebuchaufzeichnungen des Romanisten Victor Klemperer (Landsberg an der Warthe, 9.10.1881 – Dresden, 11.2.1960) zählen zu den wichtigsten Quellen über die NS-Judenverfolgung. Klemperers Diarien fanden seit ihrer Veröffentlichung im Jahre 1995 international große Beachtung. Eine kommentierte Gesamtausgabe der Tagebücher erschien 2007 als CD-ROM. Klemperer, der Sohn des Rabbiners Wilhelm Klemperer, heiratete 1906 die Konzertpianistin Eva Schlemmer und konvertierte 1912 zum Protestantismus. Der Teilnehmer des Ersten Weltkriegs lehrte ab 1920 als Professor für Romanistik an der Technischen Hochschule in Dresden. Klemperers Entlassung erfolgte im April 1935. In den Jahren 1933 bis 1945 wurde er zum aufmerksamen Chronisten der Entrechtung, Ausgrenzung und Deportation der jüdischen Minderheit. Klemperer war dazu in der Lage, weil er, mit einer „Arierin“ verheiratet, von der Verschleppung in den Tod verschont blieb und nach der Bombardierung Dresdens untertauchen konnte.
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Klemperer-Tagebücher (1933–1945)
Zu seiner Motivation, das Geschehen unter schwierigsten Existenzbedingungen festzuhalten, notiert er: „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten.“ (11.6.1942) Klemperer verfügte über den Mut und den Verstand, den Dehumanisierungsprozess aus der Verfolgtenperspektive sehr genau zu registrieren. Indem er die öffentlichen Verlautbarungen reflektierte und die diskreten Diskurse der Bevölkerung aufmerksam registrierte, vermochte er das Regime in seinem Charakter zu durchschauen. Zu den Grenzen der Wirksamkeit der NS-Propaganda und zur Möglichkeit des Einzelnen, sich dem verordneten Zeitgeist zu widersetzen, hält Klemperer am 31.3.1942 fest: „LTI. Die Sprache bringt es an den Tag. Bisweilen will jemand durch Sprechen die Wahrheit verbergen. Aber die Sprache lügt nicht. Bisweilen will jemand die Wahrheit aussprechen. Aber die Sprache ist wahrer als er. Gegen die Wahrheit der Sprache gibt es kein Mittel.“ Klemperers Tagebuchaufzeichnungen belegen, dass die Zerstörung der Demokratie und die Entrechtung der jüdischen Minderheit in aller Öffentlichkeit erfolgten. Bereits nach wenigen Wochen NS-Herrschaft stellt er erschüttert fest, wie schnell die deutsche Gesellschaft Hitler zu folgen bereit war: „Ich glaube nicht mehr an Völkerpsychologie. Alles, was ich für undeutsch gehalten habe, Brutalität, Ungerechtigkeit, Heuchelei, Massensuggestion bis zur Besoffenheit, alles das floriert hier.“ (3.4.1933) Nach der Saarabstimmung 1935 hält Klemperer fest: „Auch im Reich wollen 90 Prozent den Führer und die Knechtschaft und den Tod der Wissenschaft, des Denkens, des Geistes, der Juden.“ (16.1.1935) Er ahnt schon früh die tödliche Gefahr, die von dieser Mentalität ausgeht: „Ich bin schon nicht Deutscher und Arier, sondern Jude und muß dankbar sein, wenn man mich am Leben läßt.“ (20.4.1933) Klemperers Aufzeichnungen machen deutlich, dass die NS-Verbrechen keineswegs geheim blieben. Aus Pirna hört er: „Der Sonnenstein ist schon längst nicht mehr die Landesirrenanstalt. SS hat ihn. Sie haben ein eigenes Krematorium gebaut. Mißliebige werden in einer Art Polizeiwagen heraufgebracht. Der heißt hier allgemein die ‚Flüsterkutsche‘. Danach erhalten die Angehörigen die Urne. Neulich hat hier eine Familie zwei Urnen auf einmal erhalten.“ (21.5.1941) Schnell machten sogar geheimste Informationen die Runde: „Frau Paul […] erzählt verzweifelt, ihre Mutter, 89 Jahre, gebe Anzeichen von Altersirrsinn. ‚Ich kann sie in kein Krankenhaus bringen, da wird sie getötet.‘ Man spricht jetzt allgemein von der Tötung der Geisteskranken in den Anstalten.“ (22.8.1941) Obwohl Klemperer als Jude immer weiter isoliert wurde und ihm der Zugang zu den NS-Medien zunehmend versagt blieb, gelang es ihm dennoch, gut über die politische Lage informiert zu sein. So erfährt er im Juli 1940 von geheimen Überlegungen des Regimes, europäische Juden nach Madagaskar zu verschleppen. (7.7.1940) Bereits im Herbst 1940 hört Klemperer von Judendeportationen aus dem Reichsgebiet: „Schwer beunruhigt durch brutale Judenevakuierungen aus Württemberg. Die Leute seien nackt und bloß binnen zwei Stunden abgeschoben worden nach Südfrankreich […].“ Dass Deportationen auch im übrigen Reichsgebiet drohen, wird in Klemperers Umfeld von manchem bereits zu diesem Zeitpunkt erkannt: „Katz doziert: 1000 Juden aus Dresden sind leichter zu evakuieren als 120 000 aus Berlin […].“ (7.11.1940) Wenige Tage nach dem Beginn der reichsweiten Deportationen ab Mitte Oktober 1941 hält Klemperer besorgt fest: „Immer erschütterndere Nachrichten über Judenver-
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schickungen nach Polen. Sie müssen fast buchstäblich nackt und bloß hinaus. Tausende aus Berlin nach Lodz (‚Litzmannstadt‘).“ (25.10.1941) Schon bald erhält Klemperer erste Informationen über den tödlichen Charakter der Deportationen: „Paul Kreidl erzählt – Gerücht, aber von verschiedenen Seiten sehr glaubhaft mitgeteilt –, es seien evakuierte Juden bei Riga reihenweis, wie sie den Zug verließen, erschossen worden.“ (13.1.1942) Anfang März 1942 stellt er fest: „Es liegt jetzt so, daß KZ offenbar identisch mit Todesurteil ist.“ (1.3.1942) Mitte März nennt er zum ersten Mal den Begriff Auschwitz: „Als furchtbarstes KZ hörte ich in diesen Tagen Auschwitz (oder so ähnlich) bei Königshütte in Oberschlesien nennen. Bergwerksarbeit, Tod nach wenigen Tagen.“ (16.3.1942) Am 12.4.1942 notiert Klemperer: „Von den Evakuierten. Leben sie noch? Seit Monaten keine Nachricht. Werden wir hinaus müssen? Wie lange noch? Wird man uns vorher morden? – Gestern ein Novum. Nach fünf Monaten ein Lebenszeichen von Ernst Kreidl: Karte aus Buchenwald. Erschütternd war die Freude darüber. Er lebt, er ist nicht in Auschwitz […].“ Eine Woche später schildert er, wie durch Soldaten auf Urlaub Wissen über den Judenmord nach Deutschland gelangte: „Grauenhafte Massenmorde an Juden in Kiew. Kleine Kinder mit dem Kopf an die Wand gehauen. Männer, Frauen, Halbwüchsige zu Tausenden auf einem Haufen zusammengeschossen, ein Hügel gesprengt und die Leichenmasse unter der explodierenden Erde begraben.“ (19.4.1942) Ende August notiert Klemperer, der „Ausrottungswille“ steige „immerfort“: „Der Verwalter unseres Hauses, erzählte Frau Ziegler, sei wegen Judenfreundlichkeit vor die Gestapo geladen worden. Auf seine Erklärung, die Leute seien anständig, wurde ihm gesagt, es gebe keine anständigen Juden und die ‚ganze Rasse werde ausgerottet werden‘.“ (29.8.1942) Am 2. Oktober 1942 hält er bilanzierend fest: „Hitlers Rede zu Beginn des Winterhilfswerkes. Seine alte Leier maßlos übersteigert […] Maßlos die Bedrohungen gegen England, gegen die Juden in aller Welt, die die arischen Völker Europas ausrotten wollten und die er ausrottet. Nicht daß ein Wahnsinniger in immer stärkerer Tobsucht tobt, sondern daß Deutschland das hinnimmt […] ist so grauenhaft.“ Das Bewusstsein, sich in einer tödlichen Falle zu befinden, wird zur quälenden Gewissheit: „Heute zum ersten mal die Todesnachricht zweier Frauen aus dem KZ. […] Beide wurden von dem Frauenlager in Mecklenburg nach Auschwitz transportiert, das ein schnell arbeitendes Schlachthaus zu sein scheint.“ (17.10.1942) Zur Dimension des Genozids an den europäischen Juden hält er im Herbst 1944 fest: „Am Sonntag abend war Konrad ein paar Minuten bei uns: Er äußerte sich – und mit vieler Wahrscheinlichkeit hinter seiner Annahme und Berechnung – furchtbar pessimistisch […]. Er glaubt (nach Soldatenberichten), daß vor den Rückzügen alles ermordet worden ist, daß wir niemanden wiedersehen werden, daß sechs bis sieben Millionen Juden (von den fünfzehn existiert habenden) geschlachtet (genauer: erschossen und vergast) worden sind.“ (24.10.1944) Wie war dies alles möglich? Klemperer zu den mentalen Voraussetzungen dieses Menschheitsverbrechens: „Der Nationalsozialismus adaptiert Faschismus, Bolschewismus, Amerikanismus, verarbeitet alles in teutsche Romantik. ‚Les extremes se touchent.‘ Volk der Träumer und der Pedanten, der verstiegenen Überkonsequenz, der Nebelhaftigkeit und der genauesten Organisation. Auch die Grausamkeit, auch der Mord sind bei uns organisiert.“ (17.8.1942)
Bernward Dörner
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Kommen wird der Tag! (Roman von Roderich Müller-Guttenbrunn, 1921)
Literatur Benedict Faber, „Leben wie im Unterstand“: Victor Klemperers deutsch-jüdische Existenz im Nationalsozialismus im Spiegel seiner biographischen Selbstzeugnisse, Vaasa 2005. Hannes Heer (Hrsg.), Im Herzen der Finsternis. Victor Klemperer als Chronist der NS-Zeit, Berlin 1997. Peter Jacobs, Victor Klemperer – im Kern ein deutsches Gewächs. Eine Biographie, Berlin 2000. Walter Nowojski, Victor Klemperer: Romanist. Chronist der Vorhölle, Berlin 2004. Denise Rüttinger, Schreiben ein Leben lang. Die Tagebücher Victor Klemperers, Bielefeld 2011. Arvi Sepp, Topographie des Alltags. Eine kulturwissenschaftliche Lektüre von Victor Klemperers Tagebüchern 1933–1945, Paderborn 2014. Lothar Zieske, Schreibend überleben, über Leben schreiben. Aufsätze zu Victor Klemperers Tagebüchern der Jahre 1933 bis 1959, Berlin 2013.
Kommen wird der Tag! (Roman von Roderich MüllerGuttenbrunn, 1921) Der Roman „Kommen wird der Tag! Die Geschichte der nächsten deutschen Befreiung“ ist in seiner Erstauflage 1921 im Verlag Theodor Weicher (Leipzig und Berlin) erschienen. Als Autor wird Dietrich Arndt genannt, ein Synonym von Roderich Müller-Guttenbrunn. Dem Haupttext ist ein Gedicht mit dem Namen „Versailles! (Zum 28. Juni 1919)“ vorangestellt. Auch hier wird ein Synonym von Müller-Guttenbrunn als Verfasser angegeben, Roderich Meinhart, und darauf verwiesen, dass das Gedicht mit dessen Erlaubnis aus seinem Roman „Wiener Totentanz“ abgedruckt wurde. Roderich Müller-Guttenbrunn (1832–1965), Sohn des Schriftstellers Adam MüllerGuttenbrunn, war später NSDAP-Mitglied, Redakteur der Wiener Ausgabe des „Völkischen Beobachters“ und Geschäftsführer des Landesverbandes des Reichsverbandes der deutschen Presse, Ostmark bzw. Alpen-Donau. „Kommen wird der Tag!“ ist ein revanchistischer, deutschnationaler Roman, der sich vor allem gegen die Versailler Friedensverträge richtet. Der Text ist voller antifranzösischer Stereotype, insbesondere gegen die Kolonialtruppen. Müller-Guttenbrunn zeichnet das utopische Bild eines deutschen Aufstandes gegen die angebliche französische Fremdbestimmung. Antisemitische und rassistische Vorurteile durchziehen die Erzählung. Die Handlung dreht sich um die Brüder Wilhelm und Kurt Weigand, die eine geheime Organisation, den Bund „Freiheit“ leiten, der im Untergrund für ein Großdeutsches Reich und gegen die Auflagen der Friedensverträge mit der Entente arbeitet. Ihre Schwester wurde von französischen Kolonialsoldaten vergewaltigt und ermordet. Der Bund verfügt über politische und militärische Strukturen. In Deutschland ist die Stimmung angespannt. Frankreich nimmt eine Wirtshausprügelei zwischen Franzosen und Deutschen zum Anlass und marschiert in Deutschland ein. Dabei werden gezielt dunkelhäutige Soldaten eingesetzt, die von den Franzosen mit nicht näher definierten medizinischen Mitteln dazu angestachelt werden, deutsche Mädchen und Frauen zu vergewaltigen. Auf Befehl der französischen Besatzungsmacht werden für die Kolo-
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nialtruppen eigene Bordelle eingerichtet. Die Brüder Weigand organisieren ein Widerstandsnetz, mit dem sie es schließlich schaffen, die französischen Besatzungssoldaten zu entwaffnen. England wird durch eine Seeblockade, die durch ein elektrisches Feld erzeugt wird, das auf einer Erfindung von Kurt Weigand basiert, vom Festland abgeschnitten und kann Frankreich nicht unterstützen. Der Roman endet mit dem Sieg der Deutschen und der Eingliederung von Österreich, Südtirol und den böhmischen Gebieten an Deutschland. Die Brüder Weigand werden zu Symbolen für deutschen Freiheitstrieb und Erfindergeist. Müller-Guttenbrunn verwendet an mehreren Stellen des Buches antisemitische Stereotype. In der Welt des Romans ist die russische Revolution gescheitert, was nur knapp mit dem Verweis darauf kommentiert wird, dass „die Handvoll von jüdischen Diktatoren, die es [Russland] ins Unglück gebracht hatten, in alle Winde verjagt“ wurden. Auch der Sprecher des internationalen Flügels der „Mehrheitssozialistischen Partei“ mit Namen Israeli wird von Müller-Guttenbrunn mit antisemitischen Zügen versehen und für den Verrat an den Interessen des deutschen Volkes verantwortlich gemacht. Die Abkehr der Partei vom Internationalismus wird so kommentiert: „All die tausend „Israeli“, die seit Jahrzehnten Deutschland vergiftet hätten, schäumten vor Wut, um den Gewinn ihrer wohldurchdachten, langen Arbeit sahen sie sich betrogen.“ Auch die Vertreter des Internationalismus in der österreichischen Sozialdemokratie werden im Buch als „jüdische Führer“ beschrieben, die ebenfalls durch die Abkehr vom Internationalismus geschwächt wurden. Darüber hinaus beschreibt Müller-Guttenbrunn die „Ostjuden“ in Wien als „schmutzige ekle Spinnen“, die sich „an diesen faulen Stadtleib anklammerten“. Neben dem Antisemitismus enthält das Buch rassistische Beschreibungen der französischen Kolonialsoldaten. Dabei wird an mehreren Stellen vom Autor auf sogenannte Mischlinge eingegangen. Der Bruder von Karl Bewer (ein jugendlicher Mitstreiter des „Bundes“) wird etwa als „Mischling“ definiert, da seine Mutter von einem schwarzen Franzosen vergewaltigt wurde. Müller-Guttenbrunn schreibt dazu: „So viel verstand aber Karl bereits, daß es da kein Mitleid gab, daß die Frage der Mischlinge in Deutschland, die bereits zu einer brennenden geworden war, nur mit harten Händen gelöst werden konnte.“
Lukas Meissel
Literatur Fritz Hausjell, Journalisten für das Reich. Der „Reichsverband der deutschen Presse“ in Österreich 1938–1945, Münster 2010. Erika Weinzierl, Antisemitismus in der österreichischen Literatur 1900–1938, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 20 (1967), S. 356–371.
Das Komplott (Comic von Will Eisner, 2006) → The Plot
Kosmiker (Künstler- und Intellektuellengruppe) „Es ist unmodern, Geist zu haben und freigesinnt zu sein.“ Mit diesen Worten charakterisierte der jüdische Literaturkritiker Leo Berg den Zeitgeist im deutschen Fin de Siècle. In der Tat forderte die bildungsbürgerliche Generation der zwischen Reichs-
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gründung und Jahrhundertwende Geborenen den Liberalismus nicht nur in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht heraus. Sie stellte die westliche Moderne, was Wissenschaftsorientierung, Fortschrittsgläubigkeit, bürgerliche Moralvorstellungen und das christlich-jüdische Wertesystem betraf, viel grundsätzlicher infrage, ohne schlicht an einer idealisierten Vergangenheit festzuhalten. Hinter dem „Unbehagen in der Kultur“ verbargen sich Statusängste in gebildeten und künstlerischen Milieus, die sich mit kulturpessimistischer Larmoyanz, einem übertriebenen Geniekult und esoterischen Weltanschauungsentwürfen von der entstehenden demokratischen Massengesellschaft absetzten. Vor diesem mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund entstanden zahlreiche künstlerische und philosophische Entwürfe, die an einer „Wiederverzauberung“ der als kalt und rationalistisch empfundenen Moderne arbeiteten. Das Beispiel der Kosmiker Alfred Schuler und Ludwig Klages zeigt, wie sich diese Entwürfe mit dem Antisemitismus amalgamieren und ihm neue ideologische Impulse zuführen konnten. Die Kosmiker waren eine Künstler- und Intellektuellengruppe der Münchener Bohème. Zu ihrem Kern gehörten Alfred Schuler (1865–1923), Ludwig Klages (1872– 1956) und Karl Wolfskehl (1869–1948) sowie als Gäste Albert Verwey, Ludwig Derleth, Oscar Schmitz, Stefan George und als Muse die Gräfin Fanny zu Reventlow. Die Kosmiker trafen sich zwischen 1899 und 1904 regelmäßig zum Gedankenaustausch, zu Lesungen und zur Abhaltung pseudoreligiöser Festlichkeiten. Obwohl es in ihren Themen und Symbolen Überschneidungen mit der völkischen Bewegung gab, können unter den namhaften Mitgliedern nur Klages und Schuler als überzeugte Antisemiten gelten. Mit dieser Haltung trugen sie zum Zerfall der Gruppe bei. Später legten beide philosophische Entwürfe vor, in denen sie Zivilisationskritik und Antisemitismus zusammenführten. Sie tragen eine Mitverantwortung an der antisemitischen Ausrichtung von Teilen der deutschen Lebensreform-, Heimatschutz- und Jugendbewegungen. Die Kosmiker wandten sich unter dem Einfluss der Werke Johann Jacob Bachofens und Friedrich Nietzsches gegen den Fortschrittsglauben, Materialismus und Logozentrismus der technischen Zivilisation und des „okzidentalen Rationalismus“ (Max Weber). Christliche Leibesfeindlichkeit, instrumentelle Vernunft und bürgerliche Moral würden zur Repression der inneren Natur (Affektkontrolle) und zur Ausbeutung der äußeren Natur (Umweltzerstörung) führen. Die damit einhergehende Ausblendung nichtrationalen Erlebens münde in einer materialistischen Verflachung der Kultur. Dieser diagnostizierten Entwicklung versuchte die Gruppe mit mystischen, esoterischen und kulturreformerischen Ansätzen entgegenzuwirken. So wandten sich die Kosmiker gegen den jüdisch-christlichen Monotheismus und wollten in heidnischen Religionsformen das „Dionysische“ wiederaufleben lassen. Das experimentelle Neuheidentum verbanden Schuler und Klages mit dem Antisemitismus, denn sie glaubten, im Judentum die geistesgeschichtliche Quelle der Entfremdung des Menschen von seiner inneren und äußeren Natur ausgemacht zu haben. Zudem entwarfen die beiden Kosmiker Zerrbilder von einer jüdischen Unterwanderung und Überfremdung. Nach antisemitischen Pöbeleien von Klages und Schuler gegen Wolfskehl lösten sich die Kosmiker im „Schwabinger Krach“ von 1904 auf. Während sich die nichtantisemitischen Mitglieder nun um Stefan George sammelten, scharrten Klages und Schuler eine eigene Anhängerschaft um sich. Der studierte Altertumswissenschaftler
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Alfred Schuler inszenierte sich selbst als „letzten Römer“, verehrte Kaiser Nero als Höhepunkt heidnischer Kultur und fantasierte über eine mystische Blutleuchte, die zur verlorenen Ganzheitlichkeit menschlicher Existenz zurückführe. Judentum und Christentum machte er für die Entfremdung des Menschen aus der inneren und äußeren Natur verantwortlich. Im Aphorismus „Jahwe-Moloch“ heißt es: „Ans Herz des Lebens schlich der Marder Juda. Zwei Jahrtausende tilgt er das heiße, pochende, schäumende, träumende Mutterherz. Bei diesem Schlurfe nicht ertappt zu werden, hat er alle Wege zum Herzen verrammelt. Das Herz der Erde als Hölle der Christen.“ Als Symbol des Heidentums und des ganzheitlichen Lebens führte Schuler das Hakenkreuz ein. Zwischen 1915 und 1922 verkehrte er im Hause des Verlegerehepaars Bruckmann, das zu den frühesten Förderern und Finanziers Adolf Hitlers gehörte. Ein Kontakt Schulers zu Hitler lässt sich aber nicht nachweisen. Der jungen NSDAP stand er ablehnend gegenüber. Schuler starb bereits 1923, ohne ein einziges Werk zu hinterlassen. Er wirkte allenfalls mittelbar über Klages, der 1930 und 1940 Gedichte, Reden und Fragmente aus seinem Nachlass veröffentlichte. Klages selbst avancierte zwischen der Jahrhundertwende und seiner Ächtung durch die Nationalsozialisten 1938 zum Modephilosophen, der vor allem bei einem jungen Leserpublikum Anklang fand. Von Ökologiebewegung und Feminismus wurde er seit den 1960er-Jahren als theoretischer Ahnherr wiederentdeckt. Klages Judenfeindlichkeit lässt sich zum einen auf den Einfluss Schulers zurückführen, zum anderen auf das Zerwürfnis mit Theodor Lessing und Karl Wolfskehl. Unabhängig von persönlichen Motiven integrierte Klages antisemitische Elemente aber auch in seine Philosophie. Neben den Naturwissenschaften machte Klages den „Jahwismus“, „Judaismus“ bzw. „Juda“ für den Triumph des Geistes über das Leben verantwortlich. Der Jahwismus habe als eine der ersten Kräfte in der Menschheitsgeschichte die Welterkenntnis einem Logozentrismus unterworfen, der den Menschen außerhalb der Natur stelle und diese zum Ausbeutungsobjekt degradiere. Das weiblich-passiv kodierte Prinzip des Erlebens sei mit der Vernichtung des Heidentums durch das männlich-aktive Prinzip des Geistes (verstanden als Zweckrationalität) abgelöst worden. Damit projizierte Klages die geistesgeschichtliche Urheberschaft der rationalistischen Entzauberung der Welt und der industriellen Umweltzerstörung gegen alle historische Plausibilität auf den antiken Monotheismus – und somit auf das Judentum als dessen Quelle. Klages unterschied zwar zwischen dem Jahwismus als geistiges Prinzip, in das er auch die Christen einbezog, und den Juden als konkrete Religionsgemeinschaft. Doch vor dem Hintergrund zeitgenössischer theologischer Diskurse und völkisch-religiöser Entwürfe war diese Unterscheidung für die Rezeption ohne jede Relevanz. Außerhalb seines Hauptwerks „Der Geist als Widersacher der Seele“ (1929–32) gab sich Klages weniger Mühe, seinen paranoiden Judenhass zu kaschieren. In Aufzeichnungen von 1903 behauptete Klages, der „Jude“ repräsentiere den „nackten Willen zur Vernichtung“. Er „schlachtet, vergiftet, verpestet ohne Wiederersatz […]. Er bedient sich der Tat, um das Ergebnis der Tat zu vertilgen. So vertritt er den unendlichen Zweck, den ahasverischen ‚Fortschritt‘. Alles Menschliche ist dem Juden bloße Gebärde.“ Daraus zog Klages das Fazit: „Der Jude ist überhaupt kein Mensch.“ Deutlicher als andere Kulturpessimisten seiner Zeit dehumanisierte der Philosoph den „Juden“ zur Chiffre aller lebensvernichtenden Tendenzen der Moderne.
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„Mittels des Juden heuchelt die transmundane Macht der Vernichtung, dass sie Mensch sei. So fand sie den tödlichen Vorstoß ins Leben der Erde.“ In seiner Einleitung zum Schulerschen Werk behauptete Klages, eine jüdische Verschwörung aufgedeckt zu haben. Die Juden versuchten, „arische Quellgeister zu fangen und sie unmerklich Juda dienstbar zu machen“. Gemeint war damit die angebliche geistige und rassische Unterwanderung zivilisationskritischer Strömungen, um sie dem Jahwismus und somit dem Zerstörungswerk der modernen Zivilisation zuzuführen. Im Antisemitismus wusste sich Klages mit den Nationalsozialisten einig, deren Weltanschauung er ansonsten nicht vorbehaltlos zustimmte. 1942 bezeichnete Klages in einem Brief an den Vizepräsidenten der Reichsschrifttumskammer den Weltkrieg als „Endkampf Judas mit der Menschheit“. Klages, inzwischen ein Psychologe und Grafologe von internationalem Ruf, wanderte 1915 in die Schweiz aus. Dennoch verfügte er in Deutschland über zahlreiche Sympathisanten überwiegend aus dem Umfeld der Lebensreform-, Heimatschutz- und Jugendbewegungen. 1932 wurde er mit der Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft ausgezeichnet. In den Anfangsjahren des Dritten Reiches erlebte Klages Popularität ihren Höhepunkt. Seine Jünger sammelten sich im Arbeitskreis für biozentrische Forschung und versuchten, den Philosophen zum „Künder des neuen Reiches“ aufzubauen. Zahlreiche Rezensionen und Dissertationen befassten sich mit seinem Werk. Geschätzt wurde die modernisierungskritische Grundtendenz, die den älteren Kultautor der Reformbewegungen Julius Langbehn an Radikalität übertraf. Während Langbehn nur die Auswirkungen von Industrialisierung, Urbanisierung und Wissenschaftsdenken auf die Kultur beklagte, schilderte Klages die menschliche Naturbeherrschung als apokalyptisches Zerstörungsszenario. In der Radikalität lag aber auch die Schwäche von Klages Ansatz. Mit Ausnahme des Entwurfs einer biozentrischen Wissenschaft, die auf emotionales Erleben und intuitives Schauen setzte, hatte der Philosoph keine alternativen Handlungsanweisungen für den modernen Menschen zu bieten. So passten Klages Antirationalismus und ökologischer Fundamentalismus nicht zum pragmatischen Verhältnis der NSDAP gegenüber der technischen Moderne. Die Fürsprache des Reichsjugendführers Baldur von Schirach konnte nicht verhindern, dass Alfred Rosenberg, der Reichsleiter für die weltanschauliche Schulung der Partei, Klages Philosophie 1938 für unvereinbar mit dem Nationalsozialismus erklärte. Der Parteiphilosoph Rosenberg („Der Mythus des 20. Jahrhunderts“) fürchtete zu Recht, von Klages großer Anhängerschaft in den Schatten gestellt zu werden. Trotz seiner Ausbootung hielt Klages auch im Angesicht des Holocaust noch am Antisemitismus fest, so in seinem selbstveröffentlichten Nachlass „Rhythmen und Runen“ (1944). In der Forschung wird vermutet, dass Klages den Antisemitismus taktisch einsetzte, um im Dritten Reich publiziert zu werden. Es wäre allerdings ein tiefer Fall für jemanden, der leidenschaftlich gegen die instrumentelle Vernunft wetterte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Schuler und Klages häufig gegen ihren eigenen Antisemitismus in Schutz genommen. Die Vorrede zum Schuler-Nachlass und „Rhythmen und Runen“ wurden nicht in Klages „Sämtliche Werke“ aufgenommen. Hans Eggert Schröder und Hans Kasdorff sprachen in ihren einflussreichen Büchern die Kosmiker vom Antisemitismusverdacht frei. Erst mit dem Forschungsboom zur Schwabinger Bohème um die Jahrtausendwende wurde diese Einschätzung grundle-
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gend revidiert. (Pauen, Kotowski, Schneider) Gleichzeitig entstanden aber auch geradezu hagiografische Studien, die Schröder und Kasdorff folgen. (Rohkrämer, Falter, Müller) Vielfach wird, Klages eigene Rechtfertigungen in den 1950er-Jahren aufgreifend, eine rein metaphorische Verwendung der Begriffe „Jahwismus“, „Judaismus“ und „Juda“ behauptet. Nun ist es aber ein Kennzeichen des modernen Antisemitismus, dass er die Juden nicht als Juden angreift, sondern als Repräsentanten unerwünschter Verhältnisse (in diesem Fall Entfremdung, Kapitalismus, Umweltzerstörung). Insofern ist die Metaphorik dem Antisemitismus als Stilmittel inhärent. Auch die These, dass die Judenfeindlichkeit von Klages und Schuler nicht rassistisch fundiert gewesen sei, sondern es sich um einen metaphysisch begründeten antichristlichen Antijudaismus (ähnlich wie bei Nietzsche) gehandelt habe, kann nur begrenzt überzeugen. Einerseits polemisierten die beiden Philosophen in der Tat in einem Atemzug gegen Judentum und Christentum, und ihr Antisemitismus kann durchaus im Sinne Sigmund Freuds als christlicher Selbsthass gedeutet werden. Andererseits verstanden die Kosmiker den Jahwismus nicht als Religion. Vielmehr operierten sie mit der Begrifflichkeit eines esoterischen Rassismus. Schuler und Klages waren, im Gegensatz zur Einschätzung ihres schärfsten Kritikers Thomas Mann, keine unmittelbaren Vordenker des Nationalsozialismus. Folgt man Stefan Breuers Typologisierung rechtsextremer Bewegungen, lassen sich die Kosmiker dem „ästhetischen Fundamentalismus“ zuordnen. Allerdings wurde dieser Zweig der radikalen Rechten, einschließlich der Klages-Jünger, bereits in der Weimarer Republik weitgehend von den Nationalsozialisten aufgesogen. In der Gegenwart werden die Kosmiker häufig als „Fundgrube“ von konservativen Kulturkritikern, Esoterikern und linksalternativen Bewegungen genutzt, weshalb sie von diesen Kreisen mit großem Eifer gegen den berechtigten Antisemitismusvorwurf verteidigt werden. Der Bedeutungsgewinn von Aufklärungs- und Modernisierungskritik in den Geisteswissenschaften und die Traditionssuche der postmarxistischen Linken haben seit den 1980er-Jahren Bemühungen inspiriert, die Zivilisationskritik im Wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik zu rehabilitieren. Sie sei nicht der entscheidende Ideenlieferant des Nationalsozialismus gewesen, der in Anlehnung an Detlev Peukert, Zygmunt Bauman und Thomas Rohkrämer vielmehr als eine fatale Entwicklungsmöglichkeit der technischen Moderne gedeutet werden müsse. Der Nexus von Zivilisationskritik und Antisemitismus wird in diesem Zusammenhang bagatellisiert oder verschwiegen. Dabei ist er in sozial- wie ideengeschichtlicher Hinsicht evident. Durch ihr Bildungsstreben und ihre erfolgreiche Verbürgerlichung gerieten die Juden ins Visier all jener „Jugendbewegten“, die nach Lebensentwürfen jenseits der wissenschaftlich „entzauberten“ Welt und des verkrusteten bürgerlichen Wertehimmels suchten. Für Klages und Schuler war der „Jude“ der Prototyp des modernen Menschen, der mit seiner rationalistischen Verwertungslogik die organische Gemeinschaft zersetze und die Umwelt zerstöre. Der Antisemitismus gehörte zum Kernbestand ihrer kulturpessimistischen Weltanschauungen. Dieser Befund erinnert daran, dass der moderne Antisemitismus seine wichtigsten Impulse nicht aus der Pathologie der Moderne bezog, sondern aus der Pathologie jener, die sich auf die Suche nach einer „anderen Moderne“ (Thomas Rohkrämer) begaben. Im Fin de Siècle wurde das ideologische Repertoire des Antisemitismus um postmoderne Elemente er-
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Kraft durch – Feuer (Drama von Rudolf Frank, 1938/39)
weitert, was ihn für alternative Denker attraktiv machte, die nicht im klassischen Sinne als „rechts“ oder konservativ eingestuft werden können.
Thomas Gräfe
Literatur Reinhard Falter, Ludwig Klages. Lebensphilosophie als Zivilisationskritik, München 2003. Andreas Greiert, Reflex oder Reflexion? Zivilisationskritik und Antisemitismus in der deutschen Jugendbewegung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 897–919. Elke-Vera Kotowski, Verkünder eines ‚heidnischen‘ Antisemitismus. Die Kosmiker Ludwig Klages und Alfred Schuler, in: Gert Mattenklott, Michael Philipp, Julius H. Schoeps (Hrsg.), „Verkannte Brüder“? Stefan George und das deutsch-jüdische Bürgertum zwischen Jahrhundertwende und Emigration, Hildesheim 2001, S. 201–218. Baal Müller, Kosmik. Prozeßonthologie und temporale Poetik bei Ludwig Klages und Alfred Schuler. Zur Philosophie und Dichtung der Schwabinger Kosmischen Runde, München 2007. Michael Pauen, Einheit und Ausgrenzung. Antisemitischer Neopaganismus bei Ludwig Klages und Alfred Schuler, in: Renate Heuer, Ralph-Rainer Wuthenow (Hrsg.), Konfrontation und Koexistenz. Zur Geschichte des deutschen Judentums, Frankfurt am Main 1996, S. 242–269. Heinz-Peter Preusser, Antisemiten aus Kalkül? Über Alfred Schuler, Ludwig Klages und die Instrumentalisierung des rassistischen Ressentiments im Nationalsozialismus, in: Walter Delbar, Horst Denkler, Erhard Schütz (Hrsg.), Spielräume des einzelnen. Deutsche Literatur in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Berlin 1999, S. 121–136. Thomas Rohkrämer, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, Paderborn 1999. Walter Schmitz, Uwe Schneider, Völkische Semantik bei den Münchner Kosmikern und im George-Kreis, in: Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Handbuch zur völkischen Bewegung 1871–1918, München 1996, S. 711–746. Tobias Schneider, Ideologische Grabenkämpfe. Der Philosoph Ludwig Klages und der Nationalsozialismus 1933–1938, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2001), S. 275– 294. Tobias Schneider, Sektierer oder Kampfgenossen? Der Klages-Kreis im Spannungsfeld der NS-Kulturpolitik, in: Walter Schmitz, Clemens Vollnhals (Hrsg.), Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus. Aspekte einer politischen Kultur, Dresden 2005, S. 299–323.
Kraft durch – Feuer (Drama von Rudolf Frank, 1938/39) Rudolf Frank (1886–1979) war in der Zeit der Weimarer Republik ein vielseitiger Theatermann, er arbeitete als Schauspieler, Dramaturg, Regisseur und verfasste darüber hinaus Hörspiele, Drehbücher und einen Jugendroman. 1936 emigrierte er, nachdem ihm als Juden die Arbeitsbedingungen in Deutschland zunehmend erschwert worden waren, zunächst nach Österreich, 1938 in die Schweiz. Dort verfasste er 1938/39 mit Unterstützung des ebenfalls emigrierten Werbefachmanns Abraham Halbert das Zeitstück „Kraft durch – Feuer. Die Nacht vom 9. November 1938“, das 1939 in Zürich unter dem Pseudonym „Albert Rudolph“ veröffentlicht wurde. Eine deutschsprachige Hörspielversion wurde 1940 im US-amerikanischen Rundfunk aus-
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gestrahlt. Eine Bühnenrealisierung ist nicht nachweisbar; der Text wurde nach 1945 auch nicht wieder veröffentlicht. Das Stück ist eine der frühesten literarischen Auseinandersetzungen mit den Novemberpogromen von 1938. Es bettet den judenfeindlichen Terror in eine Ehegeschichte ein, eine in der damaligen Exilliteratur oft praktizierte Technik, politische Ereignisse in ihren Auswirkungen auf die Privat- und Intimsphäre darzustellen. Im Zentrum des in Frankfurt angesiedelten Geschehens steht das Ehepaar Otto und Alice Buchsbaum. Die gebürtige Belgierin Alice Buchsbaum ist in zweiter Ehe mit dem jüdischen Arzt verheiratet, aus ihrer ersten Ehe leben zwei nichtjüdische Töchter in der Familie. Anders als in vielen anderen exilliterarischen Werken ist die Liebesbeziehung in dieser „Mischehe“ nie ernsthaft bedroht, sondern erweist sich als unantastbares Residuum zwischenmenschlichen Zusammenlebens und wechselseitiger Anerkennung. Damit ist zugleich ein Urteil über den Nationalsozialismus formuliert: Dieser attackiert die Ehe zwischen Alice und Otto Buchsbaum nicht allein wegen der „Rassenschande“ (da Alice Belgierin ist, zählt sie ohnehin nicht zu den deutschen Rechtssubjekten), sondern wegen einer prinzipiellen Feindschaft gegen die zwischenmenschliche private Vertrautheit, die in der Geschlechterliebe ihren sinnfälligsten Ausdruck findet. Der Nationalsozialismus negiert, so die politische Aussage des Stückes, vorsätzlich das Liebesideal, insofern sich darin das Individuum sittlich und sinnlich selbst realisiere. Das Pogromgeschehen wird im zweiten Akt unmittelbar auf die Bühne gebracht, als das Teppichgeschäft von Otto Buchsbaums jüdischen Eltern durch eine SA-Horde verwüstet wird. Die Täter agieren motiviert durch eine Mischung aus Sadismus und materiellem Bereicherungsinteresse, also als amoralische Charaktere, womit ein individueller, nur am Rande politischer Kontrast zu dem Liebespaar und weiteren aufrechten, nicht-nazistischen Figuren gezeichnet wird. Die Sphäre jüdischen Lebens wird, nachdem der Arzt Otto Buchsbaum aufgrund des Entzugs der Approbation jüdischer Ärzte im Herbst 1938 seinen Beruf nicht mehr ausüben darf, ganz auf die Privatsphäre reduziert. Da die Figuren aber diese Privatheit bewahren können – das „gemischtrassige“ Ehepaar bleibt trotz aller Gefährdungen zusammen – können sie sich gegenüber der Nazi-Macht behaupten, die darin als ohnmächtig erscheinen soll. Im Schlussakt emigriert die ganze Familie nach Belgien. Rudolf Franks in seiner gesamten Konzeption realistisch angelegtes Zeitstück wechselt im letzten, dem vierten Akt auffällig die dramatische Form. Das im Niemandsland zwischen Deutschland und Belgien angesiedelte Verweilen der Flüchtlinge eröffnet eine parabolische Perspektive auf das Geschehen, die in einer zeitgenössischen Rezension in der sozialdemokratischen Exilzeitung „Neuer Vorwärts“ vom 5. März 1939 kritisch kommentiert wurde. Die Erfahrung der Judenverfolgung wird in einer abstrakten Allegorie der Grenzsituation zu einer allgemeinen, existenziellen Schicksalsfrage stilisiert. Die Niederkunft einer Jüdin kommentiert ein gleichfalls anwesender Pfarrer: „So wie dieses Neugeborene das Dunkel der Welt erblickt, so sind auch wir hineingestellt in diese beschmutzte Gemeinschaft der Menschen: hilflos wie Neugeborene. […] Wir stehen zwischen den Grenzen der menschlichen Macht. Hier hat sie ein Ende. Niemands Land ist Gottes Land. Wir alle sind allein mit Gott, und Gott ist mit uns. Urchristen … Urjuden …
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Urmenschen … vergesset nie, haltet fest für alle Zeit, was uns verbindet.“ Damit verlagert der Schlussakt die Thematik von der Selbstbehauptung moralischer Individuen gegen eine politische Bedrohung hin zur Selbstbehauptung der Moralität schlechthin. Jenseits solcher Allegorisierung ist das Stück ein Beispiel dafür, dass es der zeitgenössischen literarischen Befassung mit dem NS-Antisemitismus häufig nicht nur um die Dokumentation der Judenverfolgung geht, sondern dass sie zur Bebilderung ihrer Kritik auf ältere literarische Motive und Strukturen – hier das traditionelle moralische Liebesideal – zurückgreifen.
Carsten Jakobi
Literatur Rudolf Frank, Spielzeit meines Lebens, Heidelberg 1960. Rudolf Frank, Theatermann – und vieles mehr. 16. September 1886, Mainz – 25. Oktober 1979, Basel (Ausstellungskatalog), Mainz 1980. Carsten Jakobi, Der kleine Sieg über den Antisemitismus. Darstellung und Deutung der nationalsozialistischen Judenverfolgung im deutschsprachigen Zeitstück des Exils, Tübingen 2005. Erwin Rotermund (Hrsg.), Spielzeit eines Lebens. Studien über den Mainzer Autor und Theatermann Rudolf Frank (1886–1979), Mainz 2002. Saskia Schreuder, Frank, Rudolf, in: Andreas B. Kilcher (Hrsg.), Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Stuttgart, Weimar 2000, S. 148–149.
Kunst im Widerstand (A.-Paul-Weber-Kontroverse) Die im linksalternativen Milieu von Berlin (West) verortete „Elefanten Press Galerie“ zeigte 1977 eine von Werner Schartel organisierte Retrospektive mit 135 Werken des Künstlers und Druckgrafikers Andreas Paul Weber (1893–1980) unter dem Titel „Kunst im Widerstand. A. Paul Weber. Das antifaschistische Werk“, die später als Wanderausstellung in- und außerhalb Deutschlands viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Bereits zur Eröffnung monierte der „Tagesspiegel“ die fehlende Kritik an den politischen Aussagen und namentlich am Antisemitismus im künstlerischen und druckgrafischen Werk Webers. Eine anhaltende Kontroverse begann, in der u. a. der Hamburger Künstler und deutsch-jüdische Remigrant Arie Goral-Sternheim sowie Mitglieder des „Sozialistischen Büros“, einer Organisation der undogmatischen Linken, als Kritiker Webers hervortraten, während die 1974 gegründete A.-Paul-Weber-Gesellschaft ihren Namensgeber vor dem Vorwurf des Antisemitismus und der Mitläuferschaft im Nationalsozialismus in Schutz nahm. Weber selbst äußerte sich nicht öffentlich zu dem Streit. In den Neuen Sozialen Bewegungen sowie in der politischen Linken war Weber seit den 1960er-Jahren einigermaßen populär. So wurden im Kontext der Auseinandersetzung mit dem historischen Nationalsozialismus und aktuellen rechtsextremen Tendenzen immer wieder Webers Karikaturen gegen Hitler und die NSDAP verwendet, die zumeist aus der Broschüre „Hitler – ein deutsches Verhängnis“ von Ernst Niekisch (1931) entnommen waren, und auch in der ersten Dauerausstellung der KZ-Gedenkstätte Dachau Verwendung fanden. Viele fühlten sich u. a. von Karikaturen aus
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dem „Kritischen Kalender“ angesprochen, den Weber seit 1959 herausgab und in dem er gesellschaftliche und staatliche Kontrollmechanismen (Anpassungsdruck, Denunziation, Überwachung, Rufmord), Umweltzerstörung, militärische Aufrüstung, imperialistische Ausbeutung und andere Missstände anprangerte. Die Kontroverse um die Ausstellung „Kunst im Widerstand“ beförderte die Auseinandersetzung mit antisemitischen, rassistischen und ultranationalistischen Elementen in Webers Werk, wobei zunehmend sein Werdegang als politischer Künstler in den Blick geriet. So kamen einige Kritiker zu dem Schluss, dass „die Linke im Lande sich irrt, in Webers Bilderwelt einen Beitrag zur linken Bildkultur zu sehen“ (Ästhetik & Kommunikation). Weber war in seiner Jugend durch den „Wandervogel“ geprägt worden und wurde nach 1918 zu einem der beliebtesten Künstler des „völkischen Flügels“ der Jugendbewegung. Zu seinen Auftraggebern als freischaffender Grafiker zählte der Deutschnationale Handlungsgehilfen Verband (DHV), dessen Jugend- und Wanderverein „Fahrende Gesellen“ Weber als eine Art Haus- und Bundesmaler betrachtete. Für die rechtsradikalen Bünde und Verbände dürfte besonders ansprechend gewesen sein, dass Weber zwar die typischen Motive der radikalnationalistischen und völkischen Bewegung bediente, dabei aber zugleich Ausdrucksformen von hoher künstlerischer und technischer Qualität fand. In den 1920er-Jahren entstanden zahlreiche Werke, die überlegene „arische“ Männer und Frauen zeigten bzw. die Soldaten des Ersten Weltkriegs im Sinne eines nationalistischen Heldenmythos stilisierten. Neben diesen „positiven“ Darstellungen des eigenen „Volkstums“ wurden negative (etwa gefährliche, böse oder lächerliche) Figuren durch Weber häufig mit Attributen ausgestattet, die zu antisemitischen Ausdeutungen einluden, und zwar auch dann, wenn die Figuren selbst nicht explizit als Juden markiert wurden. In politischen Kontexten entstanden wiederholt offen antisemitische Karikaturen. So zeigte ein 1918 entstandener Titelentwurf bzw. ein Werbeplakat für den rassenantisemitischen Bestseller „Die Sünde wider das Blut. Ein Zeitroman“ des völkischen Autors und frühen NSDAP-Mitglieds Artur Dinter aus dem Jahr 1918 eine Art Eule mit einem „jüdischen“ Gesicht, die mit ihren Klauen einen heldischen „arischen“ Mann zu Boden hält. Im selben Jahr illustrierte Weber den Verlagsprospekt von Matthes & Thost (wo Dinter erschienen war) unter dem Titel „Totgeschwiegene Bücher“ mit einem Motiv, das die antisemitischen Stereotype des „jüdischen Intellektuellen“ variierte. Ab 1928 gehörte Weber dem nationalrevolutionären „Widerstands“-Kreis um Ernst Niekisch an, der zwar in scharfer Gegnerschaft zu Hitler und der NSDAP stand, gleichwohl auf einer radikal-nationalistischen und auch antisemitischen Ideologie aufbaute. Weber wurde zum Grafiker des Widerstands-Verlags und der gleichnamigen Zeitschrift und zu einem engen politischen Mitarbeiter Niekischs; darüber hinaus illustrierte er Bücher, Broschüren und andere Druckerzeugnisse der nationalistischen Rechten. Im Rahmen dieser Tätigkeiten entstanden Zeichnungen, die die Republik und ihre Repräsentanten als „verjudet“ denunzieren sollten, so 1930 die Illustrationen zum „Demokratenspiegel“, der deutschen Ausgabe der „Notes on Democracy“ von Henry Louis Mencken, und zu Wilhelm Stapels „Literatenwäsche“, wo u. a. ein aufgespießter Kurt Tucholsky zu sehen war. Postkartenentwürfe Webers, die Teil der politischen Kampagnen der „Nationalen Opposition“ waren, zeigten ebenfalls eindeutige
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und aggressive judenfeindliche Motive, so eine Federzeichnung von 1929 gegen den Youngplan oder die Postkarten-Folge „Um die akademische Freiheit“, mit der sich Weber an der Diffamierung des Preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker durch rechtsradikale Studenten beteiligte. Die Erinnerungen von Manfred von Killinger an seine aktive Zeit bei der Brigade Ehrhardt, die unter dem Titel „Ernstes und Heiteres aus dem Putschleben“ zuerst 1928 im Vormarsch-Verlag und ab 1931 im Zentralverlag der NSDAP Franz Eher Nachf. erschienen, bebilderte Weber mit Zeichnungen, in denen der brutale und verächtliche Blick auf „jüdische Bolschewisten“ und „Flintenweiber“ deutlich zum Ausdruck kam. Wegen seiner Zugehörigkeit zum NS-kritischen „Widerstands-Kreis“ wurde Weber 1937 für mehrere Monate in ein KZ verschleppt. 1939 nahm er zunächst auf eigene Initiative die Arbeit an den „Britischen Bildern“ auf. In pointierten Karikaturen kritisierte er Praktiken des britischen Kolonialimperialismus und Kapitalismus, bediente hiermit allerdings vorrangig antibritische Ressentiments und verband diese erneut mit antisemitischen Stereotypen. Der 1941 abgeschlossene Zyklus wurde durch das Reichspropagandaministerium bzw. das Auswärtige Amt gefördert und erschien im Nibelungen-Verlag, einem NS-Propaganda-Unternehmen. Weitere nationalsozialistische Auftragsarbeiten aus dem Zweiten Weltkrieg, die antisemitische Stereotype bedienten, richteten sich gegen die Sowjetunion („Russische Bilder“, „Leviathan“). Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit derartigen Propagandawerken kamen Webers linke Kritiker zu dem Schluss, dass seine Kunst insgesamt (stereo-)typisierend vorgehe: „Er zeichnet keine Individuen, sondern Klischees, Visagen, Archetype. Er läßt sich nicht auf den konkreten Menschen ein“ (Ästhetik & Kommunikation). Wenigstens für die antisemitischen Bilder kann dieser Befund Gültigkeit beanspruchen.
Gideon Botsch/Christoph Kopke
Literatur Thomas Dörr, „Mühsam und so weiter, was waren das für Namen...“. Zeitgeist und Zynismus im nationalistisch-antisemitischen Werk des Graphikers A. Paul Weber, Lübeck 2000. Thomas Noll, „Zwischen den Stühlen“. A. Paul Weber: Britische Bilder und „Leviathan“Reihe. Studien zum Werk des Künstlers im Dritten Reich, 2 Bände, Münster, Hamburg 1993. Werner Schartel, A. Paul Weber. Kunst im Widerstand. Das antifaschistische Werk, Berlin, Hamburg 1977. Helmut Schumacher, A. Paul Weber. Das illustrierte Werk, Lübeck 1984; A. Paul Weber. Werkverzeichnis der Gebrauchsgraphik, Lübeck 1990. Helmut Schumacher, Klaus J. Dorsch, A. Paul Weber. Leben und Werk in Texten und Bildern, Hamburg u. a. 2003. Zur Diskussion: A. Paul Weber, in: Ästhetik & Kommunikation 10 (1979), Heft 36, Linker Konservativismus?, S. 84–92.
Der Kunstwart (Kulturzeitschrift, 1887–1932)
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Der Kunstwart (Kulturzeitschrift, 1887–1932) Die Zeitschrift „Der Kunstwart“ wurde 1887 von Ferdinand Avenarius (1856–1923) als „Rundschau über alle Gebiete des Schönen“ (so der Untertitel) gegründet. In einem Prospekt schrieb der Herausgeber über die Ziele der neuen Zeitschrift: „Was wir wollen? Ein Blatt schaffen, das dem Gebildeten vom dichterischen, musikalischen, bildnerischen und sonstigen Kunstleben die Kenntnis all’ dessen vermittelt, was er eben als Gebildeter kennen muß.“ Die halbmonatlich erscheinenden Hefte waren als Instrument der Volksbildung gedacht und wollten ihr Publikum mit allen wichtigen Fragen der Gegenwartskultur bekannt machen, aber auch über „die Stellung der Künste im Leben des Einzelnen und der Nation, über ihr Verhältnis zur Gesellschaft von heute und zum heutigen Staat“ berichten. Neben grundlegenden Leitaufsätzen präsentierte Avenarius in einer „Rundschau“ Aktuelles und Wichtiges aus den „Gauen im Reiche des Schönen“, d. h. aus den verschiedenen Künsten, und bot in einem „Sprechsaal“ auch anderen Stimmen Platz. Gegen die akademische Kunst seiner Zeit setzte „Der Kunstwart“ eine Ästhetik der Anschauung, „nicht als Kunst des Verstandes, sondern als Kunst der Phantasie“. Avenarius brachte die Zeitschrift zunächst im Eigenverlag in Dresden heraus, ab 1892 arbeitete er dort mit der Druckerei Kryß & Kunath enger zusammen; allerdings blieb der ökonomische und publizistische Erfolg zunächst aus. Erst als Avenarius sich 1894 entschloss, die Hälfte seiner Anteile an den Münchener Verlag Callwey zu verkaufen, entwickelte sich „Der Kunstwart“ zu einer der führenden Kulturzeitschriften des Kaiserreichs. Zur gleichen Zeit änderte er auch den Untertitel in „Halbmonatsschau über Dichtung, Theater, Musik, bildende und angewandte Künste“. Nach der Jahrhundertwende baute Avenarius sein Programm erheblich aus und gab unter dem Markennamen „Kunstwart“ auch Bildmappen, Noten, Anthologien und literarische Werke heraus, die als Anschauungsmaterial für die allgemeine Volksbildung gedacht waren. Grundanliegen des „Kunstwarts“ war es, einem durchweg bürgerlichen und national gesinnten Publikum die traditionellen Werte deutscher Kultur als originäre Beiträge zu einer nationalen Identitätsbildung anschaulich zu vermitteln: „Wir Deutschen haben große und tiefe Künstler, deren Namen auch jeder kennt, deren Gedanken- und Gefühlswelt aber selbst den Gebildeten meist noch völlig unbekannt und jedenfalls von unsrer Geisteskultur noch nicht verarbeitet ist. Die sind also auch ›neu‹ für uns, denn wir besitzen nicht, was irgendwo niedergelegt ist, sondern nur, was in uns lebt.“ (Kunstwart 13/1899). Nach dem Verlagswechsel stieg die Auflage von ca. 1.000 Exemplaren um 1897 auf 8.000 Exemplare im Jahr 1900, 1904 wurden 22.000 Hefte verkauft. Verantwortlich für den enormen Zuwachs der Abonnenten war der „Dürerbund“, den Avenarius 1901 gründete und der zu einer wichtigen Vertriebsplattform für seine Projekte wurde. „Der Kunstwart“ verstand sich als konservativ-bürgerliche Zeitschrift der Kunstaufklärung. In den immer wieder zu findenden Reflexionen über das Wesen und die Ausrichtung der Zeitschrift gibt sich der Herausgeber Avenarius betont liberal und lehnt jede Form radikaler Positionierung des Gesamtprojektes ab. In diesem Sinne distanzierte er sich 1902, als die „Frankfurter Zeitung“ die antisemitischen Äußerungen seines literarischen Redakteurs Adolf Bartels (Bartels publizierte von 1887 bis 1905 im „Kunstwart“) kritisierte, deutlich von dessen Position: „Im besonderen hat der
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Kunstwart jeder Zeit Christen und Juden, Antisemiten und Philosemiten zu Mitarbeitern gehabt, und so soll’s bleiben, da die anständigen Christen und Juden auch in unserer Zeit noch genug gemeinsam haben, was sie mit vereinten Kräften erstreben können, der Kunstwart aber kein Blatt zu politischer Agitation ist.“ (Kunstwart 16/1902) Allerdings ist nicht zu verkennen, dass der „Kunstwart“ ein frühes Sammelbecken nationalkonservativer, rassistischer und präfaschistischer Denker war. So sah Avenarius in Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher“ ein „erlösendes Wort“ im Sinne der auch von ihm intendierten nationalen Kunsterziehung. Immer wieder schrieben hier nationalkonservative Autoren wie z. B. Wilhelm Stapel, der nach seiner Zeit beim „Kunstwart“ (1911–1916) ab 1919 Chefredakteur der antisemitischen Zeitschrift „Deutsches Volkstum“ wurde. Außerdem wurde der „Kunstwart“ 1912 zum Austragungsort der „Kunstwart-Debatte“, in der man über das Selbstverständnis der deutsch-jüdischen Kultur stritt. Die Debatte zeugt aber auch von der potenziellen Offenheit des „Kunstwarts“ gegenüber jüdischen und anderen Positionen, die Avenarius immer behauptete. Insgesamt bezeichnet Gerhard Kratzsch den „Kunstwartsgeist“ als „ethischen National-Sozialismus“ und versucht ihm zumindest im sozialen Bereich positive Seiten abzugewinnen. Doch auch er hält fest, dass u. a. mit den Redakteuren Adolf Bartels und Paul Schultze-Naumburg im „Kunstwart“ schon früh Personen auftraten, die nach 1928 zu den führenden Köpfen des „Kampfbundes für deutsche Kultur“ gehörten und damit zu direkten Vorläufern der rasseorientierten Kulturpolitik des Nationalsozialismus wurden. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges blieb die Auflage der Zeitschrift konstant hoch, während des Krieges erschienen die Hefte unter dem Titel „Deutscher Wille“ und gaben sich zunehmend politisiert. Nach 1919 konnte der „Kunstwart“ mit Avenarius und später mit seinem Stiefsohn Wolfgang Schumann als Herausgebern nicht mehr an den vorherigen Erfolg anknüpfen, bis 1926 war die Auflagenzahl auf 6.000 gesunken. „Der Kunstwart“ mit seinem konservativen und retrograden Kulturbild konnte sich nicht gegen die Konjunktur moderner und dynamischer Kunstmodelle in den 1920er-Jahren durchsetzen. 1932 erschien das letzte Heft des „Kunstwarts“ unter der Schriftleitung von Hermann Rinn, der die Zeitschrift dann noch bis 1937 unter dem Titel „Deutsche Zeitschrift. Monatshefte für eine deutsche Volkskultur“ fortführte. Danach ging der frühere „Kunstwart“ in der Zeitschrift „Das Innere Reich“ auf. Es geht sicherlich zu weit, den „Kunstwart“ als antisemitische Zeitschrift zu bezeichnen, allerdings war er eine wichtige Plattform, mit dem rasseorientiertes und antisemitisches Denken auf dem Weg über den „Dürerbund“ eine ungemein große „Gesinnungsgemeinschaft“ (Syndram) erreichte.
Peter Goßens
Literatur Gerhard Kratzsch, Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göttingen 1969. Elisabeth Mylarch, Akademiekritik und moderne Kunstbewegung in Deutschland um 1900. Zum Verständnis der ideengeschichtlichen, kulturideologischen und kunstmarktpolitischen Implikationen des Kunsturteils über moderne Malerei in den Kunst- und Kulturzeitschriften Gesellschaft, Kunstwart und Freie Bühne, Frankfurt am Main u. a. 1994.
Kurtlar Vadisi (Filmserie, Türkei 2003–2005)
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Harry Pross, Literatur und Politik. Geschichte und Programme der politisch-literarischen Zeitschriften im deutschen Sprachgebiete seit 1870, Olten, Freiburg im Breisgau 1963. Karl Ulrich Syndram, Kulturpublizistik und nationales Selbstverständnis. Untersuchungen zur Kunst und Kulturpolitik in den Rundschauzeitschriften des Deutschen Kaiserreiches (1871–1914), Berlin 1989.
Kunstwart-Debatte → Deutsch-jüdischer Parnaß
Kurtlar Vadisi (Filmserie, Türkei 2003–2005) Unter dem Titel „Kurtlar Vadisi“ [Tal der Wölfe] lief im Zeitraum 2003 bis 2005 im türkischen Fernsehen (Show TV/Kanal D) eine 97 Episoden umfassende Actionserie, in deren Mittelpunkt ein fiktiver türkischer Geheimdienst (KGT) steht, der innerhalb der Landesgrenzen illegale Aktivitäten der von den USA und Israel kontrollierten Mafia unterbinden soll. Eine 2007 anschließende Fortsetzung der Serie unter dem Titel „Kurtlar Vadisi – Terör“, die den Konflikt mit kurdischen Akteuren im Südosten der Türkei thematisierte, wurde abgesetzt, da sie von wichtigen politischen Kommentatoren als Provokation angesehen wurde. Unter dem Titel „Kurtlar Vadisi – Pusu“ („Hinterhalt“) liefen seit April 2007 mehrere Staffeln, in denen es um die Ausschaltung einflussreicher Geschäftsleute geht, die aus ökonomischem Interesse Terrorismus unterstützen. In Europa und den USA stießen insbesondere die beiden an die Serie anschließenden Spielfilme „Tal der Wölfe – Irak“ (2006) und „Tal der Wölfe – Palästina“ (2011) auf Kritik. Aufhänger für „Kurtlar Vadisi – Irak“ ist als historisches Ereignis die sogenannte „Sack-Affäre“: Am 4. Juli 2003 waren in der nordirakischen Stadt Sulaimaniyya elf türkische Offiziere und Geheimdienstler von US-Truppen festgenommen worden. Ihnen waren während der 60-stündigen Haft Säcke über die Köpfe gestülpt worden. Das Handeln der US-Militärs löste in der Türkei erhebliche Empörung aus. Im Film kehrt ein türkisches Kommando-Unternehmen in den Irak zurück, um diese ‚nationale Schmach‘ zu rächen und den für die Festnahme und die Behandlung Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Plot, der mit einer Ausnahme nur männliche Akteure relevant setzt, bietet ein nationalistisches Gut-gegen-Böse-Narrativ, das sowohl kurdische Protagonisten verächtlich und zum Opfer der Gewalt des türkischen Kommandos macht als auch USamerikanische Besatzungspolitik im Irak und dabei begangene Verbrechen an Zivilbevölkerung bzw. an Gefangenen (Abu Ghraib) aufgreift. Der zentrale US-Filmakteur wird als moderner Kreuzritter vorgestellt, der Babylon von den Muslimen befreien will. Als wichtige Gegenfigur verkörpert ein Scheich den moralisch überlegenen Islam, indem dieser sich gegen Selbstmordattentate und Enthauptungen ausspricht. In der Figur des jüdischen Arztes, der Inhaftierten im Gefängnis Organe entnimmt, um sie nach Tel Aviv, London und New York zu verkaufen, finden sich klassische antisemitische Stereotype. Die Produktionskosten des Films lagen bei ca. 8 Millionen Euro, ein Mehrfaches wurde allerdings in den Kinos eingespielt. Zahlreiche Spitzenpolitiker von AKP (Adalet ve Kalkımma Partisi/Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) und MHP (Milliyetçi Hareket Partisi/Partei der Nationalistischen Bewegung) lobten den Film über-
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Landser-Band (Berliner Rockmusikband)
schwänglich; in den türkischen Medien fand sich zugleich zahlreiche Kritik am Film, insbesondere aufgrund seiner antiamerikanischen Stoßrichtung. „Tal der Wölfe: Gladio“ (2008), der die NATO-Geheimorganisation zum Gegenstand macht und den Plot um Attentate auf einflussreiche Personen baut, sowie „Tal der Wölfe – Palästina“ (Kurtlar Vadisi – Filistin) (2011) setzten die Actionfilm-Reihe fort. Dabei bezieht sich Letztgenannter auf den israelischen Angriff auf die Ship-toGaza-Flotte, bei dem im Mai 2010 neun türkische Staatsangehörige getötet wurden. Im Film sinnt ein türkisches Kommandounternehmen auf Rache, indem es in Israel den als verantwortlich bezeichneten Moshe Ben Elizer töten soll. Die Konfliktparteien werden stereotypisiert gezeichnet: Während bei den palästinensischen Akteuren familiäre Harmonie und hinsichtlich der Darstellung des Islam wohlige Gemeinschaftsatmosphäre gezeigt wird, kommen in der Schilderung des Staates Israel und seiner Protagonisten zahlreiche antisemitische Bilder zum Einsatz. Diese werden als High-Tech-Gewalt- und Überwachungsmaschine inszeniert, die aus nichtigstem Anlass und in völliger Willkür wehrlose Palästinenser töten, um ihr Ziel – Großisrael vom Euphrat bis zum Nil – zu erreichen. Die auch auf die Ritualmordlegende rekurrierende Dämonisierung jüdischer Israelis kontrastiert im Film scharf mit der Inszenierung der türkischen Protagonisten als starke und moralisch überaus integere Retter oder Rächer unterdrückter Muslime. Diese Konstellation liefert die Legitimation für den Einsatz von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung nationalistisch-islamistischer Ziele in diesem Konflikt.
Fabian Virchow
Literatur Ahmed Khalid Al-Rawi, Valley of the Wolves as representative of Turkish popular attitudes towards Iraq, in: International Journal of Contemporary Iraqi Studies 3 (2009) 1, S. 75– 84. Necati Anaz, Darren Purcell, Geopolitics of Film: Valley of the Wolves-Iraq and Its Reception in Turkey and Beyond, in: The Arab World Geographer 13 (2010) 1, S. 34–49. Mehmet Celíl Çelebí, „Valley of Wolves“ as a nationalist Text. Master Thesis Middle East Technical University, Ankara 2006. Kevin Smets, Dilek Kaya Mutlu, Roel Vande Winkel, Beware of the Wolves! The Turkish versus the European Reception of Valley of the Wolves: Iraq (2006), in: Film International Issue 51 (2011), S. 19–34.
Landser-Band (Berliner Rockmusikband) Die Band „Landser“ war eine neonazistisch ausgerichtete Berliner Rockmusikband, deren Mitglieder der ostdeutschen Neonaziszene entstammten. Seit 1992 trat Landser mit deutschen Texten in Erscheinung. Anfangs nannte sich die Band kurzzeitig „Endlösung“. In vielen Liedern werden offen der Nationalsozialismus verherrlicht und seine Verbrechen explizit befürwortet. Viele der Texte sind extrem rassistisch, gewaltverherrlichend und rufen die gängigen Feindbilder der extremen Rechten auf: „In der Oder und in der Neisse / Nacht für Nacht die gleiche Scheisse / Im kalten Wasser Zigeunergewühl / Gelangen an’s Ufer und schreien ‚Asyl!‘ [Refrain:] Zigeunerpack – jagt sie alle weg – ich hasse diesen Dreck!“ (Lied „Zigeunerpack“, 1997). Im Lied
Landser-Band (Berliner Rockmusikband)
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„Niemals“ (2000), in dem der US-amerikanische rassistische Geheimbund Ku-KluxKlan verehrt wird, heißt es unter anderem „Irgendwer wollte den Niggern erzählen, Sie hätten hier das freie Recht zu wählen / Recht zu wählen das ham sie ja auch, Strick um den Hals oder Kugel in den Bauch!“ Im Song „Deutsche Wut“ (1997) richtet sich die Band direkt an den damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden: „Ihr kennt die neuen Landser schon / Den Soundtrack zur arischen Revolution / Ja einst spielt man uns im Radio / In Moskau, Wien und was weiß ich noch wo – Na, Ignatz, hörst du uns! Hey, Bubis, hörst du uns! hahaha! Hey, Bubis, hörst du uns! ‚Na, nich koscher, diese Leute, wa?‘ Hey, Bubis, hörst du uns!“ In dem Lied „Ran an den Feind“ wird die Vernichtung Israels angekündigt: „Wir fühlen in Horsten und Höhen / Des Adlers verwegenes Glück / Wir steigen zum Tor der Sonne empor / Wir lassen die Erde zurück – Kamerad, Kamerad – Alle Mädels müssen warten Kamerad, Kamerad – Unsere Sturzkampfbomber starten Kamerad, Kamerad – Es lautet der Befehl Ran an den Feind! Ran an den Feind! Bomben auf Israel! – Wir stellen die Auserwählten / Zum letzten entscheidenden Schlag / Wir halten Gericht, ihre Weltmacht zerbricht / Das wird unser stolzester Schlag – Kamerad, Kamerad – Alle Mädels müssen warten Kamerad, Kamerad – Unsere Sturzkampfbomber starten Kamerad, Kamerad – Es lautet der Befehl Ran an den Feind! Ran an den Feind! Bomben auf Israel! Hört ihr die Motoren singen: Ran an den Feind – Hört ihr die Motoren singen: Ran an den Feind Bomben, Bomben, Bomben auf Israel! Schalom“ (Lied „Ran an den Feind“, 2000). Auch die Abbildungen auf den CD-Cover sind zum Teil offen und explizit antisemitisch. Die Band trat selten öffentlich auf und ließ ihre Tonträger konspirativ herstellen und vertreiben. Dabei wurde auch auf Strukturen des im September 2000 verbotenen Netzwerkes „Blood&Honour“ zurückgegriffen. „Landser“ ist die wohl bekannteste deutsche → Rechtsrock-Band. Die Band und viele ihrer Lieder haben in der rechten Szene regelrechten Kultstatus. Die Lieder sind erkennbar auf das Verständnis ihrer Texte ausgerichtet. In mehreren Gerichtsverfahren, in denen rassistische Gewalttaten verhandelt wurden, ist dokumentiert worden, dass von den Tätern Landser-Songs als direkte Aufforderung zu Straftaten rezipiert worden sind, zum Teil unmittelbar vor oder während der Tatbegehung. Die politisierende und radikalisierende Wirkung der Botschaften der Landser-Lieder auf extrem rechte bzw. rechts-affine Jugendliche wurde z. B. auch im Gerichtsverfahren gegen die brandenburgische rechtsterroristische Gruppierung „Freikorps Havelland“ festgestellt. 2003 wurden der Sänger Michael Regener und zwei weitere Bandmitglieder vom Berliner Kammergericht wegen Volksverhetzung, der Aufforderung zu Straftaten und wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung zu Geldstrafen sowie Freiheitsstrafen, die zum Teil auf Bewährung ausgesetzt wurden, verurteilt. Das Urteil hatte vor dem BGH weitestgehend Bestand. Damit ist zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Musikformation als kriminelle Vereinigung eingestuft worden. Michael Regener trat während seiner Haftzeit der NPD bei, die auch Solidaritätsveranstaltungen für den Sänger organisierte. Michael Regener ist dem Rechtsrock treu geblieben: Inzwischen tritt der einstige Landser-Frontmann unter seinem Spitznamen „Lunikoff“ bzw. als Kopf der Band „Die Lunikoff-Verschwörung“ auf.
Gideon Botsch / Christoph Kopke
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Lang ist der Weg (Film von Herbert B. Fredersdorf und Marek Goldstein, 1947)
Literatur Gideon Botsch, Gewalt, Profit und Propaganda. Konturen des rechtsextremen Musik-Netzwerkes, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 46 (2001), S. 335–344. Martin Langebach, Jan Raabe, Zwischen Freizeit, Politik und Partei: RechtsRock, in: Stephan Braun u. a. (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden 2009, S. 163–188. Armin Pfahl-Traughber, Politisches Selbstverständnis und Gewaltorientierung rechtsextremistischer Skinheads – eine Fallstudie zu den Tonträgern der Band „Landser“, in: Jahrbuch Extremismus und Demokratie 13 (2001), S. 169–182.
Lang ist der Weg (Film von Herbert B. Fredersdorf und Marek Goldstein, 1947) „Lang ist der Weg“ wurde 1947 in den Bavaria Filmstudios in München-Geiselgasteig als erster Nachkriegsspielfilm in jiddischer und polnischer Sprache mit deutschen Untertiteln gedreht (Lizenznummer 13 der American Information Control Division). Produziert wurde der Film von der Jiddishen Film Organizazie (IFO)/ Internationale Filmorganisation GmbH München unter der Leitung von Abraham Weinstein. Regie führten Herbert B. Fredersdorf und Marek Goldstein, der ebenso wie Weinstein aus Polen stammte; beide waren dort bereits als Filmemacher tätig gewesen. Für die Kamera waren Franz Koch, der an Leni Riefenstahls → „Triumph des Willens“ beteiligt gewesen war, und der in Wilna geborene Holocaustüberlebende Jakub Jonilowicz, der später den Eichmann-Prozess filmte, verantwortlich. Kamera, Drehbuch und Produktion waren je doppelt besetzt, was wohl der Intention geschuldet ist, den Film auch für ein deutsches Publikum attraktiv zu machen. Den Schnitt des Films übernahm der bedeutendste Filmregisseur der Ufa vor dem Zweiten Weltkrieg Erich (Eric) Pommer, dem es gelungen war, der NS-Verfolgung durch die Emigration in die USA zu entkommen. Während des Krieges hatte er in Hollywood gearbeitet. 1946 kehrte Pommer nach Deutschland zurück und war bis 1949 Film Production Control Officer der amerikanischen Militärregierung. In den Hauptrollen waren der in Białystok geborene Regisseur und Schauspieler des damals in München aktiven jüdischen Displaced Persons Theaters – Minchener Jidischer Klajnkunst Theater/MIKT – Israel Becker, der David Jelin spielte, sowie die Tochter des albanisch-österreichischen Schauspielers Alexander Moissi, Bettina Moissi, die Dora Berkowitz verkörperte sowie Berta Litwina in der Rolle der Mutter Hanna Jelin zu sehen. Ihren Mann spielte Jacob Fischer, Mitglied eines der damals zahlreichen Dramenzirkel der jüdischen Displaced Persons (DPs). Die deutschen Schauspieler Paul Dahlke und Otto Wernicke übernahmen die Rollen der beiden Ärzte der Mutter Hanna Jelin. Auf diese Weise wollte der Regisseur das Interesse des deutschen Publikums wecken, löste damit aber gleichzeitig heftige Proteste in den Kreisen der jüdischen DPs aus, die sich gegen deutsche Schauspieler in einem Film, der Verfolgung und Überleben darstellt, wehrten. Jüdische Displaced Persons aus den DP-Lagern Neu-Freimann/Kaltherberge (München) und Pocking (eines der größten Lager in der US-Zone) übernahmen die Stati-
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stenrollen, wobei die DPs aus Pocking die Rolle der Juden bei der Selektion an der Rampe in Auschwitz-Birkenau übernahmen. „Lang ist der Weg“ erzählt die Geschichte einer polnisch-jüdischen Familie nach einer Idee von Israel Becker, der auch Ko-Autor des Drehbuchs war. Der Film beginnt mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 und zeigt die Stationen Ghetto, Deportation, Flucht, Selektion und das Schicksal der Partisanen, das Leben im Nachkriegschaos, die Erlebnisse der Überlebenden in Warschau sowie die Phase des jüdischen DP-Lebens mit Bildern aus dem DP-Lager Landsberg und Originalfilmdokumente des Zweiten Kongresses der befreiten Juden der amerikanischen Besatzungszone, der Scherit Hapleitah (Rest der Geretteten), wie sie sich selbst nannten, in Bad Reichenhall vom 25. bis 27. Februar 1947. Der Film kombiniert fiktive Aufnahmen mit dokumentarischem Material aus amerikanischen Militärarchiven über Kriegsereignisse und Befreiung. Schuld oder Verantwortung für die deutschen Verbrechen thematisiert der Film nicht, Antisemitismus wird ausschließlich den Polen zugeschrieben. Hier hat sich vermutlich der zweite Drehbuchautor, der seit 1937 für die Ufa tätige Karl Georg Külb, durchgesetzt. Als der Film gedreht wurde, lebte noch der weitaus größte Teil der jüdischen DPs in den DP-Lagern der amerikanischen und britischen Zone. Etwa 200.000 Menschen, vor allem osteuropäische Überlebende, die in den Konzentrationslagern bzw. auf den Todesmärschen befreit worden waren oder sich während der NS-Zeit durch Flucht nach Russland gerettet hatten, waren im Nachkriegsdeutschland gestrandet. Die überwiegende Mehrheit war erst nach dem 4. Juli 1946, dem Pogrom von Kielce, insbesondere in die US-Zone gekommen und wurde dort von der Militärregierung, UNHilfsorganisationen sowie jüdischen Organisationen versorgt. Nach der Staatsgründung Israels und der Lockerung der amerikanischen Einwanderungsgesetzgebung etwa um dieselbe Zeit verließen die meisten Deutschland und die Lager wurden geschlossen. „Lang ist der Weg“ endet mit der Auswanderung von David und Dora nach Israel, nachdem sie auf einer der landwirtschaftlichen Ausbildungsfarmen, die die Überlebenden in der Nähe der großen jüdischen DP-Lager, vor allem in der amerikanisch besetzten Zone Deutschlands, eingerichtet hatten, auf die Aufgaben in der neuen Heimat vorbereitet worden waren. Nachdem der Film im Juni 1948 in München uraufgeführt worden war, erfolgte der Kinostart zum Jahrestag des Kriegsbeginns, am 1. September 1948, im Berliner Marmorhaus. In der Filmbesprechung der „Süddeutschen Zeitung“ vom 16. November 1948 wird darauf verwiesen, dass während der Aufführung, als die Sequenz mit den Krematorien von Auschwitz zu sehen war, einige Zuschauer applaudiert und gerufen hätten: „Es sind nicht genug umgekommen.“ Der Rezensent verweist dennoch auf den „ungewöhnlichen Erfolg“ des Films, der „einer der am heftigsten diskutierten und umstrittenen Filme der deutschen Nachkriegszeit“ sei: „Im ersten Teil ist die Verbindung des Dokumentarischen mit dem Menschlichen, des Wochenschauberichtes mit Spielszenen überraschend gut gelungen. Die Spielszenen zeigen die Hand eines instinktsicheren Regisseurs, der sich davor hütet, die Kamera allzu nahe an Grauen und Gräuel jener Jahre heranzuführen und den künstlerisch überzeugenderen Weg der indirekten Wirkung, der symbolischen Details, wählt. Im zweiten Teil fällt das Dokumentarische
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Lebende Ware (Film von Wolfgang Luderer, 1966)
und das Private mehr und mehr auseinander, aber die Gesamtwirkung bleibt infolge der atmosphärischen Echtheit immer noch stark.“ Kritisiert wird allerdings das Ende des Films: „Der Schlussteil ist am schwächsten. Hier hat man propagandistischen Pathos eingesetzt, statt nur die Tatsachen reden zu lassen, hier lässt man lyrische Chöre gewisse dekorative Plakatszenen untermalen, statt kompromisslos im Kontakt mit der Realität zu bleiben, hier gibt es Stellen, die der Zuschauer nicht mehr als echt empfindet, und hier liegt denn auch der Punkt, an dem sich die Diskussionen entzünden“ (Süddeutsche Zeitung, 16. November 1948). Einer der führenden Persönlichkeiten der Scherit Hapleita, Samuel Gringauz, Herausgeber des DP-Organs „Landsberger Lager-Cajtung“/„Jidisze Cajtung“, zog 1948 eine desillusionierende Bilanz und erwähnt als eines der Indizien auch den DP-Film: „Die jüdische Welt will nichts mehr von unseren speziellen Leiden wissen. Hier in New York ist der Film ‚Lang ist der Weg‘, ein Streifen über Überlebende unter der Regie von Israel Becker, der vor allem im DP-Lager Landsberg gedreht wurde“, vor leeren Kinoreihen gelaufen und abgesetzt worden (Jidisze Cajtung, 31.12.1948).
Juliane Wetzel
Literatur Cilly Kugelmann, „Lang ist der Weg. Eine jüdisch-deutsche Film-Kooperation“, in: Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust: Auschwitz: Geschichte, Rezeption und Wirkung, Frankfurt am Main 1996. Sonja M. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film. Von Triumph des Willens bis Inglorious Basterds, Berlin 2012.
Larifari → Kabarett im Nationalsozialismus Lasst mich leben! (Tagebuch von Arnold Daghani, 2002) → Daghani-Tagebuch The last Illusion (Film von Josef von Báky, 1949) → Der Ruf Das Leben ist schön (Film von Roberto Benigni, 1997) → La vita è bella Leben und Tod des berüchtigten Juden, Joseph Süß Oppenheimer, aus Heidelberg (Buch von Wilhelm Johann Casparson, 1738) → Jud Süß in der Literatur
Lebende Ware (Film von Wolfgang Luderer, 1966) Basierend auf den historischen Ereignissen in Ungarn 1944, schildert „Lebende Ware“ die Situation der jüdischen Bevölkerung nach dem Einmarsch der deutschen Truppen. Der Film zeigt, wie Eichmann von Budapest aus die Deportationen nach Auschwitz vorbereitet, während Himmlers Sonderbeauftragter SS-Obersturmbannführer Kurt A. Becher jüdisches Eigentum requiriert. Unter den begehrten Objekten befindet sich der Manfred-Weiss-Konzern, das bedeutendste Industrieunternehmen Ungarns. Becher erpresst vom Oberhaupt des Familienkonzerns, Ferenc Chorin, die „Treuhandschaft“ im Tausch für das Überleben der Familie. Diesen „Freikauf“ betrachtet der von Eichmann installierte Judenrat als Präzedenzfall. Man beschließt, mit den Nationalsozialisten zu
Lebende Ware (Film von Wolfgang Luderer, 1966)
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verhandeln, statt Widerstand zu leisten. Einer der Verhandlungsführer ist Rudolf Kasztner, der versucht, den Deutschen ein Tauschgeschäft anzubieten: Geld gegen Leben. Eichmann will nicht verhandeln, nichts soll den reibungslosen Ablauf der Deportationen stören. Umso interessierter zeigt sich Becher, der jede Gelegenheit ergreift, sich persönlich zu bereichern. Ein Zug von „Zahlungsfähigen“ und von Kasztner auf die Listen gesetzten Personen darf ausreisen, während die Mehrheit der Juden ihrem Schicksal überlassen bleibt. Der Opportunist Becher kann sich als Judenretter präsentieren und lebt – so weiß es der Abspann – nach dem Krieg mit einem „Privatvermögen“ von „150 Mill. DM“ in Bremen. Über Kasztner hingegen fällt der Film ein ebenso deutliches Urteil: ein Kollaborateur, mitschuldig an der Ermordung der ungarischen Juden. Der DEFA-Film „Lebende Ware“ kam 1966 in die Kinos. Er war von propagandistischem Wert für die Kampagnenpolitik der DDR gegen die vermeintlich renazifizierte Bundesrepublik, die Anfang der 1960er-Jahre ihrem Höhepunkt zusteuerte. Die Kampagnen, die sich die westdeutschen Defizite bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nutzbar machten, richteten sich entweder thematisch auf Phänomene wie Antisemitismus und Militarismus oder griffen exponierte westdeutsche Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Militär und Justiz wegen ihrer politischen Vergangenheit an. Filme der DDR leisteten ihren Beitrag zur „Westpolitik“ sowohl im Dokumentarwie auch im Spielfilm-Genre, wobei fiktionale Filme mit Authentizitätsanspruch auftraten. „Nach Dokumenten, internationalen Zeugenaussagen und authentischen Berichten“ sei „Lebende Ware“ gestaltet, hieß es bei der DEFA über den Film des in Sachen Propaganda schon „bewährten“ Teams Friedrich Karl Kaul, Walter Jupé (Drehbuch) und Wolfgang Luderer (Regie). „Lebende Ware“ hatte vordergründig ein historisches Sujet, welches der Film angeblich „mit sachlicher Genauigkeit von Fakten und Personen“ inszenierte. Die Aussage zielte jedoch eindeutig auf die Gegenwart: Der Film antworte auf „die westdeutsche Politik, die die Verjährung von Kriegsverbrechern beschließt und einen Mann wie SS-Obersturmbannführer Becher als vielfachen Millionär unbehelligt lässt“. Und tatsächlich ist der hanseatische Kaufmann Kurt A. Becher nie zur Rechenschaft gezogen worden, obwohl er mutmaßlich an Massenexekutionen von Zivilisten in Polen und der Sowjetunion beteiligt war, bevor er 1944 als Wirtschaftsexperte und Sonderbeauftragter des SS-Führungshauptamtes nach Ungarn entsandt wurde. Becher sicherte Himmler die Manfred-Weiss-Werke und stieg in die berüchtigten „Blut gegen Ware“-Verhandlungen zwischen den Deutschen und einigen Mitgliedern des jüdischen Rettungskomitees „Va’adat Ezra Vehatzalah“ (Vaada) ein. Himmler fuhr 1944 zweigleisig und versuchte, über die Auslösung von Juden mit den westlichen Alliierten in Kontakt zu kommen. Die Mitglieder der Vaada erhofften sich hingegen die Rettung von Menschenleben, zumindest einen Aufschub der Deportationen. Becher agierte mit größtmöglichem Nutzen für die eigene Karriere: aus Treue zu Himmler und in Vorbereitung des „Danach“. Im Zuge dieser Verhandlungen kam es immer wieder zu Kompetenzstreitigkeiten mit Eichmann, der die Juden nicht ziehen lassen wollte. Becher wurde von den Amerikanern verhaftet, entging aber der Strafverfolgung als NS-Verbrecher, u. a. durch eidesstattliche Versicherungen von Rudolf Kasztner und anderen ungarischen Juden. Nach dem Krieg führte er ein bürgerliches Leben. Er sagte zwar mehrfach in NS-Prozessen als Zeuge aus, doch erst
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1982 leitete die Staatsanwaltschaft gegen Becher ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Mord ein, das sie allerdings nach wenigen Monaten aus Mangel an Beweisen einstellte. Becher behauptete zeitlebens, er habe Juden gerettet – vergaß aber zu erwähnen, dass er sie gleichzeitig erpresst, ausgeraubt und sich ihre Fürsprachen auf undurchsichtige Weise gesichert hatte. Eine Person wie Becher ins Schussfeld zu rücken, war also für einen DDR-Film nichts Ungewöhnliches. Becher war eine zwielichtige Gestalt und der Film inszenierte ihn erwartungsgemäß als korrupt, immer auf den eigenen Vorteil bedacht und dabei gewissenlos mit Menschen handelnd, als Filou, Betrüger und Opportunisten, der für jeden eintretenden Fall mit Geld und Beziehungen vorsorgte. Wesentlich interessanter war die Gestaltung der jüdischen Akteure in Ungarn. Dazu zählen die Figuren um Ferenc Chorin, der sich und seine Familie freikauft, weil er die nötigen Mittel dazu hat. „Lebende Ware“ macht zwar deutlich, dass dieses „Geschäft“ in Wahrheit Erpressung ist. Doch wenn Chorin und seine Frau im Mercedes mit einem eng umklammerten Geldkoffer zum Flugplatz fahren, um sich von dort nach Lissabon zu retten, während Hunderte von Juden an ihnen vorbeigetrieben werden, dann suggeriert der Film, dass die Shoah in erster Linie eine Frage der Klasse, nicht der „Rasse“ war. Zu den jüdischen Charakteren gehören darüber hinaus die Mitglieder des Judenrates, eine heterogene Gruppe, in der alternative Handlungsmöglichkeiten wie der bewaffnete Widerstand zumindest diskutiert werden, wenn auch die überwältigende Mehrheit sich am Ende für die Beruhigung der jüdischen Bevölkerung und Verhandlungen mit der SS entscheidet. Hier wird Rudolf Kasztner als treibende Kraft dargestellt, der aus anfänglich unklaren und, wie sich später herausstellen wird, eigennützigen Motiven die Verhandlungsführung übernimmt: Unter den ersten knapp 1.700 Juden, die ausreisen dürfen, stehen „5 Seiten“ Verwandtschaft Kasztners auf den Transportlisten, ein Freikauf, „den die anderen bezahlt haben“, wie Becher Kasztner erinnert, um sich sein Schweigen zu sichern. Beide erscheinen am Ende durch ihre „Geschäfte“ schicksalhaft aneinander gebunden; gemeinsam fliehen sie vor der anrückenden Roten Armee, während ungarische Gendarmen die Budapester Juden über die Kettenbrücke treiben. Es ist die Figur des berechnenden, mit Becher „Hand in Hand“ arbeitenden Kasztner, die den Film äußerst problematisch macht, weil sie ungeachtet der Komplexität der Vorgänge – noch dazu aus deutscher Perspektive – ein eindeutig moralisches wie politisches Urteil fällt: Der Film stellt Kasztner auf eine Stufe mit Leuten wie Eichmann und Becher. Diese Darstellung mag auf den ersten Blick überraschen, weil sie radikal mit dem dominanten Bild des Juden als hilflosem Opfer bricht. Doch erweist sie sich in zweierlei Hinsicht als Kind ihrer Zeit. Die 1960er-Jahre setzten das Verhältnis zwischen Tätern und Opfern erstmals öffentlich der Diskussion aus. Beide in eine Beziehung zu stellen, war Bestandteil und Folge der großen NS-Prozesse der Zeit, die der Auseinandersetzung mit dem Massenmord an den europäischen Juden eine neue Dynamik gaben. Der 1961 in Israel stattfindende Eichmann-Prozess rückte die Shoah ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung, erweiterte das Wissen um ihre Ursachen und Bedingungen und setzte die strafrechtliche Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen in Deutschland (wenngleich spät und nur temporär) in Gang. Er warf aber auch einige
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verstörende Fragen auf, die das kooperative Verhalten der damaligen jüdischen Führung und deren Strategien zur Verteidigung jüdischen Lebens betrafen. Zu den Symbolfiguren der Diskussion um den jüdischen Anteil an der „Zerstörung“ des „eigenen Volkes“ (Arendt) gehörte Rudolf (Rezsö) Kasztner. Der Journalist, Jurist und Politiker, der nach dem Krieg in Israel lebte und glaubte, dort als Held empfangen zu werden, ist bis heute eine umstrittene Person der Zeitgeschichte: Für die einen war er ein Held, ein Jude, der mehr Juden vor den Nationalsozialisten rettete als jeder andere Jude, für die anderen ein Verräter, der durch seine Vereinbarungen mit den Nationalsozialisten ein paar Privilegierten half und die Mehrheit der Juden an ihre Mörder auslieferte, zu guter Letzt, der die Kriegsverbrecher nach dem Krieg vor Strafverfolgung schützte. Die „Kasztner-Affaire“, die im Israel der 1950er-Jahre in einer Verleumdungsklage ihren Anfang nahm und in einem Tribunal gegen Kasztner, die Regierungspartei, gegen die Opfer und Überlebenden der Shoah und schließlich in der Ermordung Kasztners gipfelte, bevor wenige Monate später ein Berufungsgericht Kasztner rehabilitierte, wurde zum Spiegel einer Gesellschaft, die mit Schuldgefühlen kämpfte und nach einem moralischen Leitfaden suchte (Segev). Es ging dabei um die Frage, ob Juden hätten gerettet werden können und welche Mittel man dafür einzusetzen berechtigt war. Teile der zionistischen Vaada, deren geschäftsführender Vizepräsident Kasztner war, entschieden sich nach der deutschen Besetzung Ungarns für Verhandlungen. Die Details, vor allem aber die Bewertung dieser Verhandlungen sind sowohl von den Beteiligten als auch in der historischen Forschung kontrovers diskutiert worden. Fest steht: Durch die Verhandlungen konnten 1.684 Menschen einen Zug besteigen, den berühmten „Kasztner-Zug“, der am 30. Juni 1944 Budapest verließ. Die Gegenleistung: 1.000 US Dollar pro Kopf – in Devisen, ungarischen Pengös, Gold und Schmuck. Die Summe konnten die wenigsten aufbringen, die Reichen zahlten für die Armen mit. Die Vaada startete noch weitere Initiativen, doch diesen Rettungsbemühungen folgt „Lebende Ware“ schon nicht mehr, ebenso wenig wie der weiteren historischen Entwicklung (der Intervention der neutralen Staaten, Horthys Einstellung der Deportationen, Himmlers Befehl, die Vergasungen in Auschwitz zu stoppen, das faschistische Pfeilkreuzer-Regime in Ungarn etc.). Dem Film geht es weder um historische Akkuratesse noch um eine differenzierte Bewertung des Verhaltens jüdischer Repräsentanten. Es geht ihm um ein Bild Bechers als windigen Verbrecher, das den Charakter des bundesdeutschen Systems bloßlegen soll, und es geht um ein faustisches Bild Kasztners, das das Opfer in eine Reihe mit den deutschen Tätern stellt, mit den westdeutschen Tätern wohlgemerkt. Dass der historische Kasztner Zionist und in Israel Mitglied der regierenden Mapai-Partei war, die mit Bonn über Waffengeschäfte und Kredite verhandelte, die im Eichmann-Prozess umsichtig gegenüber Westdeutschland aufgetreten war, hat sicher in der offen antizionistischen DDR, die Israel im Verbund der „Imperialisten“ und „Faschisten“ sah, mit zu einer solchen Gestaltung beigetragen.
Lisa Schoß
Literatur Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Frankfurt am Main 1986. Yehuda Bauer, Jews for Sale? Nazi-Jewish Negotiations, 1933–1945, New Haven 1994.
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La légende du juif errant (Bilder von Gustave Doré, 1856)
Randolph L. Braham, The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary, volume 1 and 2, New York 1981. Ernest Landau (Hrsg.), Der Kastner-Bericht über Eichmanns Menschenhandel in Ungarn, München 1961. Ladislaus Löb, Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezsö Kasztner. Bericht eines Überlebenden, Köln 2010. Karla Müller-Tupath, Reichsführers gehorsamster Becher. Eine deutsche Karriere, Berlin 1999. Tom Segev, The Seventh Million. The Israelis and the Holocaust, New York 1993.
La légende du juif errant (Bilder von Gustave Doré, 1856) Die Bilder des französischen Zeichners Gustave Doré (1832–1883) zu „La légende du juif errant“ (1856) [Die Legende des umherziehenden Juden] gelten als Ergebnis einer Entwicklung und sind auch Teil eines Ganzen. In seinen Zeichnungen thematisierte Doré biblische Figuren: Seine berühmten Illustrationen der Bibel (1866) stellen Juden in traditionellen Konturen dar, wobei bestehende Stereotypen übernommen werden. Die bekannteste „Juden-Darstellung“ Dorés ist die des „ewigen Juden“. Dorés Interesse für diese mythische Figur und ihre Bedeutung kann angesichts der in der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts etablierten Klischees und verbreiteten antisemitischen Tendenzen kaum verwundern. Doré befasste sich mehrmals mit der Darstellung dieser Figur. So fiel ihm, der bereits seit dem Alter von 15 Jahren das „Journal pour rire“ illustrierte, oft die Aufgabe zu, die Karikatur auf der Titelseite (parallel zu Honoré Daumier) zu erstellen. Als 20-Jähriger zeichnete er dort eine Karikatur des „ewigen Juden“, die verzerrte antisemitische Züge trägt. Eine Reihe von Klischees werden übernommen: Der „ewige Jude“ wird als ausgemergelter, sich in Bewegung befindlicher grotesker Körper dargestellt, der auf der Stirn das Zeichen eines roten Kreuzes trägt (so wie der „ewige Jude“ im gleichnamigen Roman von Eugène Sue, 1844), mit Gesichtszügen, die an einen rastlosen, drohenden Vogel erinnern. Im Anschluss daran äußerte sich Doré sehr kritisch gegenüber der ebenfalls vom Werk Sues inspirierten Oper von Jacques F. Halévy: Während die Oper ursprünglich einen jungen und sympathischen „ewigen Juden“ zeigt, der sich gegen die böse Kräfte verkörpernden Jesuiten wendet, zeichnet Doré eine abstoßende Figur. Neben diesen Zeichnungen, die zur kulturellen und politischen Aktualität gehören, schuf Doré ab 1855 auch Illustrationen literarischer Werke: Seine zwölf Illustrationen zu Paul Lacroix’ Buch „La légende du Juif errant“ widmen sich dem Thema des Umherirrens, die Hauptfigur ist als eine zerbrechliche Existenz, als Verdammter, als Ausgestoßener, als Paria charakterisiert. Es kommt hier ein ins Nirgendwo gehender Mann vorbei, der sich schon nicht mehr diesseits, aber noch nicht im Jenseits befindet. Doré stellt die heftigen Qualen und die verzweifelte Einsamkeit eines Ausgestoßenen, eines Verdammten, letztlich eines Parias, dar. Es gibt hier einen ständigen Kontrast zwischen der Figur des „ewigen Juden“ und der Abbildung des Kreuzes; ein Kreuz, das überall und ständig an die ewige Verfluchung erinnert. Der Messias, dessen Kreuzigung der „ewige Jude“ miterlebt haben soll, er, der Christus geschlagen haben soll und dazu verurteilt wurde, die Passion
Die letzte Chance (Film von Leopold Lindtberg, 1945)
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Christi zu beweisen. Der von Doré illustrierte Text ist die Wiederaufnahme einer alten Version der Legende (ca. 1750). Sein Epilog ist aber original: der Jude, an sich Symbol einer vergangenen Zeit, wohnt der Geburt der modernen Welt bei. Heutzutage immer noch veröffentlicht und verfügbar, zählen die Abbildungen Dorés zu den meist zitierten, wenn es darum geht, den Mythos des „ewigen Juden“ darzustellen.
Dominique Trimbur
Literatur La légende du Juif errant, Paul Lacroix, illustrations de Gustave Doré, Paris 1856 (neueste Auflage: La légende du Juif errant, suivi de Le passant de Prague, Paris 2010). Le Juif errant – Un témoin du temps, Paris 2001. Edgar Knecht, Le Juif errant. Eléments d’un mythe populaire, in: Romantisme 9 (1975), S. 84–96. Edgar Knecht, Le mythe du juif errant, in: Romantisme 12 (1976), S. 95–102. Marie-France Rouart, Le mythe du Juif errant dans l’Europe du XIXè siècle, Mayenne 1988.
Leinen aus Irland (Film von Heinz Herbig, 1939) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Der Letzte der Ungerechten (Interviewfilm von Claude Lanzmann, 2013) → Shoah
Die letzte Chance (Film von Leopold Lindtberg, 1945) Leopold Lindtbergs Flüchtlingsdrama „Die letzte Chance“ erlebte seine Uraufführung in Zürich am 26. Mai 1945. Es handelte sich um den ersten deutschsprachigen Spielfilm, der die Verbrechen des NS-Regimes ins Bild setzte (Drehbuch: Richard Schweizer, Kamera: Emil Berna, Musik: Robert Blum, Produktion: Praesens-Film Zürich). Darsteller waren u. a. Ewart G. Morrison, John Hoy, Ray Reagan, Therese Giehse. Lindtberg wurde 1902 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren. In der Weimarer Republik machte er als Schauspieler und Regisseur eine steile Karriere. Nach der Machtübertragung an Adolf Hitler ging er früh in die Emigration und avancierte rasch zum Hausregisseur am Zürcher Schauspielhaus. Nach 1933 entwickelte sich die Pfauenbühne zum Zufluchtsort verfolgter Schauspieler (darunter Wolfgang Langhoff und Therese Giehse) und machte sich einen Namen als eine der letzten freien Bühnen, die auch Stücke von im „Dritten Reich“ verfemten Autoren wie Bertolt Brecht, Ödön von Horvath und Friedrich Wolf aufführte. Neben seiner antifaschistischen Theaterarbeit begann Lindtberg in der Mitte der 1930er-Jahre eine Karriere als Filmregisseur. Mit populären Spielfilmen wie „Füsilier Wipf“ (1938) und „Landammann Stauffacher“ (1942) trug er zur geistigen Landesverteidigung bei. Einen einsamen Höhepunkt erreichte sein Filmschaffen mit dem Spielfilm „Die letzte Chance“, der ästhetisch vom aufkommenden Neorealismus beeinflusst war. Den im Oktober 1944 im Tessin beginnenden Dreharbeiten legten die kleinmütigen, auf die Neutralität der Schweiz bedachten Behörden zahlreiche Steine in den Weg. Mit der restriktiven Asylpolitik griff der von Lazar Wechsler produzierte
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Spielfilm ein heißes Eisen auf. Das offizielle Bern befürchtete, dass der Film die Schweiz in ein schlechtes Licht rücken könnte. Während des Kriegs wurden jüdische NS-Opfer von den Schweizer Behörden nicht als politische Flüchtlinge anerkannt und an der Landesgrenze zu Tausenden in den fast sicheren Tod zurückgewiesen. Die Filmhandlung spielt im Norditalien des Frühherbstes 1943, kurz vor und nach dem von der Regierung Pietro Badoglio mit den alliierten Mächten vereinbarten Waffenstillstand. Diesen nahm Berlin zum Anlass, das Territorium des früheren Waffenbruders durch Wehrmacht und SS-Einheiten besetzen zu lassen. Aus einem von alliierten Flugzeugen bombardierten Kriegsgefangenenzug können der britische Leutnant Halliday und der amerikanische Sergeant Braddock entkommen. Unter ständiger Lebensgefahr versuchen die beiden Militärs, sich in die Schweiz durchzuschlagen. Auf ihrer Flucht werden sie wiederholt Zeugen deutscher Verbrechen. So müssen sie machtlos zusehen, wie deutsche Soldaten Juden in einen Deportationszug verladen. In einem Bergdorf nahe der Grenze treffen sie auf weitere Flüchtlinge, deren letzte Hoffnungen auf die Schweiz gerichtet sind. Der Priester des Dorfes gewährt ihnen Unterschlupf. Doch bevor er sie zu ihrem Fluchthelfer bringen kann, alarmiert der faschistische Gastwirt die Deutschen. Bald darauf rücken ihre Einheiten gegen das Dorf vor und verüben ein Massaker, dem alle Männer zum Opfer fallen. Nach beschwerlicher Flucht durch eine verschneite und von eisigen Winden gepeitschte Alpenlandschaft wird die von Halliday und Braddock geführte Flüchtlingsgruppe, zu der auch Juden und Kinder gehören, nahe der Grenze von einer deutschen Patrouille entdeckt. Ohne Vorwarnung eröffnet diese das Feuer auf die Flüchtlinge und verletzt einen jüdischen Jugendlichen, der sie abzulenken versucht hatte, tödlich. Im Kugelhagel kommt ein weiterer Flüchtling um und auch Halliday wird schwer verletzt. Die Hauptgruppe erreicht schließlich die rettende Passhöhe, wo sie von schweizerischen Grenzwächtern erwartet wird. Zunächst ist ihre Aufnahme unsicher. Ein Arzt meint vielsagend: „Wir tun, was wir können, aber …“ Der zuständige Offizier setzt sich jedoch telefonisch für die Flüchtlinge ein und erreicht in Bern schließlich, dass alle Asylsuchenden in der rettenden Schweiz bleiben dürfen. Lindtbergs Film bevorzugte die leisen Töne und kratzte nur vorsichtig am Mythos der friedlichen und humanitären Schweiz, die sich gerne kontrafaktisch als rettende Insel inmitten des Weltenbrands stilisierte. Später hat der Regisseur sein Werk selber einmal als „Weihnachtsmärchen“ charakterisiert. Allerdings ändert dies nichts daran, dass sich der Film durch eine humanistische Grundhaltung auszeichnet und in seiner moralischen Verurteilung des NS-Regimes eindeutig war. Dies erklärt mit, weshalb der Film in der frühen Nachkriegszeit zu einem Welterfolg wurde. Mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, darunter dem Golden Globe und dem in Cannes vergebenen Prix international de la Paix, gehörte er in Europa zu den ersten filmischen Aufarbeitungen der nationalsozialistischen Verbrechen.
Aram Mattioli
Literatur Felix Aeppli, Zaghafte Fragen zur schweizerischen Asylpolitik: Leopoldt Lindtbergs „Die letzte Chance“ (1944/45), in: Mythen der Nationen – Völker im Film, Berlin 1998, S. 308–311. Hervé Dumont, Geschichte des Schweizer Films. Spielfilme 1896–1965, Lausanne 1987.
Die letzten Vier (Drama von Max Brusto, 1940)
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Nicole Metzger, „Alles in Szene setzen, nur sich selber nicht.“ Der Regisseur Leopold Lindtberg, Wien, Basel 2002. Kay Weniger, „Es wird im Leben dir mehr genommen als gegeben.“ Lexikon der aus Deutschland und Österreich emigrierten Filmschaffenden 1933–1945. Eine Gesamtübersicht, Hamburg 2011. Werner Wider, Der Schweizer Film 1929–1964. Die Schweiz als Ritual, Band 1, Zürich 1981, S. 387–406.
Die letzten Vier (Drama von Max Brusto, 1940) Max Brusto (d. i. Motek Brustowiecki, 1906–1998), in der Weimarer Republik als Journalist tätig, floh 1933 vor der nationalsozialistischen Judenverfolgung nach Frankreich. Während des Zweiten Weltkriegs lebte er in der Schweiz. Sein Zeitstück „Die letzten Vier“ entstand 1940 noch in Frankreich. Es wurde im Verlag der „Jüdischen Rundschau-Maccabi“ veröffentlicht (das Titelblatt führt kein Erscheinungsjahr auf, die Angaben verschiedener Nationalbibliotheken differieren zwischen 1940 und – wahrscheinlicher – 1954). Eine Aufführung ist nicht nachweisbar. Die Handlung des Stückes umfasst die Zeit zwischen Oktober 1938 und Oktober 1939; integriert sind zugleich narrative Berichte über die Ereignisse seit 1933. Die titelgebenden „Vier“ sind die letzten Angehörigen einer jüdischen Fußballmannschaft, deren übrige Mitglieder bereits tot oder emigriert sind. Auch die „letzten Vier“ planen recht präferenzlos ihre Emigration; sie mustern die Weltkarte in Hinblick auf die Chancen auf Einreise und Bleiberecht. Ins Zentrum des Geschehens rückt der polnische Staatsbürger Arno Glanz. Er wird im Zuge der berüchtigten „Polenaktion“ im Oktober 1938 nach Polen abgeschoben und in der Grenzstadt Zbąszyń interniert. Nach Kriegsausbruch kommt er in ein deutsches KZ und erlebt dort Gräueltaten. Nach seiner Flucht gelangt er nach Paris. Die Besonderheit des Stückes liegt in der Verweigerung moralischer Betroffenheit, formal dadurch unterstützt, dass die antisemitische Gewalt nicht unmittelbar auf die Bühne gebracht, sondern in epischen Berichten sprachlich dargeboten wird. Auch verzichtet es, zumindest in den ersten drei Akten, darauf, den jüdischen Figuren Handlungsoptionen einzuräumen. Die Figuren sind ganz darauf reduziert, Opfer der NSVerfolgung zu sein. Die Kritik am Nationalsozialismus besteht darin, dass er Menschen drangsaliert und ermordet, und nicht darin, dass diese sich durch eine besondere moralische oder intellektuelle Güte auszeichnen würden – womit sich Brustos Stück deutlich unterscheidet von einem traditionsreichen Verfahren der Kritik am NS-Antisemitismus, die NS-Behauptungen mit dem Beispiel exzeptioneller jüdischer Persönlichkeiten von Spinoza bis Albert Einstein zu widerlegen. Die Illusionslosigkeit der jüdischen Figuren wie auch des Stückes selbst tendiert deutlich zum Fatalismus. Mit dieser Tendenz bricht jedoch der letzte Akt, der die drei überlebenden Freunde – der vierte Fußballkamerad ist bei einem Fluchtversuch aus dem KZ getötet worden – nach Kriegsausbruch in Paris zusammenführt. Hier schlägt ihr partieller Fatalismus in einen militanten Aktivismus um: Sie schließen sich der französischen bzw. tschechoslowakischen Armee an, um dem Siegeszug der deutschen Truppen und damit des drohenden Antisemitismus Widerstand entgegenzuset-
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Levins Mühle (Roman von Johannes Bobrowski, 1964)
zen: „Wenn man so getreten worden ist wie wir, ist es wie eine Erlösung, dass man endlich mit diesem Gesindel ein Ende machen wird.“ Sie machen sich eine französisch-patriotische Perspektive zu eigen. Legitimiert wird dieser Entschluss auf doppelte Weise: Einerseits schließen sich die vormaligen Opfer dem – vermeintlichen – Gewaltpotenzial eines gegen den NS-Vormarsch gerichteten Staatswillens an und verbinden damit ihr Schicksal mit dem einer europäischen Großmacht. Andererseits wird der französische Staat in seinem Umgang mit den nach Paris geflohenen Juden – Personen mit gefälschten Papieren und mit prekärem Aufenthaltsstatus – als außerordentlich menschenfreundlich dargestellt. So teilt ausgerechnet ein Kommissar dem illegal eingereisten Flüchtling Arno Glanz mit: „Frankreich wird immer ein Gastland bleiben. Das ist nicht nur eine alteingebürgerte Tradition, sondern hängt mit unserem Denken und unserer Idee von der Humanität zusammen.“ Das Stück endet völlig unironisch mit einem pathetischen, von Klängen der Marseillaise unterlegten Tableau der in den Krieg ziehenden Freunde und dem Schlusssatz: „Geht, und mag euer Weg noch so schwer sein, die Freiheit wird siegen.“ Aus den passiven Opfern, deren Verfolgung das Stück in seinen ersten Akten auf bedrückende Weise geschildert hat, werden aktive Protagonisten einer patriotischen Sache, die sie zu der ihren erklärt haben.
Carsten Jakobi
Literatur Klaus Blahak, Nachwort, in: Max Brusto, Visum oder Tod. Auf der Flucht vor den Nazis. Fünf Erzählungen, Wiesbaden 1982, S. 91. Carsten Jakobi, Der kleine Sieg über den Antisemitismus. Darstellung und Deutung der nationalsozialistischen Judenverfolgung im deutschsprachigen Zeitstück des Exils, Tübingen 2005.
Levins Mühle (Roman von Johannes Bobrowski, 1964) Das historisch problematische Verhältnis der Deutschen zu ihren osteuropäischen Nachbarn bildet das zentrale Thema des literarischen Werks von Johannes Bobrowski (1917–1965), „weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit. Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, [...] die meinem Volk zu Buche steht“. Diese Schuld sei „nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch“. Diesem Komplex ist auch sein Roman „Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater“ (Frankfurt am Main 1964) zuzurechnen. Aus der Perspektive des Enkels berichtet ein Ich-Erzähler von seinem Großvater Johann, einem wohlhabenden Bauern im 1874 westpreußischen Neumühl, der „die Mühle weggeschwemmt hat“, wie es gleich im ersten Satz heißt. Es handelt sich dabei um die Mühle des zugewanderten Juden Leo Levin, die dieser in Konkurrenz zu Johanns eigenem Mahlbetrieb errichtet hatte. Um seine Monopolstellung wieder herzustellen, öffnet Johann eines Nachts die zum Stauen des Wassers angelegte Schleuse, sodass Levins Mühle von den Fluten mitgerissen wird. Diese zentrale Aktion, die auf einem historischen Ereignis aus Bobrowskis Familiengeschichte basiert, ist zu dem Zeitpunkt, an dem der Bericht einsetzt, bereits geschehen. Deren Folgen bilden die eigentliche Romanhandlung: Johann manipuliert die Entscheidungen des mit dem Fall
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betrauten Gerichts und hetzt gegen Juden und „Polacken“, um von seiner eigenen Schuld abzulenken, während Levin, unterstützt von dem „Zigeuner“ Habendank, verzweifelt für sein Recht kämpft. Um seine Kontrahenten loszuwerden, zündet Johann deren Hütte an und leitet den Tatverdacht auf Habendank. Der Erzähler inszeniert sich in Bobrowskis Roman als subjektiv kommentierender Organisator, welcher dem berichteten Geschehen distanziert und dem Verhalten seines Großvaters offen ablehnend gegenübersteht. Die Handlung nimmt in seiner Reflexion geradezu Modellcharakter an und gewinnt so eine Allgemeingültigkeit, die über den beschriebenen Einzelfall hinausreicht. Gleichzeitig baut der Erzähler durch seine Mündlichkeit simulierende Sprache eine Verbindung zum Rezipienten auf, mit dem er den Blick des „Enkels“ auf die Ereignisse teilt. Die distanzierte Position des Erzählers steht im Kontrast zu der im Präsens erzählten Handlung. Aus dem Getuschel der Dorfbewohner erschließt sich dem Leser nach und nach der „Tathergang“ und es wird deutlich, dass der wahre Schuldige von Anfang an bekannt ist, jedoch aus Desinteresse, zugunsten des eigenen Vorteils oder aufgrund von Vorurteilen gegenüber Juden und „Zigeunern“ verschwiegen wird. Erst im „zwanzigsten Satz“ traut sich jemand, Johann ins Gesicht zu sagen: „Du bist ein ganz großer Verbrecher.“ Dieser Satz markiert einen Wendepunkt im Roman. Hatte der wohlhabende Deutsche zu Anfang eindeutig die Trümpfe in der Hand und konnte durch seine Kontrolle über Behörden und Funktionäre sowie den „gewohnheitsmäßigen“ Antisemitismus der deutschen Anwohner schalten und walten wie er wollte, zeigt sich im Laufe des Romans zusehends, dass eine Vorherrschaft deutscher Kultur im westpreußischen Grenzgebiet weder aufrechtzuerhalten, noch im Interesse des Großteils der Bevölkerung ist. Einzig Johann kann sich damit nicht abfinden und beharrt auf seinem Standpunkt und „Recht“. Auch er ist jedoch kein überzeugter Antisemit, sondern vor allem ein sturer Egoist, der die latent vorhandene Skepsis der deutschen Grenzgebietsbewohner gegenüber ihren jüdischen und polnischen Mitbürgern für seinen persönlichen Vorteil ausnutzt. Am Ende des Romans verlässt Levin das Dorf und auch Johann, der für seine Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen wird, verkauft seine Mühle und zieht weg. Für Neumühl kann der Erzähler trotzdem ein positives Resümee ziehen: „Es ist doch da etwas gewesen, das hat es bisher nicht gegeben. Nicht dieses alte Hier-Polen-hier Deutsche oder Hier-Christen-hier-Unchristen, etwas ganz anderes [...]. Das ist dagewesen, also geht es nicht mehr fort.“ Für seinen unbelehrbaren Großvater hat er als letzten, „vierunddreißigsten Satz“ schließlich nur noch ein klares „Nein“ übrig.
Julia Nantke
Literatur Johannes Bobrowski, Notiz für Hans Benders Anthologie „Widerspiel – Deutsche Lyrik seit 1945“, in: Johannes Bobrowski, Gesammelte Werke, Band 4: Die Erzählungen, Vermischte Prosa und Selbstzeugnisse, hrsg. von Eberhard Haufe, Stuttgart 1987. Günter Butzer, Fehlende Trauer: Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, München 1998. Bernd Leistner, Johannes Bobrowski. Studien und Interpretationen, Berlin 1981.
Lévy & Cie → André Hugon-Filme
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Der liebe Augustin (Wiener Kleinkunstbühne)
Der liebe Augustin (Wiener Kleinkunstbühne) Im November 1931 eröffnete die damals arbeitslose Schauspielerin Stella Kadmon (1902–1989) in Wien das Kabarett „Der liebe Augustin“ im Souterrain des Café Prückl. Bis März 1938 stand dieser Ort für witzig-kritische Auseinandersetzung mit aktueller Lebenswelt und politischen Vorgängen Österreichs, ab 1933 verstärkt NSDeutschlands. Die engagierten Produktionen des „lieben Augustin“ waren eng mit Kadmons Persönlichkeit verknüpft, die sich durch couragiertes Agieren gegen widrige Lebensumstände auszeichnete. So gründete Kadmon ohne Geld ihre Kleinkunstbühne, umschiffte gesetzliche Regelungen, die für die Leitung eines Theaters steuerliche und sonstige finanzielle Bedingungen stellte, und verlangte kein Eintrittsgeld. Dafür gab es Konsumationszwang beim Cafetier. Das Konzept funktionierte, der Gast bestimmte den Preis seines Besuchs durch die Konsumation, und Kadmon konnte trotz der Konkurrenz des schräg gegenüberliegenden → „Simpl“, in dem u. a. Karl Farkas (1893– 1971), Fritz Grünbaum (1880–1941), Armin Berg (1883–1956) auftraten, ihr Publikum finden. „Der liebe Augustin“ übte in einer sehr spezifischen Weise Kritik an den politischen Vorgängen – mit Parodie und Travestie, Nonsens und Witz kommentierte das Ensemble um Kadmon seine Umwelt, studierte Wiener Typen, fragte sich nach dem Geschmack seiner Zeit, nach Moden und denjenigen, die sie kreierten. Das erste Ensemble – Kollektiv nannte es Kadmon – bestand aus Peter Hammerschlag (1902– 1942), Fritz Spielmann (1906–1997), Grete Wagner, Risa Haller, Lisa Thenen, Alfred Edthofer (1900–1959), Alexander Szekely, Oskar und Gustav Heintze, Walter Varndal (1901–1993). Hinter dem scheinbar leichten Witz waren diese Produktionen subversiv, arbeiteten gegen einen Zeitgeist, der sich in Kitsch gefiel, um von Entdemokratisierungsprozessen abzulenken, vor antisemitischen Ausgrenzungen die Augen zu verschließen und eine heile heitere bis heroische Welt zu kreieren. Ein Großteil der Unterhaltungsindustrie produzierte Kitsch; nicht reale Lebensverhältnisse oder politische Vorgänge bildeten dabei den Ausgangspunkt, sondern deren Leugnung. Real allerdings hatten sich die Verhältnisse extrem radikalisiert. Politische Demonstrationen und gewalttätige Auseinandersetzungen bestimmten schon die Zeit seit 1918, doch spitzten sie sich zu; durch die Vorgänge in NS-Deutschland erstarkte der in Wien latent vorhandene Antisemitismus zur offensiv zur Schau gestellten Feindseligkeit seitens der sogenannten Alltagsmenschen. Ab 1933 stellte Kadmons Bühne für die ersten aus NS-Deutschland vertriebenen Schriftsteller, Schauspieler und Regisseure einen Ort dar, der ihnen die Möglichkeit bot, sichtbar zu bleiben, indem sie dort arbeiten und agieren konnten. Und auch im Publikum fanden sich Remigranten und Emigranten, wie Kadmons ins Exil gerettetes Gästebuch belegt. Dortige Einträge lassen die Bedeutung dieser Bühne für die Vertriebenen erahnen: Gäste hielten bezaubernde Eindrücke fest, lobten den geistreichen Witz oder hinterließen Zeugnisse ihrer tiefen existenziellen Krise. Der „liebe Augustin“ wurde zum intellektuellen Zufluchtsort. Opernparodien von Peter Hammerschlag und dem aus Deutschland vertriebenen Hugo F. Königsgarten (1904–1975) sowie musikalische Arrangements von Franz Eugen Klein (1912–1944) verlachten das geblähte Pathos von als sakrosankt geltenden Meisterwerken wie Richard Wagners Ring des Nibelungen. Die Demontage des unantastbar Würdigen, was ja in den Kulturprogram-
Der liebe Augustin (Wiener Kleinkunstbühne)
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matiken der Nationalsozialisten beständig aufgerufen wurde, stand dabei im Vordergrund ihrer Arbeit. Im November 1934 kam als neuer Autor Gerhart Herrmann Mostar (1901–1973) zum „Augustin“. Ehemals Journalist beim sozialdemokratischen „Vorwärts“ floh Mostar aus Berlin, sein Karl-Marx Roman „Der schwarze Ritter“ war eines der 1933 verbrannten Bücher. Mit ihm veränderte sich die Programmatik im „lieben Augustin“: Nicht mehr der anarchisch-parodistische Witz von Hammerschlag und Königsgarten, sondern Melancholie und Anklage bestimmten den Ton. Mostar setzte auf die Ratio als aufklärerisches Instrument gegen den Nationalsozialismus. So schrieb er als Gegenkonzept zu den Johann-Sebastian-Bach-Feiern in NS-Deutschland 1935 einen Bach-Abend für den „Augustin“. Das bekannteste Beispiel für Mostars Intention, zu Menschlichkeit und Handeln aufzurufen, war die von Herbert Berghof (1909–1990) vorgetragene „Ballade des namenlosen Soldaten“. Diese spielte auf die von den Nationalsozialisten praktizierte Auslöschung jüdischer Namen von den Gefallenendenkmälern des Ersten Weltkriegs an. 1936 thematisierte Mostar prominent den aggressiven Antisemitismus. „Waldlegende“ hieß die Fabel, in der ein Mensch – dargestellt von der Tänzerin Cilli Wang –, sich in einen polnischen Wald um 1900 nach einem Pogrom flüchtet. Die Insekten des Waldes und eine Elfe retten den Menschen vor dem braunen Maikäfer vor dem Tod. Das am Schluss auftretende Paar der Zukunft hatte die Funktion, Antisemitismus als Ausdruck „finsteren Mittelalters“ aus der Gegenwart zu verbannen. Ein weiterer aus NS-Deutschland vertriebener Autor, Curt Bry (1902–1974), kam 1937 zum „lieben Augustin“ – bis 1933 hatte er im politischen Berliner Kabarett „Katakombe“ (→ Kabarett im Nationalsozialismus) als Autor und Pianist gearbeitet. Bry verfasste die beiden letzten Programme des „lieben Augustin“, „Zirkus Universum“ und „Der Durchschnittsmensch“. „Zirkus Universum“ entwarf ein tragikomisches Panoptikum, indem nach einer Kritik „alles was der Dressur unserer Zeit entspricht, alles was uns vorgeschwindelt wird“ vorhanden war, „um zu letzt zu erkennen, dass man ausgeplündert und betrogen worden ist“. „Der Durchschnittsmensch“ erhielt noch am 12. März 1938, dem Tag des „Anschlusses“, eine Kritik in der Zeitung „Wiener Tag“: „Während die Zeit den heroischen Menschen sich zum Ziel gesetzt hat, koste es was es wolle, nimmt sich der liebe Augustin des Durchschnittsmenschen an und kommt auch hier mit Galgenhumor zu der lieben alten Weise, die alles hin sein läßt, aber auch in der Pestgrube noch die Hoffnung nicht aufgibt.“
Birgit Peter
Literatur Siglinde Bolbecher, Vom „Lieben Augustin“ zum „Theater der Courage“. Erinnerung an Stella Kadmon, in: Zwischenwelt. Die Welt des Jura Soyfer, hrsg. von Jura Soyfer Gesellschaft, Wien 1991, S. 99–114. Henriette Mandl, Cabaret und Courage. Stella Kadmon – Eine Biographie, Wien 1993. Birgit Peter, Stella Kadmons Courage. Stationen einer Theaterdirektorin, in: Zeit der Befreiung. Wiener Theater nach 1945, hrsg. von Hilde Haider-Pregler, Peter Roessler, Wien 1998, S. 226–244.
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Lippoldsberger Dichtertage
Liebe Deinen Nächsten (Film, 2004) → Miluj blížneho svojho
Lippoldsberger Dichtertage Die Lippoldsberger Dichtertage waren Treffen radikalnationalistischer und antisemitischer Schriftsteller, die zunächst 1934–1939 und dann 1949–1981 auf einem aufgelassenen Klosterhof im Dorf Lippoldsberg (Oberweser), dem Privatbesitz von Hans Grimm (1875–1959) bzw. dessen Erben, stattfanden. Trafen sich in den 1930er-Jahren dem NS-Regime „loyal gegenüberstehende, aber auf Selbständigkeit bzw. Selbstorganisation bestehende Schriftsteller“ (Koch, 2000), so vereinigten die Nachkriegs-Dichtertage vor allem ehemalige Funktionäre der NS-Kulturpolitik, sodass sie sich zu einem zentralen gemeinschaftsstiftenden Ereignis für die „nationale Opposition“ der Bundesrepublik entwickelten. Nachdem der Verlag Albert Langen den 1926 erschienenen Roman „Volk ohne Raum. Eine Erzählung“ zu einem Verkaufsschlager gemacht hatte, war nicht nur der Autor Grimm zu Bekanntheit gelangt, sondern auch das Dorf Lippoldsberg, in dem Teile der Handlung angesiedelt sind. Gruppen der Jugendbewegung und andere Reisende wurden von Grimm willkommen geheißen, gelegentlich las der Autor aus seinen Werken. 1929 richtete er in einem Kellergewölbe des Klosterhauses einen Veranstaltungssaal für etwa 200 Personen ein. Zu Beginn der NS-Herrschaft war Grimm bei einer Englandreise mit dem negativen Echo der NS-Kulturpolitik (Bücherverbrennungen, Verfolgung von Künstlern etc.) konfrontiert worden. Um seinen ausländischen Gesprächspartnern zu demonstrieren, dass es in Deutschland weiterhin ein unabhängiges geistiges Schaffen gab, lud er informell zum ersten Dichtertreffen im Juli 1934 ein. Die seither bis 1939 jährlich stattfindenden Veranstaltungen bestanden aus einer mehrtägigen internen Zusammenkunft der Dichter, Ausflügen in die Umgebung und Lesungen, die jeweils an einem Sonntag durch ein Konzert der Akademischen Orchestervereinigung Göttingen in der Klosterkirche und eine nachmittägliche öffentliche Dichterlesung auf dem Klosterhof beendet wurden. Grimm lud Angehörige benachbarter Wehrmachtseinheiten, Teilnehmer von Arbeitsdienstlagern, Schulklassen und die Dorfbevölkerung ein, mit Sonderzügen und Bussen reisten Gäste u. a. aus Göttingen und Hameln an. Angaben über Teilnehmerzahlen schwanken zwischen 1.000 und 4.000. Die geladenen Dichter (u. a. Paul Alverdes, Werner Beumelburg, Rudolf G. Binding, Friedrich Bischoff, Walter Julius Bloem [Kilian Koll], Bruno Brehm, Hans Carossa, Hermann Claudius, Edwin Erich Dwinger, Paul Fechter, Joachim von der Goltz, Georg Grabenhorst, Moritz Jahn, Karl Benno von Mechow, Jens Uwe Nobbe, Ernst von Salomon, Rudolf Alexander Schröder, August Winning, Heinrich Zillich) waren zumeist nationalistisch orientiert und durch das „Weltkriegserlebnis“ geprägt. Die vorgetragenen Prosa- und Gedichtproben entstammten oft entsprechenden Themenkreisen, doch legten Grimm und seine Gäste Wert darauf, die Dichtertage von offener NS-Propaganda oder Parteireden freizuhalten. Das Motto der Treffen lautete „Musik und Dichtung“ (1935), „Ehrfurcht vor dem Ewigen und heiße Liebe zu unserer Heimat“ (1936), „Was auf einem Dorfplatze im Laufe der Jahrhunderte vorgetragen wurde“ (1937). Das Motto für 1938, „Vater, Mutter, Elternhaus“, ließ sich offenbar auch rassistisch deuten; es wurde in der Presse mit „Blut und Boden“ kolportiert. 1939 fand ein letztes Dichter-
Lippoldsberger Dichtertage
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treffen statt (Motto: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“), das im Zeichen des Gedenkens an den im Vorjahr verstorbenen Rudolf Binding stand. Ob es nur die Bedingungen des Krieges waren, die Grimm von weiteren Treffen abhielten, oder ob er sich dem Druck und den offenen Drohungen des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels beugte, ist nicht abschließend geklärt. Zeitgenössische Beobachter hoben an den Lippoldsberger Dichtertreffen vor allem die Atmosphäre im Klosterhof hervor, wo sich eine unmittelbar gemeinschaftsstiftende Wirkung entfaltete. In dieser Hinsicht knüpften die Nachkriegs-Dichtertage an die Treffen der 1930er-Jahre an. In politischer Hinsicht handelt es sich indes um anders geartete Veranstaltungen. Der im Kriegsverlauf radikalisierte Grimm erwies sich in seinen Nachkriegsschriften als Antisemit und NS-Apologet, der die NS-Judenverfolgung teils bagatellisierte, teils Hitler von der Verantwortung hierfür freisprach. Dadurch wurde er zum Kristallisationspunkt für ein Netz völkischer, radikalnationalistischer und neonationalsozialistischer Schriftsteller, die seither die Dichtertreffen prägten. Bei einer „ländlichen Goethefeier“ vor 4.000 bis 5.000 Teilnehmern wurde 1949 die Neubelebung der Dichtertage angekündigt, die dann wieder jährlich stattfanden. In der Region stießen sie auf hohe Akzeptanz in der Presse, der Politik und beim Fremdenverkehr, sodass es zu einer „Kommerzialisierung der Dichtertage“ kam (Annette Gümbel). Grimm musste indes eingestehen, dass „die großen Namen“ nicht mehr zugegen waren (Koch, 2000). Nur wenige frühere Teilnehmer, wie Brehm, Claudius, Dwinger und Jahn, fanden sich zu den Dichtertagen ein, die nun von literarisch bestenfalls drittklassigen Autoren geprägt wurden, darunter neben Wilhelm Pleyer, Hans Venatier und Will Vesper auch vorrangig politische Publizisten wie Peter Kleist, Erich Kernmayr und Hans Ulrich Rudel. Die Veranstaltungen dienten dem radikalnationalistischen Lager zur Selbstdarstellung und den einschlägigen Verlagen zur Vermarktung ihrer Produkte. Der Kreis der Teilnehmer wies starke Überschneidungen mit dem Autorenkreis um das Leitorgan des Nachkriegsrechtsextremismus, „Nation Europa“, sowie das „Deutsche Kulturwerk Europäischen Geistes“ (DKEG) des Schriftstellers und NS-Funktionärs Herbert Böhme auf. Vermittelt über die Kinder und Enkel Grimms wurde eine neue, jugendliche Generation von Rechtsextremisten an die Lippoldsberger Dichtertage herangeführt, der sich hier die Möglichkeit zum unmittelbaren Gespräch mit der „Erlebnisgeneration“ des Zweiten Weltkriegs bot. Mit dem Tod Hans Grimms verlor der Lippoldsberger Kreis 1959 seine zentrale Integrationsfigur. Rechtsextreme Publizisten und Verleger, die sich 1960 zur „Gesellschaft für freie Publizistik“ (GfP) zusammenschlossen, planten eine Ersatzveranstaltung, die nach der Zusage von Grimms Tochter Holle, die Dichtertage fortzusetzen, als Jahrestagung der GfP mit diesen verknüpft wurde. Seit 1972 führte auch die rassistische „Gesellschaft für Erbgesundheitspflege“ ihre Jahreshauptversammlungen parallel zu den Dichtertagen durch. Große Bedeutung hatten die Dichtertage für einige völkische und rechtsextreme Jugendverbände, wie die „Fahrenden Gesellen“ und den „Bund Heimattreuer Jugend“ (BHJ), der hier 1960 ein Zeltlager und eine eigene „Jugendveranstaltung“ am Vorabend des Dichtertags initiierte. Holle Grimm begann mit dem Aufbau eines „Europäischen Jugendheims Lippoldsberg“. Im Vorfeld der Dichtertage 1961 fand unter strenger polizeilicher Überwachung ein internationales Ju-
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Litauisches Scheunentheater
gendtreffen nationaler Jugendverbände statt, das von Zwischenfällen begleitet wurde. Aus Sorge um ihre Reputation und Angst vor Repression verzichteten die Veranstalter in den folgenden Jahren bewusst auf eigenständige Manifestationen der anwesenden nationalistischen Jugendverbände. Im Verlaufe der 1960er-Jahre hatten die Lippoldsberger Dichtertreffen bei sinkenden Besucherzahlen noch eine erhebliche Ausstrahlungskraft. Doch führten in den 1970er-Jahren die Überalterung des Kreises und Spaltungsprozesse im „nationalen Lager“ zu einem zunehmenden Bedeutungsverlust. Gleichzeitig erhob sich verstärkt öffentliche Kritik, es kam zu Gegendemonstrationen. Nach den Dichtertagen 1981 gaben die Veranstalter die Tradition auf, doch wurde der Lippoldsberger Klosterhof mit der Klosterhaus-Buchhandlung (die bis heute besteht) weiterhin von Rechtsextremisten besucht. Ersatzveranstaltungen in Deutschland (z. B. Lüneburger Kulturtage, Hetendorfer Tagungswochen) oder Österreich (Gästewochen des österreichischen DKEG, Offenhausener Kulturtage) erreichten nicht dieselbe Ausstrahlungskraft und Teilnehmerzahl.
Gideon Botsch
Literatur Heinz Brüdigam, Der Schoß ist fruchtbar noch … Neonazistische, militaristische, nationalistische Literatur und Publizistik in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1965². Annette Gümbel, Hans Grimm und die Lippoldsberger Dichtertage, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 49 (1999), S. 179–199. Manfred Jenke, Verschwörung von rechts? Ein Bericht über den Rechtsradikalismus in Deutschland nach 1945, Berlin 1961. Gerd Koch, 1936: Dichtertreffen bei Hans Grimm in Lippoldsberg, in: Zeitschrift für Germanistik NF 2 (1994), S. 337–349. Gerd Koch, Dichtertage bei Hans Grimm, Autor des Romans Volk ohne Raum, in Lippoldsberg an der Weser, in: Gerd Koch (Hrsg.), Literarisches Leben, Exil und Nationalsozialismus. Berlin – Antwerpen – Sanary-sur-Mer – Lippoldsberg, Frankfurt am Main 1996, S. 93–151. Gerd Koch, Hans Grimms Lippoldsberger Dichterkreis, in: Richard Faber, Christine Holste (Hrsg.), Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, Würzburg 2000, S. 165–185. Werner Mittenzwei, Der Untergang einer Akademie oder Die Mentalität des ewigen Deutschen. Der Einfluß der nationalkonservativen Dichter an der Preußischen Akademie der Künste 1918 bis 1947, Berlin, Weimar 1992. Kurt P. Tauber, Beyond Eagle and Swastika. German Nationalism since 1945, Middleton/ Connecticut 1967.
Litauisches Scheunentheater Das Scheunentheater entstand in Litauen in den 1890er-Jahren und erreichte um die Jahrhundertwende große Popularität. Die Autoren und Regisseure von Scheunentheaterstücken verfolgten in erster Linie zwei Ziele: Zum einen sollten die Aufführungen dazu beitragen, unter den Bauern die litauische Sprache und Kultur zu stärken, zum anderen sollten sie den Bauern zeigen, wie sie durch moralisches Handeln ihre wirtschaftliche Situation verbessern konnten.
Litauisches Scheunentheater
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Aufgrund der spezifischen sozioökonomischen Zusammensetzung der Bevölkerung im Westen des Russischen Reiches spielten Juden als ökonomische Widersacher der litauischen Bauern in diesen Stücken häufig eine herausragende Rolle. Die Scheune als Aufführungsort war dem Verbot öffentlicher Aufführungen in litauischer Sprache geschuldet, sollte aber zugleich auch die Verankerung des Theaters in der Dorfgemeinde symbolisieren. Auf Grundlage diverser politischer Reformen im Vorfeld und Zuge der Russischen Revolution von 1905–1906 wurden zahlreiche Theatervereine gegründet, wodurch die Zahl der Aufführungen zu-, die der litauischen Originale jedoch abnahm. Die wichtigsten Autoren von Scheunentheaterstücken entstammten der litauischen säkularen Intelligenzija, wie z. B. Juozas Vilkutaitis-Keturakis, Aleksandras FromasGužutis, Petras Pundzevičius, Povilas Matulionis, Marija Pečkauskaitė sowie Julija Žymantienė und Gabrielė Petkevičaitė. Eine Ausnahme war der litauische Priester Juozas Tumas-Vaižgantas, der ein besonderes Interesse am Theater und an der Bildung der Bauern hatte. Mitglieder der Intelligenzija übernahmen auch Rollen bei den Aufführungen. Juden traten in diesen Stücken zwar nie als Hauptfiguren auf, waren aber für den Verlauf der Handlung entscheidend. Zumeist waren sie Schankwirte oder Händler, die arme Bauern in ihre finanzielle Abhängigkeit rissen. Heldin war zumeist die Bauersfrau, die rational und gemäß dem Programm der litauischen Intelligenzija handelte. Juden wurden stets von Litauern gespielt, die teilweise aus der Tradition der karnevalistischen „Juden-Darsteller“ kamen. Insbesondere in den Stücken von Tumas-Vaižgantas, der ein realistisches Theater propagierte, sprachen sie häufig in jiddisch-litauischem Kauderwelsch. Ganze Akte spielen in Gastschänken, die – insbesondere in der Zeit vor Einführung des Staatsmonopols auf Alkoholausschank 1894 – als Orte der Amoral und des Verbrechens gezeigt werden. Nicht alle Scheunentheaterstücke waren judenfeindlich. Nicht selten wurden die Bauern schadenden Handlungen der Juden als durch ökonomische Zwänge bedingt dargestellt. In manchen Stücken jedoch, z. B. in „Der Herr und die Bauern“ (1893) von Fromas-Gužutis, werden Juden als Negativbilder der idealisierten Litauer vorgestellt – als gierig, Schönheit und Ideale verachtend, kränklich, gerissen und unfähig zu ehrlicher, körperlicher Arbeit. Andere Stücke, wie z. B. „Der Heilige Kasimir“ (1902) von Marija Pečkauskaitė, knüpften an judenfeindliche Stereotype wie die Ritualmordlegende an. Diese Texte konnten durch die Schauspieler abgemildert oder verstärkt werden. Eine sehr judenfeindliche Darstellung zweier Juden in „Der Herr und die Bauern“ im Jahr 1902 stieß auf starke Kritik litauischer Liberaler. Unter Bauern hingegen waren solche Darstellungen als Form von comic relief beliebt. Obwohl von katholischen Zeitungen kritisiert, war die Anwesenheit jüdischer Zuschauer bei den Aufführungen keineswegs ungewöhnlich und offenbar in der Regel auch nicht problematisch. Litauenweite Aufmerksamkeit erregte jedoch ein Zwischenfall im Jahr 1910 nahe dem Schtetl Jurbarkas. Die Aufführung des Stücks „Der Teufel in der Falle“ (Julija Žymantienė/Gabrielė Petkevičaitė), in dem ein jüdischer Kuppler eine litauische Bauernfamilie durch Betrug und Drohungen unter seine Kontrolle bekommen will, sorgte für Aufruhr unter den jüdischen Zuschauern, die geschlossen den Saal verließen. Zu ähnlichen Zwischenfällen kam es in Kybartai und Raguva. In li-
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Madonna della Vittoria (Gemälde von Andrea Mantegna, 1496)
tauischen Zeitungen wurde daraufhin eine rege Debatte über Antisemitismus im litauischsprachigen Theater geführt. Mit der Entstehung eines litauischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg verlor das Scheunentheater an Bedeutung, bildet jedoch weiterhin einen wichtigen Bestandteil des Narrativs der „nationalen Wiedergeburt“ Litauens.
Klaus Richter
Literatur Klaus Richter, Antisemitismus in Litauen. Christen, Juden und die Emanzipation der Bauern, 1889–1914, Berlin 2013. Vytautas Maknys, Lietuvių teatro raidos bruožai, Vilnius 1972.
Livet på landet (Film, 1924) → Schwedische Kinoproduktionen Löjen och tårar (Film, 1924) → Schwedische Kinoproduktionen
Madonna della Vittoria (Gemälde von Andrea Mantegna, 1496) Das Gemälde „Madonna della Vittoria“ von Andrea Mantegna (1431–1506) ist im Kontext antijüdischer Ausschreitungen in Mantua während der Herrschaft von Francesco II. Gonzaga (1466–1519) entstanden. Die pogromartigen Ereignisse waren ökonomisch und religiös motiviert und als Spätfolgen der Gründung eines Leihhauses (Monte di Pietà) in Mantua 1484 zu erklären. Wie an anderen Orten Italiens auch wurden die Initiativen von franziskanischen Ordensmitgliedern von antijüdischen, öffentlichen Predigten begleitet, die häufig zu Tumulten führten. In Mantua hetzte Bernhardin von Feltre (1439–1494) die Bevölkerung gegen die Juden auf. Während die Gonzaga im 15. Jahrhundert auch unter Nichtbeachtung kirchenrechtlicher Bestimmungen – die Kennzeichnungspflicht für Juden wurde erst im April 1496 eingeführt und 1498 nochmals verschärft – den Aufenthalt wohlhabender Juden in Mantua begünstigt hatten, änderte sich nach 1484 die Politik des Territorialherren. Allerdings wurden die Tätigkeiten von Juden im Bankgeschäft nicht eingeschränkt, da die Gonzaga auf deren Darlehen angewiesen waren. Einer der jüdischen Bankiers, Daniele da Norsa, kaufte 1493 ein Haus und erhielt 1495 gegen Zahlung einer Gebühr an den Verwalter des Bistums die Erlaubnis, ein Fresko an seiner Hauswand, das die Madonna darstellte, zu entfernen. Daraufhin kam es zu Protesten von Christen, die zunächst Schmierereien am Haus anbrachten, Daniele bedrohten und Ende Mai 1495 versuchten, das Haus zu stürmen. Daniele richtete ein Schreiben an Francesco II. Gonzaga, den er um die Wahrung seiner Rechte und Unversehrtheit ersuchte. Zu dieser Zeit befand sich Francesco als Militärkommandeur in der Schlacht gegen die Franzosen. Während eines lebensbedrohenden Einsatzes gelobte er bei Rettung, der Jungfrau Maria eine Kirche zu bauen. Die weiteren Ereignisse sind mit diesem Gelöbnis verbunden, da der Markgraf ganz offensichtlich die Möglichkeit erkannte, es für ihn kostengünstig zu erfüllen. Verlangte er Anfang Juli 1495 noch die Wiederherstellung des Freskos, schrieb er Mitte Juli bereits vor, dass Daniele da Norsa innerhalb von drei Tagen die immense Summe von 110 Dukaten aufbringen müsse, um damit ein von Andrea Mantegna anzufertigendes Bild zu bezahlen, anderenfalls drohe ihm die Todesstrafe. Dieser Rechtsbruch wurde durch eine Kommission von Klerikern dahingehend variiert, dass
Marietta-Bar (Wiener Kabarettbühne)
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Daniele zwar nicht hingerichtet, jedoch enteignet und sein Haus in eine Kirche umgewandelt werden sollte. An dieser Kommission war Fra Girolamo Redini beteiligt, dessen Orden der Hieronymiten anschließend die Kirche Santa Maria della Vittoria zugewiesen wurde. Im Juli 1496 wurde die Kirche eingeweiht und das Bild von Mantegna dort angebracht, mit dessen Entstehung sich eine fast exemplarisch zu nennende Verquickung von kirchlichen und landesherrlichen Interessen zu Ungunsten von Juden verbindet und das die Fragilität ihres Rechtsstatus in Abhängigkeit von den jeweiligen kirchlich-politischen Konstitutionen erweist. Mantegnas Bild „Madonna della Vittoria“ (das sich heute im Louvre in Paris befindet) enthält Anspielungen auf das Ereignis. So ist die Darstellung Johannes des Täufers als Verweis auf die „Judentaufe“ zu verstehen, während die abgebrochene Lanze des Drachentöters, St. Georg, auf den „Sieg“ über den Juden Daniele zielt (Traeger). Deutlicher wird das antijüdische Potenzial in dem anonymen Gemälde „Madonna mit Kind und der Norsa Familie“, der sogenannten Norsa Madonna, das für das Refektorium der Hieronymiten angefertigt wurde. Das Bild zeigt eine thronende Madonna mit Jesuskind und Heiligen. Oberhalb der Maria halten Engel eine Tafel, auf der steht: „Debellata Hebraeorum Temeritate“ [Verheerung der Verwegenheit der Juden]. Am unteren Bildrand sind unterhalb des Thrones der Maria Daniele da Norsa, sein Sohn und deren Ehefrauen dargestellt; es handelt sich dabei um die ältesten bekannten Porträts von Juden in der italienischen Malerei. Die Männer tragen gut sichtbar einen gelben Ring am Mantel gemäß der Verordnung des Frühjahrs 1496. Inschrift und Darstellung der Juden als Besiegte verweisen affirmativ auf die Gewaltaktionen und legitimieren sie als unter dem Schutz der Jungfrau Maria stehend als Akte der Frömmigkeit. Deutlicher als bei Mantegna haben die Auftraggeber der „Norsa Madonna“ die triumphierende Kirche als gewalttätige Kirche gezeigt, und zwar ohne jede Kritik.
Rainer Kampling / René Koch
Literatur Johannes Heil, Rainer Kampling (Hrsg.), Maria – Tochter Sion? Mariologie, Marienfrömmigkeit und Judenfeindschaft, Paderborn 2001. Dana E. Katz, The Jew in the Art of the Italian Renaissance, Philadelphia 2008. Dies., Spatial Stories. Mantua and the Painted Jew, in: Giuseppe Veltri, Gianfranco Miletto (Hrsg.), Rabbi Judah Moscato and the Jewish Intellectual World of Mantua in the 16th17th Centuries, Leiden 2012, S. 199–226. Shelomoh Simonson, History of the Jews in the Duchy of Mantua, Jerusalem 1977. Jörg Traeger, Renaissance und Religion. Die Kunst des Glaubens im Zeitalter Raphaels, München 1997.
Manko (Film von Johannes Knittel, 1960) → Zwischenfall in Benderath Les Mariages de Mademoiselle Lévy → André Hugon-Filme
Marietta-Bar (Wiener Kabarettbühne) Die „Marietta-Bar“ wurde in den 1930er- und 1940er-Jahren von Marietta und Kurt Mackh in der Spiegelgasse 2 in der Wiener Innenstadt als privater Unterhaltungsclub betrieben. 1948 wurde der aus dem Exil zurückgekehrte Musiker Gerhard Bronner als
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Marietta-Bar (Wiener Kabarettbühne)
Pianist und Interpret eigener Chansons engagiert. Von 1950 bis 1953 führte Bronner zunächst als Pächter, ab 1955 als Eigentümer, die Geschäfte der „Marietta-Bar“ und war für das künstlerische Programm verantwortlich. Bis zur Schließung 1964 traten in der „Marietta-Bar“ u. a. Peter Alexander, Liane Augustin, Georg Kreisler (der von 1956 bis 1958 auch Pächter war), Louise Martini, Fritz Muliar, Helmut Qualtinger und Bronners langjähriger Partner Peter Wehle auf. Unter Bronners Leitung entwickelte sich die „Marietta-Bar“ in den 1950er-Jahren zum Treffpunkt für musikalischliterarisches und politisches Kabarett um Mitternacht. Es war sowohl Sprungbrett für junge Talente als auch Künstler- und Musikertreff renommierter nationaler und internationaler Persönlichkeiten. Das vielseitige Programm umfasste Chansons von Bronner, Kreisler, Wehle u.a. ebenso wie Kabarettprogramme des Ensembles „Der Würfel“ und Nummern aus den Kabarettprogrammen des namenlosen Ensembles rund um Bronner, Kreisler, Merz, Qualtinger und Wehle, das in den 1950er- und 1960er-Jahren im Intimen Theater und im Neuen Theater am Kärntnertor Publikumserfolge feierte. In dieser Zeit entstanden u. a. die Chansons „Ein Mann hat Heimweh“ (1956), „Die Enttäuschten“ (1960) und „Aber nur fast“ (1962). Diese Lieder können als frühe Beispiele für eine beginnende kabarettistische Auseinandersetzung mit dem weitverbreiteten Antisemitismus in Österreich betrachtet werden. Die Kabarettisten griffen dabei historische und aktuelle antisemitische Vorurteile, Klischees und Ressentiments auf und versuchten, diese mittels Parodie, Satire und Selbstironie zu dekonstruieren. In ihrem musikalischen Israelreisebericht „Aber nur fast“ aus dem Programm „Die unruhige Kugel“ griffen Bronner und Wehle 1962 antisemitische und antizionistische Ressentiments auf und führten diese mit Humor und Witz ad absurdum: „Einst haben sie gehandelt früh und spät von Haus zu Haus / Doch wenn sie heute handeln, artet es in Arbeit aus / Und die zwei Händ’ mit die man früher hat geredt / Die heben an’n Stein – und oh Wunder, es geht.“ Die Chansons „Ein Mann hat Heimweh“ und „Die Enttäuschten“ übten darüber hinaus Kritik an Holocaustverharmlosungen, der misslungenen Entnazifizierung und der unzulänglichen Strafverfolgung von NS-Tätern in Österreich. Die Liedtexte führten einerseits die antisemitische Haltung weiter Teile der Bevölkerung vor Augen und waren zugleich Warnung vor einem Neuaufflammen nationalsozialistischer Ideologie: „Diese Leute setzten sich doch niemals zur Wehr / Diese Clique, sie schlug ja nie zurück / […] Niemand dachte an den alten Zwist / Man lebte brav und bieder… / Na ist’s ein Wunder, wenn man wieder / Gegen diese Juden ist?“ Ab Ende der 1950er-Jahre trat der Schauspieler Fritz Muliar unter dem Motto „Damit ich nicht vergesse, Ihnen zu erzählen“ mit einer Aneinanderreihung jüdischer Witze in einer dem Jiddischen angenäherten Kunstsprache in der „Marietta-Bar“ auf. Er verhalf damit dem Genre des jüdischen Witzes, das nach dem Holocaust im deutschsprachigen Raum verpönt war und sogar als antisemitisch bezeichnet wurde, zu einer neuen Popularität. 1964 verkaufte Bronner die „Marietta-Bar“, übernahm die Räumlichkeiten jedoch erneut 1967 und gründete das „Cabaret Fledermaus“ neu, dessen künstlerischer Direktor er von 1979 bis 1988 war.
Eva Waibel
Die Masken fallen (Drama von Hans Schubert und Mark Siegelberg, 1940)
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Literatur Gerhard Bronner, Die goldene Zeit des Wiener Cabarets. Anekdoten, Texte, Erinnerungen, St. Andrä-Wördern 1995. Gerhard Bronner, Peter Wehle, Die unruhige Kugel, Wien u. a. 1963. Gerhard Bronner, Spiegel vorm Gesicht. Erinnerungen, München 2004. Marcus G. Patka, Alfred Stalzer (Hrsg.), Alle MESCHUGGE? Jüdischer Witz und Humor, Wien 2013.
Die Masken fallen (Drama von Hans Schubert und Mark Siegelberg, 1940) Hans Schubert (d.i. Hans Morgenstern, 1905–1965) und Mark Siegelberg (1895– 1986), beide Österreicher jüdischer Herkunft und vielseitig schriftstellerisch tätig, wurden 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs in deutschen Konzentrationslagern inhaftiert. Nach ihrer Entlassung im Jahre 1939 konnten beide nach Shanghai emigrieren, wo eine nicht unbedeutende deutsche Exilantengemeinde lebte. Dort begannen sie ihre literarische Zusammenarbeit und verfassten 1940 gemeinsam zwei Dramen. Das fünfaktige Zeitstück „Die Masken fallen“ wurde am 9. November 1940, dem zweiten Jahrestag der Novemberpogrome, in den Räumen der britischen Gesandtschaft in Shanghai uraufgeführt und geriet zum kleinen (Skandal-)Erfolg; die Aufführung erfuhr den Beifall der Exilanten, Vorbehalte durch das örtliche Jewish Committee und Proteste des deutschen Konsulats, die zur Absetzung des Stückes führten. 1946 fand ebenfalls in Shanghai eine weitere Inszenierung statt. Der erste und bislang einzige Druck des Stücks erfolgte erst 1996. Die in Wien angesiedelte Handlung beginnt im März 1938 kurz vor dem deutschen Einmarsch in Wien und endet einige Monate später. Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund wird eine im Prinzip triviale Scheidungsangelegenheit zu einem brisanten politischen Fall: Die Nichtjüdin Christine Brach will sich von ihrem Ehemann, dem jüdischen Journalisten Paul Brach, scheiden lassen. Opportunistische, politische oder rassistische Motive verfolgt sie dabei nicht; sie macht vielmehr eine einseitige, von ihr ausgehende persönliche Entfremdung geltend. Ihr neuer Liebhaber wählt für das Scheidungsverfahren einen Anwalt, der Mitglied der (anfangs noch illegalen) österreichischen NSDAP ist und die einzige Figur mit einem eindeutig bösartigen Charakter darstellt. Dadurch erscheint der Scheidungsantrag in einem neuen, vonseiten des expandierenden deutschen Staates sehr erwünschten politischen Licht. Unter diesem Eindruck verändern sich Christine Brachs Gefühle erneut, sowohl ihrem Liebhaber als auch ihrem Noch-Ehemann gegenüber. Letzterer wird als Jude und oppositioneller Journalist in einem KZ inhaftiert – der vierte Akt zeigt die sadistische Drangsalierung der KZ-Gefangenen. Unter dem Eindruck des Berichts entlassener Häftlinge erkennt Christine Brach nicht nur, dass sie ihren Mann Paul noch liebt; sie sieht in ihrer noch bestehenden Ehe nunmehr ein rechtliches Werkzeug, sich für ihren Mann, seine Freilassung und seine Ausreise einsetzen zu können, eine Möglichkeit, die ihr nach der Scheidung nicht mehr zur Verfügung stehen würde. Erst als sie sich auf die Erpressung des NS-Anwalts einlässt, die Freilassung ihres nunmehr wieder geliebten Mannes zu erwirken, sobald sie in die Scheidung eingewilligt hat, wird Paul
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Mein Kampf (Film von Erwin Leiser, Deutschland 1960)
Brach aus der KZ-Haft entlassen. Gemeinsam überlistet das Paar den NS-Anwalt und flieht nach einem Selbstopfer von Brachs Vater – er begeht Selbstmord, um seiner Schwiegertochter die Fahrkarte in die Freiheit zu ermöglichen – ins Exil. Wie auch andere Werke der Exilliteratur setzt Schuberts/Siegelbergs Drama dem Verfügungsanspruch des Nationalsozialismus die Unbedingtheit einer Liebesbeziehung entgegen. Um deren moralische Größe auszumalen, heißt es an einer Stelle: „Ich kann nicht glauben, daß eine große Liebe jemals erkaltet. Ich bin der Meinung, daß man nur einmal im Leben lieben kann.“ Das Drama identifiziert das Bewusstwerden dieses Liebesideals mit der politischen Erkenntnis der Protagonistin Christine Brach, die sich unter der erschütternden Erfahrung der antisemitischen Verfolgung und KZFolter gegen die staatliche Anforderung nach „rassereinen“ Ehen wendet und ihre Liebe zu einem Juden erneuert. Darüber „fallen die Masken“ – nicht im Sinne der Aufgabe einer bewussten Verstellung, sondern der Selbsterkenntnis des Subjekts über sein eigentliches Wesen. Darin und im Gelingen der Flucht des Ehepaares soll der Machtlosigkeit des Nationalsozialismus dramatische Anschaulichkeit verliehen werden.
Carsten Jakobi
Literatur Carsten Jakobi, Der kleine Sieg über den Antisemitismus. Darstellung und Deutung der nationalsozialistischen Judenverfolgung im deutschsprachigen Zeitstück des Exils, Tübingen 2005. Michael Philipp, „Die Masken fallen“ – „Fremde Erde“. Politische Exildramatik in Shanghai, in: Hans Schubert, Mark Siegelberg, „Die Masken fallen“ – „Fremde Erde“. Zwei Dramen aus der Emigration nach Shanghai 1939–1947, hrsg. von Michael Philipp und Wilfried Seywald, Hamburg 1996, S. 9–33. Michael Philipp, Nicht einmal ein Thespiskarren. Exiltheater in Shanghai 1939–1947, Hamburg 1996.
Master Race (Kurzgeschichte, 1953) → Comics Maus (Comic von Art Spiegelmann, 1986 und 1991) → Comics
Mein Kampf (Film von Erwin Leiser, Deutschland 1960) „Den blodiga tiden“ [Blutige Zeiten] ist ein Kompilationsfilm, der Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus erklärt. Verantwortlich zeichnet für den Film Erwin Leiser (1923–1996), der nach dem Novemberpogrom 1938 als 15-Jähriger nach Schweden geflohen ist. Uraufgeführt wurde der Film 1960 in Göteborg, einige Monate später lief er unter dem Titel „Mein Kampf“ in der Bundesrepublik Deutschland. Den Filmtitel erklärt Leiser mit einem Witz: „Zwei ‚alte Kämpfer‘ sehen sich den Film gemeinsam an. Beim Verlassen des Kinos sagt der eine zum anderen: ‚Aber das Buch finde ich doch besser.‘“ Leiser dazu: „Der Witz und die beiden Unbelehrbaren haben den Film richtig aufgefaßt. Hier wird die Wahrheit gegen Hitlers Floskeln in seinem Buch ‚Mein Kampf‘ gestellt. Authentische Dokumente enthüllen das Gesicht der braunen Ideologie. Propagandamaterial, das die Machthaber des Dritten Reichs selbst hergestellt haben, sagt gegen sie aus.“
Mein Kampf (Film von Erwin Leiser, Deutschland 1960)
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Die Methode, vorhandenes Material neu zu montieren und zu kommentieren, ist jedoch umstritten. Zu groß sei die Gefahr, die von den NS-Filmen und ihrer spezifischen Ästhetik ausgehe. Leiser vertraut indes der Kontrastierung: er zeigt einerseits Bilder der jubelnden, Hitler ergebenen Masse, andererseits Bilder derjenigen, die dem Regime kritisch gegenüberstanden und dafür in die Konzentrationslager deportiert wurden. Der Szene „Kamerad, woher kommst Du?“ aus Riefenstahls → „Triumph des Willens“ von 1934 stellt Leiser den Elendszug der in Gefangenschaft ziehenden deutschen Soldaten gegenüber. Und wieder ist zu hören: „Kamerad, woher kommst Du?“ Die Niederlage in Stalingrad mit Aufnahmen frierender, zerlumpter Wehrmachtssoldaten wird kontrastiert mit der Rede Görings, der von den herrlichen Zeiten spricht, denen Hitler das deutsche Volk entgegenführt. Hitlers Worte nach Kriegsausbruch 1939, er kenne das Wort Kapitulation nicht und einen November 1918 werde es in der deutschen Geschichte nicht noch einmal geben, werden wiederholt, während Keitel im Mai 1945 die Kapitulationsurkunde unterschreibt. Neben den bekannten Bildern aus den Wochenschauen und NS-Propagandafilmen verwendet Leiser auch Material, das von den NS-Propaganda-Kompanien im Warschauer Ghetto gedreht und in DDR-Archiven aufbewahrt wurde. Diese Bilder erschüttern das Publikum. Die „Frankfurter Rundschau“publizierte die Fragen einer 15jährigen Zuschauerin an die Elterngeneration, woraufhin eine heftige Kontroverse darüber ausbrach, ob dieser Film für Jugendliche geeignet sei und welche „Faszination heute noch“ von Hitler ausgehe. Leisers Intention war gerade, die junge Generation zu erreichen. Schockiert über die Ergebnisse einer Umfrage unter Jugendlichen zum Thema Nationalsozialismus sowie über den neuen und alten Antisemitismus will Leiser mit „Mein Kampf“ Antworten geben auf die Fragen „Was geschah damals?“ und „Wie war es möglich?“ Der Film war erfolgreich, wurde mit Preisen ausgezeichnet und erhielt das Prädikat „besonders wertvoll“. Doch stieß er auch auf Kritik. Bemängelt wurde neben dem Verfahren der Kompilation der Versuch, in zwei Stunden möglichst viel historisches Wissen zu vermitteln. Das könne ein Film nur bedingt leisten. Kritisiert werden je nach politischem Standort Auslassungen, falsche Schwerpunktsetzungen und Deutungen. So lautet ein Vorwurf in DDR-Medien, dass nicht deutlich genug werde, wer Hitler zur Macht verholfen und wer ihn bekämpft habe. In Westdeutschland bestimmte ein Rechtsstreit zwischen Erwin Leiser und Leni Riefenstahl die öffentliche Diskussion. Leiser, so die Klägerin, habe in seinem Film Material aus „Triumph des Willens“ verwendet, das verstoße gegen urheberrechtliche Bestimmungen, deshalb forderte sie Tantiemen in Höhe von 35.000 DM. Erst als sie das Geld schon als freiwillige Zahlung erhalten hatte, gab der Bundesgerichtshof der Gegenseite recht. „Der Spiegel“, der über den Rechtsstreit berichtete, erhielt daraufhin offen antisemitische, gegen Leiser gerichtete Leserbriefe. Leiser aber setzte „seinen Kampf“ fort und griff auch in folgenden Filmen und Publikationen das Thema Nationalsozialismus immer wieder auf. Als Filmemacher interessierte ihn die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Dokumentarfilms. „Mein Kampf“ wirkte stilbildend für die in den 1960er-Jahren vermehrt produzierten TV-Dokumentationen. Er wurde vor allem in Schulen und in der politischen Bildung viel gezeigt und hat, wie Erinnerungen von Schülern belegen, Spuren hinterlassen.
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Memoiren eines Antisemiten (Roman von Gregor von Rezzori, 1979)
Ein Novum war die ausführliche Darstellung der Opfer. Denn bis zu „Mein Kampf“, so der Filmkritiker Walter Schobert, hätten andere, vor allem deutsche Filme „manchmal den Eindruck hinterlassen, Hitlers größtes Verbrechen sei es gewesen, den Krieg zu verlieren“. Laut Leiser war „Mein Kampf“ zwar ein Film über die Vergangenheit, jedoch für die Gegenwart bestimmt.
Martina Thiele
Literatur Erwin Leiser, Mein Kampf. Eine Bilddokumentation, Frankfurt am Main, Hamburg 1960. Erwin Leiser, Gott hat kein Kleingeld. Erinnerungen, Köln 1993. Leni Riefenstahl, Memoiren, Köln 2000.
Memoiren eines Antisemiten (Roman von Gregor von Rezzori, 1979) Gregor von Rezzoris (1914–1998) aus fünf Erzählungen bestehender Roman erschien in Deutschland im Jahr 1979. Bereits 1969 veröffentlichte die US-amerikanische Zeitschrift „The New Yorker“ eine Erzählung in englischer Sprache unter dem gleichen Titel („Memoirs of an Anti-Semite“), die im Buch „Treue“ heißt und die längste Geschichte darstellt. Diese Erzählung wurde von den US-Kritikern und besonders von der jüdischen Presse positiv aufgenommen, wogegen in Deutschland die Reaktionen auf das Buch eher negativer Natur waren. Die Gründe dafür sind vielfältig: Auf der einen Seite steht die Persönlichkeit des Autors, der durch sein „Schlawiner“-Image und als Autor in Hochglanzmagazinen eines tiefgründigen Buches nicht fähig gehalten wurde. Auf der anderen Seite erregte der provokative Titel bei vielen Widerstand, die die für Rezzori typische Ironie nicht verstehen wollten. Diese negative Resonanz zeigt aber auch die noch Ende der 1970er-Jahre unzureichende Aufarbeitung der NSVerbrechen. Zentrale Themen des Romans sind die aufgesetzte und schwierige Haltung gegenüber allem Jüdischen und die antisemitischen Vorurteile, die unsere Sprache und unser Denken durchziehen, und schwer abzulegen sind. Rezzori zeichnet vermeintlich stereotype jüdische Figuren, wie den hochbegabten, ja beinah genialen Musiker, eine Händlerin, oder auch Intellektuelle, um dem Leser den Spiegel vorzuhalten. In den Erzählungen wird häufig deutlich, dass die antisemitischen Ressentiments nicht auf schlechten persönlichen Erfahrungen, die allein von der unterschiedlichen kulturellen Herkunft herrühren, sondern oft allzu menschliche Abgründe haben, wie Eifersucht und Missgunst. So meidet beispielsweise die Tante des Protagonisten in der ersten Erzählung „Skutschno“ den jüdischen Arzt des kleinen Ortes eben nicht, weil er Jude ist – denn ihre Angestellten dürfen von ihm behandelt werden –, sondern weil dessen ExFrau eine Affäre mit dem Geliebten der Tante hatte. In allen Erzählungen versetzt Rezzori seinen Helden in alltägliche Situationen, die ein Jedermann so oder ähnlich erlebt haben könnte. Darum bleibt der Protagonist auch namenlos, um die Identifikationskraft noch zu verstärken, wobei das auch nur vorgetäuscht ist, denn in Wirklichkeit hat der Held viele Namen: Von seinen Verwandten wird er Bubi genannt; die „schwarze Witwe“ aus der Erzählung „Jugend“ nennt ihn liebevoll Baby, und in
The Memory of Justice (Film von Marcel Ophüls, 1973/74)
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„Treue“ erhält er den Namen Brommy. Auf diese Weise entkräftet der Autor einen der vielen Vorwürfe seines Antisemiten, nämlich dass die Juden ihre Namen ändern, um nicht mehr als solche erkannt zu werden, um so ihre gesellschaftlichen Aufstiegspläne besser in die Tat umzusetzen. Dieser Methode bedient sich Rezzori mehrmals. Er betont die Schwächen des Helden und damit auch die Schwächen der deutschen Gesellschaft, wenn dieser über die eigenen Unzulänglichkeiten täuschen will, indem er alles vermeintlich typisch Jüdische verabscheut. Gregor von Rezzori versucht nicht ausschließlich seinen Helden anzuprangern. Er ergründet dessen Motive und liefert eine Erklärung für seinen Antisemitismus. Er beschreibt die Vorurteile seines Protagonisten als ein Beispiel von „Epochenverschleppung“, derer sich der Held aufgrund seiner Erziehung und seines Standesdünkels nicht entledigen kann. Bei der Lektüre kann man auch zu dem falschen Schluss kommen, dass der Titel irreführend ist, da der Held stets Beziehungen zu Juden unterhält, und er somit kein Antisemit sein kann. Doch bei näherer Betrachtung dieser Beziehungen stellt man fest, dass sie immer wieder an seinen antisemitischen Vorurteilen scheitern. Schlimmer noch, diese Verhältnisse werden vom Protagonisten stets verraten, ohne dass er diesen Verrat als solchen erkennt. In „Skutschno“ und „Jugend“ entlädt sich seine unreflektierte Unzulänglichkeit zum jüdischen Anderen sogar in körperlicher Gewalt. Die Kritiker sahen in den Geschichten autobiografische Erzählungen und bemängelten stets die von Rezzori geprägte Bezeichnung der „hypothetischen Autobiographien“ als Ausflucht vor der eigenen Verantwortung. Rezzori selbst schreibt in seiner 1997 erschienenen Autobiografie „Mir auf der Spur“, dass nur die Erzählung „Treue“ eine wahre Begebenheit sei, hingegen seien die anderen vier frei erfunden. Im Grunde widerspricht Rezzoris Buch dem Geist der 68er Generation, die sich frei von antisemitischen Vorurteilen wähnte, weil sie die Elterngeneration wegen ihrer Verbrechen angeklagt hatte, und zeigt, dass sich niemand von seiner Vergangenheit und seiner Herkunft gänzlich lösen kann.
Patricia Fromme
Literatur Pól O’Dochartaigh (Hrsg.), Jews in German Literature since 1945: German-Jewish Literature? Amsterdam, Atlanta 2000.
The Memory of Justice (Film von Marcel Ophüls, 1973/74) Der britisch-deutsche Dokumentarfilm über den Nürnberger HauptkriegsverbrecherProzess in französischer Sache war erstmals am 4. Oktober 1976 in den USA zu sehen. Das fast fünfstündige Werk wurde in Deutschland nach jahrelangem Rechtsstreit unter dem Titel „Nicht schuldig?“ vom NDR dem Publikum der dritten Fernsehprogramme am 18. März 1978 präsentiert. Der 1973/74 entstandene Film hatte zunächst das Missfallen („ästhetische Vorbehalte“) der Fernsehmanager erregt, wie schon der Rohschnitt die Produzenten enttäuschte. Diese forderten mehr Actionszenen und mehr Aggressivität und engagierten den Dokumentarfilmer Lutz Becker, der das Werk auf drei Stunden Dauer kürzte und Bilder vom Vietnam- und vom Algerienkrieg einmon-
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tierte. Damit verkehrte er Ophüls These, dass NS-Verbrechen wie der Holocaust nicht durch den Vergleich mit dem Massaker von My Lai in Vietnam relativiert werden dürfen, in das Gegenteil. Eine für 1975 geplante Ausstrahlung der Beckerschen Version des Films durch das ZDF konnte Ophüls durch Gerichtsbeschluss verhindern. 1976 wurde ein Zweiteiler unter dem Titel „Spuren der Gerechtigkeit“ ausgestrahlt. Die Kritik nannte die Bearbeitung eine „zerhackte Routine-Dokumentation“. In der gleichen Herangehensweise wie in seinem Film „Das Haus nebenan“ (1969), in dem Ophüls die Erinnerung an die Kollaboration vieler Franzosen mit den deutschen Okkupationsbehörden analysierte, nähert sich Ophüls dem komplexen Thema der Schuld für die Jahrhundertverbrechen des Nationalsozialismus. Ophüls befragte Ankläger (den Briten Sir Hartley Shawcross und den Amerikaner Telford Taylor) und Angeklagte (Albert Speer und Karl Dönitz), die Nazijäger Serge und Beate Klarsfeld, den Geiger Yehudi Menuhin, die Psychoanalytiker Margarete und Alexander Mitscherlich und viele andere, um Antworten zu finden auf die Frage nach dem Umgang mit nationalsozialistischer Vergangenheit nicht nur in Deutschland. Ophüls bezog französische Verbrechen in Algerien und US-amerikanische Massaker in Vietnam in die Betrachtung ein, nicht um zu relativieren, sondern, wie auch in seinen anderen Filmen, auf der Suche nach Ursachen und Wesen von Menschheitsverbrechen: „Die Notwendigkeit, Urteile über Menschen und ihre Handlungen zu fällen, wird im Film ständig mit dem Problem konfrontiert, über andere zu urteilen. Die Verbrechen der Nazis sind entsetzlich – in ihrem Ausmaß, in ihren verabscheuungswürdigen Motiven und in der Präzision der Ausführung; doch sind die Deutschen, ob zu unserem Glück oder Unglück, letztlich auch nicht anders als andere. Und gerade deshalb können wir vielleicht aus den Urteilen von Nürnberg lernen.“ Die „filmische Wahrheitssuche nach den Wurzeln des Totalitarismus“ (Spiegel 1978) und die Suche nach der Wirkung des Prozesses, der in Nürnberg 1945/46 auch für den moralischen Fortschritt der Menschheit geführt worden war, hat in Ophüls’ viereinhalbstündigem Film ein wenig ermutigendes Ergebnis. Ehemalige Nationalsozialisten bis hinauf zum Hitlernachfolger, dem „Reichspräsidenten Dönitz“, beteuern vor der Kamera ihre Unschuld, zeigen keine Einsicht und glorifizieren das Dritte Reich.
Wolfgang Benz
Mendelssohn-Bartholdy-Denkmal Leipzig Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809–1847), in einer vornehmen jüdischen Familie in Hamburg geboren, aufgewachsen und getauft in Berlin, wurde unter Friedrich Zelters Einfluss Musiker, war Begründer der Bach-Renaissance (Aufführung der MatthäusPassion 1829 mit der Singakademie Berlin) sowie der Händel-Renaissance in Deutschland und machte sich in jungen Jahren als Komponist einen Namen. Eine Reformations-Symphonie zum 300. Jahrestag der Augsburgischen Konfession 1830 konnte aus antisemitischen Gründen nicht aufgeführt werden, 1833 scheiterte aus dem gleichen Grund die Bewerbung als Leiter der Berliner Singakademie.
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1835 übernahm Mendelssohn-Bartholdy die Leitung der Leipziger Gewandhauskonzerte. Für seine Verdienste um die Pflege historischer Musik, die soziale Situation der Orchestermusiker und die Gründung eines Konservatoriums wurde MendelssohnBartholdy 1843 Ehrenbürger von Leipzig. 1840 hatte er das erste Bach-Denkmal in Leipzig gestiftet. Trotz der Anerkennung als Komponist und zahlreicher Ehrungen war er zeitlebens auch antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt, so vor allem durch Richard Wagner, der ihn in seinem Pamphlet „Das Judentum in der Musik“ angriff. Seit 1860 erinnert ein Monument in London an den deutschen Musiker. 1868, mehr als 20 Jahre nach dem Tod Mendelssohn-Bartholdys, trat ein Komitee zur Errichtung eines Denkmals für den populären Kapellmeister des Gewandhauses zusammen, das in 24-jähriger Arbeit die Mittel für ein repräsentatives Denkmal zusammenbrachte. Es wurde vor dem Neuen Gewandhaus errichtet und am 26. Mai 1892 eingeweiht. Mit der Ausführung wurde der Leipziger Bildhauer Werner Stein beauftragt, der eine über drei Meter hohe Bronzestatue Mendelssohn-Bartholdys schuf, auf granitenem Sockel, an dessen Fuß die ebenfalls monumentale Muse der Musik sitzt, umgeben von musizierenden Putti. Im Mai 1936 hatte die NSDAP-Kreisleitung Leipzig erstmals die Beseitigung des Denkmals „des Vollblutjuden Felix Mendelssohn-Bartholdy“ gefordert. Im Juni debattierte der Stadtrat darüber, und der Oberbürgermeister Carl Goerdeler nahm Kontakt mit Berlin auf und ließ sich versichern, dass Hitler und Goebbels die Entfernung des Monuments nicht wünschten. Im September 1936 erfolgte eine Pressekampagne gegen das Denkmal, die vom Stellvertreter des Oberbürgermeisters, Rudolf Haake, unterstützt wurde. Da Goerdeler den Abriss des Denkmals trotz neuerlichen Drängens ablehnte, nutzte sein Stellvertreter eine Vortragsreise des Stadtoberhaupts nach Finnland, um das Denkmal in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1936 niederreißen zu lassen. Bis auf Reste des Fundaments verschwand das Monument spurlos. Der Urheber des Denkmalsturzes rechtfertigte sein Tun mit dem Vorwurf, Goerdeler habe nicht nur „in der Judenfrage“ keine im nationalsozialistischen Sinne eindeutige Position eingenommen. Goerdeler hingegen erklärte seinen Rücktritt vom Amt des Oberbürgermeisters durch den Autoritätsverlust wegen der Weigerung des sächsischen Innenministeriums, den Ungehorsam seines Stellvertreters zu ahnden. Goerdelers Weg führte zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus bis zur letzten Konsequenz. Die Leipziger Presse durfte über den Abbruch des Denkmals nicht berichten. Als Demonstration spielten wenige Tage nach der Kulturbarbarei die Musiker des London Philharmonic Orchestra statt im Frack im Straßenanzug im Leipziger Gewandhaus. Ein Foto aus dem März 1934 zeigt einen gutgelaunten Adolf Hitler in voller Montur, neben ihm Carl Friedrich Goerdeler als Oberbürgermeister beim Festakt der Grundsteinlegung eines Richard-Wagner-Denkmals an der Frankfurter Straße in Leipzig. Die Idee, dem Komponisten, der 1813 in Leipzig geboren wurde, der ein schwieriges Verhältnis zu seiner Vaterstadt hatte, der sich als Antisemit hervorgetan hatte, ein Denkmal in Leipzig zu widmen, war 1931 entstanden und hatte nach dem Machterhalt der Nationalsozialisten starken Auftrieb erhalten. Nach dem Willen Hitlers sollte die monumentale Anlage als „Richard-Wagner-Nationaldenkmal des Deutschen Volkes“ fungieren. Mit der Ausführung wurde der Stuttgarter Bildhauer Emil Hipp be-
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auftragt. Das Denkmal sollte Wagner nicht nur als Musiker, sondern als Propheten des Dritten Reichs verherrlichen. Das Projekt kam nicht zur Vollendung. Das zerstörte Mendelssohn-Bartholdy-Denkmal wurde dagegen als originalgetreue Rekonstruktion am neuen Standort neben der Thomaskirche am 18. Oktober 2008 wieder eingeweiht.
Wolfgang Benz
Literatur Jürgen Ernst, Stefan Voerkel, Christiane Schmidt, Das Leipziger Mendelssohn-Denkmal, Leipzig 2009. Richard Wagner gepfändet. Ein Leipziger Denkmal in Dokumenten 1931–1955, ausgewählt und begleitet von Grit Hartmann, Leipzig 2003. Peter Hoffmann, Carl Goerdeler gegen die Verfolgung der Juden, Köln 2013. Ines Reich, In Stein und Bronze – Zur Geschichte des Leipziger Mendelssohn-Denkmals 1868–1936, in: Gewandhaus zu Leipzig (Hrsg.), Felix Mendelssohn – Mitwelt und Nachwelt. Bericht zum 1. Leipziger Mendelssohn-Kolloquium am 8. und 9. Juni 1995, Wiesbaden 1996, S. 31–53.
The Merchant of Venice (Komödie von William Shakespeare) „The Merchant of Venice“ [Der Kaufmann von Venedig] hat selbst unter den zahlreichen weltberühmten Stücken William Shakespeares einen besonderen Rang. Dies liegt nicht nur in der Vieldeutigkeit seiner Sprache begründet oder darin, ob man das Stück nun als „Geschichte“ („Historie“, wie es 1600 im Titel der ersten bekannten Textausgabe hieß) oder „Komödie“ – so die Bezeichnung in der ersten Folioausgabe 1623 – beurteilt (und nicht viel eher als Tragikomödie oder Drama), sondern auch im stückimmanenten Antisemitismus. Dieser äußert sich als christlicher Antijudaismus – mit der als „freiwillig“ verbrämten Zwangskonversion des Juden Shylock (als Alternative winkt ihm die Hinrichtung) ist auch den christlich-theologischen Ansprüchen seiner Zeit Genüge getan. Die Entstehung des Stückes „Der Kaufmann von Venedig“ wird auf 1596 bis 1598 datiert, die erste belegte Aufführung fand 1605 statt. Der titelgebende Kaufmann heißt Antonio, ist alteingesessener venezianischer Patrizier, Lebemann, etwas melancholisch und in seiner moralischen Verlogenheit – wie auch der Rest der ihn umgebenden Christen – kaum zu übertreffen. Sein Gegenspieler heißt → Shylock: „Ein reicher Jude“, wie er unter den dramatis personae lapidar vorgestellt wird. Er unterscheidet sich nicht nur von allen anderen, weil sein Name nicht ansatzweise italienisch klingt. Er ist sparsam, sehr geradlinig, pragmatisch und der Einzige im Stück, der Religion nicht nur vorschützt, wenn er Argumente braucht, sondern sie tatsächlich lebt. Vor dem Hintergrund der Fehde zwischen Antonio und Shylock – Antonio erniedrigt ihn bei jeder nur denkbaren Gelegenheit und Shylock hasst Antonio, „weil er von den Christen ist“ – geht es vordergründig darum, dass venezianische Lebemänner um die Liebe junger begüterter Frauen werben und diese am Ende auch erhalten (in Form der Heirat). Bekannte Motive, wie die Wahl zwischen drei Kästchen, um die Hand der Angebeteten zu bekommen, entlehnte Shakespeare dabei aus italienischen Stoffen des 16. Jahrhunderts.
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Der Antijudaismus des Stückes tritt am deutlichsten in der Figur des Shylock hervor. Dieser ist gleichwohl nur eine Nebenfigur, die lediglich in fünf Szenen auftritt – der Antijudaismus ist dagegen schon in der Konzeption des Stückes erkennbar. Geiz und Gier stehen als „jüdische“ Eigenschaften permanent im Kontrast zur Charakterisierung der christlichen Kaufleute, deren Mildtätigkeit und Kollegialität als genauso unveränderliche, auf die Religion zurückzuführende Eigenschaften präsentiert werden. Aus diesem antijudaistischen Konzept erwächst der Grundkonflikt des Stückes: Antonio muss sich Geld bei Shylock leihen, doch nicht um seinetwillen, sondern um seinem Freund Bassiano zu helfen, der um die Hand der schönen (und reichen) Porzia anhält. Shylock leiht ihm das Geld (sogar zinslos) und sinnt schon hier auf Rache: Als Pfand verlangt er ein Pfund von Antonios Fleisch, falls dieser nicht zurückzahlen könne. Nun versinken Antonios Schiffe mitsamt den Reichtümern auf dem Meeresgrund und mit ihnen alle Hoffnungen, Shylock ausbezahlen zu können. Doch der rechtschaffene Antonio erkennt den Vertrag mit Shylock an – so sehr er den Juden auch verachtet (und ihn auch weiterhin bei jeder Gelegenheit erniedrigt), gebietet es doch seine christliche Ehrlichkeit, beim Dogen von Venedig zu verlangen, dass Shylock gegeben werde, was vertraglich festgelegt ist. Doch auch der daraus folgende Prozess ist antijudaistisch konstruiert: Die Christen verlangen vom Juden Gnade, der Jude pocht hingegen auf das Gesetz, womit die christlich-neutestamentarische Gnade dem jüdisch-biblischen Recht gegenübergestellt wird. Doch Shylocks „jüdische Rachsucht“ lässt sich von der christlichen ethischen Wertvorstellung „Gnade vor Recht“ nicht beeindrucken – erst eine weitere, in ihrer Anlage antijudaistische Wendung bringt die Lösung des Konflikts: Shylock dürfe zwar ein Pfund Fleisch aus Antonios Körper herausschneiden, doch dabei keinen Tropfen Blut vergießen (impliziter Ritualmord-Vorwurf). Andernfalls würde er hingerichtet werden und all sein Hab und Gut verfiele der Republik Venedig. Und auch aus dem praktizierten Antijudaismus des 16. und 17. Jahrhunderts wird noch eine juristische Schlinge gedreht: Shylock ist als Jude automatisch ein Fremder ohne jede Möglichkeit, jemals Bürger von Venedig werden zu können, und wer als Fremder einem Venezianer nach dem Leben trachtet, verliert die Hälfte seines Vermögens an ebendiesen, die andere Hälfte an die Republik, und die Entscheidung über Leben oder Tod des Fremden liegt beim Dogen. Damit hat Shylock also den Prozess verloren; mit seiner Niederlage ist dem „jüdischen“ Recht Genüge getan, es folgt die „christliche Gnade“: Der Doge lässt ihm das Leben und Antonio verzichtet auf seine Hälfte von Shylocks Vermögen, wenn dieser zum Christentum konvertiere und all seine Habe der entlaufenen Tochter Jessica (die bereits konvertiert ist, um den Venezianer Lorenzo heiraten zu können) vermache. Shylock willigt ein (womit ein christlich-theologischer Anspruch erfüllt ist, nachdem jedwede Konversion freiwillig erfolgen muss) und verschwindet aus dem Stück, das mit dem glücklichen Treffen aller inzwischen entstandenen Paare endet. Hier erfährt Antonio schließlich auch, dass sein christlicher Gott ihm die Gnade gegenüber Shylock gedankt hat: Seine Schiffe sind gar nicht untergegangen, sondern sicher in den Hafen zurückgekehrt. Formal folgt „Der Kaufmann von Venedig“ einem gängigen Muster des damaligen Theaters: Dem guten Protagonisten steht ein Vice gegenüber, der zunächst jedoch das Glück auf seiner Seite zu haben scheint, bis sich der Protagonist bewähren und
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schließlich durchsetzen kann. Auch die Darstellung des „Bösen“ als Jude ist bei Shakespeare und im elisabethanischen Theater allgemein immer wieder anzutreffen, so z. B. in Christopher Marlowes → „Der Jude von Malta“, der 1592, also nur wenige Jahre vor dem „Kaufmann“, uraufgeführt wurde. „Der Kaufmann von Venedig“ ragt also nicht durch einen besonders scharfen oder überhaupt nur unüblichen Antijudaismus heraus. Dies betont vor allem der Philosoph Martin D. Yaffe, der den „Kaufmann“ mit anderen schriftstellerischen Arbeiten dieser Zeit verglichen hat und in Shakespeares Stück sogar eine Aufforderung an die Christen zu religiöser Mäßigung sieht. Der Antijudaismus des Stückes ist zwar augenfällig, jedoch nur ein Aspekt des „Kaufmanns“, und man mag Shakespeare zumindest zugute halten, dass der Versuch, eine gewisse Empathie mit dem verachteten, ausgegrenzten Shylock zu erzeugen, durchaus gesehen werden kann. Dieser Aspekt war es dann auch, der insbesondere nach 1945 immer wieder aufgegriffen wurde: Shylock als Kämpfer gegen Ausgrenzung und Diskriminierung, dessen Forderung nach rechtlicher Gleichbehandlung den Judenhass zu überwinden trachtet. Nicht umsonst nahm Walter Mehring mit seinem Versuch, den Antisemitismus der 1920er-Jahre zu demaskieren, deutlich Bezug auf das Shakespeare-Stück und nannte sein eigenes → „Der Kaufmann von Berlin“. Dass dieser Versuch in die falsche Richtung ging und selbst stark antisemitische Züge aufwies, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass „Der Kaufmann von Venedig“ seit mehr als 400 Jahren aktuell geblieben ist, die Diskussion und Auseinandersetzung mit dem Judenhass auf dem Theater (und seit dem 20. Jahrhundert auch im Film) nachhaltig beeinflusst und befördert hat und mithin noch immer zu neuen Deutungen, Interpretationen und Inszenierungen vor diesem Hintergrund führt.
Bjoern Weigel
Literatur Dror Abend-David, „Scorned My Nation“: A Comparison of Translations of The Merchant of Venice into German, Hebrew, and Yiddish, New York 2003. Johannes Heil, Bernd Wacker (Hrsg.), Shylock? Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und christlicher Tradition, München 1997. James Shapiro, Shakespeare and the Jews, New York 1996. Martin D. Yaffe, Shylock and the Jewish Question, Baltimore 1997.
Miejsce urodzenia (Dokumentarfilm von Paweł Łoziński) → Pokłosie
Miluj blížneho svojho (Film von Dušan Hudec, 2004) Der Dokumentarfilm „Miluj blížneho svojho“ [Liebe Deinen Nächsten] thematisiert den Pogrom in der slowakischen Kleinstadt Topoľčany im September 1945, der sich gegen die aus den Konzentrationslagern und Ghettos heimgekehrten Juden richtete. „Liebe Deinen Nächsten“ erinnert anhand von Zeitzeugen-Interviews daran, dass an einigen Orten Mitteleuropas der Antisemitismus auch nach dem Ende des „Dritten Reichs“ im Frühjahr 1945 nicht vorbei war. Der Film, eine Koproduktion des Slowakischen Fernsehens und der israelischen Transfax Film Production, löste in der Slowakei Unbehagen aus, da man sich das dunkle Kapitel der Kollaboration mit Hitlerdeutschland und auch der Judenverfolgung
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vor allem in der eigenen Nachkriegsgeschichte nicht eingestehen wollte. Der Film wurde zunächst zurückgehalten – als Grund galten rassistische Bemerkungen eines für den Film befragten Topoľčaner Bürgers, die sich auf Juden und Roma richteten. Topoľčany ist eine kleine Stadt nordöstlich von Bratislava, der Hauptstadt der (Ersten) Slowakischen Republik, die vom 21. Juli 1939 bis zum 8. Mai 1945 währte. Es handelte sich um einen klerikalfaschistischen Staat von Hitlers Gnaden, der nach der Zerstörung der Tschechoslowakei entstanden war. Ihr Ministerpräsident war der Priester Jozef Tiso. In der traditionell überwiegend katholischen Slowakei war – im Gegensatz zum tschechischen Teil der 1939 zerschlagenen Tschechoslowakischen Republik – die christliche Kultur tief verwurzelt. Unter Tiso wurden antisemitische Gesetze erlassen, im Jahr 1942 wurden nahezu 60.000 slowakische Juden deportiert. Der Film arbeitet mit Augenzeugenberichten des Zusammenlebens der Topoľčaner Christen und Juden in der Zeit vor, während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Konkreter Anlass für den Pogrom im Herbst 1945 war die Impfung von Kindern durch einen jüdischen Arzt, über deren angeblich tödliche Wirkung Unwahrheiten verbreitet wurden. Rabiate Antisemiten jagten die vor Kurzem heimgekehrten Juden und veranstalteten einen Spießrutenlauf. Es schien, dass niemand Interesse oder Mut hatte, für die Juden einzutreten. Während des Pogroms halfen manche der herbeigerufenen Soldaten, die die Juden eigentlich schützen sollten, den Pogromisten. 47 Juden wurden verletzt. Erst im April 1950 wurden Schuldige verurteilt, jedoch bald wieder amnestiert mit der Begründung, sie gehörten der Arbeiterklasse an, es handle sich um Kommunisten und Partisanen. Im Film hören wir den Interviewer nicht, auch eine moralisierende Position fehlt. Daher wirkt der Film nicht einseitig anklagend, er nimmt vielmehr Zeugnisse verschiedener Gesprächspartner auf, auch wenn sie sich gegenseitig widersprechen, so etwa die Aussagen zur paramilitärischen Hlinka-Garde, die an der Niederschlagung des gegen das Deutsche Reich gerichteten slowakischen Nationalaufstands im Herbst 1944 mitwirkte. Hlinka-Gardisten beteiligten sich an der Durchführung der Judendeportationen – ein jüdischer Zeitzeuge jedoch erinnert sich, dass manche Gardisten anständig gewesen wären und ihn vor Razzien gewarnt hätten. Die Polyphonie der authentischen Stimmen ehemaliger Bürger von Topoľčany trägt entscheidend zur Qualität des Films bei und macht ihn zur audiovisuellen Quelle über den Holocaust in der Slowakei. So ist es zum einen in einem Fall die christliche Einstellung eines Befragten, die ihn dazu bringt, den Holocaust abzulehnen. Gleichzeitig ist er doch überzeugt davon, dass die Juden Jesus ans Kreuz geschlagen haben, wofür er ihnen jedoch als Christ dankbar sein müsse, damit die Heilsgeschichte in Erfüllung gehen konnte. Diese antijudaistische Haltung mutet mittelalterlich an. Im Film betonen einige Gesprächspartner, dass im jahrhundertelangen Zusammenleben von Slowaken und Juden solche Pogrome unvorstellbar waren. Auch wenn es nicht ausgesprochen wird, scheint doch offensichtlich, dass Hitlers Neuordnung Europas die Slowaken von einem latenten katholischen Antijudaismus zu einem offenen Antisemitismus führte. Jozef Tisos klerikalfaschistischer Staat entfesselte in einer nicht gekannten Form eine ethische Verrohung seiner Bürger, die den Raub des Eigentums der Juden zu rechtfertigen schien. Ein nicht unbedeutender Teil der Erinnerungen der Überlebenden betrifft das scham-
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Miracolo dell’Ostia profanata (Predella von Paolo Uccello, 1465–1469)
lose Verhalten der slowakischen „Arisierer“, die nach dem Krieg nicht bereit waren, den Juden ihr Eigentum zurückzugeben. Hudec bemerkt in einem Interview mit Zuzana Szatmáry, dass sich die Nachkommen dieser Holocaust-Profiteure ebenso wie der Hlinka-Gardisten bis heute gegenseitig unterstützen. Manche der nichtjüdischen Interviewpartner im Film wundern sich, wie es möglich war, dass die katholische Kirche so etwas wie den Holocaust zuließ, da der Mord an den Juden einem ihrer wichtigsten Prinzipien, „Liebe Deinen Nächsten“, widersprach. Ein Zeitzeuge nennt die Pfarrei von Topoľčany einen Ort, der 1945 unheilvolle Fragen wie „Was wollen die Juden wieder?“ in die Welt setzte. So erstaunt wie die slowakischen Juden waren, dass man sie während der Deportationen zwang, am Sabbat zu reisen, so unwissend und verständnislos waren auch die slowakischen Christen nach dem Krieg hinsichtlich der Erlebnisse ihrer Mitbürger in den Konzentrationslagern. Dies führte dazu, dass die überlebenden Juden, die in ihre Stadt zurückgekehrt waren, diese bald wieder verließen. Einer der Zeugen, der Auschwitz überlebt und den Pogrom im September 1945 miterlebt hatte, drückt seine Enttäuschung und Trauer darüber aus, dass er seine Heimat verloren habe – er hätte danach nicht in der Stadt bleiben können. Der Film erhielt auf dem Prager Festival „Jeden svět“ (One World) im Jahr 2005 den Visegrad-Preis „Bester slowakischer Dokumentarfilm“.
Natascha Drubek
Miracolo dell’Ostia profanata (Predella von Paolo Uccello, 1465– 1469) Während seines Aufenthalts 1465 in Urbino wurde der Maler Paolo Uccello (1397– 1475) von der Bruderschaft des Leibes Christi (La Confraternita del Corpus Domini), einer Gruppe wohlhabender Bürger, beauftragt, die Predella für den Hochaltar ihrer Kirche zu gestalten. Das Altarbild selbst, eine Darstellung der Apostelkommunion, fertigte Joos van Ghent bis 1474. Die Predella von Uccello „Miracolo dell’Ostia profanata“ (Galleria Nazionale delle Marche, Palazzo Ducale Urbino) zeigt auf sechs Tafeln jeweils eine Szene des Hostienfrevels von Paris, der sich 1290 zugetragen haben soll. Diese Erzählung wurde durch die Chronik von Giovanni Villani (1280–1348) im italienischen Sprachraum verbreitet und enthielt im Unterschied zu anderen Überlieferungen keine Erzählung der Bekehrung der Juden, sondern die einer Hinrichtung. Die Wahl des Motivs kann im Zusammenhang mit der Errichtung eines Monte di Pietà in Urbino 1468 gedeutet werden, die mit Unterstützung der Herrscherfamilie Montefeltro geschah. Allerdings führte dies nicht zu einer Aufhebung der Tätigkeit jüdischer Bankiers, auf die Federico da Montefeltro (1422–1482) angewiesen war. Ein aktueller Anlass, etwa Übergriffe auf Juden unter dem Vorwand von Hostienfrevel, wird durch keine Quelle belegt, wobei festzustellen ist, dass es im italienischen Raum zwar zahlreiche Hostienwunder gibt, aber kaum Berichte über den Vorwurf des Hostienfrevels. Damit können die Bildtafeln als Bericht eines Geschehens der Vergangenheit mit der Zielsetzung gedeu-
Miracolo dell’Ostia profanata (Predella von Paolo Uccello, 1465–1469)
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tet werden, die in Urbino lebenden Juden als potenzielle Gefahr für das Heilige des christlichen Glaubens zu stigmatisieren und auszugrenzen. Die Darstellung der Hinrichtung einer ganzen jüdischen Familie unter Einschluss der Kinder signalisiert Gewaltbereitschaft gegenüber Juden. Zwar gibt es keine reale, wohl aber symbolische Gewalt (Katz). Auf der ersten Tafel ist ein Bankgeschäft dargestellt, in dem einer Frau ein Geldbeutel für eine Hostie ausgehändigt wird. In der Mitte des Bildes ist ein Kamin, an dem drei Wappenschilde angebracht sind, die je verschieden antijüdische Stereotype und Motive aufnehmen: Der Skorpion galt als Symbol eines bösartigen Judentums, insbesondere im Kontext der Passion Jesu; das Wappenschild, auf dem das Profil eines Afrikaners zu sehen ist, evoziert eine Nähe zu den Sarazenen, während das mit dem achteckigen Stern den jüdischen Geldverleiher in die Nähe der Sterndeuter rückt. Das zweite Bild zeigt, wie die Familie des Geldverleihers die Hostie in einer Pfanne röstet, die von Blut überquillt, während sich Bewaffnete gewaltsam Zutritt zum Haus verschaffen. Auf dem dritten Bild ist die Rettung der Hostie dargestellt. Sie wird in einer Monstranz, die ein Papst trägt, zum Altar gebracht. Damit wird zugleich eine Verbindung zum Fronleichnamsfest und der zugehörigen Prozession hergestellt. Die nächste Tafel zeigt die Frau, die die Hostie verkauft hatte, auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung am Galgen. Über ihr erscheint sichtbar ein Engel, wohl als Zeichen der himmlischen Rettung, die ihr als Christin dennoch möglich ist. Im Gegensatz dazu und als Zeichen der endgültigen Trennung von Gott zeigt die fünfte Tafel die Hinrichtung der jüdischen Familie auf dem Scheiterhaufen. Auf der letzten Tafel streiten sich zwei Engel und zwei Teufel um die tote Christin. Uccellos Predella für einen Hochaltar, der der Eucharistie gewidmet sein sollte, bedient mehrere antijüdische Klischees und erfüllt damit zugleich verschiedene Funktionen in einem sakralen öffentlichen Raum. Durch die Darstellung der Legende werden die Juden als Feinde nicht nur Christi, sondern auch der Christen dargestellt, deren irdisches und ewiges Leben sie gefährden. Die Eucharistie wird dabei als Zentrum christlicher Frömmigkeit und Existenz behauptet und als signifikantes, trennendes Merkmal gegenüber den Juden. Dass ihnen unterstellt wird, sie glaubten ebenfalls an die Gegenwart Christi in der Hostie, was dann durch ihre blasphemischen Praktiken erwiesen werden soll, dient primär dazu, die Wahrheit des christlichen Glaubens aufzuzeigen. Den Juden kommt dabei eine besondere Zeugenschaft zu. Für diese Konstruktion nimmt der Mythos vom Hostienfrevel einen Bruch in Kauf: Die Juden werden Zeugen der Wunder der Hostie – eine Erfahrung, die im Narrativ der eucharistischen Frömmigkeit ausgewählten Mystikern und Heiligen vorbehalten ist. Die Juden bilden spiegelverkehrt die Begnadung durch die Eucharistie ab. Bilder wie die Predella und die Legenden dienen zweifelsohne auch dazu, die Transsubstantiationslehre, deren Verstehen eine gewisse philosophische Kompetenz erforderte, anschaulich und begreifbar zu machen, jedoch sie gleichzeitig zu enttheologisieren, indem der dingliche Aspekt der Transsubstantiationslehre völlig überbetont wurde. Unter diesem Aspekt sind die medialen Zeugnisse der Beschuldigung des Hostienfrevels eine Profanisierung des eucharistischen Verständnisses, womit auch in
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diesem Fall der Antijudaismus sich als destruierend für Frömmigkeit und Theologie erweist.
Rainer Kampling / René Koch
Literatur Paula C. Clarke, The Villani Chronicles, in: Sharon Dale, Alison Lewin, Duane Osheim (Hrsg.), Chronicling history. Chroniclers and historians in medieval and Renaissance Italy, University Park 2007, S. 113–144. Dana E. Katz, The contours of tolerance. Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino, in: Art Bulletin 85 (2003), S. 646–661. Mitchell B. Merback, Jewish Carnality, Christian Guilt, and Eucharistic Peril in the Rotterdam-Berlin Altarpiece of the Holy Sacrament, in: Herbert Kessler, David Nirenberg (Hrsg.), Judaism and Christian Art. Aesthetic Anxieties from the Catacombs to Colonialism, Philadelphia 2011, S. 203–32. Luigi Moranti, La Confraternita del Corpus Domini di Urbino, Ancona 1990. Wolfgang Treue, Das Blutmotiv im antijüdischen Diskurs vom Mittelalter bis in die Moderne. Texte, Bilder, Interpretationen in: Jirí Pešek, Falk Wiesemann (Hrsg.), Blut. Perspektiven in Medizin, Geschichte und Gesellschaft, Essen 2011, S. 85–99. Falk Wiesemann, Hostienfrevel. Die bildmediale Verbreitung eines antijüdischen Stereotyps, in: Jirí Pešek, Falk Wiesemann (Hrsg.), Blut. Perspektiven in Medizin, Geschichte und Gesellschaft, Essen 2011, S. 47–84.
Mirakelspiel → Augsburger Heiligkreuzspiel Los Misterios del Rosario (Film, Spanien 1957) → Jesusfilme Mit versiegelter Order (Film von Karl Anton, 1938) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Die Mitläufer (Film von Erwin Leiser und Eberhard Itzenplitz, 1984) Als „Mitläufer“ wurden in den Entnazifizierungsverfahren nach 1945 diejenigen bezeichnet, die nicht mehr als nominell am Nationalsozialismus teilgenommen oder ihn nur unwesentlich unterstützt hatten. Diese „ganz normalen Deutschen“ stellte Erwin Leiser (1923–1996) in den Mittelpunkt seines Films „Die Mitläufer“ und erzählte in zehn verschiedenen Episoden vom alltäglichen Faschismus. Dafür griffen er und sein Team auf historisches Material zurück, Dokumente wie Spielfilmszenen, setzten aber überwiegend auf inszenierte Spielszenen mit offenem Ende, um Einblicke in das private Leben zu ermöglichen. Einleitend betonte der Sprecher, dass die während der NS-Zeit hergestellten scheinbar dokumentarischen Bilder durch und durch inszeniert waren und bis heute ein falsches Idyll vorgaukeln, gerade auch wenn es um Privates, Alltägliches geht. Insgesamt hat die NS-Propaganda vieles nicht gezeigt, z. B. Menschen, die nicht mitmarschierten oder die nicht mitjubelten. Um den Propagandabildern zu entkommen und zugleich auf die fehlenden Bilder hinzuweisen, wurden Spielszenen gedreht. Verbunden sind sie durch historisches Material, das von kritischen Kommentaren zu den tatsächlichen Ereignissen begleitet wird. Hier wählte Lei-
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ser dasselbe Verfahren wie in seinen frühen Kompilationsfilmen: Mithilfe des Kommentars sollen die Propagandabilder widerlegt werden. Die zehn Spielfilmepisoden haben eigene Titel und sind chronologisch angeordnet. Sie reichen vom Jahr der Machtübernahme 1933 bis zum Ende der NS-Herrschaft 1945: Der Brand: Die Episode ist in zwei Sequenzen unterteilt. Die Erste spielt in der Küche einer Arbeiterfamilie. Er schaut aus dem Fenster, sie wäscht Wäsche. Angesichts des brennenden Reichstags ist die Frau froh, dass ihr Mann nicht „organisiert“ ist. Denn: „Die schnappen sich alle, die irgendwo links sind.“ Die zweite Sequenz spielt in einem bürgerlichen Wohnzimmer. Ein Arzt und ein Jurist sprechen darüber, wer wohl schuld am Reichstagsbrand sei. Der Jurist glaubt nicht, dass die Schuld juristisch geklärt werden wird, entscheidend sei, wer als Sündenbock herhalten müsse und wer davon profitiere. Der Arzt scherzt, er müsse ja bei seiner Arbeit nicht „zwischen roten und braunen Blinddärmen“ unterscheiden. Doch was werde er tun, so der Jurist, wenn es irgendwann verboten sei, z. B. Juden zu behandeln? Der Zug der Zeit: Die Szene spielt auf dem Land. Ein junges Paar, er Landwirt, sie aus der Stadt, geht spazieren. Er erzählt von seinen Plänen, Mitglied der SA-Reiterstaffel zu werden. Sie reagiert entsetzt und wirft ihm vor, opportunistisch zu handeln und letztlich nur auf seinen Vorteil bedacht zu sein. Er meint, dass sein Verhalten auch ihr, deren Vater Sozialdemokrat ist, nützen könnte. Sie bleibt bei ihrer ablehnenden Haltung. Die Beziehung der beiden scheint beendet. Der Zinnsoldat: Wiederum in der Küche einer Arbeiterfamilie. Der Vater trägt Uniform. Er wird sich nach dem Mittagessen an einer Boykott-Aktion gegen ein jüdisches Schuhgeschäft beteiligen. Die Mutter erinnert sich, dort ihre Hochzeitsschuhe gekauft zu haben. Die Tochter fragt ihren Vater, wie das so sei, wenn er „im Dienst“ sei. Da, so belehrt er Frau und Tochter, handele man nicht als Mensch, sondern habe seine Pflicht zu erfüllen. Nachhilfe-Unterricht: Ein Oberamtsgerichtsrat erklärt einem Amtsrichter, dass man am 1. Mai mitzumarschieren habe, statt zu Hause zu musizieren. Der Vorgesetzte ist jünger und überzeugtes Parteimitglied. Er droht dem Untergebenen mit der Gestapo, bis dieser ängstlich „Besserung“ gelobt. Der Vorgesetzte gibt sich großzügig, schließlich seien sie „ja keine Unmenschen“. Mit der Zeit gehen: Eine Putzfrau reinigt das Treppenhaus. Aus einer offen stehenden Wohnung sind Radionachrichten zu hören, in denen die antijüdischen Pogrome im November 1938 als „Vergeltungsaktionen“ bezeichnet werden. Ein Mann betritt das Haus und beginnt ein Gespräch mit der Putzfrau. Er fordert sie auf, nicht länger für eine jüdische Familie zu putzen. Sie verteidigt die Familie, das seien „gute Leute“. Ihm geht es „ums Prinzip“ und er meine es „ja nur gut mit ihr“. In der Schlange: Zwei Hausfrauen sprechen über eine Nachbarin, die wegen des Hörens von „Feindsendern“ verhaftet worden ist. In den ausländischen Nachrichten hatte sie vom Tod des Sohnes einer Bekannten gehört und dieser Bekannten davon berichtet. Daraufhin wurde sie von ihr denunziert. Die in der Schlange wartenden und Nachrichten austauschenden Frauen misstrauen einander. Unklar bleibt auch für die Zuschauer, wem zu trauen ist.
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Trauer: Ein Vater formuliert die Todesanzeige für den in Stalingrad gefallenen Sohn. Die Mutter schweigt zunächst, als er den Text vorliest. Sie schaltet das Radio mit den Erfolgsmeldungen aus und sagt, dass es sich bei diesem Tod nicht um einen „Heldentod“ handele und sie keine „stolze Trauer“ empfinde. Als sie mit Blick auf die Fotos ihrer zwei gefallenen Söhne anfängt zu weinen, herrscht der Mann sie an: „Menschenskind, nun reiß dich doch ’mal zusammen.“ Humor: Im Luftschutzkeller versucht ein Mann, die anderen mit Alkohol und mit Witzen über Hitler, Goebbels und Göring aufzuheitern. Das erregt das Missfallen des Luftschutzwartes. Er prophezeit dem Betrunkenen, dass ihm sein komischer Humor noch vergehen werde. Der Eisenbahner: Auch in dieser Episode wird viel getrunken. Ein Lokführer verdirbt seiner Frau die Weihnachtsstimmung, als er andeutet, dass er Menschen in die Konzentrationslager im Osten transportiert. Sie ist aber mehr entsetzt darüber, wie er sich „an Weihnachten“ benimmt. Der Eid: Die Szene spielt im Frühjahr 1945. Die Amerikaner haben bereits den Rhein überquert. Zwei Gymnasiasten besprechen die Lage. Sie wissen nicht, welchen Nachrichten sie trauen können. Ein Flugblatt, das über die Opfer in den Konzentrationslagern informiert, erscheint dem einen als „Greuelpropaganda“. Sie sind unterschiedlicher Meinung, auch was die am nächsten Tag anstehende Vereidigung und den möglichen Fronteinsatz anbelangt. Der Film startete im Juni 1985 in den Kinos, einige Wochen nach den Gedenkfeiern zum Ende des Zweiten Weltkriegs und der Debatte darüber, ob der 8. Mai 1945 für die Deutschen ein „Tag der Niederlage“ oder ein „Tag der Befreiung“ war. Das an der Produktion beteiligte ZDF strahlte den Film Anfang Januar 1988 aus. Regie führte neben Erwin Leiser Eberhard Itzenplitz; das Drehbuch für die Spielszenen schrieb Oliver Storz. Leiser konnte für sein Projekt viele angesehene Schauspielerinnen und Schauspieler gewinnen, u. a. Gottfried John, Karin Baal, Witta Pohl und Armin Müller-Stahl. Die Besprechungen des Films sind überwiegend positiv, lobend hervorgehoben wird neben den dramaturgischen und schauspielerischen Leistungen der Versuch, den Alltag im Nationalsozialismus vor Augen zu führen. Dabei auf Spielszenen zurückzugreifen, überzeugt nicht alle Rezensenten. Leiser hatte über die filmische Methode viel nachgedacht, nachdem er für das in früheren Filmen verwendete Verfahren der Kompilation zum Teil heftig kritisiert worden war (→ Mein Kampf). Interviewfilme, in denen Täter und Mitläufer Gelegenheit bekommen, ihre Sicht der Dinge darzustellen, überzeugen ihn allerdings auch nicht. Denn: „Es kann nicht Aufgabe eines Films sein, gegen die Mitwirkenden zu polemisieren, sie vielleicht sogar als Lügner zu entlarven.“ Ziel des Films sei vielmehr, die Zuschauer zum Nachdenken anzuregen: Wie hätten sie sich wohl damals verhalten? Und, in einem zweiten Schritt: Wann wäre heute Einspruch gefordert? „Die Mitläufer“ ist so gesehen ein Film für die Gegenwart. Gezeigt wurde er allerdings im deutschen Fernsehen seit Jahrzehnten nicht mehr, und nur in wenigen Archiven finden sich Kopien.
Martina Thiele
Literatur Erwin Leiser, Auf der Suche nach Wirklichkeit. Meine Filme 1960–1996, Konstanz 1996.
Mjölnir – Zeichner des Nationalsozialismus
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Mjölnir – Zeichner des Nationalsozialismus „Zeichner des Nationalsozialismus“ wurde der Grafiker, Plakatgestalter und Karikaturist Hans Schweitzer (1901–1980) im „Dritten Reich“ genannt. Schweitzer zeichnete unter dem Pseudonym „Mjölnir“ unzählige Karikaturen für die NS-Presse und gestaltete eine Vielzahl von Propagandaplakaten für die NSDAP, deren Bildsprache, Selbstbild und öffentliche Repräsentation er maßgeblich prägte. Seine Kampfzeichnungen und rassistischen Körperbilder werden bis heute von rechtsextremen Gruppen kopiert und sind auch wegen ihrer illustrativen Verwendung in deutschen Geschichtsbüchern im kollektiven Bildgedächtnis der BRD verankert. Hans Herbert Schweitzer wurde am 25. Juli 1901 in Berlin geboren. Während seines Studiums an der Hochschule für Bildende Künste zeichnete er in den frühen 1920er-Jahren für rechtsradikale Freikorps und engagierte sich u. a. im „Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbund“. Seine frühen politischen Karikaturen zeigten bereits deutliche anti-kommunistische, anti-sozialdemokratische und republikfeindliche Züge. 1924 gestaltete er anlässlich der Reichstagswahl ein erstes antisemitisches Bildplakat für die „Nationalsozialistische Freiheitsbewegung“ sowie drei Plakate für die „Deutschnationale Volkspartei“ (DNVP). 1926 trat Schweitzer der NSDAP bei und zeichnete fortan unter dem Pseudonym „Mjölnir“ verstärkt für die NS-Presse, so etwa für Gregor Straßers „Berliner Arbeiterzeitung“, den „Völkischen Beobachter“, den „Angriff“ und die „Brennessel“. Sein Pseudonym, das in der nordischen Mythologie den Hammer des Gewittergottes Thor bezeichnet, verdeutlichte Schweitzers Affinität zur völkischen Bewegung und sein auf Kampf ausgelegtes künstlerisches und politisches Selbstverständnis. In den folgenden Jahren avancierte er trotz seines zwischenzeitlichen Austritts aus der NSDAP zu deren wichtigstem Pressezeichner und Plakatgestalter. Sein Aufstieg war dabei eng mit der Freundschaft und Förderung Joseph Goebbels’ verbunden. Während die „Mjölnir“-Karikaturen vor 1933 in erster Linie parteiinterne Verbreitung erfuhren, zielten seine Plakate, die ab 1928 anlässlich der verschiedenen Wahlkämpfe massenhaft für die NSDAP warben, auf die Eroberung des öffentlichen Raums und den Gewinn von Stimmen. Sie prägten auf diese Weise nicht nur das Selbstbild, sondern auch das öffentliche Erscheinungsbild der NSDAP entscheidend und visualisierten das parteiliche Selbstverständnis als revolutionäre „Bewegung“. Inhaltlich reduzierten Schweitzers Plakate die Komplexität der politischen und sozialen Situation der Weimarer Republik auf simple Erklärungen und Lösungsansätze. Sein zentrales Motiv war das Positivbild des deutschen Arbeiters und SA-Mannes, der als gigantischer, muskulöser Mann mit zumeist nacktem Oberkörper und kantigem Gesicht sowie entschlossenem Gesichtsausdruck dargestellt wurde und als Personifizierung des deutschen Volkes und der NSDAP gleichermaßen diente. Während er in den frühen Plakaten der „Kampfzeit“ meist als in Ketten gelegtes, geknechtetes Opfer von Juden, Sozialdemokraten und Alliierten dargestellt wurde, entledigte er sich in späteren Plakaten seiner Ketten und griff nach der Macht. Schweitzers Bildsprache wurde dabei stark von Gewalt bestimmt, charakteristisch war die visuelle Zerschmetterung der Feinde durch eine gigantische Faust oder den Hammer des Arbeiter- und SA-Riesen. Gleichzeitig verdeutlichte diese Symbolik den Machtanspruch und den unbedingten Durchsetzungswillen der nationalsozialistischen „Bewegung“, deren
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Mjölnir – Zeichner des Nationalsozialismus
Führer Adolf Hitler als Garant für eine bessere Zukunft ohne Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger gepriesen wurde. Stilistisch zeichneten sich Schweitzers Plakate durch antithetische Komposition, repetitive Symbolik und naturalistische Ausdrucksform aus. Sie beschränkten sich zumeist auf wenige visuelle Elemente, konzentrierten sich auf die Farben schwarz, weiß und rot sowie auf ein einfaches Narrativ und eingängige Parolen. Zudem wurde Schweitzers Bildwerk geprägt von Einflüssen und Adaptionen aus der nordisch-germanischen Mythologie, der Arbeiterbewegung und der internationalen Plakatpropaganda des Ersten Weltkriegs. Schweitzer schuf daraus eine eigene Bildsprache, die sich insbesondere in allegorischen Körperbildern manifestierte. Das Positivbild des Arbeiters und SA-Mannes diente als Verkörperung der nationalsozialistischen Ideale. Die Feinde des Nationalsozialismus wurden demgegenüber klein, dunkel und oftmals körperlich degeneriert dargestellt. Gleichzeitig illustrierte Schweitzer die vermeintliche Bedrohung, die Sozialdemokraten, Kommunisten und vor allem Juden für das deutsche Volk darstellten. Dabei thematisierte er insbesondere die angebliche Dominanz jüdischer Kapitalisten und Sozialdemokraten und schuf mit seinem rassistisch konstruierten Zerrbild „des Juden“ ein ultimatives Gegenbild zu seinem idealisierten Positivbild. Schweitzer konstruierte damit eine grundlegende Unterteilung in Freund und Feind und visualisierte die nationalsozialistischen Kriterien für Zugehörigkeit und Ausschluss aus der deutschen „Volksgemeinschaft“. Mit der Machtübernahme und Etablierung der NSDAP als Regierungspartei bestand für Schweitzers aggressive Kampfpropaganda ab 1933 vorerst kein Bedarf mehr. Stattdessen wurde er aufgrund seiner Verdienste in der „Kampfzeit“ im Oktober 1935 zum Leiter des Reichsfachausschusses der Pressezeichner im Reichsverband der deutschen Presse, zum Reichskultursenator und zum Reichsbeauftragten für künstlerische Formgebung ernannt. Diese Positionen machten Schweitzer zu einem der wichtigsten Kunstfunktionäre des „Dritten Reichs“. Als Leiter des Reichsfachausschusses der Pressezeichner übte er Einfluss auf Form und Inhalt sämtlicher Karikaturen und Zeichnungen der gleichgeschalteten NS-Presse aus und ordnete in dieser Funktion in der „Deutschen Presse“ vom 25. April 1936 an: „Die gewaltige Triebfeder der politischen Satire ist der Hass. Wer ihn nicht besitzt, kann politische Motive nicht gestalten.“ Als Reichsbeauftragter für künstlerische Formgebung war Schweitzer u. a. beteiligt an der Konzeption und Gestaltung neuer Münzen, Geldscheine und Briefmarken, parteilicher und staatlicher Abzeichen, Banner, Uniformen und Denkmäler. 1936 wurde er Mitglied des Präsidialrats der Reichskammer der bildenden Künste, 1937 erhielt er den Professorentitel. Sein Aufgabenbereich war weitgehend im bürokratischen Sektor der nationalsozialistischen Kunst- und Kulturpolitik verortet. 1937 war er Mitglied der Kommission der Ausstellung → „Entartete Kunst“ in München sowie Juror der zeitgleich stattfindenden „Großen Deutschen Kunstausstellung“. Er war dabei nicht nur an der Kategorisierung unliebsamer, als „entartet“ eingestufter Kunst beteiligt, sondern ebenfalls an deren Beschlagnahmung sowie, als Mitglied der „Kommission zur Verwertung der beschlagnahmten Werke entarteter Kunst“, an deren Verkauf. In dieser Rolle zeichnete er maßgeblich für die Diffamierung avantgardistischer Künstler mitverantwortlich.
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Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs entstand neuer Bedarf an seinen Kampfbildern. Schweitzer zeichnete fortan nicht nur erneut für zahlreiche NS-Gliederungen und Zeitungen, sondern insbesondere Kriegsplakate. In der Anfangsphase dominierten Siegessicherheit und aggressive Kriegssymbolik, wobei Schweitzers Motive nahtlos an seine Plakate der „Kampfzeit“ anknüpften. Seine Arbeiter-Riesen erschienen nun als entschlossene Wehrmachtssoldaten und unermüdliche Arbeiter der Heimatfront, die die Kriegsgegner Deutschlands und das „internationale Judentum“ gemeinsam überwanden und zerstörten. Mit anhaltender Kriegsdauer verlagerte sich Schweitzers Fokus auf die Forderung zusätzlicher Anstrengungen bis hin zur Propagierung des totalen Kriegs. Ab 1943 thematisierte er zunehmend die deutsche Opferbereitschaft und forderte den „Sieg um jeden Preis“, zudem setzten seine Plakate verstärkt auf das mobilisierende Potenzial der Angst. Er dämonisierte dafür den Bolschewismus zu einem mordlüsternen Monster und stellte den Krieg gegen die Sowjetunion als apokalyptischen Endkampf dar. Parallel dazu visualisierte Schweitzer sowohl das Konstrukt der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung als auch den vermeintlichen Einfluss der „jüdischen Plutokratie“ auf die westlichen Feindmächte und stellte „den Juden“ schließlich als alleinigen Verantwortlichen für den Krieg dar. In der letzten Phase des Krieges nahmen Schweitzers Entwürfe eine zunehmend desillusionierte und regelrecht defätistische Note an. Darstellungen von Wehrmachtssoldaten wichen der Propagierung des Volkssturms, die Siegessicherheit und Kampfeslust der Anfangsjahre machte Durchhalteparolen Platz. Nach Kriegsende hielt sich Schweitzer in Schleswig-Holstein versteckt, bis er 1947 entdeckt und interniert wurde. Vor dem Spruchgericht Bergedorf stellte er sich 1948 als unpolitischen Künstler dar und bagatellisierte seine Position innerhalb des NS-Systems. Da bezüglich seiner Plakate und Karikaturen nicht genügend Beweismaterial vorgebracht werden konnte und die Suche nach Zeugen weitgehend erfolglos blieb, konnte ihm eine direkte Aufforderung zur Begehung von verbrecherischen Handlungen nicht nachgewiesen werden. Das Spruchgericht verurteilte ihn daraufhin lediglich wegen seiner Mitgliedschaft in der SS zu einer Geldstrafe von 500 Mark, die ihm wegen seiner vorangegangenen Internierung jedoch erlassen wurde. Ein vom Ankläger gefordertes Revisionsverfahren erhöhte die Geldstrafe, jedoch wurde diese in einem erneuten, von Schweitzer angestrebten Revisionsverfahren wieder gesenkt. Weitere Ermittlungen des Entnazifizierungs-Hauptausschusses Kreis Schleswig konterte Schweitzer 1949 durch die Beteuerung, mit politischer Propaganda nie etwas zu tun gehabt zu haben, und mithilfe von Falschaussagen sowie mehrerer „Persilscheine“. Schweitzer wurde daraufhin als Mitläufer eingestuft. In den folgenden Jahren betätigte er sich zeichnerisch für unterschiedliche Organisationen, wobei ihm seine Kontakte zu ehemaligen Parteigenossen oftmals von Nutzen waren. Er kreierte Plakate für die FDP, die Demokratische Partei Saar (DPS), die rechtsextreme Partei der guten Deutschen und den Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE). Zu seinen Auftraggebern zählten ferner das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Prominente und Buchverlage sowie die USArmee, für die er in Ramstein u. a. Veranstaltungsplakate und Offiziers-Porträts anfertigte.
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Mordverläufe (Roman von Manfred Franke, 1973)
Seit den späten 1950er-Jahren stellte Schweitzer seine zeichnerischen Fähigkeiten zunehmend in den Dienst rechtsextremer Gruppen und Parteien. So gestaltete er Wahlplakate für die Deutsche Reichspartei (DRP) und zeichnete für deren Organe „Reichsruf“ und „Das neue Reich“. Hinzu kamen seit Mitte der 1960er-Jahre unzählige Zeichnungen für die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) sowie für Zeitschriften aus dem rechtsextremen Lager. Zudem gestaltete er für die „Deutsche Bürgerinitiative“ in den 1970er-Jahren das Plakat „Friedenskämpfer Rudolf Hess“. Inhaltlich variierte er dabei die Themen der bolschewistischen und sozialistischen Bedrohung, stilistisch adaptierte er seine alten Darstellungsformen, die er nur leicht an den bundesdeutschen Kontext anpasste.
Carl-Eric Linsler
Literatur Bernhard Fulda, Die vielen Gesichter des Hans Schweitzer. Politische Karikaturen als historische Quelle, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 206–224. Peter Paret, God’s Hammer, in: German Encounters with Modernism, 1840–1945, Cambridge 2001, S. 202–228. Gerhard Paul, Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, Bonn 1990. Gerhard Paul, Mjölnir. Eine deutsche Künstlerkarriere, in: Journal Geschichte 2–3, April/Juni 1991, S. 44–59. Gerhard Paul, „Prolet-Arier“. „Mjölnir“, Body Politics und die Bilderwelt der „Generation des Unbedingten“, in: BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und des 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013, S. 45–100.
Mohammed-Karikaturen → Internationaler-Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb (2006) Moïse et Salomon parfumeurs → André Hugon-Filme Monsieur Bégonia → André Hugon-Filme Monsieur Klein (Film von Joseph Losey, 1976) → Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm
Mordverläufe (Roman von Manfred Franke, 1973) Manfred Frankes Werk „Mordverläufe. 9./10.XI.1938. Ein Protokoll von der Angst, von Mißhandlungen und Tod, vom Auffinden der Spuren und deren Wiederentdeckungen“ zählt zu den eindrucksvollsten und genauesten lokalhistorischen Rekonstruktionen der „Reichskristallnacht“ – und das obgleich es paratextuell (zu Recht) auch als Roman bezeichnet wird. In seinen „Mordverläufen“ schildert der 1930 geborene Autor anhand von Zeugenaussagen, die zum einen unmittelbar nach der Tatnacht und zum anderen nach 1945 getätigt wurden, mithilfe von Prozessakten, mittels Zeitungsberichten und auch anhand (weniger) eigener Erinnerungen, was sich im November 1938 in seiner Heimatstadt zugetragen hat. Dabei nennt er in der Originalausgabe von 1973 weder den Namen der Stadt noch die der beteiligten Täter, Opfer und Zuschauer: Alle auftretenden „Figuren“ werden konsequent mit Decknamen versehen.
Mordverläufe (Roman von Manfred Franke, 1973)
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Diese Anonymisierung geschah vor allem auf Wunsch eines Lokalhistorikers, der Franke die wesentlichen Akten und Aussagen zugänglich machte, aber fürchtete, dass seine Mitarbeit an dem Buch für ihn negative Konsequenzen haben könnte, da er noch immer in der betroffenen Stadt lebte. Damit werden die „Mordverläufe“ auch zu einem doppelten Zeugnis: Nicht nur rekonstruieren sie die Ereignisse im „Dritten Reich“, sie legen auch ein Zeugnis für die Bedingungen der Möglichkeit historischer Aufarbeitung im Jahre 1973 in der BRD ab. Da der Roman nach seinem Erscheinen nicht nur lokal erhebliches Interesse gefunden hatte und auch fingierte Namen bzw. Ortsbezeichnungen (öffentlich) aufgelöst worden waren, wurden auch in der Neuausgabe von 1997 einige der Klarnamen von Franke genannt und offengelegt, dass es sich um die heute nordrhein-westfälische Stadt Hilden handelte, in der während der Pogromnacht sechs Menschen (andere historische Arbeiten sprechen von sieben) ums Leben kamen. Diese hohe Zahl an Todesopfern veranlasste „den nach Kriegsende beauftragten Kriminalbeamten zu der Einschätzung, ‚daß in unserer Stadt weit über den Rahmen des im übrigen Reich Geschehenen hinausgegangen worden war‘“. Anfangs wollte Manfred Franke, wie er in seiner Nachschrift von 1997 betont, „einen epischen Text schreiben […], der sich nur an den überlieferten Fakten orientiert. Dieses konventionelle Verfahren erwies sich bald als unmöglich. Die aus der ersten Niederschrift zu ermittelnden Vorgänge stimmten nicht mehr mit den aus den Dokumenten abzulesenden überein. Was ‚dichterische Freiheit‘ genannt wird, war in einem Ausmaß erreicht, das den Tatbestand glatter Fälschung aufwies.“ Franke entschloss sich daher zu einem komplexen Montageverfahren, in dem die „vorhandenen Protokolle, Berichte usw. […] auseinandergenommen und zu neuen Einheiten immer wieder zusammengesetzt [wurden]. Maßgebend dafür waren die Tatorte. Aus der Zuordnung und Gegenüberstellung teils sich ergänzender, teils sich widersprechender Aussagen ergibt sich ein erstes Spannungsmoment: Was Zeuge A als erwiesen hinstellt, leugnet B, und was der getan oder gesehen haben will, glaubt C widerlegen, D aber bestätigen, E wiederum relativieren zu können. Dadurch wird der Leser unmittelbar in den Prozeß der Ermittlung einbezogen.“ Durch dieses Verfahren aber sieht Franke den ursprünglichen Charakter der Dokumente auch nachhaltig verändert: „Die Protokolle büßen ihre ursprünglich kriminalistische, Beweise bildende und somit heute historische Qualität ein: Es entsteht eine fiktive Ermittlung. Insofern erscheint die Gattungsbezeichnung auf dem Titelblatt des Buches gerechtfertigt.“ Das Ergebnis der literarischen und durch die bewusst gesetzten Redundanzen auch notwendig quälenden Spurensuche ist nicht die schlussendliche Entdeckung des Haupttäters, denn der „war ja schon 1945 beziehungsweise 1948 ermittelt und sogar verurteilt worden, [sondern es] stellt sich vor allem heraus, was auch Prozesse gegen NS-Verbrecher […] am Ende moralisch so frustrierend machte: daß Recht im Sinne der Justiz sich nur teilweise deckt mit Gerechtigkeit.“ (Jörg Drews in seinem Nachwort zur Ausgabe 1997). Überdeutlich wird das am Fall des ehemaligen Ortsgruppenleiters, der an und für sich als treibende Kraft nicht nur hinter diesem Pogrom angesehen werden muss und der dann doch nicht einmal wegen Landfriedensbruchs verurteilt werden konnte.
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Morituri (Film von Artur Brauner, 1948)
Frankes Collage macht darüber hinaus klar, „daß von 1933 bis 1945 die Demütigungen, Quälereien und Morde an den europäischen Juden nur zum Teil als Taten eines Systems oder einer Maschinerie erklärt werden können und in jedem Fall nur geschehen konnten, weil eine sehr große Zahl von einzelnen Tätern individuell beschreibbare und zurechenbare Akte von Grausamkeit und Mordlust begangen haben, Akte, von denen wir inzwischen wissen, daß es den Tätern ohne allzu große persönliche Gefährdung möglich gewesen wäre, sie nicht zu begehen.“ (Drews) Dabei macht der Autor/Erzähler auch vor der Mitschuld der eigenen Eltern nicht halt, die sich zwar nicht aktiv an den Straftaten gegen die Juden beteiligten, wohl aber den alltäglichen Antisemitismus stützten und auch ihrem Sohn früh einimpften: „Die Mutter sagte: Das war ein Jud! Merk dir das!“ Obgleich es in Frankes Roman natürlich darum geht, „zu erfahren, ‚wie es wirklich war‘“ und wie sich Beteiligte in der Rückschau an die Ereignisse erinnern wollten oder konnten (Jean Améry in „Die Zeit“ vom 5. Oktober 1973), ist und bleibt er auch ein Kunstwerk, das an seinem Dokumentenmaterial intensiv erprobt, inwiefern Sprache überhaupt in der Lage ist, Vergangenheit zu rekonstruieren.
Sascha Feuchert
Literatur Jörg Drews, „Im Schwarzen Adler“, in: Manfred Franke, Mordverläufe, Hamburg 1997, S. 338–347. Manfred Franke, Mordverläufe. 9./10.XI.1938. Ein Protokoll von der Angst, von Mißhandlungen und Tod, vom Auffinden der Spuren und deren Wiederentdeckungen. Roman, Darmstadt 1973 (Neuausgabe: Hamburg 1997). Norbert Schachtsiek-Freitag, Manfred Franke, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Band 4 (Online-Datenbank). Heinrich Vormweg, Realismus als Wahrheitsfindung, in: Merkur 1 (1974), S. 88–91.
Morituri (Film von Artur Brauner, 1948) „Morituri“ zählt zu den wenigen Nachkriegsfilmen, die die unmittelbare Vergangenheit thematisieren. Für den Produzenten Artur Brauner, Jahrgang 1918, ist dieser Film „eine Herzensangelegenheit“, doch machen es ihm die zuständigen Behörden im geteilten Berlin nicht leicht, seine Geschichte vom Überleben in einem polnischen Waldversteck zu erzählen. Trotz aller Widrigkeiten beginnt Brauner mit den Dreharbeiten im Sommer 1947. Uraufgeführt wird „Morituri“ im August 1948 bei der IX. Biennale in Venedig. Die internationale Presse reagiert zurückhaltend, die deutsche gespalten. Ausgangspunkt der Geschichte ist ein Lager im besetzten Polen, aus dem einige Häftlinge fliehen können. Die Männer finden Unterschlupf in einem Waldversteck. Die dort lebenden Menschen leiden Hunger und sind in ständiger Furcht vor den deutschen Truppen. Sie sind Todgeweihte, Morituri. Es kommt zum Streit darüber, ob sie sich an Aktionen gegen die Deutschen beteiligen sollten und wie mit einem gefangen genommenen deutschen Soldaten zu verfahren sei. In einer Art Gerichtsverhandlung verteidigt ein jüdischer Rechtsanwalt den Soldaten und plädiert dafür, die individuelle Schuld zu prüfen, statt kollektiv zu verurteilen.
Morituri (Film von Artur Brauner, 1948)
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Die Lage der Morituri wird immer verzweifelter, obwohl die Rote Armee vorrückt. Nachdem ein Teil der Gruppe Anschläge auf die deutschen Truppen verübt hat, durchkämmen diese das Waldstück. Doch bevor die Verfolgten entdeckt werden, warnt sie der deutsche Soldat, den einer der Morituri zuvor hat laufen lassen. Er weist ihnen den Weg Richtung Freiheit. Der Film wirbt für Frieden und Völkerverständigung. Die im Waldlager Versteckten verstehen einander, obwohl sie unterschiedlicher Nationalität sind und verschiedene Sprachen sprechen. Die Erfahrung von Krieg und Verfolgung eint sie und sie wissen, dass nur ihr Zusammenhalt das Überleben sichert. Der Film vermittelt die Sicht der Betroffenen, die den Ereignissen und Zeitläuften machtlos gegenüberstehen. Er erhebt keine Anklage, stattdessen setzt „Morituri“ auf Versöhnung und Vergebung. Diese Perspektive stößt allerdings auf wenig Gegenliebe – aus ganz unterschiedlichen Gründen, wie der Presse im geteilten Deutschland zu entnehmen ist. Die Reaktionen des Hamburger Premierenpublikums beschreibt Erika Müller: „Es ist ein Film, der als Mittel zur readucation [sic!] dient, und das ist leider kein gutes Wort. Aber niemand darf es sich leicht machen und Verantwortung ablehnen. Und deshalb sollte es besser diese Stimmen nicht geben, wie sie nach der Vorstellung am Ausgang zu hören waren.“ (Die Zeit, 30. September 1948) An anderen Orten sind die Unmutsbekundungen so laut und deutlich, dass der Film nach kurzer Zeit in den westlichen Besatzungszonen abgesetzt wird. Der Film erscheint vielen Zuschauern tendenziös und antideutsch. In der Sowjetischen Besatzungszone, wo der Film trotz Unterstützung der sowjetischen Behörden bei der Produktion gar nicht erst zur Aufführung gelangt, wird er aber im Zentralorgan „Neues Deutschland“ besprochen – und verrissen. Der Autor kritisiert die mangelnde Würdigung des antifaschistischen Widerstands. Der Regisseur Eugen York und sein Kameramann seien „Opfer eines Drehbuches geworden, das nur vorgibt, Dokument der Gehetzten und Verfolgten des Naziterrors zu sein. Aber nicht nur Gehetzte und Verfolgte gab es, sondern auch harte Kämpfer gegen den Terror, insbesondere in den Reihen des heldenhaft ringenden polnischen Volkes. Darüber wird hier geschwiegen.“ Kritisiert wird, dass an dem Film Personen mitgewirkt haben, die schon im Nationalsozialismus dabei gewesen waren, so der Drehbuchautor Gustav Kampendonk: „Es erhebt sich bei diesem Film die berechtigte Frage, weshalb altbewährte Drehbuchautoren, die noch immer in den Gleisen der zwölf Jahre fahren, nicht einen Stoff aus dem verrotteten Filmmilieu der Nazizeit gestalten, einen Stoff, den sie aus bester Sachkenntnis heraus wohl beherrschen dürften? Wenn sie schon ihre Hände nicht von dem neuen deutschen Film lassen können, so sollten sie sich nicht ausgerechnet ein Thema aussuchen, zu dem sie innerlich keine Beziehung haben können.“ Die Kritik endet mit Protest „gegen diesen Film, der kein Dokumentarwerk des antifaschistischen Kampfes auch in den KZ ist“ und gipfelt in der Forderung, „den Streifen schleunigst vom Spielplan abzusetzen“. Wolfdietrich Schnurre, Mitbegründer der Gruppe 47, Verfasser zahlreicher Filmkritiken und einer „Streitschrift zur Rettung des deutschen Films“ zählt „Morituri“ zu den ambitionierten und dennoch gescheiterten deutschen Nachkriegsfilmen. Er sei ein Beispiel für „deutsche (Film-)Rührseligkeit“ und zu spät in die Kinos gekommen: „Anfang 1946 hätte man ihn fraglos noch als einen mutigen Anfang begrüßt. Heute
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jedoch – darüber sollte man sich klar sein – hat er für lange Zeit einen Schlußstrich unter alle Bemühungen gesetzt, deutscherseits eine echt unsentimentale filmische Zeitaussage zu schaffen. Morituri war die letzte Chance des deutschen Nachkriegsfilms.“ Kam „Morituri“ also zu spät? Wäre das Publikum unmittelbar nach dem Krieg für einen solchen Film empfänglicher gewesen? Die Mehrheit mochte vermutlich weder 1945 noch 1948 mit dem Schicksal der im Krieg Verfolgten und Ermordeten konfrontiert werden. Zu sehr waren die Deutschen mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und sahen sich selbst als Opfer. Erst Jahrzehnte später wird „Morituri“ als ein früher deutscher Holocaustfilm wiederentdeckt. Sein Entstehungskontext und die Intention des Produzenten Artur Brauner finden seitdem stärkere Beachtung. Doch werden weiterhin das Pathos des Films und seine Unentschiedenheit zwischen Realismus und Sentiment kritisiert. Einen neuen, sich vom Ufa-Stil absetzenden Umgang mit Bildern und Dialogen habe „Morituri“ nicht gewagt. Auch stört manche sein allgemein humanistischer, religiös-pazifistischer Standpunkt und dass die Frage der Schuld weitgehend ausgeblendet bleibe. Als Geschäftsmann hat Artur Brauner aus dem wirtschaftlichen Misserfolg von „Morituri“ seine Lehren gezogen und mehr auf massenkompatible Ware gesetzt. Brauner, Überlebender des Holocaust, hat aber immer wieder auch anspruchsvolle Filme produziert, von denen er wie bei „Morituri“ überzeugt war, dass diese Geschichten erzählt werden müssten.
Martina Thiele
Literatur Wolfgang Becker, Norbert Schöll (Hrsg.), In jenen Tagen …. Wie der deutsche Nachkriegsfilm die Vergangenheit bewältigte, Opladen 1995. Claudia Dillmann-Kühn, Artur Brauner und die CCC. Filmgeschäft, Produktionsalltag, Studiogeschichte 1946–1990, Frankfurt am Main 1990. Wolfdietrich Schnurre, Kritiker. Mit Aufsätzen und Kritiken von Wolfdietrich Schnurre sowie einem einleitenden Essay von Jörg Becker, München 2010. Martina Thiele, Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film, Berlin 2007².
Mr. Death (Dokumentarfilm von Errol Morris, USA 1999) Der US-amerikanische Dokumentarfilm „Mr. Death – The Rise and Fall of Fred A. Leuchter, jr.“ des renommierten Dokumentarfilmers Errol Morris aus dem Jahr 1999 porträtiert den sich als Experten für Hinrichtungstechnologie ausgebenden Holocaustleugner Fred A. Leuchter. Dieser hatte elf Jahre zuvor mit dem sogenannten „Leuchter-Report“ einen zentralen Referenztext für Holocaustleugner angefertigt, in dem er behauptete, es habe keine Gaskammermorde in Auschwitz und Majdanek gegeben. Der 90-minütige Film „Mr. Death“ ist aus drei nahezu gleich langen Teilen aufgebaut, die mit „Aufstieg“, „Höhepunkt“ und „Fall“ Leuchters überschrieben werden können. Dargestellt werden erstens Leuchters Herkunft und seine berufliche Vita als Autodidakt in Sachen Hinrichtungstechnologie, zweitens die Entstehung des „Leuchter-Reports“ und drittens dessen Folgen. Der Film verbindet Interviewpassagen mit mehr oder minder stilisierten und verfremdeten Reenactment-Sequenzen und Neuinszenierungen sowie historischem Filmmaterial (beispielsweise Ausschnitten aus Leni
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Riefenstahls → „Triumph des Willens“), er zeigt archivalische Quellen und zeitgenössische Aufnahmen, greift aber auch auf dokumentarisches Videomaterial von Fernsehsendern und auf Amateuraufnahmen zurück. Im ersten Teil präsentiert sich Leuchter (geb. 1943), Sohn des Fuhrparkverwalters einer Haftanstalt in Massachusetts, in Interviewaussagen vor allem als Humanist, dessen Antrieb es sei, unnötiges Leiden bei Hinrichtungen zu vermeiden. Von mehreren US-Staaten sei er zur Wartung und Entwicklung von elektrischen Stühlen, Apparaturen zur Giftinjektion, Galgen und Exekutionsgaskammern hinzugezogen worden. Obwohl Leuchter (der über keinerlei Ingenieur- oder vergleichbare Ausbildung verfügt) sich als allseits anerkannter Experte ausgibt, zeigt er sich zugleich auch verwundert über die ihm ohne sachliche Grundlage zugesprochene Fachkenntnis von Hinrichtungstechnologie jenseits der Methode des elektrischen Stuhls. Der zweite Teil des Films zeichnet die Entstehung und Hintergründe des „Leuchter-Reports“ nach: Leuchter erstellte den Schriftsatz zur Vorlage bei Gericht im Auftrag des in Kanada angeklagten deutschen Neonazis Ernst Zündel. Anfang 1988 reiste Leuchter hierfür nach Auschwitz und Majdanek, nahm Mauerwerkproben, schmuggelte diese außer Landes und ließ sie chemisch analysieren. Vor allem weil keine größeren Rückstände von Zyklon B nachweisbar waren, stand für Leuchter fest, dass die Gaskammern nicht zur Ermordung von Menschen gedient hätten. Der Darstellung von Leuchters Vorgehen bei der Probenentnahme und den lobenden Worten der Verleger des „Leuchter-Reports“ Ernst Zündel und David Irving wird die Kritik des Historikers Robert Jan van Pelt und des Chemikers James Roth gegenübergestellt. Roth, der einst ohne Wissen über die Hintergründe die Analyse von Leuchters Proben vornahm, ebenso wie van Pelt widerlegen Leuchters Aussagen und stufen dessen Schrift als wissenschaftlich wertlos ein. Im dritten Teil werden die Folgewirkungen des „Leuchter-Reports“ für den Autoren dargestellt: schlagartige Prominenz in Kreisen von Rechtsextremisten, Antisemiten und Holocaustleugnern, umjubelte Auftritte auf deren Versammlungen, Proteste vor allem jüdischer Gruppen gegen Leuchter (die von Leuchter als „Verschwörung“ qualifiziert werden), zunehmende berufliche Isolation und letztlich Absturz, einschließlich der Scheidung seiner Ehe. Anstatt „Mr. Death“ war zunächst der Titel „Honeymoon in Auschwitz“ ins Auge gefasst worden – dieser spielt darauf an, dass die Reise nach Polen Anfang 1988 für Leuchter und seine Ehefrau Carolyn zugleich deren Flitterwochen darstellte. Der bereits in diesem Arbeitstitel anklingende stark ironische Grundton zieht sich durch den gesamten Film – vor allem die skurrilen und grotesken Aspekte werden betont, die Eitelkeit und Egozentrik Leuchters ebenso wie sein Geltungs- und Zugehörigkeitsbedürfnis. Die Geschichte von Leuchter als jemandem, „der in einer eigenen Welt lebt, die vollständig von der realen abgetrennt ist“, und der „keine Ahnung hat, wer er ist oder was er tut“, gilt für Morris als Kern des Films. Die Journalistin Naomi Pfefferman brachte „Mr. Death“ ihrerseits auf den Punkt, als sie schrieb, dass Morris gehofft habe, anhand der Person Leuchters der Frage nachgehen zu können, wie der Holocaust stattfinden konnte – und nicht etwa, ob er überhaupt stattfand. Für Morris habe der „eitle und ahnungslose Leuchter“ Licht auf diese Frage geworfen, da er „ein Mann sei, der böse Dinge tut, sich selbst jedoch als Held und Menschenfreund wahrnimmt“.
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Der wichtigste Bestandteil des Films – das Interview mit Leuchter – wurde bereits im Sommer 1992 aufgezeichnet. Wegen Finanzierungsschwierigkeiten verzögerte sich die Fertigstellung des Films, eine Rohschnittfassung wurde erst 1997 vor fachkundigem Testpublikum gezeigt. Aufgrund des Ergebnisses – zahlreiche Zuschauer fragten sich nach der Vorstellung verwirrt, ob der Holocaust stattgefunden habe, andere beschuldigten Morris, selbst ein Holocaustleugner zu sein – entschied Morris, die bislang verfolgte ausschließliche Konzentration auf Leuchter ohne Kommentierung oder Gegenstimmen aufzugeben. Die filmische Technik, lediglich den Porträtierten sprechen zu lassen, hatte bereits in vergleichbaren Filmen zu scharfer Kritik geführt (→ Beruf Neonazi). Im folgenden Jahr drehte Morris mehrere neue Sequenzen (darunter Reenactments von Leuchters Probenentnahme am Originalschauplatz) und führte Interviews, darunter mit den Wissenschaftlern van Pelt und Roth, den Holocaustleugnern Zündel und Irving und zwei Vertreterinnen der jüdischen Gemeinschaft in den USA. Morris verzichtete jedoch nach wie vor auf den Einsatz eines Off-Sprechers; die klischeehafte Selbstverteidigung vieler Antisemiten, von Leuchter in vollem Ernst geäußert, bleibt somit vielsagend im Raum stehen: „Selbstverständlich bin ich kein Antisemit. Ich habe viele Freunde, die Juden sind.“ Am 29. Dezember 1999 lief der Film in den US-amerikanischen Kinos an, zuvor wurde er bereits im Wettbewerb mehrerer Filmfestivals gezeigt, er errang neben Nominierungen und einzelnen Auszeichnungen jedoch keinen großen Preis. Obwohl „Mr. Death“ im Jahr 2000 auf der Berlinale gezeigt wurde, existiert keine deutsche Synchronfassung; lediglich als Original mit Untertiteln wird er vereinzelt im deutschsprachigen Raum aufgeführt. Von der Kritik wurde „Mr. Death“ fast durchgängig positiv aufgenommen, auch in der deutschen Presse wurde er als „meisterhaft“ und „atemberaubend“ gelobt. Die Rezeption unter Holocaustleugnern ist hingegen zwiespältig. Leuchter, so berichtete Morris, sei von dem Film „sehr“ angetan gewesen und auch Zündel zeigte sich über den Film und den „jüdischen Regisseur“ Morris begeistert: Durch „Mr. Death“ werde eine ansonsten nicht erreichbare breite Öffentlichkeit mit Positionen vertraut gemacht, die den Holocaust bestreiten; der Film stelle einen „wahrhaftigen Meilenstein“ dar. Andere, wie Robert Faurisson, warfen Morris „grundsätzliche Unehrlichkeit“ vor. Im einschlägigen „Journal of Historical Review“, das von dem Leuchter eng verbundenen „Institute for Historical Review“ herausgegeben wurde, beschuldigte der Rezensent Morris in einer siebenseitigen Kritik, sich mit „Rufmord“ an der fortgesetzten „Zerstörung“ Leuchters zu beteiligen.
Christian Mentel
Literatur Zoë Druick, Documenting False History. Errol Morris and „Mr. Death“, in: Studies in Documentary Film 1 (2007) 3, S. 207–219. Margot Livesey, Errol Morris, in: Bomb, 69 (1999), S. 26–32. Mark Singer, The Friendly Executioner. How Did an Electric-Chair Repairman Come to Deny the Holocaust? And Other Odd Questions, in: New Yorker 74 (1999) 44, S. 33–39.
Der Müll, die Stadt und der Tod (Theaterstück von Rainer Werner Fassbinder)
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Der Müll, die Stadt und der Tod (Theaterstück von Rainer Werner Fassbinder, 1975) An wohl keinem anderen Theaterstück der Nachkriegszeit in Deutschland entzündeten sich so hitzige Debatten wie an Rainer Werner Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Ausgangspunkt war der Vorwurf gegen Autor und Text, antisemitisch zu sein. Dieser begleitet das Stück bis heute. Die Erstauflage wurde eingestampft, die Aufführung in Deutschland durch eine Bühnenbesetzung verhindert, sie fand erst 2009 regulär statt. Trotz aller Debatten und Diskussionen ist das Stück nicht kanonisiert worden, ist nie ein Verkaufserfolg gewesen und weitestgehend als schlechtes Stück bewertet worden. Das Stück beschreibt ein Stadtleben, das krank macht und bei dem alles zum Negativen gewendet wird: An die Stelle von Liebe rücken Hass, Gewalt und Verachtung. Wahrheit wird durch Lüge ersetzt. Jeder Versuch aus dem Regelsystem der Stadt auszubrechen, wird sanktioniert. Gewalt ist omnipräsent, strukturbildend und strukturimmanent. Stilistisch verwendet Fassbinder Ansätze von Camp: Demonstrativ zur Schau gestellte Theatralik, der Lächerlichkeit preisgegebene Figuren und die Hinwendung zum Trivialen. So wird auf Musik von Klassik über Schlager bis zum Kinderlied zurückgegriffen, und Versatzstücke aus Literatur, Theater und christlicher Ikonografie werden verwendet. Die Figuren, ihre Kommunikation und ihr Handeln sind durchsetzt von Zitaten und Anspielungen, die zur Künstlichkeit des Stückes beitragen. Die Sprache changiert von Zeile zu Zeile, von Figur zu Figur von gekünstelter Hochsprache hin zum Vulgären. Kaum überschaubar ist die Zahl der Figuren. Die Dargestellten sind Nazis, Juden, Behinderte, Kleinwüchsige, Prostituierte, etc. Sie sind Minorität in ihrer eigenen Außenseitergruppe, sind Ausgegrenzte und grenzen zugleich selbst aus. Diese Scheinidentitäten sind von Vorurteilen, Klischees und Rollenzwängen bestimmt. Negative stereotype Zuschreibungen werden verwendet und vorgeführt. So sind die Polizisten korrupt und der Zuhälter ist gewalttätig. Das Spiel mit den Zuschreibungen wird bewusst übertrieben, wenn erwähnt wird, dass sich die Prostituierte bereits als Zweijährige selbst befriedigte. Mittels Ironie wird versucht Distanz zu gewinnen, Versatzstücke des Melodrams, viel Pathos und reichlich Kitsch sind weitere Mittel, über die reine Darstellung von Stereotypen hinauszukommen. Drei Figuren brechen maßgeblich Darstellungskonventionen. „Müller“ füllt die Rolle des reue- und gewissenlosen Nazi-Täters aus und ist schon mit seinem Namen als „der Deutsche“ gekennzeichnet. Zum provokativen Potenzial des Stückes gehört, dass seine antisemitischen Hasstiraden unwidersprochen bleiben, was ein Novum in der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur ist. Er ist technokratischer Judenmörder und unverbesserlicher Alt-Nazi. Doch zugleich muss er als Transvestit auftreten und über ihn wird gespottet. Einzig seine Ehefrau steht an seiner Seite, doch sie liest Marx und Engels und sitzt im Rollstuhl. Das Bild einer arischen Familie wird gänzlich ad absurdum geführt durch die Tochter, die als Prostituierte arbeitet. Das Figurenarsenal hält noch den homosexuellen Antisemiten „Hans von Gluck“ bereit. Wie alle anderen Figuren sieht er sich als Opfer, sein übertriebener Hass gilt gleichermaßen Ärzten, Göttern und Juden. Doch wenn „Müller“ ein Antisemit trotz Auschwitz ist, ist
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„Hans von Gluck“ einer wegen Auschwitz. Es handelt sich um einen übersteigerten wirtschaftlich begründeten Neid, der sich mit den antisemitischen Bildern des „(volks-)blutsaugenden“, „raffgierigen“ Juden vermengt. Bei dem Immobilienspekulanten „Der Reiche Jude“ spitzt seine Anonymität den Gebrauch jüdischer Namen als Stigma zu. Er muss Täter sein, um nicht erneut Opfer zu werden. So macht er die von ihm erwarteten Geschäfte und weiß zugleich, dass genau diese Geschäfte ihn erneut zum Opfer von Missgunst werden lassen. Er ist notwendig für die Stadt, weswegen er von ihr geschützt wird. Fassbinder kombinierte erstmals die Verwendung negativer Judenbilder mit der Aufhebung beziehungsweise Umkehr der Täter-Opfer-Dichotomie. „Der Reiche Jude“ äußert an seine Rolle gekoppelte Erwartungshaltungen: Er lässt sich alles bezahlen und geht davon aus, dass ihn selbst Kleinigkeiten teuer zu stehen kommen. Bei ihm tritt zu den alten stereotypen Bildern ein neues hinzu: Er benutzt seinen Opferstatus, um Rache am Alt-Nazi „Müller“ zu üben. So bezahlt er fürstlich dessen Tochter, die als Prostituierte erfolglos arbeitete, nur fürs Zuhören. Als sie ihm später für etwas verzeiht, spricht er ihr eben dieses Recht ab. Er entspricht hier ganz dem Stereotyp des Juden, der Rache ohne Gnade übt. Doch „Der Reiche Jude“ geht nicht vollständig in Stereotypen auf. Ihm wird nachgesagt, besonders potent zu sein, doch schläft er nicht mit der Prostituierten. Er zeichnet sich durch Sprachkompetenz aus, was ihn stark von allen anderen Figuren unterscheidet, deren Sprache aus Phrasen, Deklamationen und Monologen besteht. Diese Sonderstellung wird dadurch verstärkt, dass er die einzige selbstlose Tat, die Tötung der Prostituierten auf deren Wunsch, begeht. So hat die jüdische Figur einen Sonderstatus und könnte sogar als positivste Figur unter all den Negativgestalten gelesen werden. Solch eine Lesart favorisierte Fassbinder, und demnach würde es sich gar um eine Figur des literarischen Philosemitismus handeln. Zugleich kann er wie alle anderen Figuren auch nicht aus dem System der Stadt ausbrechen. Er ist nicht allmächtig, sondern unterliegt Verhaltenszwängen und besinnt sich auf seine Funktion – denn er wird weiter gebraucht. So wird der Zuhälter der Prostituierten für den Mord verantwortlich gemacht. Fassbinder kam 1974 an das Frankfurter Theater am Turm, an dem binnen weniger Monate eine Atmosphäre aus Streit, Missgunst und Chaos herrschte. Hinzu traten finanzielle Probleme sowie eine schmerzvolle Transparenz, sodass Konflikte öffentlich ausgetragen und von der Presse begleitet wurden. So ist bereits die Entstehungsgeschichte des Stückes konfliktträchtig. Ein Teil seines Ensembles hatte über Monate vergeblich versucht, selbst ein Stück über Frankfurt zu erstellen. Um diese vermeintliche Inkompetenz bloßzustellen, gab er an, „Der Müll, die Stadt und der Tod“ in kürzester Zeit geschrieben zu haben. Doch er hatte über Monate daran gearbeitet. Zum Zeitpunkt der größten theaterinternen Spannungen und des öffentlichen Druckes setzte er 1975 Proben für das Stück an. Dies wirkte als Katalysator für den Abschied von Fassbinder. Er behauptete, dass er wegen des Stückes seine Intendanz beenden musste, doch er hatte selbst gekündigt und erst danach wurden die Proben abgebrochen. Der Streit verdeckte sein Scheitern in Frankfurt. Die öffentlich ausgetragene Debatte war schnell beendet, und weitgehend unbemerkt wurde das Stück Ende 1975 mit dem Titel
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„Schatten der Engel“ von Daniel Schmid verfilmt, wobei Fassbinder den Zuhälter spielte. 1976 entzündete sich anlässlich des Erstdrucks im Suhrkamp Verlag eine publizistische Kontroverse. Diese begann mit einem Artikel des FAZ-Herausgebers Joachim Fest, dessen Polemik und Schuldzuweisung stilprägend für die weiteren Auseinandersetzungen war. Reflexartig wurden Fassbinder und sein Werk von der linksliberalen Frankfurter Rundschau in Schutz genommen, und es entwickelte sich zwischen Linken und Konservativen ein publizistischer Schlagabtausch, bei dem Journalisten primär als Akteure agierten. Erstmals in der Geschichte öffentlicher Auseinandersetzungen zum Thema Antisemitismus war der Sachverhalt selbst, die antisemitische Aktion oder Äußerung, umstritten. Ein Novum stellte auch der Vorwurf dar, ein vermeintlich linker Künstler wie Fassbinder sei Antisemit. Über linken Antisemitismus, den zentralen Vorwurf von Fest gegen Werk und Autor, wurde nicht gestritten, denn er wurde entweder als Problem nicht wahrgenommen oder schlichtweg als unzutreffend abgetan. Der Suhrkamp Verlag ließ eine weitere Auslieferung des Buches stoppen. Er räumte Fassbinder die Gelegenheit ein, eine Stellungnahme abzugeben und kürzte ohne Rücksprache dessen Text um den Hinweis, wonach Juden durch Tabuisierung unangreifbar seien. Das führte dazu, dass dieses für Fassbinder zentrale Argument in der Diskussion kaum eine Rolle spielte. Die Auseinandersetzung endete ohne Lösung. Die langjährige Zusammenarbeit zwischen Verlag und Fassbinder endete, da der Verlag die Restauflage einstampfen ließ. Fassbinder schrieb nie wieder ein Theaterstück, und der Vorwurf des Antisemitismus trug maßgeblich dazu bei, dass er Filmvorhaben nicht umsetzten konnte. So scheiterte eine Verfilmung von Gerhard Zwerenz’ Frankfurt-Roman „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“. Fassbinders Stück lehnt sich an diesen Roman an, beide Werke beschreiben einen rachsüchtigen und mitleidlosen jüdischen Spekulanten. Im Gegensatz zu Fassbinder bedient sich Zwerenz des literarischen Realismus. Fassbinder hatte ursprünglich sein Stück als eines über Frankfurt angekündigt, und das Thema der Städte zerstörenden Spekulation hatte seine reale Entsprechung in der Umstrukturierung des Frankfurter Westends der 1970er-Jahre. Bei Fassbinder erscheint Frankfurt aber nur mittelbar, durch Verweise auf Zwerenz’ Roman und Rosemarie Nitribitt. Sie war wie bei Fassbinders Stück eine Prostituierte, der in kurzer Zeit der Aufstieg in höhere Kreise gelang, bevor sie ermordet wurde. Diese wenigen Anknüpfungspunkte zum realen Frankfurt führten dazu, dass es überwiegend als Theaterstück über Frankfurt rezipiert wurde hin zu Behauptungen, reale Personen wären mit „Dem Reichen Juden“ beschrieben. An der Darstellung der Nazis nahm man kaum Anstoß. Fortan waren stets Aufführungsversuche des Stückes Auslöser von Konflikten; weder die Verfilmung oder deren Ausstrahlung noch spätere Druckauflagen des Stückes nahmen diese Funktion ein. 1984 kam es zwei Jahre nach Fassbinders Tod zu einem nächsten Konflikt, der nicht nur wie zuvor in den Feuilletons, sondern auch in der Frankfurter Kulturpolitik ausgetragen wurde. Erstmals meldete sich die Jüdische Gemeinde Frankfurts zu Wort, die das Stück für antisemitisch hielt und befürchtete, eine Aufführung könnte den Antisemitismus befördern. Die Stadt ließ letztlich die Proben abbrechen. Der Intendant Ulrich Schwab wurde abgefunden, die Theaterleute ausbezahlt und eine mögliche
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Aufführung aus Sicherheitsbedenken verboten. In den Diskussionen wurde ein Grundrechtskonflikt konstruiert: Die Freiheit der Kunst und der Schutz vor Zensur wurden in Stellung gebracht gegen die historische Verantwortung gegenüber Juden und dem Schutz von Minderheiten. Ein weiteres Jahr später fand die Auseinandersetzung höchste mediale Beachtung, und sogar die Knesset verabschiedete eine Missbilligung der Aufführungspläne. Ein erneuter Aufführungsversuch des Stückes wurde in eine Reihe von Ereignissen gesetzt, an deren Ende ein „Schluss-Strich“ unter die Geschichte befürchtet wurde. Zugespitzt galt Intendant Günther Rühle als „Helmut Kohl der Kultur“, dem vorgeworfen wurde, mit seinen Aufführungsplänen Normalität zwischen Deutschen und Juden erzwingen zu wollen. Wenige Monate zuvor hatte im Mai 1985 Bundeskanzler Kohl mit US-Präsident Reagan einen Soldatenfriedhof in Bitburg besucht, auf dem neben Wehrmachts- auch SS-Soldaten begraben liegen. Proteste gegen den Besuch blieben in Deutschland weitgehend aus, und die angekündigte Aufführung des FassbinderStückes bot eine Gelegenheit, mit wenigen Personen ein deutliches Zeichen bei der Neubestimmung des deutsch-jüdischen Verhältnisses zu setzen. Vor dem Theater gab es Demonstrationen sowohl für als auch gegen eine Aufführung. Mitglieder der Jüdischen Gemeinde mit ihrem Vorsitzenden Ignatz Bubis verhinderten mit einer Bühnenbesetzung die Aufführung. So feierten Juden ihr „Coming-Out“, denn sie wurden als selbstbewusste Akteure in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Ihr ziviler Ungehorsam brach mit einer Appeasement-Politik, die zuvor besonders vom Zentralrat der Juden in Deutschland verfolgt worden war. Wenige Tage nach der Bühnenbesetzung wurde das Stück in Anwesenheit zahlreicher Journalisten als „Wiederholungsprobe“ angesetzt, die später als Uraufführung deklariert wurde. Seitdem wurde das Stück über ein Dutzend Mal ohne größere Zwischenfälle international aufgeführt. Wenn Pläne einer Aufführung in Deutschland bekannt wurden, kündigten sich dagegen Bühnenbesetzungen an. Dies geschah zuletzt 1998 in Berlin, wo weder Text noch Inszenierungskonzept verhandelt, sondern binnen kürzester Zeit altbekannte Fronten gebildet wurden. Erstmals wurden in der öffentlichen Debatte keine antisemitischen Argumente verwendet. Erneut hatten nicht alle, die sich zu Wort meldeten, das Stück überhaupt gelesen: Es wurde reduziert auf die Figur „Des Reichen Juden“ und Zitate losgelöst von ihrer Umgebung gegen das Stück in Stellung gebracht. Erstmals wurde das Stück 2009 öffentlich in Deutschland aufgeführt. Proteste blieben weitestgehend aus.
Wanja Hargens
Literatur David Barnett, Rainer Werner Fassbinder and the German Theatre, Cambridge, Mass. 2005. Wanja Hargens, Der Müll, die Stadt und der Tod. Rainer Werner Fassbinder und ein Stück Zeitgeschichte, Berlin 2010. Intendanz Schauspiel Frankfurt (Hrsg.), Fassbinder ohne Ende. Eine Dokumentation anläßlich der Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod im Kammerspiel von Schauspiel Frankfurt am 31. Oktober 1985, Frankfurt am Main 1985. Intendanz Schauspiel Frankfurt (Hrsg.), Der Fall Fassbinder. Dokumentation des Streits um „Der Müll, die Stadt und der Tod“, Frankfurt am Main 1985.
Müller. Chronik einer deutschen Sippe von Tacitus bis Hitler (Roman)
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Elisabeth Kiderlen (Hrsg.), Deutsch-jüdische Normalität... Fassbinders Sprengsätze, Frankfurt am Main 1985. Heiner Lichtenstein (Hrsg.), Die Fassbinder-Kontroverse oder das Ende der Schonzeit, Königstein/Taunus 1986. Pól Ó Dochartaigh (Hrsg.), Jews in German Literature since 1945: German-Jewish Literature? Amsterdam, Atlanta 2000.
Müller. Chronik einer deutschen Sippe von Tacitus bis Hitler (Roman von Walter Mehring, 1935) Walter Mehring (1896–1981) wendet sich in der Zeit der Weimarer Republik in zahlreichen publizistischen Texten gegen den nationalsozialistischen Rassenwahn und greift 1935 dieses Thema in seinem in Wien erscheinenden satirischen Roman „Müller. Chronik einer deutschen Sippe von Tacitus bis Hitler“ auf. Die „Chronik“ ist ein Episoden-Roman, der um das Jahr 90 herum beginnt und im Jahr 1935 endet. Der Ubier Millesius – so die latinisierte Form des Namens Müller – gerät an den „Germanenforscher“ Tacitus, der ihn reichlich bezahlt für seine Erzählungen von den Verhältnissen in Germanien (darunter auch für „immer neue Merkwürdigkeiten“, die Millesius sich ausdenkt). Aus dieser einzigen Quelle speist sich dann Tacitus’ „Germania“. Von jener ersten Episode an wandert der Roman Schritt für Schritt durch die deutsche Geschichte und erzählt von lauter „Durchschnittsmenschen“ und „geborenen Untertanen“. Nach dem „Germanentum“, dem „Deutschtum“ und später dem „Christentum“ ist schließlich das „Preußentum“ dran. Charakteristisch dafür ist das preußische Militär mit seiner „bewährten Methode des permanenten Drills – Stechschritt, Griffe kloppen, Instruktionsstunden, Appelle, Putzen –, die keine Sekunde des Nachdenkens aufkommen läßt“. In einer der letzten Episoden quält der Gymnasiallehrer Dr. Armin Müller seine Schüler mit der „Germania“, die ihm „als das Evangelium des Deutschtums“ gilt, und ist dann – im Februar 1933 – damit beschäftigt, einen Leitfaden der deutschen Geschichte „nach den Gesichtspunkten der Rasseforschung und der nationalsozialistischen Weltanschauung für die höheren Lehranstalten zu verfassen“. Verzweifelt wehrt dieser Dr. Armin Müller, der mit einer Jüdin verheiratet ist, sich gegen den Verdacht, nicht „arischer“ Abstammung zu sein, und erforscht mit fanatischer Genauigkeit die Geschichte seiner Sippe bis zurück in die Antike; was er dabei zusammenträgt, bildet den Inhalt des Romans. Dr. Armin Müller nimmt sich das Leben, als bekannt wird, seine Frau Erna und sein Sohn Günther würden von den deutschen Behörden jetzt unter dem Namen „Silbermann“ geführt und seien „in Sicherheitsgewahrsam genommen“ worden. Anlässlich einer Neuausgabe des Romans 1971 spinnt Mehring den Faden noch ein wenig weiter: Erna Silbermann hat in die Niederlande fliehen können, wird dann aber in das Konzentrationslager Mauthausen eingeliefert, wo sie den Tod findet. Günther Silbermann meldet sich freiwillig an die Front, gerät in russische Kriegsgefangenschaft und unterrichtet heute – 1971 – in einer „Dorf-Volksschule“ der DDR Geschichte „im Geiste der marxistischen Weltanschauung“.
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Musikwissenschaft (Deutschland und Österreich, 19. und 20. Jahrhundert)
Quer durch den Roman hindurch tauchen immer wieder jüdische Figuren auf, oder es werden Ereignisse einbezogen, die Juden betreffen. Ein Müller beteiligt sich in führender Position an den historischen Pogromen gegen Juden in Speyer, Worms und Mainz des Jahres 1096. Als in einer anderen Episode ein Todesfall nicht aufgeklärt werden kann, werden pauschal „die Juden“ verdächtigt und etliche gehenkt. Hernach ist es die Pest, derentwegen Juden verbrannt werden. Die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492 wird erwähnt. Antijüdische Haltungen sind nicht geradezu ein roter Faden, aber doch ein Leitmotiv, das immer wieder begegnet, regelmäßig in Verbindung mit nationalistisch-militaristischen Einstellungen. Indessen zeugt es von der aufklärerischen Offenheit Mehrings, dass er auch andere Arten der ideologischen Verblendung zur Sprache bringt. So lässt er um 1400 einen Magister namens Thomasius Müller eine Schrift gegen Dämonen verfassen, nämlich gegen „Heiden, Juden, Geldwechsler, betrügerische Tuchscherer, Ketzer, Modenarren“. Ein weiterer Nachkomme, der Magister Johannes Molitor (Müller), soll dann ein Gutachten über den „Hexenhammer“ verfassen, eine Schrift zur Legitimation der Hexenverfolgung und in Mehrings Augen ein quasi archetypisches Dokument ideologischer Verblendung mit schrecklichen Folgen. Wenngleich der satirische Grundzug des Romans allenthalben zum Vorschein kommt, überlässt sich Mehring mitunter seiner Fabulierlust, sodass einzelne Episoden sich ein wenig emanzipieren von der Strategie des satirisch-aufklärerischen Kampfes gegen die rassistische Ideologie.
Georg-Michael Schulz
Musikwissenschaft (Deutschland und Österreich, 19. und 20. Jahrhundert) Musikwissenschaft als eine spezifische Form des Sprechens über Musik begann sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts auszudifferenzieren, ein Prozess, der um 1900 seinen manifesten Ausdruck in der Einrichtung von musikwissenschaftlichen Instituten an den Universitäten fand (z. B. Wien 1898, Berlin 1904, Leipzig 1908) und in der Gründung von Zeitschriften, die im Titel auf ihren wissenschaftlichen Anspruch verweisen (z. B. Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft, 1885–1894). Diese Professionalisierung im Gefüge der akademischen Disziplinen bedeutete allerdings keineswegs eine Loslösung von einem allgemeinen außerwissenschaftlichen Diskurs, der sich an den Kreis der musikinteressierten Öffentlichkeit richtete. Im Gegenteil, die Verschränkung von methodisch kontrolliertem Gelehrtendiskurs einerseits und dem Sprechen für eine musikinteressierte Laienöffentlichkeit andererseits blieb insofern noch weit in das 20. Jahrhundert aufrecht, als die Musikwissenschaftler häufig selbst am Musikleben als Komponisten, Musiker oder Musikjournalisten aktiv teilnahmen und sich weniger als Vertreter anderer Disziplinen in einen exklusiven Kreis von Fachkollegen zurückzogen. Gesellschaftlich war die Produktion und Rezeption der Musikwissenschaft eng mit dem Bürgertum verbunden, das im 19. Jahrhundert wesentlich von den Ideen des Historismus geleitet wurde. Im Bereich des Musiklebens schlugen sich diese einerseits in einer Konzentration auf kanonisierte Meisterwerke
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vergangener Epochen nieder, entfalteten andererseits durch die (diskursive) Nationalisierung von Kompositionsstilen eine eigene Dynamik und machten dadurch die Musik zu einem Ort starker (national-)kultureller Identifikation. Die Beurteilung der spezifischen Ausprägungen des Antisemitismus innerhalb der Musikwissenschaft muss sich notwendigerweise mit diesem Nebeneinander unterschiedlicher diskursiver Felder, der gleichzeitigen Partizipation von Musikwissenschaftlern und Nicht-Wissenschaftlern daran und der engen Anbindung an die bürgerliche Musikkultur auseinandersetzen. Antisemitische Schattierungen sind im Musikschrifttum anzutreffen, lange bevor sich eine professionalisierte Musikwissenschaft formierte. Bekannte Beispiele hierfür sind Robert Schumanns Rezension von Giacomo Meyerbeers Oper „Les Huguenots“ (1837), die dem Werk u. a. künstlerische Originalität abspricht und dessen Erfolg durch oberflächliche Effekthascherei erklärt, sowie Richard Wagners aggressiver Essay über „Das Judentum in der Musik“ (1850). Während Schumanns Kritik einer ästhetischen Ebene verpflichtet blieb und sich in ihren an gängige früh-antisemitische Stereotypisierungen angelehnten Wertungen auf Meyerbeers Leistung als Komponist beschränkte, zielte Wagner auf eine umfassende Zurückweisung sämtlicher jüdischer Beiträge zur deutschen Musikgeschichte ab, die er durch essentialistische Konstruktionen von „unbewusst“ und „unwillkürlich“ wahrgenommener Differenzen zwischen Juden und der christlichen Mehrheitsgesellschaft untermauerte; er wurde daher von den Nationalsozialisten als Pionier eines rassisch begründeten Antisemitismus gefeiert. Mit der Etablierung der Musikwissenschaft als Disziplin an den Universitäten wurde die musikbezogene Forschung Teil der akademischen Welt, die sich insbesondere in den geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern weitestgehend als Trägerin kultureller Identitätsstiftung verstand und zu antisemitischer Ausgrenzung tendierte. Die prestigeträchtigen Positionen als Ordinarius konnten jüdische Musikwissenschaftler nur in Ausnahmefällen erreichen, insbesondere im ideologieanfälligen Teilbereich der historischen Musikwissenschaft waren die Widerstände groß. Alfred Einstein, der größtes internationales Ansehen als Mozart-Forscher genoss, wurde von seinem Lehrer Adolf Sandberger nicht habilitiert und hatte somit keinerlei Chancen auf eine akademische Karriere. Die beiden jüdischen Ordinarien in Deutschland, Curt Sachs und Erich von Hornbostel, waren bezeichnenderweise beide im Teilbereich der systematischen Musikwissenschaft tätig. Nur in Österreich (Guido Adler 1898 in Wien und sein Schüler Wilhelm Fischer 1928 in Innsbruck) wurden jüdische Musikwissenschaftler zu Inhabern von musikhistorischen Lehrstühlen. Trotz Adlers großem internationalen Renommee war sein Einfluss innerhalb der österreichischen Musikwissenschaft gegen Ende seiner akademischen Laufbahn zunehmend eingeschränkt; gegen seinen ausdrücklichen Wunsch wurde 1927 mit Robert Lach ein prononcierter Antisemit als sein Nachfolger bestimmt. Antisemitismus als soziale Praxis war in dieser Form innerhalb der Musikwissenschaft in Deutschland und Österreich weitgehend bereits vor 1933/1938 etabliert und wurde durch die politische Verankerung nach der nationalsozialistischen Machtübernahme weiter verschärft. Was zuvor massive Ungleichheiten bezüglich Karrierechancen bedeutete, führte nach der Umsetzung der antisemitischen NS-Ideologie zu Emi-
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gration, Verfolgung, Inhaftierung und Mord. Durch die weitgehende Ausgrenzung jüdischer Musikwissenschaftler erklärt sich auch die überwiegende personelle Kontinuität über den Machtwechsel hinaus. Widerstand gegen politische Eingriffe in Fragen wissenschaftlicher Personalentscheidungen war äußerst selten. Als Alfred Einstein im Juni 1933 als Schriftleiter der „Zeitschrift für Musikwissenschaft“ entlassen wurde, war Johannes Wolf der Einzige, der dagegen mit seinem Rücktritt als Vorstandsmitglied der Deutschen Musikgesellschaft protestierte. Unabhängig vom überaus präsenten Antisemitismus als sozialer Praxis muss die Umsetzung dieser Haltung auf die spezifischen Anwendungen musikwissenschaftlicher Kompetenz betrachtet werden. Der Musikwissenschaft als Disziplin wurde trotz der stark ideologisierten Funktion, die Musik im Rahmen des nationalsozialistischen Kulturverständnisses hatte, von der NS-Politik keine gehobene Stellung beigemessen. Einsatz fanden Musikwissenschaftler allerdings dort, wo ihre vielfach äußerst bereitwillig zur Verfügung gestellten Kenntnisse zur Umsetzung politischer Ziele benötigt wurden. Dies gilt beispielsweise für das im Auftrag der Reichsleitung der NSDAP von Herbert Gerigk und Theodor Stengel herausgegebene „Lexikon der Juden in der Musik“, mit dem ein Instrument der „Ausmerzung“ jüdischer Anteile am „deutschen Kultur- und Geistesleben“ geschaffen werden sollte; einschlägiges Fachwissen steuerten unter anderem Wolfgang Boetticher, Wolfgang Osthoff, Rudolf Gerber, Karl Gustav Fellerer, Werner Danckert und Erich Schenk bei. Des Weiteren sind auch die unter Beteiligung von Musikwissenschaftlern durchgeführten Plünderungs- bzw. „Arisierungs“-Aktionen in den besetzten Gebieten zu nennen, bei denen Instrumente, Notenarchive und Bibliotheken aus jüdischem Besitz konfisziert wurden. Besonders systematisch betrieben wurden diese Raubzüge vom „Sonderstab Musik“ im Amt Rosenberg unter der Leitung von Herbert Gerigk und aktiver Beteiligung Wolfgang Boettichers; aber auch Eigeninitiativen, wie beispielsweise die Beschlagnahmung der Privatbibliothek von Guido Adler durch Erich Schenk (Ordinarius an der Universität Wien seit 1940), zeigen die Bereitschaft der Musikwissenschaftler, aus der antisemitischen NS-Politik Nutzen zu ziehen. Vergleichbar mit den nationalsozialistischen Bemühungen, in das Inventar des kulturellen Gedächtnisses einzugreifen, indem man beispielsweise die Statuen von Felix Mendelssohn-Bartholdy in Leipzig (→ Mendelssohn-Bartholdy-Denkmal Leipzig) und Prag entfernen ließ und seine Werke von den Bühnen und Konzertsälen fernhielt, wurden er und andere jüdische Komponisten aus Darstellungen der „deutschen“ Musikgeschichte ausgeschlossen, wie beispielsweise explizit in Joseph Müller-Blattaus „Geschichte der deutschen Musik“ (1938). Auch setzte man in der Zeit des Nationalsozialismus die allerdings schon bedeutend früher begonnene antisemitisch argumentierte Ablehnung der musikalischen Moderne fort, in der man insbesondere im Werk Gustav Mahlers und Arnold Schönbergs eine „jüdische Zersetzung“ der „deutschen“ Musiktradition zu erkennen meinte. Demgegenüber zeigten die Musikwissenschaftler in den für Fachkreise geschriebenen Texten weniger Ambitionen, antisemitische Agitationen in die Strukturen ihrer Fragestellungen und methodischen Zugänge zu integrieren. Zur systematischen Erforschung einer wie immer gestellten „Judenfrage“ im Rahmen der Auseinandersetzung mit Musik als einem Kulturgut der Vergangenheit und Gegenwart kam es – trotz gele-
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gentlicher Betonung der Wichtigkeit dieser Aufgabe – so gut wie nicht. Eine Ausnahme stellt Karl Blessingers Buch „Mendelssohn, Meyerbeer, Mahler. 3 Kapitel Judentum in der Musik als Schlüssel zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts“ dar, das in der Betitelung seiner zweiten Auflage („Judentum und Musik. Ein Beitrag zur Kulturund Rassenpolitik“) die politische Stoßrichtung deutlich macht. Darin beschreibt er entlang verbreiteter antisemitischer Stereotypisierungen die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts und charakterisiert bekannte jüdische Komponisten beispielsweise als „Assimilationsjuden“ (Felix Mendelssohn-Bartholdy), als „skrupellosen Geschäftsjuden“ (Giacomo Meyerbeer) oder als „fanatischen Typus des ostjüdischen Rabbiners“ (Gustav Mahler). Das Fortwirken antisemitischer Tendenzen innerhalb der akademischen Musikwissenschaft über 1945 hinaus ist aufgrund der überwiegenden personellen Kontinuitäten naheliegend. Eine umfassende Auseinandersetzung mit diesem Aspekt ist allerdings nach wie vor ein Desiderat, und auch die verspätet erst Ende der 1990er-Jahre einsetzende Forschung zur Musikwissenschaft im Nationalsozialismus weist noch erhebliche Lücken auf.
Clemens Zoidl
Literatur Albrecht Dümling, Peter Girth (Hrsg.), Entartete Musik. Zur Düsseldorfer Ausstellung von 1938: eine kommentierte Rekonstruktion, Düsseldorf 19933. Isolde Foerster, Christoph-Hellmut Mahling, Christoph Hust (Hrsg.), Musikforschung – Faschismus – Nationalsozialismus. Referate der Tagung Schloss Engers (8. bis 11. März 2000), Mainz 2001. Anselm Gerhard, Musikwissenschaft, in: Frank-Rutger Hausmann (Hrsg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933–1945, München 2002, S. 165–192. Eckhard John, „Deutsche Musikwissenschaft“. Musikforschung im „Dritten Reich“, in: Anselm Gerhard (Hrsg.), Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin? Die akademische Musikforschung zwischen Fortschrittsglauben und Modernitätsverweigerung, Stuttgart u. a. 2000, S. 257–280. Pamela Maxine Potter, Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs, Stuttgart 2000. Willem de Vries, Sonderstab Musik. Organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940–45, Köln 1998. Eva Weissweiler, Ausgemerzt! Das Lexikon der Juden in der Musik und seine mörderischen Folgen, Köln 1999.
Nachbarn (Buch von Jan T. Gross, 2001) → Sąsiedzi Die Nachbarn (Dokumentarfilm von Agnieszka Arnold, 2001) → Nasza klasa Nachlese (Film von Władysław Pasikowsi, 2012) → Pokłosie Nacht und Nebel (Film von Alain Resnais, 1956) → Nuit et Brouillard
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Nackt unter Wölfen (Roman von Bruno Apitz, 1958)
Nackt unter Wölfen (Roman von Bruno Apitz, 1958) 1958 erschien in der DDR der von Bruno Apitz verfasste Roman „Nackt unter Wölfen“. Der Autor wurde 1900 als zwölftes Kind in einfache Familienverhältnisse geboren. Er machte eine Ausbildung zum Stempelschneider. 1917 kam er wegen Antikriegspropaganda ins Gefängnis. Er begann eine Buchhändlerlehre und engagierte sich zuerst in der SPD und ab 1927 als Mitglied der KPD. 1933 wurde er als Kommunist von den Nationalsozialisten festgenommen und durchlief mehrere Konzentrationslager und ein Zuchthaus, ab 1937 war er in Buchenwald inhaftiert, wo er 1945 befreit wurde. Nach dem Krieg wurde er Redakteur bei der „Leipziger Volkszeitung“, Verwaltungsdirektor der Städtischen Bühnen Leipzig und Dramaturg bei der DEFA, ab 1955 arbeitete er als freier Autor in Berlin. 1975 wurde er Ehrenbürger der Stadt Leipzig. Bruno Apitz starb am 7. April 1979 in Berlin. Sein Roman beruht zu einem Teil auf selbst Erlebtem, ist aber zum anderen Teil fiktiv. Etliche Figuren in seinem Roman tragen die Namen ehemaliger Mitgefangener. Der Roman spielt in der Zeit von Februar bis April 1945 im KZ Buchenwald und erzählt die Geschichte der Rettung eines dreijährigen polnischen Jungen durch die politischen Häftlinge. Der Junge wird als Waisenkind in einem Rucksack ins Lager gebracht, wo seine Überlebenschancen sehr schlecht sind. Doch die politischen Häftlinge, die sich in einem internationalen geheimen Häftlingskomitee organisiert haben, nehmen sich des Kindes an. Sie verstecken den Jungen, denn bei seiner Entdeckung durch die SS droht ihm der sofortige Tod. Mit dieser Rettung gefährden die Häftlinge aber auch ihr eigenes Leben. So entsteht schnell Uneinigkeit unter ihnen, ob und wie der Junge gerettet oder als Risiko gesehen und der SS ausgeliefert werden soll. Am Ende siegt die Menschlichkeit und die Häftlinge geben selbst unter grausamer Folter nicht preis, wo der kleine Junge versteckt ist. Die Dramatik des Romans besteht in dem Konflikt zwischen der Rettung des Kindes und dem Schutz der Häftlingsverwaltung, der im Roman zugunsten des Kindes entschieden wird. Damit inszeniert Bruno Apitz den Widerstand der politischen Häftlinge, den Sieg der Humanität im menschenunwürdigen System. Er entspricht damit voll dem Erinnerungskanon der DDR. Der Roman verschweigt die verworrene Realität, die das perfide System des KZ-Terrors mit sich brachte, ein System, in dem Opfer durch geringe Machtpositionen und Vergünstigungen mit den Tätern zusammenarbeiteten und in dem Strukturen geschaffen wurden, in denen auch Opfer, um das eigene Überleben zu sichern, Schuld auf sich luden. „Nackt unter Wölfen“ erschien 1958 im Mitteldeutschen Verlag (Halle/Saale) mit einer ersten Auflage von 10.000 Exemplaren. Innerhalb eines Jahres avancierte das Buch zum Bestseller. Der Roman wurde in der DDR zur Pflichtlektüre in der Schule. 1961 erschien das Buch als erster Roman aus der DDR auch in Westdeutschland. „Nackt unter Wölfen“ wurde in 30 Sprachen übersetzt und erreichte eine weltweite Auflage von drei Millionen Exemplaren. Im März 2012 publizierte der Berliner Aufbau Verlag eine erweiterte Neuauflage des Romans mit einer Vielzahl von Textpassagen, die der Autor hatte streichen oder ändern müssen, weil sie nicht in den Erinnerungskanon der DDR gepasst hatten. Den kleinen Jungen aus Buchenwald hat es tatsächlich gegeben. Es handelt sich um den polnisch-jüdischen Stefan Jerzy Zweig, der im August 1944 als Dreijähriger
Nackt unter Wölfen (Roman von Bruno Apitz, 1958)
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gemeinsam mit seinem Vater nach Buchenwald deportiert wurde. Allerdings war er nicht – wie der Roman vermittelt – das einzige Kind in Buchenwald. Auch war er anders als im Buch nicht als Waise, sondern mit seinem Vater eingeliefert worden, der sich auch die gesamte Zeit um ihn kümmerte. Das Kind lebte auch nicht versteckt, sondern mit einer offiziellen Häftlingsnummer unter den Augen der SS, die ihn zeitweise sogar als eine Art Maskottchen duldete und sich mit um ihn kümmerte. Richtig ist, dass die politischen Häftlinge ihn unter ihren Schutz stellten und dass er zunächst in der Steinbaracke 40, bei der Elite der deutschen politischen Häftlinge untergebracht war. Sein Vater, der im Straßenbau eingesetzt war, besuchte ihn sonntags. Möglich war dies alles nur, weil es in Buchenwald zu dieser Zeit eine einzigartige Stellung der Häftlingsverwaltung – deren wichtigste Posten mit deutschen Kommunisten besetzt waren – gegenüber der SS gab. Als im Sommer und Herbst 1944 in rascher Folge Transporte aus Auschwitz, Evakuierungszüge aus Polen und Frankreich eintrafen, spitzte sich die Lage zu und das System der SS drohte zusammenzubrechen. Nie zuvor war die SS so sehr auf die Häftlingsverwaltung angewiesen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Das verschaffte den Kapos eine gewisse Macht und Handlungsfreiheit. Am 26. September 1944 stand Zweigs Sohn zusammen mit 199 Sinti- und RomaKindern schon auf einer Transportliste nach Auschwitz. Erst 30 Minuten vor Abfertigung gelang es den Politischen, ihn und elf andere Kinder zu tauschen. An ihrer Stelle fuhren andere Kinder mit dem Transport. Die Rettung der einen funktionierte nur durch die Opferung der anderen. Von da an lebte Jerzy Zweig versteckt im Kleinen Lager in Buchenwald. Auch die Folter der politischen Häftlinge durch die SS, die im Roman vorkommt, hat es tatsächlich gegeben, allerdings war nicht das Wissen der SS um das vermeintlich versteckte Kind der Grund dafür, sondern die Arbeit des geheimen Lagerkomitees. Anlässlich des 15. Jahrestages der Befreiung von Buchenwald wurde der Roman 1960 unter Regie von Georg Leopold verfilmt. Der Erfolg des Filmes führte dazu, dass 1962 die Dreharbeiten zu einem Kinofilm unter Regie von Frank Beyer begannen. Gedreht wurde in den DEFA-Ateliers in Potsdam-Babelsberg und in Buchenwald am authentischen Ort. Der Film in schwarz-weiß mit Armin Müller-Stahl und Erwin Geschoneck lief zum 18. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds im Kino an und erhielt den Nationalpreis der DDR. Zum 70. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds ist 2015 eine Neuverfilmung geplant. Regie zu dem Drehbuch von Stefan Kolditz führt Philipp Kadelbach, Produzent ist die Potsdamer UfaFiction, Koproduzenten sind MDR, Degeto, WDR, BR und SWR.
Angelika Benz
Literatur Annette Leo, „Nackt unter Wölfen“. Mythos und Realität, in: Dachauer Hefte 22 (2006), S. 146–157. Zacharias Zweig, „Mein Vater, was machst du hier?“ Zwischen Buchenwald und Auschwitz, Frankfurt am Main 1987.
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Nasza klasa (Theaterstück von Tadeusz Słobodzianek, 2009)
Nackt unter Wölfen (Film von Georg Leopold, 1960) → Nackt unter Wölfen (Roman)
Nasza klasa (Theaterstück von Tadeusz Słobodzianek, 2009) Die Jedwabne-Debatte in Polen löste nicht nur eine Welle historischer Nachforschungen zum polnisch-jüdischen Verhältnis während des Holocaust und zur Beteiligung der christlichen Nachbarn an der Verfolgung und Ermordung der Juden aus, sondern regte auch künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Antisemitismus an. Viele dieser künstlerischen Beiträge lassen sich daher selbst als Bestandteil der Debatte begreifen. Zwei Dokumentarfilme der polnischen Filmemacherin Agnieszka Arnold – „… Wo mein älterer Sohn Kain“ (1999) und „Die Nachbarn“ (2001) – sind dem Mord in Jedwabne gewidmet. Jan T. Gross, dessen Buch „Die Nachbarn“ (→ Sąsiedzi, poln. 2000, engl. und dt. 2001) die Debatte ins Rollen brachte, verdankte viel Arnolds Recherchen. Markieren die Dokumentarfilme den Beginn der Auseinandersetzungen mit der polnischen Mittäterschaft am Holocaust, so lässt sich das Theaterstück „Nasza klasa. Historia w XIV lekcjach“ [Unsere Klasse, Gdańsk 2009] von Tadeusz Słobodzianek als künstlerische Koda jener Debatte verstehen. Die Handlung des Stücks und seine Protagonisten sind angelehnt an historische Ereignisse und Figuren. Das Stück besteht aus 14 Episoden und umfasst die Zeit von den 1920er-Jahren bis zur Gegenwart. Erzählt werden ineinander verwobene Schicksale von zehn Protagonisten (fünf jüdischen und fünf polnischen), die vor dem Zweiten Weltkrieg Schulkameraden sind, mit dem Ausbruch des Kriegs zunächst die sowjetische Okkupation erleben und mit dem Angriff NS-Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941 die deutsche Besatzung. In dieser Zeit kommt es zum Massenmord, an dem sich die ehemaligen Schulkameraden beteiligen: Wie in Jedwabne werden die jüdischen Bewohner von ihren polnischen Nachbarn in einer Scheune verbrannt. Nicht nur die Figuren der Täter, sondern auch der wenigen Retter und Überlebenden haben wahre Vorbilder. Allerdings ist das Stück Słobodzianeks keineswegs dokumentarisch, auch wenn der Autor auf die Recherchen von Gross, Arnold sowie Anna Bikont, Autorin einer wichtigen literarischen Dokumentation über Jedwabne („My z Jedwabnego“ [Wir aus Jedwabne], 2004) zurückgreift. Vielmehr zielt die fiktionale Verarbeitung in „Unsere Klasse“ darauf ab, ein breites Spektrum an Motivationen und Positionen zu zeigen. Die Ereignisse werden einerseits historisch kontextualisiert, andererseits aber auch typisiert, somit werden auch die Entstehungsbedingungen sowie die das Soziale zersetzenden Nachwirkungen der genozidalen Gewalt universalisiert. Das Stück zeigt eindringlich die Wirkungskraft antisemitischer Vorurteile und die Eskalation der mörderischen Gewalt; es konfrontiert den Leser bzw. Zuschauer mit den Grausamkeiten, ohne diese zu deuten oder zu erklären. Keine der Figuren kann der tragischen Geschichte entrinnen; Täter wie Opfer werden im Bann der Schuld, des Leidens und der Ressentiments gehalten: Die Täter leben nach dem Krieg hinter einer Mauer des Schweigens, der Überlebende Menachem wird zum sadistischen Rächer im stalinistischen Geheimdienstapparat, die Retterin Zocha wird von ihren antisemitischen Verwandten bis an ihr Lebensende in den USA verfolgt. Słobodzianeks Stück bleibt im Detail historisch, tendiert aber in der Aussage zu einer
Nathan der Weise (Drama von Gotthold Ephraim Lessing, 1779)
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universalen Tragödie, die ihre Protagonisten als unheilbar in die katastrophale Geschichte verwickelt und vom historischen Fatum gezeichnet zeigt. „Unsere Klasse“ wurde 2009 im Londoner National Theater in der künstlerischen Bearbeitung von Ryan Craig uraufgeführt. Es folgten Inszenierungen in Warschau und in anderen europäischen Städten sowie in Israel und in den USA. 2010 hat das Stück den wichtigsten polnischen Literaturpreis Nike bekommen. Trotz überwiegend positiver Resonanz gab es in Polen auch kritische Stimmen, die auf eine diskursive Konformität des Stücks hinweisen. Das Stück bilanziert quasi die Jedwabne-Debatte, indem es die Argumente für die schmerzhafte Aufarbeitung und Anerkennung der Schuld einerseits und die Entschuldungsargumente andererseits (u. a. durch Verweise auf die polnisch-jüdischen Konflikte während der sowjetischen Einflussnahme) künstlerisch in eine „erträgliche“ Balance bringt, die zwar keineswegs die historische Verantwortung infrage stellt, aber einen Mainstream der Debatte widerspiegelt. So stellt der Theaterwissenschaftler Grzegorz Niziołek (2013) fest, dass das Stück kaum eine weitere Aufarbeitung der unbequemen Vergangenheit provoziert, vielmehr aber das Publikum mit einer Katharsis befriedigt, da es selbst als Ausdruck des bereits vollbrachten Werks der Aufarbeitung verstanden werden kann.
Magdalena Marszałek
Literatur Anna Bikont, My z Jedwabnego [Wir aus Jedwabne], Warszawa 2004. Jan T. Gross, Sąsiedzi. Historia zagłady żydowskiego miasteczka, Sejny 2000 [dt. „Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne“, München 2001]. Grzegorz Niziołek, Polski teatr Zagłady [Das polnische Theater und der Holocaust], Warszawa 2013.
Nathan der Weise (Drama von Gotthold Ephraim Lessing, 1779) Mit dem Drama „Nathan der Weise“ in fünf Akten schuf Gotthold Ephraim Lessing 1779 ein Plädoyer für Toleranz und Menschlichkeit und setzte gleichzeitig seinem langjährigen Freund Moses Mendelssohn, dem Begründer der jüdischen Aufklärung, mit der Titelfigur ein literarisches Denkmal. Lessings letztes Werk wurde am 14. April 1783 im Theater in der Behrenstraße in Berlin uraufgeführt. In den folgenden 150 Jahren wurde es schnell Bestandteil des bürgerlichen Bildungskanons und übte großen Einfluss auf die jüdische Emanzipationsbewegung aus. Während der Zeit des Nationalsozialismus war die Aufführung des Stückes verboten, da sich weder seine zur Toleranz auffordernde Kernaussage, noch die positive Darstellung der jüdischen Hauptfigur mit der nationalsozialistischen Ideologie vereinbaren ließen. Nach 1945 wurde es wieder eines der am häufigsten gespielten Theaterstücke Deutschlands und ist bis heute fester Bestandteil der Schullektüre an Gymnasien. Die Entstehung des „Nathan“ und seine aufklärerische Intention sind eng verknüpft mit dem Fragmentenstreit der späten 1770er-Jahre und dem daraus folgenden Publikationsverbot für Lessing, welches ihm die Veröffentlichung von Schriften auf dem Gebiet der Religion untersagte. „Nathan der Weise“ kann mit seinem Aufruf zur Toleranz und Appell an die Vernunft somit als Lessings Antwort auf die an ihm geübte Zensur und als literarische Fortsetzung der verbotenen Diskussion gesehen werden.
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Nathan der Weise (Drama von Gotthold Ephraim Lessing, 1779)
Das analytische Drama im Stil der klassischen griechischen Tragödie übt vor allem Kritik an dem Versuch der monotheistischen Religionen, ihren Absolutheitsanspruch durch ihre jeweiligen Offenbarungen zu begründen und – teilweise mit Gewalt – gegenüber den jeweils anderen Religionen durchzusetzen. Das Stück argumentiert am Beispiel der berühmten Ringparabel, dass eine Religion, die sich ausschließlich durch ihre Offenbarung und die damit verbundene Intoleranz gegenüber anderen Glaubensrichtungen definiere, nicht die „wahre“ Religion sein könne. Nur durch praktische Humanität und vernünftigen, toleranten und menschlichen Umgang mit anderen könne sich der „wahre“ Glaube beweisen. Diese Vorstellungen werden im Stück vor allem durch die jüdische Hauptfigur des Nathan repräsentiert. Wegen dieses Umstandes und durch den allgemeinen Aufruf des Stückes zur Toleranz gegenüber anderen Religionen wurde „Nathan der Weise“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu einer zentralen Argumentations- und Inspirationsquelle der jüdischen Emanzipationsbewegung. Im orthodoxen Judentum wurde das Stück jedoch häufig abgelehnt, da sich die von der Figur des Nathan propagierte „Vernunftreligion“ nicht mit den eigenen Glaubensgrundsätzen vereinbaren ließ. Mit dem Aufkommen der zionistischen Bewegung um 1880 kamen neue kritische Argumente gegen die Botschaft des „Nathan“ aus jüdischen Kreisen hinzu. Das Drama habe Erwartungen an Toleranz und Gleichberechtigung in den deutschen Juden geweckt, die sich nun, mit Blick auf den erstarkenden Antisemitismus, als trügerische Hoffnung erwiesen hätten. Statt dem Versuch der Assimilierung in eine ablehnende Gesellschaft, wofür „Nathan“ stehe, solle man lieber seine eigene Geschichte schreiben und eine eigene Gesellschaft gründen. Trotz dieser Kritikpunkte hielt jedoch der Großteil der jüdischen Bevölkerung Deutschlands an Lessing und „Nathan“ fest und hoffte weiter auf eine Verwirklichung der darin enthaltenen Botschaft. Die Antisemiten jener Zeit kritisierten ihrerseits neben Lessings Vorstellung von Toleranz im Allgemeinen seine positive Darstellung eines Juden in „Nathan“ im Besonderen. Der radikalste Kritiker Lessings dürfte dabei wohl Eugen Dühring mit seinem Buch „Die Überschätzung Lessing’s und seiner Befassung mit Literatur“ aus dem Jahr 1906 gewesen sein. Demnach wäre Lessing ohne „die Judenreclame“ nie berühmt geworden und das einzig Realistische an der Darstellung des jüdischen Nathan sei, dass er „reich, gierig und listig“ sei. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde eine andere Form der Kritik versucht, um einerseits Lessings Judenfreundlichkeit zu verurteilen und andererseits seine Reputation als großer deutscher Dichter und Begründer des deutschen Theaters erhalten zu können. Hierbei unterstellte man Lessing häufig Naivität und Gutgläubigkeit in Bezug auf die Juden, welche von diesen schamlos ausgenutzt und für ihre Zwecke verwendet worden sei. Dies sei mit Blick auf die „Hinterhältigkeit“ der Juden und ihr Vermögen, andere in Bezug auf ihre „wahre Natur“ zu täuschen, jedoch verzeihbar und schmälere Lessings restliches Werk nicht. Selbstverständlich wurde „Nathan der Weise“ trotzdem verboten, weshalb die letzte Aufführung des Stückes im nationalsozialistischen Deutschland im Herbst 1933 stattfand, bezeichnenderweise veranstaltet vom Kulturbund Deutscher Juden. Hierbei wurde der Schluss des Stückes abgeändert: Nathan steht allein auf der Bühne, anstatt an
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der allgemeinen Umarmung der anderen, neu zusammengefundenen Verwandten teilzuhaben und geht danach zurück in sein Haus und an sein Betpult. Nathan ist allein, ausgestoßen und sucht Zuflucht in seinem Heim und seinem Glauben. Bei Aufführungen nach 1945 wurde dieser geänderte Schluss allgemein üblich auf deutschen Bühnen. Erstmalig wiederaufgeführt wurde „Nathan“ in Deutschland als Premierenstück bei der Neueröffnung des Deutschen Theaters Berlin am 7. September 1945. Es folgte eine Vielzahl weiterer Nathan-Inszenierungen auf verschiedenen deutschen Bühnen, und das Stück wurde in der Folgezeit von Kritikern oft als „Wiedergutmachungsdrama“ oder „Versöhnungs-Nathan“ bezeichnet. Während es angesichts der Gräueltaten des Holocaust schwierig erscheint, im Zuge der Aufführung eines Theaterstücks von Wiedergutmachung zu reden, konnte „Nathan“ jedoch sicher zum Prozess der Versöhnung beitragen. Wenn auf der Bühne Nathan, gespielt von einem jüdischen Schauspieler, den Christen vergibt, die seine Familie verbrannt haben, hat dies mit Sicherheit eine besondere Wirkung auf ein deutsches Publikum. Bis zum heutigen Tage ist „Nathan der Weise“ eines der meist gespielten und erfolgreichsten Theaterstücke Deutschlands.
Sebastian Thoma
Literatur Jo-Jacqueline Eckardt, Lessing’s „Nathan the Wise“ and the Critics: 1779–1991, Columbia 1993. Barbara Fischer, Lösungsansatz „Raum“ versus „Zeit“: Jüdische Reaktionen auf Lessings „Nathan der Weise“ im Vor-Shoah-Deutschland, in: Lessing Society (Hrsg.), Lessing Yearbook 32 (2000), S. 325–339. Walter Jens, Nathan der Weise aus der Sicht von Auschwitz. Juden und Christen in Deutschland – Zur Erinnerung an den 30. Januar 1933. Vortrag gehalten am 5. Januar 1983 in der Patriotischen Gesellschaft Hamburg, Hamburg 1983.
Nationalsozialistische Filmpolitik Für die nationalsozialistische Propaganda war die Entwicklung des national erfolgreichen und international hoch angesehenen deutschen Films der Weimarer Republik eine Verfallsgeschichte. 1931 stellte Georg Stark, der Leiter der im November des Vorjahres innerhalb der Reichspropagandaleitung neu eingerichteten „Reichsfilmstelle der NSDAP“, in seiner Denkschrift „Nationalsozialistische Filmpropaganda“ fest: „Es gibt keine Institution, in welcher sich das destruktive Element – der Jude – derart austobt wie in der Filmindustrie. Er tritt dabei selten an die Öffentlichkeit, sondern begnügt sich mit der Arbeit hinter den Kulissen. Er bestimmt die Filmproduktion und spricht durch seine ihm zur Verfügung stehende Presse das Todesurteil über jeden national wertvollen Film aus.“ (Stahr) Diese Verzerrungen der Realität, die auch in der NS-Presse ständig zu lesen waren, wurden nach der Machtübernahme Hitlers fortgeschrieben. So führte Curt Belling, der als Hauptstellenleiter in der Reichspropagandaleitung der NSDAP für den Film zuständig war, in seinem Buch „Der Film in Staat und Partei“ aus: „War schon der Film in seiner stummen Zeit mit einem äußerst starken Prozentsatz Ausländer durchsetzt, die es immer wieder verstanden, deutsche und
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deutschblütige Künstler wegzudrängen, um sich selbst an deren Platz zu setzen, so machte sich auch in der darauffolgenden Zeit ein äußerst umfangreicher Einfluss insbesondere des jüdischen Elements im deutschen Filmschaffen bemerkbar, der soweit führte, dass man schließlich kaum noch von einem deutschen Film und einer deutschen Filmkunst sprechen konnte.“ Unter Berufung auf die statistischen Angaben in dem 1935 veröffentlichten „Handbuch des Films 1935/36“ von Alexander Jason behauptete Belling, dass sich am Ende der Weimarer Republik unter den Autoren für Drehbücher zu langen deutschen Spielfilmen 40 Prozent Juden, unter den Musik-Autoren 45 % Juden und unter den Regisseuren 47 Prozent Juden befunden hatten, während die Produktion „bis zu 74 %“, die Herstellung „bis zu 87 %“ und der Filmverleih sogar „bis zu 91 %“ „in jüdischen Händen“ gelegen habe. Die weder spezifizierten noch differenzierten Zahlen sollten in der Öffentlichkeit das Bild einer „verjudeten Filmindustrie“ schärfen, gegen die der NS-Staat rücksichtslos vorgehen wollte. Dass der Film für Joseph Goebbels als Gauleiter von Berlin, Reichspropagandaleiter der NSDAP und Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda bei der Erringung und Festigung der Macht eine herausragende Rolle spielte, wurde rasch deutlich. Am 28. März 1933, also nur zwei Wochen nach seiner Ernennung zum Reichsminister, hielt er im Hotel Kaiserhof vor den Spitzenvertretern der deutschen Filmwirtschaft eine Grundsatzrede. Darin bekannte sich Goebbels als „ein leidenschaftlicher Liebhaber der filmischen Kunst“ und deshalb als kompetenter Gesprächspartner. Der Reichspropagandaminister, der offiziell erst am 30. Juni 1933 durch eine Verordnung Hitlers die Zuständigkeit für den Film aus dem Reichsinnenministerium und dem Auswärtigen Amt übernahm, versuchte vor allem die Irritationen in der Filmindustrie im Hinblick auf die weitere politische und wirtschaftliche Entwicklung zu zerstreuen. In einem Punkt machte der fanatische Antisemit allerdings unmissverständlich deutlich, wer im Film des NS-Staates keine Zukunft mehr zu erwarten hatte: Es sei „der Publikumsgeschmack nicht so, wie er sich im Inneren eines jüdischen Regisseurs abspielt. Man kann kein Bild vom deutschen Volk im luftleeren Raum gewinnen. Man muß dem Volke aufs Maul schauen und selbst im deutschen Erdreich seine Wurzeln eingesetzt haben. Man muß ein Kind dieses Volkes sein.“ (Albrecht) Die Botschaft wurde bei der Ufa, die sich seit 1927 im Besitz des deutsch-nationalen Industriellen, Medienmoguls und am 30. Januar 1933 eingesetzten Reichswirtschaftsministers Alfred Hugenberg befand, sofort verstanden. Nur einen Tag nach der Goebbels-Rede berief der Vorstand des größten deutschen Unternehmens mit Filmproduktion, Filmverleih und mehr als 100 Lichtspieltheatern eine Sondersitzung ein. „Mit Rücksicht auf die infolge der nationalen Umwälzung in Deutschland in den Vordergrund getretene Frage über die Weiterbeschäftigung von jüdischen Mitarbeitern und Angestellten in der Ufa“ beschloss der Vorstand „grundsätzlich“ die Auflösung der bestehenden Verträge. Von der Entscheidung betroffen waren sowohl Prominente wie der Produktionsleiter Erich Pommer (1889–1966), die Regisseure Erik Charell (1894–1974) und Ludwig Berger (1892–1969), die Drehbuchautoren Robert Liebmann (1890–1942), Walter Reisch (1903–1983) und Friedrich Zeckendorf (1886– 1943), der Filmkomponist Werner Richard Heymann (1896–1961), der Filmarchitekt Rudi Feld (1896–1994), die Schauspieler Julius Falkenstein (1879–1933), Otto Wallburg (1889–1944) und Rose Barsony (1909–1977) als auch Tonmeister, Produktions-
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assistenten, Ateliers- und Büroangestellte. Die widerrechtliche Kündigung der von der Ufa abgeschlossenen Verträge wurde – wie im Fall von Erik Charell – vom Schiedsgericht der Ufa, vom Kammergericht Berlin und schließlich am 27. Juni 1936 auch vom Reichsgericht für Zivilsachen ausdrücklich bestätigt, da die „aus gesetzlich anerkannten rassepolitischen Gesichtspunkten eingetretene Änderung in der rechtlichen Gültigkeit der Persönlichkeit“ die Erfüllung des Vertrages verhindere. Eine weitere erfolgreiche Karriere bei der Ufa endete am 1. April 1933. Im Kontext des reichsweiten Boykotts jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte trat der durch sein NS-Engagement zum Aufnahme- und Produktionsleiter avancierte Erich von Neusser am Set des seit März 1933 produzierten Spielfilms „Amor an der Leine“ auf und „entließ“ den „nichtarischen“ Regisseur Kurt Gerron (1897–1944). Der Film wurde von Neusser gemeinsam mit dem linientreuen Hans Steinhoff beendet und feierte am 26. Juni 1933 unter dem Titel „Kind, ich freu mich auf dein Kommen“ Premiere im Ufa-Theater am Kurfürstendamm. Die Boykottbewegung traf aber auch jüdische Kinobetreiber, die bereits in der Weimarer Republik unter antisemitischen Krawallen zu leiden hatten. Auch hier konstruierte die NS-Propaganda mit falschen Zahlen eine jüdische Dominanz, die sich jedoch nach den Berechnungen von Kleinhans auf einen realistischen Anteil von 2 Prozent begrenzen lässt. Am 1. April 1933 marschierten SA und Gefolgsleute der NSDAP u. a. vor den Kinos der Laupheimer Lichtspielbetriebsgesellschaft auf, die den Vertrieb der Filme der Deutschen Universal übernommen hatte. Dem Boykott folgte die „Arisierung“ sowohl der von Carl Laemmle (1867–1939) gegründeten Deutschen Universal durch die neu gegründete Rota-Film Verleih AG als auch der Kinokette von Max Friedland (1892–1980). In der Folge nutzte die Reichsregierung ihre Machtmittel zum Ausschluss von Juden aus dem Film und den Kinos in Deutschland. Zum einen wurden bereits in der Weimarer Republik bestehende Gesetze in antisemitischem Sinne ergänzt. So wurde die auf der Grundlage des Gesetzes über die Vorführung ausländischer Bildstreifen vom 15. Juli 1930 erlassene „Kontingentverordnung“ durch eine Neufassung am 28. Juni 1933 dahingehend verschärft, dass ein Film nur noch dann als „deutscher Bildstreifen“ anerkannt wurde, „wenn er 1. von Deutschen oder einer Gesellschaft hergestellt ist, die nach deutschem Recht mit dem Sitz in Deutschland errichtet ist, 2. die Atelieraufnahmen und – soweit die Art des verfilmten Gegenstandes es zulässt – auch die Außenaufnahmen in Deutschland hergestellt sind, 3. das Manuskript, bei Tonfilmen auch die Musik, von Deutschen verfasst ist […], 4. die Produktionsleiter und Regisseure sowie alle Mitwirkenden Deutsche sind.“ (Pfennig) Der dazu veröffentlichte Rechtskommentar machte deutlich, dass als „Deutscher im Sinne der Kontingentverordnung“ nur der gilt, „wer deutscher Abstammung ist und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt“. Damit war ein Gesetz, das ursprünglich die Verbreitung ausländischer, insbesondere US-amerikanischer Filme auf dem deutschen Kinomarkt begrenzen sollte, in ein Instrument zur Ausgrenzung von Juden aus der Produktion und dem Vertrieb von Filmen in Deutschland umgewandelt worden. Das „Lichtspielgesetz“, das am 15. Mai 1920 erlassen worden war und bereits in der Weimarer Republik eine politische Zensur bewirkt hatte, wurde am 16. Februar 1934 dahingehend novelliert, dass Filme gemäß § 7 verboten werden konnten, „wenn die Prüfung ergibt, dass die Vorführung des Films geeignet ist, lebenswichtige Interessen des Staates oder die öffent-
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liche Ordnung oder Sicherheit zu gefährden, das nationalsozialistische, religiöse, sittliche oder künstlerische Empfinden zu verletzen, verrohend oder entsittlichend zu wirken, das deutsche Ansehen oder die Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen Staaten zu gefährden“. (Schrieber) Auf dieser Grundlage verbot die Film-Oberprüfstelle beispielsweise am 21. April 1934 den von Metro-Goldwyn-Mayer 1933 produzierten Spielfilm „The Prizefighter and the Lady“, der 1934 unter dem Verleihtitel „Männer um eine Frau“ in Deutschland gezeigt werden sollte, weil die Hauptrolle des Steve Morgan von dem jüdischen Boxer Max Baer gespielt und dadurch das „nationalsozialistische Empfinden“ verletzt wurde. (Pfennig) Dieser Rechtsauslegung folgend wurden aufgrund einer Ministerentscheidung von Goebbels am 1. Oktober 1937 auch „Der Kongreß tanzt“, „Die Drei von der Tankstelle“ und weitere Unterhaltungsfilme aus der Zeit der Weimarer Republik verboten, weil an ihnen Juden in unterschiedlichen Funktionen beteiligt gewesen waren. Zum anderen baute der NS-Staat neue Strukturen zur Kontrolle und Steuerung der deutschen Filmindustrie auf, die nicht nur die Ausschaltung der Juden aus dem Kulturbereich zur Folge hatten, sondern auch die antijüdische Stimmung in Deutschland fördern und damit die Shoah vorbereiten sollten. Im Vorgriff und als Vorbild für die im November 1933 gegründete Reichskulturkammer wurde bereits am 14. Juli vom Reichskabinett das „Gesetz über die Errichtung einer vorläufigen Filmkammer“ erlassen. Der § 3 machte die Mitgliedschaft in dieser Kammer für denjenigen zur Pflicht, der „gewerbsmäßig oder gemeinnützig als Unternehmer Bildstreifen herstellt, vertreibt oder aufführt oder wer als Filmschaffender bei der Herstellung von Bildstreifen mitwirkt“. (Schrieber) Die Aufnahme konnte verweigert oder ein Mitglied ausgeschlossen werden, „wenn Tatsachen vorliegen, aus denen sich ergibt, dass der Antragsteller die für die Ausübung des Filmgewerbes erforderliche Zuverlässigkeit nicht besitzt“. Auf dieser Rechtsgrundlage konnte zwar ebenso wenig wie mit dem dieser Vorgabe entsprechenden § 10 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Reichskulturkammergesetzes vom 1. November 1933 der Ausschluss von „Nichtariern“ zwingend begründet werden. Doch im Rahmen einer Rede vor den Präsidenten und Präsidialräten der Reichskulturkammer über den „ständischen Aufbau der Kulturberufe“ stellte Goebbels Anfang Februar 1934 fest: „Wenn jemand aus bestimmten Gründen als unzuverlässig oder ungeeignet angesehen werden muss, kann man ihm die Mitgliedschaft in den Verbänden verweigern, und nach meiner Ansicht und Erfahrung ist ein jüdischer Zeitgenosse im allgemeinen ungeeignet, Deutschlands Kulturgut zu verwalten!“ Durch diese Interpretation wurde faktisch ein „Arierparagraf“ in das Kulturkammerrecht eingeführt, der in Verbindung mit dem für die Mitgliedschaft zu erbringenden „Nachweis der arischen Abstammung“ als Begründung für die Ablehnung der Aufnahme oder den Ausschluss von jüdischen Filmschaffenden genutzt wurde. Die „Entjudung der Einzelkammern“ wurde seit 1935 von Hans Hinkel als Geschäftsführer der Reichskulturkammer und ab 1938 als Abteilungsleiter IIA im Propagandaministerium überwacht und vorangetrieben. Wie aus einer internen Übersicht Hinkels aus dem Mai 1938 hervorgeht, waren bis zu diesem Zeitpunkt 750 „Juden, jüdische Mischlinge und jüdisch Versippte“ aus der rund 15.000 Mitglieder umfassenden Reichsfilmkammer ausgeschlossen worden. Allerdings mussten in Einzelfällen Sonderregelungen bei der Ufa für jüdische Aufsichtsräte wie den Industriellen Paul
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Mamroth (bis zu seinem Tod am 20. November 1938) oder leitende Angestellte wie den Verleihchef Wilhelm Meydam (bis zu seinem Ausscheiden am 1. April 1941) und für jüdische Kapitalgeber deutscher Filmunternehmen getroffen sowie „Sondergenehmigungen“ von Goebbels für prominente Filmschaffende mit jüdischen Ehepartnern erteilt werden, unter ihnen Joachim Gottschalk (bis zu seinem Freitod zusammen mit seiner Familie am 5. November 1941), Wolfgang Liebeneiner, Theo Lingen, Hans Moser, Henny Porten, Heinz Rühmann. (Moeller) Jüdische Lichtspieltheaterbesitzer, die wiederholt Opfer inszenierter Publikumskrawalle waren, wurden am 17. Oktober 1935 von der Reichsfilmkammer ultimativ aufgefordert, ihre Kinos bis zum 10. Dezember „an Arier zu verkaufen“. Die Nichtbeachtung der Anweisung bedeutete den Verlust der Konzession. (Walk) Nach dem Pogrom vom 9./10. November 1938 wurde allen Juden am 12. November von Goebbels „der Besuch von Theatern, Kinos, Konzerten, Ausstellungen usw. verboten.“ (Walk) Von Dezember 1938 an durften Juden nur noch als angemeldete Mitglieder die Filmvorführungen des „Reichsverbands jüdischer Kulturbünde in Deutschland“, der neben Berlin allerdings nur in wenigen Großstädten vertreten war, und nach dessen Auflösung von Juli 1939 bis zum September 1941 des „Jüdischen Kulturbunds in Deutschland e. V.“ sehen. Parallel zu dieser Ghettoisierung in Deutschland setzte seit März 1938 die Verfolgung der nach Österreich und in andere europäische Exilländer geflüchteten jüdischen Filmschaffenden ein. Für viele von ihnen endete die Flucht vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft während des Zweiten Weltkriegs im Selbstmord oder in einem deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager. Seit 1937 befand sich die deutsche Filmindustrie nicht mehr nur unter staatlicher Kontrolle, sondern über Max Winklers Cautio Treuhand GmbH als Tarnunternehmen faktisch im Besitz des NS-Staates. Nachdem kleinere Filmproduktionsgesellschaften bereits als Folge der Weltwirtschaftskrise und Gesellschaften in jüdischem Besitz wie die Deutsche Universal und die Nero-Film AG von Seymour Nebenzahl (1899–1961) kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme vom deutschen Markt verdrängt worden waren, wurde die Filmproduktion im Deutschen Reich auf vier große Unternehmen konzentriert: die Universum Film AG (Ufa), die Tonbild-Syndikat AG (Tobis), die Terra Filmkunst GmbH und die aus dem Konkurs der Emelka hervorgegangene Bavaria Filmkunst GmbH, die 1942 alle in eine Holding unter dem Namen Ufa-Film GmbH (Ufi) integriert wurden. Goebbels nutzte den direkten Zugriff auf die Planung und Realisierung der deutschen Filmproduktion für die antisemitische Propaganda. Während in Spielfilmen wie → „Robert und Bertram“ und „Leinen aus Irland“ (beide 1939), „Bismarck“ (1940), → „Venus vor Gericht“ und „Reitet für Deutschland“ (beide 1941) jüdische Charaktere und Einflüsse unterschwellig oder am Rande als „schädlich“ vorgeführt wurden, rückten drei Filme das Judentum ins Zentrum der Handlung: → „Die Rothschilds“ (Ufa, Regie: Erich Waschnek), → „Jud Süß“ (Terra Filmkunst, Regie: Veit Harlan) und → „Der ewige Jude. Dokumentarfilm über das Weltjudentum“ (Deutsche Filmherstellungs- und Verwertungs-GmbH, Regie: Fritz Hippler). Sie kamen 1940 in die Kinos und zogen ein Millionenpublikum an. Dabei wurde die Verbreitung des Historienfilms „Jüd Süß“ besonders gefördert: Das Prädikat „Staatspolitisch und künstlerisch besonders wertvoll“ befreite die Kinobetreiber
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von der Zahlung der Vergnügungssteuer, reichsweit gab es Sondervorstellungen für Schulklassen, auf persönliche Anweisung Himmlers vom 15. November 1940 sollten „alle Angehörigen der deutschen Polizei“ den Film „im Laufe des Winters zu sehen bekommen“ (Walk) und in den besetzten Ländern Europas liefen synchronisierte Fassungen in der Landessprache. Im „Geheimen Lagebericht des Sicherheitsdienstes der SS“ vom 28. November 1940 wurde die NS-Führung über „eine anhaltend außerordentlich zustimmende Aufnahme“ von „Jud Süß“ informiert. Es sei „wiederholt während der Vorführung des Films zu offenen Demonstrationen gegen das Judentum“ gekommen. Dem scheindokumentarischen Film „Der ewige Jude“ attestierte der SD in seinem Lagebericht vom 20. Januar 1941, dass er „aufklärender, überzeugender und einprägsamer gewirkt habe als viele antijüdische Schriften“. Auch wenn diese Filme keine unmittelbaren Gewalttaten in der Zivilgesellschaft auslösten, so bestärkten sie doch große Teile der deutschen Bevölkerung in ihrer aktiven Unterstützung oder passiven Duldung der antisemitischen Politik des NS-Staates.
Jan-Pieter Barbian
Literatur Yitzak Ahren u. a., „Der ewige Jude“. Wie Goebbels hetzte. Untersuchungen zum nationalsozialistischen Propagandafilm, Aachen 1990. Gerd Albrecht, Nationalsozialistische Filmpolitik. Eine soziologische Untersuchung über die Spielfilme des Dritten Reiches, Stuttgart 1969. Curt Belling, Der Film in Staat und Partei, Berlin 1936. Hans-Michael Bock, Michael Töteberg (Hrsg.), Das Ufa-Buch. Kunst und Krisen, Stars und Regisseure, Wirtschaft und Politik, Frankfurt am Main 1992. Bernd Kleinhans, Ein Volk, ein Reich, ein Kino. Lichtspiel in der braunen Provinz, Köln 2003. Friedrich Knilli u. a., „Jud Süss“. Filmprotokoll, Programmheft und Einzelanalysen, Berlin 1983. Ulrich Liebe, verehrt, verfolgt, vergessen. Schauspieler als Naziopfer, Weinheim, Berlin 1992. Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938–1945, hrsg. von Heinz Boberach, Band 6, Herrsching 1984. Felix Moeller, Der Filmminister. Goebbels und der Film im Dritten Reich, Berlin 1998. Bruno Pfennig, Das neue Filmrecht, in: Deutsches Recht. Zentralorgan des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen 5 (1935) 13/14, S. 371–375. Karl-Friedrich Schrieber (Hrsg.), Anordnungen und Bekanntmachungen der Reichskulturkammer und ihrer Einzelkammern. Unter Mitarbeit der Kammern, 5 Bände, Berlin 1935– 1937. Jürgen Spiker, Film und Kapital. Der Weg der deutschen Filmwirtschaft zum nationalsozialistischen Einheitskonzern, Berlin 1975. Gerhard Stahr, Volksgemeinschaft vor der Leinwand? Der nationalsozialistische Film und sein Publikum, Berlin 2001. Joseph Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, Heidelberg, Karlsruhe 1981. Kay Weniger, „Es wird im Leben dir mehr genommen als gegeben…“. Lexikon der aus Deutschland und Österreich emigrierten Filmschaffenden 1933 bis 1945. Eine Gesamtübersicht, Hamburg 2011.
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Nationalsozialistische Filmproduktionen Das Kino war stets ein zentraler Ort der Unterhaltung, aber auch der Bildung von Meinungen, Haltungen und Überzeugungen. Insbesondere in der Zeit des „Dritten Reiches“ waren die im Kino gezeigten Spiel- und Dokumentarfilme, Kultur- und Beiprogrammfilme neben den Wochenschauen (→ Deutsche Wochenschau) zentraler Bestandteil der Propagandamaschinerie, selbst dann, wenn es sich um Unterhaltungsfilme handelte. (Albrecht) Das Kino als Abspielort unterschiedlicher Filmproduktionen war eingebettet in ein politisches, soziales, kulturelles und propagandistisches Zusammenspiel unterschiedlichster Kommunikationsangebote, die im Zusammenklang eine Atmosphäre schufen, die kritisches Nachdenken vermeiden sollte. Der Film sollte der geistigen Mobilmachung dienen, und aus diesem Grund war die Filmwirtschaft dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, unterstellt (→ Nationalsozialistische Filmpolitik). In den deutschen Kinos wie in den unzähligen Vorführungen in Schulen und über Gau-Filmstellen, die mit ihren Kinowagen regelmäßig in jeden noch so abgelegenen Ort fuhren, um Filme vorzuführen, wurden im „Dritten Reich“ vorrangig und nahezu ausschließlich deutsche Produktionen gezeigt. Proportional zur Abnahme des Anteils ausländischer Produktionen stieg die Zahl der Kinobesuche im Lauf der Jahre an. (Albrecht) Die Intention der nationalsozialistischen Parteiführung bestand darin, dass Filmproduktionen nicht augenfällig propagandistisch gestaltet sein sollten, sondern der nationalsozialistischen Kulturpolitik entsprechend emotional und unbewusst respektive implizit auf das Publikum wirken. Psychologie und Kausalität sollten in jedem Film zur Wirkung beitragen. Die Propaganda sollte das gesamte öffentliche Leben durchdringen und im Netz der medialen Beeinflussung die Überzeugungen der Menschen im Sinne des Regimes umformen und einspinnen. Die Filmproduktion richtete sich entsprechend der politischen Phasen und parteipolitischen Zielsetzungen auf wechselnde Themen. Auch wurden Filme produziert, die für unterschiedliche Auswertungen, für den Einsatz in verschiedenen Regionen vorgesehen waren. Alle Filme gemeinsam dienten im Zusammenspiel der gezielten Indoktrination der deutschen Bevölkerung. Der Antisemitismus war zentrales Element der nationalsozialistischen Politik, „der Jude“ das zentrale Feindbild. Dies bildet sich in unterschiedlichen Filmerzählungen in Abstufungen ab. Die erste Phase widmete sich der Etablierung eines nationalsozialistischen Wertesystems, das zunächst vorrangig deutschnationale, völkische und nationalsozialistische Tendenzen miteinander verband, und das der Herausbildung einer „nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ dienen sollte. Antisemitismus und Antikommunismus waren in diesem Sinne zentrale Themen der frühen Filme. Die inhaltliche, dramaturgisch-ästhetische Ausrichtung ging einher mit der Kündigung unzähliger jüdischer Mitarbeiterinnen im Filmbereich – von Autoren über Regisseure, Komponisten bis hin zu Ateliersekretärinen und anderen Mitarbeiterinnen. (Kreimeier) In den Filmproduktionen wurden bereits 1933 spezifische Gegensätze und Stereotypen etabliert, die in späteren Produktionen weitergenutzt oder fortentwickelt wurden. Sehr früh bildet sich in der dramaturgischen Anlage ein klar erkennbares FreundFeind-Schema heraus, in dem der stets männliche und im Sinne der nationalsozialistischen Idee handelnde und fühlende Held der Inkarnation des Bösen gegenübersteht.
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Das Böse ist direkt oder indirekt mit antisemitischen Stereotypen ausgekleidet, als kommunistisch oder zumindest als fremdländisch oder fremdbestimmt charakterisiert. Im Notfall opfert der im Sinne des Nationalsozialismus positiv gezeichnete Held sein Leben für die Idee, um das Böse zu bezwingen oder dieses zumindest zu entlarven. Häufig wird dem Helden eine zu beschützende Frau zur Seite gestellt, die ohne seine Taten verloren wäre. Allerdings steht das private Glück hinter dem Dienst an der Gemeinschaft. Dieses Schema bestimmt bereits die Filme „SA-Mann Brand“ (Franz Seitz, 1933), „Hitlerjunge Quex“ (Hans Steinhoff, 1933) und „Hans Westmar – Einer von vielen“ (Franz Wenzler, 1933). Diesen Filmen ist gemeinsam, dass negativ gezeichnete jüdische Figuren, Männer wie Frauen, die „jüdische Weltverschwörung“ verkörpern. Sie bedrohen den Alltag oder das Leben der zumeist heldenhaften jungen Männer und der Gemeinschaft. Entsprechende Wertungen wurden diesen Filmen nicht nur explizit über die Handlungsführung und die Dialoge eingeschrieben, sondern ergaben sich auch über Besetzung, Lichtführung und Handlungsorte. Figuren, die als Typen entsprechend den Merkmalen der nationalsozialistischen Definition „des Juden“ gestaltet wurden, waren zumeist an Innenräume, Seitengassen, Keller oder die Dunkelheit gebunden, wohingegen die als gute und aufopferungsvolle Wesen gezeichneten Helden in der freien Luft, in der Sonne oder zumindest in hellen, sauberen Wohnungen ihrer sie umsorgenden Mütter gezeigt wurden. In dem Film „Hans Westmar“ stehen dem titelgebenden Helden jüdische Mitglieder der von Moskau instruierten kommunistischen Partei gegenüber. Paul Wegener spielt den aus Moskau gesandten Kommunisten Kuprikoff, der von einer als fanatisch gezeichneten jüdischen Parteifunktionärin namens Cohn unterstützt wird. Der „bolschewistische Jude“ wurde für die Filmproduktionen bis hin zu den Wochenschauen zu einem zentralen Typen, der die „jüdische Weltverschwörung“ zu lenken schien. Die antisemitische Tendenz in „Hans Westmar“ erstreckt sich über eine Anzahl unterschiedlicher Charaktere, die in verschiedenen Zusammenhängen auftreten, bis hin zu dem pazifistischen Professor, dem Sinnbild des jüdischen Intellektuellen. Die Vielzahl jüdischer Charaktere unterstützte einerseits das Argument der „Überflutung“ ebenso wie ihre Darstellung die Behauptung, sie seien „fremdländische Elemente“. In diesem Film wurde die Analogie von Juden und Ratten etabliert, die in → „Der ewige Jude“ (Fritz Hippler, 1940) auf besonders affektiv wirkende Weise zu einer visuellen Metapher wurde. Der ähnlich gestaltete Film „Hitlerjunge Quex“ gilt als eine wegweisende Tributleistung „der Ufa an die Propagandamaschinerie der neuen Machthaber“ (Kreimeier). Die aus völkischen Idealen übernommene Vorstellung, dass das Leben in der Sonne, an frischer Luft, am besten auf dem Land, als eine dem Menschen einzig angemessene und gesunde Lebensweise gilt, und dessen Bedrohung durch das Leben in der Stadt, prägt ebenfalls die Handlungen und visuelle Gestaltung dieser Filme. Die Stadt – als Sündenbabel – wird insbesondere von Charakteren bevölkert, die für Entwicklungen der Weimarer Republik stehen. Bankiers, Händler ebenso wie jüdische Kommunisten leben in den industrialisierten Städten, sie sind unmoralisch und verstoßen gegen ethische Grundsätze. Es handelt sich um einfach zu bedienende FreundFeind-Schemata. Eine Variante dieser Gegenüberstellung von Stadt und Land findet
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sich in dem als dokumentarisch geltenden Beiprogramm-Film „Blut und Boden“ (Rolf von Sonjevski-Jamrowski und Walter Ruttmann, 1933). Die Gleichsetzung der Weimarer Republik mit vermeintlich jüdischer Überfremdung wird über die Jahre immer wieder abgerufen, wie z. B. in „Ein Robinson. Tagebuch eines Matrosen“ (Arnold Franck, 1940). 1933–1935 produzierte Filme schaffen eine ikonologische Visualisierung des „Erlösungs-Antisemitismus“, wie ihn Saul Friedländer definiert hat (Friedländer). Figuren, die als der „arischen Rasse“ zugehörig gestaltet sind, treffen als „unveränderlich Gutes“ auf „den Juden“ als enthistorisiertes und „abstraktes Prinzip des Bösen“ (Friedländer). So z. B. auch in dem Kriminalfilm „Stärker als Paragraphen“ (Jürgen von Alten, 1936), in dem der Mörder eine visuelle Referenz auf den von Peter Lorre gespielten Kindermörder in „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ darstellt. Selbst dann, wenn die Filme in der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit angesiedelt sind, werden symbolische Bilder, die auf das „bäuerliche Früher“ (Varga) verweisen, gegen eine visuelle Zuspitzung der jüngsten Vergangenheit gesetzt und verstärken so den dramatischen Konflikt durch einen ästhetischen Konflikt. Der politisch gewollte und über Gesetzgebung in den Alltag implementierte Antisemitismus wird z. B. in „Um das Menschenrecht“ (Hans Zöberlein und Ludwig Schmid-Wildly, 1934) oder „Pour le mérite“ (Karl Ritter, 1938) wieder aufgerufen als „arische“ Deutsche gestaltete Figuren reden nicht mit Juden und sprechen dies auch im Dialog so aus. In → „Robert und Bertram“ (Hans H. Zerlett, 1939) wird die jeweils intendierte Metapher durch ein visuelles Abrücken von der Gegenwart noch stärker betont. In diesem Fall handelt es sich um eine bühnenhafte Inszenierung, in anderen Filmen, wie → „Jud Süß“ oder „Paracelsus“, wird das Moment der Historisierung genutzt, um eine ästhetische Distanz zu schaffen, die eine Zuspitzung in der Tendenz ermöglicht. „Der Jude“ als die Inkarnation des Bösen, sei es als Kommunist oder Kommunistin, Journalist, Spion oder auf eigenen Vorteil bedachter Händler, Anwalt oder Mediziner ist der Typ in dem sich antisemitische Stereotype spiegeln. Dazu heißt es in einem Presseheft der Filmproduktionsfirma Bavaria: „Der Bösewicht [...], den wir im Film zu sehen wünschen, muß als Mitglied einer uns blut- und gefühlsmäßig fremden Menschenart in Erscheinung treten. Er muß seine Rolle so überzeugend gut in Szene setzen können, daß uns der Aufwand begreiflich wird, den der Staat aufbringt, um ihn auszumerzen.“ (Hollstein) Der Darsteller muss seine Rolle so überzeugend spielen, dass die Strafe, die die Figur ereilt, gerecht und folgerichtig erscheint. Filme wie „Mit versiegelter Order“ (Karl Anton, 1938) und „Der ewige Quell“ (Fritz Kirchhoff, 1940) sind dafür exemplarisch. Als Gegensatz zu diesen Inkarnationen „des Bösen“ finden sich implizit wirkende Aspekte des Erlösungs-Antisemitismus in der visuellen Darstellung der Zusammengehörigkeit von Repräsentanten des Nationalsozialismus und Elementen aus der christlichen Ikonografie. Diese werden insbesondere, aber nicht ausschließlich, in Kriegsfilmen oder Filmen über gewaltsame Auseinandersetzungen genutzt. Hitler verstand Christus als den größten „Vorkämpfer im Kampfe gegen den jüdischen Weltfeind“, dessen Werk er zu Ende führen wolle. (Friedländer) So erzählt „Friesennot. Ein Film vom deutschen Schicksal“ (Peter Hagen, 1935) von Gottestreue und dem Kampf gegen den kommunistischen Feind.
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Die „Volksgemeinschaft“ muss zusammenhalten, um gegen die vermeintliche jüdische Bedrohung, um gegen die „jüdische Weltverschwörung“ einstehen zu können. Dies zu erreichen, muss die „Volksgemeinschaft“ einem Heroen gläubig folgen, der sie zum Sieg führt. Aus der „Volksgemeinschaft“ waren Juden ausdrücklich ausgeschlossen. Ein Film, dessen Handlung von diesem Motiv bestimmt wird, ist „Togger“ (Jürgen von Alten, 1936/37). Um derartige Ausschließungen durchzusetzen, mussten „die Juden“ zunächst bloßgestellt werden. Die Ausstellung „Der ewige Jude“ (München 1937) diente diesem Zweck. Als Begleitfilm zur Ausstellung wurde eine erste Fassung von „Juden ohne Maske“ (1937) in einer Schockmontage aus Szenen bekannter Filme, in denen jüdische Schauspieler mitwirkten, geschaffen. Ausgewählt wurden Szenen, in denen diese Schauspieler oder Schauspielerinnen Rollen verkörperten, die dazu dienen konnten, diese durch die Kompilation und interpretierenden Kommentar zu denunzieren und antisemitische Stereotype zu stützen. Der Film wurde nach dem Ende der Ausstellung überarbeitet und als Propagandafilm in die Kinos gebracht. Kontrastiert wurden die denunzierenden Szenen mit dokumentarischem Material von Erntedankfesten, von „deutschen Gesichtern“, wehenden Hakenkreuzfahnen, einem Wochenschau-Ausschnitt der Verlesung der „Rassegesetze“ auf dem Nürnberger Parteitag durch Göring. Dieser Film war der ideologische wie inhaltliche Vorläufer des 1940 aufgeführten Films „Der ewige Jude“, der in der Montage zum Teil dieselben Ausschnitte nutzte. (Hampicke und Loewy) In der Vergangenheit angesiedelt, aber durch die historische Vorlage als Metapher besonders eindrucksvoll, wird in „Der alte und der junge König“ (Hans Steinhoff, 1935) der Zusammenhang des Erhalts der nationalen Gemeinschaft zum absoluten Glauben an den strengen väterlichen Führer beschworen. In diesem Sinne fungierten mehrere Filme über nationale Führerfiguren. Deren Biografien wurden genutzt und meist frei adaptiert, um idealisierende Analogien zu Adolf Hitler und der politischen Realität des Nationalsozialismus zu schaffen – wie „Robert Koch – Der Bekämpfer des Todes“ (Hans Steinhoff, 1939), „Ohm Krüger“ (Hans Steinhoff, 1941), „Bismarck“ (Wolfgang Liebeneiner, 1940), „Der große König“ (Veit Harlan, 1942) oder „Paracelsus“ (G. W. Pabst, 1942). Die Biografien und Taten der Mediziner Robert Koch und Paracelsus sind auf die nationalsozialistische und somit auch die antisemitische Propaganda hin frei adaptiert worden. Erinnert sei daran, dass in der Propagandasprache des „Dritten Reiches“ Juden mit Parasiten gleichgesetzt wurden. Dem jüdischen Mann wurde auf den Theorien von Lanz von Liebensfels aufbauend in der nationalsozialistischen Propaganda zugeschrieben, vor allem deutsche Mädchen und Frauen infizieren zu wollen. Die an die Erfordernisse der Zeit angepasste Figur des Robert Koch kämpft in dem Film von 1939 als sich aufopfernder Landarzt gegen eine Infektionskrankheit. Zu Beginn des Filmes wird Koch zu einem kranken Mädchen gerufen, das von einer Infektion unrettbar befallen ist. Mithilfe eines treu ergebenen und wissenshungrigen Assistenten gelingt es ihm, den Erreger zu erkennen. Koch steht in Opposition zu dem an einer Berliner Universität Lehrenden Virchow – auch dies eine poetische Überhöhung der historischen Ereignisse. Virchow wird als Karikatur des weltfremden, alten und arroganten Intellektuellen gezeichnet. Im Kampf gegen den Erreger verliert der junge Assistent Kochs sein Leben, der alte Virchow überwindet letztendlich seinen ignoranten
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Stolz und Robert Koch erhält die ihm zustehende Anerkennung. Der Parasit ist nun erkannt und ein Gegenmittel gefunden. In dem Film „Robert Koch – Der Bekämpfer des Todes“ sind große Teile der Handlung in relativ zeitlos wirkenden ländlichen Regionen situiert, wodurch das Geschehen als aktuell rezipiert werden kann. Der Prototyp des assimilierten Juden, der sich in die Gesellschaft einschleicht, die ebenso typisierte blonde deutsche Frau, die Geld und Macht zu erobern sucht, tritt in „Leinen aus Irland“ (Heinz Herbig, 1939) auf. Der Hauptfigur werden viele antisemitische Attribute eingeschrieben, wie Verstellung, Macht- und vor allem Geldgier, „Diesseitsbezogenheit, [...] Zielstrebigkeit und Rücksichtslosigkeit [...]“ (Seraphim). Als Dr. Kühn hat sich ein als redegewandt dargestellter assimilierter Jude bis an die Spitze eines Konzerns gearbeitet. Er hat das blinde Vertrauen des älteren Besitzers und will eine Gesetzesänderung erwirken, mit der es möglich wird, billigeres Leinen aus Irland zu importieren, anstatt es aus – dem inzwischen de facto annektierten – Böhmen von den Kleinbauern zu beziehen. Ihm und seinem ihn unterstützenden, aus dem Ghetto angereisten Onkel stellen sich beherzt und unbeirrbar ein sportlicher Beamter und der Besitzer einer kleinen, aber traditionsreichen böhmischen Weberei entgegen. Der assimilierte Jude entpuppt sich als Intrigant und rücksichtsloser Geschäftemacher, zu ihm gehört der Jude im „unzivilisierten Urzustand“, dessen schlechte Eigenschaften scheinbar schon von Weitem zu erkennen sind. Dieses Paar verkörpern der am Ende des Films bloßgestellte, aber mit einem beachtlichen Scheck abgefundene Dr. Kühn und sein „jiddisch“ sprechender, als unzivilisiert gezeichneter Onkel. Gemeinsam sind sie die Inkarnation des Bösen. In rascher Folge erscheinen 1940 mehrere explizit antisemitische Filme, in denen negative Hauptfiguren agieren, die mit antisemitischen Stereotypen ausgekleidet werden. Standen bisher vor allem die deutschen Heldenfiguren im Zentrum der Handlung, so bestimmt in den großen Filmen 1940 und 1941 eine negative Hauptfigur das Geschehen. Bereits etablierte und dem Publikum vertraute Stereotype wirken nicht nur in den Handlungsverlauf und die Figurencharakterisierung hinein, sondern auch in die Nebenhandlungen und die Charakterisierung der Nebenfiguren. Der erste Film dieser Art ist → „Die Rothschilds – Aktien auf Waterloo“ (Erich Waschneck, 1940). Im Vorspann des Films wird darauf verwiesen, dass er historischen Ereignissen nachgestaltet sei. Diese historischen Anleihen dienen vorrangig dazu, eine für die antisemitische Propaganda taugliche Geschichte zu entwickeln, für die einige tatsächliche Fakten als Eckdaten dienen. Die Geschichte der Familie Rothschild wird genutzt, um verschiedene Typen auftreten zu lassen und deren bereits etablierte Eigenschaften anhand eines weiteren, bekannten und vermeintlich verbürgten Beispiels auszumalen. Der zweite prominente Film dieser Reihe, „Jud Süß“ von Veit Harlan, wurde am 25. September 1940 im UFA Palast am Zoo vor zahlreichem Publikum uraufgeführt. Dieser Film ist bis heute nicht nur einer der meist diskutierten Produktionen dieser Zeit, sondern neben „Der ewige Jude“ auch ohne Zweifel als einer der am stärksten explizit antisemitisch gestalteten hervorzuheben. Auch „Jud Süß“ wird dem Publikum als Verfilmung einer authentischen überlieferten Biografie präsentiert. Die Handlung ist auf 1773 datiert und spielt in Stuttgart. Die Historisierung der Handlung ermöglicht eine zugespitzte Ausgestaltung der Charak-
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tere und Situationen, wie sie in einer in der erlebten Gegenwart angesiedelten Geschichte nicht möglich gewesen wäre. Der jüdische Kaufmann Joseph Süß Oppenheimer (Ferdinand Marian) wird in diesem Film zu einer Verkörperung des „ewigen Juden“. Auffällig ist, dass in der Figur Aspekte vor allem des Dr. Kühn aus „Leinen aus Irland“, des Bankiers Ipelmeyer aus „Robert und Bertram“ in eine negative Variante des Fabrikbesitzers Clausen aus „Der Herrscher“ münden. Die bis dahin jüdischen Filmfiguren zugeschriebenen Klischees kulminieren in dieser Figur des Jud Süß und der ihn umgebenden Personage. Dies geht soweit, dass durch die Besetzung von vier Nebenfiguren durch einen Schauspieler, wie hier durch Werner Krauß, die Typisierung und damit gleichzeitig die Konnotierung als allgegenwärtiger Feind noch verstärkt wird. Krauß tritt in einer Nebenrolle als Schächter auf, der mit blutbefleckter Schürze in der Tür seines Ladens steht. Als Diener des Jud Süß ist die von Werner Krauß gespielte Figur des Levy allgegenwärtig. Krauß spielt auch den Rabbi Loew, mit dieser Figur verkörpert er das „Urjudentum“ in seiner religiösen Gestalt, ein gebeugter Greis, dessen Erscheinung Ehrfurcht gebührte, wenn er nicht zwischen weisen Sprüchen und ernsten Ermahnungen nach der Manier armer Ghettojuden Oppenheimers Reichtümer bestaunte. Ebenso zwiespältig wirkt sein Auftritt als Sternenkundiger. Während sein Gehabe ihn vor dem Herzog mit dem Nimbus des Dämonischen, des übersinnlichen Wissens umgibt, erkennt der Zuschauer ihn doch als Scharlatan, der nur die von Süß gestellte Aufgabe erfüllt. Mit dieser Darstellung ist zugleich jeder Rabbiner gemeint. Krauß und Marian haben ihren Figuren das bis dahin übliche theaterhafte und karikierende in der Darstellung genommen und stattdessen überzeugende Charaktere geschaffen. Die pseudodokumentarische Darstellung dient dazu, auf skrupellose Weise Feindbilder und antisemitische Denunziationen mit vermeintlich authentischen Materialien zu bedienen. Von dem Versuch, einen Film dieser Tendenz zu realisieren, zeugt das Fragment zu einem dokumentarischen Film mit dem Arbeitstitel „Juden, Läuse, Wanzen“ (1941). Dokumentarische Filmaufnahmen aus dem Ghetto werden mit Zeichnungen montiert, die dem Filmfragment einen diffamierenden Gestus verleihen. Da insbesondere „Der ewige Jude“ keine große Publikumsresonanz verzeichnen konnte, wurden anschließend wieder verstärkt politische Unterhaltungsfilme entsprechend bewährter Muster gedreht. Zurück in die Geschichte gehen die Filme „Carl Peters“ (Herbert Selpin, 1941) und „Ohm Krüger“ (Hans Steinhoff, 1941), die beide im 19. Jahrhundert in Afrika angesiedelt sind. Die Handlungskonstruktion variiert bestehende Schemata – der aufopferungsvolle Held steht für die Ideale der Gemeinschaft, für die Interessen der Deutschen Gesellschaft ein und muss diese gegen Intrigen und Blockaden durchsetzen, in die jüdische Typen involviert sind. „... Reitet für Deutschland“ (Arthur Maria Rabenalt, 1941) war einer der beliebtesten Filme der damaligen Zeit und steht exemplarisch für die Akzeptanz des politischen Unterhaltungsfilms dieser Zeit. Erzählt wird die Geschichte eines visionären Führers, eines Mannes, der ohne jeden Kompromiss für seine patriotischen Ideale lebt. Die Hauptfigur ist der von Willy Birgel gespielte Rittmeister, Besitzer einer Pferdezucht und Dressurreiter. Obwohl die Geschichte zwischen 1918 und 1921 angesiedelt ist, stellt sie eine Metapher für das „Dritte Reich“ dar. Darüber hinaus verweist die Anlage der Handlung auf die Gegenwart der ersten Kriegsjahre, insbesondere den
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Feldzug gegen Polen. Die erste Szene erinnert an Sujets der Wochenschauen, die im Zusammenhang des Feldzugs gegen Polen von der Vertreibung und körperlichen Misshandlung von Deutschen durch „Ostjuden“ berichtet haben. Auch der karikierend überzeichnete Typ des nur auf seinen Vorteil bedachten und betrügenden Juden tritt in einer kleinen, aber dramaturgisch relevanten Szene direkt in Erscheinung. Dieser kurze Auftritt genügt, um über die Jahre konditionierte Stereotypen abzurufen. Der Film vereinigt alle bis dato bewährten szenischen Elemente: den Gegensatz von lebenswertem, traditionsbewussten Dasein auf dem Land zur Stadt, in denen Menschen wie Tiere geschunden werden; die Bedeutung des Militärs, die Verbindung von Sport, Körper, Disziplin und Glauben an die Zukunft der Gemeinschaft als Über-Lebensstrategie; Treue und Männerfreundschaft, Familie und Verbundenheit mit dem Boden. Privates Liebesglück wird angestrebt, aber nur, wenn es dem größeren Ideal, dem Wohlergehen der nationalen Gemeinschaft, nachgeordnet auch funktioniert. Die Handlung referiert nicht nur die bekannten Stereotypen und die schon genannten Filme, sondern über die Nebenfiguren auch Filme wie „Die Reiter von Deutsch-Ostafrika“ (Herbert Selpin, 1934), „Friesennot – Ein Film vom deutschen Schicksal“ (Peter Hagen, 1935), „Patrioten“ (Karl Ritter, 1937) oder „Feinde“ (Viktor Turjanski, 1940). Mit „GPU“ (Karl Ritter, 1942) wird die Grundanlage der Handlung von „Heimkehr“ (Gustav Ucicky, 1941) genutzt und auf die Gegenwart des Feldzugs gegen Russland aktualisiert. Dem Zeitgeist entsprechend ging die Bedrohung von jüdischen Bolschwiken aus. Die GPU wurde als Zentrale „jüdisch-bolschewistischer Verbrecher“ gezeichnet, gegen die Männer der deutschen Wehrmacht antreten und eine bedrohte junge Frau retten. In einer nicht mehr persönlich zu erinnernden historischen Zeit spielt „Rembrandt“ (Hans Steinhoff, 1942), auch als „Ewiger Rembrandt“ bekannt. Die historische Figur des Malers, sein Leben und sein künstlerisches Wirken wird frei adaptiert. Dieser Film steht in Relation zu dem 1936 in London gedrehten „Rembrandt“. Der Maler wird als gutherzige Figur, begabt wie fleißig, dargestellt. Er ist liebender Mann, guter Vater, großer Lehrer, diszipliniert und gleichzeitig visionär, in die Zukunft denkend, hat alle Eigenschaften eines der nationalsozialistischen Idee nach geformten Helden. Ihm gegenüber stehen die als egoistisch und geldgierig gezeichneten Kaufleute Amsterdams, aber auch seine wenig intelligente, aber rachsüchtige und habgierige ehemalige Haushälterin. Nach Fertigstellung der „Nachtwache“ empören sich die meisten der Kaufleute und verweigern ihm den Lohn für die Arbeit. Rembrandt bezeichnet sie in seinem Ärger über ihre Eitelkeit, ihre Diesseitigkeit und ihr mangelndes Kunstverständnis als „Pfeffersäcke“. Diese Bezeichnung und deren Figurenzeichnung ist nunmehr ausreichend konnotiert, um das altbekannte Schema erkennen zu lassen und die Figuren entsprechend in Beziehung zu setzen. Über das Gut-Böse-Verhältnis des visionären Helden und der geldgierigen, rein materiell denkenden Gegner wird hier zudem die alte, dem Ur-Mythos zugehörige, romantisierende Antithese der selbstlosen Kunst versus Kommerz genutzt (Engelen und Vande Winkel), um dem alten Muster eine neue Farbe zu geben. Doch dieser Rembrandt spricht auch von Pflicht und Disziplin, von Aufgabe und Verantwortung. Ihm geht es nicht um weltliche Dinge, sondern um die wirkliche Kunst, um das unverstellte Leben. An der Intrige entscheidend beteiligt sind als jüdische Typen gezeichnete Geldverleiher und ein Trio von jüdischen Typen als Hintermänner, die seinem Gegner bei seinen Unternehmungen gegen Rembrandt
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mit Rat und Tat zur Seite stehen. Mit diesem Film werden die altbekannten Stereotypen aufgerufen und weiter geschrieben. Die Figur der Henrike, der Lebensgefährtin des Malers, stellt hier den seit 1940 ausgestalteten neuen Typus der „arischen“ Frau dar, die zwar weiterhin in selbstloser Liebe dem Mann zur Seite steht und dient, dies aber durchaus aktiv und zupackend tut. In diesem Film wird aus der schüchternen Magd vom Land eine durch die Liebe erblühende, immer bescheiden bleibende Frau, von praktischer Intelligenz, die alles tut, um ihren Mann zu schützen. Auch in diesem Film wird das Wesen des „Juden“ zeichenhaft eingesetzt, um diesen eine entscheidende Mitschuld zuzuschreiben. Ebenfalls 1942 wird in „Wien 1910“ (E. W. Emo) dem als bekennendem Antisemiten bekannten früheren Bürgermeister Wiens, Karl Lueger, gehuldigt. In der frei assoziierten Handlung werden drei letzte Tage des Lebens eines aufopferungsvollen, visionären Politikers gezeigt, der, schon von schwerer Krankheit gezeichnet, für die „Volksgemeinschaft“ gegen Figuren antreten muss, die dem Publikum als Zerrbilder des vermeintlich Wien unterminierenden Ost-Juden präsentiert werden. Der 1942 bis 1943 von G.W. Pabst gedrehte Film „Paracelsus“ hingegen ist in einer auf das Mittelalter verweisenden Szenerie angesiedelt. In der Grundanlage verweist der Film auf „Robert Koch“. Durch die zeitliche Distanz ebenso wie die recht freie Adaption der zugrunde liegenden Geschichte des Arztes Paracelsus erhält dieser Film eine weitergehende und gleichermaßen der historischen Situation von 1942 angepasste Metapher. Ein beim Volk beliebter Arzt kämpft gegen einen todbringenden Erreger, in diesem Fall die Pest. Der Mediziner der Universität, der in Opposition zu Paracelsus steht, wird wie als veraltetem Wissen anhängend, unfähig und arrogant dargestellt. Dieser Mediziner steht im Bunde mit den Ratsherren, insbesondere dem reichen Händler. Beide Figuren bedrohen durch ihr jeweils spezifisches und egoistisches Verhalten die Gesundheit der „Volksgemeinschaft“. In diesem Fall jedoch stellt die mittelalterliche Stadt eine Art geschlossenes Territorium dar, in dem die Pest ausgerottet ist und nur noch von außen hineingetragen werden kann. Paracelsus ordnet an, die Tore der Stadt zu schließen, um die Einwohner der Stadt vor einem erneuten Eindringen der Pest zu bewahren. Obwohl die Bedrohung allen bekannt ist, schmiedet der reiche Händler ein Komplott, um eine große Ladung kostbarer Waren in der Nacht in die Stadt zu schmuggeln. Wie befürchtet, gelingt es einem fahrenden Gesellen, einem Gaukler, als blindem Passagier mit diesen Waren in die Stadt zu gelangen. Das Komplott des Händlers wird entlarvt, bei dieser Gelegenheit auch dessen Feigheit und Verlogenheit, als Revanche kann ihm großer finanzieller Schaden zugefügt werden. Paracelsus, sich der Gefahr bewusst, erkennt die Bedrohung sofort, identifiziert den Erreger und kuriert den Gaukler. Er selber ist gegen den Erreger immun und aufgrund seines umsichtigen Eingreifens hat sich auch sonst niemand infiziert. Mangelnde medizinische Logik erübrigt sich sofort, versteht man diese Geschichte als Parabel. Genutzt werden bereits etablierte sprachliche und visuelle Zeichen aus der politischen Propaganda, öffentlichen Reden wie Schulungsmaterialien, die diesem Film, der an der Schwelle zwischen der Phase des Massenmords und der Shoah steht, seine implizite antisemitische Wirkung verleihen. Dies geht einher mit der von Werner Krauß verkörperten visionären Führerfigur, die hinter der Maske des Paracelsus eine sehr spezifische Verbindung völkischer, okkulter und medizinischer Vorstellungen transportiert.
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In der für die filmische Propaganda des „Dritten Reiches“ sehr typischen Verbindung von überliefertem faktischen Wissen und ideologischer Indoktrination wird eine Hauptfigur etabliert, die eine Analogie zu Adolf Hitler bedeutet. Dieser Paracelsus ist auf der Suche nach dem allheilenden Elixier, das nicht sofort und ohne Rückschritte gefunden werden kann. Er wird von den etablierten Eliten oft missverstanden, aber vom Volk geliebt. Der Film ist auch eine Beschwörung der Unbesiegbarkeit, man muss nur davon überzeugt sein, dass man die richtige Anschauung vertritt. Ist man sich dessen bewusst, glaubt dem Führer, dann kann auch die Pest, die Krankheit schlechthin geheilt werden und die Krankheitserreger, die die schlimmste Bedrohung der Menschen darstellen, ferngehalten werden. Auch hier gehen Entsagung und Durchhaltewillen zusammen, die Bedrohung wird als weiter virulent dargestellt, die außerhalb des eigenen Territoriums darauf lauert, erneut zurückzukehren. Auch der assimilierte Jude stellt weiterhin eine Bedrohung für die Gemeinschaft dar. Wird ihm nicht blind vertraut, wird er gar gedemütigt, dann muss der Held, der Führer weiter ziehen, um andernorts gegen das Böse anzukämpfen.
Kerstin Stutterheim
Literatur Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939; die Jahre der Vernichtung 1939–1945. Gesamtausgabe, München 2008. Evelyn Hampicke, Hanno Loewy, Juden ohne Maske. Vorläufige Bemerkungen zur Geschichte eines Kompilationsfilms, in: „Beseitigung des jüdischen Einflusses“. Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main, New York 1999, S. 255–276. Dorothea Hollstein, „Jud Süß“ und die Deutschen. Antisemitische Vorurteile im nationalsozialistischen Spielfilm, Frankfurt am Main 1983. Klaus Kreimeier, Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns, Frankfurt am Main 2002. Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum, Essen 1938. Lucie Varga, Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936–1939, hrsg. von Peter Schüttler, Frankfurt am Main 1990. Peter Zimmermann, Der ewige Jude, in: Peter Zimmermann, Kay Hoffmann (Hrsg.), Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, Stuttgart 2005, S. 559–565.
Nationalsozialistische Kunstpolitik Die NS-Kunstpolitik hatte drei Schwerpunkte: die Gleichschaltung aller Bereiche des künstlerischen Schaffens und der Kunstvermittlung, den Kampf gegen die „entartete“ Moderne und die Bereicherung an Kunstbesitz. Diese Bereiche griffen teilweise ineinander, sind aber doch klar zu unterscheiden. Am 7. April 1933 wurde das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen, das es gestattete, Beamte „nichtarischer Abstammung“ und solche, die „nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten“, zu entlassen. Bereits zuvor waren einzelne Vertreter der Moderne an Museen oder in Kunstschulen beurlaubt worden. Den Beurlaubungen folgten zahlreiche Entlassungen oder Zwangspensionierungen. In den Verbänden und Vereinen erfolgte die Gleichschaltung zunächst noch unkoordiniert. Erst mit der Gründung der
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Reichskulturkammer durch Joseph Goebbels im September 1933 war eine Organisation geschaffen, der sich das gesamte Kulturleben eingliedern musste. Jeder bildende Künstler und jeder Kunstvermittler musste Mitglied der „Reichskammer der bildenden Künste“ (RKbK) werden, um seinen Beruf ausüben zu können. Da die alten Verbände in corpore in die Kammer übernommen wurden, waren anfangs auch Juden als Mitglieder geduldet. Ab Mai 1936 wurde jedoch von den Mitgliedern ein „Ariernachweis“ verlangt. Ein Ausschluss aus der Reichskammer der bildenden Künste bedeutete Berufsverbot. Ab April 1935 mussten Ausstellungen und Kunstmessen von der Kammer genehmigt werden. Die Preußische Akademie der Künste forderte im Mai 1933 diejenigen Mitglieder, die 1931 durch den damaligen Kultusminister Grimme berufen worden waren, auf, sich Neuwahlen zu stellen. Die Betroffenen erklärten entweder ihren Austritt oder stellten die Entscheidung der Akademie anheim. Auch ein zweiter Versuch der „Säuberung“ der Akademie 1937 gelang trotz einiger Ausschlüsse nicht vollständig. Die „Arisierung“ jüdischer Kunst- oder Antiquitätenhandlungen und Auktionshäuser war 1937 weitgehend abgeschlossen. Es gab aber noch Ausnahmeregelungen für besonders devisenträchtige Unternehmen. Die jüdischen Kunsthändler und -kritiker galten in der NS-Propaganda als Verursacher des Verfalls in der Kunst, den sie angeblich durch ihre Tätigkeit gefördert hatten, um die deutsche Kunst zu „zersetzen“. Bereits im März 1933 wurde eine Auktion der Galerie Flechtheim in Düsseldorf von Mitgliedern des „Kampfbunds für deutsche Kultur“ gewaltsam unterbrochen. Meist waren es auch Kampfbund-Mitglieder, die 1933 in verschiedenen Städten die ersten Femeausstellungen organisierten, in denen die Ankäufe moderner Kunst des jeweiligen Museums diffamiert wurden. In den meisten Museen wurden schon in den ersten Monaten nach der Machtübernahme die Kunstwerke der Moderne deponiert. Aber vor allem 1933, jedoch auch noch in den folgenden zwei Jahren, gab es immer wieder Einzelpersonen oder Gruppen, die den Expressionismus als „deutsche, nordische“ Kunst verteidigten. Im November 1936 kündigte Erziehungsminister Bernhard Rust eine „Säuberung“ der Museen an, und Goebbels verbot die Kunstkritik, um an ihre Stelle den Kunstbericht zu setzen. 1937 wurde dann auf seine Veranlassung die zentrale Ausstellung → „Entartete Kunst“ in München veranstaltet. Es folgte die Beschlagnahme so gut wie aller Bestände moderner Kunst in den Museen. Damit sollte diese Kunst endgültig aus der deutschen Öffentlichkeit verschwinden. Am 31. Mai 1938 wurde das „Gesetz über Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst“ erlassen, durch das die mehr als 20.000 beschlagnahmten Werke in das Eigentum des Reiches übergingen. Was als nicht verkäuflich galt – etwa 5.000 Werke –, wurde am 20. März 1939 in Berlin verbrannt. Mit dem übrigen Bestand wollte man im Ausland Devisen erzielen oder „gute deutsche Kunst“ eintauschen. Am 30. Juni 1939 wurden in Luzern durch die Galerie Theodor Fischer 125 Spitzenwerke versteigert. Der Hauptteil der „Verwertung“ erfolgte jedoch durch die vier Kunsthändler Karl Buchholz und Ferdinand Möller in Berlin, Hildebrand Gurlitt in Hamburg und Bernhard A. Böhmer in Güstrow. Im Sommer 1941 wurde die Verwertungsaktion abgeschlossen. Die „Anordnung über minderwertige Kunsterzeugnisse“ vom 1. Oktober 1940 ermöglichte auch den Zugriff auf private Sammlungen moderner Kunst. Sie wurde aber aufgrund des Krieges nicht oder nur vereinzelt umgesetzt.
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Einige jüdische Sammler waren bereits seit dem Juden-Boykott vom 1. April 1933 genötigt, Teile ihrer Sammlungen abzustoßen, um ihr Leben fristen zu können. Durch verschiedene Maßnahmen wurden die Möglichkeiten, diese Sammlungen in den Besitz des Staates oder privater Profiteure gelangen zu lassen, ständig erhöht. Im April 1934 wurde der Freibetrag der Reichsfluchtsteuer drastisch gesenkt. Nach der „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938 wurde den Juden deutscher Staatsangehörigkeit eine „Sühneleistung“ für die dabei entstandenen Schäden auferlegt. Kurz darauf durften sie Schmuck und wertvolle Kunstgegenstände nur noch an staatliche Stellen verkaufen, und im Februar 1939 wurde daraus ein Zwangsverkauf. 1941 wurde die „Reichskammer der bildenden Künste“ zur Ankaufstelle für Kulturgut. Ende desselben Jahres wurde den im Ausland lebenden – emigrierten oder geflohenen – Juden die Staatsbürgerschaft aberkannt und ihr Vermögen eingezogen. Ab 1943 fiel auch das Vermögen ermordeter Juden grundsätzlich an den Staat. Zu den auf diese Weise erlangten Kunstwerken kamen diejenigen hinzu, die in den besetzten Gebieten geraubt wurden. Für die in Österreich meist ebenfalls aus jüdischen Sammlungen beschlagnahmten Kunstwerke sicherte sich Hitler im Juni 1938 durch den „Führervorbehalt“ die Entscheidungsgewalt. Das ermöglichte es dem Dresdner Museumsdirektor Hans Posse zunächst in Österreich und dann auch in allen besetzten Ländern, trotz der verschiedenen, auf dem Gebiet der Raubkunst konkurrierend tätigen Institutionen und Personen die bedeutendsten Kunstwerke im „Sonderauftrag Linz“ für das in dieser Stadt geplante „Führermuseum“ auszuwählen. Nach Posses Tod 1942 setzte Hermann Voss diese Tätigkeit fort. Am Kunstraub beteiligten sich vor allem die Wehrmacht, das Auswärtige Amt und der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR). Einer der wichtigsten Nutznießer war Hermann Göring, der die bedeutendste private Kunstsammlung aufbauen wollte. In den westlichen Ländern wurden noch Rechtsgeschäfte vorgetäuscht, auf die im Osten meist ganz verzichtet wurde. Die Folgen dieses groß angelegten Kunstraubs sind bis heute noch nicht bereinigt.
Andreas Hüneke
Literatur Hildegard Brenner, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Reinbek 1963. Jakob Kurz, Kunstraub in Europa 1938–1945, Hamburg 1989. Hans Christian Löhr, Das Braune Haus der Kunst. Hitler und der „Sonderauftrag Linz“, Berlin 2005. Hans Christian Löhr, Der eiserne Sammler. Die Kollektion Hermann Göring, Berlin 2009. Katharina Stengel (Hrsg.), Vor der Vernichtung. Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2007. Christoph Zuschlag, „Entartete Kunst“. Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland, Worms 1995.
Nationalsozialistische Literaturpolitik Nach der Machtübernahme der NSDAP setzte bereits im Februar 1933 auch auf dem Gebiet der Literatur ein Prozess der Gleichschaltung ein. Binnen weniger Wochen wurden vormals selbständige Berufsvertretungen von Schriftstellern, Verlegern, Buchhändlern und Bibliothekaren personell neu formiert und inhaltlich auf den NS-Staat
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ausgerichtet. Allerdings verlief diese Gleichschaltung in den betroffenen Berufsgruppen unterschiedlich ab, wurde jedoch in jedem Fall entscheidend begünstigt durch den Opportunismus und die bereitwillige Unterwerfung der nationalkonservativen Kräfte in den eigenen Reihen. Bei den drei bedeutendsten Schriftstellervereinigungen richteten sich die Maßnahmen der Gleichschaltung neben den politisch umstrittenen Berufskollegen insbesondere gegen die Juden. Während Alfred Döblin mit einem Brief vom 18. März 1933 unter Hinweis auf seine „jüdische Abstammung“ und die daraus sich ergebende „schwere Belastung für die Akademie“ seine Mitgliedschaft in der seit 1926 bestehenden „Sektion für Dichtung in der Preußischen Akademie der Künste“ von sich aus aufgab, teilte der Akademiepräsident Max von Schillings „nach an maßgebender amtlicher Stelle eingeholten Informationen“ Ludwig Fulda, Felix Mombert, Jakob Wassermann und Franz Werfel am 5. bzw. 8. Mai lakonisch mit, dass sie „nach den für die Neuordnung der kulturellen staatlichen Institute Preußens geltenden Grundsätzen künftig nicht mehr zu den Mitgliedern der Abteilung für Dichtung gezählt werden können“. Neuer Präsident der Sektion wurde Hanns Johst, der sich vom Expressionisten zum überzeugten Anhänger der NSDAP, Kampfbund-Aktivisten und Mitglied der SS gewandelt hatte. Die Spitze des deutschen PEN-Clubs war nach der Emigration Alfred Kerrs am 15. Februar 1933 verwaist. Der nationalkonservative Schriftsteller Walter Bloem, der im Dezember 1931 den Vorsitz aus Protest gegen die Solidarisierung des PEN-Clubs mit dem „Weltbühne“-Herausgeber Carl von Ossietzky niedergelegt hatte, stimmte die Maßnahmen zur Gleichschaltung mit Alfred Rosenbergs „Kampfbund für deutsche Kultur“ ab. In einem vertraulichen Gespräch mit Erich Kochanowski, der seit 1932 im Kampfbund als Geschäftsführer und Organisationsleiter der Landesleitung Berlin-Brandenburg eng mit dem Landesleiter Hans Hinkel kooperierte, plädierte Bloem am 27. März dafür, „die Säuberungsaktion schleunigst durchführen zu können“. Denn etwa ein Drittel der Mitglieder seien „eingeschriebene Kommunisten, sehr viele Juden“. Auch bei den Jahresversammlungen des internationalen PEN-Clubs sei Deutschland „bisher allein durch Juden und Pazifisten vertreten“ gewesen. Die Neuformierung des deutschen PEN-Zentrums erfolgte dann bis Ende April 1933, wobei die nationalkonservative Gruppierung von den Nationalsozialisten ausgebootet wurde, die mit Hinkel und Johst als Präsidenten bzw. Vizepräsidenten den Vorstand dominierten. Allerdings führten die Proteste des internationalen PEN gegen die politische Verfolgung von Schriftstellern und die Ausgrenzung jüdischer Berufskollegen im NS-Staat auf einer Sitzung des Exekutivkomitees am 18. November 1933 in London zum Austritt der deutschen Gruppe. Auch der 1909 gegründete „Schutzverband deutscher Schriftsteller“ (SDS) mit seinen mehr als 2.400 Mitgliedern wurde von innen heraus „gleichgeschaltet“. Am 10. März 1933 setzte die „Arbeitsgemeinschaft nationaler Schriftsteller“ in einem handstreichartigen Überfall 18 Kollegen aus dem Hauptvorstand ab. Der neue Vorstand aus nationalkonservativen und nationalsozialistischen Schriftstellern schloss sämtliche politisch „unerwünschten“ Berufskollegen aus dem SDS aus. Mit Götz Otto Stoffregen übernahm am 4. Mai ein Nationalsozialist die Führung des Verbands, der am 9. Juni zusammen mit dem „Verband deutscher Erzähler“, dem „Deutschen Schriftstellerverein“ und dem „Kartell lyrischer Autoren“ zum „Reichsverband Deutscher Schriftsteller“ (RDS) zusammengefasst
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wurde. In seiner neuen Satzung schrieb der RDS seinen Mitgliedern sowohl den Nachweis einer „deutsch-blütigen Abstammung“ als auch eines „politisch einwandfreien“ Verhaltens „im Sinne des neuen Staates“ vor. Im Gegensatz zu den Schriftstellervereinigungen änderte sich beim „Börsenverein der Deutschen Buchhändler“ zunächst nichts. Der Gesamtvorstand beschloss am 12. April 1933 ein „Sofortprogramm des deutschen Buchhandels“, das am 3. Mai im „Börsenblatt für den deutschen Buchhandel“ veröffentlicht wurde. Als Gegenleistung für die Erfüllung wirtschaftlicher Forderungen wurde in Punkt 10 eine willfährige Kooperation angeboten: „In der Judenfrage vertraut sich der Vorstand der Führung der Reichsregierung an. Ihre Anordnungen wird er für seinen Einflussbereich ohne Vorbehalte durchführen.“ Zudem veröffentlichte der Gesamtvorstand auf der Titelseite des „Börsenblatts“ vom 13. Mai 1933 eine Erklärung, die den Verlegern und Buchhändlern die weitere Verbreitung der Bücher von Lion Feuchtwanger, Arthur Holitscher, Alfred Kerr, Egon Erwin Kisch, Emil Ludwig, Kurt Tucholsky, Arnold Zweig und anderen prominenten Autoren untersagte, da sie „für das deutsche Ansehen als schädigend zu erachten sind“. Damit schloss sich der Börsenverein dem Werturteil der Deutschen Studentenschaft an, die im Rahmen der „Aktion wider den undeutschen Geist“ am 10. Mai 1933 in den meisten Hochschulstädten des Deutschen Reiches die Bücher vor allem jüdischer Schriftsteller und Publizisten verbrannt hatte. Die antidemokratische, antipazifistische und antisemitische Rede, die Joseph Goebbels als neuer Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda am 14. Mai 1933 auf dem traditionellen Kantate-Treffen im Leipziger Buchhändlerhaus hielt, wurde ebenfalls überaus positiv aufgenommen. Doch auch beim Börsenverein wurden die nationalkonservativen Kräfte letztlich in den Hintergrund gedrängt. Nachdem Friedrich Oldenbourg als Vorsteher Ende Mai 1934 abgesetzt worden war, trat im September 1934 mit dem erst 29jährigen Wilhelm Baur ein fanatischer Nationalsozialist an die Spitze der Standesvertretung, der als Zögling Max Amanns im Eher-Verlag groß geworden war. Unter ihm wurde die „Arisierung“ des deutschen Buchhandels ebenso skrupellos vorangetrieben wie die Monopolisierung im deutschen Verlagswesen zugunsten des Zentralverlags der NSDAP. Der „Verband Deutscher Volksbibliothekare“ (VDV) und der „Verein Deutscher Bibliothekare“ (VDB) liefen mit wehenden Fahnen zu den neuen Machthabern über, sodass in beiden Berufsvereinigungen keine nennenswerten personellen Veränderungen vorgenommen werden mussten und die Kooperation mit dem NS-Staat jederzeit reibungslos funktionierte. Auf der Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 wurden jüdische Bibliothekare sowohl aus den Öffentlichen als auch aus den Wissenschaftlichen Bibliotheken, den Staatsbibliotheken in Berlin und München sowie der Deutschen Bücherei in Leipzig entlassen. Im Rahmen der Neuausrichtung des Ausbildungswesens war neben der politischen Zuverlässigkeit der Nachweis der „arischen Abstammung“ für den Bewerber und dessen Ehepartner eine zentrale Voraussetzung. Die Mitglieder des RDS, des Börsenvereins und des VDV wurden Ende 1933 in die neu gegründete Reichsschrifttumskammer (RSK) übernommen. Juden wurden aufgrund eines fehlenden „Arierparagrafen“ zunächst noch in die Kammer aufgenommen. Die im Recht der Reichskulturkammer bestehende Gesetzeslücke wurde im Fe-
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bruar 1934 von Goebbels als Präsident der Reichskulturkammer mit einer Anweisung geschlossen, wonach Juden aufgrund fehlender „Zuverlässigkeit und Eignung“ gemäß § 10 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Reichskulturkammer-Gesetzes vom 1. November 1933 die Aufnahme in die Kammer zu verweigern war und die bereits aufgenommenen Mitglieder ausgeschlossen werden mussten. Von dieser Neuregelung waren bis 1935 allein in der Reichsschrifttumskammer 1.232 jüdische Schriftsteller betroffen. Hinzu kamen noch die „nichtarisch versippten“ Schriftsteller, die aufgrund ihres jüdischen Ehepartners 1937 entweder ausgeschlossen wurden oder nur mit einer „jederzeit widerruflichen Sondergenehmigung“ von Goebbels weiterarbeiten durften. Jüdische Angestellte im Verlagswesen und Buchhandel erhielten ebenfalls bis 1935 durch ihren Kammerausschluss ein Berufsverbot. Dagegen wurde über das Schicksal der Inhaber von Verlagen, Zwischen- und Sortimentsbuchhandlungen, Antiquariaten und Leihbüchereien fallweise entschieden. Der Ullstein Verlag, der bedeutendste Medienkonzern der Weimarer Republik, wurde 1934 zu einem Spottpreis vom Eher-Verlag übernommen. Der S. Fischer Verlag ging – durch Vermittlung der Schrifttumsabteilung des Propagandaministeriums und mit Genehmigung von Goebbels – 1936 an Peter Suhrkamp über. Der Verlag von Salman Schocken konnte noch bis zu seiner Schließung im Herbst 1938 jüdische Bücher für ein jüdisches Publikum veröffentlichen. Das differenzierte Vorgehen folgte einem rein ökonomischen Kalkül: Die RSK und das 1935 eingerichtete „Sonderreferat zur Überwachung und Beaufsichtigung der Betätigung aller im deutschen Reichsgebiet lebenden nichtarischen Staatsangehörigen auf künstlerischem und geistigem Gebiet“ unter der Leitung Hinkels achteten darauf, dass Arbeitsplätze für „Arier“ in einem jüdischen Unternehmen erhalten blieben, der Verlust größerer Steuereinnahmen im Inland vermieden und der Gewinn von Devisen durch den Export gesichert wurde. An der grundsätzlich antisemitischen Ausrichtung auch der Literaturpolitik des NS-Staates änderte dies jedoch nichts. Denn bis 1938/39 waren alle jüdischen Unternehmen des Buchhandels im Deutschen Reich ebenso wie in dem 1938 „angeschlossenen“ Österreich „arisiert“, liquidiert oder ghettoisiert. Wer sich von den auf dem Gebiet der Literatur engagierten Juden vor der Entrechtung und Verfolgung nicht durch die Emigration in Sicherheit bringen konnte, nahm sich das Leben oder wurde ab 1941/42 aus Deutschland deportiert und in den Vernichtungslagern ermordet. Letztlich war der Antisemitismus der einzige gemeinsame Nenner, auf den sich die Vielzahl der miteinander konkurrierenden staatlichen und parteiamtlichen Schrifttumsstellen immer wieder einigten.
Jan-Pieter Barbian
Literatur Jan-Pieter Barbian, Literaturpolitik im NS-Staat. Von der „Gleichschaltung“ bis zum Ruin, Frankfurt am Main 2010. Jan-Pieter Barbian, Die vollendete Ohnmacht? Schriftsteller, Verleger und Buchhändler im NS-Staat. Ausgewählte Aufsätze, Essen 2008. Hildegard Brenner, Ende einer bürgerlichen Kunst-Institution. Die politische Formierung der Preußischen Akademie der Künste ab 1933, Stuttgart 1972. Volker Dahm, Das jüdische Buch im Dritten Reich, München 1993.
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Rolf Düsterberg, Hanns Johst, „Der Barde der SS“. Karrieren eines deutschen Dichters, Paderborn u.a. 2004. Oron J. Hale, Presse in der Zwangsjacke 1933–1945, Düsseldorf 1965. Murray G. Hall, Der Paul Zsolnay Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil, Tübingen 1994.
Nationalsozialistische Musikpolitik Musikpolitik beschränkte sich in Deutschland und Österreich während des Kaiserreichs und der Monarchie auf die staatliche, städtische oder kommunale Subventionierung ausgewählter musikalischer Institutionen. Eine deklarierte Ausrichtung an innenund außenpolitischen Interessen lässt sich erst im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik bzw. der Ersten Republik erkennen. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurden musikpolitische Strategien entwickelt, deren Primat in der Funktionalisierung von Musik zugunsten staatspolitisch orientierter Zweck- und Zielsetzungen lag, was die Ausrichtung an antisemitischen Leitkriterien mit einschloss. Zwar fiel die Gestaltung der Musikpolitik nach 1933 aufgrund eines veritablen Konkurrenz- und Kompetenzgerangels zwischen zahlreichen staatlichen und parteiamtlichen Stellen um Einflussnahme auf die Organisation des Musikbereichs mitunter widersprüchlich aus: Schon die Frage, welche Musik denn welche gesellschaftliche Aufmerksamkeit verdiene, erwies sich als strittig. Doch dass die Musikpraxis ausschließlich an staatspolitischen Gesichtspunkten ausgerichtet werden solle, darüber herrschte sowohl auf Ministerebene, von Joseph Goebbels über Alfred Rosenberg bis zu Robert Ley und Hermann Göring (als den wichtigsten musikpolitischen Akteuren), als auch bei der Ministerialbürokratie (etwa dem Leiter der Musikabteilung im „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ [RMVP], Heinz Drewes) und lokalen Kulturfunktionären ungeteilte Zustimmung. 1944 fasste der HJ-Musikerzieher und Kulturfunktionär Wolfgang Stumme die Musikpolitik im Nationalsozialismus, die vergangenen zehn Jahre überblickend, als „Einsatz der Musik als volksbildende und staatserhaltende Lebensmacht und Förderung des Schutzes und vor allem des Wachstums der deutschen Tonkunst als blutgebundenseelischer Ausdrucksform und demgemäß als eines Mittels höherer Erkenntnis und höherer Entwicklung unserer Rasse“ zusammen. Die Entfernung von Musik jüdischer Komponisten aus dem Konzert- und Opernrepertoire nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 beruhte allerdings noch nicht auf gesetzlichen Bestimmungen. In erster Linie war dies den selbstanpassenden Reaktionen der Konzert- und Musiktheaterinstitutionen auf die durch den Reichsdramaturgen Rainer Schlösser kommunizierten neuen Richtlinien oder aber den anhaltenden Repressionen des Alfred Rosenberg unterstellten „Kampfbundes für deutsche Kultur“ geschuldet. Außerdem erhöhten hetzerische Artikel der Tagespresse und der Fachpublizistik den Druck auf eine Aussperrung der Werke jüdischer Komponisten aus den Programmen der deutschen Konzert- und Opernhäuser zusätzlich. 1935 ließ Goebbels eine 108 fast ausschließlich jüdische Komponisten umfassende Liste mit dem Betreff „Keinesfalls erlaubte musikalische Werke“ an die zuständigen Dienststellen verteilen, während Peter Raabe als Präsident der „Reichsmusikkammer“ ab Ende 1937 weitere Anordnungen
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„über unerwünschte und schädliche Musik“ verfügte. Dennoch waren bereits die wenigen Versuche vor 1935 bzw. 1937, weiterhin Musik etwa von Mendelssohn-Bartholdy im Spielplan zu führen, von gewalttätigen Protesten begleitet, und in seltenen Fällen waren sie auch mit ein Grund für die Entlassung verantwortlicher Musik- und Musiktheaterdirektoren. Auch die mit Jazzrhythmen angereicherten Operetten der 1920er-Jahre waren ab 1933 als „typisch jüdisch“ stigmatisiert und verschwanden darum umgehend von den Spielplänen der deutschen Bühnen: Das traditionell aktualitätskarikierende, frivole Genre wurde nach 1933 zum quasi-erhabenen „Singspiel“ aufgewertet (Kevin Clarke), ähnlich dem als „Niggerjazz“ rassistisch abgewerteten Swing, der in rhythmisch abgeschliffener Form Eingang in die nationalsozialistische Unterhaltungsindustrie fand. Die systemkonforme Beflissenheit einzelner Protagonisten radikalisierte mitunter die Musikpolitik ohne das Zutun staatlicher Stellen. So erlaubte die Reichsmusikkammer ausdrücklich die Aufführung von Händel-Oratorien in ihrer Originalfassung, die zumeist alttestamentlichen Inhalts war und die biblische Geschichte der Juden dementsprechend positiv und heldenhaft erzählte. Verschiedene Musikwissenschaftler, Dirigenten und Librettisten betrieben jedoch Bearbeitungen, in denen die jüdische Erzählung neutralisiert wurde: Das Oratorium „Judas Maccabäus“ etwa wurde 1939 als „Der Feldherr“ aufgeführt, die darin vorkommenden „Israeliten“ wurden in „das Volk“ umbenannt und aus „Israel in Egypt“ wurde 1944 der „Opfersieg von Walstatt“. Der Anspruch auf staatliche Kontrolle des Musikbetriebs erforderte die Installation entsprechender Steuerungswerkzeuge. Die Joseph Goebbels unterstellte „Reichskulturkammer“ (RKK) bzw. die ihr angegliederte „Reichsmusikkammer“ (RMK) diente als Selektionsinstrument. Trotz des Umstands, dass die RMK für die Aufnahme von Musikern zunächst noch keinen offiziellen „Arierparagrafen“ installiert hatte, verstärkte sich der politische Druck auf jüdische Musiker und Musikerinnen (Komponisten und Komponistinnen mit eingeschlossen) massiv; zunächst in Form von wüsten Boykott- und Störungsaktionen von und bei Konzerten, ab April 1933 dann im Falle der vom Staat angestellten Musiker bereits durch Kündigungen aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und ab 1934 im systematischen Ausschluss aus der RMK. Für jüdische Musiker in Österreich bedeutete dies, dass sie 1938 nicht mehr in die RMK aufgenommen wurden und somit unmittelbar nach dem „Anschluss“ ihren Beruf aufgeben mussten. Bis 1941 existierte für jüdische Musiker über die Institution des „Jüdischen Kulturbundes“ (zuerst „Kulturbund Deutscher Juden“) zwar in gewisser Weise weiterhin eine Möglichkeit zur Berufsausübung (so unterhielt der Kulturbund etwa in Berlin ein eigenes Orchester), die jedoch von einer allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung völlig ausgegrenzt, vom Propagandaministerium zensuriert und von der Gestapo bespitzelt wurde. Betroffen waren davon mindestens 8.000 jüdische Musikerinnen und Musiker (Schätzung von Fred K. Prieberg, die von der neuesten Forschung weitgehend bestätigt bzw. leicht nach oben korrigiert wird), von denen nur gut die Hälfte emigrieren konnten; etwa 2.300 wurden deportiert (und großteils ermordet) und in den Konzentrationslagern mitunter zur Partizipation an der von Zynismus geprägten musikalischen Gestaltung des Lageralltags gezwungen.
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Musikalische Praxis folgte im Nationalsozialismus somit der auf „rassischen“ Grundlagen basierenden „Volkstumspolitik“ und löste sich in der „Volksgemeinschaft“ auf. „Wie jede andere Kunst“, schrieb Joseph Goebbels in seinen „Zehn Grundsätzen deutschen Musikschaffens“ 1938, entspringe die Musik „geheimnisvollen und tiefen Kräften, die im Volkstum verwurzelt sind.“ Unmissverständlich wird deutlich, was „Volkstum“ meint: „Judentum und deutsche Musik, das sind Gegensätze, die ihrer Natur nach in schroffstem Widerspruch zueinander stehen.“ Mit Bezugnahme auf Richard Wagner und dessen antisemitisches Pamphlet „Das Judentum in der Musik“ funktionalisierte Goebbels antisemitische Parolen zum Vehikel der Musikpolitik: „Der Kampf gegen das Judentum in der deutschen Musik, den Richard Wagner einmal, einsam und nur auf sich allein gestellt, aufgenommen hat, ist deshalb heute noch unsere große, niemals preiszugebende Zeitaufgabe, die allerdings jetzt nicht mehr von einem Wissenden und genialen Außenseiter allein betrieben, sondern von einem ganzen Volke durchgeführt wird.“ (Amtliche Mitteilungen der Reichsmusikkammer vom 1. Juni 1938) Die Vermengung von rassepolitischer Doktrin und musikpolitischen Postulaten ist paradigmatisch für den Nationalsozialismus. Lieferte schon das System der „Reichskulturkammer“ ein Instrument zur „kulturellen Eugenik“ (Alain E. Steinweis), die entlang der Einteilung in „Gesundes“ und „Krankes“ operierte, so fanden diese Zuschreibungen in ausgesprochener Form sowohl in Reden und Schriften von Politikern und kulturpolitischen Funktionären als auch in der Fachpublizistik und im Tagesjournalismus Verbreitung. An der Verwendung des ab 1933 nicht nur parteiamtlich, sondern auch staatlich sanktionierten Ausgrenzungsterminus der „entarteten Musik“ etwa kommt dies ebenso klar zum Ausdruck wie an der verbreiteten Rede des auf die 1920er-Jahre zurückgehenden Begriffs des „Musikbolschewismus“, der in der Frühphase der nationalsozialistischen Herrschaft zu einem musikpolitischen „Selektionsprinzip“ (Eckhard John) wurde. Besonders deutlich sichtbar wird die Korrelation rasse- und musikpolitischer Strategien außerdem anhand des „Lexikons der Juden in der Musik“. In die Kooperation der beiden sich gewöhnlich befehdenden Institutionen der Musikabteilung des RMVP auf der einen und Rosenbergs „Hauptstelle Musik“ auf der anderen Seite fügte sich für die Entstehung des Lexikons auch die „Reichsstelle für Sippenforschung“ ein, die mit Musik ansonsten nichts zu tun hatte. Zynisch sprachen die Herausgeber Herbert Gerigk und Theo Stengel im Vorwort 1940 von der „Reinigung“ des „Musiklebens von allen jüdischen Elementen“, die nun „erfolgt“ sei. Nicht nur Instrumentalmusiker, Sänger und Komponisten aus Vergangenheit und Gegenwart waren darin aufgeführt, sondern auch Librettisten wie Lorenzo Da Ponte, auf dessen Texten Mozarts späte Opern „Don Giovanni“, „Figaro“ und „Così fan tutte“ beruhten. Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig fehlt darin zwar, aber seine Tätigkeit als Librettist für Richard Strauss wurde ebenso geahndet und führte 1935 durch einen von der Gestapo entdeckten Briefwechsel zwischen den beiden zum erzwungenen Rücktritt von Strauss als Präsident der RMK. Die Affäre ist jener um Wilhelm Furtwängler nicht ganz unähnlich: Der Dirigent ließ sich zunächst als Vizepräsident der RMK verpflichten, bis er Ende 1934 von seinem Amt zurücktreten musste, weil er sich in einem öffentlichen Schreiben für die Uraufführung der Sinfonie „Mathis der Maler“ Paul Hindemiths eingesetzt hatte. Sowohl Strauss wie Furtwängler
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blieben aber in Deutschland und setzten ihre Karrieren ungestört fort und wurden später sogar auf die „Gottbegnadetenliste“ gesetzt. Gerigk hetzte mit der von ihm geführten „Hauptstelle Musik“ im Amt Rosenberg nicht nur auf publizistischem Weg gegen jüdische Musiker, sondern verfolgte zudem auch auf materieller Ebene eine aggressiv-antisemitische Musikpolitik – ablesbar ist dies vor allem an den von ihm maßgeblich geleiteten Plünderungen von musikalischen Besitztümern deportierter und ermordeter Juden. In der Musikpolitik verzahnten sich im Nationalsozialismus sämtliche staats- und parteipolitische Bereiche, sodass sie nicht länger als „Politik für die Musik“ zu verstehen ist, sondern in „Politik mittels Musik“ umgedeutet werden muss.
Fritz Trümpi
Literatur Kevin Clarke, Gefährliches Gift. Die ‚authentische‘ Operette – und was aus ihr nach 1933 wurde, in: Albrecht Dümling (Hrsg.), Das verdächtige Saxophon. „Entartete Musik“ im NS-Staat – Dokumentation und Kommentar, Neuss 20074, S. 53–69. Guido Fackler, „Das Lagers Stimme“ – Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936. Mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/Mediographie, Bremen 2000. Friedrich Geiger, Die „Goebbels-Liste“ vom 1. September 1935. Eine Quelle zur Komponistenverfolgung im NS-Staat, in: Archiv für Musikwissenschaft 59 (2002) 2, S. 104–112. Lily E. Hirsch, A Jewish Orchestra in Nazi Germany. Musical Politics and the Berlin Jewish Culture Leage, Michigan 20134. Eckhard John, Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918– 1938, Stuttgart 1994. Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt am Main 1982. Alan E. Steinweis, Cultural Eugenics: Social Policy, Economic Reform, and the Purge of Jews from German Cultural Life, in: Glenn R. Cuomo, National Socialist Cultural Policy, Basingstoke/London 1995, S. 23–37. Fritz Trümpi, Politisierte Orchester. Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmonische Orchester im Nationalsozialismus, Wien u. a. 2011. Willem de Vries, Sonderstab Musik. Music Confiscations by the Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg under the Nazi Occupation of Western Europe, Amsterdam 1996. Eva Weissweiler, Ausgemerzt! Das Lexikon der Juden in der Musik und seine mörderischen Folgen, Köln 1999.
The new inquisition (Buch von Konrad Heiden, 1939) → Der Pogrom Nicht schuldig? (Dokumentarfilm von Max Ophüls, 1978) → The Memory of Justice Nichts mehr im Griff → Tatort
Nie-Boska Komedia (Drama von Zygmunt Krasiński, 1835) Das Drama „Nie-Boska Komedia“ [Un-Göttliche Komödie] gehört zu den wichtigsten literarischen Werken der polnischen Romantik. Krasiński versuchte darin, die „polnische Frage“ in einer welthistorischen Pespektive zu verorten. „Ich habe ein Drama geschrieben, das von unserem Jahrhundert und von dem Kampf zwischen zwei Prinzi-
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pien – dem Prinzip der Aristokratie und dem Prinzip der Demokratie – handelt […]. Es ist die Verteidigung dessen, was heute von vielen angegriffen wird – der Religion und des Ruhms der Vergangenheit“ – so beschrieb Krasiński die Haupidee des Dramas in einem Brief an Konstanty Gaszyński (21. November 1833). Den intellektuellen Hintergrund von „Nie-Boska Komedia“ bildet eine konservative Variante des polnischen romantischen Messianismus. Sie trägt jedoch im Falle dieses Werkes katastrophische und pessimistische Züge. Krasiński stellte in der „Nie-Boska Komedia“ eine soziale Welt vor, in der alle Institutionen und Werte durch eine revolutionäre Erhebung der Volksmassen zerstört wurden. Diese Revolution ähnelt zwar der Französischen Revolution, erfasst jedoch die ganze Welt. Eine kleine Gruppe polnischer Adliger versucht, in dieser ausweglosen Situation noch Widerstand zu leisten. In diesem Kontext stellt Krasiński den Führer der Adligen (Graf Henryk) dem Führer der Revolutionären (Pankracy) gegenüber. Der Erste von ihnen verkörpert die höchsten Ideale des Adels, der zweite die demokratischen Ideen der Französischen Revolution, die nach der Überzeugung von Krasiński schließlich zu kommunistischen Folgen in der gesellschaftlichen Welt führen müssen. Krasiński beschrieb zwar in seinem Drama die Realität der Ausbeutung der Volksklassen sowohl durch die feudalen Adeligen wie auch die industriellen Kapitalisten, bestritt jedoch die Möglichkeit einer ethischen Legitimierung der Revolution. In einem Akt der revolutionären Erhebung führe das begründete Ressentiment der Volksmassen zur totalen Negation der christlichen Ethik, der Zerschlagung der Institution der katholischen Kirche und der Hierarchie der Klassengesellschaft, was für Krasiński den Zerfall der ganzen Ordnung der sozialen Welt bedeutete. Ihm zufolge verwandeln sich die gesellschaftlichen Beziehungen in einen orgiastischen Zustand der anarchischen Gewalt und der sexuellen Ausschweifung. In diesem Zusammenhang stellt Krasiński in seinem Drama die Gruppe jüdischer Neophyten dar. Während einerseits die Adligen eine schwache und demoralisierte Gruppe darstellen (der Hauptprotagonist des Dramas, Graf Henryk, erscheint deshalb als ein einsamer romantischer Held) und der revolutionäre Mob andererseits zu keiner konstruktiven Tätigkeit fähig sei, sind die Neophyten gut organisiert und wollen den Zustand der Revolution zur Errichtung ihrer eigenen Herrschaft nutzen. Diese verschwörerischen Ziele rühren aus ihrer jüdischen Natur, die in der antichristlichen Ethik des Talmuds ihren Ausdruck finde. Am Ende des Dramas äußert Krasiński seinen Glauben an die Möglichkeit einer göttlichen Intervention in diesen Gang der geschichtlichen Ereignisse. Er war jedoch davon überzeugt, dass seine Gegenwart eine Zeit der Krise sei und erst nach einer Periode der sozialen Katastrophen eine in ethischer Hinsicht höhere Welt und schließlich das Königtum Gottes auf der Erde entstehe. Dabei bezog er sich u. a. auf die Ideen des polnischen Messianismus wie auch (kritisch) auf die radikaldemokratische Ideologie eines Teils der polnischen Emigration nach dem zerschlagenen Novemberaufstand 1830 und die seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts heftig geführten Debatten um die Emanzipation der Juden im Königreich Polen. Die antisemitische Komponente von „Nie-Boska Komedia“ widerspiegelt die oft geäußerten Ängste des polnischen Adels vor der rechtlichen Gleichstellung der Juden. Krasiński kannte sie aus seiner engsten familiären Umgebung, da sein Vater (Wincenty Krasiński) im Jahr 1818 mit
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einer antisemitischen Schrift „Aperçu sur les Juifs de Pologne“ sich aktiv an dieser Debatte beteiligt hatte. Das Drama des jungen Dichters wurde in Paris veröffentlicht (1835), bald folgten eine deutsche und französische Übersetzung. Adam Mickiewicz äußerte in seinen Vorlesungen über die slawische Literatur am „College de France“ (1842–1843) seine tiefe Bewunderung für den künstlerischen und philosophischen Wert von „Nie-Boska Komedia“, kritisierte jedoch in scharfen Worten („crime national“) die Darstellung der Juden in diesem Werk.
Piotr Kendziorek
Literatur Bogdan Burdziej, Halkiewicz-Sojak Stanisław (Hrsg.), Zygmunt Krasiński – nowe spojrzenia [Zygmunt Krasiński – neue Ansichten], Toruń 2001. Maria Janion, Bohater, spisek, śmierć. Wykłady żydowskie [Held, Verschwörung, Tod. Jüdische Vorlesungen], Warszawa 2009. Anna Kowalczykowa, Poglądy filozoficzne Zygmunta Krasińskiego [Zygmunt Krasińskis philosophische Ansichten], in: Polska myśl filozoficzna i społeczna, t. 1 [Polnisches philosophisches und soziales Denken, Band 1], Warszawa 1973, S. 306–347.
Noc a nadĕje (Buch von Arnošt Lustig, 1957) → Transport z ráje
Norwegische Kriminalliteratur Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern war der Antisemitismus in Norwegen ein überwiegend latent existierendes Phänomen, das insbesondere in der Populärkultur und in der dazu zählenden Kriminalliteratur zum Ausdruck kam. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten norwegischen Kriminalerzählungen, und im Verlauf der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Kriminalliteratur zu einem eigenen literarischen Genre in Norwegen, dessen Glanzzeit die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen waren. Einer ihrer bekanntesten Autoren war der Journalist Sven Elvestad, dessen Kriminalerzählungen unter dem Pseudonym Stein Riverton erschienen. Seine erste Kriminalnovelle erschien anonym bereits 1902, und er leistete in der Folgezeit einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der norwegischen Kriminalliteratur. Deren gängigste Erscheinungsformen in dieser Periode waren Zeitungsfeuilletons, Beilagehefte, Extrablätter und Heftromane, die vor allem am Kiosk erhältlich waren. Nur wenige dieser Erzählungen wurden später in Buchform herausgegeben. Zeithistorische Entwicklungen und Ereignisse wie der europäische Imperialismus und Kolonialismus, die industrielle Revolution, die erstarkende Arbeiterbewegung und die damit verbundenen Klassenkämpfe, der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution spielten in der norwegischen Trivial- und Kriminalliteratur eine zentrale Rolle und spiegelten sich in der Handlung wider. Dies trifft auch auf rassistische und antisemitische Stereotype zu, die – obwohl Juden nur einen minimalen Anteil in der norwegischen Bevölkerung ausmachten –, in der Kriminalliteratur seit dem frühen 20. Jahrhundert wiederkehrten. Juden traten vor allem als verarmte, heruntergekommene und halbkriminelle Pfandleiher und Schrotthändler auf, die nur gebrochen Norwegisch
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sprachen und so das „Fremde“ und „Andere“ in der norwegischen Gesellschaft verkörperten. Ein frühes Beispiel ist der Kriminalroman des Journalisten Thorvald Bogsrud „En norsk amatørdetektivs eventyr. Paa jagt efter sexti tusen“ [Das Abenteuer eines norwegischen Amateurdetektivs. Auf der Jagd nach 60.000 (Kronen), Kristiania/Oslo 1900], der teilweise im „Judenviertel“ in Berlin-Mitte spielt. Hier wird unter anderem der vermeintlich wachsende Einfluss der Juden thematisiert. Auch bei anderen Autoren wie Stein Riverton sowie in den Detektivmagazinen von Øyvind Hogstad, Øyulv Gran und Sverre Vegenor finden sich antisemitische Stereotype. Bei keinem dieser Autoren nahmen antisemitische und insbesondere rassistische Motive jedoch einen so zentralen Platz ein wie in den Romanen von Øvre Richter Frich mit dem „blonden Hünen“ Jonas Fjeld als Hauptfigur, die von 1911 bis 1935 mit großem Erfolg erschienen. Fjeld wird als Sinnbild des „arischen Übermenschen“ dargestellt; bei seinen ihm weit unterlegenen Gegnern handelt es sich in erster Linie um Bolschewisten, Juden, Südamerikaner, Afrikaner oder andere „niedrigerstehende Rassen“. Aufgrund seines vulgären Rassismus wird Frich, einer der meistgelesenen Autoren norwegischer Spannungsliteratur in der Zwischenkriegszeit, von dem norwegischen Literaturwissenschaftler Willy Dahl als „der selbsterklärte Rassist und Gewaltromantiker der norwegischen Trivialliteratur“ bezeichnet. Christopher Hals Gylseth vertritt hingegen in seiner Biografie über Frich die Ansicht, dass dieser zwar Rassist gewesen sei, jedoch lediglich allgemein akzeptierte Auffassungen der damaligen Zeit repräsentiert habe. Eine Sonderstellung nahm der Polizeijurist und Autor Jonas Lie ein, der unter dem Pseudonym Max Mauser zwischen 1932 und 1939 fünf Kriminalromane veröffentlichte, die ebenfalls zu den erfolgreichsten dieses Genres in der norwegischen Zwischenkriegszeit zählten. Während der deutschen Okkupation Norwegens war er von 1940 bis 1945 Polizeiminister in der norwegischen Kollaborationsregierung. Ab 1941 war er zudem Chef der Germanischen SS Norwegen (Germanske SS Norge, GSSN). In seinen Kriminalromanen kommt Antisemitismus verglichen mit anderen zeitgenössischen Autoren jedoch kaum zum Tragen. Von 1940 bis 1945 erschienen nur vereinzelt Kriminalromane mit antisemitischen Motiven in Norwegen. Beispiele sind Gerhard Severuds Erzählung „Revolusjon i Bergen“ [Revolution in Bergen] von 1943, publiziert unter dem Pseudonym Ivan Sebastopol, bei dem es sich um eine überarbeitete Fassung seines 1929 erschienenen „Sovjetstaten Bergen“ [Der Sowjetstaat Bergen] handelt, und Johan Wolls „Ånden i krukken“ [Der Geist im Krug] von 1941. Das Ende des Zweiten Weltkrieges führte nicht nur zu einer Themenverschiebung, sondern bedeutete auch das vorläufige Ende der Hochkonjunktur der norwegischen Kriminalliteratur.
Nicola Karcher
Literatur Bjørn Carling, Norsk kriminallitteratur gjennom 150 år [150 Jahre norwegische Kriminalliteratur], Oslo 1976. Willy Dahl, „Dårlig“ lesning under parafinlampen. Studier over kjøkkenromaner og populærlitteratur som litteraturhistorien har oversett [„Schlechter“ Lesestoff unter der Parafin-
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lampe. Studien zu Groschenromanen und Trivialliteratur, die die Literaturgeschichte übersehen hat], Oslo 1974. Willy Dahl, Blå briller og løsskjegg i Kristiania. Om kriminal- og spenningsromaner fra tida omkring første verdenskrig [Blaue Brillen und falsche Bärte in Kristiania. Zu Kriminalund Spannungsromanen seit der Zeit um den Ersten Weltkrieg], Oslo 1975. Willy Dahl, Dødens fortellere. Den norske kriminal- og spenningslitteraturens historie [Erzähler des Todes. Die Geschichte der norwegischen Kriminal- und Spannungsliteratur], Bergen 1993. Willy Dahl, Rasisme i masselitteraturen [Rassismus in der Massenliteratur], in: Bjarte Birkeland, Atle Kittang, Stein Ugelvik Larsen, Leif Longum (Hrsg.), Nazismen og norsk litteratur [Nazismus und norwegische Literatur], Oslo 1995, S. 80–88. Christopher Hals Gylseth, ... seg selv til det ytterste. Øvre Richter Frich og hans forfatterskap [… sich selbst bis zum Äußersten. Øvre Richter Frich und seine Autorenschaft], Oslo 1997. Ragnhild Henden, Tidlig norsk kriminallitteratur og det antisemittiske arkiv [Frühe norwegische Kriminalliteratur und das antisemitische Archiv], in: Vibeke Moe, Øivind Kopperud (Hrsg.), Forestillinger om jøder – aspekter ved konstruksjonen av en minoritet 1814– 1940 [Vorstellungen zu Juden – Aspekte bei der Konstruktion von einer Minderheit 1814–1940], Oslo 2011, S. 65–108. Bernt Rougthvedt, Riverton. Sven Elvestad og hans samtid [Riverton. Sven Elvestad und seine Zeit], Oslo 2007.
Nürnberger Simon-Gedicht (15. Jahrhundert) Der den Trienter Juden unterstellte Ritualmord am Knaben Simon kann nicht nur als lokales Ereignis betrachtet werden, welches der Trienter Bischof Johannes Hinderbach zur Etablierung einer einträglichen Wallfahrt initiierte oder besser: inszenierte. Vielmehr stellt es eine im 15. Jahrhundert einzigartige, gegen die Juden gerichtete Propagandaoffensive in Latein und Volkssprache dar. Von daher kann es nicht verwundern, dass diese publizistische Offensive zugunsten des neuen Trienter Heiligen auch die bedeutende Reichsstadt Nürnberg erfasste, die in der Inkunabelzeit nicht nur ein publizistisches Zentrum mit reichsweiter Ausstrahlung darstellte, sondern seitens der offiziellen Ratspolitik auch konsequent die Austreibung ihrer jüdischen Mitbürger betrieb. In diesen Kontext passt gut der Einblattdruck (wohl schon bald nach dem vermeintlichen Mord der Trienter Juden an Simon 1475 entstanden), der neben einem erklärenden (zeitüblichen) Reimpaartext mit der Geschichte des Simon als Holzschnitt diesen Kinderheiligen aufgebahrt und mit Wunden übersät zeigt. Die vermeintlichen Marterwerkzeuge sind effektvoll in Analogie zu den „Arma Christi“ um das tote Kind drapiert. Ins Auge fallen ein Messer sowie eine Schüssel zum Auffangen des Märtyrerbluts, ebenso der um den Hals geschlungene Schal, der suggeriert, wie des Kind am Schreien gehindert worden sein soll. Auf den blühenden Simon-Kult weisen die darüber hinaus abgebildete Darstellung von Pilgern und Votivgaben hin, welche die Wundertätigkeit des neuen Heiligen suggerieren sollen. Obwohl kein Hinweis auf die vermeintlichen jüdischen Täter auf dem Bild gegeben wird, ist die Geschichte wohl nur allzu bekannt gewesen, zumal der beigegebene Reimpaartext an Klarheit bezüglich der vermeintlichen Untaten der Juden in Trient an Deutlichkeit nichts zu wün-
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schen offenlässt. Besonders perfide ist die dortige Schilderung von Simons Martyrium in Analogie zur Passion Christi, was vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit, insbesondere in Form der weitverbreiteten → Passionsspiele, vom christlichen Publikum recht klar verstanden werden konnte. Schließlich wird Simon im Reimpaartext gar noch als Nothelfer gegen die vermeintliche jüdische Bosheit angerufen. Die Rezeption dieses Nürnberger Einblattdrucks ist einerseits im Überlieferungsverbund mit weiterer antijudaistischer Literatur denkbar, andererseits aber auch für sich genommen, indem der Druck als Andachtsbild an die Wand geheftet wurde, wobei auch analphabete Kreise durch die eindeutige Botschaft der Bilder angesprochen werden konnten. Vor dem Hintergrund dieses Nürnberger Pamphlets kann es nicht verwundern, dass Simon von Trient sogar in der populären Weltchronik des Nürnbergers Hartmann Schedel (1493) in Wort und Bild popularisiert wurde, zumal es im ausgehenden 15. Jahrhundert offizielle städtische Politik war, die Juden aus der Stadt zu vertreiben. In diesem Kontext durfte der Einblattdrucker des Simon-Gedichts ebenso auf das Wohlwollen des patrizisch dominierten Rats zählen wie der Nürnberger Dichter Hans Folz mit seinen judenfeindlichen Werken (→ Hans Folz-Dichtung). So fügt sich das Nürnberger Simon-Gedicht vorzüglich in die antijudaistische Publizistik des spätmittelalterlichen Nürnbergs.
Klaus Wolf
Literatur Petra Schöner, Judenbilder im deutschen Einblattdruck der Renaissance. Ein Beitrag zur Imagologie, Baden-Baden 2002. Nicole Spengler, Das er in sijm leiden gheglicht ist der marter vnsers herren. Legendenbildung um Simon von Trient. Ein Ritualmordkonstrukt, in: Ursula Schulze (Hrsg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen, Tübingen 2002, S. 211–231. Wolfgang Treue, Der Trienter Judenprozeß. Voraussetzungen – Abläufe – Auswirkungen (1475–1588), Hannover 1996. Franz Josef Worstbrock, ‚Simon von Trient‘, in: Kurt Ruh, Burghart Wachinger [u. a.] (Hrsg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Band 8, Berlin, New York 1992², Sp. 1260–1275.
Nuit et Brouillard (Film von Alain Resnais, 1955) Der 1955 entstandene halbstündige Film „Nuit et Brouillard“ [Nacht und Nebel] zählt zu den wichtigsten frühen Dokumentationen über die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager. Dem Film gingen sowohl ein Buch als auch eine Ausstellung zum Thema voraus, die von den Historikern Olga Wormser-Migot und Henri Michel im Auftrag der beiden Organisationen „Réseau du souvenir“ und „Comité d’histoire de la Deuxième Guerre mondiale“ erarbeitet worden waren. Beide Institutionen, zu deren Aufgaben die Zusammenstellung von Dokumenten und die Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten zur Besatzungszeit sowie die öffentliche Erinnerung an die Deportationen in die Konzentrationslager zählten, vereinbarten mit der Firma „Argos Films“ die Pro-
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duktion eines künstlerischen Dokumentarfilms. Als Regisseur ließ sich Alain Resnais gewinnen, der unter der Bedingung einwilligte, dass der Schriftsteller Jean Cayrol, Überlebender des KZ Mauthausen, den Kommentar verfasste. Olga Wormser trat zusammen mit Henri Michel als historische Beraterin auf, beide arbeiteten am Drehbuch mit und nahmen an den Dreharbeiten teil. Die Filmmusik komponierte Hanns Eisler. Der Film gliedert sich in eine Einführung, der fünf Abschnitte folgen, in denen die Errichtung der Konzentrationslager, die Deportationen, Einlieferung und Stigmatisierung, die Lagerhierarchie, die Lebensverhältnisse, der Terror und die Zwangsarbeit, die medizinischen Experimente und schließlich der Bau von Gaskammern, die Selektionen, Ermordung und Verwertung der Leichen thematisiert werden, und einen Schlussteil mit der Frage nach der Bedeutung des Dargestellten für die Zuschauer. Was „Nuit et Brouillard“ gegenüber früheren Dokumentationen zum KZ-System (→ „Todesmühlen“) vor allem auszeichnet, ist Resnais’ Idee, zeitgenössische Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit Farbaufnahmen zu kontrastieren, die er im Herbst 1955 in den ehemaligen Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau und Majdanek drehte, d. h. den Blick auf die Vergangenheit durch eine Gegenwartsebene zu ergänzen und einzurahmen. Charakteristisch für die Farbsequenzen des Films ist die langsame Kamerafahrt durch das Lager, die einer abtastenden Suche nach Spuren der Vergangenheit in den menschenleeren, allmählich verfallenen und überwucherten Relikten gleichkommt. Die Farbbilder werden von Resnais im Laufe des Films auch dort eingesetzt, wo ihm Originalmaterial fehlte, etwa in den Abschnitten zum Barackenleben und dem Mord in den Gaskammern. In der schwarz-weiß gehaltenen Vergangenheitsebene verband der Regisseur Fotos und Bildmaterial aus französischen, niederländischen und polnischen Archiven und den Museen in Majdanek und Auschwitz mit Filmaufnahmen der Alliierten nach der Befreiung der Lager als auch Ausschnitten aus Leni Riefenstahls → „Triumph des Willens“ (1935) und Wanda Jakubowskas „Die letzte Etappe“ (1948). Auch Resnais verzichtete nicht auf die gezielte Integration und Aneinanderreihung schockierender Bilder, die etwa in der Mitte des Films beginnt und im letzten Drittel eine Steigerung erfährt. Der bildlichen Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart folgt auch Cayrols poetischer und eindringlicher Kommentar, der darüber hinaus durch Auslassungen die Grenzen der Sagbarkeit problematisiert. Inhaltlich knüpft er sowohl an die Arbeiten der beiden Historiker Michel und Wormser an als auch an sein eigenes literarisches Werk, das sehr wahrscheinlich für den gewählten Titel des Films ausschlaggebend war. Resnais verfolgte mit seinem Film die Absicht, nicht nur das historische Geschehen informativ darzustellen, sondern zur Auseinandersetzung mit den Verbrechen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern aufzurufen und dem Verdrängen beziehungsweise Vergessen entgegenzuwirken. Als der Film 1956 auf den Festspielen in Cannes präsentiert werden sollte, legte die deutsche Botschaft im Namen der Bundesregierung Beschwerde ein. Ihr Argument: „Nuit et Brouillard“ verstoße gegen das Statut des Festivals, wonach „nur Filme gezeigt werden dürfen, die nationale Gefühle eines anderen Volkes nicht verletzen oder das friedliche Zusammenleben der Völker nicht beeinträchtigen“. Die französische Regierung kam der deutschen Forderung nach und ließ „Nuit et Brouillard“ aus dem
Odessa in fiamme (Film von Carmine Gallone, 1942)
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Wettbewerb zurückziehen. Der Film wurde am 8. Mai 1956 in einer Sondervorführung außer Konkurrenz in Cannes uraufgeführt. In Deutschland lief „Nuit et Brouillard“, dessen Kommentar Paul Celan ins Deutsche übertrug, erstmals im Juli 1956 während der Filmfestspiele „Berlinale“; in die Kinos kam er jedoch nicht. Mitte April 1957 strahlte der Bayerische Rundfunk den Film zu später Sendezeit aus, dabei sollte es bis Mitte der 1960er-Jahre bleiben. Größere Verbreitung erfuhr der Film dagegen durch die Landeszentralen für politische Bildung: Zahlreiche Jugendverbände, Gewerkschaften und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes liehen sich dort Kopien für ihre Veranstaltungen aus. Gleichzeitig löste „Nuit et Brouillard“ eine bundesweite und mehrere Monate andauernde publizistische Debatte über die Darstellung des Massenmordes im Film aus. Die Bedeutung des Films für die Erinnerungskultur liegt darin, dass er erstmals ein breites Repertoire an historischen Aufnahmen der NS-Verbrechen einer größeren Öffentlichkeit, insbesondere vielen Jugendlichen im Rahmen von Schulaufführungen, präsentierte.
Mario Wenzel
Literatur Catrin Corell, Der Holocaust als Herausforderung für den Film. Formen des filmischen Umgangs mit der Shoah seit 1945. Eine Wirkungsgeschichte, Bielefeld 2009. Ewout van der Knaap, „Nacht und Nebel“. Gedächtnis des Holocaust und internationale Wirkungsgeschichte, mit einem Beitrag von Nitzan Lebovic, Göttingen 2008. Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001. Sylvie Lindeperg, „Nacht und Nebel“. Ein Film in der Geschichte, Berlin 2010.
Oberammergauer Passionsspiele → Passionsspiele
Odessa in fiamme (Film von Carmine Gallone, 1942) Der Film „Odessa in Flammen“ (Odessa in fiamme) ist eine 1942 entstandene, beim Festival von Venedig uraufgeführte und mit dem großen Preis ausgezeichnete, 83 Minuten lange italienisch-rumänische Koproduktion, in der Regie von Carmine Gallone. Der melodramatische Propagandafilm basiert auf einem Drehbuch von Nicolae Kiriţescu (dem Bruder des Schriftstellers Alexandru Kiriţescu) und verherrlicht den ideologischen Krieg gegen die Sowjetunion, an dem Rumänien auf der Seite der Achsenmächte Italien und Deutschland teilgenommen hatte. Auf den 1942 in Rumänien verbreiteten Filmplakaten war außer dem aus dem Italienischen übersetzten Haupttitel – „Odessa în flăcări“ – auch noch ein in Klammern hinzugefügter Untertitel angehängt worden – „Cătuşe roşii“ [Rote Handschellen] –, um dem Werk dadurch eine zusätzliche Propagandawirkung zu verleihen. Der Streifen ist eine indirekte und narrativ verschlüsselte Rechtfertigung des bestialischen Massakers, das von dem faschistischen rumänischen Militärdiktator Ion Antonescu in Odessa angeordnet wurde. Nachdem im Oktober 1941 bei einem auf das rumänische Hauptquartier verübten Bombenattentat 67 Menschen gestorben waren, gab Antonescu den Befehl, den Anschlag durch Repressalien zu sühnen. In der Zeit vom 22. bis 24. Oktober wurden zwi-
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schen 25.000 und 35.000 Juden niedergemetzelt. Die Opfer hatte man pauschal als sowjetische Agenten, bolschewistische Kommissare sowie Unterstützer der Geheimpolizei und Roten Armee dargestellt. Die überlebenden Juden der Stadt und des Gebietes um Odessa wurden in die von den rumänischen Behörden verwaltete Region Transnistrien deportiert. Die Geschichte des Films ist einfach und sollte gerade dadurch ihre Publikumswirksamkeit entfalten. Potenziert wird diese Absicht durch die Starbesetzung – in der Hauptrolle ist die berühmte Sängerin Maria Cebotari zu sehen –, die dem Film eine zusätzliche Authentizitätsaura verleihen sollte. Der minderjährige Sohn einer Sängerin wird beim Einmarsch der Sowjettruppen in Bessarabien nach Odessa verschleppt, um in einer Sondereinrichtung der Geheimpolizei zu einem „neuen Menschen“ erzogen zu werden. Die verzweifelte Mutter macht sich auf die Suche nach ihrem Kind. Als Preis für die Befreiung ihres gefangenen Sohnes macht ihr ein Politkommissar den Vorschlag, vor sowjetischen Soldaten aufzutreten. Sie akzeptiert das Angebot des Offiziers, der sich schließlich auch noch in sie verliebt und wegen seiner Verbindung zur Sängerin ins Visier einer Politkommissarin gerät. Noch bevor es den „Bolschewiken“ gelingt, ihre Gefangenen in die Luft zu sprengen, wird das Kind der Sängerin gerettet. Der Film endet mit dem Einmarsch der siegreichen rumänischen Truppen in Odessa – in einer patriotischen Apotheose. Unter den Offizieren befindet sich auch der Ehemann der Sängerin. Eine Kopie des nach dem Krieg verschollenen Films wurde 2005 in einem italienischen Archiv entdeckt, nach Rumänien gebracht und im Rahmen mehrerer Festspiele vorgeführt. In einigen Rezensionen wurde der Film als eine „grandiose“, „antibolschewistische Schöpfung“ gepriesen und „das unbeugsame Heldentum“ der Rumänen im Kampf gegen die Sowjets hervorgehoben.
William Totok
Odessa în flăcări → Odessa in fiamme Odessa in Flammen → Odessa in fiamme Ohm Krüger (Film von Hans Steinhoff, 1941) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Operette als Widerstand → Operette in der NS-Zeit
Operette in der NS-Zeit Die authentische Operette nach Art von Jacques Offenbach war ein ins Groteske verzerrter, unterhaltender Kommentar auf die gesellschaftspolitische Gegenwart, angereichert mit freizügiger Erotik und ausmusiziert mit den neuesten Modetänzen. Was im Paris der 1850er-Jahre der skandalöse Cancan und in Wien der Walzer war, das war nach 1918 amerikanische Jazzmusik. Immer dicht am Puls der Zeit und als nicht subventioniertes kommerzielles Unterhaltungstheater um Aktualität bemüht, dominierten synkopierte Rhythmen nach Anbruch der 1920er-Jahre auch die deutschsprachige Operette. Emmerich Kálmán machte mit der „Bajadere“ und dem Schlager „Fräulein,
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bitte woll’n Sie Shimmy tanzen“ 1921 den viel beachteten Anfang. Bald folgten u. a. Eduard Künneke, Ralph Benatzky, Oscar Straus, Bruno Granichstaedten, Mischa Spoliansky, Kurt Weill und Paul Ábrahám, dessen „Blume von Hawaii“ (1931) das erfolgreichste Bühnenwerk der Weimarer Republik wurde. Fast alle Operettenkomponisten orientierten sich in jenen Jahren am Broadway, von wo die US-Operetten von Sigmund Romberg, Rudolf Friml und Vincent Youmans nach Deutschland und Österreich importiert wurden und als Vorbild dienten. Aus der transatlantischen Symbiose ergab sich eine Blütezeit der Gattung, die aus dem kakanischen Dunstkreis der Vorkriegsjahre in die eklektischen Twenties hinüberglitt. Was bei Christopher Isherwood Sally Bowles und der fiktive Kitkat Club sind, war im echten Berlin die Haller-Revue im Admiralspalast, wo Lea Seidl als „Marie von der Haller-Revue“ das optische Vorbild für Liza Minelli in der Verfilmung von „Cabaret“ abgab. Direktor Hermann Haller brachte 1930 eine verjazzte „Csárdásfürstin“ heraus, Erik Charell am Großen Schauspielhaus einen verjazzten „Mikado“ und eine „Lustige Witwe“: beide auf der absoluten Höhe der Zeit, wie die Presse bemerkte. Das Genre entwickelte sich damals rasant in Richtung Revueoperette, Tonfilmoperette (Heymanns „Die drei von der Tankstelle“), Kabarettoperette (Spolianskys „Es liegt in der Luft“) und dem, was in den USA kurz darauf als Mischung all dessen das Musical werden sollte. Die Grenzen waren fließend, wobei die besten deutschsprachigen Werke (z. B. „Im weißen Rössl“) erfolgreich in New York und dem Rest der Welt liefen; Kálmán komponierte „Golden Dawn“ 1927 sogar direkt für den Broadway. Den Nationalsozialisten war die „transatlantische“ Spielart der Operette ein Dorn im Auge: Sie verabscheuten „Niggerjazz“, besonders wenn dieser vermischt wurde mit „heimatlichen“ Klängen wie bei Ábrahám, Kálmán und Benatzky; sie verurteilten die extreme Frivolität der Liedtexte und die darin propagierte sexuelle Freiheit („Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben“). Am schlimmsten aber war, dass fast alle im damaligen Operettenbetrieb tätigen Künstler jüdischer Abstammung waren. Selbst Titel, die den Antijazz- und Heimatidealen der Nationalsozialisten entsprachen, wie Jessels „Schwarzwaldmädel“, Bertés „Dreimäderlhaus“ oder Jarnos „Försterchristel“, stammten von jüdischen Komponisten.
Spielplanneugestaltung Entgegen weitverbreiteter Meinung gab es 1933 kein offizielles Verbot bestimmter Komponisten und Stücke (mit Ausnahme von Leo Falls „Fidelem Bauer“, der auf Wunsch des Reichsbauernführers vom Spielplan genommen wurde, wegen unangemessener Darstellung des „deutschen Bauern“). Die Reichsdramaturgie des Dr. Rainer Schlösser lud vielmehr Intendanten zu Gesprächen ein, in denen die neuen Richtlinien dargelegt wurden. Ab der Theatersaison 1934/35 mussten alle Spielpläne zur Genehmigung im Propagandaministerium vorgelegt werden, trotzdem blieb deren Gestaltung der Eigenverantwortung der Theaterleitungen überlassen. Dass Intendanten freiwillig Stücke vom Spielplan entfernten und jüdische Darsteller kurz nach der Machtübernahme Deutschland fluchtartig verließen, lag daran, dass radikale Gruppierungen jüdische Stars in „wilden Maßnahmen“ mit Eiern bewarfen, auf der Straße zusammenschlugen und Aufführungen mit Radau unterbrachen. Intendanten beschränkten sich daraufhin auf Titel und Künstler, die nicht den Zorn brauner Randalierer erregten.
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Wenn man von „Operette“ im Nationalsozialismus spricht, dann von folgenden Varianten: (1) Revueoperetten und Revueoperettenfilme, wie die nach wie vor populären Ufa-Streifen mit Johannes Heesters und Marika Rökk u. a. („Gasparone“, „Fledermaus“ usw.); (2) Zur Oper „veredelte“ Operetten wie beispielsweise die Serie von Lehár-Gesamtaufnahmen mit den Wiener Philharmonikern und etablierten Opernstars, aber auch die entsprechenden Strauß-, Millöcker-, Ziehrer-, Suppé-Einspielungen sowie neu geschaffene Opern-Operetten wie Künnekes „Die große Sünderin“; (3) Altertümelnde Singspiele wie etwa das „Ännchen von Tharau“, „Hofball in Schönbrunn“ oder „Liebe in der Lerchengasse“ (und entsprechende Verfilmungen). Da die Unterhaltungstheaterkultur der Weimarer Epoche als „Verwesungserscheinung“ betrachtet wurde, empfahl die Reichsdramaturgie, die Wienerwalzeroperetten des 19. Jahrhunderts zu spielen, die fortan im Sprachgebrauch zu „Goldenen Operetten“ mutierten. So erlebten lang vergessene Werke wie beispielsweise „Der Obersteiger“ Revivals. Sie wurden mit den besten verfügbaren Opernsängern und Orchestern eingespielt, darunter die Berliner und Wiener Philharmoniker, als moderne „Spielopern“, wie Hans Severus Ziegler im Geleitwort zu „Reclams Operettenführer“ 1939 darlegt: „Die geschmackvolle und musikalisch kultivierte Operette älterer und neuer Zeit ist nichts anderes als das moderne Singspiel und eine Schwester des Schwanks. […] Gewiß wäre es wünschenswert, daß wir zur Ergänzung unseres heutigen Operettenschatzes wieder einmal komische Spielopern von der Leichtigkeit und wirklichen Humorigkeit des Lortzingschen ‚Wildschütz‘ bekämen, was im Interesse einer geschmacksbildenden Erziehung des Publikums, dessen Stilgefühl und Sinn für Unterhaltung nicht weiter verflachen darf, liegt.“ Die vorgebliche Niveauhebung war auch nötig, weil Privattheater bald völlig verschwanden und Operetten an staatlichen Bühnen gespielt wurden, mit Darstellern, deren Talente auf anderen Gebieten lagen als bei den spezialisierten Operettenstars vor 1933. Mit der „Veredelung“ der Operette und dem Zerstören privater Theater vernichtete die NS-Kulturpolitik eine Unterhaltungsindustrie in Deutschland und Österreich, die vergleichbar war mit dem, was man bis heute vom Broadway oder Londoner West End kennt. Letztlich wurde dem Genre damit die kreative Energie und Erneuerungskraft genommen, da fortan nur staatlich subventionierte (und politisch genehme) Titel gespielt werden konnten. Ein weiterer Vorteil der Rückbesinnung auf die Wiener „Klassiker“ war, dass die österreichischen Komponisten des 19. Jahrhunderts überwiegend nicht jüdisch waren, gleichwohl ihre Librettisten. Diese von Besetzungszetteln zu entfernen, war jedoch nicht problematisch, da sie tot waren und an sie keine Tantiemen abgeführt werden mussten. Natürlich wollte das Publikum nicht nur Werke des 19. Jahrhunderts in klassischen „geschmacksbildenden“ Darbietungen sehen, weswegen auch Ersatz für modernere Titel gesucht werden musste. Damit schlug die Karrierestunde für Kopisten. Die Tradition der Ábrahám-Operette lebte fort in Fred Raymonds „Maske in Blau“, das „Rössl“ wurde durch dessen „Salzburger Nockerln“ ersetzt. Bei all dieses Doubletten war von Vorteil, dass vorhandene Dekorationen weiter verwendet werden konnten. Als Ersatz für Kálmáns „Gräfin Mariza“ entstand Dostals „Ungarische Hochzeit“, als Substitut fürs „Schwarzwaldmädel“ Dostals „Monika“. Ein Beispiel für den ideologischen Wandel bot bereits 1933 das „Ännchen von Tharau“ von Heinrich Strecker. Es enthält den Vermerk im Klavierauszug: „Alles Jazzmä-
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ßige vermeiden“. Statt Synkopen und pikanten Chansons hört man Marschlieder der Brandenburgischen Kürassiere: „Unsere Heimat ist in Not, unsere Heimat ist bedroht, schenket dem Vaterland Herz und Hand. Saget dem Liebchen rasch ade, tut es auch noch so weh. Und, was auch immer werde, Wir schützen unsre Erde!“ Noch radikaler waren die Werke von Rudolf Kattnigg, der in seinem „Prinz von Thule“ 1936 einen Panzerkreuzer in Operettensee stechen ließ. Da singt der Schiffsführer zusammen mit der Mannschaft „Wenn dann die stolze Fahne voranweht! Für das Löwenbanner Mann für Mann steht zu mutigem Streit“, was nicht zufällig an Baldur von Schirachs Hitlerjugend-Lied erinnert. In Kattniggs „Balkanliebe“ jubelt in der 1938 aktualisierten Version der Chor zur Feier des vollzogenen „Anschlusses“: „Kinder, das kann man wirklich fassen kaum,/ Jetzt weh’n in Wien von jedem Haus und Baum/ Fröhlich im Wind die deutschen Fahnen!/ Wer konnt’s ahnen? Ist’s ein Traum?/ Nein, das ist wunderbare Wirklichkeit!/ Ganz Österreich grüßt stolz die neue Zeit!/ Und alle Glocken, hoch vom Stephansdom,/ Künden es laut dem Donaustrom!“ Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs liefen viele ausländische Musikfilme in deutschen und österreichischen Kinos, teils mit exilierten Stars wie Richard Tauber, Gitta Alpar oder Rosy Barsony. Wollte man die Überlegenheit der „arischen“ Operette demonstrieren, besonders gegenüber Hollywood und den US-Musikfilmen, war es nötig, NS-Operetten vergleichbar attraktiv ins Kino zu bringen, teils auch auf die Bühne. So wurden die besten in Deutschland verbliebenen Jazz-Musiker beauftragt, entsprechende Bearbeitungen zu liefern. Paradebeispiel hierfür ist „Gasparone“, 1937 mit Marika Rökk und Johannes Heesters verfilmt mit einer überarbeiteten Millöcker-Partitur von Peter Kreuder, der wenig später auch die „Lustige Witwe“ am Gärtnerplatztheater München (mit Heesters als Danilo) verjazzte. Im Grunde waren solche Adaptionen dasselbe, was Charell und Haller in den 1920er-Jahren getan hatten. Nur wurde nun alles keuscher und weniger radikal wiederholt, derweil die Handlung in einem historischen Nirwana angesiedelt wurde, in dem Operetten selbst in modernen Inszenierungen vorzugsweise weiterhin spielen, was ihnen zunehmend den Vorwurf der Belanglosigkeit einbrachte („Gewiß sind die Stoffe und Handlungen sehr vieler Operetten gedanklich und an Lebensgehalt ziemlich unbelastet“, heißt es bei Ziegler im „Reclam“-Führer). Außerdem wurde in jenen Jahren das ursprünglich für ein intellektuelles und gehobenes Großstadtpublikum konzipierte Genre zur „Unterhaltung und Aufheiterung […] derjenigen breiten Kreise des Volkes […], die im eigenen schweren Lebenskampf der heiteren und ausgelassenen Muse besonders herzlichen Dank wissen“. Die Mär von Operette als „Unterhaltung für den kleinen Mann“ stammt aus jener Zeit und steht im größtmöglichen Widerspruch zum Selbstverständnis der Gattung, wie sie Offenbach, Suppé und Strauß im 19. Jahrhundert schufen und populär machten.
Operette als Widerstand Natürlich arbeiteten exilierte Komponisten der deutschsprachigen Operettenszene nach 1933 vielfach weiter, bis 1938 meist in Wien. Da die authentische Operette immer dicht am Puls der Zeit war, setzte sie sich auch im Exil mit den aktuellen Themen der Gegenwart auseinander, d.h. mit den neuen Verhältnissen in Deutschland. Am deutlichsten tat dies Ábrahám. Nachdem er erst eine weitere transatlantische Operette
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mit „Märchen vom Grand Hotel“ geschrieben hatte (mit einer Hollywood-Rahmengeschichte, synkopierten Partitur und Handlung um eine exilierte Königsfamilie, die frustriert im Hotel sitzt und auf politische Neuigkeiten wartet), komponierte Ábrahám 1937 mit der Fußball-Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ ein finales Werk, das alle Ideale der authentischen Operette noch einmal mustergültig vorführt und ein Jahr nach der Olympiade die neuen deutschen Ideale von Reinheit, Tugend und Rasse durch den Kakao zieht. Auch anglo-amerikanische Operettenkomponisten schufen Werke über die neuen Zustände, so etwa in London 1939 Ivor Novello mit „The Dancing Years“, wo es um einen jüdischen Operettenkomponisten in Wien geht, der von den Nationalsozialisten verhaftet wird, weil er Juden bei der Flucht hilft und dessen eigene Musik verboten ist. Das Stück war in Großbritannien außergewöhnlich erfolgreich, ist jedoch im deutschen Sprachraum unbeachtet geblieben. Auf der anderen Seite des Atlantiks angekommen, schrieben die geflüchteten Operettenkomponisten weiter Stücke über den Nationalsozialismus. So arbeitete Kálmán mit Lorenz Hart 1943 an „Miss Underground“, in der es um die Widerstandsbewegung im besetzten Paris geht, inklusive eines Nazi-Marschs, der die braunen Machthaber in perfekter Operettenmanier ins Groteske verzerrt darstellt. Damit setzten Kálmán/Hart die Tradition von Shows wie „Hellzapoppin“ von Sammy Fain (Musik) und Charles Tobias (Lyrics) aus dem Jahr 1938 fort. Das dabei entstandene Exil-Œuvre wird bis heute von der Exilforschung weitgehend ignoriert. Das gilt auch für die in den USA erfolgreich uraufgeführten Musicals/ Operetten „Lady in the Dark“ (1941) und „One Touch of Venus“ (1943) von Kurt Weill, die in Deutschland kaum bekannt sind und von Intendanten abgelehnt werden mit dem Argument, Weill habe sich mit diesen Stücken an den Kommerz verkauft. Dabei wird ignoriert, dass alle Operetten vor 1933 kommerziell waren, ebenso die „Dreigroschenoper“. Genauso bleiben ehemals in Deutschland und Österreich gespielte US-Operetten in neuen Operettenführern wie z. B. dem von Volker Klotz (2004) unerwähnt. Stattdessen werden im einzig reinen Operettenhaus Deutschlands, der Staatsoperette Dresden, zwischen den Operettentiteln regelmäßig Spielopern wie Lortzings „Wildschütz“ gezeigt – ganz wie von Hans Severus Ziegler empfohlen. Eine umfangreiche Beschäftigung mit dem Themenkomplex wurde erst 2005 angestoßen mit der Tagung (und darauffolgenden Publikation) „Operette unterm Hakenkreuz“. Neuere Ausstellungen wie „Welt der Operette“ (2012) am Theatermuseum Wien und München beleuchteten die NS-Aspekte umfangreich und kritisch. In der aufführungspraktischen Umsetzung dominiert jedoch nach wie vor die stark von NSIdealen beeinflusste Nachkriegsspielart der Operette, wie man sie aus Sendungen und Aufnahmen der 1950er- bis 1980er-Jahre kennt. Denn: Als nach 1945 die vormals „entarteten“ Operetten wieder gespielt werden durften, passte man sie dem neuen Geschmack einfach an und spielte nur Titel, die den NS-Idealen entsprachen. D. h. von Ábrahám wurde „Viktoria und ihr Husar“ und von Kálmán „Gräfin Mariza“ zu „ungarischen Volksstücken“ mit rot-weiß-grüner Folklore umfunktioniert. Die zuvor in diesen Werken enthaltene Jazzmusik strich man, die großen Jazz-Operetten spielte man gar nicht. Und falls versuchsweise doch, dann ohne Jazz, sondern mit einem Einheitswienerwalzergeigenklang übergossen, der alle Operettenaufnahmen der Nachkriegs-
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zeit gleich klingen lässt, wo vormals extreme Instrumentation für ein hochindividuelles Klanggewand gesorgt hatte. Die meisten Operettenfilme aus der Zeit vor 1933 sind in Deutschland und Österreich nicht als kommerzielle DVDs erhältlich, während vor allem die NS-Operettenfilme mit Rökk, Heesters, Leander usw. als „Klassiker“ seit Jahrzehnten im Handel sind. Immerhin wurden nach Ablauf der Schutzfrist viele Aufnahmen von historischen Sängern von vor 1933 in restaurierten Fassungen auf CD zugänglich gemacht, sodass man heute mühelos vergleichen kann, wie radikal sich die authentische Operette von der Operettenpflege nach 1933 (und nach 1945) stilistisch unterscheidet.
Kevin Clarke
Literatur Marie-Theres Arnbom, Kevin Clarke, Thomas Trabitsch (Hrsg.), Welt der Operette. Glamour, Stars und Showbusiness, Wien 2011. Bernard Grun, Kulturgeschichte der Operette, München 1961. Christoph Henzel (Hrsg.), Musik im Unterhaltungskino des Dritten Reichs, Würzburg 2011. Hans-Jörg Koch, Wunschkonzert. Unterhaltungsmusik und Propaganda im Rundfunk des Dritten Reichs, Graz 2006. Wolfgang Schaller (Hrsg.), Operette unterm Hakenkreuz. Zwischen hoffähiger Kunst und „Entartung“, Berlin 2007. Katja Zaich, „Ich bitte dringend um ein Happyend.“ Deutsche Bühnenkünstler im niederländischen Exil 1933–1945, Frankfurt am Main 2001.
Der operierte Goj (Kurzgeschichte von Salomo Friedlaender, 1922) Die Kurzgeschichte „Der operierte Goj. Ein Gegenstück zu Panizzas operiertem Jud“ von Salomo Friedlaender erschien 1922 unter dem Pseudonym Mynona, das er zur Veröffentlichung seiner Grotesken verwendete. Als „Gegenstück zu Panizzas operiertem Jud“, so der Zusatztitel der Erzählung, nimmt sie Bezug auf Oskar Panizzas satirische, antisemitisch aufgeladene Groteske → „Der operierte Jud'“ (1893). Darin schildert der Erzähler, ein „arischer Student“, die mühe- und schmerzvolle, aber letztlich zum Scheitern verurteilte Anpassung seines jüdischen Kommilitonen Itzig Faitel Stern an das „arische“ Männlichkeitsideal. Friedlaender greift die von Panizza vorgegebene Motivik der Travestie und des Körperumbaus auf, wendet sie allerdings satirisch ins Gegenteil: Der adelige und zutiefst antisemitisch gesinnte „Arier“ Kreuzwendedich Graf Reschok verwandelt sich im Laufe der Erzählung in den Juden Moische Koscher. Als der junge Graf Reschok zu Beginn der Erzählung als Student nach Bonn geht, wird er von seiner Verwandtschaft ermahnt: „Rasserein bleiben! Da gibt es jetzt monströs reiche Semitentöchter, die auf unsereins erpicht sind.“ Der eindringlichen Warnung zum Trotz wird er von Rebecka Gold-Isak, einer „schmachtenden Odaliske mit Mandelschnitt-Augen, Ebenholzhaar, Elfenbeinhaut usw. usw.“ verführt. Hier wird das stereotype Bild der „schönen Jüdin“ evoziert. Durch die nicht zu Ende geführte Aufzählung ihrer Eigenschaften aber fordert der Erzähler den Leser dazu auf, diese selbst fortzusetzen. Sehr subtil eröffnet sich dem Leser dadurch die Möglichkeit zur
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kritischen Überprüfung seiner Vorstellung vom weiblichen „jüdischen Körper“. Angespornt durch das antisemitische Gebahren des Grafen und „fasziniert von seiner feindlichen Fremdartigkeit […] befestigte [sie] sich in ihrem Entschluß, den Triumph über ihn und seine Sippe dadurch davonzutragen, daß sie ihn heiratete“. Verkleidet als „arische“ Baronesse Freia-Rotraut v. Isagold gelingt es Rebecka in einem theatralischen Akt der Selbstwehr, des Grafen sonst so sicheres Gespür für jüdische Erscheinungen zu irritieren. Sie „spie dem Grafen ihre Verachtung ins Gesicht“ und schon hatte „ein Blick […] ihr wie ein Blitz ihre Macht über ihn verraten“, während der Graf wiederum „traumhaft von ihr bezaubert worden“ ist. Da Reschok zunächst mit seinem Schicksal hadert und sich nicht eingestehen will, „daß er an die schöne Jüdin verloren ist“, ergreift Rebecka die Initiative und beschließt, Reschok zu heiraten, da sie sonst „in den Krater der Selbstverachtung stürzte“. Dazu entwirft sie eine Strategie, die sich geschickt die Psychopathologie des Antisemitismus zunutze macht: „Wer haßt und verachtet, prädisponiert sich in aller Heimlichkeit langsam aber sicher zur intimsten Blutverwandschaft, ja Identifikation mit den Objekten seines Negierens.“ Durch geschicktes Agitieren bringt sie Reschok dazu, sich in psychoanalytische Behandlung zu begeben, um dann „ihre vollkommene Herrschaft über ihn“ anzutreten und „zur Tat des exaltiertesten Liebeswahnsinns“ zu treiben: Reschok lernt Hebräisch und jüdische Gebräuche, besucht Synagogen und ändert seinen Namen in Moische. Zu guter Letzt lässt er sich unter Schmerzen sogar beschneiden – doch Rebecka ist noch nicht zufrieden und schickt den ehemaligen Grafen zu einem gewissen Professor Friedlaender, der die „adlige germanische Reckengestalt in den jüdischen Schriftgelehrten-Typ umformen“ soll und dazu „eine der famosesten Rückgratverkrümmungen“ an Moische vornimmt. Indem der Autor sich hier selbst in die Geschichte einschreibt und die körperliche Transformation Reschoks in einen grotesk überzeichneten Juden vornimmt, unterläuft er subversiv die Motivik des Körperumbaus aus Panizzas Erzählung. Der darin ins Lächerliche gezogene Wunsch eines Juden nach Anpassung des eigenen Körpers an das vorherrschende Ideal des „arischen“ Männerkörpers wird – ohne dass diesem Wunsch eine tiefere Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge seines Entstehens zugrunde läge – als Beispiel für die Unüberwindbarkeit der eigenen Herkunft benutzt. Dagegen webt Friedlaender geschickt psychologische und soziologische Erkenntnisse über den Antisemitismus in die Erzählung ein: das Begehren nach dem Fremden; nach Unterwerfung bzw. Beherrschung; der Wunsch nach Symbiose mit dem Objekt des Begehrens. Indem nun die rassenantisemitischen Parameter der Debatte offengelegt und bloßgestellt werden, greift Friedlaenders Groteske als literarische Reflexion in den zeitgenössischen Diskurs über das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland ein. Nach gelungener Transformation Reschoks in einen der „mosaischen Männer auf Steinhardts, Artur Segals oder Chagals Gemälden“, seiner Enterbung und Verbannung aus seiner Herkunftsfamilie und dem Umzug des Paares nach Jerusalem, so berichtet der Autor im letzten Absatz der Erzählung, sei „der Antisemitismus merklich abgeflaut. Man ängstigt sich vor gewissen Orthopäden, denen keine noch so stolze Rasse-
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reinheit widersteht. […] Man baut nicht mehr dogmatisch auf Rassenunterschiede. Rassenblut hat aufgehört, ein besonderer Saft zu sein.“
Arnon Hampe
Literatur Salomo Friedlaender/Mynona, Der operierte Goj. Ein Gegenstück zu Panizzas operiertem Jud [1922], in: Salomo Friedlaender, Gesammelte Schriften, hrsg. von Hartmut Geerken und Detlef Thiel, Band 7: Grotesken, Teil I, Waitawhile 2008, S. 598–606. The Operated Jew. Two Tales of Anti-Semitism, translated and with Commentary by Jack Zipes, New York 1991.
Der operierte Jud’ (Kurzgeschichte von Oskar Panizza, 1893) In der erstmals 1893 veröffentlichten und 1914 in der Sammlung „Visionen der Dämmerung“ wiederaufgelegten, satirisch-grotesken Kurzgeschichte „Der operierte Jud’“ von Oskar Panizza (1853–1921) wird die Unmöglichkeit der Angleichung eines deutschen Juden an das Männlichkeitsideal des „Ariers“ verhandelt. Zwar kann der Text auch als Kritik an den individuellen Zumutungen der Assimilation verstanden werden – indem der Autor sich aber einer virulent antisemitischen Bildsprache bediente und zeitgenössische Diskurse über „Rasse“ und Pathologie der Juden in pejorativer Weise aufgriff, machte er sie für eine antisemitisch gesinnte Leserschaft anschlussfähig. Zunächst skizziert der Erzähler, ein „arischer“ Student, über mehrere Seiten hinweg die abstoßend und lächerlich wirkende Physis, Motorik, Gestik und Sprache seines Kommilitonen Itzig Faitel Stern. Um das „Phänomen“ Itzig Faitel zu begreifen, seien „ein Linguist, ein Choreograph, ein Ästhetiker, ein Anatom, ein Schneider und ein Irrenarzt“ vonnöten. Die „jüdische Nase“ war ein zentrales Element antijüdischer Zerrbilder in der Bildpublizistik des Kaiserreichs, und so widmet sich der Erzähler unter Verweis auf ein als Reproduktionsdruck in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts massenhaft verbreitetes Monumentalwerk Wilhelm von Kaulbachs zuerst Itzigs Nase: Diese „hatte jene hohepriesterliche Form, wie sie Kaulbach in seiner ‚Zerstörung Jerusalems‘ der vordersten und markantesten Figur seines Bildes verliehen hat“. Itzigs Physiognomie, insbesondere sein Kopf, wird zudem in unmissverständlicher Analogie zur zeitgenössischen kolonialen Repräsentation schwarzer Menschen geschildert: „Die Lippen waren fleischig und überfältig, die Zähne vom reinsten Kristall“, sein Haar von „geringelten, zahllosen schwarzen Sechserlöcken“ gekennzeichnet. Hier schlagen sich nicht nur rassenanthropologische Vorstellungen über die körperliche Besonderheit von Jüdinnen und Juden nieder. Vielmehr wird die Figur des Juden hier, indem ihr „schwarze“ Eigenschaften zugeschrieben werden, zu einem quasi-kolonialen Subjekt konstruiert. Dieses kommt auch im Interesse des Erzählers an seinem jüdischen Kommilitonen zum Ausdruck: „Es war gewiß viel, wie soll ich sagen, medizinische oder besser anthropologische Neugierde dabei; ich empfand ihm gegenüber, wie etwa bei einem Neger, dessen Glotzaugen, dessen gelbe Augenbindehaut, dessen Quetschnase, dessen Molluskenlippen und Elfenbeinzähne, dessen Geruch man mit Verwunderung wahrnimmt, und dessen Gefühle und geheimste anthropologische Handlungen man ebenfalls kennen lernen möchte!“
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Obwohl Juden seit 1812 im preußischen Militär dienten, wurden sie in den militärärztlichen Statistiken überwiegend als „brachycephal“ (kurzköpfig), plattfüßig, von niedrigem Wuchs, geringem Brustumfang und von insgesamt schwächlicher Konstitution erfasst. Diesem Bild des aufgrund seiner Konstitution wehruntauglichen Juden folgt die Beschreibung von Itzigs Motorik: „Itzig hob beim Gehen immer beide Schenkel fast bis zur Nabelhöhle, so daß er mit dem Storch einige Ähnlichkeit hatte; dabei steckte er den Kopf tief in die Plastronkrawatte herab und sah starr auf den Boden. Man könnte wohl glauben, er könne die Kraft zum Heben der Beine nicht bemessen, er überschlage sich – bei Rückenmarkserkrankungen kommen ja ähnliche Störungen vor.“ Im Anschluss an diese von zahlreichen antisemitischen Stereotypen geleitete Beschreibung Itzigs wird seine mühevolle Transformation in einen „Arier“ geschildert. Diese geschieht mithilfe teils brachialer medizinischer, aber auch therapeutischer und kosmetischer Methoden. Nachdem der Jude dem Leser als pathologisch vorgeführt wurde, soll dieser nun Itzigs Heilung vom Jude-Sein beiwohnen. Da Panizzas Erzähler über Itzigs Motive, sich all den Qualen der Umwandlung zu unterwerfen, keine nähere Auskunft gibt, lässt sich nur spekulieren, dass er dessen Wunsch nach Assimilation eben für ganz selbstverständlich hält. Den eigentlichen Anstoß scheint aber der Erzähler, Itzigs „arischer“ Kommilitone, selbst gegeben zu haben: „Gleich nach den ersten Tagen unserer Bekanntschaft machte ich Faitel Vorschläge hinsichtlich seiner Umwandlung in etwas modernem Sinne und fand bei ihm die entgegenkommendste Aufnahme.“ Der Prozess, der diesem scheinbar wohlwollenden Interesse an der Veränderung des Kommilitonen folgt, ist an Brutalität kaum zu überbieten: Von der „Streckschwebe“, dem „Gipskorsett“ und einer „blutigen Operation“ bis hin zum „brisement forcé“, dem bewussten Brechen von Knochen, bleibt ihm kaum etwas erspart. Aber keine Qual scheint zu groß zu sein, als dass Itzig sie nicht auf sich nähme. Die wochenlangen motorischen Übungen mit dem Turnlehrer und der Sprachunterricht nehmen sich dagegen noch harmlos aus. Nach erfolgreicher Behandlung soll Itzig mit der kleinbürgerlichen „Arierin“ Othilia verheiratet werden. Doch noch während des Hochzeitsbanketts verwandelt sich der nunmehr blonde, zum Protestantismus konvertierte und in Siegfried Freudenstern umbenannte ehemalige Jude unter dem Einfluss von reichlich Alkohol in den krummen, schwarzhaarigen, von motorischen Störungen und unkontrollierten Talmudrezitationen befallenen Juden Itzig Faitel Stern zurück. Hier wird das Bild eines im religiösen Eifer, dem „furor consultativus“ befindlichen „Ostjuden“ heraufbeschworen. Die vom Erzähler geschilderten äußerlichen Anzeichen des Wahns entsprechen der um die Jahrhundertwende verbreiteten Annahme, unter Juden ließe sich eine besondere Neigung zu „modernen“ Nervenleiden wie Neurasthenie und Hysterie feststellen. Solche Pathologien der Erschöpfung des Nervensystems wurden im Allgemeinen mit Attributen der Weiblichkeit, Schwäche und mangelnder Willenskraft in Verbindung gebracht und außer Juden vor allem Frauen und Homosexuellen zugeschrieben. Itzigs „Verwandlung“ bleibt am Ende bloße Travestie, denn die wahre Innerlichkeit und Tiefe „jener keuschen, undefinierbaren germanischen Seele […], die das Schiboleth der germanischen Nationen“ bildet, kann der Jude Itzig doch niemals erlangen. Und so muss das Begehren, die „mit fabelhafter Mühe gewonnenen Resultate“ durch
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die Reproduktion mit einer blonden Germanin, „ein offenes, liebreiches Geschöpf“ zu erhalten, letztlich unbefriedigt bleiben. Die Einschreibung in den ‚Volkskörper‘ muss misslingen, weil die „Lüge“ sich am Ende nicht aufrechterhalten lässt, denn „wer ein Auge für derlei Dinge hatte, erkannte im Profil Freudensterns das sinnliche, fleischige, vorgemaulte Sphinxgesicht aus Ägypten“. Dermaßen auf seine orientalische Herkunft zurückgeworfen, verfällt Itzig noch während des Hochzeitsbanketts in ein schweres Delirium: Mit „ganz veränderter Stimmgebung […], lappig hängenden Lippen und quellenden Augen“ und „mit dem Gesäß ekelhaft lüsterne, tierischhündische Bewegungen machend“, springt Itzig wie wild im Saal herum und rezitiert anzügliche Dispute aus dem Talmud. Den Gästen bietet sich ein entsetzliches Schauspiel dar: „Mit Schrecken sahen die Zurückgebliebenen, wie sich Faitels blonde Strähnen während der letzten Szenen allmählich zu kräuseln begonnen hatten. Die krausen Löckchen wurden rotfarben, schmutzigbraun und zuletzt blauschwarz. Der ganze glühende, schweißige Kopf mit den schlaffen, gedunsenen Zügen war wieder mit dunklen Sechserlöckchen bedeckt.“
Arnon Hampe
Literatur Steven A. Aschheim, Reflections on Theatricality, Identity, and the Modern Jewish Experience, in: Jeanette R. Malkin, Freddie Rokem (Hrsg.), Jews and the Making of Modern German Theatre, Iowa City 2010, S. 21–38. The Operated Jew. Two Tales of Anti-Semitism, translated with Commentary by Jack Zipes, New York 1991. Oskar Panizza, Der operierte Jud’ [1893], in: Oskar Panizza, Visionen der Dämmerung, München, Leipzig 1914, S. 213–242.
Das Original Jüdische Heurigen-Duo Teller und Schlesinger → Jüdisch-Politisches Cabaret Panik (Film, 1939) → Schwedische Kinoproduktionen Panoptikum → Kabarett im Nationalsozialismus Paracelsus (Film von G. W. Pabst, 1942) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Die Passion Christi (Film von Mel Gibson, USA 2004) → Jesusfilme
Passionsspiele Für die Gattung der öffentlichkeitswirksamen Passionsspiele lässt sich im deutschsprachigen Raum wie in ganz Europa eine mehr als achthundertjährige, im Grunde bruchlose Tradition bis heute konstatieren. Die Wurzeln liegen im Mittelalter, und dort grundsätzlich im Gottesdienst, genauer in der lateinischen Liturgie der Kar- und Osterwoche; konkret werden etwa die Stationen Abendmahl, Grablegung und Auferstehung liturgisch erinnert und zugleich vergegenwärtigt. Dies schließt nicht aus, dass die Aufführungstermine auch jenseits der Osterzeit, etwa (witterungsbedingt) auf Pfingsten fallen konnten. Darüber hinaus spielt in nicht wenigen Passionsdramen das
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irdische Wirken Jesu von der Taufe im Jordan über seine Wunder- und Predigttätigkeit bis zum triumphalen Einzug in Jerusalem eine wichtige Rolle für die Laienkatechese. Diese wird weniger durch lateinische (liturgische) Gesänge, sondern vielmehr durch volkssprachigen Redetext (gewöhnlich in der gut memorierbaren Form des Reimpaars) ermöglicht. Von daher kommt den Passionsspielen eine ähnliche Verkündigungsfunktion wie etwa der Volkspredigt zu. Die vergleichbare Massenwirksamkeit wurde schon im Mittelalter durch die Inszenierung auf großen öffentlichen Plätzen in den Städten erreicht. Dort errichtete man (nicht selten auf hölzernen Bühnengerüsten) eine die Welt selbst symbolisierende Simultanbühne, die Himmel und Hölle, Jerusalem und andere Spielorte (loca) während der ganzen Aufführung unverändert zeigte. Erst im Laufe der Frühen Neuzeit setzten sich modernere Bühnenformen bis hin zur Guckkastenbühne durch. Dagegen blieb der Handlungskern auf neutestamentlicher Grundlage bis in die Gegenwart unverändert. Auch die heute weltweit berühmten Passionssaufführungen in Oberammergau gehen in ihrer ältesten Textgestalt u. a. auf ein „Augsburger Passionsspiel“ des 15. Jahrhunderts zurück. Obwohl die Oberammergauer Passionsspieltradition in der jüngsten Fassung von 2010 die judenfeindlichen Passagen früherer Fassungen tilgte und nun Jesus selbst als praktizierenden Juden auf die Bühne bringt, trägt die Gattung insgesamt schwer am antijudaistischen und antisemitischen Erbe. Dieses ist freilich den Passionsspielen von Anfang an eigentümlich, da sie quellenmäßig auf den Passionsberichten der vier kanonischen Evangelien beruhen, wo tendenziell die Schuld am Tod Jesu den Juden zugeschoben wird, obwohl historisch die Römer und Pontius Pilatus für das Todesurteil und die anschließende Kreuzigung juristisch die Verantwortung trugen. Neben schon hochmittelalterlichen antijudaistischen Tendenzen durch Verarbeitung der Liturgie sowie der Evangelien als Quellen von Szenen zu Jesu Passion, aber auch seines irdischen Wirkens, etwa als von den Juden beargwöhnter Wundertäter, wurde im Spätmittelalter zunehmend ein weiterer Quellenkomplex im Blick auf antijudaistische Agitation herangezogen, nicht zuletzt das in dieser Hinsicht im Vergleich zu den kanonischen Evangelien drastischere Nikodemusevangelium. Hinzu kommt die zunehmende Rezeption spätmittelalterlicher Passionstraktate mit ihren ausführlichen Folterfantasien. Tatsächlich lässt sich insgesamt im deutschsprachigen Raum eine Verschärfung des Antijudaismus in den Passionsspielen vom 14. zum 16. Jahrhundert beobachten (zeitlich parallel zu den Austreibungen der Juden aus den Städten im Heiligen Römischen Reich und befeuert von einer universitär fundierten Reformtheologie). Während etwa die „Frankfurter Dirigierrolle“ aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (auf einer städtebaulich hochsymbolisch situierten Bühne zwischen Dom und Synagoge) am Ende in eine (in sich freilich und im Blick auf Juden anmaßende) „friedliche“ Bekehrung und Judentaufe mündet, inszeniert das jüngere „Frankfurter Passionsspiel“ von 1493 auf dem Römerberg vor dem Rathaus unversöhnlichen Judenhass, indem die Juden von Jesus (nach Joh. 8,44) als „Kinder des Teufels“ gebrandmarkt (und im „Alsfelder Passionsspiel“ um 1500 überhaupt als vom Teufel besessen dämonisiert) werden. Hinzu kommt, dass hier, wie in vielen spätmittelalterlichen Passionsspielen, die Juden nicht nur biblische, sondern zeitgenössische Judennamen tragen und zudem noch dem Pfandleihgeschäft in der Karikatur des Wucherjuden
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nachgehen. Die Transponierung des fernen biblischen Geschehens in das Hier und Jetzt der städtischen Publikumsrealität ist freilich den meisten Passionsspielen in Mittalter und Früher Neuzeit eigentümlich. Wenn auch ein direkter Kausalnexus von Passionsspielen und Pogromen etwa um 1350 archivalisch kaum nachweisbar ist, lassen gelegentlich überlieferte Schutzmaßnahmen zugunsten der von der christlichen Bevölkerung separierten Juden während der Aufführungen sehr wohl ein Gefährdungspotenzial von Passionsspielen für die Juden erkennen, die im Regelfall als Publikum der Aufführungen ausgeschlossen waren. Dabei spielte es für die judenfeindliche Agitation in Passionsspielen generell kaum eine Rolle, ob am Aufführungsort überhaupt (noch) Juden ansässig waren. Eine Sündenbockfunktion der Juden konnte nämlich unabhängig von ihrer Anwesenheit inszeniert werden. In diesem Zusammenhang sollte es zu denken geben, dass es (wie archivalisch nachgewiesen wurde) zumindest im Spätmittelalter kaum eine Stadt im deutschsprachigen Raum gab, in der keine Passionsspielaufführung stattfand. Diese lebhafte Spieltradition wurde weniger durch die Reformation, sondern nachhaltig vielmehr durch die Aufklärung gebrochen, wobei die ursprünglich urbane Gattung sich im deutschsprachigen Raum im ländlichen, alpinen Rückzugsgebiet am längsten halten konnte. Wie sich dementsprechend besonders gut an der Oberammergauer Passionsspieltradition zeigen lässt, überdauert im römisch-katholischen Bereich das Phänomen alle Epochengrenzen: Mittelalter, (Gegen-) Reformation, Barock, Aufklärung, Romantik, aber auch der Antisemitismus des 20. Jahrhunderts, sichtbar nicht zuletzt in der Hochschätzung der Oberammergauer Passionsaufführungen durch Adolf Hitler, hinterließen in Dramentext und Inszenierungsweise jeweils ihre Spuren. Obwohl Passionsspielaufführungen bis heute (nicht nur im deutschsprachigen Raum) vor allem ein römisch-katholisches Phänomen sind, erfolgte im Protestantismus zunächst kein Abbruch der Passionsspieltradition. Trotz Luthers (in erster Linie katechetisch-pädagogisch motivierter) Kritik am Passionssujet ergriffen neben Zwinglianern (wie Jakob Ruf) auch Lutheraner (wie Hans Sachs) die Chance, der Belehrung der Gemeinde auf der Passionsbühne zu dienen, wobei die antijüdische Haltung den älteren mittelalterlichen Gattungsvertretern kaum nachstand, während freilich apokryphe und legendarische Szenentraditionen zugunsten einer durchgängigeren Bibeltreue zurückgedrängt wurden. Gleichwohl pflegte man (gemäß Luthers Vorgaben) neben der Passion auf der Bühne vor allem alttestamentliche Stoffe, sodass Passionsspiele protestantischerseits allmählich keine mit dem Katholizismus vergleichbare Rolle mehr einnahmen. Dort wurde die Gattung vielmehr gerade zu einem Mittel der Gegenreformation (wie im „Admonter Passionsspiel“) und vermochte so die Epochengrenzen zu überwinden. Dabei hat man im Katholizismus den antijüdischen Charakter über die Jahrhunderte bruchlos weitertransportiert. Erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil setzte im katholischen Bereich ein deutliches Problembewusstsein ein, das sich allmählich (nicht zuletzt aufgrund von öffentlichen Protesten durch Juden und Christen) auch in inszenatorischen Änderungen (Oberammergau 2010) die Bahn bricht.
Klaus Wolf
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Die Pfeffermühle (Literarisch-politisches Kabarett, 1933–1937)
Literatur Natascha Bremer, Das Bild der Juden in den Passionsspielen und in der bildenden Kunst des deutschen Mittelalters, Frankfurt am Main, Bern, New York 1986. Winfried Frey, Gottesmörder und Menschenfeinde. Zum Judenbild in der deutschen Literatur des Mittelalters, in: Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal (Hrsg.), Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, Wien, Köln, Weimar 1991, S. 35–51. Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, 2 Bände, München, Zürich 1987. Gemeinde Oberammergau (Hrsg.), Oberammergauer Passionsspiel 2010. Unter Verwendung der Oberammergauer Spieltexte von Othmar Weis und Joseph Alois Daisenberger für die Spiele 2010 bearbeitet und erweitert durch Christian Stückl und Otto Huber, Oberammergau 2010. Ursula Schulze, Geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Von der liturgischen Feier zum Schauspiel. Eine Einführung, Berlin 2012. Edith Wenzel, Do worden die Judden alle geschant. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen, München 1992. Klaus Wolf, Das Judenbild in mittelalterlichen Dramen aus Worms, Mainz und Erfurt, in: Landeshauptstadt Erfurt (Hrsg.), Die jüdische Gemeinde von Erfurt und die SchUM-Gemeinden. Kulturelles Erbe und Vernetzung, Erfurt 2012, S. 150–156. Klaus Wolf, Die judden sollen dis spiel in iren husen bliben. Die Ghettoisierung der Frankfurter Juden im Spiegel des stadtbürgerlichen Spiels, in: Fritz Backhaus, Gisela Engel, Robert Liberles, Margarete Schlüter (Hrsg.), Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2006, S. 189–199 und S. 333–335.
Patrioten (Film von Karl Ritter, 1937) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Pettersson & Bendel (Film, 1933) → Schwedische Kinoproduktionen
Die Pfeffermühle (Literarisch-politisches Kabarett, 1933–1937) Das politische Kabarett „Die Pfeffermühle“ hatte am 1. Januar 1933 im Münchner Revuetheater „Bonbonniere“ Premiere. Die letzten Aufführungen des PfeffermühleEnsembles erfolgten im Frühjahr 1937 in New York. Der Überlieferung nach lässt sich der Name auf eine Idee von Thomas Mann zurückführen. Seine Tochter Erika gehörte zusammen mit der Schauspielerin Therese Giehse und dem Komponisten und Pianisten Magnus Henning zu den Gründungsmitgliedern des Kabaretts. Erika Mann, die sich neben ihrer Tätigkeit als Schauspielerin publizistisch im Kampf gegen die NSDAP engagierte, wurde im Sommer 1932 auf Druck des „Kampfbundes für deutsche Kultur“ vom Bergwaldtheater im fränkischen Weissenburg entlassen. Sie konzentrierte nun zusammen mit Gleichgesinnten ihre künstlerischen Aktivitäten auf eine direkte Bekämpfung des Nationalsozialismus. Dies führte zur Gründung des „literarischen“ Kabaretts „Die Pfeffermühle“, das mit anspruchsvollen und zugleich amüsant-unterhaltsamen Texten das Publikum auf die Bedrohung der Demokratie durch die NSDAP aufmerksam machen wollte. Dem Ensemble und seinen ersten beiden Programmen war Anfang 1933, kurz vor und nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar, ein großer
Die Pfeffermühle (Literarisch-politisches Kabarett, 1933–1937)
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Erfolg beschieden. Doch die dritte Münchner Premiere, die auf den 1. April 1933 angesetzt war, konnte bereits nicht mehr stattfinden. Erika Mann musste aufgrund massiver Einschüchterungen am 13. März 1933 in die Schweiz fliehen. Auch für Therese Giehse, eine politisch linksstehende Jüdin, wurde die Emigration im Frühling 1933 zur existenziellen Notwendigkeit. Dank der Unterstützung des bekannten Schweizer Kabarettisten Max Werner Lenz erhielt das Ensemble eine Arbeitsbewilligung. Am 30. September 1933 erfolgte die erste Premiere eines Exilprogrammes im Zürcher Restaurant „Hirschen“. Das Ensemble erhielt auch Verstärkung von Schweizer Künstlern. Auf das erfolgreiche erste Schweizer Programm folgte am 1. Januar 1934 ein zweites und am 3. Oktober 1934 ein drittes. Die Auftritte der „Pfeffermühle“ führten bald zu feindseligen Kundgebungen von Seiten rechts-bürgerlicher Kreise. 1933 erlebte die Stadt Zürich einen „Fronten-Frühling“, in dem bei lokalen Wahlen die faschistische „Nationale Front“ im Verbund mit etablierten konservativen Parteien Erfolge feiern konnte. Aufgrund der Angriffe vonseiten der „Nationalen Front“ konnte „Die Pfeffermühle“ zeitweise nur noch unter Polizeischutz auftreten. Mit krawallartigen Protesten versuchten rechtsextreme Schweizer Gruppierungen, die Aufführungen als Bedrohung für die öffentliche Ordnung erscheinen zu lassen. Auch die deutsche Regierung bemühte sich mithilfe ihrer diplomatischen Vertretungen, die Auftritte des Kabaretts in der Schweiz zu unterbinden. Aufgrund der Prominenz von Erika Mann fand dieses aber große internationale Beachtung. Tourneen und Gastspiele führten „Die Pfeffermühle“ zwischen 1934 und 1936 nach Belgien, Luxemburg, in die Niederlande und die Tschechoslowakei. Bis Mitte 1936 konnte das Ensemble über tausend Mal auftreten. Die meist von Erika Mann verfassten Texte nannten die eklatanten Missstände im Deutschen Reich, wie die brutale Unterdrückung politischer Gegner und die Judenverfolgung, unverblümt beim Namen. Besonders berühmt wurden Erika Manns Auftritte als SS-Mann im Stück „Prinz im Lügenland“ mit dem abgewandelten Sprichwort „Wer immer lügt, dem wird man glauben“ oder Therese Giehse als Hexe, die sich freut, dass nun die Juden als Sündenböcke dastehen und nicht mehr ihresgleichen. Doch wurde sorgfältig vermieden, die mächtigen politischen Feinde direkt zu benennen. Die Behörden der Gastländer hatten somit keine unmittelbare Handhabe, das Wirken des Kabaretts wegen Verleumdung der deutschen Regierung zu unterbinden. Der Druck des deutschen Auswärtigen Amtes auf die Nachbarländer nahm jedoch zu. Auch deshalb wurden die Arbeitsbedingungen für „Die Pfeffermühle“ zunehmend schwieriger. Zudem erwiesen sich die verschärften Auflagen der Zensurbehörden als gravierende Einschränkung der künstlerischen Freiheit. In den USA erhoffte sich das Ensemble bessere Arbeitsbedingungen. So startete in New York im Januar 1937 mit „Erika Mann’s Peppermill“ eine englische Version der „Pfeffermühle“. In den USA war aber die Kunstform des literarisch-politischen Kabaretts unbekannt. Dem „Peppermill“-Programm war kein Erfolg beschieden, und so endete im Frühjahr 1937, wie Klaus Mann anmerkte, das „erfolgreichste theatralische Unternehmen der deutschen Emigration“.
Daniel Gerson
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Plisch und Plum (Bildergeschichte von Wilhelm Busch, 1882)
Literatur Helga Keiser-Hayne, Erika Mann und ihr politisches Kabarett „Die Pfeffermühle“ 1933– 1937. Texte, Bilder, Hintergründe, Reinbek 1995. Irmela von der Lühe, Erika Mann – Eine Biographie, Frankfurt am Main 1999. Armin Strohmeyer, Klaus und Erika Mann – Eine Biographie, Leipzig 2004.
Platzl → Kabarett im Nationalsozialismus
Plisch und Plum (Bildergeschichte von Wilhelm Busch, 1882) Nicht zuletzt aufgrund des unverkennbar in antisemitischer Bildsprache gezeichneten „Schmulchen Schievelbeiner“ in seiner Bildergeschichte „Plisch und Plum“ wurde Wilhelm Busch (1832–1908) immer wieder als Propagandist des Antisemitismus angeprangert. So ist dieses Bild etwa in eine für den Schulunterricht zusammengestellte Quellensammlung zum Antisemitismus in Deutschland aufgenommen. Die Zeichnung von Schievelbeiner, so Julius H. Schoeps, sei „klassischer Antisemitismus“. Heinrich Böll bezeichnete den Humor von Busch als antisemitisch und hielt ihm vor, „auf das widerwärtige Lachen des Spießers“ zu setzen. Golo Mann hingegen bestritt, dass Busch ein „arger Antisemit“ gewesen sei. „Das stimmt nicht“, so Mann, und doch fügte auch er hinzu, „ein klein bißchen“ sei er es schon gewesen. Da antisemitische Bildmotive aber relativ selten im Werk von Busch auftauchten, zählte ihn Peter Gay zu den „oberflächlichen und sporadischen Antisemiten“. Tatsächlich tauchten antisemitische Bildmotive im Werk von Wilhelm Busch lediglich an drei Stellen auf, und neben dem Rollengedicht in der → „Frommen Helene“ war es vor allem diese Figur aus „Plisch und Plum“, auf die sich die Vorwürfe konzentrieren. In dieser Geschichte erzählt Busch, wie ein Hundehasser von üblem Charakter seine zwei Hunde ertränken will. Diese werden aber von den beiden Knaben Paul und Peter Fittig gerettet, die ihnen nun die Namen Plisch und Plum geben und sie mit nach Hause zu den als bieder und kleinbürgerlich gezeichneten Eltern nehmen. Beim Abendessen und in der folgenden Nacht richten die beiden Hunde jedoch erheblichen Schaden im Hause Fittig an, sodass sie in die Hundehütte vor dem Haus gesetzt werden. Dort aber geht das Unheil weiter, nicht nur im eigenen, sondern auch im Garten der Nachbarn. Im folgenden Kapitel taucht nun Schmulchen Schievelbeiner auf: „Kurz die Hose, lang der Rock, Krumm die Nase und der Stock, Augen schwarz und Seele grau, Hut nach hinten, Miene schlau – So ist Schmulchen Schievelbeiner.“ Dieser wird von Plisch und Plum angefallen, und die Hunde zerfetzen seine Hose. Schievelbeiner aber setzt sich zur Wehr. Schließlich lässt er sich den Schaden vom Vater Fittig ersetzen. Busch imitierte in dieser Szene den jüdischen Jargon, indem er Schievelbeiner sagen lässt: „Zahlt der Herr von Fittig nicht, Werd ich klagen bei’s Gericht!“
Plisch und Plum (Bildergeschichte von Wilhelm Busch, 1882)
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Als im nächsten Kapitel eine Hündin auftaucht, balzen Plisch und Plum um diese und es kommt zu einem heftigen Kampf, der in der Küche fortgeführt wird, wo nun auch Paul und Peter in Streit geraten, wiederum mit turbulenten Folgen. Am Ende bekommen die Kinder eine Tracht Prügel vom Vater. Die Hunde werden an die Hundehütte angeleint und die Kinder auf die Schule geschickt. Dort aber gehorchen sie dem Lehrer nicht, sodass auch dieser sie verprügelt. Schließlich fügen Peter und Paul sich, geben aber die Lektion an die Hunde weiter und verprügeln nun ihrerseits Plisch und Plum, was am Ende zu einem guten Ergebnis führt, denn wohlerzogen und gehorsam holen die beiden Hunde nun einem Zugereisten, der in den Teich gefallen ist, seine Utensilien aus dem Wasser. Der Fremde ist von den beiden Hunden so angetan, dass er sie nun Fittig für einen hohen Geldbetrag abkauft. Eingerahmt wird diese Geschichte von den bösartigen Kommentaren des eingangs geschilderten Hundehassers, der ob des finanziellen Gewinnes von Fittig vor Neid erblasst und erschreckt in den Teich fällt und stirbt. Sowohl ikonografisch als auch sprachlich hat sich Busch in dieser, im Oktober 1881 bis März 1882 ausgearbeiteten und im Juni 1882 bei Bassermann in Heidelberg erschienenen Geschichte antisemitischer Motive bedient. Es handelt sich bei dieser Szene aus „Plisch und Plum“ auch nicht um ein Rollengedicht, in dem die antisemitische Haltung von Kleinbürgern karikiert wird wie in der „Frommen Helene“. Busch hat unzweideutig das herabwürdigende Bild eines Juden gezeichnet und sich dabei der Sprache des Antisemitismus bedient. Und doch sollten die Brüche in dieser Bildergeschichte nicht übersehen werden, die erstens darin liegen, dass Busch der antisemitischen Schilderung des hässlichen Juden Schievelbeiner die Bemerkung anfügte: „(Schöner ist doch unsereiner!)“, ein Zusatz, mit dem sich Busch über die Selbstüberschätzung und Überheblichkeiten antisemitischer Leser lustig machte. Bemerkenswert ist zweitens, dass der Schievelbeiner insofern dem antisemitischen Klischeebild nicht entspricht, als dieser sich zur Wehr setzt und die Hunde überlistet: „Soll ihm das noch mal passieren? Nein, Vernunft soll triumphieren.“ Schließlich ist drittens Schievelbeiner in dieser Geschichte eher als Opfer denn als Täter gezeichnet, sodass er auch in dieser Hinsicht kaum dem gängigen Klischeebild der antisemitischen Agitation entspricht. Verlegerisch hatte auch „Plisch und Plum“ großen Erfolg. Schon im ersten Jahr (1882) wurde das Buch in mehreren Auflagen mit insgesamt 13.000 Exemplaren gedruckt, im darauffolgenden Jahr erschien eine Neuauflage. Bis zum Tod von Wilhelm Busch 1908 erlebte die Geschichte eine Auflage von 55.000 Stück.
Ulrich Wyrwa
Literatur Wilhelm Busch, Die Bildergeschichten. Historisch-kritische Gesamtausgabe in drei Bänden, hrsg. von Herwig Guratzsch und Hans Joachim Neyer. Bearbeitet von Hans Ries, Hannover 2002. Michaela Diers, Wilhelm Busch. Leben und Werk, München 2007. Gert Ueding, Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature, Frankfurt am Main 1977.
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The Plot (Comic von Will Eisner, 2006)
The Plot (Comic von Will Eisner, 2006) „The Plot: The Secret Story of The Protocols of the Elders of Zion“ [Das Komplott: Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion] ist ein Comic-Album des US-amerikanischen Zeichners Will Eisner (New York 2006), das sich „Die Protokolle der Weisen von Zion“ vornimmt, jene berüchtigte Fälschung, die zu einem Haupt-Bezugspunkt des Antisemitismus wurde. William Erwin Eisner war einer der wichtigsten Pioniere des amerikanischen Comics. Er wurde am 6. März 1917 in Williamsburg (New York) geboren als Sohn eines österreichischen Vaters und einer rumänischen Mutter. Er lebte später in den Mietskasernen (Tenements) der Bronx, die er in seinen Werken brillant illustrierte. Sein zeichnerisches Talent hatte er von seinem Vater geerbt, der Bühnenbildmaler am Jiddischen Theater in Wien und anschließend in New York war. Zusammen mit Samuel „Jerry“ Iger gründete er 1936 das erste Comic-Book-Studio. 1940 erfand er die Figur „The Spirit“, eine der wegweisendsten Figuren des goldenen Zeitalters der Comic-Books, die ihn weltweit bekannt machen sollte. Doch erst 1978, als er im fortgeschrittenen Alter war, schrieb er zum zweiten Mal Geschichte innerhalb der „neuvième art“ [„Neunte Kunst“, die gängige französischsprachige Bezeichnung für das Comic-Zeichnen]: Mit „A Contract with God, and Other Tenement Stories“ (dt.: Ein Vertrag mit Gott und andere Geschichten, 2010) eröffnete er der Comic-Kultur seines Landes ein neues Format, die „Graphic Novel“, deren Bezeichnung und Konzept er prägte. Gleichzeitig hatte er mit seinem Band die Absicht zu gedenken – auch dies eine Pionierleistung, die Bänden wie „Maus“ (1980– 1986) von Art Spiegelman den Weg ebnete. Will Eisner war da bereits 61 Jahre alt. Ab dieser Zeit publizierte er vermehrt Werke, die Juden in den Mittelpunkt stellten, die im Comic bis dahin faktisch nicht aufgetaucht waren. 2003 veröffentlichte er mit „Fagin the Jew“ eine Biografie des Negativcharakters aus Charles Dickens’ „Oliver Twist“. Indem er Fagin Konsistenz und eine Perspektive gab, wollte Eisner die antisemitischen Vorurteile dekonstruieren, die der berühmte englische Jugendroman kolportiert. Vom selben Geist beseelt schuf er 2004 – mit 87 Jahren – eine Art „Testament“: „Das Komplott“. Seit Langem herrscht unter Historikern Einigkeit darüber, dass „Die Protokolle der Weisen von Zion“ eine Fabrikation der zaristischen Geheimpolizei aus dem Jahr 1903 sind, um die Pogrom-Politik des russischen Zaren zu rechtfertigen. Man weiß, dass das Werk fast wortwörtlich mehrere Passagen des Pamphlets „Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquieu“ [Gespräch zwischen Machiavelli und Montesqieu in der Hölle; Paris: Mertens et fils, 1864] plagiiert, das der französische Journalist Maurice Joly mit dem Ziel schrieb, zu zeigen, wie Kaiser Napoleon III. ein Komplott schmiedet, um die Weltherrschaft zu erringen. Eisner machte es wie Henri Rollin, ein Journalist und ehemaliges Mitglied des französischen Marine-Geheimdienstes, der 1939 in seinem Werk „L’Apocalypse de notre temps“ den Fälschungscharakter der „Protokolle“ entlarvte: Er konfrontierte beide Texte ausgiebig miteinander und nutzte den Comic, um 15 relativ lange Zitate gegenüberzustellen, auf die man beim zweiten Lesen zurückkommen kann. Doch die Fiktion erlaubte es ihm, es noch besser zu machen: Er folgt Schritt für Schritt einem
Der Pogrom (Textsammlung von Konrad Heiden, 1939)
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Agenten der zaristischen Polizei namens Mathieu Golovinski, den er als Urheber der Fälschung darstellt. Eisner zeigt, wie das von diesem Mann produzierte grobschlächtige Artefakt gegen alle Wahrscheinlichkeit gekonnt genutzt wurde: Von den Antisemiten wie Hitler, der in „Mein Kampf“ behauptete, dass dieses Dokument echt sei, „denn die Juden werden nicht müde zu sagen, es sei eine Fälschung“. Was aber faszinierte Eisner an dieser Geschichte? Zunächst einmal, dass die Wahrheit allein nicht ausreicht. Der Nachweis über die Herstellung dieser Fälschung mag unwiderlegbar erbracht sein, doch das solchermaßen generierte Szenario lässt sich unendlich oft wieder aufgreifen. Es wurde in alle denkbaren Sprachen übersetzt, insbesondere in der arabisch-muslimischen Welt, aber auch in Japan und China. Das Falsifikat wurde auch für eine arabische Fernsehserie adaptiert. Eisner verarbeitete noch eine andere Entdeckung: nämlich, ab welchem Punkt ein solches Szenario tödlich sein kann. Als belastendes Buch, als Dokument, als Werk der Erinnerung und der Bildung ist Eisners Comic-Album auch eine Reflexion über den Umgang mit Informationen im 20. Jahrhundert. Es ist ein nützliches Referenzwerk zur Aufklärung über den Antisemitismus gegenüber einer Bevölkerung, die mit Comic-Alben vertraut ist, insbesondere die Jugend.
Didier Pasamonik Übersetzung aus dem Französischen von Bjoern Weigel
Literatur Will Eisner, Fagin the Jew: A Graphic Novel, New York 2003. Didier Pasamonik, La Mémoire et le roman graphique, dans De Superman au Chat du rabbin – Bande dessinée et mémoires juives, Paris 2007 (Ausstellungskatalog).
Der Pogrom (Textsammlung von Konrad Heiden, 1939) Die 1939 anonym von dem deutschen Journalisten Konrad Heiden in Zürich und Paris publizierte Textsammlung „Der Pogrom“ ist eines der ersten Bücher überhaupt, das sich mit der „Reichskristallnacht“ 1938 in Deutschland auseinandersetzt. Anders als sein im gleichen Jahr auf Englisch, Französisch und Schwedisch veröffentlichtes Buch „The new inquisition“ handelt es sich nicht um eine zusammenhängende Darstellung der Ereignisse in Deutschland. In zwei großen Abschnitten druckt Heiden Zeitungsartikel, Auszüge aus Büchern und Berichte zum einen über den Pogrom und seine Vorgeschichte, zum anderen über die Reaktionen darauf in der Welt ab, jeweils mit einleitenden Bemerkungen und eingestreuten Kommentaren des Herausgebers. Heiden dokumentiert den umfassenden Charakter der antijüdischen Gewalt im NSHerrschaftsbereich, die Morde, Plünderungen, die Haltung der Bevölkerung und legt den inszenierten Charakter der Ereignisse offen. Überdies ordnet er den Novemberpogrom in die vorangegangene Serie antisemitischer Verordnungen und Maßnahmen ein. In der einleitenden Reflexion bringt Heiden die antijüdische Gewalt im November 1938 und vor allem die damit einhergehende Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung in einen engen kausalen Zusammenhang mit den Kriegsvorbereitungen, indem er darin den Versuch sieht, neue Mittel für die Rüstung zu erschließen. Vor allem aber
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Pokłosie (Film von Władysław Pasikowski, 2012)
erkennt er hierin auch einen Wendepunkt in der Politik des NS-Regimes gegen die Juden, denn, so schreibt er, die brutalen Verfolgungen seit Frühjahr 1938 „waren das Mittel in den Händen der faschistischen Machthaber, mit dem sie die halbe Million Juden Deutschlands in einen gehetzten, gedemütigten, haltlosen Haufen verwandeln wollten, um sie restlos auszuplündern und dann auch physisch vernichten zu können“. Dementsprechend bildet er mit den Dokumenten ein Panorama der Gewalt ab und betont, dass die abgedruckten Quellen nur eine Auswahl sind. Im zweiten Abschnitt findet sich eine nach Staaten gegliederte Auswahl von übersetzten Presseberichten aus aller Welt, die die, freilich letztlich folgenlosen, empörten Reaktionen von Politikern, Kirchen, Organisationen und Persönlichkeiten auf die Ereignisse in Deutschland dokumentieren. Vorangestellt ist der Dokumentensammlung ein ausführliches Vorwort von Heinrich Mann. Mann deutet den Pogrom als eine Drohung des NS-Regimes an die Welt: Diese solle erstarren und „den Widerstand vergessen“; eine weitere Absicht sei „die Erziehung der gesamten Mitwelt zur Unmenschlichkeit, vermittels der Gewöhnung an ihren Anblick“, und schließlich sollte der Pogrom die Allmacht Hitlers demonstrieren. Diese Ziele, so Mann, seien nicht erreicht worden, da die Welt mit Abscheu reagiert habe. Vielmehr habe sich das Regime selbst bloßgestellt. Die Haltung der überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes interpretiert Heinrich Mann als stille Ablehnung, als innerliche Missbilligung und Empörung, die sich nur selten offen gezeigt habe. Die Motivation der Täter sieht er nicht im Hass auf die Juden, ihnen sei es nicht um die Juden gegangen: „Sie sind eingedrungen, wo es erlaubt war, haben misshandelt, wen sie durften und gestohlen, was frei stand.“ Wäre ihnen ein Vorgehen gegen Christen erlaubt worden, hätten sie, so Mann, auch dies getan. Die Deutung des Novemberpogroms als radikalen Wendepunkt der NS-Judenpolitik hin zu einer auf Massenmord ausgerichteten Politik hat Heiden in seinem Bericht „The new inquisition“ im gleichen Jahr noch einmal sehr viel pointierter aus den Zeugenberichten und der NS-Presse hergeleitet und dargelegt.
Markus Roth
Literatur Konrad Heiden, Eine Nacht im November 1938. Ein zeitgenössischer Bericht, hrsg. von Markus Roth, Sascha Feuchert und Christiane Weber, Göttingen 2013.
Pokłosie (Film von Władysław Pasikowski, 2012) Władysław Pasikowskis Film „Pokłosie“ [Nachlese] erzählt die Geschichte zweier Brüder, die im Polen der Gegenwart das kollektiv beschwiegene Geheimnis ihres Heimatdorfes aufdecken: Die ortsansässige jüdische Bevölkerung wurde während der Okkupation nicht von den Deutschen ermordet, sondern von den polnischen Nachbarn. Dem Handlungsgerüst liegt der Pogrom in der ostpolnischen Kleinstadt Jedwabne zugrunde (10. Juli 1941). Die Auseinandersetzung mit diesem Geschehen – ausgelöst durch Jan Tomasz Gross’ Buch → „Sąsiedzi“ [Nachbarn, 2000] sowie den gleichnamigen Dokumentarfilm Agnieszka Arnolds (2001) – führte zur heftigsten Debatte in
Pokłosie (Film von Władysław Pasikowski, 2012)
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Polen nach 1989. Der Titel des Films kann somit auch verstanden werden im Sinne einer diskursiven „Nachlese“, die dieser Debatte ein Narrativ abgewinnt, den Stoff also nicht in dokumentarischer Form aufgreift, sondern frei gestaltet. Dass „Pokłosie“ ein breites Echo fand, war nicht zuletzt dem Ruf des Regisseurs zu verdanken: Pasikowskis actiongeladene Filme „Psy“ („Hunde“, 1992) und „Psy 2“ (1994) hatten seinerzeit Kultstatus erlangt. Die Geschichte setzt mit dem Konflikt der beiden Brüder Kalina ein, der spezifisch polnische Züge trägt: Der ältere, Franciszek (Ireneusz Czop), ist in die USA emigriert, um dort ein besseres Leben zu suchen. Er hat das Land des Vaters (den Hof) verlassen, als das Vaterland (in den Jahren der Solidarność) um die Freiheit kämpfte. Józef hingegen (Maciej Stuhr) erfüllte die moralische Verpflichtung gegenüber den Eltern und übernahm die bescheidene Wirtschaft. Er bewundert den älteren Bruder – und wirft ihm vor, die Familie im Stich gelassen zu haben. Doch auch Franciszek bringt aus dem Traumland Amerika mehr Frustration mit als Erfüllung. Anlass für den Besuch in der alten Heimat ist die Nachricht von einem Konflikt Józefs mit den Dorfbewohnern: Wie besessen sucht Józef jüdische Grabsteine, die als Baumaterial verwendet wurden, und stellt sie auf seinem Getreidefeld auf. Franciszek, der zu Beginn mehrfach antisemitische Ressentiments formuliert, betrachtet das zunächst mit größter Skepsis. Ein Wandel seiner Ansichten aber lässt dann gerade ihn zur treibenden Kraft der „Nachlese“ werden. Die Dorfbewohner reagieren auf die Nachforschungen der Brüder mit wachsender Aggression. Entscheidenden Aufschluss liefert eine Prüfung der Grundbücher: Die meisten Höfe im Dorf waren jüdischer Besitz gewesen, der nach 1945 umgeschrieben wurde. Die endgültige Aufklärung ist entsetzlich: Ort des Verbrechens war das frühere Elternhaus der Brüder, einer der Haupttäter war ihr eigener Vater. Nun kehrt sich das Verhältnis dramatisch um: Franciszek, der in den ersten Szenen immer wieder den abschätzigen Diminutiv „Żydki“ [„Jüdchen“] verwendet hat, zeigt sich geläutert – er will, dass die Welt erfährt, was in ihrem Haus geschehen ist. Józef, der die Grabsteine vor dem Verfall rettet, weil „einer sich doch kümmern muss, wenn von ihnen niemand mehr lebt“, der in der Kneipe Prügel kassiert für seine Replik, er habe immer zu „Lech“ gehalten (und damit Wałęsa meint und nicht den Fußballverein Lech Poznań), gerät in Panik, will die Familie schützen. Es kommt zu einem Handgemenge, Franciszek bricht wütend auf. Kaum dass er das Anwesen verlassen hat, rächen sich die Dorfbewohner auf grausame Weise: Sie kreuzigen Józef am Scheunentor. In der letzten Szene spricht ein Rabbiner mit einer Gruppe Juden das Kaddisch auf dem Feld, das zur Gedächtnisstätte geworden ist – Józefs „Opfertod“ war nicht umsonst. Im Rückgriff auf die Martyrologie, der die polnische „Unschuldsbesessenheit“ entsprang (Tokarska-Bakir in „Eurozine“ vom 15. Mai 2003), sprengt der Film zugleich den Panzer dieser Geschichtsdeutung. Neben den grellen Tönen enthält „Pokłosie“ subtile Verweise, die ihn im Kontext jüdisch-polnischen Gedächtnisses verorten. Den wichtigsten Bezugspunkt stellt Paweł Łozińskis Dokumentarfilm „Miejsce urodzenia“ [Geburtsort, 1992] dar. In diesem Film besucht der jüdisch-polnische Schriftsteller Henryk Grynberg – 25 Jahre nach seiner Emigration 1967 – sein Heimatdorf Radoszyna, um dort zu erfahren, wer der Mörder seines Vaters ist: Ein polnischer Bauer – ein Nachbar – hat Abram Grynberg
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Pokłosie (Film von Władysław Pasikowski, 2012)
1944 erschlagen. Pasikowskis Exhumierungsszene ist das deutlichste Zitat aus „Geburtsort“, doch auch der Beginn (die Ankunft des Flugzeugs aus den USA) oder der Streit auf dem Hof des alten „Sum“ (Ryszard Ronczewski) lassen sich mit Łozińskis Film in Verbindung bringen. Diese Überblendung verleiht „Pokłosie“ seine Tiefendimension. Indem Pasikowski mit „Geburtsort“ die Biographie eines der wichtigsten jüdisch-polnischen Schriftsteller in seine Erzählung integriert, erweitert er die Perspektive zu einem umfassenden „Nachgedächtnis“ (Tokarska-Bakir 2003). Der Film wurde in den großen polnischen Tageszeitungen einhellig positiv besprochen. Allerdings neigten die meisten Rezensenten dazu, Form und Inhalt getrennt zu betrachten. „Pokłosie“, so etwa das Resümee Barbara Hollenders in „Rzeczpospolita“ vom 9. November 2012, leiste einen eminent wichtigen Beitrag für die Auseinandersetzung mit einem schmerzhaften Thema, könne jedoch in ästhetischer Hinsicht – mit seiner plakativen Darstellungsweise, die an einen Western erinnere – nicht unbedingt überzeugen. In der öffentlichen Debatte um den Film traten erneut die Akzente der Diskussion um Jedwabne zutage: Rechtskonservative Medien warfen ihm vor, „antipolnisch“ zu sein. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist das Gespräch, das Tomasz Lis in seiner Sendung „na żywo“ [„live“] im November 2012 mit Maciej Stuhr führte. Hier kamen unter anderem die verbalen Attacken zur Sprache, denen sich der Schauspieler in der anonymen Grauzone der Internet-Foren ausgesetzt sah. Einen Überblick über die polnische Rezeption des Films gab Klaus Brill in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 2. Januar 2013; er wertete den Film als Beweis dafür, „dass Polen im gesellschaftlichen Selbstfindungsprozess weiter fortgeschritten [sei] als jedes andere postkommunistische Land“. Katarzyna Weintraub wiederum wies im deutsch-polnischen Magazin „Dialog“ (103/2013) darauf hin, dass es für das Bemühen Józef Kalinas, jüdisches Erbe zu retten, authentische Vorbilder gibt: Ireneusz Ślipek etwa bewahrte in der Ortschaft Warta (Woiwodschaft Łódź) in rein privater Initiative über 1000 jüdische Grabsteine vor dem Verfall. In Deutschland wird der Film nur im Rahmen von Festivals gezeigt. Was die polnische Seite zutiefst verstören muss, könnte für die deutsche zur Quelle eines schwerwiegenden Missverständnisses werden. Adam Michnik formulierte diesen Gedanken in Bezug auf Jedwabne – in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe des Buches „Nachbarn“ –, für „Pokłosie“ gilt er ebenso: Es wäre ein fataler Fehler, in diesem Film nach „Entlastungsargumenten“ zu suchen, die dem Ziel dienen sollten, Auschwitz zu relativieren (Gross 2001).
Lothar Quinkenstein
Literatur Barbara Engelking, Helga Hirsch (Hrsg.), Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden, Frankfurt am Main 2008. Jan Tomasz Gross, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001. Magdalena Marszałek, Alina Molisak (Hrsg.), Nach dem Vergessen. Rekurse auf den Holocaust in Ostmitteleuropa nach 1989, Berlin 2010. Karol Sauerland, Polen und Juden zwischen 1939 und 1968. Jedwabne und die Folgen, Berlin, Wien 2004.
Der Pole im Schrank (Videodokumentation von Artur Żmijewski, 2007)
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Der Pole im Schrank (Videodokumentation von Artur Żmijewski, 2007) Das Projekt „Der Pole im Schrank“ und seine gleichnamige Videodokumentation sind im Rahmen der Zusammenarbeit des Künstlers Artur Żmijewski und der Anthropologin und Ethnologin Joanna Tokarska-Bakir entstanden. Tokarska-Bakir, eine wichtige Teilnehmerin der Jedwabne-Debatte in Polen, führte im Jahre 2005 mit einer Gruppe ihrer Studenten und Doktoranden Feldforschungen zur sogenannten Blutlegende in der Gegend von Sandomierz, im südöstlichen Polen, durch. In der Kathedrale der Stadt Sandomierz hängt ein Gemälde des wenig bekannten, in Sandomierz ansässigen italienischen Malers Karol de Prevôt aus dem frühen 18. Jahrhundert, das einen Ritualmord darstellt. Nach 2000 wurde in der polnischen Presse eine vom katholischen Priester Stanisław Musiał initiierte kontroverse Diskussion über das Bild geführt: Musiał schlug die Entfernung des Bildes aus der Kirche vor. Die Feldforschungen von Joanna Tokarska-Bakir haben lebendige Relikte der Ritualmord-Legende – in unterschiedlichen Varianten – im Gedächtnis, vor allem der älteren und mittleren Generationen, der Bewohner südöstlicher polnischer Provinzen nachgewiesen (Tokarska-Bakir 2008, 2010). Sie bestätigen auch die früheren Untersuchungen zur Blutlegende als Element antijüdischer Motive in der polnischen Folklore von Alina Cała. Historiker (u. a. Jolanta Żyndul) weisen außerdem darauf hin, dass auch bei den Pogromen unmittelbar nach Kriegsende in Polen die Gerüchte über einen Kindermord verbreitet wurden. Tokarska-Bakir spricht – in Bezug auf die heutigen Spuren der Blutlegende in Polen – von „Fossilien“ eines alten gesamteuropäischen antijüdischen Phantasmas, das einen geheimen Kern des europäischen Antisemitismus darstelle. Artur Żmijewski führte mit den jungen Teilnehmern der Feldforschungen in Sandomierz eine therapeutische Kunstaktion durch, in der die Jugendlichen die belastenden Erfahrungen bei der Durchführung der Feldforschung verarbeiten konnten. Die jungen Ethnologen erzählen über ihre Arbeit und über ihre Schwierigkeiten, mit dem schockierenden Wissen umzugehen. Zur Kunstaktion „Der Pole im Schrank“ gehörte auch eine symbolische Zerstörung des Bildes aus der Kathedrale in Sandomierz: In einer Galerie in Warschau vernichten (zerschneiden, überstreichen, verbrennen) die jungen Forscher einige Kopien des Bildes, während sie über ihre Erfahrungen berichten. Es entstand eine ausdrucksvolle Dokumentation des Ringens der jungen Generation mit der unheimlichen Hinterlassenschaft – zwischen Ohnmacht, Frust und Protest. Aufgrund der Nachforschungen und der Kampagne in der Presse wurde das Gemälde in der Kathedrale in Sandomierz im Jahre 2006 mit einer Leinwand zugedeckt. 2014 wurde das Bild wieder enthüllt und mit einer Tafel versehen, die über das Vorurteil aufklärt: Damit wurde das Postulat nach einem offenen, kritischen Umgang mit dem antisemitischen kulturellen Erbe, das bereits in den Diskussionen nach 2000 formuliert wurde, realisiert.
Magdalena Marszałek
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Portretul luptătorului la tinereţe (Film von Constantin Popescu, 2010)
Literatur Alina Cała, The Image of the Jew in Polish Folk Culture, Jerusalem 1995. Joanna Tokarska-Bakir, Legendy o krwi. Antropologia przesądu [Blutlegenden. Anthropologie des Vorurteils], Warszawa 2008. Joanna Tokarska-Bakir, Blutlegenden. Anthropologie und Archäologie des Blutaberglaubens am Beispiel aktueller ethnographischer Studien in der polnischen Provinz, in: Magdalena Marszałek, Alina Molisak (Hrsg.), Nach dem Vergessen. Rekurse auf den Holocaust in Ostmitteleuropa nach 1989, Berlin 2010, S. 25–46. Jolanta Żyndul, Kłamstwo krwi. Legenda mordu rytualnego na ziemiach polskich w XIX i XX wieku [Die Blutlüge. Die Legende des Ritualmords auf den polnischen Gebieten im 19. und 20. Jahrhundert], Warszawa 2011.
Portretul luptătorului la tinereţe (Film von Constantin Popescu, 2010) Der Streifen des rumänischen Regisseurs Constantin Popescu „Portretul luptătorului la tinereţe“ [Porträt des Kämpfers als junger Mann] wurde bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin, am 13. Februar 2010, im „Forum“, uraufgeführt. Der 163 Minuten lange Film ist eine Hommage an die Beteiligten des zum post-kommunistischen Mythos verklärten „bewaffneten Widerstands“ rumänischer Freischärler, die sich nach 1948 in den Karpaten verschanzt hatten. In schwülstig-verworrenen, lose aneinandergereihten Episoden rekonstruiert der Film die Geschichte einer von Ion Gavrilă Ogoranu, genannt „Moşu“ [der Alte] und gespielt von Constantin Diţă, angeführten Guerillagruppe und dokumentiert deren Scharmützel mit der kommunistischen Geheimpolizei Securitate. Obwohl der Regisseur in mehreren Stellungnahmen darauf verwies, es handle sich um einen rein fiktionalen Film, basiert die Geschichte auf den nach der Wende veröffentlichten Memoiren von Ion Gavrilă Ogoranu (1923–2006). Die meisten der agierenden Personen tauchen zudem unter ihren richtigen Namen auf, außer einem der Partisanen, genannt Rudan (richtig: Boian), der als Verräter und Securitatemitarbeiter von seinen Kollegen entlarvt und in der turbulenten Eingangsszene erschossen wird. Parallel zu den Vorgängen rund um den heroischen Überlebenskampf der Partisanen schildert der Film in antithetisch aufgeladenen Szenen die rohe Brutalität, fanatische Einfallslosigkeit und ideologische Dummheit der Geheimpolizei. Über die politischen Beweggründe der Rebellen schweigt sich der Film aus, ebenso über ihre politischen Ziele, Vorstellungen, Wünsche und Zukunftsvisionen. Aus nebulösen Dialogfetzen der Protagonisten geht lediglich hervor, dass die Partisanen rumänische Patrioten sowie Gegner der Sowjets waren und auf eine militärische Intervention der Anglo-Amerikaner warteten. Eine kryptische Antwort auf alle offenen Fragen gibt der Schluss des Films, durch das Einblenden der Gestalt des real-existierenden, alten Gavrilă Ogoranu – der im Unterschied zu den meisten seiner ehemaligen Kampfgefährten im Untergrund überlebt hat und 1993 zusammen mit Anhängern der faschistischen „Legion des Erzengels Michael“ eine Nachfolgeorganisation, die „Partei für das Vaterland“ (2012 umbenannt in „Partei alles für das Land“) gegründet hat. Von 2005 bis zu seinem Tod 2006 war Ogoranu auch Vorsitzender dieser Partei.
Professor Mamlock (Drama von Friedrich Wolf, 1933)
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Gegen die Filmvorführung auf der Berlinale und die mystifizierende Darstellung Ion Gavrilă Ogoranus als Vorbild für demokratisches Handeln protestierte das Nationale Institut für das Studium des Holocaust in Rumänien „Elie Wiesel“. In einem offenen Brief an die Festspielleitung wurde auf die politische Biografie des Haupthelden verwiesen, der bereits als Gymnasiast Mitglied der legionaristischen Jugendorganisation, der Kreuzbruderschaft, war. In dem Brief wurde auch auf die antidemokratische, rassistische und antisemitische Komponente der rechtsextremistischen Legionärsideologie aufmerksam gemacht und das militante Auftreten Ogoranus als neo-legionaristischer Propagandist in der Nachwendezeit erwähnt. In einem im Berlinalekatalog abgedruckten Gespräch erklärte Regisseur Constantin Popescu, er habe wohl Ogoranus Memoiren gelesen, aber erst nachträglich „gehört, dass er später ein Nationalist gewesen sein soll“. In den sieben Bänden seiner Memoiren („Brazii se frîng, dar nu se îndoiesc“ [Die Tannen werden gefällt, aber nicht verbogen]), die nach 1993 erschienen sind, finden sich zahlreiche Aussagen Ogoranus, die seine politischen Überzeugungen belegen. Den 5. Band seiner Memoiren publizierte übrigens 2006 der Bukarester Verlag der Legionärsbewegung mit dem aussagekräftigen Untertitel: „Im Gleichschritt durch die Kreuzbruderschaft“.
William Totok
Literatur Katalog, Berlinale Forum 2010, S. 97–102. William Totok, Prezenţe româneşti la Berlinală. Producţia românească din cadrul secţiunii „Forum“ a stîrnit controverse [Rumänische Beiträge auf der Berlinale. Über die rumänische Produktion im Forum herrschten Meinungsverschiedenheiten], auf: Radio Free Europe vom 13. Februar 2010.
Pour le mérite (Film von Karl Ritter, 1938) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Professor Mamlock (Drama von Friedrich Wolf, 1933) Friedrich Wolf (1888–1953), in den 1920er-Jahren als Verfasser politisch engagierter Zeitdramatik bekannt geworden, floh im März 1933 – als Jude und als KPD-Mitglied doppelt von der NS-Verfolgung bedroht – in die Schweiz und nach Frankreich. Im ersten Halbjahr 1933 entstand sein Zeitstück „Professor Mamlock. Ein Schauspiel“, das als eine der frühesten und zugleich bekanntesten dramatischen Auseinandersetzungen mit dem NS-Antisemitismus gelten kann. Das Stück wurde am 19. Januar 1934 in jiddischer Sprache unter dem Titel „Der gelbe Fleck“ in Warschau uraufgeführt; der deutschsprachigen Erstaufführung am Zürcher Schauspielhaus (unter dem Titel „Professor Mannheim“) am 8. November 1934 schlossen sich europaweite Bühnenerfolge an. 1935 erfolgte parallel in der Schweiz und in der Sowjetunion die erste Buchpublikation (unter dem Titel „Doktor Mamlocks Ausweg. Tragödie der westlichen Demokratie“). Es wird bis heute aufgelegt. 1938 wurde das Stück in der Sowjetunion erstmals verfilmt; 1961 erfolgte in der DDR eine weitere Verfilmung unter der Regie von Friedrich Wolfs Sohn Konrad Wolf.
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Professor Mamlock (Drama von Friedrich Wolf, 1933)
Der Erfolg des Stückes verdankt sich dem ästhetischen und politischen Kalkül seines Verfassers, das Wolf in seinen Briefen auch reflektierte. Wolf wählte eine klassizistische Dramaturgie, die die politische Entwicklung zwischen Mai 1932 und April 1933 an einer Identifikationsfigur entwickelt, dem jüdischen Chefarzt Hans Mamlock. Seine ganze Anlage ist ein einziges, für die Literatur und Publizistik des Exils typisches Dementi des antisemitischen Stereotyps eines zersetzenden Juden. Mamlock erscheint sowohl in fachlicher als auch in menschlicher Hinsicht als überragende medizinische Autorität, von der es heißt: „Ein Pflichtbewußtsein hat der Mann, direkt eisern, direkt preußisch!“ In seinen politischen Anschauungen ist Mamlock deutschnational-konservativ. Doch trotz seines Frontkämpferstatus, der ihn aufgrund der Ausnahmeklausel für Weltkriegsteilnehmer im „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 vor seiner Entlassung aus der von ihm geleiteten städtischen Klinik bewahren müsste, unterliegt Mamlock der nationalsozialistischen Verfolgung schon in dieser frühen Phase des staatlich praktizierten Antisemitismus: Da er sich mit dem gleichfalls jüdischen, von der Entlassung bedrohten Pfleger Simon solidarisiert, wird er von dem neuen nationalsozialistischen Klinikleiter suspendiert. Zudem distanzieren sich seine konservativ gesonnenen Freunde von ihm. Er wird öffentlich gedemütigt, indem ihm ein Schild mit der Aufschrift „Jude“ umgehängt wird. Damit bricht Mamlocks Vertrauen in den bürgerlichen Staat zusammen. Er erschießt sich und dokumentiert darin seine Einsicht, dass sich der bürgerliche Rechtsidealismus, dem er angehangen hatte, angesichts des Nationalsozialismus als haltlose Illusion entlarvt hat. Die politische Deutung, die Wolf in seinem Stück formuliert, ist deutlich auf ein europäisches bürgerliches Publikum berechnet, weswegen „Professor Mamlock“ in der Forschung gelegentlich als Vorwegnahme der Volksfrontpolitik ab 1935 verstanden wurde. Der Marxist Wolf verzichtet in seinem Stück darauf, den liberalen Rechtsstaatsgedanken theoretisch zu attackieren oder eine Faschismusdeutung im Sinne der zeitgenössischen kommunistischen Doktrin zu bebildern. Er rückt in seiner ersten großen Auseinandersetzung mit dem zur Macht gekommenen Nationalsozialismus den Antisemitismus ins Zentrum, da er die Anfänge der Judenverfolgung als Rücknahme der bürgerlichen Emanzipation interpretiert. Damit sind einerseits die bürgerlich-liberalen Werte seines Publikums respektiert. Auf der anderen Seite problematisiert er diese Werte aufgrund der politischen Passivität und Naivität, mit der Mamlock sie verficht. Als alternativer und vom Stück favorisierter Weg wird ihm sein kommunistischer Sohn Rolf gegenübergestellt, mit dem er politisch zerstritten ist, weil dieser dem neuen Regime gewaltsam Widerstand entgegensetzen will. Erst mit seinem Selbstmord anerkennt Mamlock, dass die Methoden seines Sohnes die richtigen sind. Damit wird einerseits die KPD politisch privilegiert, dies geht aber einher mit einer Reduktion ihrer spezifischen politischen Inhalte: Sie erscheint, indem sie mit der Verteidigung des Rechtsstaates beauftragt wird, nicht als Repräsentantin einer grundsätzlichen politischen und ökonomischen Alternative, sondern als geeignete Bewahrerin jener Werte, die das liberale Bürgertum nicht zu verteidigen imstande war. In seinem flankierenden Briefwechsel formulierte Wolf andere politische Positionen als in seinem Drama. Die im Nachhinein geradezu prophetische Einsicht in die destruktive Dimension des NS-Antisemitismus – das Stück endet mit dem exemplari-
Der Prozeß (Film von G. W. Pabst, 1948)
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schen Tod der jüdischen Hauptfigur – resultierte offenbar weniger aus Wolfs politischen Diagnosen als vielmehr aus der ästhetischen Logik seines streng aristotelisch gebauten Dramas, das regelkonform mit einer Katastrophe endet. Nach Abschluss des Stückes schrieb Wolf in einem Brief: „Politisch entwickelt sich die Lage ja im Riesentempo in unserm Sinne [...]. Ich hoffe 1934 wieder in Germany zu sein, irgendwo.“ Er sollte erst 1945 zurückkehren, in ein Land ohne Mamlocks.
Carsten Jakobi
Literatur Friedrich Wolf, Briefwechsel. Eine Auswahl, hrsg. von Else Wolf und Walther Pollatschek, Berlin/Ost, Weimar 1968. Friedrich Wolf, Ein „Mamlock“? – Zwölf Millionen Mamlocks!, in: Friedrich Wolf, Gesammelte Werke in sechzehn Bänden, hrsg. von Else Wolf und Walther Pollatschek, Band 15: Aufsätze 1919–1944, Berlin/Ost, Weimar 1967, S. 476–479. Gudrun Düwel, Friedrich Wolf und Wsewolod Wischnewski. Eine Untersuchung zur Internationalität sozialistisch-realistischer Dramatik, Berlin/Ost 1975. Anthony Grenville, From Social Fascism to Popular Front: KPD Policy as Reflected in the Works of Friedrich Wolf, Anna Seghers and Willi Bredel, 1928–1938, in: Richard Dove, Stephen Lamb (eds.), German Writers and Politics 1918–39, Houndmills, London 1992, S. 89–102. Carsten Jakobi, Der kleine Sieg über den Antisemitismus. Darstellung und Deutung der nationalsozialistischen Judenverfolgung im deutschsprachigen Zeitstück des Exils, Tübingen 2005. Tom Kuhn, Forms of Conviction: The Problem of Belief in Anti-Fascist Plays by Bruckner, Toller and Wolf, in: Richard Dove, Stephen Lamb (eds.), German Writers and Politics 1918–39, Houndmills, London 1992, S. 163–177. Franz Norbert Mennemeier, Frithjof Trapp, Deutsche Exildramatik 1933 bis 1950, München 1980. Walther Pollatschek, Friedrich Wolf. Leben und Schaffen, Leipzig 1974. Erwin Rotermund, Beharrung und Anpassung. Die ersten Jahre des deutschen Exildramas (1933–1936), in: Erwin Rotermund: Artistik und Engagement. Aufsätze zur deutschen Literatur, hrsg. von Bernhard Spies, Würzburg 1994, S. 186–199. Hans-Christoph Wächter, Theater im Exil. Sozialgeschichte des deutschen Exiltheaters 1933–1945, München 1973.
Professor Mamlock (Film von Adolf Minkin und Herbert Rappaport, 1938) → Professor Mamlock (Drama) Professor Mamlock (Film von Konrad Wolf, 1961) → Professor Mamlock (Drama) Professor Mannheim (Theaterstück, Zürich 1934) → Professor Mamlock (Drama)
Der Prozeß (Film von G. W. Pabst, 1948) Der Film des Regisseurs Georg Wilhelm Pabst „Der Prozeß“ thematisiert einen Ritualmordprozess in Ungarn in den Jahren 1882/83. G. W. Pabst (1885–1967) galt in
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Der Prozeß (Film von G. W. Pabst, 1948)
der Weimarer Republik aufgrund seines 1925 nach einer Romanvorlage von Hugo Bettauer entstandenen Werkes „Die freudlose Gasse“, das mit Greta Garbo und Asta Nielsen in den Hauptrollen die Inflationszeit in Wien behandelte, als Regisseur der Neuen Sachlichkeit. Die Filmzensur ließ den als „entsittlichend“ geltenden Film nur mit erheblichen Schnittauflagen zu. Als Vertreter der Moderne präsentierte sich Pabst auch mit dem auf Frank Wedekinds gleichnamigen Bühnenstück „Die Büchse der Pandora“ (1929) basierenden Werk. 1930 festigte er mit dem pazifistischen Film „Westfront 1918“ seinen Ruf als der „rote Pabst“. Anfang 1933 arbeitete Pabst in Frankreich. Er blieb dort, nachdem in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren und umgehend „Westfront 1918“ auf die Schwarze Liste gesetzt hatten. Pabst plante, Arnold Zweigs Drama „Die Sendung Semaels“ von 1920 (die Bearbeitung seines Kleist-Preis-gekrönten, auf dem wahren Fall von Tiszaeszlár beruhenden Stückes „Ritualmord in Ungarn“ von 1915) zu verfilmen, was aber scheiterte. Als der Kriegsbeginn 1939 Pabsts geplante Emigration in die USA vereitelte, entschloss er sich, wieder im nunmehr „Großdeutschen Reich“ zu arbeiten und brachte mit „Komödianten“ (1941) und „Paracelsus“ (1943) überaus erfolgreiche Historienfilme auf die Leinwand. Nach dem Ende des „Dritten Reiches“ blieb Pabst in Österreich, zunächst auf seinem Schloss Fünfturm in der Steiermark, ab 1946 in Wien. 1947 griff er das Ritualmord-Thema von 1933 wieder auf. Statt Zweigs Drama sollte nun aber Rudolf Brunngrabers kurz zuvor erschienener Roman „Prozeß auf Leben und Tod“ Grundlage des Drehbuchs sein. Die Zusammenarbeit mit Brunngraber war vermutlich kein Zufall, da dessen Lebensweg Parallelen zu jenem Pabsts aufweist. Auch Brunngraber galt in den späten 1920er-Jahren als Vertreter der Neuen Sachlichkeit, der in seinen Werken die soziale Wirklichkeit analysierte und sich die politische Aufklärung zum Ziel gesetzt hatte. Im „Dritten Reich“ war er ein erfolgreicher Sachbuchautor, der 1944 schließlich vom Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion einen Auftrag für ein Werk über das Nachrichtenwesen im Krieg erhielt. Auch Brunngraber versuchte nach 1945, an die Zeit vor dem „Dritten Reich“ anzuknüpfen. Die Handlung des Films „Der Prozeß“ spielt 1882/83 in der ungarischen Provinz. Nachdem das Dienstmädchen Esther verschwunden ist, machen schnell Gerüchte die Runde, die Juden des Ortes hätten einen Ritualmord begangen. Esthers hartherzige Dienstherrin Batori bekräftigt diesen Verdacht. Tatsächlich aber haben Armut und rücksichtslose Ausbeutung durch Batori Esther in den Selbstmord getrieben. Schon bald macht der Judenhasser Graf Ónódy den angeblichen Ritualmord im Reichsrat zum Thema und beantragt eine Untersuchung des Vorfalls. Diese übernehmen der junge Untersuchungsrichter Bary, ein Karrierist, der unter Ónódys Einfluss steht, und der korrupte Polizist Peszely. Unter Folter erpressen sie die Aussage von Moritz Scharf, dem Sohn des Tempeldieners, dass er den Mord beobachtet habe. Infolge von Ónódys fortgesetzter antisemitischer Agitation heizt sich die Stimmung bis hin zum Pogrom auf: Die Synagoge wird niedergebrannt, die Gemeindemitglieder werden verhaftet und vor Gericht gestellt. Im Parlament kommt es hierüber zu einer Auseinandersetzung zwischen Ónódy und dem jungen christlich-liberalen Dr. Eötvös. Im Prozess übernimmt Eötvös schließlich die Verteidigung der vor Gericht stehenden Juden. Ihm
Der Rabbi von Bacherach (Romanfragment von Heinrich Heine, 1840)
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gelingt es, die antisemitischen Machenschaften nachzuweisen, woraufhin das Gericht die Angeklagten freispricht. Der Film umgeht durch das historische Sujet eine Auseinandersetzung mit der Judenverfolgung im „Dritten Reich“ und mit dem Holocaust nur wenige Jahre zuvor. Der Filmhistoriker Wolfgang Jacobsen urteilt daher harsch, das Werk sei „ein pathetisches, architektonisch und kameraperspektivisch ins Überdimensionale getriebenes Pontifikalamt der edlen Gesinnung, das vor dem aktuellen Hintergrund doppelt peinlich wirkt“. Die Uraufführung des Films fand am 5. März 1948 in Zürich statt. Im Herbst 1948 wurden der Regisseur Pabst und der Darsteller des Tempeldieners Scharf, der kurz zuvor aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte österreichisch-jüdische Schauspieler Ernst Deutsch, mit Preisen der Internationalen Jury bei den Filmfestspielen in Venedig ausgezeichnet. In Deutschland durfte der Film aber zunächst nur mit Genehmigung der Besatzungsbehörden in geschlossenen Veranstaltungen vorgeführt werden. Die offizielle Erstaufführung in Deutschland fand erst am 22. November 1950 im Marmorhaus am Kurfürstendamm in West-Berlin statt. Heute zählt der Film zu den weniger bekannten Arbeiten Pabsts.
Jörg Osterloh
Literatur Rudolf Brunngraber, Der Prozeß auf Tod und Leben, Berlin, Wien, Leipzig 1948 (Neuausgabe unter dem Titel: Pogrom, Wien 1956). Wolfgang Jacobsen (Hrsg.), G. W. Pabst, Berlin 1997. Michael Kitzberger, Das Volk, die Fremden, der Held und die Bilder davon. Zu G. W. Pabsts Der Prozeß, in: Ruth Beckermann, Christa Blümlinger (Hrsg.), Ohne Untertitel. Fragmente einer Geschichte des österreichischen Kinos, Wien 1996, S. 197–211. Karl Prümm, Dunkle Schatten und ein blasser Sieg der Vernunft. G. W. Pabst Der Prozeß (1947/48), in: Gottfried Schlemmer, Bernhard Riff, Georg Haberl (Hrsg.), G. W. Pabst, Münster 1990, S. 227–244.
Der Prozess wird vertagt (Film von Herbert Ballmann, 1958) → Zwischenfall in Benderath The Quality of Witness (Tagebuch von Emil Dorian, 1982) → Dorian-Tagebuch
Der Rabbi von Bacherach (Romanfragment von Heinrich Heine, 1840) In dem Fragment gebliebenen historischen Roman „Der Rabbi von Bacherach“ versucht Heinrich Heine die Frage jüdischer Identität zwischen gesellschaftlicher Emanzipation und Antisemitismus literarisch zu verarbeiten. In dem Text erzählt er die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes am Beispiel eines mittelalterlichen Pogroms. Die Vorstufen zu diesem Werk gehen in die Jahre 1824/25 zurück. Die „Damaskus-Affäre“ des Jahres 1840 wird zum Auslöser der letzten Bearbeitung und Veröffentlichung des „Rabbi“ im Vierten Band des „Salons“.
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Der Rabbi von Bacherach (Romanfragment von Heinrich Heine, 1840)
Heine stellt in der Ende des 15. Jahrhunderts spielenden Erzählung zwei Formen jüdischer Kultur gegenüber: das traditionelle, nach innen gekehrte und an Riten festhaltende Judentum, verkörpert durch Rabbi Abraham und seine Frau Sara, und das philosophisch-wissenschaftlich ausgerichtete Sephardentum in der Gestalt des getauften, aber sowohl der christlichen wie auch der jüdischen Religion entfremdeten Ritters Don Isaak, dessen einzige Verbindung zum Judentum in der Vorliebe für dessen Küche zum Ausdruck kommt. Das Roman-Fragment besteht aus drei Kapiteln. Das erste Kapitel gibt ein Beispiel mittelalterlicher Judenverfolgung, zugleich aber auch einen Einblick in die liebevoll geschilderte traditionelle jüdische Welt und ihrer ständigen Bedrohung von außen. Im Mittelpunkt des Geschehens steht das mittelrheinische Städtchen Bacharach und die Feier des Sederabends. Bei der Beschreibung der Vergangenheit behandelt Heine die Probleme der Gegenwart mit; Adel, Geistlichkeit und Zunftwesen werden für die immer wieder aufflammende Pogromstimmung gegenüber den jüdischen Gemeinden mit verantwortlich gemacht, wobei Anklagen wegen Ritualmords und Brunnenvergiftung den Vorwand für Plünderung und Mord abgeben. Wenn Heine in der Einleitung schreibt, die Juden seien „verhasst wegen ihres Glaubens, ihres Reichtums und ihrer Schuldbücher“, dann pointiert er den eigentlichen Zusammenhang des Judenhasses in einer Weise, die auf das zweite Kapitel mit seiner satirischen Darstellung vorausweist. Mit dem Rabbi Abraham und seiner Frau Sara typisiert Heine die für das Judentum so wichtige religiöse Innendimension: Beide erscheinen sowohl durch ihre biblisch anmutende Liebesgeschichte als auch durch die Feier des Sederabends als Muster jüdisch-religiösen Lebensvollzugs. Beim Festmahl im Kreise seiner Familie und Schüler liest der Rabbi vom Auszug aus der ägyptischen Sklaverei. Alle tragen Festgewänder, die Lichter sind angezündet, die „platten ungesäuerten Bröte“ und symbolische Speisen aus sechs Schüsseln mit „Ei, Lattig, Mairettigwurzel“ u. a. stehen auf dem Tisch und halten die Erinnerung an die bittere Knechtschaft wach. An entscheidender Stelle des Textes der Pessach-Haggada, bei der Verheißung der Freiheit für die Kinder Israels nämlich, erscheinen zwei schwarz gekleidete Fremde und platzieren eine Kinderleiche unter dem Tisch, um damit die Lüge vom jüdischen Ritualmord an Christenkindern zu bekräftigen und einen Pogrom zu provozieren. Heine nutzt den verheißenden Sinn der Urgeschichte, um gerade das Schicksal der Juden, den „tausendjährigen Judenschmerz“, als eine Art Vereitelung des göttlichen Versprechens dagegenzuhalten. Ähnlich symbolisch ist das grotesk anmutende Bespritzen der weißen Mädchengewänder mit Rotwein durch den Rabbi: Nur er weiß, dass der Wein sich bald in Blut verwandeln wird – eine Perversion der christlichen Vorstellung von der Verwandlung des Abendmahlweins in das Blut Christi. Dem drohenden Pogrom entziehen sich Abraham und Sara durch Flucht. Die verlassene Idylle Bacharachs erscheint nun wie das alte Ägypten. Während der nächtlichen Rheinfahrt ziehen der „schönen Sara“ die „alten Geschichten“ der Bibel durch den Sinn. Abraham und Moses erscheinen als von Feinden bedrängte biblische Helden: ein chiffrierter Hinweis auf die Bedrohung des alten Judentums durch die säkulare Welt der Gegenwart, die den „ewigen“ Antisemitismus weiter tradiert und transformiert. Saras Schreckenstraum mündet unvermittelt in der Vision der heiligen Stadt Jerusalem, ohne dass allerdings absehbar wäre, wie die Erlösung für die jüdische
Der Rabbi von Bacherach (Romanfragment von Heinrich Heine, 1840)
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Gemeinschaft als ganze aussehen könnte. Zu Sara schreibt Heine: Man hieß sie die „schöne Sara“. Nur ist sie das ganze Gegenbild der schmuckbeladenen geltungssüchtigen Aufsteigerin, als die die „schöne Jüdin“ in der Folgezeit portraitiert wird. Die kurze Beschreibung Saras als „rührend schön, ängstlich und bezaubernd“ fließt in jede Erwähnung der Sprachformel „die schöne Sara“ mit ein. Die Stimmung der Jerusalemvision bestimmt den Anfang des zweiten Kapitels: Angesichts des nächtlich-mittelalterlichen Spuks erscheint Frankfurt am Main fast als Hort der Aufklärung. Der Erzählduktus ist ein anderer, weniger polemisch und aggressiv, gelassener, dies gilt auch für die Hauptfiguren Abraham und Sara. Die Verzerrungen und Entfremdungen, die das Leben in der Fremde den Juden zufügt, wird dadurch dargestellt, dass Heine sämtliche Bewohner des Ghettos als Sonderlinge und Exzentriker auftreten lässt. „Nasenstern“, „Jäkel der Narr“, „Schnapper-Elle“, „Süßchen Flörsheim“ und „Hündchen Reiß“ präsentieren sich als Karikaturen. Die Bewohner des Judenviertels sind „an Leib und Seele verkrüppelt“, eine Folge ihrer bedrückenden Existenzbedingungen. Mit der Szene am Ghettotor konfrontiert Heine erneut die Welten von Christen und Juden, nachdem er zuvor knapp auf die Geschichte der Juden in Frankfurt eingegangen ist. „Nasenstern“ protestiert gegen den Landsknecht Hans, den christlichen Bewacher des Ghettotors, der ein bei den „Judenschlachten“ gesungenes Lied anstimmt. „Hans der Trommler“ kann als negative Gegenfigur zum napoleonischen Trommler des „Buchs Le Grand“ verstanden werden. Während er revolutionäre Ideen verkündet, ist es der christliche Katechismus, den Hans dem Juden trommelnd einbläuen will. Hans ist also der typische christlich-deutsche Kleinbürger, der angesichts eines in Fleisch und Blut übergegangenen Judenhasses allenfalls einzelne Ausnahmen zulässt, wenn der betreffende Jude ihm nützlich sein kann – wie etwa der auf der anderen Seite des Ghettotors wachende „Nasenstern“: „Der Teufel hole die Juden, aber du, lieber Nasenstern, bist mein Freund, ich beschütze dich, und wenn wir noch oft zusammen trinken, werde ich dich auch bekehren?“ Heines Namensarsenal insgesamt ist bestückt mit Namen, denen er im Lauf seines Lebens begegnet ist. So finden sich im „Rabbi“ neben den bereits erwähnten auch die Namen Veitel Rindskopf, Vögele Ochs, Daniel Fläsch oder Aaron Hirschkuh. Viel interessanter als der Name selbst ist das im Text aufgegriffene Stereotyp der „langen Nase“, das von Antisemiten immer wieder als eines der markanten physischen Merkmale der Juden herausgearbeitet wurde. Solcherart Dämonologie findet sich allerdings bei Heine nicht – im Gegenteil: Die lange Nase des „Nasenstern“ ist wie ein Zeichen, dass auch er zu den „untertänige[n] Kammerknechte[n] ihres Jehovah“ gehört. „Nasensterns“ Ängstlichkeit, die sich in der fünfmal wiederholten Klage „Ich bin nur ein einzelner Mensch“ wie in seinem ganzen Verhalten ausspricht, ist nichts anderes als die menschliche Reaktion auf die Erfahrung jahrhundertealter Unterdrückung, deren stereotype Formel sich in des Trommelhans wiederholtem Fluch „Der Teufel hole die Juden“ niederschlägt. Gerade die Isolierung der Juden, ihre Ghettoisierung, kann kaum eine andere Haltung hervorbringen. Wenn Heine ihm anspruchsvolle Witze in den Mund legt, so sagt dies viel über die Entstehung des jüdischen Witzes aus dem Geist der intellektuellen Notwehr gegenüber brutaler Gewalt aus. „Jäkel“ gleicht durchaus Heine, er steht für die andere, wehrhafte jüdische Seite in ihm, so wie er in „Nasenstern“ die eine gedrückte Seite ironisiert. Heines Ghettobewohner sind keine realistischen Charaktere. Sie stellen Ar-
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La Rafle (Film von Rose Bosch, 2010)
chetypen dar, in denen die Geschichte ihres Volkes zum Ausdruck kommt. Beim Eintritt in das Ghetto lässt Heine den Rabbi sagen: „Wie schlecht geschützt ist Israel! Falsche Freunde hüten seine Tore von außen, und drinnen sind seine Hüter Narrheit und Furcht!“ Er verweist damit einerseits auf die Situation der Juden in der Diaspora, andererseits auf die Geschichte Israels als unendliche Leidensgeschichte. Neben der Szene am Ghettotor ist die Schilderung des Gottesdienstes in der Synagoge ein weiterer Höhepunkt des zweiten Kapitels. Auch hier ist Pietät mit Ironie vermischt, wenn zunächst aus Saras Perspektive die innige Erbauung durch den Gottesdienst heraufgerufen wird, die dann durch die Schilderung der klatschenden Frauen auf der Empore wieder auf den Boden der Tatsachen herabgezogen erscheint. Eben diese Mischung ist charakteristisch für das nicht wie das Christentum als Glaubensgemeinschaft, sondern als vom Gesetz bestimmte Lebensgemeinschaft zu verstehende Judentum, das seit der frühen Neuzeit im Umbruch begriffen ist. Die Stimmung des dritten Kapitels, das in der erhaltenen Form erst kurz vor der Veröffentlichung des Fragments entstanden ist, steht wieder im strikten Gegensatz zum düsteren Ausklang des zweiten. Die Einführung des spanischen Ritters Don Isaak Abarbanel stellt eine Extremposition der Säkularisierung dar und bringt das Land ins Spiel, in dem die Juden das höchste Maß an zeitweiliger Duldung erreicht hatten, die im Mittelalter überhaupt möglich war, das aber auf der anderen Seite mit der Verfolgung der Juden seit Anfang des 14. Jahrhunderts bis zu ihrer Austreibung am Ende des 15. Jahrhunderts mit einer der größten Katastrophen der jüdischen Geschichte endete. Don Isaak hat sich, obwohl er „dem besten Blute Israels entsprossen ist, wo nicht gar dem königlichen Geschlechte Davids“, taufen lassen. Heine lässt Don Isaak als Parodie des Don Quixote auftreten, der in „Gestalt eines spanischen Ritters“ der schönen Sara Avancen macht. Der getaufte Jude als vermeintlicher Ritter ist eine lächerliche, aber auch tragische Figur. Das Fragment „Der Rabbi von Bacherach“ ist eines der bedeutendsten und unmittelbarsten Dokumente jüdischer Selbstreflexion in Heines Werk. Nicht selten wird die Erzählung auch als Beginn der deutschsprachigen Ghettoliteratur bezeichnet. Deutlich wird, dass er nicht nur eine poetische Darstellung der Ritualmord-Legenden im Auge hatte, sondern auch eine Beschreibung der jüdischen Situation zu Beginn der Emanzipationszeit.
Ramona Ehret
Literatur Barbara Bauer, „Nicht alle Hebräer sind dürr und freudlos“. Heinrich Heines Ideen zur Reform des Judentums in der Erzählung „Der Rabbi von Bacharach“, in: Heine-Jahrbuch 35 (1996), S. 23–54. Gerhard Höhn, Heine-Handbuch: Zeit – Person – Werk, Stuttgart 2004, S. 436–444. Florian Krobb, „Mach die Augen zu, schöne Sara“: Zur Gestaltung der jüdischen Assimilationsproblematik in Heines „Der Rabbi von Bacharach“, in: German Life and Letters, New Series 47 (1994) 2, S. 167–181. Bernd Witte, Jüdische Tradition und literarische Moderne, München 2007, S. 39–50.
La Rafle (Film von Rose Bosch, 2010) → Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm
Die Rassen (Drama von Ferdinand Bruckner, 1933)
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Die Rassen (Drama von Ferdinand Bruckner, 1933) Ferdinand Bruckner (1891–1951; ursprünglich Theodor Tagger) war in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik einer der bekanntesten Dramatiker der nachexpressionistischen Literatur. Sofort nach dem nationalsozialistischen Machtantritt emigrierte der jüdische Autor zunächst nach Österreich, dann nach Frankreich. Bereits im Mai 1933 begann er mit der Arbeit an dem Zeitstück „Die Rassen“, das nach seiner Uraufführung am 30. November 1933 durch das Zürcher Schauspielhaus breite internationale Beachtung fand und an zahlreichen europäischen und außereuropäischen Bühnen (z. B. in Paris, Rotterdam, Buenos Aires) aufgeführt wurde. 1934 erschien eine Buchfassung im Zürcher Verlag Oprecht & Helbling, der zahlreiche Werke der deutschen Exilliteratur erstveröffentlichte. Nach 1945 wurde das Stück mehrfach neu publiziert, zuletzt in der wissenschaftlichen Werkausgabe von 2005. Bruckner selbst ordnete es 1947/48 in einen Dramenzyklus mit dem Titel „Jugend zweier Kriege“ ein und stellte damit eine thematische Kontinuität unter dem Gesichtspunkt einer Psychopathologie der Jugend her, wie sie erstmals in seinem Drama „Krankheit der Jugend“ (1927) behandelt worden war. Den nationalsozialistischen Antisemitismus thematisiert das Stück unter einem massenpsychologischen und moralphilosophischen Blickwinkel. Bruckner wählt zur Darstellung der ersten Wochen der NS-Herrschaft ein studentisch-akademisches Milieu, in dem auch realgeschichtlich der Nationalsozialismus bereits früh Fuß gefasst hatte. In Zentrum steht der Medizinstudent Karlanner, der mit einer Jüdin, der Angestellten Helene Marx, verlobt ist. Obwohl er durch sein Privatleben also Grund genug hätte, den antisemitischen Einflüsterungen nicht zu erliegen, lässt er sich für die Idee einer nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ gewinnen; sein Anschluss an die NS-Bewegung vollzieht sich als problematischer idealistischer Entschluss, von seinen eigenen materiellen und emotionalen Interessen zu abstrahieren und sich stattdessen in den Dienst einer „Idee“ zu stellen. In den Worten seines Kommilitonen Tessow: „Kommt es […] nicht darauf [an], dass endlich wieder eine Idee da ist, für die man sein Leben einsetzen kann?“ Dieser durch die NSDAP verheißene individuelle Selbstverlust und das darin liegende allgemeine abstrakte Sinnangebot zieht Karlanner an und kulminiert darin, dass er Teil einer rauschhaften Massenbegeisterung in der Nacht der Reichstagswahl vom 5. März 1933 wird, jener Wahl, die der NSDAP und ihren Verbündeten die Mehrheit verschafft. In der Folge seines Anschlusses an die NS-Bewegung trennt sich Karlanner von seiner jüdischen Verlobten; er beteiligt sich nunmehr an der Drangsalierung von Juden. Die jüdischen Figuren, namentlich Helene und der Kommilitone Siegelmann, reagieren auf ihre Verfolgung, indem sie sich selbst mit dem Judentum identifizieren und ihren durch die Nationalsozialisten erzwungenen Ausschluss aus dem deutschen Volk als zutreffendes Urteil über sich akzeptieren. Jedoch gelingt es Karlanner und Helene, sich aus der deterministischen Konstruktion ihrer angeblichen „rassischen“ Identität zu befreien, als sie am 1. April 1933, dem Tag des ersten Judenboykotts, Augenzeuge werden, wie sich zwei Mitglieder des deutschnationalen Kampfbundes „Stahlhelm“ mit einem jüdischen Ladenbesitzer solidarisieren. Prompt erkennen Karlanner und Helene sich gegenseitig in ihrer gerade nicht rassisch determinierten Individualität wieder.
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Die Rassen (Drama von Ferdinand Bruckner, 1933)
Eine moralphilosophische Dimension kommt dadurch ins Spiel, dass Karlanner aus dieser Rückbesinnung nicht den Schluss zieht, sich in sein erneuertes privates Liebesglück zurückziehen – die Verweigerung der Restitution einer Liebesbeziehung zwischen einer Jüdin und einem Nichtjuden unterscheidet „Die Rassen“ von anderen zeitgenössischen literarischen Versuchen, den Antisemitismus dadurch zu kritisieren, dass er vergeblich das Liebesglück einer „gemischtrassigen“ Beziehung bedroht. Karlanner opfert vielmehr seine eben erst wiedergewonnene Liebe. Er ermöglicht Helene die Flucht aus Deutschland, bleibt selbst aber zurück, um seine Beteiligung an den NSVerbrechen zu sühnen, indem er sich durch seine vormaligen Mitkämpfer verhaften – und mutmaßlich ermorden – lässt und sich mit dieser autonomen Gewissensentscheidung in eine sittliche Weltordnung einordnet. Das Stück stellt den Antisemitismus damit einer humanistischen Anschauung autonomer Sittlichkeit gegenüber. Politische Prägnanz gewinnt Bruckners Drama dadurch, dass es seinen Figuren exemplarische antisemitische Ideologeme in den Mund legt, um ihrem freiwilligen Ich-Verlust realhistorische Anschaulichkeit zu verleihen: „Eine Nation von Herren, nur weil sie nicht wusste, dass sie die Herrenrasse ist, hat sich von ein paar Sklaven um den Finger wickeln lassen.“ Das Stück zeigt, wie in solchen Gedanken schon das Mordprogramm der folgenden Jahre angelegt ist.
Carsten Jakobi
Literatur Roy C. Cowen, Das Positive im Negativen: Ein Problem der frühen Exilliteratur, erläutert am Beispiel von Ferdinand Bruckners „Die Rassen“, in: Walter Röll, Hans-Peter Bayerdörfer (Hrsg.), Auseinandersetzungen um jiddische Sprache und Literatur. Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur – die Assimilationskontroverse, Tübingen 1986, S. 215–219. Doris Engelhardt, Ferdinand Bruckner als Kritiker seiner Zeit. Standortsuche eines Autors, Phil. Diss., Aachen 1984. Carsten Jakobi, Der kleine Sieg über den Antisemitismus. Darstellung und Deutung der nationalsozialistischen Judenverfolgung im deutschsprachigen Zeitstück des Exils, Tübingen 2005. Wulf Köpke, Die Wirkung des Exils auf Ferdinand Bruckners aktuelle Dramen, in: Wolfgang Elfe, James Hardin, Günther Holst (Hrsg.), Deutsches Exildrama und Exiltheater. Akten des Exilliteratur-Symposiums der University of South Carolina 1976, Bern, Frankfurt am Main, Las Vegas 1977, S. 103–111. Tom Kuhn, Forms of Conviction: The Problem of Belief in Anti-Fascist Plays by Bruckner, Toller and Wolf, in: Richard Dove, Stephen Lamb (eds.), German Writers and Politics 1918–39, Houndmills, London 1992, S. 163–177. Christiane Lehfeldt, Der Dramatiker Ferdinand Bruckner, Göppingen 1975. Franz Norbert Mennemeier, Frithjof Trapp, Deutsche Exildramatik 1933 bis 1950, München 1980. Johannes G. Pankau, Jugend zweier Kriege. Zur Weiterentwicklung der Zeitstückkonzeption in Ferdinand Bruckners Exildramatik, in: Exil 6 (1986) 2, S. 18–29. Erwin Rotermund, Beharrung und Anpassung. Die ersten Jahre des deutschen Exildramas (1933–1936), in: Erwin Rotermund, Artistik und Engagement. Aufsätze zur deutschen Literatur, hrsg. von Bernhard Spies, Würzburg 1994, S. 186–199.
Rechtsextreme Comics
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Rechtsextreme Comics Seit den 1970er-Jahren erscheinen Comics in rechtsextremen Fanzines und Printmedien rechtsextremer Parteien, Vereine und Verlage. Fanzines sind in der Regel billig produzierte Do-it-yourself-Magazine. Sie dienen der szeneninternen Kommunikation und werden über Szeneläden, Konzerte und per Postversand vertrieben. Da man sich unter Gleichgesinnten wähnt, werden Ansichten ohne Zurückhaltung ausgedrückt. Comics in rechtsextremen Fanzines sind meist amateurhaft gezeichnet, was ihrer Funktion, auflockernde Unterhaltung mit ideologischem Spott zu liefern, nicht entgegensteht. Als kleinster gemeinsamer und verbindender Nenner innerhalb der rechtsextremen Szene werden anhand von Stereotypen Feindbilder aufgebaut und zur Festigung der Gesinnung bestätigt. Immer wiederkehrende Motive sind die angebliche jüdische Weltverschwörung (Zionist Occupied Government/ZOG), die Leugnung des Holocausts und die Darstellung der Juden als geldgierige „Volksschädlinge“. Verfassungsschutz, Polizisten, Richter und Politiker werden verächtlich gemacht und als Marionetten der angeblichen jüdischen Weltverschwörung dargestellt. Ein Beispiel: Der Fortsetzungscomic „Olaf, der Atlanter“ lief 1997/98 im rechtsextremen „Neue doitsche Welle“-Fanzine. In einer Folge besiegt Olaf (anstelle von Goliath) den „M.O.S.A.D.“-Kämpfer David (große, krumme Nase, Schläfenlocken), indem er dessen Geldgier ausnutzt. Als daraufhin die Philister das jüdische Heer besiegen, plant eine der jüdischen Figuren, die Niederlagen in der „Beibl“ in einen Sieg umzuschreiben, eine Geschichtslüge sei „doch okay“. Weitere Feindbilder sind Linke, Punks, Unpolitische und Skinheads Against Racial Prejudice (SHARP), Ausländer und Migranten, Homosexuelle, die USA (kulturell und als mit Israel verbündete Weltmacht) sowie Händler, die mit Rechtsrock-Bands und CDs Kasse machen, aber, so der Vorwurf, kein Geld in die „Bewegung“ zurückfließen lassen. Diese Comics schüren Hass und propagieren Gewalt. In ihren Hassund Liebesobjekten (z.B. Bier) decken sich die Comics inhaltlich mit Rechtsrock-Liedern. Neben → Rechtsrock als sogenannte „Einstiegsdroge in rechtsextremes Gedankengut“ wird die Ideologisierung und Radikalisierung durch rechtsextreme Comics forciert. Für Illustrationen werden öfters allgemein beliebte Comicfiguren zur Selbstdarstellung vereinnahmt und dafür zu Rechtsextremen verfremdet (u. a. Superman, Asterix, Die Simpsons, Walt Disney-Figuren, Conan). Von daher ist die Pink-PantherVerwendung im NSU-Bekennerfilm weder ein Einzelfall noch ein neues Phänomen. Im Gegensatz zu Fanzines versuchen rechtsgerichtete Zeitungen, Comic-Strips in professioneller Zeichenqualität zu bieten und inhaltlich im Rahmen des Erlaubten zu bleiben. Zum Beispiel veröffentlichte die Wochenzeitung „Junge Freiheit“ weitgehend unpolitische Gag-Comic-Strips (u. a. „Friedhelm“ Mitte der 1990er-Jahre). Die rechtsextreme Nationaldemokratische Partei Deutschland (NPD) setzt seit den 1980er-Jahren ideologische Comics in ihren Studenten- und Schülerzeitungen ein. In ihrer Monatszeitung „Deutsche Stimme“ griffen die Titelfiguren der Comic-Strip-Serien „Willy Widerstand“ (1998/99) und „Alex“ (2007) als Parteianhänger Politik und Gesellschaft an. So schmähte Willy Widerstand u. a. den Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, kurz nach dessen Tod. „Alex“ hieß auch die Titelfigur im Booklet-Comic der „Schulhof-CD“, die zur Bundestagswahl 2005 von der NPD kostenlos an Jugendliche verteilt wurde. Zur Bundestagswahl 2009 bot
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die NPD kostenlos das Comic-Heft „Enten gegen Hühner – Eine fabelhafte Geschichte von Intrige, Propaganda und Zerstörung“ an Infoständen und im Internet an. Der Comic ähnelt in Text und Bildern der englischen Bildergeschichte „The Fable of the Ducks & Hens – A Dramatic Saga of Intrigue, Propaganda & Subversion“ von 1996. Darin wurde ein Gedicht von George Lincoln Rockwell, Gründer der American Nazi Party, illustriert. Der Neonazi Rockwell schildert darin in Analogie zu antisemitischen Verschwörungstheorien, wie Hühner die Gesellschaft der Enten unterwandern. Im Herbst 2009 stellte das Jugendamt des Landkreises Gotha bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien einen Antrag auf Indizierung des Comics. Das Indizierungsverfahren wurde im Sommer 2011 eingestellt, da die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) die Online-Version als nicht jugendgefährdend eingestuft hatte. Auch im Ausland, vor allem in den USA, England, Frankreich und Belgien, erscheinen rechtsextreme Comics. In den 1970/80er-Jahren gab es zahlreiche professionelle Zeichner in der frankobelgischen rechtsextremen Szene. Einige ihrer Comics wurden in deutschen rechtsextremen Fanzines, Schülerzeitungen und Magazinen veröffentlicht. Im Internet werden u. a. rechtsextreme Comics zum Herunterladen angeboten, die gezielt auf Text verzichten, damit sie überall auf der Welt zu verstehen sind. Angesichts der Verbreitung via Internet können Verbote rechtsextreme Comics in Deutschland nicht verhindern. Zur Bekämpfung und Entschärfung sind vielmehr eine intensive Auseinandersetzung und eine breite Aufklärung nötig.
Ralf Palandt
Literatur Christian Dornbusch, Jan Raabe (Hrsg.), RechtsRock. Bestandaufnahme und Gegenstrategien, Münster 2002. C.A. Hugins, Politieke strips: de rechts-radikalen in opmarsj?, in: Stripgids 26 (1980). Didier Lefort, Les bandes dessinées et dessins de presse de l’extrême droite 1945–1990, Marseille 1991. Ralf Palandt, Braune Comics?! Bilder vom rechten Rand der Gesellschaft, in: Comic! Jahrbuch 2009, Stuttgart 2008, S. 8–27. Ralf Palandt (Hrsg.), Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics, Berlin 2011. Ralf Palandt, Les rats noirs. Rechtsextreme Selbstdarstellung durch Comic-Figuren, in: Comics und Politik. Beiträge zur Comicforschung, Bochum 2013, S. 345–364.
Rechtsrock Rechtsrock bezeichnet Musik unterschiedlichster Stilrichtungen mit nationalistischen, rassistischen, antisemitischen oder den Nationalsozialismus verherrlichenden Texten. Rechtsrock ist Messagerock und wird von den Musikern sehr bewusst als solcher (ein-)gespielt: „Musik ist das ideale Mittel, Jugendlichen den Nationalsozialismus näher zu bringen, besser als dies in politischen Veranstaltungen gemacht werden kann, kann damit Ideologie transportiert werden“, betonte Ian Stuart Donaldson, Sänger der britischen Band „Skrewdriver“, die Kultstatus in der Rechtsrock-Szene besitzt. Die Berliner → „Landser-Band“ hob 1999 im Interview mit dem Magazin der Blood &
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Honour Division Deutschland hervor: „Rockmusik hat gegenüber Büchern, Demonstrationen und Flugblättern den Vorteil, dass man sie sich täglich wieder reinziehen kann, ohne dass es langweilig wird.“ Ihren Ausgang nahm diese Musik Ende der 1970er-Jahre in Großbritannien, sie ist eng mit frühen, extrem rechten Skinheadbands wie „No Remorse“, „Brutal Attack“ oder „Skullhead“ verbunden. Im Laufe der 1980er-Jahre verbreitete sich Rechtsrock weltweit: Nicht nur in vielen Ländern Europas wurden Bands gegründet, sondern vor allem in den USA. Nur wenige Firmen produzierten die Musik, bis in den 1990er-Jahren der Markt explodierte. 1998 stellten 37 Labels mehr als 140 Tonträger deutscher Bands des Genres her. Die Inhaber der Firmen entstammen in der Regel dem rechten Lager. Von deutschen Bands sind seit Erscheinen der ersten deutschen Rechtsrockproduktion 1984 mehr als 2.000 Tonträger eingespielt und verlegt worden. In den letzten zehn Jahren erschienen im Durchschnitt 110 professionell hergestellte CDs pro Jahr. Im gleichen Zeitraum sind jährlich lediglich vier Beschlagnahmebeschlüsse gegen Tonträger aufgrund strafrechtlicher Relevanz ergangen. Der genaue Anteil der alljährlich produzierten Tonträger, die von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPJM) indiziert werden, lässt sich nicht genau bestimmen, da die Behörde nur auf Antrag tätig wird, was entsprechende Verzögerungen mit sich bringt. Seit 1986 indizierte die Behörde weit mehr als 1.000 Tonträger der Kategorie „Rechts“ sowohl deutscher als auch ausländischer Interpreten. Informationen zur Auflagenhöhe von Rechtsrock-Tonträgern liegen nur in Ausnahmefällen vor. Im Prozess gegen Thorsten Heise, Produzent der CD „Komm zu uns“ der Band „Sturm 18“, wurde beispielsweise deutlich, dass 6.000 Stück dieses Titels hergestellt worden waren. Und im Strafverfahren gegen Mitglieder der Band Landser wurde aktenkundig, dass von der CD „Rock gegen oben“ 10.000 Exemplare produziert wurden. Die höchsten Auflagen hatten in den vergangenen Jahren in der Regel die sogenannten „Schulhof-CDs“ der NPD. Nach Eigenangaben wurden beispielsweise 2005 von der CD „Der Schrecken aller linken Spießer und Pauker“ 200.000 Exemplare hergestellt, von der CD „Aktivismus, Bildung, Gemeinschaft“ 2013 indes nur 20.000 Stück. Aktiv waren 2012 rund 210 Bands und Liedermacher in Deutschland, die durch Tonträgerveröffentlichungen sowie Live-Auftritte und andere Aktivitäten im Laufe des Kalenderjahres in Erscheinung traten. Diese Zahl steigt über die letzten Jahre leicht an. Nur wenige indes sind auch jenseits des Spektrums bekannt, wie die Bands „Landser/Die Lunikoff Verschwörung“ (Berlin), „Sleipnir“ (Gütersloh), „Noie Werte“ (Stuttgart), „Gigi und die braunen Stadtmusikanten“ (Meppen) und „Frank Rennicke“ (Leutershausen). Nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz fanden 2012 90 Konzerte und Liederabende derartiger Bands in Deutschland statt, im Verlauf der letzten zehn Jahre sank die Zahl erheblich. Eigene Erhebungen im Zeitraum 2005 bis 2012 lassen jedoch vermuten, dass die tatsächliche Zahl die der Behörden überschreitet und ein großes Dunkelfeld existiert. Im Übrigen werden in den offiziellen Zahlen politische Veranstaltungen, die von der NPD oder ähnlichen Gruppierungen organisiert werden
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und in deren Rahmen Rechtsrockgruppen auftreten (z. B. „Rock für Deutschland“, Gera), nicht in diese Auflistung aufgenommen. Antisemitismus ist in all seinen Facetten inhaltlicher Bestandteil im Repertoire des Rechtsrocks. Unverhohlen äußert er sich in Liedern, die oftmals die Grenzen des Strafrechts (§§86a, 130, 131 Strafgesetzbuch) überschreiten. Hierzu zählen z. B. Songs, in denen die Shoah geleugnet (No Remorse „Six Million Lies“, 1987; Kraftschlag „Gaskammerlüge“, 1992) oder verherrlicht wird (Kommando Freisler „In Belsen“, 2003), aber auch Lieder, in denen Juden als Gruppe herabgewürdigt werden (Hassgesang „Hassgesang II“, 2002). Fast immer werden dabei Vernichtungsfantasien formuliert, auch in Bezug auf den Staat Israel (Hassgesang „Israel“, 2003). Außerdem werden Juden analog zur antisemitischen Literatur zu Drahtziehern unterschiedlichster Verschwörungen stilisiert (Stahlgewitter „Weltherrschaft“, 1998). Um einer etwaigen Strafverfolgung vorzubeugen, weichen Musiker häufig auf Synonyme wie „Zionisten“ oder „Auserwählte“ oder Umschreibungen (Faustrecht „Die Macht des Kapitals“, 2002) aus. Seltener spiegeln sich antisemitische Vorstellungen in der Gestaltung von Plattenrespektive CD-Covern wider. Die Gruppe „Macht und Ehre“ verwendete eine antisemitische Darstellung aus einem Schulbuch aus der Zeit des Nationalsozialismus als Titel der CD „Herrenrasse“ (1997). Das Cover der CD „Deutsches Volk erwache!“ (1998) der Berliner Untergrundband „Deutsch Stolz Treu“ zeigt ein Foto aus der NSZeit mit SA-Mann und dem Schild „Kauft nicht bei Juden“. Und das Titelblatt der CD mit dem programmatischen Titel „Hinter der Maske“ (2006) der Band „Pork Hunters“ ist die Zeichnung eines Skinhead mit Vorschlaghammer, der auf einem Davidstern stehend mit einer ebenfalls mit Davidsternen versehenen Schlange ringt. Das Titelbild der CD „Arbeit Macht Spass“ (2013) der deutschen Formation „Zentralrat Der Guten“ zeigt Gleise, die auf das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau zulaufen – in den Bildhintergrund wurde die Aufnahme eines Jahrmarkts gesetzt. Im Hinblick auf antisemitische Bezüge in Texten, Selbstdarstellungen oder Plattencovern zeigt sich das musikalische Genre des NSBM – National Socialist Black Metal – wesentlich offensiver. Bandnamen wie „Kristallnacht“ (Frankreich, 1994–1996), Albumtitel wie „Planet ZOG“ (2002) der ebenfalls aus Frankreich stammenden Formation „Ad Hominem“ oder auch das Band-T-Shirt „Entjudungstour 1938“ der deutschen Gruppe „Absurd“ sprechen hier eine deutliche Sprache. Juden gelten ihnen in nationalsozialistischer Diktion als „Untermenschen“, gleichwohl aber auch als Strippenzieher („ZOG“).
Martin Langebach/Jan Raabe
Literatur David Begrich, Jan Raabe, Antisemitismus in extrem rechten jugendkulturellen Szenen, in: Wolfram Stender, Guido Follert, Mihri Özdogan (Hrsg.), Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden 2010, S. 225– 242. Christian Dornbusch, Jan Raabe (Hrsg.), RechtsRock. Bestandsaufnahme und Gegenstrategien, Münster, Hamburg 2002.
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Rainer Erb, „Er ist kein Mensch, er ist ein Jud“. Antisemitismus im Rechtsrock, in: Dieter Baacke, Klaus Farin, Jürgen Lauffer (Hrsg.), Rock von rechts II. Milieus, Hintergründe und Materialien, Bielefeld 1999, S. 142–159.
Reiter ohne Pferd (Fernsehserie von Muhammad Subhi, Ägypten 2002) → Faris bila Gawad Die Reiter von Deutsch-Ostafrika (Film von Herbert Selpin, 1934) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Reitet für Deutschland (Film von Arthur Maria Rabenalt, 1941) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Rembrandt (Film von Hans Steinhoff, 1942) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Rendsburg Prinzessinstrasse (Comic von Elke Steiner, 2001) → Comics Revolusjon i Bergen (Erzählung von Gerhard Severud, 1943) → Norwegische Kriminalliteratur Revue „Der achtjährige Krieg“ (1928) → Jüdisch-Politisches Cabaret Revue „Ho-Ruck nach Palästina“ (1933) → Jüdisch-Politisches Cabaret Revue „Juden hinaus!“ (1927) → Jüdisch-Politisches Cabaret Revue „Rassisches und Klassisches“ (1937) → Jüdisch-Politisches Cabaret Richard-Wagner-Nationaldenkmal des Deutschen Volkes → MendelssohnBartholdy-Denkmal Leipzig
Die Ritter vom Gelde (Roman von Karl Türk, 1891) „Die Ritter vom Gelde“ (1891) ist ein „sozialer“ Roman von Karl Türk (1840–1908), einem österreichischen Reichsratsabgeordneten aus Schlesien (Troppau, Freudental, Jägerndorf und Freiwaldau). Türk war radikaler Deutschnationaler und Anhänger Georg von Schönerers, dessen Rolle als Anführer der Alldeutschen Vereinigung er 1888 übernahm, nachdem Schönerer wegen Gewaltandrohung gegen Redakteure des „Neuen Wiener Tagblattes“ inhaftiert worden war. Im Roman stellt Türk die vermeintliche Mentalität des Wiener Finanzjudentums dem gesunden „deutschen“ Landleben gegenüber und versucht zugleich, die Sozialdemokratie vom Judentum zu retten. Die Handlung beginnt 1887, als die jüdische Familie von Seehof Urlaub in Mähren mit ihrem künftigen Schwiegersohn, Graf Berthold von Welten, macht, um sich vom anstrengenden Börsenalltag zu erholen. Es stellt sich heraus, dass Welten fast pleite ist und dringend nach Geld sucht, um seinen adeligen Lebensstil aufrechtzuhalten. Daraus entsteht ein geradezu symbiotisches Verhältnis: Welten will Kapital ergattern und die Familie Seehof will ihre gesellschaftlich verpönte Stellung als Geldaristokratie durch die Blutaristokratie ausgleichen.
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Die Ritter vom Gelde (Roman von Karl Türk, 1891)
Als die Familie Seehof auf dem Land eintrifft, erfährt der Leser, dass die Juden, als „Vertreter der großen Finance, des Großcapitals“ das „Heiligthum des Waldes“ nicht zu schätzen wissen. Ja, Arthur von Seehof, Weltens künftiger Schwager, schätzt die Natur nur als Geldsumme ein. Während der Reise bemerkt er: „Das wäre wohl eine Million werth – vorausgesetzt, daß man sie eben nicht nutzbringender anlegen und verwerthen könnte.“ Nach Ankunft am Ferienort wandern Seehof und Welten auf einem Berg. Dort kehren sie in eine Gaststätte ein, in der eine Männergruppe gerade „Das Deutsche Lied“ singt. Ihre frohgestimmte Version dieses Lieds provoziert einen gewissen Dr. Bunzel dazu, auf ihre naive Vaterlandsliebe zu schimpfen, da sie hierbei „die Judenfrage“ im Reich übersähen. Bunzel ergeht sich in einer Tirade, die von „einer tiefen, unerbitterlichen Ueberzeugung“ zeugt, und beschreibt die Juden als „ein internationales Handelsvolk, dem die nationalen Interessen der Deutschen keinen Pfennig werth“ seien, da sie nur „ihre eigenen Stammes- und Handelsinteressen“ zu fördern versuchten. Er fährt fort, dass ihr vorgetäuschtes Deutschtum bloß „ein aus Herrschsucht, manchesterlicher, unersättlicher Habgier und fühllosestem rohen Egoismus zusammengeleimter Popanz“ sei. Darauf erklärt ein Botaniker, dass zu produktiver Arbeit nur ein echter Deutscher fähig sei. Der „semitische Volksstamm“ hingegen habe „sich der Früchte dieser Arbeit, nämlich des aufgehäuften Capitales, zum übergroßen Theile bereits bemächtigt, und zwar durch natürliche Anlage zur Speculation, ferner durch List und Gewalt“. Seehof und Welten machen sich wieder auf den Weg und kommen im Dorf Gräfenberg an, wo Seehof das Bauernmädchen Marie mit wertlosem Schmuck verführt. Danach überredet er sie, mit ihm nach Wien zu kommen, allerdings zum Verdruss Friedrich Streits, der Marie liebt. Als Seehof und Welten die Wanderung fortsetzen, erklärt Ersterer, dass die Juden „die Repräsentanten der modernen Zeit und der sie bewegenden, beherrschenden Finanzkräfte“ seien. Sie seien also das neue Adelsgeschlecht, denn „das Geld ist heute der wahre souveräne Beherrscher der Welt und der Menschen. [...] Ehre, Ansehen, Rang, hohe Stellen sind ebenso feil für Geld wie die Tugend der stolzesten und zimperlichsten Weiber.“ Zurück in Wien betätigt sich Seehof wieder an der Börse, „dem wahren Tempel Salomonis des Geldes, der eigentlichen Gottheit unserer Zeit [...], dem Altar der Habund Gewinnsucht, des Truges und Schwindels, der wildesten, schrankenlosesten Uebervortheilung und Ausbeutung des arbeitenden Volkes“, wo der Begriff ehrlich nicht gelte, sondern gefälschte Briefe und erlogene Telegramme „börsenmäßige Routine“ seien. Seehof nimmt außerdem an einer Versammlung der Alliance israélite teil, die der Weltherrschaft durch Kontrolle der Börse, der Presse und der Sozialdemokratie nachgeht. Maries Leben in Wien entspricht ihren Erwartungen nicht, da sie von Seehof lediglich als süßes Mädel behandelt wird. Schließlich wird er ihrer müde und übergibt sie – mit einem Vertrag! – seinem Freund Emil Löwysohn, der sie zu einem Urlaub nach Italien mitnimmt, wo Löwysohns materialistische Mentalität mit Maries Naturliebe verglichen wird. Nach der Rückkehr rangiert er sie einfach aus. Inzwischen kommt Friedrich Streit nach Wien, um Marie vor der Katastrophe zu retten, doch zu spät. Vorher besucht Friedrich eine Versammlung der Sozialdemokra-
Robert und Bertram (Film von Hans Heinz Zerlett, 1939)
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ten und versucht, die Arbeiterschaft über „die Judenfrage“ aufzuklären. Er wettert gegen „die jüdischen Fabrikanten, die jüdischen Confectionäre und Bazarbesitzer sowie die jüdischen Geldprotzen der Börse und der Bankgesellschaften, welche sich am rücksichtslosesten benehmen, überall an der Spitze der Unternehmen stehen und die Arbeit systematisch zur Waare herabwürdigen“ und mahnt die Arbeiter, anstatt Sozialdemokraten Antisemiten zu werden. Nach diesem leidenschaftlichen Appell lassen die Anführer der Sozialdemokraten, Dr. Cohn und andere jüdische Sozialdemokraten, Friedrich in der Presse verleumden und er wird wegen Anarchismus zu acht Monaten Haft verurteilt. Kurz vor seiner Entlassung und Vertreibung aus Wien springt die entehrte Marie in die Donau und ertrinkt.
Matthew Lange
Literatur Michael Wladika, Hitlers Vätergeneration. Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k. u .k. Monarchie, Wien 2005.
Ritterspelunke → Kabarett im Nationalsozialismus Robert Koch (Film von Hans Steinhoff, 1939) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Robert und Bertram (Film von Hans Heinz Zerlett, 1939) Der von Hans Heinz Zerlett inszenierte Tobis-Film „Robert und Bertram“ wurde am 7. Juli 1939 in Hamburg uraufgeführt. Die Handlung basiert auf Gustav Raeders gleichnamiger Posse von 1856, die noch gänzlich frei von judenfeindlichen Bezügen war. In Zerletts Drehbuch indes wurde aus dem an sich harmlosen Genrestoff ein infames antisemitisches Musical. Offenkundiges Ziel des Machwerks war es, die forcierte Arisierungspolitik der Nationalsozialisten nach dem Novemberpogrom 1938 zu rechtfertigen. Im Mittelpunkt des Filmes stehen die pfiffigen Vagabunden Robert und Bertram, denen im Jahr 1839 die Flucht aus dem Gefängnis glückt. Im Gasthaus „Silberner Schwan“ treffen sie auf die Wirtstochter Lenchen Lips, deren Vater in finanzielle Bedrängnis geraten ist. Der Gläubiger Biedermeier will Lips nötigen, ihm Lenchen zur Frau zu geben; diese aber möchte eigentlich den schneidigen Rekruten Michel heiraten. Robert und Bertram beschließen, dem freundlichen Lenchen und ihrem Vater zu helfen. Sie finden heraus, dass Biedermeier seinerseits bei dem jüdischen Kommerzienrat Nathan Ipelmeyer in Berlin hoch verschuldet ist. Verkleidet als Graf von Monte Christo und dessen Musiklehrer Professor Müller brechen die Vagabunden nach Berlin auf und verschaffen sich Zutritt zu Ipelmeyers Haus. Beim abendlichen Maskenball stehlen sie den Familienschmuck und senden die Juwelen an Lips, der damit seine Schulden bei Biedermeier bezahlen soll. Lenchen und Michel sind am Ende als Verlobte vereint, während Robert und Bertram mit einem Fesselballon in den Himmel aufsteigen. Zerletts Darstellung der jüdischen Figuren im Film ist durchgängig von groben Stereotypisierungen geprägt, beginnend mit Äußerlichkeiten wie Hakennase, hufenförmi-
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gen Füßen und „jüdischem“ Akzent. So identifiziert Bertram nach der Ankunft in Berlin Ipelmeyer mit den Worten: „Das muss er sein, seinem Profil nach zu urteilen.“ Sein offenkundig „jüdisches“ Aussehen scheint Ipelmeyer aber nicht bewusst zu sein. Nach dem Kennenlernen verrät er Bertram ein „Geheimnis“, indem er erklärt, er sei Israelit. Der sehr korpulente Bertram offenbart Ipelmeyer daraufhin sein vermeintliches Geheimnis: „Ich habe einen Bauch.“ Nach dem Klischee vom „lüsternen Juden“ wird Ipelmeyer als „Schürzenjäger“ portraitiert, der zugleich aber die Untreue seiner Frau gelassen hinnimmt, wenn sie dem Geschäft dient. Seine Tochter, die den bezeichnenden Namen Isidora trägt, soll reich verheiratet werden, möglichst an einen Aristokraten, denn Ipelmeyer sehnt sich nach gesellschaftlicher Anerkennung. Gefühle dürfen dabei keine Rolle spielen. Dies unterscheidet ihn vom braven Lips, der für Lenchen eine Liebesheirat wünscht und Biedermeiers Erpressungsversuchen nicht nachgeben möchte. Die Ipelmeyers werden im Film auf übertriebene Weise als „neureich“ charakterisiert. Mit diesem Begriff wurden wohlhabende jüdische Familien bereits im 19. Jahrhundert belegt. Ihnen wurde unterstellt, sie seien, zumeist aus Galizien kommend, auf unlauteren Wegen und vor allem auf Kosten ehrbarer Deutscher zu Wohlstand gekommen. In diesem Sinne wirkt Ipelmeyer ungeachtet seines Reichtums tolpatschig, ungebildet und kulturlos, und er ist keinesfalls imstande, seine niedere Herkunft aus dem Osten zu verleugnen. In seiner pompösen Villa ist teurer, aber letztlich geschmackloser Plunder angehäuft. Mit großem Nachdruck wird darauf hingewiesen, dass Ipelmeyer nicht auf legale Weise an sein Vermögen gekommen ist. Als ein Gast des abendlichen Kostümfestes mit Bewunderung ausruft, das Palais des Bankiers habe sicherlich ein Vermögen gekostet, gibt ihm ein anderer zur Antwort: „Es hat sogar mehrere gekostet, aber nicht von Herrn Ipelmeyer, sondern von den Leuten, die er hereingelegt hat.“ Diese Szene leitet zur eigentlichen Botschaft des Filmes über: Nicht nur wird hier der vermeintlich betrügerische Jude selbst zum Betrogenen. Der Diebstahl der Juwelen erscheint vielmehr als Akt der Gerechtigkeit, denn Ipelmeyer hat sein Eigentum ja angeblich selbst nur durch Betrug und Diebstahl erworben.
Petra Rentrop-Koch
Literatur Klaus Kreimeier, Antisemitismus im nationalsozialistischen Film, in: Cilly Kugelmann, Fritz Backhaus (Hrsg.), Jüdische Figuren in Film und Karikatur: Die Rothschilds und Joseph Süß Oppenheimer, Frankfurt am Main 1996. Erwin Leiser, „Deutschland, erwache!“ Propaganda im Film des Dritten Reiches, Reinbek bei Hamburg 1968. Mary-Elizabeth O’Brien, Nazi Cinema as Enchantment. The Politics of Entertainment in the Third Reich, Rochester 2004.
Rock- und Popmusik Anders als in der rechtsradikalen Musik ist Antisemitismus in der auf breiter Basis rezipierten Rock- und Popmusik kein vordergründiges Thema. Nur vereinzelt finden sich Songs, noch seltener ganze Alben, in deren Texten es um die kritische Auseinandersetzung mit oder die Ablehnung von Antisemitismus geht. Beispiele dafür, dass
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die Texte nicht-rechtsradikaler Musik antisemitische Inhalte kolportieren oder gar unterstützen würden, gibt es nicht. Dementsprechend gibt es auch kein Rock-/Pop-Lexikon, in dem das Stichwort „Antisemitismus“ zu finden ist. Dennoch wurden Erscheinungsformen des Antisemitismus – von den „Protokollen der Weisen von Zion“ bis zum Holocaust als konkretem Tatbestand – immer wieder in Songs thematisiert und von einem breiten Publikum rezipiert. In Deutschland sind es vor allem Lieder gegen zeitgenössischen Rechtsextremismus, die Antisemitismus mit in den Fokus nehmen. So prangerte der Liedermacher Konstantin Wecker aktuelle Erscheinungen des Antisemitismus in dem 1993 erschienenen Stück „Sage nein!“ an. Das Lied hatte er unter dem Eindruck der fremdenfeindlichen Gewalt nach der deutschen Einheit geschrieben und thematisierte neben Antisemitismus auch alltäglichen Rassismus und Sexismus. Der Text enthielt zudem eine Passage über Holocaustleugnung als Stammtisch-Geschwätz („Meistens rückt dann ein Herr Wichtig / die Geschichte wieder richtig, / faselt von der Auschwitzlüge, / leider kennt man’s zur Genüge“). Eine textlich veränderte Neueinspielung brachte Wecker 2005 gemeinsam mit der Kantorin Avitall Gerstetter heraus: „Sage nein zu Antisemitismus!“, so der deutliche Titel. Im Jahr 1992 veröffentlichte die Punkband „Die Toten Hosen“ das Lied „Sascha … ein aufrechter Deutscher“, das im selben Kontext wie Weckers „Sage nein!“ entstanden war. „Sascha“ ist ein arbeitsloser Neonazi und „pinkelt auf ein Judengrab“, bevor er ein Asylantenheim anzündet. In Songs aus Frankreich und den USA geht es in den meisten Fällen um den Holocaust als konkreten Tatbestand und nur äußerst selten um Antisemitismus im Allgemeinen. Erste Songs entstanden in beiden Ländern bereits in den 1960er-Jahren. So veröffentlichte der französische Sänger und Komponist Jean Ferrat (1930–2010) bereits 1963 den Titel „Nuit et brouillard“ [Nacht und Nebel]. Seine Beschreibung des Schicksals der verfolgten, deportierten und ermordeten Juden war die erste populärmusikalische Beschäftigung mit dem Thema. Der sehr konkrete Text („ils étaient des milliers / Nus et maigres, tremblants, dans ces wagons plombés“ [Sie waren Tausende / Nackt und abgemagert, zitternd in diesen versiegelten Waggons]) hatte einen biografischen Hintergrund, da Ferrats Vater 1942 selbst deportiert und in Auschwitz ermordet wurde. In den USA machte Bob Dylan den Anfang: Spätestens ab 1963 galt er als Star der Folkmusik-Szene, seine Lieder, vor allem aber seine Texte machten ihn weltberühmt. Zwei seiner frühen politischen Lieder – „Talkin’ John Birch Paranoid Blues“ (1963) und das weitaus bekanntere „With God On Our Side“ (1964) – behandeln auch den Holocaust. In „With God...“ heißt es: „When the Second World War / Came to an end / We forgave the Germans / And we became friends / Though they murdered six million/In the ovens they fried / The Germans now too / Have God on their side“. Spielte Dylan den Song später bei Live-Konzerten, ließ er diese Strophe jedoch aus. Der „Talkin’ Blues“ behandelt Hitler und den Holocaust sarkastisch vor dem Hintergrund des grassierenden Antikommunismus in den USA: „Now we all agree with Hitler’s views / Although he killed six million Jews / It don’t matter too much that he was a Fascist / At least you can’t say he was a Communist!“ Erst später – und meist weitaus abstrakter – wurde auch der antisemitische Aspekt des Konflikts von Israel mit seinen Nachbarn thematisiert, insbesondere von nordame-
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rikanischen Künstlern. So verpackte der kanadische Dichter, Sänger und Songschreiber Leonard Cohen den Nahost-Konflikt 1969 in die „Story of Isaac“, die biblische Geschichte der Beinahe-Opferung des Sohnes durch den Vater. Im Jahr 1984 nahm er sich erneut des Themas an, wobei sein Song „Night Comes On“ sehr viel expliziter („We were fighting in Egypt / When they signed this agreement / That nobody else had to die“), aber auch desillusionierter („Remember my son how they lie“) mit dem Thema umgeht. Aus dem Jahr 1983 stammt Bob Dylans „Neighborhood Bully“: Israel („a paradise in the desert sand“) steht in seiner feindlichen Nachbarschaft allein da und muss sich behaupten. Es ist auffällig, dass sich in Frankreich und Nordamerika Musiker des Themas Antisemitismus annahmen, die zu den bedeutendsten und einflussreichsten ihres jeweiligen Landes gehören. Neben den bereits erwähnten ist hier der Sänger, Songschreiber, Filmemacher und Dichter Serge Gainsbourg (1928–1991) zu nennen, der zu den prägenden Gestalten des französischen Kulturlebens im 20. Jahrhundert zählt. Europaweit bekannt für seinen Titel „Je t’aime ... moi non plus“ (1969), brachte Gainsbourg 1975 zur Überraschung von Fans und Kritikern das Album „Rock around the Bunker“ heraus, das stark autobiografische Züge trägt. Im Lied „Yellow Star“ verarbeitete der Sohn russisch-jüdischer Immigranten seine Erfahrungen als Jugendlicher im deutschbesetzten Frankreich, wo er gezwungen war, den gelben Stern zu tragen und sich vor der SS im Wald zu verstecken. Die anderen Songs des Albums behandeln den Nationalsozialismus in grotesken, harten Bildern, so der „Nazi Rock“, eine antisemitische Travestie-Show zur „Nacht der langen Messer“. Das Album endet mit der Nachgeschichte der Nationalsozialisten und der „S.S. in Uruguay“. Gainsbourgs Album war – kommerziell betrachtet – ein Flop und kann symptomatisch für den Befund stehen, dass Songs, die sich in irgendeiner Weise mit Antisemitismus beschäftigen, in der Regel weder die bekanntesten noch kommerziell erfolgreichsten Titel der jeweiligen Interpreten sind. Ausnahmen bilden das Stück „Nuit et brouillard“, das noch heute zu den bekanntesten Liedern Jean Ferrats gehört, oder der Titel „Wooden Ships“ der Band Crosby, Stills & Nash, die zu den Größen der angloamerikanischen Musik der 1960er- und 1970er-Jahre zählt. „Wooden Ships“ ist eine ebenso bildgewaltige wie kryptische Endzeit-Vision des Lebens nach einem nicht spezifizierten Krieg aus dem Jahr 1969. Besonders die Zeilen: „Horror grips us as we watch you die / All we can do is echo your anguish cry / Stare as all human feelings die“ wurden im Kontext des Vietnamkriegs oder des Ost-West-Konflikts und eines möglichen Nuklearkriegs gedeutet. Stephen Stills, der Ko-Autor und einflussreicher Rockgitarrist, kündigte den Song bei einigen Konzerten damit an, dass sich der Text auf den Holocaust in Europa bezöge. Stills, der auch für andere politische Songs bekannt ist, war mithin einer der wenigen nicht-jüdischen Amerikaner, der den Holocaust musikalisch behandelte. Holocaust-Leugnung als antisemitisches Agitationsmuster thematisierte der QueenSchlagzeuger Roger Taylor in dem Stück „Nazis 1994“. Wenn auch dem – weder textlich noch musikalisch besonders ausgefeilten – Song des Briten kein großer Erfolg beschieden war, ist „Nazis 1994“ doch eine der raren populärmusikalischen Veröffentlichungen, die Holocaust-Leugnung als Phänomen des sekundären Antisemitismus und Element des heutigen Neonazismus begreifen. Inzwischen hat es auch die wohl wirk-
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mächtigste Schrift des Judenhasses, die „Protokolle der Weisen von Zion“, zu musikalischer Aufbereitung gebracht: Der New Yorker Rabbi und Rock-Musiker Rav Shmuel veröffentlichte 2006 eine gelungene Satire namens „Protocols“, in der er gängige antisemitische Stereotype von der Geldgier bis hin zum Mythos von der jüdischen Weltverschwörung aufs Korn nimmt. Dass gut gemeint jedoch nicht automatisch gut gemacht sein muss, bewies im Jahr 2013 die italienische Band „7Grani“, die das Video zu ihrer an Kitsch grenzenden Rock-Ballade „Neve diventeremo“ [Wir werden zu Schnee werden] im ehemaligen KZ Buchenwald drehte: In recht willkürlicher Vermengung von Judenverfolgung, Holocaust, Zweitem Weltkrieg und politischer Verfolgung durch das NS-Regime hieß es auf der Webseite der Band, der Song sei „all den Menschen gewidmet, die während des Zweiten Weltkriegs in Nazi-Lager deportiert“ worden sind. Zu erwähnen sind schließlich auch Fälle, in denen performative Elemente (etwa bei Live-Shows oder in Musikvideos) den Kontext von Songs, die nichts mit Antisemitismus zu tun haben, veränderten und ihnen somit eine neue Bedeutung gaben. So drehte der Auschwitz-Überlebende Adolek Kohn im Jahr 2010 mit seinen Enkelkindern ein Video, in welchem sie in Auschwitz zu Gloria Gaynors Disco-Hit „I Will Survive“ tanzten – das völlig unpolitische Lied war schon lange als Hymne der Schwulen-Bewegung in einem anderen als dem intendierten Kontext bekannt. Die Reaktionen auf Kohns Video reichten von Zustimmung und Lob für das Anliegen des 90-Jährigen bis hin zu tiefer Empörung. Empörung erntete auch der ehemalige Pink-Floyd-Frontmann Roger Waters für seine Bühnenshow „The Wall“: Das berühmte Album aus dem Jahr 1979 war schon im Kontext des Falls der Berliner Mauer 1989 umgedeutet worden, Waters wollte es schließlich als Statement gegen Krieg, Diktatur und Unterdrückung verstanden wissen. Bereits seit 2010 war er wieder mit „The Wall“ und einer neuen Bühnenshow auf Tour um die ganze Welt, doch erst drei Jahre später fiel einem Besucher auf, dass dort u.a. ein Davidstern auf einem Schwein gezeigt wurde, das am Ende vom Publikum zerstört wird. Das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles bezeichnete Waters daraufhin als „antisemitisch“ und „Judenhasser“. In einem offenen Brief antwortete Waters, das Schwein „represents evil, and more specifically the evil of errant government“. Es zeigte zahllose Symbole, die für Waters Krieg, Unterdrückung, Diktatur und Rassismus verkörperten (so z. B. einen Mercedes-Stern, eine Dollar-Note, Hammer und Sichel, ein christliches Kreuz, die Shell-Muschel etc.) – der Davidstern war dabei als Kritik an der israelischen Politik gemeint. Mit ihrer Kritik an der Musikindustrie griff der ehemalige Kinderstar Miley Cyrus in die antisemitische Klischeekiste. Gegenüber dem Magazin „Hunger“ (Oktober 2013) beklagte die Popsängerin, dass alles, was auf ein jugendliches Publikum zielt, von Menschen gemacht würde, die „zu alt“ dafür seien und mithin keine Ahnung hätten, was Jugendliche wollen. Ihr eigener Erfolg dürfte sie Lügen strafen, denn die Macher ihrer Hits und Musikvideos wissen offenbar genau, was beim jungen Publikum ankommt. Cyrus fuhr jedoch fort: „It can’t be like this 70-year-old Jewish man that doesn’t leave his desk all day, telling me what the clubs want to hear.“ Der böse alte Jude gegen die gute junge Miley Cyrus – der Interviewer ging darauf nicht ein, doch das (ansonsten belanglose) Gespräch kam in die internationalen Medien. „Warum nur
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brachte sie Juden ins Spiel?“ fragte die Zeitung „The Forward“ (10. Oktober 2013). Einer der Macher ihres Erfolgs, Dr. Luke (Lukasz Gottwald, Produzent und Autor ihres bisher größten Hits sowie etlicher weiterer Nr.-1-Hits), wird auf antisemitischen Webseiten als „the Jew behind degenerate pop stars“ angefeindet. Der Chef ihres Plattenlabels RCA hingegen, der Brite Peter Edge, ist weder 70 noch Jude, was die Invektiven der Miley Cyrus klar als antisemitisch (und nicht auf einen konkreten 70-jährigen Juden gerichtet) entlarvt.
Bjoern Weigel
Das Römische Reich → Hans Folz-Dichtung
Rosen für den Staatsanwalt (Film von Wolfgang Staudte, 1959) Der 1959 unter der Regie und nach der Idee von Wolfgang Staudte in Kassel und Göttingen gedrehte Film „Rosen für den Staatsanwalt“ thematisiert – mit z. T. groteskkomischen Passagen – die personelle Kontinuität zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegszeit im Justizapparat, verkörpert durch den von Martin Held gespielten Kriegsgerichtsrat Dr. Schramm, dessen exzessive Vaterlandstreue über das Kriegsende hinaus in ironischem Ton überspitzt wird. Schramm, der den Gefreiten Rudi Kleinschmidt (Walter Giller) wenige Tage vor Kriegsende wegen Wehrkraftzersetzung aufgrund zweier gestohlener Dosen Schokolade („Schoko-Ka-Kola“) zum Tode verurteilt, kann nach 1945 seine Karriere als Oberstaatsanwalt ungebrochen fortsetzen, weil es ihm gelingt, im Entnazifizierungsverfahren seine NS-Funktionen zu verschweigen und zahlreiche „Persilscheine“ vorzulegen. Kleinschmidt entgeht der Exekution und überlebt den Krieg, weil der Gang zum Hinrichtungsort durch einen Fliegerangriff beendet wird. Durch die Detonation flattert per Zufall der von Schramm unterzeichnete Vollzugsbefehl des Urteils in Kleinschmidts Hände. Hier endet der Vorspann. In einem Blumenladen lässt eine Dame einen großen Strauß Rosen zusammenstellen. Man sieht, wie ein Fahrradkurier den Strauß zu einem Haus bringt. Die Familie des Oberstaatsanwalts Schramm sitzt beim Frühstück, als die Rosen eintreffen. Die Haushälterin, gespielt von Inge Meißel, nimmt die Blumen entgegen. Schramm berichtet seiner eifersüchtigen Frau, die Rosen seien von Frau Zirngiebel, Frau des gleichnamigen Studienrats, gegen den Schramm Anklage wegen antisemitischer Beschimpfungen führt. Die Rosen sollten das Zeichen dafür sein, dass es Zirngiebel gelungen war, über die Grenze zu fliehen. Schramm hat dies unterstützt, weil er – gemäß seiner Gesinnung – die Anklage für verfehlt hielt. Staudte, der wegen seines eigenen Mitläufertums während der NS-Zeit Schuld empfand und diese „moralische Hypothek“ filmisch verarbeiten wollte, hat die Rahmenhandlung des Films in Anlehnung an zwei Nachkriegsereignisse geschrieben. Zum einen beschäftigte die Öffentlichkeit der Fall des Kriegsgerichtsrates Otto Wöhrmann, der in der NS-Zeit wegen eines Bagatelldelikts die Todesstrafe verhängt hatte und nach 1945 zum Präsidenten eines Senats am Oberlandesgericht in Celle aufstieg, zum anderen erregte die Affäre um den Offenburger Studienrat Ludwig Zind, der im April 1957 in einem Gasthaus den jüdischen Textilgroßhändler Kurt Lieser mit den
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Worten „es sind noch viel zu wenig Juden vergast worden“ diffamiert hatte, die Medien. Gegen Zind wurde ein Dienstaufsichtsverfahren eingeleitet und im April 1958 ein Prozess geführt, der im In- und Ausland auf breites Medieninteresse stieß. Im Verfahren verteidigte Zind die NS-Rassenpolitik und entzog sich der Strafe durch Flucht nach Ägypten und später weiter nach Libyen. Als Staudte nur ein Jahr später den Stoff in seinem Spielfilm verarbeitete, waren die Spekulationen darüber, dass die Justiz möglicherweise Kenntnis von den Fluchtplänen Zinds gehabt haben könnte, noch frisch. „Der Spiegel“ schrieb im September 1959: „Noch vor einem halben Jahr hatte freilich nicht einmal Staudte selbst geglaubt, daß der Film, den der NF-Verleih jetzt als ‚unheimlich aktuelles‘ Werk ankündigt, jemals über das Rohkonzept hinaus gedeihen würde. Der Regisseur bedachte den Entwurf damals mit dem Randvermerk: ‚Gedanken zu einem Film, der nie gedreht wird‘. […] Der Regisseur war während der Vorbesprechungen [mit der Verleihfirma] zu der Einsicht gelangt, daß er seine StaatsanwaltGeschichte nicht als ‚ernsten, dramatischen Film‘, sondern ‚als komisches Debakel unserer Zeit‘ anlegen mußte. Er war jedoch entschlossen, seine politischen Kampf-Argumente ‚als Konterbande‘ auch in eine komödienhafte Filmstory einzuschmuggeln.“ Der nur knapp der Vollstreckung des Todesurteils entkommene Rudi Kleinschmidt verdient sich nach dem Krieg mehr schlecht als recht seinen Unterhalt als Straßenverkäufer und trifft bei einer seiner Verkaufsaktionen Dr. Schramm, der fürchtet, der ehemalige Gefreite könnte ihm schaden und sein gut eingerichtetes bürgerliches Leben zerstören, in dem er – nach autoritärem Vorbild – die Rolle des Familienherrschers spielt. Bevor es Kleinschmidt gelingen könnte, diese vermeintliche Idylle zu ruinieren, sollte er verschwinden. Schramm, dessen rechtsextreme Gesinnung durch den Kauf der „Deutschen Soldatenzeitung“ markiert wird, missbraucht seinen Einfluss in der Stadt und instrumentalisiert die Polizei für seine Zwecke. Rudi Kleinschmidts Gewerbeschein wird beschlagnahmt und er muss seinen Straßenverkauf einstellen. Der Verzweiflung nahe, stiehlt er zwei Tafeln Schokolade aus einer Auslage. Der Diebstahl wird vor Gericht verhandelt, Oberstaatsanwalt ist Dr. Schramm. Plötzlich kommt Schramm der Fall vor dem Militärgericht Ende des Krieges in den Sinn, und er fordert in seinem Schlussplädoyer in geistiger Abwesenheit abermals die Todesstrafe für Kleinschmidt, der laut anfängt zu lachen. Schramm verbessert sich, ist aber diskreditiert und verlässt fluchtartig das Gerichtsgebäude. Mit seiner Beurlaubung und einem Happy End zwischen Rudi und seiner Angebeteten Lissy (Ingrid van Bergen) endet der Film, der als einer der ganz wenigen schon sehr früh die mangelnde Aufarbeitung der Vergangenheit in der jungen Bundesrepublik thematisiert. Die Freiwillige Selbstkontrolle allerdings zwang Staudte dazu, eine Szene nochmals zu drehen und in dieser deutlich zu machen, dass es auch Richter in der Bundesrepublik gab, die sich deutlich von der NS-Zeit distanzierten und in demokratischem Sinne Recht sprachen. „Rosen für den Staatsanwalt“ wurde am 24. September 1959 in Hamburg uraufgeführt und 1960 mit dem Deutschen Filmpreis/Filmband in Silber als „überdurchschnittlicher abendfüllender Spielfilm“ für Drehbuchautor Georg Hurdalek und Hauptdarsteller Walter Giller gewürdigt. Im Fernsehen lief der Film zum ersten Mal am 2. Dezember 1968.
Juliane Wetzel
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Rosenzweigs Freiheit (Fernsehfilm von Liliane Targownik, 1998)
Literatur Uschi und Andreas Schmidt-Lenhard, Wolfgang Staudtes Nachkriegsfilme, in: German as a foreign language (GFL)-Journal 3 (2013), S. 27–42.
Rosenzweigs Freiheit (Fernsehfilm von Liliane Targownik, 1998) Der 1998 vom SWR unter der Regie von Liliane Targownik (geb. 1959, München) produzierte und am 17. Februar 1999 in der ARD erstausgestrahlte Fernsehfilm „Rosenzweigs Freiheit“ erzählt von den psychischen Folgen der Shoah und von Antisemitismus in der (west-)deutschen Nachkriegsgesellschaft. Michael Rosenzweig (Christoph Garreisen) ist gerade bei seiner vietnamesischen Freundin Nhung (Uyen Van Thi Dao) zu Besuch, als ein Brandanschlag auf das Asylbewerberheim verübt wird, in dem sie wohnt. Er gerät in Panik, flüchtet in Todesangst und schießt mit einer Waffe um sich. Am nächsten Morgen kann er sich an die Ereignisse der Nacht nicht mehr erinnern und gerät in Verdacht, einen Neonaziführer erschossen zu haben. Sein Bruder Jakob Rosenzweig (Benjamin Sadler), der in Frankfurt am Main als Anwalt arbeitet und Experte für die Neonazi-Szene ist, übernimmt die Verteidigung Michaels. Mithilfe des älteren renommierten Anwalts Fritz Ahrendt (Peter Roggisch) und des Gerichtspsychologen Dr. Braun (Bernd Stegemann) kann er Michaels Freispruch erwirken und nachweisen, dass der Mord durch einen rivalisierenden Neonazi verübt wurde. „Rosenzweigs Freiheit“ ist insofern bemerkenswert, als er die fremdenfeindlichen, pogromartigen Ausschreitungen der frühen 1990er-Jahre (z. B. in Hoyerswerda) in einen Zusammenhang mit der Shoah und mit zeitgenössischem Antisemitismus in der Gesellschaft bringt. Der Film zeigt eine Kontinuität, indem er von drei Ereignissen erzählt und diese über die psychischen Auswirkungen, die sie primär für die Figur Michael Rosenzweig, aber auch für seinen Bruder Jakob haben, verbindet: Zunächst die Ermordung der Kinder ihres Vaters aus erster Ehe in der Shoah. Über diesen Verlust wurde in der Familie nicht gesprochen, dennoch war er sehr präsent. Dann der (reale) Brandanschlag auf das jüdische Altersheim in München 1970, den die Brüder aus nächster Nähe mitbekamen und der ihnen zeigte, dass sich die antisemitische Bedrohung in die Gegenwart fortsetzt. In Michael führt dieses verdrängte Ereignis dazu, dass er beim Anblick von Feuer in Panik ausbricht und Todesangst bekommt, Jakob hat daraus den Schluss gezogen, dass er sich als Anwalt für die Ahndung neonazistischer Gewaltverbrechen selbst einsetzen muss, weil dies ansonsten möglicherweise nicht passiert. Schließlich der Brandanschlag auf das Asylbewerberheim im (fiktiven, an Hoyerswerda angelehnten) Falkenwerda, welchen Michael miterlebt und welcher die Ereignisse um den Prozess auslöst. Die Erklärung der psychologischen Verknüpfung der drei Ereignisse liefert die Figur des Psychologen Dr. Braun mit ihrem Plädoyer in der Mitte des Films. Hier wird auch Wissen über die zweite Generation und die transgenerationelle Übertragung der Traumatisierung von Holocaustüberlebenden vermittelt. „Rosenzweigs Freiheit“ stellt also einen Zusammenhang her zwischen der Welle neonazistischer Gewalttaten in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre und der Shoah sowie anderen antisemitischen Gewaltverbrechen, und zwar einerseits über die Ver-
Die Rothschilds (Film von Erich Waschneck, 1940)
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wandtschaft der Verbrechen und andererseits über die Thematisierung der psychischen Folgen für die Betroffenen. Dabei zeigt der Film die antisemitische Prägung der häufig primär als fremdenfeindlich („ausländerfeindlich“) wahrgenommenen rechtsextremen Szene in der Gerichtsverhandlung. Da ein jüdischer Angeklagter vor Gericht steht, werden in der Vernehmung der Zeugen aus der Neonazi-Szene vor allem antisemitische Ressentiments und Parolen geäußert. Gleichzeitig verdeutlicht der Film auch, dass nicht nur der offene, direkt und positiv – auf den Nationalsozialismus Bezug nehmende Antisemitismus ein gesellschaftliches Problem ist. So wird die Figur des Staatsanwaltes Keil als unredlich, aber auch als latent antisemitisch gezeichnet: Dem karrieristischen Anwalt ist der nächstbeste Verdächtige recht, er ist nicht an der Aufklärung des Falles, sondern an dessen rascher Beendigung interessiert. In Szenen, die ihn im Gespräch mit Jakob Rosenzweig zeigen, werden wiederholt seine antisemitischen Ressentiments sichtbar. Damit schafft es „Rosenzweigs Freiheit“, die fremdenfeindliche Ausschreitungswelle der frühen 1990er-Jahre mit den psychischen Folgen der Verfolgung für die zweite Generation und zeitgenössischem, gesellschaftlichem Antisemitismus zusammenzubringen und kritisch zu thematisieren. Das Ende, das die Hochzeit von Nhung und Michael in der jüdischen Gemeinde mit einem gleichzeitig stattfindenden Brandanschlag auf die Wohnung der Familie Rosenzweig parallelisiert, setzt eine kritische bis pessimistische Perspektive auf die Zukunft als Schlusspunkt.
Lea Wohl von Haselberg
Literatur Lawrence Baron, Projecting the Holocaust into the Present. The Changing Focus of Contemporary Holocaust Cinema, Lanham/Md. 2005. Knut Hickethier, Neonazis, Skins und alte Kameraden. Rechtsradikalismus als Sujet im deutschen Fernsehfilm, in: Claudia Cippitelli, Axel Schwanenbeck (Hrsg.), Die neuen Verführer. Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in den Medien, München 2004, S. 109–132. Liliane Targownik, Lawrence Baron, An Interview with Liliane Targownik, in: Shofar. An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies 22 (2003) 1, S. 117–121.
Die Rothschilds (Film von Erich Waschneck, 1940) „Die Rothschilds“ ist einer von drei antisemitischen Propagandafilmen des Jahres 1940 (→ „Der ewige Jude“, → „Jud Süß“), die die deutsche Bevölkerung auf eine weitere Radikalisierung der Judenverfolgung vorbereiten sollten. Die Filme wurden auf Goebbels’ Initiative in den Jahren 1939/1940 produziert. Die Uraufführung der „Rothschilds“ fand am 17. Juli 1940 in Berlin statt. Der Film zielte der damaligen Kriegslage entsprechend auch darauf ab, neben antisemitischer auch antibritische Propaganda massenwirksam zu verbreiten. Hierzu griff man historischen Stoff – den Aufstieg der Bankiersfamilie Rothschild – auf und verfälschte ihn entsprechend. Der NSPropagandafilm „Die Rothschilds“ ist nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen US-amerikanischen Film aus dem Jahre 1934. „Die Rothschilds“ entstand nach einer Idee von Mirko Jelusich, die Regie führte Erich Waschneck, das Drehbuch schrieben C.M. Köhn und Gerhard T. Buchholz. Die
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Die Rothschilds (Film von Erich Waschneck, 1940)
Filmmusik lieferte Johannes Müller, Robert Baberske führte die Kamera, Walter Wischniewsky war für den Schnitt verantwortlich. Als Darsteller wirkten renommierte deutsche Schauspieler mit: Erich Ponto (Mayer Amschel Rothschild), Carl Kuhlmann (Nathan Mayer Rothschild), Albert Florath (Bearing), Bernhard Minetti (Fouche), Gisela Uhlen (Phyllis), Hubert von Meyerinck (Vitrolles). Der Film „Die Rothschilds“ hatte insgesamt wenig Erfolg. Nach der Uraufführung wurde er vom Reichspropagandaministerium zurückgehalten und erst am 2. Juli 1941 mit seinem neuen Titel („Die Rothschilds. Aktien auf Waterloo“) freigegeben. Wilhelm IX., Kurfürst von Hessen-Kassel, so die Handlung des NS-Propagandafilms, will sich nicht dem Rheinbund anschließen. Vor Napoleon auf der Flucht vertraut er 1806 Mayer Amschel Rothschild Obligationen aus seinem Soldatenhandel von 600.000 Pfund an, damit dieser sie in Sicherheit bringen möge. Rothschild versteht es, dieses Kapital mithilfe seiner Söhne Nathan in London und James in Paris geschickt zu vermehren: Sie finanzieren mit dem Geld Wilhelms Wellingtons unterfinanzierte Truppen während Napoleons Krieg in Spanien. Nathan Rothschilds bedeutendster finanzieller Schachzug gelingt ihm 1815: Er verbreitet das Gerücht, Napoleon habe bei Waterloo gesiegt. Als die Aktienkurse daraufhin dramatisch an Wert verlieren, lässt er unauffällig in großem Stil Aktien kaufen. Als schließlich Napoleons Niederlage bekannt wird, hat er sein Vermögen vervielfacht. Er weiß hieraus auch politisch Kapital zu schlagen. Rothschild kooperiert mit dem Kommissar des britischen Schatzamtes, um mittels England ganz Europa zu beherrschen. Der Film verknüpft in propagandistischer Absicht geschichtliche Sachverhalte mit klassischen antisemitischen Stereotypen und Klischees zu einem „historischen Geschehen“: Den Rothschilds wird, stellvertretend für alle Juden, unterstellt, über kein patriotisches Bewusstsein zu verfügen. Sie profitieren angeblich in zynischer Weise von der Not der Völker während des Krieges. „Viel Geld machen kannste nur mit viel Blut“, lassen die Drehbuchautoren deshalb Mayer Amschel Rothschild zu seinem Sohn James sagen. Der Film schließt mit den Worten: „Als die Arbeit an diesem Film beendet war, verließen die letzten Nachkommen der Rothschilds Europa als Flüchtlinge. Der Kampf gegen ihre Helfer, die britische Plutokratie, geht weiter.“ Er verknüpft damit antibritische Propaganda mit antisemitischen Verschwörungstheorien. „Die Rothschilds“ stand sowohl im Besuch der Filmtheater wie im Urteil der Zuschauer im Schatten des sehr erfolgreichen Propagandafilms „Jud Süß“. Dies bestätigen u. a. die „Meldungen aus dem Reich“ des RSHA. Unter Bezugnahme auf die „schauspielerischen Leistungen“ wird im SD-Bericht vom 28. November 1940 betont, „Jud Süß“ werde im Urteil des Publikums „ungleich stärker und überzeugender“ eingeschätzt als der Film „Die Rothschilds“. Dennoch darf dessen Wirkung nicht unterschätzt werden. Er nahm Einfluss auf die Einstellung der damaligen deutschen Bevölkerung, weil er – im Zusammenwirken mit anderen antisemitischen Medienprodukten – die gewünschten Vorurteile bestätigte und verstärkte. Eine thematische Verknüpfung der drei wichtigsten antisemitischen NS-Filme zeigt sich darin, dass die Familie Rothschild auch in dem pseudodokumentarischen Hetzfilm „Der ewige Jude“ als „historischer Beleg“ für antisemitische Verschwörungstheorien herangezogen wurde.
Bernward Dörner
Der Ruf (Film von Josef von Báky, 1948/49)
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Literatur Die Rothschilds. Aktien auf Waterloo, in: Illustrierter Filmkurier Nr. 3120, Berlin 1940. Dorothea Hollstein, Antisemitische Filmpropaganda. Die Darstellung der Juden im nationalsozialistischen Spielfilm, Frankfurt am Main 1983. Gertrud Koch, Tauben oder Falken – die Rothschild-Filme im Vergleich, in: Cilly Kugelmann, Fritz Backhaus (Hrsg.), Jüdische Figuren in Film und Karikatur. Die Rothschilds und Joseph Süß Oppenheimer, Frankfurt am Main 1996, S. 65–96.
Der Ruf (Film von Josef von Báky, 1948/49) „Der Ruf“ ist der einzige Film, der sich im Nachkriegsdeutschland mit dem Nachwirken des NS-Antisemitismus befasst hat. In einer Diskussion seines Films mit dem Publikum gab Fritz Kortner an, der Film sei „mit Billigung der amerikanischen Militärregierung gedreht worden mit dem Zweck, die antisemitische Frage in Deutschland zu beleuchten“. Er selbst hat gegenüber der „Frankfurter Rundschau“ den Film als einen „Aufschrei“ verstanden wissen wollen, der nach „Kampfgefährten“ gegen neue antisemitische Tendenzen sucht. Es ist ein sehr persönlicher Film des berühmten Schauspielers Kortner, von dem das Drehbuch stammt und der die Hauptrolle spielt. Er verarbeitete darin seine negativen Erfahrungen als jüdischer Emigrant bei seiner Rückkehr nach Deutschland Ende 1947, die für die gegenüber dem ursprünglichen Drehbuch düsterere und resignative Stimmung des Schwarz-Weiß-Films verantwortlich waren. Gedreht wurde „Der Ruf“ 1948/49 unter der Regie von Josef von Báky, dem auch die mit amerikanischer Lizenz arbeitende Produktionsfirma „Objektiv-Film GmbH“ in München gehörte und der vor dem Krieg gesellschaftskritische Filme und den bekannten UfA-Jubiläumsfilm „Münchhausen“ (1943) gedreht hatte. Der Film wurde in einer englischen und einer deutschen Version gedreht. In der englischen Version heißt der Film „The Last Illusion“. Die deutsche Version ist in Teilen zweisprachig mit Untertiteln, da die Figuren je nach Situation deutsch oder englisch sprechen, was einigen Anlass zu komischen Momenten bietet. „Der Ruf“ erzählt die Geschichte des deutsch-jüdischen Philosophieprofessors Mauthner, der 1933 von seiner Universität entlassen in die USA emigrierte, wo er nun als angesehener Professor lehrt. Drei Jahre nach Kriegsende erhält er von seiner alten Universität den Ruf, auf seinen Lehrstuhl zurückzukehren. Der Film setzt ein mit einer Party im Hause des Professors in Kalifornien. Als unter den Gästen bekannt wird, dass Mauthner überlegt, nach Deutschland zurückzukehren, entwickelt sich ein heftiges Streitgespräch, in dem sowohl die amerikanischen Assistenten wie auch die ebenfalls emigrierten Freunde Mauthner ein abschreckendes Bild der Deutschen als „Menschenfresser“ entwerfen und ihm die Grauen der Vernichtungslager vor Augen führen. Auf die Frage, ob er denn keinen Abscheu vor diesen Menschen verspüre, entgegnete Mauthner aber: „In meinen besten Momenten – nein“. Er weist eine Kollektivschuld der Deutschen zurück, da es „weder ein Volk von Verbrechern, noch ein Volk von Helden“ gebe. Mauthner ist emotional und kulturell eng mit Deutschland verbunden, mit dem ihn eine „love affair“ verbindet, wie er selber sagt. Zur Sehnsucht kommen Pflichtgefühl und Teile eines unvollendeten Lebens hinzu, hatte er doch Ehefrau und Sohn zurücklassen müssen. Seine junge Assistentin Mary, mit der Mauthner eine nicht
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Der Ruf (Film von Josef von Báky, 1948/49)
ausgelebte Liebe verbindet, ahnt, dass sein Herz gegen seinen Verstand längst entschieden hat. Mauthner reist also in Begleitung seiner alten deutschen Haushälterin (gespielt von Lina Carstens), Marys und von zwei weiteren amerikanischen Assistenten nach Europa. Auf dem Schiff begegnet er einem alten Juden, der sich traurig und ungläubig abwendet, als er hört, dass Mauthner nach Deutschland fahren will. Während seine Begleiter in Paris Station machen, drängt es Mauthner, nach Deutschland zu kommen. Er wird vom Rektor der Universität und früheren Kollegen freudig empfangen, die auf seinen aufklärerischen Einfluss hoffen (der Film sollte zunächst den Titel „The Mission“ tragen), wobei sie nicht verhehlen, dass viele den alten nationalsozialistischen Geist noch nicht abgelegt hätten und Mauthner mit Widerstand rechnen müsse. Mauthner begegnet den Menschen mit einer großen Verzeihens- und Verständigungsbereitschaft, doch erlebt er eine Kette von Enttäuschungen, die ihm zeigen, wie sehr die Jahre der NS-Herrschaft die Menschen in Deutschland geprägt haben, die er nun allein mit seiner Anwesenheit zur Auseinandersetzung mit ihrem Antisemitismus zwingt. Immer wieder werden die Brüche erkennbar, die ihn von seinen früheren Freunden, Kollegen und seiner früheren Ehefrau (gespielt von Kortners Ehefrau Johanna Hofer) trennen. Diese hatte nach seiner Emigration den Kontakt zu ihm abgebrochen, und er trifft sie nur durch Zufall wieder. Er begegnet ihr zunächst mit großer Vertrautheit, muss jedoch erfahren, dass sie ihn als Juden gegenüber ihrem gemeinsamen Sohn Walter (gespielt von Ernst Schröder) verleugnet hat. Sie erklärt, der Sohn sei noch in Kriegsgefangenschaft, obwohl er an der Universität studiert. In seinem ehemaligen, politisch gewendeten Kollegen Fechner (Paul Hoffmann) erwächst Mauthner ein Feind, da seine Berufung dessen Hoffnung auf die Professur zerstört hat. Fechner organisiert unter noch nationalsozialistisch und antisemitisch gesinnten Studenten, darunter auch Mauthners Sohn Walter, den Widerstand gegen Mauthner. Walter verliebt sich in Mauthners Assistentin Mary und beginnt, sich in Gesprächen mit ihr langsam von seiner Haltung zu lösen. Der Höhepunkt des Films ist Mauthners sich auf Platon beziehende Antrittsvorlesung „Tugend ist lehrbar“, in der er Vernunft und Friedenswillen gegen die Irrationalität und den kriegerischen Ungeist des Dritten Reiches setzt und die Studenten ermutigen will, zu den genannten Tugenden zurückzufinden. Seine Rede findet jedoch nur bei wenigen Studenten Beifall, die Mehrheit, darunter sein eigener Sohn, verlässt in stummem Protest den Saal. Bei der anschließenden Begrüßungsfeier für Mauthner hetzt der Kollege Fechner die Studenten mit antisemitischen Bemerkungen auf. Es kommt zum Streit mit Unterstützern Mauthners, der zur Prügelei eskaliert. Der Film verweist damit auf ähnliche Aktionen an westdeutschen Universitäten, wo Studierende gegen Kritik am Nationalsozialismus und die Wiedereinstellung von Emigranten protestierten. Mauthner spürt durch diesen Boykott der Studenten geradezu körperlich den Hass und die Kälte, mit der man ihm in Deutschland als jüdischem Emigranten begegnet. Seine Hauswirtschafterin bringt dies auf den Punkt, als sie ihm sagt: „Die Leute wollen Sie hier nicht.“ Mauthner nimmt sich die Sache so zu Herzen, dass er tödlich erkrankt. Er sagt selbst dazu, dass sein „verleumdetes Blut presst und steigt“ und ihm „die alten Adern sprengt“. Seine frühere Frau kümmert sich um ihn und erst jetzt nä-
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hern sich beide einander wieder an. Auch der gemeinsame Sohn Walter erscheint am Krankenbett, um sich für die antisemitischen Übergriffe und sein Verhalten zu entschuldigen. In der Figur Walters wird gezeigt, dass der verdrängte jüdische Anteil seiner Herkunft am Ende des Films, als sich Vater und Sohn in der Sterbeszene erkennen, vom Sohn nun angenommen wird und zu einer Änderung seiner Haltung führt. Im letzten Fiebertraum erinnert sich Mauthner an die Kälte, die er bei seinem Abschied in Kalifornien empfunden hatte, als einer seiner amerikanischen Assistenten die Vernichtungslager erwähnte. Die Aufforderung, doch ins warme Kalifornien zurückzukehren, lehnt er aber ab. Im Glauben an die Heimat erschüttert und aus ihr ein zweites Mal vertrieben, antwortet er auf die Frage, wohin er denn wolle: „heim“. Mauthners Leichenzug schließen sich neben seiner früheren Frau und seinem Sohn auch viele Studenten an, darunter auch einer der nationalsozialistisch gesinnten Studenten, die sich zuvor gegen ihn gewandt hatten. „Der Ruf“ ist ein hochgradig emotionaler Film, in dem die Liebe des ins Exil getriebenen Juden zu Deutschland, die man auch als persönliches Bekenntnis Fritz Kortners verstanden hat, immer wieder schwer enttäuscht wird und in Wut, Trauer und Resignation umschlägt. Bei anderen Protagonisten werden Gefühle der Scham, der Verbitterung, des Trotzes und des Hasses erkennbar. Anders als in den „Trümmerfilmen“ sind keine zerstörten Städte zu sehen, und die Deutschen werden auch nicht als Opfer präsentiert, sondern als überwiegend immer noch nicht befreit vom Einfluss des Nationalsozialismus und Antisemitismus. Die Filmkritik hat aber zu Recht moniert, dass den antisemitischen Gegnern Mauthners und deren Handeln dramaturgisch nicht das nötige Gegengewicht verliehen worden sei, da deren Darstellung ins Parodistische hinüberspiele. Damit werde der Film den wirklich bestehenden Gefahren nicht gerecht. Neben den bekannten älteren Schauspielern, wie Kortner, Hofer und Lina Carstens, spielen junge Schauspieler, die später in der Bundesrepublik Karriere gemacht haben, wie Ernst Schröder, Charles Regnier, Hans Clarin, Arno Assmann und Paul Hoffmann, der spätere Direktor des Wiener Burgtheaters. Bei den Assistenten Kortners handelte es sich tatsächlich um junge Amerikaner, darunter neben ihrem Bruder Michael auch Rosemary Murphy, die Tochter des Beraters beim amerikanischen Militärbefehlshaber in Deutschland, die später in den USA Film- und Theaterkarriere machte. Als Komparsen agierten Studenten der Universität München. Die Uraufführung des Films fand am 20. April 1949 im Marmorhaus unter der Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters in Berlin statt, bei der Kortner vom Publikum gefeiert wurde. Bei der Premiere am 7. Juni 1949 in Frankfurt am Main gab es ebenfalls stürmische Ovationen. Auch in mehreren Großstädten übernahmen Bürgermeister die Schirmherrschaft und unterstrichen so die politische Bedeutung des Filmthemas. Der Film wurde im September 1949 auf den Internationalen Filmfestspielen in Cannes gezeigt. Die Filmkritiken waren überwiegend positiv, zeigten aber oft eine gewisse Ambivalenz. Sie lobten zumeist Kortners „warmherziges Bekenntnis zu Deutschland“, das „Völkerversöhnende“ und die schauspielerischen Leistungen. Es wurde aber auch moniert, dass Kortner in einigen Szenen die „Gerechtigkeit des Emigranten allzu festlich angestrahlt“ habe. In die Bewertung des Films flossen so die zeitgenössischen Vorur-
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teile gegen Emigranten ein. Einige Rezensenten hielten die Kritik an den deutschen Zuständen für zu subjektiv, simplifizierend und zu pessimistisch, da das, wogegen der Film auftrete, nicht mehr existiere. Das „Film-Echo“ schrieb am 20. Juni 1949: „So erschüttert uns mehr als ein Zusammenprall zweier Weltanschauungen der Zwiespalt in der Brust des Heimkehrers Kortner: sich zu mühen, objektiv zu sein, und doch ungerecht zu bleiben. […] Ja, ein Vorurteil hemmt ihn.“ Auch die jüdische Zeitung „Der Weg“ kritisierte im April 1949 die „überzeichnete Akzentuierung mancher Szenen“, doch sei es geglückt, „das Symptom einer Krankheit der Gesellschaft zu verdeutlichen“, die Kortner mit Wärme und Verständnis zu überwinden suchte. Es gab auch Kritiken, die die bitteren Erfahrungen der Remigranten ernst nahmen und lobten, dass der Film einen „herzhaften Griff in die heikelsten Probleme unseres heutigen Tages“ wagte. Doch zumeist wurde dem Film bei aller Anerkennung der menschlich-noblen Haltung Kortners eine völlige Verkennung der Realität vorgeworfen. Umgekehrt kritisierte die New Yorker jüdische Zeitung „Der Aufbau“ die versöhnliche Toleranz des Films als zu weitgehend und sah in ihm geradezu einen „Propagandafilm für Deutschland“. Einen anderen Tenor hatten die Kritiken in den Zeitungen der Sowjetzone. Sie kritisieren, dass auf die anderen Verhältnisse in ihrer Zone nicht eingegangen werde und dass der Film in der Anklage stecken bleibe, es aber nicht wage, Kritik an den Verhältnissen in den Westzonen zu üben und einen „Weg aus diesem nazistischen Chaos“ aufzuzeigen. Den Westalliierten wird vorgehalten, dass sie Verhältnisse zuließen, in denen verhetzte Studenten einen Juden in den Tod treiben könnten und wo an der Universität für lebende Juden kein Platz sei. Zwar blieben gegen den „Ruf“ Proteste wie gegen den Artur Brauner-Film → „Morituri“ aus, doch lehnten in den Publikumsdiskussionen viele die Schilderung des Antisemitismus als zu pessimistisch ab und befürchteten, der Film würde dem Ruf Deutschlands deshalb im Ausland schaden. Kortner erlebte in den Diskussionsrunden mit Berliner Studenten aber auch ein großes Interesse an der Bekämpfung des Antisemitismus. „Der Ruf“ war kein Erfolg. Es fehlen zwar Angaben zu Zuschauerzahlen, doch Kortner selbst konstatierte rückblickend, der Film sei nur in wenigen Städten gezeigt und dann abgesetzt worden.
Werner Bergmann
Literatur Helmut G. Asper, Fritz Kortners Rückkehr aus dem Exil und sein Film Der Ruf, in: Helmut G. Asper (Hrsg.), Wenn wir von gestern reden, sprechen wir über heute und morgen, Berlin 1991, S. 287–300. Tim Gallwitz, „Unterhaltung – Erziehung – Mahnung“. Die Darstellung von Antisemitismus und Judenverfolgung im deutschen Nachkriegsfilm 1946 bis 1949, in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), „Beseitigung des jüdischen Einflusses …“: Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus, Jahrbuch 1998/99, Frankfurt am Main 1999, S. 275– 304. Bettina Greffrath, Gesellschaftsbilder der Nachkriegszeit. Deutsche Spielfilme 1945–1949, Pfaffenweiler 1995. Klaus Völker, „Aufklärung ist wichtiger als Verurteilung“: Zu Fritz Kortners Film „Der Ruf“, in: Filmexil 3 (1993), S. 5–12.
Die Rundköpfe und die Spitzköpfe (Drama von Bertolt Brecht, 1932–1938)
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Die Rundköpfe und die Spitzköpfe (Drama von Bertolt Brecht, 1932–1938) In der allgemeinen Wahrnehmung von Bertolt Brechts (1898–1956) dramatischem Werk wird seinem Parabelstück „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe oder Reich und reich gesellt sich gern. Ein Greuelmärchen“ nur randständige Bedeutung attestiert. Das Stück stellt, lange vor der Judenvernichtung, Brechts einlässlichste Befassung mit dem NS-Antisemitismus dar, hat aber auch vielfach Kritik und den Vorwurf auf sich gezogen, den eliminatorischen Antisemitismus der Nationalsozialisten unterschätzt zu haben – was freilich über die gesamte zeitgenössische Literatur gesagt werden könnte. Brechts Arbeit an dem Stück geht bereits auf das Jahr 1931 zurück; Ausgangspunkt war eine Bearbeitung von Shakespeares Komödie „Measure for Measure“ (1604). Shakespeares Auseinandersetzung mit dem Rechtsuniversalismus reicherte Brecht mit parabolischen Referenzen auf den Aufstieg des Nationalsozialismus an, dabei rückte das bei Shakespeare nicht präsente Thema des Antisemitismus ins Zentrum des Interesses. Eine erste eigenständige Fassung lag – noch unter dem Titel „Die Spitzköpfe und die Rundköpfe“ – Ende 1932 vor. In der Folge überarbeitete Brecht das Stück mehrfach. 1935 wurden einige Szenen in Moskau aufgeführt; am 4. November 1936 erfuhr das Stück seine Uraufführung in dänischer Sprache in Kopenhagen. Die erste Publikation erfolgte 1936 in russischer Übersetzung in der Sowjetunion; 1937 schloss sich, ebenfalls in der Sowjetunion, eine englischsprachige Veröffentlichung an. 1938 erschien die erste deutschsprachige Ausgabe im Malik Verlag in Prag; diese stellt auch die letzte Fassung des Stücks dar, die bis heute als verbindlich angesehen wird. Hanns Eisler vertonte die zahlreichen eingebetteten Songs. Das Stück behandelt in parabolisch verfremdeter Form – Schauplatz ist das fiktive Land Jahoo, die Figuren tragen hispanisierende Namen – den politischen Verlauf einer kapitalistischen Überproduktionskrise: Eine zu gute Getreideernte hat den Getreidepreis und damit die Ökonomie des Landes ruiniert. In der Folge radikalisiert sich die politische Situation; die Pächter – die dramatischen Repräsentanten der ausgebeuteten Klasse – sammeln sich in einem revolutionären Kampfbund namens „Sichel“ (eine deutliche Referenz auf die Kommunistische Partei). Auf der anderen Seite organisiert der rassistische Demagoge Iberin (eine unverkennbare Anspielung auf Hitler) die Schlägertruppe der „Huas“ (Hutabschläger), die allen Einwohnern die Hüte von den Köpfen reißen, um die darunter verborgene Kopfform zu enthüllen: Denn, so die rassistische Doktrin Iberins, die spitzköpfigen Bewohner trügen aufgrund ihrer „Rasse“ die Schuld an der ökonomischen und politischen Krise des Landes, wohingegen die Rundköpfe als produktive Staatsrasse nobilitiert seien. Iberin wird von der herrschenden Elite als Statthalter eingesetzt und kann nun sein Programm der rassistischen Teilung der Bevölkerung in die Praxis umsetzen. Exemplarisch wird die Durchsetzung der rassistischen Ideologie an der Verurteilung des reichen Pachtherrn Guzman vor Augen geführt: Er ist zwar einerseits Teil der besitzenden und damit auch politisch privilegierten Klasse, andererseits ist er als Spitzkopf Angehöriger der nunmehr verfolgten Minderheit. Iberin verurteilt ihn aus rassistischen Gründen wegen einer „Rassenschande“. Dies veranlasst einige rundköpfige „Sichel“-Anhänger, zu Iberin überzulaufen. Ihren Irrtum, Guzman sei aufgrund
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seiner ökonomischen Stellung, also aus „sozialistischen“ Gründen, verurteilt worden, und von Iberin sei eine grundlegende Änderung der ökonomischen Machtverhältnisse zu erwarten, bezahlen sie teuer. Am Ende ist die sozialrevolutionäre „Sichel“ zerschlagen, der Statthalter Iberin wird nach der herrschaftsgerechten Überwindung der politischen Krise entlassen und damit die rassistische Ideologie wieder aus dem Verkehr gezogen: Der spitzköpfige Pachtherr Guzman wird begnadigt und setzt sich mit seinen rundköpfigen Klassenbrüdern an den Tisch, während rund- und spitzköpfige „Sichel“-Anhänger hingerichtet werden. Dieses Ende ist in der Rezeption häufig dahingehend missverstanden worden, dass Brecht die irrige Prognose abgegeben habe, es könne und werde einen Nationalsozialismus (bzw. Faschismus) ohne Antisemitismus geben. Das Stück demonstriert aber die gegenteilige These: Das einzige Merkmal, das die Iberin-Bewegung von der traditionellen bürgerlichen Herrschaft unterscheidet, ist in der Tat ihr Rassismus. Nur solange sich Iberin an der Macht behaupten kann, wird die rassistische Ideologie praktiziert. Überhaupt liefert das Stück keine Prognose über den künftigen Verlauf der nationalsozialistischen Herrschaft – schon der frühe, vor 1933 liegende Beginn der Arbeit an dem Stück spricht dagegen –, sondern unternimmt den Versuch, den marxistischen Klassenbegriff und seine gesellschaftstheoretische Gültigkeit gegen die nationalsozialistische Rassenkonzeption abzuwägen. Schon das Vorspiel, das diese Überprüfung explizit als Ziel der parabolischen Darstellung exponiert, legt sich dabei auf den Ausgang des dramatischen Experiments fest: „Und hat der Stückeschreiber, wie wir glauben, recht / Dann wählt ihr mit dem Kleide [also der Klassenzugehörigkeit] das Geschick / Nicht mit der Schädelform.“ Dass Brecht in der Durchführung dieses Beweises nicht allein die rassistische Ideologie als ungültig entlarvt, sondern insgesamt die Relevanz des Ideologischen bestreitet – als sei die theoretische Zurückweisung der rassistischen Ideologie identisch mit ihrer faktischen Bedeutungslosigkeit –, stellt allerdings eine Schwäche des Stückes dar, die umso mehr überrascht, als sich Brechts ganze Theaterkonzeption der Auseinandersetzung mit herrschenden Ideologien widmet. Dennoch ist das Stück eine Herausforderung für seine Zeitgenossen und die späteren Interpreten: Es dementiert die Ideologie des Antisemitismus nicht dadurch, dass ihre Behauptungen über den staatszersetzenden Charakter der Juden unwahr seien, wie dies in der zeitgenössischen Kritik am NS-Antisemitismus und bis heute weitverbreitet war bzw. ist. Vielmehr stellt Brecht heraus, dass der Antisemitismus seine Urteile und seine mörderische Praxis ohnehin nicht von individuellen oder auch kollektiven Eigenschaften von Juden abhängig mache und damit nicht durch Gegenbeweise der Staatsnützlichkeit von Juden zu widerlegen sei. Dass es der Antisemit ist, der, wie Jean-Paul Sartre später schrieb, den „Juden macht“, dass sich also das rassistische Stereotyp seine Objekte selbst kreiert, lässt sich schon Brechts „Rundköpfen und Spitzköpfen“ entnehmen.
Carsten Jakobi
Sammlungen antijüdischer Objekte
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Literatur Ute Baum, Bertolt Brechts Verhältnis zu Shakespeare, Berlin/Ost 1981. Raimund Gerz, Bertolt Brecht und der Faschismus. In den Parabelstücken „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“, „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ und „Turandot oder der Kongreß der Weißwäscher“. Rekonstruktion einer Versuchsreihe, Bonn 1983. Carsten Jakobi, Der kleine Sieg über den Antisemitismus. Darstellung und Deutung der nationalsozialistischen Judenverfolgung im deutschsprachigen Zeitstück des Exils, Tübingen 2005. Alois Münch, Bertolt Brechts Faschismustheorie und ihre theatralische Konkretisierung in den „Rundköpfen und Spitzköpfen“, Frankfurt am Main, Bern 1982. Frank Dietrich Wagner, Bertolt Brecht. Kritik des Faschismus, Opladen 1989.
SA-Mann Brand (Film von Franz Seitz, 1933) → Nationalsozialistische Filmproduktionen Sammlung Ehrenthal → Sammlungen antijüdischer Objekte Sammlung Finkelstein → Sammlungen antijüdischer Objekte Sammlung Schlaff → Sammlungen antijüdischer Objekte
Sammlungen antijüdischer Objekte Die historische Antisemitismusforschung hat den bildlichen Darstellungen antijüdischer Gesinnungen erst sehr spät Aufmerksamkeit gewidmet. Lange standen in erster Linie die in verbaler und gedruckter Form überlieferten Einstellungen zu Juden und Vorstellungen von Juden im Vordergrund. Erst mit dem „visual turn“ der Kulturwissenschaften wandte man sich auch Gegenständen zu, die eine antijüdische Tendenz zum Ausdruck bringen. Damit rückten auch die wenigen Sammlungen solcher Gebilde in den Fokus der Aufmerksamkeit. Bei den zweidimensionalen Gegenständen handelt es sich vor allem um illustrierte Postkarten, Flugblätter, Karikaturen in unterhaltenden und satirischen Zeitschriften, Gemälde, populäre Reproduktionsgrafik und Zeichnungen. Daneben finden sich in diesem Genre auch Bierdeckel, Aufkleber und Ähnliches. Erst seit Kurzem wurde durch diverse Ausstellungen die Existenz umfangreicher Sammlungen dreidimensionaler Gegenstände mit antijüdischer Tendenz bekannt gemacht. Die Gegenstände dieser Sammlungen werden durch das Markieren „typischer“ Merkmale von Juden als antijüdisch eingestuft, wobei „typisch jüdisch“ nicht selten erst durch den Sammler und die Betrachtenden definiert wird. Nicht jede krumme Nase sollte als „jüdisch“ interpretiert werden. Die dreidimensionalen Gegenstände haben ebenso wie die zweidimensionalen meist karikaturhaften Charakter. Nicht selten handelt es sich um Variationen ein und desselben Motivs, das zwischen diesen Dimensionen wechselt. Die antijüdischen Gegenstände zielten teils auf Massenwirksamkeit, teils sind sie aber auch Zeugnisses eines privatistischen Judenhasses, der sich lediglich im Kreise Gleichgesinnter oder „unter der Gürtellinie“ auslebte. In Museen wurden solche Objekte lange nicht gezeigt. Das Jüdische Museum Wien präsentiert die Sammlung seiner Antisemitica in einer ausgeklügelten didaktischen Inszenierung, indem die Gegenstände dem Betrachter den Rücken zuwenden und ihre
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Vorderseite nur in Spiegeln sichtbar ist. Die zentrale Frage lautet: Wie können solche Gegenstände öffentlich ausgestellt werden, ohne dass dadurch vorhandene antijüdische Vorurteile bestätigt oder gar verstärkt werden? Antijüdische Postkarten werden von privaten Sammlern hauptsächlich im JudaicaHandel erworben. Solche Postkarten waren seit den 1890er-Jahren massenweise verbreitet. Besonders beliebt waren Kartengrüße mit antijüdischen Motiven aus den Bäderorten, in denen Juden insbesondere als unkultivierte „Neureiche“ oder „ostjüdische Fremdlinge“ verspottet wurden. Umfangreiche Sammlungen mit antijüdischen Postkartenmotiven haben Wolfgang Haney (Berlin) und Martin Schlaff (jetzt im Jüdischen Museum der Stadt Wien) zusammengetragen. Anhand der Sammlung von Salo Aizenberg (USA) wird die internationale Verbreitung solcher Postkarten mit Schwerpunkten in den deutschsprachigen Ländern, in Frankreich, England und den USA in dem Zeitraum von etwa 1890 bis 1920 deutlich. Es sind vor allem jüdische Sammler, die sich für antijüdische Gegenstände interessieren. Als Beweggrund für ihre spezifische, nicht unmittelbar einsichtige Sammelleidenschaft äußern sie in der Regel die Absicht, mehr über Erscheinungsformen und Verbreitung des Antisemitismus in Erfahrung bringen zu wollen. Der Londoner Arzt Simon Cohen trug circa 1.600 „anti-Semitic memorabilia“ zusammen. Sein Interesse am Sammeln solcher Objekte soll durch den Tod eines Verwandten bei einem Bombenattentat in Israel geweckt worden sein (The New York Times, 21. August 2005). Paul Drucker, dessen Sammlung 2001 im Jewish Museum of Florida in Miami zu sehen war, meinte, er habe anhand der Gegenstände zu verstehen versucht, weshalb Menschen aufgrund von Unterschieden klassifiziert werden und welche unterschwelligen oder unverhohlenen Erscheinungsformen diese Gesinnung hervorbringt, damit die nächste Generation die Sprache des Hasses entschlüsseln kann. (Abramson) Die drei größten Sammlungen dreidimensionaler Gegenstände sind aus privaten Initiativen hervorgegangen. An das Jüdische Museum der Stadt Wien gelangte im Jahr 1993 die Sammlung des Unternehmers Martin Schlaff („Sammlung Schlaff“) mit rund 5.000 Objekten, in erster Linie Bücher, Broschüren, Archivalien, Druck- und Gebrauchsgrafik sowie Postkarten, aber auch an die 250 Alltagsgegenstände und Figurinen. Im Jahr 1995 wurden ausgewählte Stücke in der Ausstellung „Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen“ im Wiener Rathaus gezeigt, weitere in der Ausstellung „typisch! Klischees von Juden und Anderen“ 2008 in Berlin, Chicago, Wien und München. Der Website des Jüdischen Museums Wien ist zu entnehmen, es sei die Intention des Sammlers gewesen, „einerseits die Objekte und Dokumente zur wissenschaftlichen Bearbeitung zur Verfügung zu stellen, andererseits wollte er sie auch ganz bewusst dem Markt und Käufern mit antisemitischer Gesinnung entziehen“. Vergleichbar in Umfang und Qualität ist die Sammlung des New Yorker Judaica-Galeristen ungarischer Herkunft Peter Ehrenthal (Moriah Galleries), der seine Sammlung 2011 im Jerusalemer Wolfson Museum of Jewish Art (Hechal Shlomo Center of Jewish Art) erstmals öffentlich zugänglich machte. Er erhofft sich von dieser Ausstellung den Beginn einer „educational campaign“ (The Jew in Antisemitic Art). Allein die Antisemitica-Sammlung des Antwerpener Diamantenhändlers Gideon Finkelstein wurde bisher wissenschaftlich dokumentiert und publiziert. Von den bisher
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genannten Sammlungen unterscheidet sich die „Sammlung Finkelstein“ wesentlich durch den nahezu vollständigen Verzicht auf gedrucktes Material. Der Sammler hat sich jedoch nicht auf dreidimensionale Objekte beschränkt, sondern auch Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen einbezogen, und hier vor allem die originalen Vorlagen für Karikaturen, die in satirischen Zeitschriften popularisiert wurden. Dadurch ergibt die „Sammlung Finkelstein“, der 2005/2006 eine Ausstellung im Jüdischen Museum Hohenems gewidmet wurde, ein dichtes Patchwork einer judenfeindlichen Bilderwelt auf Originalobjekten, das es in vielen Fällen erlaubt, identische Motive auf ihrer „Weiterwanderung“ auf Objekten unterschiedlichen Materials und unterschiedlicher Zweckbestimmung zu verfolgen. An der Verbreitung und Popularisierung des modernen Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert sind literarische und publizistische Texte ebenso wie bildliche und plastische Darstellungen beteiligt. Die meisten Objekte der genannten AntisemiticaSammlungen wurden zwischen den 1880er- und 1920er-Jahren angefertigt. Diese Epoche fiel zusammen mit Konjunkturen des Antisemitismus in Europa: den Pogromen im östlichen Europa, der Dreyfus-Affäre in Frankreich, den antisemitischen Wellen im Deutschen Kaiserreich und im Habsburger Reich sowie unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, aber ebenso auch mit verstärkten Erscheinungen des Antisemitismus in England und in den Vereinigten Staaten. Antijüdische Darstellungen finden sich in zunehmendem Maße seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Dies ist vor allem durch die Ablehnung der jüdischen Emanzipation zu erklären. Als Urbilder antijüdischer Stereotypen formieren sich der jüdische Altkleiderhändler (vor allem in England als „Jewish Pedlar“, auf dem Kontinent als der jüdische Hausierer), daneben auch die Darstellung der drei „mauschelnden“ Juden, die in vielfältiger Form dargestellt werden. Damit verbunden ist der ständige Vorwurf des betrügerischen Verhaltens jüdischer Händler. Literarische Figuren sind vor allem in England beliebtes Motiv antijüdischer Darstellungen, so der Erzbetrüger Fagin aus „Oliver Twist“ und → Shylock aus „Der Kaufmann von Venedig“ (→ Merchant of Venice). Der moderne Antisemitismus beruht auf der Zementierung eindeutiger Unterscheidungsmerkmale zwischen Juden und Nichtjuden, er hat angesichts der raschen Akkulturation und Assimilation der Juden ein fundamentales Interesse an der zweifelsfreien Markierung solcher behaupteter Unterschiede. Genau hier ist der historische Ort vieler judenfeindlicher karikierender Darstellungen. Bevorzugte Zielscheibe antijüdischer Einstellungen waren die sogenannten Ostjuden, die seit den 1880er-Jahren aus wirtschaftlicher Not oder aufgrund von Pogromen aus dem Osten in den Westen gelangten und sich in Aussehen und Habitus von den einheimischen Juden unterschieden. Mit Blick auf das gesamte Tableau solcher Antisemitica lässt sich zwar keine geradlinige und zielgerichtete Entwicklung von solchen Gegenständen hin zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ziehen. Wohl aber kann festgehalten werden, dass diese Gegenstände über einen langen Zeitraum massenhaft in Gebrauch waren und dadurch die Popularisierung judenfeindlicher Stereotypen förderten. Sie waren allgegenwärtig an den Orten ihres Gebrauchs. Durch sie wurden judenfeindliche Einstellungen befördert oder gefestigt, die von schmunzelndem Beifall bis hin zu hasserfüllten Vertreibungs- und Vernichtungsforderungen reichten. Antijüdische Einstellungen wurden
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Sąsiedzi (Buch von Jan T. Gross, 2000)
so zur Gewohnheit und Selbstverständlichkeit und trugen zur Akzeptanz des später realisierten Vernichtungswillens bei.
Falk Wiesemann
Literatur Henry Abramson, The Art of Hatred. Images of Intolerance in Florida Culture [Paul Drucker Collection], Miami Beach 2001. Salo Aizenberg, Hatemail. Anti-Semitism on Picture Postcards, Philadelphia 2013. Simon Cohen, The Enduring Lie. Anti-Semitica from the Collection of Dr. Simon Cohen, London 2010. Helmut Gold, Georg Heuberger (Hrsg.), Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten. Auf der Grundlage der Sammlung Wolfgang Haney, Frankfurt am Main 1999. The Jew in Antisemitic Art. The Peter Ehrenthal Collection, Jerusalem 2011. Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen [Sammlung Schlaff], hrsg. vom Jüdischen Museum der Stadt Wien, Wien 1995. Juliane Peters (Hrsg.), Spott und Hetze. Antisemitische Postkarten 1893–1945. Aus der Sammlung Wolfgang Haney, Berlin, [DVD] Berlin 2008. typisch! Klischees von Juden und Anderen, hrsg. vom Jüdischen Museum Berlin und dem Jüdischen Museum Wien [Sammlung Schlaff], Berlin 2008. Falk Wiesemann, Antijüdischer Nippes und populäre „Judenbilder“. Die Sammlung Finkelstein, Essen 2005.
Sąsiedzi (Buch von Jan T. Gross, 2000) Das schmale Buch „Sąsiedzi. Historia zagłady żydowskiego miasteczka“ [Nachbarn. Die Geschichte der Vernichtung eines jüdischen Ortes] des polnisch-amerikanischen Soziologen Jan Tomasz Gross, das im Mai 2000 zuerst in polnischer Sprache erschien, löste in Polen eine der größten und wirkmächtigsten Debatten der Nachkriegszeit aus. Gross beschrieb den Pogrom an der jüdischen Bevölkerung der Kleinstadt Jedwabne im Nordosten Polens am 10. Juli 1941. Nach dem Durchmarsch der Wehrmacht durch das seit 1939 sowjetisch besetzte Gebiet entstand ein kurzzeitiges Machtvakuum. In dieser Atmosphäre verübten Teile der polnischen Bevölkerung in Jedwabne, aber auch in anderen Orten der Region, auf Initiative deutscher Gendarmerie und Gestapo Massaker an ihren jüdischen Nachbarn. Gross betonte, dass sich die Teilnehmer des Pogroms nicht nur aus den kriminellen Randzonen der Gesellschaft rekrutierten und dass diese Morde ohne das Einverständnis eines Großteils der Ortsbevölkerung nicht hätten stattfinden können. Obwohl im Jahr 1949 gegen 22 Einwohner von Jedwabne wegen des Massakers ermittelt wurde und zwölf Angeklagte Gefängnisstrafen erhielten, wurde der Massenmord in der Nachkriegszeit, auch auf einer vor Ort installierten Gedenktafel, stets als Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht dargestellt. Gross forderte mit seinem Buch die polnische Gesellschaft auf, die Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen während und nach dem Krieg neu zu schreiben und sich bewusst zu machen, dass auch Polen während der Besatzungszeit zu Tätern geworden sind. Die darauf folgende, stark emotional geführte Debatte brachte eine kritische Infragestellung des vorherrschenden polnischen Selbstbildes als Opfergesellschaft, die mo-
Sąsiedzi (Buch von Jan T. Gross, 2000)
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ralisch ungebrochen aus Krieg und Besatzungszeit hervorgegangen sei und sich – obwohl selbst in Bedrängnis – stets solidarisch gegenüber den Juden verhalten habe. Gleichzeitig rief das Buch zahlreiche Proteste, Kritik und Abwehr hervor. Das national-katholische Milieu bezeichnete Gross als einen Vertreter des amerikanischen Judentums, das eine systematische antipolnische Propaganda betreibe und Polen pauschal des Antisemitismus beschuldige. Gross’ Kompetenz als Wissenschaftler wurde infrage gestellt, ihm wurde ein laxer Umgang mit den Quellen sowie eine polemisierende Sprache vorgeworfen. Andere gaben zu bedenken, dass das Buch ohne Überspitzungen nicht wahrgenommen worden wäre. Kontroversen gab es um die von Gross angegebene Zahl der ermordeten Juden, der die in der Nachkriegszeit kursierende und auf der örtlichen Gedenktafel angegebene Zahl von 1600 Opfern übernommen hatte. Die aus Anlass der Debatte vorgenommenen Exhumierungen korrigierten die Zahl, die nicht mehr genau festgestellt werden konnte, auf 200 bis 400 ermordete Juden. Vorgeworfen wurde Gross ebenfalls, die Rolle der Deutschen zu wenig beachtet zu haben. Gross hatte allerdings klargestellt, dass es ohne deutsche Besatzung nicht zu diesem Pogrom gekommen wäre. Erschreckend sei jedoch die Schnelligkeit, in der sich Deutsche als initiativgebende und Polen als ausführende Kräfte über den Judenmord einig wurden. Den Kernpunkt der Debatte bildete der Vorwurf, Gross habe den Kontext des Krieges und der vorausgegangenen Zeit der sowjetischen Besatzung nicht ausreichend berücksichtigt. Juden hätten während der sowjetischen Besatzung mit den Machthabern kollaboriert und damit die Wut der Polen heraufbeschworen, die sich in den Pogromen des Jahres 1941 entladen hätte. In diesem Zusammenhang wurde die weite Verbreitung des antisemitischen Stereotyps von der „Żydokomuna“ sichtbar. Auch drehte sich die Diskussion um die Frage, ob die polnische Gesellschaft eine „Aufarbeitung“ und „Selbstkasteiung“ nach deutschem Vorbild nötig habe, die Konservative als unnötigen „moralischen Ballast“ bezeichneten. Die Übernahme einer moralischen Verantwortung lehnten viele ab (nach Umfragen ein Drittel der Bevölkerung, vor allem weniger gebildete, ältere Dorf- und Kleinstadtbewohner). In Anbetracht dieser Stimmung formulierte Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski am 10. Juli 2001 während einer Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag des Pogroms: „Ich bitte um Vergebung in meinem Namen und im Namen der Polen, deren Gewissen von diesem Verbrechen in Aufruhr versetzt wurde.“ Die meisten Einwohner von Jedwabne waren der Gedenkfeier ferngeblieben. Gross’ Buch regte das Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) zu einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschehnisse in Jedwabne und Umgebung an. Die im Jahr 2002 publizierte Untersuchung bestätigte weitgehend Gross’ Darstellung. Es folgten zahlreiche publizistische und künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema, von denen das Drama → Nasza klasa [Unsere Klasse] von Tadeusz Słobodzianek (2008) oder der Film → Pokłosie [Nachlese] von Władysław Pasikowski (2012) besondere Beachtung erfuhren. Auch wenn die immer wieder aufbrechenden Debatten zu diesem Thema zeigen, dass der Diskussionsprozess keineswegs abgeschlossen ist (→ Strach, → Złote żniwa), so hat doch die Jedwabne-Debatte zur selbstkritischen Revision eines überholten Geschichtsbildes beigetragen. Gleichzeitig mobilisierte sie das national-katholische
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Die Schauspielerin (Film von Siegfried Kühn, 1988)
Lager, das insbesondere während der in den folgenden Jahren einsetzenden Geschichtspolitik der Kaczyński-Ära kritische Betrachtungen der polnischen Geschichte als „polenfeindlich“ attackierte.
Andrea Rudorff
Literatur Anna Bikont, My z Jedwabnego [Wir aus Jedwabne], Warszawa 2004. Włodzimierz Borodziej, Abschied von der Martyrologie in Polen?, in: Martin Sabrow u. a. (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 288–305. Edmund Dmitrów, Pawel Machcewicz, Tomasz Szarota (Hrsg.), Der Beginn der Vernichtung. Zum Mord an den Juden in Jedwabne und Umgebung im Sommer 1941. Neue Forschungsergebnisse polnischer Historiker, Osnabrück 2004. Barbara Engelking, Helga Hirsch (Hrsg.), Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden, Frankfurt am Main 2008. Jan Tomasz Gross, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001. Jan Tomasz Gross, Wokół Sąsiadów. Polemiki i wyjaśnienia [Strittige Diskussionen und Erläuterungen rund um „Nachbarn“], Sejny 2003. Ruth Henning (Hrsg.), Die „Jedwabne-Debatte“ in polnischen Zeitungen und Zeitschriften, Transodra 23, Potsdam 2001. Adam Michnik (Hrsg.), Przeciw antysemityzmowi 1936–2009 [Gegen Antisemitismus 1936–2009], Bd. 2, Kraków 2010. Antony Polonsky, Joanna B. Michlic, The Neighbors Respond: The Controversy over the Jedwabne Massacre in Poland, Princeton 2004.
Der Schächter → Tatort Schatten der Engel (Film von Daniel Schmid, 1975) → Der Müll, die Stadt und der Tod Der Schatten von gestern (Film von Joachim Kunert, 1960) → Zwischenfall in Benderath
Die Schauspielerin (Film von Siegfried Kühn, 1988) Als Siegfried Kühns „Die Schauspielerin“ Mitte Oktober 1988 in die ostdeutschen Kinos kam, schien er mit seiner deutsch-jüdischen Liebesgeschichte den Nerv der Zeit getroffen zu haben. In der Spätphase der DDR hatte sich nicht nur der Umgang mit dem hegemonialen Narrativ Antifaschismus verändert, sondern (parallel zur Entwicklung in der Bundesrepublik) der Umgang mit deutsch-jüdischer Geschichte und der Stellenwert der Shoah in der deutschen Erinnerungskultur. Ursächlich für diesen Wandel waren u. a. der Generationswechsel und die 1979 im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlte amerikanische Serie → „Holocaust“, die besonders die bundesdeutsche Öffentlichkeit „holocaust-bewusst“ (Hans Steinitz) gemacht hatte und in deren Folge das gesamtgesellschaftliche Interesse an jüdischen Themen wuchs. Y. Michal Bodemann hat mit Blick auf das vorwiegend nicht-jüdische Interesse von „judaisierenden Milieus“ gesprochen, die die deutsch-jüdische Geschichte in der Imagination wieder aufblühen ließen und jüdische Kultur gewissermaßen neu erfanden. In der DDR ka-
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men in den 1980er-Jahren noch zwei spezifische Komponenten hinzu. Zum einen veränderte die SED ihre Haltung zu den jüdischen Gemeinden der DDR, indem sie begann, die zu verschwinden drohende Minderheit zu umwerben und zu fördern. Der Staat schien, wenn auch spät, die lange ausgeschlagene, schwierige deutsch-jüdische Erbschaft und die damit verbundene Verantwortung anzunehmen und im Zuge dessen das offizielle Gedenken an den Mord an den europäischen Juden umzugestalten. Zum anderen begann die zweite Generation von Juden in der DDR mit einer Spurensuche innerhalb der eigenen Familiengeschichte. Hatte sie jahrzehntelang in erster Linie die politische, kommunistische Identität ihrer Eltern geprägt, gaben sie sich nun mit zunehmendem Selbstbewusstsein als Juden bzw. Jüdinnen zu erkennen und rückten „jüdische“ Themen wieder in den Vordergrund. In diesem Klima entstand „Die Schauspielerin“. Der DEFA-Spielfilm hatte pünktlich zum herausragenden politisch-gesellschaftlichen Ereignis des Jahres 1988, dem 50. Jahrestag des Novemberpogroms, Premiere. Er erzählt die Geschichte zweier junger Schauspieler Mitte der 1930er-Jahre. Maria Rheine und Mark Löwenthal werden ein Paar, doch ihrem Glück stehen die neuen Berufs- und Rassengesetze im Wege. Mark ist Jude und wird aus dem staatlichen Theater entlassen. Er geht nach Berlin, wo er Asyl am Jüdischen Theater findet. Derweil wird Maria an den großen deutschen Bühnen als die neue, „arische“ Entdeckung gefeiert. Doch sie will ihrer Liebe zu Mark nicht entsagen und trifft einen radikalen und folgenschweren Entschluss. Sie fingiert ihren eigenen Selbstmord als Maria Rheine, verwandelt sich in die „Jüdin“ Manja Löwenthal und geht zu Mark ans Jüdische Theater. Die Anregung zum Drehbuch von Regine Kühn gab der Roman „Arrangement mit dem Tod“ (1984) der in der DDR stark protegierten Schriftstellerin Hedda Zinner. Zinner entstammte einem jüdischen Elternhaus, verstand sich aber in erster Linie als überzeugte Kommunistin. Sie vertrat die offizielle Linie der SED, das Schicksal der Juden gegenüber anderen Opfer- und Verfolgtengruppen nicht hervorzuheben. Ihre Verwandlungsgeschichte kann man gleichwohl als Versuch lesen, sich mit ihrer jüdischen Herkunft auseinanderzusetzen. Was „Die Schauspielerin“ interessant macht, ist zweifellos die komplexe, selbstreflexive Thematik, die doppelbödige Umsetzung und die Figur der Maria (Corinna Harfouch). Maria ist Schauspielerin auf der Bühne wie im Leben. Folgerichtig werden in der Filmhandlung beide Ebenen miteinander verknüpft. Die Hauptfigur ist kaum außerhalb des Rollenspiels präsent: Maria spricht immerzu in Texten der Dramatiker, die wiederum das Leben außerhalb des Theaters – Deutschland in den 1930er-Jahren – kommentieren. Zugleich fehlt Maria, die so sehr für die Bühne lebt, der klare Blick für die sich radikalisierende Politik, die sich verändernde Mentalität ihrer Umgebung, den um sich greifenden offenen Antisemitismus, die schrittweise Ausgrenzung der Juden. Für ihre militante und von einer fanatisierten Hitlerjugend inspirierte Interpretation der „Jungfrau von Orleans“ wird sie auf dem Theater stürmisch gefeiert, während Mark nur noch im kulturellen Ghetto des Jüdischen Theaters spielen darf. Langsam dämmert ihr, dass sie sich der Komplizenschaft mit den Nationalsozialisten schuldig gemacht und den Verlust ihres Geliebten dafür in Kauf genommen hat. Sowohl ihre Prominenz als auch die „Nürnberger Gesetze“ scheinen ihr die Rückkehr zu Mark zu
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versperren. Also reift in ihr die Idee, in eine neue Rolle zu schlüpfen: die Rolle der Jüdin. Die Verwandlung Marias in eine „Jüdin“ wird mit den Mitteln des Theaters und denkbar naiv vollzogen, aber andere Mittel als die Verkleidung kennt Maria nicht. Es ist also in erster Linie eine rein äußerliche Verwandlung. Der Film inszeniert sie als Farbwechsel und nutzt dabei gängige Stereotype: Das helle Kleid wird gegen ein schwarzes getauscht, die blonden Haare färbt sich Maria dunkel und versteckt ihre blauen Augen hinter einer getönten Brille, ihr Gesicht bedeckt ein schwarzer Hutschleier. Körpersprachlich ist Marias Selbstbewusstsein als aufstrebende junge Frau eingetauscht gegen die Ängstlichkeit derer, die nicht wissen, was auf sie zukommt. Maria/Manja verkörpert nicht nur das hilflose Opfer. Es ist vor allem das, was sich Maria unter einer „Jüdin“ vorstellt. Diese Vorstellung gleicht einer Karikatur: Durch sie wird ins Bild gesetzt, was als antijüdisches Bild kursiert (wobei im Film keine Rolle spielt, dass es sich um das Bild einer Jüdin handelt). Der Adressat von Marias Täuschungsmanöver, ihre nicht-jüdische, in großen Teilen antisemitische Umwelt, findet die Karikatur glaubhaft. Die Figur Manja wird als „Jüdin“ erkannt. Marias Verwandlung legt damit auch den antisemitischen, zumindest konditionierten Blick und die Macht von Zuschreibungen offen. Doch Marias Mittel sind so dürftig, die Verwendung von Klischees so offensichtlich, dass der Film eine gebrochene Lesart anbietet, die er, wenngleich dezent, verstärkt: „Ist das nicht ein bisschen Kolportage?“, gibt ein ins Vertrauen gezogener Kollege zu bedenken. Das Schmierentheater einer Nicht-Jüdin ermöglicht somit eine Reflexion über die Darstellung von „Juden“ allgemein. Wie ist die Darstellung möglich, ohne im Bild festzulegen, was ein „Jude“ ist, ohne eine „Sichtbarkeit“ zu konstruieren, ohne auf Stereotype zurückzugreifen, ohne gar eine antisemitische Formensprache zu wiederholen? Denn schließlich wird nicht die blonde Maria für eine Jüdin gehalten, sondern Maria im Kostüm der Manja. Das gilt sowohl innerhalb der Filmhandlung als auch fürs Filmpublikum: Es weiß zwar, dass Maria keine Jüdin ist, erkennt aber in ihrer Verkleidung die „Jüdin“. Der Zuschauer wird in letzter Konsequenz keiner Verunsicherung ob der eigenen Vorstellungen ausgesetzt. Die Stereotype werden zwar in Marias Verkleidung zugespitzt, aber in weiten Teilen bei den tatsächlichen jüdischen Figuren reproduziert: Mark ist der resignierte Jude, sein Wesen und seine Körperlichkeit wirken feminin (im zweiten Teil des Films wird seine Darstellung indes komplexer und zwar proportional zur zunehmenden „Jüdischkeit“ von Maria); der jüdische Großvater ist ein weiser, alter Mann, der vor großer Bücherwand Maria geheimnisvolle Botschaften mitgibt; die jüdische Geliebte Marks, Judith, ähnelt auf gefährliche Weise der Figur Manja. Diese Ambivalenz kann der Film nicht auflösen. „Die Schauspielerin“ interessiert sich in erster Linie für das Wesen der Schauspielerei. Es wird verkörpert in Maria, der nicht-jüdischen Hauptfigur. Marias schwierigster Rollenwechsel ist (mit umgekehrten Vorzeichen) eingebettet in Motive der Kultur- und Bildgeschichte des Antijudaismus/Antisemitismus, die in erster Linie um den Diskurs von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit „des Juden“ in der Diaspora kreisen. Etwa die folgenschweren Bemühungen, den Unterschied zwischen Juden und Christen, zwischen Juden und „Ariern“ auf etwas Sichtbares zurückzuführen – und wenn das nicht gelang, „die Juden“ zu markieren, den „jüdischen Körper“ zu stigmatisieren, ihn
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als fehlerhaft, schwach, krank und verweiblicht darzustellen. Oder auch den Wunsch vieler Juden, dieser Markierung zu entgehen, möglichst „nicht-jüdisch“ auszusehen. Schließlich die Idee von der „jüdischen“ Anpassungsfähigkeit, der Behauptung, „der Jude“ sei eine proteische Natur, ein Schauspieler, der sein Jude-Sein verberge und in alle Rollen schlüpfe, die ihm zum Vorteil verhülfen. Zwei der perfidesten antisemitischen Filme, → „Der ewige Jude“ (1940) und → „Jud Süß“ (1940), bauten wesentlich auf der Idee der „jüdischen“ Mimikry auf. Zur gleichen Zeit entstanden aber auch der Klassiker der Imitation → „The Great Dictator“ (1940) und wenig später der Klassiker des Rollenspiels „To be or not to be“ (1942, R: Ernst Lubitsch). Auf das Motiv des Rollenspiels, der Maskerade, des Identitätswechsels griffen in Folge Filme wie „Gentleman’s Agreement“ (1947, R: Elia Kazan) oder „Zelig“ (1983, R: Woody Allen) zurück. Gemeinsam war ihnen die Dekonstruktion von Judenbildern und Argumentationsmustern des Antisemitismus. Auf existenziellere Weise wurde der Identitätswechsel Thema in Filmen, in denen es um das Überleben von Juden während des Nationalsozialismus ging, in denen die jüdischen Charaktere versuchten sich unsichtbar zu machen, indem sie die „Judensterne“ entfernten, sich die Haare färbten, sich als Christen in kirchlichen Institutionen oder unter Bauern versteckten: z. B. „Le vieil homme et l’enfant“ (1967, R: Claude Berrie), „Hitlerjunge Salomon“ (1990), „Black Book“ (2006, R: Paul Verhoeven), „Sunshine“ (2007, R: István Szabó), „Mein bester Feind“ (2011, R: Wolfgang Murnberger) oder „Lauf Junge lauf“ (2013, R: Pepe Danquart). Selten hingegen findet man Filme, die von einem Rollen- oder Identitätswechsel erzählen, wie er in „Die Schauspielerin“ vollzogen wird. Wenn sich eine nicht-jüdische Figur zu diesem Schritt entschließt, dann aus Solidarität mit den Opfern (z. B. in „Poslední Motýl“, 1991, R: Karel Kachyna) oder aus Liebe (z. B. in „Holocaust“, 1978, R: Marvin Chomsky). In „Die Schauspielerin“ bleiben beide Motive blass, weil Marias Leidenschaft fürs Schauspiel sich in den Vordergrund schiebt. Dieses Ungleichgewicht ist für die Wirkung und Bewertung des Films folgenschwer. Zum einen entsteht der Eindruck, der Mord an den Juden werde zur Kulisse, zum Instrument für eine Reflexion über die Schauspielerei gemacht. Solchermaßen nähme „Die Schauspielerin“ gewissermaßen die Genrefizierung der Shoah vorweg. Zum anderen stellt der Film die nicht-jüdische Figur als die alles dominierende Handelnde dar und zwar im Kontrast zur Passivität der jüdischen Figuren, die sich in ihr Schicksal gefügt haben. Damit wird erneut ein antisemitisches Stereotyp affirmiert. Am Ende geht es nicht mehr darum, vom Schicksal der ermordeten oder überlebenden Juden zu erzählen, sondern vom Anstand und Mut der Nicht-Juden. Maria verwandelt sich in Wirklichkeit in keine Jüdin, sondern in eine „deutsche“ Märtyrerin, ein Opfer von Hitler. Was in „Die Schauspielerin“ durchschimmert, ist der deutsche Opferdiskurs. Er gab bereits in unmittelbaren Nachkriegsproduktionen die Richtung vor, etwa als Verweis auf die Ohnmacht des Einzelnen in Helmut Käutners → „In jenen Tagen“ (1947) oder als Baustein der Versöhnung in Kurt Maetzigs → „Ehe im Schatten“ (1947), der oberflächlich betrachtet eine Menge Übereinstimmungen mit „Die Schauspielerin“ aufweist, der aber vor allem in der Absicht entstand, über die Judenverfolgung aufzuklären und Empathie für die (jüdischen) Opfer zu entwickeln.
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Das wegen seines symbolischen Potenzials viel bemühte Motiv der deutsch-jüdischen Liebesgeschichte in Literatur und Film ermöglicht in „Die Schauspielerin“ von deutschem, nicht-jüdischem Anstand, von nicht-jüdischen Opfern zu erzählen. Symptomatisch trägt den Film die nicht-jüdische Perspektive von der ersten bis zur letzten Szene. Es ist überdies eine weibliche Perspektive. Dominant werden diese Perspektiven im gesamtdeutschen Spielfilm, dessen Handlung im Nationalsozialismus spielt. Frauen personifizieren hier die Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten und vermögen, wie Daniela Berghahn es deutet, eine positive deutsche Identität zu stiften. Hatten die Jahre 1933 bis 1945 Juden und Nicht-Juden auf die extremste Art und Weise voneinander getrennt, beschwören plötzlich Filme wie „Aimée und Jaguar“ (1998, R: Max Färberböck), „Klemperer – Ein Leben in Deutschland“ (1999, R: Andreas Kleinert und Kai Wessel), „Rosenstraße“ (2003, R: Margarethe von Trotta), „Dresden“ (2006, R: Roland Suso Richter) oder „Unsere Mütter, unsere Väter“ (2013, R: Philipp Kadelbach) wieder eine gemeinsame Geschichte, gewissermaßen die „deutsch-jüdische Symbiose“ in Sachen Leiden. Die jüdische Opfererfahrung wird in Besitz genommen, Opfergeschichten werden parallelisiert, die deutsche Tätergeschichte damit relativiert, das Täter-Opfer-Verhältnis vernebelt. Auch „Die Schauspielerin“ lässt eine solche Deutung zu. Das liegt maßgeblich an seiner hoch problematischen Schlussszene, die wohl als dramaturgische Klammer gedacht war, jedoch die Liebesgeschichte vollends in den Hintergrund drängt und Marias „Verwandlung“ den Stempel aufdrückt: Maria/Manja, die sich endgültig der Folgen ihres Rollentausches bewusst wird, spricht am Jüdischen Theater vor. Sie rezitiert – erneut – die Johanna, allerdings diesmal diejenige Georg Bernhard Shaws. Der Rollentext legt Zeugnis davon ab, wie die Geschichte der Heiligen Johanna ausgehen wird: „Ihr werdet froh sein, mich brennen zu sehen. Aber wenn ich in das Feuer gehe, werde ich durch die Flammen hindurch, auf immer und ewig in das Herz meines Volkes einziehen. Und so sei Gott mit mir.“ Mit Scheiterhaufen und Feuertod wird ein prekäres Assoziationsfeld zum Holocaust aufgebaut, Juden und Nicht-Juden sind am Ende gleichermaßen Opfer der Nationalsozialisten.
Lisa Schoß
Literatur Daniela Berghahn, Resistance of the Heart: Female suffering and Victimhood in DEFA’s Antifascist Films, in: Paul Cooke, Marc Silberman (Hrsg.), Screening War: Perspectives on German Suffering, Rochester 2010, S. 165–186. Michal Y. Bodemann, Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg 1996. Sander Gilman, The Jew’s Body, New York 1991.
Schedelsche Weltchronik (1493) Die „Schedelsche Weltchronik“, benannt nach ihrem Kompilator, dem Arzt und Humanisten Hartmann Schedel (1440–1514), erschien 1493 bei Anton Koberger in Nürnberg in einer lateinischen und einer vom Kanzlei- und Losungsschreiber Georg
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Alt übersetzten deutschen Ausgabe. Sie gilt als herausragendes Zeugnis spätmittelalterlicher Stadtkultur und Buchdruckkunst (Nachdrucke in reduziertem Format durch Johann Schönsperger in Augsburg, lat. 1496, dt. 1497 und 1500). Als Gemeinschaftsunternehmen dokumentiert die Chronik zugleich die tiefe Verwurzelung der Judenfeindschaft in führenden Kreisen des von spätmittelalterlicher Frömmigkeit geprägten Nürnberger (Früh-)Humanismus im Vorfeld der dortigen Judenvertreibung von 1499. Schedel informierte seine Leserschaft im Rahmen der traditionellen, universalhistorisch angelegten Weltzeitalterlehre in zielgerichtet begrenzter Textauswahl wiederholt über Juden und Judentum der nachbiblischen Zeit, wirkungsvoll durch Holzschnitt-Illustrationen aus der Werkstatt Wolgemut/Pleydenwurff unterstützt. Dabei dominierte die Perspektive der spätmittelalterlich forcierten obrigkeitlichen Marginalisierungsund Vertreibungsideologie, historisch legitimiert durch stereotype vormoderne Antisemitismen wie Ritualmord- und Hostienfrevellegenden. Verweise auf vermeintlich dem christlichen Glauben nahestehende Gestalten der Antike wie Philo und Josephus oder gelehrte mittelalterliche Exegeten wie Raschi und Maimonides blieben die Ausnahme. Das weithin wörtlich übernommene Material entstammte namhaften Werken der jüngeren italienischen humanistischen Historiografie, so der Chronik des Augustinereremiten Giacomo Filippo Forèsti (Supplementum chronicarum, 1483 [Schedel benutzte wohl den Druck von 1490]), Enea Silvio Piccolominis um 1456 entstandener panegyrischer Sammlung von Anekdoten und Aussprüchen deutscher Könige (Commentarius [...] De dictis et factis Alfonsi regis Aragonum Antonii Panormitae, MS) und der Papstgeschichte des Bartolomeo Platina (Sacchi) (Liber de vita Christi ac pontificum omnium, 1479, Nürnberg, A. Koberger 1481). Hinzu kamen die weitverbreitete Weltchronik des Kölner Kartäusers Werner Rolevinck (Fasciculus temporum, 1474, zahlreiche Auflagen) und zeitgenössische Quellen, auch aus dem Bereich der Flugschriftenliteratur. Der früheste Eintrag zum Judentum in der Zeit der Alten Kirche galt dem Auftreten des jüdischen Pseudomessias Moses von Kreta um 430 (fol. 137b, aus Platinas Papstgeschichte). Die Reihe behaupteter jüdischer Sakralverbrechen im Mittelalter eröffneten zwei Berichte über Schändungen eines Kruzifixes bzw. eines Christusbildes aus dem 7. und 8. Jahrhundert (fol. 149b, mit Holzschnitt; 168a, nach Forèsti). Der zweite Bericht lieferte zugleich die Ursprungslegende für die zeitgenössische Verehrung der Heilig-Blut-Reliquie in Mantua und damit indirekt auch für die Heilig-Blut-Wallfahrt zum Kloster Weingarten. Die Nachrichten über Ritualmordfälle begannen mit der ersten bekannt gewordenen legendären Geschichte des William von Norwich von 1144 (fol. 201b); ein relativ großer Holzschnitt markierte deren Bedeutsamkeit. Weiterhin wurde der Fall des Richard von Pontoise [Paris] von 1179 erwähnt, verbunden mit dem Hinweis auf die Enteignung und Vertreibung der Juden aus Frankreich unter Philipp II. August [1182] (fol. 207a). Relativ ausführlich schilderte die Weltchronik den zeitnahen, großes Aufsehen erregenden Fall des angeblichen Ritualmords an Simon von Trient 1475 (fol. 254b), verstärkt durch die Notiz von einem ähnlichen Vorwurf in Motta di Livenza 1480. Die Beschreibung der Trienter Ereignisse entstammte Forèsti, ergänzt durch Informationen aus dem den vermeintlichen Ritualmord offiziell bestätigenden Bericht des Giovanni Mattia Tiberino, Arzt und Hofhumanist des Trienter Bischofs Johannes Hinder-
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bach. Die später immer wieder abgedruckte Martyriumsdarstellung im sorgfältig ausgearbeiteten Holzschnitt folgte derjenigen in der deutschen Ausgabe des Tiberino-Berichtes (Augsburg, G. Zainer, um 1475). Schedels Interesse an diesem Ereignis unterstreicht seine Grafiksammlung, in welche er ein Blatt mit deutschem Text und der Darstellung des gemarterten Simon aufnahm. Das Verbrechen des Hostienfrevels sollten die Berichte von Deggendorf 1337 (fol. 230b), wohl nach einer älteren Chronik, und Sternberg (Mecklenburg) 1492 (fol. 257b) belegen. Beide wurden mit demselben Holzschnitt (Judenverbrennung) illustriert. Zum Bericht von Deggendorf traten der Vorwurf der Brunnenvergiftung zur Zeit der Großen Pest und eine Notiz zu den Judenpogromen 1348. Eine andere Bemerkung zu den verheerenden Folgen der Pest vermied es dagegen, die Ursache eindeutig bei den Juden zu suchen; der Quellenbezug blieb unausgeglichen. Über die mutmaßlichen Ereignisse von Sternberg hatten zeitgenössische Flugschriften informiert. Summarisch verwies Schedel auf weitere Orte mit angeblichen Hostienfreveln (Breslau [1453], Passau [1477] und Regensburg [1476]). Nur kurz erwähnt wurden die sog. Rintfleisch-Pogrome von 1298 im fränkischen Raum, die von Gerüchten über eine Hostienschändung ausgegangen waren und Tausende von Toten gefordert hatten; die Pogrome erschienen schlicht als Rechtsakt der Obrigkeit (fol. 220b, mit demselben Holzschnitt zur Verbrennung der Juden wie fol. 230b und 257b). Eine die Nachrichten über Philipp IV. erweiternde, von Forèsti übernommene Notiz vermeldete die Judenvertreibung aus Frankreich 1306 (fol. 218a). Ansätze zur Obrigkeitskritik (Hinweis auf die Geldgier des Königs) wurden relativiert, indem zugleich nicht näher spezifizierte „Übeltaten“ der Juden geltend gemacht wurden. Vereinzelt kam die Weltchronik auf das Thema Konversion aus dem Judentum zu sprechen, so in den Forèsti aufnehmenden Bemerkungen zu Petrus Alfonsi (fol. 198a) und in der Notiz zu Nikolaus von Lyra, der nach verbreiteter Meinung jüdischer Abstammung gewesen war (fol. 221a). Ausführlicher berichtete die Weltchronik von der dramatischen Geschichte eines am Hof Herzog Friedrichs von Österreich (als Friedrich III. seit 1452 römischer Kaiser) untergekommenen jüdischen Konvertiten, der im Zusammenhang der sogenannten Wiener Gesera [Pogrom] von 1421 zum Christentum übergetreten war (fol. 240b) und schließlich seine Rückkehr zum Judentum mit dem Tode auf dem Scheiterhaufen bezahlte. Schedel übernahm den Text von Piccolomini. Ein letztes Mal wurde das Thema Juden und Judentum im futurisch-eschatologischen Kontext des siebten und letzten Weltzeitalters angesprochen, im Zusammenhang mit der Erwartung des Antichristen und der endzeitlichen Judenbekehrung (lat. Ausg. fol. 263a; deutsche Ausg. fol. 260a, mit Holzschnitt). Damit wurde gleichsam die in der Antike eröffnete Klammer pseudomessianischer Irrwege des Judentums definitiv geschlossen. Schedel benannte die Grundelemente der mittelalterlichen Antichristlegende wie die Herkunft aus dem Stamme Dan, die Beschneidung in Jerusalem und den Auftritt als jüdischer Pseudomessias, distanzierte sich jedoch von apokalyptischen Gegenwartsdeutungen. Ergänzend sei auf einen Holzschnitt zum Mythos des kinderfressenden Saturn (Nürnberg, Peter Wagner, 1492) in Schedels Grafiksammlung hingewiesen; er stellte Saturn als Juden dar.
Schindler’s List (Film von Steven Spielberg, 1993)
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Rezipiert wurden sowohl die lateinische wie die deutsche Ausgabe der Weltchronik vorwiegend in humanistisch gebildeten Kreisen der städtischen Eliten und des Weltund Ordensklerus. Die lateinische Version fand auch in Italien, Frankreich und England Verbreitung. Die nach 1500 zunächst zurückgehende aktive Rezeption der Schedelschen Weltchronik – Neudrucke blieben aus – blühte um 1600 wieder auf. Die Chronik genoss zumindest bis ins 17. Jahrhundert konfessionsübergreifend das Ansehen eines verlässlichen Referenzwerkes für antike und (spät-)mittelalterliche Stoffe, u. a. auch für Antisemitismen wie den legendären Trienter Ritualmord.
Hans-Martin Kirn
Literatur Anna-Dorothee von den Brincken, Die Juden in der kölnischen Chronistik des 15. Jahrhunderts, in: Jutta Bohnke-Kollwitz, Willehad Paul Eckert (Hrsg.), Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984, S. 63–74. Jonathan P. Green, Marginalien und Leserforschung. Zur Rezeption der „Schedelschen Weltchronik“, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 60 (2006), S. 184–261. Béatrice Hernad (Bearb.), Die Graphiksammlung des Humanisten Hartmann Schedel, München 1990. Hartmann Schedel, Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493. Einleitung und Kommentar von Stephan Füssel, Köln 2013 [Begleitheft]. Wolfgang Treue, Der Trienter Judenprozeß. Voraussetzungen – Abläufe – Auswirkungen (1475–1588), Hannover 1996.
Schindlers Liste (Film von Steven Spielberg, 1993) → Schindler’s List
Schindler’s List (Film von Steven Spielberg, 1993) Der Spielfilm des US-Regisseurs Steven Spielberg „Schindler’s List“ basiert auf Thomas Keneallys dokumentarischem Roman über den deutschmährischen Industriellen Oskar Schindler, der als Retter von ungefähr 1.100 Juden in die Geschichte des Holocaust einging. Oskar Schindler (1908–1974) pachtete Ende 1939 in Krakau eine Metallwarenfabrik und kaufte aus jüdischem Besitz eine weitere Firma. Seine „Deutsche Emaillewarenfabrik (Emalia)“ in der Krakauer Lipowastraße arbeitete für die Wehrmacht, galt damit als kriegswichtig, sie produzierte außer Essgeschirren ab 1943 auch Granatzünder. Da Schindler in so großer Zahl jüdische Häftlinge aus dem KZ Krakau-Plaszów beschäftigte, wurde auf seinem Werksgelände ein Außenlager errichtet. Schindler, Bonvivant mit guten Beziehungen zur SS und zu NS-Behörden, NSDAP-Mitglied und Kriegsgewinnler, behandelte die ihm zugeteilten jüdischen Zwangsarbeiter menschlich. Als sich im Oktober 1944 die Rote Armee näherte, konnte Schindler, dessen Lebensstil von Hochstaplertum und Großspurigkeit gezeichnet war, der mehrmals verhaftet wurde, aber durch Beziehungen die Freiheit wieder erlangte, die Genehmigung erwirken, seine Emaillewarenfabrik als kriegswichtiges Unternehmen nach Brünnlitz im Sudetenland zu verlegen. Es gelang ihm außerdem, und das war die beispiellose Rettungsaktion in der Geschichte des Holocaust, 700 bis 800 jüdische Männer aus dem KZ Groß-Rosen und 300 jüdische Frauen aus Auschwitz, die im KZ Krakau-Plaszów interniert und zur
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Schindler’s List (Film von Steven Spielberg, 1993)
Vernichtung bestimmt waren, als Arbeitskräfte für Brünnlitz zu rekrutieren. Ihre Namen standen auf „Schindlers Liste“, sie konnten gerettet werden. Oskar Schindler wurde 1962 von Yad Vashem unter die „Gerechten der Völker“ aufgenommen. In Deutschland blieb er bis zu seinem Tod unbeachtet. Erst der Hollywood-Film machte ihn als Judenretter berühmt. Drehorte des Films waren der ehemalige jüdische Stadtteil Kazimierz in Krakau (der seither Touristenattraktion ist), Skarżysko-Kamienna (ein Zwangsarbeiterlager für Juden, die in der Munitionsfabrik des Hasag-Konzerns arbeiteten) und der Güterbahnhof Eberswalder Straße in Berlin. Eine Drehgenehmigung im ehemaligen KZ Auschwitz wurde auf Protest jüdischer Verbände von der polnischen Regierung wieder zurückgezogen. Der Film „Schindler’s List“ hatte am 30. November 1993 in Washington, D.C. Weltpremiere, die deutsche Erstaufführung war am 1. März 1994, er erhielt 1994 sieben Oscars und zahlreiche weitere Auszeichnungen, Steven Spielberg wurde mit vielen Orden dekoriert und machte sich mit der Shoah Foundation (die er mit Einnahmen aus dem Film in Höhe von 60 Millionen US-Dollar ausstattete) einen Namen in der Holocaustforschung. Die Interviews mit 52.000 Überlebenden des Holocaust in aller Welt (Visual History Archive) stehen in digitalisierter Form an ausgewählten Universitäten zur Verfügung. Am erfolgreichsten war der Film beim deutschen Publikum. Spielberg wurde von der Mehrheit der Filmkritiker bestätigt, dass es ihm zum ersten Mal gelungen sei, das Thema Holocaust (trotz einiger Konzessionen an Hollywood hinsichtlich Emotionalität und Kitsch) überzeugend im Kinofilm zu behandeln. Zu den Kritikern gehörte Claude Lanzmann, der Regisseur der Dokumentation → Shoah, der gegen Spielberg den Einwand formulierte, er habe „Bilder eingesetzt, wo in ‚Shoah‘ keine waren, und Bilder töten die Imagination“. Einige Kritiker äußerten ästhetische und moralische Bedenken wie Sigrid Löffler, die der berechtigten Sorge Ausdruck verlieh, der Film könne als „seelische Reinigung von deutscher Schuld“ missverstanden werden (Wochenpost), Günther Rühle monierte, dass mit „Schindlers Liste“ viel Geld verdient würde (Tagesspiegel) und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ließ mit obligater Häme einen jüdischen Publizisten zu Wort kommen, dem es ein Anliegen ist, Anstrengungen der Erinnerungskultur grundsätzlich als Antisemitismus zu denunzieren. Dafür ließ ihn die FAZ anschließend von einem anderen prominenten jüdischen Autoren als „nützlichen Idioten der Antisemiten“ geißeln. Mit großer Empathie, aber nicht unkritisch wurde der Film in den Leitmedien „Der Spiegel“ und „Die Zeit“ gefeiert: „Die letzte Stunde des Films ist seine schwächste. Denn statt endlich die Geschichte der jüdischen Familien zu erzählen, die nicht die Hauptfiguren, aber die wahren Helden von ‚Schindlers Liste‛ sind, windet Spielberg einen Strahlenkranz nach dem anderen um Oskar Schindlers Haupt. Auf der Rednertribüne in Brünnlitz, nach der Bekanntgabe der deutschen Kapitulation, wird Schindler endgültig zu der Ikone, die er niemals war: ein Tycoon des Mitleids, ein Boß und König aller geretteten Juden.“ (Andreas Kilb, Die Zeit). Die Rezeption in Polen war zwiespältiger als in Deutschland. Die auflagenstärkste polnische Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ erklärte, wenn Walt Disney einen Film über den Holocaust produziert hätte, dann würde er ausgesehen haben wie Steven Spielbergs Schindler-Film. Andere Stimmen nannten Schindler einen „Wohltäter aus
Schwarzer Kies (Film von Helmut Käutner, 1960/61)
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Angst“ und verwiesen auf die niederen, d. h. opportunistischen, Beweggründe des Fabrikanten zur Rettung der Juden. Motive polnischer Verwahrung gegen das Heldenepos waren die Sorge, durch die Glorifizierung des Deutschen Schindler könnten polnisches Leid und polnischer Widerstand gegen die nationalsozialistische Okkupation marginalisiert werden. Der Film „Schindlers Liste“ geht, an die TV-Serie → „Holocaust“ anknüpfend, weit über das Melodram der 1970er-Jahre hinaus. Anders als die Familie Weiß in „Holocaust“ ist die Figur des Oskar Schindler keine Fiktion; die Zwiespältigkeit seiner Person – Lebemann, Schieber, Kriegsgewinnler, der zum Retter von Juden wird – ist scharf und überzeugend gezeichnet. Seine Freunde und Gegenspieler haben real existiert und ihr Handeln lässt sich wie das Schicksal der etwa 1.100 „Schindler-Juden“ nachvollziehen, weil es als Handlung, nicht als starre Dokumentation gezeigt wird. Zur Handlung sind aber fiktionale und dramatische Elemente notwendig, denn die Zerstörung von Menschen durch Todesangst, die Mordlust der Täter, die Ambivalenzen der Moral in chaotischer Zeit und unter existenzieller Bedrohung kann man nicht dokumentieren. Um begreiflich zu machen, was geschah, braucht es die literarische und dramatische Form. Die Nähe zur Realität wird in der Schlussszene von Steven Spielbergs Film deutlich, wenn die Schauspieler Hand in Hand mit überlebenden Originalpersonen ans Grab Oskar Schindlers treten. Damit ist auch das Verhältnis von Authentizität und Fiktion geklärt. „Schindlers Liste“ ist mehr als Dokumentation und Historiografie. Der Film ist über den Appell an die moralische Sensibilität des Betrachters hinaus ein dramatischer Beitrag zur Geschichtsschreibung des Holocaust.
Wolfgang Benz
Literatur Angelina Awtuszewska-Ettrich, Konzentrationslager Płaszów, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 8, München 2008, S. 233–298. Frank Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 1–32. Mieczysław (Mietek) Pemper mit Viktoria Hertling und Marie Elisabeth Müller, Der Rettende Weg. Schindlers Liste – die wahre Geschichte, Hamburg 2005. Christoph Weiss, „Der gute Deutsche“. Dokumente zur Diskussion um Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ in Deutschland, St. Ingbert 1995.
Schwarzer Kies (Film von Helmut Käutner, 1960/61) Ein Wirt ermahnt einen älteren Gast, der auf der Musicbox Marschmusik auflegt, dass sich „die Amis“ schon beschweren würden. Der Gast erwidert, die Amis könnten ihn mal, woraufhin der Wirt den Stecker herauszieht. Der Barbesucher schimpft: „Saujud!“ In der Bar breitet sich betroffenes Schweigen aus. Der Wirt schaut mit entsetztem Gesichtsausdruck direkt in die Kamera. „Wie man weiß, im Spielfilm ein Tabubruch, der Blick direkt in die Kamera, das heißt raus aus dem Film, raus aus der Illusion.“ (Loewy) Das Bild zeigt den Arm des Wirtes mit einer tätowierten Häftlingsnummer, in der Musicbox spiegelt sich sein immer noch entsetztes Gesicht.
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Schwarzer Kies (Film von Helmut Käutner, 1960/61)
Der Film „Schwarzer Kies“ von Helmut Käutner löste nach seiner Premiere am 13. April 1961 eine Welle negativer Reaktionen aus und wird damit zum Beispiel dafür, wie sehr die Debatte darum, ob eine Darstellung antisemitisch sei, von der spezifischen historischen Rezeptionssituation abhängt. Der Film erzählt vom Miteinander von Deutschen und Amerikanern in dem kleinen fiktiven Ort „Sohnen“ im Hunsrück. Die dortige Airbase und der Bau einer Startbahn bedingen einen regen Schwarzhandel, vor allem mit Kies, und die zahlreiche Anwesenheit von Soldaten führt zu einem regen Nachtleben. In diesem Zusammenhang tritt am Rande die Nebenfigur des Herrn Loeb auf, gespielt von Max Buchsbaum (1918–1992), der eine Nachtbar betreibt; erkennbar wird er in der Musicbox-Szene als Jude, der den Holocaust überlebt hat. Obwohl die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) den Film freigegeben hatte, stellte der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Henrik van Dam, Strafanzeige gegen Regisseur Helmut Käutner und den Produzenten Walter Ulbrich von der Ufa, da die Darstellung für Juden beleidigend und herabsetzend sei. Käutner stellte schnell klar, dass dies nicht in seinem Sinne gewesen sei. Der Film habe eine „Scheibe Leben“ sein und die Zustände der bundesrepublikanischen Gesellschaft in ihrer ganzen Härte zeigen sollen. Obwohl das Düsseldorfer Gericht den Vorwurf van Dams als ungerechtfertigt befand und dem Strafantrag nicht nachging, suchte die Ufa eine gütliche Einigung in Sachen „Schwarzer Kies“. Die bereits im Umlauf befindlichen Filmkopien wurden wieder eingezogen, die beschriebene Szene sowie weitere, die die Figur Loeb zeigen, entfernt. Nur im Ausland wurde der Film ungeschnitten gezeigt. Es dauert bis 2009, bis die Premierenfassung wiederentdeckt und am neunten Oktober desselben Jahres im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums erneut aufgeführt wurde. Der Film schien nicht nur van Dam mit dieser Darstellung einer antisemitischen Beschimpfung getroffen zu haben. „Der Spiegel“ vom 26. April 1961 beschreibt in einer Kritik das betroffene Schweigen des Premierenpublikums. Auch wenn im Spiegel-Artikel die Einschätzung der Darstellung als antisemitisch nicht geteilt wird, so wird der Film mit seiner versuchten Kritik am gesellschaftlichen Antisemitismus negativ als „überfrachtet“ beschrieben. Käutner habe sie der Filmhandlung überflüssigerweise aufgepfropft. „Die Zeit“ vom 21. April 1961 schrieb, zu viele „programmatische Begriffe“ seien dem Film schief aufgeladen worden, er sei überladen und denke nichts zu Ende. Diese negativen Reaktionen auf Käutners Versuch, Antisemitismus darzustellen und nicht zu reproduzieren, können damit erklärt werden, dass er damit gegen das Tabu verstoßen hatte, Antisemitismus überhaupt zu thematisieren. Nach Frank Stern war es ein zentrales Tabu der deutschen Nachkriegsgesellschaft, etwas Anti-jüdisches zu sagen oder zu repräsentieren, weil dies das offizielle deutsche Selbstbild angriff, besonders nach der Welle antisemitischer Schmierereien 1959/60, die Juden wie Nichtjuden besorgte. Insofern ist „Schwarzer Kies“ mit seiner zeitgenössischen Darstellung von offenem Antisemitismus in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der beginnenden 1960er-Jahre ebenso einzigartig, wie die Debatte, die er auslöste, beispielhaft ist.
Lea Wohl von Haselberg
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Literatur Ronny Loewy, Schwarzer Kies (1960/61), in: Christoph Fuchs, Michael Töteberg (Hrsg.), Fredy Bockbein trifft Mister Dynamit. Filme auf den zweiten Blick, München 2007, S. 171–175. Frank Stern, Film in the 1950s. Passing Images of guilt and responsibility, in: Hannah Schissler (Hrsg.), The Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949–1968, Princeton 2001, S. 266–280.
Schwedische Karikaturen Die „Judensau“, die in den 1340er-Jahren von französischen Bildhauern in einen der Konsolsteine hinter dem Hauptaltar im Dom von Uppsala gemeißelt wurde, stellt die älteste überlieferte und in eindeutiger Weise verhöhnende bildliche Darstellung von Juden in Schweden dar. Dasselbe Motiv taucht auch in Wandgemälden der 1480erJahre auf, die von dem schwedisch-deutschen Maler Albrekt Ymmenhusen (ca. 1445– 1509) stammen, der auch unter dem Namen Albertus Pictor bekannt ist. Die Kirchen, in denen die Gemälde zu finden sind – Husby-Sjutolft und Härkebärga – liegen, ebenso wie Uppsala, in der Provinz Uppland. Eine Analyse der Zeichnungen, die schwedische Volksbücher über den „Ewigen Juden“ zwischen 1734 und 1845 illustrieren, zeigt, dass „der Jude“ sich nach und nach zu einem „Rassetyp“ entwickelte. In den großen Medienkampagnen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die dagegen gerichtet waren, dass Juden und Katholiken sich ohne Konversion zum evangelischen Luthertum in Schweden niederließen, wurden Karikaturen nur selten benutzt. Ebenso wenig spielten sie im Rahmen der Grevesmöhlen-Fehde (1814–1816) eine bedeutende Rolle. Die Fehde war eine heftige und zu einem Großteil antisemitische Auseinandersetzung, in der die schwedischen Juden und ihre Glaubensbrüder auf dem Kontinent in einer Welle von Pamphleten und Artikeln – alleine für das Jahr 1815 lassen sich 150 solcher Schriften zählen – für die Not, die finanzielle Misere und den wirtschaftlichen Niedergang verantwortlich gemacht wurden, die auf die napoleonischen Kriege folgten. Kurz nach der Fehde im Jahr 1830 erschien „Judarne i all sin glans och härlighet eller en utvald samling af 263 lustiga Anekdoter, Infall och märkvärdiga Historier om dessa Guld-Menniskor“ [Die Juden in all ihrer Herrlichkeit und Macht oder Eine ungewöhnliche Sammlung von 263 unterhaltsamen Anekdoten, Wunderlichkeiten und sonderbaren Geschichten über diese Gold-Menschen]. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von Geschichten über Juden, viele davon sind jedoch keineswegs pejorativ. Es enthält sechs großformatige farbige Abbildungen, die „Juden“ in mehr oder weniger verfänglichen Situationen darstellen. Vier der sechs karikierten männlichen Juden haben große Hakennasen und alle tragen Bärte. Aber weder ihre physische Erscheinung im Allgemeinen – alle besitzen „normale“ Statur und Größe – noch ihre Kleidung unterscheidet sie von Nicht-Juden. Als die Presse zum Massenmedium wurde und die massenhafte Produktion von Bildern ermöglichte, wurden antisemitische Karikaturen ein fester Bestandteil der radikalen politischen Agitation. Die Presse in den Jahren zwischen 1845 und 1860 – vor allem die Zeitungen „Fäderneslandet“ [Das Vaterland], „Folkets Röst“ [Die Volks-
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stimme] und „Söndags-Bladet“ [Das Sonntagsblatt], die die Meinung der unteren sozialen Schichten der Hauptstadt ausdrückten – griff regelmäßig bestimmte schwedische Juden an und verleumdete sie. In den meisten dieser Fälle wurden die Angriffe durch Holzschnitte illustriert, die von Stockholms führendem Holzschneider Gustaf Wahlbom geschaffen wurden. Zu Beginn wurden Juden als Industrielle und als Gefahr für das traditionelle Handwerk und die Zünfte angegriffen, später generell als Kapitalisten und Unternehmer. Als die Kampagnen in den Jahren 1857–1859 ihren Höhepunkt erreichten, wurden Juden jeglicher Lebens- und Arbeitsbereiche zur Zielscheibe. Die rassistisch aufgeladenen Darstellungen „des Juden“ hatten zu diesem Zeitpunkt bereits einen Standardisierungsprozess durchlaufen und sich angeglichen; die Nasen der als Juden dargestellten Personen wurden größer, hakenförmiger und beinahe schnabelartig dargestellt. In Karikaturen realer jüdischer Persönlichkeiten wurden deren Gesichtszüge so verändert, dass sie dem rassistischen Stereotyp entsprachen. Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Karikaturen ihr eigenes Medium gefunden: die satirische Illustriertenpresse. Ungefähr 60 Titel deckten das gesamte politische Spektrum ab, versammelten die begabtesten und bekanntesten Künstler, Zeichner, Journalisten und Autoren und erreichten ein großes Publikum. Die Darstellung der Juden in den schwedischen Satirezeitschriften spiegelt diejenige in Kontinentaleuropa wider und ist teils sogar mit ihr identisch. So wurden Bilder – etwa aus den deutschen Publikationen „Simplicissimus“ und „Kladderadatsch“ – sowie aus anderen Zeitschriften des Deutschen Reichs, des Vereinigten Königreichs, Frankreichs, Dänemarks und Norwegens in Schweden regelmäßig nachgedruckt. Schwedische Künstler wie Albert Engström (1869–1940) steuerten Zeichnungen zu Zeitschriften auf dem Kontinent bei. Unabhängig von der politischen Verortung der Illustrierten und den ideologischen Überzeugungen der Karikaturisten wurden Juden in der schwedischen Satirepresse durchgängig in derselben Art und Weise präsentiert. Somit stechen auch die Darstellungen der zwei prominentesten NS-Sympathisanten unter den Karikaturisten, Ossian Elgström (1883–1950) und Gösta Chatham (1886–1961), in keiner Weise heraus. Die Juden in den Illustrationen starren stets arrogant unter schweren Augenlidern hervor, sie verfügen über üppige und ausladende Lippen, flache Schädel, platte Füße und sind beinahe immer fettleibig. Das wichtigste Erkennungsmerkmal ihres Jüdisch-Seins ist jedoch die große Nase, die wie eine Sechs geformt ist. Die in den Illustrationen dargestellten Juden sind rücksichtslose, ehrgeizige und vulgäre Emporkömmlinge. Die Identifikation der Juden mit dem Kapitalismus wurde dadurch verstärkt, dass Juden regelmäßig mit den Attributen von „Kapitalisten“ ausgestattet wurden, etwa Zylindern und Gamaschen. Zusätzlich variieren die übergroße Mehrzahl der Illustrationen die altbekannten Themen wie Wucher und Materialismus und verweisen auf die angebliche jüdische Gier und Fixierung auf Profit und Geld. Sie vollziehen auch stets dieselbe Geste, indem sie mit den Schultern zucken und ihrem Kunden oder Konkurrenten, den sie gerade betrogen haben, die Handflächen darbieten. Sie tragen „typisch“ jüdische Namen, etwa Moses Silberstein oder Naftali Izaskarsohn. Das Jüdisch-Sein wurde als eine genetisch bedingte Wesenseigenschaft dargestellt, die nicht durch Assimilation überwunden werden kann. Die phänotypischen Merkmale erscheinen als äußerlicher Ausdruck von inneren, vererbten negativen Eigen-
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schaften, die von all denjenigen geteilt werden, die dieser „Rasse“ angehören. Die rassistisch geprägte Konstruktion „des Juden“ vermittelt folglich die Botschaft, dass Assimilation unmöglich sei („einmal ein Jude, immer ein Jude“), „der Jude“ rassisch anders sei sowie dass die Juden für die ihnen entgegengebrachte Feindseligkeit selbst die Schuld trügen. Der genetische Charakter des Jüdisch-Seins wird durch Darstellungen von jüdischen Frauen und Kindern als Rassetypen betont, die ebenso materialistisch, durchtrieben und von Geld und Profit gezeichnet sind wie ihre Ehepartner und Väter. Entsprechend dem für die Karikaturkunst charakteristischen physiognomischen Denken, das das Äußere als Widerspiegelung von inneren Eigenschaften (oder als deren Mangel) betrachtet, wurde nicht nur die physische Erscheinung der Juden verändert, um sie mit dem Stereotyp in Übereinstimmung zu bringen, sondern auch ihr Charakter. Dies betraf unter anderen den führenden schwedischen Maler der Moderne Isaac Grünewald (1889–1946), den bekannten Warenhauseigentümer Josef Sachs (1872–1949), den Bauunternehmer und maßgeblichen Philanthropen Isaak Hirsch (1843–1917), den international geachteten „sozialistischen Bankier“ Olof Aschberg (1877–1960) und sogar den weltbekannten Entdecker Sven Hedin (1865–1952), der nur über sehr entfernte jüdische Wurzeln verfügte. Der Großteil dieser Illustrierten verschwand in den 1930er-Jahren vom Markt. In den wenigen verbleibenden Publikationen – unter anderem der liberalen „Söndagsnisse-Strix“ [Sonntagsknabe-Strix] (bis 1942/43) und der „Lutfisken“ [Der Stockfisch] – verschwand der fettleibige, säbelbeinige kapitalistische „Jude“ mit den schweren Augenlidern, wulstigen Lippen und der gebogenen Nase fast vollständig, ebenso wie Verweise auf Juden im Allgemeinen. In den wenigen Fällen, in denen Juden dennoch auftauchten, wurde stattdessen das an Gustave Dorés berühmte Holzschnitte erinnernde Stereotyp des kümmerlichen und getriebenen, umherziehenden „Ewigen Juden“ verwendet. Der Grund hierfür ist darin zu suchen, dass die stereotype Darstellung des fetten, gierigen, kapitalistischen Juden sowohl der anti-nationalsozialistischen Position der Herausgeber der Zeitschriften – insbesondere Hasse Zetterströms (1877–1946) – als auch der zunehmenden Abbildung von Juden als Opfer der NS-Verfolgung widersprach. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die antisemitischen Darstellungen vollständig verschwanden. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts waren verächtlich machende Karikaturen von Juden ein Grundbestandteil in antisemitischen Zeitungen und Zeitschriften wie „Uplands-Posten“ [Uplands Post], „Blixten“ [Der Blitz] und „Vidi“. Die Staffelübergabe fand in den 1930er-Jahren an die nationalsozialistische Presse statt, die regelmäßig antijüdische Karikaturen druckte und ebenso von den in der schwedischen Illustriertenpresse entwickelten Stereotypen wie auch von den grobschlächtigeren antisemitischen Zeichnungen in Julius Streichers „Der Stürmer“ beeinflusst war. Die Illustrationen beispielsweise in „Den Svenske Nationalsocialisten“ [Der schwedische Nationalsozialist] und „Folkets Dagblad“ [Das Volksblatt] – den Sprachrohren der Nationalsocialistiska arbetarpartiet [Nationalsozialistische Arbeiterpartei] beziehungsweise der Socialistiska Partiet [Sozialistische Partei] – ähnelten dem „Stürmer“, waren jedoch handwerklich schlecht ausgeführt.
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1945 verschwanden antisemitische Darstellungen fast vollständig aus den schwedischen Printmedien. Einige Personen verbreiteten jedoch nach wie vor antisemitische Propaganda. Zu den hartnäckigsten aus diesem Personenkreis zählte Einar Åberg (1890–1970), der Gründer und das im Grunde einzige Mitglied der rabiat antisemitischen Partei Sveriges antijudiska kampförbund [Schwedens antijüdischer Kampfbund]. Bereits zwischen 1941 und 1945 war er mehrfach wegen ordnungswidrigem Verhalten und übler Nachrede mit Geldstrafen belegt worden, aber auch wiederholte Haftaufenthalte hielten ihn nicht von seinem Tun ab. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellte er große Mengen an Handzetteln und Flugblättern her, die in mehrere Sprachen übersetzt im Ausland verbreitet wurden. Bereits im Jahr 1945 fügte er seinem antisemitischen Repertoire die Leugnung des Holocaust hinzu. Nicht zuletzt weil Åbergs Aktivitäten internationale Proteste hervorriefen, wurden sie für die schwedische Regierung zu einem Ärgernis. Dies führte zur Verabschiedung eines Gesetzes gegen Aufhetzung zum Rassenhass im Jahre 1948, und Åberg war der Erste, der auf dieser Grundlage verurteilt wurde. Die 1956 gegründete Nordiska Rikspartiet [Nordische Reichspartei], die zum Verbindungselement zwischen den Nationalsozialisten der 1930er-Jahre, den Vertretern einer „weißen Vorherrschaft“ (White Supremacists) und den heutigen Neonazis werden sollte, fand sich in deutlicher Übereinstimmung mit Åbergs Obsessionen. Das Sprachrohr der Partei, „Nordisk Kamp“ [Der nordische Kampf], stellte sich als ausgesprochen antisemitisch dar, aber auch die Partei selbst nutzte auf Plakaten und Handzetteln antisemitische Karikaturen, die an die Illustrationen des „Stürmer“ erinnern. Mit den aufkommenden Neonazi-Gruppen und -Organisationen tauchten erneut antisemitische Bilder auf, wenn auch in vergleichsweise obskuren Zeitschriften wie „Rikslarm!“ [Reichsalarm!], dem Sprachrohr der Riksfronten [Nationale Front] und „Storm“ [Sturm], der Publikation des „Vitt Ariskt Motstånd“ [Weißer arischer Widerstand]. Nicht zuletzt erschienen diese Bilder aber auch auf Aufklebern und Handzetteln und in der aufwendig produzierten Zeitschrift „Nordland“, die nennenswerten Einfluss auf die „White Power“-Szene besaß. Die Möglichkeiten, antisemitische Bilder zu verbreiten, nahmen mit der Etablierung des World Wide Web im Jahr 1990 in dramatischer Weise zu. Schwedische Neonazis und andere antisemitische Gruppierungen und Organisationen nutzten die neuen Medien für die Verbreitung ihrer Propaganda. Oftmals wurden ältere Karikaturen und antisemitische Bilder sämtlicher vergangener Epochen wiederaufbereitet, aber auch unter Ausschöpfung der Möglichkeiten der zeitgenössischen Software neue Bilder geschaffen. Die bedeutendste und einflussreichste dieser antisemitischen Webseiten „Radio Islam“, die von dem in Marokko geborenen Ahmed Rami (geb. 1946) betrieben wird, ist ausschließlich dem Kampf gegen alles gewidmet, was als „jüdisch“ angesehen wird. Ahmed Rami, der in Schweden anfangs Unterstützung von einigen führenden linksorientierten Intellektuellen und Journalisten erhielt, verfasste auch mehrere Bücher. Die Titelillustration einer dieser Publikationen, „Judisk häxprocess i Sverige“ [Jüdischer Hexenprozess in Schweden] – erschienen im Jahr 1990, als Rami wegen Aufhetzung zum Rassenhass verurteilt wurde –, zeigt diesen, wie er von drei Personen gekreuzigt wird. Eine dieser Figuren soll den Vorsitzenden der liberalen Partei Per Ahl-
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mark (geb. 1939) darstellen, der als einer von Ramis schärfsten Kritikern bekannt ist. Auch die zwei anderen Figuren werden als „Juden“ präsentiert, bei einer davon handelt es sich mutmaßlich um Jackie Jakubowski (geb. 1951). Jakubowski, der Herausgeber der „Judisk krönika“ [Jüdische Chronik], ist ebenfalls ein ausgesprochener Kritiker Ramis. Alle drei tragen kegelförmige Hüte, die ebenso mit Davidsternen versehen sind wie ihre Kleidung. Das Titelbild wurde von Lars Hillersberg (1937–2004) entworfen, einem Unterstützer Ramis und einem der bekanntesten politisch radikalen Künstler Schwedens. Dessen Abneigung gegenüber Ahlmark reichte mindestens bis in die frühen 1970er-Jahre zurück, als Ahlmark ihm Antisemitismus vorwarf. Seit dieser Zeit brechen in regelmäßigen Abständen Kontroversen über Zeichnungen Hillersbergs aus. Die schärfste fand im Jahr 2000 statt, als Hillersberg einen vom schwedischen Staat garantierten Ehrensold auf Lebenszeit erhielt, eine Ehre, die lediglich den renommiertesten Künstlern zuteil wird. Neben dem Titelbild von Ramis Buch zählt zu Hillersbergs am häufigsten diskutierten Zeichnungen „Der kleine Friedensstifter“ (1973), in dem der damalige US-Außenminister Henry Kissinger als „jüdischer Kapitalist“ im Stil der satirischen Illustrierten der 1930er-Jahre dargestellt ist. Kontrovers wurde auch „Der Tanz um das goldene Kalb oder Das Heilige Land“ (1971, spätere Nachzeichnungen und Nachdrucke) diskutiert, eine Bildergeschichte über Palästina, in der der Zionismus mit Kapitalismus und Imperialismus identifiziert wird sowie die Zionisten als hinterhältige unehrliche Geschäftsleute und Gauner dargestellt werden, die aus Profitstreben und Gier auf eine eigene Kolonie erpicht sind. Hillersberg verfasste zwar nicht den zugehörigen Text, jedoch fiel er in seinen Illustrationen ein weiteres Mal in das alte Schema der Karikaturen antisemitischer Traditionen zurück, setzte „die Zionisten“ mit „den Juden“ gleich und stellte sie als Rassetypen mit großen Hakennasen dar. Darüber hinaus betonte er ihr Jüdisch-Sein, indem er einen Schofar hinzufügte und auf die Beschneidung hinwies. Zudem präsentierte er den Kapitalismus auch als ein „jüdisches“ Phänomen. Eine weitere vieldiskutierte Zeichnung Hillersbergs stellt eine groteske Illustration von „Afroamerikanern“ in stereotyper Blackface-Darstellung dar, die „jüdische Kapitalisten“ jagen und kochen (gezeichnet 1971, jedoch auf 1965 zurückdatiert). Die Zeichnung war angeblich von Jonathan Swifts (1667–1745) „A modest proposal“ (1729) und Sinés (Maurice Sinet, geb. 1928) antikolonialer und antikapitalistischer Satire angeregt. Ursprünglich war sie als Illustration einer auf einem Gerücht über einen Priester in Harlem (New York) basierenden Geschichte vorgesehen, der seine Gemeindemitglieder dazu drängt, ihre Vermieter zu essen; die Geschichte wurde jedoch nie veröffentlicht. Nicht zuletzt wurde die Karikatur „Der Basar von Benjamin Klein“ (1993) diskutiert, in der der weinende irakische Diktator Saddam Hussein in einem zerschossenen Panzer vor einem jüdischen Leihhaus gezeigt wird. Der vor seinem Laden stehende Inhaber ist als „jüdischer Pfandleiher“ dargestellt. Der Fall Hillersberg ist nicht nur deswegen erwähnenswert, weil er seit 40 Jahren in aller Breite diskutiert wird, sondern weil er zeigt, dass, solange ein Künstler über die Unterstützung führender Kuratoren, Galerien, Museen und Kritiker verfügt und sich auf den Zeitgeist stützen kann, der gezielte Einsatz antisemitischer Stereotypen nicht notwendigerweise eine erfolgreiche Karriere verhindern oder ruinieren muss. Hillersberg war nicht der einzige prominente Künstler oder Karikaturist, der antisemi-
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tische Zeichnungen und Karikaturen erstellt hat oder dem dies vorgeworfen wurde. In den meisten dieser anderen Fälle prangerte die Kritik explizite Gleichsetzungen an, so etwa, indem Menachem Begin, Yitzhak Shamir und andere israelische Politiker als Hitler oder als Nationalsozialisten dargestellt wurden. Ebenso wurde kritisiert, dass die Situation der Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland mit derjenigen der Juden in Ghettos und Konzentrationslagern während des Holocaust gleichgesetzt würde oder dass Nationalsozialismus und Zionismus als gleichrangig präsentiert würden. Zudem wurde moniert, dass Bilder auf biblische Berichte und traditionelle christliche antijüdische Beschuldigungen zurückgreifen, wie dies etwa in Darstellungen geschah, die die Palästinenser als auf dem Davidstern Gekreuzigte, einen gekreuzigten PLO-Vorsitzenden Jassir Arafat und Menachem Begin als Todesengel zeigen. Was Hillersbergs Illustrationen von derlei Karikaturen unterscheidet und damit seine Bedeutung ausmacht, ist seine ausdrückliche Absicht zu provozieren, seine unverhohlene Missachtung der Kritiker und sein gezielter Gebrauch von antisemitischen Stereotypen und Bildern. Der in Malmö ansässige „Street Art“-Künstler Dan Park (geb. 1968) hat das ausgewiesene Ziel zu vermeiden, „politisch korrekt“ zu sein: Er erstellte Plakate, die einen Angehörigen der nationalen afroschwedischen Interessenvertretung mit Kette um den Hals und der Bildunterschrift „Unser Negersklave war davongelaufen“ darstellen. Im Jahr 2009 brachte Park eine Dose mit der Aufschrift „Zyklon B“ und einem Hakenkreuz vor dem Gebäude an, das die jüdische Gemeinde in Malmö beherbergt. Weiterhin verbreitete er Bilder und Plakate eines gekreuzigten Hitler mit der Unterschrift „Und er starb für unsere Sünden“, stellte Auschwitz als Vergnügungspark dar („Besucht Auschwitz / Unterhaltsamer als Disney-Land“) oder brachte Ritualmord-Anschuldigungen gegen den israelischen Premierminister Ariel Sharon vor, indem dieser mit einer Kippa mit Davidstern gezeigt wird, wie er einer nackten Frau eine Gabel in den Hintern rammt und sagt: „Lecker, schwarzer Pudding!“ Unabhängig hiervon nutzt Park aber auch ganz generell die ikonografischen Bilder des Holocaust, um ihn ins Lächerliche zu ziehen und um zu provozieren. Seine Bilder bringt Park auf Stromverteilerkästen im öffentlichen Raum an, fotografiert diese und veröffentlicht die Fotos auf seiner Internetseite. Er ist dafür wegen Beleidigung und Aufhetzung zum Rassenhass verurteilt worden.
Lars M. Andersson Übersetzung aus dem Englischen von Christian Mentel
Literatur Lars M. Andersson, En jude är en jude är en jude … Representationer av „juden“ i svensk skämtpress, omkring 1900–1930 [Ein Jude ist ein Jude ist ein Jude … Repräsentationen von Juden in der schwedischen satirischen Presse], Lund 2000. Henrik Bachner, Från Hitler till Radio Islam. Antisemitisk propaganda i ett jämförande perspektiv [Von Hitler bis Radio Islam: Antisemitische Propaganda in vergleichender Perspektive], in: Svenska kommittén mot antisemitism & Albert Bonniers förlag (Hrsg.), Det eviga hatet. Om nynazism, antisemitism och Radio Islam [Der ewige Hass. Über Neonazismus, Antisemitismus und Radio Islam], Stockholm 1993, S. 161–206. Andreas Berg (Hrsg.), Lars Hillersberg. Entreprenör och provokatör [Lars Hillersberg. Unternehmer und Provokateur], Stockholm 2013.
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Schwedische Kinoproduktionen in den 1920er- und 1930er-Jahren Antisemitische Stereotype tauchen bereits in einem der ersten schwedischen Filme aus dem Jahr 1910 auf. So kommt in dem gegen Auswanderung gerichteten 18-minütigen Stummfilm „Emigranten“ [Der Emigrant] ein junger schwedischer Auswanderer in der amerikanischen Metropole New York zu Tode. Kurz bevor er in einem Armenkrankenhaus stirbt, wird er von einem stereotyp dargestellten jüdischen Pfandleiher noch um seine letzten Habseligkeiten gebracht. Die Figur des → Shylock – des gierigen Wucherers – taucht in mindestens sechs schwedischen Filmen der 1920er-Jahre auf. Oft wird dieses Jahrzehnt als Periode des Niedergangs beschrieben, die auf das Goldene Zeitalter des schwedischen Kinos (1917–1924) gefolgt sei. „Löjen och tårar“ [Gelächter und Tränen, 1924], das auf einem Stück von Jonas Jolin basiert, zeigt einen hakennäsigen, langbärtigen jüdischen Pfandleiher und Hehler, einen Feigling, der durch körperliche Gewalt leicht einzuschüchtern ist und als Verkörperung der Habgier fungiert. In dem Film „Damen med kameliorna“ [Die Kameliendame, 1925], der an den Roman von Alexandre Dumas (d. J.) angelehnt ist, wird die Figur des jüdischen Pfandleihers niemals gezeigt. Stattdessen werden seine Handlungen durch die Zwischentitel beschrieben: Er scheint geizig zu sein und viel zu wenig für verpfändete Objekte auszuzahlen, selbst dann, wenn es sich bei einer Pfandschuldnerin um eine Freundin aus Kindertagen handelt. Hingegen lässt sich zumindest ein flüchtiger Blick auf einen jüdischen Wucherer in „Erik XIV“ (1928) erhaschen, einer Parodie auf die seinerzeit populären Historienfilme. Für das Drehbuch und die Regie zeichnet der ewige Student Sam Ask verantwortlich, der seinerzeit eine
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lokale Berühmtheit in Lund war. In dem heute verschollenen Film „A.-B. gifta bort baron Olson“ [Baron Olson muss verheiratet werden GmbH, 1928] wird das titelgebende Unternehmen von dem skrupellosen jüdischen Geldverleiher Efraim Kahn gegründet, um sicherzustellen, dass sein Schuldner Olson eine hässliche, aber reiche Braut heiratet, sodass Kahn sein Geld zurückbekommt. Ein weiterer jüdischer Schacherer, ein älterer Mann mit langem Bart und großer Nase, benannt als „der Jude aus Kvastmakarebacken“, taucht in „Anderssonskans Kalle på nya upptåg“ [Neue Streiche von Frau Anderssons Kalle, 1923] auf. Er erinnert an den Pfandleiher aus „Löjen och tårar“. „Anderssonskans Kalle på nya upptåg“ basiert auf einem Drehbuch von Emil Norlander, einem bekannten Journalisten, Redakteur und Produzenten von VarietéShows und Volkslustspielen (folklustspel). Diese Lustspiele greifen auf formelhafte Plot-Strukturen und stereotype Charaktere wie „den Juden“ zurück und fanden oft den Weg auf die Leinwand. Der eindeutigste Fall von Antisemitismus im schwedischen Kino der 1920er-Jahre stellt das Porträt des reichen und habgierigen Emporkömmlings und skrupellosen Geldverleihers Simon Jakobowsky in dem Film „Dollarmiljonen“ [Millionen Dollars, 1926] dar, der auf einen Roman von Anders Eje zurückgeht. Jakobowsky, der im Film als Privatbankier bezeichnet wird, wird von seinem Geschäftspartner und Schuldner, dem Großhändler Falkman, angestiftet, sich gemeinsam eine Erbschaft in Höhe von einer Million Dollar anzueignen. Der Film enthüllt die – letztlich nicht erfolgreichen – Pläne und Machenschaften der beiden. Jakobowsky wurde gespielt von Axel Hultman, der 1924 in dem Film „Livet på landet“ [Leben auf dem Lande] mit der Figur Pomuchelskopp bereits einen bösartigen Wucherer verkörpert hatte. Dieser Film gilt als verschollen. Mit der Figur Moses i Ranstadt [Moses in Ranstadt] beinhaltet er auch die einzige positive Darstellung eines „Juden“ im schwedischen Kino der 1920er-Jahre. Dessen Handlung spielt in Deutschland, und der „gute Jude“ wurde von Emile Stiebel verkörpert, derselbe Schauspieler, der den jüdischen Pfandleiher in „Emigranten“ spielte. In den 1930er-Jahren, als der Gang ins Kino eine Form der Massenunterhaltung wurde, stiegen sowohl die Zahl der produzierten Filme als auch die Zahl der darin stereotyp dargestellten „Juden“ an. Es wird geschätzt, dass zehn Prozent der Filme, die in den 1930er-Jahren Premiere hatten, antisemitische Darstellungen enthalten. Darüber hinaus stellen die meisten dieser „Juden“ auf der Leinwand die Hauptbösewichter der jeweiligen Filme dar. Die deutlichsten antisemitischen Darstellungen traten in den frühen 1930er-Jahren auf, danach ist eine graduelle Abschwächung der überzogenen stereotypen Bildsprache zu beobachten. Diese Entwicklung ist derjenigen im deutschen Kino entgegengesetzt. Zu dem Zeitpunkt, als der Antisemitismus in der deutschen Filmindustrie zu einem gezielt eingesetzten Propagandamittel aufstieg, verschwand er in schwedischen Filmen fast vollständig – sieht man von dem ausgesprochen antisemitischen Propagandafilm „Panik“ ab, der 1939 erstmals gezeigt wurde. Eine gewöhnliche Shylock-Figur tritt in der Farce „Trötte Teodor“ [Der müde Theodor, 1931] in Gestalt des Pfand- und Geldleihers Isaac Mosesson auf. Der Film basiert lose auf dem gleichnamigen deutschsprachigen Stück – das im Original keine jüdischen Charaktere beinhaltet – und vereinigt nahezu jedes Merkmal, das in der an-
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tisemitischen Tradition mit „dem Juden“ assoziiert wird. Mosesson und seine Frau Sara sind habgierig, unmoralisch, betrügerisch, profitbesessen, durchtrieben, verschlagen und berechnend, sehen „jüdisch“ aus und hören sich so an. Letztlich werden sie jedoch von den Schweden und ihrer eigenen Gier besiegt. Ein ähnlicher Plot – der Protagonist triumphiert am Ende über den jüdischen Geldverleiher – findet in „Hustru för en dag“ [Ehefrau für einen Tag, 1933] Anwendung. In „Kanske en gentleman“ [Vielleicht ein Gentleman, 1935], einer Pygmalion-Geschichte aus männlicher Perspektive, taucht ein Geldverleiher auf, der sich sogar noch abstoßender als Isaac Mosesson gebärdet. „Trötte Teodor“ zog ein großes Publikum an – ungefähr 195.000 Stockholmer (von etwa 500.000 Einwohnern) sahen den Film im Kino und machten ihn damit zum dritterfolgreichsten im Jahr 1931. Im Folgejahr 1932 trat ein weiterer profitgieriger, hakennasiger, abstoßender jüdischer Geldverleiher – Josephson – in „Söderkåkar“ [Die Häuser auf der Südseite] auf, einem Film, der auf Gideon Wahlbergs beliebtem gleichnamigen Volksschwank basiert. Das Stück und ebenso der Film nutzen weitverbreitete Klischees von angeblich „typisch schwedischen“ Eigenschaften wie die Wertschätzung der kleinen Freuden des Alltags, Bescheidenheit, familiärer Zusammenhalt und Solidarität (hauptsächlich) der Arbeiterklasse. Es gibt jedoch eine Figur, die sich diesen Zielen nicht verschreibt und die darüber hinaus eine zentrale Gefahr darstellt, dass diese verwirklicht werden können: der Jude Josephson. Er übt wirtschaftlichen Druck aus, greift zu Fälschungen und Erpressungen, um eine junge schwedische Frau zu zwingen ihn zu heiraten, scheitert dabei jedoch kläglich. Eine ähnliche Struktur weisen „Söder om landsvägen“ [Südlich der Schnellstraße, 1936] und „Flickorna på Uppåkra“ [Die Mädchen von Uppåkra, 1936] auf. Ein bösartiger jüdischer Wucherer nutzt seine wirtschaftliche Macht und seinen Einfluss, um eine Beziehung mit einer jungen schwedischen Frau zu forcieren. „Söderkåkar“ war ein großer Kassenerfolg: Ungefähr 210.000 Stockholmer sahen ihn – die dritthöchste Besucherzahl des Jahres 1932. Weniger böse und verschlagen, jedoch ebenso erfolglos und stereotyp erscheint der jüdische Geldverleiher und Finanzspekulant Ruben Nathan Isaaker Ludwig in der Komödie „Kära släkten“ [Liebe Familie/Verpflichtende Bande, 1933]. Der Film rückt Loyalität und Solidarität innerhalb der Familie in den Fokus – „der Jude“ ist der einzige der Hauptcharaktere, der mit den anderen Protagonisten nicht verwandt ist. Ebenso wird herausgehoben, dass er seltsam und anders, das heißt jüdisch sei, und aus diesem Grund nicht dazu gehöre. Letztlich wird Ludwig, wie sein Glaubensbruder in „Söderkåkar“, sowohl im übertragenen als auch im wörtlich-unmittelbaren Sinne aus der schwedischen Gemeinschaft ausgestoßen. „Kära släkten“ war sogar noch erfolgreicher als „Trötte Teodor“ oder „Söderkåkar“ – allein die Stockholmer Kinos weisen eine Besucherzahl von 220.000 auf. Auch wenn „Juden“ in Filmen der 1920er- und 1930er-Jahre entscheidende Bedeutung zukommt, füllen sie meist nur Nebenrollen aus. Ihre Hauptfunktion ist die, den kontrastierenden, gegenbildlichen „Anderen“ zu verkörpern und die „Schweden“ in ein günstiges Licht zu tauchen. „Pettersson & Bendel“ (1933), das auf einem vielgelesenen Roman Waldemar Hammenhögs desselben Titels beruht, ist der einzige Film, in dem die Gegenüberstellung „des Schweden“ und „des Juden“ Hauptgegenstand des Films ist. Die beiden Protagonisten sind einerseits der typische „Jude“ (Bendel) und
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andererseits der typische „Schwede“ (Pettersson); der Film baut eine moralische und körperliche Dichotomie zwischen beiden auf, wobei der eine die Verkörperung des „Bösen“, der andere der Inbegriff des „Guten“ ist. Bendel wurde von dem schwedisch-jüdischen Schauspieler Semmy Friedmann gespielt, der für die Rolle des jüdischen Bösewichts auch in zwei weiteren Filmen ausgewählt wurde, nämlich „Simon i Backabo“ [Simon in Backabo, 1934] und „Flickorna på Uppåkra“. Auch „Pettersson & Bendel“ war ein Kassenerfolg und erreichte nach „Kära släkten“ den dritten Platz in der Zuschauergunst. Insgesamt 750.000 Kinobesucher (angesichts einer Bevölkerungszahl von ungefähr 6,25 Millionen) konnten gezählt werden, darunter 185.000 Stockholmer. Als der Film 1935 im Deutschen Reich aufgeführt wurde, erhielt er als erster ausländischer Film das Prädikat „staatspolitisch wertvoll“. Zum Erstaunen schwedischer Berichterstatter wurden bei der Deutschlandpremiere des Films Juden und jüdisches Eigentum angegriffen. Trotz der Proteste aus Schweden wurde der Film weiterhin im gesamten Reichsgebiet gezeigt. Nach den Novemberpogromen 1938 wurde er als Teil zunehmend gewalttätiger antisemitischer Kampagnen in einer synchronisierten Fassung erneut in die deutschen Kinos gebracht. Trotz der zahlreichen hakennasigen, habgierigen Juden im schwedischen Kino der 1930er-Jahre kann nur ein einziger Film dieses Jahrzehnts als offen und absichtsvoll antisemitisch bezeichnet werden, und zwar „Panik“. Der Film stellt einen Versuch dar, den schwedischen Geschäftsmagnaten Ivar Kreuger zu entlasten, dem es beinahe gelungen wäre, durch sein Unternehmen Kreuger & Toll Ltd. ein weltweites Monopol auf Zündhölzer zu etablieren. Im Jahr 1932, als sein Imperium kollabierte, viele Kleinanleger um ihr Geld gebracht wurden und die wirtschaftliche Krise in Schweden dadurch verstärkt wurde, hatte er sich selbst getötet. „Panik“ wurde von Ivar Kreugers Bruder Torsten finanziert, dem Inhaber der prodeutschen Tageszeitungen „Aftonbladet“ und „Stockholms-Tidningen“, die für ihre Sympathie für den Nationalsozialismus bekannt waren. Torsten Kreuger, der wegen Bilanzfälschung und Betrug eine Haftstrafe zu verbüßen hatte, wurde nach dem Zerfall des Geschäftsimperiums seines Bruders zur Zielscheibe und machte es fortan zu seinem Lebensziel, seinen Bruder und sich selbst zu rehabilitieren und das Vermögen wiederzuerlangen, das er durch die Pleite verloren hatte. Um Ersteres zu erreichen, verpflichtete er Gustaf Ericsson, der als einer der talentiertesten schwedischen Autoren in den 1930er-Jahren galt und der einen Skandal auslöste, als er im Zusammenhang mit der Veröffentlichung eines seiner Bücher eine Selbsttötung vortäuschte. 1936 veröffentlichte Ericsson „Kreuger kommer tillbaka“ [Kreugers Rückkehr], im Jahr darauf folgte eine gekürzte Ausgabe für den Massenmarkt, „Giriga händer“ [Gierige Hände]. Darin präsentierte er Torsten Kreugers Version der Ereignisse: Kreuger & Toll Ltd. sei Spekulanten zum Opfer gefallen. Als Kreuger sich trotz bösartiger Angriffe geweigert habe, sich zu fügen, sei er infolge einer jüdisch-bolschewistischen Verschwörung ermordet worden. Der Konzern sei zerschlagen und ausgeschlachtet worden – von dem mächtigen amerikanischen Bankhaus J.P. Morgan, von den Bankiers und Industriellen der Familie Wallenberg in Schweden, und mit Unterstützung der Bonniers, der Inhaber des wichtigsten Verlags in Schweden und der einflussreichsten Tageszeitung, „Dagens Nyheter“. Ericssons Bücher stellen einen heftigen Rundumschlag dar – alles und jeder, der oder das mit dem schwedischen „Establishment“ in Verbindung zu bringen ist, wird ange-
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griffen, und nicht zuletzt die Familie Bonnier und „Dagens Nyheter“ sind langen antisemitischen Tiraden ausgesetzt. Zu diesem Zeitpunkt standen die Bonniers bereits im Fadenkreuz nationalsozialistischer Angriffe, die sie beschuldigten, die schwedischen Medien zu kontrollieren, zu knebeln und nationalsozialistische Sprachrohre mundtot zu machen. Ericsson bemühte sich erfolglos, „Kreuger kommer tillbaka“ im Deutschen Reich zu veröffentlichen und Stockholmer Theater für ein auf dem Roman basierendes Stück zu interessieren. Stattdessen wurde der Stoff in dem Film „Panik“ verarbeitet, der nicht nur als unverhohlen antisemitisch zu bezeichnen ist, sondern auch durch und durch amateurhaft – vielen gilt er als der schlechteste Film, der jemals in Schweden gedreht wurde. Darin wird die „internationale Verschwörung“ gegen Kreuger gezeigt, die ihre Zentrale in der schäbigen jüdischen Maklerfirma Nathan & Kohn eingerichtet hat. Beide namengebende Juden haben sich ausschließlich wegen des Profits verschworen, porträtiert werden sie als Sadisten, die Lust daraus ziehen, Kleinanleger zu ruinieren und Kreuger zu Fall zu bringen; auch bei seinem Tod haben sie ihre Hände im Spiel. Beständig wird betont, dass ihr Verhalten „typisch jüdisch“ sei. Hierfür wurde auch nicht-fiktionales Wochenschau-Filmmaterial eingesetzt, um zu implizieren, dass die Große Depression, der Aufstieg des Kommunismus und die Gefahr eines Krieges allesamt auf die Rolle der Juden in der Kreuger-Pleite zurückzuführen seien. Der Film war ein Misserfolg. Da kein Kino in Stockholm sich bereitfand, den Film zu zeigen, hatte er in Malmö Premiere. Erst zehn Tage später wurde der Film in Stockholm vorgeführt – jedoch nur in einem einzigen Kino, das ihn nach einer Woche wieder aus dem Programm nahm. Ericssons Bemühungen, den Film nach Dänemark und ins Deutsche Reich zu verkaufen, schlugen fehl. In Dänemark wurde die Ansicht vertreten, dass der Film keinesfalls durch die Zensur käme – ein Problem, das in Schweden nicht bestand. Das deutsche Propagandaministerium unter Joseph Goebbels erklärte, dass sämtliche Werke Ericssons als schädlich und unerwünscht gelten würden. Dieses Verbot war wahrscheinlich die Folge einer Entscheidung des schwedischen Justizministers K. G. Westman, einen Roman Ericssons zu beschlagnahmen, der den grob irreführenden Titel „Hitler skjuts kl. 24!“ [Hitler wird um Mitternacht erschossen!] trug und kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht wurde. Die „Juden“-Darstellungen auf der Leinwand wurden von den zeitgenössischen Filmkritikern vergleichsweise positiv aufgenommen. Selbst wenn die Filme heftig kritisiert wurden – wie im Fall von „Dollarmiljonen“ – wurden die grotesken Porträts von „den Juden“, sieht man von wenigen Ausnahmen ab, entweder ignoriert oder sogar gelobt. Abgesehen vom Film „Panik“ gibt es keine Belege, dass bei Drehbuchautoren, Regisseuren oder Schauspielern eine gezielt provozierende antisemitische Einstellung zugrunde lag. Somit muss davon ausgegangen werden, dass eine weitverbreitete Akzeptanz antisemitischer Bilder und Einstellungen herrschte.
Lars M. Andersson Übersetzung aus dem Englischen von Christian Mentel
Literatur Tommy Gustafsson, En fiende till civilisationen. Manlighet, genusrelationer, sexualitet och rasstereotyper i svensk filmkultur under 1920-talet [Ein Feind der Zivilisation. Männlich-
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keit, Geschlechterbeziehungen, Sexualität und Rassenstereotype im schwedischen Film während der 1920er-Jahre], Lund 2007. Torsten Jungstedt (Hrsg.), Svensk filmografi del 3, 1930–1939 [Schwedisches Filmverzeichnis, Band 3, 1930–1939], Stockholm 1979. Jan Olsson, Svensk spelfilm under andra världskriget [Schwedische Spielfilme während des Zweiten Weltkrieges], Lund 1979. Gunnar Pettersson, Mannen som kom tillbaka från de döda. En bok om skandalförfattaren Gustaf Ericsson [Der Mann, der von den Toten zurückkehrte. Ein Buch über den Skandalautor Gustaf Ericsson], Stockholm 2000. Per Olov Quist, Folkhemmets bilder. Modernisering, motstånd och mentalitet i den svenska 30-talsfilmen [Bilder des Volkheimes. Modernisierung, Widerstand und Mentalität in den schwedischen Filmen der 1930er-Jahre], Lund 1995. Jurgen Schildt, Det pensionerade paradiset [Das pensionierte Paradies], Stockholm 1990. Rochelle Wright, The Visible Wall. Jews and Other Ethnic Outsiders in Swedish Film, Carbondale, Edwardsville 1998.
Der Schweizerische Schriftstellerverein Im Jahre 1937 verfasste der Schweizerische Schriftstellerverein (SSV) ein Gutachten für die Eidgenössische Fremdenpolizei über den in die Schweiz geflüchteten deutschjüdischen Schriftsteller Max Hochdorf. Der SSV – in der Person seines Präsidenten Felix Moeschlin und des Sekretärs Karl Naef – verantwortete zwischen 1933 und 1942 Dutzende von Gutachten für die Fremdenpolizei über emigrierte Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Im Gutachten über Max Hochdorf heißt es, man habe den „Eindruck, dass Hochdorf einer der jüdischen Vielschreiber ist, die in Anlehnung an die jeweiligen Zeitströmungen über Alles und Jeden [...] geschrieben haben. [...] Seine Anwesenheit in unserem Land bedeutet für unser geistiges Leben keine Bereicherung.“ Das Urteil des SSV trug maßgeblich dazu bei, dass Max Hochdorf nicht in der Schweiz bleiben konnte. Diese Vorbehalte gegenüber (jüdischen) Flüchtlingen aus dem Machtraum des Nationalsozialismus sowie die Gutachtertätigkeit an sich können als typisch für die Politik des SSV wie auch anderer schweizerischer Berufsorganisationen in dieser Zeit bezeichnet werden. Die darin vorgebrachten, teilweise klar antisemitisch motivierten Argumente sind Resultat einer zunehmenden, im gesamteuropäischen Trend der Zeit liegenden Fremdenfeindlichkeit der Schweiz seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund ist es leider wenig erstaunlich, dass die Politik des SSV vor allem zwischen 1933 und 1942 immer wieder von Ausgrenzungsbemühungen gegenüber Schriftstellern geprägt wurde. Durch die Gutachtertätigkeit des SSV wurden vielen Flüchtlingen der Aufenthalt und die Erwerbsarbeit erschwert oder verunmöglicht und die Arbeit der Behörden im Sinne der damaligen Vorgaben erleichtert. Die Gründung des Schweizerischen Schriftstellervereins 1912 fiel in die Zeit einer zunehmenden Fremdenfeindlichkeit und eines rassistisch und nationalistisch aufgeladenen Antisemitismus in ganz Europa. Kritisch bis feindselig eingestellt war man insbesondere gegenüber Kommunisten und Sozialisten, Anarchisten, Kosmopoliten und Personen jüdischer Herkunft. In der Schweiz führte dies zu einer stark ausgrenzenden und diskrimierenden Bevölkerungspolitik unter dem Schlagwort der „Überfremdung“.
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Diese Politik erreichte ihren traurigen Höhepunkt zwischen 1933 und ca. 1944 und wird im Hinblick auf die Haltung gegenüber jüdischen Menschen auf der Flucht als „prophylaktischer Antisemitismus“ bezeichnet: Es ging den Behörden darum, möglichst wenig jüdische Flüchtlinge ins Land zu lassen. Eng verknüpft mit diesen Ausgrenzungsstrategien ist die Suche nach der eigenen Identität, nach dem „Schweizerischen“. Die stärkste Ausprägung dieser Identitätssuche manifestiert sich in der Etablierung der Ideologie der „Geistigen Landesverteidigung“ in den 1930er-Jahren. Auch in der Literaturtheorie und Literaturpolitik lassen sich diese Tendenzen feststellen. Der SSV betrieb eine „Verschweizerungspolitik“, wobei seine Exponenten eine genaue, völkisch-nationalistisch inspirierte Vorstellung des literarisch „Schweizerischen“ hatten. Dabei ist festzuhalten, dass diese Entwicklungen sich hauptsächlich auf die deutschsprachige Schweiz beschränkten. Problematisch an der Politik des SSV ist besonders die enge Zusammenarbeit mit offiziellen Amtsstellen. Moeschlin und Naefs Handeln war jedoch durch Generalversammlungsentscheide des SSV demokratisch abgesichert. Für die Argumentation des SSV zentral war die Unterscheidung in „große Schriftsteller“ und „kleine Zeilenschreiber“ bzw. in „gute“ bzw. „schlechte“ Literatur, wie sie sich bei Max Hochdorf zeigt. Damit wurde die völkisch-nationale Kategoriebildung in „wahre Dichtung“ und „entartetes Literatentum“, wie sie in NS-Deutschland ausgeübt wurde, im Grundsatz übernommen. Moeschlin und Naef verfolgten eine harte Interessens- bzw. Abwehrpolitik, vordergründig aus ökonomischen Gründen, um den „schweizerischen“ Schriftstellern die Erwerbsmöglichkeiten zu erhalten. Die vorgebrachten Argumente enthalten jedoch auch kulturpolitische, diskriminierende und antisemitische Elemente und zeugen von teilweise sehr fragwürdigem menschlichen Verhalten: Die Emigranten wurden als „Vaterlandsverräter“, „Tendenzschriftsteller“, „städtisch-internationalistische Intellektuelle und Stänkerer“ oder pauschal als „Kommunisten“ abqualifiziert. Antisemitische Denkhaltungen und Argumente finden sich auf vielen Ebenen, wobei teilweise Versatzstücke der NS-Ideologie übernommen wurden: Auf der verbandspolitischen Ebene war es dem SSV wichtig, dass der Verein als „judenfrei“ gelten konnte – um schweizerischen Autoren den Absatz ihrer Werke in NS-Deutschland zu ermöglichen. Der SSV stand bis gegen Kriegsende in einem freundschaftlichen Verhältnis zur Reichsschrifttumskammer des NS-Staates. Er warnte zudem davor, „die deutsche Literatur mit derjenigen jüdischer Autoren“ zu identifizieren. Auch rassenideologische Leitideen wurden unreflektiert übernommen: So beantwortete der SSV im März 1936 die Frage, ob der emigrierte Fischer-Verlag in der Schweiz Asyl bekommen solle, zwar positiv, doch mit folgenden Worten: „Wenn auch der S. Fischer Verlag nicht in arischen Händen liegt, so muss doch festgestellt werden, das diese Juden ein geistiges Werk geschaffen haben, für das ihnen die Gebildeten aller Konfessionen und Rassen dankbar sein müssen.“ Insgesamt geht aus den Gutachten und der Politik des SSV selten direkt hervor, wie stark Antisemitismus Handeln und Verhalten beeinflusste. Das Argument der „wirtschaftlichen Überfremdung“ beispielsweise konnte die eigentlichen Motive und somit antisemitische Vorurteile verdecken. Zusammen mit einer völkisch-nationalistischen Literaturauffassung verfügten Moeschlin und Naef über ein Argumentarium, das sich
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zur Hauptsache gegen Menschen jüdischer Herkunft richten ließ, ohne dies aber besonders explizit machen zu müssen. Erst ab 1943 vollzieht sich eine langsame Abkehr des SSV von dieser Politik. Franz Beidler, SSV-Sekretär ab 1943, gestand 1965 ein, „dass wir in dem entscheidenden Jahrzehnt 1933–1942 die von uns geforderte Bewährungsprobe nicht bestanden, sondern ziemlich kläglich versagt haben“. Die Gutachtertätigkeit wird jedoch noch bis 1959 weitergeführt. Eine ernsthafte Aufarbeitung setzte erst 1997 im Zuge der internationalen Diskussion um nachrichtenlose Vermögen jüdischer Europäer auf Schweizer Banken ein. Im Verlaufe der intern angestoßenen Debatte entschuldigte sich der SSV für die Politik in den dreißiger und vierziger Jahren. 2003 erfolgte die Vereinigung mit der Gruppe Olten, die sich 1970 vom SSV abgespalten hatte, um gegen seine konservativ-reaktionäre Politik zu protestieren, zum „Schweizerischen Autorinnen und Autoren Verband“.
Stefan Andreas Keller
Literatur Ursula Amrein, „Los von Berlin!“ . Die Literatur- und Theaterpolitik der Schweiz und das „Dritte Reich“, Zürich 2004. Guido Koller, Entscheidungen über Leben und Tod. Die behördliche Praxis in der schweizerischen Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges, in: Studien und Quellen 22 (1996), S. 17–106. Charles Linsmayer, Sie hatten den geistigen Verrat bereits vollzogen, in: Der kleine Bund (Kulturbeilage zum „Bund“), 5. Juli 1997, S. 1–3. Schweizerischer Schriftstellerverband (Hrsg.), „Wir wenden uns gegen die kleinen Zeilenschreiber“. Debatte über die Haltung des SSV während der Nazi-Zeit, in: Forum. Jahrbuch der Schriftstellerinnen und Schriftsteller 11 (1998), S. 73–87.
Sebastian-Tagebuch (Rumänien, 1935–1944) Mihail Sebastian war in den 1930er-Jahren einer der bekanntesten Bukarester Journalisten. Er wurde 1907 als Iosif Hechter in einer jüdischen Mittelschichtfamilie im Donauhafen Brăila geboren. Er studierte in Bukarest Rechtswissenschaften und veröffentlichte Gedichte, Essays und Literaturkritiken. Der damals sehr bekannte Philosophieprofessor Nae Ionescu stellte ihn als Redakteur bei der von ihm herausgegebenen national orientierten Zeitung „Cuvântul“ [Das Wort] ein. Sebastian schloss sich der intellektuellen Gruppe „Criterion“ an, die Vorträge und Diskussionen zu politischen Ideen der Zeit in Bukarest organisierte. Seit 1931 schrieb Sebastian an dem Roman „De două mii de ani“ [Seit zweitausend Jahren], in dem er sich mit dem Verhältnis zwischen Juden und Rumänen beschäftigte. Der Roman wurde erst 1934 publiziert, und Nae Ionescu lieferte dafür als Vorwort ein antisemitisches Pamphlet. Er stellte die Juden als Fremdkörper in der christlichen Gesellschaft Rumäniens dar. Sie müssten aufgrund ihrer Religion leiden, denn sie hätten den Messias verkannt. Sebastian publizierte 1935 eine Entgegnung mit dem Titel „Cum am devenit huligan“ [Wie ich zum Hooligan wurde]. Von jüdischer Seite warf man ihm die Verbindung mit den Rechten um Nae Ionescu vor, einige Rumänen meinten, er habe mit dem Vorwort einen Skan-
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dal provozieren wollen. Sebastian beschrieb den Prozess der Radikalisierung seiner rumänischen Freunde, die sich der Eisernen Garde angeschlossen hatten. Als der Antisemitismus Ende 1937 zur Staatsdoktrin wurde, konnte Sebastian seine Ansichten nicht mehr publizieren. Infolge eines antisemitischen Dekrets wurde ihm 1940 auch die Lizenz als Rechtsanwalt entzogen. Er unterrichtete für einen Hungerlohn an einem jüdischen Gymnasium, um sich und seine Mutter zu ernähren. Trotz der bedrückenden Lebensumstände schrieb er weiterhin. Drei Theaterstücke erschienen unter Pseudonym. Besonders die Liebesgeschichte „Steaua fără nume“ [Stern ohne Namen] erfreute sich 1944 guter Kritiken. Nach dem Sturz Marschall Antonescus wurde Sebastian Presseberater im Außenministerium und arbeitete an einem neuen Theaterstück. Auf dem Weg zur Antrittsvorlesung in der Bukarester Literaturfakultät wurde er im Mai 1945 von einem Lastwagen erfasst und starb mit 38 Jahren. Bekannt wurde Sebastian durch sein 1996 in Rumänien publiziertes Tagebuch, in dem er zwischen Februar 1935 und Dezember 1944 seine Reflexionen notiert hatte. Es ist eine Fundgrube für jeden, der sich für die gesellschaftlichen Entwicklungen jener Jahre in Rumänien interessiert. Es gibt einen Einblick, wie die parlamentarischen Strukturen zerfielen und sich ab 1938 das autoritäre System des Königs und ab 1940 die Militärdiktatur von Ion Antonescu etablierten. Ähnlich wie Victor Klemperer notiert Sebastian die Wirkung der staatlichen Maßnahmen, durch die Juden immer stärker an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Schockiert liest er in einem Buchladen die Liste der verbotenen Autoren, die auch seinen Namen enthält. Er beobachtet während des Bukarester Pogroms im Januar 1941, wie Passanten eine Frau als „Saujüdin“ beschimpfen und ihre Verhaftung veranlassen. Seit Sommer 1941 hält er jede Information fest, die er über die Massenmorde an Juden im Nordosten Rumäniens bekommen kann. Als er sich im Auftrag der Jüdischen Gemeinde an der von Ion Antonescu befohlenen Sammlung von Kleidung für die Frontsoldaten beteiligt, stellt er die Verarmung vieler Juden fest. Bei seiner Tätigkeit als Lehrer befindet er es als grotesk, dass er seinen jüdischen Schülern das Wesen der rumänischen Literatur nahezubringen hat, während diese gerade mit ihren Eltern die Wohnungen für Rumänen räumen müssen. Seit seinem Erscheinen 1996 löste das Tagebuch von Sebastian in Rumänien erstmalig eine breitere Diskussion über den latenten Rechtsradikalismus aus. Die Schriften von intellektuellen Unterstützern der Eisernen Garde wie Nae Ionescu, Mircea Eliade und Emil Cioran waren seit 1990 publiziert worden und damit viele rechte Ideen erneut in Umlauf gekommen. Einige junge Rumänen verehrten die Eiserne Garde, während ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit den Kult um den Staatsführer Rumäniens zwischen 1940 und 1944 förderten. Ion Antonescu wurde 1997 im Parlament als großer Patriot gefeiert, ohne dass die von ihm initiierte Vernichtung von über einer Viertelmillion Juden zur Sprache kam. Doch einige Intellektuelle äußerten nun mit Berufung auf Sebastian die Auffassung, dass Schriftsteller Distanz zur Propaganda der Politiker halten müssten. Diesen Einfluss des Tagebuches verzeichnete die internationale Kommission, die sich 2004 mit dem rumänischen Holocaust auseinandersetzte. Noch vor 2005, als die deutsche Ausgabe von Sebastians Tagebuch erschien, gab es bereits eine französische und englische Übersetzung.
Mariana Hausleitner
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Shoah (Dokumentarfilm von Claude Lanzmann, 1985)
Literatur International Commission on the Holocaust in Romania: Final Report, Iaşi 2005. Mihail Sebastian, Seit zweitausend Jahren. Wie ich zum Hooligan wurde, hrsg. von Daniel Rhein, Paderborn 1997. Mihail Sebastian, „Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt“. Tagebücher 1935–1944, hrsg. von Edward Kanterian, Berlin 2005.
Shoah (Dokumentarfilm von Claude Lanzmann, 1985) Elf Jahre reiste der französische Schriftsteller, Journalist und Dokumentarfilmer Claude Lanzmann in den Jahren 1974 bis 1985 durch die Welt, um überlebende Zeugen des Völkermordes an den europäischen Juden zu befragen. Er besuchte überlebende Opfer in Polen, Israel, den USA, der Schweiz und der Insel Korfu. Darüber hinaus filmte er Stellungnahmen des deutschen Staatsanwalts Alfred Spiess, des Zeithistorikers Raul Hilberg sowie sechs polnischer Bürger (Bauern, Dorfbewohner und Bahnarbeiter), die Zeugen des Geschehens gewesen waren. Auch der ehemalige Diplomat der polnischen Exilregierung, Jan Karski, der die westlichen Regierungen über den Völkermord an den europäischen Juden informiert hatte, kam ausführlich zu Wort. Darüber hinaus spürte Lanzmann fünf Täter der Vernichtung auf, deren Aussagen er teilweise mit verdeckter Kamera filmte. Die Berichte der Zeugen wurden durch Filmaufnahmen an den Orten der Vernichtung in Polen ergänzt und untermalt. Vierzig Jahre nach dem Genozid waren mit Ausnahme des Lagers Auschwitz-Birkenau, das nach dem Krieg in seiner Gesamtheit Gedenkstätte wurde, nur noch wenige bauliche Überreste sichtbar. An den Todesstätten der „Aktion Reinhardt“, Bełźec, Sobibór und Treblinka, in denen in den Jahren 1941/ 1942 schätzungsweise 1,75 Millionen Menschen ermordet worden waren, gab es wie auch in Chełmno kaum noch sichtbare Spuren. Nachwachsende Wiesen, Bäume und Sträucher hatten die Topografie grundlegend verändert und eine idyllische Landschaft entstehen lassen. Immer wiederkehrende Filmaufnahmen fahrender Züge, qualmender Lokomotiven, rangierender Eisenbahnen, Schienen, vorbeirasender Landschaften und abgestellter Güterwaggons sollten die Transporte aus nahezu allen Ländern Europas in die Vernichtungsstätten vergegenwärtigen. Aus 350 Stunden Filmmaterial fasste Lanzmann sein neuneinhalb Stunden dauerndes filmisches Denkmal für die ermordeten Juden Europas zusammen. „Es gibt in Shoah keine Sekunde mit Archivmaterial, weil dies nicht die Art ist, wie ich denke und arbeite“, sagte Claude Lanzmann in einem Interview in „Le Monde“ vom 3. März 1994. Sein Interesse galt dem Gedächtnis der Überlebenden, ihren Erinnerungen an Verfolgung und Todesnähe. Lanzmann gelang es, auch mithilfe von Inszenierungen, die Zeugen dazu zu bewegen, sich in Gedanken in die Kriegsjahre zurückzuversetzen und das durchlittene Grauen in Worte zu fassen. So schnitt der Friseur Abraham Bomba in einem Friseursalon in Israel vor der Kamera die Haare eines Kunden, während er über seine Erinnerungen an Treblinka berichtet. Auch in Treblinka hatte Abraham Bomba als Friseur gearbeitet. Er war gezwungen worden, den Frauen die Haare abzuschneiden, bevor sie in die Gaskammern getrieben wurden. Als ihn
Shoah (Dokumentarfilm von Claude Lanzmann, 1985)
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beim Sprechen Trauer und Verzweiflung überwältigten, bat er Lanzmann, die Aufnahme abzubrechen. Lanzmann insistierte, nicht nur an dieser Stelle, auf für den Zeugen, wie für die Zuschauer, kaum erträgliche Weise, seinen Bericht fortzusetzen, ja er trieb einige überlebende Opfer bis an die Grenze des psychischen Zusammenbruchs. Die Täter der Vernichtung weigerten sich allesamt, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Sie leugneten, relativierten und wiesen eigene Schuld oder Verantwortung weit von sich. Trotzdem schilderte etwa Franz Suchomel, ehemaliger SS-Unterscharführer in Treblinka, detailliert den Ablauf der Massentötung im Vernichtungslager, den er als „primitives, aber gut funktionierendes Fließband des Todes“ bezeichnete. Die Befragung der polnischen Bürger, die auf eine oder andere Weise Zeugen des Geschehens wurden, offenbarte erschreckende Indifferenz gegenüber den jüdischen Opfern und fortbestehende antisemitische Klischees. Ein katholischer Priester bezeichnete den Judenmord gar als „den Willen Gottes“. Die Geschichte Polens während der deutschen Besatzung, des Widerstands und der Verfolgung nichtjüdischer Polen blieb in Lanzmanns Dokumentation unberücksichtigt. Die polnische Regierung protestierte deshalb auch vehement gegenüber der französischen Regierung vor der Uraufführung des Films im Oktober 1985 und verlangte dessen Verbot. Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland war die Rezeption des Filmes zwiespältig. Er wurde in den Dritten Programmen der ARD-Fernsehsender zu ungünstigen Zeiten ausgestrahlt und erreichte kein Massenpublikum. Der Film erhielt jedoch zahlreiche internationale Auszeichnungen. In den darauffolgenden Jahrzehnten schuf Lanzmann mit dem für „Shoah“ gedrehten Material vier weitere Filme zum Thema des nationalsozialistischen Judenmordes: „Ein Lebender geht vorbei/Un vivant qui passe“ (1997), Interviewfilm mit Maurice Rossel, dem Beauftragten des Internationalen Roten Kreuzes während des Zweiten Weltkriegs; „Sobibor, 14. Oktober 1943“ (2001), Dokumentarfilm mit Yehuda Lerner; „Der Karski-Bericht“ (2010), Interviewfilm mit dem ehemaligen Widerstandskämpfer Jan Karski, „Der Letzte der Ungerechten“ (2013), Interviewfilm mit Benjamin Murmelstein, dem letzten Vorsitzenden des Judenrates von Theresienstadt. Mit dem Erscheinen einer DVD im Jahr 2007, der Ausstrahlung der gesamten Dokumentation im Fernsehkanal „arte“ im Jahr 2013 und der Verleihung des Berlinale Ehrenpreises für das Lebenswerk Claude Lanzmanns (2013) erhielt die filmische Dokumentation „Shoah“ in Deutschland erneut öffentliche Aufmerksamkeit. Im Rückblick nach Jahrzehnten, in denen fast alle überlebenden Zeugen, die im Film zu Wort gekommen waren, verstorben waren, hatten die Zeugnisse der überlebenden Opfer zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Gegenüber vielfach misslungener filmischer Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Judenmord in den Jahren seit 1985 hatte sich „Shoah“ als authentisches und bewegendes filmisches Denkmal für die Opfer etabliert.
Barbara Distel
Literatur Barbara Breysach, Schauplatz und Gedächtnisraum Polen. Die Vernichtung der Juden in der deutschen und polnischen Literatur, Göttingen 2005. Catrin Corell, Der Holocaust als Herausforderung für den Film. Formen des filmischen Umgangs mit der Shoah seit 1945. Eine Wirkungstypologie, Bielefeld 2009.
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Shylock
Dominici LaCapra, History and Memory after Auschwitz, Ithaca 1998. Martina Thiele, Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film, Berlin 2007². Waltraud Wende (Hrsg.), Der Holocaust im Film. Mediale Inszenierungen und kulturelles Gedächtnis, Berlin 2007.
Shylock Der Jude „Shylock“ gehört zu den bedeutendsten literarischen Figuren der Weltgeschichte. Er entstammt William Shakespeares Stück „Der Kaufmann von Venedig“ (→ The Merchant of Venice) und tritt dort als Widersacher des christlichen Kaufmanns Antonio auf. Das Antisemitische der Shylock-Figur war lange Zeit entweder gesellschaftlicher Konsens und mithin nicht Thema von Auseinandersetzungen, oder es wurde geleugnet, um das dichterische Genie Shakespeares nicht zu beschädigen, oder es wurde sogar gezielt genutzt, um beispielsweise den zur NS-Staatsdoktrin erhobenen Antisemitismus zu befeuern. Die Auseinandersetzung mit Shylock hält seit nunmehr über 400 Jahren an: Wie der Schriftsteller Philip Roth in „Operation Shylock“ (1993) formulierte, stünde noch heute „der Jude ständig unter Anklage [...], diese Anklage, die nie ein Ende hat, beginnt mit der Anklage Shylocks“. Bis heute zeigen Publikationen, Theaterinszenierungen und Verfilmungen, dass Shylock eine der prägendsten und umstrittensten Figuren der abendländischen Kultur ist. Shylock ist der Jude an sich. Unter den dramatis personae des „Kaufmanns von Venedig“ wird er als „ein reicher Jude“ vorgestellt. Er hat keinen Vornamen und dazu einen Namen, der ganz offensichtlich nicht italienisch ist, ihn mithin zum Fremden macht. Doch selbst diesen Namen nennt niemand der anderen – es ist im dramatischen Dialog fast durchgängig nur vom „Juden“ die Rede. Shylock geht in die Synagoge, doch er ist ein Einzelkämpfer – niemand aus der jüdischen Gemeinde, die ab und zu erwähnt wird, tritt überhaupt auf. Shylock verkörpert sämtliche antijudaistischen Vorstellungen aus Shakespeares Zeiten: Er ist rachsüchtig, betreibt Wucher, hält dies auch noch für richtig, verweigert jede Form von Anpassung, seine Sparsamkeit erscheint als Geiz und Raffgier etc. Der Vertrag, den er mit seinem Konkurrenten Antonio schließt, ist dafür bezeichnend: Antonio bleibt nichts anderes übrig als sich – um einem Freund zu helfen! – Geld bei Shylock zu leihen. Kann er es nicht zurückzahlen, soll Shylock dafür ein Pfund seines Fleisches erhalten. Dies vereint drei antijudaistische Stereotype: Erstens erscheint der Jude als im Geldhandel unentbehrlich. Zweitens ist der Wert des Pfands – das besagte Pfund Fleisch – ein rein symbolischer; „der Jude“ will somit lediglich Rache nehmen und kein ehrliches Geschäft machen. Drittens ist das Herausschneiden des Fleisches ein Symbol für die Beschneidung und verweist auf die schon seit dem Mittelalter in England populären Ritualmord-Legenden, die im Kern alle beinhalten, dass Juden christliches Blut zu rituellen Zwecken brauchen würden. Antonio erniedrigt Shylock bei jeder Gelegenheit: nicht aus individuellen Motiven, sondern weil dies der übliche Umgang mit Juden ist („He hates our sacred nation“, I. Akt, 3. Szene). So dürfte es auch den Zeitgenossen Shakespeares verständlich erschienen sein, dass Shylock Hass auf Antonio hegt. Doch tritt Shylocks Hass ebenfalls
Shylock
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nicht als individuelles Merkmal hervor, sondern als „jüdische“ Eigenschaft („Cursed be my tribe, /If I forgive him!“, I. Akt, 3. Szene). Konsequenterweise verschwindet Shylock aus dem Stück, nachdem er zum Katholizismus konvertieren musste – ohne Judentum gibt es also auch keinen Shylock, was deutlich auf die Konstruktion der Figur als „Juden an sich“, nicht als Individuum verweist. Shakespeare ist aller Wahrscheinlichkeit nach nie einem realen Juden begegnet, da im elisabethanischen England bis auf ein paar christlich getaufte, insgeheim aber weiter der jüdischen Religion anhängende Spanier und Portugiesen gar keine Juden lebten. Doch er vereinte in der Shylock-Figur sämtliche überlieferten Vorstellungen vom Juden, die – da sie nicht an realen Beispielen überprüft werden konnten – gesellschaftlich umso wirkmächtiger waren. So prägte Shylock das Bild vom Juden in England nachhaltig. Ob in den Debatten um die „Jew Bill“ von 1753 oder wann immer es um die Emanzipation der englischen Juden ging: Shylock fehlte nie. Die deutsche Aufklärung – und hier vor allem Lessing – nahm sich einen anderen Aspekt der Figur vor, der in einem der wenigen längeren Monologe, die Shylock halten darf, zutage tritt. Shylock entfaltet hier rhetorische Brillanz und fragt: „Hath not a Jew eyes? hath not a Jew hands, organs, dimensions, senses, affections, passions? fed with the same food, hurt with the same weapons, [...] warm’d and cool’d by the same winter and summer, as a Christian is? [...] if you poison us, do we not die? and if you wrong us, shall we not revenge?“ (III. Akt, 1. Szene). Christen und Juden sind sich menschlich gleich, also sollten sie es, so Shylock, auch rechtlich sein. Hierin wollte man ein Plädoyer für die rechtliche Gleichstellung der Juden, ihre bürgerliche Emanzipation entdecken. Es stimmt, dass Shylock nur für sich in Anspruch nimmt, was der Christen gutes Recht ist. Doch er sinnt auf „jüdische“ Rache, während die Christen von ihm Vergebung und Nächstenliebe verlangen: „We all expect a gentle answer, Jew.“ (IV. Akt, 1. Szene). Damit ist der Kreis der Unvereinbarkeit von Judentum und Christentum geschlossen, das Böse (der Jude) wird durch Konversion zum Guten (Christentum) besiegt und alle sind zufrieden gestellt – selbst Shylock, dessen letzter Satz seine Einverständniserklärung ist. Dies im Sinne einer „bürgerlichen Verbesserung der Juden“ zu deuten, wie sie im Zuge der deutschen Aufklärung Christian Wilhelm Dohm verlangte, ist gewagt: Tatsächlich entspricht es dem theologischen Heilsmuster der katholischen Kirche jener Tage, das Zwangskonversion verbot – daher das „Einverständnis“ Shylocks, notabene angesichts der Alternative, hingerichtet zu werden. Das antisemitische Potenzial Shylocks wurde auch von Antisemiten erkannt: 1943 inszenierte Lothar Müthel am Wiener Burgtheater den „Kaufmann von Venedig“. Shylock wurde von Werner Krauß gespielt, der dem Publikum eine antisemitische Demonstration gab. Seine „Qualifikation“ dafür hatte er als Vizepräsident der nationalsozialistischen Reichstheaterkammer oder in gleich fünf „Judenrollen“ in dem berüchtigten antisemitischen Hetzfilm → „Jud Süß“ (1940) bereits unter Beweis gestellt. Bezeichnend für die Rezeption des Shylock als Judenrolle ist Krauß' Rechtfertigung, die er 1958 in seinen Memoiren „Das Schauspiel meines Lebens“ veröffentlichte, da sie selbst antisemitisch ist. Hier behauptete Krauß nämlich, unter Max Reinhardt habe er 1921 den Shylock frech gespielt, unter Müthel nur dumm, aber: „Die Juden haben mir das mehr übel genommen als das andere.“ Juden war allerdings der Zutritt zum Theater 1943 längst verboten, sodass kein Jude ihn überhaupt in dieser Rolle gesehen hat –
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Silvesterlegende aus der „Kaiserchronik“ (Mitte des 12. Jahrhunderts)
geschweige denn, dass die 1943 im deutschen Machtbereich lebenden und ständig von Deportation und Ermordung bedrohten Juden nicht ganz andere Sorgen gehabt hätten, als sich mit Krauß’ Shylock-Interpretation auseinanderzusetzen und sie mit seiner 22 Jahre älteren Darstellung zu vergleichen. Deutlich zeigt dieses Beispiel, wie der antisemitische Topos der „jüdischen Rachsucht“, ein inhärenter Bestandteil der Shylock-Figur, von Krauß auf das (obendrein imaginäre) jüdische Publikum projiziert wurde. Nach 1945 rückten andere Aspekte der Shylock-Figur in den Vordergrund: Sein verzweifelter Kampf um das Recht machte ihn zum Vorkämpfer gegen Willkürherrschaft und Unterdrückung. Seine Verurteilung und Zwangskonversion ließen ihn als Märtyrer erscheinen. Dass Shylock Jude ist, dient in diesen Interpretationen vor allem als historischer Hintergrund, vor dem das Stück spielt, und nicht mehr als Projektionsfläche, vor der sein Handeln gedeutet wird. So schrieb Erwin Piscator anlässlich seiner Inszenierung des „Kaufmanns“ 1963 in der Freien Volksbühne Berlin im Programmheft: „Diese [...] philosemitische Auffassung des Shakespeareschen Stückes ist unserer Meinung nach die richtige [...] angesichts der historischen Ereignisse.“ Abgesehen davon, dass diese Auffassung allein überhaupt nichts Philosemitisches hat, ist die Neuakzentuierung der Shylock-Figur kein ausschließlich deutsches Phänomen. Dies bewies zuletzt die Verfilmung des „Kaufmanns von Venedig“ von Michael Radford aus dem Jahr 2004, in der Al Pacino als kämpferischer Shylock im Mittelpunkt steht: Sein (werkgetreues) Scheitern verstärkte das Gefühl, mit diesem Kämpfer gegen Unrecht und christlichen Judenhass zu sympathisieren.
Bjoern Weigel
Literatur Zeno Ackermann, Sabine Schülting (Hrsg.), Shylock nach dem Holocaust. Zur Geschichte einer deutschen Erinnerungsfigur, Berlin, New York 2011. Stefana Sabin, „Es ist ein Unmensch keines Mitleids fähig“. Shakespeares Shylock und der Antisemitismusvorwurf, Göttingen 2012. Dietrich Schwanitz, Shylock. Von Shakespeare bis zum Nürnberger Prozeß, Hamburg 1989. James Shapiro, Shakespeare and the Jews, New York 1996. Hermann Sinsheimer, Shylock. Die Geschichte einer Figur, München 1960.
Silvesterlegende aus der „Kaiserchronik“ (Mitte des 12. Jahrhunderts) Als besonders erfolgreiches Werk der frühmittelhochdeutschen Literatur gilt die in Regensburg aus der Feder eines oder mehrerer Geistlichen um die Mitte des 12. Jahrhunderts erwachsene „Kaiserchronik“. Ihr Gegenstand ist ein Ausschnitt der Weltgeschichte, genauer die Geschichte des Römischen Reichs von der Gründung Roms bis zu König Konrad III., wobei, anders als sonst in der mittelalterlichen Chronistik, allein die weltlichen Herrscher, nicht die Abfolge der Päpste, im Fokus der Darstellung stehen. Die Erzählstruktur wird demgemäß durch 36 römische Kaiser von Caesar bis Konstantin (unterbrochen durch ein Interregnum bei ansonsten unproblematischer translatio imperii) und 19 deutsche Kaiser von Karl dem Großen bis Konrad III. gebildet, wobei das byzantinische Kaisertum übergangen ist. Das Zusammenwirken von
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Kaisertum und Papsttum wird als harmonisch gezeichnet. Zweck des umfänglichen, weit mehr als 15.000 Verse umfassenden Werks ist religiöse oder moralisch-erbauliche Belehrung, indem den meisten Herrschern eine exemplarische Erzählung beigegeben wird. Diese Erzählungen fußen großteils auf lateinischer Sagen- und Legendenliteratur. Dabei gehören fast 3.000 Verse der Silvesterlegende. Darin hat man wohl das älteste ausführliche christlich-jüdische Religionsgespräch in deutscher Sprache zu sehen. Konkret geht es um die Wiedergabe einer (fiktiven) Disputation des Papstes Silvester mit einer Anzahl jüdischer Gelehrter, die zunächst von der Kaisermutter Helena unterstützt werden. Inwieweit die „Kaiserchronik“ auf christlich-jüdische Auseinandersetzungen des 12. Jahrhunderts in Regensburg oder darüber hinaus eingeht, wäre anhand der konkreten Quellenverarbeitung zu klären, was aber daran scheitert, dass die genaue Quelle des oder der volkssprachigen Chronisten für die Silvesterlegende nicht mehr greifbar ist. Jedenfalls muss Silvester gegenüber den Juden christliche Dogmen verteidigen, wie beispielsweise die Trinität. Eine ähnliche Konstellation findet sich übrigens später im „Willehalm“ Wolframs von Eschenbach, wo die zum Christentum konvertierte Gyburg ebenso in mittelhochdeutschen Reimpaaren ihren Glauben verteidigt, diesmal gegenüber ihrem muslimischen Vater Terramer; jedenfalls hat die breit überlieferte Kaiserchronik so ein literarisches Modell in der Volkssprache für die christliche Apologetik begründet. Aber nicht die eigentliche Disputation gibt in der Silvesterlegende der „Kaiserchronik“ den Ausschlag, sondern das sogenannte Stierwunder, bei dem ein durch das geflüsterte Wort eines Juden getöteter Stier durch Silvester mithilfe des trinitarischen Gottes wieder zum Leben erweckt wird, obwohl der Stierkadaver schon in Verwesung übergegangen war. Am Ende sind so die Juden durch dieses spektakuläre Wunder gedemütigt, wobei Kaiser Konstantin und Papst Silvester harmonisch als Verteidiger des Glaubens vereint sind, was in der Zeit der Kreuzzüge für ein ritterliches Publikum in mehrfacher Hinsicht nicht ohne Symbolik war (man denke nur an die Judenpogrome zuvor im Gefolge des ersten Kreuzzugs und an die zur Entstehungszeit der „Kaiserchronik“ aktuelle Propaganda im Umfeld des zweiten Kreuzzugs). Obwohl das Werk in Regensburg, das im Chroniktext häufiger erwähnt ist, vielleicht im Umkreis der Welfen schon im 12. Jahrhundert entstand, darf es nicht nur mit dem damaligen und lokalen jüdisch-christlichen Verhältnis kontextualisiert werden. Die „Kaiserchronik“ gehört nämlich zu den erfolgreichsten, meist überlieferten und weitverbreiteten volkssprachigen Werken des Mittelalters überhaupt. Bis ins 14. Jahrhundert erfolgte die Weiterverbreitung. Dabei zeigt die Überlieferungsgeschichte kontinuierliche Anpassungen an neue Rezeptionskontexte. Diese dürften von Anfang an sowohl stille Lektüre als auch die Rezeption oraler Präsentation gewesen sein. Insgesamt kann daher die Breitenwirkung der Kaiserchronik als volkssprachiges Werk im Hoch- und Spätmittelalter als sehr groß veranschlagt werden. Dies ist für die Wahrnehmung der enthaltenen Silvesterlegende und des darin transportierten Judenbildes entscheidend. Von daher ist damit zu rechnen, dass die christlich-jüdischen Auseinandersetzungen mit der vorgeführten Überlegenheit des Christentums und der Desavouierung der Juden breiten illitteraten Eliten, also dem weltlichen Adel in Hoch- und Spätmittelalter als Träger politischer Entscheidungen, durchaus vertraut waren.
Klaus Wolf
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Simpl (Wiener Kabarettbühne)
Literatur Vera Milde, si entrunnen alle scentlichen dannen. Christlich-jüdischer Disput in der Silvesterlegende der ‚Kaiserchronik‘, in: Ursula Schulze (Hrsg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen, Tübingen 2002, S. 13–34. David A. Wells, Christliche Apologetik, die mittelhochdeutsche Silvesterlegende, Wolframs von Eschenbach ‚Willehalm‘ und die Toleranz gegenüber Andersgläubigen im Mittelalter, in: Mediaevistik. Internationale Zeitschrift für interdisziplinäre Mittelalterforschung 14 (2001), S. 179–224. Christiane Witthöft, Zwischen Wahrheitssuche und Wunderglauben. Die christlich-jüdische Disputation der Silvesterlegende in der ‚Kaiserchronik‘, in: Marion Gindhart, Ursula Kundert (Hrsg.), Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur, Berlin, New York 2010, S. 291–310. Jürgen Wolf, Die Kaiserchronikfassungen A, B und C. Oder: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: Michael Szurawitzki, Christopher M. Schmidt (Hrsg.), Interdisziplinäre Germanistik im Schnittpunkt der Kulturen. Festschrift für Dagmar Neuendorff zum 60. Geburtstag, Würzburg 2008, S. 91–108.
Simon i Backabo (Film, 1934) → Schwedische Kinoproduktionen
Simpl (Wiener Kabarettbühne) Das bis heute existierende „Simpl“ in der Wiener Innenstadt gilt als langlebigstes deutschsprachiges Kabarett. 1912 inspirierte die in München von Albert Langen und Thomas Theodor Heine (eigentlich David Theodor Heine) herausgegebene Satirezeitschrift „Simplicissimus“ zu dieser Kabarettgründung. Der Schauspieler und Regisseur Eugen Dorn eröffnete das „Biercabaret Simplicissimus“, kurz „Simpl“. Es fungierte als Treffpunkt für ein breites bürgerlich-intellektuelles Publikum, das Satire und Kritik schäzte, allerdings in heiter-vergnüglicher Inszenierung. Dorns Anspruch war, literarisch amüsante Abende mit Geist, Witz und Humor „unter Ausschluß der Zote“ zu bieten. Egon Friedell, Lina Loos, Josma Selim, um nur einige zu nennen, traten im „Simpl“ auf. Wien verfügte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts über außerordentlich viele Satirezeitschriften, die zu einem ebenfalls bemerkenswert hohen Prozentsatz antisemitisch waren. Das „Simpl“ hingegen scheint sich hier als Gegenkonzept etabliert zu haben, denn das satirische Spiel mit dem Antisemitismus seitens jüdischer Komiker galt als ein Merkmal dieses Kabaretts. Dabei handelte es sich nicht um scharf formulierte Positionen, sondern um den spielerischen Umgang mit antisemitischen Klischees und Vorurteilen. Prägend hierfür waren die vor allem auch in Berlin populären Wiener Kabarettisten wie Fritz Grünbaum (Franz Friedrich Grünbaum 1880–1942), Armin Berg (Hermann Weinberger 1883–1956), Paul Morgan (Georg Paul Morgenstern 1886– 1938) und Karl Farkas (1893–1971). Ihr Witz war eine spezifische Mischung aus Wien-Klischees, Selbstironie und subtiler Zeitkritik. Grünbaum trat erstmals im Dezember 1914 mit Gedichtprogrammen auf, bis 1938 war er Autor und Conferencier, kurzfristig auch künstlerischer Leiter im „Simpl“. Farkas begann seine Karriere am „Simpl“ 1922 als sogenannter Blitzdichter. Das Publikum rief ihm einzelne Wörter,
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Namen oder Phrasen zu – die er zu einem Gedicht improvisierte. Grünbaum, der mittlerweile als Operettenlibrettist und Kabarettist vor allem auch in Berlin äußerst erfolgreich war, kommentierte Farkas Blitzgedichte. Dieses Zusammenspiel perfektionierten beide, ihre Doppelconferencen wurden zum Markenzeichen eines atemberaubend schnellen Wortwitzes, indem parallel Zeitkritik verborgen war. In der krisenhaften Atmosphäre der 1930er-Jahre arbeiteten sie mit dem Format Revue: „Wir fallen aus dem Rahmen“, „Ali Farkas und die 40 Räuber“, „Man neckt uns am Mars“, „Prüfen Sie selbst“, „Wir sehen Gespenster“, „Robinson Farkas auf der Grünbaum Insel“ lauteten die Titel. Am 10. März 1938 hatte ihre letzte gemeinsame Revue „Metro Grünbaum-Farkas höhnende Wochenschau“ Premiere. Fritz Grünbaum soll nach einem Kurzschluss in den verdunkelten Zuschauerraum gesagt haben: „Ich sehe gar nichts, absolut gar nichts, da muss ich mich in die nationalsozialistische Kultur verirrt haben.“ Grünbaum wurde nach dem „Anschluss“ – nach einem misslungenen Fluchtversuch – verhaftet, im „Völkischen Beobachter“ erschien eine Verhöhnung von Grünbaum als Aufmacher. Er wurde zuerst nach Dachau deportiert, dann nach Buchenwald. In Dachau war auch Paul Morgan inhaftiert, der im Dezember 1938 starb. Grünbaum spielte sowohl in Dachau als in Buchenwald für seine Mithäftlinge kurze Sketche und Improvisationen. Fritz Kleinmann überlieferte den Eindruck, den Grünbaum hinterließ: „Das war große Kunst, in einer überfüllten Stube, als Bühne einen Tisch. Ohne Utensilien, von den schrecklichen Strapazen der täglichen Arbeit ermüdet, erschöpfte Menschen in Heiterkeit zu versetzen.“ Ende 1940 wurde er schwer entkräftet nach Dachau gebracht, wo er im Januar 1941 starb. Im „Simpl“ selbst ging der Spielbetrieb nach der „Arisierung“ von 1939 bis April 1945 als NS-Kabarett ungebrochen weiter. 10 Tage nach der Befreiung Österreichs durch die Alliierten, am 18. Mai 1945 erfolgte unter dem Titel „In memoriam Fritz Grünbaum“ die Neueröffnung. Einerseits zeichnete sich die Programmatik durch die Erinnerung an die ermordeten und vertriebenen Künstler aus, andererseits war der „Simpl“ Auftrittsort für Remigranten. Von 1950 bis zu seinem Tod 1971 prägte Karl Farkas als künstlerischer Leiter, Autor und Conferencier das Kabarett. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil in den USA versuchte er mit einem Team u. a. aus Hugo Wiener, Cissy Kraner, Ernst Waldbrunn, Gerhard Bronner und Maxi Böhm Humor mit Zeitkritik zu verbinden. Nach seinem Tod erinnerte Friedrich Torberg an die Bedeutung von Karl Farkas Arbeit am „Simpl“, nämlich als letzter Vertreter eines von Grünbaum, Berg, Friedell, Morgan und den vielen ermordeten jüdischen Kabarettisten geprägten Stils heiter-literarischen, geistreichen Witzes Alltag wie Weltgeschichte zu kommentieren.
Birgit Peter
Literatur Marie-Theres Arnbom, Christoph Wagner-Trenkwitz (Hrsg.), „Grüß mich Gott!“ Fritz Grünbaum. Eine Biographie 1880–1941, Wien 2005. Marcus G. Patka, Alfred Stalzer (Hrsg.), Die Welt des Karl Farkas, Wien 2001. Walter Rösler (Hrsg.), Gehn ma halt a bisserl unter. Kabarett in Wien von den Anfängen bis heute, Berlin 1991.
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Soll und Haben (Roman von Gustav Freytag, 1855)
Sobibor, 14. Oktober 1943 (Dokumentarfilm von Claude Lanzmann, 2001) → Shoah Söder om landsvägen (Film, 1936) → Schwedische Kinoproduktionen
Soll und Haben (Roman von Gustav Freytag, 1855) „Soll und Haben“ von Gustav Freytag (1816–1895) ist einer der erfolgreichsten Romane des 19. Jahrhunderts. Er hatte nachhaltigen Einfluss auf die Haltung des deutschen Bürgertums. Seit seiner Veröffentlichung 1855 war er heftig umstritten, und bezeichnenderweise stiegen die Verkaufszahlen des Buches besonders in jenen Jahren rapide an, in denen sich die antisemitische Stimmung in Deutschland verschärfte. Schon damals und besonders nach 1945 war die Darstellung der Juden Kritikpunkt des Romans. Anton Wohlfart, der Held in „Soll und Haben“, tritt zu Beginn des Romans als Lehrling in das Kontor von Herrn T. O. Schröter in Breslau ein. Auf dem Weg dorthin lernt er Lenore von Rothsattel kennen, in die er sich verliebt. Auch trifft er Veitel Itzig, einen jüdischen ehemaligen Schulkameraden. Anton arbeitet gewissenhaft im Kontor. Neben seinem neuen Freund, Fritz Fink, lernt er auch Bernhard kennen, den Sohn des jüdischen Kaufmanns Hirsch Ehrenthal. Die jungen Männer sind sich sofort sympathisch. Veitel Itzig landet indes bei Vater Ehrenthal in der Kanzlei. Er wird für Handlangerdienste und zum Schuhe Putzen eingesetzt. Ein wenig kaufmännisches Wissen muss er sich bei dem ehemals erfolgreichen Rechtsanwalt Hippus erkaufen, der sein Ansehen jedoch wegen unehrlicher Geschäfte verloren hat. Als Baron Rothsattel aufgrund verschwenderischer Lebensweise und äußerst unkluger Entscheidungen in Geldsorgen gerät, macht er Geschäfte mit Ehrenthal, der von Itzig mittlerweile stark beeinflusst wird. Die Schulden drücken den Baron immer schwerer, und obwohl Ehrenthal weiß, dass die Forderungen nicht beglichen werden können, rät er ihm zum Bau einer Fabrik, in der Hoffnung, das Rothsattelsche Gut übernehmen zu können. Wohlfart ist inzwischen im Kontor hoch geachtet. Als sein Freund Bernhard von den Intrigen gegen Baron Rothsattel erfährt, will er seinen Vater davon abbringen. Durch Veitel Itzig scheitert dieser Versuch. Bernhard stirbt kurze Zeit später. Gutsherr Rothsattel versucht, sich zu erschießen, überlebt dies aber. Anton verlässt daraufhin das Kontor Schröter und unterstützt die bankrotte Familie Rothsattel, bricht dies aber wegen schwerwiegender Vorwürfe des Barons nach einiger Zeit ab. Fritz Fink rettet das Gut und nimmt Lenore zur Frau. Itzig hingegen wird wegen dubioser Geschäfte polizeilich verfolgt und kommt dabei um. Später wird Anton von Schröter in die Geschäftsführung aufgenommen und heiratet Sabine, die Schwester des Inhabers. Die Figuren des Romans werden von Freytag in drei Gruppen unterteilt: die bürgerliche Welt, Adel und Juden. Die bürgerliche Kaufmannsfamilie Schröter steht für Ordnung, Ehrlichkeit und bürgerliche Tugenden. Die jüdische Familie Ehrenthal stellt die unangepasste, nach materiellem Reichtum strebende und unehrliche Gruppe dar. Den Adel repräsentiert die Familie Rothsattel. Sie lebt abgeschottet vom Bürgertum und fordert Privilegien. Der Held des Romans ist Anton Wohlfart, der sich vom verträumten Illusionisten zum fleißigen Kaufmann entwickelt.
Soll und Haben (Roman von Gustav Freytag, 1855)
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Besonders seit den 1970er-Jahren wurde Gustav Freytag vorgeworfen, in seinem Buch antisemitische Stereotype bedient zu haben. So stellen die Juden eine Gruppe dar, die von Natur aus einzig auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Ihr Bestreben ist es ausschließlich, ihre Geldgier zu befriedigen. Dabei sind ihnen auch unlautere Mittel recht. Am negativsten ist dieses Bild bei Veitel Itzig gezeichnet, er ist ausgestattet mit der „Tugend, nie zu ermüden, ist […] den ganzen Tag auf den Beinen, läuft um wenige Groschen zehnmal denselben Weg, freut sich wie ein König, um einen eroberten Taler“. Zudem zeigt der Autor eine stark antislawische Haltung. Er spricht „den Polen“ jegliche Kultur und Tüchtigkeit bei der Arbeit ab. Als Lösung sieht er eine Anpassung an das deutsche Bürgertum, dem er generell einen deutlich höheren Arbeitsfleiß zuspricht. Daneben lässt der Autor allerdings auch jüdische und polnische Charaktere auftreten, die sich anders verhalten, wie etwa Bernhard, den intellektuellen Sohn Hirsch Ehrenthals, der die Geldgier und die skrupellosen Geschäfte seines Vaters aufs Schärfste verurteilt, sowie einen polnischen Offizier, der Anton und dessen Kontor mehrmals vor dem polnischen Pöbel schützt. Einerseits befinden sich diese Figuren in der Minderheit, andererseits bekräftigen die „Ausnahmen“ das jeweilige Stereotyp. Auffällig bei den Judenfiguren im Roman ist besonders die Sprache, die sie verwenden. Bis auf Bernhard scheint niemand von ihnen in der Lage zu sein, einen korrekten Satz in deutscher Sprache zu sprechen. Freytag lässt sie ein deformiertes Deutsch mit angeblich typisch jüdischen Satzstellungsfehlern sprechen. Im Gegensatz dazu kommunizieren alle anderen, einschließlich der schlesischen Lagerarbeiter des Kontors Schröter, in reinem Hochdeutsch. Die Juden werden somit als gesonderte Gruppe kenntlich gemacht. Sie erscheinen je nach Kontext lächerlich oder besonders bösartig. Freytag verwendet in seinem Roman sogenannte sprechende Namen, indem er die Figuren in einer Art benennt, dass diese Anhaltspunkte für die Sympathie und Antipathie des Autors geben. Der Name „Anton Wohlfart“ zum Beispiel steht programmatisch für deutschen Biedersinn, „T. O. Schröter“ für Verlässlichkeit, Ordnung und Seriosität. Anders dagegen die jüdischen Namen. „Veitel Itzig“, „Löbel Pinkus“, „Schmeie Tinkeles“ und „Mausche Fischel“ sind allesamt Verballhornungen hebräischer Vornamen in diskriminierender Form. Familie Ehrenthal hingegen trägt einen typisch jüdischen Kunstnamen der Emanzipationsphase der Juden. Nur der Vorname „Hirsch“ verweist auf die jüdische Abstammung der Bezeichneten. Eine Ausnahme stellt wiederum der Sohn „Bernhard“ dar, dessen christlicher Vorname seine weitgehend vollzogene Assimilation dokumentiert. Die beiden weiblichen Familienmitglieder „Rosalie“ und „Sidonie“ stehen mit ihren pompösen Vornamen und dem dann folgenden Kunstnamen für die Differenz zwischen Abstammung und Anspruch, der sich auch in ihrem Charakter widerspiegelt. Ihre Domäne ist nicht die Welt des Geldes, sondern die des „Status“. Sie ringen um gesellschaftliche Akzeptanz und bemühen sich, bürgerliche oder auch adlige Verhaltensweisen nachzuahmen. Freytag scheut sich nicht, ihre vermeintlichen Erfolge der Lächerlichkeit preiszugeben, ihre Bildung beschränkt sich auf das Einüben von „modernen“ Klavierstücken. Rosalie wird als eine „Schönheit, eine große, edle Gestalt mit glänzenden Augen, dem reinsten Teint und einer nur sehr wenig gebogenen Nase“ beschrieben. Sie ent-
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Das Spinnennetz (Roman von Joseph Roth, 1922/23)
spricht dem Klischee der „schönen Jüdin“. Das Äußere von Veitel Itzig ist wenig anziehend, er hat krauses rotes Haar, ist hager und bleich, seine Kleider sind abgetragen und passen schlecht. Wichtiger ist ihm, dass das Ziel aller seiner Tätigkeiten der Erwerb von Geld ist, zum Schaden anderer. Anton Wohlfart dagegen ist selbstverständlich ein „schmucker Jüngling“. Auch die zurückhaltende Schönheit von Sabine wird gerühmt. Der Gegensatz lässt sich auch bei den Häusern finden: In den jüdischen Häusern ist es schmuddelig, sie sind geschmacklos eingerichtet, in den Bürgerhäusern ist es bescheiden bzw. zurückhaltend elegant. Dem ästhetisch abstoßenden Äußeren von Veitel Itzig und den anderen Juden im Roman entspricht ihre moralische Verworfenheit: Freytag bestätigt mit seiner Darstellung das Stereotyp vom raffgierigen und hemmungslosen Juden. Er kontrastiert in der Romanhandlung die traditionelle patriarchalische Wirtschaftsgesinnung mit der neuen kapitalistischen Marktwirtschaft und ihrem Bank-, Kredit- und Börsenwesen. Dabei nutzt er die Judenfiguren als Sündenböcke für die mit der kapitalistischen Umwälzung einhergehenden Erschütterungen des alten stadtbürgerlichen Kaufmannslebens. Für die jüdischen Kleinhändler (Tinkeles, Pinkus) und die großen Geschäftsleute (Ehrenthal) sind „krumme Geschäfte“ dabei üblich: „Doch war ersichtlich, daß weder die starke, wie fettig glänzende Figur des ehrsamen Pinkus selbst, noch die dicke Halskette seiner Frau ihre solide Pracht aus dem Branntweingeschäft allein herleiteten.“ Veitel Itzig versucht mit allen Mitteln, Reichtum zu erlangen. Im Gegensatz zu den anderen jüdischen Protagonisten, Bernhard Ehrenthal ausgenommen, stellt er eine ernsthafte Gefährdung der bürgerlichen Ordnung dar.
Ramona Ehret
Literatur Martin Gubser, Literarischer Antisemitismus, Göttingen 1998.
Das Spinnennetz (Roman von Joseph Roth, 1922/23) In dem ersten Roman Joseph Roths (1894–1939) aus dem Jahr 1922/23, der in Fortsetzungen in der Wiener „Arbeiter-Zeitung“ erschien, zeichnet Roth das Portrait des enttäuscht und verunsichert aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrten Reserveleutnants Lohse und dessen Entwicklung zum Nationalsozialisten und Antisemiten. Der in vielerlei Hinsicht zu kurz gekommene Theodor Lohse, dessen Mutter und Schwestern ihm „nicht verzeihen, dass er nicht seine Pflicht, als Leutnant und zweimal im Heeresbericht genannter Held zu fallen, erfüllt hatte“, ist von Neid auf alle vermeintlich und tatsächlich besser Gestellten zerfressen. Der Jurastudent muss seinen Unterhalt als Nachhilfelehrer im Hause des gutsituierten jüdischen Juweliers Efrussi bestreiten, begehrt dessen Frau und beneidet den selbstbewussten Sohn. Sozioökonomische und sozialpsychologische Faktoren bestimmen den Antisemitismus Lohses und lassen ihn Stellvertreter für die vielen gescheiterten und orientierungslosen Mittelständler sein, die in den Jahren der Weimarer Republik im Antisemitismus ihr Ventil fanden und die Roth bereits 1920 in seinem Artikel „Die reaktionären Akademiker“ in „Der Neue Tag“ beschreibt.
Das Spinnennetz (Roman von Joseph Roth, 1922/23)
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Kleingeist Lohse erschafft sich selbst, ängstlich und hilflos ohne einen Vorgesetzten, mit der eigenen Karriere zum Mächtigen: „Er, den jede neue Situation überraschte, erschüttern konnte, jetzt erfand er selbst neue Situationen.“ Sein Anschluss an eine rechtsradikale Geheimorganisation und sein republikfeindliches und antisemitisches Engagement bieten ihm die Möglichkeit zur Karriere, für die er tatsächlich über Leichen geht. Diesem nationalsozialistischen Prototyp stellt Roth mit dem Spion und Anarchisten Benjamin Lenz ein Portrait des zeitgenössischen antisemitischen Stereotyps vom schlauen und rücksichtslosen Ostjuden an die Seite – aber auch gegenüber –, der nur auf den eigenen Vorteil bedacht, mit allen und gegen alle politischen Lager arbeitet und keinerlei Skrupel oder Moral zu kennen scheint. „Seine Idee hieß: Benjamin Lenz. Er hasste Europa, Christentum, Judentum, Monarchen, Republiken, Philosophie, Parteien, Ideale, Nationen. […] Er war klüger als Politiker, Journalisten und alles, was Gewalt hatte. Er probte seine Kraft an ihnen.“ Die weiteren jüdischen Protagonisten Juwelier Efrussi, der antisemitische Dr. Trebitsch, der sanfte, intellektuelle Goldscheider und der pfiffige Journalist Pisk markieren unterschiedliche Stadien oder Formen der jüdischen Assimilierung, die über die finanzielle oder tatkräftige Unterstützung der rechtsradikalen Kräfte bis hin zum „jüdischen Selbsthass“ geht. Diese Figuren verdeutlichen in ihren unterschiedlichen und zum Teil drastischen Formaten aber auch die Schwierigkeiten für Juden, gerade aus Osteuropa, sich in der zeitgenössischen deutschen Gesellschaft zu behaupten. Die Balance zwischen Assimilation und Selbstbehauptung gelingt nur schwer – noch schwerer erscheint nur der schmale Grad zwischen Anpassung und Selbstverleugnung. Das Fazit des Romans ist düster, einzig Benjamin Lenz scheint mit seiner anarchistischen und subversiven Taktik der Zeit und der deutschen Gesellschaft gewachsen, und sein Hass auf Europa und die dort lebenden Menschen ist grenzenlos. „Wie liebte Benjamin Theodor, den gehassten Europäer, Theodor: den feigen und grausamen, plumpen und tückischen, ehrgeizigen und unzulänglichen, geldgierigen und leichtsinnigen, den Klassenmenschen, den gottlosen, hochmütigen und sklavischen, getretenen, strebenden Theodor Lohse! Es war der europäische junge Mann: national und selbstsüchtig, ohne Glauben, ohne Treue, blutdurstig und beschränkt.“ Joseph Roth verdeutlicht im „Spinnennetz“ zum einen die Entwicklung des enttäuschten Leutnants Lohse, paradigmatisch für die vielen frustrierten Republikfeinde, die glühende Antisemiten und Anhänger der Nationalsozialisten wurden. Zum anderen porträtiert er mit den jüdischen Figuren alle stereotypen Bilder ostjüdischer Intellektueller, Bürgerlicher, Religiöser und mit der Figur des Benjamin Lenz einen Menschen hassenden Dämon, der an das antisemitische Feindbild der Weisen von Zion erinnert. Wenige Tage nach Erscheinen des letzten Romanauszuges in der Wiener „ArbeiterZeitung“ versuchen Hitler und Ludendorff den Putsch in München, was dem Roman einen bedrohlichen Realitätsbezug bescherte und auch Joseph Roths Gespür für das drohende Unheil seiner Zeit verdeutlicht.
Katharina Kretzschmar
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Die Stadt ohne Juden (Roman von Hugo Bettauer, 1922)
Literatur Katharina Ochse, Joseph Roths Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, Würzburg 1999. Wolf R. Marchand, Joseph Roth und völkisch-nationalistische Wertbegriffe. Untersuchungen zur politisch-weltanschaulichen Entwicklung Roths und ihrer Auswirkung auf sein Werk, Bonn 1974.
Spuren der Gerechtigkeit (Dokumentarfilm von Marcel Ophüls, 1976) → The Memory of Justice
Die Stadt ohne Juden (Roman von Hugo Bettauer, 1922) Der Roman des Wiener Publizisten Hugo Bettauer „Die Stadt ohne Juden“ erschien 1922 und wurde 1924 verfilmt. Er beschreibt die politische Durchsetzung der Vertreibung der gesamten jüdischen Bevölkerung aus einer fiktiven Republik. Der Roman und seine filmische Umsetzung verstehen sich als künstlerische Auseinandersetzungen mit dem politischen Antisemitismus. Dabei werden zeitgenössische antisemitische Stereotype aufgegriffen und reflektiert, gleichermaßen aber auch in einer satirischen Zuspitzung reproduziert. Sowohl der Roman als auch der Film provozierten heftige Reaktionen. Die Geschichte spielt „irgendwann in der Zukunft“ im Staat Utopia, der unschwer als Chiffre für Österreich in der Zwischenkriegszeit zu erkennen ist. Als Reaktion auf eine wirtschaftliche und politische Krise beschließt der Ministerpräsident, sämtliche Juden, denen die unzufriedene Bevölkerung die Schuld an der Notsituation gibt, auszuweisen. Infolgedessen erlebt der Staat einen Kollaps der Wirtschaft, der Kultur und des gesamten öffentlichen Lebens. Das Ausland boykottiert den Handel mit der Republik Utopia, es kommt zur Verdorfung der Hauptstadt, zu Teuerung und Schleichhandel. So wird am Ende auch den meisten Antisemiten bewusst, dass die Ausweisung der Juden die Krise nicht gelöst, sondern verschärft hat. Das Parlament hebt seinen Beschluss also wieder auf. Um die Mehrheit für diese Aufhebung zu sichern, wird der für den Beschluss der Ausweisung maßgebende antisemitische Abgeordnete überlistet. Er endet mit seinen antisemitischen Wahnvorstellungen in einer psychiatrischen Anstalt. Der Autor des Romans, Hugo Bettauer, war zur Zeit seines Erscheinens eine der schillerndsten und umstrittensten Personen der Wiener Kulturszene. Bettauer war bekannt als Herausgeber sexualliberaler Zeitschriften, als sozial und politisch engagierter Boulevardjournalist und als Autor von Fortsetzungs- und Kolportageromanen. Der konservativen und deutschnationalen Presse galt er als typisches Beispiel „jüdischer Unmoral“. Seine Zeitschriften gerieten wegen ihrer Freizügigkeit – wegen der Kontaktanzeigen wurde Bettauer „Kuppelei“ vorgeworfen – immer wieder ins Visier der Zensurbehörden. Im Lauf des Jahres 1924 spitzte sich die politische Auseinandersetzung um Bettauers Zeitschrift „Er und Sie – Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik“ (später „Bettauers Wochenschrift“) dramatisch zu. Bettauer setzte sich darin für ein modernes Scheidungsrecht, legalen Schwangerschaftsabbruch und Straffreiheit für homosexuelle Beziehungen ein. Die christlich-konservative, deutschnationale und na-
Die Stadt ohne Juden (Roman von Hugo Bettauer, 1922)
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tionalsozialistische Presse war voller wüster Beschimpfungen gegen den Herausgeber, in manchen Artikeln wurde offen zu Lynchjustiz aufgerufen. Am 10. März 1925 setzte der junge Zahntechniker und NS-Sympathisant Otto Rothstock diese Aufrufe in die Tat um und fügte Bettauer in seinem Büro mehrere Schussverletzungen zu, denen er am 26. März 1925 erlag. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass die rechte und konservative Presse den Roman „Die Stadt ohne Juden“ nach seinem Erscheinen als „Ausdruck jüdischer Verworfenheit und Verkommenheit“ kommentierte, der „alles arische Empfinden verhöhnt, verspottet und in den Kot gezerrt“ habe. Liberale oder sozialdemokratische Kommentatoren bewerteten den Roman differenzierter: Bettauer habe mit dem allgegenwärtigen Antisemitismus „das Thema des Tages herausgefunden“ und es „mit überraschendem psychologischem Scharfsinn“ literarisch verarbeitet, gleichzeitig wurde die mäßige Qualität dieser Auseinandersetzung bemängelt. Einen besonderen künstlerischen Anspruch stellte auch der Autor selbst nicht an sein Werk: Er habe ein „ganz amüsantes Romänchen hingehaut“, meinte Bettauer, das in einer „durch eine harmlose Romanhandlung zusammengehaltene Skizzenreihe ein kinematographisches Bild der Stadt Wien zeigt, wie sie ohne Juden aussehen würde“. Die heftige Kontroverse um Bettauers brisanten Roman machte ihn zu einem Bestseller, in den ersten beiden Jahren wurden 250.000 Exemplare des Buches verkauft. Angesichts dieses Erfolges begannen bald die Arbeiten an einer filmischen Umsetzung des Romans. „Die Stadt ohne Juden“ (Regie: Hans Karl Bresslauer) wurde schon vor der Premiere als „Tendenzfilm“, also als Film, der ein gesellschaftlich umstrittenes politisches Thema behandelt und dazu Stellung bezieht, angekündigt. Der Inhalt des Romans wurde adaptiert und gekürzt, um die ohnehin dichte Handlung nicht zu überfrachten und den Stoff so für ein Massenpublikum tauglicher zu machen. Außerdem wurden viele politische Anspielungen aus dem Buch entfernt, wohl um nicht in Konflikt mit der Zensur zu geraten. Während im Roman die politischen Parteien klar benannt werden und viele Romanfiguren recht einfach realen Personen zuzuordnen sind, wird im Film einzig die antisemitische Deutschnationale Partei beim Namen genannt. Überhaupt wird die gesamte Handlung als Traum eines antisemitischen Abgeordneten gerahmt, der sich am Ende geläutert gibt. So wurde – wie es Bettauers Wochenschrift in einer Ankündigung zusammenfasste – „das Allzupolitische [...] eliminiert und das Humoristische verstärkt“, damit der Film unterhält und fesselt, „ohne bei irgend jemandem Anstoß erregen zu können“. Trotz des Versuchs, einen möglichst leicht konsumierbaren Film zu produzieren, wurde dieser weitgehend kritisch rezipiert. Er stoße durch seine „grelle Karikaturistik“ beide Lager – also sowohl die Antisemiten als auch ihre Gegner – vor den Kopf. So merkte ein sozialdemokratischer Filmkritiker trocken an, dass der „antisemitelnde, gegen den Antisemitismus gerichtete Film [...] auch rein filmmäßig miserabel“ sei. Dieses harte Urteil mag auch damit zusammenhängen, dass die gezeigten Kopien des Filmes überhastet produziert und fast durchgehend überbelichtet waren. Der Film geriet rasch in Vergessenheit und wurde 1933 in Amsterdam anlässlich der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland gezeigt – und wieder wenig wohlwollend aufgenommen. Der Film sei wenig geeignet für den Zweck, auf die
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Der Stellvertreter (Drama von Rolf Hochhuth, 1963)
Situation der Juden in Deutschland aufmerksam zu machen, weil er mehr komische als tragische Szenen zeige. 1991 tauchte der verschollen geglaubte Film wieder auf, wurde im österreichischen Fernsehen gezeigt und als „prophetische Vision“ des Autors interpretiert. Auch der Untertitel des Romans – „Ein Roman von Übermorgen“ – legt diesen Schluss nahe. Der Germanist Murray G. Hall, der sich intensiv mit dem Werk Bettauers beschäftigt hat, merkt dazu an, dass „Die Stadt ohne Juden“ sich satirisch mit dem omnipräsenten Antisemitismus der 1920er-Jahre auseinandersetzen würde. Der Eindruck des „Prophetischen“ entstehe erst aus dem gegenwärtigen Blick mit dem Wissen um die Shoah.
Peter Larndorfer
Literatur Guntram Geser, Armin Loacker (Hrsg.), Die Stadt ohne Juden, Edition Film und Text 3, Wien 2000. Murray G. Hall, Hinaus mit den Juden! Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand, in: Frank Stern, Barbara Eichinger (Hrsg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien 2009.
Die Stadt ohne Juden (Film von Hans Karl Bresslauer, 1924) → Die Stadt ohne Juden (Roman) Stärker als Paragraphen (Film von Jürgen von Alten, 1936) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Der Stellvertreter (Drama von Rolf Hochhuth, 1963) Der Eichmann-Prozess stellte 1961 der deutschen wie der Weltöffentlichkeit das Ausmaß und die perfekte bürokratische Organisation der „Endlösung“ deutlich vor Augen und bewirkte die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Es war vor allem das Theater, das nach der Mitschuld von Personen und Institutionen an der Verfolgung und Ermordung der Juden fragte. Unter den moralisch-rigoristischen Dokumentationsdramen hatte Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerspiel“ durch die Radikalität und die Personalisierung seines Angriffs gegen das Oberhaupt der katholischen Kirche die größte Wirkung. Rolf Hochhuth (geboren 1931) verfasste sein Stück auf der Basis eines Quellenstudiums in Vatikanischen Archiven und der damals vorliegenden wissenschaftlichen Literatur zum Holocaust, nachdem der Gerstein-Bericht sein Interesse an dem Thema geweckt hatte. Er fügte der Textausgabe des Stückes einen über 50-seitigen Anhang bei, die „Historischen Streiflichter“, die seine Darstellung wissenschaftlich absichern sollten, um deren Brisanz er wusste. Der Text war 1961 fertig, und der zum Bertelsmann-Konzern gehörende Verlag Rütten und Loening wollte ihn herausbringen, nahm aber aus juristischen Gründen wieder Abstand. Der Verleger Ledig-Rowohlt entschloss sich dann zur Herausgabe des Buches und gewann den Intendanten der Freien Volksbühne Berlin, Erwin Piscator, das Stück gleichzeitig mit der Buchveröffentlichung am 20. Februar 1963 uraufzuführen.
Der Stellvertreter (Drama von Rolf Hochhuth, 1963)
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Den Stoff des „Stellvertreters“ bildet im Kern das Handeln bzw. Schweigen von Papst Pius XII. (Eugenio Pacelli) angesichts des Holocaust, insbesondere der Deportation der Juden Roms im Oktober 1943. Der Handlungsrahmen reicht von August 1942 bis Oktober 1943. Stehen also Papst, Vatikan und Kirche in ihrem Verhältnis zum Dritten Reich und zur Judenverfolgung im Mittelpunkt, so geschieht dies vor dem Hintergrund der deutschen Politik und Verfolgungspraxis, in der Sklavenarbeit, die Rolle der Industrie und schließlich das Vernichtungslager Auschwitz selbst im Stück vorkommen. Das Stück ist einerseits ein Pamphlet mit dem Ziel, Empörung beim Publikum auszulösen. Hochhuth hat andererseits ganz bewusst die Form des barocken „christlichen Trauerspiels“ gewählt, so der Untertitel des Stücks, der nicht ironisch, sondern als Gattungsbezeichnung gemeint ist. Die Titel der fünf Akte: Der Auftrag – Die Glocken von St. Peter – Die Heimsuchung – Il Gran Rifuto – Auschwitz oder Die Frage nach Gott – folgen den Lebensstationen Christi (Auftrag, Heimsuchung, die Frage an Gott: Warum hast Du mich verlassen?) und weisen darauf hin, dass der Autor den Papst als „Stellvertreter Christi auf Erden“ an der zentralen Forderung des Christentums messen will, nämlich dem Gebot und Beispiel Christi nachzufolgen, was im barocken Trauerspiel das stellvertretende Opfer als Märtyrer einschließt. Nach Hochhuths Auffassung ergab sich aus dem Selbstverständnis der Päpste generell und aus der besonderen historischen Situation eine derartige Anforderung an Pius XII. Im Stück heißt es entsprechend: „Einmal, Vater, kommt sie doch, die Rückkehr des Stellvertreters Christi ins Martyrium.“ Dass der Papst sich der historisch-moralischen wie christlichen Forderung verweigert, bildet den Höhe- und Wendepunkt des Dramas. Im ersten Akt „Der Auftrag“, der historisch verbürgt in der Nuntiatur in Berlin spielt, fordert im August 1942 der SS-Obersturmführer Kurt Gerstein angesichts der „Endlösung“, der Vatikan müsse nun helfen, nur er allein könne dies noch tun. Gerstein unterstreicht die religiöse Dimension dieses Auftrags mit dem Hinweis auf ein Christusbild: „Der fühlte sich zuständig, Exzellenz – sein Stellvertreter nicht?“ Der Nuntius verweigert sich mit dem Verweis auf seine diplomatische Funktion, nämlich den Konflikt zwischen dem Vatikan und der NS-Regierung zu vermeiden, während ein ebenfalls anwesender Priester, Riccardo Fontana, der historischen Personen wie Pater Kolbe und dem Berliner Domprobst Lichtenberg nachgebildet ist, Gerstein versichert, er werde den Papst unterrichten. Fontana tauscht die Pässe mit einem in Gersteins Haus versteckten Juden. Dazwischen eingeschoben ist die Szene einer spießigen Kegelrunde, in der neben historischem Personal der „Endlösung“ wie Adolf Eichmann, August Hirt und der Doktor (Josef Mengele) noch fiktive Industrielle, Militärs und SS-Männer auftreten. Im zweiten Akt „Die Glocken von St. Peter“ geht Riccardo nach Rom, um dem Vatikan selbst den „Auftrag“ zu überbringen, stößt jedoch bei seinem eigenen Vater, dem Syndikus des Vatikans, und bei dem zu Besuch kommenden Kardinal nur auf diplomatische Ausflüchte, die die politischen Handlungsmotive des Papstes beleuchten, der bei einem Protest eine Verschärfung der Lage befürchtet. Während Riccardo auf eine Kündigung des Konkordats mit Hitler hofft, tritt der Kardinal für eine neutrale Haltung des Vatikans gegenüber der NS-Vernichtungspolitik ein. Als Ricardo dagegen Einspruch erhebt, versetzt ihn der Kardinal zur Strafe nach Lissabon.
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Im dritten Akt sind inzwischen acht Monate vergangen, als die „Heimsuchung“ Rom erreicht, wo die römischen Juden unter den Augen des Papstes nach Auschwitz deportiert werden. Gerstein berichtet dem Kardinal, einem Abt und dem zurückgekehrten Ricardo von den Deportationen aus Rom, doch betont der Kardinal die Staatsräson und die Bedrohung durch den Bolschewismus. Diese konkrete Erfahrung, wobei Hochhuth hier durchaus die Verdienste der Kirche bei der Rettung von Juden herausstellt, führt beim Kardinal zu einem Umdenken, er glaubt nun, dass der so deutschfreundliche Papst handeln muss, indem er Gerstein als Deutschem vorwirft: „Ihr zwingt uns ja dazu, nun / ihr zwingt den Papst, nicht wahr / von den Verbrechen öffentlich Kenntnis zu nehmen, ja.“ Riccardo, der sich dessen „so sicher nicht“ ist, reflektiert mehrere Alternativen: Einmal könnte man die Priester Europas zum offenen Protest gegen Hitler und zur Rettung der Juden aufrufen oder den Papst ermorden, und die Tat der SS zuschieben, um so einen Protest der Kirche auszulösen, oder man müsste stellvertretend für den Papst das Martyrium selbst auf sich nehmen, da „das Schweigen des Papstes zugunsten der Mörder [..] der Kirche eine Schuld aufbürdet, die wir sühnen müssen“. Wenn der Papst als ein Mensch „sogar Gott vertreten kann“, dann wird er als Priester ja zur Not auch den Papst vertreten können. Der Abt bricht das Gespräch entsetzt ab. In der dritten Szene wird das brutale Vorgehen der Gestapo gezeigt, aber auch deren Furcht vor einem Protest der Kurie, womit dem Eingreifen des Papstes großes Gewicht zugeschrieben wird. Im vierten Akt „Il Gran Rifuto“ versuchen Riccardo und sein Vater, Graf Fontana, den Papst zum Protest gegen Hitlers Politik zu bewegen, was dieser aber ablehnt. Er ist nur zu einer neutralen Botschaft an Hitler und zu verdeckter Hilfe für die Juden bereit. In diesem kurzen Akt tritt der Papst selbst auf, der laut Szenenanweisungen vom Schauspieler weniger die Person Eugenio Pacelli als eine Institution verkörpern soll. Hochhuth zeigt ihn aber nicht nur als jemanden, der seinem Amt nicht gewachsen ist, sondern überzeichnet satirisch, wenn er ihn als charakterschwach, Nutzen und Kosten kalkulierend und zynisch Kapitalinteressen der Kirche folgend darstellt. Sein „non possumus / es kann und wird nicht sein, / dass Wir an Hitler schreiben“, das er mit politischen Rücksichten und der Rolle der Kirche als neutralem Makler begründet, erwidert Riccardo mit dem den Papst offenbar schwer treffenden Vorwurf: „Gott soll die Kirche nicht verderben, nur weil der Papst sich seinem Ruf entzieht.“ Riccardo heftet sich den Judenstern an und wird nach Auschwitz deportiert. Im fünften Akt „Auschwitz oder Die Frage nach Gott“ wird Auschwitz schattenhaft als Hölle dargestellt, in der ein deutscher Arzt (der Doktor) als Teufel (oder dessen „Stellvertreter“) agiert, der nicht mehr an den Sieg Hitlers glaubt und der Riccardo und sich selbst durch Flucht mit einem gefälschten Pass nach Rom retten will. Auch Gerstein will Riccardo mit einem fingierten Befehl befreien; der weigert sich zu fliehen. Der Betrug wird entdeckt und Riccardo wird bei dem Versuch, den KZ-Arzt umzubringen, erschossen, Gerstein wird verhaftet. In dieser Hölle klagen totgeweihte Juden die Christen der Verfolgung und des Zuschauens an und stellen „die Frage nach Gott“, die anders als im herkömmlichen christlichen Trauerspiel durch die „große Verweigerung“ des Papstes unbeantwortet bleibt. In diesem letzten Akt wird begründet, warum der Teufel siegen musste, eben weil der Stellvertreter Gottes den Kampf verweigerte – Riccardo ist als Stellvertreter des Stellvertreters der Falsche, denn von sei-
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nem Tod nimmt niemand Notiz, er bleibt, zumindest für die Rettung der Juden, sinnlos. Hochhuth, der im Motto und in der Bezeichnung des vierten Aktes als „Il Gran Rifuto“ („die große Verweigerung“) Dantes „Göttliche Komödie“ zitiert, in der von einem in der Hölle schmorenden Papst die Rede ist, „der feig den großen Auftrag von sich wies“, forderte also von Pius XII., angesichts des großen historischen Auftrags notfalls auch das Martyrium auf sich zu nehmen, was dieser verweigerte. Man hat deshalb von einem, manche Zuschauer irritierenden „Doppelcharakter des Stückes“ gesprochen, das ein historisches Drama mit historischen Personen ist und doch einen rein theologischen Kern hat. Den Papst trifft somit der Vorwurf eines doppelten Versagens: Als Christ hat er seine geschichtlich-moralische Verantwortung und als „Stellvertreter Christi“ hat er seine Pflicht gegenüber Gott nicht erfüllt. Der Uraufführung an der Freien Volksbühne Berlin am 20. Februar 1963 folgten über hundert weitere Vorstellungen. Das Stück wurde schnell auch im Ausland aufgeführt, wo es ab September in Stockholm, Basel, London, Odense, Paris, Bern und Wien gespielt wurde. Weltweit wurde der „Der Stellvertreter“ in über 80 Städten aufgeführt. In Deutschland gab es ab Februar 1964 dreizehn Inszenierungen in Frankfurt, Bochum, Düsseldorf, Essen, Hamburg und anderen Städten, wobei der „Stellvertreter“ von fast allen großen deutschen Bühnen „bestreikt“ wurde, wie ein Theaterkritiker bemerkte, der hinter dem künstlerischen Vorwand die Angst der deutschen Intendanten vor einem Konflikt vermutete. Insbesondere südlich des Mains und im Rheinland gab es keine Aufführungen. In München wurde das Stück erst ein Vierteljahrhundert später gezeigt, doch selbst dann noch intervenierten Kirchenvertreter und Politiker. Bereits für die Uraufführung hatte man einen Skandal erwartet, nachdem die Katholische Nachrichtenagentur vor der Premiere Textauszüge publiziert hatte. Doch sowohl bei dieser Aufführung wie auch bei den anderen deutschen Inszenierungen blieb, von einigen Flugblattaktionen aus katholischen Kreisen abgesehen, ein Zuschauerprotest aus, es gab großen Beifall und nur vereinzelte Buhrufe. Das war im westeuropäischen Ausland ganz anders. Insbesondere in der Schweiz gab es tagelange Demonstrationen für und gegen das Stück, es gab Drohbriefe und Bombendrohungen, in Paris organisierten Protest mit Stinkbomben und Tätlichkeiten. Dieser Protest war nach Hochhuths Auffassung von den Spitzen der katholischen Hierarchie, wie dem Kardinal von Paris oder Kardinal Spellman in New York, organisiert, wo das Stück am Broadway mit mehr als dreihundert Aufführungen allerdings zu einem Erfolg wurde. In Rom wurde die Aufführung ebenso verboten wie in Spanien und Brasilien. Innerhalb der ersten sieben Monate gingen beim Rowohlt Verlag 3.000 Briefe und Kritiken ein. Die Kritik verstieg sich dabei soweit, dass der Filmregisseur Otto Preminger Hochhuth als aktiven Nazi hinstellte. Die DDR nahm die Gelegenheit wahr, um die Angriffe gegen Hochhuth als „faschistische Verleumdungskampagne Bonns“ zu geißeln. Es gab zwar auch viele andere Verteidiger Hochhuths, darunter Hannah Arendt, doch fand sich der Autor nun selbst auf der Anklagebank wieder, da ihn die Verteidiger des Papstes der Verleumdung und historischen Fälschung beschuldigten und ihm wie der Erzbischof von München und Freising vorwarfen, dem Papst, „eine erhebliche Mitschuld an den nationalsozialistischen Judenmorden“ anzulasten.
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Diese Vorwürfe gegen Hochhuth kamen auch aus der Politik, wo man ihm vorwarf, mit der Anklage gegen den Papst das NS-Regime zu entlasten. Bundestagsabgeordneten der CDU/CSU war das Stück 1963 sogar eine Kleine Anfrage an den Außenminister wert, in der sie fragten, ob „es die Freunde unseres Volkes nicht befremden“ müsse, „wenn gerade von deutscher Seite in Pius XII. eine Persönlichkeit angegriffen wird, die nicht nur den Juden während der Verfolgung durch das Naziregime tatkräftig geholfen, sondern [...] auch dem deutschen Volk besonders nahe gestanden hat“. Außenminister Gerhard Schröder (CDU) versicherte den Abgeordneten, dass die Bundesregierung die Angriffe gegen den Papst zutiefst bedauere, der „bei verschiedenen Gelegenheiten seine Stimme gegen die Rassenverfolgung im Dritten Reich erhoben und so viele Juden wie möglich dem Zugriff ihrer Verfolger entzogen“ und sich tatkräftig für eine Aussöhnung mit Deutschland eingesetzt habe. Noch Jahrzehnte später hat sich der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland Helmut Kohl in Rom 1986 öffentlich dafür entschuldigt, dass dem Papst durch einen deutschen Schriftsteller Unrecht geschehen sei. Auf katholischer Seite sah man einmal das religiöse Gefühl der Gläubigen verletzt, zum anderen bot man Argumente auf, die den Papst historisch und politisch rechtfertigen und freisprechen sollten und die in dem vierten Akt des Dramas eine „Schmähschrift auf Pius XII.“ sahen – wie es sein Privatsekretär Pater Robert Leiber, S. J. formulierte. Vonseiten der Kirche meldeten sich Kardinal Montini (der spätere Papst Paul VI.), die deutschen Bischöfe, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, zahlreiche Priester und Laien zu Wort. Kritik an Hochhuths Stück kam aber in Deutschland auch von evangelischen Bischöfen wie Otto Dibelius. Sie wurde formuliert in zahlreichen Diskussionsrunden des Deutschen Fernsehens und der Rundfunkanstalten, in öffentlichen Erklärungen und Podiumsgesprächen, in Zeitungsartikeln, Kommentaren und vielen Leserbriefen. Die Diskussion litt darunter, dass vatikanische Quellen nur eingeschränkt zugänglich waren. Es waren im Wesentlichen vier Argumente der Verteidiger des Papstes, mit denen sie ihre These von der „verfälschten Geschichte“ – so ein Buchtitel – zu belegen suchten: 1.) Die Anklage gegen den Papst beruhe auf einer falschen Einschätzung der Funktion seines Lehr- und Hirtenamtes sowie seiner Stellung als Oberhaupt der katholischen Kirche. 2.) Ein öffentlicher Protest gegen die Judenverfolgung hätte die katholische Kirche als Institution, den Klerus sowie die Gläubigen ihrerseits stark gefährdet. 3.) Ein solcher Protest wäre jedoch nicht nur selbstzerstörerisch, sondern auch wirkungslos geblieben. Er hätte also den Holocaust nicht gestoppt oder verlangsamt, sondern ihn im Gegenteil noch beschleunigt und ausgeweitet. 4.) Ein die Anklage zwar nicht widerlegendes, aber doch abschwächendes Argument bestand in dem Nachweis, der Papst und die Kirche hätten sich in der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ 1937 gegen die Grundirrtümer des Nationalsozialismus gewandt, sich um den Frieden bemüht und den verfolgten Juden auf vielerlei Weise geholfen. Bis 1975 hat man 7.500 Publikationen zum „Stellvertreter“ gezählt, wobei sich die Argumente stereotyp wiederholten. Die Theater- und sonstigen Kritiker, die die Darstellung des Papstes und das gesamte Stück immanent literarisch kritisierten, warfen Hochhuth vor, er verfahre dadurch, dass er Argumente für und wider das päpstliche Handeln nicht gleichwertig gegenüberstelle, parteilich und damit würde die Papstfigur
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nicht tragisch und die Szene zum bloßen Tribunal, wie Friedrich Luft nach der Premiere schrieb. Die Papstfigur erscheine zu sehr als Karikatur, womit das Ziel einer adäquaten Wirklichkeitsdarstellung gerade verbaut würde. Von der linken Kritik wurde die Darstellung des Faschismus als „Inferno“ zu religiös und zu stark als Henker und Teufel personifiziert abgelehnt. Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Hochhuths Stück konzentrierte sich zumeist weniger auf inhaltliche als auf gattungstheoretische Fragen, wobei die Auseinandersetzung um die dokumentarische Literatur und das dokumentarische Theater im Mittelpunkt stand. Der Streit um das Stück dauert bis in die Gegenwart fort: „Ärger mit abgetakeltem Skandalstück“, schrieb der „Münchener Merkur“ im März 1988. Nicht nur, dass Aufführungen des „Stellvertreters“ auch ein Vierteljahrhundert später noch für Störaktionen und Tumulte sorgten – wie 1988 im Wiener Burgtheater, wo Katholiken „Kirchenhetze“ riefen und Rechtsextremisten angesichts der Gaskammern „Lüge“ schrien, die Mehrheit allerdings applaudierte –, während Kirchenvertreter und Politiker intervenierten, ging und geht auch im christlich-jüdischen Gespräch und in der Wissenschaft die Diskussion weiter. Anlässlich der seltenen Wiederaufführungen des Stückes in den 1980er-Jahren wurde Hochhuth in der Presse „törichter Thesen“, die von der Forschung längst widerlegt seien, und einer „verzerrenden Geschichtsdarstellung“ bezichtigt. Dagegen radikalisierte Hochhuth 1988 in der Zeitung „Die Welt“ seine Position, indem er angab, er würde die „Rolle von Papst Pius XII. nicht mehr so vorteilhaft gestalten“. Nach den Aufführungen 1988 in Wien und München wurde das Stück 1992 am Frankfurter Theater im Zoo und in einer Neuinszenierung 2001 am Berliner Ensemble aufgeführt, wo es seitdem immer wieder auf dem Spielplan steht. 2012 wurde das Stück vom Münchener Volkstheater aufgeführt. Der bekannte Filmregisseur Costa Gavras verfilmte den „Stellvertreter“, der seine Weltpremiere am 14. Februar 2002 im Wettbewerb der Berlinale hatte. Der „Stellvertreter“ ist nicht nur in die Theatergeschichte als „das umstrittenste Schauspiel des Jahrhunderts“ (Hilde Spiel), sondern auch in die Geschichte der deutschen Vergangenheitsbewältigung eingegangen, wobei die Frage nach der Rolle des Papstes in Öffentlichkeit, Wissenschaft und Kirche bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist.
Werner Bergmann
Literatur Bernd Balzer, Rolf Hochhuth. Der Stellvertreter. Grundlagen zum Verständnis des Dramas, Frankfurt am Main 1986. Jan Berg, Hochhuths „Stellvertreter“ und die „Stellvertreter“-Debatte. „Vergangenheitsbewältigung“ in Theater und Presse der sechziger Jahre, Kronberg/Taunus 1977. Klaus Drobisch (Hrsg.), Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter. Schauspiel und Dokumente zu Rolf Hochhuth „Der Stellvertreter“, Berlin 1966. Reinhold Grimm, Willy Jäggi, Hans Oesch (Hrsg.), Der Streit um Hochhuths „Stellvertreter“, Basel, Stuttgart 1963. Fritz Raddatz (Hrsg.), Summa inuria oder Durfte der Papst schweigen? Hochhuths „Stellvertreter“ in der öffentlichen Kritik, Reinbek 1963. Nadine Ritzer, Alles nur Theater? Zur Rezeption von Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ in der Schweiz 1963/1964, Freiburg i. Ue. 2007.
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Strach (Buch von Jan T. Gross, 2006)
Strach (Buch von Jan T. Gross, 2006) Nach → Sąsiedzi veröffentlichte der polnisch-amerikanische Soziologe Jan Tomasz Gross weitere Bücher zu neuralgischen Punkten des polnisch-jüdischen Verhältnisses, die ebenfalls heftige Reaktionen in Polen hervorriefen. Im Buch „Strach. Antysemityzm w Polsce tuz po wojnie. Historia moralnej zapasci“ [Angst. Antisemitismus in Polen direkt nach dem Krieg. Die Geschichte eines moralischen Zusammenbruchs], das 2006 in den USA und 2008 in Polen veröffentlicht wurde, beschreibt Gross den in der polnischen Bevölkerung verbreiteten Antisemitismus der Nachkriegszeit, der sich in Gewalt, Diskriminierung und Pogromen an der aus Verstecken, Lagern und dem Exil zurückkehrenden jüdischen Bevölkerung niederschlug. Er erklärt dieses Phänomen mit der Angst der Polen vor den Überlebenden: der Furcht vor dem Verlust von jüdischem Eigentum, das sie sich während des Krieges angeeignet hatten und vor Vorwürfen der Juden aufgrund des Umstands, dass viele Polen angesichts des Holocaust passiv geblieben, einige sogar zu Nutznießern der Vertreibungen und Morde geworden waren. Als weiteren Grund nannte Gross eine „Infektion“ der polnischen Bevölkerung durch die antisemitische Propaganda der Nationalsozialisten. Für das national-katholische Lager stand schnell fest, dass es sich bei diesem Buch um eine weitere „antipolnische“ und „antikatholische“ Schmähschrift handele. Der Krakauer Erzbischof Kardinal Stanisław Dziwisz beklagte sich in einem offenen Brief an den katholischen Verlag Znak, der das Buch herausgegeben hatte, es sei nicht dessen Aufgabe, Nationalitätenspannungen in Polen zu wecken, und ermahnte den Verlag, seine christlichen Wurzeln nicht zu verleugnen. Da die von Gross thematisierten Ereignisse bereits wissenschaftlich beschrieben und publiziert worden waren, wurden die Inhalte des Buches – anders als im Fall von „Nachbarn“ – nicht angezweifelt. Jedoch wurde Gross wiederum vorgehalten, die Komplexität der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umstände der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht ausreichend zu berücksichtigen. Dies wurde dadurch verstärkt, dass in der polnischen Ausgabe des Buches ein in der amerikanischen Version enthaltenes Kapitel zum Leiden der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung unter deutscher Besatzung stark gekürzt wurde, da diese Fakten in Polen als bekannt vorausgesetzt wurden. Das Institut des nationalen Gedenkens (IPN) lancierte mit Unterstützung der konservativen Presse als „seriöses Pendant“ das Buch „Nach der Vernichtung. Die polnisch-jüdischen Beziehungen 1944–1947“ von Marek Jan Chodakiewicz, das die Pogrome der Nachkriegszeit nicht als Ausdruck antisemitischer Gewalt darstellt, sondern als Reaktion auf das kommunistische Engagement der Juden (Żydokomuna), auf die Taten jüdischer Rächer, die außergerichtlich gegen Polen vorgingen und auf die Rückforderungen jüdischen Eigentums, das von Nationalsozialisten konfisziert und Polen übergeben worden war. Das polnische Parlament mit der damals nationalkonservativen „Prawo i Sprawiedliwość“ [Recht und Gerechtigkeit] als stärkster Partei reagierte auf das Buch mit der Verabschiedung eines Gesetzes, das die „öffentliche Bezichtigung der polnischen Nation wegen Teilnahme, Organisation oder Verantwortung für kommunistische oder nationalsozialistische Verbrechen“ mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafen bedrohte. Das
Die Studenten von Hohenstadt (Roman von Roderich Müller-Guttenbrunn, 1943)
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polnische Verfassungsgericht erklärte dieses Gesetz später als unvereinbar mit der polnischen Verfassung.
Andrea Rudorff
Literatur Piotr Forecki (Hrsg.), Reconstructing memory. The Holocaust in Polish Public Debates, Frankfurt am Main 2013. Mariusz Gądek (Hrsg.), Wokól Strachu. Dyskusja o ksiazce Jana T. Grossa [Rund um Angst. Die Diskussion zum Buch von Jan T. Gross], Kraków 2008. Jan Tomasz Gross, Angst. Antisemitismus nach Auschwitz in Polen, Berlin 2012. Robert Jankowski (Hrsg.), Cena „Strachu“. Gross w oczach historyków [Preis der „Angst“. Gross in den Augen von Historikern], Warszawa 2008. Magdalena Klimowicz (Hrsg.), Difficult Postwar Years. Polish Voices in Debate over Jan T. Gross’s Book Fear, Warsaw 2006. Anna Wolff-Powęska, Piotr Forecki (Hrsg.), Der Holocaust in der polnischen Erinnerungskultur, Frankfurt am Main 2012.
Die Studenten von Hohenstadt (Roman von Roderich MüllerGuttenbrunn, 1943) Der österreichische Schriftsteller und Journalist Roderich Müller-Guttenbrunn wurde am 3. Februar 1892 in Wien geboren und starb am 7. Februar 1956. Er war der Sohn des bekannteren Adam Müller-Guttenbrunn und stand diesem in antisemitischer und völkischer Gesinnung sehr nah. Roderich Müller-Guttenbrunn veröffentlichte auch unter den Pseudonymen Roderich Meinhart (→ Wiener Totentanz, 1921; Die vergessene Stadt, 1921; Madonna Einsamkeit, 1924) und Dietrich Arndt (→ Kommen wird der Tag!, 1921; → Die Weltverschwörer, 1926). Unter seinem echten Namen erschienen „Nach der Heimat möcht’ ich wieder!“ (1919), „Die am Wege blieben“ (1920), „Untergang“ (1921), „Knappenbüchlein“ (1924), „Umsturz im Juli“ (1930), „Der Mensch ist schlecht!?“ (1932) sowie der Roman „Die Studenten von Hohenstadt“ aus dem Jahr 1943, der sich an dem früheren Werk „Die vergessene Stadt“ orientiert. Müller-Guttenbrunn, Mitglied der NSDAP, schrieb für die „Linzer Morgenpost“, die Wiener Ausgabe des „Völkischen Beobachters“ und war von 1940–1943 Geschäftsführer des „Landesverbandes Ostmark des Reichsverbands der deutschen Presse“. Dort war er u. a. für die Organisation der Überprüfung der „Ariernachweise“ der Mitglieder zuständig. In „Die Studenten von Hohenstadt. Roman aus Österreich anno 1914“ (Leopold Stocker Verlag, Graz und Leipzig 1943) reist der Langzeitstudent Viktor Lebrun in das „vergessene Hohenstadt“, um dort als Broterwerb die Schüler zu beaufsichtigen und von nun an einem geregelten Leben nachzugehen. Die Gymnasiasten treffen sich heimlich und verbotenerweise in den Hinterzimmern der Gasthäuser, um in Verbindungen völkisches Brauchtum zu pflegen und zu trinken. Schnell fallen in den Beschreibungen der Protagonisten die Müller-Guttenbrunnschen Ideale auf, wenn beispielsweise der „Woltersberger, der prächtige deutsche Bauernsohn aus Oberösterreich […] seine feinen, blauen Augen über die dreißig jungen Burschen“ der heimlichen Verbindung wandern lässt und über die Bedeutung von politischer Erziehung in
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Die Studenten von Hohenstadt (Roman von Roderich Müller-Guttenbrunn, 1943)
jungen Jahren äußert: „Es ist der Kampf um unsere völkische Selbstbehauptung, den wir führen, und die Waffen für diesen harten schonungslosen Kampf, die müssen schon früh geschliffen werden.“ Müller-Guttenbrunn lässt seinen „arischen Traumburschen“ hier die rohe Bedrohung aus dem Osten beschwören und appellieren: „Jeder deutsche Junge, der Ehre im Leibe hat, der weiß, daß es immer nur um unser großes ganzes Volk geht, der muß da mitkämpfen. […] Wir waren in allen Jahrhunderten die Kulturbringer für die fremden Völker, wir wollen nicht zum Kulturdünger werden.“ Auch in der Figur des Professors Jakob Sonnenberger wird das Ideal Müller-Guttenbrunns vom autodidaktischen Naturburschen, der aus einfachen, bäuerlichen Verhältnissen aufgestiegen, arische Urkraft in Verbindung mit Bildung und Intelligenz verkörpert, deutlich. Ebenso werden in seinen Frauendarstellungen seine rassistischen Stereotype erkennbar, wenn die dunkle „rassige“ Schönheit allen Männern den Kopf verdreht, wohingegen die blonde Kleinstadttochter mit den roten Wangen ihren Eltern Stolz und Freude bereitet. Erstere muss am Ende des Romans auch kläglich ertrinken, da sie den Verlobten der blonden Unschuld zu verführen drohte. Erst nach der Hälfte des Romans wird klar antisemitische Position bezogen, wenn Müller-Guttenbrunn erneut eine Sitzung der Verbindung Teutonia schildert, bei der ein Teilnehmer fordert: „Der Antisemitismus, der muß einfach und gerade sein, einfach wie eine Ohrfeige, da gibt es keine wissenschaftlichen Probleme zu begutachten. Er heißt Kampf, rücksichtsloser Kampf gegen diese Weltgefahr, die Propaganda muss dem Verständnis des einfachen Mannes angepaßt sein, sonst ist alles vergebliche Liebesmühe.“ An dieser Stelle wird auch der demagogisch-pädagogische Stil MüllerGuttenbrunns deutlich. Sein Roman, der an vielen Stellen die Bewusstwerdungsprozesse seiner Protagonisten im deutschnationalen Interesse behandelt, erscheint wie ein in die Handlung eines Heimatromans verpacktes Lehrbuch sowohl naturmystischer Offenbarung als auch nationalsozialistischer Indoktrination. Den Äußerungen der arischen Idealtypen wird dementsprechend Raum im Roman eingeräumt, sodass ihre Ansprachen oft über mehrere Seiten gehen. Auch wenn der Roman um 1913/14 spielt, bemerkt man doch in den Guttenbrunnschen Ankündigungen, antisemitischen Mahnungen und Kriegsprophezeiungen den Bezug zum Erscheinungsjahr 1943. Dieser unangenehme Aktualitätsbezug mag Müller-Guttenbrunn wohl auch dazu verleitet haben, seinen ersten Roman noch einmal in einer „aktualisierten Auflage“ zu publizieren. Der Roman endet mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Gespräch zweier Schüler aus Hohenstadt, der eine gesunder Bauernsohn, der andere gebildeter Sohn aus bürgerlichem Wiener Hause, die sich freiwillig und hochmotiviert für den Kriegseinsatz des Ersten Weltkriegs melden. Dies kann im Jahr 1943 wohl als Motivationsversuch verstanden werden.
Katharina Kretzschmar
Literatur Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisches und bibliographisches Handbuch von Wilhelm Kosch. Zweite, vollständig neubearbeitete und stark erweiterte Auflage, Zweiter Band, Bern 1953, S. 1807.
Stürmer-Karikaturen
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Stürmer-Karikaturen Die Karikaturen, die seit Dezember 1925 auf beinahe jeder Titelseite der wöchentlich erscheinenden antisemitischen Hetzschrift „Der Stürmer“ prangten, stellten das Markenzeichen und einen der wichtigsten Erfolgsfaktoren der berüchtigten Nürnberger Wochenzeitung dar. Sie zielten fast ausnahmslos auf die Diffamierung und Dehumanisierung von Juden ab, zeichneten sich durch ihre verzerrende Darstellungsform aus und erzeugten dadurch Emotionen wie Angst, Abscheu und Hass. Aufgrund des eingängigen, pervertierten Stils und der großen Präsenz im öffentlichen Raum wurde der „Stürmer-Jude“ zu einem geflügelten Wort innerhalb der deutschen Sprache. Die Stürmer-Karikaturen zählen damit zu den bedeutendsten visuellen Propagandamaterialien des Nationalsozialismus. Sie stellen eine Amalgamierung nahezu aller judenfeindlichen Stereotypen, Erklärungsmodelle und Mythen bis 1945 dar und prägen den visuellen Antisemitismus durch Adaptionen und Nachahmungen bis in die heutige Zeit. Der Urheber der Stürmer-Karikaturen war Philipp Rupprecht, der unter dem Pseudonym „Fips“ bis zur letzten Ausgabe des „Stürmer“ im Februar 1945 tausende Karikaturen beisteuerte. Philipp Johann Rupprecht wurde am 4. September 1900 in Nürnberg als Sohn eines Kunstformers geboren. Nach eigener Aussage wurde er „als Deutscher, der für Ehre, König und Vaterland in den Krieg muss“, erzogen und meldete sich daher während des Ersten Weltkriegs freiwillig zur Marine, wo er ab Januar 1918 als Signalgast tätig war. Desillusioniert vom Zusammenbruch des Kaiserreichs emigrierte Rupprecht 1920 nach Argentinien, wo er sich mit verschiedenen Aushilfstätigkeiten und als Zeichner über Wasser hielt. 1925 nach Nürnberg zurückgekehrt, zeichnete er für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, darunter „Ulk“, „Jugend“, das „Acht-Uhr-Blatt“, die „Nürnberger Zeitung“ und die sozialdemokratischen Zeitungen „Vorwärts“ und „Fränkische Tagespost“. Nachdem er im gleichen Jahr Julius Streicher kennengelernt hatte, war er fortan als Hauptkarikaturist für dessen „Stürmer“ tätig. Zwischen Dezember 1926 und März 1927 gab Rupprecht zwischenzeitlich die Zeitschrift „Die Lupe“ heraus. Nachdem diese ihr Erscheinen nach wenigen Nummern wieder eingestellt hatte, zeichnete Rupprecht zuerst unter dem Pseudonym „Ru-pens“ und anschließend unter „Fips“ beinahe ausschließlich für den „Stürmer“. 1929 trat Rupprecht für einige Monate in die NSDAP ein und entwarf für die Partei eine bislang unzureichend dokumentierte Anzahl von Wahlplakaten. Darüber hinaus illustrierte er einige Bücher im Auftrag des bayerischen Kultusministeriums, wie etwa „Deutsche Jugend, Dein Führer!“ (1933) und „Aufbruch der Nation. Geschichte des deutschen Volkes von 1914 bis 1933“ (1933). Rupprecht war zudem Mitglied der „Antijüdischen Weltliga“, die als Ableger des „Stürmer“ eine internationale antisemitische Vernetzung und Kooperation anstrebte. Eigenen Angaben zufolge war er von 1937 bis 1945 Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste sowie der Reichspressekammer von 1942 bis 1945. Rupprechts wichtigstes Wirkungsfeld war zweifellos seine zeichnerische Tätigkeit für den „Stürmer“. Seine Karikaturen nahmen etwa ein Drittel der Titelseite ein und dienten als Blickfang, der die hetzerischen Leitartikel und Parolen prägnant und eingängig visualisierte. Neben den regelmäßig erscheinenden Titelkarikaturen veröffentlichte Rupprecht auch zahlreiche Zeichnungen im Innern des Blattes, bis er ab April 1936 schließlich die Rubrik „Fips Zeitspiegel“ gestaltete, die mitunter eine komplette
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Seite mit bis zu neun Karikaturen einnahm. Seine Zeichnungen waren stets mit kurzen, plakativen Texten versehen, die er nach eigener Aussage von seinen Vorgesetzten vorgelegt bekam und daraufhin eigenständig in Reimform brachte. Wie der gesamte Inhalt des „Stürmer“ waren auch Rupprechts Karikaturen von beständiger Wiederholung, leichter Variierung und Kombination vorangegangener Motive geprägt. Stilistisch versuchte Rupprecht, die vom „Stürmer“ angestrebte Entlarvung des vermeintlich „essenziellen Wesens“ der Juden zu visualisieren. Er kreierte zu diesem Zweck ein charakteristisches Zerrbild, das alle negativen Zuschreibungen auf äußerliche Merkmale destillierte und als Grundlage all seiner Karikaturen diente. Obgleich er jüdische Charaktere verschiedenster sozialer, nationaler und ideologischer Hintergründe zeichnete, wurden alle im Stil dieses spezifischen „jüdischen Typus“ konstruiert, der sich durch abstoßende Hässlichkeit, Niedertracht und eine inhärente Bedrohlichkeit auszeichnete. Rupprecht griff dabei auf physiognomische Darstellungstraditionen des Rasse-Antisemitismus zurück und kennzeichnete seine Zerrbilder unter anderem durch eine gekrümmte Nase, wulstige Lippen, eine spezifische Gestik und unproportionierte Gliedmaßen. Besonders deutlich trat dies in seinen als „Anschauungsunterricht“ betitelten Karikaturen Anfang 1937 und in seinen für den Stürmer-Verlag illustrierten Büchern „Juden stellen sich vor“ (1934) und „Der Giftpilz“ (1938) zutage, in denen „jüdische Typen“ kategorisiert und „enttarnt“ wurden. Positivbilder fanden sich in Rupprechts Zeichnungen hingegen seltener. Sie zeigten zumeist idealisierte Männer und Frauen nordisch-arischen Typs, die als Antithese zur sittlichen Verdorbenheit des Judentums als Inbegriff von Schönheit, Reinheit und Wahrhaftigkeit dargestellt wurden. Inhaltlich konzentrierten sich Rupprechts Karikaturen zumeist auf einfache Schuldzuweisungen und Welterklärungsmodelle. „Die Juden“ wurden für jedes erdenkbare Übel der Geschichte und der Gegenwart verantwortlich gemacht und als tödliche Bedrohung des deutschen Volkes und der gesamten Welt dargestellt. Dabei fanden sich in seinen Zeichnungen Adaptionen des gesamten, über Jahrhunderte tradierten und gewachsenen antijüdischen Bildrepertoires. Klassische christlich-antijudaistische Motive wie die „jüdische Ermordung Jesu“ wurden ebenso verwendet wie die mittelalterlichen Mythen des „Ritualmordes“ und des jüdischen Wuchers, moderne Vorurteile der „Verjudung“ von Kunst und Kultur ebenso wie die Mär von der jüdischen Weltverschwörung. Ein charakteristisches Merkmal vieler Stürmer-Karikaturen lag zudem darin, dass sie den Betrachter durch die Fokussierung auf sexualisierte Bedrohungsszenarien in ihren Bann zogen. Rupprechts Zeichnungen zeigten Juden als Kinderverführer, Mädchenhändler, Vergewaltiger und Folterer. Sexuelle Gewalt wurde dabei einerseits als integraler Bestandteil des triebhaften jüdischen Wesens dargestellt, während andererseits ein systematischer Plan zur Zersetzung und Zerstörung des deutschen Volkes durch „Rassenschande“ postuliert wurde. Die pornografischen Visualisierungen dieser Thematik erzeugten Abscheu und Hass, während sie zugleich die sadistische Ader vieler Betrachter ansprachen und zu erhöhten Verkaufszahlen führten. Eine weitere zentrale Eigenschaft der Karikaturen lag in der parallelen Erzeugung von Verachtung und Angst. Rupprecht stilisierte Juden sowohl als degenerierte Untermenschen als auch als mächtige Personifizierungen des Teufels. Auf diese Weise wur-
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den Juden als konkrete und tödliche Bedrohung konstruiert, der jedes Anrecht auf Mitleid oder Gnade abgesprochen werden musste. Besonders deutlich zeigt sich dies in den Darstellungen von Juden als Krankheitserreger oder Ungeziefer sowie in Form von bedrohlichen, negativ konnotierten Tieren wie Schlangen, Spinnen und Fledermäusen. Die visuelle Dehumanisierung und Dämonisierung der Juden implizierte dabei, dass gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe keine moralischen und ethischen Normen zu gelten hatten. Diese Tendenz wurde im Lauf des Zweiten Weltkriegs noch expliziter. Während Rupprechts Positivbilder die Heimatfront, Wehrmacht und SS glorifizierten und den „Endsieg“ sowie die Befreiung Europas ankündigten, konzentrierten sich die Feindbilder auf die angebliche Kriegserklärung und Mordabsicht des „internationalen Judentums“. „Anglo-amerikanische Plutokratie“ und „Judeo-Bolschewismus“ wurden dabei als zwei Seiten der gleichen Medaille konstruiert, die einzig und allein die Vernichtung Deutschlands anstrebe. Im Einklang mit der nationalsozialistischen Kriegspropaganda visualisierte Rupprecht damit den Mythos des präventiven Krieges gegen das Judentum und legitimierte physische Gewalt gegen Juden als vorbeugenden Selbstschutz. Obgleich die propagandistische Bedeutung der Stürmer-Karikaturen noch nicht systematisch erforscht wurde, kann festgehalten werden, dass sie durch die aggressive Vermarktungsstrategie des „Stürmer“ und die öffentliche Zurschaustellung in den zu Tausenden aufgestellten „Stürmerkästen“ massenhafte Bekanntheit besaßen. Rupprechts Karikaturen waren zudem auf Werbeplakaten und Transparenten des „Stürmer“ sowie auf Faltblättern und Klebezetteln in der Öffentlichkeit präsent. Hinzu kommt, dass die Zeichnungen von nationalen wie auch internationalen Zeitschriften nachgedruckt wurden. So veröffentlichte die „Deutsche Presse“, die „Zeitschrift für die gesamten Interessen des Zeitungswesens“, in der Ausgabe vom 4. März 1939 eine Seite von „Fips Zeitspiegel“, um dessen Vorbildcharakter zu betonen und zu veranschaulichen, „wie drastisch man auch mit Hilfe des Zeichenstiftes auf diesem Gebiet [der Aufklärungsarbeit in der Judenfrage] arbeiten kann“. Zudem illustrierte etwa auch die italienische judenfeindliche Zeitschrift „La Difesa della Razza“ wiederholt Artikel mit Rupprechts Stürmer-Karikaturen. Für die propagandistische Bedeutung der Karikaturen spricht zudem, dass Rupprecht während des Zweiten Weltkriegs nach einem kurzzeitigen Einsatz bei der Marine „unabkömmlich“ gestellt wurde und seine Zeichnungen trotz der kriegsbedingten Kürzung des „Stürmer“ bis zu dessen Einstellung einen wesentlichen Bestandteil der Zeitung bildeten. Rupprecht wurde darüber hinaus nicht nur wiederholt in den Zuschriften der Stürmer-Leser gepriesen, sondern auch von Julius Streicher in dessen „Politischem Testament“ als „wertvoller Mitkämpfer“ gewürdigt. Das stärkste Argument für den Einfluss seiner Zeichnungen ist indes, dass diese durch den sprichwörtlich gewordenen „Stürmer-Juden“ ein sprachliches Denkmal erhielten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Rupprecht in Haft genommen. Die Spruchkammer Ebersberg stufte ihn im Mai 1947 wegen seiner zeichnerischen und gelegentlichen schriftstellerischen Tätigkeit für den „Stürmer“ als Hauptschuldigen ein und verurteilte ihn zu 10 Jahren Arbeitslager ohne Anrechnung seiner vorangegangenen Haft. Trotz umfangreicher Unschuldsbeteuerungen entschied die Spruchkam-
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mer, dass Rupprecht die „öffentliche Meinung als Künstler im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie entscheidend beeinflusst“ und zudem geholfen habe, „die Voraussetzungen zu schaffen, die später zu Ausschreitungen, Plünderungen und Gewalttaten führten“. Im April 1949 wurde auf Antrag Rupprechts vor der Berufungskammer für Oberbayern erneut verhandelt. Die Berufungskammer hielt fest, dass das beständige Predigen der Ausrottung der Juden im „Stürmer“ „eines Tages zu ihrer vollkommenen Vernichtung führen musste“. Rupprecht sei sich klar darüber gewesen, dass er durch seine Zeichnungen der „nationalsozialistischen Gewaltpolitik eine Unterstützung von ganz ungewöhnlichem Ausmaß“ geleistet hatte. „Er wusste auch, dass wirksame Illustrationen ein wirksameres Propagandamittel bilden als das geschriebene Wort“. Die Berufungskammer bestätigte daraufhin die Einstufung Rupprechts als Hauptschuldigen, reduzierte jedoch seine Strafe mit Verweis auf seinen guten Leumund und sein Handeln „unter einem gewissen wirtschaftlichen Zwang“ auf 6 Jahre mit Anrechnung seiner gesamten bisherigen Haftzeit. Rupprecht wurde im Oktober 1950 wegen guter Führung vorzeitig aus dem Arbeits- und Festhaltelager Eichstätt entlassen und arbeitete fortan als Kunstmaler und Dekorateur. Er starb 1975 in München.
Carl-Eric Linsler
Literatur Hermann Froschauer, Renate Geyer, Quellen des Hasses. Aus dem Archiv des „Stürmer“ 1933–1945 (Ausstellungskatalog des Stadtarchivs Nürnberg), Nürnberg 1988. Gerhard Jochem, „Rupprecht, Philipp“, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 22, Berlin 2005, S. 282–283. Ralph Keysers, „Der Stürmer“. Instrument de l’idéologie nazie. Une analyse des caricatures d’intoxication, Paris 2012. Julia Schwarz, Visueller Antisemitismus in den Titelkarikaturen des „Stürmer“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 19 (2010), S. 197–216.
Tagebuch eines Schriftstellers (Literarisch-politische Zeitschrift, 1873– 1881) → Dnewnik Pisatelja Tagebücher → Anne Frank-Tagebuch, → Daghani-Tagebuch (Rumänien, 1942–1943), → Dorian-Tagebuch (Rumänien, 1938–1944), → KellnerTagebücher (1938–1945), → Klemperer-Tagebücher (1933–1945), → Sebastian-Tagebuch (Rumänien, 1935–1944)
Taking Sides (Film von István Szabó, 2001) István Szabós Spielfilm „Taking Sides. Der Fall Furtwängler“ basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück des britischen Dramatikers Ronald Harwood. Die Vorlage zum Stück lieferte George Clares autobiografisches Buch „Berlin Days. 1946–1947“. Darin beschreibt der in Wien als Georg Klar geborene und 1938 nach England geflüchtete Clare seine Zeit als Offizier der britischen Armee im besetzten Berlin, wo er als Übersetzer im Dienst des Alliierten Kontrollrats tätig war. 1946 hatte Clare die Gelegenheit, Einsicht in die Akte Wilhelm Furtwänglers zu nehmen. Harwood, der in den
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1990er-Jahren auf das Buch Clares aufmerksam geworden war, konstruierte daraus ein fiktives Szenario, in dem ein ebenfalls fiktiver US-amerikanischer Offizier den „Fall Furtwängler“ aufrollt. Daraus inszenierte István Szabó ein filmisches Kammerspiel. Berlin 1946: Der US-amerikanische Major Steve Arnold erhält den Befehl, ein Ermittlungsverfahren gegen Wilhelm Furtwängler zu eröffnen. Der Major soll den Beweis erbringen, dass der Dirigent hohen Funktionären des nationalsozialistischen Regimes (Hitler, Göring, Goebbels) näher gestanden hat, als er dies zugeben wollte. In den Augen Arnolds hat Furtwängler sich schuldig gemacht, indem er sein Können und seine Kunst in den Dienst des NS-Regimes gestellt hat. Furtwängler widerspricht und versucht, die Vorwürfe mit dem Argument zu entkräften, dass er als unpolitischer Künstler stets bemüht gewesen war, Kunst und Politik voneinander zu trennen. Trotzdem, betont Furtwängler, habe er aus einer „inneren Emigration“ heraus Widerstand geleistet und vielen jüdischen Künstlern geholfen. Seine (unpolitische) Kunst habe er dabei stets als moralische Stütze für das deutsche Volk und als Gegengewicht zum Regime betrachtet: „I know that a single performance of a great masterpiece was a stronger and more vital negation of the spirit of Buchenwald und Auschwitz than words.“ Dieser am Ende des Films gesprochene Satz lässt den Major gänzlich die Fassung verlieren: „You [are] setting culture, art and music against the millions put to death by your pals?“ Der Filmtitel ist als Aufforderung an die Zuschauer zu begreifen: „Beziehen Sie Position“. Fragen Sie sich, „auf welcher Seite Sie stehen“. Eine Frage, die der Major auch an seinen Assistenten richtet, den Verbindungsoffizier Lieutenant David Wills – einer George Clare nachempfundenen Figur. Beim Verfassen seines Theaterstücks war Harwood darauf bedacht gewesen, den Zuschauern kein vorgefertigtes Urteil vorzusetzen. Vielmehr wollte er von Beginn an die Möglichkeit einräumen, selbst Stellung zu beziehen. Über seine eigene Position hüllt sich der Autor jedoch in Schweigen: „It’s a very ambiguous case. […] And it’s grey. It’s very, very grey.“ (Wilkinson / Price) Doch während sich die Bühnenversion in jenem ambivalenten Raum bewegt, erscheint der Spielfilm auf den ersten Blick viel weniger „grau“ als seine Vorlage. Das liegt vor allem an der Regie Szabós: So erzeugt er z. B. durch die häufige Verwendung von Nah- bzw. Großaufnahmen des Furtwängler-Darstellers Stellan Skarsgård, der in Major Arnolds groben und respektlos geführten Verhören sichtlich leidet, eine weitaus größere Nähe zum Zuschauer, als es das Drehbuch Harwoods womöglich vorgesehen hatte. Am deutlichsten jedoch scheint sich die Parteinahme zugunsten des Dirigenten in der letzten Sequenz des Films abzuzeichnen: die Montage einer Archivaufnahme des Konzerts zu Ehren Adolf Hitlers am 19. April 1942. Diese kurze Sequenz stand nicht im Drehbuch, und Harwood selbst sagte später dazu: „That is a piece of pure Szabó. […] I’m absolutely sure it tilts the balance in favour of Furtwängler and doesn’t leave it ambiguous enough.“ (Wilkinson / Price) In der Sequenz ist zu sehen, wie sich Goebbels nach dem Konzert der erhöhten Bühne nähert und dem Dirigenten die Hand reicht. Furtwängler beugt sich vor, ergreift mit der Rechten die Hand des Propagandaministers und lächelt versteinert. Nach dem Händeschütteln richtet er sich wieder auf und wechselt beinahe unbemerkt ein weißes Tuch von der linken in die rechte Hand.
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Diese kurze Szene lässt Szabó in einer vergrößerten Detailaufnahme mehrmals wiederholen. So wird sichtbar, wie Furtwängler seine Hand durch einhändiges Reiben am Tuch sauber zu wischen versucht – verborgen vor den Blicken des Ministers und jenen der restlichen Konzertbesucher. Die Botschaft dieser nachbearbeiteten Aufnahme scheint eindeutig: Obschon sich Furtwängler die Hände schmutzig gemacht hat – und ihm dies auch durchaus bewusst gewesen war –, war er doch darum bemüht, sie am Ende sauber zu halten und sich dadurch seine Integrität zu bewahren – wenn auch versteckt und unbemerkt aus der „inneren Emigration“ heraus. Aber es ist auch eine andere Deutung möglich. Dafür muss die Archivsequenz mit jenem letzten Satz Furtwänglers gegengelesen werden, in dem er die klassische Musik den Gräuel der Vernichtungslager entgegensetzt hat: Mit Beethoven und Schubert gegen das millionenfache Morden in Auschwitz und Treblinka. Dieses Argument ist genauso schwach, genauso wirkungslos wie der Versuch Furtwänglers, sich den Schmutz des Nationalsozialismus mit dem weißen Taschentuch von der Hand zu wischen. Indem Szabó das Archivmaterial filmtechnisch bearbeitete und in den Kontext des Films einordnete, war es ihm möglich, einen zentralen Aspekt der Vorlage von Harwood herauszuarbeiten: das Allgemeine im Besonderen. Denn die verschwommenen, körnigen Bilder zeigen nicht bloß Furtwänglers Hand, die verkrampft und verzagt am Taschentuch reibt, sondern stehen stellvertretend für die Hände vieler anderer Künstler, die dem Nationalsozialismus gedient haben.
Mohammad A. S. Sarhangi
Literatur George Clare, Berlin Days. 1946–1947, London 1989. Ronald Harwood, Taking Sides, London 1995. Sandra Theiß, Taking Sides. Der Filmregisseur István Szabó, Mainz 2003. David Nicholas Wilkinson, Emlyn Price (Hrsg.), Ronald Harwood’s Adaptations. From other Works into Films, Trowbridge, Wiltshire 2007.
Tal der Wölfe (Filmserie, Türkei 2003–2005) → Kurtlar Vadisi Tangoul morţii (Gedicht von Paul Celan, 1947) → Todesfuge
Tanz- und Liebesstunde (Roman von Pavel Kohout, 1989) Der tschechisch-österreichische Schriftsteller Pavel Kohout (1928 in Prag geboren, 1969 aus der Tschechoslowakei ausgewiesen) war mit seinen Theaterstücken erfolgreicher als mit Romanen. Sein Roman „Tanz- und Liebesstunde“ transportiert Legenden über das Ghetto Theresienstadt und missverständliche Spekulationen über den Nationalsozialismus, die eine Betrachtung im Handbuch des Antisemitismus erfordern, ohne dem Autor damit unlautere Absichten zu unterstellen. Der Roman spielt in einer Festung im „Protektorat Böhmen und Mähren“, befehligt von einem SS-Offizier, einem Kameraden des „Führers“ aus der Zeit des Münchner Operettenputsches 1923, der sogar an der Entstehung von „Mein Kampf“ mitwirken durfte (als geheimer Kurier, der das Manuskript aus dem Gefängnis Landsberg schmuggelte), im Russlandfeldzug schwer verwundet und dann, als Krüppel, dorthin kommandiert, „um die Be-
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legschaft eines Augiasstalls in eine vorbildliche Eliteeinheit des Führers zu verwandeln“. Zur Festung gehört, aber von einem anderen befehligt, ein Ghetto. Theresienstadt also, aufgespalten in zwei Welten, eine militärisch korrekt regierte, in der „Feinde des Reiches“, europäische Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, gefangen gehalten und exekutiert werden und, auf der anderen Seite die korrupt und schlampig verwaltete Welt der Juden. Die Antagonie der beiden Sphären bildet den Handlungsrahmen, der ausgefüllt ist durch die Geschichte der Tochter des Festungskommandanten, die am 6. Juni 1944, dem Tag der Landung der Alliierten in der Normandie, ihren 18. Geburtstag feiert, in Sehnsucht entbrannt zum Untersturmführer Weißmüller: fescher SS-Leutnant und Cherub für sie, verderbtes und verklemmtes Produkt pervertierter nationalsozialistischer Ideologie für ihren Vater Karli Kleinburger, den Festungskommandanten. Pavel Kohout schrieb den Roman um Christines Erwachen, in dessen Zentrum eine aus dem Ghetto geliehene jüdische Primaballerina steht, die für Christines Tanzstunde von der Deportation ins Vernichtungslager beurlaubt ist, „um jenen Zeitgenossen das Gedächtnis zurückzugeben, die es bereits wie Altpapier weggeworfen hatten. Um jene zu warnen, die sich, von der späten Geburt begnadet, nicht vorstellen können, daß auch sie unter gewissen Umständen leicht Akteure ähnlicher Romanzen werden könnten.“ Die scharf gezeichneten antagonistischen Welten des Kommandanten versus seines Leutnants Weißmüller wiederholen die Bewusstseinsspaltung, die seit der Machtübernahme Hitlers und länger für Mitglieder und Anhänger, für kritische Sympathisanten und zähneknirschende Beobachter galt: ein Nationalsozialismus als akzeptable Ideologie, zum Nutzen des Deutschen Reiches Größe, verkörpert durch integre Vertreter der reinen nationalen Lehre, und ein exzessiver Nationalsozialismus, vertreten durch die bösen Nutznießer des Regimes, der Deutschland (und einen großen Teil der übrigen Welt) in die Katastrophe führte. Karl Kleinburger, Obersturmbannführer der Waffen-SS, der in der Hitlerbewegung und im Krieg „seine Träume und menschlichen Anstand durch blutigen Sumpf hindurch gerettet hatte“, erscheint als die Inkarnation des Unbestechlichen, des eisernen Pflichterfüllers, des mit allen deutschen Tugenden ausgestatteten Idealisten. Was er aus Überzeugung tut, „aus dem Bewußtsein erkannter Notwendigkeit“, das tut der junge Weißmüller aus Fanatismus: Damit wird der Unterschied zwischen dem guten und dem bösen Nationalsozialisten konstituiert. Seine Aufgabe erklärt Kleinburger der Tochter Christine nach deren Ankunft aus dem bombenbedrohten Berlin: „Verschworene Feinde des Reichs“ seien in der Festung „konzentriert“, Widerstand hätten sie – Franzosen, Holländer, Tschechen – geleistet gegen die deutsche Neuordnung Europas: „Sie alle haben ihre historische Chance verspielt, führende Nation unseres Kontinents zu werden, und haben sich uns untergeordnet. Verbissene Chauvinisten können sich immer noch nicht damit abfinden und fallen uns in den Rücken.“ Das Zitat enthält die Lebenslüge und Rettungsfantasie der deutschen Niederlage: Man habe im Grunde für eine gute Sache gekämpft, aber ein Teil der Feinde hat es nicht verstanden und stand auf der falschen Seite. Kommandant Kleinburger erklärt seiner Tochter, was im Ghetto Theresienstadt geschieht: „Die am anderen Flußufer, bei denen es sich um Juden handelt, die doch schon rein rassenmäßig in Europa immer ein Fremdkörper
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waren, die sind von Amts wegen in einer Stadt zusammengefaßt, die ihnen das Reich großzügig zur Verfügung stellt. Sie soll ihnen, solange ihre Übersiedlung nicht abgeschlossen ist, als Zwischenstation dienen, wo sie unter sich leben können, auch mit ihren Kindern, die dort sogar eigene Schulen haben.“ Möglicherweise ist das ironisch gemeint. Die Realität entsprach nicht dem biedermeierlichen Genrebild, das Kohout den Kommandanten Kleinburger für seine Tochter zeichnen lässt, aber die Hitlerapotheose im Gespräch mit Christine kann von unkritischen Lesern leicht nachempfunden werden. „Er. In der kritischen Stunde der Menschheit, als der jüdische Bolschewismus wie ein unersättlicher Drache das geschwächte Europa fast schon verschlingen konnte, das er zuvor mit der Mär von der Gleichheit aller hypnotisiert hatte, besaß allein der Führer den Mut zu erklären, dass dieser verlockende Gedanke wider die Natur sei. Und dass die Deutschen das auserkorene Volk sein würden, wenn sie es fertig brächten, den falschen Humanismus in sich zu unterdrücken und das höhere Prinzip als neue antike Kultur den verfaulten, bürgerlichen Pseudoidealen entgegenzusetzen.“ Die Relativierung der Judenverfolgung und die Marginalisierung erzwungener Ghettoexistenz erfolgt über das Konstrukt des „guten“ Nationalsozialismus und instrumentalisiert stereotype Fiktionen. Deren Letzte ist im Epilog des Romans die Rückkehr der Tochter des SS-Sturmbannführers Christine an den Schauplatz ihrer Jugend, die „Kleine Festung“ Theresienstadt: Jetzt ist sie Amerikanerin, heißt Chrystle und ist Gattin des reichen Juden Isaac Feuerstein in Chicago.
Wolfgang Benz
Tatort (Fernseh-Krimiserie) Nur in sehr wenigen Folgen der seit 1970 laufenden deutschsprachigen Fernseh-Krimiserie „Tatort“ wurde Antisemitismus implizit oder explizit zum Thema. Darunter fällt eine derjenigen Folgen, die von weiteren Wiederholungen im Fernsehen ausgenommen waren: die 1996 ausgestrahlte Folge „Tod im Jaguar“ (SFB 1996), die Kritik an antisemitischen Darstellungen auf sich zog. Im Mittelpunkt des Mordfalls steht die Figur des David Prestin, er ist ein jüdischer Geschäftsmann mit weitreichenden Kontakten und einer dubiosen Vergangenheit. Die berechtigte Kritik bezog sich auf die Reproduktion des antisemitischen Stereotyps des jüdischen Wucherers, es lassen sich jedoch auch weitere Elemente eines antisemitischen Diskurses finden. Prestin ist Mitglied eines Kreises einflussreicher Menschen aus Politik und Wirtschaft, die regelmäßig unter Ausschluss der Öffentlichkeit Treffen abhalten, um undurchsichtige Geschäfte abzuschließen und Vereinbarungen zu treffen. Im Kontext der Betonung der jüdischen Identität Prestins bedient dies offensiv Bilder eines jüdischen Verschwörungsszenarios. Auch Ansätze des Stereotyps der „schönen Jüdin“ finden sich in der Repräsentation von Prestins Tochter Judith. Während die Handlung von „Tod im Jaguar“ unreflektiert auf antisemitischen Stereotypen beruhte, wurde in späteren Tatort-Folgen versucht, Normalität herzustellen und antisemitische Bilder zu dekonstruieren – nicht unbedingt mit Erfolg. In der Folge „Nichts mehr im Griff“ des Österreich-Tatorts (ORF 2001) wurde die Frage der Resti-
Tatort (Fernseh-Krimiserie)
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tution „arisierter“ und geraubter Kunstwerke verhandelt. Die aus den USA angereiste Ester von Steinhof, Großnichte oder Enkelin (hier ist sich das Drehbuch nicht ganz einig) von Wiener Juden, bemüht sich um die Restitution zweier Gemälde von Egon Schiele, die im Besitz ihrer Familie waren. Frau von Steinhof ist versöhnlich, begeistert von Wien und begegnet nur freundlichen und hilfsbereiten Menschen. Selbst in der „arisierten“ Wohnung ihrer Verwandten lebt nun eine ihrem Besuch gegenüber aufgeschlossene jüdische Familie. Die Idylle wird lediglich durch Steinhofs Anwalt gestört, der konfrontativ, wütend und auf Medienöffentlichkeit bedacht ist – ganz zum Missfallen seiner Klientin. Die Folge steht somit ganz im Zeichen der Beweisführung, dass Österreich trotz umstrittener rechtskonservativer Koalition aus ÖVP und FPÖ allen Fragen der Wiedergutmachung und Restitution gegenüber aufgeschlossen und auf keinen Fall antisemitisch eingestellt sei. Was der Staatsanwalt zum Kommissar Moritz Eisner sagt – „Sie wissen doch, dass so eine jüdische Geschichte das letzte ist, was wir in der derzeitigen politischen Situation gebrauchen können“ – galt offensichtlich gerade nicht für den Tatort, der genutzt wurde, um zumindest die deutschsprachigen Nachbarstaaten davon zu überzeugen, dass Fragen der Restitution auch in Österreich problemlos vonstatten gehen würden. Drei Jahre später spielten jüdische Figuren in gleich zwei Fällen eine zentrale Rolle, in der Folge „Der Schächter“ (SWR 2003) des Konstanzener Tatortes und in der Folge „Das Geheimnis des Golem“ (WDR 2004) der Tatort-Spin-Off-Reihe „Schimanski“. Die Handlung von „Der Schächter“ ist angelehnt an den Ritualmordvorwurf in Xanten im Jahr 1891: Die Leiche eines Jungen wird gefunden, sein Hals weist einen großen Schnitt auf. Im Mittelpunkt des antisemitischen Verdachts steht der kürzlich in eine Villa am Bodensee zurückgekehrte Schächter Jakob Leeb, gespielt von Nikolaus Paryla. Die Kommissarin Klara Blum ist mit Leeb befreundet und von seiner Unschuld überzeugt, der virulent antisemitische Staatsanwalt und die mediale Öffentlichkeit vom Gegenteil. Ebenfalls von Paryla gespielt wurde die jüdische Hauptfigur im nur einen Monat später ausgestrahlten „Das Geheimnis des Golem“. David Rosenfeldt bittet Horst Schimanski, ihn zu beschützen, er müsse einen Koffer an einen sicheren Ort bringen und einen gewissen Ari Goldmann töten, bevor dieser ihn töte. Schimanski begleitet ihn, doch Rosenfeldt wird umgebracht. Im Koffer, den Schimanski in Sicherheit gebracht hat, befindet sich ein kabbalistisch verschlüsseltes Notizbuch, mit Kontonummern von Schweizer Bankkonten mit dem Geld von Wiener Juden, das der bereits verstorbene Ari Goldmann im Konzentrationslager Mauthausen bekommen hatte. Nach einem Zwischenspiel mit Lea Kaminsky, der unehelichen Tochter von Goldmann, werden die Verfolger und Mörder von Rosenfeldt aufgespürt. In beiden Fernsehfilmen geht die Strategie, antisemitische Stereotype und antisemitische Vorwürfe erst aufzubauen, um sie dann zu dekonstruieren nicht auf. Wie sowohl Miriam Magall als auch Caspar Battegay gezeigt haben, beruhen die Handlungen auf der Vorstellung „jüdischen Geheimwissens“, auf dem Bild des „wandernden Juden“ und des Wucherers, auf dem Stereotyp des schwachen, hässlichen jüdischen Mannes und der Figur der „schönen Jüdin“. Außerdem weisen besagte Filme teilweise bedenkliche Fehler auf, beispielsweise jener, dass Schimanski zur Feier von Jom Kippur von einem jüdischen Ehepaar statt zu fasten zum Mittagessen eingeladen wird. Obgleich mit dem Ziel, ihnen etwas entgegenzusetzen, werden antisemitische Argumentationen
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und Begriffe in beiden Sendungen laufend artikuliert und wiederholt, so vom Staatsanwalt in „Der Schächter“, demgegenüber die Kommissarin Blum eine Position der nicht antisemitischen – aber betontermaßen katholischen – Deutschen einnimmt. Aber auch von Schimanski, der sich Rosenfeldts Name partout nicht merken kann und sich an antisemitischen Witzen versucht, dem aber schlussendlich von einer Jüdin attestiert wird, ein „Gerechter“ zu sein. 2011 drückt sich das Streben um Normalität jüdischer Figuren im deutschen Fernsehkrimi schließlich sogar im Titel des Münchner Tatorts „Ein ganz normaler Fall“ (BR 2011) aus. Die Kommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr sind mit dem Mord in einer Synagoge beschäftigt. Unter Mordverdacht steht die längste Zeit Jonathan Fränkel, ein orthodoxer Jude, dem vom Toten mit einer Räumungsklage gedroht worden war. Zu guter Letzt wird jedoch der wahre Täter gefunden: der als Kind an Gehirnhautentzündung erkrankte, nicht anerkannte Sohn eines Rabbis, der einen Verrat des Rabbiners verhindern wollte. Ähnlich wie in den beiden vorhergehenden Folgen werden jüdische Festtage, Gesetze und Bräuche thematisiert, Antisemitismus angesprochen und kritisiert und Franz Leitmayr sogar zu einem Besuch der Gedenkstätte Dachau motiviert. Trotz sichtlichen Bemühens um Normalität verbleiben Juden und Jüdinnen jedoch auch in dieser Folge im Darstellungsmodus des „Anderen“ und der Ausnahme – ein Befund, der für die Tatort-Reihe im Allgemeinen erstellt werden kann.
Renée Winter
Literatur Caspar Battegay, Judentum und Popkultur. Ein Essay, Bielefeld 2012. Rüdiger Dingemann, Tatort. Das Lexikon. Alle Fälle – Alle Fakten – Alle Kommissare, München 2010. Miriam Magall, „Sie lügen und sie mauscheln ...“ Das Judenbild im neueren deutschen Film, in: haGalil, 1. Juli 2005 (online).
That Goldheim (Roman von F. E. Eddis, 1918) Der Roman „That Goldheim. A Spy Story. Exposing a special danger from alien immigration“ (London) spielt in England und handelt von einem „naturalisierten Deutschen“ (dem jüdischen Bösewicht) und seinem Sohn, die Hochverrat begehen; die Naturalisation zum britischen Untertanen dient hier als Deckmantel für feindliche Umtriebe. Des Weiteren unterzieht der Autor die britische Regierung harscher Kritik, sie ist ebenso korrupt wie lethargisch. Besonders interessant ist der Autor: F. E. Eddis war dazumal Sekretär der Royal Commission on Alien Immigration gewesen; die Kommission hatte Hintergrundinformationen und Interviews zusammengetragen, um die Auswirkung der Einwanderung zehntausender osteuropäischer Juden zu untersuchen und Material für das Parlament im Vorfeld der Einwanderungsgesetzgebung von 1905 zusammenzustellen. 15 Jahre später und mitten im Ersten Weltkrieg wählt nun Eddis die Romanform, um vor den Folgen von Einwanderung und großzügiger Einbürgerungspolitik zu warnen. Der Namensgeber des Romans, Goldheim, ist ein Verräter, der seiner Herkunftsnation, Deutschland, die Treue hält und Industriespionage betreibt. Seine Einbürgerung schützt ihn vor Kontrollen durch die britischen Behörden, was er sich zu Nutzen
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macht. Goldheim und sein Sohn Heinrich führen darüber hinaus ein Agentennetz mit dem Zweck, in Zeiten außenpolitischer Spannungen für Unruhe und Streikaktionen in Betrieben und Minen zu sorgen. Dafür rekrutiert Heinrich im Hafen von Grimsby unter dem Decknamen „Ballin“ ankommende Ausländer. Beide, Vater und Sohn, erweisen sich als das Gegenteil eines englischen Gentleman: Sie sind tumb, geldgierig, unehrlich, arrogant und herablassend. Goldheim hatte sich in den Betrieb des britischen Unternehmers Sir David Vanlithen eingekauft. Vanlithen und sein Sohn Hubert sind die positiven Gegenfiguren zu den beiden Goldheims. Entgegen vorheriger Absprachen mit seinem Geschäftspartner führt Goldheim eine Gruppe deutscher Besucher nicht nur durch den Betrieb, sondern gibt auch Informationen zu einem neuen Patent weiter. Wie sich später herausstellt, kamen die Deutschen im Auftrag des deutschen Geheimdienstes. Der Besuch war von einem weiteren naturalisierten Engländer aus Manchester namens Schiff organisiert worden. Hubert Vanlithen traut Goldheim nicht, kann ihm aber nichts nachweisen. Das wird möglich, als sich ihm ein rechtschaffender deutscher Arbeiter namens Jorkins Huber anvertraut: Er war für Goldheims „Club“, das Netz aus potenziellen agents provocateurs, rekrutiert worden. Hubert eilt mit diesen neu gewonnenen Erkenntnissen nach London, um die Regierung zu informieren. Dort trifft er jedoch auf Desinteresse und taube Ohren. Goldheim wird als unbescholtener loyaler Untertan verteidigt. Was Hubert nicht weiß, ist, dass Goldheim den Innenminister bestochen hatte. Die Geschichte nimmt dennoch eine gute Wendung und endet mit dem Tod der Missetäter: Goldheim senior und junior ertrinken auf der Flucht nach Deutschland. F. E. Eddis übte scharfe Kritik an dem Aliens Act von 1905: Er tauge nicht dazu, aliens vom Lande fern zu halten und habe nur zu mehr Arbeitsplätzen in der Verwaltung geführt. „The Times Literary Supplement“ befand „That Goldheim“ einer Kurzbesprechung für würdig. Der Rezensent wies auf die dürftigen schriftstellerischen Talente des Autors hin und erläuterte, dass es Eddis Anliegen war, vor der „Anglifizierung von Ausländern“ zu warnen. Die judenfeindlichen Bezüge ignorierte der Rezensent allerdings. Alle Negativfiguren hatten jüdische oder deutsch-jüdische Namen: Schiff, Ballin, Marx, der Mitarbeiter von Heinrich Goldheim in Grimsby und schließlich Goldheim, dessen Name einen osteuropäisch-jüdischen Klang hatte.
Susanne Terwey
Literatur Susanne Terwey, Moderner Antisemitismus in Großbritannien, 1899–1919, Würzburg 2006.
Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (1944) Die spätbarocke Festungsstadt in Nordböhmen diente unter NS-Okkupation ab November 1941 als Internierungslager für insgesamt 53.272 Juden aus dem „Protektorat Böhmen und Mähren“ und war ab Juni 1942 Deportationsziel „privilegierter“ Juden aus dem Deutschen Reich (dekorierte Weltkriegsteilnehmer, Alte, Gebrechliche, Prominente, Künstler, Wissenschaftler). Ihnen war im „Altersghetto“ Theresienstadt Betreuung und Pflege versprochen, wofür sie ihr Vermögen abtreten mussten. Die Exi-
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stenzbedingungen in den überfüllten Kasernen waren mörderisch. Theresienstadt war tatsächlich eine Durchgangsstation zur Vernichtung in Auschwitz und anderen Todeslagern. Im Inneren wurde unter Befehl der SS eine „Selbstverwaltung“ mit einem „Judenältesten“ an der Spitze eingerichtet. Die kulturellen Aktivitäten im Ghetto, bestritten von den dort inhaftierten Musikern, Schriftstellern, Malern, Wissenschaftlern, Theaterleuten sind legendär, dürfen aber nicht über die Realität hinwegtäuschen. Insgesamt wurden 141.000 Juden nach Theresienstadt deportiert, davon 75.000 aus der Tschechoslowakei, 42.345 aus Deutschland, 15.324 aus Österreich, 4.897 aus den Niederlanden, 1.270 aus Polen, 1.074 aus Ungarn, 466 aus Dänemark. Gestorben sind im Ghetto etwa 33.500 Menschen, in Vernichtungslager deportiert wurden ca. 88.000. Insgesamt 118.000 Opfer forderte Theresienstadt, 23.000 wurden gerettet. Am 8. Mai 1945 wurde Theresienstadt durch die Rote Armee befreit. Der Film über Theresienstadt, den die SS im Sommer 1944 in Auftrag gab, wurde zur Legende. Er symbolisiert die Politik der Täuschung und des Betrugs, mit der die Nationalsozialisten ihre Opfer behandelten. Es existiert keine vollständige Kopie des Films. Es gibt lediglich Fragmente, und sogar der Name des Films, unter dem er meist zitiert wird – „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ – ist ein Mythos. In keinem originalen Dokument erscheint dieser Titel, er wird erst in Berichten von Überlebenden ab Sommer 1945 erwähnt. Er ist damit ein Beleg für die Adaption vermuteter Absichten der Täter durch die Opfer: Ein Hinweis zur Entstehungsgeschichte des legendären Titels findet sich im September 1945 in der New Yorker deutsch-jüdischen Zeitung „Aufbau“. Nach der Mutmaßung, das neutrale Ausland, für das der Film bestimmt gewesen sei, habe sich wahrscheinlich geweigert, ihn vorzuführen (während tatsächlich das pragmatische Argument, dass er erst im März 1945 fertiggestellt wurde, entscheidend war: Zu diesem Zeitpunkt war nicht nur Auschwitz längst befreit, das NS-Regime lag in Agonie und die Realität des Judenmords war bereits so offenbar, dass alle Propagandamanöver zwecklos geworden waren), hieß es: „Die Deutschen hatten den famosen Titel erfunden: ‚Hitler schenkt den Juden eine Stadt!‘ Vom Reichstagsbrand bis zu diesem Film, es ist eine Liste: Lüge und Betrug!“ Die Häftlinge kommentierten mit dem erfundenen Titel den Zynismus der Nationalsozialisten, der in Theresienstadt insgesamt zum Ausdruck kam. Kurt Gerron, jüdischer Schauspieler, Regisseur und Kabarettist aus Berlin, wurde vom SS-Kommandanten ausersehen, die Regie des Filmes zu führen. Der prominente Theatermann war 1933 ins Exil gegangen. Stationen waren Paris und Wien, schließlich die Niederlande, wo Gerron im Filmgeschäft Fuß fasste. Seit September 1943 im Lager Westerbork interniert, wurde er im Februar 1944 nach Theresienstadt deportiert. Er gründete dort das Kabarett „Das Karussell“ und erhielt im Sommer 1944 den Auftrag für den Theresienstadt-Film. Mit der technischen Durchführung des Projekts war die Prager Wochenschau „Aktualita“ beauftragt, die ein Kamerateam nach Theresienstadt schickte und in ihrem Studio in Prag den Film im März 1945 fertigstellte. In den Papieren Kurt Gerrons, mit denen die Entstehung des Films während der elf Drehtage im Herbst 1944 gut dokumentiert ist, findet sich als Arbeitstitel „Die jüdische Selbstverwaltung in Theresienstadt“, dann wurde der Film einfach „Theresienstadt“ genannt, schließlich mit dem Untertitel „Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ fertiggestellt. In die Kinos kam er nie, bis auf wenige Fragmente ist der
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Film bei Kriegsende verloren gegangen. Die Fragmente zeigen jedoch unmissverständlich, was beabsichtigt war und wie der Propagandafilm ins Werk gesetzt wurde. Der Film entstand von Anfang bis Ende unter Zwang, außer den Kameramännern aus Prag waren alle Mitwirkenden Häftlinge aus dem Ghetto. Die besondere Zumutung bestand für sie darin, wissentlich ein falsches Bild ihrer Lebenswelt präsentieren zu müssen. Kurt Gerron, der das Drehbuch schreiben und als Regisseur fungieren musste, stand bei jedem Schritt unter Aufsicht der SS, die auch die Kameraführung überwachte und darauf achtete, dass nichts in den Blick geriet, was nicht öffentlich werden sollte. Die Entscheidung, einen Film über Theresienstadt drehen zu lassen, war Ende 1943 gefallen. Schon im Jahr 1942 gab es ein Filmprojekt in Theresienstadt. Unter der Regie von Irena Dodalová wurden im Oktober/November Dreharbeiten nach ähnlicher Intention und unter ähnlichen Umständen wie 1944 im Ghetto durchgeführt. Der Film ist verschollen. Einen Entwurf und zwei Drehbücher schrieb auf Befehl der SS der tschechische Häftling Jindřich Weil, erste Aufnahmen von der Ankunft eines Transports wurden am 20. Januar 1944 gefilmt. Aber dann hatte für den SS-Kommandanten Karl Rahm die „Verschönerung der Stadt“ erst einmal Vorrang. Diese Aktion war im Hinblick auf den Besuch der Delegation des Internationalen Roten Kreuzes im Juni 1944 als groß angelegter Betrug der Weltöffentlichkeit angelegt. Gerüchte über die Ausrottung der Juden sollten als Erfindungen entkräftet werden, dazu wurde Theresienstadt in die Kulisse eines friedlichen Städtchens mit zufriedenen jüdischen Bürgern verwandelt. Zur Inszenierung gehörten Geschäfte und Cafehäuser und Anlagen, in denen man promenieren konnte. Als Statisten wurden insbesondere dänische Juden missbraucht, die vorübergehend in eigene Wohnungen einziehen durften, um glückliches Familienleben zu demonstrieren. Nach der Abreise der Delegation wurde das verschönerte Ghetto als Kulisse für den Film benützt, für die Inszenierung unbeschwerten heiteren jüdischen Lebens in Theresienstadt. Auf der Grundlage der Entwürfe Jindřich Weils arbeitete Kurt Gerron ab Juli 1944 am endgültigen Drehbuch. An den Dreharbeiten nahm die SS teil, häufig in Gestalt des Kommandanten Rahm; ständig wurde Gerron beobachtet, und täglich musste er über den Verlauf der Dreharbeiten schriftlich berichten. In der Mitte der Arbeit wurde er offensichtlich entmachtet und fungierte de facto nur noch als Regieassistent des Direktors der Gesellschaft „Aktualita“, Karel Pečený. Die Fertigstellung des Films hat Kurt Gerron wie viele der Mitwirkenden nicht erlebt. Er wurde – 47 Jahre alt – am 28. Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Geschnitten und synchronisiert wurde der Film von Mitarbeitern der „Aktualita“, allerdings abermals unter strenger Aufsicht der Gestapo, deren Prager Vertreter, SSSturmbannführer Hans Günther, immer wieder eingriff und Änderungen befahl. Die Musik – durchweg von jüdischen Komponisten – wurde von einem dänischen Musiker, der in Theresienstadt inhaftiert war, ausgesucht, dirigiert und aufgenommen. Der Film hatte eine Länge von 2.400–2.500 Metern, d. h. eine Laufzeit von etwa 90 Minuten. Der Historiker Karel Margry hat die Geschichte des Films rekonstruiert, Legenden darüber zerstört und das Erhaltene gesichert. Er kommt zu dem Schluss, dass der Film als Ganzes ein viel zu positives Bild über Theresienstadt gibt und sich dadurch disqualifiziert als niederträchtiges Produkt einer lügnerischen Propaganda. Es
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müsse jedoch gesagt werden, fährt er fort, „dass in mancher Hinsicht die visuelle Authentizität des Filmes viel größer ist, als die meisten glauben. Vieles, was im Film gezeigt wird, existierte in Theresienstadt tatsächlich und formte das tägliche Leben der Häftlinge – nicht nur 1944, sondern bereits früher. Eine Reihe von Szenen wurde an Stellen gefilmt, die nicht ‚verschönert‘ worden waren. Sogar der Kommentar, der in propagandistischen Filmen zur Verdrehung der Wahrheit dient, enthält sorgfältig dosierte Körnchen Wahrheit. Der Film log schließlich nicht so sehr dadurch, was er zeigte, sondern dadurch, was er nicht zeigte: den Hunger, das Elend, die Überfüllung, die Sklavenarbeit für die deutsche Kriegsindustrie, die hohe Sterblichkeit und vor allem die Transporte nach dem Osten.“ Der Theresienstadtfilm Kurt Gerrons als unter Zwang entstandene Illusion ist der extreme Ausdruck nationalsozialistischen Hohns über die Opfer. Der Film ist zugleich ein Dokument des zynischen Versuchs, die Welt über Lebensumstände und Bestimmung des Ghettos Theresienstadt zu täuschen. Der Theresienstadtfilm ist ein Symbol für die Lebenswelt der Juden in der böhmischen Stadt, für die erzwungenen Illusionen, an deren Herstellung sie mitwirken mussten. Sie haben sich tief in die Wirkungsgeschichte des historischen Ortes Theresienstadt eingeprägt.
Wolfgang Benz
Literatur Wolfgang Benz, Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung, München 2013. Karel Margry, Ein interessanter Vorgänger: Der erste Theresienstadt-Film (1942), in: Theresienstädter Studien und Dokumente 1998, Prag 1998, S. 181–212. Karel Margry, Der Nazi-Film über Theresienstadt, in: Miroslav Kárný, Vojtěch Blodig, Margita Kárná (Hrsg.), Theresienstadt in der „Endlösung der Judenfrage“, Praha 1992, S. 285–306. Karel Margry, Das Konzentrationslager als Idylle. „Theresienstadt“ – Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet, in: Auschwitz. Geschichte, Rezeption und Wirkung, Fritz-Bauer-Institut Jahrbuch 1996, S. 319–352.
Theresienstädter Requiem (Josef Bor, 1964) → Defiant Requiem Tingel-Tangel-Theater → Kabarett im Nationalsozialismus
Tod eines Kritikers (Roman von Martin Walser, 2002) Die von Mai bis Juli 2002 erbittert geführte Feuilletondebatte um Martin Walsers Schlüsselroman „Tod eines Kritikers“ wurde zusammen mit der Affäre um Jürgen Möllemanns Israel-Flugblatt ressortübergreifend auch als neuer deutscher Antisemitismus-Streit wahrgenommen. „Tod eines Kritikers“ handelt von Intrigen im deutschen Literaturbetrieb. Zahlreiche Figuren spielen auf reale Personen des öffentlichen Lebens an, etwa Marcel und Theophila Reich-Ranicki, Siegfried Unseld und Ulla Berkéwicz, Walter und Inge Jens, Joachim Kaiser und Jürgen Habermas. Die zentralen Figuren sind der mit zahlreichen Verweisen auf Marcel Reich-Ranicki ausgestattete Literaturkritiker André Ehrl-König und der Schriftsteller Hans Lach alias Michael Landolf, der in der Debatte um den Roman als Alter Ego Walsers gelesen wurde.
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Nach einer Fernsehsendung, in der Ehrl-König ein Werk Lachs verrissen hat, kommt es zur Konfrontation von Autor und Kritiker. Lach droht erregt: „Ab heute Nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen.“ Kurz darauf ist der Kritiker verschwunden, neben seinem Auto findet sich ein Blutfleck. Lach wird zum Hauptverdächtigen, zunächst inhaftiert, später in die Psychiatrie eingewiesen. Michael Landolf, der ebenfalls ein Schriftsteller und – wie sich herausstellen wird – Hans Lach selber ist, stellt Recherchen an, um die Unschuld des Schriftstellers zu beweisen. Ausführlich werden von all seinen Gesprächspartnern die Verfehlungen des Kritikers referiert, sodass selbst für den ermittelnden Kommissar der Eindruck entsteht, die Ermordung des Verschwundenen sei gerechtfertigt. Doch Ehrl-König taucht unversehrt wieder auf und gesteht, den Rummel um sein Verschwinden aus der Ferne genossen und sich dabei mit einer Jung-Autorin vergnügt zu haben. Lach kommt daraufhin frei und beginnt, seine Leidensgeschichte niederzuschreiben. Der Roman sollte ursprünglich als Vorabdruck in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) erscheinen. Am 29. Mai 2002 erteilte FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher Walser diesbezüglich eine Absage in Form eines offenen Briefes, der in der Zeitung erschien. Er bezeichnete darin „Tod eines Kritikers“ als „Dokument des Hasses“: Das Buch sei eine „Mordphantasie“ über den Tod des Kritikers, der nicht nebenbei auch Jude sei, sondern bewusst als Jude im Geiste ermordet werde. Die Drohung Lachs sei eine Abwandlung von Hitlers Kriegserklärung gegen Polen, die nicht viele der damals in Polen lebenden Juden – zu denen Reich-Ranicki gehörte – überlebt hätten. Es sei geschmacklos, den Mord an einer Person auszufantasieren, deren Leben tatsächlich bedroht worden sei. Zudem manifestierten sich in der Sprechweise des Kritikers mit ihrer „Verballhornung des Jiddischen“ sowie seinen Charaktereigenschaften der „Herabsetzungslust“ und „Verneinungskraft“ antisemitische Klischees. Die daraufhin einsetzende Debatte knüpfte in ihrer Polarisierung an die Walser-Bubis-Debatte von 1998 an. Neben der Frage nach „literarischem Antisemitismus“ standen weitere Provokationen zur Debatte: Walser wurde vorgeworfen, auch den Tod seines schwerkranken Verlegers Siegfried Unseld auf zynische Weise imaginiert zu haben. Das Vorgehen Schirrmachers dagegen erschien schon wegen der Verurteilung eines Buchs, das noch niemand lesen konnte, fragwürdig. Zwar war Reich-Ranicki Literaturchef der FAZ gewesen, es überraschte aber zumindest, dass ausgerechnet Schirrmacher derart demonstrativ auf Distanz zu Walser ging, hatte die FAZ doch seit Jahren Texte des Autors gedruckt und in den von ihm provozierten Debatten stets Position für Walser bezogen. Die Argumente Schirrmachers wurden angezweifelt, etwa der Vorwurf einer „jiddelnden“ Figurensprache. Auch sind die meisten der von Schirrmacher monierten Sätze Figurenrede, mithin nicht als Aussagen des Schriftstellers selbst zu werten. Walsers Verteidiger beriefen sich auf den satirischen Charakter des Werkes, das eben typische Eigenarten Reich-Ranickis überzeichne. Gleichwohl kristallisierten sich in der Diskussion des Manuskripts von „Tod eines Kritikers“ einige problematische Aspekte des Romans heraus. So tritt der Kritiker als machtgieriger Drahtzieher eines von Juden dominierten Literaturbetriebs auf, in dem durch strikt dichotomische Anlage der Charaktere den (nichtjüdischen) deutschen Protagonisten die Rolle der produktiv Schaffenden zukommt, während die jüdischen Figuren als unproduktive Schmarotzer deutscher Literatur fungieren. Die Darstellung
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Ehrl-Königs verhält sich konform zu einer ganzen Reihe antisemitischer Stereotype, etwa ‚jüdische‘ Fremdheit und Heimatlosigkeit, verschlagenes Auftreten und Täuschung von Nichtjuden, übersteigerte sexuelle Triebhaftigkeit bei gleichzeitiger Impotenz, Beherrschung der Medien und Unsterblichkeit. Der mit diversen biografischen Details und charakteristischen Zitaten auf Reich-Ranicki gemünzte Ehrl-König ist ein Schädling im Literaturbetrieb, der folgerichtig auch mit entsprechenden Ungeziefermetaphern belegt wird. Marcel Reich-Ranicki äußerte am 30. Mai 2002, der Roman dürfe zumindest nicht bei Suhrkamp, dem Verlag so prominenter jüdischer Intellektueller wie Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, erscheinen. Gleichzeitig stieg das öffentliche Interesse an dem Werk immens. Der Verlag verschickte zunächst die Datei des Manuskripts an ausgewählte Journalisten, um Schirrmachers Kritik überprüfbar zu machen. In Form elektronischer Raubkopien kursierte der Text schon bald darauf im Internet. Nicht zuletzt weil der auflagenstarke Walser drohte, Suhrkamp zu verlassen, zog der Verlag den Erscheinungstermin des Romans „in der von Martin Walser verantworteten Textform“ (Presse-Erklärung vom 5. Juni) von August auf Juni vor. Als das Buch am 26. Juni in den Handel kam, war die Startauflage von 50.000 Exemplaren bereits verkauft, „Tod eines Kritikers“ führte bald die Bestsellerlisten an. Die literarische Qualität des Werks wurde einhellig als misslungen rezipiert, zu sehr überwog der Eindruck, hier habe ein gekränkter Autor Rache geübt (Walser selbst bekannte, seit über 20 Jahren Material über Reich-Ranicki zusammengetragen zu haben). Uneinigkeit herrscht in der Literaturwissenschaft jedoch über den antisemitischen Charakter von „Tod eines Kritikers“, nicht zuletzt, weil Walser im Roman selbst dessen kontroverse Rezeption einschließlich des Antisemitismusvorwurfs bereits vorweggenommen hat: So wird Lachs Hitler-Zitat schon von anderen Romanfiguren als geschmacklos bewertet, der Kritikermord von den Medien bereits im Buch zum Mord an einem Juden zugespitzt. Der Skandal, den Schirrmachers offener Brief auslöste, ist damit ein in die Realität übersetzter Teil von Walsers Fiktion, der dessen Roman-Diagnose über die „Machtausübung im Kulturbetrieb“ zu beglaubigen scheint. Während die Walser-Philologie im Nachgang zur Debatte bemüht war, alternative Lesarten auch jenseits der Antisemitismus-Debatte anzubieten, hat die Antisemitismusforschung gezeigt, dass Walsers Romankonstruktion zahlreiche Anknüpfungen an Muster sowohl der antisemitischen Literatur des 19. Jahrhunderts als auch eines spezifischen Nachkriegsantisemitismus aufweist.
Matthias N. Lorenz
Literatur Michael Braun, Zur Rezeption von Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“, in: Volker Wehdeking, Anne-Marie Corbin (Hrsg.), Deutschsprachige Erzählprosa seit 1990 im europäischen Kontext. Interpretationen, Intertextualität, Rezeption, Trier 2003, S. 107–117. Jochen Hörisch, Literatur und Literaturkritik. Worum geht es eigentlich im Streit zwischen Martin Walser und Marcel Reich-Ranicki?, in: Harald Hillgärtner, Thomas Küpper (Hrsg.), Medien und Ästhetik, Bielefeld 2003, S. 149–166. Mona Körte, Erlkönigs Kinder. Überlegungen zu Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 11 (2002), S. 295–310.
Todesfuge (Gedicht von Paul Celan, 1944/45)
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Matthias N. Lorenz, „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser, Stuttgart, Weimar 2005. Michael Naumann (Hrsg.), „Es muss doch in diesem Lande wieder möglich sein …“ – Der neue Antisemitismus-Streit, München 2002. Bill Niven, Martin Walser’s „Tod eines Kritikers“ and the Issue of Anti-Semitism, in: German Life and Letters 56 (2003) 3, S. 299–311.
Tod im Jaguar → Tatort
Todesfuge (Gedicht von Paul Celan, 1944/45) Celans Gedicht „Todesfuge“ gilt – wie kaum ein anderes – als Inbegriff einer „Lyrik nach Auschwitz“ und als eines der prominentesten Beispiele dichterischer Auseinandersetzung mit der Vernichtungspraxis des rassistischen Antisemitismus. Es entstand 1944/45 entweder noch in Czernowitz oder nach Celans Ausreise aus den sowjetisch besetzten Gebieten nach Bukarest. 1947 erschien es in rumänischer Sprache (übersetzt von Petre Solomon) unter dem Titel „Tangoul morţii“ [Todestango] in der Zeitschrift „Contemporanul“. Die deutschsprachige Erstveröffentlichung erfolgte 1948 in dem kurz nach der Publikation wieder zurückgezogenen Band „Sand aus den Urnen“, seine Wirkung beginnt mit der Aufnahme in den Band „Mohn und Gedächtnis“ 1952, in dem es an zentraler Stelle platziert ist. Auch wenn „Todesfuge“ kein Text „über“ die Shoah im Sinne einer dokumentarischen Darstellung der Vernichtungslager und ihrer Tötungsmaschinerie ist, so ist der historische Referenzpunkt des Dargestellten deutlich; er schließt im Falle Celans einen biografischen mit ein: Paul Celan (eigentlich Antschel) wurde in Czernowitz in der Bukowina geboren; vor 1918 Teil der k. u .k-Monarchie galt die Stadt auch nach der Angliederung an Rumänien als Zentrum deutschsprachiger jüdischer Kultur (ca. die Hälfte der Einwohner, vor allem weite Teile des Bildungsbürgertums, waren jüdisch). Im Zuge der auf die Annexion durch die Sowjetunion (1940) folgenden Eroberung von Czernowitz durch deutsche und rumänische Truppen 1941 und der danach einsetzenden Deportationen der jüdischen Bevölkerung in die transnistrischen sowie die der SS unterstellten ukrainischen Lager wurden auch Celans Eltern 1942 zur Zwangsarbeit deportiert und in einem Lager östlich des Bugs ermordet. Er selbst entging der Deportation in einem Versteck und später als Zwangsarbeiter. „Todesfuge“ nimmt mit den Massenerschießungen, dem Hetzen von Hunden auf die Häftlinge, den Lagerorchestern (wie es sie in „Lublin und anderen ‚Todeslagern‘ der Nazis“ gab, so der Kommentar zum rumänischen Erstdruck), der Begleitung der Tötungen mit Musik auf KZ-Realität Bezug. Celan hat 1960 darauf hingewiesen, er habe „damals, in der Izvestia, […] die Berichte über das Lemberger Ghetto gelesen“, d. h. über das Ghetto sowie das Lager Janowska (1941–43/44), neben denen u. a. das Foto eines musizierenden Lagerorchesters abgedruckt war. Das „Grab in den Lüften“ verweist auf die Verbrennung der Ermordeten in den Krematorien der NS-Vernichtungslager; so offensichtlich dies ist, Celan hielt das Dementieren des rein Metaphorischen für nötig: „Das ‚Grab in der Luft‘ – lieber Walter Jens, das ist, in diesem Gedicht, weiß Gott weder Entlehnung noch Metapher.“ Auch dieses Motiv mag zudem auf den „Izvestia“-Artikel zurückgehen, auf seinen Bericht über die mit dem deutschen Rückzug an
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der Ostfront verbundene Exhumierung der bisher in Massengräbern verscharrten Ermordeten und ihre Verbrennung auf Scheiterhaufen, um damit Hinweise auf den Völkermord zu tilgen. (Wiedemann) Das Gedicht liefert nun keine Zusammenstellung solcher Realien, seine Darstellungsweise bzw. Bildlichkeit kreiert eine ganz bestimmte Hinsicht auf das Vernichtungsgeschehen: die einer sehr umfassenden Betroffenheit von diesem. In zu Anfang trochäischen, später vorwiegend daktylischen, auf jegliche Interpunktion verzichtenden Langzeilen stellt das Gedicht zwei Motivkomplexe, die das Kollektiv der Opfer und die den „Mann“ beschreibenden Bilder, nebeneinander. Diese Motive werden in eine Struktur von Wiederholung und Variation eingebunden, worin zumeist eine Art sprachliche Analogie zur im Titel erwähnten musikalischen Form der Fuge gesehen wurde, mit kontrapunktischer Verknüpfung von Themeneinsätzen und -durchführung bzw. -umgestaltung, mit Engführung der Themen und Schlusskadenz. In Nebeneinander und Fortsetzung der Bilder erfolgt dabei deren Erläuterung, die auf eine Kennzeichnung der Situation der Opfer hinausläuft: Die Eingangsmetapher, das Oxymoron „schwarze Milch der Frühe“, greift eine Wendung auf, die zum Bildrepertoire der Bukowiner Literatur gehört (vgl. Ausländer, Margul-Sperber) und die – in der Gleichsetzung des nährenden Lebensmittels mit der Farbe des Todes sowie im Beschreiben des Trinkens als das ganze Leben erfassenden Prozess – dieses Leben mit dem Tod identifiziert. Das Nacheinander von „pfeift seine Rüden herbei“ und „pfeift seine Juden hervor“ produziert eine Gleichsetzung und enthüllt das in ihr enthaltene Gewaltverhältnis. Im Bild vom „Grab in den Lüften“ wird die historische Anspielung erneut in die Form eines Oxymorons gebracht, darin das gewaltsame Verfügen über die Opfer als deren vollständige Vernichtung gezeigt. Sowohl die Wendung „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, welche die Spezifik des als technische Perfektion durchgeführten Massenmords erfasst, als auch die Darstellung der Lagerorchester, der Opfer, die sich selbst zum Tod aufspielen müssen, formuliert das Vernichtungsgeschehen als Widerspruch von Verbrechen und kultureller Form. Der Widerspruch wird damit als Resultat einer Zumutung kenntlich, die von einem Subjekt der Vernichtung inszeniert ist. Insofern liegt in der ästhetischen Gestaltung nicht nur das Produktionsprinzip der Bilder, sondern eine spezifische Zuspitzung auf eine alles erfassende Subjektwidrigkeit der Erfahrung und deren Einrichtung durch einen Verursacher, dessen Zynismus sich darin ausdrückt. In der weitgehend verfremdenden Bildlichkeit sowie der Repetitio bemüht sich das Sprechen dabei sehr wohl um eine Bedeutungszuschreibung an das Gesagte, um das Beeindruckende seiner Bilder – allerdings im negativen Sinne einer Erschütterung. Auch die Stilisierung in Richtung der musikalischen Form ist gerade keine Glättung des Inhalts, sondern zielt erkennbar auf den Kontrast von Vernichtungsgeschehen und ästhetischer Gestaltung. Der Text stellt aber nicht die Anklage der Schuldigen in den Vordergrund, sondern vollzieht den Übergang in eine Ausweitung der Betroffenheit, in der sich andeutet, was Celans spätere Lyrik weiter radikalisiert: die Wendung der historischen Katastrophe in eine Identitäts- und eine Sprachkrise. Sichtbar wird dies, wenn das Gedicht seine Reaktion auf das Zusammenfallen von Mutter- und Mördersprache als Verfremdung der Bildlichkeit und – noch deutlicher – als Verlust einer kulturellen Tradition
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realisiert. Diese Ebene ist etabliert, indem das Vernichtungsgeschehen verbunden wird mit der Gegenüberstellung von Margarete aus Goethes „Faust“ (dem „Mann“ zugeordnet und wie dieser mit den Kennzeichen des „Arischen“ – „dein goldenes Haar“, „sein Auge ist blau“ – assoziiert) und Sulamith, der Braut des Hohelieds. Die Forschung hat ferner den Zitatcharakter des Gedichtes hervorgehoben und Anspielungen auf Psalm 137, Tosca, Rimbaud, Trakl, Werfel, Heine und Mörike ausgemacht, welche in die negative Bildlichkeit eingebunden werden. Die „Todesfuge“ wandelt insofern die Auseinandersetzung mit dem Holocaust auch in die Frage nach den Möglichkeiten, das Geschehen mit den traditionellen literarischen Mitteln noch in Sprache zu bringen (Janz). In der sprachlich „modernen“ Konsequenz (Lamping), die sie zieht, hebt sie sich von ihren den lyrischen Traditionen noch verpflichteten Vorlagen, wie dem themen- und motivgleichen Gedicht „ER“ des Bukowiner Dichterkollegen Immanuel Weißglas, ab. Die Rezeptionsgeschichte der „Todesfuge“ spricht eine beredte Sprache vom Umgang mit dem Thema Shoah im deutschen Kulturbetrieb der Nachkriegsjahre. Celans Vortrag bei der „Gruppe 47“ traf auf ablehnende bis feindselige Reaktionen. Die Mehrheit der Rezeptionszeugnisse in den 1950er-Jahren hat dann die „Todesfuge“ für eine „entlastende“ Lesart verwendet (Emmerich), daran gar ein Absehen von der Realität des Mordens gelobt und „die romantisierende Metapher, die lyrische Alchimie“ (de Haas) goutiert. Zugleich avancierte die „Todesfuge“ zu einem der berühmtesten Gedichte Celans – eine Wirkung, die von Celan angesichts des sich darin artikulierenden Ringens um eine dichterische Antwort auf das erfahrene Vernichtungsgeschehen als fatale Vereinnahmung empfunden wurde: Er selbst bemerkt 1966, das Gedicht sei „lesebuchreif gedroschen“, und weigerte sich, es bei Lesungen vorzutragen – auch bei einer Lesung in Israel. Im Rahmen der Goll-Affäre erstreckten sich Claire Golls (haltlose) Plagiatsvorwürfe unter anderem auf Bilder der „Todesfuge“, Vorwürfe, mit denen sie auch antisemitische Ressentiments aufrief und damit Resonanz fand. Mit der 1973 erfolgenden Veröffentlichung von Weißglas’ Gedicht „ER“, das dieser nach eigenen Angaben 1944 geschrieben hatte, deuteten sich erneut solche Einwände an. (vgl. Stiehler) Andererseits hat man Celans Text angelastet, zu den verharmlosenden Deutungen Anlass gegeben, ihnen zumindest nichts entgegengesetzt zu haben. Die „Todesfuge“ wird zum Material für jene Debatten, die entweder in Anlehnung an Adornos Diktum, Gedichte nach Auschwitz zu schreiben sei barbarisch – eine Äußerung, die Adorno gerade mit Blick auf Celans späteres Werk revidiert hat –, jeder ästhetischen Stilisierung (unabhängig von ihrem Inhalt) eine Beschönigung, eine Verwandlung der Gräuel in Kunst attestierten (diese Kritik findet sich schon bei Kittner) oder den (moralischen) Maßstab einer Angemessenheit zum Gegenstand einführen.
Christine Waldschmidt
Literatur Theo Buck, Lyrik nach Auschwitz. Zu Paul Celans „Todesfuge“, in: Chaim Shoham, Bernd Witte (Hrsg.), Datum und Zitat bei Paul Celan. Akten des Internationalen Paul Celan-Colloquiums Haifa 1986, Bern u. a. 1987, S. 11–41. Helmuth de Haas, Mohn und Gedächtnis, in: Dietlind Meinecke (Hrsg.), Über Paul Celan, Frankfurt am Main 1970, S. 31–34.
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Todesmühlen (US-Dokumentarfilm, 1945)
Wolfgang Emmerich, Paul Celans Weg vom „schönen Gedicht“ zur „graueren Sprache“. Die windschiefe Rezeption der „Todesfuge“ und ihre Folgen, in: Hans Henning Hahn, Jens Stüben (Hrsg.), Jüdische Autoren Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main u. a. 2000, S. 359–383. Marlies Janz, Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans, Frankfurt am Main 1976. Dieter Lamping, Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1998. Peter Horst Neumann, Schönheit des Grauens oder Greuel der Schönheit?, in: Walter Hinck (Hrsg.), Geschichte im Gedicht. Texte und Interpretationen (Protestlied, Bänkelsang, Ballade, Chronik), Frankfurt am Main 1979, S. 230–237. Heinrich Stiehler, Die Zeit der Todesfuge. Zu den Anfängen Paul Celans, in: Akzente 19 (1972) 1, S. 11–40. Barbara Wiedemann-Wolf, Antschel Paul – Paul Celan. Studien zum Frühwerk, Tübingen 1985. Barbara Wiedemann, Welcher Daten eingedenk? Celans „Todesfuge“ und der Izvestija-Bericht über das Lemberger Ghetto, in: Wirkendes Wort 61 (2011) 3, S. 437–452.
Todesmühlen (US-Dokumentarfilm, 1945) Die Reaktion der Soldaten der alliierten Armeen auf den Anblick der Konzentrationslager, die sie befreiten, ist nur als Schock zu beschreiben. Die Emotion gaben sie unmittelbar weiter, wie die Einwohner Weimars oder Dachaus erfahren mussten, als sie vom amerikanischen Militär zum Besuch der Konzentrationslager in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gezwungen wurden. Die Szenen, die sich abspielten, wurden gefilmt, ebenso wie Einheiten der alliierten Armeen unmittelbar dokumentierten, was sie bei der Befreiung der Konzentrationslager sahen und fanden. In der Absicht, die Deutschen durch Anschauungsunterricht zu demokratisieren und um deren Schuldbewusstsein zu wecken, planten insbesondere die Amerikaner seit Herbst 1944 eine Aufklärungskampagne in Deutschland. Eine Fotobroschüre unter dem Titel „KZ“ wurde ab Juli 1945 verkauft, sie hatte hohen Absatz, an der Wirkung zweifelten aber auch die dafür Verantwortlichen. Wichtigstes Medium der Aufklärung sollte nach amerikanischer Vorstellung der Film sein. Einer der Zuständigen begründete, nachdem er Filmaufnahmen über KZ und andere Verbrechen gesehen hatte, den Zweck solcher Bemühungen mit der Meinung, „daß die Mehrzahl der Deutschen das Ausmaß der von Deutschen begangenen Greueltaten vermutlich wirklich nicht kenne und daß die Vorführung dieser Filme ihnen zu einem guten Teil erklären könne, warum die Alliierten sichergehen müßten, daß die Deutschen nicht noch einmal die Chance bekämen, einen Krieg anzuzetteln.“ Mit dem Arbeitstitel „KZ“ wurden ab März 1945 Filmaufnahmen gesammelt und zu einer Dokumentation zusammengefügt, die zwar nicht, wie ursprünglich geplant, bei der Gründungskonferenz der UNO in San Francisco, aber doch verschiedentlich in der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland gezeigt wurde. Wegen der Qualitätsmängel dieser Dokumentation beschloss die Psychological Warfare Division im Hauptquartier der (west-) alliierten Streitkräfte, einen abendfüllenden Film unter professioneller Leitung herstellen zu lassen. Leitmotiv war, „daß der Film tatsachenge-
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treu und bis ins letzte Detail belegt ist“, um späteren Versuchen von Nazis, die Beweise deutscher Verbrechen in Zweifel zu ziehen, vorzubeugen. Dazu gab es detaillierte Angaben, dass charakteristische Merkmale der Lager und ihrer Umgebung erkennbar sein mussten und dass deutsche Prominenz bei der Besichtigung in Erscheinung treten sollte. Das Projekt, unter gemeinsamer britisch-amerikanischer Verantwortung einen Film über die KZ-Gräuel zu machen, scheiterte an Zuständigkeitsproblemen der militärischen Bürokratien und an den unterschiedlichen Absichten der beiden Alliierten. Die Briten hatten die Intention, den Film als Instrument der Demokratisierung der Deutschen einzusetzen, die Amerikaner dachten mehr an das Erwecken von Schuldgefühlen im deutschen Publikum. Das britische Team unter Sidney Bernstein arbeitete, nachdem die Amerikaner sich zurückgezogen hatten, weiter an einer KZ-Dokumentation, die aber nie fertig wurde. In den 1980er-Jahren tauchte das verschollene Fragment wieder auf. Um diesen Film „Memory of the Camps“ rankt sich die Legende, Alfred Hitchcock sei Regisseur eines KZ-Films gewesen. Tatsächlich war der damals 46-jährige Regisseur kurze Zeit beratend für Bernsteins Projekt tätig gewesen, den „Hitchcock-Film“ über deutsche Konzentrationslager, nach dem Cineasten suchen, gibt es aber nicht. Während in Verantwortung einzelner alliierter Befehlshaber bereits WochenschauKompilationen mit KZ-Aufnahmen dem deutschen Publikum gezeigt wurden, arbeiteten die Amerikaner fieberhaft an ihrem eigenen zentralen Filmprojekt. Man hatte sich der Mitwirkung des Hollywood-Regisseurs Billy Wilder versichert und dem 20-Minuten-Film im Herbst 1945 den Titel „Todesmühlen“ gegeben. Ab 25. Januar 1946 wurden die 114 Kopien, die in München-Geiselgasteig hergestellt worden waren, in Kinos der US-Zone eingesetzt. Die Programmfolge (aktuelle Wochenschau, ein US-Dokumentarfilm und „Todesmühlen“) war festgelegt, d. h. Kinobetreiber konnten die „Todesmühlen“ nicht durch etwas anderes ersetzen. Auf das Publikum wurde kein Zwang zum Besuch des Films ausgeübt (einige lokale Militärregierungen hielten sich allerdings nicht daran und veranlassten z. B. Kinobesitzer, die Lebensmittelkarten der Besucher abzustempeln als Nachweis des Besuchs). Die Wirkung der „Todesmühlen“ war zumindest anfänglich erheblich, wie einem Telegramm an General McClure, den Chef der Psychological Warfare Division, zu entnehmen ist: „Alle niedergeschlagen, einige Frauen weinten, Bedauern über geschilderte Zustände ausgedrückt, jedoch wenig Gefühl über Verantwortlichkeit, viele Kommentare über Grausamkeiten gegen Kinder, Zuschauer außergewöhnlich gespannt und ernst, gelegentliches Murmeln und Geflüster, ‚unmöglich‘, ‚solche Bestien‘, ‚Schweine‘. Keine Fragen nach Authentizität.“ Der Hauptzweck des Films, Verantwortungsgefühl und Schuldbewusstsein in der Bevölkerung zu wecken, wurde nach den Auswertungsergebnissen der Amerikaner nicht erreicht, die überwiegende Mehrzahl der befragten Deutschen erklärten auch, nichts von den Verbrechen gewusst zu haben, sondern dem NS-Regime ohnehin kritisch bis ablehnend gegenübergestanden zu haben. Im amerikanischen Sektor von Berlin brachen die Besucherzahlen nach anfänglichem Interesse zur Enttäuschung der US-Militärregierung bald zusammen. Das Projekt „Todesmühlen“ galt bei Initiatoren und Ausführenden als gescheitert, weil es den erhofften moralischen Effekt nicht er-
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Train de vie (Film von Radu Mihaileanu, 1998)
zeugt hatte. Aber es hatte doch ziemlich vielen Menschen ein erstes authentisches Bild der Konzentrationslager vermittelt.
Wolfgang Benz
Literatur Brewster S. Chamberlin, Todesmühlen. Ein früher Versuch zur Massen-„Umerziehung“ im besetzten Deutschland 1945–1946, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29 (1981), S. 420–436. Ulrike Weckel, Beschämende Bilder. Deutsche Reaktionen auf alliierte Dokumentarfilme über befreite Konzentrationslager, Stuttgart 2012.
Togger (Film von Jürgen von Alten, 1936/37) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Train de vie (Film von Radu Mihaileanu, 1998) Die französische Komödie „Zug des Lebens“ durchbrach lange Zeit gültige Darstellungskonventionen der Holocaust-Narration, darin in vielem der nur wenige Monate früher in die Kinos gekommenen Tragikomödie → „La vita è bella“ ähnlich. In Radu Mihaileanus Spielfilm kommen keine Gräuelszenen vor und es ist kein einziger Toter zu sehen. Komik und Humor werden in ihm als Mittel eingesetzt, um die Unmenschlichkeit der Shoah auf eine neue Weise ins Bild zu setzen. „Viele haben den Tod gezeigt. Ich zeige das Leben, das da getötet wurde“, umschrieb der Regisseur seine Intention selber einmal. Angeregt wurde „Zug des Lebens“ durch die Werke von Scholem Alejchem (1859–1916), insbesondere aber durch die Erlebnisse von Mihaileanus Vater, der im Zweiten Weltkrieg als jüdischer Kommunist in ein Arbeitslager deportiert wurde. Nie verrät diese ebenso gewagte wie ungewöhnliche Annäherung an den Massenmord die unzerstörbare Menschlichkeit der Opfer. Radu Mihaileanu erblickte 1958 in Bukarest das Licht der Welt. Der Sohn von Shoah-Überlebenden verbrachte seine Kindheit und Jugend im kommunistischen Rumänien. Erste Gehversuche im Schauspielfach machte er am Jiddisch Ensemble in Bukarest. 1980 kehrte er dem Land den Rücken und lebte eine Zeitlang in Israel. Danach begann er in Paris mit einem Filmstudium. In seinem Regie-Debüt „Trahir“ (1993) stellt er das Leben eines rumänischen Schriftstellers dar, der eines antistalinistischen Artikels wegen eine lange Haftstrafe absitzen muss und sich nach zermürbenden Gefängnisjahren schließlich mit den kommunistischen Machthabern arrangiert, um seine Freiheit wiederzuerlangen. „Zug des Lebens“ war Mihaileanus zweiter abendfüllender Spielfilm. Das Werk spielt im Juli 1941 in einem Schtetl irgendwo in Osteuropa, kurz vor dem Eintreffen der Wehrmacht, die gerade ihren Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion begonnen hat. Vor diesem todernsten Hintergrund wird mit abgründigem Wortwitz und viel Klezmer-Musik die fiktive Geschichte einer jüdischen Dorfgemeinschaft erzählt, die kurz vor ihrer Zerstörung steht. Das benachbarte Schtetl ist der deutschen Aggression bereits zum Opfer gefallen. Ausgerechnet der Dorfnarr Schlomo (virtuos gespielt von Lionel Abelanski) hat die rettende Idee: Um den Deutschen zu entkommen, müssten sich die Schtetl-Bewohner in einem Eisenbahnzug selber deportieren –
Transport aus dem Paradies (Film von Zbyněk Brynych, 1962)
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in Richtung Sowjetunion, um dann von dort aus schließlich nach Palästina zu gelangen. Auf einer Verkehrung der Verhältnisse baut die ganze Filmhandlung auf. Tatsächlich kaufen die Bewohner eine klapprige Lokomotive und marode Güterwaggons und setzen den Zug wieder instand. Um auf ihrer Flucht nicht aufzufallen, schlüpfen manche jüdische Männer sogar in die Rollen der deutschen Wachmannschaft. Vor der Abreise müssen deshalb nicht nur Wehrmachtsuniformen genäht, sondern auch die deutsche Befehlssprache eingeübt werden. „Jiddisch ist eine Parodie des Deutschen, hat obendrein jedoch Humor“, erklärt der Deutschlehrer dem falschen Kommandanten in einer umwerfend komischen Szene. „Ich verlange also nur von Ihnen, wenn sie perfekt Deutsch ohne jiddischen Akzent sprechen wollen, den Humor wegzulassen. Sonst nichts.“ Nach etlichen Irrungen und Wirrungen erreicht der „Deportationszug“ schließlich die sowjetische Grenze. Kurz davor wird er jedoch von den Deutschen schwer bombardiert. Doch auch diese letzte Prüfung scheint überstanden. Parodien, Camouflagen, Wortwitz und ein überdrehter Umgang mit Stereotypen lassen während des ganzen Films eine lebensfrohe Grundstimmung entstehen, die erst ganz am Ende ins Tragische kippt. In der allerletzten Einstellung sieht man Schlomo in KZ-Kleidung hinter einem Stacheldrahtzaun, sichtlich gezeichnet. Durch diesen Regieeinfall wird die erzählte Geschichte als Schlomos Fluchtfantasie und damit als ein schöner Traum entlarvt: Der Film handelt von einem verfolgten Juden, der sich erträumt, dass alle seine Nachbarn noch am Leben sind. „Zug des Lebens“ ist eine Hymne auf die versunkene Schtetl-Welt Osteuropas und von tiefem Respekt vor der jüdischen Katastrophe im Zweiten Weltkrieg geprägt. „Als mir mein Vater sein Heimatdorf zeigte, gab es dort weder eine Synagoge noch andere jüdische Spuren. Deshalb wollte ich mir und meinem Vater das Geschenk machen, das Schtetl wieder zu erschaffen“, hat es der Regisseur selber ausgedrückt. Mihaileanus Meisterwerk wurde von der Kritik und dem Publikum mehrheitlich positiv aufgenommen. Neben dem „International Critics Award“ auf den Filmfestspielen in Venedig gewann der Film 1998/99 auch mehrere Publikumspreise, darunter den des Sundance Film Festival.
Aram Mattioli
Literatur Joan Kristin Bleicher, Zwischen Horror und Komödie. „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni und „Zug des Lebens“ von Radu Mihaileanu, in: Waltraud Wara Wende (Hrsg.), Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis, Stuttgart, Weimar 2002, S. 181–199. David A. Brenner, Laughter amid Catastrophe: Train of Life and Tragicomic Holocaust Cinema, in: David Bathrick, Brad Prager, Michael D. Richardson (Hrsg.), Visualizing the Holocaust. Documents, Aesthetics, Memory, Rochester, New York 2008, S. 261–276. Catrin Corell, Der Holocaust als Herausforderung für den Film. Formen des filmischen Umgangs mit der Shoah seit 1945. Eine Wirkungstypologie, Bielefeld 2009.
Transport aus dem Paradies (Film von Zbyněk Brynych, 1962) → Transport z ráje
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Transport z ráje (Film von Zbyněk Brynych, 1962)
Transport z ráje (Film von Zbyněk Brynych, 1962) Der tschechoslowakische Schwarz-Weiß-Film „Transport aus dem Paradies“ (Transport z ráje) thematisiert verschiedene Episoden aus der Geschichte des Ghettos Theresienstadt: Ankunft eines Transports, Dreharbeiten unter Beteiligung der Insassen, Widerstand einiger inhaftierter Künstler, gefolgt von einer Strafdeportation ins Vernichtungslager. Theresienstadt, im Norden von Prag gelegen, wurde 1941 von den Nationalsozialisten als Ghetto für Juden aus Böhmen und Mähren errichtet. Ab 1942 diente es auch als Aufenthaltsort „privilegierter“ deutscher Juden, zu denen später niederländische und dänische Juden kamen. „Transport aus dem Paradies“ ist ein Spielfilm, der 18 Jahre nach dem trügerischen SS-Dokumentarfilm von 1944 an eben dem gleichen Ort gedreht wurde, der unter dem apokryphen Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ bekannt wurde (→ Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet). Regisseur dieses Films war der jüdische Schauspieler und Kabarettist Kurt Gerron. „Transport aus dem Paradies“ gehört damit zu jener Plejade von osteuropäischen Filmen, die an Originalstandorten der ehemaligen Holocaust-Orte gedreht wurden – beginnend mit Mark Donskojs Spielfilm „Die Unbesiegten“ (1945, noch während des Krieges in Babij Jar bei Kiew aufgenommen), dann drei Filme, die 1948 begonnen wurden: die polnischen Filme Wanda Jakubowskas „Letzte Etappe“, Aleksander Fords „Grenzstraße“ und der tschechische Film „Weiter Weg“ von Alfréd Radok, der teils im Studio Barrandov, teils in Theresienstadt gefilmt wurde. Zbyněk Brynychs (1927–1995) Film basiert auf einer literarischen Vorlage, dem 1957 erschienenen Buch „Noc a naděje“ [Nacht und Hoffnung] von Arnošt Lustig, der gemeinsam mit dem Regisseur Brynych das Drehbuch verfasst hatte. Als RegieAssistent und Schauspieler (in der Rolle des Mylord) trug der aus der Slowakei stammende Juraj Herz, der ebenso wie Lustig den Holocaust überlebt hatte, zum Gelingen des Films bei. Die Beteiligung eines KZ-Überlebenden verlieh dem Film eine universale Authentizität, die nicht auf Theresienstadt beschränkt war. Juraj Herz assistierte bei einem anderen tschechoslowakischen Holocaust-Film, Ján Kadárs und Elmar Klos’ Film „Der Laden auf dem Korso“, der 1966 den Oscar erhielt. Einige Motive und Figuren von „Transport aus dem Paradies“ halten sich eng an die reale Historie dieses Ortes: Im Ghetto haben tatsächlich Filmaufnahmen stattgefunden, der widerständige Plakat-Maler Fiala (Jiří Němeček) erinnert an den ermordeten Zeichner Bedřich Fritta, die filmische Figur Marmulstaub (Čestmír Řanda) zielt auf den letzten Judenältesten, Benjamin Murmelstein. Manche Episoden, wie die mit der Schafsherde aus Lidice, haben allegorische Qualität. Die Schafe sind laut Hanno Loewy (2011) zu verstehen als eine mehrdeutige Anspielung, steht der Name Lidice doch für beides: den Widerstand, das Attentat auf Heydrich, aber auch für den Mord an den tschechischen Geiseln. Am Ende wird ein Verzweifelter vor der Deportation rufen: „Nie wieder wie die Schafe“ – für Antonín J. Liehm ein Ruf, der auch in die stalinistische Gegenwart dringen sollte. Eine Episode korrespondiert mit anderen literarischen und filmischen Verarbeitungen des Holocaust: Die illegal Radio hörende Figur Mukl (Vlastimil Brodský) verbreitet im Ghetto Nachrichten über den Vormarsch der Roten Armee. Das Radio als
Transport z ráje (Film von Zbyněk Brynych, 1962)
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Apparat der Hoffnung steht im Zentrum von → „Jakob der Lügner“, einem Projekt, das von Jurek Becker und Frank Beyer 1963 bei der DEFA begonnen wurde und ebenfalls Brodský für die Hauptrolle vorsah. Brynychs Film ist mehrsprachig, da die Figuren überwiegend die wichtigsten Lagersprachen verwenden: Deutsch und Tschechisch. Jan Žalman betont die Nähe des auf jegliches Pathos und Sentimentalität verzichtenden Films zum cinéma verité und sieht ihn als quasi-dokumentarische Darstellung der „kafkaesken“ Scheinwelt des realen Theresienstadt: „Die Realität des Ghettos Theresienstadt war eine künstlich gezüchtete Wirklichkeit, eine Nachahmung der Realität, in der alles wahr und falsch zugleich war […]. Theresienstadt war eine absurde Nachahmung einer menschlichen Gemeinschaft, ein Propagandabluff, der niemanden täuschte, in dem man jedoch leben musste.“ Eine eindrückliche Inszenierung des in Theresienstadt herrschenden „mechanischen Materialismus“ (H. G. Adler 1960) ist das monotone Aufrufen von Nummern bei der Ankunft und dem „Schleusen“ eines Transports. Bei näherem Hinsehen jedoch verfälscht der Film in einem zentralen narrativen Moment die realen Zusammenhänge im Ghetto Theresienstadt. Ein Judenältester (im Film heißt er Löwenbach, gespielt von Zdeněk Štěpánek), der ablehnt, auf Geheiß des SS-Obersturmführers Herz (Ilja Prachař) ein Deportationsverzeichnis abzusegnen, wird durch einen anderen ersetzt, Marmulstaub. Dies entspricht nicht der geschichtlichen Realität des Ghettos auf böhmischem Boden. Eine solche Weigerung fand sich in der tragischen Wirklichkeit des Warschauer Ghettos, aus dem im Juli 1942 Waisenkinder (unter ihnen jene von Janusz Korczak) in das Vernichtungslager Treblinka abtransportiert werden sollten. Der dortige Judenälteste, Adam Czerniaków, wählte lieber den Freitod, als diese Deportationsliste zu unterzeichnen. Man muss dem Film nicht zum Vorwurf machen, dass er Elemente aus der Gesamtgeschichte der Konzentrationslager und Ghettos und der in ihnen eingesetzten jüdischen Selbstverwaltungen synthetisiert. Weniger akzeptabel erscheint heute jedoch die Verleumdung des historischen Murmelstein: „das Porträt Marmulstaubs“ gerät „im Film zur denunzierenden Karikatur“ (Loewy). Die Aburteilung des einzigen überlebenden Judenältesten geschah unter dem Eindruck der im Anschluss an den Eichmann-Prozess erfolgten Auseinandersetzung über die jüdischen „Selbstverwaltungen“. Brynych inszenierte die Tragödie von Theresienstadt nicht als die eines Einzelnen, sondern verknüpfte verschiedene Schicksale. Mit der Darstellung von Menschenmengen erinnert er an die Enge der bis zu zehnfach überbelegten Festungsstadt und gestaltet so visuell die erzwungene Schicksalsgemeinschaft der Juden, die sich in den NaziGhettos selten als ein Volk begreifen konnten. Jan Žalman schreibt von der „Tragödie der Passivität“ in der Ghetto-„Zwangsgemeinschaft“, die jedoch auf den Zuschauer aufrüttelnd wirkte und über die Thematik des Holocausts hinausging. In diesem Film wird das passive Verhältnis zur totalitären Herrschaft verurteilt – und dies bezeichnete mehr eine tschechoslowakische als die jüdische Position. „Transport aus dem Paradies“ thematisiert also auch die Kollaboration der Protektoratszeit, als die Tschechen – anders als die Juden im Ghetto – bewaffneten Widerstand hätten leisten können.
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Der travestierte Nathan der Weise (Posse von Julius von Voss, 1804)
Brynych schließt in seine historisch verbrämte Kritik auch seine eigene Gesellschaft ein, die angesichts der Schauprozesse der Stalinzeit in Tatenlosigkeit verharrte. Der Film wird als eines der ersten Beispiele der tschechoslowakischen Neuen Welle bezeichnet, gefilmt von einem ihrer besten Kameraleute, Jan Čuřík. Lars Haucke sieht seine Kameraführung als Innovation in den Repräsentationskonventionen des Kriegsund Lager-Films: „Er setzt die geometrische Auflösung von Massenarrangements, wie sie Brynych anstrebte, kongenial fotografisch um, indem er statt des klassischen Appellplatz-Motivs der Lagerfilme eine zentralperspektivische Durchsicht durch eine Menschengasse wählt (durch die die aufgerufenen Häftlinge auf den Zuschauer zurennen). Ebenso werden zentralperspektivische Durchsichten für Höfe und Tore, durch die die Häftlinge beim Eintreffen des Transports zu Beginn und bei dem Ausmarsch zum Schluss eilen müssen, genutzt.“ Der Film erhielt den Goldenen Leoparden in Locarno. Brynych war nach seiner Emigration im Jahre 1969 als Regisseur von Krimiserien wie „Der Alte“ und „Derrick“ in der BRD tätig.
Natascha Drubek
Literatur H. G. Adler, Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte, Soziologie, Psychologie, Tübingen 1960². Wolfgang Benz, Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung, München 2013. Natascha Drubek-Meyer, Der Leichenverbrenner (1968) von Ladislav Fuks und seine Verfilmung durch Juraj Herz im Kontext der tschechischen Nachkriegsprosa über den Holocaust, in: Peter Kosta, Holt Meyer, Natascha Drubek-Meyer (Hrsg.), Juden und Judentum in Literatur und Film des slavischen Sprachraums. Die geniale Epoche, Wiesbaden 1999, S. 53–69. Peter Hames, The Czechoslovak New Wave, Berkeley, Los Angeles, London 1985. Lars Haucke, Nouvelle Vague in Osteuropa? Zur ostmittel- und südosteuropäischen Filmgeschichte (1960–1970), Berlin 2008. Hanno Loewy, Rekonstruktion und Groteske: Zbyněk Brynychs Transport aus dem Paradies im Kontext, in: Ronny Loewy, Katharina Rauschenberger (Hrsg.), „Der Letzte der Ungerechten“: der „Judenälteste“ Benjamin Murmelstein in Filmen 1942–1975, Frankfurt am Main 2011, S. 173–201. Antonín Liehm, Closely Watched Films: The Czechoslovak Experience, White Plains, New York 1974. Jan Žalman, Umlčený film. Kapitoly z bojů o lidskou tvář filmu, Praha, Národní filmový archiv 1993.
Der travestierte Nathan der Weise (Posse von Julius von Voss, 1804) Um die Jahrhundertwende entstanden mehrere Nathan-Travestien, die maßgeblich für die nach den Emanzipationsversuchen vieler Juden aktualisierte Rollenklischees waren. Sie parodierten Lessings 1779 veröffentlichtes und 1783 in Berlin uraufgeführtes Drama in fünf Akten → „Nathan der Weise“. Mit diesem Stück hatte Lessing seinem Freund Moses Mendelssohn ein literarisches Denkmal gesetzt. Das zur Zeit des Drit-
Der travestierte Nathan der Weise (Posse von Julius von Voss, 1804)
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ten Kreuzzuges während eines Waffenstillstands in Jerusalem spielende Stück gilt als Toleranzdrama, das die Gemeinsamkeiten von Juden, Christen und Muslimen zu verdeutlichen suchte. Recha, die Pflegetochter des Juden Nathan, wird von einem jungen Ordensritter aus einem brennenden Haus gerettet. Dieser junge Christ war zuvor von Jerusalems Herrscher, dem muslimischen Sultan Saladin als einer von zwanzig Gefangenen begnadigt worden. Grund für die Begnadigung war seine Ähnlichkeit mit Assad, dem verstorbenen Bruder Saladins. Die adoptierte Tochter des weisen und gütigen Nathan stellt sich am Ende als die Schwester des christlichen Tempelherrn heraus und beide sind Kinder von Saladins Bruder. Damit wird die Nähe der jüdischen, christlichen und muslimischen Religion in familiärer Nähe erfahren. „Der travestierte Nathan der Weise“ erschien 1804 anonym, 1856 dann in gekürzter Fassung. Der Autor war Julius von Voss (1768–1832), ein preußischer Offizier. 1798 war er aus dem Militärdienst ausgeschieden und hatte das Schreiben begonnen. Neben militärtheoretischen Schriften verfasste er Satiren und Unterhaltungsliteratur. Voss transponiert die Vorlage Lessings in eine Posse in zwei Akten. Aus der Froschperspektive erzählt er das Stück und karikiert dabei die jüdischen Hauptfiguren ins Negative, er versieht sie mit stereotypen Zuschreibungen, die als jüdisch gelten. Nicht Weisheit und Toleranz zeichnen Nathan aus, sondern die vermeintlich jüdischen Eigenschaften Geschäfte machen und Schachern. Sprachlich baut von Voss in erheblichem Maße Hürden ein. Die jüdischen Figuren haben einen starken „jüdischen“ Akzent, was dazu führt, dass das Verständnis für und die Verständigung mit den jüdischen Figuren und dem Publikum erschwert werden. Das deformierte „Judendeutsch“ dient der Belustigung der Zuschauer und bedient das Vorurteil, Juden seien nicht in der Lage, Hochdeutsch zu sprechen. Die besondere Zurschaustellung dieses Vorurteils wird auch in Voss’ Autorenbemerkungen deutlich: „Es gefällt mir gar nicht. Der Gewohnheitszwang läßt, wie es scheint, die arme Recha schwer zum Purismus gelangen.“ Über eine Eigenschaft, die er selbst seiner Figur zugeschrieben hat, belustigt er sich. Voss stellt seine jüdische Hauptfigur als durchtrieben dar, sogar dazu bereit, die eigene Tochter mit einem Christen zu vermählen, solange es nur Geld bringt. Schmeichelnd wo immer er einen Vorteil für sich erhofft – ein eindeutiges Zeichen für fehlende Überzeugung und Moral, womit den Juden auch religiöse Integrität abgesprochen wird. Damit erfüllen Voss’ jüdische Figuren ein durchweg negatives Rollenklischee. Dazu werden ihnen negative Eigenschaften zugeschrieben, die dann kritisiert werden. Dies ist typisch für antisemitische Ressentiments, zunächst erfolgen Zuschreibungen allein aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, dann werden diese pauschal verurteilt.
Angelika Benz
Literatur Klaus-Michael Bogdal, Matthias Holz, Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart, Weimar 2007. Martin Gubser, Literarischer Antisemitismus, Göttingen 1998.
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Triumph des Willens (Film von Leni Riefenstahl, 1934)
Triumph des Willens (Film von Leni Riefenstahl, 1934) Nachdem Leni Riefenstahl bereits den 5. Reichsparteitag 1933 in Nürnberg („Sieg des Glaubens“) filmisch begleitet hatte, führte sie auf besonderen Wunsch Hitlers auch die Regie beim Dokumentarfilm über den Nürnberger Reichsparteitag 1934 („Das Dokument vom Reichstag 1934. Hergestellt im Auftrage des Führers“). Hitler selbst kreierte den Titel „Triumph des Willens“ für die filmische Propaganda-Dokumentation Riefenstahls. Ein Drittel der Filmbilder und der Redezeit sind Hitler vorbehalten. Im Gegensatz zu ihrem ersten Parteitagsstreifen, der – trotz guter Besprechungen („Bildsinfonie“; „Eroica des Reichsparteitages“) – filmische Schwächen aufwies, hatte Riefenstahl nun alle Mittel zur Verfügung, um einen – nach damaligen Maßstäben – technisch hochmodernen Film zu drehen, der Aufmärsche und Reden dokumentieren sollte, schließlich aber weit darüber hinaus ging und zu einem nationalsozialistischen Propagandafilm wurde. Unzählige Kameraleute waren eingesetzt, Weitwinkel und teleskopische Objektive wurden verwendet, um die Reaktionen des Publikums und die Rituale der Massenveranstaltung, die den Führerkult zwischen Realität und Fiktion transportierte, detailgetreu einzufangen. Am 28. März 1935 wurde „Triumph des Willens“ im Beisein Hitlers im Ufa-Palast in Berlin – vor einer staatsaktähnlichen Kulisse – uraufgeführt und mit einer breit angelegten Pressekampagne beworben. Das Resultat waren bereits in der ersten Woche Rekordbesucherzahlen in den Kinos; Schüler wurden verpflichtet, den Film anzusehen. Um auch das Publikum jenseits der Städte zu erreichen, wurden Vorführwagen der Gaufilmstellen durch das Land geschickt. Noch im selben Jahr, am 1. Mai erhielt Riefenstahl den „Nationalen Filmpreis“, die höchste filmische deutsche Auszeichnung. Im Herbst lief der Film auf der Biennale in Venedig im Wettbewerb, gewann jedoch keinen Preis. 1937 wurde der Film, dessen große Montagekunst beeindruckte und dem selbst die ausländische Nachkriegs-Filmkritik hohe ästhetische Qualität bescheinigte, mit dem „Diplome de Grand Prix“ auf der „Exposition Internationale des Arts et Techniques dans la Vie Moderne“ in Paris ausgezeichnet. Mit den Masseninszenierungen, der propagandistisch aufgeladenen Bildsprache sowie der musikalischen Untermalung gelang es Riefenstahl, einem breiten Publikum den auf dem Parteitag inszenierten Führerkult, der als eine Art Ersatzreligion kolportiert wurde, sowie die Selbstinszenierung der NSDAP und ihrer Nürnberger Parteitagsrituale nahezubringen und schließlich weit mehr Wirkung zu erzielen, als der eigentliche Parteitag bei den Teilnehmern vor Ort ausgelöst hatte. Durch die moderne Filmtechnik – zu deren Umsetzung Riefenstahl in der ganzen Stadt Schienen für die Kameraführung verlegen ließ – wurde der Führer zu einem höheren Wesen stilisiert, der in Fackelschein und Fahnenmeer übermächtig in den Vordergrund tritt. Die bildliche Überhöhung, die durch die Untersicht erzielt wurde, d. h. eine Kameraführung, die die Gesichter/Personen von unten aufnimmt und so teilweise bis ins Religiös-Göttliche überhöht, übertraf die Realität in Nürnberg, war also wirkmächtiger und beeinflusste das Kinopublikum weit mehr als das Ereignis selbst. Die ersten Filmsequenzen zeigen das Flugzeug mit dem Führer über den Wolken. Musikalisch untermalt durch Wagners Meistersinger von Nürnberg durchbricht die Maschine das Wolkenmeer und der Führer wird nach der Landung mit frenetischem Jubel in Empfang genommen. Vom Flughafen fährt Hitler im Autokorso durch ein
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Spalier von Menschenmassen; Fanfarenklänge begleiten den Einzug des Führers in Nürnberg. Massenszenen in militärischen Formationen wechseln mit Nahaufnahmen heroisierter Männer, die dem „arischen“ Prototyp entsprechen, den Riefenstahl später in ihrem Olympiafilm noch ikonenhafter und idealisierter darstellen wird. Die Individualisierung einzelner Männer – neben jener der NS-Führung – dient der Darstellung männlicher Körperlichkeit, entsprechend der NS-Rassenpolitik, die immer wieder durch Untersicht zu einer Überhöhung der Personen führt. Solche Bilder wechseln mit jenen der Aufsicht auf die Massenchoreografie der SA- und SS-Formationen, verwoben mit Bildern der Reichsarbeitsdienstformationen und Musikzüge der Wehrmacht. In einer Einstellung (Supertotale) sieht man, von oben gefilmt durch eine an einem Fahnenmast angebrachte Kamera, die sich von oben nach unten durch einen Fahrstuhl bewegen ließ, die entindividualisierten Menschenblöcke und einen breiten Korridor über den drei Personen – von der Ferne erkennbar – marschieren: Adolf Hitler, Heinrich Himmler, Viktor Lutze. Die Filmwissenschaftlerin Sonja M. Schultz bezeichnet „Triumph des Willens“ als „maßgeblichen Werbefilm des faschistischen Kults und die maßgebliche Selbstikonisierung Hitlers“. Die zeitliche Abfolge der Ereignisse auf dem Parteitag bzw. die ineinander verwobenen Örtlichkeiten werden zugunsten der filmisch überhöhten und ikonografischen Darstellung aufgehoben und widersprechen insofern jeder chronologischen Grundlage eines Dokumentarfilms. Trotz begeisterter Zuschauer kursierten bald im Volksmund ironische Zuschreibungen wie „Triumph des Brüllens“ und „Wunder der Dressur“. Szenen aus Riefenstahls „Triumph des Willens“ fanden Verwendung in Hipplers Film → „Der ewige Jude“: als „arisches“ Gegenbild zum rassistisch konnotierten Juden. Die britische Propaganda nutzte während des Krieges Filmausschnitte zur antideutschen Propaganda. Auch nach Ende des Krieges wurden immer wieder Sequenzen aus „Triumph des Willens“ in Filmen – etwa auch über Leni Riefenstahl – zitiert, ohne ihre propagandistischen, selbstinszenatorischen Absichten zu hinterfragen bzw. näher zu erläutern. Eckart Dietzfelbinger vom Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände konstatiert: „Bis heute kommt fast keine NS-Dokumentation ohne Bilder aus diesem Film aus.“ „Triumph des Willens“ wurde von den Alliierten nach Kriegsende zunächst verboten. Heute ist er nicht indiziert und auch kein „Vorbehaltsfilm“ im eigentlichen Sinne, allerdings schreibt das Bundesarchiv vor, dass die öffentliche Vorführung nur im wissenschaftlichen Rahmen bzw. entsprechend begleitet erfolgen darf. Die Rechte an dem Film hatte die bundeseigene Transit Film GmbH (Bundesarchiv), bis zu ihrem Tod 2003 musste Riefenstahl die Vorführung genehmigen und erhielt 70 Prozent der Einnahmen. Es kam zu einem Interessenkonflikt: Riefenstahl verweigerte bei einer zu erwartenden kritischen Kontextualisierung die Vorführgenehmigung. Die Transit GmbH hingegen forderte, dass der Film wissenschaftlich begleitet wurde. Vorschriften bezüglich der Vorführung des Films sind heute insofern obsolet, als der Film über YouTube im Internet zu sehen ist, etwa in einer mehrteiligen Fassung mit italienischem Untertitel oder einer vollständigen, englisch untertitelten Ausgabe, die über eine italienische Seite ins Netz gespeist wurde und von Ende August 2013 bis Januar 2014 mehr als 30.000 Zugriffe aufweist.
Juliane Wetzel
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Der Tunnel (Roman von Bernhard Kellermann, 1913)
Literatur Julia Jacobs, Philipp Schepp, Triumph des Willens, in: Thomas Hoeren, Lena Meyer, Verbotene Filme, Berlin 2007. Sonja M. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film. Von Triumph des Willens bis Inglourious Basterds, Berlin 2012. Markus Urban, Die Konsensfabrik. Funktion und Wahrnehmung der NS-Reichsparteitage, 1933–1941, Göttingen 2007.
Trötte Teodor (Film, 1931) → Schwedische Kinoproduktionen
Der Tunnel (Roman von Bernhard Kellermann, 1913) Der Science-Fiction-Roman „Der Tunnel“ von Bernhard Kellermann (1879–1951) gilt als der erste deutsche Bestseller im 20. Jahrhundert. Das Werk wurde in 25 Sprachen übersetzt und hatte insgesamt mehr als eine Million Auflage und drei Verfilmungen: 1915 eine deutsche, 1933 eine deutsche und französische und 1935 eine englische Fassung. Der Held der Geschichte ist der geniale Ingenieur Mac Allan, der nach fünf Jahren unermüdlicher Arbeit an seinem Allanit-Diamantstahl beabsichtigt, binnen 15 Jahren einen Eisenbahntunnel zwischen den USA und Europa zu bauen, um seine Erfindung zur Schau zu stellen. Die Finanzierung für seinen Plan sucht er bei Charles Horace Lloyd, einem der reichsten Männer Amerikas, der ihm 25 Millionen Dollar verspricht. Das Restkapital muss er bei Großbanken und Industrie auftreiben. Eine Finanzgruppe genehmigt das Projekt und stellt das entstandene „Atlantik-Tunnel-Syndikat“ unter die Leitung von „Lloyds right-hand-man“, dem jüdischen Bankier Samuel Woolf. Die Beschreibung Woolfs unterstreicht seine Fremdheit und greift auf die üblichen körperlichen Charakteristiken des „orientalischen Typus“, wie es im Text heißt, zurück: das heißt „wulstige Lippen, eine starke, gekrümmte Nase, kurzes, schwarzes, gekräuseltes Haar“. Sein ganzes Leben besteht aus einem Aufstieg durch Verwandlung und Anpassung, wenn nicht Verschleierung. In Ungarn unter dem Namen Wolfsohn geboren, zieht er anschließend von Budapest über Wien, Berlin, London und Chicago nach New York auf der Suche nach Reichtum und Macht. In London ändert er seinen Namen in Wolfson und lässt sich katholisch taufen. In den USA wird er Sam Wolf und endlich Woolf, um nicht mit einem Deutschen verwechselt zu werden. Der durchlaufende Kontrast zwischen dem raffenden Kapitalisten Woolf und dem schaffenden Kraftmenschen Allan könnte kaum stärker sein. Allan interessiert sich für die allgemeine Nutzung des Tunnels als Gemeinschaftsprojekt: Er sollte „Eigentum des Volkes, Amerikas, der ‚ganzen‘ Welt werden“. Woolf zielt hingegen lediglich auf Eroberung. Die Art und Weise, wie Woolf seine Finanzgewalt ausübt, wird mit einem General auf dem Schlachtfeld verglichen: „S. Woolfs Dollar waren Milliarden rasender kleiner Krieger, die sich mit dem Geld aller Nationen und aller Rassen schlugen.“ Im Gegensatz zu Woolf berücksichtigt – der vermutlich christliche – Lloyd sogar die Sozialkosten seiner wirtschaftlichen Aktivitäten und spendet Millionen für gemeinnützige Projekte, um irgendwelche Schäden auszugleichen. Darüber hinaus interessiert sich Woolf nicht nur für Geld. Seine „außerordentliche Sinnlichkeit“ wird im Hinblick auf Frauen geradezu zum perversen Laster. Hier geht Woolf nicht bloß seinen eroti-
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schen Trieben nach, sondern verfolgt auch rassistische Ziele. Die von ihm bevorzugten „Mädchen mußten schön, jung, schwellend und blond sein; besonders Engländerinnen, Deutschen und Skandinavierinnen gab er den Vorzug“. Den Grund für diese besondere Auswahl erklärt der Erzähler: „Er rächte sich an jener hochmütigen blonden Rasse, die ihn früher mit dem Fuß ins Gesicht trat, indem er jetzt ihre Frauen kaufte.“ Nach beeindruckenden Fortschritten kommen im 7. Baujahr durch eine Explosion 10.000 Arbeiter im Stollen ums Leben, worauf sich die öffentliche Meinung plötzlich ändert. Ein wütender Mob erschlägt Allans Frau und Tochter, als diese Verletzte im Krankenhaus besuchen. Außerdem wird das Projekt bestreikt. Bei Großdemonstrationen in New York City werden Bilder von Allan, Lloyd und Woolf aufgehängt, wobei Letzterer als „Jude und Champion der Schwindler“ bezeichnet wird. Daraufhin büßt die Syndikat-Aktie 50 Prozent ein und es droht der Zusammenbruch des Projekts. Aber Woolf, wie es heißt, „zauberte eine verführerische Bilanz vor die Öffentlichkeit, er bestach ein Heer von Börsenberichterstattern und überschüttete die Presse der alten und neuen Welt mit beruhigenden Communiqués“, wodurch sich der Kurs der Aktie wieder erholt. Doch trotz aller rettenden Aktionen bleibt Woolf ein Außenseiter. Vor allem der technische und gesellschaftliche Erfolg Allans bringt ihn gegen den Ingenieur auf. Aus Neid wird schließlich Zorn, und Woolf wünscht sich bloß noch, Allan zu knechten. Nach diesem Punkt will er Allan und das ganze Syndikat unterwerfen. Das Geld an sich bedeutet ihm nichts mehr; es ist nur Mittel zum Zweck, nämlich Macht. Er will im Mittelpunkt stehen, um den Endsieg zu erringen. Daher plant Woolf, den Tunnel durch eine feindliche Übernahme zu kapern und somit Allan dessen Meisterwerk vorzuenthalten. Woolf spielt mit den Geldreserven des Syndikats, um seine Kriegskasse gegen Allan aufzubauen. Aber Lloyd wird misstrauisch und ermittelt. Als Allan Woolf beschuldigt, sieben Millionen Dollar verspielt zu haben, verraten die Augen dieses „haarigen, fremdrassigen Asthmatikers“ nichts als „beherrschte Mordgier“. Woolf überlegt, ob er Allan seine Motivation erklären soll, meint aber, dass ihn der Techniker nicht verstehen könne und er nur „gegen die Mauer des bürgerlichen, hanebüchenen Ehrlichkeitsbegriffes“ rennen würde. Darauf wird Woolf von Lloyds Belegschaft verfolgt. Um zu entkommen, springt er plötzlich vor eine U-Bahn in den Tod, was einen Skandal auslöst. Die Aktie stürzt, andere Verwickelte begehen Selbstmord und es wird nochmal gestreikt. Darauf wird Allan finanzieller Unregelmäßigkeiten beschuldigt und verurteilt, bis er in letzter Instanz freigesprochen wird. Im 24. Jahr kann schließlich der Tunnelbau beendet werden.
Matthew Lange
Literatur Christa Miloradovic-Weber, Der Erfinderroman 1850–1950. Zur Literarischen Verarbeitung der Technischen Zivilisation. Konstituierung eines Literarischen Genres, Bern 1989. Harro Segeberg, Literarische Technik-Bilder. Studien zum Verhältnis von Technik- und Literaturgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Tübingen 1987.
Ufa-Tonwoche → Deutsche Wochenschau
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Ulmer Simon-Gedicht (15. Jahrhundert)
Ulmer Simon-Gedicht (15. Jahrhundert) Mit dem legendären jüdischen Ritualmord an dem Knaben Simon von Trient 1475 wurde ein Kult begründet, der mit der Heiligsprechung des „Opfers“ eine Wallfahrt populär machte. Erst 1965 wurde die Verehrung des Simon von Trient als Märtyrer amtskirchlich unterbunden. Zur Blütezeit brachte der Kult zahlreiche Devotionalien und Andachtshilfen wie das Ulmer Simon-Gedicht hervor (siehe auch → Nürnberger Simon-Gedicht). Der in der bekannten Ulmer Zainer-Werkstatt um 1490 entstandene Einblattdruck mit Bild des Heiligen in der Pose des „Martyr triumphans“ samt erläuterndem Reimpaartext stellt den triumphierenden kindlichen Heiligen effektvoll in den Mittelpunkt. Das in einem Holzschnitt ohne Wunden abgebildete und von einem Heiligenschein gekrönte Kind hält triumphierend eine Standarte, eine Pose, die nicht zufällig an den auferstandenen Christus erinnern soll, zumal Martyrium und Auffindung der Kinderleiche in Analogie zu Christi Passion und Auferstehung im beigegebenen Reimpaartext geschildert werden. Dabei spricht der Text die Leser oder Zuhörer emotional direkt an, weil die Verse aus der Perspektive des kleinen Knaben in anrührender Weise die von den Juden zugefügten Leiden einzeln und drastisch bis zum Auffangen des Kinderbluts in einer Schüssel und der Verspottung des leidenden Kindes (in Analogie zur Passion Christi) schildern. Die Apostrophierungen der abwesenden Eltern durch das leidende Kind appellieren rhetorisch geschickt an das Mitleiden, um nicht zu sagen die Compassio der Rezipienten des Drucks, denn Bild wie Text operieren geschickt mit Assoziationen der Passion Christi, die etwa durch die in zahlreichen deutschen Städten inszenierten → Passionsspiele (ebenso wie durch bildkünstlerische Darstellungen) auch einem analphabeten Publikum bis in grausige Details hinein vertraut war. Im Passionsdrama wie im monologischen Simon-Gedicht werden überdies die Juden expressis verbis als Mörder gebrandmarkt. In der Summe kann das Text-Bild-Werk als Kultätiologie wie Andachtsbild selbst angesprochen werden. Als Adressaten sind aufgrund der Volkssprache christliche Laien anzusehen. Durch die Ich-Rede des Kindes und seine Appelle an die abwesenden, aber individuell gezeichneten Eltern Simons konnten insbesondere Eltern für den Simon-Kult gewonnen werden.
Klaus Wolf
Literatur Petra Schöner, Judenbilder im deutschen Einblattdruck der Renaissance. Ein Beitrag zur Imagologie, Baden-Baden 2002. Nicole Spengler, Das er in sijm leiden gheglicht ist der marter vnsers heren. Legendenbildung um Simon von Trient. Ein Ritualmordkonstrukt, in: Ursula Schulze (Hrsg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen, Tübingen 2002, S. 211–231. Wolfgang Treue, Der Trienter Judenprozeß. Voraussetzungen – Abläufe – Auswirkungen (1475–1588), Hannover 1996. Franz Josef Worstbrock, ‚Simon von Trient‘, in: Kurt Ruh, Burghart Wachinger [u. a.] (Hrsg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Band 8, Berlin, New York 1992, Sp.1260–1275.
Unser Verkehr (Posse von Karl Borromäus Sessa, 1815)
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Um das Menschenrecht (Film von Hans Zöberlein und Ludwig SchmidWildly, 1934) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Unser Verkehr (Posse von Karl Borromäus Sessa, 1815) Die Aufführung der judenfeindlichen Posse „Unser Verkehr“ des weitgehend unbekannten Autors Karl Borromäus Sessa (1786–1813) führte 1815 zu einer bis dahin unbekannten gesellschaftlichen Auseinandersetzung über Judenfeindlichkeit auf der Theaterbühne. Der Inhalt des Einakters – sein ursprünglicher Titel „Die Judenschule“ war 1815 wegen der Zensurbehörden abgeschwächt worden – ist rasch erzählt: Jakob, der Sohn des „Trödeljuden“ Abraham Hirsch, wird mit falschen Groschen und dem Auftrag, als reicher Mann zurückzukehren, in die Welt geschickt. Da er sich für ein Genie hält, beschließt er, mit seinen Talenten Handel zu treiben, macht sich aber in verschiedenen Begegnungen mit seinem Assimilierungs- und Bildungsbemühen stets lächerlich. Erst durch die irrtümlich ausgegebene Nachricht seines Losgewinns liegen ihm plötzlich sämtliche Bewohner des Städtchens zu Füßen und er darf die angebetete, ihn zuvor aber abweisende Tochter eines reich gewordenen Juden heiraten. Doch dazu kommt es nicht. Als der Irrtum aufgedeckt wird und sich alle von ihm abwenden, erkennt Jakob geläutert seine Bestimmung als „Trödeljude“. Das Stück präsentierte herkömmliche „Bühnenjuden“ mit stigmatisierender Körperzeichnung und Travestie als zentralem Komikelement in einer Zeit, als sich um 1800 das aufklärerische Theater mit literarischen Judenrollen längst neu definiert hatte. „Unser Verkehr“ war getragen von einem gehässigen, alte Stereotype und gerade neu entstehende Ressentiments verknüpfenden Antijudaismus. Seine Judenfiguren zeichnete Sessa als würdelose geldgierige Wesen, zugleich verspottete, karikierte, verzerrte und verhöhnte er die jüdische Assimilation. Indem alt hergebrachte judenfeindliche Stereotype auf neue diffamierende Rollentypisierungen eines akkulturierten städtischen Judentums wie die des aufstrebenden „Assimilationsjuden“ projiziert wurden, schürte die Posse einen gegenwartsbezogenen Judenhass und Aggressionen gegen die jüdische Emanzipation. Neben der stigmatisierenden Figurenzeichnung wurde mit der ebenfalls zeittypischen Verballhornung des jiddischen Idioms als Figurensprache ein weiteres charakteristisches Element der antijüdischen Posse effektheischend eingesetzt. Dessen virtuose Ausgestaltung als „jüdische Deklamation“ gehörte zu den bejubelten Spezialitäten des Schauspielers Albert Ferdinand Wurm (1783–1834), von dem es in der „Allgemeinen Deutschen Biographie“ heißt, er „glänzte [...] in der Wiedergabe lächerlicher jüdischer Figuren“. Der Schauspieler Ludwig Devrient (1784–1832), der mit Sessa befreundet war und neben Wurm der zweite spätere Bühnenstar der Berliner Aufführungen von „Unser Verkehr“ wurde, brachte das Stück schließlich nach Berlin. Der Autor Sessa war bereits 1813 verstorben und wäre wohl längst im Dunkel der (Theater-) Geschichte verschwunden, hätte sein Stück nicht zwei Jahre nach seinem Tod für einen handfesten Berliner Theaterskandal gesorgt. Bereits nach zwei Aufführungen noch zu Lebzeiten Sessas in Breslau aufgrund von Protesten verboten, kündigte nun der Spielplan des Königlichen Schauspielhauses in Berlin für den 1. Juli 1815 die Aufführung der Posse
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an. Da es nur eine Handschrift Sessas, aber keine Textausgabe des Stückes gab, kann davon ausgegangen werden, dass es sowohl dem Publikum als auch den Zensurbehörden zu diesem Zeitpunkt unbekannt war. Erst buchstäblich in letzter Minute ließ der preußische Staatskanzler Karl August von Hardenberg (1750–1822) die Aufführung verbieten – das Publikum saß bereits im Saal. Hardenberg befürchtete, die Berliner Juden könnten sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt sehen und das aufgehetzte Publikum könnte sich in Aggressionen gegen sie ergehen. Dieses Verbot wiederum machten der Schauspieler Wurm und der Intendant des Hauses, Carl Graf von Brühl (1772–1837), zum Skandal, heizten die Stimmung massiv an (eine achtwöchige Skandalberichterstattung, die oft genug mit antisemitischen Auslassungen in „satirischer Form“ nicht sparte, tat ein Übriges) und erreichten tatsächlich eine Aufführungsgenehmigung. Am 2. September 1815 war es dann soweit: Mit der Premiere begann ein nie zuvor gesehener Theatererfolg mit geradezu sensationellen Kassenergebnissen. In elf Aufführungen, so stellte das „Dramaturgische Wochenblatt“ am 4. Mai 1816 fest, habe „Unser Verkehr“ 8976 Gulden eingespielt, d.h. jede Aufführung im Schnitt 816 Gulden, wohingegen das bisherige Maximum eines Stückes bei 665 Gulden gelegen habe. Das „Dramaturgische Wochenblatt“ war an diesem Erfolg nicht ganz unbeteiligt: Es hatte die ersten Szenen der Posse abgedruckt, im Verlag des Blattes war im Oktober 1815 schließlich auch die erste Textausgabe unter dem neuen Titel „Unser Verkehr“ erschienen. Die Aufführungen verhalfen dem Theater zu klingelnden Kassen, dem bald zur „Musterposse“ avancierten Stück zum Durchbruch und zu einem festen Platz unter den einflussreichen antisemitischen Werken in deutscher Sprache sowie der Berliner Öffentlichkeit zu einer aufgeheizten Atmosphäre. Dabei kam es zu regelrechten Theaterunruhen, bei denen sich Christen und Juden feindlich gegenüberstanden. Die manchmal handgreiflich und direkt im Theater ausgetragenen Kämpfe beförderten den Erfolg des Stückes erheblich, zumal die Presse es sich nicht nehmen ließ, ausführlich darüber zu berichten. Auch die Interaktion zwischen Schauspielern und Publikum bekam eine ganz neue Dimension, als Wurm auf der Bühne in ein Handgemenge mit aufgebrachten Zuschauern geriet. Die judenfeindliche Stimmung – die auch im Kontext der gleichzeitig diskutierten bürgerlichen Emanzipation der Juden und des preußischen Emanzipationsedikts von 1812 zu sehen ist – provozierte selbstredend auch Gegenreaktionen. In einem Flugblatt gegen Wurm hieß es: „Daß du in ‚Unserm Verkehr‘ die Juden verspottest, die Ursach, sie begreift sich so leicht: bist du selbst doch ein Schwein.“ Der Berliner Theaterskandal zeigte langanhaltende Wirkung weit über das Theater hinaus. Drucke der diffamierenden Klischeegestalten des Stückes wurden erfolgreich bis in die NS-Zeit hinein verlegt, kleine Sammelfiguren, wie sie beispielsweise unkommentiert im Jüdischen Museum der Schweiz in Basel zu sehen sind, stellten Szenen aus der Posse nach und fanden weite Verbreitung. Rahel Varnhagen reihte das Stück sogar unter die Wegbereiter der Hepp-Hepp-Krawalle von 1819 ein. „Unser Verkehr“ verweist mithin darauf, dass am Theater schon Formen eines säkularen, so-
Le Veau gras (Theaterstück von Bernard Zimmer, 1924)
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zial begründeten und vom christlichen Antijudaismus deutlich entfernten Antisemitismus existierten, bevor es überhaupt das Wort dafür gab.
Monika Schmidt/Bjoern Weigel
Literatur Hans-Joachim Neubauer, Auf Begehr: Unser Verkehr. Über eine judenfeindliche Theaterposse im Jahr 1815, in: Rainer Erb, Michael Schmidt (Hrsg.), Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss, Berlin 1987, S. 313–327. Hans-Joachim Neubauer, Judenfiguren. Drama und Theater im frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main, New York 1994. Matthias Richter, Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750–1933). Studien zu Form und Funktion, Göttingen 1995.
Unsere Klasse (Theaterstück von Tadeusz Słobodzianek, 2009) → Nasza klasa
Le Veau gras (Theaterstück von Bernard Zimmer, 1924) „Le Veau gras“ [Das Mastkalb], das erste Theaterstück von Bernard Zimmer (1893– 1964), wurde am 14. März 1924 in einer Inszenierung von Charles Dullin uraufgeführt, bevor Serge de Poligny den Stoff 1939 auf die Leinwand brachte. Erzählt wird die Geschichte zweier Brüder: Der eine ist fleißig, bleibt in der Provinz an der Seite seines Vaters, bringt das Familienunternehmen – eine Apotheke – zu neuer Blüte und liebt ein lauteres junges Mädchen. Der andere hingegen ist vom schnellen Geld verführt und wird in Paris zum Gigolo einer Gräfin (die im Film eine Prinzessin ist). Der Vater, der es mit der Moral sehr genau nimmt, befiehlt seinem Sohn, nach Hause zurückzukehren. Doch es dauert nicht lange, da erliegt auch er den Lockungen des „schnellen Geldes“: dank der Freigiebigkeit der Gräfin, die den Bürgermeister und den Gemeindepfarrer mit hohen Summen fördert. „Sie verteilen Gold – doch aus unreinen Händen“, beschuldigt sie der Kassenbeamte bei der Post. Er ist die moralische Figur der Gemeindeverwaltung, die sich nicht durch Geld korrumpieren lässt. Doch Ende gut, alles gut, denn die einfachen Anstandsregeln der Provinz werden über die verdorbenen Pariser Gepflogenheiten triumphieren. Das Stück und der Film sind dort interessant, wo es um die Figur des Impresarios geht (und nicht um den Bankier oder Geschäftemacher): ein Mittelsmann, der sich auf Kosten von Künstlern bereichert und der – für die Antisemiten der 1930er-Jahre – immer ein Jude ist, wie es schon Lucien Rebatet in „Les tribus juives de théâtre et cinéma“ [Die jüdischen Sippen des Theaters und Kinos] behauptet hatte, indem er „die jüdische Bande der Impresarios“ geißelte. Gemäß den Stereotypen dieser Zeit hat der jüdische Impresario zur klassischen französischen Kultur keinen Zugang und brüstet sich damit, neue Werke – in der Regel primitiv und vulgär – zu präsentieren. Auch Grüßgott in „Le Veau gras“ entspricht diesem Klischee: eine lachhafte Persönlichkeit, die von einem Hausangestellten vorgestellt wird, der es nicht schafft, seinen als „schwierig“ eingestuften Namen auszusprechen. Grüßgott sieht sich selbst „an der Spitze der Avantgarde“, als „Talent-Entdecker“ und „Apostel“. Der süßliche Speichellecker erweist sich als ein fürchterlicher
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Erpresser, bereit, gegen jeden anzutreten, der sich ihm in den Weg stellt („Man hat mich schon vor Gericht gezogen! Ich hatte Unterlagen über die Richter...“). Er ist ein „alter Bandit“, „der das ausländische Dunkel importiert und die nationalen Eitelkeiten ausnutzt“, wie es in der Kritik der populären Zeitung „Le Gaulois“ hieß. Auf der Bühne wurde die Figur des Grüßgott von Lucas Gridoux (eigentlich Grimberg) gespielt, der auf Verräterrollen abonniert war: Er spielte später den Judas in „Golgotha“ von Julien Duvivier. Auf der Leinwand war Robert Le Vigan als Grüßgott zu sehen und spielte aufgrund seiner unheimlichen Erscheinung meist Erpresser und zwielichtige Gestalten. Wenn Grüßgott „bei uns“ sagt, wird er sofort „wo?“ gefragt: Ein Jude kann kein Franzose sein. Im anzüglichen Pariser Milieu, das Zimmer beschreibt (im Gegensatz zur Provinz, wo man wirkliche Gefühle empfindet), ist der Schlimmste, der alle Fäden zieht, der Jude. Die andere „ausländische“ Person im Stück (was Bernard Zimmer im Text jedoch nicht präzisiert) ist die Gräfin, eine sehr reiche Frau „von öligem, kraftlosen Charm“, wenig ehrbar und von Gigolos umgeben. Auf dem Theater wurde sie von Madame Dullin gespielt, die vor keiner Karikatur zurückschreckte und die „wunderbar den slawischen Akzent imitiert“. „Slawisch“ war im Vokabular der Zeit oft ein Synonym für „jüdisch“ oder zumindest erinnerte es an ein finsteres „Anderswo“. Im Kino spielte Elvire Popesco die Gräfin, gab ihr jedoch eine sympathische Seite, die besser zur Berühmtheit der Schauspielerin passte. Gleichwohl blieb sie Ausländerin und übertrieb ihren Akzent. In „Le Beau Danube rouge“ [Schöne rote Donau], einem anderen Stück Bernard Zimmers, das vom „wunderbaren Buch“ „Quand Israël est roi“ [Wenn Israel König ist] der Brüder Tharaud inspiriert wurde, zeigte der Autor, inwieweit die kommunistische Revolution, die 1919 in Budapest stattfand, von Juden geschürt worden sei. Zwar hatte der Revolutionsführer Béla Kun – Sohn eines jüdischen Vaters und einer calvinistischen Mutter – niemals den jüdischen Glauben praktiziert, doch Juden seien, wie Zimmer hervorhob, „Menschen ohne Skrupel oder Reue, wenn sie eine Welt opfern, der sie zutiefst fremd bleiben werden“. Fremd ist das bestimmende Wort: Juden sind der Kultur fremd (wie der Impresario in „Le Veau gras“ oder der Regisseur in „Le Beau Danube rouge“), wie sie dem Vaterland fremd sind (sie haben keine Bindung an die Erde, auf der sie geboren wurden oder die sie aufgenommen hat – eine Bemerkung Béla Kuns bestätigte diese Plattitüde: „Die Revolution wird niemals von den Menschen des Landes gemacht, in dem sie stattfindet.“). In dem Stück ist nicht die Verurteilung einer blutigen Revolution oder eines kurzlebigen Kommunistenführers problematisch, sondern die Tatsache, dass der Autor versucht, die Rolle und die Verantwortung „der Juden“ in allen politischen „Katastrophen“ des Jahrhunderts nachzuweisen. An der Seite Béla Kuns sitzt der ewige „reiche Jude von fürchterlicher Gutmütigkeit“, wie ihn Zimmer definiert, der vonseiten der Kritik her Raum schafft für unvermeidliche Auslassungen über unlautere Geschäftsmänner, die es bis zur Perfektion beherrschen, „von allem zu profitieren, von der Ordnung wie vom Chaos, von Kriegen und Revolutionen, von den Lastern und Gelüsten der einen wie von den Idealen und Großherzigkeiten der anderen“. Das Drehbuch zu „Le Beau Danube rouge“ wurde von der Film-Produktionsfirma Paramount abgelehnt – nicht etwa wegen des Antisemitismus, sondern wegen des Wortes „rot“, das zu dieser Zeit Angst machte.
Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm (Frankreich)
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Um das Bild des Juden, das Zimmer zeichnet, zu vervollständigen, muss das Drehbuch von → „L’Argent“ [Das Geld] erwähnt werden, das er für den Film von Pierre Billon aus dem Jahr 1936 schrieb. Während der 1920er- und 1930er-Jahre verbreitete Zimmer im Film und in Theaterstücken das negative Bild der Rolle des Juden in allen gesellschaftlichen Bereichen, das den Antisemitismus eines großen Teils der Presse und der Öffentlichkeit bestärkte.
Chantal Meyer-Plantureux Übersetzung aus dem Französischen von Bjoern Weigel
Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm (Frankreich) Auf Betreiben der deutschen Okkupanten verhaftete die französische Polizei am 16. und 17. Juli 1942 in Paris fast 13.000 ausländische und „staatenlose“ Juden, mehrheitlich Frauen und Kinder (die allerdings überwiegend auf französischem Boden geboren worden waren). Die Familien, mehr als 8.000 Menschen, wurden für mehrere Tage im überdachten Vélodrome d’Hiver [Winter-Radrennbahn] in Paris interniert, die kinderlosen Erwachsenen kamen in das Lager Drancy. So gut wie alle in der Vel’ d’HivRazzia Verhafteten wurden deportiert und im Laufe des Sommers 1942 in Auschwitz ermordet. Während der vier Jahre Besatzungszeit zeigte die Wochenschau im Kino sehr regelmäßig (ein bis zweimal im Monat zu bestimmten Zeiten) Reportagen, die im Vélodrome d’Hiver anlässlich von Boxkämpfen, Radrennen oder politischen Versammlungen gedreht wurden. Die Razzia von Mitte Juli 1942 blieb selbstverständlich unerwähnt und erst im Oktober erwähnte eine Reportage den Vel’ d’Hiv erneut namentlich. Nun wurden die Massenverhaftungen von Juden durch die französische Polizei aber auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit und den folgenden Jahren nicht in den Wochenschauen erwähnt. Wenn auch die kommunistische Tageszeitung „L’Humanité“ am 22. Juli 1945 immerhin auf das „ungeheuerliche von den Nazis begangene Verbrechen vor drei Jahren im Vélodrome d’Hiver, als sie den israelitischen Müttern die Kinder entrissen“, hinwies, ließ es die Zeitung dennoch außer Acht, klarzumachen, dass die Razzia auch von Beamten der französischen Polizei vorbereitet und ausschließlich von dieser durchgeführt worden war. Und als im November 1949 der Krimi „Drame au Vel’ d’Hiv“ [Das Drama im Vel’ d’Hiv] von Maurice Cam in die Kinos kam, stand dies in absolut keinem Zusammenhang mit dem Schicksal der dort zuvor inhaftierten Juden (in Deutschland wurde der Film 1951 unter dem Titel „Millionenraub im Sportpalast“ gezeigt). Der erste fiktionale Film, der die Vel’ d’Hiv-Razzia rekonstruierte, hieß „Les Guichets du Louvre“ (1974; dt. Kinotitel: „Die Verfolgten“) von Michel Mitrani. Dieser Spielfilm beginnt mit einem Auszug aus Ernst Jüngers privatem Tagebuch, der unter dem Datum des 16. Juli 1942 an die Farbe der Gladiolen in seiner Pariser Wohnung dachte. Das Fehlen jeglicher Erwähnung der Massenverhaftungen, die an diesem Tag in der Hauptstadt durchgeführt wurden, stand hier als Bild dafür, wie dieses Ereignis in Frankreich gleichsam dem nationalen Gedächtnis entschwunden war. „Les Guichets du Louvre“ erzählte im Folgenden in Form eines sentimentalen Dramas von den Bemühungen eines jungen Christen, der sich zum Ziel gesetzt hat, den Juden zu helfen,
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Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm (Frankreich)
der Polizei zu entkommen. Dabei lernt er eine junge Frau kennen, in die er sich während ihrer Flucht durch die Straßen von Paris verliebt. 1976 zeigte der Film „Monsieur Klein“ von Joseph Losey mit Alain Delon in der Titelrolle die Besatzungszeit als einen kafkaesken Albtraum. Die Figur des Robert Klein wird – entweder durch einen Fehler oder durch eine absichtliche Böswilligkeit – von einem Tag auf den anderen von der französischen Polizei verdächtigt, Jude zu sein, obwohl er es nicht ist. Seine zwanghafte Suche nach dem wahren Robert Klein, mit dem er verwechselt wird, treibt ihn in die Höhle des Löwen und endet damit, dass er während der Vel’ d’Hiv-Razzia verhaftet und deportiert wird. Geht man streng nach historischer Genauigkeit, erlaubt sich Loseys Film zahlreiche Freiheiten: die Razzia findet im Winter und nicht im Hochsommer statt, die verhafteten Juden werden in ein offenes Stadion und nicht in ein überdachtes Velodrom gebracht (die Szene wurde im Februar auf der Radrennbahn von Vincennes gedreht), die Deportationszüge fahren direkt unterhalb des Stadions ab usw. Der traumhafte Aspekt des Films könnte einen solchen Willen zur Verdichtung (im Freudschen Sinne) der Ereignisse und Orte erklären. Ebenso zielte das offene Stadion, so Losey, darauf ab, beim Zuschauer Reminiszenzen an die Übergriffe zu wecken, die das Regime von Augusto Pinochet zur selben Zeit in den chilenischen Stadien verübte (es sei angemerkt, dass der Film → „Nuit et Brouillard“ [Nacht und Nebel] von Alain Resnais 1956 ebenfalls wie ein „Alarmsignal“ wahrgenommen wurde, das es dem Zuschauer erlaubte, über zeitgenössische Gewalt im Zusammenhang mit der Kolonisation und totalitären Regimen nachzudenken). So schrieb Joseph Losey in seinen Arbeitsnotizen: „Dieser Film ist keine präzise Rekonstruktion der großen Razzia. Es ist der Versuch, die Essenz dieser Zeit und der Ereignisse, die sie hervorgebracht hat, zu fassen – in der Form eines [historisch] belegten Lehrstücks, als Warnung verpackt.“ Wenn sich „Monsieur Klein“ auch kaum durch Respekt vor den historischen Tatsachen auszeichnet, bleibt er doch einer der besten Filme über diese Zeit und ganz sicher der eindringlichste was den Albtraum betrifft, den die Besatzung und das Gefühl der Angst für die Juden, die sie erleben mussten, bedeuteten. Nach mehr als 30 Jahren Wartezeit erschienen kurz hintereinander zwei fiktionale Filme, die sich direkt mit den Verhaftungen vom Juli 1942 beschäftigten. Den Anfang machte „La Rafle“ (Die Razzia, 2010, dt. Kinotitel: „Die Kinder von Paris“) von Rose Bosch, der einer schlechten pädagogischen Handreichung ähnelte. Der Film litt gleichzeitig unter seiner großen Geziertheit wie unter seiner vorgeblich herausgehobenen Erzählperspektive, bot in Wirklichkeit jedoch nichts von beidem: Die Regisseurin führte den Zuschauer überall hin, in die jüdischen Familien in Paris, in Hitlers Privatleben in Berchtesgaden, in das Büro von Marschall Pétain und selbst in die Nähe der Krematoriumsöfen von Birkenau, die allerdings 1942 noch gar nicht existierten.In dieser Hinsicht stand der Film ganz im Zeichen einer „Ästhetik der Überfülle und des Alles-sichtbar-machens“, wie Sylvie Lindeperg im Hinblick auf Filme über den Zweiten Weltkrieg analysierte. Diese Ästhetik übersättigt den Zuschauer mit stereotypen Bildern und erlaubt es ihm nicht im Mindesten, sich darüber bewusst zu werden, dass Bilder von der Verfolgung und Vernichtung der Juden eine absolute Seltenheit sind (bis heute wurde z. B. nur ein einziges Foto gefunden, das während der Vel’ d’HivRazzia aufgenommen wurde). Unterstützt von kräftigem Medienrummel und von
La Vénus de l’Or (Film von Jean Delannoy, 1938)
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zahlreichen Lehrkräften, die ihre Schülerschaft ins Kino trieben, wurde „La Rafle“ ein großer Kassenerfolg: 2,8 Millionen Zuschauer allein in Frankreich. Einige Monate später startete „Elle s’appelait Sarah“ (Sie hieß Sarah, 2010, dt. Kinotitel: „Sarahs Schlüssel“) von Gilles Paquet-Brenner in den französischen Kinos. Auch hierbei handelte es sich um ein Melodram, doch näherte sich der Film den Ereignissen von 1942 über die Spuren, die sie in der Gegenwart hinterlassen haben. Ein Ehepaar möchte eine Wohnung beziehen, die der Familie des Gatten gehört hat. Die Frau, eine amerikanische Journalistin, bereitet derweil einen Artikel über die Vel’ d’Hiv-Razzia vor (in einer Redaktionskonferenz hat sie das Unwissen junger Journalisten über diese historische Tatsache feststellen können). Bei ihren Nachforschungen zum Schicksal eines verhafteten Kindes namens Sarah entdeckt sie nach und nach, dass die Wohnung, in die sie einziehen möchte, während des Krieges von einer jüdischen Familie bewohnt war, die im Juli 1942 verhaftet wurde. Nach der „Arisierung“ wurde sie dem Großvater ihres Mannes zugesprochen. Trotz des Schweigens, das von Generation zu Generation darüber bewahrt wurde, tritt plötzlich die große Geschichte in das Leben des Paares und zeigt, bis wohin die Wurzeln ihrer Gegenwart reichen. So scheint es, dass die vier fiktionalen Spielfilme über die Vel’ d’Hiv-Razzia mindestens genauso viel über die Zeit sagen, in der sie produziert wurden, wie über die Zeit, die sie thematisieren. „Les Guichets du Louvre“ und „Monsieur Klein“, zwei extrem schwermütige Filme, wurden kurze Zeit nach dem Kinostart der Dokumentation „Le Chagrin et la pitié“ (Leid und Mitleid, 1969, dt. Kinotitel: „Das Haus nebenan – Chronik einer französischen Stadt im Kriege“) von Marcel Ophüls und dem Erscheinen der französischen Ausgabe des Buches „Vichy France, Old Guard and New Order, 1940–1944“ (1972; frz. Titel: „La France de Vichy“, 1973) des amerikanischen Historikers Robert O. Paxton gedreht. Beide Werke machten auf die Kollaboration der französischen Bevölkerung und ihrer Führung aufmerksam und trugen dazu bei, den Mythos eines mehrheitlich widerständigen Frankreichs aufzubrechen. Im Gegensatz dazu knüpfen „La Rafle“ und „Elle s’appelait Sarah“ an einen gewissen Willen zur nationalen Versöhnung an, indem sie Franzosen in den Mittelpunkt stellen, die solidarisch mit Juden waren und sie während des Krieges retteten. So greifen die Filme über die Vel’ d’Hiv-Razzia gleichzeitig den jeweiligen Stand der historischen Forschung zur Kollaboration und zum Genozid an den Juden auf, spiegeln aber auch den gewünschten Blick der Franzosen auf sich selbst wider.
Ophir Levy Übersetzung aus dem Französischen von Bjoern Weigel
Literatur Jean-Michel Frodon (Hrsg.), Cinema and the Shoah: An Art Confronts the Tragedy of the Twentieth Century, Albany 2010. Annette Insdorf, Indelible Shadows: Film and the Holocaust(1982), Cambridge 2002. Sylvie Lindeperg, La Voie des images, Paris 2013.
La Vénus de l’Or (Film von Jean Delannoy, 1938) „Von Venus hat sie die Stärke und ihre Schwächen. Aber aus der Gier, der Suche und dem Besitz von Gold zieht sie alle Qualitäten einer Geschäftsfrau: kalten Mut, Selbst-
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La Vénus de l’Or (Film von Jean Delannoy, 1938)
beherrschung, übernatürliche Fähigkeiten zur Verschleierung und zum Kalkül. Judith, die Venus des Goldes, ist die Frau und geschickte Partnerin des Bankiers Harfstrong, dessen ehrbare Fassade eine Reihe von Geschäften verdeckt, von denen eines undurchsichtiger und krimineller als das andere ist.“ Der 1938 unter der Regie von Jean Delannoy (1908–2008) und Charles Méré (1883–1970) entstandene Film „La Vénus de l’Or“ [Die Venus des Goldes], der auf Pierre Sabatiers Roman „Judith“ (erschienen 1928 im Pariser Verlag A. Michel) und seinem darauf aufbauenden Theaterstück „Business“ (uraufgeführt am 22. März 1930 in Paris) basierte, zeigt ein ausländisches, jüdisches Gauner-Ehepaar („ … weder Du noch ich dienen unserem Land. Wem dienen wir also? Uns selbst, was?“, fragt Harfstrong. „Business“, antwortet Judith). Innerhalb von zehn Jahren haben sie ein Vermögen gemacht: „Vor dem Krieg war er ein armer Kerl. Und jetzt ist er ein Finanz-As, einer der Herren von Paris.“ Von Judiths grenzenloser Geldgier und ihrem Ehrgeiz angetrieben, besteht das einzige Ziel des Finanziers darin, sich zu bereichern: indem er die Liebhaber seiner Frau ausnutzt und diejenigen, die versuchen, integer zu bleiben, besticht – sie alle tragen ur-französische Nachnamen. André de Saint-Guilham, „der junge Held von ‚Business‘, trägt alle Charakteristika unserer Rasse: Treue, Mut, Aufrichtigkeit. Die Bildung, die er genossen hat, steht im Gegensatz zu diesen Lumpen“, erklärte Pierre Sabatier (1892–1989) in einem Artikel vor der Premiere. Die Figur der Judith erinnerte die zeitgenössischen Zuschauer – und die darüber berichtende Presse – an die aus dem Elsass stammende Bankiersfrau Marthe Hanau, die in großem Stil Anlagebetrug mit kleinen Spareinlagen betrieb und sich nach ihrer Verurteilung 1935 im Gefängnis das Leben nahm. In einem Interview, das er 1930 der Presse gab, legte Pierre Sabatier in aller Deutlichkeit die Gründe dar, aus denen er das Theaterstück geschrieben hatte: „Die meiste Zeit sind wir Opfer der Ausländer hier bei uns: Da haben Sie den Sinn meines Stückes. […] Wenn ich solche Charaktere zeigen wollte, dann damit sich die Öffentlichkeit darüber entrüstet, damit sie genau weiß, wer die sind. […] Vergessen Sie nämlich nicht, dass es sich um Ausländer handelt.“ Das Stück, das 1930 im Pariser Théâtre de la Renaissance gespielt wurde, wurde von der Kritik mit extremer Lobhudelei aufgenommen. Die Presse beglückwünschte den Autor dazu, ein „Balzac-würdiges“, aber absolut zeitgemäßes Thema behandelt zu haben: Sabatier behandle „den kleinen Provinz-Adel, ruiniert durch den Krieg und die Nachkriegszeit, und die Klasse der Neureichen, die ohne Skrupel und ohne Traditionen sind.“ Harfstrong sei „einer dieser Finanziers und Geschäftsmänner, die in der Vergangenheit mehr oder weniger dubios waren, und nun der heutigen Gesellschaft zur Last fallen“; er und seine Frau seien nichts als „zwei Métèques [rassistische Beleidigung, etwa mit ‚Kanaken‘ im Deutschen vergleichbar], die nur das Geld als Vaterland haben“ und deren „Herz durch einen Tresor ersetzt wurde“. Die Schauspieler, die das Ehepaar Harfstrong auf der Bühne verkörperten, Véra Sergine und Henri Rollan (auch im wahren Leben ein Paar), waren nicht speziell auf solche Rollen abonniert, während für den Film Véra Korène, eine jüdische Schauspielerin, als Judith vorgesehen war, doch schließlich absagte. Für sie übernahm Mireille Balin, die auf die Rolle der „femme fatale“ festgelegt war. Jacques Copeau, der den Bankier Harfstrong reichlich übertrieben spielte, bedauerte seine Mitwirkung an dem Film und wollte nichts mehr hören „von diesem Sabatier, dem Autor des Films ‚La
Verbrennen der Scheune (Performance von Rafał Betlejewski, 2010)
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Vénus de l’Or‘, der mich teilweise in Misskredit gebracht hat“. Der Regisseur Jean Delannoy machte ungeachtet dessen eine mit Preisen und Ehrungen ausgezeichnete Film-Karriere – von „La Vénus de l’Or“ hat er sich nie distanziert.
Chantal Meyer-Plantureux Übersetzung aus dem Französischen von Bjoern Weigel
Venus vor Gericht (Film von Hans Heinz Zerlett, 1941) Der Film (Drehbuch und Regie Hans Heinz Zerlett), produziert von der Bavaria-Filmkunst, wurde Anfang Juni 1941 in Berlin uraufgeführt. Die Komödie spielt im Künstlermilieu und richtet sich gegen „entartete Kunst“ und die „verjudete Kunstkritik“ der Weimarer Republik. Protagonist ist der junge nationalsozialistische Bildhauer Peter Brake, der dem NS-Monumentalplastiker Arno Breker nachempfunden ist. Da sein Talent vom angeblich jüdisch dominierten Zeitgeist missachtet wird, schafft er eine naturalistische Venus, die er auf einem Acker vergräbt, sie entdecken lässt und ruhig zusieht, wie sie vom jüdischen Experten als antikes Meisterwerk deklariert wird. Er bekennt sich erst als Schöpfer, als die Skulptur im Staatlichen Museum präsentiert wird. Ihm wird nicht geglaubt und er sieht sich in einen Meineidprozess verwickelt, da man der Expertise des jüdischen Kunsthändlers vertraut. (Zur Ausstattung seines Büros wurden übrigens abstrakte und expressionistische Kunstwerke als Requisite benutzt, die beim Bildersturm gegen die Moderne in öffentlichen Museen und Galerien als „entartet“ beschlagnahmt worden waren, wie die Provenienzforschung Jahrzehnte später herausfand.) In letzter Minute taucht vor Gericht die junge Frau auf, die einst Modell für die „Venus vom Acker“ gestanden hatte und rettet den Bildhauer vor Verurteilung und Strafe. Der zum Teil prominent besetzte Film (Paul Dahlke, Hubert von Meyerinck, Liesl Karlstadt, Beppo Brem) hatte, wie weitere Filme des Jahres 1941 (→ Nationalsozialistische Filmproduktionen), die Aufgabe, mit leichter Hand die Maßnahmen des Regimes gegen Juden zu popularisieren und die nichtkonforme Moderne Kunst zu diffamieren.
Wolfgang Benz
Literatur Rolf Giesen, Manfred Hobsch, Hitlerjunge Quex, Jud Süss und Kolberg. Die Propagandafilme des Dritten Reiches. Dokumente und Materialien zum NS-Film, Berlin 2005, S. 328–330.
Verbrennen der Scheune (Performance von Rafał Betlejewski, 2010) Der Performance-Künstler Rafał Betlejewski gehört zu der jüngeren Generation von polnischen Autoren sowie Theater- und Filmemacher, die sich von der sogenannten Jedwabne-Debatte und den mit ihr zusammenhängenden Nachforschungen zur polnischen Mittäterschaft bei der Verfolgung und Ermordung der Juden während der deutschen Okkupation zutiefst erschüttert zeigt. Zur künstlerischen Aufarbeitung der lange
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Die Verkommenen (Roman von Max Kretzer, 1883)
Zeit verschwiegenen Vergangenheit gehören u. a. performative Aktionen, wie Betlejewskis symbolisches Reenactment „Verbrennen der Scheune“. In Erinnerung an das Massaker in Jedwabne, wo im Juli 1941 – nach dem Einmarsch der Wehrmacht auf die seit September 1939 sowjetisch besetzten polnischen Gebiete – polnische Bewohner des Städtchens ihre jüdischen Nachbarn in einer Scheune verbrannten, brachte Betlejewski im Sommer 2010 in einer sorgfältig vorbereiteten und medial angekündigten Performance eine Scheune in einem Dorf unweit von Warschau zum Brennen. Die auf eine breite mediale Wirkung hin orientierte Aktion war äußerst spektakulär: Betlejewski zündete die mit Benzin begossene Scheune von innen an und rettete sich quasi durch Flucht in letzter Minute aus der bereits brennenden Scheune. Der Erinnerungsakt des Reenactment galt den jahrzehntelang tabuisierten Ereignissen aus der Zeit der deutschen Okkupation in Polen; er lässt sich dabei nicht nur als Akt performativer Visualisierung der historischen Schuld, sondern auch als Beitrag zur Sichtbarmachung des nach 2000 in Polen aufgeflammten Schulddiskurses verstehen. Gerade Letzteres war an diesem Projekt in besonderer Weise bedeutsam: Betlejewski verbrannte in der Scheune symbolisch den polnischen Antisemitismus, indem er vorher von den freiwilligen Projektteilnehmern gesammelte Kärtchen mit Schuldbekenntnissen in der Scheune mit verbrannte. Gedacht als visuell-performative Intervention gegen die Stimmen der Zurückweisung von historischer Schuld in der kontrovers geführten polnischen Debatte, zeigte die Performance aber auch ihre (zumindest latente) exkulpatorische Intention. Dies hat aus dem Projekt ein „therapeutisches“ Spektakel gemacht. Die symbolische Verbrennung der Scheune folgte einem Schema von Schuldbekenntnis, Reue und Katharsis – in Form eines Wiederholungsexperiments, das auf die beunruhigende Macht der Vergangenheit über die Gegenwart mit einem „magischen“ Reinigungsritual antwortet. Betlejewskis Performance war eingebettet in kontrovers aufgenommenen, sich zwischen künstlerischer Intervention und populärem, medialem Event bewegenden Aktionen des Künstlers zur Erinnerung an die jüdische Präsenz in Polen.
Magdalena Marszałek
Die Verkommenen (Roman von Max Kretzer, 1883) Max Kretzer (1854–1941), von seinen Zeitgenossen bisweilen als „deutscher Zola“ bezeichnet, thematisierte in seinen Romanen als einer der ersten Berliner Naturalisten die soziale Not des Großstadtproletariats nach der Industrialisierung. Die ethische Einflussnahme auf seine Leser war ihm dabei wichtiger als die rein künstlerische Wirkung. Kretzers Texte weisen neben sozialkritischen Aspekten aber zunehmend Züge von Unterhaltungsliteratur und Kolportage auf, die seinem ernsthaften ethischen Anliegen entgegenstehen. Der Autor stand zunächst der Sozialdemokratie nahe, sympathisierte nach 1933 allerdings offen mit den nationalsozialistischen Machthabern und deutete seine Texte in deren Sinne um. Kretzers Roman „Die Verkommenen“ (Leipzig 1883) schildert in Mitleid erregender Weise den sozialen Abstieg und Zerfall der Proletarierfamilie Merk als Folge von
Die Verkommenen (Roman von Max Kretzer, 1883)
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Kapitalismus und anonymer Massengesellschaft. Vater Merk ist seit Längerem arbeitslos, verfällt dem Alkoholismus, wird gewalttätig und landet im Gefängnis. Die Mutter ist nach einem Unfall in der Fabrik arbeitsunfähig, Tochter Magda muss die Familie ernähren. Sie gerät dabei in den Strudel der Großstadt, der ihre Moral unterminiert und sie dazu bringt, sich als Mätresse von Adligen und Neureichen zu prostituieren. Zwar gewinnt sie die Liebe des ebenfalls mittellosen Schriftstellers Oskar, beiden ist jedoch kein glückliches Ende vergönnt. Da sie aus ihrer „Verkommenheit“ keinen Ausweg mehr finden, nehmen sie sich zum Schluss gemeinsam das Leben. Der rührseligen Schilderung dieser grausamen Schicksale steht die Darstellung der jüdischen Familie Laib kontrastierend gegenüber, deren Mitglieder als Aufsteiger und Modernisierungsgewinner erscheinen. Als Pfandleiher – dem modern-großstädtischen Pendant zum Stereotyp des jüdischen Wucherers – profitieren sie dabei direkt vom Elend sozialer Absteiger wie der Familie Merk, die gezwungen ist, bei Laibs ihre Habe zu versetzen. Oskar und Magda gelingt, vermittelt durch die jüdische Familie, im Laufe des Romans zwar zunächst ein gewisser gesellschaftlicher Aufstieg, der sich jedoch schnell als ein vermeintlicher erweist: Der aufstrebende Literat Oskar erlangt über Beziehungen der Laibs eine Stelle als Autor von Groschenromanen und macht sich Hoffnungen auf die Veröffentlichung seiner eigenen Werke. Diese werden jedoch enttäuscht, Oskar wird um sein geistiges Eigentum, das Ergebnis „deutscher ehrlicher und saurer Arbeit“ geprellt. Im Gegensatz dazu macht sein Freund, der jüdische Abkömmling Leonard, unterstützt durch eine mysteriöse, im Hintergrund wirkende Cliquenwirtschaft als Musiker Karriere. Magda wird die Mätresse eines Neffen der Familie Laib, der als Bankier und Börsenspekulant das Klischee des jüdischen Großkapitalisten bedient. Die kurze Zeit an seiner Seite beschert Magda ebenfalls einen gewissen sozialen Aufstieg, der aber jäh beendet ist, als eine ehemalige Geliebte ihres Gönners ihn durch ein Säureattentat umbringt, das auch Magdas Gesicht entstellt. Exemplarisch für den Niedergang des Kleinbürgertums in Zeiten fortschreitender Industrialisierung und Kapitalisierung erscheinen Magda und Oskar in den „Verkommenen“ als hilflose Spielbälle auf dem Feld der vornehmlich jüdischen Geschäftswelt Berlins. Die antisemitischen Tendenzen, die sich vor allem in der zweiten Hälfte des Romans auch in reißerischen Äußerungen des Erzählers über „Hochmut und Pseudowürde“ der jüdischen Großstadtbevölkerung manifestieren, resultieren aus einer fehlgeleiteten moralischen Empörung Kretzers, der sich in seiner Kapitalismuskritik auf die gängigen Klischees eines ökonomisch motivierten Antisemitismus stützt, anstatt den eigentlichen Ursachen des zurecht angeprangerten sozialen Gefälles nachzugehen. Auf diese Weise leistete er mit seinem Roman – zum Teil vielleicht unbeabsichtigt – der Ausprägung einer Ideologie Vorschub, die letztendlich in die politische Diskriminierung der Juden zu Beginn des 20. Jahrhunderts geführt hat.
Julia Nantke
Literatur Franz Norbert Mennemeier, Literatur der Jahrhundertwende. Europäisch-deutsche Literaturtendenzen 1870–1910, Berlin 20012.
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Der Verlorene (Film von Peter Lorre und Axel Eggebrecht, 1951)
Der Verlorene (Film von Peter Lorre und Axel Eggebrecht, 1951) Der Spielfilm „Der Verlorene“ wurde 1951 in Deutschland gedreht. Die treibende Kraft hinter dem Projekt war der Schauspieler Peter Lorre, der die Hauptrolle übernahm, Regie führte und mit Axel Eggebrecht und Bruno Vigny das Drehbuch schrieb. Der Produzent war Arnold Pressburger, an der Kamera stand Václav Vích. Gedreht wurde in Hamburg und Umgebung, also am Schauplatz des Filmes. „Der Verlorene“ erhielt aufgrund der „Tendenz des Films, die in so überaus notwendiger und eindringlicher Weise zeigt, bis zu welcher Vernichtung des Individuums ein diktatorisch gelenktes Staatswesen führen kann“, von der Filmbewertungsstelle der Länder der Bundesrepublik Wiesbaden das Prädikat wertvoll. In Rückblenden wird die Geschichte von Dr. Rothe, einem unpolitischen Naturwissenschaftler, erzählt. 1943 ermordet er seine Verlobte, als er erfährt, dass sie ihn mit seinem Assistenten Hoesch betrogen und seine Forschungsergebnisse ans Ausland verraten hat. Da Dr. Rothe als Wissenschaftler wichtig für das Regime ist, vertuscht Hoesch, der gleichzeitig Gestapoagent ist, den Mord. Rothe, der darüber nicht hinwegkommt, verzweifelt, wird aus der Bahn geworfen und begeht einen weiteren Mord. Als er nach einem Bombenangriff für tot gehalten wird, beschließt er, Hoesch zu stellen und sich dann selbst zu richten. Das misslingt, sowohl er als auch Hoesch überleben den Krieg. 1947 treffen sich die beiden wieder. Rothe, der sich nun Dr. Neumeister nennt, arbeitet als Arzt in einem Flüchtlingslager, als Hoesch, nunmehr Nowak, dort eintrifft. Hoesch fordert Hilfe von Rothe, der mit dessen Auftauchen schlagartig wieder in die Vergangenheit zurückversetzt wird und seinen Moment zu sühnen gekommen sieht: „Ich hab vielleicht auch geglaubt, dass alles begraben sei. […] Aber wie sie hier aufgetaucht sind, […] da wusste ich, dass es kein Vergessen gibt – es gibt keins, das geht einfach nicht“, meint Rothe zu Hoesch, der keinerlei Reue zeigt. Rothe erschießt Hoesch und begeht daraufhin Selbstmord. Die Handlung des Films, die auf einem realen Fall basiert, war für ihn, so Lorre, die Möglichkeit, „einen kritischen Blick auf das nationalsozialistische Deutschland zu richten. […] Selbstverständlich wollte ich das politische und soziologische Thema nicht direkt behandeln; ich habe es indirekt getan.“ Der Film, dem man seinen „quälenden Fatalismus“ vorwarf, floppte. Lorre wurden in Deutschland keine weiteren Rollen- oder Regieangebote, auf die er gehofft hatte, gemacht. Die Darstellung des Dr. Rothe unter eigener Regie war der letzte künstlerische Höhepunkt in der vielfältigen Karriere von Peter Lorre. 1904 als Lázló Löwenstein in Rosenberg/Ružomberok (Slowakei) in eine jüdische Familie geboren, hatte Lorre zunächst in Wien, wohin die Familie gezogen war, Theatererfahrung sammeln können. 1929 ging er nach Berlin, wo er schnell zum gefragten Schauspieler avancierte und mit namhaften Regisseuren und Autoren arbeitete. Fritz Langs „M – eine Stadt sucht einen Mörder“, in dem er einen Kindermörder spielte, machte ihn 1931 berühmt, legte ihn aber auch rollenmäßig fest. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten erlebte er 1933 in Wien, wo er ein Engagement hatte. Trotz lukrativer wie künstlerisch ansprechender Angebote aus Deutschland emigrierte er in die USA, wo er zu einem der meistbeschäftigten Schauspieler wurde.
Die verlorene Bibliothek (Buch von Walter Mehring, 1952)
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Nach dem Krieg wollte sein Freund aus Vorkriegstagen, Bertolt Brecht, Lorre dazu animieren, nach Europa zurückzukommen, um für ihn als Schauspieler an einem neu zu entstehenden Theater zu spielen. Seinen lyrischen Ausdruck fand dieser Wunsch Brechts im Gedicht „an den Schauspieler P.L. im Exil“: „Höre, wir rufen dich zurück, Verjagter […] zurückgerufen wirst du in ein Land, das zerstört ist und nicht anderes mehr können wir dir bieten, als dass du gebraucht wirst. Arm oder reich, gesund oder krank – vergiss alles und komm!“ Lorre nahm zwar Brechts Angebot nicht an, kam aber 1949 wieder nach Europa, zum einen wegen finanzieller Probleme, zum anderen um sich gesundheitlich zu erholen, da seine langjährige Drogen- und Alkoholsucht schwer an ihm zehrten. Auch ein beruflicher Neustart schwebte ihm vor. Der Remigrant Lorre schaffte es mit der Unterstützung eines anderen Remigranten, des Produzenten Pressburger, „Den Verlorenen“ zu realisieren. Enttäuscht über die fehlende Resonanz des Publikums, kehrte er 1952 zurück in die USA, wo er wieder in der Filmindustrie arbeiten konnte, aber keine künstlerisch nennenswerten Rollen mehr bekam. Er starb 1964 in Hollywood, die Wiederentdeckung und Neubewertung seines Filmes in den 1980er-Jahren hat er also nicht mehr erlebt. Heute aber hat „Der Verlorene“, der laut Harun Farocki „den Faschismus so genau nachzeichnet“ wie kaum ein anderer Film, seinen Platz im Kanon der wichtigsten deutschsprachigen Filme.
Martina Aicher
Literatur Michael Omasta, Brigitte Mayr, Elisabeth Streit (Hrsg.), Peter Lorre. Ein Fremder im Paradies, Wien 2004. Harun Farocki (Regie), Peter Lorre – Das doppelte Gesicht, Dokumentarfilm 1984. Stephen D. Youngkin, The lost one. A life of Peter Lorre, Lexington/Kentucky 2005.
Die verlorene Bibliothek (Buch von Walter Mehring, 1952) Walter Mehring (1896–1981), um 1930 auf einem Höhepunkt seiner literarischen Laufbahn, erlebt während seines Exils (ab 1933) einzig mit seinem Buch „Die verlorene Bibliothek“ (1952) einen Erfolg. Der Untertitel „Autobiographie einer Kultur“ entstammt der Begutachtung des Werks durch einen sachkundigen amerikanischen Leser. Mehring gelangt 1937 im Exil in Wien nochmals in den Besitz der umfangreichen Berliner Bibliothek seines Vaters Sigmar Mehring (1856–1915), eines Schriftstellers, Übersetzers und Redakteurs, und versucht, sich den gedanklichen Gehalt zu vergegenwärtigen, den die Bibliothek präsentiert. Er setzt dieses Räsonnement später „aus dem Gedächtnis“ fort und schreibt das Erinnerte in den USA nieder, nachdem er 1938 aus Wien hat fliehen und die Bibliothek verloren geben müssen. Das Buch enthält gelehrte kultur- und literaturgeschichtliche Ausführungen, die immer wieder durch autobiografische Passagen oder betont subjektive Perspektiven angereichert werden. Hinsichtlich der behandelten Texte steht zwar die Literatur im Vordergrund. Es geht aber auch um Philosophisches; Kant, Hegel, Nietzsche werden mehrfach erwähnt. Auch religiöse Themen werden mitunter aufgegriffen. Über das Philosophische im engeren Sinne hinaus erweitert sich der Kreis der Betrachtungen
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Die verlorene Bibliothek (Buch von Walter Mehring, 1952)
auf den Bereich der Wissenschaften des 19. Jahrhunderts und des Denkens überhaupt. Marx, Darwin, Freud und andere begegnen wiederholt. Politisches – freilich nicht die Tagespolitik – spielt immer wieder eine Rolle. Ein ganzes Kapitel ist dem Kommunismus gewidmet, dem Mehring keine Sympathie (mehr) entgegenbringt und dem er vorwirft, die Individualität nicht mehr zuzulassen. Hinsichtlich der literarischen Texte besitzt wiederum das 19. Jahrhundert ein Übergewicht. Der Roman wird dabei besonders gewürdigt, und neben der deutschsprachigen Literatur kommen auch französische und russische sowie englische und amerikanische Texte vor. In der Zusammensetzung der väterlichen Bibliothek sieht Mehring ein Spiegelbild der Weltanschauung des 19. Jahrhunderts im Ganzen. Insofern kündigt der Untertitel „Autobiographie einer Kultur“ eine Beschreibung der europäischen Kultur des 19. Jahrhunderts von innen heraus an, und zwar unter zwei verschiedenen Perspektiven: Zum einen geht es um Rekonstruktion aus der Erinnerung, „um die symbolische Zusammensetzung einer zerstörten Kultur“ (Assmann). Zum andern aber ist die Beschreibung der Bibliothek zugleich ihre kritische Überprüfung: „[...] es lag mir nicht so sehr an den Büchern im einzelnen, sondern an jener historisch, ästhetisch, philosophisch einmaligen Konfiguration, wie sie sich in der Bibliothek meines Vaters, in seinem speziellen Horoskop des XIX. Jahrhunderts eingestellt hatte. Und so wie sie war, unheilbedeutend oder voll trügerischer Prognosen, wollte ich sie noch einmal nachprüfen.“ Es geht um die Überprüfung „des Wissens des 19. angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts“ (Kilcher). Und Mehring kommt zu dem Ergebnis: „Nicht die Bibliothek hat sich geirrt, denn von der bevorstehenden Katastrophe wußte sie. Doch hat sie dieses Wissen dem nicht preisgegeben, der nur ihre frohe Botschaft, die des Fortschritts, vernehmen wollte, und dabei alle Anzeichen einer katastrophischen Zukunft [...] in den ‚Giftschrank‘ [...] verbannte.“ Weggesperrt in diesen „Giftschrank“ – so der Ausdruck des Vaters – und damit der Wahrnehmung entzogen und verdrängt ist alles, was der Rationalismus nicht akzeptiert. Das gilt für okkultistische ebenso wie für antisemitische Schriften. Der wissenschafts- und fortschrittsgläubige Vater leugnet somit nicht explizit den fortbestehenden Antisemitismus, aber er verdrängt ihn, er will ihn nicht wahrhaben. „Nie hätte“ der Vater, „dieser Musterschüler des Rationalismus“, „sich vorstellen können“, unter welchen Umständen der Sohn wieder in den Besitz der Bibliothek gelangt, „während das ganze Theater des Abendlandes im Blechgetöse und Paukenfortissimo eines Götterdämmerungsfinales zusammenkrachte“. Die im Vordergrund stehenden kultur- und literaturgeschichtlichen Ausführungen und die autobiografisch erzählenden Passagen erhellen einander. Dabei gibt sich der Satiriker Mehring in stilistischer Hinsicht zurückhaltend, der Text ist oft nur dezent ironisch. Sarkastisch wird die Darstellung immer, wenn es um den Nationalsozialismus, auch den italienischen Faschismus und den spanischen Franquismus sowie um den Kommunismus geht.
Georg-Michael Schulz
La vita è bella (Film von Roberto Benigni, 1997)
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Literatur Aleida Assmann, Der väterliche Bücherschrank. Über Vergangenheit und Zukunft der Bildung, in: Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert, hrsg. von Peter Wiesinger, Band 1, Bern u. a. 2002, S. 97–112. Andreas B. Kilcher, Das Horoskop des 19. Jahrhunderts im Prüfstand der Geschichte. Walter Mehrings „Verlorene Bibliothek“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78 (2004), S. 287–312.
La vita è bella (Film von Roberto Benigni, 1997) In der italienischen Tragikomödie „La vita è bella“ [Das Leben ist schön] führte Roberto Benigni nicht nur Regie, sondern glänzte auch in der Hauptrolle. Der Spielfilm durchbrach fest etablierte, lange Zeit gültige Darstellungskonventionen der Holocaust-Repräsentation. Er bedient sich der komödiantischen Form und greift auf Märchen-Elemente zurück, um eine Geschichte antisemitischer Verfolgung zwischen 1938 und 1945 zu erzählen. Freilich war Benigni nicht der erste Filmregisseur, der sich dem Politik gewordenen Antisemitismus komödiantisch annäherte. Bereits Charlie Chaplin wählte für seinen Geniestreich → „The Great Dictator“ (1940), in dem auch die Geschichte eines im Dritten Reich verfolgten jüdischen Friseurs erzählt wird, dieses anspruchsvolle Genre. Roberto Benigni kam 1952 zur Welt und wuchs in einem kleinen toskanischen Dorf auf. In den 1970er-Jahren hatte er erste Auftritte in italienischen Fernsehfilmen. Seinen Durchbruch als Schauspieler schaffte er in Jim Jarmuschs Independent-Film „Stranger than Paradise“ (1986). Die Idee zu „Das Leben ist schön“ ging auf Erlebnisse von Benignis Vater zurück, der während des Zweiten Weltkriegs in ein deutsches Arbeitslager verschleppt wurde und dem dort Schlimmes widerfuhr. Nach seiner Befreiung erzählte er seinen Kindern jedoch stets nur lustige Lagergeschichten. „Das war seine Art, den Albtraum zu stoppen“, meinte der Filmemacher über den väterlichen Umgang mit seinem Trauma. Im Film wird die märchenhafte Liebesgeschichte zwischen dem jüdischen Italiener Guido Orefice und Dora (gespielt von Nicoletta Braschi) erzählt, die in der toskanischen Kleinstadt Arezzo 1938 nach der antisemitischen Wende des italienischen Faschismus spielt. Das Werk gliedert sich in fast zwei gleich lange Teile. Der erste Teil erinnert daran, dass die Verfolgung und Diskriminierung der jüdischen Italiener bereits unter dem Mussolini-Regime begann – mit dem Erlass der „Rassengesetze“ im Herbst 1938. Der Kellner Guido verliebt sich in die aus besserer Familie stammende Dora, die mit einem faschistischen Karrieristen liiert ist. Nach etlichen Irrungen und Wirrungen finden Guido und Dora, die nicht jüdisch ist, schließlich zusammen und werden Eltern eines bezaubernden Jungen, dem sie den Namen Giosuè (Giorgio Cantarini) geben. Einen Höhepunkt erreicht der erste Teil des Films, als Guido in die Rolle eines faschistischen Schulinspektors schlüpft und sich vor den Lehrern und Schülern der Francesco Petrarca-Grundschule über das faschistische „Rassenmanifest“ vom 14. Juli 1938 mokiert. Endgültig ins Tragische wendet sich die Geschichte im zweiten Teil, als Guido und Giosuè nach der deutschen Besetzung Italiens in die Fänge der nationalsozialistischen
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La vita è bella (Film von Roberto Benigni, 1997)
Vernichtungsmaschinerie geraten. So werden sie mit anderen jüdischen Italienern in ein nicht näher bezeichnetes Lager deportiert. Noch im Bahnhof in Italien schließt sich Dora aus Liebe zu ihrem Mann und Kind dem Transport an. Um die bedrückende Lagerrealität von seinem erst fünf Jahre alten Jungen fernzuhalten und ihm die Todesangst zu nehmen, gaukelt Guido ihm über Tage und Wochen vor, dass es sich beim Ganzen bloß um ein Spiel zwischen zwei Mannschaften handle. Dem Sieger winke als Hauptpreis ein echter, nagelneuer Panzer. Fortan verwendet der von der Zwangsarbeit zunehmend gezeichnete Guido alle Kräfte darauf, die schöne Illusion aufrechtzuerhalten. Mit stets surrealer werdenden Einfällen täuscht Guido seinen Jungen über das reale Grauen des Lagers hinweg, selbst dann noch, als er von einem deutschen Soldaten zu seiner eigenen Exekution geführt wird. Nach Stunden des Wartens verlässt Giosuè sein Versteck und trifft auf dem Gelände des evakuierten Lagers auf einen amerikanischen Panzer, dessen Fahrer den Jungen in die Freiheit mitnimmt. „Wir haben gewonnen, wir haben gewonnen!“, ruft Giosuè aus, als er am Wegrand seine Mutter Dora entdeckt, die das Grauen überlebt hat. Mit „Das Leben ist schön“ schuf Roberto Benigni zwar eine fiktive Fabel. Doch orientierte er sich dabei an der historischen Realität. Fachlich beraten ließ er sich vom Historiker Marcello Pezzetti, der damals am „Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea“ in Mailand arbeitete. Nach seinem Erscheinen löste der Film kontroverse Reaktionen aus. Einige Kritiker warfen ihm einen unangemessenen Umgang mit dem Thema und eine Verharmlosung der Shoah vor. Andere Rezensenten und vor allem ein Großteil des internationalen Publikums zeigten sich jedoch von seiner lebensbejahenden, zutiefst humanen Botschaft angetan und störten sich keineswegs an der neuen Holocaust-Narration. Streng genommen ist „Das Leben ist schön“ keine Komödie über die Shoah. Denn Komik und Fantasie werden im Film gleichsam als Notrationen des Überlebens eingesetzt. „Lachen rettet uns; die andere, unwirkliche und amüsante Seite der Dinge zu sehen, hilft uns, nicht zertreten zu werden“, hat Benigni in einem Interview betont. Trotz der gegen den Film vorgebrachten Einwände entwickelte sich das Werk in Europa und Nordamerika zu einem Sensationserfolg. Die Tragikomödie gewann 1998/99 einige der bedeutendsten Filmpreise. Ausgezeichnet wurde sie unter anderem mit dem „Premio David di Donatello“, dem „Grand Prix de la Jury“ in Cannes, dem Hauptpreis des Internationalen Filmfestivals in Jerusalem und mit drei Academy Awards, darunter dem Oscar für den besten ausländischen Film.
Aram Mattioli
Literatur Catrin Corell, Der Holocaust als Herausforderung für den Film. Formen des filmischen Umgangs mit der Shoah seit 1945. Eine Wirkungstypologie, Bielefeld 2009. Tobias Ebbrecht, Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielefeld 2011. Margrit Frölich, Hanno Loewy, Heinz Steinert (Hrsg.), Lachen über Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust, München 2003. Anette Insdorf, Indelible Shadows. Film and the Holocaust, Cambridge, New York 20033.
Das Volk und seine Treiber (Roman von Rudolf Ludwig Oeser, 1859)
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Das Volk und seine Treiber (Roman von Rudolf Ludwig Oeser, 1859) Der Lindheimer Pfarrer Rudolf Ludwig Oeser (1807–1859) betätigte sich seit 1841 nebenberuflich unter dem Pseudonym „O. Glaubrecht“ als Volksschriftsteller, mit dem Ziel, konservative und christliche Werte im Bewusstsein der hessischen Landbevölkerung zu stärken. Seine Romane und Erzählungen spielen in hessischen Dörfern und Kleinstädten, deren Alltagsleben überwiegend idyllisiert und gegen wurzellose großstädtische Einflüsse verteidigt wird. Im Roman „Das Volk und seine Treiber“ (1859) widmete sich Oeser dem angeblich konfliktträchtigen Verhältnis zwischen Bauern und Landjuden. Letztere, so suggeriert der Roman, würden ihre Marktmacht als Viehhändler und Kreditgeber dazu ausnutzen, die Bauern in finanzielle Abhängigkeit und letztendlich um ihr Land zu bringen. Damit trug Oeser zum erneuten Aufflammen des alten Mythos vom „jüdischen Wucher auf dem Lande“ in Hessen entscheidend bei, denn sein Buch erzielte hohe Auflagen, erlebte eine ungewöhnlich lange Publikationsgeschichte und erreichte eine breite ländliche Leserschaft. Wie alle Volksschriften Oesers wurde auch „Das Volk und seine Treiber“ vom Christlichen Verein im nördlichen Deutschland gefördert, was den günstigen Preis und die für damalige Verhältnisse sehr hohe Erstauflage von 12.000 Exemplaren erklärt. Die Romanhandlung schildert die Bedrohung zweier Zeisfelder Höfe durch den Hofjuden und Finanzier Itzig von Dotzelsbach, dessen Vorfahren sich bereits mit skrupellosen und teilweise kriminellen Praktiken ein Vermögen ergaunert hatten. Itzig profitiert von Neid, Missgunst und Geldgier der Bauern und versteht es, ihre Schwächen durch geschickte Intrigen auszunutzen. Die wohlhabende Bauernfamilie Lutz nimmt bei ihm einen Kredit für Landkäufe auf. Itzig zögert die Rückzahlung hinaus, bis der Hof in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät und Philipp Lutz stirbt. Seine Witwe Dorothea und Tochter Anna bleiben auf den Schulden sitzen und müssen zusehen, wie Itzigs Sohn Joseph sich in ihrem Haus ein Geschäft einrichtet. Der völlige Ruin kann nur durch das Eingreifen von Löb Hirsch, der die Geschäfte auf dem Hartmann-Hof leitet, verhindert werden. Nun versucht Itzig, auch den Hartmann-Hof in seine Abhängigkeit zu bringen. Dabei helfen ihm die Ex-Geliebte des Hofbesitzers, die mittlerweile mit Hartmanns Rivalen Anton Lampert verheiratet ist, sowie Löbs Sohn Faist, der den Hoferben Nikolaus Hartmann zum Glücksspiel verführt. Finanziell in die Enge getrieben, sterben Thomas und Ursula Hartmann kurz nacheinander. Anna Lutz kommt um, als sie Nikolaus Hartmann am Selbstmord hindern will. Erneut gelingt es Löb Hirsch, die Intrigen aufzudecken und den Hof für die älteste Tochter Marie Hartmann zu retten. In den Dörfern geächtet und von den Gerichten und Klägern verfolgt, begeht Itzig von Dotzelsbach Selbstmord. Der Roman schließt mit der Moral: „Der deutsche Bauer ist der glücklichste Mensch auf Erden, wenn er Gott fürchtet, die Sünde meidet und den Juden aus dem Wege geht.“ Die antisemitische Botschaft von Oesers Roman, die besonders deutlich in den Kommentaren des auktorialen Erzählers hervortritt, kollidiert scheinbar mit der Auswahl des redlichen Juden Löb Hirsch als Retter der beiden bedrohten Höfe. Dennoch dürfte es sich nicht, wie vielfach behauptet, um eine literarische Fehlkonstruktion handeln. Erstens erlaubte die Einführung einer positiven Judenfigur dem Autor, den Vor-
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Das Volk und seine Treiber (Roman von Rudolf Ludwig Oeser, 1859)
wurf der Judenhetze abzuwiegeln. Schließlich wurde das Buch zur Zeit der „liberalen Ära“ publiziert, als Kritik an der Judenemanzipation unerwünscht war und als rückständig galt. Zweitens blieb Oeser als protestantischer Pastor theologisch korrekt und behinderte nicht die Judenmission. Löb Hirsch repräsentiert den „erwählten Rest“ unter den nicht konvertierten Juden. Drittens kam es Oeser neben der Schilderung des Gegensatzes zwischen Bauern und Juden auch auf den Gegensatz von Stadt und Land an. Als eigentliche Gefahr sollten nicht die im Dorf verwurzelten, sondern die aus den Städten heraus operierenden Juden dargestellt werden. Die Publikationsgeschichte von „Das Volk und seine Treiber“ beweist, dass die Figur des Löb Hirsch kein Hindernis darstellte, um Oesers Roman für antisemitische Propagandazwecke zu nutzen. Im Sammelband „O. Glaubrechts ausgewählte Schriften“ (1866) wurde der Vorwurf der Judenfeindlichkeit noch bestritten. Doch nach den ersten drei Auflagen von 1859, 1865 und 1878 erschienen weitere Neuausgaben des Werks auf dem Höhepunkt der antisemitischen Bauernbewegung um Otto Böckel zwischen 1888 und 1891. Die Böckel-Bewegung verschaffte dem Buch mittels ihrer Presse und ihrer Wahlkämpfe eine weite Verbreitung in Hessen. 1897 gab der Carl Hirsch Verlag in Konstanz eine illustrierte Ausgabe heraus. Dann wurde „Das Volk und seine Treiber“ erst 1926 von dem völkischen Multifunktionär Alfred Roth wiederentdeckt, der es in seinem Stuttgarter Verlag neu auflegte und mit einem rassenantisemitischen Vorwort versah. Diese Ausgabe wurde 1933 vom Franz Eher Nachfolger Verlag, dem Parteiverlag der NSDAP, übernommen. Flankiert wurde die Nutzung des Romans für antisemitische Propagandazwecke von Veränderungen im Text. In den jüngeren Ausgaben wurde der Handlungsstrang gerafft, und einzelne Personennamen wurden geändert. „Das Volk und seine Treiber“ ist in die realistische Erzählliteratur einzuordnen, allerdings nur aufgrund des Erzählstils. Die Handlung orientiert sich keineswegs an den tatsächlichen Verhältnissen im ländlichen Hessen zur Mitte des 19. Jahrhunderts, sondern an Wilhelm Heinrich Riehls (1832–1897) Verknüpfung von Agrarromantik und Antisemitismus. Die Proteste der liberalen Presse gegen die judenfeindliche Tendenz des Werks konnte die Glaubwürdigkeit und Langlebigkeit des Wuchermythos nicht erschüttern. Er wirkt, laut Michael Schmidt, sogar noch in der neueren geschichtswissenschaftlichen Literatur nach, sofern sie umstandslos von der Tatsache der jüdischen Vorherrschaft in Viehhandel und Kreditwesen auf Realkonflikte zwischen Bauern und Landjuden schließt. Das klägliche Scheitern „judenfreier“ Viehmärkte und die geringe Zahl wucherbedingter Zwangsversteigerungen mit Beteiligung jüdischer Gläubiger legen eine andere Deutung des hessischen Antisemitismus nahe. Konfliktträchtig waren die Beziehungen zwischen Bauern und Landjuden nicht in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern weil Politiker und Literaten die Juden zu Sündenböcken für die strukturelle Agrarkrise in Hessen machten.
Thomas Gräfe
Literatur Matthew Lange, Antisemitic Elements in the critique of Capitalism in German Culture 1850–1933, Oxford 2007. Klaus Müller-Salget, Das Bild des Juden im protestantischen Volksschrifttum des 19. Jahrhunderts, in: Hans Otto Horch, Horst Denkler (Hrsg.), Conditio Judaica. Judentum, Anti-
Wahrheit macht frei (Dokumentarfilm von Michael Schmidt, 1991)
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semitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, 1. Teil, Tübingen 1988, S. 259–270. Klaus Müller-Salget, Rudolf Oeser/O.Glaubrecht. Ein Gießener Volksschriftsteller des 19. Jahrhunderts, in: Gerhard R. Kaiser, Gerhard Kurz (Hrsg.), Literarisches Leben in Oberhessen, Gießen 1993, S. 126–149. Michael Schmidt, „Faule Geschichten“? Über „Landjuden“ und deutsche Literatur, in: Monika Richarz, Reinhard Rürup (Hrsg.), Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte, Tübingen 1997, S. 347–471. Jacob Toury, Antisemitismus auf dem Lande. Der Fall Hessen 1881–1895, in: Monika Richarz, Reinhard Rürup (Hrsg.), Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte, Tübingen 1997, S. 173–188.
Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt (Tagebuch von Mihail Sebastian, 2005) → Sebastian-Tagebuch Vollkommene Historie und Lebens-Beschreibung des fameusen und berüchtigten Württembergischen Aventuriers Jud Süß Oppenheimer (Arnoldus Liberius, 1738) → Jud Süß in der Literatur Von Hölle zu Hölle (Film von Dmitri Astrachan, 2000) → From Hell to Hell Die Vorladung (Film von Wolfgang Luderer, 1980) → Zwischenfall in Benderath
Wahrheit macht frei (Dokumentarfilm von Michael Schmidt, 1991) Der schwedische Dokumentarfilm „Wahrheit macht frei“ des Journalisten Michael Schmidt von 1991 und das auf demselben Material basierende Buch „Heute gehört uns die Straße“ von 1993 gehören zu den eindrücklichsten Beispielen der Konjunktur von Dokumentationen über den virulenten Neonazismus der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre und ermöglichen ungekannte Einblicke in das Innenleben des deutschen Neonazismus. Michael Schmidt bewegte sich als Journalist von Anfang 1989 bis Mitte 1991 unverdeckt und teils alleine, teils mit einem Kamerateam in der deutschen Neonazi-Szene. Zugang erhielt er durch den Neonazi-Führer Michael Kühnen (1955–1991), der – wie Schmidt später vermutete – sich angesichts seiner AIDS-Erkrankung von dem Film ein „persönliches Denkmal“ erhoffte. Anspruch des Films, der auch auf die Unterstützung durch Graeme Atkinson von der britischen antifaschistischen Zeitschrift „Searchlight“ baute, ist es, das „schockierende und beängstigende“ Netzwerk deutscher und internationaler Neonazis „aufzudecken“. Schmidt räumt jedoch zugleich ein, angesichts der unüberblickbaren Dimensionen könne der Film lediglich auf „einen Teil eingehen, der über ein erschreckendes Potential verfügt“. Dieser Teil umfasst primär den harten Kern deutscher Neonazis und die sie fördernden Altnazis sowie Verbindungen zu ausländischen Gesinnungsgenossen. Der Strategie, den Holocaust zu leugnen („Revisionismus-Kampagne“) widmet der Film besondere Aufmerksamkeit.
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Wahrheit macht frei (Dokumentarfilm von Michael Schmidt, 1991)
In seinem einstündigen Dokumentarfilm verwendet Schmidt hauptsächlich das (nur in Ausnahmefällen mit versteckter Kamera gedrehte) eigene Material aus dem Inneren der Neonazi-Zirkel: Interviews, Aufnahmen von Aufmärschen, Versammlungen, Wehrsportübungen und andere meist konspirative Aktivitäten. Dies verbindet und parallelisiert er an mehreren Stellen mit historischem Bildmaterial aus den 1930er- und 1940er-Jahren. Auch zwei nicht-neonazistische Zeitzeugen ruft „Wahrheit macht frei“ auf: die Auschwitzüberlebende Esther Bejarano, die zu Beginn und am Ende des Films Schmidt gegenüber das Entsetzen über dessen Erkenntnisse Ausdruck gibt, und den ehemaligen SS-Arzt in Auschwitz Hans Münch, der als Gegenstimme zu Holocaustleugnern fungiert. Struktur und Richtung erhält der nicht chronologisch aufgebaute Film primär durch Schmidts Kommentar aus dem Off. „Wahrheit macht frei“ zeichnet die weit und komplex verzweigten neonazistischen Strukturen als existenzielle und vor allem unmittelbare Bedrohung für den demokratischen Staat und die Gesellschaft: nationale und internationale Vernetzung und Zusammenarbeit, Infiltration des Europaparlaments, strategischer Einsatz der Holocaustleugnung, gezielte Expansion von Aktivitäten und Rekrutierung in der noch bestehenden DDR, martialische Aufmärsche in Innenstädten unter wohlwollender Begleitung der Polizei, Pläne zur militärischen Unterstützung der irakischen Truppen im Irak-Krieg 1990/91 gegen die „zionistische und US-amerikanische imperialistische Aggression“, Gelöbnisse auf „Gehorsam bis in den Tod“ und nicht zuletzt theoretische und praktische Vorbereitung auf einen Bürgerkrieg durch Angehörige der deutschen Bundeswehr und des österreichischen Bundesheers. Der Film betont neben der physischen Militanz und Gewalttätigkeit vor allem auch die verbale Radikalität in aufpeitschenden Hetzreden, Morddrohungen und -aufrufen gegen Juden und politische Gegner, die sich am eindrücklichsten in den von dem österreichischen Neonazi-Führer Gottfried Küssel vorgetragenen Liedern äußern. So etwa in der Liedzeile „Das ist kein Mensch, das ist ein Jud’ / denk’ nicht lang nach, mach' ihn kaputt“ oder in der Eröffnungsszene des Films, als Küssel anstimmt: „Im Parlament ist’s einfach ein Jammer / doch in 20 Jahr’n ist’s eine Gaskammer / Da kann man durch Reden nichts mehr erreichen / und es gibt einzig schöne Gasleichen!“ Nach dem Refrain „Wartet Ihr Brüder, denn wir kommen wieder / und haun’ das rote Gesindel darnieder / Wartet Ihr Brüder, denn jetzt kommt die Rache / Juda verrecke und Deutschland erwache!“ folgt die Strophe: „Und sind wir dann die alleinige Führung / dann weinen sie alle nurmehr vor Rührung / Die Juden die anderen, die nötige Reife / und sind paketiert zu schöner Kernseife!“ Der Film endet mit den Worten „Niemand kann sagen, er wäre nicht gewarnt worden“. Für seinen Film interviewte Schmidt nahezu alle Alt- und Neonazi-Größen der Zeit, neben Michael Kühnen und Bela Ewald Althans (→ Beruf Neonazi) auch Gary Lauck, Gottfried Küssel, Christian Worch, Otto Ernst Remer und Thies Christophersen. Durch diese Interviews förderte Schmidt nennenswerte neue Erkenntnisse zutage: Kühnen tat kund, Harald Neubauer, der 1989 für die Republikaner ins Europaparlament eingezogen war, sei Mitglied der NSDAP/AO gewesen, Küssel räumte ein, dass bei Wehrsportübungen auf die Kenntnisse von Angehörigen der Streitkräfte Deutschlands und Österreichs zurückgegriffen werde, und Althans bekannte freimütig, dass der Holocaust das Haupthindernis für eine breite Akzeptanz nationalsozialistischer
Wahrheit macht frei (Dokumentarfilm von Michael Schmidt, 1991)
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Ideen sei und benannte damit das Hauptmotiv der Holocaustleugnung. Nicht zuletzt führte sich Thies Christophersen (1918–1997), Förderer Kühnens und Autor der 1973 erschienenen Broschüre „Die Auschwitz-Lüge“, vor Schmidts Kamera selbst ad absurdum, als er hinsichtlich der Ermordungen durch Giftgas in Auschwitz bekannte: „Ich leugne das nicht.“ Christophersen hielt Schmidt irrtümlich für einen Kameraden und räumte ein, in seiner Schrift über Vergasungen deshalb „nichts geschrieben“ zu haben, da er „uns entlasten und verteidigen“ wolle, und man dies „nicht mit dem, was wir tatsächlich getan haben“, tun könne. Schmidts Film nimmt den Titel der geschichtsrevisionistischen Veranstaltung „Wahrheit macht frei“ auf, die am Tag nach Hitlers 101. Geburtstag, dem 21. April 1990, vor 800 Teilnehmern im Münchener Löwenbräukeller abgehalten wurde und der ein Marsch auf die Feldherrnhalle folgte. Hauptredner dieser mit dem Untertitel „David Irving – Ein Engländer kämpft für die Ehre Deutschlands“ versehenen Veranstaltung war eben jener Holocaustleugner. Die Münchener Veranstaltung bezog sich ihrerseits nicht etwa auf die geläufige Bibelstelle „die Wahrheit wird Euch frei machen“ (Joh. 8, 32), sondern spielte vielmehr auf die Losung „Arbeit macht frei“ an, die über den Eingangstoren zahlreicher Konzentrationslager prangte. Da Schmidt bei deutschen Sendeanstalten keine Unterstützung für sein Dokumentarprojekt erhielt, wurde der Film vom öffentlich-rechtlichen schwedischen Fernsehsender SVT 1 produziert; dort erfuhr er am 18. September 1991 auch seine vielbeachtete Premiere. Danach wurde er auch in zahlreichen, vor allem europäischen Ländern gezeigt, darunter in Frankreich, Italien, Großbritannien und auch in Israel. Nachdem sich deutsche Fernsehsender lange desinteressiert gezeigt hatten, strahlte der WDR die Dokumentation erstmals am 14. April 1992 aus. 1993 wurde sie auf der Berlinale gezeigt. Auch wenn die Dokumentation weithin als schockierend und aufrüttelnd wahrgenommen wurde, Schmidt für sein Engagement und seinen Mut gelobt wurde, erntete sie zuweilen deutliche Kritik. Für den Journalisten Stefan Reinecke verfing sich Schmidt als „ein mit guten, investigativen Absichten und Sensationsgier ausgerüsteter Journalist […] im Dickicht des Themas“; einer der schwerwiegendsten der zahlreichen Gründe für diese Einschätzung war, Schmidt habe nicht nur den Selbstinszenierungen der Neonazis nicht widerstanden, sondern die Akteure um spektakulärer Bilder willen entsprechend ihrem Selbstbild und der intendierten propagandistischen Außenwirkung ästhetisiert und inszeniert. Nicht zuletzt durch die Montagetechnik und den Musikeinsatz, so Reinecke, trete an die Stelle genauer Beobachtungen „das Plakative, Suggestive, Ressentimentgeladene“. Die zwei Jahre nach dem Film erschienene Buchfassung „Heute gehört uns die Straße“ – die 1993 ebenfalls zunächst im Ausland, und zwar auf Französisch, erschien – geht teilweise deutlich über den Film hinaus, bleibt an anderen Stellen aber auch hinter ihm zurück. So findet sich einiges bedeutsames Material des Films im Buch nicht wieder, hingegen wird breit auf den allgemeinpolitischen Kontext eingegangen und der Neonazismus in Verbindung zu (rechts)konservativen Strömungen und politischen Entwicklungen der Zeit gebracht. Wie der Film selbst wurde das Buch, zu dem Ralph Giordano ein Vorwort beisteuerte, einerseits gelobt, andererseits wiesen Fachrezensenten aber auch auf Unzulänglichkeiten hin. Vor allem wurde kritisiert, dass Schmidt das internationale Netzwerk zu undifferenziert darstelle und übertriebene An-
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Die Wannseekonferenz (Fernsehspiel von Heinz Schirk, 1984)
gaben seiner Gesprächspartner ungeprüft übernehme. Damit würde, so der Politologe Armin Pfahl-Traughber, „die Existenz eines schlagkräftigen weltweit operierenden Nazi-Netzwerks“ suggeriert, „das in dieser Form sicherlich nicht existiert“. Auch Schmidt selbst räumte problematische Situationen und Fehler ein. So sei ihm zuweilen die Distanz abhandengekommen, und er bereue, entgegen dem Journalistenethos 3.000 DM für einen Flug des NSDAP/AO-Funktionärs Lauck aus den USA nach Dänemark für ein Interview bezahlt zu haben.
Christian Mentel
Literatur ID-Archiv im ISSG (Hrsg.), Drahtzieher im braunen Netz. Der Wiederaufbau der NSDAP, Berlin, Amsterdam 1993. Stefan Reinecke, Wie darf man Nazis zeigen? Ein Rückblick auf „Stau – Jetzt geht’s los“, „Beruf Neonazi“ und „Wahrheit macht frei“, in: Sabine Jungk (Hrsg.), Zwischen Skandal und Routine? Rechtsextremismus in Film und Fernsehen, Marburg 1996, S. 44–54. Michael Schmidt, Heute gehört uns die Straße. Der Inside-Report aus der Neonazi-Szene, Düsseldorf u. a. 1993.
Wahrsagebeeren → Hans Folz-Dichtung Wangerooger Judenlied → Borkum-Lied
Die Wannseekonferenz (Fernsehspiel von Heinz Schirk, 1984) Am 20. Januar 1942 fand unter dem Vorsitz von Reinhard Heydrich, protokolliert von Adolf Eichmann, in einer Villa am Großen Wannsee in Berlin jene Konferenz statt, bei der 13 Personen in hoher Funktion der SS und im Rang von Staatssekretären der Reichsregierung über die beabsichtigte „Endlösung der Judenfrage“ vom Chef des Reichssicherheitshauptamtes Heydrich informiert wurden. Nach dem Drehbuch von Paul Mommertz inszenierte auf der Grundlage des authentischen Protokolls Regisseur Heinz Schirk einen Film von 85 Minuten Dauer, der als Fernsehspiel unter Wahrung der Einheit von Ort und Zeit einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung des Publikums über den Holocaust leistet. „Der Spiegel“ nannte im Dezember 1984 das Fernsehspiel, das bei allem Bemühen um Authentizität nicht ohne Fiktionen (etwa zur Rolle und Bedeutung Eichmanns) auskommt, „ein Produkt televisionärer Fabulier- und Kombinationslust“. Dies sei nicht die Wannseekonferenz, wie sie die Historiker kennen, schrieb Spiegel-Redakteur Heinz Höhne im gleichen Impetus, den der Historiker Martin Broszat 1979 gegenüber der TV-Serie → Holocaust empfunden hatte. Paul Mommertz verteidigte dagegen mit guten Argumenten und großem Selbstbewusstsein sein Drehbuch und verwies dabei auf den Antisemitismus und ideologischen Fanatismus der Teilnehmer der Wannseekonferenz. Das vielfach mit Auszeichnungen bedachte Fernsehspiel wurde 1986 in einer Bühnenfassung im Volkstheater Wien uraufgeführt. Mit der gleichen Intention, die historische Wannseekonferenz für das Fernsehpublikum aufzubereiten, entstand 2001 die amerikanisch-britische Coproduktion „Conspiracy“, die in den USA im History Channel (Pay TV) und in Großbritannien von BBC
Welcome in Vienna (Film von Axel Corti, 1985/1986)
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ausgestrahlt wurde. 2010 war das Dokudrama in einer synchronisierten Fassung unter dem Titel „Die Wannseekonferenz“ auch in Deutschland zu sehen.
Wolfgang Benz
Literatur Martin Broszat, „Holocaust“ und die Geschichtswissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 27 (1979) 2, S. 285–298.
Die Wannsee-Konferenz (Dokumentartheater, 2012) Zum 70. Jahrestag der Wannseekonferenz führte das „Historikerlabor e. V.“ in der Gedenk- und Bildungsstätte „Haus der Wannseekonferenz“ (Berlin) am 22. Januar 2012 das Dokumentartheater „Die Wannsee-Konferenz“ auf. Unter der Leitung der Dramaturgin und Literaturwissenschaftlerin Kalliniki Fili und der Regie des Historikers Christian Tietz nahmen 15 Historiker die Positionen der damaligen Teilnehmer der Konferenz ein. Jeder der 15 Wissenschaftler hatte sich mit der Biografie und der Funktion seiner darzustellenden historischen Person intensiv auseinandergesetzt. Als Grundlage des Dokumentartheaterstücks diente das Protokoll der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942. Unter Hinzuziehung authentischer schriftlicher Materialien in Form von Dokumenten, Briefen, Protokollen etc. wurde das Drehbuch erstellt. Die 15 Wissenschaftler des Historikerlabors, die ihre Texte teils in direkter, teils in indirekter Rede wiedergaben, schlüpften nicht in die Rolle der historischen Konferenzteilnehmer, sondern trugen – entsprechend des Genres des Dokumentartheaters – die Texte mit kritischer Distanz vor und verzichteten bei diesem „szenischen Sprechtheater“ auf jegliche optische Ausstattung; als einzige Requisite diente jedem der Darsteller als Identifikationsmerkmal ein Aktenordner mit der Fotografie seiner darzustellenden Figur. Die Uraufführung dieses Dokumentartheaterstückes fand im authentischen Raum in der Villa am Großen Wannsee statt, in die Reinhard Heydrich zu einer „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ am 20. Januar 1942 ranghohe Vertreter der SS und der Ministerialbürokratie geladen hatte. Das Dokumentartheaterstück „Die Wannsee-Konferenz“ wurde nach der Uraufführung und weiteren fünf Aufführungen in der Gedenk- und Bildungsstätte im Haus der Wannseekonferenz auch im Berliner Gorki-Theater gezeigt, im Dezember erschien eine DVD dieses Projektes und im Jahr 2013 folgten Gastspiele außerhalb Berlins.
Marion Neiss
Literatur Tobias Ebbrecht, Rezension zu: Kalliniki Fili, Christian Tietz, Dokumentar-Theater-Projekt Die Wannseekonferenz, in: MEDAON – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 6 (2012) 10, S. 1–7 (Onlineversion).
Welcome in Vienna (Film von Axel Corti, 1985/1986) Mit „Welcome in Vienna“ schlossen der Regisseur Axel Corti und der Autor Georg Stefan Troller ihre Trilogie „Wohin und zurück“ ab, die sich mit dem Schicksal österreichischer Juden zwischen 1938 und 1945 beschäftigt. Wie für die beiden anderen
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Welcome in Vienna (Film von Axel Corti, 1985/1986)
Teile, → „An uns glaubt Gott nicht mehr“ und „Santa Fé“, bildete auch für den dritten Teil die Biografie des Drehbuchautors Troller die Grundlage; es produzierten die öffentlich-rechtlichen Sender ZDF, SRG, ORF. Der Schwarz-Weiß-Film wurde nicht nur fürs Fernsehen, sondern auch für den Kinoeinsatz gedreht und fand dadurch ein internationales Publikum. In Frankreich erreichte „Welcome in Vienna“ die Top Ten der meistgesehenen Filme des Jahres 1986. Preise und Auszeichnungen verschiedener Festivals folgten. Die Hauptfigur des Films, Freddy Wolff, floh 1938 vor der nationalsozialistischen Verfolgung aus Wien und emigrierte in die USA. Schilderte „Santa Fé“ seine Bemühungen, sich in der Emigration durchzubringen und mit dem aufgezwungenen Exil fertig zu werden, ist Freddy in „Welcome in Vienna“ zurück in Europa. Als US-amerikanischer Soldat erlebt er die letzten Monate des Krieges gemeinsam mit einem anderen GI, dem überzeugten Kommunisten Adler, der als Berliner Jude ebenfalls hatte fliehen müssen. Zu Beginn im Elsass stationiert, sind sie im April 1945 in Salzburg. Dort lernt Freddy eine junge Schauspielerin, Claudia Schütte, kennen, die er in Wien wiedersehen wird und mit der er eine Liebesbeziehung beginnt. Während Claudia ihre Schauspielkarriere vorantreibt, werden Freddy und Adler in Wien als leitende Mitglieder in der Kulturverwaltung eingesetzt. Als „Amis“ werden sie in der zerstörten Stadt zwar umgarnt, aber beider Vorstellungen, auf ihre Art am Aufbau einer Nachkriegsgesellschaft mitzubauen, erweisen sich als illusorisch. Adler, frustriert über die Bereitschaft hoher amerikanischer Militärs zur Zusammenarbeit mit ihrem deutschen Gegenpart, will in die von der sowjetischen Armee besetzte Zone wechseln. Die „Russen“ wollen ihn aber nur als Infiltrant der amerikanischen Armee. Enttäuscht wandelt er sich zum pragmatischen Zyniker, der sich mit den Verhältnissen arrangiert. Und Freddy muss erkennen, dass er zwar als „Amerikaner“ und Mitglied der Kulturverwaltung gefragt, als möglicher jüdischer Remigrant in Österreich aber wenig willkommen ist. Am Ende des Films hält es Claudia mit dem nun einflussreichen Adler, Freddy wird in die USA zurückbeordert. Es bleibt unklar, ob er geht oder in Österreich bleibt. In „Welcome in Vienna“ zeichnen Corti und Troller das Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit als Stadt, die sich primär als Opfer des Nationalsozialismus sieht. Bevölkert wird sie von einem Mix aus opportunistischen Schleichhändlern, Ex- bzw. Noch-immer-Nazis, ausgebombten „Arisierern“ und Leuten, die bereits in den ersten Wochen nach dem Krieg nichts mehr von einer Mitschuld an den Verbrechen der jüngsten Vergangenheit wissen wollen. Troller dazu: „Mit einem Schlag wurden jetzt die Nazis mit den Reichsdeutschen identifiziert – damit waren dann die Österreicher Nichtnazis geworden.“ Freddy, der sich gegen dieses schnelle Arrangieren stemmt, wirkt fehl am Platz. Selbst der einzige österreichische Widerstandskämpfer, der vorkommt, ein Sozialist, der im KZ Mauthausen gewesen war, erklärt Freddy, dass man sich an die schnelle Wiedereingliederung belasteter Nationalsozialisten werde gewöhnen müssen. Der Film zeigt den latent vorhandenen Antisemitismus in Wien, der mögliche Rückkehrer wie Freddy als Bedrohung auch der durch die „Arisierungen“ geschaffenen Eigentumsverhältnisse sieht bzw. ihnen vorwirft, es in der Emigration doch besser gehabt zu haben als die im Land Verbliebenen. Parallel dazu wird auch der amerikani-
Weltanschauliche Erziehung und kulturelle Betreuung der KZ-Wachmannschaften
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sche Antisemitismus angesprochen. „Ein Haufen Juden hat Trouble und gleich muss die ganze amerikanische Armee über’s Meer!“ wirft ein Colonel dem „jewish bastard“ Adler an den Kopf, der seine Kooperationsbereitschaft mit einem hohen Wehrmachtsoffizier kritisiert hatte. „Welcome in Vienna“ kam 1986 in die Kinos, in dem Jahr, als die Diskussion um die österreichische Mitverantwortung an den nationalsozialistischen Verbrechen und dem Holocaust einen Höhepunkt erreichte. „Rückblickend betrachtet drücken sie [die drei Filme der Trilogie] den Geist jener Jahre aus, als nach 40jährigem Tabuisieren der Mitschuld Österreichs der Zeitpunkt für ein Ereignis gekommen war, das die Perspektive auf die NS-Vergangenheit verändern würde. Die Waldheim-Affäre machte kämpferisch“, meint dazu die Filmemacherin Ruth Beckermann. Axel Corti leitete durch seine prononcierten Texte und Filme, an denen sich wesentliche politische wie künstlerische Debatten zum Thema entspannen, diesen Perspektivenwechsel mit ein. Beckermann zufolge wurde Corti „durch seine moralische Autorität eine öffentliche Figur“: „Den Blick des anderen spürend und in sein Denken einbeziehend, sprach er sich gegen dieses ‚sich selber Verzeihen bevor ein anderer einem verziehen hat‘ aus.“ Cortis „jüdische Trilogie“ und damit „Welcome in Vienna“ ist bis heute die nuancierteste filmische Auseinandersetzung mit dem Schicksal der österreichischen Juden zwischen 1938 und 1945.
Martina Aicher
Literatur Robert Neumüller, Ingrid Schramm, Wolfgang Stickler (Hrsg.), Axel Corti. Filme, Texte und Wegbegleiter, Weitra 2003. Georg Stefan Troller, Wohin und zurück. Die Axel-Corti-Trilogie, Wien 2009. Christopher J. Wickham, Wohin und zurück (Somewhere and back): Perspektives on Axel Corti’s Jewish Trilogy, in: Willy Riemer (Hrsg.), After Postmodernism. Austrian Literature and Film in Transition, Riverside / California 2000, S. 106–126.
Weltanschauliche Erziehung und kulturelle Betreuung der KZWachmannschaften (1933–1945) Die ideologische Erziehung von SS und Polizei, auch im Kontext der nationalsozialistischen Massenverbrechen und der Ermordung der europäischen Juden, war ein zentraler Aspekt der Ausbildung und Betreuung des Personals in den Konzentrationslagern. Neben der weltanschaulichen Erziehung (Geschichte und Rassenkunde) bestand die Aufgabe der SS-Schulungsführer auch in der Weiterbildung (vor allem Deutsch und Mathematik), der kulturellen und sozialen Betreuung sowie der wirtschaftlichen und persönlichen Fürsorge und Beratung der SS-Männer, Polizeibeamten, des weiblichen SS-Gefolges sowie der Familienmitglieder von SS- und Polizeiangehörigen. Bis 1941 wurde – maßgeblich unter Regie und Anleitung des Schulungsamtes der SS – ein komplexer Apparat aufgebaut, der in vielen Fragen eng mit anderen Einrichtungen von Staat und Partei wie dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP), der Deutschen Arbeitsfront (DAF) oder dem Volksbund für das Deutschtum im Ausland kooperierte. Mit dem Ausbau der Waffen-SS und Polizei erfolgte die
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Weltanschauliche Erziehung und kulturelle Betreuung der KZ-Wachmannschaften
Steuerung sukzessive dezentraler. 1940 erhielten auch die KZ-Verwaltungen eine Sektion „WE“ (Weltanschauliche Erziehung), die seit März 1941 flächendeckend als neue selbständige Abteilung VI „Weltanschauliche Erziehung und Truppenbetreuung“ in allen Konzentrationslagern bestand. Sie war ausschließlich für die Lager-SS zuständig. Gerade für die dienstliche Inkorporation von mehreren zehntausend „volksdeutschen SS-Freiwilligen“, „fremdvölkischen Hilfswilligen“ und Wehrmachtssoldaten in die SS-Totenkopfverbände besaß die Abteilung VI ab 1943 eine besondere Bedeutung. Mit dem Aufbau der SS-Wachverbände ab 1933/34 wurde gleichzeitig der Bereich der ideologischen und kulturellen Schulung im Dienstalltag der SS-Wachmänner fest verankert. Nach der Etablierung und Reorganisation der SS-Wachverbände als SS-Totenkopfverbände sowie deren Übernahme in den Reichshaushalt zum 1. April 1936 wurden parallel die Schulung und Truppenbetreuung ausgebaut und professionalisiert. Im Frühjahr 1937 versahen in den fünf SS-Totenkopfsturmbannen der KZ Dachau, Lichtenburg, Sachsenburg und Sachsenhausen bei 25 Kompanien ständig 25 Schulungsleiter ihren Dienst. Dauerthemen waren Religion, Christentum und Gottglauben, Kirche und Kirchenaustritte. Zentral war, so das Befehlsblatt der SS-Totenkopfverbände für Mai 1937, „die Formung der Männer in soldatischer als vor allem auch in weltanschaulicher Hinsicht zu dem politischen Soldaten des Führers, wie er gerade innerhalb der SS-TV unbedingt notwendig ist“. Innerhalb der Grundausbildung „hat dem jungen Staffel-Anwärter klar zu werden, daß seine Dienstzeit in den SS-TV eine Zeit der Erziehung und der dauernden Arbeit an sich selbst ist“. Zum Unterrichtsplan gehörten erstens die Geschichte und das Parteiprogramm der NSDAP, die daraus resultierende „geistige Umformung des gesamten Volkes“ sowie die Einheit von Bewegung und Staat, zweitens die Geschichte der SS mit dem Auslese- und Blutsgedanken und drittens ein Überblick über die „Feinde des Nationalsozialismus“ wie „a) Judentum b) Freimaurerei c) Bolschewismus d) Polit. Kirche e) Reaktion, Marxismus usw.“ Bei der Ausbildung der SS-Helferinnen hatte die „Weltanschauliche Erziehung“ mit zwölf Wochenstunden den umfangreichsten Anteil. Das zentrale Feindbild war auch hier „der Jude“. Unter anderem sollte die Frau als Hüterin einer arischen Rasse den „Volkskörper“ reinhalten. Grundsätzlich war die Ausbildungsanstalt als Instrument zur „Auslese deutscher Frauen“ gedacht, als ihr Gegenpol fungierte die Ausmerze der Gemeinschaftsfremden. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden 1939/40 über 80 Prozent der SS-Totenkopfverbände für Feldeinheiten der Waffen-SS mobilisiert und teilweise durch ältere Reservisten aus der Allgemeinen SS ersetzt. In der zweiten Kriegshälfte wurden abermals kriegsverwendungsfähige SS-Männer aus den SS-Totenkopfsturmbannen der Lager zur Front versetzt und schrittweise durch „volksdeutsche SS-Freiwillige“ (vor allem aus Kroatien, Rumänien, Ungarn und der Slowakei), ab 1943 zusätzlich durch „fremdvölkische Hilfswillige“ (so Trawniki-Männer) und ab 1944 außerdem durch Wehrmachtssoldaten (Luftwaffe, Heer, Marine) ersetzt. Damit änderte sich der Charakter der SS-Wachverbände grundlegend. Aus der sogenannten KL-Verstärkung von 1939/40 und später den „volksdeutschen SS-Freiwilligen“ rekrutierte die Inspektion der Konzentrationslager (IKL) ab 1940/41 gezielt Lehrer, politische Agitatoren und Hochschuldozenten, um sie in der weltan-
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schaulichen Erziehung der überwiegend neuen Bewacher einzusetzen. Die Spannbreite reichte vom alten Parteigenossen und Gauredner bis zum Universitätsprofessor. Zu dieser Gruppe gehörte Gustav Riek, Professor für (Vor-,) Ur- und Frühgeschichte in Tübingen sowie seit 1941 Fürsorgeoffizier und Schulungsführer im SS-Sonderlager Hinzert. In der Mehrheit waren die Schulungsführer Lehrer. Dominierten in den 1930er-Jahren noch regelmäßig eingesetzte Lichtbild- und Filmvorträge sowie didaktisch konzipierte Schulungsmaterialien den weltanschaulichen Unterricht, konzentrierten sich die Lerninhalte in den 1940er-Jahren auf praktische Fragen der Dienstauffassung, Disziplin, Führerlehre und Fragen zur Fürsorge. Der Transformation der SS-Wachtruppen wurde dabei Rechnung getragen. Die Multiethnizität der SS-Totenkopfsturmbanne und die Nivellierung rassistischer Rekrutierungskriterien führten zur Veränderung der Unterrichtsinhalte. Schulungstheorie und Praxis klafften derart auseinander, dass sich die Rolle des Schulungsführers vom Agierenden in den Reagierenden verwandelte. Die Arbeit der Abteilung VI bestand nun in der Bewältigung alltäglicher Erfordernisse und nicht mehr in der zukunftsweisenden Erziehung junger SS-Rassekader. Antisemitische Inhalte verschwanden zwar nicht vom Lehrplan, dienten jedoch sukzessive als flexible Größe zur Integration der neuen KZ-Wachmannschaften in eine zunehmend heterogene Truppe. Im „Rahmen der geistigen Truppenbetreuung“ veranstaltete die Abteilung VI Kameradschaftsabende in Verbindung mit der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF), organisierte politische Referate und Schulungsvorträge, Gedenkappelle an NSFeiertagen, die Ausbildung in Staats- und Rassenkunde sowie die Aufklärung über Spionageabwehr und andere dienstliche Belehrungen. Bis zur zweiten Kriegshälfte reduzierte sich der Unterricht sukzessive von der Formung des „politischen Soldaten“ auf die praktischen Erfordernisse im Dienstalltag. Die Pflege der Truppenmoral, die Ablenkung vom harten Wachdienst und vom Lagerterror, von Heimweh, Luftkrieg und Sorge um die Familie, von den Meldungen der Ost- und Westfront, von Defätismus und Gleichgültigkeit, ferner die Aufrechterhaltung der Disziplin und das Schlichten interner Konflikte standen im Mittelpunkt der Aktivitäten der Schulungsabteilungen. Außerdem galt es, den SS-Männern nach ihrem mörderischen Alltag Zerstreuung zu bieten. Der Kommandant des KZ Auschwitz, Arthur Liebehenschel, schlug Mitte Dezember 1943 den Schulungsleiter Kurt Knittel wegen seiner Verdienste für die Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes II. Klasse mit Schwertern vor: Knittel „versucht nach allen Richtungen durch eine vorbildliche Freizeitgestaltung den Männern nach beendigtem schwerem [sic] Dienst Entspannung zu bringen. Auch seine Arbeit bei der Schulung und Unterrichtung der Volksdeutschen muss besonders lobenswert hervorgehoben werden.“ Seit Ende 1943 übernahm auch das Amt Truppenbetreuung im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda die Betreuung der KZ-Wachmannschaften. Den größten und ständig wachsenden Anteil machten Kameradschaftsabende durch KdF und andere NS-Organisationen aus, die immer dezentraler politische Inhalte transportierten. Dagegen fanden die Lehr- und Unterhaltungsbüchereien nur geringes Interesse, sodass im KZ Stutthof „das Interesse am Buch geweckt“ werden sollte. Zu den Themen der Kameradschaftsabende, die idealiter einer formalisierten Prozedur unterliegen sollten, zählten meist banale Unterhaltungsprogramme, aber verein-
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zelt auch anspruchsvolle Inszenierungen, wie – nachfolgend am KZ Stutthof exemplifiziert – Varieté (etwa „Das lebende Magazin“, „Nette Sachen die Freude machen“, „14 Tage wie im Himmel“, „ABC der Kleinkunst“ oder „Nimm, was Dir das Leben gibt“), Opern und Operetten („Tierland“, „Schön ist die Welt“, „Zigeunerbaron“, „Freischütz“), Schau- und Lustspiele in den Stadttheatern Danzig und Elbing oder auf der eigenen Bühne im Kameradschaftsheim (beispielsweise „Fuhrmann Henschel“, „Eva im Abendkleid“, „Karl und Anna“, „Eifersüchtelei“ oder „Ich soll Dich grüßen“). Weiterhin gehörten zum Repertoire Bunte Abende („Fröhlicher Bilderbogen“), Konzerte und Musikveranstaltungen („Handharmonika-Orchester Flache – Erfurt“, „Leichter Klang und froher Sang“, „Musikalische Kostbarkeiten“, „Melodie und Rhythmus“), Schaustellerauftritte („Artistenparadies“), Filmvorführungen zweimal wöchentlich und Darbietungen prominenter Künstler. So trat u.a. der Schauspieler Johannes Riemann, der von Max Reinhardt an das Deutsche Theater geholt worden war und 1939 von Joseph Goebbels den höchsten Ehrentitel „Staatsschauspieler“ verliehen bekam, im KZ Stutthof auf. Der niederländische Schauspieler und Sänger Johannes Heesters gastierte am 21. Mai 1941 mit dem Ensemble des Münchner Gärtnerplatztheaters im KZ Dachau. Mit dem Schutzhaftlagerführer Egon Zill und dem Kommandanten Alex Piorkowski besichtigte er das Lager, während die Häftlingskapelle im Hintergrund spielte. Zwischen Oktober 1941 und Januar 1942 trat das seinerzeit größte Revue- und Varietétheater Deutschlands, die Scala in Berlin, unter Leitung von Eduard Duisberg zweimal in Sachsenhausen auf. Die 1920 mehrheitlich von jüdischen Geschäftsleuten eröffnete Scala war nach 1933 „arisiert“ worden. Themen der Vortragsabende, welche die Abteilung VI gemeinsam mit dem SSHauptamt (Amt C I) organisierte, waren zum Beispiel „Überseeische und europäische Rohstoffe“ (Redner: SS-Obersturmbannführer Ludwig von Amelunxen), „Volks- und Finanzwirtschaft im Wechsel der Weltanschauung“ (Gauleiter z.b.V. Dr. Herbert Albrecht), „Die alte deutsche Stadt“ (Dr. Herbert Griebitzsch), „Das Ringen um die Neuordnung Europas“ (Prof. Dr. Walter Stuhlfath), „Wie kann Deutschland rohstoffmäßig durchhalten?“ (Dr. Friedrich Klement) und ein Schulungsvortrag des Gauredners Otto Beismann. An einem Vortragsabend hatten alle dienstfreien SS-Angehörigen teilzunehmen, während für die Kameradschaftsabende nur eine limitierte Anzahl zugelassen war. Besondere Anlässe waren NS-Feiertage und die Sammlungen für das Winterhilfswerk. Nahezu deckungsgleich waren die Themen in Auschwitz und anderen KZ. So gastierte im Februar 1944 das Varietétheater Scala mehrmals in Auschwitz. Daneben gab es Gastspiele des Schauspielers Dieter Borsche, der später durch seine Rollen in Edgar-Wallace-Filmen bekannt wurde, des Sächsischen Staatstheaters, des Kattowitzer Opernhauses, von Künstlern der Staatsoper, des Burgtheaters und des Volkstheaters Wien, des Opernhauses Breslau oder des Zentraltheaters Dresden. Regelmäßige Schulungen und Vorträge prägten den Dienstplan. Während der „Ungarn-Aktion“ und der Ermordung von über 320.000 ungarischen Juden 1944 liefen die Truppenbetreuungsveranstaltungen auf Hochtouren, zeitgleich referierte der Schulungsleiter Kurt Knittel „über das Thema: ‚Die Vergeltung‘“. Ein Augenmerk in dieser Phase bildete auch die gesonderte Schulung des weiblichen Personals, das in Auschwitz-Birkenau einen nicht unerheblichen Anteil ausmachte. Schon mit der Eröffnung des Frauenlagers in
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Auschwitz wurden die Aufseherinnen als „Gefolge der Waffen-SS“ geschult. Mit den Einschränkungen, der Einstellung von Kulturveranstaltungen im Zivilbereich und der Schließung aller Theater zum 1. September 1944 war die Abteilung VI gezwungen, für die Fortsetzung der Truppenbetreuung SS-Personal „mit künstlerischen Fähigkeiten“ aus den eigenen Reihen einzusetzen. Nachdem die Truppenbetreuung von August bis Oktober 1944 aufgrund der angespannten Kriegs- und Wirtschaftslage ausgesetzt worden war, wurde die Weltanschauliche Erziehung ab Herbst wieder durch mobilisierende politische Schulungen für den „Endkampf“ intensiviert. Exemplarisch dafür steht der gedruckte Nachrichtendienst für die SS-Männer und Aufseherinnen in den Außenlagern des KZ Stutthof, der in sieben Folgen zweiwöchentlich von Oktober 1944 bis Januar 1945 erschienen ist. Die letzte Stoffunterlage für den weltanschaulichen Kompanieunterricht im KZ Stutthof wurde durch die Abteilung VI Mitte Januar 1945 herausgegeben und ist im Zusammenhang mit der bevorstehenden Auflösung zu sehen. In der Schulungsanleitung wurde die Analogie zwischen den Januartagen 1933 und 1945 beschworen. Dabei fokussierte das Material auf die innere und äußere Lage des Reiches vor und nach 1933 und kulminierte in dem Fazit: „Die gegenwärtige Auseinandersetzung mit den Mächten der Finsternis ist der Kampfzeit gleichzusetzen. […] Es ist deshalb schon jetzt wie nach dem Kriege kein Wertunterschied zwischen alten Kämpfern und jüngeren Nationalsozialisten zu machen.“ Die Anspielung auf „volksdeutsche SS-Freiwillige“, „fremdvölkische Hilfswillige“ und Wehrmachtsangehörige ist unverkennbar. In summa bildeten die Aufrechterhaltung eines reibungslosen Dienstablaufs, der Disziplin und der Truppenmoral, die Vermeidung truppeninterner Konflikte, aber auch die Unterhaltung und Zerstreuung der Wachmannschaften wesentliche Aufgaben der Abteilung VI. Das Profil der weltanschaulichen Erziehung und Betreuung passte sich flexibel den Bedürfnissen der neuen Bewacher sowie dem Primat der Funktions- und Kontrollfähigkeit der wachsenden multiethnischen SS-Totenkopfverbände an. Die Judenfeindschaft bildete stets eine zentrale Komponente. Während sie in der Vorkriegszeit als Topos der Menschenformung fungierte, wirkte sie in den 1940er-Jahren vor allem als integratives Moment für die Lager-SS.
Stefan Hördler
Literatur Bastian Hein, Elite für Volk und Führer? Die Allgemeine SS und ihre Mitglieder 1925– 1945, München 2012. Stefan Hördler, Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Göttingen 2014. Jürgen Matthäus, Konrad Kwiet, Jürgen Förster, Richard Breitman, Ausbildungsziel Judenmord? „Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der „Endlösung“, Frankfurt am Main 2003. Phillip Wegehaupt, „Wir grüßen den Hass!“ Die ideologische Schulung und Ausrichtung der NSDAP-Funktionäre im Dritten Reich, Berlin 2012.
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Die Weltverschwörer (Roman von Roderich Müller-Guttenbrunn, 1926)
Die Weltverschwörer (Roman von Roderich Müller-Guttenbrunn, 1926) „Die Weltverschwörer. Ein Judenroman“ von Roderich Müller-Guttenbrunn erschien unter dessen Pseudonym Dietrich Arndt. Das Buch wurde im Jahr 1926 vom Heimatverlag Leopold Stocker in Leipzig und Graz verlegt und ist Arthur Trebitsch gewidmet. Roderich Müller-Guttenbrunn (1832–1965), Sohn des Schriftstellers Adam MüllerGuttenbrunn, war später NSDAP-Mitglied, Redakteur der Wiener Ausgabe des „Völkischen Beobachters“ und Geschäftsführer des Landesverbandes des Reichsverbandes der deutschen Presse, Ostmark bzw. Alpen-Donau. Der antisemitische Roman „Die Weltverschwörer“ spielt in den Jahren nach Ende des Ersten Weltkrieges in Österreich und Deutschland. Die Handlung dreht sich um eine jüdische Weltverschwörung. Die gesamte Geschichte ist durchzogen von antisemitischen Stereotypen und Verschwörungstheorien. Jüdische Charaktere werden durchweg negativ und als prinzipielle Feinde der Menschheit dargestellt. Die Erzählung beginnt mit einem Treffen reicher Juden, die zentrale Positionen in unterschiedlichen Staaten innehaben und bestens über politische und wirtschaftliche Entwicklungen informiert sind. Zusammen planen sie, auf Kosten der übrigen Menschheit ihre Macht zu festigen. Das antisemitische Klischee, wonach Juden sowohl an der Spitze des Kapitals als auch der organisierten Arbeiterbewegung stehen würden, um ihre Interessen durchzusetzen, ist ein Grundmotiv des Romans. Ein Hauptheld der Geschichte ist der Industrielle Karl Peters. Der naturverbundene, sportliche Deutsche, der sich weigert, seine Betriebe in Aktiengesellschaften umzuwandeln, wird als Personifikation der „deutschen Arbeit“ den Juden gegenübergestellt. Peters ist überzeugter Antisemit und versucht, mit dem ebenfalls antisemitischen Professor Wilhelm Schütte den angenommenen jüdischen Einfluss auf Medien, Politik, Wirtschaft und Kunst zu bekämpfen. Sie gründen dazu den Verein „Vaterland“, der gezielt Tageszeitungen, Verlage, Theater, Kinos, etc. in Deutschland und Österreich aufkauft. Ein weiterer Teil der Handlung spielt in Wien, zentrale Figuren sind Naphtali Nirano, ein reicher Jude, sowie ihm gegenübergestellt Walter Hartmann, ein Schriftsteller, der als Anhänger der Siedlungsbewegung auf einem Bauernhof außerhalb Wiens lebt. Hartmann arbeitet als Journalist, veröffentlicht antisemitische Artikel in der „Deutschen Zeitung“ (Adam Müller-Guttenbrunn, der Vater des Autors von „Die Weltverschwörer“, leitete das Feuilleton einer gleichnamigen Zeitung) und wird dabei von Schütte und Peters unterstützt. Zusammen versuchen sie, das nationale Lager zu konsolidieren, u. a. in Kooperation mit einer neuen nationalen Arbeiterpartei in Deutschland. Ihre Arbeit erfährt einen Rückschlag, als sich herausstellt, dass Peters junge Frau Lisa von Kalinski Jüdin ist und ihn im Auftrage des Judentums ausspioniert hatte. Der Roman ist voller antisemitischer Klischees. Zentral ist das Motiv der Juden als Weltverschwörer. So hätten Juden den Ersten Weltkrieg benutzt, um sich in wirtschaftliche und politische Positionen zu hieven. Die Verschwörung wird im Laufe der Handlung von einem Juden, dem Sohn von Naphtali Nirano, einer Deutschen verraten. Müller-Guttenbrunn lässt somit die Basis der antisemitischen Argumentation von
Werther, der Jude (Roman von Ludwig Jacobowski, 1892)
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einem jüdischen Charakter bestätigen und damit legitimieren. Nirano meint etwa: „Es hat schon viele Judenverfolgungen im Laufe der Jahrhunderte gegeben. Keine aber war so fürchterlich wie jene, die bald, bald kommen wird, kommen muß, denn kein Volk läßt es sich schließlich auf die Dauer bieten, daß es von einer Minorität wirtschaftlich vergewaltigt, ausgesogen, geistig vergiftet und zersetzt, innerlich völlig umgestaltet, verjudet wird.“ Juden werden im Buch an vielen Stellen mit Tieren bzw. Parasiten gleichgesetzt: Juden hätten etwas „unverkennbar Raubtierartiges“, „Raubtiervisagen“ und „Geierköpfe“, sie seien „Läusen“ und „Aasgeiern“ gleich. Jüdische Charaktere werden außerdem an mehreren Stellen des Romans als sexuell lüstern dargestellt, insbesondere in der Geschichte von Erna Kleber, die vom Juden Albert Steiner verführt wird. Die Antisemiten im Buch richten sich aber nicht nur gegen Juden, sondern allgemein gegen eine „Verjudung“. So hetzt Prof. Schütte auch gegen „Jüdlinge“, die ebenso zu bekämpfen seien. Die Aufgabe des Vereins „Vaterland“ sei es demnach, die Deutschen „geistig und seelisch zu entjuden“. Zentrales Motiv im Roman ist die Stadt Wien, die von Müller-Guttenbrunn durchwegs negativ und als besonders vom Judentum gefährdet charakterisiert wird. So wird Wien als „ein Babel der Verdiener […], der Fremden, der Zugewanderten, vor allem aber – der Juden!“, als „schlafendes Ungeheuer“ und als „Misthaufen von Mitteleuropa, die größte europäische Weltstadt des Judentums“ beschrieben. Müller-Guttenbrunn legitimiert an mehreren Stellen seines Romans antijüdische Gewalt, u. a. mit Hinweis auf vergangene Judenverfolgungen. Die neue Gewalt sollte aber eine andere Qualität haben: „Man würde es heute zwar sicherlich nicht mehr auf mittelalterliche Weise machen, sondern auf ruhigere, gesetzgeberische Art, aber geschehen würde es unbedingt.“
Lukas Meissel
Literatur Fritz Hausjell, Journalisten für das Reich. Der „Reichsverband der deutschen Presse“ in Österreich 1938–1945, Münster 2010. Erika Weinzierl, Antisemitismus in der österreichischen Literatur 1900–1938, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 20 (1967), S. 356–371.
Werther, der Jude (Roman von Ludwig Jacobowski, 1892) Ludwig Jacobowski (1868–1900) erzählt in seinem 1892 erschienenen Roman „Werther, der Jude“ die Geschichte von Leo Wolff, dem Sohn eines jüdischen Bankiers, der aus einer Kleinstadt stammend in Berlin Philosophie studiert. Leo Wolffs Hauptanliegen ist es, sich in die deutsche Gesellschaft zu assimilieren und alles „typisch Jüdische“ abzulegen. In seinem Streben nach Akzeptanz tritt er einer Burschenschaft bei, in der er keinerlei Diskriminierung erfährt, bis ein Neuzugang adeliger Herkunft, Max von Horst, beginnt, jede Gelegenheit zu nutzen, um antisemitische Parolen und Vorurteile zu verbreiten. Leo ist in die nicht-jüdische Helene, die Tochter einer kleinbürgerlichen Familie, verliebt. Unter dem Druck seiner Kameraden, kein „ordentliches“ Studentenleben zu führen, weil er bis dahin eine keusche Beziehung zu Helene gepflegt habe, bricht er ein und verführt die junge Frau. Als Leo vom Bankrott des
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Werther, der Jude (Roman von Ludwig Jacobowski, 1892)
Aktienunternehmens seines Vaters hört, bei dem u. a. sein verehrter Schuldirektor und der Vater seines besten Freundes ihr Vermögen verlieren, fährt er verzweifelt in sein Elternhaus zurück, um seinen Vater zu einer Erstattung der Verluste zu bewegen. Da sein Anliegen nicht fruchtet, erleidet er einen schweren Nervenzusammenbruch, von dem er sich nur langsam erholt. Als er wieder genesen ist, erfährt er aus einer antisemitischen Zeitung, die ihm Max von Horst in böswilliger Absicht geschickt hat, von Helenes Selbstmord aus Verzweiflung darüber, von einem Juden schwanger verlassen worden zu sein. Leo sieht selbst keinen anderen Ausweg, als sich zu erschießen und stirbt in den Armen seines Jugendfreundes Richard. Obwohl Ludwig Jacobowskis Roman seinerzeit einen bedeutenden Beitrag in der Debatte um die sogenannte Judenfrage darstellte, ist er heutzutage in Vergessenheit geraten. Aus heutiger Sicht ist das Werk ein wichtiges Zeugnis über die Auseinandersetzung innerhalb der jüdischen Bevölkerung in der Frage einer vollkommenen Assimilation in die deutsche Gesellschaft und die damit einhergehende Ablehnung der jüdischen Religion und Tradition. Aus literarischer Perspektive zeichnet sich Jacobowskis „Werther“ durch die detaillierte Beschreibung des Innenlebens des Helden aus, die der Leserschaft auf diese Weise eine psychoanalytische Ebene des Charakters eröffnet. Noch zu Lebzeiten des Autors wurde der Roman mehrfach aufgelegt und ins Französische sowie ins Jiddische übersetzt. In den letzten Jahren seines Studiums schrieb Jacobowski am ersten Entwurf, der wie das Goethesche Vorbild in Briefform abgefasst war. Der unglückliche Ausgang der Liebesbeziehung zu Helene und Leos Selbstmord bilden trotz der Abwesenheit des Briefmotivs die stärksten Bezüge zu Goethes „Werther“. Als besonders bemerkenswert stellt sich die Rezeptionsgeschichte heraus. Bereits kurze Zeit nach der Veröffentlichung reklamierte die zionistische Bewegung den Roman als Musterbeispiel für die Aussichtslosigkeit der jüdischen Existenz in der Diaspora und sah sich darin bestärkt, die Gründung eines jüdischen Staates voranzutreiben. Diese Meinung vertrat ganz vehement der ostjüdische Zionist und Schriftsteller Micha J. Berdyczewski, der sich sogar nach einem Interview mit Jacobowski nicht davon abbringen ließ, obwohl dieser nochmals seinen Standpunkt betonte, dass er nur ein totales Aufgehen der deutschen Juden im Deutschtum als einzig mögliche Lösung der „Judenfrage“ sehe. Aus den meist positiven Bewertungen des Romans tritt Ludwig Geigers Rezension in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ von Dezember 1910 durch seine moralische Kritik an Jacobowskis Helden Leo hervor. Geiger wundert sich über Leos angeblich erlittene Diskriminierung, die seiner Ansicht nach bis auf einige antisemitische Rufe auf der Straße gar nicht vorhanden sei, denn aus Leos eigener Erzählung erfährt die Leserschaft, dass er in der Schule von den Lehrern sogar bevorzugt worden ist. Nicht zuletzt liefere seine Mitgliedschaft in einer deutschen Burschenschaft den besten Beweis für seine erfolgreiche Assimilation. Ludwig Geiger hält die Hauptfigur für einen „Schwächling“, dem er jedes Recht abspricht, „den großen Judenschmerz unserer Tage zu verkörpern“. Ludwig Geigers äußerst subjektive Bewertung von Leos Charakter lässt sich unter dem Aspekt des seinerzeit noch bedrohlicher gewordenen Antisemitismus verstehen, der eine Akzeptanz des jüdischen Teils der deutschen Be-
When William came (Roman von Hector Hugh Munro, 1913)
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völkerung immer unwahrscheinlicher zu machen und der zionistischen Bewegung, deren entschiedener Gegner er war, recht zu geben schien.
Patricia Fromme
Literatur Florian Krobb, Selbstdarstellungen. Untersuchungen zur deutsch-jüdischen Erzählliteratur im neunzehnten Jahrhundert, Würzburg 2000. Itta Shedletzky, Ludwig Jacobowski (1868–1900) und Jacob Loewenberg (1856–1929), in: Stéphane Moses, Albrecht Schöne (Hrsg.), Juden in der deutschen Literatur, Frankfurt am Main 1986. Fred B. Stern, Ludwig Jacobowski. Persönlichkeit und Werk eines Dichters, Darmstadt 1966.
When William came (Roman von Hector Hugh Munro, 1913) Hector Hugh Munro veröffentlichte 1913 in London unter dem Pseudonym Saki den Roman „When William came. A Story of London under the Hohenzollerns“. Die Handlung setzt nach einer erfolgreichen Invasion der britischen Inseln durch das Deutsche Reich ein und schildert deren politische und gesellschaftliche Folgen. Sakis Roman lässt sich in das Genre der Invasionsromane einordnen, die in Großbritannien seit dem ausgehenden viktorianischen Zeitalter entstanden waren. Mit seinen Kollegen in dieser Sparte teilte der Autor zudem den Wunsch, nicht nur zu unterhalten, sondern politisch und gesellschaftlich Stellung zu beziehen. Im Fall von „When William came“ steht eine harsche Kritik an der britischen Gesellschaft, einem Mangel an Patriotismus und zukunftsorientiertem Handeln im Zentrum. Emblematisch für den gesellschaftlichen Niedergang und den Verfall der Sitten ist der Aufstieg von „deutschen Juden“. Die neuen Realitäten auf der Insel nach der erfolgreichen Einnahme durch die Deutschen werden aus der Perspektive eines jungen Engländers, Yeovil Murrey, geschildert, der nach einem längeren Auslandsaufenthalt in die Heimat zurückkehrt und diese kaum wiedererkennt. England heißt nun „Reichland“, alle Straßenschilder sind zweisprachig und die neuen Machthaber haben deutschen Bürokratismus eingeführt. Kaum angekommen, muss sich Yeovil polizeilich anmelden und dabei nicht nur seine Adresse, sondern auch seine Nationalität, Beruf und Religion angeben. Der Rückkehrer beobachtet bei seinen Landsleuten ein hohes Maß an Bereitschaft, sich mit den neuen Gegebenheiten zu arrangieren und sich den Deutschen zu unterwerfen. Ein Freund bestätigt ihm seinen Eindruck: Die Liberalen hätten das Land ins Desaster geleitet, womit sie allerdings, wie es nun einmal in einer Demokratie sei, nur die Stimmung und Haltung der Bevölkerung widerspiegelten. In den Jahren vor der Invasion wäre keinerlei Bereitschaft zu finden gewesen, sich militärisch ausbilden zu lassen und sich den außenpolitischen Gefahren zu stellen. An dieser Stelle und dem Gespräch unter Freunden flicht Saki nun das Motiv jüdischer Präsenz als Symptom für Traditionsvergessenheit und Niedergang ein. Yeovil selbst hatte bereits in der kurzen Zeit, die er zurück war, festgestellt, wie viele Juden nun (sichtbar) im Lande seien. Sein Freund verweist darauf, dass es zwar auch Juden gegeben habe, die sich loyal verhalten hätten, aber von anderen wäre kaum zu erwar-
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Wiener Totentanz (Roman von Roderich Müller-Guttenbrunn, 1921)
ten gewesen, dass sie die neue Lage bedauerten. Diese letzte Gruppe, die in ihrem Wesen weit mehr „teutonisch oder polnisch als britisch“ war, erscheint nun sehr dominant. Sie genössen die neue Durchlässigkeit der Gesellschaft, so der Erzähler. „Der Jude“ sei mittlerweile allerorts zu finden. Der Wahrheitsgehalt dieser Schilderung jüdischer Omnipräsenz wird Yeovil am nächsten Tag bei einer Einladung zum Dinner vor Augen geführt: Er erfährt von dem neuen Broterwerb einer Bekannten, einer jungen Frau aus gutem Hause, die sich nun als Tänzerin verdingt und zum Leidwesen ihrer Familie von „preußischen Offizieren und Hamburger Juden“ angeglotzt wird. Zu dem Dinner, das der Tanzdarbietung folgte, sind auch die neuen Namen der Gesellschaft eingeladen. Hier nun trifft Yeovil Murrey auf „jüdische Parvenüs“, denen es an jeglicher Finesse, Diskretion und Benehmen mangelt. Die jüdischen Figuren in dem London nach der Ankunft Wilhelms verkörpern das Gegenbild zur englischen Tradition und Kultur. Die „jüdische Präsenz“ ist hier die Kehrseite des Niedergangs der alten Eliten, die zur willigen Staffage für die neue Gesellschaft verkommen. Mittels der Negativfolie der Figur „des Juden“ geißelt Saki Apathie und Werteverlust in der britischen Gesellschaft, wobei seine Kritik an den politisch Verantwortlichen milde ausfällt, sie seien nicht besser und nicht schlechter als alle anderen, sondern spiegelten die Gesellschaft wider. „When William came“ fand reißenden Absatz und es folgte binnen kurzer Zeit eine Zweitauflage.
Susanne Terwey
Literatur Susanne Terwey, Moderner Antisemitismus in Großbritannien, 1899–1919, Würzburg 2006.
Wien 1910 (Film von E. W. Emo, 1942) → Nationalsozialistische Filmproduktionen
Wiener Totentanz (Roman von Roderich Müller-Guttenbrunn, 1921) „Wiener Totentanz“, ein Roman des österreichischen Schriftstellers Roderich MüllerGuttenbrunn, wurde im Jahr 1921 im Verlag Theodor Weicher (Leipzig und Berlin) unter dem Pseudonym Roderich Meinhart veröffentlicht. Roderich Müller-Guttenbrunn (1832–1965), Sohn des Schriftstellers Adam MüllerGuttenbrunn, war später NSDAP-Mitglied, Redakteur der Wiener Ausgabe des „Völkischen Beobachters“ und Geschäftsführer des Landesverbandes des Reichsverbandes der deutschen Presse, Ostmark bzw. Alpen-Donau. Die Handlung spielt in Wien nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Die Stadt ist verarmt, es herrscht eine wirtschaftliche und politische Krise. Das antisemitische Grundmotiv des Buches ist der ökonomische Absturz und der moralische Verfall der „deutschen“ Bewohner der Stadt einerseits und der Aufstieg der Juden auf Kosten der restlichen Bevölkerung andererseits. Mittelpunkt der Erzählung ist die Wiener nationalistische, bürgerliche Familie Frank: Robert Frank, Oberlandesgerichtsrat, und seine Frau Anna, ihre ältesten Söhne Rudolf und Manfred, ihre Tochter Trudl sowie der jüngste Sohn, der Philosophiestudent Heinz. Der Sohn Gustl ist als Soldat an der Isonzofront gefallen. Die Familie lei-
Wiener Totentanz (Roman von Roderich Müller-Guttenbrunn, 1921)
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det unter der Krise nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, fühlt sich von einer „Proletarisierung“ bedroht. Die einzelnen Familienmitglieder versuchen auf unterschiedliche Weise, unter den schwierigen Bedingungen zu Geld zu kommen. Manfred verkauft Zeitungen und beginnt in einer Fabrik zu arbeiten, Rudolf macht Geschäfte mit dem jüdischen Schieber Jakob Frauenglas, Anna betreibt Schleichhandel. Die Tochter Trudl führt ein Parallelleben und geht heimlich eine Beziehung mit dem Juden Fritz Lewit ein, dem Herausgeber der kommunistischen Zeitung „Ruf“. Nachdem Trudl mit Lewit bricht, veröffentlicht dieser als Rache Informationen über die kriminellen Verstrickungen von Rudolf Frank in seiner Zeitung. Robert Frank überlegt, für seinen Sohn bei einem ihm bekannten Staatsanwalt zu intervenieren, stirbt dann aber an einer Herzerkrankung. Rudolf wird trotzdem freigesprochen, die Familie kauft sich ein Gut am Land und verlässt Wien. Das ländliche Leben wird von Müller-Guttenbrunn als Alternative zur Großstadt Wien glorifiziert. Wien wird im Buch unter antisemitischen Vorzeichen negativ dargestellt: Juden und Ausländer würden das Bild der Stadt prägen („Ist das noch eine deutsche Stadt?“), Wien sei als Hauptstadt der Republik Österreich „der fiebernde, übergroße Wasserkopf dieses unnatürlichen Gebildes, an dessen Mark ein schleichender Bolschewismus zehrte“, ein „verwesender Stadtleib“. Der angenommene Aufstieg der Juden wird als Symptom der Krise der Nachkriegsordnung dargestellt, Müller-Guttenbrunn beschreibt etwa Lewits Zeitung als „eine große Giftblase […], die der Sumpf emportrieb“. Juden, insbesondere „Ostjuden“, werden vom Autor mit Parasiten gleichgesetzt, die über Wien herfallen würden: „Juden aus Galizien, Flüchtlinge aus der Kriegszeit, die sich wie Spinnen über diesen leidenden Volkskörper breiten, ihm das Blut aus allen Poren sogen.“ Müller-Guttenbrunn unterscheidet hier zwischen „Ostjuden“ und dem „heimischen Judentume“, dem die neu in Wien lebenden Juden, die vor allem an der Börse sowie als Schieber und Schleichhändler tätig seien, eine „stete Qual“ darstellen würden. Müller-Guttenbrunn benutzt in seiner Erzählung jüdische Charaktere, die die vermeintliche Wahrheit über die Juden aussprechen, etwa Jakob Frauenglas: „Wir, wir sind die Fliegen, Aasfliegen, wo ein Leichnam liegt, e Aas, dort treffen wir zusammen.“ Antisemitismus dient zur Zeichnung der meisten Charaktere. Insbesondere Erich Herbst, ein Freund von Manfred Frank, ist ein extremer Antisemit, wenn er etwa meint: „Mit Rattengift sollte man sie [die Juden] alle ausrotten, wir wurden zu Krüppeln geschossen und sie haben sich derweil im Hinterland bereichert!“ Manfred stimmt ihm zwar prinzipiell zu, lehnt aber den „Rassenantisemitismus“ ab und meint stattdessen: „Man kann eines bekämpfen, und das ist der jüdische Geist. Den findest du aber bei Nichtjuden leider auch.“ Diese antisemitische Differenzierung ist auch in der Rolle von Fridolin Kupfer zu sehen. Er ist zwar jüdischer Herkunft, wird aber nur bedingt als Jude beschrieben, zumal er nicht „reinrassiger“ Jude sei, da er „gemischtes Blut in seinen Adern hatte und auch sonst sich bereits längst über die Gegebenheiten seiner Rasse hinausgetragen fühlte. Innerlich vor allem, aber auch in der äußeren Erscheinung.“ Ihm gegenüber wird der Charakter Fritz Lewit („Natürlich hatte er einmal Lewy geheißen“) gestellt, der „Jude durch und durch“ sei und als machtbesessen, opportunistisch, sexuell lüstern beschrieben wird. Lewit betrachte seine Zeitung „Ruf“
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Wiltfeber (Roman von Hermann Burte, 1912)
vor allem als Weg zur Macht. Kommunismus wird als jüdische Ideologie und Strategie dargestellt und von Lewit wie folgt beschrieben: „Kommunismus ist der direkte Weg zur Herrschaft, zu unserer Herrschaft.“ Kupfer arbeitet einige Zeit für Lewits Zeitung, wendet sich von ihm dann aber ab, findet zurück zu seiner bürgerlichen Identität und spricht sich vor einer Arbeiterversammlung gegen die Internationale aus. Die antisemitische Argumentation des Autors unterscheidet also zwischen „guten“ und „bösen“ Juden, beharrt aber auf der Annahme, dass „die Juden“ für die schlechte Lage Wiens verantwortlich seien.
Lukas Meissel
Literatur Fritz Hausjell, Journalisten für das Reich. Der „Reichsverband der deutschen Presse“ in Österreich 1938–1945, Münster 2010. Erika Weinzierl, Antisemitismus in der österreichischen Literatur 1900–1938, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 20 (1967), S. 356–371.
Wiltfeber (Roman von Hermann Burte, 1912) 1912 veröffentlichte Hermann Burte (eigentlich Hermann Strübe, 1879–1960), ein Maler, Dichter und Schriftsteller im Umkreis der alemannischen Heimatkunstbewegung, den Roman „Wiltfeber, der ewige Deutsche. Die Geschichte eines Heimatsuchers“ im Leipziger Verlag Gideon Karl Sarasin. Es handelt sich um einen synkretistischen weltanschaulichen Entwurf, gekleidet in eine Romanhandlung. Im „Wiltfeber“ kombinierte Burte den geistesaristokratischen Elitismus Friedrich Nietzsches mit der Rassentheorie Arthur de Gobineaus, dem kirchenfeindlichen Antisemitismus Theodor Fritschs und dem Kulturpessimismus Julius Langbehns. Die Romanhandlung schildert die Rückkehr des Pfarrerssohns Martin Wiltfeber aus der Stadt in sein Heimatdorf am Oberrhein. Enttäuscht stellt er fest, dass die Dorfgesellschaft im Verfall begriffen sei. Die „blonde Rasse“ habe sich zu sehr mit fremden und minderwertigen Elementen vermischt, um noch erfassen zu können, was deutschem und heimatlichem Wesen entspricht. Mittelmäßigkeit und Gleichmacherei triumphieren über die schöpferische Kraft des „herrischen“ Individuums. Daraufhin steigert sich Wiltfeber, der Mann aus dem „Blondenviertel“, in einen Missionierungswahn und will die Lehre vom „reinen Krist“ verkünden. Dabei handelt es sich um eine germanisierte und „entjudete“ Variante des Christentums mit gnostischen und neopaganen Elementen. Christus wird als arische Heldengestalt gedeutet und in den Gegensatz zum semitischen „Wüstengott“ gesetzt, dem das gegenwärtige Christentum huldige. In Absetzung vom Kirchenchristentum verwendet Wiltfeber den „germanischen“ Anfangsbuchstaben „K“ für Christus und das Hakenkreuz anstelle des Kreuzes. Die Propagierung seiner neuen Religion verknüpft Wiltfeber mit Ideologemen wie Großstadtfeindschaft, Antimodernismus, Antisozialismus, Führerprinzip und Rassismus. Er trifft vereinzelt auf Geistesverwandte wie Freiherr von Susenhart und die Eremiten in der „Blondenhöhle“, seine „Kristreligion“ wird von der Dorfbevölkerung aber abgelehnt. Mit seiner Gefährtin Ursula von Brittloppen wird der Gescheiterte am Ende der Romanhandlung vom Blitz erschlagen.
Wiltfeber (Roman von Hermann Burte, 1912)
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Der Antisemitismus von Burtes „Wiltfeber“ fußt nicht auf negativen Judenfiguren. Diese kommen nur am Rande vor und sind für die Handlung unerheblich. Vielmehr verbirgt sich die Judenfeindlichkeit im Angriff auf das Christentum der Gegenwart, das in seiner Substanz „verjudet“ sei und durch eine „arteigene“ Religion abgelöst werden müsse. Außerdem wird im „Wiltfeber“ die moderne Zivilisation, in der es „mehr echte Juden […] als echte Blonde gibt“, als jüdisch konnotiert abgelehnt. Diese Konstellation verdeutlicht, worin sich der Antisemitismus im völkischen Roman von jenem im bürgerlichen Roman der Wilhelminischen Zeit unterschied. Während bürgerliche Autoren wie Gustav Freytag, Theodor Fontane und Thomas Mann über Judenstereotype negative Aspekte des modernen Kapitalismus auf die Juden projizierten, integrierte die völkische Literatur den Antisemitismus in eine umfassende Weltanschauung. „Wiltfeber“ wurde an einem Wendepunkt in der Geschichte der völkischen Bewegung veröffentlicht. In der Reichstagswahl von 1912 hatten die Rechtsparteien eine schwere Niederlage erlitten. Daraufhin bildeten sich zahlreiche neue Gruppierungen im rechtsextremen Spektrum, für die der Antisemitismus nicht mehr eine politische Ideologie, sondern Bestandteil einer ganzheitlichen germanozentrischen Weltdeutung war. Aus dem Reichshammerbund Theodor Fritschs und der Volkserzieherbewegung Wilhelm Schwaners entstanden nun auch erstmals deutschgläubige Organisationen, auf deren Gedankengut Burtes Roman abgestimmt war. Das Primat der Weltanschauung lässt die häufig unternommene Einordnung „Wiltfebers“ in die Heimatliteratur problematisch erscheinen. Im Vordergrund der Heimatsuche Martin Wiltfebers seht nicht der Schauplatz der Handlung als äußere Heimat, sondern das Rassenbewusstsein als innere Heimat. Als Vertreter der aussterbenden blonden Herrenrasse fühlt sich der Protagonist sogar in seiner äußeren Heimat überfremdet. Daher urteilt Wiltfeber über sein Heimatdorf: „Ich suchte ein Dorf, da lag es im Sterben; ich suchte den Gott der Leute in der Heimat, da war es ein Stammesgott, das vergottete Rassenbild einer Wüstensippe; ich suchte die Macht, da war sie geteilt unter alle, so dass keiner sie hatte und nichts getan werden konnte; ich suchte den Geist, da faulte er in Amt und Gehalt; ich suchte das Reich, da war es eine Herde Enten, welche den Aar lahmschwatzten; ich suchte meine Rassebrüder, da waren es Mischlinge siebenten Grades, bei denen jedes Blut das andere entartete; ich sah nach ihrer Lebensfürsorge, da war es ein gegenseitiges Verhindern; und als ich endlich nach den Geistigen sah, nach denen, deren Arbeit allein mit Sinn begabt das Werkeln der Menschen, da waren sie in das Blondenviertel gebannt und totgeschwiegen.“ Schließlich suggeriert der Roman eine Umkehrung des Verhältnisses zwischen Juden und Ariern. Waren die Juden im Mittelalter eine heimatlose Rasse, falle dieses Schicksal in der Moderne den „Blonden“ zu. Darauf verweist bereits der Untertitel „der ewige Deutsche“, der auf die Ahasverlegende anspielt. „Wiltfeber“ erschien bis 1940 in einer Auflage von insgesamt 74.000 Exemplaren. Die Sonderdrucke eines Kapitels erreichten bis 1939 zusätzlich eine Auflage von 140.000 Exemplaren. Damit verfehlte Burtes Roman zwar den Bestsellerstatus anderer völkischer Weltanschauungsromane, erfreute sich aber eines hohen Bekanntheitsgrads auch außerhalb völkischer Zirkel. Die großen Tageszeitungen im deutschsprachigen Raum fanden für „Wiltfeber“ überwiegend lobende Worte. Das Buch „Zur Kri-
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Wiltfeber (Roman von Hermann Burte, 1912)
tik der Zeit“ (1912) des jüdischen Industriellen Walther Rathenau zeigt in rassentheoretischen und zivilisationskritischen Aussagen Parallelen zu Burtes Roman. Ein dem alemannischen Dichter gesandtes Exemplar weist folgende ironische Widmung auf: „Mit herzlichen Wandergrüßen / des Ewigen Juden / Martin Wiltfeber / dem Ewigen Deutschen / freundschaftlich überreicht / durch Walther Rathenau 30.3.12“. Rathenau und Burte standen bis 1918 in brieflichem Kontakt und trafen sich mehrfach persönlich. Auf Initiative des Lyrikers Richard Dehmel wurde „Wiltfeber“ 1913 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet, zu dessen Gründern und Stiftern neben Rathenau zahlreiche weitere prominente Juden aus Wirtschaft und Kultur gehörten. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde „Wiltfeber“ besonders positiv in der Jugendbewegung aufgenommen. Die Mischung aus Antiurbanismus, Antimodernismus, Antirationalismus und religiöser Sinnsuche traf den Nerv einer Generation, die sich von der industriellen Moderne und vom bürgerlichen „Wertehimmel“ ihrer Elternhäuser absetzen wollte. In der völkischen Bewegung stieß „Wiltfeber“ dagegen anfangs auf Kritik. Die Heimatkunstbewegung, den Bayreuther Kreis und die deutschchristlich geprägten Völkischen störte die Orientierung am christenfeindlichen Nietzsche. Die propagierte „Kristreligion“ sei eine elitäre Setzung ohne Fundierung in Bibel und Volksglauben. Völkische, die neopaganen Ideen nahestanden (z. B. Philipp Stauff und Theodor Fritsch), beurteilten den Roman dagegen positiver. Als in der Weimarer Republik die Suche nach einer Propheten- und Führergestalt gegenüber weltanschaulichen Fragen an Bedeutung gewann, wurde Burtes „Wiltfeber“ in der völkischen Publizistik deutlich aufgewertet. Hierzu trugen vor allem die Zeitschriften „Die schöne Literatur“ (herausgegeben von Will Vesper) und „Der Markgräfler“ (von Burte selbst herausgegeben) bei. Auch Linke und Liberale nahmen nun die völkische Tendenz in Burtes Werk deutlicher wahr als noch im Kaiserreich. 1924 verspottete der österreichische Literaturkritiker Franz Blei den Schriftsteller als „Schwarzwaldhirsch“ mit „verhakenkreuztem Geweih“. Die Nationalsozialisten erblickten in Hermann Burte einen „Propheten“ ihrer Bewegung und überhäuften ihn nach 1933 mit Literaturpreisen. Burte selbst betrachtete nun das Dritte Reich als Erfüllung der im „Wiltfeber“ artikulierten „Schauungen“ und „Ahnungen“. Zuvor hatte er als Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei keineswegs Hitler unterstützt. In einem Spruchkammerverfahren als minderbelastet eingestuft, setzte Burte 1949 seine Schriftstellerkarriere in der Tarnung des unpolitischen alemannischen Heimatdichters fort, ohne seine völkische Gesinnung abzulegen. Bundespräsident Theodor Heuss brandmarkte Burtes Werk als Ausdruck von „grobschlächtigem Antisemitismus und bramarbasierendem Nationalismus“. Während „Wiltfeber“ aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand, ist der Roman in rechtsextremen Kreisen noch heute verbreitet. Im Umfeld der alemannischen Volkstumsund Mundartpflege gibt es Bestrebungen, Hermann Burte zu rehabilitieren. Führend sind darin die Hermann-Burte-Gesellschaft in Lörrach und der Heimatkundler Harald Noth. Auf seiner Internetseite hat Noth anlässlich des „Wiltfeber-Jubiläumsjahres 2012“ eine umfangreiche Dokumentation veröffentlicht, um „die Kultur des Denunziatorischen zu durchbrechen“. Dagegen hat sich die Hermann-Burte-Gesellschaft inzwischen für eine kritische Aufarbeitung geöffnet, möchte in dem Schriftsteller aber ein Opfer des Zeitgeistes sehen. Die seit den 1970er-Jahren polemisch geführte Ehrenrettungsdiskussion verengt sich auf die Frage, ob sich Burte im Dritten Reich angebie-
Die Wohlgesinnten (Roman von Jonathan Littell, 2008)
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dert hat oder von den Machthabern missbraucht wurde. Dabei gerät die im „Wiltfeber“ bereits 1912 artikulierte völkische Weltanschauung aus dem Blickfeld, die den Schriftsteller auch ohne NS-Vereinnahmung als Identifikationsfigur alemannischer Heimatkultur disqualifizieren müsste. Daher hat sich die seriöse Literatur- und Geschichtswissenschaft der apologetischen Tendenz nicht angeschlossen.
Thomas Gräfe
Literatur Kay Dohnke, Völkische Literatur und Heimatliteratur, in: Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Handbuch zur „völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996, S. 651–684. Wolfgang Fenske, Wie Jesus zum „Arier“ wurde. Auswirkungen der Entjudaisierung Christi im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2005. Sandra Franz, Die Religion des Grals. Entwürfe arteigener Religiosität im Spektrum von völkischer Bewegung, Lebensreform, Okkultismus, Neuheidentum und Jugendbewegung (1871–1945), Schwalbach 2009, S. 183–198. Günter Hartung, Deutschvölkische Religiosität in der Belletristik vor dem Ersten Weltkrieg, in: Günter Hartung, Deutschfaschistische Literatur und Ästhetik. Gesammelte Studien, Leipzig 2001, S. 43–59. Marta Nurczynska, „Wiltfeber, der ewige Deutsche“ von Hermann Burte, in: Studia niemcoznawcze 47 (2011), S. 415–428. Kathrin Peters, Hermann Burte – Der Alemanne, in: Rolf Düsterberg (Hrsg.), Dichter für das Dritte Reich. Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie, Band 1, Bielefeld 2009, S. 19–47. Erich Will, Hermann Burte, in: Bernd Ottnad (Hrsg.), Badische Lebensbilder, Band 2, Stuttgart 1987, S. 53–57.
Wohin und zurück (Filmtrilogie von Axel Corti, 1982–1986) → Welcome in Vienna, → An uns glaubt Gott nicht mehr
Die Wohlgesinnten (Roman von Jonathan Littell, 2008) Die Originalausgabe „Les bienveillantes“ erschien 2006 in Paris, im Februar 2008 erreichte der Roman „Die Wohlgesinnten“ das deutschlesende Publikum. Das voluminöse Buch des jungen Amerikaners Jonathan Littell hatte in Frankreich grandiosen Erfolg gehabt. Mehr als 800.000 Exemplare seien verkauft worden, hieß es, und nun, so hoffte der deutsche Lizenznehmer, werde sich die „weltliterarische Sensation“ in Deutschland vollenden. Dem war nicht so. Die seriöse Kritik wollte nicht in den kommerziell erwünschten Erregungszustand verfallen, den die Verlagswerbung zu erzeugen versuchte. Auch das Publikum blieb, trotz vollmundiger Parallelen zu Aischylos, zurückhaltend. Kritiker nannten das Buch öde. Und das Genre ist mit der Bezeichnung Voyeurismus (mit den Ingredienzen Pornografie, detailreicher Schilderung des Tätermilieus usw.) richtig benannt. Neu an dem Buch war, dass erstmals der Judenmord in fiktiver Darstellung – als Roman – aus der Perspektive der Täter erzählt wird: Der SSFührer Maximilian Aue, promovierter Jurist, Schwuler, Mitarbeiter im Persönlichen Stab Reichsführer SS, der Entourage Heinrich Himmlers, der sich dank einer französischen Mutter nach dem Zusammenbruch des NS-Staats nach Frankreich rettete, er-
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Das Zeitventil (Politisches Kabarett, Österreich)
zählt auf gut recherchierter Faktengrundlage vom Konzentrationslager, von den Gräueln der Einsatzgruppen, von Bordellbesuchen, von Abendunterhaltungen mit den Männern, die die SS-Dienstalterslisten anführten. Die Gründe, warum so viele Franzosen sich von der Erzählung eines „Täters“ so anrühren ließen, wie die Deutschen vor 30 Jahren schockartig betroffen waren durch die Opferperspektive des Fernsehfilms → „Holocaust“, bleiben rätselhaft. Dem 1383 Seiten starken Band wurde vom Verlag ein um literarische Geltung (oder ethische Legitimation) bemühter Marginalienband beigefügt.
Wolfgang Benz
Literatur Jörg Altwegg, „Jeder ist ein Deutscher“ und Moritz Bassler, „Ich bin wie ihr!“, in: Literaturen 2008, Heft 4, S. 50–59.
Württembergische Prinzen (Schauerroman von Friedrich Bühlau, 1853) → Jud Süß in der Literatur Yossel, 19. April 1943 (Comic von Joe Kubert, 2003) → Comics Zedlers Universallexikon (Leipzig und Halle, 1744) → Jud Süß in der Literatur
Das Zeitventil (Politisches Kabarett, Österreich) Ab Herbst 1957 begann der Österreichische Rundfunk (ORF) mit der Eigenproduktion von kabarettistischen TV-Sendereihen. Zu diesen gehörte ab 1963 auch „Das Zeitventil: Das aktuelle Fernsehbrettl“ von Gerhard Bronner und Peter Wehle. Unter der Regie von Bronner wirkten neben Wehle u. a. Max Böhm, Peter Frick, Heinz Holecek, Peter Orthofer, Eva Pilz, Dolores Schmidinger, Johann Sklenka, Kurt Sobotka, Ernst Stankovski und Gerhard Steffen als Schauspieler und/oder Autoren. Im Zeitraum 30. November 1963 bis 21. Juni 1968 wurden in unregelmäßigen Abständen insgesamt 23 Folgen mit einer Sendedauer von 60 bis 100 Minuten produziert und im Hauptabendprogramm des ORF ausgestrahlt. „Das Zeitventil“ verstand sich dezidiert als politisches Kabarett und thematisierte in zahlreichen Beiträgen aktuelle politische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen wie etwa die österreichische Neutralität und das Proporzsystem der Großen Koalition. Darüber hinaus griff das Team um Bronner und Wehle in seinen Sketchen und Chansons in unterschiedlichen Zusammenhängen auch die Themen Antisemitismus, Nationalsozialismus und Holocaust in der postnazistischen österreichischen Gesellschaft auf. Mit Bezug auf aktuelle gesellschaftspolitische Ereignisse und mediale Debatten wurden Tabuthemen der Zweiten Republik mit den Mitteln der Satire und Parodie in den Mittelpunkt gestellt: die misslungene Entnazifizierung nach 1945 und das damit einhergehende Weiterwirken einer weitverbreiteten antisemitischen, nationalsozialistischen Weltanschauung in Österreich. Die Kabarettisten parodierten Politiker, die sich für die Amnestie und die Anliegen ehemaliger Nationalsozialisten einsetzten, karikierten deutschnationale und antisemitische Persönlichkeiten und Organisationen, thematisierten die misslungene Entnazifi-
Die Zerstörung Jerusalems (Gemälde von Wilhelm von Kaulbach, 1846)
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zierung und entlarvten antisemitische Ressentiments und Holocaustverharmlosungen durch ihre Persiflagen. Wenngleich die „Zeitventil“-Beiträge durchaus spitz waren, so blieb die auf eine gezielte Pointe ausgerichtete Kritik dennoch in der Regel systemimmanent, wertkonservativ und letztlich ohne Konsequenzen. Ein Ausnahmebeispiel stellte die am 18. März 1965 ausgestrahlte achte Folge der Sendung dar, in der ein fiktives Interview mit dem Hochschullehrer Taras Borodajkewycz inszeniert wurde. Der Schauspieler Kurt Sobotka karikierte darin den Professor für Neuere Geschichte an der Hochschule für Welthandel in Wien, der aufgrund seiner antisemitischen und deutschnationalen Aussagen aufgefallen war. Für die Parodie verwendeten die Kabarettisten Originalzitate, in denen Borodajkewycz seine Verehrung für Hitler sowie seine Ablehnung der österreichischen Nation und Verfassung zum Ausdruck gebracht hatte. Die Persiflage endete mit Borodajkewyczs antisemitischer Bemerkung über den Urheber der Österreichischen Bundesverfassung von 1920, Hans Kelsen, „einem Juden der sich Kelsen nannte – in Wirklichkeit hieß er Kohn“. Die fingierte Abschiedsgeste – eine Andeutung des Hitlergrußes durch Heben der rechten Hand – wurde durch die Einblendung „Typische Handbewegung“ ironisch kommentiert. Die stark rezipierte Ausstrahlung dieser Folge des „Zeitventils“ wird als Auslöser der breiten öffentlichen und medialen Debatte um Taras Borodajkewycz bezeichnet, die im Zuge der damit einhergehenden Demonstrationen zum gewaltsamen Tod des ehemaligen kommunistischen Widerstandskämpfers Ernst Kirchweger führte und einen Wandel der offiziellen österreichischen Gedächtniskultur einleitete. 1968 wurde „Das Zeitventil“ vom damaligen Fernsehdirektor Helmut Zilk abgesetzt.
Eva Waibel
Literatur Iris Fink (Hrsg.), Bronner, Merz, Qualtinger & Co. Ein namenloses Erfolgsensemble in den 50er Jahren, Straden 2010. Heinz Fischer (Hrsg.), Einer im Vordergrund. Taras Borodajkewycz. Eine Dokumentation, Wien u. a. 1966. Gerhard Kasemir, Die Borodajkewycz-Affäre 1965. Spätes Ende für „wissenschaftlich“ vorgetragenen Rassismus, Wien 1994. Marcus G. Patka, Alfred Stalzer (Hrsg.), Alle MESCHUGGE? Jüdischer Witz und Humor, Wien 2013.
Die Zerstörung Jerusalems (Gemälde von Wilhelm von Kaulbach, 1846) Das 1846 fertiggestellte und mehrfach reproduzierte Monumentalgemälde (5,85 x 7,05 m) des Malers Wilhelm von Kaulbach (1805–1874) gehörte zu den populärsten Gemälden des 19. Jahrhunderts. Der bayerische König Ludwig I. zahlte für das Werk die Rekordsumme von 35.000 Gulden und stellte es in der 1853 eröffneten Neuen Pinakothek als Mittelpunkt dieser Gemäldesammlung in München aus. Kaulbach wiederholte die Darstellung für den ebenfalls an dem Gemälde interessierten preußischen König Friedrich Wilhelm IV. in dem 1865 fertiggestellten Bilderzyklus im Treppen-
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Die Zerstörung Jerusalems (Gemälde von Wilhelm von Kaulbach, 1846)
haus des Neuen Museums in Berlin. Diese Auftragsarbeit, die die Weltgeschichte unter kulturellem und religiösem Aspekt darstellen sollte, wurde mit 200.000 Talern honoriert. An literarischen Quellen verarbeitete Kaulbach neben prophetischen und apokalyptischen Stellen der Bibel (v. a. Dan 9,26 und Lk 21,24) das Werk von Flavius Josephus über den jüdischen Krieg (De bello Iudaico). Außerdem gilt es als sicher, dass er von Adam Eberles Zeichnung „Die trauernden Juden in Babylon“ (1832) und Eduard Bendemanns Gemälde „Jeremias auf den Trümmern Jerusalems“ (1836) beeinflusst worden ist. Dargestellt ist der Moment, in dem Kaiser Titus als Oberbefehlshaber des römischen Heeres mit Liktoren und Tubabläsern die brennende Stadt Jerusalem betritt und seine Soldaten den Opferaltar vor dem Tempel entweihen, indem sie den Legionsadler, das Feldzeichen der Römischen Legionen, dort aufrichten. Gleichzeitig tötet sich der Hohepriester, indem er sich einen Dolch durch den Brustschild seines liturgischen Gewandes (Ephod) treibt und damit den Brustschild, der die zwölf Stämme Israels symbolisiert, mit seinem Blut befleckt. Seinen Sohn hat er zuvor getötet, seiner Frau scheint er diesen Tod durch seinen Selbstmord zu verwehren. Er überlässt sie dem Schicksal der um sie gruppierten Frauen, die der Gewalt der römischen Soldaten ausgeliefert sind. Titus gegenübergestellt sind die Anführer des jüdischen Aufstands, Johann von Gischala und Schimon bar Giora, die auf den Treppen des bereits brennenden Tempels stehen und von Kaulbach als gewissenlose Verbrecher charakterisiert sind. Die Brutalität der Szenerie wird nicht nur durch die in den angedeuteten Vergewaltigungen sexualisierte Gewalt zum Ausdruck gebracht, sondern auch durch die Farbgebung des Bildes (dominierende Rottöne: Kleidung, Blut, Feuer), durch die von Kaulbach nach einem Bericht des Josephus dargestellte Hungersnot und durch die von ihm berichtete Teknophagie der Maria. Noch vor Fertigstellung des Gemäldes verfasste Kaulbach Erläuterungen zu seinem Werk, die eine Deutung vorgeben. Neben dem historischen Geschehen – der menschlichen Ebene – versuchte Kaulbach, eine dieses Geschehen bestimmende und damit erklärende göttliche Ebene darzustellen: Im Himmel über Jerusalem sitzen die vier großen Propheten (Jesaja, Jeremia, Ezechiel und Daniel) mit ihren Schriften in der Hand über die Stadt zu Gericht. Ihre prophetischen Mahnreden verwirklichen sich nun als himmlisches Strafgericht. Die von Kaulbach bewusst dargestellte Untätigkeit der Eroberer wie der Verteidiger der Stadt wird durch sieben apokalyptische Engel symbolisiert (angelehnt an Offb 16), die das Geschehen als göttliches Strafgericht kennzeichnen, das sich letztlich menschlichem Handeln entzieht. Gestalterisch wurde dieses göttliche Handeln vielfältig umgesetzt. So weist der Prophet Daniel auf Titus, die Engelgruppe berührt den Legionsadler, die Verteidiger der Stadt sehen tatenlos zu, selbst die im unteren Bildrand dargestellten Leviten, die versucht haben, den Tempelschatz zu retten, sind resigniert niedergesunken. An den beiden unteren Bildseiten befinden sich zwei Figurengruppen, die allegorisch die Folgen der Zerstörung für die Menschheit darstellen. Links aus dem Bild flieht Ahasver, der ewige Jude, aus der Stadt, gepeinigt von drei ihn vorantreibenden Dämonen. Er ist, wie das vor ihm am Boden liegende Schwert und der Schild sym-
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bolisieren, ihnen schutzlos ausgeliefert. Da er für Kaulbach nicht nur der einzige Vertreter des damaligen Judentums war, der die Szenerie lebend verlassen kann, sondern zugleich „Repräsentant des jetzigen Judenthums“ ist, hat nach dieser Auffassung auch das Judentum der Gegenwart keinen Ort, keine Ruhe und kein Recht zur Ausübung der Religion. Ahasver soll damit allgemein die jüdische Existenz nach der Zerstörung des Tempels kennzeichnen. Die dem ewigen Juden antithetisch gegenübergestellte christliche Familie verlässt, von drei Engeln beschützt, psalmodierend nach rechts – der Zukunft zugewandt – das Geschehen. Die Figurengruppe steht in keiner Beziehung zu dem übrigen Bildinhalt; die vor Ort verbleibenden Juden werden von ihr keines Blickes gewürdigt, nur ein christlicher Knabe wendet sich den um Erbarmen (und Aufnahme in die christliche Gemeinschaft) bittenden jüdischen Kindern zu. Auch wenn die zeitgenössische Kritik bereits fragte, ob diese Kinder Aufnahme finden oder wie ihre Eltern dem Untergang geweiht sind, so enthielt dieses Motiv doch eine deutliche christlich-konservative Botschaft für die Gegenwart Kaulbachs: In der Zeit der jüdischen Emanzipation wird hier auf die alleinige Bedeutung des christlichen Glaubens verwiesen, indem dieser Emanzipation die Assimilation durch Taufe entgegengehalten wird. Die antithetische Gegenüberstellung des ewigen Juden und der christlichen Familie kann als säkularisierte Ecclesia und Synagoga-Darstellung verstanden werden. Wird aufgrund der historischen Erklärung ein Bild des Judentums gezeichnet, das auch ohne einen genuin christlichen Deutungshorizont auskäme (Strafe als weltgeschichtliche Tatsache), so enthält das Bild dennoch klassische Topoi der christlichen Substitutionstheologie: Das alte, „blutige“ Opfer des Judentums, dessen Ende durch die Entweihung und Zerstörung des Tempels gekommen ist, wird dem neuen, „unblutigen“ Opfer des Christentums diametral entgegengestellt. Die christlichen Schutzengel nehmen das eucharistische Opfer als neuen Kult mit; der alte Kult findet ein gewaltsames Ende. Kaulbach stand in München in Kontakt mit dem Kreis des katholischen Publizisten Johann Joseph Görres (1776–1848), dessen Sohn Guido Görres (1805–1852) ein Jahr nach Fertigstellung von Kaulbachs Gemälde eine Interpretation desselben in Form eines tragischen Singspiels gedichtet hat. Es wird daher angenommen, dass das geschichtsphilosophische Programm des Bildes vom Geschichtsverständnis des Kreises geprägt worden ist: Die neue Zeit bricht nur durch das Ende der alten Zeit an; aus den Trümmern des Alten erhebt sich triumphalistisch das Neue, dieses Alte hinter sich lassend und der Vernichtung anheimgebend. Diesem Ablösungsgedanken zufolge hat das Judentum keinen Platz mehr in der Weltgeschichte. Es ist in sich zerfallen; von Gott durch die Hand der Römer zerstört worden. Da nach Kaulbachs eigener Interpretation das in Jerusalem stattfindende Strafgericht ein Jüngstes Gericht ist, ereilt dieses Schicksal ausweglos alle Juden: Die Strafe ist endgültig. Die beiden allegorischen Figuren stehen damit auch für Sünde und Tugend bzw. für ewige Verdammnis und göttliche Erlösung (Ronen).
Markus Thurau
Literatur 1840 Erläuterungen zu dem Bilde: die Zerstörung Jerusalems von Wilhelm Kaulbach, München 1840.
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Złote żniwa (Buch von Jan T. Gross und Irena Grudzińska-Gross, 2011)
Edina Meyer-Maril, Jerusalem in Grossformat. Die ‚Heilige Stadt‘ in der deutschen Monumentalmalerei des 19. Jahrhunderts, in: Assaph B 2 (1996), S. 205–232. Karl Möseneder, „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“. Über Wilhelm von Kaulbachs ‚Die Zerstörung Jerusalems‘, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 47 (1996), S. 103–146. Avraham Ronen, Kaulbach’s Wandering Jew: An Anti-Jewish Allegory and Two Jewish Responses, in: Assaph 3 (1998), S. 243–262.
Zinnowitz-Lied → Borkum-Lied
Złote żniwa (Buch von Jan T. Gross und Irena Grudzińska-Gross, 2011) Nach → Sąsiedzi und → Strach veröffentlichte der polnisch-amerikanische Soziologe Jan Tomasz Gross im Jahr 2011 zusammen mit Irena Grudzińska-Gross ein weiteres Buch zu neuralgischen Punkten des polnisch-jüdischen Verhältnisses, „Złote żniwa: rzecz o tym, co się działo na obrzeżach zagłady Żydów“ [Goldene Ernten: was sich an der Peripherie der Judenvernichtung abspielte]. Es löste ebenfalls heftige Kontroversen in Polen aus. Hier geht es um den wirtschaftlichen Nutzen, den die polnische Bevölkerung aus dem Judenmord schlug: durch Geschäfte mit SS-Leuten, durch finanzielle Vergütung für das Verstecken von Juden, durch Prämien für Judenverrat, durch Übernahme von jüdischem Eigentum und durch Plünderungen von Massengräbern auf dem Gelände von Vernichtungslagern nach Abzug der Deutschen. Anknüpfungspunkt für das Buch war der Artikel „Goldfieber in Treblinka“ von Marcin Kowalski und Piotr Głuchowski (Gazeta Wyborcza, 7. Januar 2008), der sich mit Plünderungen auf ehemaligen Vernichtungsstätten beschäftigte und ein Foto zeigte, das möglicherweise Plünderer in der Nähe des Vernichtungslagers Treblinka abbildet. Der Artikel hatte keine Kontroverse hervorgerufen. Wie auch in den vorangegangenen Debatten warf das national-katholische Milieu Gross vor, antipolnische Propaganda zu betreiben. Der herausgebende Verlag Znak wurde mit einer Flut von Zuschriften überhäuft, von denen nicht wenige antisemitisch waren. Während der Chef des Verlags Henryk Wożniakowski das Buch verteidigte, entschuldigte sich Verlagsdirektorin Danuta Skóra bei der Leserschaft für die Veröffentlichung und nannte das Buch tendenziös. Die Debatte drehte sich unter anderem um die Frage, ob das Foto eventuell keine Plünderer, sondern ein Aufräumkommando zeige. Die Bedeutung des Fotos als Beweis ist jedoch zweitrangig, da es zahlreiche andere Belege dafür gibt, dass Plünderungen durch die polnische Bevölkerung stattgefunden haben. Viele kritisierten Gross’ polemischen und anklägerischen Tonfall, der als unpassend und kontraproduktiv empfunden wurde, da sich die polnische Gesellschaft seit der Jedwabne-Debatte (→ Sąsiedzi) der Diskussion um das polnisch-jüdische Verhältnis geöffnet habe. Andere erwiderten, die polnische Gesellschaft brauche weiterhin Anstöße und Polarisierungen wie diese. Nüchtern ausgearbeitete Studien polnischer Autoren zu diesen Themen seien nicht wahrgenommen worden; offenbar brauche es die emotionalisierende Sprache sowie die Person von Gross, der inzwischen eine Mar-
Das Zwanzigste Jahrhundert (Monatshefte, 1890–1896)
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ke für Skandal und Kontroverse geworden sei (Teresa Bogucka), um die breite Öffentlichkeit zu erreichen.
Andrea Rudorff
Literatur Piotr Forecki (Hrsg.), Reconstructing memory. The Holocaust in Polish Public Debates, Frankfurt am Main 2013. Daniel Lis (Hrsg.), Wokół złotych żniw. Debata o książce Jana T. Grossa i Ireny Grudzińskiej-Gross Złote żniwa [Rund um die Goldenen Ernten. Die Debatte um das Buch von Jan T. Gross und Irena Grudzińska-Gross], Kraków 2011. Anna Wolff-Powęska, Piotr Forecki (Hrsg.), Der Holocaust in der polnischen Erinnerungskultur, Frankfurt am Main 2012.
Zug des Lebens (Film von Radu Mihaileanu, 1998) → Train de vie
Das Zwanzigste Jahrhundert (Monatshefte, 1890–1896) „Das Zwanzigste Jahrhundert“ war eine nationalkonservative und antisemitisch ausgerichtete deutsche Monatsschrift, die in den Jahren 1890 bis 1896 erschien. Bis zum März 1895 trug sie den Untertitel „Deutschnationale Monatshefte für soziales Leben, Politik, Wissenschaft und Literatur“, seit April 1895 lautete er „Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt“. Die Zeitschrift erschien mit etwa 100 Seiten pro Heft und vereinte zeitgenössische, soziale, künstlerische und literarische Themen. Auf den ersten Blick hinterließ sie den Eindruck eines bürgerlichen Familienblattes, doch bei der Lektüre wurde der aggressive Nationalismus und Antisemitismus schnell deutlich. Gründer und erster Schriftleiter des „Zwanzigsten Jahrhunderts“ war der 1857 geborene baltische Schriftsteller und Journalist Erwin Bauer, der als politischer Publizist in der deutsch-nationalen und antisemitischen Szene Bedeutung erlangte. Das erste Heft des „Zwanzigsten Jahrhunderts“ erschien im Oktober 1890. Zur gleichen Zeit übernahm Bauer die Leitung der „Neuen Deutschen Zeitung“, Organ des 1884 gegründeten antisemitischen Deutschsozialen Reform-Vereins in Leipzig. 1892 erwarb er diese und gründete einen eigenen Verlag, in den er auch „Das Zwanzigste Jahrhundert“ integrierte; bis zu diesem Zeitpunkt war die Monatsschrift im Verlag Hans Lüstenöder erschienen. Bauer schrieb nicht nur antisemitische Texte wie beispielsweise „Aus der Mischpoke: das literarische Berlin (1867–1892); offenherzige Briefe an den Banquier Itzig Teiteles in Posen von J. Feilchenfeld“ (Leipzig 1893), er trat auch häufig als Redner bei antisemitischen Veranstaltungen auf. Zeitweise gehörte er dem Landesvorstand der Deutschsozialen Partei Sachsens an. Diese warf ihm jedoch bald vor, sich im Wahlkampf für die konkurrierende Deutschkonservative Partei eingesetzt und dafür finanzielle Unterstützung erhalten zu haben. Bauer trat daraufhin aus der Deutschsozialen Partei aus und stellte auch die Herausgabe der „Neuen Deutschen Zeitung“ zum Januar 1894 ein. Bereits im Frühjahr 1893 hatte er die Rechte am „Zwanzigsten Jahrhundert“ an den Verlag Hans Lüstenöder zurückgegeben. Die „Deutsch-sozialen Blätter“ kommentierten dies folgendermaßen: „Die Zeitschrift ‚Das XX. Jahrhundert‘ erscheint in Zukunft wieder in dem Verlage von Hans Lüstenöder in Berlin. Die
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Das Zwanzigste Jahrhundert (Monatshefte, 1890–1896)
Schriftleitung geht ebenfalls in andere Hände über. Der nationale antisemitische Charakter der Zeitschrift soll trotzdem nach wie vor gewahrt bleiben“ (1893). Neuer Herausgeber des „Zwanzigsten Jahrhunderts“ wurde im April 1893 der 1865 geborene elsässische Schriftsteller Friedrich Lienhard, einer der bedeutendsten Repräsentanten der deutschen „Heimatdichtung“. Nicht grundlos bezeichneten die „Deutsch-sozialen Blätter“ ihn als einen aus ihren Reihen „hervorgegangenen Kämpen“ (1896). Lienhard hatte bereits unter der Herausgeberschaft von Erwin Bauer im „Zwanzigsten Jahrhundert“ Aufsätze veröffentlicht, beispielsweise über die „Nationale Ästhetik“. Darin regte er an, dass ein Jude „von vornherein aus der deutschen Poesie hinauszuweisen [sei]. Es kann ihm niemals deutscher Bodengeruch anhaften“ (1892). Es folgten Artikel wie „Das Judenthum in der jetzigen deutschen Literatur“ oder „Was ist Antisemitismus“, in dem er die 1871 vollzogene Emanzipation als einen „Witz der Weltgeschichte“ darstellte, der schnellstmöglich beseitigt werden müsse (1893). Lienhard hatte das Amt des Herausgebers bis zum Oktober 1894 inne. Danach lag die Schriftleitung wiederum für einige Monate beim Verlag Lüstenöder. In der Märzausgabe des Jahres 1895 wurde jedoch mitgeteilt, dass ein neuer Herausgeber, der „Herr Schriftsteller Heinrich Mann“, die Leitung der Zeitschrift übernehmen werde. Das „Zwanzigste Jahrhundert“ wich auch unter der Ägide von Mann nicht von seiner antisemitischen Richtung ab. Ihrem Wesen nach sei die Zeitschrift „allgemein deutsch, alldeutsch im weitesten Sinne des Wortes, und nicht anders antisemitisch als eben sämmtliche [sic!] Konservative, die Mehrzahl der Katholiken und ein gut Theil [sic!] der übrigen Parteien auch antisemitisch sind. Wir sind nicht einmal ‚Voll-Antisemiten‘, wir – ‚kritisiren‘ [sic!] bloß mehr oder minder scharf die ‚ethnologischen Besonderheiten‘ des jüdischen Volkes“ (1895). Artikel wie „Die Judenfrage in Frankreich“, „Aus den Anfängen der antisemitischen Bewegung“, „Die Judenaustreibung der Spanier im 15. Jahrhundert“ oder „Die Verjudung der deutschen Mittelschulen in Prag“ machen dies deutlich (1895). In seinem Artikel „Jüdischen Glaubens“ bemängelt Heinrich Mann die „leere und dünne Geistigkeit“ jüdischer Gedanken, die die deutsche Kultur zu geschäftlichen Interessen denunzierten und an den „Wurzeln unseres Volkes“ nagten (1895). Laut Mann müsse jeder „vom nationalen und sozialen Gewissen Geleitete“ Antisemit sein. Seit August 1895 wurde Heinrich Mann bei der redaktionellen Arbeit am „Zwanzigsten Jahrhundert“ von seinem jüngeren Bruder Thomas unterstützt. Neben Lektoratstätigkeiten schrieb dieser auch eigene Beiträge für die Zeitschrift, die zwar deutlich moderater waren als die seines Bruders, jedoch auch antijüdische Stereotype aufwiesen. Heinrich Mann war bis zum März 1896 Herausgeber der Zeitschrift, ab April 1896 bis zu ihrer Einstellung Ende 1896 übernahm Theodor Schröter dieses Amt. Nicht nur die zuständigen Herausgeber und Schriftleiter, sondern auch einige Autoren der Zeitschrift waren antisemitisch ausgerichtet, unter ihnen der Wiener Orientalist Adolf Wahrmund, der 1887 die Hetzschrift „Das Gesetz des Nomadenthums und die heutige Judenherrschaft“ veröffentlicht hatte, Ludwig Kuhlenbeck, der spätere Verfasser des „Evangeliums der Rasse“, der Bodenreformer Ottomar Beta oder Heinrich Pudor, Lebensreformer und Pionier der Freikörperkultur in Deutschland. Neben den Artikeln, die sich mit der „Judenfrage“ befassten, wurden im „Zwanzigsten Jahr-
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hundert“ immer wieder Abhandlungen über Programme oder Parteitage der Antisemiten veröffentlicht. Die „Deutsch-sozialen Blätter“, das Zentralorgan der antisemitischen Deutschsozialen Partei, wiesen regelmäßig auf die neu erschienenen Hefte des „Zwanzigsten Jahrhunderts“ hin und empfahlen diese ausdrücklich zur Lektüre. In einer Presseübersicht, die im Jahre 1893 als Beilage in den „Deutsch-sozialen Blättern“ erschien, wurde das „Zwanzigste Jahrhundert“ zu den „Zeitungen allgemein antisemitischer Richtung“ gerechnet (1893).
Carina Baganz
Literatur Stefan Breuer, Das Zwanzigste Jahrhundert und die Brüder Mann, in: Ruprecht Wimmer (Hrsg.), Thomas Mann und das Judentum, Frankfurt am Main 2004, S. 75–95. Rolf Thiede, Stereotypen vom Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann. Zum antisemitischen Diskurs der Moderne und dem Versuch seiner Überwindung, Berlin 1998.
Zwé Juden als Schmoggler (Theaterstück von Louis Biren, Luxemburg 1918) 1918 erschien das in luxemburgischer Sprache verfasste Komödienstück „Zwé Juden als Schmoggler oder: Et gong fir d’Liéwen“ [Zwei Juden als Schmuggler oder: Es ging ums Leben]. Über die Biografie oder weitere Werke des Autors Louis Biren ist nichts bekannt. Das Stück von 20 Druckseiten erschien in einer erfolgreichen Reihe Luxemburger Theaterstücke. Über direkte literarische Vorlagen lässt sich kaum etwas sagen, aber in dem antisemitischen Stück (Uraufführung wahrscheinlich 1919) wurden in Luxemburg weitverbreitete antisemitische Vorurteile und Klischees literarisch verarbeitet. Das Handlungsgefüge ist simpel und vorhersehbar: In den stark typisierten Rollen fungieren ein Bauer (Karl Mechelbauer), ein jüdischer Geschäftsmann (Abraham Rosengold), ein jüdischer Viehhändler (Moses Pinkus) sowie mehrere Zöllner. Die Handlung findet 1918 in dem von Deutschland besetzten Luxemburg statt. Im 1. Akt erfährt der Zuschauer, dass der Landwirt sich bei dem unehrlichen Geschäftemacher Rosengold verschuldet hat und nun der Verlust von Haus und Hof droht. Es stellt sich heraus, dass der galizische Jude Wucherzinsen verlangte. Bevor die Sache nun vor Gericht kommt, ersinnen Zollbeamte im 2. Akt eine List, um dem einfältigen Bauern zu helfen. Die beiden Juden werden verhaftet und sollen als Schmuggler erschossen werden. In ihrer Verzweiflung berufen sich Rosengold und Pinkus auf den Bauern, der sie identifizieren und somit entlasten soll. Im 3. Akt bestätigt sich die betrügerische Absicht Rosengolds, die beiden Gefangenen unternehmen noch einen burlesken Fluchtversuch. Um sich zu retten, geben die betrogenen Betrüger alles zu. Die Komödie endet versöhnlich: Mechelbauer wird den Kredit zu einem gerechten Zinsfuß zurückzahlen. Zufrieden ziehen die beiden Juden davon: vom Vorwurf der Schmuggelei entlastet sehen sie sich wieder als „ährliche Geschäftsleit“. Das Sieben-Personen-Stück konnte laut Bühnenanweisung ohne großen Aufwand aufgeführt werden. Die Inszenierung dürfte selbst für kleinste Dorf- und Vereinsbüh-
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nen technisch kein Problem dargestellt haben, da man weitgehend ohne Requisiten auskommen konnte. Die drei Handlungsorte (Wohnzimmer, Wald und Keller) ließen sich ohne viel Dekoration und mit nur einer Kulisse darstellen. Der Kostümierungsaufwand hielt sich sehr in Grenzen, lediglich für die Rollen der Zöllner brauchte man Uniformen, Säbel und Gewehre. Auch der Text dürfte Laienschauspielern in der Regel keine großen Probleme bereitet haben: Die Dialoge sind meist knapp gehalten, die Handlung ist leicht verständlich. Das Stück – das eher als Posse, denn als Komödie einzuordnen ist – zeichnet sich vor allem durch antisemitische Beschimpfungen sowie judenfeindliche Komik aus. Den Geschäftsleuten wurde ein jiddisch klingendes Kauderwelsch in den Mund gelegt, das die Sprache der osteuropäischen Juden ins Lächerliche zieht. Biren äffte auf primitive Weise Syntax, Aussprache und Ausdrucksweise des Jiddischen nach. Manche Ausdrücke und Redeweisen werden ständig wiederholt (z. B. „Jeschäftche“, „e schenes Geld“, „Gott der Gerachte“, „mir sin arme Leit, ährliche Geschäftsleit und wollten norr zum Handeln ins Dorf“, oder „weil mer kaufe wollen e Gütle“). Viele Ausdrucksformen hatten durch Kontakte mit jüdischen Viehhändlern Eingang in die Luxemburger Sprache gefunden oder waren negativ konnotiert. Weiter lebt das Stück von starker Kontrastierung: Die Juden werden als hinterlistige Halsabschneider dargestellt, die die christliche Landbevölkerung betrügen wollen. Neben der Verballhornung des Jiddischen zeichnet sich das Stück von Biren durch zahlreiche deftige Schimpfwörter aus, vor allem durch judenfeindliche Kraftausdrücke. So wird Rosengold im ersten Auftritt als „Erzgauner“, „Spetzbo’f“ [Spitzbube], „Dagde’f“ [Tagedieb], „Schuft“ und „Krètzbock“ (lux. Ausdruck für schmutzigen, moralisch nicht einwandfreien Menschen) tituliert. Andere Ausdrücke stehen in direktem Zusammenhang mit antisemitischen Vorurteilen, wie „Wucherjude“, „galizesche Spetzbo’f“, „Geldmarder“, „Geldhamsterer“ oder „Halzerofschneider“ [Halsabschneider] und durchziehen das ganze Stück. Die literarische und historische Bedeutung des Stückes erschließt sich, wenn man es in den Kontext des in Luxemburg präsenten Antisemitismus und der Ereignisse des Ersten Weltkrieges stellt. Die jüdische Gemeinde im katholischen Luxemburg war eine Minderheit, die hauptsächlich durch Einwanderung aus den Nachbarländern und Osteuropa bis 1914 auf rund 1.300 Menschen angewachsen war. Ein Großteil dieser jüdischen Bürger war im Handel tätig, auf dem Land hatten viele eine wichtige Stellung im Viehhandel. Diese demografischen und wirtschaftlichen Entwicklungen erklären zum Teil die Angst vor den Fremden und den damit verbundenen Antisemitismus. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung judenfeindlicher Vorurteile spielten die inländischen Presseorgane, die seit dem 19. Jahrhundert gerne über die „galizischen Juden“, „Wucherer“ oder „jüdischen Kapitalisten“ berichteten. Auch in den beliebten Fortsetzungsromanen, die aus deutschen Verlagen übernommen wurden, tauchten klischeehafte Darstellungen von Juden auf. So ist es nicht verwunderlich, dass sich das negative Bild des Juden in der Luxemburger Literaturproduktion vor und nach 1914 fortsetzte. Während der deutschen Besatzung (1914–1918) wuchs die Kritik an „Kettenhändlern“, „Wucherern“ und anderen Kriegsgewinnlern. In die Kritik gerieten u. a. jüdische Geschäftsleute, die von der öffentlichen Meinung als Ursache des Versorgungs-
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problems ausgemacht wurden. Besonders heftig kritisiert wurden in diesem Zusammenhang osteuropäische Juden. Ab 1916 kam es zu einer regelrechten Kampagne gegen Angehörige dieser Minderheit, die weniger assimiliert waren als die Mehrheit der jüdischen Familien und teilweise in ärmlichen Verhältnissen lebten. Die öffentliche Meinung fokussierte sich auf die jüdischen Geschäftsleute, die man als wirtschaftliche Konkurrenz empfand. Tatsächliche Einzelfälle wurden zu einer „galizischen Frage“ hochstilisiert, in deren Folge sich Stimmen für eine Ausweisung der unbeliebten Händler mehrten. 1918 verfügten die deutschen Militärbehörden einseitig die Abschiebung unerwünschter Ausländer, die sich als eine antisemitische Maßnahme herausstellte, da ausschließlich osteuropäische Juden betroffen waren. Die Thematik des Wucher- und Kettenhandels fand auch in der zeitgenössischen Literatur ihren Niederschlag, wobei nicht immer klar ist, ob die Kritik auf jüdische oder nichtjüdische Geschäftemacher abzielte. Über die Kriegszeit hinaus tauchen die Figuren des Wucherers beziehungsweise des galizischen Juden in trivialen Komödien, aber auch in autobiografischen Texten auf. Der Erfolg von „Zwé Juden als Schmoggler“ lässt sich nur lückenhaft rekonstruieren. Nach einigem Erfolg in der Nachkriegszeit schien das Publikumsinteresse in den 1930er-Jahren nachzulassen. 1940–1944 war das Stück nicht verboten, wurde aber wohl nicht aufgeführt. Der Hunger nach leichter Unterhaltung, aber vor allem die Langlebigkeit antisemitischer Vorurteile erklären, dass das Stück nach dem Zweiten Weltkrieg eine gewisse Beliebtheit behielt, besonders bei katholischen Vereinen auf dem Land. Aufführungen gab es bis in die 1950er-Jahre hinein. Das Theaterstück war auch als Druckausgabe relativ erfolgreich (zwei Auflagen in den 1920er-Jahren). Eine dritte Auflage wurde 1948 herausgebracht. 1989 erschien es ein letztes Mal in einer unkommentierten Reprint-Reihe. In dem Bemühen, dem Antijudaismus keine Nahrung zu geben, sah die jüdische Gemeinschaft Luxemburgs meist von juristischen Schritten oder Beschwerden gegen Aufführungen ab. Erst in den 1950er-Jahren schärfte sich der Blick der jüdischen Gemeinschaft für antisemitische Theateraufführungen. So protestierte das jüdische Konsistorium Mitte der 1950er-Jahre gegen eine neuerliche Aufführung von „Zwé Juden als Schmoggler“ und intervenierte beim Bistum Luxemburg. Von der zeitgenössischen Literaturkritik wurde „Zwé Juden als Schmoggler“ nicht rezipiert. Vor und nach 1945 erschienene literaturgeschichtliche Abhandlungen und Anthologien interessierten sich nur für die anspruchsvolleren Werke der Theaterliteratur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber nur wenig für die einfachen Formen des Luxemburger Volkstheaters. Letztere wurden als minderwertiger „Ulk“ abgetan.
Marc Schoentgen
Literatur Lucien Blau, Histoire de l’extrême-droite au Grand-Duché de Luxembourg au XXe siècle, Esch 2005, S. 201–252. Daniela Lieb, La catastrophe n’aura pas lieu. Luxemburger Autoren und der Erste Weltkrieg, in: Claude D. Conter, Oliver Jahraus, Christian Kirchmeyer (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg als Katastrophe. Deutungsmuster im literarischen Diskurs, Würzburg 2014, S. 111– 127.
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Zwischen gestern und morgen (Film von Harald Braun, 1947)
Laurent Moyse, Du rejet à l’intégration. Histoire des Juifs du Luxembourg des origines à nos jours, Luxemburg 2011. Pit Schlechter, Triviales Theater. Untersuchungen zum volkstümlichen Theater am Beispiel des luxemburgischen Dialektdramas von 1894 bis 1940, Luxemburg 1974.
Zwischen gestern und morgen (Film von Harald Braun, 1947) Der Titel des Films (Drehbuch Harald Braun und Herbert Witt) signalisiert, dass dieser erste in der US-Zone in den freigegebenen Filmstudios in Geiselgasteig bei München gedrehte Nachkriegsfilm in der tristen Nachkriegsgegenwart spielt, die als eine Art Übergangsphase zwischen der Vergangenheit des Dritten Reiches und einer noch kaum zu ahnenden Zukunft dargestellt ist. Die Grundstimmung des Films, verkörpert durch die Ruinenlandschaft, den melancholischen Hauptdarsteller und die sentimentale bis pathetische Filmmusik, ist Trauer über unerfülltes oder gar zerstörtes Lebensglück. Die Ereignisse der NS-Vergangenheit werden in Rückblenden aus der Sicht der verschiedenen Hauptpersonen vorgeführt. Hauptfigur ist der erfolgreiche Zeichner und Karikaturist Michael Rott (gespielt von Viktor de Kowa), der kurz nach dem Krieg aus seinem Schweizer Exil in seine zerstörte Heimatstadt München zurückkehrt und dort in dem zerbombten Palasthotel nach seiner unfreiwillig zurückgelassenen Geliebten Annette sucht, die dort als Studentin arbeitete. Aus diesem Hotel musste er 1938 Hals über Kopf fliehen, da eine despektierliche Karikatur des NS-Ministerialbeamten Trunk, kombiniert mit einer Hitler-Karikatur, zufällig in einer Zeichenmappe verblieben war, die sein Verleger diesem Ministerialbeamten vorlegte. Rott bringt sich also durch seinen Leichtsinn und seine Respektlosigkeit selbst in Gefahr, er ist kein politischer Regimegegner. Für ihn ist der Nationalsozialismus ein „Affentheater“. Bei seiner Rückkehr versucht der Portier, der ihn wiedererkannt hat, ihm ein Zimmer in der Hotelruine zu verwehren, und auch der kleinlich-egoistische Hotelbesitzer Ebeling, der Annette geheiratet hat, begegnet ihm feindselig, da er Rott einerseits verdächtigt, den wertvollen Schmuck, den die Jüdin Nelly Dreyfuß am Tag seiner Flucht Rott zur Weitergabe an ihren Ex-Mann anvertraut hatte, gestohlen zu haben, andererseits weil er, wie sich später herausstellt, seiner Frau die Briefe Rotts aus dem Exil vorenthalten und sie damit getäuscht hatte. Auch beim Besuch bei seinem ehemaligen Professor, der den Tod seiner besten Studenten im Krieg beklagt, erlebt der Remigrant Rott eine Abfuhr und muss sich die verbreiteten Ressentiments gegen Emigranten anhören, die ihre Heimat im Stich gelassen hätten. Eine Ausnahme bildet nur die junge Frau Kat (Katharina, gespielt von dem neuen Gesicht des deutschen Films Hildegard Knef), die als Flüchtling in den Ruinen des Hotels mit ihrem kleinen Bruder Unterkunft gefunden hat und sich mit Tauschgeschäften durchschlägt. Ihre Offenheit und ihr Optimismus stehen für die Hoffnung auf ein besseres Morgen. Die Vorgänge im Jahre 1938 werden in drei Rückblenden einmal aus der Sicht Rotts, aus der Sicht des Hotelbesitzers Ebeling und aus der Kats geschildert. In der Tradition des deutschen Gesellschaftsfilms und des NS-Unterhaltungsfilms kreuzen sich in diesem Luxushotel im Jahre 1938 die Schicksale von Menschen aus den höheren Gesellschaftsschichten. Darunter ist auch ein berühmter älterer Schauspieler, Alexander Corty (Willy Birgel), dessen Stern allerdings zu sinken beginnt, da
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er mit der Jüdin Nelly Dreyfuß verheiratet war, die sich unter dem politischen Druck des NS-Regimes und aus Rücksicht auf seine Karriere von ihm hatte scheiden lassen. Sie lebt nun ärmlich und zurückgezogen. An dem fraglichen Tag, als Rott fliehen muss, taucht Nelly im Hotel auf, in dem sie früher Stammgast war und entsprechend auch zuvorkommend aufgenommen wird, obwohl man ihr als Jüdin kein Zimmer hätte vermieten dürfen. Sie will aber noch einmal das Flair eines großen Hotels genießen. Sie trifft dort zufällig auf ihren Ex-Mann, der dort mit einer Freundin logiert, die Nelly beim NS-Ministerialbeamten denunzierte. In einem Gespräch klagt Corty gegenüber Nelly über seine beruflichen Probleme und gesteht, wie sehr er unter der Trennung leidet. Obwohl sie die Verfolgte ist, muss Nelly ihn trösten und bietet ihm als finanzielle Hilfe ihren wertvollen Schmuck an, was er aber ablehnt. Unter den misstrauischen Augen des Hotelbesitzers Ebeling vertraut Nelly daraufhin Rott, den sie erst an diesem Abend kennengelernt hat, ihren Schmuck mit der Bitte an, diesen nach ihrer Abreise ihrem Ex-Mann zu übergeben. Durch einen unglücklichen Zufall verketten sich die Schicksale von Rott und Nelly. Gestapobeamte tauchen im Hotel auf, woraufhin Rott, der den Abend mit seiner Freundin Annette in deren Zimmer verbracht hat, überstürzt fliehen muss und deshalb den Schmuck in den Briefkasten von Cortys Hotelzimmer wirft. Corty seinerseits ruft seine Exfrau Nelly an, um ihr mitzuteilen, dass er am nächsten Tag mit ihr zusammen das Hotel verlassen will, woraufhin sie in Rotts Zimmer geht, um den Schmuck zurückzufordern. Dort wird sie von Trunk und den Gestapobeamten, die eigentlich Rott suchen, entdeckt und als Jüdin identifiziert, woraufhin sie sich im Treppenhaus in den Tod stürzt. Ihr Ehemann übergibt Ende 1944 den Schmuck an Kat, die zu dieser Zeit schon im Hotel arbeitete, zur Verwahrung und verlässt kurz danach bei einem Bombenangriff den schützenden Hotelkeller, um in der Hotelhalle den Tod zu suchen. Kat ihrerseits findet nach Kriegsende den Schmuck im Ruinenschutt und will ihn auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Sie macht den fast perfekten Verkauf rückgängig, als sie vom Verdacht gegen Rott erfährt, der nun durch den Fund vom Vorwurf des Diebstahls entlastet wird. Für Rott deutet sich eine Zukunft mit Katharina an. Der Film weist in seiner Darstellung der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten ein ähnliches Muster auf wie seine Vorläufer → „Ehe im Schatten“ oder → „In jenen Tagen“. Das Verfolgungsschicksal wird am Beispiel einer „Mischehe“ zwischen einem nichtjüdischen Mann und einer Jüdin dargestellt. Anders als in den beiden genannten Filmen, in denen der Ehemann mit seiner Frau gemeinsam in den Tod geht, hat hier der „arische“ Ehemann ihr durch die Scheidung seinen Schutz entzogen, folgt ihr aber bei Kriegsende freiwillig in den Tod nach. Die Opfer sterben in diesem wie in den zuvor genannten Filmen durch eigene Hand. In diesem Fall zielte die Verfolgung zudem gar nicht auf die Jüdin Nelly, sie wird nur durch einen tragischen Zufall und ihre Unvorsichtigkeit zum Opfer. Wie in den beiden anderen Filmen trifft auch hier die Jüdin eine Mitschuld an ihrem Tod, weil sie sich in der Öffentlichkeit zeigt und ein Hotelzimmer mietet, obwohl sie weiß, dass dies verboten ist. Dass sie in dem Hotel einmal wieder den vermissten Luxus genießen will, wirft kein gutes Licht auf sie. Andererseits hat sie ihre Ehe und damit ihren Schutz zugunsten der Karriere ihres Mannes geopfert und ist sogar bereit, ihm ihren letzten Besitz, den wertvollen Schmuck, zu schenken. Wie in den anderen frühen Nachkriegsfilmen wird die Aus-
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grenzung und Verfolgung der Juden im Deutschland der 1930er-Jahre an einem Einzelbeispiel gezeigt, das massenhafte Verfolgungsschicksal taucht nicht auf. Zwar erscheint der Nationalsozialismus als Ursache für die bis in die Gegenwart reichenden Zerstörungen im Leben der Hauptpersonen, doch beschränkt der Film die Darstellung der Nationalsozialisten auf den spießigen, stiernackigen NS-Ministerialbeamten Trunk, der als Prolet den heimlichen Spott der anderen wohlsituierten Gäste auf sich zieht, und einige Gestapoleute in Nebenrollen. Die Schuld liegt allein bei diesen Agenten des Systems, während die anderen Personen des Films keine Mitschuld am Schicksal von Nelly Dreyfus trifft, die sich vielmehr über die antijüdischen Verordnungen des NS-Regimes hinwegsetzen, den Nazi-Funktionär verspotten oder defätistische Reden führen, was implizit den damals empfundenen Kollektivschuldvorwurf entkräften sollte. Dass sie anders als Rott trotz ihrer Gegnerschaft nicht fliehen mussten, wird ihnen eher positiv angerechnet. Sie haben alles erduldet und lassen den Emigranten ihre Ablehnung spüren. Die Außenwelt des Dritten Reiches kommt, der Tradition des Hotelfilms folgend, nur am Rande vor. Eine Rezension monierte deshalb, die Hotelgäste würden im „luftleeren Raum leben“. Der Film zieht keine „Lehren“ aus der NS-Vergangenheit, sondern thematisiert nur die negativen Folgen für das Leben der Menschen in der Gegenwart. Doch steht am Ende, nachdem sich die wechselseitigen Vorwürfe als gegenstandslos erwiesen haben, eine neue Einigkeit zwischen dem Emigranten und den Daheimgebliebenen, sodass man nun den Schritt vom Heute ins Morgen gemeinsam gehen kann. Dies wird durch den Wiederaufbau des Hotels, manifestiert im Wegräumen des Schutts der Vergangenheit durch die Bagger, symbolisiert. Mit der Figur von Nelly Dreyfuß griff der Film einen authentischen Fall auf. Noch während der Dreharbeiten wandten sich daher Freunde der wirklichen Nelly Dreyfuß an die amerikanische Militärregierung, um gegen die in einem Bericht über die Dreharbeiten geäußerte Behauptung, der Film zeige die wahre Geschichte der Jüdin Nelly Dreyfuß, zu protestieren. Die Militärregierung veranlasste die „Neue Deutsche Filmgesellschaft“, im Film darauf hinzuweisen, dass die Handlung frei erfunden und eine Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen rein zufällig sei. Der Film wurde am 11. Dezember 1947 im Münchener Luitpold-Theater in zwei Festvorstellungen mit offiziellen Reden und Musik uraufgeführt. Die Erstaufführung in der sowjetischen Zone (Ostberlin) folgte am 25. Januar 1949. Trotz des Aufgebots an bekannten Ufa-Stars, neben Viktor de Kowa und Willy Birgel Winnie Markus, Sybille Schmitz, Erich Ponto, traf der Film mit 2,8 Millionen Besuchern weder beim Publikum noch bei der Filmkritik auf große Resonanz. „Der Spiegel“ schrieb: „Wer mit hohen Erwartungen gekommen war, sah sich enttäuscht. Schicksale von gestern mit Kriminalistik kombiniert, es ging nicht ganz auf.“ Aufgrund der Geschichte mit dem verschwundenen Schmuck wurde der Film von vielen eher als ein Kriminalfilm wahrgenommen. Eine Rezension zur Münchener Premiere kritisierte, „dass wir zu sehr an dieser Vergangenheit leiden, als dass wir sie als Kulisse für eine unwesentliche Kriminalgeschichte hinnehmen könnten“. Die Geschichte wurde als überladen, altbacken und kolportagehaft kritisiert. Der Einsatz der mit Ausnahme von Sybille Schmitz (als Nelly Dreyfuß) routiniert und oberflächlich agierenden alten Stars, die schon in den NS-Unterhaltungsfilmen mitgewirkt hatten, machte die Darstellung unglaubwürdig und beschwor unwillentlich Erinnerungen an das Gestern heraus. Dargestellt seien
Zwischenfall in Benderath (Film von Janos Veiczi, 1956)
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„konstruierte Figuren mit konstruierten Schicksalen“. Die Kritik vermutete, dass „wir heute noch nicht so weit [sind], diese jüngste Vergangenheit zu gestalten“, und hätte sich für das neue deutsche Filmschaffen einen anderen Auftakt gewünscht. 1947 setzte Kritik an den „Trümmerfilmen“ ein, man wollte keine Trümmer mehr sehen und forderte mehr heitere Filmstoffe.
Werner Bergmann
Literatur Wolfgang Becker, Norbert Schöll, In jenen Tagen. Wie der deutsche Nachkriegsfilm die Vergangenheit bewältigte, Opladen 1995. Bettina Greffrath, Gesellschaftsbilder der Nachkriegszeit. Deutsche Spielfilme 1945–1949, Pfaffenweiler 1995. Peter Pleyer, Deutscher Nachkriegsfilm 1946–1948, Münster 1965.
Zwischenfall in Benderath (Film von Janos Veiczi, 1956) Der DEFA-Spielfilm des Regisseurs Janos Veiczi und des in die DDR übergesiedelten Autors Curt Corrinth, der für das Drehbuch sein eigenes Theaterstück aus den späten 1920er-Jahren aktualisierte, handelt von sieben befreundeten Schülern, die einen Geheimbund gegründet haben, der sich „Trojaner“ nennt. Einer von ihnen, Jakob Lewin, ist Jude. Seine Eltern sind aus der Emigration nach Westdeutschland zurückgekehrt, sein Vater ist Rechtsanwalt und engagiert sich mit Zeitungsartikeln gegen das Wiederaufleben des Nazismus. Jakob wird deshalb von seinem Lehrer Päker, der unverhohlen seinen Antisemitismus pflegt, schikaniert und schließlich in einer Weise beleidigt, dass sich seine Freunde solidarisieren, die Schule verlassen und sich gemeinsam auf einer Insel verstecken. Als Voraussetzung für ihre Rückkehr verlangen sie eine Stellungnahme der Schule und eine Entschuldigung des Lehrers. Der Vorfall ist in der kleinen Stadt Benderath ein Skandal. Die Eltern sind empört und schlagen sich auf die Seite ihrer Kinder. Der Schulleitung ist der „Zwischenfall“ doppelt peinlich, weil die Jubiläumsfeier des Gymnasiums ansteht. Sie muss entscheiden, ob man die Schüler wegen ihres unbotmäßigen Verhaltens bestraft oder der Lehrer wegen seiner antisemitischen Angriffe die Konsequenzen ziehen muss. Am Ende bleiben die Schüler auf Initiative der Eltern straffrei, Päker muss sich bei den Schülern entschuldigen und die Schule verlassen. Da die Schulbehörde jedoch von alten Nationalsozialisten durchsetzt ist, kommt seine Versetzung effektiv einer Beförderung gleich. „Zwischenfall in Benderath“ steht 1956 am Beginn einer Reihe von Filmen der DDR, die das Schicksal der überlebenden Juden und den überdauernden Antisemitismus der Nachkriegszeit in Deutschland zum Inhalt haben – mit einer gewichtigen Einschränkung: Die Handlungen all dieser Filme spielen in westdeutschen Groß- und Kleinstädten. Nach einer fünfjährigen Absenz von jüdischen Figuren im ostdeutschen Film, die vermutlich mittelbare Folge der antisemitischen Säuberungen in der SED und an den Staat gekoppelter Institutionen sowie den Repressalien gegen die jüdischen Gemeinden in der DDR waren, tauchen mit „Zwischenfall in Benderath“ erstmals wieder „Juden“ auf der Leinwand auf. Doch setzt der Film sich nicht mit Antisemitismus als Phänomen der eigenen Vergangenheit, Geschichte und Gegenwart auseinander, sondern stellt Antisemitismus ausnahmslos als Problem Westdeutschlands
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Zwischenfall in Benderath (Film von Janos Veiczi, 1956)
dar. In Kinofilmen wie „Der Prozess wird vertagt“ (1958, R: Herbert Ballmann), „Jetzt und in der Stunde meines Todes“ (1963, R: Konrad Petzold), „Chronik eines Mordes“ (1965, R: Joachim Hasler) oder selbst in dem in Ungarn 1944 spielenden → „Lebende Ware“ (1966), in Fernsehfilmen wie „Manko“ (1960, R: Johannes Knittel), „Der Schatten von gestern“ (1960, R: Joachim Kunert), „Assistenzarzt Dr. Feil“ (1960, R: Otto Dierichs) oder „Die Vorladung“ (1980, R: Wolfgang Luderer) geht es nicht mehr um die Art der reflexiven Erinnerung an die Shoah und ihre Opfer wie noch in dem frühen Nachkriegsfilm → „Ehe im Schatten“ (1947) oder die Suche nach Vorläufern des Antisemitismus in → „Affäre Blum“ (1948). Jüdische Figuren und die Erinnerung an die Shoah sind nur mehr Mittel, um den Nachweis zu erbringen, die Bundesrepublik biete erneut Platz für nationalsozialistische Gesinnung, Militarismus und Antisemitismus. Es steht außer Frage, dass Kritik an der unzureichenden Entnazifizierung, an den umfangreichen Amnestien der fünfziger Jahre sowie der relativ spät einsetzenden Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland berechtigt war. Ebenso schien die Häufung antisemitischer Ereignisse in der Bundesrepublik ab 1956 – etwa der Vertrieb antisemitischer Schriften, Drohbriefe an jüdische Bürger, öffentliche Billigung von KZ-Verbrechen, Friedhof- und Synagogenschändungen, die antisemitische Schmierwelle ab Weihnachten 1959 – wie Wasser auf die Mühlen der von der DDRPropaganda unterstellten Kontinuität. In der bundesdeutschen Gesellschaft setzte nur zögerlich eine öffentliche Auseinandersetzung ein; der westdeutsche Film schwieg dazu. (Gleichwohl erwiderte die Bundesrepublik die ostdeutschen Angriffe ihrerseits mit Enthüllungsbroschüren und antikommunistischer Feindpropaganda.) Der Antifaschismus der DDR war selbstzufrieden geworden. An die Stelle von Kritik als Mittel der Aufklärung trat Kritik als Mittel für umfangreiche Kampagnen. Den Höhepunkt erreichten die Kampagnen in den 1960er-Jahren im Kontext der großen NS-Prozesse (dem Eichmann-Prozess, den Frankfurter Auschwitz-Prozessen, der nachfolgenden Vernichtungslager-Prozesse, den Schauprozessen in der DDR gegen Theodor Oberländer, Hans Globke und den SS-Arzt Dr. Horst Fischer, dem sog. Auschwitz-Prozess der DDR u. a.). Gleichwohl traf die meisten dieser Filme das Verdikt der Propaganda. Dabei muss das Urteil im Rückblick differenzierter ausfallen. Das Tendenziöse, das teils offen Aggressive dieser Filme lässt vergessen, dass sie trotz ideologischer Firnis Themen zur Sprache brachten, die bisher unerzählt oder tabuisiert waren: etwa das Motiv der Rache, die Darstellung sexueller Gewalt und deren psychischer Folgen in „Chronik eines Mordes“; die Darstellung der gesellschaftlichen Erschütterung, die der Eichmann-Prozess auslöste in „Jetzt und in der Stunde meines Todes“ oder die brisante Frage nach mutmaßlicher Kollaboration der Opfer in „Lebende Ware“. Ein „Kollateralschaden“ ihrer instrumentellen Funktion war schließlich, dass sie auch einen Schatten auf jene ostdeutschen Regisseure und Autoren warf, die versuchten, sich der deutschen Geschichte abseits der Kampagnenpolitik und abseits eines verordneten Antifaschismus zu nähern, die versuchten, historisches Bewusstsein für deutsche und jüdische Geschichte zu schaffen – wie etwa Konrad Wolf, Frank Beyer, Egon Günther oder Günter Kunert, Wolfgang Kohlhaase und Jurek Becker.
Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Gemälde von Max Liebermann, 1879)
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Bemerkenswert am Film „Zwischenfall in Benderath“ ist, dass er die Westdeutschen nicht pauschal als Antisemiten zeichnet, sondern Antisemitismus (fast) ausschließlich als Problem einer im Dunkeln agierenden Machtclique darstellt, die den innen- und im nächsten Schritt außenpolitischen Frieden bedroht. Der Film wiegte damit sowohl das DDR-Publikum in moralischer Sicherheit – es war ohnehin eingebunden in das kollektive und exkulpatorische „Wir Antifaschisten“ – sowie eine Vielzahl anständiger Bundesbürger in Gestalt der Schüler, der Eltern und in Teilen der Lehrerschaft (sogar ein General erscheint in positivem Licht). Diese Gruppen verfügen über ein recht stabiles Wertesystem. Mit den Jahren, spätestens mit dem Mauerbau, wurden diese „Aufrechten“ im Westdeutschland des ostdeutschen Films weniger, kämpften irgendwann in einer zutiefst antisemitischen und antikommunistischen Gesellschaft auf verlorenem Posten. Denn dass der Antisemitismus – und nicht zu vergessen: der Antikommunismus – in der westdeutschen Bevölkerung schlummert, sogar unter Jakob Lewins Freunden, daran lässt „Zwischenfall in Benderath“ keinen Zweifel: Unüberlegt schlüpft einem der Trojaner ein antijüdischer Spruch von den Lippen oder die Mutter von Jakobs Freundin hegt Unbehagen angesichts des Verkehrs mit dem Sohn eines „Kommunisten und außerdem Juden“. Jakob wird also nicht nur als Jude, sondern auch als Sohn eines mutmaßlichen Kommunisten angegriffen, vielleicht sogar primär deswegen. Der Lehrer Päker hetzt gleichermaßen gegen „das Fremdrassige“, „Undeutsche“ wie gegen die linkspolitischen Leitartikel von Jakobs Vater; er verunglimpft ihn als Feigling und Verräter, damals „ausgerissen nach London, morgen vielleicht DDR?“ Diese politische „Ergänzung“ scheint alles andere als zufällig. Antisemitismus und Antikommunismus wurden in den Kampagnen immer zusammen genannt, wenn es darum ging, die „Refaschisierung“ der Bundesrepublik zu insinuieren. Die Gedenkpolitik der DDR parallelisierte die Verfolgung von Juden und Kommunisten (wie ihr Leid unter den Nationalsozialisten), wenn es zweckmäßig war, ohne freilich die Kommunisten zu passiven Opfern zu machen. Im Gegenteil, aus ihrem frühen Widerstand leitete sich ab, wer das erste Opfer der Nationalsozialisten und wer erneut die Angriffsfläche im Westen war – und wo die Verfolgten heute ihre Heimat fanden. „Zwischenfall in Benderath“ kam wenige Monate nach dem Parteiverbot der KPD in der Bundesrepublik in die ostdeutschen Kinos.
Lisa Schoß
Literatur Elke Schieber, „Vergesst es nie – Schuld sind sie!“ Zur Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Juden in Gegenwartsfilmen der DEFA, in: Deutsches Filminstitut (Hrsg.), Die Vergangenheit in der Gegenwart: Konfrontationen mit den Folgen des Holocaust im deutschen Nachkriegsfilm, Frankfurt am Main 2001, S. 36–47.
Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Gemälde von Max Liebermann, 1879) Am 19. Juli 1879 wurde im Münchner Glaspalast die zweite internationale Kunstausstellung eröffnet, auf der Max Liebermanns Bild „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“ gezeigt wurde. Von der Jury, die für die Auswahl der Bilder zuständig war, und von
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Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Gemälde von Max Liebermann, 1879)
Münchner Künstlerfreunden als eines der bedeutendsten Bilder der Ausstellung gefeiert, wurde es von Ausstellungsbesuchern mit Empörung und Entsetzen aufgenommen. Es erregte einen öffentlichen Skandal, und was die Kritiker so sehr erzürnte, war, dass der jüdische Maler Max Liebermann es gewagt hatte, die Person Jesu als realistisch gezeichneten jüdischen Knaben zu malen. Max Liebermann (1847–1935) hatte in einem 1866 verfassten „Lebenslauf“ betont, dass er „treu dem Glauben der Väter in der jüdischen Religion“ erzogen worden war. Auch hatte er als Schüler den Kopf eines polnischen Juden gezeichnet und 1867 zum 75-jährigen Jubiläum der von Berliner Juden gegründeten „Gesellschaft der Freunde“ für einen Festvorhang Porträts ihrer Stifter und Vorsitzenden gemalt. Während seiner Studienreisen von 1876 in Amsterdam und 1878 in Venedig hatte er Zeichnungen und Bilder in den dortigen Synagogen angefertigt und die Idee entwickelt, das in der Kunstgeschichte vielfach aufgegriffene Motiv des zwölfjährigen Jesus im Tempel zu verarbeiten. Nach seinem Venedig-Aufenthalt ließ sich Liebermann in München nieder. Dort arbeitete er die Idee aus, legte ein Skizzenbuch an und zeichnete zahlreiche Vorstudien. Im April 1879 hatte er das Gemälde vollendet. Im hell erleuchteten Bildmittelpunkt des fast quadratischen, etwa 150 cm mal 130 cm großen Bildes stand der zwölfjährige Jesus, im Profil gemalt, barfüßig, in einfachem Gewand, mit struppigem Haar und einem Ansatz von Schläfenlocken. Er sprach, mit den Händen gestikulierend, mit zwei ebenfalls in hellen Farben gemalten sitzenden, skeptisch blickenden Rabbinern, von denen der erste in der einen Hand ein Buch hielt und mit der anderen sich nachdenklich an den Bart fasste, während der zweite, bartlos, die Hände gefaltet, dem Kind skeptisch zuhörte. Der rechte Bildrand wird von einem stehenden, im Rückenprofil gemalten, leicht empört wirkenden Rabbiner mit Pelzmütze eingenommen, der mit einen dunklen, mit Stoffgürtel zusammengehaltenen Mantel bekleidet ist. Am rechten Bildrand drängen sich bewegt, beunruhigt, drei weitere Rabbiner, jeweils in eine andere Richtung blickend. Der Erste ist auf ein Lese- oder Gebetspult gestützt und hält ein geöffnetes Buch in der Hand. Er schaut den Knaben von der Seite an. Der zweite Rabbiner, einen Pelzhut tragend, betrachtet von hinten neugierig die Gesprächsszene, während der Dritte seinen Blick auf die im linken oberen Bildrand gemalte Wendeltreppe richtet, ein Motiv, das Liebermann seinem in einer venezianischen Synagoge gemalten Bild entnommen hat. Die Treppe hinab, mit angeschnittenem Kopf, kommt Maria, die, wie es im Lukasevangelium heißt, nach dreitägiger Suche den verlorenen Sohn im Tempel im Gespräch mit den Schriftgelehrten wiederfindet. Im mittleren oberen Bildrand erleuchtet ein Fenster die Szene, davor ein Leuchter, eine Bildsequenz, die Liebermann wiederum seinem Gemälde aus dem Innenraum der Synagoge in Amsterdam entlehnte. Im Gegensatz zu seinen Vorläufern hat Liebermann den zwölfjährigen Jesus im Tempel nicht als erhabene, hehre Lichtgestalt gemalt, die ikonografisch das über das Judentum triumphierende Christentum symbolisiert, sondern als jüdischen Knaben, der mit erwachsenen Juden diskutiert. Ebenfalls im Unterschied zur christlichen Bildgeschichte zeichnete Liebermann die jüdischen Rabbiner nicht physiognomisch als Juden, sondern machte sie allein über ihre Kleidung und religiösen Requisiten als Juden kenntlich. Seine Modelle habe er, wie Liebermann später in einem Brief schrieb, in christlichen Spitälern gefunden. Liebermann vermied bewusst eine historisierende
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Darstellung dieses christlichen Motivs, sondern verknüpfte es bildlich mit dem gegenwärtigen Judentum. Für die zweite internationale Kunstausstellung in München 1879 hatte Liebermann drei Bilder eingereicht, angenommen wurde dieses, erst kürzlich abgeschlossene Gemälde. Von der Jury und von befreundeten Münchner Künstlern erhielt Liebermann große Anerkennung. Die für die Gestaltung der Ausstellung Verantwortlichen maßen dem Gemälde eine so hohe Bedeutung bei, dass sie es an prominenter Stelle im sechsten von vierundsechzig Sälen platzierten. Die Ausstellungskritiken in der Presse hingegen waren vernichtend. Nur wenige Tage nach der Ausstellungseröffnung ereiferte sich der „Bayerische Landbote“ vom 3. August 1879 in antisemitischem Furor: „Geradezu scheußlich“ sei das Bild von Max Liebermann, „niedrig, ja gemein in der Auffassung und ungenügend in der Durchführung“. Die Schriftgelehrten seien „nichts als die nächstbesten Börsenjuden“, und „der ungewaschene Bube im schmutzigen Hemde […] ist Ekel erregend. Der ordinäre Schacherzug im Gesichte, die krummen geldgierigen Finger sind von […] widerlichem Eindrucke.“ In der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ vom 4. August 1879 ereiferte sich der Maler Friedrich Pecht darüber, dass Liebermann Christus als „hässlichen naseweisen Judenjungen“ und die Rabbiner „als ein Pack der schmierigsten Schacherjuden“ gemalt habe. „Das Bild beleidigt nicht nur unser Gefühl“, so Pecht weiter, „sondern selbst unsere Nase, indem es ihr alle möglichen widrigen Erinnerungen hervorruft“. Vor allem katholische Geistliche zeigten sich über das Bild empört und verlangten erfolglos, dass es aus der Ausstellung entfernt werden müsse. Selbst in Berlin berichtete die „Vossische Zeitung“ vom 8. August 1879 in antisemitischem Tonfall von dem Skandal. Liebermann habe „den heftigsten Widerspruch nicht nur der Frommen, welche über Blasphemie und Profanation schreien“, herausgefordert: „Er verlegte die Scene in eine echt polnische Synagoge. Sein Jesusknabe, ein plumper, nacktbeiniger, schmutziger Junge […] verräth durch nichts eine höhere Intelligenz.“ Anfang 1880 wurde das Bild zum Gegenstand einer heftigen, wiederum mit antisemitischen Parolen geführten Kontroverse im bayerischen Landtag während einer Debatte über die staatliche Förderung der Kunstausstellungen in München. So echauffierte sich der katholische Geistliche und Abgeordnete Balthasar Ritter von Daller darüber, dass „der erhabene göttliche Gegenstand dieses Bildes in einer so gemeinen und niedrigen Weise dargestellt ist, dass jeder positiv gläubige Christ sich durch dieses blasphemische Bild aufs Tiefste beleidigt fühlen mußte“. Die Sprache der Empörung im Kunstskandal des Sommers 1879 war die Sprache des Antisemitismus. Er fand statt nur wenige Wochen vor der Gründung der „Antisemitenliga“, mit der dieser Neologismus in die Sprache einging, den ersten antisemitischen Reden des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker und der Eröffnung des „Berliner Antisemitismusstreites“ durch den Historiker Heinrich von Treitschke. Max Liebermann selbst war über diese Reaktion zutiefst entsetzt und verstört. Er habe, wie er später in einem Brief schrieb, nie wieder ein religiöses Thema gemalt. Seine Erschütterung über diesen öffentlichen Skandal wirkte fort. Als das Bild 1884 in Paris auf einer Kunstausstellung gezeigt wurde, hatte es Max Liebermann grundlegend überarbeitet und dem Jesuskind ein gänzlich anderes Profil gegeben. In der neuen Version hatte der Knabe helle schulterlange Haare, trug Sandalen und ein langes
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Kleid. Die Figur hatte fast mädchenhafte Züge. Gezeigt wurde das Bild nun unter dem Titel „Religiöse Diskussion“. Französische Kritiker erkannten folglich das Motiv kaum wieder, sie sahen in der Figur nicht Jesus, sondern ein Mädchen. Knapp dreißig Jahre war das Gemälde in Deutschland nicht mehr zu sehen, erst 1907 wurde es, in der überarbeiteten Version, in einer Ausstellung der Berliner Secession gezeigt. Dieses Mal blieb der Skandal aus. Wie sehr die Erschütterung über den Münchener antisemitischen Skandal nachwirkte, zeigt noch die Vermutung des achtzigjährigen Max Liebermann, dieses Bild habe den Berliner Hofprediger Stoecker „zu seiner Judenhetze veranlaßt“. 1911 hatte die Hamburger Kunsthalle das Gemälde angekauft, 1941 war es über den Kunsthändler Hildebrand Gurlitt in Privatbesitz übergegangen. Erst 1989 konnte es die Hamburger Kunsthalle erneut erwerben.
Ulrich Wyrwa
Literatur Katrin Boskamp, Die ursprüngliche Fassung von Max Liebermanns: Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Ein christliches Thema aus jüdischer Sicht, in: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 16 (1993) 1, S. 29–36. Martin Faass (Hrsg.), Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik, Berlin 2009. Helmut R. Leppin, Der zwölfjährige Jesus im Tempel von Max Liebermann, Hamburg 1989.
38 – Auch das war Wien (Film von Wolfgang Glück, 1986) Der Film „38 – Auch das war Wien“ von Wolfgang Glück beruht auf einem posthum erschienenen Roman von Friedrich Torberg und wurde 1987 als bester fremdsprachiger Film für einen Oscar nominiert. Der Film spielt in der Zeit von September 1937 bis kurz nach dem „Anschluss“ im März 1938. Die Handlung zeigt die Beziehung zwischen dem intellektuellen Juden Martin Hoffmann (Tobias Engel) und der nicht-jüdischen Schauspielerin Carola Hell (Sunnyi Melles). Carola und Martin glauben anfangs, trotz der sich zunehmend verschärfenden politischen Lage, ein unpolitisches Privatleben führen zu können. So meint die Protagonistin etwa, dass sie sich nicht um Politik kümmere und über diese auch nicht gern spreche. Carolas Karriere verläuft zunehmend gut und sie spielt auf den Bühnen Wiens und Berlins Lessings „Emilia Galotti“. In Berlin macht sie erstmals Erfahrung mit dem NS-Regime, als ein nationalsozialistischer Kulturvertreter ihr große Komplimente macht, gleichzeitig aber betont, dass ihr „ihre persönlichen Bindungen“ (gemeint ist ihre Beziehung zu einem Juden) im Weg stehen würden. Auf die Forderung, sie solle nur deutsche Stücke spielen, schlägt Carola „Nathan der Weise“ vor. Daraufhin kommt am nächsten Tag die Gestapo zu ihr ins Hotel und sie wird kurzzeitig verhaftet. Martin in Wien ist sehr besorgt um sie, da er nicht weiß, was passiert ist. Er möchte sich über Prag nach Berlin zu ihr auf den Weg machen. Dieses Vorhaben wird jedoch von seinem besten Freund Toni Drexler (Heinz Trixner) durchkreuzt, der NS-kritischer Journalist beim „Neuen Wiener Tagblatt“ ist. Toni rät ihm schon zu Anfang des Films, er solle Österreich so schnell wie möglich verlassen.
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Auch Martin macht mittlerweile in Wien Erfahrungen mit den Nazis, als er von einem Unbekannten auf der Straße als „Saujud“ beschimpft wird. Als Carola wieder wohlbehalten in Wien angekommen ist, eröffnet sie Martin, dass sie ein Filmangebot erhalten habe. Sie soll die Hauptrolle in dem Tanzfilm „Reise ins Glück“ spielen, der, wie sie betont, vollkommen unpolitisch sei. Der Film wird in den Studios der „Wien-Film“ gedreht. Als Martin sie dort abholen möchte, verweigert ihm der Portier mit den Worten „Eintritt für Juden verboten“ den Zutritt, worauf Martin erzürnt eine Entschuldigung fordert. Der Antisemitismus wird inzwischen offen und ungeschminkt auf der Straße ausgelebt. Dies merken die beiden an den antisemitischen Äußerungen des Hausmeisters, aber auch von Schauspielerkollegen. So betont Carola gegenüber einem Theaterregisseur, mittlerweile durch die erlebten Erfahrungen geprägt, dass „Kabale und Liebe“, in dem sie die Hauptrolle spielen soll, ein politisches Stück sei. Dies stößt jedoch auf Widerstand. Als im Radio die Rede des zurückgetretenen Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg zu hören ist und Carola Martin ihre Schwangerschaft eröffnet, beschließen die beiden, Österreich Richtung Prag zu verlassen. Wien ist mittlerweile mit unzähligen Hakenkreuzfahnen beflaggt. Am Bahnhof angekommen, gelingt es Carola, in den Zug zu kommen, Martin wird jedoch verhaftet, misshandelt und man nimmt ihm seinen Pass ab. Martin irrt in Wien umher, kommt dabei u. a. in sein Stammcafé „Herrenhof“, wo er von „seinem“ Kellner Alois vor den Nazis versteckt wird. Er wird auf der Straße Zeuge, wie Juden unter dem Jubel der Menge Gehsteige schrubben und auf ihre Geschäfte den „Judenstern“ malen müssen. Schließlich trifft er auf den Taxifahrer, der ihn und Carola einst zum Bahnhof gebracht hat. Der Taxifahrer bietet ihm an, ihn zur Grenze der Tschechoslowakei zu fahren. Erleichtert und hoffnungsfroh, Carola bald wieder zu sehen, schlendert er durch Wien, wird jedoch in der letzten Szene von SS-Männern verhaftet. Zu seinem Film meinte Wolfgang Glück: „In Zeiten, in denen längst überwunden Geglaubtes wieder aufgetaucht, Vergangenes auch 50 Jahre später nicht bewältigt ist, wieder niedergeschwiegen werden soll: In solchen Zeiten kann so ein Film nicht zuviel sein.“ Das Jahr 1986, das Erscheinungsjahr von Glücks historisch sehr authentisch geschildertem Film, zog in Österreich eine intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nach sich. Anstoß dafür war der Wahlkampf zum österreichischen Bundespräsidenten. Im Zuge dessen wurde Kurt Waldheims NS-Vergangenheit aufgedeckt. In Österreich fand in der Folge eine breite Diskussion der Opferthese (Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus) statt, die schließlich ins Wanken geriet. Auch wurde in diesem Jahr Jörg Haider zum Bundesparteiobmann der FPÖ gewählt. Insofern ist Glücks Film ein eindeutiges Statement.
Christian Pape
Literatur Thomas Kramer, Martin Prucha, Film im Lauf der Zeit. 100 Jahre Kino in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Wien 1994. Felix W. Tweraser, Historical Drama of a Well-intentioned Kind: Wolfgang Glück’s 38 – Auch das war Wien, in: Robert von Dassanowsky, Oliver Speck (Hrsg.), New Austrian Film, New York, Oxford 2011, S. 54–63.
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1925. The Story of a fatal Peace (Roman von Edgar Wallace, 1915)
1925. The Story of a fatal Peace (Roman von Edgar Wallace, 1915) Der Roman „1925. The Story of a fatal Peace“ (London) von Edgar Wallace ist ein Spionageroman, der zudem das Thema einer feindlichen, deutschen Invasion Englands aufgreift. Damit fügt er sich ein in eine Literaturgattung, die am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden war. Eine Besonderheit des Genres war, dass die Autoren stets eine politische Botschaft hatten. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges nahm die Zahl der Veröffentlichungen dieser Art sprunghaft zu. Zum Zeitpunkt der Publikation, 1915, war Edgar Wallace bereits ein bekannter Literat, und er bediente sich seines Handwerks, der Schriftstellerei, um vor einem verfrühten Friedensschluss mit dem Deutschen Reich zu warnen. Darüber hinaus geht der Roman mit der Regierung, der militärischen Führung und der Gesellschaft hart ins Gericht; sie werden als verantwortungslos und leichtgläubig dargestellt. Die deutschen Figuren der Geschichte sind doppelbödig und brutal. Besondere Aufmerksamkeit verdienen zwei jüdisch markierte Negativfiguren: der Spion Carl Ballin und der Zeitungseigentümer Porsheim. Ausgangspunkt der Handlung ist ein Friedensschluss mit dem Deutschen Reich im Jahr 1915, der nicht nur verfrüht, sondern auch von fatalen Fehlern begleitet war; am gravierendsten erweist sich, dass das Deutsche Reich seine Flotte hatte behalten dürfen. Im Vorfeld der Invasion zehn Jahre später agiert ein Netz von deutschen Spionen im Land, deren Ziel die Entwendung eines neu entwickelten Gerätes zur Ortung von U-Booten ist. Der Kopf der feindlichen Agenten ist ebenso verschlagen wie skrupellos und schreckt im Verlauf der Ereignisse nicht vor dem Mord an dem Wissenschaftler, der das Ortungsgerät entwickelt hatte, zurück. Der Name des Chefspions ist Carl Ballin. Wallace benannte seinen Schurken nach Albert Ballin, einem bekannten jüdischen Deutschen, Vertrauten des Kaisers und Eigner der Hamburg-Amerika-Linie, der größten Reederei Europas. Die positive Gegenfigur zum deutschen Spion ist der Journalist Grant Macrae, der mithilfe der jungen Ruth Manton Ballin auf die Schliche kommt. Vom ersten Zusammentreffen an schöpft Macrae Verdacht und hegt auch gegenüber Ballins Schilderungen von der Vertragstreue Deutschlands, das unter den Waffenstillstandsbedingungen von 1915 leide, Zweifel; Grant Macrae trifft bei seinen englischen Landsleuten allerdings auf taube Ohren beziehungsweise Unglauben. Er beobachtet bei Ballin ein Medaillon mit martialischem Symbol, einem Totenkopf, und der Prägung „1915“. In der Folge findet Macrae Informationen und Zeitungsberichte, die Revanchepläne auf deutscher Seite vermuten lassen, so waren beispielsweise englische Touristen in Straßburg von einem preußischen Offizier angegangen worden, der England mit militärischer Vergeltung gedroht hatte. Die Lage spitzt sich zu, als Ruth entführt wird, nachdem sie in Freiburg ein Büchlein mit verklausulierten militärischen Informationen entwendet hatte. Einen Höhepunkt in der Vorbereitung eines deutschen Angriffs bildet offenbar die Einladung von Tausenden britischen Soldaten und Reservisten nach Deutschland zum Schleswig-Holstein Musikfest – vordergründig eine Geste der Versöhnung, tatsächlich mit dem Ziel, so viele Männer im wehrfähigen Alter wie möglich aus England abzuziehen. Die Tageszeitung „Daily Londoner“ im Besitz von Porsheim tut sich besonders hervor, wenn es darum geht, Deutschland im besten Licht darzustellen und die Versöhnungsgeste zu feiern. Über den Eigentümer Porsheim erfährt der Leser, dass er es in dem letzten Krieg günstig gefunden hatte, sich als russischer Pole zu bezeichnen.
1925. The Story of a fatal Peace (Roman von Edgar Wallace, 1915)
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Die Spione schaffen es, sich des gesuchten Gerätes zu bemächtigen, allerdings bekommt Ballin kalte Füße und will nach dem Mord an dem Erfinder das Land verlassen, was ihm nicht mehr gelingt, er wird zur Strecke gebracht. Jedoch fruchten die Bemühungen Grant Macraes, die Nation, die Politik und das Militär aufzurütteln, nicht. Als die Admiralität endlich aufwacht, sind die britischen Ausflügler längst nach Deutschland gereist und wurden dort unmittelbar interniert. Das Land wird von der deutschen Flotte angegriffen, während in London noch immer die Haltung eines „business as usual“ vorherrscht. Edgar Wallace geißelte mit seinem Roman britische Leichtgläubigkeit und einen Mangel an Wachsamkeit. Eine wichtige Rolle kam jüdisch angedeuteten Figuren zu, die als besonders skrupellos und selbstsüchtig gezeichnet werden. Der Name des Verlegers, Porsheim, hat einen osteuropäisch-jüdischen Klang und bildete mit dem Hinweis, er habe sich während des Krieges auf seine russisch-polnische Herkunft berufen einen aktuellen Rekurs auf die Debatten seit Kriegsbeginn um sogenannte freundliche Ausländer, die nicht ohne Weiteres in die Armee rekrutiert werden konnten und in der Öffentlichkeit als Drückeberger wahrgenommen wurden.
Susanne Terwey
Literatur Susanne Terwey, Moderner Antisemitismus in Großbritannien, 1899–1919, Würzburg 2006.
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Autorenverzeichnis – Band 7 Aicher, Martina – Historikerin und Slawistin, Doktorandin am Institut für Geschichte der Universität Wien, Österreich Andersson, Lars M. – Historiker, Department of History, University of Uppsala, Schweden Baganz, Carina – Historikerin, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Bajohr, Frank – Historiker, Institut für Zeitgeschichte, Zentrum für Holocaut-Studien, München Barbian, Jan-Pieter – Historiker, Direktor der Stadtbibliothek Duisburg Benz, Angelika – Historikerin, Berlin Benz, Wolfgang – Historiker, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Bergmann, Werner – Soziologe, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Bistrovic, Miriam – Historikerin, Leo Baeck Institut New York, Berlin Representative, Berlin Blum, Matthias – Diplom-Pädagoge und Theologe, Potsdam Botsch, Gideon – Politikwissenschaftler, Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Universität Potsdam Braungart, Wolfgang – Literaturwissenschaftler, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld Brumlik, Micha – Erziehungswissenschaftler, Berlin Buser, Verena – Historikerin, Berlin Clarke, Kevin – Musikwissenschaftler, Publizist und Kurator, Operetta Research Center Amsterdam, Amsterdam und Berlin Derval, André – Hauptkurator, Institut Mémoires de l‘édition contemporaine, ParisCaen, Frankreich Distel, Barbara – Historikerin, München Dörner, Bernward – Historiker, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Dolle, Verena – Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Institut für Romanistik, Justus-Liebig-Universität Gießen Drubek, Natascha – Slawistin und Filmwissenschaftlerin, Universität Regensburg Dümling, Albrecht – Musikwissenschaftler, Förderverein musica reanimata, Berlin Ehret, Ramona – Historikerin, Berlin Feuchert, Sascha – Literaturwissenschaftler, Arbeitsstelle Holocaustliteratur, Institut für Germanistik, Justus-Liebig-Universität Gießen
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Autorenverzeichnis
Fromme, Patricia – Studentin der Judaistik und der Spanischen Philologie mit Lateinamerikanistik, Freie Universität Berlin Gebert, Malte – Historiker, Berlin Gerson, Daniel – Historiker, Institut für Judaistik der Universität Bern, Schweiz Gorgis, Saro – Judaistin, Volontärin im Jüdischen Museum Berlin Goßens, Peter – Literaturwissenschaftler, Germanistisches Institut, Sektion für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum Gräfe, Thomas – Historiker, Bad Salzuflen Großegger, Elisabeth – Theater- und Kulturwissenschaftlerin, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien, Österreich Hagemeister, Michael – Historiker, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Hampe, Arnon – Politologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg Hargens, Wanja – Historiker, Programmleiter, Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, Berlin Hausleitner, Mariana – Historikerin, Privatdozentin am Fachbereich Geschichtsund Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin Hördler, Stefan – Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Washington/DC, USA Hüneke, Andreas – Kunsthistoriker, Kunsthistorisches Institut, Forschungsstelle „Entartete Kunst“, Freie Universität Berlin Irmer, Thomas – Politikwissenschaftler, Berlin Jakobi, Carsten – Literaturwissenschaftler, Deutsches Institut, Johannes GutenbergUniversität Mainz Joly, Laurent – Historiker, Centre National de la Recherche Scientifique/Centre de Recherche d’Histoire Quantitative Caen Basse-Normandie, Frankreich Kampling, Rainer – Kirchenhistoriker, Seminar für Katholische Theologie, Freie Universität Berlin Karcher, Nicola – Historikerin, Center for Studies of Holocaust and Religious Minorities, Oslo, Norwegen Keller, Stefan Andreas – Historiker, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich, Schweiz Kendziorek, Piotr – Historiker, Emanuel-Ringelblum Jüdisches Historisches Institut, Warschau, Polen Kirn, Hans-Martin – Kirchenhistoriker, Lehrstuhl für Kirchengeschichte, Groningen, Niederlande Klein, Peter K. – Kunsthistoriker, Universität Tübingen
Autorenverzeichnis
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Knapp, Fritz Peter – Mediävist am Germanistischen Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Koch, René – Bildender Künstler, Theologe, Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin Kopke, Christoph – Politikwissenschaftler, Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam Kretzschmar, Katharina – Historikerin, Doktorandin am Fachbereich Geschichte der Technischen Universität Berlin Krohn, Wiebke – Historikerin, Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Österreich Lange, Matthew – Historiker, Department of Languages and Literatures, University of Wisconsin-Whitewater, USA Langebach, Martin – Soziologe und Sozialpädagoge, Bonn Larndorfer, Peter – Historiker und Lehrer, Wien, Österreich Lévy, Ophir – Filmhistoriker, Université Paris III – Sorbonne Nouvelle, Paris, Frankreich Linsler, Carl – Religions- und Kulturwissenschaftler, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Lorenz, Matthias N. – Kulturwissenschaftler, Institut für Germanistik, Universität Bern, Schweiz Marszałek, Magdalena – Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Institut für Slavistik, Universität Potsdam Mattioli, Aram – Historiker, Kultur- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Historisches Seminar der Universität Luzern, Schweiz Meissel, Lukas – Historiker, Wien, Österreich Mentel, Christian – Historiker, Berlin Meyer-Plantureux, Chantal – Kulturwissenschaftlerin, Université de Caen, Frankreich Nantke, Julia – Literaturwissenschaftlerin, Doktorandin am Fachbereich Allgemeine Literaturwissenschaft, Bergische Universität Wuppertal Neiss, Marion – Historikerin, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Nieter, Kristin – Philologin, Berlin Osterloh, Jörg – Historiker, Fritz Bauer Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt am Main Palandt, Ralf – Kommunikationswissenschaftler, Gesellschaft für Comicforschung (ComFor), München Pape, Christian – Historiker und Politikwissenschaftler, Doktorand am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Österreich
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Autorenverzeichnis
Pasamonik, Didier – Herausgeber, Journalist und Kurator, Paris, Frankreich Paul, Gerhard – Historiker, Institut für Geschichte und ihre Didaktik, Universität Flensburg Peter, Birgit – Medienwissenschaftlerin, Universität Wien, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Wien, Österreich Quinkenstein, Lothar – Germanist, Schriftsteller, Übersetzer, UAM Poznań/Collegium Polonicum, Słubice Raabe, Jan – Sozialpädagoge, Argumente & Kultur gegen Rechts e. V., Bielefeld Rentrop-Koch, Petra – Historikerin, Berlin Richter, Klaus – Historiker, University of Birmingham, Großbritannien Roth, Markus – Historiker und Germanist, Arbeitsstelle Holocaustliteratur, Institut für Germanistik, Justus-Liebig-Universität Gießen Rudorff, Andrea – Historikerin, Berlin Sarhangi, Mohammad – Historiker, Doktorand am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg Schmidt, Michael – Literaturwissenschaftler, Norwegens Arktische Universität Tromsø, Norwegen Schmidt, Monika – Historikerin, Berlin Schoentgen, Marc – Historiker und Lehrer, Diekirch, Luxemburg Schoß, Lisa – Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Humboldt-Universität zu Berlin Schulz, Georg-Michael – Germanist (emeritiert), Institut für Germanistik, Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften, Universität Kassel Solbach, Andreas – Literaturwissenschaftler, Deutsches Institut, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Stutterheim, Kerstin – Filmwissenschaftlerin, Fachbereich Dramaturgie und Ästhetik audiovisueller Medien, Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolf“, Potsdam Teicher, Fabrice – Historiker, Paris, Frankreich Terwey, Susanne – Historikerin, Berlin Thiele, Martina – Filmwissenschaftlerin, Fachbereich Kommunikationswissenschaft, Universität Salzburg, Österreich Thoma, Sebastian – Historiker, Berlin Thurau, Markus – Theologe, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Seminar für Katholische Theologie, Freie Universität Berlin Töllner, Axel – Theologe, Neuere Kirchengeschichte, Universität Erlangen Totok, Wiliam – Journalist, Berlin Trimbur, Dominique – Historiker, Fondation pour la Mémoire de la Shoah, Paris, Frankreich
Autorenverzeichnis
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Trümpi, Fritz – Historiker und Musikwissenschaftler, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik, Wien, Österreich Vetter, Matthias – Historiker, Frankfurt am Main Virchow, Fabian – Sozialwissenschaftler, Fachhochschule Düsseldorf Waibel, Eva – Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin, Wien, Österreich Waldschmidt, Christine – Germanistin, Fachbereich Philosophie und Philologie, Deutsches Institut, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Weigel, Bjoern – Historiker, Kulturprojekte Berlin GmbH, Berlin Wenzel, Mario – Historiker, Berlin Wetzel, Juliane – Historikerin, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Wiesemann, Falk – Historiker, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Wildmann, Daniel – Historiker, Leo Baeck Institut, London, Großbritannien Winter, Renée – Historikerin, Österreichische Mediathek, Wien, Österreich Wohl von Haselberg, Lea – Medienwissenschaftlerin, Universität Hamburg Wolf, Klaus – Germanist, Philologisch-Historische Fakultät, Universität Augsburg Wyrwa, Ulrich – Historiker, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Zoidl, Clemens – Historiker, Musikwissenschaftler, Ernst-Krenek-Institut, Krems, Österreich
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Register der Personen A
B
Abel, Alfred 21 Abendroth, Walter 103 Åberg, Einar 442 Abetz, Otto 239, 240 Ábrahám, Paul 369 Adalbero II. 85 Adler, Guido 329, 330 Adler, H. G. 64, 501 Adorno, Theodor W. 492, 495 Ahlmark, Per 443 Ahlwardt, Hermann 16, 17 Aischylos 547 Aizenberg, Salo 424 Albrecht, Gerd 338, 343 Albrecht, Herbert 536 Alcover, Pierre 20, 21 Alexander, Peter 296 Ali-Akbari, Mohsen 18 Allen, Woody 431 Alpar, Gitta 371 Altaras, Adriana 206 Alten, Jürgen von 345, 346, 468, 498 Althans, Bela Ewald 34, 35, 36, 37, 528 Alverdes, Paul 290 Amann, Max 355 Amann, Oswin 87 Amelunxen, Ludwig von 536 Amira, Karl von 97 Annan, Kofi 185 Antel, Franz 44 Anton, Karl 310, 345 Antonescu, Ion 81, 183, 184, 367, 453 Anzengruber, Ludwig 23 Apitz, Bruno 332, 333 Arafat, Jassir 444 Arendt, Hannah 281, 471 Arndt, Dietrich 260, 475, 538 Arnold, Agnieszka 331, 334, 386 Arnoldus Liberius 202, 527 Arton, Émile 51, 52 Aschberg, Olof 441 Assmann, Aleida 522 Assmann, Arno 419 Astrachan, Dmitri 124, 125, 527 Atkinson, Graeme 528 Augustin, Liane 296 Avenarius, Ferdinand 69, 271, 272 Avi-Shaul, Mordechai 152, 204
Baal, Karin 312 Baberske, Robert 416 Bach, Johann Sebastian 110, 289 Bachofen, Johann Jacob 262 Badoglio, Pietro 284 Baer, Max 340 Bahrs, Ilse 45 Báky, Josef von 278, 417, 418, 419, 420 Balin, Mireille 516 Ballin, Albert 568 Ballin, Carl 568, 569 Ballin, Ruth Manton 568 Ballmann, Herbert 395, 562 Balzac, Honoré de 121, 516 Barbie, Klaus 174, 175 Barmat, Henri 250, 251 Barmat, Julius 250, 251 Barsony, Rosy (Rose) 338, 371 Bartels, Adolf 68, 69, 237, 238, 239, 271, 272 Bassani, Giorgio 132, 133 Battegay, Caspar 485 Bauman, Zygmunt 265 Baumann, Anton 22 Baur, Harry 62 Baur, Samuel 131, 202 Baur, Wilhelm 355 Becher, Johannes R. 238 Becher, Kurt A. 278, 279, 280, 281 Becher, Ulrich 42, 43 Becker, Carl Heinrich 270 Becker, Israel 276, 277, 278 Becker, Jurek 188, 189, 501, 562 Becker, Lutz 301, 302 Beckermann, Ruth 533 Bedürftig, Friedemann 54 Begin, Menachem 444 Beheim, Michel 58, 59 Behn-Grund, Friedl 90 Beidler, Franz 452 Beismann, Otto 536 Bejarano, Esther 528 Bélières, Léon 12 Belling, Curt 120, 337, 338 Belloc, Hillaire 118 Ben Elizer, Moshe 274 Benatzky, Ralph 369 Benchimol, Abraham 242 Bendemann, Eduard 550
578
Register der Personen
Benjamin, Walter 32, 214, 492 Berdyczewski, Micha J. 540 Berg, Armin 288, 460 Berg, Jimmy 235 Berg, Leo 261 Berger, Ludwig 338 Berghaus, Jann 47 Berghof, Herbert 289 Berkéwicz, Ulla 490 Berkowitz, Dora 276 Berna, Emil 283 Bernhard, Thomas 157, 158, 159 Benhardin von Feltre 294 Bernstein, Henry 241 Bernstein, Sidney 497 Berossi, Viktor 234 Berrie, Claude 431 Berté, Heinrich 369 Betlejewski, Rafał 517, 518 Bettauer, Hugo 394, 466, 467, 468 Betz, Hans-Walther 120 Beumelburg, Werner 290 Bewer, Karl 261 Bewer, Max 70, 71, 135, 136 Beyer, Frank 189, 333, 501, 562 Bialik, Chaim Nachman 234 Biermann, Wolf 28, 37, 188, 216 Bikont, Anna 334 Billon, Pierre 20, 21, 513 Binding, Rudolf G. 290, 291 Biren, Louis 555, 556, 557 Birgel, Willy 348, 558, 560 Bischoff, Friedrich 290 Bismarck, Otto von 16, 17 Blacher, Boris 236 Blarr, Gottlieb 194, 206 Blech, Hans-Christian 5 Blei, Franz 546 Blessinger, Karl 331 Bloem, Walter 290, 354 Błoński, Jan 24, 38, 39 Blum, Léon 229, 241 Blum, Robert 283 Blume, Friedrich 102 Bobrowski, Johannes 286, 287 Bodemann, Y. Michal 428 Böckel, Otto 526 Böhm, Max 548 Böhm, Maxi 461 Böhme, Herbert 291 Böhmer, Bernhard A. 352 Böll, Heinrich 170, 382
Boetticher, Wolfgang 330 Bogsrud, Thorvald 94, 363 Bogucka, Teresa 553 Bois, Curt 46 Bolkestein, Gerrit 13 Bomba, Abraham 454 Bonengel, Winfried 34, 35, 36, 37 Bor, Josef 64, 490 Borodajkewycz, Taras 549 Borsche, Dieter 536 Bosch, Rose 398, 514 Bowles, Sally 369 Brafmann, Jakow 76 Brake, Peter 517 Brand, Friedrich 102 Brand, Matthias 80 Braun, Harald 558, 559, 560 Brauner, Artur 124, 126, 318, 319, 320, 420 Braungart, Wolfgang 27, 28 Brecht, Bertolt 2, 28, 31, 32, 33, 91, 128, 129, 156, 236, 283, 421, 422, 521 Breen, Joseph 166 Brehm, Bruno 290, 291 Breitner, Hugo 235 Breker, Arno 517 Brem, Beppo 517 Brentano, Clemens 140, 141, 142, 143 Brinkmann, Hennig 222 Brittloppen, Ursula von 544 Brodský, Vlastimil 500, 501 Bronner, Gerhard 295, 296, 461, 548 Broszat, Martin 170, 530 Bruckner, Ferdinand 399, 400 Brühl, Carl Graf von 510 Brunngraber, Rudolf 394 Brusto, Max 285 Bry, Curt 289 Brynych, Zbynĕk 499, 500, 501, 502 Bubert, Walter 47 Bubis, Ignatz 37, 103, 104, 105, 275, 326, 401, 491 Bucharin, Nikolaj 148 Buchholz, Gerhard T. 415 Buchholz, Karl 352 Buchsbaum, Max 438 Bühlau, Friedrich 203, 548 Burte, Hermann 544, 545, 546 Busch, Wilhelm 126, 127, 382, 383
C Caesar 458 Cała, Alina 389
Register der Personen Cam, Maurice 82, 513 Cantarini, Giorgio 523 Capolicchio, Lino 132 Caran d’Ache 51, 52, 122 Carossa, Hans 290 Carstens, Lina 418, 419 Cartier, Roger 13 Casparson, Wilhelm Johann 202, 278 Castorf, Frank 252 Cayrol, Jean 366 Cebotari, Maria 368 Celan, Paul 33, 60, 367, 482, 493, 494, 495 Céline, Louis-Ferdinand 29, 30 Chack, Paul 240 Chamberlain, Houston Stewart 68, 70 Chaplin, Charlie 144, 145, 146, 148, 523 Charell, Erik 338, 339, 369, 371 Chatham, Gösta 440 Chaucer, Geoffrey 49, 50, 51 Chesterton, Gilbert K. 118, 119 Chodakiewicz, Marek Jan 474 Chomsky, Marvin 167, 431 Chorin, Ferenc 278, 280 Christophersen, Thies 528, 529 Churchill, Winston 81 Cioran, Emil 453 Clare, George 34, 480, 481 Clarin, Hans 419 Clarke, Kevin 358 Claudius, Hermann 290, 291 Cohen, Hermann 69 Cohen, Leonard 410 Cohen, Simon 424 Cole, Robert William 63, 64 Copeau, Jacques 516 Corrinth, Curt 561 Corti, Axel 9, 10, 531, 532, 533, 547 Costantini, Pierre 240 Coughlin, Charles 165 Craig, Ryan 335 Croci, Pascal 27, 54 Čuřík, Jan 502 Cyrus, Miley 411, 412
D Daghani, Arnold 59, 60, 148, 278, 480 Dahl, Willy 363 Dahlke, Paul 276, 517 Danckert, Werner 330 Dannecker, Theodor 240 Danquart, Pepe 431 Danzig, Mai 125
Darquier de Pellepoix, Louis 240, 241 Darwin, Charles 522 Dehmel, Richard 546 Delacroix, Eugène 233, 242, 243 Delannoy, Jean 515, 516, 517 Delon, Alain 514 Deloncle, Eugène 240 Derleth, Ludwig 262 Dessau, Paul 235, 236 Deutsch, Ernst 204, 395 Devrient, Ludwig 509 Dibelius, Otto 472 Dickens, Charles 121, 384 Dickstein, Leopold 234 Dierichs, Otto 25, 562 Dieudonné M’bala M’bala 18, 19, 20 Dinkelsbühl, Nikolaus von 58 Dinter, Artur 269 Disney, Walt 401, 436 Disraeli, Benjamin 77 Divéky, József von 255 Dodalová, Irena 489 Döblin, Alfred 354 Dönhoff, Marion Gräfin 170 Dönitz, Karl 302 Dohm, Christian Wilhelm 457 Dohnányi, Christoph von 236 Dohnányi, Klaus von 104 Donaldson, Ian Stuart 402 Donskoj, Mark 500 Dorat, Charles 62 Doré, Gustave 282, 283, 441 Dorian, Emil 81, 82, 243, 395, 480 Dorn, Eugen 460 Dostal, Nico 370 Dostojewski, Fjodor 75, 76, 77, 78 Drewes, Heinz 357 Drews, Jörg 317, 318 Dreyfus, Alfred 82, 83, 119, 122, 220, 425 Dreyfus, Lucy 83 Dreyfuß, Nelly 558, 559, 560 Droste-Hülshoff, Annette von 217, 218 Drucker, Paul 424 Drumont, Édouard 52 Dürrenmatt, Friedrich 45 Dulk, Albert Leo 193, 203 Dullin, Charles 511, 512 Dumas, Alexandre (d.J.) 445 Duvivier, Julien 62, 512 Dwinger, Edwin Erich 290, 291 Dylan, Bob 409, 410 Dziwisz, Stanisław 474
579
580
Register der Personen
E Eberle, Adam 550 Ebersberg, Ottokar Franz 23, 479 Eddis, F. E. 486, 487 Edthofer, Alfred 288 Eggebrecht, Axel 520 Ehre, Ida 180, 181 Ehrenthal, Peter 424, 425 Eichmann, Adolf 1, 91, 276, 278, 279, 280, 281, 468, 469, 501, 530, 562 Eimert, Herbert 237 Einstein, Albert 129, 285 Einstein, Alfred 329, 330 Eisler, Hanns 32, 366, 421 Eisner, Will 53, 54, 261, 384, 385 Eje, Anders 446 Elgström, Ossian 440 Eliade, Mircea 453 Elwenspoek, Curt 194, 205 Emo, E. W. 350, 542 Engel, Erich 2, 3, 4 Engel, Tobias 566 Engström, Albert 440 Ensslin, Christiane 32, 33 Ensslin, Gudrun 32 Erhardt, Hermann 156 Ericsson, Gustaf 448, 449 Eschenbach, Wolfram von 459 Estrada, Ezequiel Martínez 248
F Fabricius, Hintz 84 Färberböck, Max 432 Fain, Sammy 372 Falkenstein, Julius 338 Fall, Leo 369 Farkas, Karl 288, 460, 461 Farocki, Harun 521 Fassbinder, Rainer Werner 105, 323, 324, 325, 326 Faurisson, Robert 19, 185, 322 Fechter, Paul 290 Feinberg, Anat 206 Feld, Rudi 338 Fellerer, Karl Gustav 330 Ferrat, Jean 409, 410 Fest, Joachim 170, 325 Feuchtwanger, Lion 137, 138, 193, 203, 204, 205, 206, 355 Fili, Kalliniki 531 Finck, Werner 245 Finkelstein, Gideon 424, 425
Fips → Ruprecht, Philipp Johann Fischer, Horst 562 Fischer, Jacob 276 Fischer, Theodor 354 Fischer, Wilhelm 329 Fjeld, Jonas 363 Flavius Josephus 550 Florath, Albert 416 Föttinger, Herbert 162 Folz, Hans 52, 115, 117, 118, 121, 152, 153, 239, 365, 412, 530 Fontane, Theodor 545 Forain, Jean-Louis 122 Forain, Louis-Henri 122 Ford, Aleksander 500 Ford, Henry 165, 247 Forèsti, Giacomo Filippo 433, 434 Francesco II. Gonzaga 294 Franck, Arnold 90, 345 Frank, Anne 13, 14, 15, 55, 480 Frank, Margot 13 Frank, Otto 14 Frank, Rudolf 266, 267, 543 Franke, Manfred 316, 317, 318 Franz Joseph I. 22 Fredersdorf, Herbert B. 276, 277 Fredersen, Joh 21 Frenzel, Elisabeth 221, 222, 223 Frenzel, Herbert A. 222 Freud, Sigmund 71, 265, 522 Freytag, Gustav 176, 192, 462, 463, 464, 545 Frich, Øvre Richter 363 Frick, Peter 548 Fried, Erich 173 Friedell, Egon 460, 461 Friedl, Franz R. 110 Friedland, Max 339 Friedlaender, Salomo (Pseudonym: Mynona) 373, 374 Friedländer, Saul 72, 73, 345 Friedrich III. 96, 434 Friedrich Wilhelm IV. 549 Friml, Rudolf 369 Frisch, Max 10, 11 Fritsch, Theodor 70, 123, 124, 544, 545, 546 Fromas-Gužutis, Aleksandras 293 Fuchs, Eduard 15, 214, 215 Fühmann, Franz 216 Fulda, Ludwig 354 Furtwängler, Wilhelm 359, 480, 481, 482
Register der Personen G Gainsbourg, Serge 410 Gallwitz, Tim 90 Gálvez, Manuel 246 Garaudy, Roger 19 Garbo, Greta 394 Garreisen, Christoph 414 Gaszyński, Konstanty 361 Gavras, Costa 473 Gay, Peter 382 Gaynor, Gloria 411 Geiger, Ludwig 540 George, J. R. 206 George, Stefan 262 Gerber, Barbara 194, 206 Gerber, Rudolf 330 Gerhardt, Oskar 194, 205 Gerhold, Franz Josef 130 Gerigk, Herbert 103, 330, 359, 360 Gerlach, Jens 236 Gerron, Kurt 245, 339, 488, 489, 490, 500 Gerstetter, Avitall 409 Geschonneck, Erwin 180 Ghent, Joos van 56, 308 Giehse, Therese 32, 283, 380, 381 Gies, Miep 14 Giesecke, Michael 28 Giesen, Heinrich 245 Gillain, Joseph 122 Giller, Walter 412, 413 Giordano, Ralph 198, 529 Giovanni Mattia Tiberino 433, 434 Glagau, Otto 5, 6, 7, 97 Glanert, Detlev 194, 206 Glasunow, Ilja 148, 149 Gleim, Johann Ludwig 28 Globke, Hans 562 Głuchowski, Piotr 552 Glück, Wolfgang 566, 567 Gobineau, Arthur de 544 Goebbels, Joseph 72, 73, 83, 100, 102, 107, 108, 124, 155, 199, 200, 244, 251,291, 303, 312, 313, 338, 340, 341, 343, 352, 355, 356, 357, 358, 359, 415, 449, 481,536 Goerdeler, Carl Friedrich 303 Göring, Hermann 145, 299, 312, 346, 353, 357, 481 Görres, Guido 551 Görres, Johann Joseph 551 Goethe, Johann Wolfgang 23, 111, 112, 113, 495, 540 Goldblatt, Charles 62
581
Goldhagen, Daniel Jonah 170 Goldstein, Marek 276, 277 Goldstein, Moritz 68, 69, 70 Goll, Claire 495 Golovinski, Mathieu 385 Goltz, Joachim von der 290 Goral-Sternheim, Arie 268 Gottschalk, Joachim 89, 341 Gottschalk, Meta 89 Gourfinkel, Nina 61 Grabenhorst, Georg 290 Graener, Paul 102 Graetz, Fritz 17 Graevenitz, Wilhelmine von 205 Gran, Øyulv 363 Granichstaedten, Bruno 369 Graser, Jörg 1, 2 Greven, Alfred 199 Gridoux, Lucas 512 Griebitzsch, Herbert 536 Griesinger, Theodor 193, 203 Grillparzer, Franz 23 Grimm, Hans 290, 291 Grimm, Holle 291 Grimm, Jacob 208, 209, 210 Grimm, Wilhelm 208, 209, 210 Gringauz, Samuel 278 Gross, Jan Tomasz 13, 39, 143, 331, 334, 386, 388, 426, 427, 474, 552 Gross, Walter 245 Grundzińska-Gross, Irena 143, 552 Grünbaum, Fritz 244, 288, 460, 461 Grünewald, Isaac 441 Grynberg, Abram 387 Grynberg, Henryk 387 Gümbel, Annette 291 Günther, Egon 562 Günther, Hans 489 Gurlitt, Hildebrand 352, 566 Gylseth, Christopher Hals 363
H Haake, Rudolf 303 Haasis, Hellmut G. 194, 206 Habermas, Jürgen 490 Habjan, Nikolaus 162 Haenel, Günther 42 Häsler, Alfred A. 44 Häußler, Johannes 73 Hagen, Peter 123, 345, 349 Haider, Jörg 159, 567 Halbert, Abraham 266
582
Register der Personen
Halévy, Jacques F. 282 Haller, Hermann 369, 371 Haller, Risa 288 Hamik, Anton 62 Hammenhög, Waldemar 447 Hammerschlag, Peter 288, 289 Haney, Wolfgang 424 Hanich, Bruno 41 Hansen, Haye W. → Hansen, Walter Hansen, Walter 225, 226 Harden, Maximilian 164, 165 Hardenberg, Karl August von 510 Harfouch, Corinna 429 Harlan, Thomas 199 Harlan, Veit 89, 150, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 204, 205, 206, 341,346, 347 Hart, Lorenz 372 Hartmann, Karl Amadeus 236 Harwood, Ronald 480, 481, 482 Hasler, Joachim 52, 562 Hasselbach, Ingo 34 Hastings, Derek 136 Hauff, Wilhelm 193, 202, 203, 206 Hauser, Otto 238 Hayn, Hugo 203 Hedin, Sven 441 Heesters, Johannes 370, 371, 373, 536 Heiden, Konrad 360, 385, 386 Heine, Heinrich 395, 396, 397, 398, 495 Heine, Thomas Theodor 460 Heintze, Gustav 288 Heintze, Oskar 288 Heise, Thorsten 403 Heisig, Heinz B. 89 Held, Martin 412 Helfenstein, Walter 124 Hellberg, Ruth 156 Helling, Hermann 2 Henning, Magnus 380 Henselmann, Josef 87 Henze, Hans Werner 236 L‘Herbier, Marcel 20, 21 Herbig, Heinz 283, 347 Herdlicka, Theodor 23 Hergé (Georges Prosper Remi) 121 Herz, Cornelius 51 Herzl, Theodor 24, 93, 144 Heuss, Theodor 546 Heydrich, Reinhard 35, 168, 500, 530, 531 Heymann, Werner Richard 338, 369 Hilberg, Raul 454 Hillebrand, Elmar 88
Hillersberg, Lars 443, 444 Himmler, Heinrich 35, 278, 279, 281, 342, 505, 547 Hindemith, Paul 102, 359 Hindenburg, Paul von 4, 114 Hinkel, Hans 145, 340, 354, 356 Hinkel, Joern 206 Hinz, Werner 180 Hipp, Emil 303 Hippel, Theodor Gottlieb 254 Hippler, Fritz 107, 108, 109, 110, 199, 341, 344, 505 Hirsch, Isaak 441 Hirt, August 469 Hitchcock, Alfred 497 Hitler, Adolf 30, 32, 33, 40, 54, 73, 74, 92, 100, 101, 107, 108, 109, 137, 138, 145, 156, 161, 170, 182, 184, 237, 258, 259, 263, 268, 269, 283, 291, 298, 299, 300, 303, 307, 312, 314, 327, 337, 338, 345, 346, 351, 353, 379, 380, 385, 386, 409, 421, 431, 444, 449, 465, 469, 470, 481, 483, 488, 491, 492, 504, 505, 514, 529, 546, 549, 558 Hobsbawm, Eric 98 Hochdorf, Max 450, 451 Hochhuth, Rolf 468, 469, 470, 471, 472, 473 Hömberg, Hans 194, 206 Hörbiger, Attila 155, 156 Hofer, Johanna 418, 419 Hoffmann, E.T.A. 254, 255, 256 Hoffmann, Paul 418, 419 Hogstad, Øyvind 363 Holecek, Heinz 548 Holitscher, Arthur 355 Hollaender, Friedrich 244 Hollender, Barbara 388 Holz, Klaus 104 Hornbostel, Erich von 329 Horvath, Ödön von 283 Hoy, John 283 Hubalek, Claus 91 Hudec, Dušan 306, 307, 308 Hürlimann, Hans 46 Hugh of Lincoln (Hugh von Lincoln) 50 Hugon, André 11, 12, 175, 287, 295, 316 Hultman, Axel 446 Hurdalek, Georg 413
I Imhoff, Fritz 42 Imhoof, Markus 44, 45, 46 Ionescu, Nae 452, 453
Register der Personen Irving, David 35, 321, 322, 529 Isherwood, Christopher 369 Itzenplitz, Eberhard 310, 311, 312 Iwanowitsch, Dmitri (Zarewitsch) 149
J Jacobowski, Ludwig 539, 540 Jacobsen, Wolfgang 395 Jacoby, Jessica 199 Jacquot, Michel 240 Jaeger, Malte 199 Jahn, Friedrich Ludwig 291 Jahn, Moritz 290 Jakubowska, Wanda 366, 500 Jakubowski, Jackie 443 Jarmusch, Jim 523 Jarno, Georg 369 Jason, Alexander 338 Jelin, David 276 Jelusich, Mirko 415 Jens, Inge 490 Jens, Walter 490, 493 Jessel, Leon 369 Jeßner, Leopold 204 Jijé 122 Johann von Gischala 550 Johannes Hinderbach 364 Johannes Rothut 26 John, Eckhard 359 John, Gottfried 312 Johnson, Uwe 186, 187 Johst, Hanns 354 Jolin, Jonas 445 Joly, Maurice 384 Jonilowicz, Jakub 276 Jünger, Ernst 513 Juhn, Erich 235 Jung, Curt 234 Jung, Moriz 17 Jupé, Walter 279 Jurowski, Jakow (Jankel) 148
K Kachyna, Karel 431 Kadár, Ján 500 Kadelbach, Philipp 333, 432 Kadmon, Stella 288 Käutner, Helmut 179, 180, 181, 182, 431, 437, 438 Kaftan, Simon Chaijm 250, 251 Kaganowitsch, Lasar 148 Kaiser Konstantin 26
583
Kaiser, Georg 238 Kaiser, Joachim 490 Kalenbach, Dieter 54 Kalina, Józef 388 Kálmán, Emmerich 368, 369, 370, 372 Kamenew, Lew 148 Karalus, Paul 169 Karl Alexander von Württemberg 194, 195, 197, 201 Karski, Jan 454, 455 Karstadt, Liesl 245 Kaskeline, Friedrich 17 Kasztner, Rudolf 279, 280, 281 Katin, Miriam 1, 53 Kattnigg, Rudolf 371 Katz, Dana E. 309 Kaul, Karl 279 Kaulbach, Wilhelm von 375, 549, 550, 551 Kazan, Elia 431 Kegel, Herbert 236 Kellermann, Bernhard 506 Kellner, Friedrich 252, 253, 254, 480 Kelsen, Hans 549 Keneally, Thomas 435 Kernmayr, Erich 291 Kerr, Alfred 354, 355 Kilb, Andreas 436 Killinger, Manfred von 270 Kirchhoff, Fritz 111, 345 Kisch, Egon Erwin 355 Kishon, Ephraim 169 Kissinger, Henry 443 Klages, Ludwig 71, 262, 263, 264, 265 Klarsfeld, Beate 175, 302 Klarsfeld, Serge 302 Klassert, Adam 94, 95 Kleiman, Jo 13 Klein, Franz Eugen 288 Kleinert, Andreas 432 Kleist, Heinrich 22, 23 Kleist, Peter 291 Klement, Friedrich 536 Klemperer, Victor 252, 253, 257, 258, 259, 432, 453, 480 Klemperer, Wilhelm 257 Kling, Anja 125 Kliouka-Schafer, Alla 125 Klöss, Erhard 169 Klos, Elmar 500 Klotz, Volker 372 Knef, Hildegard 559 Knilli, Friedrich 206
584
Register der Personen
Knittel, Johannes 295, 562 Knittel, Kurt 535, 536 Koberger, Anton 432, 433 Koch, Franz 276 Koch, Gerd 292 Kochanowski, Erich 354 Koebner, Thomas 92 Köhn, C. M. 415 Königsgarten, Hugo F. 235, 288 Körber, Maria 198, 199 Kogon, Eugen 170 Kohl, Helmut 326, 472 Kohlhaase, Wolfgang 562 Kohn, Adolek 411 Kohn, Salomon 90, 203 Kohout, Pavel 482, 483 Kolditz, Stefan 333 Koll, Kilian 290 Konrad III. 458 Konstantin der Große 25 Koplowitz, Jan 44, 171, 173, 249 Koppl, Walter 89 Korène, Véra 516 Kornfeld, Paul 194, 204, 206 Kortner, Fritz 79, 80, 83, 417, 418, 419, 420 Kowa, Viktor de 558, 560 Kowalski, Marcin 552 Kramer, Gerhard 199 Kraner, Cissy 461 Krasiński, Zygmunt 360, 361 Kratzsch, Gerhard 272 Kraus, Karl 22, 93, 159, Krauß, Werner 196, 348, 457, 458 Krebs, Friedrich 102 Kreidl, Ernst 259 Kreisler, Georg 296 Kremer, Hannes 28 Krenek, Ernst 102 Kretzer, Max 518, 519 Kreuder, Peter 371 Kreuger, Ivar 448, 449 Kreuger, Torsten 448 Kroner, Theodor 203 Kubert, Joe 54, 548 Kuchinke, Norbert 149 Kühn, Regine 429 Kühn, Siegfried 428, 429, 430, 431 Kühnen, Michael 527, 528, 529 Külb, Karl Georg 277 Künneke, Eduard 369, 370 Kürer, Vilma 235 Küssel, Gottfried 528
Kugler, Victor 13 Kuhlmann, Carl 416 Kun, Béla 148, 512 Kunert, Günter 562 Kunert, Joachim 428, 562 Kurfürst Karl Philipp 201 Kutisker, Iwan 250, 251
L Lach, Robert 329 Lacroix, Paul 282 Laemmle, Carl 329 Lambricht, René 111 Lamy, Charles 12 Landowska, Wanda 103 Langbehn, Julius 135, 136, 264, 272, 544 Langen, Albert 177, 290, 460 Langenstein, Heinrich von 58 Langhoff, Wolfgang 283 Langmuir, Gavin 220 Lanzmann, Claude 90, 175, 249, 283, 436, 454, 455, 462 Lauck, Gary 528, 530 Laville, Charles 240 Le Pen, Jean-Marie 149 Le Queux, William 146, 147, 148 Legrand, Maurice Étienne (Franc-Nohain) 61 Lehmann, Marcus 27, 203 Leiser, Erwin 42, 298, 299, 300, 310, 311, 312 Lenin, Wladimir 122, 148 Lenz, Max Werner 381 Leopold, Georg 333, 334 Lerner, Yehuda 455 Lessing, Gotthold Ephraim 113, 137, 142, 211, 212, 213, 222, 223, 237, 335, 336, 337, 457, 502, 503, 566 Lessing, Theodor 263 Leuchter, Carolyn 321 Leuchter, Fred A. 320, 321, 322 Ley, Robert 114, 357 Lie, Jonas 363 Liebehenschel, Arthur 535 Liebeneiner, Wolfgang 42, 341, 346 Liebermann, Max 563, 564, 565, 566 Liebermann von Sonnenberg, Max 17 Lieck, Walter 245 Liehm, Antonín J. 500 Lienhard, Friedrich 69, 554 Lieser, Kurt 412 Lindeperg, Sylvie 514 Lindtberg, Leopold 45, 283, 284 Lingen, Theo 341
Register der Personen Lippert, Julius 123 List, Guido 22 Littell, Jonathan 39, 547 Litwina, Berta 276 Löffler, Sigrid 436 Löwenstein, Lázló 520 Loewy, Hanno 346, 437, 500, 501 Loos, Lina 460 Lorre, Peter 345, 520, 521 Lortzing, Albert 370, 372 Losey, Joseph 316, 514 Łoziński, Paweł 306, 387, 388 Lubitsch, Ernst 431 Ludendorff, Erich 465 Luderer, Wolfgang 278, 279, 280, 281, 527, 562 Ludwig I. 549 Ludwig, Eberhard 205 Ludwig, Emil 355 Lüders, Günther 245 Lueger, Karl 16, 17, 22, 23, 350 Lüttig-Niese, Elisabeth 221 Lugné-Poë, Aurélien 62 Lustig, Arnošt 362, 500 Lutze, Viktor 505 Luxemburg, Rosa 148 Lys, Gunther Reinhold 91
M Machiavelli 212, 384 Mackh, Kurt 295 Mackh, Marietta 295 Macrae, Grant 568, 569 Maetzig, Kurt 89, 90, 431 Magall, Miriam 485 Mahler, Gustav 330, 331 Mallinger, Thomas 96 Mamroth, Paul 341 Mann, Erika 244, 380, 381 Mann, Golo 382 Mann, Heinrich 177, 178, 179, 386, 554 Mann, Klaus 138, 381 Mann, Thomas 265, 380, 545 Mantegna, Andrea 294, 295 Margry, Karel 489 Marian, Ferdinand 196, 197, 200, 348 Markus, Winnie 180, 560 Marlow, Christopher 211, 212, 306 Marquès-Rivière, Jean 240 Marschall Pétain 514 Martini, Louise 296 Marx, Karl 148, 212, 214
585
Massias, Salomon 21 Mattern, Kitty 235 Matulionis, Povilas 293 Mauser, Max 363 Maxentius 25, 26 Maximilian I. 95 May, Gisela 32 May, Paul 83, 84 McClure, Robert A. 497 Mechow, Karl Benno von 290 Mecklenburg, Norbert 218 Meerbaum-Eisinger, Selma 60 Mehring, Walter 235, 249, 250, 251, 306, 327, 328, 521, 522 Meier, Moritz 94 Meinhart, Roderich 260, 475, 542 Meinvielle, Julio 248 Meißel, Inge 412 Melles, Sunnyi 566 Mencken, Henry Louis 269 Mendelssohn, Moses 335, 502 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 302, 303, 304, 330, 331, 358, 405 Mendes, Lothar 192, 204 Mengele, Josef 469 Menuhin, Yehudi 302 Méré, Charles 516 Merkatz, Karl 44 Merz, Carl 159, 160, 161, 296 Metzger, Jacob 96, 97 Meydam, Wilhelm 341 Meyerbeer, Giacomo 329, 331 Meyerinck, Hubert von 416, 517 Michaelis, Johann David 213 Michel, Henri 365, 366 Mihaileanu, Radu 498, 499, 553 Mihalesco, Alexandre 21 Milhaud, Darius 103 Miłosz, Czesław 38, 49, 90 Milva 32 Minelli, Liza 369 Minetti, Bernhard 416 Minkin, Adolf 393 Mitrani, Michel 151, 513 Mitscherlich, Alexander 302 Mitscherlich, Margarete 37, 302 Mittler, Franz 235 Mjölnir → Schweitzer, Hans Mock, Alois 159 Modiano, Patrick 241 Möllemann, Jürgen 490 Möller, Felix 199, 200, 201
586
Register der Personen
Möller, Ferdinand 352 Moeschlin, Felix 450, 451 Moissi, Alexander 276 Moissi, Bettina 180, 276 Molo, Walter von 238 Mombert, Felix 354 Monk, Egon 90, 91, 92 Montandon, Georges 240 Montefeltro, Federico da 308 Montmartin, Friedrich Samuel Graf von 205 Morgan, Paul 244, 460, 461 Morgan, Steve 340 Morgenstern, Hans → Schubert, Hans Morris, Errol 320, 321, 322 Morrison, Ewart G. 283 Moser, Hans 341 Mostar, Gerhart Herrmann 289 Moualek, Ahmed 19 Moulin, Jean 174 Mourenin, Tobias 208 Müller, Baal 265 Müller, Erika 319 Müller, Johannes 416 Müller, Manfred 66 Müller-Blattaus, Joseph 330 Müller-Guttenbrunn, Adam 22, 23, 130, 131, 260, 475, 538, 542 Müller-Guttenbrunn, Roderich 260, 261, 475, 476, 538, 539, 542, 543 Müller-Stahl, Armin 312, 333 Münch, Hans 528 Müthel, Lothar 457 Muir, Edwin 204 Muir, Willa 204 Muliar, Fritz 296 Munder, Johann Gottlieb 140, 203 Munro, Hector Hugh (Saki) 541 Murmelstein, Benjamin 455, 500, 501 Murphy, Michael 419 Murphy, Rosemary 419 Musiał, Stanisław 389
N Naef, Karl 450, 451 Nannen, Henri 170 Napoleon III. 384 Natan, Bernard 241 Nauckhoff, Rolf von 83 Nazarov, Gennadi 125 Nebenzahl, Seymour 341 Nedden, Otto zur 101, 102 Nĕmeček, Jiři 500
Némirovsky, Irène 61, 62 Nero 263 Nestroy, Johann Nepomuk Eduard Ambrosius 232, 233 Nestroy, Johannes 232 Nestroy, Maria Magdalena 232 Neubauer, Harald 528 Neuberg, Erich 159, 161 Neumann, Alfred 235 Neumann, Carl 120 Neusser, Erich von 339 Nicolaescu, Sergiu 13, 183 Niehoff, Karena 199 Niekisch, Ernst 268, 269 Nielsen, Asta 394 Nielsen, Hans 180 Nietzsche, Friedrich 69, 71, 262, 265, 521, 544, 546 Nikolaus II. 148 Nikolaus von Lyra 434 Nitribitt, Rosemarie 325 Niziołek, Grzegorz 335 Nobbe, Ernst 102 Nobbe, Jens Uwe 290 Nordau, Max 78, 79 Norlander, Emil 446 Norsa, Daniele da 294, 295 Noth, Harald 546 Novello, Ivor 372 Nozière 61, 62
O Oberländer, Theodor 562 Öser, Irmhart 58 Oeser, Rudolf Ludwig 525, 526 Ofenheim, Viktor von 23 Offenbach, Jacques 368, 371 Oldenbourg, Friedrich 355 Omar, Fathallah 24, 75 Ophüls, Marcel 52, 174, 175, 301, 302, 515 Ophüls, Max 174, 360, 466 Oppenheimer, Joseph Süßkind 194, 195, 196, 197, 198, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 348, Oppenheimer, Joshua 2, 170 Orthofer, Peter 548 Ortner, Eugen 205 Ossietzky, Carl von 354 Osthoff, Wolfgang 330 Oswald, Richard 82, 83 Otto V., Markgraf 154
Register der Personen P Pabst, Georg Wilhelm (G. W.) 83, 84, 346, 350, 377, 393, 394, 395 Pacelli, Eugenio 469, 470 Pacino, Al 458 Pamphilius Gengenbach 95 Panizza, Oskar 373, 374, 375, 376 Papst Silvester 459 Paquet-Brenner, Gilles 94, 515 Parvus-Helphand, Alexander 148 Paryla, Nikolaus 485 Pasikowski, Władysław 331, 386, 387, 388, 427 Paul VI. 472 Paxton, Robert O. 515 Pečený, Karel 489 Pecht, Friedrich 565 Pečkauskaitė, Marija 293 Pelt, Robert Jan van 321, 322 Péron, René 240 Petersen, Julius 222 Petkevičaitė, Gabrielė 293 Petrus Alfonsi 433, 434 Petrus Nigri 152 Petzold, Konrad 192, 562 Peukert, Detlev 265 Peymann, Claus 159 Pezzetti, Marcello 524 Pfahl-Traughber, Armin 530 Pfefferman, Naomi 321 Pflegerl, Dietmar 43, 44 Philipp der Schöne 117 Piccolomini, Enea Silvio 433, 434 Pichard, Françoise 185 Pilamm (Pierre Lamblot) 121, 122 Pilz, Eva 548 Pinochet, Augusto 514 Piscator, Erwin 249, 250, 251, 458, 468 Pius XII. 469, 471, 472, 473 Platon 418 Pleyer, Wilhelm 291 Pohl, Klaus 194, 206 Pohl, Witta 312 Poiré, Émmanuel 51, 122 Polenz, Wilhelm von 48, 49 Poligny, Serge de 511 Pommer, Eric (Erich) 276, 338 Ponto, Erich 416, 560 Popesco, Elvire 512 Porten, Henny 341 Posse, Hans 353 Poumier, María 19
587
Prachař, Ilja 501 Prawer, Siegbert Salomon 82, 83 Preminger, Otto 471 Preses, Peter 42, 43 Presser, Otto 234 Prevôt, Karol de 389 Prieberg, Fred K. 358 Prümm, Karl 92 Pütz, Peter 11 Pundzevičius, Petras 293 Puschkin, Alexander 77
Q Qualtinger, Helmut 159, 160, 161, 162, 296 Quinn, Freddy 28
R Raabe, Peter 102, 357 Raabe, Wilhelm 176, 177 Rabenalt, Arthur Maria 348, 405 Raddatz, Carl 156, 180 Radek, Karl 148 Radford, Michael 458 Radok, Alfréd 500 Raeder, Gustav 407 Rahm, Karl 489 Raimund, Ferdinand 23 Rami, Ahmed 442, 443 Ramírez, Pedro 246 Řanda, Čestmír 500 Rappaport, Herbert 393 Rathenau, Emil 164 Rathenau, Walther 3, 164, 165, 203, 225, 546 Raymond, Fred 370 Reagan, Ray 283 Reagan, Ronald 326 Rebatet, Lucien (Vinneuil, François) 62, 511 Redini, Fra Girolamo 295 Regener, Michael 275 Regnier, Charles 419 Rehak, Bruno 40, 41 Reich-Ranicki, Marcel 37, 490, 491, 492 Reich-Ranicki, Theophila 490 Reichenbaum, Arthur 234 Reinach, Jacques de 51, 52 Reinecke, Stefan 529 Reinhardt, Max 457, 536 Reinheimer, Max 251 Reinhold, Annelies 84 Reisch, Walter 338 Remchingen, Franz Joseph von 194, 196 Remer, Otto Ernst 528
588
Register der Personen
Resnais, Alain 169, 331, 365, 366, 514 Reventlow, Fanny zu 262 Rezzori, Gregor von 300, 301 Richard-Willm, Pierre 21 Richter, Roland Suso 432 Ridley, Florence H. 51 Riefenstahl, Leni 124, 276, 299, 321, 366, 504, 505 Riegelhaupt, Kurt 234 Riehl, Wilhelm Heinrich 526 Riek, Gustav 535 Rilke, Rainer Maria 33 Rinn, Hermann 272 Ritter, Karl 345, 349, 380, 391 Ritter von Daller, Balthasar 565 Riverton, Stein 362, 363 Robitschek, Kurt 244 Rockwell, George Lincoln 402 Roehler, Oskar 200, 201 Rökk, Marika 370, 371, 373 Roggisch, Peter 414 Rohling, August 16 Rollan, Henri 516 Rollin, Henri 384 Romberg, Sigmund 369 Rosegger, Peter 23 Rosenberg, Alfred 100, 102, 103, 113, 114, 124, 264, 353, 354, 357, 359, 360 Rosenfeld, Alvin H. 13 Rosenplüt, Hans 117 Rossel, Maurice 455 Roth, Alfred 526 Roth, James 321, 322 Roth, Joseph 464, 465 Roth, Philip 456 Rothschild 21, 24, 62, 77, 83, 110, 347, 415, 416 Rothstock, Otto 467 Rówicki, Witold 236 Rudel, Hans Ulrich 291 Rühle, Günther 169, 326, 436 Rühmann, Heinz 341 Ruf, Jakob 379 Runge, Fritz Rupprecht, Philipp Johann 40, 121, 477, 478, 479, 480 Rust, Bernhard 100, 352 Ruttmann, Walter 42, 345
S Sabatier, Pierre 232, 516 Sachs, Curt 329
Sachs, Hans 117, 152, 379 Sachs, Josef 441 Sachse, Konrad 134 Sadler, Benjamin 414 Safir, Rosl 234 Saint-Alary, Arsène-Henry de 122 Salomon, Ernst von 290 Sarasin, Gideon Karl 544 Sarri, Corrado 121 Sartre, Jean-Paul 422 Schächter, Rafael 64 Schartel, Werner 268 Schedel, Hartmann 365, 432, 433, 434, 435 Schellow, Erich 180 Schenda, Rudolf 28 Schenk, Erich 330 Schiller, Friedrich 23 Schillings, Max von 354 Schimon bar Giora 550 Schindel, Robert 133, 134 Schindler, Oskar 435, 436, 437 Schirach, Baldur von 124, 237, 264, 371 Schirrmacher, Frank 491, 492 Schlaff, Martin 424 Schlage, Lu 198 Schlemmer, Eva 257 Schlesinger, Viktor 234, 235, 377 Schlösser, Rainer 222, 237, 357, 369 Schlüter, Horst 40 Schmid-Wildly, Ludwig 345, 509 Schmidinger, Dolores 548 Schmidt, Michael 526, 527, 528, 529, 530 Schmitz, Oscar 262 Schmitz, Sybille 560 Schmuderer, Joseph 87 Schnabel, Ernst 180 Schnitzler, Norbert 95 Schnurre, Wolfdietrich 319 Schobert, Walter 300 Schocken, Salman 356 Schönberg, Arnold 236, 330 Schönerer, Georg Ritter von 16, 405 Schönsperger, Johann 433 Schoeps, Julius H. 382 Schröder, Ernst 418, 419 Schröder, Gerhard 472 Schröder, Hans Eggert 264, 265 Schröder, Rudolf Alexander 290 Schubert, Hans 297, 298 Schuler, Alfred 262, 263, 264, 265 Schultz, Sonja M. 505 Schultze-Naumburg, Paul 272
Register der Personen Schulze-Rohr, Peter 169 Schumann, Robert 329 Schumann, Wolfgang 272 Schwab, Ulrich 325 Schwanneke, Ellen 235 Schwaner, Wilhelm 545 Schweikart, Hans 89 Schweitzer, Hans 40, 41, 249, 313, 314, 315, 316 Schweizer, Richard 283 Seemann, Horst 171, 172, 173 Seidl, Lea 369 Seitz, Franz 344, 423 Selim, Josma 460 Selpin, Herbert 51, 348, 349, 405 Sergine, Vera 516 Sessa, Karl Borromäus 228, 509, 510 Seta, Enrico de 123 Severud, Gerhard 363, 405 Sézille, Paul 240, 241 Shakespeare, William 23, 50, 121, 211, 250, 252, 304, 305, 306, 421, 456, 457, 458 Sharon, Ariel 444 Shawcross, Sir Hartley 302 Shmuel, Rav 411 Shuler, Bob 165 Shylock 23, 211, 250, 304, 305, 306, 425, 445, 446, 456, 457, 458 Sica, Vittorio De 131, 132, 133 Siegelberg, Mark 297, 298 Signorelli, Luca 20, 56, 57 Siła-Nowicki, Władysław 38 Silberbauer, Josef 13 Sim, David 54, 225 Simon von Trient 65, 227, 364, 365, 433, 435, 508 Simons, Rainer 23 Sinet, Maurice 443 Singer, Kurt 64 Singer, Oskar 162, 163 Sinowjew, Grigori 148 Sixt, Paul 101 Sklenka, Johann 548 Skóra, Danuta 552 Ślipek, Ireneusz 388 Słobodzianek, Tadeusz 334, 427, 511 Sobol, Joshua 206 Sobotka, Kurt 548, 549 Söderbaum, Kristina 89, 196 Sombart, Werner 70, 214, 215 Sommerfeld, Adolf 27, 139, 140 Sonjevski-Jamrowski, Rolf von 42, 345
Soral, Alain 18 Speer, Albert 302 Spiegelman, Art 53, 298, 384 Spiel, Hilde 473 Spielberg, Steven 175, 435, 436, 437 Spielmann, Fritz 235, 288 Spiess, Alfred 454 Spindler, Carl (auch Karl) 207, 208 Spoliansky, Mischa 369 Springer, Axel 41 Springer, Hanns 113, 114 Sta, Henri de 122 Staberl 159 Stahr, Gerhard 337 Stalin, Josef 148, 502 Stankovski, Ernst 548 Stapel, Wilhelm 269, 272 Stark, Georg 337 Staudte, Wolfgang 412, 413 Stauff, Philipp 69, 238, 546 Steffen, Gerhard 548 Stegemann, Bernd 414 Steiger, Eduard von 45 Steinbarg, Eliezer 81 Steiner, Elke 54, 405 Steinhauer, Erwin 162 Steinhoff, Hans 7, 164, 339, 344, 346, 348, 349, 368, 405, 407 Steinitz, Hans 428 Steinweis, Alain E. 359 Stemmle, Rudolf A. 3 Stengel, Theodor 330, 359 Štĕpánek, Zdenĕk 501 Stepanik, Lukas 133, 134 Stern, Selma 194, 205 Steub, Ludwig 66 Stills, Stephen 410 Stoecker, Adolf 15, 16, 17, 565, 566 Stöckler, Fritz 234 Stoffregen, Götz Otto 354 Storck, Karl 69 Storz, Oliver 312 Straßer, Gregor 313 Straus, Oscar 369 Strauß, Franz-Josef 169 Strauß, Richard 359, 371 Strawinsky, Igor 102 Strecker, Heinrich 370 Streicher, Julius 32, 40, 441, 477, 479 Stuckenschmidt, Hans Heinz 236 Stülpnagel, Otto von 240 Stuhr, Maciej 387, 388
589
590
Register der Personen
Stumme, Wolfgang 357 Subhi, Muhammad 115, 405 Suchomel, Franz 455 Sue, Eugène 122, 282 Suhrkamp, Peter 356 Suppé, Franz von 370, 371 Svir, Gennadi 125 Swerdlow, Jakow 148 Swift, Jonathan 443 Szabó, István 431, 480, 481, 482 Szatmáry, Zuzana 308 Szekely, Alexander 288
T Tagger, Theodor → Bruckner, Ferdinand Targownik, Liliane 414 Taube, Theodor 23 Tauber, Richard 371 Taubert, Eberhard 108 Taylor, Roger 410 Taylor, Telford 302 Teller, Oskar 233, 234, 235, 377 Tersch, Ludwig 102 Testo, Fabio 133 Tezuka, Osamu 2, 54 Tharaud, Brüder 512 Thenen, Lisa 288 Thieringer, Thomas 169 Thomas of Monmouth (Thomas von Monmouth) 50 Thomas Murner 94 Tiedemann, Philipp 159 Tietz, Christian 531 Tiso, Jozef 307 Tobias, Charles 372 Tokarska-Bakir, Joanna 387, 388, 389 Toller, Georg Stefan 133 Torberg, Friedrich 234, 235, 461, 566 Torres, Sonia 248 Trebitsch, Arthur 538 Trebitsch, Erna 235 Trienes, Walter 103 Trixner, Heinz 566 Troller, Georg Stefan 9, 10, 531, 532 Trotta, Margarethe von 32, 432 Trotzki, Lew (Leo) 148 Trouwe, Gisela 5 Tucholsky, Kurt 138, 237, 269, 355 Türk, Karl 405, 406 Tumas-Vaižgantas, Juozas 293 Turjanski, Viktor 119, 349
U Uccello, Paolo 56, 308, 309 Ucicky, Gustav 155, 156, 349 Uhlen, Gisela 416 Ullmann, Viktor 64 Unseld, Siegfried 490, 491 Uriburu, José Félix 246 Urizki, Moissej 148 Uyen Van Thi Dao 414
V Valeeva, Valeria 125 Valentin, Karl 245 Varga, Lucie 345 Varndal, Walter 288 Varnhagen, Rahel 510 Vegenor, Sverre 363 Veiczi, Janos 561, 562 Venatier, Hans 291 Verdi, Giuseppe 64, 65 Vergé, Jacques 175 Verhoeven, Michael 1 Verhoeven, Paul 431 Verne, Jules 121 Verwey, Albert 262 Vesper, Will 291, 546 Vích, Václav 520 Le Vigan, Robert 512 Vigny, Bruno 520 Vilkutaitis-Keturakis, Juozas Villani, Giovanni 308 Villiger, Kaspar 46 Visconti, Luchino 132 Voskuijl, Bep 14 Voss, Hermann 353 Voss, Julius von 502, 503
293
W Wache, Karl 130 Wader, Hannes 175 Wagner, Grete 288 Wagner, Peter 434 Wagner, Richard 288, 303, 304, 329, 359, 405, 504 Wagner-Régeny, Rudolf 236 Wahl, Albuin 96 Wahlberg, Gideon 447 Wahlbom, Gustaf 440 Wahrmund, Adolf 70, 554 Waldbrunn, Ernst 84, 461
Register der Personen Waldheim, Kurt 10, 134, 157, 159, 161, 533, 567 Wallace, Edgar 536, 568, 569 Wallburg, Otto 338 Walser, Martin 103, 104, 105, 490, 491, 492 Wang, Cilli 289 Waschneck, Erich 341, 347, 415, 416 Wassermann, Jakob 235, 354 Wassiljew, Dmitri 149 Wast, Hugo 246, 247, 248 Waters, Roger 411 Weber, Andreas Paul 268, 269, 270 Weber, Max 215, 262 Wechsler, Lazar 283 Wecker, Konstantin 409 Wedekind, Frank 28, 394 Wedel, Dieter 206 Wehle, Peter 296, 548 Weicher, Theodor 260, 542 Weigel, Hans 160 Weigmann, Paul 88 Weil, Jindřich 489 Weill, Kurt 102, 369, 372 Weinstein, Abraham 276 Weintraub, Katarzyna 388 Weinzierl, Erika 131 Weiser, Benno 234 Weiß Ferdl 244 Weiss, Peter 105, 106 Weißglas, Immanuel 495 Wellmann, Arthur 124 Wenzler, Franz 153, 344 Werfel, Franz 9, 354, 495 Wernicke, Otto 276 Wessel, Kai 432 Wessely, Paula 155, 156, 157 Westman, K. G. 449 Weyl, Fernand (Nozière) 61 Wiedemann, Barbara 494 Wiener, Hugo 461 Wiesel, Elie 168 Wilder, Billy 497 Willrich, Wolfgang 99 Winkler, Max 341 Winning, August 290 Wischniewsky, Walter 416 Wöhrmann, Otto 412
591
Wolf, Friedrich 136, 284, 391, 392 Wolf, Konrad 391, 393, 562 Wolfskehl, Karl 262, 263 Woll, Johan 10 Wollfhardt, Rainer 197 Wood, Walter 98, 99 Worch, Christian 528 Wormser-Migot, Olga 365, 366 Wrede, Friedrich Eugen Ignatz Fürst von 143, 144 Wurm, Albert Ferdinand 509
Y Yaffe, Martin D. 306 Ymmenhusen, Albrekt 439 Youmans, Vincent 369
Z Zaharoff, Basil 241 Žalman, Jan 501 Zauner, Martin 162 Zeckendorf, Friedrich 338 Zelter, Friedrich 302 Zerlett, Hans Heinz 345, 407, 517 Zetterström, Hasse 441 Ziegler, Adolf 100 Ziegler, Hans Severus 101, 102, 103, 237, 370, 371, 372 Zilk, Helmut 549 Zillich, Heinrich 290 Zimmer, Bernard 511, 512, 513 Zimmer, Dieter E. 169 Zimmermann, Manfred 192, 203 Zind, Ludwig 412, 413 Zinner, Hedda 24, 429 Żmijewski, Artur 389 Zöberlein, Hans 33, 345, 509 Zola, Émile 20, 21, 22 Zündel, Ernst 35, 321, 322 Zuviría, Gustavo Martínez 246, 248 Zweig, Arnold 355, 359, 394 Zweig, Stefan 234, 359 Zweig, Stefan Jerzy 332, 333 Zwerenz, Gerhard 325 Žymantienė, Julija 293 Żyndul, Jolanta 389
593
Register der Orte und Regionen A Aarau 227 Abu Ghraib 273 Ägypten 115, 243, 377, 396, 405, 413 Afrika 348 Algerien 242, 301, 302 Algier 233, 242, 243 Amersfoort 13 Amsterdam 13, 14, 111, 129, 137, 147, 349, 467, 564 Arezzo 523 Argentinien 246, 247, 248, 477 Augsburg 8, 25, 26, 27, 302, 310, 378, 433, 434, 565 Aurich 47 Auschwitz 1, 13, 18, 27, 35, 36, 54, 55, 62, 64, 88, 91, 103, 104, 105, 132, 133, 134, 163, 167, 168, 171, 172, 173, 185, 259, 277, 278, 281, 308, 320, 321, 324, 333, 366, 388, 404, 409, 411, 435, 436, 444, 454, 469, 470, 481, 482, 488, 489, 493, 495, 513, 528, 529, 535, 536, 537, 562
B Babelsberg 188, 333 Babylon 273, 550 Bad Reichenhall 277 Bad Wimpfen 227 Baden-Baden 174 Baden-Württemberg 206 Bamberg 86 Basel 115, 471, 510 Bayern 39, 67, 480 Belgien 111, 267, 381, 402 Bełźec 81, 454 Berchtesgaden 107, 514 Bergedorf 315 Bergen-Belsen 13, 187 Berlin 2, 4, 5, 15, 27, 34, 37, 41, 47, 64, 72, 73, 87, 89, 91, 92, 100, 101, 102, 104, 109, 120, 123, 124, 133, 137, 138, 139, 140, 143, 144, 151, 154, 167, 170, 176, 177, 178, 180, 182, 188, 198, 200, 203, 204, 205, 206, 216, 221, 222, 230, 235, 236, 244, 245, 249, 250, 251, 254, 258, 259, 260, 268, 274, 275, 277, 284, 289, 302, 303, 306, 313, 318, 322, 326, 328, 332, 335, 337, 338, 339, 341, 346, 352, 354, 355, 358, 363, 367, 369, 370, 390, 391, 395, 402, 403, 404, 407, 408, 411, 416, 419, 420,
424, 429, 436, 455, 458, 460, 461, 468, 469, 471, 473, 480, 481, 483, 488, 497, 502, 504, 506, 509, 510, 517, 518, 519, 520, 521, 529, 530, 531, 532, 536, 539, 542, 550, 553, 560, 564, 565, 566 Bern 45, 46, 248, 284, 471 Bessarabien 184, 368 Białystok 276 Birkenau 55, 185, 277, 366, 404, 454, 514, 536 Bitburg 326 Bochum 87, 471 Bökerhof 217 Bolivien 174, 175 Bonn 204, 281, 373, 471 Bonn-Ippendorf 88 Bordeaux 86, 241 Borkum 46, 47, 231, 530, 552 Brăila 452 Brandenburg 227, 275, 354 Brasilien 471 Bremen 206, 279 Breslau 151, 192, 434, 462, 509, 536 Brüssel 121, 147 Buchenwald 167, 168, 244, 259, 332, 333, 411, 461, 481 Budapest 64, 278, 280, 281, 506, 512 Buenos Aires 246, 399 Bukarest 59, 60, 81, 82, 391, 452, 453, 493, 498 Bukowina 59, 60, 184, 493
C Cambron 94, 95 Cannes 2, 19, 284, 366, 367, 419, 524 Canterbury 49, 50, 51 Catamarca 246 Celle 412 Chartres 86, 226 Chełmno 454 Chemnitz 230 Chicago 16, 424, 484, 506 China 385 Cincinnati 203 Colmar 95 Córdoba 246, 248 Cortona 56, 57 Czernowitz 59, 493
594 D Dachau 43, 88, 163, 244, 268, 461, 486, 496, 534, 536 Dänemark 30, 185, 440, 449, 488, 530 Darmstadt 204, 236 Deggendorf 65, 66, 67, 434 Deutschland 6, 7, 8, 10, 21, 27, 30, 32, 33, 34, 35, 36, 40, 42, 45, 46, 53, 62, 70, 71, 73, 84, 86, 90, 91, 99, 101, 102, 103, 104, 106, 119, 123, 128, 133, 137, 138, 145, 146, 147, 156, 159, 161, 163, 166, 167, 168, 171, 173, 174, 179, 182, 190, 194, 196, 197, 200, 201, 203, 204, 207, 211, 222, 223, 225, 231, 235, 240, 244, 253, 254, 259, 260, 261, 264, 266, 267, 268, 276, 277, 280, 281, 288, 289, 290, 292, 298, 299, 300, 301, 302, 306, 315, 316, 319, 323, 326, 328, 329, 330, 332, 334, 335, 336, 337, 338, 339, 340, 341, 348, 354, 356, 357, 360, 367, 368, 369, 370, 371, 372, 373, 374, 382, 385, 386, 388, 394, 395, 400, 401, 402, 403, 404, 405, 409, 417, 418, 419, 420, 429, 432, 436, 438, 446, 448, 451, 455, 462, 467, 468, 471, 472, 479, 483, 486, 487, 488, 494, 496, 513, 520, 525, 528, 529, 531, 536, 538, 547, 554, 555, 560, 561, 562, 563, 566, 568, 569 Dijon 241 Dortmund 87 Drancy 513 Dresden 70, 192, 233, 257, 258, 271, 372, 432, 536 Düsseldorf 101, 102, 103, 206, 352, 438, 471
479, 483, 484, 506, 521, 522, 524, 529, 532, 536, 539, 568 Evora 226
F Ferrara 132, 133 Finnland 303 Florida 424 Frankfurt am Main 174, 201, 202, 203, 227, 286, 397, 414, 419, Frankreich 11, 12, 21, 29, 30, 82, 99, 111, 114, 122, 144, 147, 161, 174, 175, 190, 191, 220, 222, 226, 228, 239, 240, 241, 242, 258, 260, 261, 285, 286, 333, 391, 394, 399, 402, 404, 409, 410, 424, 425, 433, 434, 435, 440, 513, 514, 515, 529, 532, 547, 554 Freiburg 28, 86, 96, 97, 568 Freiwaldau 405 Freudental 405
G Galizien 12, 60, 93, 130, 139, 408, 543 Gießen 253 Göteborg 298 Göttingen 27, 290, 412 Gotha 402 Graz 230, 234, 475, 538 Groß-Rosen 435 Großbritannien 63, 69, 98, 99, 118, 146, 147, 166, 169, 204, 220, 372, 403, 529, 530, 541 Güstrow 352
E
H
Eberswalde 227, 436 Eichstätt 480 Emden 47 Endingen 96, 97 England 49, 50, 51, 63, 98, 99, 105, 146, 147, 148, 157, 190, 222, 228, 229, 259, 261, 290, 402, 416, 424, 425, 435, 456, 457, 480, 486, 541, 568 Enns 25 Erfurt 30, 86, 100, 536 Europa 9, 17, 24, 34, 65, 74, 76, 77, 86, 93, 108, 121, 122, 147, 149, 152, 167, 171, 174, 212, 214, 219, 220, 239, 242, 243, 254, 259, 273, 284, 286, 291, 306, 307, 335, 341, 342, 362, 362, 377, 389, 391, 392, 399, 403, 410, 416, 418, 425, 440, 450, 454, 465, 470, 471,
Hamburg 3, 5, 27, 89, 91, 179, 182, 198, 236, 268, 302, 319, 352, 407, 413, 471, 520, 542, 566, 568 Hameln 290 Heidelberg 58, 59, 101, 127, 201, 202, 278, 383 Hessen 36, 416, 525, 526 Hinzert 535 Hohenasperg 202 Hohenelbe (Vrchlabí) 216 Hohenneuffen 202 Hollywood 30, 132, 145, 165, 166, 189, 276, 371, 372, 436, 497, 521 Hostenbach 88 Hoyerswerda 414 Hunsrück 438
Register der Orte und Regionen I Iaşi (Jassy) 81, 184 Innsbruck 234, 329 Irak 273, 443, 528 Island 226 Israel 19, 23, 24, 60, 91, 92, 116, 144, 164, 169, 173, 186, 233, 273, 274, 275, 276, 277, 280, 281, 296, 306, 335, 396, 398, 401, 404, 409, 410, 424, 444, 454, 490, 495, 498, 512, 529, 550 Italien 56, 69, 85, 121, 122, 131, 132, 133, 190, 225, 240, 241, 284, 294, 295, 308, 367, 368, 389, 406, 411, 433, 435, 479, 505, 522, 523, 524
J Jägerndorf 405 Janowska 493 Japan 14, 122, 166, 385 Jedwabne 190, 334, 335, 386, 388, 389, 426, 427, 517, 518, 552 Jerichow 186, 187 Jerusalem 25, 26, 60, 64, 91, 94, 99, 149, 162, 211, 256, 374, 375, 378, 396, 424, 434, 503, 524, 549, 550, 551 Jugoslawien 167
Landsberg an der Warthe 257 Landshut 86 Laubach 252 Leipzig 102, 123, 164, 192, 202, 203, 236, 237, 260, 302, 303, 328, 330, 332, 355, 405, 475, 518, 538, 542, 544, 548, 553 Leitomischl (Litomyšl) 208 Lemberg 75, 493 Lemgo 227 Libanon 24, 173 Libyen 413 Lichtenburg 534 Lidice 500 Lille 241 Lippoldsberg (Oberweser) 290, 291, 292 Litauen 292, 293 Locarno 182, 502 Łódź (Litzmannstadt) 108, 109, 188, 204, 388 London 8, 31, 63, 98, 99, 147, 211, 273, 303, 335, 349, 354, 370, 372, 416, 424, 471, 486, 487, 506, 541, 542, 563, 568, 569 Los Angeles 126, 411 Ludwigsburg 60, 195 Lund 446 Luxemburg 381, 555, 556, 557 Lyon 174, 175, 241
K Kanada 35, 321 Karlsbad 231 Kassel 7, 412, 416 Kaufering 164 Kaukasus 60 Kielce 124, 125, 277 Kiew 259, 500 Klagenfurt 44 Knobloch (Havelland) 154 Köln 74, 161, 227, 230, 231, 235, 236, 237, 245, 433 Königshütte (Oberschlesien) 259 Konstanz 207, 485, 526 Kopenhagen 421 Korfu 454 Krakau 38, 139, 435, 436, 474 Krakau-Plaszów 435 Krems 257 Kreta 433 Kroatien 534
L Ladyschino 59 Landsberg 277, 278, 482
595
M Madagaskar 258 Magdeburg 2, 4, 86, 227 Mailand (Milano) 524 Majdanek 320, 321, 366 Malmö 444, 449 Malta 211, 212, 306 Mannheim 43, 201 Mantua 294, 433 Marburg 86 Maria Laach 87 Marienbad 231 Marseille 9, 241 Massachusetts 321 Mauthausen 167, 327, 366, 485, 532 Mecklenburg 186, 187, 259, 434 Metz 85 Miami 424 Mihailowka 60 Minsk 77, 125, 199 Mönchengladbach 88 Moskau 31, 148, 275, 344, 421 Motta di Livenza 433 Müllheim 230
596
Register der Orte und Regionen
München 3, 8, 10, 28, 33, 35, 41, 58, 79, 80, 97, 99, 100, 101, 113, 136, 177, 204, 222, 236, 245, 262, 271, 276, 277, 314, 346, 352, 355, 371, 372, 414, 417, 419, 424, 460, 465, 471, 473, 480, 497, 529, 549, 551, 558, 560, 564, 565, 566
N Nancy 241 Nantes 241 Neu-Freimann/Kaltherberge 276 Neuengamme 107 New York 14, 42, 64, 128, 133, 134, 165, 168, 174, 186, 187, 205, 233, 235, 250, 273, 278, 300, 369, 380, 381, 384, 411, 420, 424, 443, 445, 471, 488, 506, 507 Niederlande 174, 327, 381, 488 Norderney 47 Nordrhein-Westfalen 55 Normandie 483 Norwich 50, 433 Norwegen 362, 363, 440 Nürnberg 31, 33, 41, 116, 117, 134, 152, 174, 227, 301, 302, 346, 364, 365, 432, 433, 434, 477, 504, 505, 508
O Odense 471 Odessa 184, 367, 368 Österreich 9, 10, 15, 16, 17, 23, 26, 42, 43, 44, 58, 59, 62, 80, 84, 87, 93, 101, 110, 128, 130, 133, 134, 143, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 201, 230, 234, 235, 240, 256, 261, 266, 288, 292, 296, 297, 328, 329, 330, 341, 353, 356, 357, 358, 359, 369, 370, 371, 372, 373, 394, 399, 434, 461, 466, 468, 475, 484, 485, 488, 528, 531, 532, 533, 538, 542, 543, 546, 548, 549, 566, 567 Osteuropa 98, 99, 165, 200, 231, 277, 286, 465, 498, 499, 500, 556
P Palästina 70, 93, 115, 138, 149, 168, 173, 234, 273, 274, 405, 443, 499 Paris 8, 9, 12, 19, 29, 56, 61, 65, 74, 86, 121, 128, 176, 214, 239, 240, 241, 248, 257, 285, 286, 295, 308, 362, 368, 372, 384, 385, 399, 416, 418, 433, 471, 488, 498, 504, 511, 512, 513, 514, 516, 547, 565 Passau 87, 121, 434 Pearl Harbor 166 Pirna 258
Pocking 276, 277 Polen 38, 39, 74, 108, 109, 124, 156, 167, 200, 228, 252, 253, 254, 259, 276, 277, 279, 285, 286, 287, 318, 321, 333, 334, 335, 349, 361, 386, 387, 388, 389, 426, 427, 428, 436, 454, 455, 474, 488, 491, 518, 552 Portugal 226 Posen 139, 553 Potsdam 36, 250, 333 Prag 9, 16, 44, 58, 64, 162, 163, 203, 204, 216, 234, 308, 330, 421, 482, 488, 489, 500, 554, 566, 567 Prignitz 153
R Radoszyna 387 Ratibor 223 Regensburg 59, 66, 67, 206, 227, 228, 434, 458, 459 Reichenberg (Liberec) 216 Reims 86 Remscheid 60 Rendsburg 54, 405 Rennes 241 Riga 259 Riva am Gardasee 177 Rochlitz an der Iser (Rokytnice nad Jiserou) 216 Rom 177, 458, 469, 470, 471, 472, 550, 551 Rosenberg (Ružomberok) 520 Rotterdam 399 Rumänien 59, 81, 82, 183, 184, 367, 368, 391, 452, 453, 480, 493, 498, 534 Russland 24, 61, 76, 77, 133, 139, 147, 148, 149, 228, 261, 277, 349, 482
S Saarland 88 Sachsen 135, 151, 553 Sachsenburg 534 Sachsenhausen 91, 163, 534, 536 Salzburg 143, 234, 532 San Francisco 496 Sanary sur mer 137 Santa Fe 246 Schlesien 151, 182, 259, 405 Schleswig 315 Schleswig-Holstein 226, 315, 568 Schroda 139 Schwabing 262, 264 Schweden 42, 226, 298, 439, 440, 441, 442, 443, 444, 447, 448, 449
Register der Orte und Regionen Schweiz 10, 44, 45, 46, 138, 161, 225, 227, 264, 266, 283, 284, 285, 381, 391, 392, 450, 451, 452, 454, 471, 485, 510, 558 Shanghai 297, 298 Skarżysko-Kamienna 436 Slowakei 254, 306, 307, 500, 520, 534 Sobibór 168, 454, 455, 462 Sotschi 125 Sowjetunion 29, 41, 59, 74, 81, 149, 184, 270, 279, 315, 334, 367, 391, 421, 493, 498, 499 Spanien 152, 191, 211, 310, 328, 416, 471 Steiermark 394 Sternberg (Mecklenburg) 434 Stettin 100 Stockholm 440, 447, 448, 449, 471 Straßburg 85, 86, 94, 103, 568 Stuttgart 8, 194, 195, 196, 198, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 303, 347, 403, 526 Stutthof 535, 536, 537 Suceava 59 Südamerika 122, 174, 175 Sülzbach bei Weinsberg 58 Sulaimaniyya 273 Syrien 18, 24, 75
597
Ulm 508 Ungarn 167, 235, 278, 279, 280, 281, 393, 394, 488, 506, 534, 536, 562 Uppsala 226, 439 USA (Amerika, Vereinigte Staaten von Amerika) 41, 52, 53, 54, 58, 64, 69, 82, 122, 123, 134, 146, 159, 161, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 172, 174, 185, 190, 191, 204, 215, 219, 220, 228, 254, 266, 273, 275, 276, 277, 300, 301, 302, 315, 320, 321, 322, 334, 335, 339, 369, 372, 377, 381, 384, 387, 388, 394, 395, 401, 402, 403, 409, 410, 415, 417, 419, 424, 428, 445, 448, 454, 461, 474, 481, 485, 496, 506, 515, 520, 521, 524, 528, 530, 532, 533, 560, 568
V Vaihingen an der Enz 252 Venedig 23, 50, 155, 211, 250, 252, 304, 305, 306, 318, 367, 395, 425, 456, 458, 499, 504, 564 Vienne/Isere 86 Vietnam 301, 302, 410 Visegrad 308
T
W
Teheran 185 Tel Aviv 204, 273 Tessin 283 Theresienstadt (Terezín) 64, 65, 128, 168, 235, 239, 245, 455, 482, 483, 484, 487, 488, 489, 490, 500, 501 Thüringen 102 Tirol 25, 261 Tiszaeszlár 394 Topoľčany 306, 307, 308 Toronto 35 Transnistrien 59, 60, 81, 184, 368 Treblinka 454, 455, 482, 501, 552 Trient 65, 227, 364, 365, 433, 435, 508 Trier 86 Troppau 405 Tschechoslowakei 9, 163, 167, 285, 307, 381, 482, 488, 500, 501, 502, 567 Tübingen 43, 204, 535 Türkei 77, 273, 482
Wangerooge 46, 530 Warschau 38, 54, 74, 136, 167, 168, 236, 277, 299, 335, 389, 391, 501, 518 Warta 388 Washington 64, 138, 436 Weimar 8, 101, 102, 112, 237, 238, 496 Weingarten 433 Weißrussland 125 Werben an der Elbe 86 Westerbork 13, 488 Wien 7, 8, 9, 16, 20, 22, 23, 25, 26, 42, 43, 45, 58, 59, 62, 74, 79, 80, 83, 87, 93, 102, 130, 131, 133, 134, 150, 155, 157, 158, 160, 161, 162, 175, 194, 216, 232, 233, 234, 235, 260, 261, 275, 283, 288, 289, 295, 296, 297, 327, 328, 329, 330, 350, 368, 370, 371, 372, 384, 394, 405, 406, 407, 419, 423, 424, 434, 457, 460, 461, 464, 465, 466, 467, 471, 473, 475, 476, 480, 485, 488, 506, 520, 521, 530, 532, 536, 538, 539, 542, 543, 549, 554, 566, 567 Wildbad im Schwarzwald 201 Wilna 276 Wilsnack 154
U Uglitsch 149 Ukraine 60, 75, 168, 253
598
Register der Orte und Regionen
Winterthur 45 Wittenberg 227, 228 Worms 86, 117, 152, 201, 206, 328 Württemberg 8, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 201, 202, 203, 204, 205, 258 Würzburg 59
X Xanten
135, 227, 485
Z Zinnowitz 46, 552 Zürich 45, 225, 266, 283, 381, 385, 394, 395