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German Pages 507 [508] Year 2011
Handbuch des Antisemitismus Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart
Handbuch des Antisemitismus Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart Im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin herausgegeben von Wolfgang Benz in Zusammenarbeit mit Werner Bergmann, Johannes Heil, Juliane Wetzel und Ulrich Wyrwa Redaktion: Brigitte Mihok Band 1 Länder und Regionen Band 2 Personen Band 3 Begriffe, Theorien, Ideologien Band 4 Ereignisse, Dekrete, Kontroversen Band 5 Organisationen, Institutionen, Bewegungen Band 6 Publikationen Band 7 Film, Theater, Literatur und Kunst
Handbuch des Antisemitismus Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart Herausgegeben von Wolfgang Benz
Band 4
Ereignisse, Dekrete, Kontroversen
De Gruyter Saur
ISBN 978-3-598-24076-8 e-ISBN 978-3-11-025514-0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Copyright 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston. Satz: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck: Strauss GmbH, Mörlenbach ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
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Vorwort Der vierte Band des Handbuchs des Antisemitismus informiert über Ereignisse und Affären, über legislative Maßnahmen und politische Proklamationen, über Skandale, Exzesse, Debatten, Prozesse, die Manifestationen von Judenfeindschaft waren, sich darauf bezogen oder dadurch ausgelöst wurden wie die Armleder-Pogrome und die RintfleischVerfolgungen in der frühen Neuzeit, die Hepp-Hepp-Krawalle am Anfang des 19. Jahrhunderts oder der Magdeburger Justizskandal 1925/26, das Luxemburger Abkommen 1952, die Borodajkewycz-Affäre in Österreich 1965. Legislative Judenfeindschaft und auf Juden bezogene Gesetzgebung haben eine Tradition, die lange zurückreicht und durch Akte wie das Blutreinheitsgesetz (estatuto de limpieza de sangre), den Code Noir, das Crémieux-Dekret, Napoleons Décret Infâme, das nationalsozialistische „Berufsbeamtengesetz“, das Schriftleitergesetz und die Nürnberger Gesetze, aber auch die „Preußischen General-Juden-Reglements“ 1730 und 1750, die Toleranzpatente in Österreich-Ungarn 1781–1788, Judeneid und Leibzoll, der Judenparagraph in der Norwegischen Verfassung (1814), antijüdische Gesetze, wie sie in Italien, in Jugoslawien, in der Slowakei oder in Ungarn unter faschistischer Herrschaft eingeführt wurden. Öffentliche Debatten, die in der Schweiz und in Norwegen über das Schächten stattfanden oder in Frankreich die Dreyfus-Affäre zum Abschluss brachten, sind in Artikeln dieses Bandes thematisiert; in der Bundesrepublik Deutschland bewegte die Kontroverse über Rainer Werner Fassbinders Stück „Die Stadt, der Müll und der Tod“ die Gemüter, wie schon 1803–1805 die Grattenauer-Kontroverse oder 1879 der Berliner Antisemitismusstreit. Die wichtigsten Ritualmordvorwürfe, lokalisiert und zu Gewalt gegen Juden verdichtet, sind in exemplarischen Beiträgen behandelt, chronologisch reicht deren Skala von Norwich (1144) über Amasya (1530) bis Kielce (1946), geographisch von Blois über Vraca, Trient, Konitz nach Xanten. Mit Orten und Regionen verbundene Gewaltexzesse gegen Juden haben ebenfalls oft Ritualmordvorwürfe zum Anlass wie die Pogrome, die in Kischinew, in Polen, im Russischen Reich, in der Slowakei, in Ungarn usw. im 19. und 20. Jahrhundert inszeniert wurden. Eine Ritualmordlegende begründete auch den Anderl-von-Rinn-Kult, der noch im 21. Jahrhundert blüht, obwohl sich die katholische Kirche davon distanziert. Auch die Damaskus-Affäre (1840) gehört in den Umkreis der Ritualmordlegenden, und in weiteren Lemmata finden sich Konnotationen zu dieser judenfeindlichen Stereotype. Sehr viel Raum nimmt die Gewalt ein, die in der langen Geschichte des Antisemitismus geübt wurde, die aber auch noch zur jüdischen Erfahrung der Gegenwart gehört. Pogrome sind in einzelnen Artikeln thematisiert, die sich auf lokale Ereignisse beziehen, aber auch in historischen und geographischen Überblicken, etwa zur Pest-Zeit im Mittelalter und im russischen Bürgerkrieg sowie in Polen, im Russischen Reich, in der Slowakei, in Spanien, in Ungarn, 1848 im Elsass und in Baden. Die Vertreibungen der Juden aus England (1290), aus Frankreich im 14. Jahrhundert, aus Spanien (1492), aus Thrakien (1934) sind dargestellt, ebenso Ereignisse von eher indirekter aber erheblicher Wir-
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Vorwort
kung wie der Arabische Aufstand 1936–1939 oder die Unruhen in Dänemark 1813 und 1819. Das nicht immer rühmliche Wirken der Justiz in Sachen Antisemitismus kommt vielfältig zur Darstellung, bedeutende Verfahren waren der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 und der Auschwitz-Prozess 1963–1965 in Frankfurt am Main, beide sind exemplarisch für viele andere Anstrengungen, den Holocaust juristisch aufzuarbeiten bis hin zum aktuellen Demjanjuk-Prozess in München. Grundlegende Bedeutung hatten die Nürnberger Prozesse unmittelbar nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft, ein zentraler Beleg für stalinistischen Antisemitismus ist der Slánský-Prozess in Prag gewesen; Entschädigung für jüdische Zwangsarbeit durch einen nutznießenden Industriekonzern, die Firma IG-Farben, wurde im Wollheim-Prozess in den 1950er Jahren erstmals erstritten. Zum Thema Judenfeindschaft gehört ebenso das Wirken der Inquisition. Die Justiz spielte eine beklagenswerte Rolle im Marburger Antisemitismus-Prozess 1888 sowie bei vielen weiteren Gelegenheiten wie im Fall Leo Frank (USA 1913) oder im Schauprozess gegen László Rajk in Ungarn 1949. Exzessive Gewalt gegen Juden wurde in der Geschichte Europas oft geübt und ideologisch vorbereitet. Die Kreuzzüge des Hohen Mittelalters, die Armleder-Pogrome und der Fedtmilch-Aufstand in der frühen Neuzeit gehörten lange vor den Pogromen des 19. und 20. Jahrhunderts im Russischen Reich und schließlich im deutschen Raum im November 1938 mit der „Reichskristallnacht“ zur allgegenwärtigen Bedrohung der jüdischen Lebenswelt. Viele Einträge informieren über den Ausbruch von Gewalt gegen Juden, die Kreuzzüge finden sich aber erst im 5. Band dieses Handbuches, da es den Herausgebern und der Redaktion logisch schien, sie unter dem Rubrum der Täter, die Gewalt organisierten, der Kreuzfahrer, zu behandeln. Damit ist sowohl das Odium, die Kreuzzüge hätten in erster Linie dem Judenhass gedient, als auch die Aufsplitterung der Behandlung des Sachverhalts in verschiedenen Bänden vermieden. Dieses Vorgehen war allerdings nicht in jedem Falle möglich. So erscheint zum Beispiel Holocaustleugnung als aktuelles Phänomen des Antisemitismus in Band 3 (Begriffe, Theorien, Ideologien) unter Holocaustleugnung, dort sind Prämissen, Motive und Verbreitung behandelt. Das gleiche Stichwort ist auch im vorliegenden Band 4 zu finden, hier ist es ausschließlich dem juristischen Straftatbestand gewidmet. Logik und Konsequenz eines mehrbändigen Handbuches müssen immer wieder Kompromisse mit pragmatischen Erfordernissen schließen. So sucht man in Band 2 dieses Handbuches (Personen) vergeblich die Protagonisten und Akteure einiger judenfeindlicher Skandale: Jürgen Möllemann hat zwar zuletzt mit antisemitischen Stereotypen und Parolen Politik zu machen versucht, wäre aber als Persönlichkeit des Antisemitismus nicht richtig verortet. Ähnlich der ehemalige Abgeordnete Martin Hohmann, der 2003 im Mittelpunkt einer eindeutig judenfeindlichen Affäre stand, aber als Figur nur katalysatorische Funktion hatte und durch einen biographischen Artikel zu hoch bewertet wäre. In den Artikeln Hohmann-Affäre und Möllemann-Affäre ist die jeweilige Causa in Band 4 angemessen verortet. Das gilt in gleicher Weise für den Haider-Muzicant-Konflikt, der sich 2001 in Österreich abspielte, den Fall Deckert, der einen Aspekt von Neonazismus in der Bundesrepublik darstellt, die Fassbinder-Kontroversen, die Harlan-De-
Vorwort
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batte, die Waldheim-Affäre und andere mehr. In einigen Fällen war es aber unumgänglich, Protagonisten des Judenhasses wie Mahmud Ahmadinedschad oder Günter Deckert sowohl als Person wie als Namensgeber für bestimmte Komplexe des Antisemitismus im Handbuch aufzuführen. Das gilt auch für den Historiker Heinrich von Treitschke, der in Band 2 als Meinungsführer porträtiert ist und der in Band 4 im Mittelpunkt des Berliner Antisemitismusstreits steht. Den 110 Autoren der 230 Lemmata dieses Bandes gebührt der erste Dank der Herausgeber. Die Redaktion unter Brigitte Mihok, die das Erscheinen dieses Handbuchs in atemberaubendem Tempo vorantreibt, ist in diesen Dank ebenso eingeschlossen wie Angelika Königseder für die Schlusskorrektur und das Team des Verlags De Gruyter Saur.
Berlin, im Januar 2011 Wolfgang Benz
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Inhalt Affäre Blum → Magdeburger Justizskandal (1925/26) Affäre Haas → Magdeburger Justizskandal (1925/1926) Affäre Kölling-Haas → Magdeburger Justizskandal (1925/26) Aktionsjuden → Novemberpogrome 1938 AMIA-Bombenattentat (1994) . . . . . . . . 1 Anderl-von-Rinn-Kult . . . . . . . . . . . . . . 2 Ansbacher Ratschlag . . . . . . . . . . . . . . . 4 Antisemitenkongresse . . . . . . . . . . . . . . . 5 Antisemitenpetition . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Antisemitentage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Antisemitische Schmierwelle → Schmierwelle (1959–1960) Antisemitismus-Umfragen . . . . . . . . . . 12 Antitalmudismus → Talmudhetze Antizionistische Kampagne in Polen (1967/68) → Jüdischer Exodus aus Polen 1968 Arabischer Aufstand (1936–1939) . . . . 13 Arabischer Boykott . . . . . . . . . . . . . . . 15 Arabisches Hochkomitee → Arabischer Aufstand (1936–1939) Arierparagraph → Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums Armleder-Pogrome . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Auerbach-Kampagne . . . . . . . . . . . . . . 18 Auschwitz-Lüge → Holocaustleugnung (Straftatbestand) Auschwitz-Prozess (1963–1965) . . . . . . 20 Ausschreitungen in Deutschland 1848. 23 Ausschreitungen in Frankreich 1898. . 24 Ausschreitungen in Konitz → Ritualmordvorwurf in Konitz (1900)
Ausschreitungen in Xanten → Ritualmordvorwurf in Xanten (1891) Auswanderungsverbot . . . . . . . . . . . . . 28 Ausweisung polnischer Juden (1938). . 29 Ausweisung von Ostjuden aus Bayern (1923) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Autodafé in Cartagena de Indias . . . . . 34 Balfour-Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Barmat-Skandal (1925). . . . . . . . . . . . . 37 Barmer Theologische Erklärung → Ansbacher Ratschlag Beilis-Affäre (1911–1913) . . . . . . . . . . . 39 Berliner Antisemitismusstreit. . . . . . . . 41 Berliner Judenpogrom (1571) . . . . . . . 45 Berliner Kongress . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Berner Prozess um die „Protokolle der Weisen von Zion“ . . . . . . . . . . . . . . . 49 Berufsbeamtengesetz → Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums Bitburg-Affäre (1985) . . . . . . . . . . . . . . 51 Bleibtreu-Affäre (1949) . . . . . . . . . . . . . 53 Blutreinheitsgesetze. . . . . . . . . . . . . . . . 56 Blutschutzgesetz → Nürnberger Gesetze Börsenkrach (1873) . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Borodajkewycz-Affäre (Österreich 1965). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Boykott-Tag, 1. April 1933 . . . . . . . . . . 61 Boykottaktionen in Polen (1912) . . . . . 62 Bücherverbrennungen (Mittelalter und frühe Neuzeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Bücherverbrennungen 1933 . . . . . . . . . 67 Buenos Aires-Krawalle (1910) . . . . . . . 71 Bukarester Pogrom → Pogrom in Bukarest (1941) Bundeswehrskandal (1977) . . . . . . . . . 72 Chmielnicki-Pogrome (1648–1649) . . . 73 Code Noir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
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Inhalt
Constantine-Ausschreitungen (1934). . 77 Crémieux-Dekret (1870) . . . . . . . . . . . . 78
Fall Buschhoff → Ritualmordvorwurf in Xanten (1891)
Dabru emet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Fall Deckert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Damaskus-Affäre (1840) . . . . . . . . . . . . 80
Fall Frank, Leo (USA 1913) . . . . . . . . 121
Darmstädter Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Fall Jenninger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Darquier-Affäre (1978) . . . . . . . . . . . . . 82
Fall Lewin, Herbert. . . . . . . . . . . . . . . 124
Deckert-Fall → Fall Deckert
Fall Lüth → Harlan-Debatte
Décret de Crémieux → Crémieux-Dekret
Fall Merker → Paul Merker-Fall
Décret Infâme (1808). . . . . . . . . . . . . . . 85
Fassbinder-Kontroversen . . . . . . . . . . 127
Demjanjuk-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Deportation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Djerba-Attentat (Tunesien 2002) . . . . . 89 Dorohoi-Pogrom → Pogrom in Dorohoi (1940) Dreyfus-Affäre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Eichmann-Prozess (1961) . . . . . . . . . . . 93 Einsatzgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Fall Nieland (1959) . . . . . . . . . . . . . . . 126 Faurisson-Affäre (1978/79). . . . . . . . . 130 Fedtmilch-Aufstand . . . . . . . . . . . . . . 132 Flüchtlingskonferenz in Evian → Evian-Konferenz (1938) Französische Revolution . . . . . . . . . . 134 Fremden-Klausel → Emanzipationsverweigerung (Rumänien 1859–1923)
EKD-Erklärung zur Judenfrage (1950) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Friedhofsschändung in Erfurt (1983) 137
Emanzipationsverweigerung (Rumänien 1859–1923). . . . . . . . . . . 98
Galizische Bauernunruhen (1898) . . . 139
Emigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Entartete Kunst (Ausstellung) → „Der ewige Jude“ (PropagandaAusstellung) Entschädigung → Wiedergutmachung Erlanger Gutachten . . . . . . . . . . . . . . 103 Erster Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Eselsmasken-Aktion (1978) . . . . . . . . 107 Estatutos de limpieza de sangre → Blutreinheitsgesetze Eugenik auf der Iberischen Halbinsel 109 Evian-Konferenz (1938) . . . . . . . . . . . 110 „Der ewige Jude“ (PropagandaAusstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Fall Ahmadinedschad . . . . . . . . . . . . . 118 Fall Bleibtreu, Adolf → BleibtreuAffäre (1949) Fall Budde → Fall Nieland (1959)
Galaţi-Massaker (1940). . . . . . . . . . . . 138 Gaskammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Gaswagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 General Order No. 11 (USA 1862) . . . 145 General-Juden-Reglement → Preußische General-JudenReglements (1730 und 1750) Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Geistlichen → Erlanger Gutachten Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre → Nürnberger Gesetze Gesetz zur Verteidigung der italienischen Rasse → Italienische Rassengesetze Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums . . . . . . . . . . . . 146 Ghetto im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . 147 Ghetto unter NS-Herrschaft. . . . . . . . 150
Inhalt Grattenauer-Kontroverse (1803–1805) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Grevesmöhlen-Fehde (1815). . . . . . . . 156 Große antibolschewistische Schau → „Der ewige Jude“ (PropagandaAusstellung) Haider–Muzicant-Konflikt (Österreich 2001). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Harlan-Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Hebron-Massaker → Klagemauer Vorfall (1929) Hepp-Hepp-Krawalle 1819. . . . . . . . . 162 Hepp-Hepp-Unruhen in Dänemark → Judenfehde und Hepp-HeppUnruhen in Dänemark (1813, 1819) Hilsner-Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Historikerstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Hohmann-Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Holocaustleugnung (Straftatbestand) 173 Hostienfrevel in Röttingen (1298) → Rintfleisch-Verfolgungen Inquisition in Lateinamerika . . . . . . . 175 Inquisition in Portugal . . . . . . . . . . . . 176 Inquisitionstribunal in Lima . . . . . . . 177 Inquisitionstribunal in Mexiko-Stadt 179 Irving-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 „Isidor“-Kampagne. . . . . . . . . . . . . . . 181 Italienische Rassengesetze . . . . . . . . . 183 Jenninger-Fall → Fall Jenninger Le Jeudi noir → Vélodrome d’HiverRazzia (1942) Jew Bill → Jewish Naturalization Act (1753) Jewish Naturalization Act (1753). . . . 187 Jødefejde → Judenfehde und HeppHepp-Unruhen in Dänemark (1813, 1819) Juden ohne Maske → „Der ewige Jude“ (Propaganda-Ausstellung) Juden-Edikt des Großen Kurfürsten → Preußische GeneralJuden-Reglements (1730 und 1750)
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Judeneid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Judenfehde und Hepp-Hepp-Unruhen in Dänemark (1813, 1819) . . . . . . . 190 Judenflinten-Prozess . . . . . . . . . . . . . . 192 Judenmord von Payerne (1942) . . . . . 194 Judenordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Judenparagraph des norwegischen Grundgesetzes (1814) . . . . . . . . . . . 200 Juden-Reglement → Preußische General-Juden-Reglements (1730 und 1750) Judenreglement (Russland 1804) . . . . 202 Judenstein → Anderl-von-Rinn-Kult Judenstern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Judenverfolgung im Elsass und im Großherzogtum Baden (1848) . . . . 205 Judenzählung (1916) . . . . . . . . . . . . . . 208 Jüdischer Exodus aus Polen (1968) . . 210 Jugoslawische antijüdische Gesetze (1940) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Le Juif et la France → „Der ewige Jude“ (Propaganda-Ausstellung) Kairoer Judenprozess (1933/34). . . . . 214 Kantonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Kantorowicz-Affäre (1880) . . . . . . . . . 217 Kielce-Pogrom → Pogrom in Kielce (1946) Kindertransporte. . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Klagemauer-Vorfall in Jerusalem (1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Kölner Karneval (1934–1939) . . . . . . 221 Köpenicker Blutwoche . . . . . . . . . . . . 222 Kommissarbefehl. . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Konitzer Ritualmordvorwurf → Ritualmordvorwurf in Konitz (1900) Kulturkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Kunmadaras-Pogrom → Pogrome in Ungarn (1946) Kurfürstendammkrawalle . . . . . . . . . 228
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Inhalt
Kutisker-Barmat-Skandal → BarmatSkandal (1925) Laterankonzil 1215 . . . . . . . . . . . . . . . 229 Leibzoll. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Leo Frank-Fall → Fall Frank, Leo (USA 1913) Levin-Poeschke-Mord (1980) . . . . . . . 232 Lewin-Fall → Fall Lewin, Herbert Limpieza de sangre → Blutreinheitsgesetze Linker Antisemitismus in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Linzer Programm . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Loi Gayssot → Faurisson-Affäre Luxemburger Abkommen 1952 . . . . . 237 Magdeburger Justizskandal (1925/26) 241 Magdeburger Mordfall HellingHaas → Magdeburger Justizskandal (1925/26) Maigesetze (Russland 1882) . . . . . . . . 243 Marburger Antisemitismusprozess (1888) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Marienkult und Judenfeindschaft in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Massaker von Lissabon (1506) . . . . . . 248 Maßregeln gegen das Vagabundieren → Emanzipationsverweigerung (Rumänien 1859–1923) Merker-Fall → Paul Merker-Fall Miskolc-Diósgyör-Pogrom → Pogrome in Ungarn (1946) Möllemann-Affäre. . . . . . . . . . . . . . . . 250 Mortara-Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
Numerus clausus → Judenordnungen → Judenparagraph des norwegischen Grundgesetzes → Jugoslawische antijüdische Gesetze → Italienische Rassengesetze → Slowakische Rassengesetze → Ungarische Rassengesetze Nürnberger Gesetze . . . . . . . . . . . . . . 257 Nürnberger Prozesse. . . . . . . . . . . . . . 258 Oberammergauer Passionsspiele → Passionsspiele Operation Frühlingswind → Vélodrome d’Hiver-Razzia (1942) Ostjudendebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Ostjuden-Erlass (1919) . . . . . . . . . . . . 262 Passionsspiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Paul Merker-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Peel-Commission → Arabischer Aufstand (1936–1939) Péril Juif → „Der ewige Jude“ (Propaganda-Ausstellung) Pfefferkornstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Pferdebahn-Affäre → KantorowiczAffäre (1880) Pogrom in Bagdad („Farhud“, 1941) 269 Pogrom in Berlin → Berliner Judenpogrom (1571) Pogrom in Bukarest (1941). . . . . . . . . 270 Pogrom in Constantine (1934) → Constantine-Ausschreitungen (1934) Pogrome im Deutschen Reich November 1938 → Novemberpogrome 1938 Pogrom in Dorohoi (1940) . . . . . . . . . 272
Neuenhovener Ritualmordvorwurf → Ritualmordvorwurf in Neuenhoven (1834)
Pogrom in Dusetos. . . . . . . . . . . . . . . . 273
Nieland-Fall → Fall Nieland Nostra aetate → Zweites Vatikanisches Konzil
Pogrom in Franken und am Mittelrhein → Armleder-Pogrome
Novemberpogrome 1938 („Reichskristallnacht“). . . . . . . . . . 253
Pogrom im Elsass (1338) → ArmlederPogrome
Pogrom in Gomel → Pogrome im Russischen Reich (1903–1905) Pogrom in Gunzenhausen (1934) . . . . 274
Inhalt
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Pogrom in Iaşi (1941) . . . . . . . . . . . . . 276
Raubgold-Debatte in der Schweiz . . . 326
Pogrom in Jedwabne (1941) . . . . . . . . 277
Reichsbürgergesetz → Nürnberger Gesetze
Pogrom in Kielce (1946) . . . . . . . . . . . 279 Pogrom in Kischinew (1903). . . . . . . . 282
Reichskristallnacht → Novemberpogrome 1938
Pogrome in Lemberg (1918 und 1941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
Reichskulturkammergesetz . . . . . . . . 329
Pogrom in Neustettin (1881) . . . . . . . . 287
Restitution → Wiedergutmachung
Pogrome in Odessa . . . . . . . . . . . . . . . 289
Revolution 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
Pogrome in der Pestzeit (1348–1350). 292
Revolution und Konterrevolution (1918–1923) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
Pogrome in Polen (1918–1921). . . . . . 294 Pogrome im Russischen Bürgerkrieg (1917–1921) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Pogrome im Russischen Reich (1903– 1906). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Pogrom im Scheunenviertel (1923) . . 299 Pogrom in Sevilla → Pogrom in Spanien (1391) Pogrome in der Slowakei (1945–1946) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
Rintfleisch-Pogrom → RintfleischVerfolgungen Rintfleisch-Verfolgungen . . . . . . . . . . 337 Ritualmordlegenden im postsowjetischen Russland . . . . . . . . . . . . . 338 Ritualmordprozess in Blois (1171) . . . 340 Ritualmordprozess in Vraca (1891–1893) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
Pogrom in Spanien (1391). . . . . . . . . . 302
Ritualmordvorwurf in Amasya (1530) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
Pogrom in Topol’čany → Pogrome in der Slowakei (1945–1946)
Ritualmordvorwurf in Damaskus → Damaskus-Affäre (1840)
Pogrome in der Ukraine . . . . . . . . . . . 303
Ritualmordvorwurf in Kielce → Pogrom in Kielce (1946)
Pogrome in der Ukraine (1648–1649) → Chmielnicki-Pogrome (1648–1649) Pogrome in Ungarn (1946) . . . . . . . . . 308
Ritualmordvorwurf in Konitz (1900) 343 Ritualmordvorwurf auf Korfu (1891) 347
Polenaktion → Ausweisung polnischer Juden (1938)
Ritualmordvorwurf in Marchegg → Ritualmordvorwurf in Pösing und Marchegg (1529)
Prangerumzüge im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Ritualmordvorwurf in Neuenhoven (1834) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
Preußische General-Juden-Reglements (1730 und 1750) . . . . . . . . . . 315
Ritualmordvorwurf in Norwich (1144) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
Preußisches Emanzipationsedikt (1812) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Ritualmordvorwurf in Petrovo selo (1928) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
Protokolle der Weisen von Zion . . . . . 321 La Rafle du Vélodrome d’Hiver → Vélodrome d’Hiver-Razzia (1942)
Ritualmordvorwurf in Polná (1899) → Hilsner-Affäre
Rajk-Schauprozess . . . . . . . . . . . . . . . 325
Ritualmordvorwurf in Pösing und Marchegg (1529) . . . . . . . . . . . . . . . 354
Räterevolution → Revolution und Konterrevolution (1918–1923)
Ritualmordvorwurf in Rinn (1475) → Anderl-von-Rinn-Kult
xiv
Inhalt
Ritualmordvorwurf in Tiszaeszlár (1882) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
Sykes-Picot-Abkommen → Balfour Erklärung
Ritualmordvorwurf in Trient (1475) . 356
Talmudhetze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
Ritualmordvorwurf in Xanten (1891) 358
Talmudverbrennungen → Bücherverbrennungen (Mittelalter und frühe Neuzeit)
Rosenberg-Prozess (USA 1951) . . . . . 361 Rotter-Skandal → Sklarek-Skandal (1929) Şăineanu-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
Toleranzpatente (Österreich-Ungarn 1781–1788) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
Schach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
Tribunal do Santo Offício → Inquisition in Portugal
Schächtverbot-Debatte in Norwegen (1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
Türkische Vermögenssteuer → Varlik Vergisi
Schächtverbot-Debatten in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
Ungarische Judengesetze (1938–1942) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410
Scheunenviertel-Pogrom → Pogrom im Scheunenviertel (1923) Schmidt-Begin-Konflikt (1981) . . . . . 370
Varlık Vergisi (1942) . . . . . . . . . . . . . . 412 Vélodrome d’Hiver-Razzia (1942) . . . 413
Schriftleitergesetz . . . . . . . . . . . . . . . . 378
Verbrennung undeutschen Schrifttums → Bücherverbrennungen 1933
Schutzjuden → Preußische GeneralJuden-Reglements (1730 und 1750)
Verfluchungsthese → Zweites Vatikanisches Konzil
Semana tragica (1919) . . . . . . . . . . . . 380
Verschwörung der Kremlärzte. . . . . . 416
Sklarek-Skandal (1929). . . . . . . . . . . . 381
Vertreibung der Juden aus England (1290) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
Schmierwelle (1959–1960) . . . . . . . . . 373
Sklavenhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Slánský-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Slowakische Rassengesetze (1939–1941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 South Wales-Ausschreitungen (1911) 389 Speyrer Judenprivileg vom 4. April 1544 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Stalinistische Kampagnen gegen „Kosmopolitismus“ und „jüdischen Nationalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Statut des Juifs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Streckfuß-Debatten . . . . . . . . . . . . . . . 399 Strousberg-Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Stuttgarter Schuldbekenntnis . . . . . . 405 Sühneabgaben → Novemberpogrome 1938 Sühneleistung → Novemberpogrome 1938
Vertreibung der Juden aus Frankreich (14. Jahrhundert) . . . . . . . . . 420 Vertreibung der Juden aus Spanien (1492) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Vertreibung der Juden aus Thrakien (1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Verwerfungstheorie → Zweites Vatikanisches Konzil Viertes Laterankonzil (1215) → Laterankonzil 1215 Volkspredigten im Mittelalter . . . . . . 423 Waldheim-Affäre. . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Walser-Bubis-Debatte . . . . . . . . . . . . . 428 Wannsee-Konferenz . . . . . . . . . . . . . . 430 Warenhausfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Wartburgfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Wiedergutmachung. . . . . . . . . . . . . . . 435
Inhalt Wiener Kongress . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Wollheim-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Xantener Ritualmordvorwurf → Ritualmordvorwurf in Xanten (1891) Zündel-Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
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Zwangsdisputationen Paris (1240) und Barcelona (1263) . . . . . . . . . . . . . . . 445 Zwangspredigten → Volkspredigten im Mittelalter Zwangstaufe (Portugal) . . . . . . . . . . . 447 Zweites Vatikanisches Konzil . . . . . . . 448
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der Orte und Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der Organisationen und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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AMIA-Bombenattentat (1994)
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Affäre Blum → Magdeburger Justizskandal (1925/26) Affäre Haas → Magdeburger Justizskandal (1925/26) Affäre Kölling-Haas → Magdeburger Justizskandal (1925/26) Aktionsjuden → Novemberpogrome 1938
AMIA-Bombenattentat (1994) Mit über 200.000 Juden lebt in Argentinien nicht nur eine der größten jüdischen Gemeinden Lateinamerikas, sondern das Land ist gleichzeitig auch Heimat für Hunderttausende Einwanderer aus arabischen Staaten, von denen viele Verbindungen in den Nahen Osten pflegen. Erhebliche Einschnitte in das Verhältnis zwischen Juden und Arabern sowie zwischen Argentinien, dem Libanon und Iran stellten zwei blutige und bis heute nicht restlos aufgeklärte Bombenattentate dar, die 1992 und 1994 die Jüdische Gemeinde in Argentinien erschütterten. Mit diesen Attentaten, bei denen 116 Menschen ihr Leben verloren und über 350 verletzt wurden, kam nicht nur der arabische Terrorismus nach Lateinamerika, sondern führte auch zu einer immer größeren Anzahl von anti-jüdischen und anti-israelischen Vorfällen. Am 17. März 1992 explodierte vor der dreistöckigen Israelischen Botschaft in Buenos Aires eine Autobombe, die 29 Personen in den Tod riss und 242 verletzte. Unter den Opfern befanden sich israelische Diplomaten, Zivilisten und Kinder einer benachbarten katholischen Schule. Mehr als 400 umliegende Wohnungen und Geschäfte wurden zerstört oder stark beschädigt. Obgleich der islamistische Jihad sich zu dem Selbstmordattentat bekannte und es als Strafaktion für den ein Monat zuvor von der israelischen Armee getöteten Generalsekretär des militärischen Flügels der Hisbolla Sayyid Abbas al-Musawi bezeichnete, liefen die halbherzig angestellten Untersuchungen ins Leere. 1996 beschuldigte die Argentinische Akademie der Ingenieurwissenschaften einen israelischen Botschaftsangehörigen, die Bombe in der Botschaft selbst gezündet zu haben. Zwei Jahre später ging aus einem abgehörten Telefongespräch aus der iranischen Botschaft jedoch klar hervor, dass die Drahtzieher und Verantwortlichen des Attentats aus dem Iran und dem Libanon stammten. Argentinien verwies daraufhin sechs der sieben iranischen Botschaftsangehörigen des Landes. Am 18. Juli 1994 kamen bei einem Bombenattentat auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA (Asociación Mutual Israelita Argentina) und die DAIA (Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas) in Buenos Aires 87 Menschen ums Leben, darunter führende Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde, über 100 wurden verletzt. Das siebenstöckige Gebäude, Sitz zahlreicher jüdischer Organisationen und Vereine, wurde vollständig zerstört. Das Attentat löste die größte Ermittlungsaktion in der argentinischen Rechtsgeschichte aus (die Akten umfassen mittlerweile 120.000 Seiten) und führte zu einem selbst in Argentinien nicht für vorstellbar gehaltenen Fall von krimineller Rechtsbeugung und regierungsamtlicher Vertuschung, in den hohe Politiker, Regierungsangestellte, Richter und Geheimdienstler verwickelt waren. Im November 2005 bezichtigte der Staatsanwalt Alberto Nisman den 21-jährigen Libanesen Ibrahim Hussein Berro der Tat und warf den Regierungen des Libanons und des Irans vor, das Selbstmordattentat geplant und ausgeführt zu haben. Die Schuld Ber-
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Anderl-von-Rinn-Kult
ros, der nach libanesischen Angaben im Juli bzw. September 1994 von der israelischen Armee getötet worden sein soll, konnte jedoch bis heute wegen fehlender DNA-Proben nicht eindeutig nachgewiesen werden. Libanon und Iran beschuldigten ihrerseits Israel, das Attentat gemeinsam mit argentinischen Regierungsstellen verübt zu haben, um die Hisbollah (Partei Gottes) und den Iran zu diffamieren. Auf der Grundlage der Ermittlungsergebnisse der vom argentinischen Staatspräsidenten Néstor Kirchner eingesetzten Sonderermittler Alberto Nisman und Marcelo Martínez Burgos beantragte der Bundesrichter Rodolfo Canicoba Corral am 9. November 2006 internationale Haftbefehle gegen den damaligen iranischen Präsidenten Ali Akbar Haschemi Rafsandschani sowie zwei seiner damaligen Minister, zwei Diplomaten und drei führende Milizionäre, denen er Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorwarf. Im Oktober 2009 erhob der Bundesrichter Ariel Lijo, gestützt auf Recherchen von Interpol und der amerikanischen und israelischen Geheimdienste, Anklage gegen den früheren, aus dem Libanon stammenden Staatspräsidenten Carlos Menem, seinen Bruder Munir Menem, den früheren Chef des Geheimdienstes SIDE (Servicio de Inteligencia del Estado) Hugo Anzorreguy, den damals ermittelnden und jetzt pensionierten Bundesrichter Juan José Galeano sowie zahlreiche hohe Regierungsangestellte, die Aufklärung des Attentats von 1994 behindert, Akten gefälscht und vernichtet sowie Zeugen bestochen zu haben.
Literatur
Michael Studemund-Halévy
Gustavo Efron, El atentado y las representaciones sociales a través de los medios, in: Índice 23 (2005), S. 231–253. Carlos Escudé, Limits to governability, corruption and transnational terrorism: the case of the 1992 and 1994 attacks in Buenos Aires, in: Estudios Interdisciplinarios de América Latina y el Caribe 14 (2003), 2, S. 127–148. Beatriz Gurevich, Las relaciones entre judíos y árabes de Buenos Aires después del atentado contra la Asociación Mutual Israelita Argentina, in: Árabes y judíos en Iberoamérica, 2008, S. 387–416. Juan Salinas, AMIA, el atentato: quiénes son los autores y por qué no están presos, Buenos Aires 1992.
Anderl-von-Rinn-Kult Das unweit von Innsbruck liegende Rinn wurde zu einem Wallfahrtsort einer Ritualmordlegende. Der Arzt des nahegelegenen Frauenstiftes von Hall in Tirol, Hippolyt Guarinoni (1571–1654), war es, der den „Anderl-Kult“, basierend auf Gerüchten und Visionen, etabliert hat. Volksglaube verband sich mit gegenreformatorischen Auffassungen des Hochmittelalters, die nicht nur Hexen, sondern auch Juden als Christusfeinde, Teufelsdiener – Guarinoni nannte sie „Vettern des Teufels“ – sahen. Guarinoni war vertraut mit dem Kult, der sich rund um den vermeintlichen Ritualmordfall des Simon von Trient (auch Simmerle genannt) aus dem Jahr 1475 entwickelt hatte (→ Ritualmordvorwurf in Trient). Auch an anderen Orten wurden Juden im Zusammenhang mit dem Tod von Kindern des Ritualmordes beschuldigt und, wie damals üblich, unter Folter zu Geständnissen gezwungen. Hippolyt Guarinoni hörte 1619 erstmals das Gerücht,
Anderl-von-Rinn-Kult
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es habe in Rinn einen weit zurückliegenden Ritualmord gegeben. Er begann mit intensiven Nachforschungen, die in Hinblick auf Erinnerungen, Quellen und somit Namen, Datierung oder Einzelheiten zunächst ergebnislos blieben. Es scheint aber, dass er mit seinen Befragungen suggestiv wirkte, denn schließlich erzählte ihm z.B. ein Mesner, dass das ermordete Kind Anderle geheißen habe. Es waren halluzinatorische Zustände, die Guarinoni zu Eingebungen verhalfen, besonders die Jahreszahl 1462 beruht auf einem Traum des Arztes. Der Volkskundler Georg R. Schroubek erforschte das Zustandekommen der Anderle-Legende in zahlreichen Aufsätzen und forderte immer wieder ein, den hyperaktiven Guarinoni in dessen Zwiespältigkeit aus den Bedingungen seiner Zeit zu verstehen, etwa wenn er seinen Stiefbruder in seinem Auftreten gegen den Hexenwahn unterstützte. Die Entstehung der Anderle-Legende hat auch mit seinem Bemühen um die Popularisierung von Heiligen des Landes Tirol zu tun. Die von ihm entwickelte Legende passt in das erzählerische Schema ähnlicher vermeintlicher Ritualmordfälle. Das Kind Andreas Oxner sei am 12. Juli 1462 von durchreisenden jüdischen Kaufleuten gefoltert und schließlich „abgestochen“ worden. Die verwitwete Mutter sei zur Arbeit auswärts gewesen, sie habe Anderl bei dessen Taufpaten zurückgelassen, der das Kind für einen Hut mit Goldstücken an durchziehende jüdische Kaufleute verkauft habe. Der Mord wurde in grausamen Details geschildert und schlug sich später in zahlreichen Darstellungen nieder. Guarinoni gelang es, einen über das Lokale hinausgehenden Kult zu etablieren, der bis in das 20. Jahrhundert fortdauerte. Dazu gehörte, dass in Judenstein bei Rinn zu Ehren des Andreas 1678 ein Gotteshaus über dem „Marterstein“ geweiht wurde, die dem Andreas zugeschriebene Kinderleiche dorthin überführt und schließlich 1744 als Reliquie in einem Glasschrein neben dem Hochaltar aufgestellt wurde. Ab 1753 wurde in der Diözese Brixen zum 12. Juli – wie für Tagesheilige üblich – jährlich ein Tagesbrevier gebetet, den Besuchern von Judenstein wurde ein „Ewiger Vollkommener Ablass“ gewährt, zwei Jahre danach erließ Papst Benedikt XIV. die Constitutio „Beatus Andreas“, in der Andreas als „beatus aequipollens“ bezeichnet wurde. Wenn auch nicht seliggesprochen, kam dies – formal an Vermögen – einer Seligsprechung gleich. Volksfrömmigkeit, Wallfahrten, die Aufnahme in den Tiroler Sagenkanon, Andachtsbilder, Figurengruppen, Anderle-Spiele, das Aufgreifen der Legende durch die katholischen Exponenten des modernen Antisemitismus wie den Wiener Pfarrer Joseph Deckert oder die Übernahme der Ritualmord-Legende in der NS-Literatur sind Beispiele für die Verwurzelung des Anderl-Kultes. Dass nach der Shoah so lange an diesem Kult festgehalten wurde, muss irritieren. Der bis 1980 amtierende Innsbrucker Bischof Paulus Rusch beließ es zunächst beim Status quo. Er galt sogar als Anderl-Verehrer, noch 1971 behauptete er, die Blutbeschuldigung sei nicht widerlegt. Der Abbau des Kultes erfolgte in kleinen Schritten. 1954 wurde ein neuer Diözesankalender approbiert, in dem die Andreas-Liturgie nicht mehr vorhanden war. 1961 wurden die Judenfiguren und die Legendentafeln unter Protest aus der Kirche entfernt. Es dauerte bis 1985, bis Bischof Stecher die Sistierung des Kultes endgültig in Angriff nahm. Die darauf folgenden Debatten erregten in Österreich und internationalen Medien großes Aufsehen. Die österreichische Politik mischte sich kaum ein, die Kirchenhierarchie war sich einig. Einzig der erzkonservative Bi-
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Ansbacher Ratschlag
schof Kurt Krenn meinte in einem Interview am 22. August 1987, dass in der „Diskussion um dieses Kind noch nicht alles ausgeschöpft“ sei. Die Proteste einer „Verehrergemeinschaft“ erregten wegen ihrer Uneinsichtigkeit zwar Aufsehen, blieben jedoch ohne Erfolg. Die Kirche in Judenstein wurde schlussendlich umgewidmet und alle auf den Ritualmord hinweisenden Darstellungen entfernt bzw. verdeckt. Erst 1994 wurde im Verordnungsblatt der Diözese Innsbruck das „Dekret zu Beendigung des Kultes des ‚Seligen Anderle von Rinn‘“ veröffentlicht, 1995 folgte das Verbot jeder öffentlichen Verehrung. Fundamentalistische Kreise und Lefebvre-Anhänger ließen es sich nicht nehmen und veranstalten weiterhin Wallfahrten zum Anderl-Tag nach Judenstein.
Literatur
Albert Lichtblau
Judenstein. Das Ende einer Legende, hrsg. von der Diözese Innsbruck, Innsbruck o.J. Georg R. Schroubek, Andreas von Rinn. Der Kult eines „heiligen Ritualmordopfers“ im historischen Wandel, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Neue Serie Band XLIX / Gesamtserie Band 98, Wien 1995, S. 371–396. Georg R. Schroubek, Zur Frage der Historizität des Andreas von Rinn, in: Susanna Buttaroni, Stanisław Musial (Hrsg.), Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte, Wien, Köln, Weimar 2003, S. 173–196.
Ansbacher Ratschlag Ende Mai 1934 verabschiedete die Bekennende Kirche die sogenannte Barmer Theologische Erklärung, worin sie nicht nur das kirchliche Selbstbestimmungsrecht gegenüber der staatlichen Obrigkeit verteidigte, sondern in der Offenbarung Gottes die Vielfalt der weltlichen Kulturen und Ideen anerkannte. Gegen diese Erklärung wurde am 11. Juni 1934 unter dem Titel „Ansbacher Ratschlag“ ein Protestschreiben veröffentlicht, das von sechs fränkischen Pfarrern und den beiden renommierten Theologieprofessoren der Erlanger Universität, Paul Althaus und Werner Elert, unterzeichnet war. Die Pfarrer gehörten dem „Ansbacher Kreis“ an, einer Arbeitsgruppe innerhalb des „Nationalsozialistischen Evangelischen Pfarrerbundes“, die von Pfarrer Hans Sommerer, Direktor der Pflegeanstalt Bruckberg und SA-Mitglied, geleitet wurde. Dem Ansbacher Ratschlag lag eine völkische Argumentation zugrunde: Die von Gott geschaffene „natürliche Ordnung“ umfasse Familie und Volk sowie Rasse im Sinne eines „Blutzusammenhangs“. Es sei der Wille Gottes, dass jeder seiner Ordnung unterworfen bleibe. Während es zu allen Zeiten die Aufgabe der Kirche gewesen sei, das Gesetz Gottes zu verkünden, komme jeweils auch eine spezifisch historische Aufgabe hinzu, hieß es darin. Die gegenwärtige Verpflichtung der Kirche in Deutschland ruhe auf der völkischen Staatsordnung. Jede Obrigkeit – selbst in ihrer Entstellung – verdiene von den gläubigen Christen Verehrung, da die Obrigkeit „Werkzeug göttlicher Entfaltung“ sei, lautete die Argumentation weiter. Gott habe dem deutschen Volk in seiner Not nun aber mit dem Führer einen „frommen und getreuen Oberherrn“ geschenkt und mit der nationalsozialistischen Staatsordnung ein „Regiment mit ‚Zucht und Ehre‘“ bereitet. So verstanden die Unterzeichner den nationalsozialistischen Staat und dessen Führer Adolf Hitler als gottgegebene Ordnung von der Qualität einer göttlichen Offenbarung.
Antisemitenkongresse
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Die Verbindung eines religiösen und überzeitlichen mit einem entwicklungsgeschichtlichen Argument ermöglichte es den Autoren des Ansbacher Ratschlages, das Bekenntnis zum Evangelium zu bewahren, obwohl sie gleichzeitig die völkischen Konzepte über Rasse und Volk als gottgewollte Ordnung propagierten. Damit ermöglichten die Unterzeichner, ohne Juden darin explizit zu erwähnen, eine theologische Rechtfertigung der deutschen Volksgemeinschaft und dem damit verbundenen zunehmend offenen Antisemitismus, wie er auch in der dezidiert christlichen Bevölkerung ausagiert wurde. Die Deutschen Christen griffen den Ansbacher Ratschlag begeistert auf und druckten ihn unter dem Titel „Führende Theologen widerlegen Barmen“ am 1. Juli 1934 vollständig in der deutsch-christlichen Zeitschrift „Evangelium im Dritten Reich“ ab. „Theologen von Weltruf“ – damit waren Elert und Althaus gemeint – hätten den Barmer Thesen für alle Zeit den Boden entzogen. Die Zeitschrift wandte sich an die Mitglieder im Nationalsozialistischen Evangelischen Pfarrerbund mit dem Bestreben, endlich die „genuin lutherische Stimme“ zu erheben. Durch die Rückendeckung der bedeutenden Erlanger Theologen fühlten sich die Deutschen Christen so bestärkt, dass sie gegenüber Landesbischof Meiser das Treuegelöbnis aufkündigten. Als am 9. September fränkische Pfarrer auch noch zur Eingliederung der bayerischen Landeskirche in die Reichskirche aufriefen, erklärten Althaus und Elert umgehend ihre Trennung vom Ansbacher Kreis. Althaus distanzierte sich schließlich inhaltlich vom Ansbacher Ratschlag, und zwar am 19. Oktober 1934 bei der zweiten Bekenntnissynode in Berlin-Dahlem. Elert hielt dagegen an seiner Fundamentalkritik gegen die Barmer Erklärung fest. Bei Befürwortern und Unterzeichnern der Barmer Erklärung stieß die Kooperation der renommierten Erlanger Theologen Althaus und Elert mit den Deutschen Christen auf Unverständnis.
Literatur
Tanja Hetzer
Jörg Haustein, Der „Ansbacher Ratschlag“, in: Helmut Edelmann u.a., Nation im Widerspruch. Aspekte und Perspektiven aus lutherischer Sicht heute, Gütersloh 1999, S. 221– 227. Tanja Hetzer, Deutsche Stunde. Volksgemeinschaft und Antisemitismus in der politischen Theologie bei Paul Althaus, München 2009. Axel Töllner, Eine Frage der Rasse? Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, der Arierparagraf und die bayerischen Pfarrerfamilien mit jüdischen Vorfahren im „Dritten Reich“, Stuttgart u.a. 2007.
Antisemitenkongresse Nachdem sich der Antisemitismus zu Beginn der 1880er Jahre von Berlin ausgehend in Deutschland und anderen europäischen Ländern als politische Bewegung konstituiert hatte, versuchten antisemitische Aktivisten sich auch auf europäischer Ebene zu organisieren. Den Anlass dazu bot der → Ritualmordvorwurf von Tiszaeszlár, der eine breite öffentliche Resonanz in Europa hervorgerufen hatte.
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Antisemitenkongresse
Zu den Initiatoren des ersten europäischen Antisemitenkongresses gehörten der Vorsitzende des antisemitischen Dresdner Reformvereins Alexander Pinkert und der ungarische Antisemit Győző Istóczy. Im Juni 1882 erschien in antisemitischen Blättern die Ankündigung, dass im September in Dresden ein internationaler „Antisemiten-Congreß“ stattfinden werde. Als Gäste waren etwa Győző Istóczy und Géza Ónódy aus Ungarn, der stellvertretende Vorsitzende des Österreichischen Reformvereins, Robert Pattai, der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker, ebenfalls aus Berlin der Agitator Ernst Henrici, der Verleger Ernst Schmeitzner aus Chemnitz, Richard Szkalla aus Mähren und darüber hinaus „russische und französische Antisemitenführer“ angekündigt. Nachdem die Versammlung am 11. September 1882 in Dresden eröffnet worden war, wurde offensichtlich, wie wenig von den europäischen Ansprüchen eingelöst werden konnte. Weder waren die angekündigten Teilnehmer aus Frankreich eingetroffen, noch hatten sich Antisemiten aus anderen westeuropäischen Ländern eingefunden. Zwar sprachen die Veranstalter von Delegierten aus Russland, doch handelte es sich dabei offenbar eher um in Sachsen lebende russisch-stämmige Studenten. Die versammelten Antisemiten kamen nahezu ausschließlich aus dem Deutschen Kaiserreich und der Habsburgermonarchie. Insgesamt waren vermutlich etwa zweihundert Personen versammelt, zur Hälfte Vertreter antisemitischer Organisationen. Den Vorsitz des Kongresses hatten Rittmeister a.D. von Bredow und Iván Simonyi, Mitbegründer der ungarischen Antisemiten-Partei. Zwar wurde in den Vorträgen, Manifesten und Resolutionen der internationale Charakter der Versammlung betont, überwiegend beschäftigten sich die versammelten Antisemiten jedoch mit internen Konflikten und unterschiedlichen politischen Konzepten. Der Kongress wählte ein ständiges Komitee unter dem Vorsitz des Chemnitzer Verlagsbuchhändlers Ernst Schmeitzner, in dem ebenfalls allein Delegierte aus dem Deutschen Reich und der Habsburgermonarchie vertreten waren. Gleichzeitig wurde beschlossen, im darauf folgenden Jahr einen zweiten internationalen Kongress abzuhalten. Insgesamt trat nicht nur das Missverhältnis zwischen den europäischen Ambitionen und den in Dresden vertretenen Ländern hervor, ebenso eklatant war der Widerspruch zwischen den universalistischen Forderungen auf der einen Seite und den inneren Konflikten sowie konzeptionellen Unklarheiten auf der anderen Seite. Zeitgenössische Beobachter sprachen daher vom Scheitern des ersten europäischen Antisemitenkongresses. Der in Dresden konstituierte Verein „Alliance antijuive universelle“ rief dennoch für April 1883 zum zweiten europäischen Kongress nach Chemnitz ein. Antisemitische Zeitschriften hatten die Teilnahme von Tschechen, Ungarn, Polen, Serben und Russen angekündigt, doch als der Kongress eröffnet wurde, waren lediglich 35 Antisemiten zusammengekommen. Vollmundig verkündeten antisemitische Zeitungen, dass Vertreter aus Deutschland, Österreich, Ungarn, Russland, Rumänien und Serbien erschienen seien. Die Veranstalter aber konnten die geringe Zahl der Besucher nicht ignorieren und erklärten sie schlicht damit, dass dieser Kongress andere Aufgaben habe als der im Vorjahr in Dresden zusammengekommene. Aus praktischen Erwägungen sei nur eine beschränkte Zahl von Aktivisten eingeladen worden. Obgleich der einladende Verein einen französischen Namen trug, waren keine Vertreter aus Frankreich erschienen, und trotz der hochtrabenden Hinweise auf die europäischen
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Teilnehmer traten auch auf dem zweiten Kongress allein Redner aus dem deutschen Kaiserreich und der Habsburgermonarchie auf. Ein klägliches Nachspiel hatten die europäischen Organisationsversuche im Jahr darauf in Frankreich. Wiederum gehörte der ungarische Antisemit Győző Istóczy zu den treibenden Kräften. Drei Monate nach dem Chemnitzer Debakel schickte Istóczy einen offenen Brief an die französische Zeitschrift „L’Anti-Semitique“ und forderte die Abhaltung eines internationalen Kongresses und die Gründung einer „Alliance AntiIsraelite Universelle“ in Paris. Unmittelbar darauf rief die Zeitschrift ihre Leser zur Teilnahme auf und gab bereits ein vorläufiges Programm bekannt. Nun aber bremste Istóczy den Elan der französischen Antisemiten und mahnten eine längerfristige Vorbereitung an. Bald sah sich die Zeitschrift „L’Anti-Semitique“ genötigt, den ungarischen Antisemiten beizupflichten. Daraufhin kündigte sie den internationalen AntisemitenKongress in Paris für den Februar 1884 an. Im selben Monat aber wurde der Kongress aus nicht offengelegten Gründen auf März verschoben, und als die Zeitung im Juni 1884 ihr Erscheinen einstellen musste, hatte der Kongress noch immer nicht stattgefunden; das Vorhaben war gescheitert. Trotz der Fehlschläge der bisherigen europäischen Kongresse kam es 1886 zu einem weiteren Versuch, die europäischen Antisemiten zu organisieren. Diesmal ging die Initiative jedoch weder von Deutschland noch von Ungarn oder Frankreich, sondern von Rumänien aus. Im September 1886 fand in Bukarest auf Einladung des rumänischen Antisemiten Constantin Moroiu und unter Vorsitz des Abgeordneten Eduard Gherghely ein weiterer europäischer Antisemiten-Kongress statt. Angekündigt war zwar die Teilnahme von Édouard Drumont, Győző Istóczy und Adolf Stoecker. Wie in Dresden und Chemnitz aber waren nur sehr wenige Antisemiten aus anderen europäischen Ländern anwesend, aus Frankreich Jacques de Biez etwa und aus Ungarn Ferenc Komlóssy. Trotz der geringen internationalen Teilnahme hielten die Versammelten an ihren ambitionierten Zielen fest und gründeten die internationale antijüdische Organisation „Alianţa universală anti-israelită“. Auch dieser Kongress aber konnte die europäischen Ansprüche nicht einlösen, und die Allianz war wiederum weit davon entfernt, einen internationalen Charakter zu haben.
Literatur
Ulrich Wyrwa
Massimo Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler, Frankfurt am Main 2003. Ulrich Wyrwa, Die Internationalen Antijüdischen Kongresse von 1882 und 1883 in Dresden und Chemnitz. Zum Antisemitismus als europäischer Bewegung, in: Clio-online. Themenportal Europäische Geschichte, 2009.
Antisemitenpetition Die Jahre 1879 bis 1881 waren geprägt vom → „Berliner Antisemitismusstreit“, den der Historiker Heinrich von Treitschke mit seinem Aufsatz „Unsere Ansichten“ ausgelöst hatte. Am Höhepunkt der Debatten plante eine Gruppe radikaler Antisemiten eine Petition an Kanzler Bismarck. Mit Unterschriften aus dem ganzen Reich sollte Unter-
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Antisemitenpetition
stützung für antisemitische Forderungen erlangt werden. Initiatoren waren Bernhard und Paul Förster, Max Liebermann von Sonnenberg und Ernst Henrici. Metaphorik und Inhalte der Petition sind direkte Vorläufer antisemitischer Politik des 20. Jahrhunderts: „In allen Gauen Deutschlands hat sich die Ueberzeugung durchgerungen, daß das Ueberwuchern des jüdischen Elementes die ernstesten Gefahren für unser Volksthum in sich birgt“, beginnt der Text. Die Juden hätten die Herrschaft übernommen, die schwere Arbeit werde durch die „schwielige Hand der Christen“ erledigt, Kapital und Immobilien seien in jüdischer Hand, der jüdische Einfluss in Presse und Staatsämtern wachse. Um den Boden, den „unsere Väter […] mit ihrem Blute gedüngt“ hätten, um deutschen Brauch, deutsche Sitte, christliche Weltanschauung und christliche Überlieferung zu schützen, dürfe „ein fremder Stamm, dem unsere humane Gesetzgebung das Gast- und Heimathsrecht gewährt hat, der uns aber seinem Fühlen und Denken nach ferner steht, als irgend ein Volk der gesammten arischen Welt“ nicht die Herrschaft übernehmen. Deshalb werde Bismarcks Unterstützung für die „Emancipation des deutschen Volkes von einer Art Fremdherrschaft“ erbeten. Die Petition gipfelt in vier konkreten Forderungen nach: 1. Einschränkung jüdischer Einwanderung, 2. Ausschluss von Juden von obrigkeitlichen Stellungen, insbesondere Einschränkung des Einsatzes in der Justiz, 3. Verbot jüdischer Lehrer in Volksschulen sowie eingeschränkter Zugang zum Dienst in höheren Schulen und 4. Wiederaufnahme der amtlichen Statistik über die jüdische Bevölkerung. Am 13. April 1881 wurde die Petition mit 267.000 Unterschriften dem Reichskanzler übergeben. Von der Berliner Studentenschaft, die von Treitschke dazu aufgefordert worden war, hatte fast die Hälfte unterzeichnet. Neben der jüdischen Gemeinde verurteilten christliche Vereine wie der protestantische „Reformverein“ und der „Christlich-Liberale Verein“ anlässlich der Petition öffentlich den Antisemitismus; die Sozialisten organisierten anti-antisemitische Arbeiterversammlungen; im November 1880 veröffentlichten Wissenschaftler (darunter Theodor Mommsen, Johann Droysen, Rudolf von Gneist und Rudolf Virchow), hohe Beamte, Richter und Industrielle auf Initiative des Berliner Oberbürgermeisters von Forckenbeck eine Erklärung gegen die Antisemitenpetition. Der Abgeordnete Albert Hänel von der „Fortschrittspartei“ stellte im Preußischen Landtag eine Anfrage zur Stellung der Regierung zum Antisemitismus, in seiner Rede verurteilte er den Rassenstandpunkt als „perfideste Wendung“ des Judenhasses. In der Diskussion zeigte das konservative Lager Verständnis für die Forderungen der Antisemiten. Die Regierung stellte aber klar, dass eine Änderung der gesetzlichen Stellung der Juden nicht vorgesehen sei. Die von den Liberalen geforderte Verurteilung der antisemitischen Agitation blieb aus. Bismarck reagierte nicht offiziell auf die Petition. Er bestätigte lediglich deren Erhalt.
Literatur
Daniela Kraus
Hans-Christian Gerlach, Agitation und parlamentarische Wirksamkeit der deutschen Antisemitenparteien 1873–1895, Diss. Kiel 1956. Karsten Krieger (Bearbeiter), Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenediti-
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on, im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung, 2 Bände, 1. Nachdruck, München 2004. Michael A. Meyer, Great Debate on Antisemitism. Jewish Reaction to New Hostility in Germany 1879–1881, in: Leo Baeck Institute Year Book XI (1966), S. 137–170.
Antisemitentage Neben den internationalen Antisemitischen Kongressen ( → Antisemitenkongresse), auf denen sich die antisemitische Bewegung auf europäischer Ebene zu verständigen suchte, stellten die drei deutschen Antisemitentage (bisweilen auch Antisemiten-Congresse genannt) in Kassel (1886), Bochum (1889) und Berlin (1894) Versuche dar, die zerstrittenen politischen Flügel der antisemitischen Bewegung zu vereinen, um die Wahlchancen und die politische Schlagkraft der Antisemitenparteien zu erhöhen. Es gab zudem am 26. Juni 1892 und am 17. September 1893 noch zwei Norddeutsche Antisemitentage in Berlin. Der erste Deutsche Antisemitentag fand zu Pfingsten Anfang Juni 1886 in Kassel statt und sollte der Flaute der antisemitischen Bewegung entgegenwirken. Die Ortswahl zeigt die große Bedeutung, die Hessen für die antisemitische Bewegung gewonnen hatte. Die Anregung zum Kasseler Antisemitentag ging vom westfälischen Antisemiten Adolf König aus. Von den ca. 80 Eingeladenen, zumeist Mitglieder der „Reformvereine“, nahm nur knapp die Hälfte an diesem Treffen teil. Allerdings waren mit Ausnahme Adolf Stoeckers und seiner Christlich-Sozialen fast alle zentralen Figuren der Bewegung gekommen: Ernst Henrici, Paul Förster, Max Liebermann von Sonnenberg, Theodor Fritsch, Otto Böckel und Ludwig Werner. Kernpunkt der Diskussion war die Frage, ob die anzustrebende einheitliche Organisation eine Partei mit klarem politischen Profil oder eher eine lose politische Vereinigung sein sollte. Vor allem Theodor Fritsch machte geltend, dass der Antisemitismus nicht zwingend mit einer bestimmten politischen Einstellung verbunden sei, sodass die Gründung einer auf eine politische Richtung festgelegten Partei nicht sinnvoll sei, zumal man bisher Zulauf aus allen politischen Lagern habe. Er plädierte dafür, eine Organisation, etwa eine „Germanische Allianz“ oder einen „Germanen-Bund“ zu schaffen, die massive Propaganda betreiben und so den antisemitischen Gedanken in die anderen Parteien implementieren sollte. Er konnte sich jedoch nicht durchsetzen, da die Mehrheit die Gründung einer Antisemitenpartei forderte. Die Abwesenheit der christlich-konservativen Richtung Stoeckers erleichterte die Einigung über wichtige Fragen. Da Geldmittel und ein klares Programm fehlten, beschränkte man sich zunächst auf ein ideelles Provisorium in Form der „Deutschen Antisemitischen Vereinigung“ (die sich dann im September 1886 konstituierte, DAV) und setzte auf regionale Schwerpunkte, indem man für Hessen die Gründung einer von allen Gruppierungen zu unterstützenden antisemitischen Partei beschloss, die dann am 31. Oktober 1886 in Kassel gegründet wurde. Die DAV sollte Propagandaarbeit leisten, um das Volk über die drohende „Juden-Gefahr“ aufzuklären. Außerdem wollte man eine organisatorische Zentrale in Leipzig aufbauen, die die Gründung einer „Deutschnationalen Reform-Partei“ voranbringen sollte. Gedacht war auch an die Schaffung von Einrichtungen, wie eines Rechtsschutzvereins, einer Verbandskasse sowie eines zentralen Publikationsorgans. Programmatisch einigte man
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sich darauf, den Widerruf der jüdischen Gleichberechtigung, was eine Beteiligung Stoeckers von vornherein unmöglich machte, und die recht allgemein gehaltene Forderung nach einer wirtschaftlichen Reformpolitik aufzunehmen. Der von Theodor Fritsch geleitete Geschäftsführende Ausschuss der DAV arbeitete aber auf unsicherer Basis, da die alten Gegensätze von antikonservativen und konservativen Antisemiten unverändert fortbestanden. Der Erfolg Otto Böckels bei den Reichstagswahlen 1887 gegen den Kandidaten der Konservativen und seine scharfe antikonservative Agitation führten zum Bruch zwischen den Antisemiten und Konservativen. Nachdem Böckel sich bereits 1888 von der DAV losgesagt hatte und es 1889 zu Konflikten der konservativen Antisemiten um Liebermann von Sonnenberg mit der „Deutschkonservativen Partei“ gekommen war, sahen sich Erstere gezwungen, doch in Richtung einer eigenen Partei zu denken. Dies sollte auf dem Antisemitentag in Bochum auf den Weg gebracht werden, der am 10. und 11. Juni 1889 auf Anregung Adolf Königs stattfand und an dem rund 250 Delegierte aus ca. 100 deutschen Städten teilnahmen. Man wollte den Antisemitentag am Pfingstmontag mit einer Volksversammlung, auf der führende Antisemiten sozialpolitische Reden halten sollten, eröffnen, ließ diesen Plan aufgrund der behördlichen Befürchtungen einer Störung von „links“ aber mit Rücksicht auf die „augenblicklichen Zeitumstände“ (gemeint war die damalige Streikbewegung) fallen und veranstaltete stattdessen im Schützenverein ein Volksfest, auf dem lediglich Grußadressen vorgetragen wurden. Dieses Mal waren auf dem Antisemitentag auch Adolf Stoecker und seine Christlich-Sozialen dabei und man versuchte erneut, zu einer Einigung der antisemitischen Parteien zu kommen, allerdings vergeblich, da die Meinungen über die grundsätzliche programmatische Ausrichtung weit auseinandergingen. Böckel, der im Vorfeld zusammen mit den Reformern in Dresden und Berlin versucht hatte, das Zustandekommen der gegen seine antikonservative Politik gerichteten Tagung und die Teilnahme Stoeckers zu verhindern, plädierte für die Unabhängigkeit von der „Deutschkonservativen Partei“, der sich die „Christlich-soziale Partei“ Stoeckers als Gruppe angeschlossen hatte, und wollte programmatisch den bisher von allen antisemitischen Parteien gemiedenen Begriff Antisemitismus im Namen der neuen Partei zum Ausdruck bringen. Dies stieß aber auf Ablehnung Paul Försters und Liebermann von Sonnenbergs, die die Bezeichnung „deutsch-sozial“ bevorzugten und das Adjektiv „antisemitisch“ wegen seines verhetzenden, nur das Negative betonenden Beigeschmacks ablehnten. Der Kompromissvorschlag „Antisemitische deutsch-soziale Partei“ fand nicht die Zustimmung Böckels. Man stellte die Namensfrage zunächst zurück, um den von einer Kommission (König, Fritsch, Liebermann von Sonnenberg, Stehlich und Förster) erarbeiteten Programmentwurf („Grundsätze und Forderungen der deutschen sozialen Partei“) zu diskutieren, der neben den bekannten antisemitischen Forderungen (Bekämpfung des schädlichen Einflusses des internationalen Judentums auf allen Gebieten mit gesetzlichen Mitteln, Aufhebung der Gleichberechtigung, Fremdenrecht für Juden, d.h. Ausschluss vom passiven und aktiven Wahlrecht, Beschränkung der Zulassung zu obrigkeitlichen Ämtern und Einführung einer Kopfsteuer, Ausweisung nicht naturalisierter Juden und Verbot der jüdischen Zuwanderung aus dem Osten) allgemeinpolitische Ziele (Betonung der christlichen Weltanschauung und der Treue zur Reichsverfassung, Forderung nach einem starken kaiserlichen Machtstaat, Berufsständestaat) und
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relativ radikale Forderungen nach einer Sozialreform enthielt. Das Programm, vor allem die starke Einschränkung der Staatsbürgerrechte für Juden, wurde von der Christlich-sozialen Partei abgelehnt, sodass sie der geplanten neuen Partei nicht beitreten wollte. In der Namensfrage stießen dann die antikonservativen und konservativen Antisemiten erneut zusammen. Bei der Abstimmung votierten von den verbliebenen 182 Delegierten 110 für den Kompromissvorschlag „Antisemitische deutsch-soziale Partei“ und 72 dagegen, woraufhin Böckel und der Dresdner Oswald Zimmermann sowie zwölf ihrer Anhänger die Tagung verließen. Von den verbliebenen Teilnehmern wurde die „Antisemitische deutsch-soziale Partei“ unter Führung Liebermanns von Sonnenberg gegründet (das Wort „antisemitisch“ wurde aber bald fallengelassen), die sich 1890 zur Reichtagswahl stellte, während die antikonservativen Antisemiten unter Führung Böckels im Juli 1890 in Erfurt die antikonservative „Antisemitische Partei“ (ab Mai 1891 „Antisemitische Volkspartei“) gründeten, die ab 1893 nach der Fusion mit der sächsischen Gruppe um Oswald Zimmermann den alten Namen „Deutsche Reformpartei“ wieder aufgriff. Statt zu einer Vereinigung hatte der Bochumer Antisemitentag also zur Gründung zweier antisemitischer Parteien geführt, die allerdings verabredeten, bei der Reichstagswahl 1890 und in ihren Agitationsgebieten und Interessensphären nicht miteinander zu konkurrieren. Nachdem Böckel in Hessen und in seiner Partei stark an Einfluss verloren hatte und im September 1894 von Marburg nach Berlin gewechselt war, trafen sich auf dem dritten Antisemitentag am 30. September 1894 in Berlin 200 Delegierte der „deutsch-sozialen Partei“ und der „Deutschen Reformpartei“, um deren Fusion zu beschließen. Auf einer Vertrauensmännerversammlung von 150 Delegierten kam es am 7. Oktober 1894 zum Zusammenschluss und zur Gründung der „Deutsch-sozialen Reformpartei“ unter der gemeinsamen Leitung der beiden Parteiführer Oswald Zimmermann und Max Liebermann von Sonnenberg. Otto Böckel verließ wegen seiner antikonservativen Haltung die neu gegründete Partei im Frühjahr 1895, nachdem der Radikalantisemit Hermann Ahlwardt wegen eben dieser Haltung kurz zuvor ausgeschlossen worden war.
Literatur
Werner Bergmann
Massimo Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus von der Bismarckzeit zu Hitler, Frankfurt am Main 2003. Dieter Fricke, Antisemitische Parteien 1879–1894, in: Dieter Fricke (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), Band 2, Köln 1984, S. 77–88. Thomas Klein, Der preußisch-deutsche Konservatismus und die Entstehung des politischen Antisemitismus in Hessen-Kassel (1866–1893). Ein Beitrag zur hessischen Parteiengeschichte, Marburg 1995. Richard S. Levy, The Downfall of the Anti-Semitic Political Parties in Imperial Germany, New Haven, London 1975. Hansjörg Pötzsch, Antisemitismus in der Region. Antisemitische Erscheinungsformen in Sachsen, Hessen, Hessen-Nassau und Braunschweig 1870–1914, Wiesbaden 2000. Kurt Wawrzinek, Die Entstehung der deutschen Antisemitenparteien (1873–1890), Berlin 1927.
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Antisemitismus-Umfragen
Antisemitische Schmierwelle → Schmierwelle (1959–1960)
Antisemitismus-Umfragen Die Umfrageforschung (Demoskopie) bildet einen Teilbereich der empirischen Sozialforschung und dient der Erfassung von Einstellungen und Meinungen der Gesamtbevölkerung oder einer Bevölkerungsgruppe zu aktuellen politischen, sozialen oder kulturellen Fragen, Problemen und Missständen. Solche Untersuchungen (Surveys oder Social Surveys) unter Anwendung verschiedener Formen des Interviews (schriftlich, telefonisch, face to face) basieren auf größeren, häufig repräsentativen Stichproben und erlauben deshalb Aussagen über die gesamte Gruppe (Grundgesamtheit). Historisch gesehen nahmen repräsentative demoskopische Erhebungen zur Einstellung der Bevölkerung gegenüber Juden ihren Ausgang 1937 in den USA, ausgelöst durch den Schock über die Ereignisse im nationalsozialistischen Deutschland. In Europa begann die empirische Antisemitismusforschung erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die amerikanischen Besatzungsbehörden 1946 dieses Instrument in ihren Besatzungszonen in Deutschland und Österreich einsetzten, um die Einstellung der dortigen Bevölkerung zu Juden zu erfassen. Auch in Frankreich gab es 1946 eine erste Umfrage zu diesem Thema. Sieht man von zwei weiteren, von westdeutschen Umfrage-Instituten im Auftrag staatlicher Stellen unternommenen Antisemitismus-Umfragen ab (Institut für Demoskopie Allensbach 1949; Emnid-Institut 1954), begann eine eigenständige demoskopische Antisemitismusforschung in West- und Mitteleuropa erst in den 1960er Jahren. Bis zur politischen Wende in Osteuropa 1989/90 sind vier geographische Forschungsschwerpunkte zu erkennen: die USA, Kanada, Frankreich sowie die Bundesrepublik und Österreich, während in anderen Ländern vereinzelte (Australien, Schweiz, Italien, England, Griechenland) oder aber gar keine Umfragen (in Europa etwa in den Benelux-Staaten, Skandinavien, Spanien, Portugal und natürlich in den Ländern des Ostblocks) stattgefunden haben. Mit dem Beginn der Demokratisierung der Ostblockstaaten setzte auch dort seit den 1990er Jahren die empirische Beschäftigung mit dem Antisemitismus in der eigenen Bevölkerung ein. In Zusammenarbeit mit einheimischen Forschungsinstituten führte das „American Jewish Committee“ in nahezu allen ehemaligen Ostblockstaaten, aber auch in westeuropäischen Ländern und in Südamerika teils wiederholt Umfragen zur Einstellung gegenüber Juden, Israel und dem Holocaust durch. Waren die Erhebungen bis 2002 fast ausnahmslos jeweils nur auf ein Land bezogen (Ausnahme die im Auftrag der UNO unternommene Studie von Melvin Tumin 1961), so wurden sie nun wiederholt, finanziert durch die „Antidefamation League“ (ADL), mit einem identischen Fragebogen in mehreren Ländern gleichzeitig durchgeführt, womit zugleich eine komparative und diachrone Analyse möglich wurde. Dies gilt auch für die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ des „Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung“ (Universität Bielefeld), in das seit 2009 mehrere europäische Länder einbezogen sind. Das Interesse an einer Antisemitismus-Studie und die Bereitstellung der erheblichen Finanzmittel, die zumeist entweder von Zeitungsverlagen oder von jüdischen Organisationen wie dem AJC oder der ADL, nur selten von Regierungen und wissenschaftlichen Stiftungen stammen, sind zumeist durch antisemitische Ereignisse oder öffentli-
Arabischer Aufstand (1936–1939)
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che Diskussionen motiviert. Damit ist eine kontinuierliche, wissenschaftlichen Fragestellungen folgende Umfrageforschung zum Antisemitismus nur schwer möglich. Das Instrument der standardisierten Meinungsbefragung besitzt auch seine Schwächen. Insbesondere beim Thema Antisemitismus, wo soziale Erwünschtheit und Tabuisierung eine große Rolle spielen, ist die Gefahr der Antwortverzerrung groß. Bei allen methodischen Schwächen liefern Umfragen aber ein repräsentatives Bild einer Einstellungsverteilung innerhalb einer Bevölkerungsgruppe von vorher nicht möglicher Genauigkeit. Die Aufschlüsselung dieser Daten mit Mitteln der Statistik bietet zudem nicht nur Erkenntnisse über die unterschiedliche Verteilung antisemitischer Einstellungen in bestimmten Altersgruppen, Bildungsschichten oder Berufsgruppen und über den Einfluss politischer und religiöser Orientierungen, sondern ermöglicht auch einen Einblick in den Zusammenhang mit anderen Einstellungskomplexen. Mit statistischen Methoden (Faktorenanalyse, Korrelationsanalye, Regressionsanalyse, Strukturgleichungsmodelle) lassen sich Erkenntnisse über die innere Struktur von Einstellungssyndromen und über komplexe Zusammenhänge mit anderen Faktoren gewinnen. Damit wird es möglich, theoretische Annahmen der Antisemitismusforschung, z.B. über den Einfluss von Erziehungsstilen, kognitiver Kompetenz, relativer Deprivation (Arbeitslosigkeit, Abstiegsängste), sozialer Orientierungslosigkeit (Anomie) oder sozialer Spannungen empirisch zu überprüfen.
Literatur
Werner Bergmann
Werner Bergmann, Antisemitismus-Umfragen nach 1945 im internationalen Vergleich, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5 (1996), S. 172–195. Werner Bergmann, Rainer Erb, Sozialwissenschaftliche Methoden in der Antisemitismusforschung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 7 (1998), S. 103–120.
Antitalmudismus → Talmudhetze Antizionistische Kampagne in Polen (1967/68) → Jüdischer Exodus aus Polen 1968
Arabischer Aufstand (1936–1939) Die arabisch-muslimische Mehrheitsbevölkerung im 1922 vom Völkerbund eingerichteten britischen Mandatsgebiet Palästina argwöhnte – nicht zuletzt in Kenntnis der → Balfour-Erklärung – stets eine einseitige Bevorzugung der jüdischen Bevölkerung durch die Mandatsmacht. Zu Beginn der 1930er Jahre führten vor allem zwei Entwicklungen zu einer Verstärkung dieses Eindrucks: Zum einen hatte die Mandatsverwaltung in ihrem ersten Jahrzehnt großzügig ehemalige osmanische Staatsländereien an jüdische Siedler verteilt und damit zu einer deutlichen Verknappung des Angebots an frei verfügbarem Ackerland beigetragen. Die dadurch induzierten hohen Bodenpreise veranlassten einerseits zahlreiche arabische Grundbesitzer zum Verkauf an jüdische Siedler, entzogen aber andererseits – weitaus wirkungsvoller – großen Teilen der arabischen Kleinbauern und –pächter ihre Lebensgrundlage.
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Arabischer Aufstand (1936–1939)
Zum anderen waren die jüdischen Einwanderungszahlen infolge der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland erheblich gestiegen. Zwischen 1933 und 1939 (5. Alijah) wanderten offiziell 176.000 Juden nach Palästina ein, davon 50.000 allein aus Deutschland. Infolgedessen verschob sich die Zusammensetzung der Bevölkerung im Mandatsgebiet weiter zu ungunsten der Araber. Wenn ihr Anteil 1922 noch bei 90 Prozent gelegen hatte, so war er bis 1936 auf 70 Prozent gesunken. Vor diesem Hintergrund wandte sich der Mufti von Jerusalem, Hajj Amin al-Husseini, der wichtigste arabische Interessenvertreter in Palästina, im November 1935 mit der Forderung an die Mandatsmacht, sowohl die weitere jüdische Immigration als auch den Landverkauf an jüdische Siedler zu verbieten. Mitte April 1936 fügte al-Husseini die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit hinzu und rief am 19. April einen sechsmonatigen Generalstreik aus. Die Streikleitung übernahm das am 25. April 1936 gegründete „Arabische Hochkomitee“ unter al-Husseinis Führung. In der Folgezeit ging der Streik zunehmend in einen Aufstand über, arabische Freischärler verübten zahlreiche Anschläge gegen jüdische und britische Einrichtungen. Britische Sicherheitskräfte und jüdische paramilitärische Verbände schlugen zurück. Am 30. Juli 1936 riefen die Briten das Kriegsrecht aus. Aufständische wurden inhaftiert, teilweise hingerichtet, ihr Besitz beschlagnahmt oder zerstört. Am 12. Oktober 1936 verkündete das „Arabische Hochkomitee“ das Ende des Generalstreiks, nicht zuletzt weil die Briten unter dem Eindruck der zunehmenden Kriegsgefahr in Europa eine politische Lösung der Probleme in Aussicht gestellt hatten. Zum Jahresende 1936 nahm dazu eine unter dem Vorsitz von Lord Robert Peel gegründete Kommission ihre Arbeit auf. Ihr am 7. Juli 1937 vorgelegter Abschlussbericht enthielt erstmals einen Teilungsplan für das Mandatsgebiet. Demnach sollte im Nordwesten ein kleinerer jüdischer Staat entstehen, der größere arabische Teil würde demnach gemeinsam mit Transjordanien einen Staat bilden. Die britische Kontrolle sollte sich auf Jerusalem und einen Korridor zur Küste bei Jaffa beschränken. Zusätzlich dazu wurde die Höchstzahl jüdischer Einwanderer auf 12.000 pro Jahr festgelegt. Sowohl die „Zionistische Weltorganisation“ als auch das „Arabische Hochkomitee“ lehnten die Vorschläge als unannehmbar ab. Insbesondere auf Jerusalem wollte keine Seite verzichten. Nach dem Scheitern der Peel-Kommission brach der Aufstand erneut aus und eskalierte rasch. Das „Arabische Hochkomitee“ und Hajj Amin al-Husseini sondierten nun verstärkt die Möglichkeiten deutscher Unterstützung. Die Aufständischen bedienten sich vermehrt faschistischer Symbole, antisemitische Parolen nahmen zu. Im September 1937 verboten die Mandatsbehörden das „Arabische Hochkomitee“, al-Husseini floh in den Libanon. Trotzdem hielten die Kämpfe an. Obwohl 20.000 zusätzliche britische Truppen und knapp 15.000 jüdische paramilitärische Kämpfer (Hagana, Irgun u.a.) eingesetzt wurden, dauerte es bis zum Herbst 1938, ehe die britische Kontrolle über das Mandatsgebiet weitgehend wiederhergestellt war. Vereinzelte Kämpfe fanden bis März 1939 statt. Letztlich trug der Aufstand aber doch zu einer deutlichen Umorientierung der britischen Palästinapolitik bei, die 1939 in einem Weißbuch ihren Niederschlag fand.
Henner Fürtig
Arabischer Boykott
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Literatur
Alexander Flores, Der Palästinakonflikt, Freiburg u.a. 2009. Gudrun Krämer, Geschichte Palästinas, München 2006. Avi Shlaim, Israel and Palestine, London u.a. 2009.
Arabischer Boykott Der Arabische Boykott wurde am 2. Dezember 1945 vom Rat der Arabischen Liga verhängt. Es wurde beschlossen, die Palästinafrage zu „panarabisieren“, indem allen Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga verboten wurde, mit den Juden in Palästina Handel zu treiben. Hierdurch sollte die zionistische Einwanderung erschwert und der Aufbau einer funktionierenden Ökonomie verhindert werden. Artikel 16 der Erklärung bezeichnete die Produkte der „palästinensischen Juden“ als „unerwünscht“. Weiterhin wurden alle Institutionen, Händler und Bürger aufgefordert, weder mit „zionistischen Produkten“ zu handeln, noch sie zu nutzen. Um die Erklärung umzusetzen, wurde 1946 das „Zentrale Boykott Komitee“ in Damaskus eingerichtet. Es empfahl den arabischen Staaten u.a. die Flankierung des Boykotts durch „antizionistische Propaganda“. Nach der Staatsgründung Israels 1948 richtete sich der Boykott sofort gegen den jungen Staat. Offiziell umfasste er drei Bereiche: Der „Primäre Boykott“ betraf den Handel zwischen Israel und den arabischen Staaten mit Produkten und Dienstleistungen. Der „Sekundäre Boykott“ richtete sich auf Unternehmen aus dem Ausland, die direkte Geschäftsbeziehungen mit Israel unterhielten. Beim „Tertiären Boykott“ ging es um Firmen, die Beziehungen zu Unternehmen hatten, die ihrerseits Geschäftsbeziehungen nach Israel pflegten. Hier existierte eine umfangreiche Schwarze Liste. Der Boykott umfasste nicht nur den ökonomischen Bereich, sondern auch den der Kultur und Kunst. So wurden unter den gleichen Aspekten auch Filmemacher, Künstler und Musiker boykottiert. Risse erhielt der Boykott 1977, als der US-Kongress amerikanischen Unternehmen die Beteiligung verbot. Nachdem Präsident Jimmy Carter das entsprechende Gesetz unterzeichnet hatte, reagierte die Arabische Liga mit einer Erklärung, in der sie das Gesetz als Teil einer „hysterischen Kampagne“ bezeichnete, die „Israel und der Weltzionismus“ den USA und den Staaten Europas aufzuzwingen versuche. Von allen westlichen Staaten ist England heute der Einzige, in dem keine Verordnung gegen den Boykott beschlossen wurde. In der Gegenwart praktizieren noch Saudi-Arabien, Iran, Libanon und Syrien strikt den Boykott. Als erster Staat beendete Ägypten die Boykottpolitik durch den Israelisch-Ägyptischen Friedensvertrag vom 26. März 1979, in dessen Rahmen auch Handelsbeziehungen aufgenommen wurden. Hierfür wurde Ägypten 1979 aus der Arabischen Liga ausgeschlossen. Mitte der 1990er Jahre begann der Boykott weiter zu bröckeln. Einige Golfstaaten hielten sich nicht mehr an den Sekundären Boykott, und Länder wie Marokko schlossen direkte Handelsabkommen mit Israel. Im Februar 1995 einigten sich Vertreter der ägyptischen, jordanischen, palästinensischen und amerikanischen Wirtschaft in der „Taba-Erklärung“ darauf, sämtliche Bemühungen zu verstärken, um den Boykott zu beenden. Trotzdem bleibt er formal noch in Kraft.
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Armleder-Pogrome
Der Arabische Boykott von 1945 war der erste offizielle Boykott gegen die Juden in Palästina, der von der Gemeinschaft aller arabischen Staaten getragen wurde. Dennoch hat er Vorläufer, die bis 1922 zurückgehen. In den Jahren 1922, 1929, 1933, 1934 und 1936 kam es überall in der Arabischen Welt zu Boykottaktionen. Mit der Staatsgründung Israels richtete sich der Boykott dann umstandslos gegen den neu entstandenen Staat. Festhalten lässt sich, dass in den Begründungen für die Boykottpolitik nie zwischen Juden oder Zionisten unterschieden wurde. Auch passte sich der Boykott in eine Politik der Arabischen Liga ein, die in der Argumentation häufig antisemitisch überformt war. So wurde das zu boykottierende Israel nie als Nation bezeichnet, sondern als „Manifestation des Weltzionismus“ oder als „Krebsgeschwür“.
Literatur
Malte Gebert
Gil Feiler, From Boycott to Economic Cooperation. The Political Economy of the Arab Boycott of Israel, London 1998, S. 24–56.
Arabisches Hochkomitee → Arabischer Aufstand (1936–1939) Arierparagraph → Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums
Armleder-Pogrome Die mit dem Namen Armleder bezeichneten Gewaltexzesse (1336–1338) gehören in eine Phase vermehrt auftretender Judenverfolgungen im Reichsgebiet zwischen etwa 1280 und 1350, von denen einige den Charakter räumlich weit ausgreifender Pogromwellen trugen. Gründe für diese Zäsur in den christlich-jüdischen Beziehungen finden sich in einem zunehmend religiös fundierten Judenhass, der der Herausbildung des Hostienfrevelvorwurfs gegenüber Juden (1290) sowie der Intensivierung der seit der Mitte des 12. Jahrhunderts auftretenden Ritualmordbeschuldigungen Vorschub leistete. Darüber hinaus führte auch die berufliche Spezialisierung zahlreicher Juden auf den Geldverleih zur Ausbreitung des Wuchervorwurfs. Damit einher ging eine sukzessive Verschlechterung der rechtlichen Stellung der Juden im Rahmen der zunehmenden Kommerzialisierung von Herrschaftsrechten. Vor diesem Hintergrund scharte der 1332 wegen Geleitbruchs zu zehnjähriger Verbannung verurteilte Ritter Arnold von Uissigheim eine große Anzahl überwiegend im agrarischen Bereich Tätiger um sich. Die Bezeichnung Arnolds als rex Armleder geht vermutlich auf den ledernen Armschutz zurück, den er als Anführer der Judenschläger trug. Hinsichtlich der Motive Arnolds differieren die Quellenaussagen: Genannt werden religiöse Motive ebenso wie die Verschuldung bei Juden und sogar die – möglicherweise irrtümlich ihm anstelle eines Bruders zugeschriebene – persönliche Rache für die Ermordung eines seiner Brüder. Ihren Ausgang nahmen die Pogrome am 29. Juli 1336 im fränkischen Röttingen. Innerhalb weniger Tage wurden die Juden in etwa zehn Städten zwischen Taubertal und unterem Maindreieck ermordet, wobei sich mitunter die einheimische Bevölkerung an den Massakern beteiligte. Von einem Aufgebot der Stadt Würzburg wurde Arnolds Gefolge schließlich bei Kleinochsenfurt geschlagen. Arnold wurde nach seiner Gefangennahme zum Tode verurteilt und am 14. November 1336 in Kitzingen hingerichtet. Be-
Armleder-Pogrome
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reits kurz darauf setzte seine Verehrung als Märtyrer ein, von der noch heute seine aufwändig gestaltete Grabplatte mit der bildlichen Darstellung der Hinrichtung und seiner inschriftlichen Bezeichnung als beatus in der Pfarrkirche von Uissigheim zeugt. Am 10. Juni 1337 begann die zweite Phase der Verfolgungen mit der Einnahme Tauberbischofheims, das 1336 gleich dreimal den Anstürmen Armleders getrotzt hatte. Von dort aus breiteten sich die Judenpogrome bis zur Wetterau und zum Mittelrhein aus. Die Anführer der Erhebung sind nicht bekannt. Lediglich in Koblenz töteten die Bürger die Juden, um einem Angriff Ritter Wilhelms von Liebenstein vorzubeugen, der wohl auch für die Vernichtung nahe gelegener jüdischer Niederlassungen verantwortlich zeichnete. Eine weitere Ausbreitung der Pogrome konnte durch – häufig nicht uneigennützige – Maßnahmen einzelner Städte und das Einschreiten geistlicher und weltlicher Fürsten verhindert werden. Kaiser Ludwig vermochte aufgrund seines Konflikts mit der Kurie und der Verwicklung in territorialpolitische Auseinandersetzungen nicht selbst gegen die Armledererhebung vorzugehen. Die dritte Phase der Pogrome begann am 25. Januar 1338 in Rufach und Selz. Sie war offenbar gegen den Bischof von Straßburg gerichtet, breitete sich aber rasch auf das gesamte Oberelsass aus. Das fast ausschließlich aus Bauern und Handwerkern bestehende Heer unter der Führung zweier jeweils als König Armleder bezeichneter Anführer, des Gastwirts Zimberlin aus Andlau und des Burggrafen Johann von Dorlisheim, löste sich nach dem Entsatz Colmars durch ein straßburgisches Kontingent im Mai 1338 auf. Die Hauptbeteiligten wurden nicht bzw. vergleichsweise moderat bestraft. Über die religiös geprägte antijüdische Stimmung hinaus waren vor allem ökonomische Motive maßgeblich für den Ausbruch der Massaker. In allen Regionen, in denen die Armleder-Pogrome stattfanden, ist um diese Zeit eine – zuweilen erhebliche – Verschuldung Angehöriger aller Schichten bei Juden nachzuweisen, die vor dem Hintergrund agrarwirtschaftlicher Krisen, wie sie 1337 für das Elsass nachgewiesen sind, aber auch für die übrigen Regionen angenommen werden können, zu gewaltsamen Übergriffen führen konnte. Von daher ist es auch zu erklären, dass in zahlreichen Städten die christliche Bevölkerung in der Hoffnung, ihrer Judenschulden ledig zu werden, die Angreifer unterstützte. Deutlich zeichnet sich auch die soziale Komponente der Erhebung ab, die sich nicht nur gegen Juden, sondern mancherorts auch gegen den Klerus richtete. Auch von daher musste den Stadtherren bzw. Stadträten an der Aufrechterhaltung der Ordnung und dem Schutz der finanzkräftigen religiösen Minderheit gelegen sein, was zuweilen mit gewaltsamen innerstädtischen Auseinandersetzungen verbunden war. Im weiteren Kontext der Armledererhebungen müssen auch die um Ostern 1338 von Pulkau ausgehenden Judenverfolgungen in etwa 30 Orten Nieder- und Oberösterreichs, Kärntens, Mährens, Böhmens und der Steiermark sowie die Ende September 1338 in Deggendorf ihren Anfang nehmenden Pogrome in ca. 20 Orten Niederbayerns betrachtet werden, die jeweils im Nachhinein auf Hostienfrevelvorwürfe zurückgeführt wurden.
Jörg R. Müller
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Auerbach-Kampagne
Literatur
Klaus Arnold, Arnold von Uissigheim („König Armleder“), um 1290–1336, in: Fränkische Lebensbilder 20 (2004), S. 1–16. Klaus Arnold, Die Armledererhebung in Franken 1336, in: Mainfränkisches Jahrbuch 26 (1974), S. 35–62. Christoph Cluse, Blut ist im Schuh. Ein Exempel zur Judenverfolgung des „Rex Armleder“, in: Friedhelm Burgard, Christoph Cluse, Alfred Haverkamp (Hrsg.), Liber amicorum necnon et amicarum für Alfred Heit. Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte und geschichtlichen Landeskunde, Trier 1996, S. 371–392. Siegfried Hoyer, Die Armlederbewegung – ein Bauernaufstand 1336/1339, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 13 (1965), S. 74–89 [marxistische Perspektive]. Friedrich Lotter, Hostienfrevelvorwurf und Blutwunderfälschung bei den Judenverfolgungen von 1298 („Rintfleisch“) und 1336–1338 („Armleder“), in: Fälschungen im Mittelalter, Band 5: Fingierte Briefe, Frömmigkeit und Fälschung, Realienfälschungen. Internationaler Kongress der MGH, München, 16.-19. September 1986, Hannover 1988, S. 533–583. Gerd Mentgen, Studien zur Geschichte der Juden im mittelalterlichen Elsaß, Hannover 1995. Jörg R. Müller, Eretz geserah – „Land der Verfolgung“: Judenpogrome im regnum Teutonicum in der Zeit von etwa 1280 bis 1350, in: Christoph Cluse (Hrsg.), Europas Juden im Mittelalter. Beiträge des internationalen Symposiums in Speyer vom 20.-25. Oktober 2002, Trier 2004, S. 259–273. Franz-Josef Ziwes, Studien zur Geschichte der Juden im mittleren Rheingebiet während des hohen und späten Mittelalters, Hannover 1995.
Auerbach-Kampagne Philipp Auerbach (1906–1952) war einer der bedeutendsten Vertreter des deutschen Judentums im Nachkriegsdeutschland. Er hatte die Konzentrationslagerhaft in Auschwitz, Groß-Rosen sowie Buchenwald überlebt und blieb nach seiner Befreiung 1945 in Deutschland, um dort einen Beitrag zum demokratischen Neuanfang zu leisten. Die Auerbach-Kampagne stellte die erste große antisemitische Affäre im Nachkriegsdeutschland dar und spielte sich in erster Linie in München ab, wo Auerbach zunächst „Staatskommissar für politisch, rassisch und religiös Verfolgte“ und später Präsident des Landesentschädigungsamtes war. Zu Auerbachs Aufgaben gehörte primär die „Wiedergutmachung“. Zudem bemühte er sich um die Bekämpfung des Antisemitismus und eine Mitwirkung bei der Entnazifizierung. Entscheidend unterstützte er jüdische DPs (Displaced Persons) bei der Auswanderung nach Palästina. Ein Gegenspieler Auerbachs war der bayerische Justizminister und CSU-Vorsitzende Josef Müller (1898–1979), der Auerbach vorwarf, durch sein Auftreten den Eindruck zu erwecken, ähnliche Funktionen auszuüben, wie sie „etwa ein Gauleiter besessen habe“. Er führte eine persönliche Fehde gegen Auerbach und erhielt dabei Unterstützung aus der Bevölkerung. So verlangte das Vorstandsmitglied der Genossenschaften „Allgemeine Wirtschaftshilfe“ Ulrich Bauerschmidt in einem Brief an ihn, die „Judenherrschaft“ zu brechen. Ein Bürger Bambergs schrieb Müller: „Die Stimmung im Volk gegen die in Bayern und Franken derzeit nur Schacher- und Wuchergeschäfte treibenden Juden aus Polen ist wahrhaftig nicht günstig. Wann werden wir von diesen Leuten befreit?“
Auerbach-Kampagne
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Müller erhob gegen Auerbach ohne genaue Anhaltspunkte den Vorwurf, sich an der „Wiedergutmachung“ bereichert zu haben. Es bestand bei ihm ein unterschwelliger Protest gegen „Wiedergutmachungsleistungen“ an Juden. Müller stellte seit 1949 einen Staatsanwalt dazu ab, um vermeintliche Unregelmäßigkeiten Auerbachs bei seiner Amtsführung zu sammeln. Es folgten die Besetzung des Landesentschädigungsamtes durch die Polizei und die Verhaftung Auerbachs im März 1951. Müller, der Auerbach in der Öffentlichkeit vorverurteilte, betrachtete den folgenden, von ihm maßgeblich initiierten Prozess als persönliche Abrechnung und wollte einen vermeintlichen jüdischen Aufsteiger abgeurteilt sehen. Unterstützung erhielt er vom „Spiegel“, der Auerbach als „Cäsar der Wiedergutmachung“ bezeichnete und in die Täterrolle drängen wollte. Große Teile der deutschen Öffentlichkeit gingen ebenfalls von seiner Schuld aus. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vom November 1951 warf Auerbach schließlich u.a. persönliche Bereicherung im Rahmen der „Wiedergutmachung“ vor. Erfolglos wehrten sich die Verteidiger Auerbachs Josef Klibansky (1902–1957), der in einem antisemitischen Hetzbrief als „dreckiges ungeschlachtetes Judenschwein“ bezeichnet wurde, und Josef Panholzer (1895–1973) gegen die andauernde Untersuchungshaft wegen Flucht- und Verdunklungsgefahr. Prozessbeginn vor der ersten Strafkammer des Landgerichts München I war im April 1952. Der vorsitzende Richter Josef Mulzer war ein ehemaliger Oberkriegsgerichtsrat, ein früherer Kollege Müllers aus dessen Rechtsanwaltskanzlei. Er übernahm den Vorsitz außerplanmäßig ohne einleuchtenden Grund. Mulzer, die zuständigen Staatsanwälte, die durch ein Vorenthalten von Beweismitteln die Verteidigung behinderten, ein Beisitzer und der psychiatrische Sachverständige waren NSDAP-Mitglieder gewesen. Der weitere Beisitzer hatte der SA angehört. In der ehemaligen NSDAP-Mitgliedschaft der Richter und Staatsanwälte, die immer wieder antisemitische Versatzstücke aufgriffen und die Einsicht in das Wesen des NS-Staats verdunkelten, lag eine zentrale Problematik des Prozesses. Fraglich bleibt, ob mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern besetzte deutsche Gerichte ohne Voreingenommenheit über Juden urteilen konnten und es für Juden zumutbar war, sich vor derartigen Richtern zu verantworten. Mulzer sprach von der „arischen Ehefrau“ Auerbachs, verglich seine eigene Haft in russischer Kriegsgefangenschaft mit der Haft im Konzentrationslager und verwischte damit die Unterschiede von Opfern und Tätern. Er erklärte bei einer Diskussion über die jüdische Religion: „Ich kann mir nicht endlos Ausführungen über den jüdischen Ritus anhören, dafür habe ich keine Zeit.“ Der bayerische FDP-Landtagsabgeordnete Everhard Bungartz (1900–1984) verglich Mulzer schließlich sogar mit Roland Freisler. Auch wenn eine persönliche Bereicherung im Rahmen der „Wiedergutmachung“ Auerbach im Prozess nicht nachgewiesen werden konnte, verurteilte ihn das Gericht wegen vermeintlicher anderer geringfügiger Straftaten in unverhältnismäßiger Höhe zu zweieinhalb Jahren Haft. Auerbach beging in der Nacht nach der Urteilsverkündung Suizid. Auf einem Transparent bei der Trauerkundgebung stand: „Josef Müller, bist du nun zufrieden?“ Der Prozess zeigte eine erstaunliche Kontinuität antisemitischer Traditionen in Deutschland vor und nach 1945. Den Richtern bereitete es Schwierigkeiten, die Kluft zwischen der Ordnung des „Dritten Reichs“ und dem Rechtsstaat der Bundesrepublik
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Auschwitz-Prozess (1963–1965)
Deutschland zu erkennen. Ein Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags rehabilitierte Auerbach 1954 in vollem Umfang.
Literatur
Hannes Ludyga
Werner Bergmann, Philipp Auerbach – Wiedergutmachung war „nicht mit normalen Mitteln durchzusetzen“, in: Claudia Fröhlich, Michael Kohlstruck (Hrsg.), Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 57–70. Hannes Ludyga, Eine antisemitische Affäre im Nachkriegsdeutschland. Der „Staatskommissar für politisch, religiös und rassisch Verfolgte“ Philipp Auerbach (1906–1952), in: Kritische Justiz. Vierteljahresschrift für Recht und Politik 40 (2007), S. 410–427. Hannes Ludyga, Philipp Auerbach (1906–1952). „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“, Berlin 2005.
Auschwitz-Lüge → Holocaustleugnung (Straftatbestand)
Auschwitz-Prozess (1963–1965) SS-Angehörige des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau (1940–1945) wurden nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft insbesondere von polnischen Gerichten zur Verantwortung gezogen. Auch in Verfahren alliierter Militärtribunale gegen KZ-Personal standen vormalige Mitglieder der SS-Verwaltung von Auschwitz vor Gericht. Insgesamt wurden bis 1950 etwa 700 Angehörige der SS-Besatzung von Auschwitz abgeurteilt. Weder in der Bundesrepublik noch in der DDR gab es bis Ende der 1950er Jahre systematische Ermittlungen gegen Auschwitz-Täter. Kamen Verfahren gegen Einzelpersonen zustande, beruhten sie meist auf Anzeigen von Verfolgungsopfern. In den Jahren 1958/1959 führten die Staatsanwaltschaften bei den Landgerichten Stuttgart und Frankfurt am Main sowie die von den Landesjustizverwaltungen gegründete Zentrale Stelle in Ludwigsburg erstmals umfassende Ermittlungen gegen SS-Personal von Auschwitz durch. Eine vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903–1968) angeregte Entscheidung des Bundesgerichtshofs bestimmte im April 1959 die Zuständigkeit des Frankfurter Landgerichts (LG) in Sachen Ahndung von in Auschwitz begangenen Verbrechen. Die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt am Main begann mit Nachforschungen nach Auschwitz-Tätern und mit der Untersuchung des Verbrechensgeschehens in Auschwitz. Mit Rückendeckung durch die hessische Landesregierung knüpften die beiden beauftragten Sachbearbeiter Kontakte nach Polen und mit Organisationen von Auschwitz-Überlebenden. Von besonderer Bedeutung für die Suche nach Zeugen war der Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees, Hermann Langbein (1912–1995). Die Ermittler erstellten Beschuldigtenlisten samt Mappen mit Fotos der SS-Angehörigen, trugen Beweisurkunden zusammen, luden Zeugen aus dem In- und Ausland nach Frankfurt am Main. Auch beauftragten sie ausländische Einrichtungen und deutsche Konsulate, kommissarische Vernehmungen durchzuführen. Fragebogen wurden an Auschwitz-Überlebende versandt, Zeugenaufrufe veröffentlicht, hohe Geldbeträge für Hinweise auf gesuchte NS-Verbrecher ausgelobt. Im April 1963 legte die Staatsanwaltschaft ihre Anklageschrift gegen 24 Ange-
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schuldigte vor. 23 SS-Angehörigen und einem Funktionshäftling wurden Mord und Mordbeihilfe zur Last gelegt. Erstmals klärte eine deutsche Strafverfolgungsbehörde den in Auschwitz verübten Mord an den KZ-Häftlingen und insbesondere an den zur Vernichtung nach Auschwitz deportierten Juden umfassend auf. Nach Prüfung der Schwurgerichtsanklage eröffnete das Landgericht Frankfurt am Main das Hauptverfahren. Die Hauptverhandlung begann am 20. Dezember 1963 im Saal der Stadtverordneten des Frankfurter Rathauses. Da der Justiz kein ausreichend großer Gerichtssaal zur Verfügung stand, hatte sich die Stadt Frankfurt am Main bereit erklärt, das Rathaus vorübergehend zur Verfügung zu stellen. 22 Angeklagte standen vor Gericht. Der vormalige Kommandant von Auschwitz, SS-Hauptsturmführer Richard Baer (1911–1963), war Mitte 1963 in der Untersuchungshaft verstorben, das Verfahren gegen einen weiteren Angeklagten, SS-Unterscharführer Hans Nierzwicki (1905–1967), musste wegen Krankheit abgetrennt werden. Im Verlauf der Hauptverhandlung schieden zwei weitere Angeklagte – Heinrich Bischoff (1904–1964) und Gerhard Neubert (1909–1993) – wegen Krankheit aus dem Verfahren aus. Nach der Vernehmung der Angeklagten zu Person und Sache begann das Schwurgericht, das sich aus drei Berufsrichtern, zwei Ergänzungsrichtern, sechs Geschworenen sowie zwei Ersatzgeschworenen zusammensetzte, mit der Beweisaufnahme. Gericht und Anklagevertretung hatten vereinbart, vor den Zeugenvernehmungen zeithistorische Gutachten erstatten zu lassen. Die Sachverständigengutachten hatte die Staatsanwaltschaft bereits im Verlauf des Ermittlungsverfahrens bei Historikern des Instituts für Zeitgeschichte in München bestellt. Prozessualer Zweck der Expertisen war, den historischen Rahmen darzulegen, in dem die Angeklagten die ihnen zur Last gelegten Taten begangen hatten. Neben den Vertretern der Anklagebehörde waren im Auschwitz-Prozess drei Nebenklagevertreter tätig, die insgesamt 21 Opfer oder Angehörige von Opfern vertraten. Die Rechtsanwälte Henry Ormond (1901–1973), Christian Raabe (*1934) und Friedrich Karl Kaul (1906–1981) machten insbesondere den Versuch, in dem Verfahren die „Stimme der Opfer“ zu Gehör zu bringen. Im Verlauf der Beweisaufnahme hörte das Gericht insgesamt 360 Zeugen (211 Überlebende von Auschwitz-Birkenau, 54 ehemalige Angehörige der SS-Lager-Besatzung, 34 sonstige vormalige SS- bzw. Polizeiangehörige sowie 61 andere Zeugen). Dutzende von Vernehmungsprotokollen sowie eine große Anzahl von Beweisurkunden wurden verlesen und zum Gegenstand der Verhandlung gemacht. In der Regel vermochten die Überlebenden nach Auffassung des erkennenden Gerichts glaubwürdig und zuverlässig ihre Aussagen über die Tatbeteiligung der Angeklagten zu machen. Die beiden Adjutanten der Auschwitz-Kommandanten, die Angeklagten Robert Mulka (1895–1969) und Karl Höcker (1911–2000), hatten in Auschwitz hohe Funktionsstellungen inne gehabt. Ihre Mitwirkung an der Errichtung der Vernichtungsanlagen und an der „Abwicklung“ von Judentransporten qualifizierte das Gericht als gemeinschaftliche Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord. Die beiden ranghohen SS-Funktionäre wurden nicht als Mittäter, vielmehr als Gehilfen verurteilt. Gemäß der herrschenden Rechtsprechung waren Angeklagte, die auf Befehl die verbrecherischen Anordnungen der Staatsführung ausgeführt und dabei sich die befohlenen Taten nicht zu eigen gemacht hatten, als Beihelfer zu beurteilen. Hatte ein Angeklagter aus eigener In-
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itiative, mithin befehlslos, Menschen – zum Beispiel aus niedrigen Beweggründen (Mordlust, Rassenhass etc.) – getötet, hatte er als sogenannter Exzesstäter gehandelt, erkannte das Gericht hingegen auf Mord und verhängte eine lebenslange Zuchthausstrafe. Die Angeklagten Franz Hofmann (1906–1973), Wilhelm Boger (1906–1977), Oswald Kaduk (1906–1997), Josef Klehr (1904–1988), Stefan Baretzki (1919–1988) und Emil Bednarek (1907–2001) qualifizierte das Gericht als Täter bzw. Mittäter. Im Falle der Angeklagten Hofmann und Kaduk gelangte das Gericht darüber hinaus zu dem Urteil, dass sie auch die befohlene Mitwirkung an der Massenvernichtung mit Täterwillen begangen hatten. Diese Angeklagten hatten sich die Vernichtungspolitik des NS-Regimes zu eigen gemacht, sie hatten – so die Frankfurter Richter – im Konsens mit den „Haupttätern“ Hitler, Himmler u.a. gehandelt. Im Falle der anderen Angeklagten, zum Beispiel der SS-Ärzte Franz Lucas (1911– 1994) und Willy Frank (1903–1989) sowie des SS-Apothekers Victor Capesius (1907– 1985), die im Sommer 1944 bei der Vernichtung der Juden aus Ungarn auf der Rampe in Birkenau nachweislich Selektionen durchgeführt hatten, erkannte das Gericht nicht auf Mittäterschaft. Als Gehilfen qualifiziert, die eine „fremde Tat“, den staatlichen Vernichtungsbefehl, nur gefördert und unterstützt, ihn mithin sich nicht zu eigen gemacht hatten, kamen sie mit meist geringen Zuchthausstrafen davon. Von den 20 Angeklagten verurteilte das Gericht sechs wegen Mordes und gemeinschaftlichen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus, zehn Angeklagte wegen Beihilfe zu meist milden Zuchthausstrafen. Einen Angeklagten, Hans Stark (1921–1991), der zur Tatzeit noch minderjährig gewesen war, verurteilten die Strafrichter zu zehn Jahren Jugendstrafe. Drei Angeklagte wurden mangels Beweises freigesprochen. Das Urteil vom 19./20. August 1965 hatte vor dem Bundesgerichtshof (BGH) bis auf einen Fall Bestand. Die eingelegten Revisionen wurden abgewiesen. Nur im Fall des zu dreieinviertel Jahren Zuchthaus verurteilten vormaligen SS-Arztes Franz Lucas hob der BGH das Urteil auf. Nach Erkenntnis der Bundesrichter hatte das Frankfurter Gericht dem Angeklagten seine Einlassung nicht widerlegt, dass er im vermeintlichen Nötigungsnotstand die Rampen-Selektionen durchgeführt hatte. Bei der erforderlichen Neuverhandlung vor dem Landgericht Frankfurt am Main wurde Lucas 1970 freigesprochen. Der Frankfurter Auschwitz-Prozess fand im In- und Ausland große Aufmerksamkeit. Die Presse berichtete zum Teil sehr ausführlich über die insgesamt 183 Verhandlungstage. Auch wenn in der Prozessberichterstattung gelegentlich die Exzesstäter zu sehr in den Mittelpunkt rückten, ist es in dem Verfahren gelungen, eine interessierte, die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht abwehrende Öffentlichkeit über das Vernichtungsgeschehen aufzuklären.
Literatur
Werner Renz
Friedrich-Martin Balzer, Werner Renz (Hrsg.), Das Urteil im Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965), Bonn 2004. Der Auschwitz-Prozess. Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente. DVD-ROM hrsg. vom Fritz Bauer Institut und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, Berlin 2004. Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozess. Eine Dokumentation. 2 Bände, Frankfurt am Main 1995.
Ausschreitungen in Deutschland 1848
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Bernd Naumann, Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka und andere vor dem Schwurgericht Frankfurt, Berlin 2004. Devin O. Pendas, The Frankfurt Auschwitz Trial, 1963–1965, New York 2006. Rebecca Wittmann, Beyond Justice. The Auschwitz Trial, Cambridge/Mass. 2005.
Ausschreitungen in Deutschland 1848 Im Umfeld der Märzrevolution von 1848 kam es in verschiedenen Regionen des Deutschen Bundes zu einer Welle antijüdischer Ausschreitungen unterschiedlicher Art und Intensität. Die etwa 100 bekannten Fälle von antijüdischen Erhebungen fanden fast ausschließlich im ländlichen und kleinstädtischen Raum – mit deutlichem Schwerpunkt in den südwestdeutschen Ländern – statt. Wurden Umfang und Bedeutung antijüdischer Übergriffe und Ausschreitungen während der Revolutionsjahre 1848/49 von der Revolutionsforschung lange Zeit unterschätzt, belegen Regionalstudien inzwischen nicht nur eine erstaunlich hohe Zahl an Vorkommnissen, sondern auch eine differenzierte Motivkonstellation. Zu unterscheiden ist grundsätzlich zwischen antijüdischen Gewaltausbrüchen, die als Begleiterscheinungen des allgemeinen sozialen Protests zu werten sind, und solchen, die ganz konkret eine Verbesserung der Rechtsstellung der Juden verhindern sollten. Gehörte die Forderung nach der Emanzipation der Juden in bürgerlich-städtischen Milieus zum selbstverständlichen revolutionären Repertoire, fühlte sich die christliche Landbevölkerung von der geforderten Gleichstellung der Juden in ihrer eigenen sozialen Stellung massiv bedroht. Im Kontext der sozialen und politischen Spannungen infolge des Wandels von der ständischen zur industriell-kapitalistischen Wirtschaftsordnung und des Scheiterns der nationalen Einigungsbestrebungen richteten sich die Aggressionen gegen Juden, die oft als Mittler zwischen den Landstädten und den umgebenden bäuerlichen Gemeinden fungierten und deshalb mit der feudalen Ordnung in Verbindung gebracht wurden. Massive Ernteausfälle in den Jahren 1846 und 1847 zwangen viele Bauern zu einer immer höheren Verschuldung. Da Juden traditionell mit Geld- und Warenhandel identifiziert waren, wurden jüdische Dorfbewohner mit Rufen wie „Geld oder Tod!“ überfallen und um Geld erpresst, wurden Läden geplündert und Kreditbriefe verbrannt. Politische Begriffe des bürgerlichen Liberalismus wurden, den bäuerlichen Interessen gemäß, umgedeutet; so wurde etwa die „Preßfreiheit“, die Forderung nach Abschaffung der Zensur und nach Errichtung eines demokratischen Pressewesens, von der Landbevölkerung als Freiheit von den „pressenden“ Feudallasten aufgefasst. Neben solchen antijüdischen Gewaltakten, die als Ausformungen eines sozialen, antifeudalen Protests gewertet werden können, kam es aber auch zu Ausschreitungen, die gezielt darauf ausgerichtet waren, die Emanzipation der Juden zu verhindern oder rückgängig zu machen. In manchen badischen Orten etwa wurden die dort lebenden Juden von den christlichen Bauern gezwungen, auf die Gleichstellung zu verzichten oder ihre bereits vollzogene Aufnahme in den Stand der Ortsbürger rückgängig zu machen. Das Ortsbürgerrecht beinhaltete u.a. die Allmendenutzung, und der erzwungene Verzicht darauf bedeutete für die jüdischen Viehhändler, ihr Handelsvieh nicht auf den Gemeindewiesen weiden lassen zu dürfen. In der Nacht des 4. März 1848 kam es in den badi-
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schen Dörfern Münzesheim, Menzingen, Gochsheim und Bauerbach zu den ersten antijüdischen Ausschreitungen, bei denen von Juden bewohnte Häuser mit Steinen beworfen wurden. In den folgenden Wochen ereigneten sich in mehreren badischen Gemeinden ähnliche Vorfälle. In Bretten wurden die Juden gezwungen, schriftlich ihren Verzicht auf alle gegenwärtigen und zukünftigen Ansprüche auf das kommunale Bürgerrecht zu erklären. In Mühlbach sollten die jüdischen Bewohner, unter Gewaltandrohung, ihr Recht auf das Schlagen von Holz im Gemeindewald abtreten. Ähnliche Vorfälle wurden von den jeweiligen Bezirksämtern aus nahezu allen Gemeinden gemeldet, in denen Juden lebten, so etwa aus Jöhlingen, Wiesloch, Walldorf, Friesenheim, Rappenau und Flehingen. Einer der schwersten Übergriffe ereignete sich am 6. März 1848 in Heidelsheim: die Häuser von 18 jüdischen Familien wurden von einem Mob, der sich aus Bewohnern der umgebenden Dörfer zusammensetzte, angegriffen, geplündert und z.T. schwer beschädigt. Auslöser waren Gerüchte, dass der Landtag ein Gesetz zur Emanzipation der Juden durchzubringen versuche. Mit dem Abklingen der allgemeinen revolutionären Unruhen im April 1848 endeten zumeist auch die antijüdischen Ausschreitungen. Aus Angst vor einem erneuten Aufflammen verzögerte etwa die badische Regierung die Implementierung der bereits im März 1848 durch den Landtag verabschiedeten Emanzipationsgesetzgebung.
Literatur
Arnon Hampe
Rainer Erb, Werner Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780–1860, Berlin 1989. Phillip Graf, Antisemitismus vor dem Antisemitismus. Antijüdische Ausschreitungen um die deutsche Revolution von 1848/49, in: PHASE 2, 27 (2008), S. 58–61. Julia Güttes, Die Judenemanzipation in Baden und die Folgen für die Lörracher Judengemeinde (Magisterarbeit der Universität Freiburg i.Br.), Lörrach 1984. Michael Anthony Riff, The Anti-Jewish Aspect of the Revolutionary Unrest of 1848 in Baden and its Impact on Emancipation, in: Leo Baeck Institute Year Book 21 (1976), S. 27– 40. Stefan Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815–1848/49), Frankfurt am Main, New York 1993.
Ausschreitungen in Frankreich 1898 In vielen Darstellungen der → Dreyfus-Affäre haben die sie begleitende antisemitische Massenbewegung und die landesweiten antijüdischen Ausschreitungen Anfang 1898 kaum Beachtung gefunden. Dabei wurde das Land seit 1896 von einer Flut antisemitischer Hetzerzeugnisse in Form von Karikaturen, Broschüren, Nippes, Spielkarten etc. überrollt und antisemitische Gruppen und Organisationen waren an vielen Orten aktiv. Dort waren vor Ausbruch der Gewaltwelle antisemitische Plakate ausgehängt und antisemitische bzw. Anti-Dreyfus Treffen und Tagungen von royalistischen, klerikalen und konservativen Gruppierungen abgehalten worden. Wie bedrohlich die Lage seitens der Juden wahrgenommen wurde, bezeugen die Erinnerungen des jüdischen Historikers Jules Isaac, dem Frankreich 1898 in die Zeiten der Religionskriege zurückversetzt
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schien, einschließlich der Möglichkeit einer neuen Bartholomäusnacht gegen Juden und Protestanten. Auslöser für den Ausbruch dieser Welle von Gewalt gegen Juden war der berühmte „J’accuse“-Artikel, den Émile Zola am 13. Januar 1898 in der Zeitschrift „L’Aurore“ veröffentlichte und in dem er die Gegner von Dreyfus in extrem scharfer und beleidigender Form angriff, um so einen politischen Prozess gegen sich selbst zu erzwingen und auf diesem Umweg den Fall Dreyfus zur Revision zu bringen. Dies gelang nicht, vielmehr wurde Zola in dem am 7. Februar 1898 gegen ihn eröffneten Prozess am 23. Februar zu einer Haft- und Geldstrafe verurteilt, der er sich durch Flucht nach London entzog. Zolas Angriff auf die Spitzen von Politik, Armee und Justiz löste bei vielen Franzosen große Empörung aus, ließ das öffentliche Interesse an der Dreyfus-Affäre sprunghaft ansteigen und spaltete die Franzosen in eine Pro- und eine Contra-DreyfusFraktion. Zolas Verurteilung stieß bei vielen auf Zustimmung, und in einer ganzen Reihe der Ausschreitungen waren gegen Zola gerichtete Parolen zu hören oder Personen paradierten als „Zola“ oder „Dreyfus“ zum Spott der Menge durch die Straßen. Chronologisch lassen sich drei Gewaltwellen unterscheiden, in denen sich mehr als 60 antijüdische Ausschreitungen in insgesamt 55 Städten Frankreichs ereigneten: eine Welle von 23 Ausschreitungen unmittelbar nach Publikation des „J’accuse“-Artikels in der Woche bis zum 23. Januar 1898, eine zweite Welle von 19 Fällen in der Folgewoche, eine dritte mit vier Ausschreitungen zwischen dem 23. und 28. Februar. Die schwerste Welle war die erste, in der über mehrere Tage antijüdische Demonstrationen und Übergriffe auf Ladengeschäfte von Juden in Paris, Marseille, Bordeaux, Nantes, Rouen, Chalon-sur-Saône, Lyon, Perpignan, Nancy und Angers stattfanden. Allein am Sonntag, dem 23. Januar, gab es Ausschreitungen an 13, nun auch kleineren Orten, doch hatte sich die Polizei inzwischen auf die Lage eingestellt, so dass diese Fälle minder schwer verliefen und zumeist nur einen Tag dauerten. Hatte die erste Welle die großen Städte in Frankreich erfasst, so bildete der Osten Frankreichs den Schwerpunkt der zweiten Welle mit Ausschreitungen in Saint-Dié, Épinal und Ligny (Meuse) und der kleineren dritten Welle (Dieppe, Bar-le-Duc). Dass sich Ausschreitungen in bestimmten Gegenden häuften, war kein Zufall, vielmehr handelte es sich vor allem im Osten und Nordwesten Frankreichs um Hochburgen rechtsgerichteter und konservativer Wähler, während an der politisch links gerichteten Mittelmeerküste und im Rhonetal wohl politische Spannungen mit den Rechtsradikalen und Antisemiten zu einer Häufung der Fälle führten. Die antijüdischen Unruhen hatten einen erkennbar nationalistischen Charakter, der sich darin zeigt, dass vor allem Grenzregionen besonders betroffen waren. Es gab zudem eine deutliche Korrelation zur Präsenz einer größeren örtlichen jüdischen Gemeinde. An vielen Orten richteten sich Demonstrationen auch gegen den „Verleumder“ Zola, und sie waren von Kundgebungen und Rufen wie „Vive l’armeé!“ für die von ihm attackierte Armee begleitet. Zola und die „Dreyfusards“ wurden antipatriotischer Umtriebe („menées antipatriotiques“) bezichtigt. Dies hatte auch zur Folge, dass die Armee in einigen Fällen mit den Demonstranten sympathisierte, nur zögernd eingriff, wenn nicht gar Unruhen selbst auslöste wie in Cherbourg und Épinal. Auch wenn es also andere Ziele und Anlässe für die Demonstrationen und Übergriffe gab (patriotische Kundgebungen, Unterstützung der Armee oder Opposition gegen Zola), so hält Stephen Wil-
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son doch fest, dass die Juden das Hauptziel waren, die zudem in ganz direktem, materiellen Sinne angegriffen wurden. Die dabei gerufenen Slogans „Á bas les Juifs!“ und „Mort aux Juifs!“ sprechen eine deutliche Sprache. Die Dauer und Schwere der Ausschreitungen variierte von geringfügigen Vorfällen, in denen wenige Personen antijüdische Slogans skandierten oder Häuser von Juden mit Steinen bewarfen, bis hin zu großen, mehrere tausend Personen umfassenden Krawallen, die oft mehrere Tage andauerten. In ungefähr 39 Fällen betrug die Zahl der Beteiligten nicht mehr als 50 Personen, weitere 27 waren schwerwiegender und konnten zwischen 500 und 4.000 Teilnehmer umfassen. Die Aktionen der sich auf den Hauptplätzen der Städte versammelnden Menschenmengen bestanden aus dem Absingen antijüdischer Parolen, dem Werfen von Steinen und den Angriffen auf jüdisches Eigentum; dabei wurden zumeist Geschäfte von Juden attackiert, bisweilen auch geplündert, seltener Privathäuser. Aufläufe und Übergriffe hatten häufig größere Läden und Warenhäuser zum Ziel, da man Juden vorwarf, unehrliche Geschäftsleute zu sein und riesige Profite einzustreichen. Dieser Vorwurf war schon länger von den antisemitischen Organisationen erhoben worden, die Kampagnen gegen das wirtschaftliche „jüdische Komplott“ gestartet hatten, um den lokalen Handel gegen das „jüdische System“ in Schutz zu nehmen. Es wurden jedoch auch Synagogen und Häuser von Rabbinern beschädigt und Juden physisch attackiert. Die Aktionen waren von Beleidigungen von Polizisten und Widerstand gegen eine Festnahme begleitet. Das Gewaltniveau war insgesamt vergleichsweise niedrig, von Verletzten wird aus neun Orten berichtet. Nachdem die Behörden, von den Unruhen überrascht, zunächst zögernd reagiert hatten, waren sie später durch die Vorfälle äußerst beunruhigt, und der Innenminister wies alle Präfekten an, auch kleinere Übergriffe zu melden und zu unterdrücken. Was die Herkunft der beteiligten Personen angeht, so lässt sich für einige Orte über Plakate, Presseartikel oder mündliche Propaganda ein direkter Einfluss antisemitischer Organisationen wie der „Ligue Antisémitique Française“ auf den Ausbruch der Unruhen feststellen. Provoziert wurden aber viele der Ausschreitungen auch von anderen politischen Gruppierungen, etwa von klerikalen und royalistischen Gruppen. Zumeist war der Einfluss dieser Gruppen jedoch eher indirekt durch langfristige Aktivitäten im Vorfeld der Unruhen gegeben. An den Ausschreitungen beteiligten sich vor allem jüngere Männer, zumeist Schüler und Studenten, die die Unruhen auch am häufigsten auslösten, in einigen Fällen auch Wehrpflichtige, doch zeigen die Listen der verhafteten Personen, dass „alle gesellschaftlichen Klassen“ beteiligt waren: Arbeiter, Handwerker, Büroangestellte, Verkäufer, bisweilen auch bürgerliche Kreise, etwa Juweliere, Apotheker, Architekten, Kolonialwarenhändler, Mechaniker usw. Die Berichte der Präfekten halten zudem fest, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Ausschreitungen schweigend billigte. Hintergrund für diese breite Mobilisierung der Bevölkerung war eine schwere ökonomische Krise im Winter 1897/98, da die Dreyfus-Affäre das Ansehen Frankreichs international zunehmend beschädigte und zu einem deutlichen Rückgang der Handelsund Geschäftstätigkeit sowie in der Folge zu Arbeitslosigkeit führte. Es waren deshalb vor allem die Ladenbesitzer, die sich durch die Agitation der antisemitischen Organisationen angesprochen fühlten. Dieses ökonomische Krisengefühl wurde durch die politische Desorientierung durch den innerfranzösischen Konflikt zwischen „Dreyfusards“
Ausschreitungen in Frankreich 1898
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und „Anti-Dreyfusards“ verstärkt, worauf Teile der Bevölkerung mit einem nationalistischen und antisemitischen Schwenk reagierten, da man – wie ein antijüdisches Plakat verkündete („La patrie en danger“) das Vaterland in Gefahr sah. Einen Sonderfall bildete Algerien, wo die Ausschreitungen weit schwerer ausfielen als im französischen Mutterland und wo es bereits im Jahr zuvor antijüdische Ausschreitungen in Oran und anderen Orten gegeben hatte, die aber weniger gewalttätig verliefen. Die mit 40.000 Personen zahlenmäßig relativ große, erst seit dem → Crémieux-Dekret von 1870 völlig gleichberechtigte jüdische Minderheit war wenig assimiliert, besaß aber großes Gewicht bei den Wahlen und im Kreditwesen des Landes. Man warf ihnen ihre dominierende Stellung in bestimmten Sektoren von Industrie und Handel in diesem französischen Departement vor. Sie partizipierte in den Augen ihrer Gegner somit am korrupten politischen System Algeriens. Weder von der arabischen Bevölkerung, die das französische Staatsbürgerrecht nicht besaß, noch von den französischen Kolonisten oder den Immigranten vor allem aus Spanien und Italien wurde die Gleichstellung der Juden akzeptiert. Ihr Protest organisierte sich in Form einer antijüdischen Liga, die zunächst marginal blieb und mit juristischen oder politischen Mitteln gegen das Dekret kämpfte. Die Dreyfus-Affäre und der Artikel Zolas boten dann den Anlass, unter Anstiftung des jungen antisemitischen Studenten und Agitators Max Régis (1873–1950), der an der Spitze der antijüdischen Liga von Algier stand. Deren Zeitung „L’Antijuif“ hatte schon im Vorfeld dazu aufgerufen, mit Gewalt gegen die Juden Algiers vorzugehen. Mit der Parole „Wer den Juden etwas wegnimmt, stiehlt nicht!“ wurden diese zur Ausplünderung freigegeben. Fast eine Woche lang, vom 20.–25. Januar 1898, wütete die Menge, darunter Frauen und Kinder, ungehindert in Algier, wo ganze Straßen mit jüdischen Geschäften geplündert und in Brand gesteckt wurden. 138 Läden wurden unter den Augen einer, sofern sie sich nicht beteiligte, passiven Bevölkerung verwüstet. Die Juden, insbesondere die jüngeren Männer, organisierten sich und leisteten Widerstand, was die Angreifer noch mehr anstachelte. Die Bilanz: Zwei Juden wurden getötet, ungefähr 100 verletzt. Auch neun Aufrührer und 47 Polizisten wurden schwer verletzt, ein Demonstrant getötet. Die Unruhen hinterließen ein Stadtviertel, das aussah wie nach einem Bürgerkrieg. Sie weiteten sich auch auf andere Orte des Departments wie Mustapha, Boufarik und Blida aus, sie griffen sogar auf Tunesien und Marokko über. Das große Ausmaß der Übergriffe ist einerseits durch die Haltung der lokalen Behörden zu erklären, die die Bevölkerung ermutigten bzw. wie das Militär die Menge weitgehend gewähren ließ, andererseits aus der besonderen politischen Situation in Algerien. Anders als in Frankreich selbst, wo die antisemitische Bewegung keinen dauerhaften Erfolg hatte, war sie in den größeren algerischen Städten auch politisch bei Wahlen erfolgreich, da es sich dort um eine gegen das korrupte politische System Algeriens gerichtete radikal-sozialistische, antikapitalistische und populäre Bewegung handelte, die sich gegen die Regierung in Paris richtete. In der jüdischen Minderheit griff die oppositionelle antisemitische Bewegung, unterstützt durch ökonomische Konkurrenten der Juden („colonial capitalists“) sowie die Berberbevölkerung zugleich das von der Regierung in Paris gestützte korrupte politische Establishment Algeriens an. Anders als in Frankreich nahm der Antisemitismus in Algerien eine dauerhaftere politische Form an. In den Wahlen von 1898 wurden vier (von insgesamt sechs) antijüdische
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Auswanderungsverbot
Kandidaten, darunter Édouard Drumont, als Abgeordnete für Algerien gewählt, und Régis wurde trotz einer Verurteilung wegen Anstiftung zur Gewalt im November 1898 an die Spitze der Stadtverwaltung von Algier gewählt, was er für illegale Maßnahmen gegen Juden nutzte wie die Entlassung von Beamten und den Boykott jüdischer Geschäfte. Diese Entscheidungen wurden von der Regierung in Paris nicht anerkannt, und weitere öffentliche Unruhen führten bereits Mitte Dezember zu seiner Suspendierung.
Literatur
Werner Bergmann
Pierre Birnbaum, Le moment antisémite: un tour de la France en 1898, Paris 1998. Pierre Hebey, Alger 1898. La grande vague antijuive, Paris 1996. Isaac Jules, Expériences de ma vie, Paris 1960. Stephen Wilson, The antisemitic riots of 1898 in France, in: The Historical Journal 16 (1973), 4, S. 789–806.
Ausschreitungen in Konitz → Ritualmordvorwurf in Konitz (1900) Ausschreitungen in Xanten → Ritualmordvorwurf in Xanten (1891)
Auswanderungsverbot Eine erste jüdische Auswanderungswelle aus Deutschland setzte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 ein. Die politische Wende veranlasste vor allem diejenigen, die nicht nur als Juden, sondern insbesondere aus politischen Gründen verfolgt wurden, Deutschland zu verlassen. Nachdem 1933 etwa 38.000 Juden emigriert waren, waren die Zahlen 1934 mit 22.000 bis 23.000 Auswanderern rückläufig. Das scheinbare Nachlassen der nationalsozialistischen Repressalien vermittelte der jüdischen Bevölkerung das trügerische Gefühl, ruhigeren Zeiten entgegenzugehen. Ähnlich reagierte die jüdische Bevölkerung auf die → Nürnberger Gesetze im September 1935. Sie glaubte, die gesetzlichen Grundlagen würden ihr Leben in Deutschland erträglicher machen, daher erreichte die Zahl der Auswanderer 1935 mit 20.000 bis 21.000 den tiefsten Punkt, um dann 1936 mit 24.000 bis 25.000 wieder leicht anzusteigen. Nachdem 1937 mit 23.000 nochmals ein leichter Rückgang zu verzeichnen war, erreichte die Zahl erst 1938 (33.000–40.000) in der Folge der → Novemberpogrome 1938 wieder den Stand von 1933, um schließlich 1939 mit 75.000 bis 80.000 auf das höchste Niveau anzusteigen. Allerdings waren zu diesem Zeitpunkt die meisten Möglichkeiten, ins Ausland – vor allem nach Übersee und Palästina – zu gelangen, weitgehend ausgeschöpft. Nur vereinzelt nahmen Länder außerhalb des deutschen Einflussbereiches noch Juden auf. Mit Kriegsbeginn im September 1939 kam die Auswanderung dann nahezu vollständig zum Erliegen; einer kleinen Gruppe von Juden gelang es noch, mit der transsibirischen Eisenbahn nach Shanghai zu reisen. Die durch die nationalsozialistische Ausplünderung mittellos gewordenen Juden hatten auch in den Jahren zuvor vor dem Problem gestanden, aufnahmebereite Länder zu finden. Zudem galt es, eine Fülle von bürokratischen Hürden im Inland, aber auch für die Einreise in ein potentielles Emigrationsland zu überwinden. Die besondere Tragik für die verfolgten Juden lag darin, dass die nationalsozialistische Machtübernahme in eine
Ausweisung polnischer Juden (1938)
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Zeit fiel, in der die Auswanderungsmöglichkeiten wegen der Folgen der Weltwirtschaftskrise so gering waren wie niemals zuvor. Nachdem auf Anordnung Görings das Reichssicherheitshauptamt am 20. Mai 1941 die Ausreise der Juden aus Frankreich und Belgien verboten hatte, ordnete Reichsführer SS Heinrich Himmler fünf Monate später, am 18. Oktober 1941, als die Deportationen aus dem „Altreich“ bereits begonnen hatten, die Beendigung der jüdischen Auswanderung für das gesamte Reich an. Am 23. Oktober informierte der Chef des Amtes IV (Gestapo) im Reichssicherheitshauptamt Heinrich Müller die Gestapostellen über das Verbot mit der Anweisung: „Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei hat angeordnet, daß die Auswanderung von Juden mit sofortiger Wirkung zu verhindern ist. (Die Evakuierungsaktionen bleiben hiervon unberührt). Ich bitte, die in Frage kommenden innerdeutschen Behörden des dortigen Dienstbereiches von dieser Anordnung zu unterrichten. Lediglich in ganz besonders gelagerten Einzelfällen, z. B. bei Vorliegen eines positiven Reichsinteresses, kann nach vorheriger Herbeiführung der Entscheidung des Reichssicherheitshauptamtes der Auswanderung einzelner Juden stattgegeben werden.“ Zu diesem Zeitpunkt lebten noch ca. 150.000 Juden in Deutschland. Ausnahmegenehmigungen wurden nach Absprache zwischen Hitler und Himmler nur noch im Falle einer „Loslösung durch Devisen“ erteilt und zwar nur, wenn sie einen „namhaften Umfang“ hatten. Die deutschen Stellen behandelten das Auswanderungsverbot zunächst unter dem Siegel der Verschwiegenheit, um gegenüber der jüdischen Bevölkerung, die sich auf ihre Auswanderung vorbereitete, den Schein zu wahren und sie nicht zu beunruhigen. Die bereits angelaufenen Deportationen sollten nicht gefährdet werden. Der Aufruf, sich an Sammelstellen für den Transport „in den Osten“ einzufinden, traf viele Menschen deshalb völlig überraschend inmitten ihrer Auswanderungsvorbereitungen. In den Jahren 1942 bis 1945 gelang es trotz des Verbotes noch ca. 8.500 Juden, das Land zu verlassen.
Literatur
Juliane Wetzel
Fritz Kieffer, Judenverfolgung in Deutschland – eine innere Angelegenheit? Internationale Reaktionen auf die Flüchtlingsproblematik 1933–1939, Mainz 2000. Juliane Wetzel, Auswanderung aus Deutschland, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Juden in Deutschland 1933–1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, München 1988, S. 413–498.
Ausweisung polnischer Juden (1938) Zwischen dem 27. und 29. Oktober 1938 wurden ca. 17.000 polnischstämmige Juden von der deutschen Polizei verhaftet und – je nach Wohnort – an die Grenzübergänge Bentschen (Zbąszyń), Konitz (Chojnice) und Beuthen (Bytom) gebracht. Anfangs reisten viele unbehelligt in Polen ein, andere wurden gewaltsam über die Grenze getrieben, dann schloss Polen diese. Lediglich in Bentschen wurden die Abgeschobenen registriert, anderenorts fand keine Erfassung statt. So sind heute nur ca. 7.000 Namen Ausgewiesener bekannt, davon 4.800 aus den Aufzeichnungen am Grenzübergang Bentschen.
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Ausweisung polnischer Juden (1938)
Hintergrund der Kollektivausweisung bzw. Massenabschiebung war eine Maßnahme der polnischen Regierung. Diese fürchtete nach der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich einen Zustrom (bzw. Rückstrom) jüdischer Emigranten nach Polen. Deshalb hatte sie am 31. März 1938 per Gesetz verfügt, allen Polen, die länger als fünf Jahre im Ausland gelebt hatten, die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Die Ankündigung richtete sich insbesondere gegen Juden, obwohl diese Zielgruppe nicht benannt wurde. Sie betraf ca. 30.000 Personen in Deutschland und 20.000 im annektierten Österreich. Die Zahlenangaben schwanken in der Forschungsliteratur, Sybil Milton beispielsweise geht von 72.000 im Deutschen Reich verbliebenen polnischen Juden und 18.000 Ausgewiesenen aus. Die Nationalsozialisten betrachteten die „Ostjuden“ ohnehin als Inkarnation ihres antisemitischen Feindbildes. Immer wieder dienten sie als Zielscheibe für antijüdische Propaganda. Sowjetische Juden waren bereits zuvor in „Ausweisungshaft“ genommen und bis dahin in Konzentrationslager eingewiesen worden. Dass die NS-Machthaber polnische Juden ebenfalls bald abgeschoben hätten, steht bei Historikern außer Frage, nur – so Jerzy Tomaczewski – wäre dies vermutlich über einen längeren Zeitraum geschehen, als es angesichts der Maßnahmen der polnischen Regierung geschah. Er betont auch, dass die in Deutschland lebenden polnischen Juden den Schutz ihres Staates gerade zu einem Zeitpunkt verloren, als sie dessen besonders bedurft hätten. Im Oktober verschärfte die polnische Regierung die Regelung noch einmal: Wem nicht ein polnisches Konsulat den Pass bis 30. Oktober 1938 verlängerte (was Juden generell verweigert wurde), würde staatenlos werden. Dem wiederum wollte die deutsche Regierung zuvorkommen und ordnete die Massenabschiebung an, die am 27. Oktober anlief und aufgrund der polnischen Weigerung, die Juden aufzunehmen und stattdessen mit der Abschiebung in Polen lebender Deutscher zu beginnen, am 30. Oktober gestoppt wurde. Die Betroffenen traf die Aktion überraschend. Ihnen blieben in der Regel nur wenige Stunden, um zu packen und sich zu verabschieden. Zur Abwicklung ihrer Geschäfte, zur Wohnungsauflösung, Versorgung zurückbleibender Verwandter etc. wurde ihnen keine Zeit zugestanden. Die ca. 1.000 Hamburger verbrachten beispielsweise die Stunden nach der Verhaftung im Gefängnis bzw. in einer bewachten Turnhalle, die bis zum Abtransport niemand verlassen durfte. Da der Ausweisungsbefehl keine detaillierten Vorschriften enthielt, wurden regional unterschiedlich teils ganze Familien, teils nur die Männer über 18 Jahre oder – bei deutsch-polnischen Ehen – nur der polnische Teil derselben in die „Polenaktion“ einbezogen. Die Abschiebung erfolgte teils in Einzel-, Gruppen- oder Großtransporten. Als Polen die Grenze gesperrt hatte, kampierten tausende über Tage oder Wochen im Niemandsland zwischen den Ländern oder in grenznahen Notunterkünften wie Gaststätten, Ballsälen oder Pferdeställen. Die umliegenden jüdischen Gemeinden, die selbst unter Finanznot litten, weil sie die eigenen Mitglieder unterstützen mussten, verpflegten die Ankömmlinge. Gruppen, die nach dem 30. Oktober eintrafen, wie beispielsweise die Augsburger, durften ebenso wie diejenigen an ihre Heimatorte zurückkehren, die dann immer noch an der deutschen Grenze auf die Einwanderungsbewilligung warteten.
Ausweisung polnischer Juden (1938)
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Auf polnischer Seite wurde die Stadt Bentschen am 31. Oktober 1938 weiträumig abgesperrt und die Ankömmlinge in einer alten Kaserne und Ställen interniert. Erst wenn sie nachweisen konnten, dass Familienangehörige in Polen sie aufnehmen würden, sie Auswanderungspapiere vorlegten oder eine offizielle Erlaubnis erhielten, befristet nach Deutschland zurückkehren zu dürfen, konnten sie das Lager verlassen. Im Juli 1939, kurz vor der Schließung, befanden sich immer noch 3.000 Insassen dort, mittlerweile von jüdischen Hilfsorganisationen wie dem US-amerikanischen „Joint Distribution Committee“ versorgt. Viele der Juden, die sofort nach Polen gelangten, beherrschten die Sprache gar nicht, konnten nicht auf verwandtschaftliche Beziehungen zurückgreifen und mussten versuchen, sich in diesem für sie fremden Land durchzuschlagen oder mit Unterstützung einer Hilfsorganisation von dort zu emigrieren. Diejenigen, die sich nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 noch im Land befanden, gerieten erneut in den Einzugsbereich der nationalsozialistischen Judenpolitik und damit in die Umsiedlungs- und Vernichtungsaktionen, die die Mehrheit von ihnen nicht überlebte. Die Zahl der Ermordeten ist nicht bekannt. Die unvorbereitete Aktion bereitete nicht nur den Betroffenen Leid, sondern warf unterschiedlichste Probleme bei Ämtern und Behörden in den deutschen Heimatorten auf, insbesondere, was finanzielle Forderungen aller Art betraf, die sie zu erfüllen hatten bzw. einklagen konnten. Das Deutsche Reich und Polen schlossen am 24. Januar 1939 die Vereinbarung, dass Abgeschobene die offizielle behördliche Erlaubnis zur befristeten Rückkehr erhielten, um private und geschäftliche Angelegenheiten abzuwickeln, und Polen erklärte sich bereit, ca. 5–6.000 Familienangehörige der Abgeschobenen aufzunehmen. Historiker schreiben der „Polenaktion“ auch den Zweck zu, dass der NS-Staat hier erste Erfahrungen für die späteren Großdeportationen sammelte. In der Tat mussten aus diesem Anlass Zuständigkeiten aller Art geregelt und das Zusammenspiel verschiedener Institutionen erprobt werden. Die spätere Verfahrensweise, den jüdischen Opfern die Kosten der gegen sie gerichteten Maßnahmen aufzubürden, wurde ebenfalls schon praktiziert: So sollten sie – wie dann bei den Deportationen üblich – den Reichsbahntransport bezahlen. Für das zurückgebliebene Vermögen zeichnete der Oberfinanzpräsident verantwortlich, die Behörde befriedigte daraus Schulden oder strich Außenstände zugunsten des Deutschen Reiches ein, was ebenfalls bei den Transporten ab Oktober 1941 so gehandhabt wurde. Zudem zog das Deutsche Reich indirekten propagandistischen Nutzen für seine Judenpolitik aus der Massenabschiebung, als der junge polnischstämmige Jude Herschel Grynszpan den Pariser Legationssekretär Ernst vom Rath erschoss. Dies diente dem NS-Staat als Vorwand, die → Novemberpogrome 1938 zu initiieren. Grynszpans Eltern, die seit 27 Jahren in Deutschland lebten, waren von Hannover nach Bentschen abtransportiert worden, wo sie unter katastrophalen Bedingungen kampierten. Sie hatten weder Geld noch anderes mitnehmen können. Tochter Esther verständigte ihren in Frankreich lebenden 17-jährigen Bruder Herschel von der Situation. Der versuchte vergeblich, Geld für seine Familie zu leihen. Verzweifelt ging er zur Deutschen Botschaft in Paris, wo er auf vom Rath schoss. Zwei Tage später erlag dieser seinen schweren Verletzungen. Grynszpan wusste nicht, dass seine Eltern zwischenzeitlich in Polen ein-
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Ausweisung von Ostjuden aus Bayern (1923)
reisen konnten, während er in einem Jugendgefängnis bei Paris einsaß. Parallel wurde in Frankreich und in Deutschland ein Verfahren gegen ihn vorbereitet. Als deutsche Truppen in Frankreich einmarschierten, floh er, wurde gefasst und sollte in Berlin in einem Schauprozess verurteilt werden. Herschel Grynszpan wurde ins KZ Sachsenhausen eingewiesen und dann ins Zuchthaus Magdeburg verlegt, wo sich seine Spur verliert. Seine Eltern überlebten, inzwischen von Polen in die Sowjetunion geflüchtet. Sie ließen ihn 1960 für tot erklären. Die „Polenaktion“ hatte nicht alle polnischstämmigen Juden erfasst, etliche waren legal zurückgekehrt und dann illegal in Deutschland geblieben. Sie sollten, wie Heydrich im Sommer 1939 anwies, unauffällig abgeschoben werden. Dies betraf noch einmal 4.000 Personen. Dennoch befanden sich nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 noch mehr als 11.500 polnische Juden in Deutschland. Nun erging die Anordnung, die Männer in Konzentrationslagern zu inhaftieren. Am 8. September 1939 wurden reichsweit ca. 2.000 Männer verhaftet, darunter ca. 1.000 in Berlin, weitere Festnahmen folgten. Die bewusst katastrophalen Haftbedingungen bewirkten eine auffällig hohe Todesrate unter ihnen. Überlebenschancen hatten nur wenige, die Zertifikate für die Palästinaauswanderung erhielten. Yfaat Weiss wies in diesem Zusammenhang auf Konflikte in den deutsch-jüdischen Organisationen hin, deren führende Funktionäre sich mehrheitlich weigerten, den polnischen Glaubensbrüdern wegen ihrer besonderen Gefährdung vorrangig die Palästinaeinreise zu ermöglichen und damit eventuell deutschen Juden die Rettungsmöglichkeit zu nehmen. Diejenigen Häftlinge, die sich im Februar 1940 noch in den Konzentrationslagern befanden, wurden ins Generalgouvernement abgeschoben. Alle übrigen, die den Verhaftungsaktionen entgangen waren und im Oktober 1941 noch „unbehelligt“ im Deutschen Reich lebten, wurden in die Großdeportationen eingereiht.
Literatur
Beate Meyer
Hans-Jürgen Döscher „Reichskristallnacht“. Die Novemberpogrome 1938, Frankfurt am Main 1988. Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1986. Sybil Milton, Menschen zwischen Grenzen: Die Polenausweisung 1938, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 1 (1990), S. 184–206. Jerzy Tomaszewski, Auftakt zur Vernichtung. Die Vertreibung polnischer Juden aus Deutschland im Jahre 1938, Osnabrück 2002. Yfaat Weiss, Deutsche und polnische Juden vor dem Holocaust. Jüdische Identität zwischen Staatsbürgerschaft und Ethnizität, München 2000.
Ausweisung von Ostjuden aus Bayern (1923) Bereits im März 1920 hatte die bayerische Regierung unter Ministerpräsident Gustav von Kahr eine „Fremdenverordnung“ erlassen, deren eigentlicher Zweck es war, Ostjuden die Zuwanderung zu verwehren bzw. auch zu ermöglichen, sie auszuweisen. Damals gelang es, diese Ausweisungen letztlich zu verhindern. Am 13. Oktober 1923 erließ der nun zum Generalstaatskommissar ernannte und mit diktatorischen Vollmachten ausgestattete von Kahr Bestimmungen über Schutzhaft und Aufenthaltsbeschränkun-
Ausweisung von Ostjuden aus Bayern (1923)
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gen für ausländische Staatsangehörige in Bayern. Wieder betraf diese Anordnung ausschließlich Ostjuden. Ihnen wurde die Schuld an der Hyperinflation und das Wirtschaftsleben schädigendes Verhalten unterstellt. In den folgenden Tagen führten Kriminalbeamte, oft nach Denunziationen aus der Bevölkerung, vor allem in München bei zahlreichen ostjüdischen Familien Hausdurchsuchungen durch. Rund 70 Familien, die zum Teil seit 20 und mehr Jahren in Bayern lebten, erhielten daraufhin von Kahr persönlich unterschriebene Ausweisungsbefehle. Als Hauptargument für die Ausweisungen wurde vorgebracht, die Betroffenen seien seinerzeit arm nach Deutschland gekommen, hätten „inzwischen zum Schaden des bayerischen Volkes Vermögen erworben“ und sich „während der tiefsten Not des deutschen Volkes bereichert“. Vergeblich protestierten am 31. Oktober 1923 Vorstand und Gemeindevertretung der Israelitischen Kultusgemeinde München und des Landesverbandes des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten bei von Kahr gegen die Ausweisungsaktionen. Eine Reihe ostjüdischer Familien wurde in einem Lager bei Ingolstadt interniert. Die meisten der von Ausweisung bedrohten Ostjuden waren polnische Staatsangehörige. So war es nur folgerichtig, dass der polnischen Generalkonsul in München am 29. Oktober 1923 die Ausweisungsverfügungen als weit hergeholt bezeichnete und drohte, wenn diese nicht rückgängig gemacht würden, „werde sich die polnische Regierung zu ihrem Bedauern gezwungen sehen, Vergeltungen zur Anwendung zu bringen“. Gemeint waren damit Maßnahmen gegen Deutsche, die in nach dem Krieg an Polen abgetretenen Gebieten lebten. Auch die Reichsregierung suchte im Interesse der Deutschen in Polen von Kahr zur Rücknahme der Ausweisungsverfügungen zu bewegen. Der preußische Ministerpräsident nahm Anstoß daran, dass die Ausgewiesenen in seinem Land Zuflucht suchten. Die Zahl der wirklich durchgeführten Ausweisungen ist nicht mehr festzustellen, da viele Ostjuden angesichts der Anfeindungen und Repressionsmaßnahmen Bayern bereits unaufgefordert verlassen hatten. Nach dem Hitlerputsch, während dem es vor allem in München auch zu wüsten Exzessen gegen jüdische Personen und Einrichtungen gekommen war, sah sich die Bayerische Staatsregierung, um das Verhältnis zur Reichsregierung wieder zu verbessern, schließlich zum Einlenken gezwungen. Im Februar 1924 wurde die Ausweisungsverfügung gegen „polnische Staatsangehörige“ zunächst für drei Wochen ausgesetzt und kam danach nicht mehr zur Anwendung.
Literatur
Wolfram Selig
Andreas Heusler, Doppelte Diskriminierung. Rassismus und antisemitische Gewalt gegen Ostjuden in München zwischen 1880 und 1930, in: Angela Koch (Hrsg.), Xenopolis. Von der Faszination und Ausgrenzung des Fremden in München, Berlin 2005, S. 225–228. Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1986. Reiner Pommerin, Die Ausweisung von „Ostjuden“ aus Bayern 1923. Ein Beitrag zum Krisenjahr der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34 (1986), S. 311– 340.
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Autodafé in Cartagena de Indias
Autodafé in Cartagena de Indias Die Gründung der Stadt Cartagena de Indias im Jahr 1533 durch den kastilischen Conquistador Pedro de Heredia war die Folge langjähriger Handelsbeziehungen zwischen Europäern und den karibischen Kalamari. Unter den Conquistadoren und Siedlern befanden sich von Anfang an auch Neuchristen, wie etwa die Gouverneure Pedrarias Dávila und Rodrigo Galván de las Bastidas oder der bekannte Bischof Bartolomé de las Casas. Cartagena de Indias etablierte sich als gut befestigter Handelsstützpunkt im Delta des Rio Magdalena; die Stadt entwickelte sich rasch zum Tor nach Panama (Transitroute nach Peru) sowie zum Ausgangspunkt für den Handel ins Innere des Kontinents. Die Hafenstadt rückte ins Zentrum des transatlantischen und innerkaribischen Handels, wodurch auch zahlreiche neuchristliche Händler angelockt wurden. Einige dieser erfolgreichen, meist portugiesisch-neuchristlichen Unternehmer gerieten ab der Hälfte des 16. Jahrhunderts mit dem Gesetz in Konflikt. Während die politische und wirtschaftliche Elite der Stadt die ausländischen Händler meist als Schmuggler und Spione anklagte, versuchte die katholische Kirche sie als „Judaisierer“ (heimlich praktizierende Juden) vor ein spanisches Inquisitionsgericht zu stellen. Der heftige Widerstand im Inneren der Kolonien bedrohte den ökonomischen Erfolg des Kolonialprojekts, sodass Philipp II. schon 1569 das System der Inquisitionsgerichtshöfe in die Amerikas exportieren ließ. Während in Spanien bis 1574 insgesamt acht und in Portugal bis 1613 fünf Inquisitionsgerichtshöfe errichtet wurden, waren die beiden 1571 gegründeten Inquisitionsgerichtshöfe von Lima und Mexiko-Stadt für den gesamten Kontinent und seine Inseln zuständig. Mit dem Beginn der Personalunion zwischen Portugal und Spanien 1580 nutzten immer mehr portugiesische Händler die neuen ökonomischen Möglichkeiten in Kastilisch-Amerika. Die sich 1580–1610 etablierende Gruppe von portugiesischen Fernhändlern drohte die alte auf die Förderung und Verarbeitung von Edelmetallen (Silber, Platin und Gold) beschränkte spanische Elite Cartagenas zu überflügeln. Mit der Implementierung der Inquisition in Cartagena de Indias im Jahre 1610 versuchte die alte spanische Wirtschaftselite, zu der auch die verschiedenen katholischen Orden innerund außerhalb der Stadtmauern zählten, die Fernhändler aus der Hafenstadt zu verdrängen. Darüber hinaus war der Inquisitionsgerichtshof für sämtliche Provinzen von Neugranada sowie Venezuela, Jamaika, Kuba und Santo Domingo zuständig, wobei die Inquisitoren in insgesamt 71 Gemeinden aktiv wurden. Die Quellen zur Inquisition in Cartagena de Indias zeigen, dass fast alle zwischen 1610 und 1740 in der Stadt lebenden Portugiesen (rund 150–200 Personen) zumindest einmal als Judaisierer denunziert und eingekerkert wurden sowie ihr Eigentum und Kapital von der Inquisition konfisziert wurde. Einige dieser Angeklagten, vor allem jene, die das ihnen unterstellte Kryptojudentum weiter leugneten, wurden vor öffentliche Tribunale (Autodafés) gestellt und im Beisein von Zuschauern verurteilt. Mit dem Beginn der Herrschaft Philipp IV. 1621 kam es zum sukzessiven Abbau der bisher garantierten Autonomierechte Portugals. Ab 1625 formierte sich der portugiesische Widerstand gegen Madrid, der 1640 die Personalunion beendete und den bis 1668 dauernden Restaurationskrieg auslöste. Die Portugiesen wurden zu Feinden Spaniens und die Inquisition in Cartagena zu einem Werkzeug ihrer Kriegsführung. Zudem
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beschuldigte die Inquisition in Cartagena die neuchristlichen Portugiesen, mit den niederländischen Juden auf Curaçao zu kollaborieren. Auf den drei Karibikinseln Curaçao, Aruba und Bonaire hatte sich die 1621 gegründete „West Indian Company“ (WIC) zwischen 1634 und 1636 festgesetzt und war von dort aus rasch in die innerkaribischen Märkte (Venezuela, Barbados, Jamaika, Guajira) eingedrungen. Der Krieg zwischen Spanien und den Niederlanden trat nach dem Waffenstillstand von 1608 bis 1621 in eine neue Phase, in der der „West Indian Company“ eine entscheidende Rolle zukam. Während die weltlichen Protagonisten in Cartagena die portugiesischen Neuchristen zur Fünften Kolonne der republikanischen Niederländer hochstilisierten, wurden sie vom Klerus der Rückkehr zum Judentum bezichtigt, mit dem angeblichen Ziel, das Christentum in den Kolonien zerstören zu wollen. Zwischen 1610–1636 lassen sich drei Autodafés sowie 12 partikuläre Gerichte rekonstruieren. Von 1610 bis 1660 tauchen insgesamt 150 Portugiesen in den Inquisitionsakten von Cartagena de Indias auf, die als Judaisierer denunziert, eingekerkert und gefoltert wurden. Insgesamt 59 der Angeklagten Judaisierer mussten den langen Weg bis zum Autodafé gehen. Um auf die „jüdische Gefahr“ einer Verschwörung gegen Spanien in aller Deutlichkeit hinzuweisen, wurde die Existenz einer geheimen Synagoge behauptet, die sich im Haus des angesehenen portugiesischen Chirurgen und Sklavenhändlers Blas de Paz Pinto an der Plaza Fernández de Madrid im Stadtteil San Diego befunden haben soll. Die meisten der Inhaftierten starben nach wenigen Monaten im Verlies an den miserablen Bedingungen und der Folter, 17 wurden durch den Strang hingerichtet, zwei Delinquenten bei lebendigem Leibe verbrannt. Erst mit dem definitiven Ende des spanischen Kolonialismus in Cartagena 1821 wurde die Inquisition in der karibischen Hafenstadt abgeschafft.
Literatur
Christian Cwik
Nikolaus Böttcher, Aufstieg und Untergang eines atlantischen Handelsimperiums: Portugiesische Kaufleute und Sklavenhändler und die Inquisition in Cartagena de Indias, 1580– 1640, Frankfurt am Main 1995. Itic Croitoru Rotbaum, De Sefarad al neosefardismo. Contribucion a la historia de Colombia, 2 Bände, Bogota 1967. Ricardo Escobar Quevado, Inquisición y Judaizantes en América Española, Bogotá 2008. Lucia Garcia de Proodian, Los judíos en América. Sus activitades en los Virreinatos de Nueva Castilia y Nueva Granada, siglo XVII. Consejo Superior de Investigaciones Cientificas, Madrid 1966. José Toribio Medina, La inquisición en Cartagena de Indias, Bogotá 1978. Daniel Mesa Bernal, De los judíos en la historia de Colombia, Bogotá 1996. Anna María Splendiani, José Enrique Sánchez Bohórquez, Emma Cecilia Luque de Salazar, Cincuenta Años de Inquisición en el Tribunal de Cartagena de Indias, 1610–1660, Band II, Documentos Procedentes del Archivo Histórico Nacional de Madrid (AHMN). Sección de Inquisición, Cartagena de Indias, Libro 1020, Años 1610–1637, Bogotá 1997.
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Balfour-Erklärung
Balfour-Erklärung Als „Balfour-Erklärung“ wird das öffentliche Schreiben des britischen Außenministers Arthur James Balfour an den Vertreter der „World Zionist Organization“ (WZO) in Großbritannien, Lord Walter Rothschild, vom 2. November 1917 bezeichnet, das – unter Verweis auf die Billigung durch das Kabinett – u.a. mitteilt: „Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte.“ Die Balfour-Erklärung markiert einen Erfolg in den Bestrebungen der 1897 in Basel gegründeten WZO, internationale Unterstützung für ihr zentrales Projekt der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina zu finden. Dieser Erfolg war lange ungewiss: politisch gehörte Palästina zum Osmanischen Reich, das dem zionistischen Ansinnen skeptisch, wenn nicht ablehnend gegenüberstand. In den europäischen Hauptstädten stieß der Zionismus bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs ebenfalls nur auf geringes Interesse, nicht zuletzt deshalb, weil auch die jüdische Bevölkerung in Europa das Projekt eher desinteressiert verfolgte. Das mit der Balfour-Erklärung manifeste Eingehen der britischen Regierung auf die Ziele der WZO lässt sich vor allem auf zwei Gründe zurückführen: Zum einen war der strategische Stellenwert des Nahen Ostens als potentielle Brücke zwischen den ausgedehnten Besitzungen des Empires und als Erdöllagerstätte seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts stetig gewachsen. Folgerichtig sicherte sich Großbritannien 1916 in einem Vertrag mit dem Entente-Verbündeten Frankreich (Sykes-Picot-Abkommen) die Kontrollrechte über den Nahen Osten nach dem angestrebten Sieg über die Osmanen. In diesem Kontext erfuhr die zionistische Bewegung eine strategische Neubewertung als „natürlicher Verbündeter“ bei der Durchsetzung britischer Interessen in der zukünftigen Einflusszone. Zum anderen verstärkte die britische Regierung wegen der ungünstigen Kriegsentwicklung 1916 ihre Anstrengungen, die USA zu einem Kriegseintritt auf Seiten der Entente zu bewegen. Auf Grund des politischen Gewichts der starken jüdischen Gemeinde in den USA versprach sich die britische Regierung durch die Balfour-Erklärung einen positiven Einfluss auf den Entscheidungsfindungsprozess in den USA. Obwohl der Text der Balfour-Erklärung mit der Wilson-Administration abgestimmt war, blieb er in vielen Aspekten – gewollt – unpräzise und gestattete damit einen großen Interpretationsspielraum. Eine „nationale Heimstätte“ war völkerrechtlich unbekannt; sie sollte auch nur „in“ und nicht etwa im gesamten Palästina errichtet werden. Eindeutiger fiel dagegen die Abwertung der muslimischen bzw. arabischen Mehrheitsbevölkerung in Palästina aus, die lediglich als „nicht-jüdische Gemeinschaften“ beschrieben wurde. Wenngleich die unmittelbare Wirkung der Balfour-Erklärung auf das europäische Kriegsgeschehen auch gering blieb, so bestimmte sie doch zweifellos die weitere Ent-
Barmat-Skandal (1925)
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wicklung im Nahen Osten, weil ihr Kernanliegen im britischen Völkerbundmandat Palästina ab 1922 umgesetzt wurde.
Literatur
Henner Fürtig
Ralf Balke, Israel, München 2007. William L. Cleveland, A History of the Modern Middle East, Boulder 2004. Gudrun Krämer, Geschichte Palästinas, München 2006.
Barmat-Skandal (1925) Der Barmat-Skandal, auch als Kutisker-Barmat-Skandal bekannt, gilt zusammen mit dem → Sklarek-Skandal als einer der wichtigsten politischen Skandale der Weimarer Republik. Und dies vor allem aufgrund seiner politischen Instrumentalisierung: Die Korruptionsaffäre um die Barmat-Brüder, in die hohe Kreise der SPD verstrickt waren, schadete dem Ansehen der Demokratie erheblich und löste aufgrund des jüdischen Glaubens der Brüder Barmat antisemitische Kampagnen rechtsgerichteter Kreise und der wiedererstandenen NSDAP aus. Julius Barmat, 1889 in der Ukraine geboren, kam 1906 in die Niederlande. Während des Ersten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit lieferte er im großen Umfang Lebensmittel nach Deutschland und stand seit 1919 in engem Kontakt zu führenden deutschen Sozialdemokraten. Zwischen 1922 und 1924 kam er mit seinen Brüdern Herschel (Henri) und David nach Deutschland. Nach der Hyperinflation, als günstige Kredite aufgrund der allgemeinen Geldknappheit nach der Konsolidierung der Währung nur sehr schwer zu beschaffen waren, geriet Barmats neu gegründeter Konzern, ein eilig zusammengeschlossenes Unternehmenskonglomerat, in Zahlungsschwierigkeiten. Etwa 14 Millionen Mark – der wirtschaftliche Schaden war also nicht exorbitant – erhielt Julius Barmat aus öffentlicher Hand, vor allem aus Krediten der Preußischen Staatsbank (Seehandlung), da er vermeintliche Sicherheiten vorlegen konnte. In Wirklichkeit hatte er jedoch seine hohen SPD-Kontakte genutzt und Beamte bestochen, um an die Kredite zu kommen. Die Sicherheiten waren in betrügerischer Absicht vorgelegt und für ausreichend befunden worden. Zeitgleich dazu, jedoch unabhängig von Barmat, war es dem aus Litauen stammenden ebenfalls jüdischen Kaufmann Iwan Kutisker gelungen, sich durch die Hintergehung hoher Beamter etwa 11 Millionen Mark aus öffentlicher Hand zu beschaffen. Kutiskers Betrug fußte auf gefälschten Sicherheiten, die weder bei der Reichspost noch bei der Preußischen Staatsbank ordentlich geprüft worden waren, weshalb beide Institute ihm das Geld gewährten. Als Julius Barmat nach dem Zusammenbruch seines Konzerns am 31. Dezember 1924 verhaftet wurde, stellte die Presse sofort einen Zusammenhang zu dem kurz zuvor verhafteten Kutisker her, der freilich nur in der Vorstellung einiger Journalisten existierte, die sofort antisemitische Verschwörungsphantasien bemühten, um den „Kutisker-Barmat-Skandal“ zu konstruieren. Als klar wurde, dass das „Skandal-Potenzial“ eines Barmat aufgrund seiner Kontakte zur SPD sehr viel höher war als dasjenige des
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„simplen Betrügers“ Kutisker, fungierte Kutiskers Name bald nur noch als Zusatz in rein antisemitisch motivierter Absicht. Der Barmat-Skandal war geeignet, sämtlichen Hassgefühlen und Haltungen gegen die Weimarer Republik Ausdruck zu verleihen: Von der „Juden- und Schieberrepublik“, der Angst vor der Ausbeutung durch Ostjuden, die nicht nur die Korruption nach Deutschland gebracht, sondern auch noch monopolisiert hätten, über die Ablehnung des Kapitalismus bis hin zum „Klassenverrat“ der SPD bediente der Barmat-Skandal zahlreiche eingängige Stereotype und schien sie gleichsam argumentativ zu unterfüttern. Die Fakten des Skandals zu generalisieren und zur Diffamierung der gesamten jungen Demokratie als „verjudetes Verrätersystem“ zu benutzen, gelang den Antirepublikanern und Antisemiten (was oft Hand in Hand ging) daher sehr leicht. Die „Deutsch-Nationale Volkspartei“ (DNVP) beantragte die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der auch die Karriere Barmats rekonstruierte: Seit 1908 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Niederlande und später Finanzier einer deutschfreundlichen Zeitung („Voorwarts“), war Barmat innerhalb kürzester Zeit vom Gemüsehändler zum Millionär und zum Lebensmittellieferanten verschiedener deutscher Reichsstellen im Weltkrieg aufgestiegen. Er hatte sein Haus in Amsterdam 1919 dem Büro der II. Internationale zur Verfügung gestellt und dabei u.a. SPDChef Otto Wels und Hermann Müller (den späteren Reichskanzler) kennengelernt. Wels hatte Julius Barmat ein Dauervisum für Deutschland verschafft, der Berliner Polizeipräsident Wilhelm Richter sowie der ehemalige Reichskanzler Gustav Bauer (beide SPD) erleichterten seiner Familie die Einreise. Postminister Anton Höfle (Zentrumspartei) hatte ihm Empfehlungen geschrieben, die ihm Kreditwürdigkeit bescheinigten, Barmat leistete sich eine Wohnung am Kurfürstendamm (wie auch Kutisker) und später eine Villa auf Schwanenwerder in Berlin. Die Verquickung geschäftlicher und politischer Kontakte aus der Kriegs- und Nachkriegszeit verhalfen seinem Unternehmen ab 1919 zu einem enormen Aufschwung: Prominente Sozialdemokraten – u.a. Wels und Bauer – hatten persönlich interveniert, um Barmat monopolartige Lieferverträge mit der Reichsfett- und der Reichsfleischstelle zu verschaffen. In einigen Fällen war Barmat bereits hier betrügerisch vorgegangen. Auch die Lust der Öffentlichkeit an schlüpfrigen Geschichten konnte aus den Tatsachen befriedigt werden: Eine ehemalige österreichische Prostituierte, die Polizeipräsident Richter, Ernst Heilmann (SPD-Politiker jüdischen Glaubens) und Barmat aufsuchten, hatte von Richter ein Visum bekommen und wurde – als sie mit ihren Kontakten zu prahlen begann – von Barmat mit Geld versorgt und nach Österreich zurückgeschickt. All diese Verstrickungen brachten es mit sich, dass das antisemitische, republikfeindliche Konstrukt einer „Herrschaft“ moralisch zweifelhafter (Ost-)Juden, die sich SPD und Kapitalismus gleichermaßen zum Nachteil Deutschlands dienstbar gemacht hätten, so leicht angenommen wurde. Die NSDAP nutzte ihre Zeitung „Völkischer Beobachter“ zum Aufpeitschen des Skandals: Vom „Barmatblock“ (gemeint waren die Parteien der Weimarer Koalition) war dort die Rede, den alle „Juden und Judenknechte“ bei der Reichspräsidentenwahl 1925 wählen würden, während „Alle Deutschen für Hindenburg!“ stimmen sollten. Eine DNVP-Broschüre sprach vom „Barmat-
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Sumpf“, was sich schnell zum Schlagwort entwickelte. Unterstellungen, sogar Reichspräsident Friedrich Ebert sei in den Skandal verwickelt, erwiesen sich als haltlos. Im Zuge des Skandals gaben Bauer und Heilmann ihre Reichstagsmandate auf, Bauer wurde 1925 aus der SPD ausgeschlossen, aber ein Jahr später rehabilitiert. Höfle, der Barmat Kredite der Reichspost gewährt hatte, musste im Januar 1925 als Postminister zurücktreten und starb noch im April an den Folgen seiner Gefängnishaft in Berlin. Richter wurde zunächst beurlaubt und dann in den Vorruhestand versetzt. Gegen „Barmat und Genossen“ wurde im Januar 1926 ein Verfahren eröffnet: Julius Barmat wurde im März 1928 zu elf Monaten Haft verurteilt, während sein Bruder Henri sechs Monate bekam. Julius wanderte danach nach Belgien aus, wo er dank seiner Kontakte zur Sozialdemokratie und dubiosen Geschäften erneut zu Geld kam, bis er 1936 auch hier wegen Betrugs verhaftet wurde. Diese Barmat-Affäre wiederum löste in Belgien eine breite antisemitische, gegen die Demokratie gerichtete Kampagne aus und diente den belgischen Faschisten („Rexisten“) als Munition gegen die Regierung Paul van Zeelands, die 1937 zurücktrat. Julius Barmat war derweil zu seiner Familie nach Amsterdam geflohen, wurde dort im November 1937 verhaftet und an Belgien ausgeliefert. Er starb eine Woche nach der Auslieferung, am 6. Januar 1938, in Brüssel während der Prozessvorbereitung. Nach dem deutschen Einmarsch in Amsterdam 1940 wurden Barmats Frau und Sohn, seine Eltern, vier Brüder, zwei Schwestern sowie deren Familien verhaftet und ermordet.
Literatur
Bjoern Weigel
Stephan Malinowski, Politische Skandale als Zerrspiegel der Demokratie. Die Fälle Barmat und Sklarek im Kalkül der Weimarer Rechten, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5 (1996), S. 46–65.
Barmer Theologische Erklärung → Ansbacher Ratschlag
Beilis-Affäre (1911–1913) Am 20. März [2. April] 1911 wurde im Kiewer Vorort Lukjanowka die Leiche des 13jährigen Andrej Juschtschinski gefunden, eines Schülers der Vorbereitungsklasse der geistlichen Lehranstalt an der Sophienkathedrale, der im Vorort Predmostnaja Slobodka gewohnt hatte. Die Gerichtsmediziner stellten 47 Verletzungen fest, darunter Schläge auf den Kopf, Messerstiche in der Herzgegend, am Kopf und am Hals. Der Jugendliche war dabei festgehalten worden, die Verletzungen waren dem Opfer von mindestens zwei Menschen zugefügt worden. Andrej hatte die elterliche Wohnung am 12./ 25. März verlassen, um zur Schule zu gehen, wo er nicht eintraf. Die Suche nach ihm war erst nach acht Tagen erfolgreich. Im Zusammenhang mit der Beerdigung des Jungen am 27. März [9. April] 1911 erschienen in Kiew antisemitische Flugblätter und Artikel, die Juden des Mordes beschuldigten. Da am 1. [13.] April 1911 das Pessach-Fest begann, brachte man den Mord mit der Legende in Verbindung, Juden benutzten Blut christlicher Kinder zur Herstellung der Matzen. Später versuchte man, „eine jüdische Sekte“ des Ritualmords
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zu bezichtigen und konzentrierte sich dabei auf die chassidischen Anhänger des Lubawitscher Rebben. Der antisemitisch eingestellte Justizminister Iwan Schtscheglowitow (1861–1918) nahm sich ungeachtet der völligen Abwegigkeit dieses Vorwurfs des Falles an, löste liberale Untersuchungsbeamte ab und ersetzte sie durch seine Vertrauten. Im Juli 1911 wurde Menachem (Mendel) Beilis (auch Bejlis), ein religiös indifferenter jüdischer Angestellte der Ziegelfabrik Saizew, auf deren Gelände der Leichnam gefunden worden war, festgenommen und des Mordes beschuldigt. Eine private Ermittlung stellte dagegen fest, dass der Mord aller Wahrscheinlichkeit nach von einer Gruppe von Dieben um Vera Tscheberjak begangen wurde: Der Ermordete war mit ihrem Sohn Jewgeni befreundet, und die Diebe hatten den Verdacht, Andrej habe bei der Polizei über ihre Taten ausgesagt. Jewgeni starb kurz darauf (wobei nicht klar ist, ob an Ruhr oder durch Gift) und konnte im Gerichtsverfahren nicht mehr befragt werden. Letztlich sind in den Ermittlungen und im Prozess so viele Fälschungen vorgenommen worden, dass sich der faktische Tathergang einer eindeutigen Bewertung entzieht. Klar ist nur, dass Beilis nichts damit zu tun hatte. Rechte Kreise interpretierten die Tat als „jüdischen Ritualmord“ und beschuldigten die Ermittlungsbeamten, dies vertuschen zu wollen. Da das Blutmysterium in der orthodoxen Kirche nicht die gleiche (zum Protestantismus kontrastierende) Bedeutung hat wie in der katholischen, fand sich in dem römisch-katholischen Priester Justinas Pranaitis, der eine wichtige antisemitische Schrift verfasst hatte, ein „Gutachter“, der auf der Grundlage eines von einem angeblichen konvertierten Juden verfassten griechischen Buches über den Blutgebrauch der Juden berichtete. Dennoch endete der Prozess für die Judenfeinde mit einem Fiasko. An 34 Prozesstagen im September und Oktober 1913 gelang es trotz zahlreicher Versuche, den Blutvorwurf nachzuweisen, nicht, die Geschworenen von ihm zu überzeugen. Nach nur 90 Minuten der Beratung wurde Beilis freigesprochen. Was sich letztlich als ein Sieg der Gerechtigkeit erwies, hatte – ähnlich wie die → Dreyfus-Affäre in Frankreich – weitreichende Folgen für die antijüdische Propaganda. Minister und hohe Beamte hatten sich zwei Jahre lang in antijüdischen Vorwürfen austoben können. Der Streit um Beilis entzweite die Öffentlichkeit in Russland. Selbst Witali Schulgin (1878–1976), monarchistisch-nationalistischer Duma-Abgeordneter, Herausgeber des „Kiewljanin“ und dem Antisemitismus nicht abgeneigt, kritisierte die Hetze gegen Beilis als eine Form des Menschenopfers und musste sich dafür wegen Verleumdung vor Gericht verantworten. Russische Intellektuelle wie Maxim Gorki und Aleksandr Blok unterschrieben Aufrufe, die sich gegen die Ritualmordlegende wandten. Jüdische Organisationen berichteten über den Prozess und verschafften so dem russischen Antisemitismus wie schon nach den Pogromen von 1881 Publizität. Auch aus dem Ausland kamen zahlreiche Proteste gegen den Ritualmordprozess – unter anderen unterschrieben Thomas Mann, Gerhart Hauptmann und Anatole France. Der Heilige Synod der Russisch-Orthodoxen Kirche veröffentlichte noch im November 1913 einen Spendenaufruf für eine Kirche zu Ehren des ermordeten Knaben, zog ihn jedoch zurück, als der kriminelle Hintergrund der Tat, der mit Juden nichts zu tun hatte, nicht mehr in Frage zu stellen war. Die rechten Kräfte um die „Schwarzen Hundertschaften“ und die „Union des russischen Volkes“ verbreiteten massive antijüdi-
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sche Propaganda und fanden bis in die höchsten Regierungskreise und beim Zaren Nikolaus II. Beifall. Die Wirkung des Beilis-Prozesses ließ nach seinem Ende nicht gleich nach. Lew Tichomirow (1852–1923), einst Anhänger der revolutionären „Narodnaja Wolja“, dann Monarchist, schlug dem Ministerrat im November 1913 die Begründung einer permanenten Kommission vor, die Ritualmordfälle untersuchen sollte. Dies wurde abgelehnt, zeigte aber, dass der Prozessausgang nicht alle überzeugt hatte. 1917 setzte die Provisorische Regierung Russlands eine Kommission ein, die den Beilis-Prozess noch einmal untersuchte. Im Januar 1926 brachte der „Völkische Beobachter“ eine sechsteilige Fortsetzungsgeschichte über den Beilis-Prozess. In der Sowjetzeit hatte Alexander S. Tager belegt, dass der Ritualmordvorwurf von einer kleinen Gruppe Kiewer Antisemiten ausging, denen es gelang, bis in den Zarenpalast hinein Unterstützung zu erhalten. 1966 war der Beilis-Prozess und dieser Ansatz das Thema eines ersten Aufsatzes von Hans Rogger, in dem dieser seine seitdem vielfach bestätigte These vertrat, dass der Antisemitismus im ausgehenden Zarenreich kein zentrales Ziel der staatlichen Innenpolitik war, sondern das „Experiment“ einer „kleinen Gruppe erfolgloser Politiker und ehrlicher Verrückter“, die prüfen wollten, wie weitgehend sie „ihren Zynismus und ihre Verrücktheit dem Staat aufdrängen“ konnten.
Literatur
Frank Golczewski
The Beilis Case Papers. Archival Documents on Microfilm, State Archive of Kiev Oblast, Minneapolis 2007. Leonid F. Kacis, Krovavyj navet i russkaja mysl’. Istoriko-teologičeskoe issledovanie dela Bejlisa [Die Blutbeschuldigung und die russische Idee. Historisch-theologische Forschungsarbeit über den Fall Bejlis], Moskva 2006. John Klier, Cry Bloody Murder, in: East European Jewish Affairs 36 (2006), S. 213–229. Justin B. Pranaitis, Das Christenthum im Talmud der Juden oder die Geheimnisse der rabbinischen Lehre über die Christen. Enthüllt von J. B. Pranaitis, Wien 1894. Hans Rogger, The Beilis Case: Anti-Semitism and Politics in the Reign of Nicholas II., in: Slavic Review 25 (1966), S. 615–629. Maurice Samuel, Blood Accusation: The Strange History of the Beilis Case, Philadelphia PA 1966.
Berliner Antisemitismusstreit Der Ausdruck geht auf den Literaturkritiker und Verlagslektor Walter Boehlich (1921– 2006) zurück, der in dem Streit eine im Wesentlichen unter Akademikern ausgetragene Auseinandersetzung zwischen den Historikern Heinrich von Treitschke und Theodor Mommsen sowie zwischen deren Anhängern erblickte. Der Ausdruck ist insofern irreführend, als die Kontroverse weder auf Berlin noch auf den Antisemitismus begrenzt blieb. Die zeitgenössische Öffentlichkeit sprach meist vom „Treitschkestreit“, in dem sie nicht primär einen Gelehrtenkonflikt, sondern eine die deutsche Gesellschaft hochgradig polarisierende Auseinandersetzung um die 1871 vollzogene Emanzipation der
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deutschen Juden sowie um die Frage, welche Kriterien deutsche Identität ausmachten, erblickte. Auslöser des Streites war Treitschkes Aufsatz „Unsere Aussichten“ in den „Preußischen Jahrbüchern“ im November 1879. Treitschke war der erste prominente Wissenschaftler, welcher der seit dem „Gründerkrach“ (1873) und den zeitgleichen Auswirkungen der zweiten Weltwirtschaftskrise im Reich aufkommenden antisemitischen Bewegung seine Stimme lieh, wenngleich er sich von den „Radauantisemiten“ seiner Zeit distanzierte. Seine Attacken erregten deshalb große Aufmerksamkeit, weil er als prominenter Historiker sowie als großer Stilist im goldenen Zeitalter des Historismus die in Deutschland maßgebende identitätsstiftende Disziplin vertrat und als Liberaler den liberalen Konsens über die Judenemanzipation quasi „von innen“ in Frage stellte. In „Unsere Aussichten“ propagierte Treitschke ein ethnisch-kulturell homogenes Konzept deutscher Nationalität. Er verlagerte die Geburtsstunde der deutschen Nation ins germanisch-christliche Frühmittelalter, wodurch er deren antik-jüdische Wurzeln als „undeutsch“ ausschloss. Die mittelalterlichen Judenverfolgungen wurden nicht geleugnet, sondern als Ursache aktueller jüdischer „Rachsucht“ beschrieben, wodurch die Juden als Verursacher der neu belebten „Judenfrage“ erschienen. Um sich des liberalen Vorwurfs zu erwehren, er biete alten Wein in neuen Schläuchen feil, d. h. er schüre den alten, christlichen Judenhass mit den politischen Begriffen der Moderne, verwies Treitschke auf den angeblich vorchristlichen Judenhass der Antike. Der moderne Antisemitismus erschien somit nicht als kontingente historische Entwicklung, sondern als zwangsläufiger Ausdruck eines „ewigen Judenhasses“. Treitschke bezeichnete das aufklärerisch-liberale Selbstverständnis der Moderne als „weichliche Philanthropie unseres Zeitalters“, gegen die sich das „erwachte Gewissen des Volks“ wende und warf den Juden vor, keine Deutschen sein zu wollen, sondern einen „Staat im Staate“ zu bilden. Dies zeige insbesondere der elfte Band der „Geschichte der Juden“ des deutsch-jüdischen Historikers Heinrich Graetz, der eine „fanatische Wut gegen […] das Christentum“ sowie „Todhaß gerade wider die reinsten und mächtigsten Vertreter germanischen Wesens […]“ predige. Graetz wurde so zum pars pro toto für die „Selbstüberhebung“ des Judentums stilisiert. Die antisemitische „Agitation des Augenblicks“ sei deshalb „eine brutale und gehässige, aber natürliche Reaktion des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element“. Zwei Behauptungen verletzten besonders: „Über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Banken beherrschen sollen“ (Tatsächlich gab es zu dieser Zeit noch keine größere jüdische Einwanderung aus Osteuropa ins Reich.) und „Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuts mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: Die Juden sind unser Unglück!“ (Der Autor präsentierte sich mit dieser Formulierung als scheinbar werturteilsfreier Beobachter.) Die Parole machte die Opfer früherer Verfolgungen zu Tätern. Seit 1927 war sie in jeder Ausgabe des „Stürmer“ zu lesen.
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Kein antisemitischer Aufsatz löste im deutschen Judentum jemals solch heftige Bestürzung aus wie „Unsere Aussichten“, und kein antisemitisches Pamphlet erzielte jemals eine solche Verbreitung wie die um die Aufsätze „Herr Graetz und sein Judentum“ (Dezember 1879) und „Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage“ (Anfang Januar 1880) vermehrte preisgünstige Broschüre, die Treitschke unter dem Titel „Ein Wort über unser Judentum“ erstmals Mitte Januar 1880 für einen großen Leserkreis veröffentlichte. Im selben Jahr folgten noch zwei Auflagen, eine weitere 1881, die um die inzwischen in den „Preußischen Jahrbüchern“ erschienenen Artikel „Notizen zur Judenfrage“ (Februar 1880) und „Zur inneren Lage am Jahresschlusse“ (Dezember 1880) ergänzt wurde. Es waren zunächst nahezu ausschließlich jüdische Prominente und Gelehrte wie der Rabbiner Manuel Joël, die Herausgeber der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“, Ludwig Philippson, oder der „Jüdischen Presse“, Seligmann Meyer, der Völkerpsychologe Moritz Lazarus, der direkt angegriffene Heinrich Graetz, der Mediävist Harry Breßlau, der Philosoph Hermann Cohen oder der Reichstagsabgeordnete Ludwig Bamberger, die sich gegen Treitschkes Attacken zur Wehr setzten. Während Treitschke innerhalb der Berliner Universität sowie aus konservativ-klerikalen, teilweise auch liberalen und dezidiert antisemitischen Kreisen starken Zuspruch erhielt, konnte der Beobachter der Szenerie den Eindruck gewinnen, dass Deutschlands Juden alleine stünden. Erst im November 1880 entstand für Treitschke mit dem Althistoriker Theodor Mommsen ein ebenbürtiger Gegner. Mommsens Auftreten war vor allem der Eskalation der Situation in der Berliner Studentenschaft geschuldet, in der eine besondere Version der im Sommer 1880 von den bekannten Antisemiten Bernhard Förster, Friedrich Zöllner, Max Liebermannn von Sonnenberg und Ernst Henrici initiierten → Antisemitenpetition zirkulierte. Die sogenannte Studentenpetition enthielt einen Hinweis, der sich nur auf Treitschke als Legitimationsinstanz der antisemitischen Studenten beziehen ließ. Am 14. November 1880 erschien in mehreren liberalen Berliner Zeitungen eine Notabelnerklärung, die sich für die Judenemanzipation aussprach und einen Passus enthielt, den jeder politisch Interessierte nur als Kritik an Treitschke und dem Hofprediger Adolf Stoecker auffassen konnte. Zu den Unterzeichnern zählten u.a. Mommsen, Johann Gustav Droysen, Wilhelm Wattenbach, Rudolf Gneist, Rudolf Virchow, Max Weber (der Vater des berühmten Soziologen) und der Berliner Oberbürgermeister Max von Forckenbeck. In späteren Ausgaben um weitere Namen ergänzt, wurde der Toleranzaufruf auch als „Erklärung der 75“ bekannt. Die politische Öffentlichkeit polarisierte sich nun in Treitschke-Anhänger und Treitschke-Gegner. Mit Mommsens Bekennerbrief in der „Nationalzeitung“ am 20. November 1880 begann die mit allseits großer Anteilnahme verfolgte Auseinandersetzung der beiden bekanntesten Historiker Deutschlands, an der schließlich ihre Freundschaft zerbrach. In seiner „Erwiderung“ auf Mommsen (21. November) benutzte Treitschke eine Wendung seines Gegners aus dessen „Römischer Geschichte“, in der Mommsen das Judentum zur Zeit Cäsars als „wirksames Ferment des Kosmopolitismus und der nationalen Dekomposition“ (Röm. Ge. III, 550) bezeichnet hatte. Treitschke unterschlug in
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diesem Zusammenhang Mommsens positive Deutung des Ausdrucks, das Judentum bilde einen integralen Bestandteil der „antiken Weltkultur“, um ausgerechnet Mommsen judenfeindliche Absichten zu unterstellen: Im Zeitalter des „reichsdeutschen Nationalismus“ (Hans-Ulrich Wehler) konnte der Ausdruck „Dekomposition“ nur als Zersetzung übersetzt und äußerst negativ konnotiert werden. Treitschke hatte eine Formulierung Mommsens deutschlandweit bekannt gemacht, die künftig einen festen Bestandteil antisemitischer Rhetorik von Paul de Lagarde, Theodor Fritsch und Hermann Ahlwardt bis zu Adolf Hitler und Joseph Goebbels bildete. Am 20. und 22. November 1880 fand eine von der linksliberalen Fortschrittspartei initiierte Debatte im preußischen Abgeordnetenhaus statt, deren Ziel es war, die Regierung zu einer Stellungnahme zur Antisemitenpetition zu zwingen, zumal deren Initiatoren bislang unwidersprochen behauptet hatten, im Einvernehmen mit dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck zu handeln. Das Ergebnis der Debatte bestand darin, dass der Vertreter der Regierung feststellte, an der Judenemanzipation nichts ändern zu wollen, sich jedoch zur Judenhetze in Deutschland nicht äußerte. In dieser Situation veröffentlichte Mommsen am 10. Dezember gegen Treitschkes Broschüre seine Druckschrift „Auch ein Wort über unser Judentum“. Mommsen warf seinem Kollegen vor, dieser habe seine Autorität als Hochschullehrer und Publizist missbraucht und den Antisemitismus gesellschaftlich aufgewertet bzw. „salonfähig“ gemacht: „Jene Worte von den hosenverkaufenden Jünglingen und den Männern […] der Bildung, aus deren Munde der Ruf ertönt „die Juden sind unser Unglück“ […]. Das sprach Herr von Treitschke aus […]. Was er [Hervorhebung im Original] sagte war damit anständig gemacht. Daher die Bombenwirkung jener Artikel, die wir alle mit Augen gesehen haben.“ Mommsen forderte seinen Gegner zu einem öffentlichen Dementi hinsichtlich der behaupteten Unterstützung der antisemitischen Studenten auf, eine Forderung, welcher der in die Enge getriebene Treitschke mit seiner „Erwiderung an Herrn Th. Mommsen“ am 15. Dezember 1880 in den „Preußischen Jahrbüchern“ nachkam. Am selben Tag erschien Mommsens Schrift in der dritten Auflage. In einem angefügten Nachwort brachte Mommsen den Kern des Streits zwischen den beiden noch einmal auf den Punkt: „Ich bin stolz darauf Professor zu sein an der Universität Berlin, stolz auf meine Kollegen, und ich war es bisher insbesondere auf diesen [Treitschke]. Aber wenn ein Teil meiner Mitbürger von einem Berliner Universitätslehrer […] gemißhandelt wird, dann stecke ich den Professor in die Tasche, und ich rate Herrn v. Treitschke das Gleiche zu tun.“ Eine Replik Treitschkes auf diese Maßregelung unterblieb. Damit hatte er den „Berliner Antisemitismusstreit“ in den Augen der Öffentlichkeit verloren. Folgenreicher als die unmittelbaren waren die langfristigen Auswirkungen des Streites: Einerseits war seitens der deutschen Juden das Vertrauen in die Aufrechterhaltung der Emanzipation durch die Attacken Treitschkes, eines hoch angesehenen Vertreters des liberalen Establishments, erstmals erschüttert worden. Andererseits hatte Treitschke mit seiner Verbindung von Nationalismus, Antiliberalismus und Antisemitismus ein zukunftsweisendes und soziale Schichten übergreifend ansprechendes Konzept geliefert, das auch für die gebildeten Eliten des Kaiserreiches zunehmend akzeptabel sowie für eine sich entliberalisierende studentische Jugend attraktiv war, dessen destruktives
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Potential sich allerdings erst in den massiven gesellschaftlichen Krisen seit 1914 offenbarte.
Literatur
Karsten Krieger
Walter Boehlich, Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt am Main 1988². Christhard Hoffmann, Geschichte und Ideologie: Der Berliner Antisemitismusstreit 1879/81, in: Wolfgang Benz, Werner Bergmann (Hrsg.), Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Bonn 1997. Christhard Hoffmann, Juden und Judentum im Werk deutscher Althistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts, Leiden 1988. Karsten Krieger (Bearbeiter), Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung, 2 Bände, 1. Nachdruck, München 2004. Hans Liebeschütz, Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber, Tübingen 1967. Arthur Rosenberg, Treitschke und die Juden. Zur Soziologie der deutschen akademischen Reaktion, in: Die Gesellschaft 2 (1930), S. 78–83.
Berliner Judenpogrom (1571) Der Auslöser für den Pogrom in Berlin 1571 waren Beschuldigungen gegen ein führendes Mitglied der Berliner jüdischen Gemeinde, Lippold ben Chluchim, dem gerüchteweise die Hauptschuld am plötzlichen Tod des brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. Hector (1505–1571) angelastet wurde. Danach sollte Lippold, der Verwalter der kurfürstlichen Privatschatulle und seit 1565 auch Münzmeister für die Mark Brandenburg, der beim Tod von Joachim II. anwesend war, diesen durch in Wein gemischtes Gift getötet haben. Der neue Kurfürst, Johann Georg (1525–1598), stand der aufwändigen Hofhaltung seines Vaters ablehnend gegenüber und verfolgte in Lippold eine Schlüsselfigur der Finanzierung des kostspieligen Lebensstils Joachims II. Beim Bekanntwerden der Vergiftungsvorwürfe gegen Lippold entstand Aufruhr unter den Einwohnern Berlins, der sich vor allem gegen die in der Stadt lebenden Juden richtete. Die in der Klosterstraße gelegene Synagoge wurde dabei verwüstet, wie auch zahlreiche Privathäuser von Juden. Der Mob plünderte und suchte nach den bei den Juden verwahrten Schuldscheinen aus privaten Krediten an Berliner Bürger. Diese Schuldscheine wurden öffentlich verbrannt und die als Garantie hinterlegten Pfänder meist ohne Gegenleistung an die Eigentümer zurückgegeben, wodurch den Juden großer wirtschaftlicher Schaden zugefügt wurde. Für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts war so ein Vorgehen bereits nicht mehr der gängige Typus antijüdischer Handlungen, sondern gehörte in dieser Form eher den mittelalterlichen Gepflogenheiten an, auch wenn Pogrome noch bis in das 20. Jahrhundert hinein vorkamen. Lippold wurde inhaftiert und seine Geschäftsbücher aufs Genaueste geprüft, wobei jedoch keine Veruntreuung der ihm anvertrauten kurfürstlichen Finanzen festgestellt werden konnte. Nach dreimonatiger Haft wurde er wieder in sein Haus entlassen.
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Bald darauf kamen jedoch Gerüchte über angebliche Zauberei auf, mit der Lippold den Tod Joachims II. herbeigeführt haben sollte. Aus Angst vor Folter gestand er alle Vorwürfe und wurde zum Tod verurteilt. Auf dem Richtplatz widerrief er jedoch das Geständnis, das ihm schließlich erneut durch Folter herausgepresst wurde. Lippold wurde unter großer öffentlicher Anteilnahme im Januar 1573 in Berlin grausam hingerichtet. Sein gevierteilter Leichnam wurde zur Abschreckung an vier Ausfallstraßen aufgehängt. Infolge des Prozesses und der Hinrichtung wurden die Juden der Mark Brandenburg zum Verlassen des Landes aufgefordert, was bereits einen Monat danach unter Abgabe großer Teile der Privatvermögen durchgesetzt wurde. Mit diesem erneut an mittelalterliche Praktiken erinnernden Schauspiel endete die nur wenige Jahrzehnte dauernde jüdische Geschichte in der Mark Brandenburg, sie fand erst mit der Aufnahme von 50 Wiener jüdischen Familien im Jahr 1671 ihre Fortsetzung.
Literatur
Stefan Litt
Knut Schulz, Vom Herrschaftsantritt der Hohenzollern bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges (1411/12–1618), in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Band 1: Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, München 1987, S. 241–350. Eugen Wolbe, Geschichte der Juden in Berlin und in der Mark Brandenburg, Berlin 1937.
Berliner Kongress Der im 18. Jahrhundert einsetzende Zerfall des Osmanischen Reiches rief auf dem Balkan mit seinen vielfältigen Überlagerungen diverser Religionen, historischer Bezüge und territorialer Bindungen eine Fülle von Konflikten hervor, die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder zu Kriegen insbesondere zwischen Russland und dem Osmanischen Reich führten. Schon während der Pariser Friedensverhandlungen nach dem Krimkrieg im Jahr 1856 hatten Vertreter jüdischer Organisationen, vor allem die von Adolf Crémieux geleitete „Alliance Israélite Universelle“ versucht, sich für die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden in diesen Ländern einzusetzen. Breite europäische Aufmerksamkeit erregte insbesondere die Lage der Juden in Rumänien. 1872 riefen Berliner Juden daher zur Gründung eines „Komitees für die rumänischen Juden“ in Brüssel auf. Nachdem im Juli 1875 in der Herzegowina Unruhen unter der christlichen Bevölkerung gegen die osmanische Herrschaft ausgebrochen waren, die rasch auf Bosnien übergegriffen und zum Aufstand in den bulgarischen Provinzen des Osmanischen Reiches geführt hatten, zogen diese Konflikte erneut die geopolitischen Machtinteressen des russischen Zaren auf sich, und Russland nötigte das Osmanische Reich im Dezember 1876 zu einer Konferenz in Konstantinopel über die politische Neuordnung auf dem Balkan. Vertreter der jüdischen Gemeinden in Europa ergriffen diese Gelegenheit, um erneut auf europäisch-diplomatischer Ebene dem Prinzip der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden zur Durchsetzung zu verhelfen. Sie riefen für denselben Monat eine Versammlung in Paris ein, die eine Denkschrift verabschiedete und diese nach Konstantinopel sandte.
Berliner Kongress
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Nachdem die Konferenz in Konstantinopel gescheitert war, erklärte der russische Zar nach Absprache mit Österreich-Ungarn im April 1877 dem Sultan den Krieg. Ende Januar 1878 standen russische Truppen vor Konstantinopel, sodass der Sultan gezwungen war, den von Russland in San Stefano, einem Vorort der osmanischen Hauptstadt (heute Yeşilköy), diktierten Friedensvertrag anzunehmen. Das Osmanische Reich musste die Unabhängigkeit Rumäniens, Serbiens und Montenegros sowie die Gründung eines neuen, aus den bulgarischen Provinzen des Osmanischen Reiches gebildeten großbulgarischen Staats unter russischer Hegemonie anerkennen. Dieser Vertrag bedeutete einen Machtzuwachs des russischen Zaren, gegen den nun Österreich-Ungarn und Großbritannien Einspruch erhoben. Da Deutschland an dem Konflikt keine eigenen Interessen hatte, schlug der Außenminister der Habsburgermonarchie vor, im Juni 1878 zur Beilegung der geopolitischen Interessenkonflikte unter Leitung von Otto von Bismarck in Berlin einen Kongress einzuberufen. Vertreter der Juden in Europa, das „Comité für die Rumänischen Juden“ und die „Alliance Israélite Universelle“, begannen im Vorfeld des Berliner Kongresses erneut mit einer breit gefächerten Tätigkeit, um die politische und staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden in Rumänien und den anderen neuen Balkanstaaten durchzusetzen. Vor allem der Berliner Bankier Gerson von Bleichröder nutzte seine persönlichen Beziehungen zu Bismarck, der ihm zusicherte, sich auf dem Kongress für die Emanzipation der Juden einzusetzen. Nachdem auch Vertreter der „Alliance Israélite Universelle“ – Crémieux war aus Gesundheitsgründen verhindert – sowie Delegierte der rumänischen Juden in Berlin eingetroffen waren, die sich ihrerseits bei den verschiedenen, am Kongress beteiligten Diplomaten für die Aufnahme der Frage der Gleichberechtigung der Juden in die Verhandlungen eingesetzt hatten, konnten sich die Juden zumindest der Unterstützung der deutschen, französischen, englischen und türkischen Seite sicher sein. Selbst einer der russischen Diplomaten des Kongresses hatte Bleichröder in einem persönlichen Gespräch vor Beginn der Verhandlungen versichert, sich die Frage der Emanzipation der Juden zu eigen zu machen. Am 13. Juni 1878 wurde der Kongress im Kanzleramt in der Berliner Wilhelmstraße eröffnet, er tagte in 20 Sitzungen bis zum 13. Juli. Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland, England, Frankreich und das Osmanische Reich hatten jeweils drei Delegierte entsandt, Italien zwei. Gegenstand der Beratungen waren u.a. die Festlegung des Status und der Grenzen von Bulgarien, die politische Neuordnung von Bosnien-Herzegowina, die Zuordnung Bessarabiens und die Unabhängigkeit von Montenegro, Serbien und Rumänien. Der britische Premierminister Benjamin Disraeli, Earl of Beaconsfield, hatte Vertretern der Juden seine starke Sympathie für die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung der Juden bekundet und auch weitere an der Konferenz beteiligte Diplomaten hatten zugesichert, sich auf dem Kongress für das Prinzip der rechtlichen Gleichheit aller Bürger einzusetzen. In der Debatte über Bulgarien verständigten sich die Delegierten darüber, dass alle Bürger des Fürstentums unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit gleiche Rechte genießen sollten. Während der Beratung über die Anerkennung des Staates Serbien kam es indes zu einem scharfen Wortwechsel zwischen dem russischen Außenminister Alexander Gortschakow und Reichskanzler Bismarck über die Stellung der Juden. Nachdem Gortschakow die Juden des Balkans als eine „wahre Geißel“ für die einhei-
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mische Bevölkerung bezeichnet hatte, denen im Unterschied zu den „Israeliten in Berlin, Paris, London oder Wien“ keine politischen Rechte zuerkannt werden könnten, antwortete Bismarck, dass „die beklagenswerte Lage der Juden“ in diesen Ländern möglicherweise gerade auf die „Einschränkung der bürgerlichen und politischen Rechte“ zurückzuführen sei. Da auch der französische Außenminister die Religionsfreiheit als „Grundlage der sozialen Organisation in allen Staaten Europas“ bezeichnete, konnte sich Gortschakow mit seiner Position nicht durchsetzen. Als die Delegierten über die Unabhängigkeit des Staates Rumänien berieten, wurde vereinbart, dass Rumänien nur dann international anerkannt werden würde, wenn die Verfassung der gesamten Bevölkerung gleiche politische Rechte gewähre und die rumänischen Juden das Recht der Einbürgerung erhielten. Dem Mitte Juli 1878 unterzeichneten Berliner Vertrag zufolge musste Russland auf ein von ihm abhängiges Groß-Bulgarien verzichten, dafür wurden dem russischen Reich Teile des zuvor zu Rumänien gehörenden Bessarabien zugeschlagen. ÖsterreichUngarn hingegen erhielt das Recht, Bosnien-Herzegowina zu besetzen. Unter der Voraussetzung der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der Juden wurde ein im Unterschied zum Vertrag von San Stefano verkleinertes Fürstentum Bulgarien anerkannt. Unter derselben Bedingung erhielten Serbien, Montenegro und Rumänien die volle Unabhängigkeit. Auch wenn die Emanzipation der Juden auf dem Kongress nicht dezidiert auf der Tagesordnung stand, ist die Frage der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der Juden durch den Berliner Vertrag zu einem Grundsatz der europäischen Diplomatie und zu einer Voraussetzung der völkerrechtlichen Anerkennung von Staaten geworden. Entsprechend emphatisch begrüßten zeitgenössische Juden den Vertrag: „Halleluja! Nous sommes libres“, telegraphierten Berliner Juden daraufhin an Crémieux. Darin sollten sie sich jedoch grundlegend getäuscht haben. Rumänien unterlief die Bedingungen des Berliner Vertrages und verwehrte den Juden weiterhin die Einbürgerung sowie die Bürgerrechte; auch die russischen Juden erhielten keinerlei politischen Rechte. Nur ein Jahr darauf, nachdem mit dem Begriff Antisemitismus ein neues politisches Schlagwort aufgekommen war, formierte sich eine antisemitische Bewegung, deren Ziel darin bestand, die Emanzipation der Juden, wie sie im Berliner Vertrag völkerrechtlich verbindlich vereinbart worden war, rückgängig zu machen. Nicht unerwähnt bleiben sollte die Petition einer Gruppe von Juden aus Breslau an die Kongressteilnehmer, auch wenn diese nicht aufgegriffen und zum Thema der Konferenz gemacht wurde. Die Breslauer Juden appellierten an die versammelten europäischen Diplomaten, sich dafür einzusetzen, in Palästina einen israelitischen Staat zu gründen.
Literatur
Ulrich Wyrwa
Imanuel Geiss, Die jüdische Frage auf dem Berliner Kongreß 1878, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 10 (1981), S. 413–422. Imanuel Geiss (Hrsg.), Der Berliner Kongreß 1878. Protokolle und Materialien, Boppard am Rhein 1978.
Berner Prozess um die „Protokolle der Weisen von Zion“
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Nathan M. Gelber, Jüdische Probleme beim Berliner Kongreß 1878, in: Robert Weltsch (Hrsg.), Deutsches Judentum. Aufstieg und Krise. Gestalten, Ideen, Werke, Stuttgart 1963, S. 216–252. Carol Iancu, Bleichröder et Crémieux. Le combat pour l’émancipation des Juifs de Roumanie devant le Congrès de Berlin. Correspondance inédite (1878–1880), Montpellier 1987.
Berner Prozess um die „Protokolle der Weisen von Zion“ Am 26. Juni 1933 erstatteten der „Schweizerische Israelitische Gemeindebund“ und die „Israelitische Kultusgemeinde Bern“ Strafanzeige gegen mehrere Personen, die anlässlich einer Kundgebung der „Nationalen Front“ in Bern die → „Protokolle der Weisen von Zion“ verkauft hatten. Die Anzeige, gestützt auf ein kantonalbernisches Gesetz aus dem Jahr 1916, bezog sich formell auf den Vertrieb von „Schundliteratur“, doch ging es den Klägern nur nebenbei um die Bestrafung der angeklagten Rechtsextremisten; eigentlicher Zweck des Verfahrens vor dem Amtsgericht Bern war der gerichtlich beglaubigte Nachweis, dass es sich bei den „Protokollen“ um eine Fälschung handelte. Vier jüdische Anwälte hatten sich zu einer Kommission zusammengeschlossen, um den Prozess zu organisieren. Nach außen trat Georges Brunschvig in Erscheinung, ein junger, wenig bekannter Anwalt, während Boris Lifschitz, der den Vorsitz führte und die Strategie des Verfahrens entwarf, im Hintergrund agierte. In der ersten Hauptverhandlung im November 1933 beantragten die Kläger, ein Expertengremium zu bilden, das über die Echtheit oder Unechtheit der „Protokolle“ befinden sollte. Der Richter Walter Meyer verfügte, dass beide Parteien einen Gutachter stellen sollten, er selbst ernannte den Schriftsteller Carl Albert Loosli zum überparteilichen Experten. Die Berner Anwälte hatten sich zur Aufgabe gemacht, die Entstehung der „Protokolle“ durch Dokumente und Zeugenaussagen möglichst lückenlos nachzuweisen und dabei, wie Lifschitz es formulierte, „alles auf die russische Fährte zu schieben“, d.h. sie hatten sich auf jene Version festgelegt, nach der die „Protokolle“ im Auftrag des Chefs der Auslandsabteilung der russischen Geheimpolizei, Pjotr Ratschkowski, gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Paris zur antisemitischen Agitation angefertigt worden seien. Bei ihrer Suche nach Zeugen und Beweisen nutzten die Kläger ihre weitreichenden Verbindungen u. a. nach Berlin, Paris, Amsterdam und London. In Moskau erhob der Anwalt und Historiker des Beilis-Prozesses (→ Beilis-Affäre) Alexander Tager in den staatlichen Archiven Akten aus der Zarenzeit und übersandte Photokopien nach Bern. Die umfangreichen, kostspieligen Recherchen brachten jedoch nur magere Ergebnisse. Konkrete Hinweise auf die Verfasserschaft der „Protokolle“ fand man nicht. Zur zweiten Hauptverhandlung im Oktober 1934 beriefen die Kläger ein Großaufgebot an Zeugen und Experten, darunter russische Historiker sowie mehrere Teilnehmer am ersten Zionistenkongress. Ihr „Kronzeuge“ (Lifschitz) war der Franzose Alexandre du Chayla, der 1909 in Russland mit Sergej Nilus, dem Herausgeber der „Protokolle“, zusammengetroffen war. Dieser hatte ihm angeblich das französische Manuskript der „Protokolle“ gezeigt und gestanden, es durch Vermittlung seiner ehemaligen Geliebten von Ratschkowski erhalten zu haben. Obwohl auch auf Seiten der Kläger intern erhebliche Zweifel an du Chaylas Integrität und Kompetenz geäußert wurden, hielten die
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Berner Anwälte an seiner Version fest und wollten auf seine Aussagen – für die er ein hohes Honorar forderte – nicht verzichten. Die Angeklagten, die sich gezwungen sahen, die Echtheit der „Protokolle“ nachzuweisen, bemühten sich lange vergeblich um einen Experten. Schließlich gerieten sie an Ulrich Fleischhauer, Gründer und Leiter der privaten antisemitischen Propaganda- und Nachrichtenagentur „Welt-Dienst“ in Erfurt. Dieser erklärte sich bereit, den Beweis für die Echtheit der „Protokolle“ zu führen. Dabei nutzte er seine Kontakte insbesondere in rechte russische Emigrantenkreise, um – oftmals gegen Honorar – Zeugen ausfindig zu machen und Beweismaterial zu beschaffen. Seine Aktivitäten scheint Fleischhauer selbst und mit Hilfe von Gesinnungsgenossen finanziert zu haben; Subventionen durch offizielle Stellen des NS-Staates konnten bislang nicht nachgewiesen werden. Vom 29. April bis 14. Mai 1935 fand die dritte und letzte Hauptverhandlung vor dem Berner Amtsgericht statt. Dank intensiver Berichterstattung erregte sie weltweites Aufsehen. Der weitaus größte Teil der Schweizer und internationalen Presse bekundete offene Sympathie mit den jüdischen Klägern. Dazu trug nicht zuletzt das arrogante und verbohrte Auftreten Fleischhauers bei. Sein „Gutachten“, das weitgehend von seinem Mitarbeiter Hans Jonak von Freyenwald verfasst worden war, versammelte antisemitische Stereotype und erging sich in ganz offensichtlich abstrusen Konstruktionen. Am Ende seines viereinhalbtägigen Auftritts hatten sich Fleischhauer und mit ihm die Verteidiger der „Protokolle“ in aller Öffentlichkeit selbst demontiert. Dagegen war es den anderen Gutachtern – dem Basler Rechtsgelehrten Arthur Baumgarten für die Kläger und Loosli als vom Gericht bestellten Sachverständigen – gelungen, den Ursprung der „Protokolle“ scheinbar lückenlos nachzuweisen. In seinem Urteilsspruch vom 14. Mai 1935 bezeichnete der Richter die „Protokolle“ denn auch als Plagiat und Fälschung und erklärte deren Verbreitung als Verstoß gegen das Bernische Schundliteraturgesetz. Zwei der fünf Angeklagten, Silvio Schnell und Theodor Fischer, wurden zu geringen Geldstrafen sowie zur Beteiligung an den hohen Verfahrens- und Parteikosten verurteilt. Die Angeklagten reichten sofort Berufung ein. Am 1. November 1937 widerrief das Obergericht des Kantons Bern aus formaljuristischen Gründen die Subsumierung der „Protokolle“ unter das Gesetz über Schundliteratur und erklärte in diesem Zusammenhang die Frage der Echtheit und das damit verbundene aufwendige Beweisverfahren einschließlich der Zeugeneinvernahmen und Expertisen für bedeutungslos. Schnell und Fischer wurden freigesprochen, die Kosten des gesamten Verfahrens, über 28.000 Franken, der Staatskasse auferlegt. Die hochgespannte Erwartung der Kläger, die „Protokolle“ durch den gerichtlichen Nachweis der Fälschung ein für allemal erledigen zu können, hat sich nicht erfüllt. Der Gang der Geschichte, höhnte die NS-Presse, lasse sich durch das Urteil eines Amtgerichts nicht aufhalten. Doch auch die in Bern präsentierte Entstehungsgeschichte der „Protokolle“, die damals gleichsam kanonisiert und fortan nur noch tradiert wurde, hält einer kritischen Überprüfung nicht stand. Boris Nikolajewski, Historiker und einer der Zeugen und Berater der Klägerseite, sprach denn auch rückblickend von einem politischen Verfahren, bei dem es nicht um die historische Wahrheit, sondern um den Kampf gegen den Antisemitismus gegangen sei.
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Einen anderen Weg, um die „Protokolle“ zu bekämpfen, schlug gleichzeitig mit dem Berner Verfahren der jüdische Anwalt Oscar Meyer in Basel ein. Im Juni 1933 erstattete er gegen die Verleger und Verbreiter der „Protokolle“, darunter den Schweizer Rechtsextremisten Alfred Zander, Anzeige wegen Ehrbeleidigung, wobei er sich vor allem auf die Kommentare zu den „Protokollen“ berief. Meyers mit großem Engagement und Aufwand geführtes Verfahren vor dem Strafgericht Basel wurde von den Berner Anwälten indes als Konkurrenz und Gefährdung ihres eigenen Prozesses angesehen, weshalb sie eine Kooperation verweigerten. Schließlich sah sich Meyer, enttäuscht und verbittert, im Juni 1936 genötigt, einem Vergleich mit seinen Gegnern zuzustimmen. Der Basler Prozess ist dann fast völlig in Vergessenheit geraten. Die weitgehend unbearbeiteten Akten und Dokumente des Berner (und Basler) Prozesses sind heute in zahlreichen Archiven in mehreren Ländern verstreut. Die umfangreichsten Materialien befinden sich im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich, im Staatsarchiv und Bundesarchiv Bern, in der Wiener Collection der Universität Tel Aviv sowie im Staatsarchiv der Russischen Föderation in Moskau.
Literatur
Michael Hagemeister
Norman Cohn, „Die Protokolle der Weisen von Zion“. Der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Baden-Baden, Zürich 1998. Michael Hagemeister, Russian Émigrés in the Bern Trial of the „Protocols of the Elders of Zion“ (1933–1935), in: Jan Goldstein (Hrsg.), Cahiers Parisiens/Parisian Notebooks 5 (2009), S. 375–391. Urs Lüthi, Der Mythos von der Weltverschwörung. Die Hetze der Schweizer Frontisten gegen Juden und Freimaurer – am Beispiel des Berner Prozesses um die „Protokolle der Weisen von Zion“, Basel, Frankfurt am Main 1992. Catherine Nicault, Le procès des Protocoles des Sages de Sion. Une tentative de riposte juive à l’antisémitisme dans les années 1930, in: Vingtième Siècle 53 (1997), S. 68–84.
Berufsbeamtengesetz → Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums
Bitburg-Affäre (1985) Als „Bitburg-Affäre“ wird eine sowohl in den USA als auch in der Bundesrepublik geführte Auseinandersetzung um den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bezeichnet, die sich auf die symbolische Ausgestaltung des Deutschlandbesuchs von US-Präsident Ronald Reagan zum 40. Jahrestag des Kriegsendes bezog. Im Mittelpunkt stand dabei der Besuch des Soldatenfriedhofs im rheinland-pfälzischen Bitburg am 5. Mai 1985, auf dem – wie sich später herausstellte – auch Angehörige der Waffen-SS begraben sind. Hintergrund der Einladung Reagans durch Bundeskanzler Helmut Kohl bildete die Absicht Kohls, zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs eine ähnlich versöhnende Geste mit Reagan zu finden, wie dies bereits drei Monate zuvor mit dem französischen Präsidenten François Mitterand in Verdun hinsichtlich des Ersten Weltkriegs geschehen war. Die Betonung des Aspekts der Verbundenheit wurde bereits
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während der Planungsphase deutlich, als Reagan im Januar 1985 erstmals verneinte, eine KZ-Gedenkstätte zu besuchen und später mehrmals wiederholte, dass ein solcher Besuch nicht „zum Anliegen von Versöhnung und Freundschaft beitrage“ und dass er der jungen Generation keine unnötigen Schuldgefühle aufbürden wolle. Als am 11. April 1985 das offizielle Besuchsprogramm bekannt gegeben wurde, erhob sich in den USA eine Protestwelle, vor allem weil dem Verzicht auf den Besuch einer Gedenkstätte für Opfer des NS-Regimes der Besuch des Soldatenfriedhofs in Bitburg – auf dem zumal keine US-Soldaten begraben liegen – gegenüberstand. Erheblich verschärft wurden die hauptsächlich von Veteranenverbänden und jüdischen Gruppen getragenen Proteste, als kurz darauf bekannt wurde, dass auf dem Friedhof neben Wehrmachtssoldaten auch 49 Angehörige der Waffen-SS begraben sind. Daraufhin kündigte Reagan zwar an, zusätzlich auch eine KZ-Gedenkstätte – Bergen-Belsen, wie kurz darauf festgelegt wurde – zu besuchen, wodurch die Proteste jedoch kaum besänftigt wurden. Nur wenige Tage darauf erreichte die Kritik einen weiteren Höhepunkt, als Reagan auf einer Pressekonferenz sagte, die zum großen Teil jungen SS-Angehörigen seien „genauso Opfer wie die Opfer der Konzentrationslager“. Weitere Kreise zog die Affäre mit einer Petition von 53 US-Senatoren, die Reagan aufforderten, den Besuch abzusagen und einem Brief des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Alfred Dregger, an eben jene Senatoren. Darin bezeichnete Dregger einen Verzicht auf den Bitburg-Besuch als Beleidigung aller „gefallenen Kameraden“, die wie er selbst gegen die Rote Armee gekämpft hätten und von denen die „allermeisten“ anständig gewesen seien. Während Kohl trotz erheblichen Protests der Opposition und von Teilen der Presse auf die Unterstützung der überwiegenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung bauen konnte, bedeutete die Bitburg-Affäre für Reagan die bislang tiefste Krise seiner Präsidentschaft. So verabschiedete das Repräsentantenhaus am 25. April mit großer Mehrheit eine Erklärung, mit der Kohl gebeten wurde, Reagan von seiner Zusage des Bitburg-Besuchs zu entbinden, und der Senat empfahl Reagan in einer Resolution, den „Besuchsablauf zu überdenken“. Änderungen kamen aufgrund der Position der deutschen Seite nicht zustande, Kohl betonte, dass eine Absage die „Gefühle unseres Volkes tief verletzen“ würde. Nichtsdestoweniger wurde der Besuch des Friedhofs erheblich gestrafft: Nach dem 45-minütigen Besuch der Gedenkstätte Bergen-Belsen folgte eine nur knapp zehnminütige Zeremonie auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, die lediglich aus dem Durchschreiten des Friedhofs, Kranzniederlegungen, dem Händereichen zweier im Krieg auf verschiedenen Seiten stehenden Generale und einem kurzen Trompetenspiel bestand. Anschließend besuchten Reagan und Kohl den nahe gelegenen US-Luftwaffenstützpunkt, wo beide Ansprachen hielten. Sowohl der Besuch in Bergen-Belsen als auch in Bitburg war von Protesten und Gegendemonstrationen begleitet, jüdische Repräsentanten sagten ihre Teilnahme ab. Im Zentrum der bundesdeutschen Auseinandersetzungen um den 40. Jahrestag des Kriegsendes und den Bitburg-Besuch stand das Verhältnis der nationalsozialistischen Vergangenheit zur bundesrepublikanischen Gegenwart, mithin also die Frage, ob 40 Jahre demokratischer Entwicklung und Stabilität oder zwölf Jahre NS-Diktatur schwerer wiegen. Diese Debatte wurde in erster Linie durch die zwei großen politischen La-
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ger und die ihnen zurechenbaren Zeitungen strukturiert und sie erhielt ihre Schärfe insbesondere durch die Verknüpfung mit anderen Themenfeldern, vor allem dem OstWest-Konflikt und der Nachrüstungsdebatte. Zuweilen wurde in der Presse unter Einbezug antisemitischer Ressentiments auch in Zweifel gezogen, dass die Proteste in den USA die tatsächliche Meinung der Bevölkerung widerspiegelten. So verbreitete die Illustrierte „Quick“ in Artikeln wie „Die Macht der Juden“ (25. April 1985), dass es sich bei den Protesten um das Ergebnis einer „gigantischen“ Kampagne der „sagenhafte[n] jüdische[n] Lobby“ handle, mit der „deutsche Wunden“ aufgerissen würden. Aber auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hantierte mit klassischen antisemitischen Topoi und schwadronierte über „die mächtige publizistische Maschinerie“, die den Amerikanern die Hirne verneble und deren Betreiber mit „durchtriebene[r] politische[r] Schläue“ den „Präsidenten zur Marionette“ machten. Anstatt christlich zu vergeben, betrieben jene die „Verfolgung bis ins siebte Glied“ und verquickten „Machtgelüste“ mit den „geschäftlichen Interessen einer Unterhaltungsindustrie, der das ‚Nazi-Thema‘ allemal willkommen“ sei. Das Anliegen Kohls und Reagans, Versöhnung in Bezug auf die Vergangenheit und zugleich gegenwarts- und zukunftsbezogene Verbundenheit im Rahmen der NATO zu demonstrieren, gilt gemeinhin als gescheitert. Statt die Überwindung der Vergangenheit zu symbolisieren, resultierte der Bitburg-Besuch in einer intensivierten und polarisierenden Debatte um den Umgang mit dem Nationalsozialismus, und die von Bundespräsident Richard von Weizsäcker drei Tage später, zum 8. Mai 1985 gehaltene Rede wurde von vielen als „Antwort auf Bitburg“ verstanden. Knapp ein Jahr darauf sollte mit dem → Historikerstreit eine ähnlich strukturierte Kontroverse die dem Bitburg-Besuch zugrunde liegenden Konfliktpunkte wieder aufnehmen und die Auseinandersetzungen weiterführen.
Literatur
Christian Mentel
Werner Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989, Frankfurt am Main, New York 1997. Hajo Funke, Bitburg und „die Macht der Juden“. Zu einem Lehrstück anti-jüdischen Ressentiments in Deutschland/Mai 1985, in: Alphons Silbermann, Julius H. Schoeps (Hrsg.), Antisemitismus nach dem Holocaust. Bestandsaufnahme und Erscheinungsformen in deutschsprachigen Ländern, Köln 1986, S. 41–52. Geoffrey H. Hartman (Hrsg.), Bitburg in Moral and Political Perspective, Bloomington 1986. Deborah E. Lipstadt, The Bitburg Controversy, in: David Singer (Hrsg.), American Jewish Year Book 87 (1987), S. 21–37.
Bleibtreu-Affäre (1949) Kurz nach der Gründung der Bundesrepublik kam es zu einem Streit darüber, ob der Antisemitismus besser durch sein Latenthalten oder durch seine Publikation bekämpft werden könnte und wieweit man die Antisemiten dabei selbst zu Wort kommen lassen dürfte. Dieser exemplarische Konflikt ist als der Fall Adolf Bleibtreu in die Geschichte des Nachkriegsantisemitismus eingegangen.
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Bleibtreu-Affäre (1949)
Auslöser war die Publikation eines antisemitischen Leserbriefs zum Kommentar „Judenfrage als Prüfstein“ von Wilhelm E. Süskind in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 2. August 1949, der auf die Rede des amerikanischen Hochkommissars McCloy Bezug nahm, der vor Vertretern der jüdischen Gemeinden Deutschlands erklärt hatte, der Umgang der Deutschen mit den Juden sei „die Feuerprobe der deutschen Demokratie“. Süskind vermutete als Hintergrund für diesen Vorstoß McCloys die Befürchtung eines fortlebenden virulenten Antisemitismus. Er selbst ergriff das Wort, weil er das Schweigen zur „Judenfrage“, das er in Deutschland konstatierte, angesichts der umlaufenden Vorurteile für falsch hielt. Süskind sah die „Feuerprobe“ im Verhältnis zu den Juden gerade in einem „Verhalten von Mensch zu Mensch angesichts der Öffentlichkeit“, das über eine rechtliche Gleichstellung und Wiedergutmachung in Form bloßen Verwaltungshandelns hinausginge. Dass dieser Kommentar zur „Judenfrage“ tatsächlich einen in der Bevölkerung als Problem wahrgenommenen Sachverhalt traf, zeigten die zahlreichen Zuschriften an die „Süddeutsche Zeitung“. Von den äußerst verschiedenartigen Leserbriefen veröffentlichte die Zeitung am 9. August vier „besonders charakteristische“. Darunter befand sich auch ein drohender, brutal antisemitischer Brief, dessen Verfasser sich des programmatischen Pseudonyms „Adolf Bleibtreu“ bediente und im handschriftlichen Original als Adresse Palästinastraße 33 angab, was die „Süddeutsche Zeitung“ für die Druckfassung in Palästrinastraße 33 „abschwächte“. Süskind begründete diese Auswahl damit, dass die Redaktion „ihrer Gepflogenheit gemäß“ aus der Fülle der Zuschriften vier Briefe ausgewählt habe, „die einen Querschnitt der in den Einsendungen vertretenen Meinungen der Leser darstellten“ (Süddeutsche Zeitung, 13.8.49). Es gab allerdings im Zeitungsverlag und in der jüdischen Gemeinde das unbewiesene Gerücht, dass die Redaktion oder der Mitherausgeber Werner Friedmann den Brief selbst verfasst oder zumindest lanciert habe. Die Veröffentlichung des Briefes löste am nächsten Tag (10. August) eine Protestdemonstration Münchener Juden gegen die „Süddeutsche Zeitung“ aus. Auf einer Protestkundgebung des Zentralkomitees der befreiten Juden, der Vertretung der Displaced Persons, wurde eine Protestresolution gegen die „wiederholte antijüdische Hetze der deutschen Neofaschisten, wie sie in der Süddeutschen Zeitung zum Ausdruck kommt“, verfasst, in der gefordert wurde, „die Hetzer zu bestrafen“. Danach formierte sich ein Zug von über 2000 jüdischen Demonstranten, die auf Transparenten die „Süddeutsche Zeitung“ in die Nähe des Nationalsozialismus rückten und den Entzug der Drucklizenz für die Zeitung forderten. Es kam in der Folge zu hitzigen gewalttätigen Zusammenstößen zwischen den Demonstranten und den auf Befehl der Militärregierung angetretenen deutschen Polizisten. Dabei wurden drei jüdische Demonstranten durch Schüsse der deutschen Polizei sowie 38 Polizisten verletzt und zahlreiche Autos beschädigt. Die deutsche Polizei musste sich gegen Ende der Straßenschlacht auf Geheiß der Militärpolizei zurückziehen, und amerikanische Panzer riegelten die Möhlstraße ab, in der viele osteuropäische Juden wohnten, ihre Geschäfte betrieben und der Schwarzmarkt seinen Ort hatte. Über diese Vorgänge berichteten nun auch die Zeitungen in den anderen Besatzungszonen. Die „Süddeutsche Zeitung“ brachte einen Bericht über die Zusammenstöße und druckte auch die gegen sie gerichtete Resolution im Wortlaut ab, wehrte sich gleichzeitig aber gegen den „Protest unter falschen Voraussetzungen“. Mit Hinweis auf den Ar-
Bleibtreu-Affäre (1949)
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tikel „Judenfrage als Prüfstein“ und die dazu eingegangenen positiven Leserbriefe – „von jüdischer und nicht-jüdischer Seite“ – sah die Zeitung ihre eigene, anti-antisemitische Position als belegt an. Während die „Süddeutsche Zeitung“ in der Veröffentlichung gerade des brutalen Leserbriefs einen Beitrag zur kritischen Bekämpfung des Antisemitismus sah, nahmen die Münchener Juden ihn als Ausdruck von Antisemitismus. Die Reaktion der Leser war geteilt. Viele empfanden den Abdruck des Bleibtreu-Briefes als „empörend“ und als einen „Lapsus“, doch gab es andere, die die Absicht der Zeitung unterstützten und ihr Entsetzen über die Existenz von „Bleibtreu-Deutschen“ äußerten. Der Landesverband der israelitischen Kultusgemeinden in Bayern stellte Strafantrag gegen die „Süddeutsche Zeitung“ wegen Verletzung des bayerischen „Gesetzes Nr.14 gegen Rassenwahn und Völkerhaß“. Philipp Auerbach, Generalanwalt für Wiedergutmachung in Bayern, veranlasste beim Bayerischen Staatsministerium für Sonderaufgaben ebenfalls eine Überprüfung der Verantwortlichkeit der leitenden Redakteure nach Artikel 13a des Befreiungsgesetzes. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren ein. Das Zentralkomitee der befreiten Juden in der US-Zone wandte sich zudem an die Militärregierung. Der Direktor der Militärregierung für Bayern, Murray D. van Wagoner, antwortete mit einer Erklärung in der „Süddeutschen Zeitung“, die an „Herrn Bleibtreu“ gerichtet war, in der er die Antisemiten als eine kleine, feige Minderheit in Deutschland darstellte und zugleich die anständigen Deutschen zu Wachsamkeit und Toleranz aufrief. Van Wagoner kritisierte den Abdruck des Briefes als Ausdruck eines „bedauerlichen Mangels an gesundem Urteilsvermögen und Geschmack“, was von der „Süddeutsche Zeitung“ sogleich zurückgewiesen wurde. Deutsche Politiker ergriffen nicht Partei. Eine überraschende Wendung nahm der Konflikt, als der Mitherausgeber der „Süddeutschen Zeitung“, Werner Friedmann, der während der Vorfälle im Ausland gewesen war, gegen die eigene Zeitung Stellung bezog und den kommentarlosen Abdruck des Briefes „auf das schärfste mißbilligte und für schädlich und unklug hielt“, trotz der wohlmeinenden Beweggründe der Redaktion (16.8.49). Friedmann begründete dies mit Rücksichten auf die schlechte Meinung des Auslands über Deutschland, auf demokratisch ungefestigte Verhältnisse und mit einer entsprechenden Anfälligkeit der Bevölkerung sowie mit Grenzen der Meinungsfreiheit für unmenschliche und kriminelle Meinungsäußerungen. Um den Konflikt zu entschärfen, setzte die Redaktion eine Belohnung zur Feststellung der Identität des „Adolf Bleibtreu“ aus, und die Polizei ließ zur Fahndung Schriftproben des Briefes in Zeitungen abdrucken. Trotz zahlreicher Hinweise aus der Bevölkerung blieb die Fahndung erfolglos. Die „Süddeutsche Zeitung“ wurde vor Gericht von dem Vorwurf freigesprochen, antisemitische Drohungen verbreitet zu haben.
Literatur
Werner Bergmann
Werner Bergmann, Medienöffentlichkeit und extremistisches Meinungsspektrum. Die Süddeutsche Zeitung und der Fall „Adolf Bleibtreu“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 3 (1994), S. 51–67. Thomas Grasberger, Die „Adolf-Bleibtreu-Affäre“ 1949. Wie ein antisemitischer Leserbrief zu schweren Ausschreitungen führte, in: Deutschland Archiv 43 (2010), 2, S. 242–250.
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Blutreinheitsgesetze
Blutreinheitsgesetze In der antijüdischen Argumentation der frühen Neuzeit werden in der historischen Literatur vielfach die von 1414 bis ins 16. Jahrhundert zusehends strenger gefassten spanischen „Blutreinheitsgesetze“ (estatutos de limpieza de sangre) angeführt, die auf den Ausschluss aller Juden von der Gemeinschaft mit Christen abzielten. Die religiöse Argumentation trat zunehmend in den Hintergrund und wurde seit dem 16. Jahrhundert durch eine rassistische und (seltener) physiognomische Kategorisierung ersetzt, der die konvertierten Juden mit dem Makel eines „befleckten“ Christen versah und ihn als „maculado“, „notado“ und „manchado“ stigmatisierte. Und da nicht nur das Blut, sondern auch die Muttermilch der Conversos verseucht war, durften nur „reine“ Christinnen die Kinder des Königshauses nähren. Die anthropologische Argumentation der katholischen Kirche deutete die Blutreinheitsgesetze als theologisches Dogma zum Nachteil der Conversos und Neuchristen um: die „Limpieza de sangre“ verlangte den Nachweis von 21 Generationen „rassereiner“ Vorfahren. Die Inquisition beförderte somit einen jahrhundertelangen Marginalisierungs- und Exklusionsprozess von Minderheiten, der auf den Topoi „Rasse“, „Reinheit“ und „Blut“ basierte. Die neue Selbstdefinition und Legitimierung der altchristlichen Limpieza-Gesellschaft erfolgte in Spanien und in Portugal auf einer theologisch-juristischen und einer historischen sowie mitunter auch auf einer medizinischen Ebene. Die Dogmatik des Reinheitsprinzips stützte sich auf Gott, Bibelexegese, Philosophie und Naturwissenschaft. Angesichts der sozialen Aufstiegsorientierung der Conversos und Neuchristen befürchteten spanische Theologen, dass Spanien durch Vermischung der Abstammungslinien seine Noblesse, also seine Rassenreinheit, verlieren würde. Die Vorstellung von Blutreinheit suggerierte ihnen das (positive) Bild einer Gemeinschaft von „rassisch“ Gleichen, die sich über die (negative) Gemeinschaft der mit „fremdem“ Blut befleckten Ungleichen (Juden, Mauren) definierte. Diese Argumentation differenzierte in Spanien und Portugal die Gesellschaft in zwei Gruppen: eine höhere, die Hidalguerie, und eine niedere, die Limpieza. Ein Bürgerlicher oder einer aus dem niederen Stand mit „reinem“ Blut galt damit mehr als ein Hidalgo mit „beflecktem“ Blut. Diese Unterscheidung kam besonders den niederen Schichten entgegen, die sich gegenüber Adel und Kaufmannschaft als besonders rein empfanden, da Conversos und Neuchristen in ihre Klasse nicht oder nur selten einheirateten. Die Motive der Inquisition waren dabei wohl in erster Linie ökonomischer und machtpolitischer Art, und den Blutreinheitsgesetzen kam die Aufgabe zu, die soziale Ungleichheit zu entschärfen. Nach den Blutreinheitsgesetzen konnte die Inquisition gegen die Conversos vorgehen, da jetzt die „Reinheit des Blutes“ wichtiger geworden war als die Reinheit des Glaubens. Limpieza wurde jetzt zur Voraussetzung für die Bekleidung eines öffentlichen oder kirchlichen Amtes.
Literatur
Michael Studemund Halévy
Antonio Domínguez Orizaba, La Clase Social de los conversos en Castilla en la Edad Moderna, Madrid 1955.
Börsenkrach (1873)
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Cecil Roth, Marranos and Racial Antisemitism: A Study in Parallels, in: Jewish Social Studies 2 (1940), S. 239–248. Albert A. Sicroff, Los estatutos de limpieza de sangre, Newark 2010. Yosef Hayim Yerushalmi, Ein Feld in Anatot, Berlin 1993.
Blutschutzgesetz → Nürnberger Gesetze
Börsenkrach (1873) Der Börsenkrach von 1873 wird auch als Gründerkrach bezeichnet, denn er markiert das abrupte Ende einer rasanten Gründungswelle seit Anfang des Jahrzehnts, besonders nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs. Die Reichsgründung erfolgte 1871 nach einer Reihe von Kriegen, die Otto von Bismarck nur mit Billigung der Nationalliberalen führen konnte. Als Ausgleich für diese Treue gestand ihnen Bismarck größeren Einfluss im Staat zu. Sowohl das Gesetz über die Freizügigkeit als auch die neue Gewerbeordnung (1867) sowie das Gesetz zur Gleichberechtigung der Konfessionen (1869) bereiteten den Weg für immer mehr wirtschaftliche Freiheiten. Die erste Aktiennovelle vom Juni 1870 befreite Aktiengesellschaften von behördlicher Aufsicht und beseitigte den Konzessionszwang, was eine Gründungswelle anspornte. Der preußische Sieg über Frankreich 1871 brachte nicht nur die politische Einheit Deutschlands, sondern auch Kriegsentschädigungen in Höhe von 5 Mrd. Franc, deren unerwartet rascher Zufluss in die deutsche Wirtschaft den Markt noch mehr aufheizte. Von 1871 bis 1873 wurden 2,9 Mrd. Mark investiert, eine halbe Mrd. mehr als in den 20 Jahren seit 1850. In den zwei Jahren nach der Reichsgründung wurden allein in Preußen 726 Unternehmen gegründet: Im Vergleich fanden in den 80 Jahren zwischen 1790 und 1870 nur 276 Gründungen statt. Schon im April 1873 brachte der nationalliberale Reichstagsabgeordnete Eduard Lasker gewisse „Mißstände“ im Aktienwesen auf die Tagesordnung. Es wurden nicht nur Schein- und Geheimverträge offenbar, sondern auch die Mitschuld von Adeligen, die ihren Namen verkauft hatten, um den Aktiengesellschaften Rechtmäßigkeit zu verleihen. Später warfen konservative Kräfte Lasker vor, dabei die Aufmerksamkeit von den Juden auf die Konservativen abgelenkt zu haben. Der Börsenkrach im Deutschen Reich folgte eigentlich einer Reihe von Zusammenbrüchen an verschiedenen internationalen Börsen. Eine weltweite Baisse begann, als sich Schwankungen im Kurs Anfang Mai 1873 in Wien bemerkbar machten. Binnen einer Woche meldete die Börse 100 Konkurse und 300 Mio. Gulden Verluste. Im September kam ein zweiter Schlag, als die Insolvenzmeldung des Philadelphia Bankhauses Jay Cooke & Co. eine neue Panik auslöste. Im Zeitalter der globalen Finanz wurde die Berliner Vereinsbank Quistorp & Co. bald in die Entwicklungen mitgerissen, und als diese im Oktober zusammenbrach, mussten kurz darauf noch 27 weitere deutsche Banken Insolvenz erklären. Bis Ende 1873 stürzten die Aktienpreise von mehr als 400 deutschen Gesellschaften um 46 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Doch die gesamten ökonomischen Auswirkungen des Zusammenbruchs folgten erst später, nachdem die fortdauernde Überproduktion und die Insolvenzwelle mit einem enormen Preissturz endeten. Besonders
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Börsenkrach (1873)
schwer betroffen waren die Eisenproduzenten und Agrarier. Bis 1879, dem Höhepunkt der Krise, sank die Wachstumsrate um 50 Prozent und die Preise für Eisen und Kohle fielen um 60 bzw. 66 Prozent. Trotz der unsicheren Situation von 1873 gab es keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Freihandelspolitik, doch der zunehmende weltwirtschaftliche Druck verstärkte die Zweifel am Liberalismus. Interessenverbände tauchten auf, um den Fortbestand bestimmter Industriezweige durch erneute Schutzzölle zu sichern, die ab 1879 wieder eingeführt wurden. Trotzdem währten Stagnation, Deflation und verlangsamtes Wachstum dieser „Große Depression“ bis Mitte der 1890er Jahre. In der Zeit nach dem Gründerkrach suchte man eifrig nach den Hauptschuldigen. In einem frühen Bericht unter dem Titel „Der ‚grosse Börsenkrach’ des Jahres 1873“ erläuterte der österreichische Staatsminister Albert Schäffle den Verlauf der Krise und stellte fest, dass die Hauptschuld bei den Spekulanten liege, aber der Krach „die nothwendige Folge eines falschen Systems, weit weniger die Schuld von Individuen“ sei. Andere wollten das Gesicht der Smithschen „unsichtbaren Hand“ des Marktes erkennen. In Deutschland glaubte man, die Ursache in den Juden gefunden zu haben. Dank ihrer Stellung in bestimmten wirtschaftlichen Zweigen seit Jahrhunderten einerseits und der unlängst gewährten Judenemanzipation andererseits wurden die Juden als Anstifter und Nutznießer der ökonomischen Umwälzung in der Folgezeit gehalten. Einer der ersten Kritiker der Krise war der Journalist Otto Glagau. Bis Ende 1874 schrieb er eine Artikelserie in der „Gartenlaube“, die er später erweiterte und in dem Sammelband „Der Börsen- und Gründungsschwindel in Deutschland“ (1877) veröffentlichte. Im selben Jahr kam auch sein angeblich 1873 verfasstes Drama „Aktien“ heraus, in dem er „die verschiedenen Species der Gründer und Gründergenossen“ zeichnen wollte. Um Kritik gegen seine Darstellung der jüdischen Charaktere darin abzuwenden, behauptete er im Vorwort: „Die Gründer und Börsianer waren überwiegend, zu mehr als 90 Prozent, Juden. Das ist notorisch und nicht meine Schuld.“ Bald widerhallte ähnliche Kritik in der Stimme des evangelischen Konservatismus. In der „Neuen Preußischen Zeitung“ (Kreuzzeitung) erschienen fünf Artikel Juni/Juli 1875 unter dem Titel „Die Aera Bleichröder-Delbrück-Camphausen und die neudeutsche Wirtschaftspolitik“, die den Bankier Bismarcks und den Wirtschaftsminister bzw. den Finanzminister anprangerten. Der Verfasser, der Wirtschaftsjournalist Franz Perrot, hatte sich seit Jahren gegen Ungereimtheiten in der Finanzsphäre ausgesprochen und schon 1872 ein Pamphlet über den „Kampf gegen die Ausbeutung des Publikums durch den Banknotenschwindel und die Papierpest“ verfasst; doch seine Schriften vor und gleich nach der Krise enthielten keine antijüdischen Argumente. Ab 1875 aber betonte er immer stärker die vermeintliche Rolle der Juden in der Regierung und im Gründerkrach. Enthüllen wollte Perrot den „Zusammenhang unserer neudeutschen Staatswirthschaftspolitik mit den Interessen der Bank- und Börsenherrschaft, wie sie von unseren israelitischen Mitbürgern geführt wird“. Ab August 1875 nahm auch die Tageszeitung der katholischen Zentrumspartei, „Germania“, eine ähnliche Position wie die „Kreuzzeitung“ ein und beschuldigte die Juden nicht nur für den Börsenkrach sondern auch für Bismarcks Kulturkampf, mit dem sie „ihre Börsenoperationen vor den Augen des Publikums“ verschleierten. Darauf folgten mehrteilige Artikelreihen zum Thema „Judenfrage“ und „Judenthum und
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Börse“ sowie ein Artikel über „Die Schmarotzerpflanzen in der Geschäftswelt“. Als Folge dieser „Judenwirtschaft“ hätten die Juden „als Wucherer, Börsenjobber, Gründer, kurz als Ausbeuter und Halsabschneider die Taschen der Bürger geleert“. Schließlich erklärte die Zeitung, sie habe „vorzugsweise das Judenthum für den Börsen- und Gründungsschwindel der letzten Jahre verantwortlich gemacht und damit also auch für das jetzige Elend in Handel und Gewerben“.
Literatur
Matthew Lange
Gerhard Hannloser, Krise und Antisemitismus. Eine Geschichte in drei Stationen von der Gründerzeit über die Weltwirtschaftskrise bis heute, Münster 2004. Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967. Daniela Weiland, Otto Glagau und „Der Kulturkämpfer“. Zur Entstehung des modernen Antisemitismus im frühen Kaiserreich, Berlin 2004.
Borodajkewycz-Affäre (Österreich 1965) Als Fall Borodajkewycz werden die Auseinandersetzungen rund um den Historiker und Professor an der Hochschule für Welthandel in Wien Taras Borodajkewycz bezeichnet. Borodajkewycz wurde am 1. Oktober 1902 in der Ukraine geboren und schloss 1932 ein Studium der Geschichte ab, 1933 war er Sekretär des Katholikentages. Im Januar 1934 wurde Borodajkewycz Mitglied der illegalen NSDAP. Ein Jahr später nahm er seine Tätigkeit als Mitarbeiter des NS-Nachrichtendienstes auf und arbeitete als Staatsarchivar im Bundeskanzleramt, außerdem war er im Kulturreferat der SA und in der Schulung der SS tätig. Ab 1937 war Borodajkewycz Dozent an der Universität Wien und 1942–1945 Professor für österreichische Geschichte an der Deutschen Universität in Prag. Am 6. Juli 1945 wurde er aus dem Staatsdienst entlassen, die Entlassung wurde jedoch 1950 wieder aufgehoben. Im Zuge der Entnazifizierung wurde Borodajkewycz 1946 als „Minderbelasteter“ eingestuft. 1955 bekam er eine Professur für Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule für Welthandel (heute Wirtschaftsuniversität) in Wien. Im Bewerbungsbogen für die Universitätsstelle antwortete er auf die Frage nach seinem Verhältnis zur NSDAP: „überholte und unwichtige Frage“. In seinen Vorlesungen äußerte sich Borodajkewycz offen nationalsozialistisch und antisemitisch. Bereits 1961 bezeichnete er Rosa Luxemburg als „jüdische Massenaufpeitscherin“, von ihren Mördern sprach er als „herrliches deutsches Freikorps“. Auch seiner Bewunderung für Adolf Hitler verlieh er regelmäßig Ausdruck, so wie er auch immer die jüdische Abstammung der von ihm zitierten Personen angab. In einem Artikel im sozialistischen Magazin „Zukunft“ deckte der damals gerade promovierte Jurist Heinz Fischer (der spätere Bundespräsident Österreichs) 1962 die von Borodajkewycz getätigten Aussagen auf. Fischer berief sich dabei auf Vorlesungsmitschriften des späteren SPÖ-Ministers Ferdinand Lacina. Borodajkewycz brachte daraufhin eine Klage wegen Ehrenbeleidigung ein, im Zuge derer Fischer 1963 zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Vom Gerichtsurteil bestärkt, betätigte sich Borodajkewycz weiterhin antisemitisch. Im Januar 1965 wurde ein Antrag auf ein Disziplinarver-
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fahren gegen Borodajkewycz gestellt, das jedoch von Unterrichtsminister Theodor Piffl-Percecic abgelehnt wurde. Die eigentliche Affäre wurde am 23. März 1965 durch eine Pressekonferenz im Auditorium Maximum der Universität Wien ausgelöst. Borodajkewycz wollte sich auf einer von der Österreichischen Hochschülerschaft organisierten Veranstaltung zu den Anschuldigungen, die gegen ihn erhoben wurden, äußern. Bereits beim Betreten des Saals wurde er mit stürmischem Beifall begrüßt. Als er auf den Prozess gegen Fischer zu sprechen kam und dessen jüdischen Anwalt Rosenzweig erwähnte, brach das Publikum in höhnisches Gelächter aus, und als sich Borodajkewycz stolz zu seiner Mitgliedschaft in der NSDAP bekannte, erntete er erneut Beifall. Schon am darauf folgenden Tag, dem 24. März 1965, kam es zu Demonstrationen gegen Borodajkewycz, die am 31. März 1965, als sich Tausende Demonstrierende in der Wiener Innenstadt versammelten, einen Höhepunkt erreichten. Aber auch die Anhängerschaft Borodajkewyczs versammelte sich und skandierte „Heil Borodajkewycz“, „Juden raus“ und „Hoch Auschwitz“. Im Zuge der Demonstration gab es trotz massiven Polizeiaufgebots schwere Ausschreitungen, in deren Zusammenhang der 67-jährige ehemalige Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger von einem 24-jährigen Neonazi niedergeschlagen wurde. Kirchweger verstarb wenige Tage später an den Folgen seiner Verletzungen und gilt als erstes politisches Todesopfer der Zweiten Republik. Der Mörder Kirchwegers wurde zu einer zehnmonatigen Haftstrafe verurteilt. Am Begräbnis des ehemaligen Widerstandskämpfers am 9. April 1965 nahmen mehr als 25.000 Menschen teil. Der Begräbniszug wurde zur antifaschistischen Demonstration. Aufgrund der Vorfälle strebte Heinz Fischer eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ihn an und wurde am 22. Juni 1965 freigesprochen. Schon zuvor betonte die Staatsanwaltschaft, dass Borodajkewyczs Aussagen hart an der Grenze zum Verbotsgesetz nationalsozialistischer Wiederbetätigungen waren, trotzdem wurde sie gegen ihn nicht aktiv. Auch die universitären Behörden unternahmen weiterhin nichts. Am 2. Juni 1965 stellte Borodajkewycz schließlich selbst den Antrag, gegen ihn ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Die darauffolgenden Untersuchungen mündeten am 14. Mai 1966 in der Zwangspensionierung Borodajkewyczs, der jedoch weiterhin publizistisch seine antisemitischen Anschauungen vertrat. Taras Borodajkewycz starb am 3. Januar 1984 in Wien. Der Fall Taras Borodajkewycz markierte auf einer gesellschaftspolitischen Ebene den Beginn einer Reihe von Ereignissen, die Österreich dazu brachten, sich seiner nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen. Auf universitärer Ebene zeigte der Fall Borodajkewycz die nach 1945 bestehende Elitenkontinuität.
Literatur
Christian Pape
Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus, München 2004. Deborah Hartmann, Der Fall Borodajkewycz, in: Siegfrieds Köpfe. Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus an der Universität, Wien 2002, S. 135–141. Gernot Heiss, Von der gesamtdeutschen zur europäischen Perspektive? Die mittlere, neuere und österreichische Geschichte, sowie die Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien 1945–1955, in: Margarete Grandner, Gernot Heiss, Oliver Rathkolb (Hrsg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, Innsbruck u.a. 2005, S. 188– 210.
Boykott-Tag, 1. April 1933
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Boykott-Tag, 1. April 1933 Die nach dem Machterhalt Hitlers erste reichsweite gegen die deutschen Juden gerichtete Maßnahme war von der Parteileitung der NSDAP am 30. März 1933 für den 1. April angeordnet worden. Offiziell wurde der Boykott als „reine Abwehrmaßnahme“ gegen angebliche jüdische „Greuelpropaganda“ aus dem Ausland deklariert. Zur Durchführung des Boykotts jüdischer Geschäfte, Warenhäuser, Arztpraxen und Rechtsanwaltskanzleien „bis in das kleinste Bauerndorf hinein“ wurden regionale „Aktionskomitees“ gebildet. Das „Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze“ leitete der NSDAP-Gauleiter von Franken und Herausgeber des „Stürmer“ Julius Streicher. Er ordnete am 30. März an, dass die Aktionskomitees „sofort“ feststellen sollten, welche Unternehmen „sich in Judenhänden befinden“, um dort Wachen abzustellen. „Stimmung wie vor einem Pogrom im tiefsten Mittelalter“, notierte der Romanist Victor Klemperer am 30. März in seinem Tagebuch. Am Samstag, 1. April, 10 Uhr, sollte der Boykott im gesamten Deutschen Reich beginnen. Tatsächlich setzten schon am Vortag Aktionen ein, die die unkontrollierten Schikanen, denen jüdische Gewerbetreibende in den vergangenen Wochen ausgesetzt waren, fortsetzten. Posten der SA und der Hitlerjugend zogen mit Transparenten wie „Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden“ vor jüdischen Geschäften, Arztpraxen und Anwaltskanzleien auf, um Kunden, Patienten und Mandanten am Betreten zu hindern. Jüdischen Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten wurde der Eintritt ins Gerichtsgebäude verwehrt. Propagandaminister Goebbels rief in einer Rundfunkrede „das deutsche Volk“ auf, sich an den Juden „schadlos“ zu halten. Geschäfte ausländischer Juden waren ausdrücklich von dem Boykott ausgenommen, in der Praxis wurde das allerdings nicht konsequent eingehalten. In den Hauptstraßen der größeren Städte versuchte man, gewalttätige Ausschreitungen zu unterdrücken, in Nebenstraßen und kleineren Ortschaften kam es jedoch zu Plünderungen. Nicht zuletzt ausländische Drohungen, im Gegenzug deutsche Waren zu boykottieren, veranlassten die Regierung, den ursprünglich auf unbestimmte Zeit verhängten Boykott auf einen Tag zu beschränken. Aus Wirtschaftskreisen wurde zudem die Befürchtung geäußert, dass der Boykott in Anbetracht der ökonomischen Schwierigkeiten negative Auswirkungen haben könnte. Aber auch innenpolitisch stieß die Aktion auf geringe Resonanz. Viele Kunden, Klienten und Patienten reagierten mit Gleichgültigkeit oder zeigten sich solidarisch mit den Ausgegrenzten. Die jüdische Besitzerin eines kleinen Eiergeschäfts in Wandsbek etwa berichtete, dass sie niemals zuvor so viele einzelne Eier verkauft habe wie an diesem 1. April 1933. Viele Kunden hatten damit ihre Missbilligung des Boykotts ausdrücken wollen. Der Boykott wurde in der Nacht vom 1./2. April 1933 ausgesetzt und nicht wieder aufgenommen. Mit der von Regierung und Partei legitimierten und unterstützten Aktion wurden die bis dahin unorganisierten und dezentralen Aktionen gegen jüdische Gewerbetreibende kanalisiert. Damit wurde ein Signal für die ökonomische Diskriminierung, Ausplünderung und schließlich Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben gesetzt.
Angelika Königseder
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Boykottaktionen in Polen (1912)
Literatur
Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933–1943, Frankfurt am Main 1987. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939, München 1998.
Boykottaktionen in Polen (1912) Im Zusammenhang mit dem Erstarken des Antisemitismus in Polen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelten sich antisemitische Strömungen, die nicht vorrangig auf Gewalttätigkeiten und Pogrome setzten, sondern einen möglichst eingeschränkten wirtschaftlichen und sozialen Kontakt zwischen Nichtjuden und Juden durchsetzen wollten. Ihren Ausdruck fand diese Haltung beispielsweise in den Boykottaktionen des Jahres 1912. Anlass war ein Konflikt im Zusammenhang mit der Wahl des Warschauer Abgeordneten für die Russische Duma. Die im Wahlmännergremium stark vertretenen Wahlmänner aus jüdischen Listen hatten die Wahl des von den Nationalpolen aufgestellten Kandidaten Jan Kucharzewski verhindert, da dieser sich gegen eine volle Gleichberechtigung der Juden in der städtischen Selbstverwaltung ausgesprochen hatte. Sie wählten stattdessen den sozialistischen Kandidaten Eugeniusz Jagiełło. Die Nationaldemokraten deuteten dies als Beweis für die Feindlichkeit der Juden gegenüber den Polen und der Unvereinbarkeit von polnischen und jüdischen Interessen. Bereits im Vorfeld der Wahlen hatten sie eine antisemitische Kampagne angekündigt, falls sich die Juden bei der Wahl durchsetzen würden. Nach der Wahl lancierte die Presse, vor allem die „Gazeta Poranna – 2 Grosze“ [Morgenzeitung – Zwei Groschen] und die „Gazeta Warszawska“ [Warschauer Zeitung], einen antijüdischen Boykott. Sie forderten die polnische Bevölkerung auf, nicht in jüdischen Geschäften einzukaufen, keine jüdischen Ärzte oder Rechtsanwälte aufzusuchen oder jüdische Künstler zu engagieren. Besonders die „Gazeta Poranna – 2 Grosze“ versuchte, den Boykott anzuheizen, indem sie regelmäßig Listen mit jüdischen und „verjudeten“ Geschäften veröffentlichte, von Schließungen jüdischer Geschäfte berichtete und sich bemühte, durch Preis- und Qualitätsvergleiche die Minderwertigkeit des jüdischen Handels nachzuweisen. Insgesamt handelte es sich nicht um eine spontane Reaktion der Bevölkerung, sondern um eine gezielte Aktion, zu der eine breit angelegte Kampagne nötig war. Diese wurde von der katholischen Kirche weitestgehend unterstützt; Priester predigten, es sei eine Sünde, bei Juden einzukaufen. Die russischen Behörden verorteten den Boykott im Kontext der polnisch-nationalen Unabhängigkeitsbewegung und stellten sich aus diesem Grund gegen die Aktionen. Der Boykott unterlief alle volkswirtschaftlichen Prinzipien. Er fußte auf einer nationalen Ideologisierung der Ökonomie, die davon ausging, dass die Juden die Verantwortung für die Rückschrittlichkeit der polnischen Wirtschaft trugen. Um die Maßnahmen zu rechtfertigen, wurde außerdem ein Boykott der polnischen Wirtschaft durch die Juden behauptet. Als „Beweise“ mussten die aus religiösen Speise- und Kleidungsvorschriften resultierenden speziellen Konsumgewohnheiten eines Teils der jüdischen Bevölkerung sowie die ersten Versuche von jüdischer Organisierung im Wirtschaftsleben
Bücherverbrennungen (Mittelalter und frühe Neuzeit)
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herhalten, die als Feldzug des Judentums zur endgültigen Eroberung des Landes stilisiert wurden. Der Boykott dauerte von November 1912 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Seine wirtschaftliche Effizienz war gering. Die ökonomisch-sozialen Bedingungen machten für viele Polen, besonders die Landbevölkerung, die Einhaltung des Boykotts unattraktiv und unwirtschaftlich. Die polnischen Händler waren kaum in der Lage, frei werdende Kapazitäten des jüdischen Handels zu übernehmen und die Versorgung verschlechterte sich. Der Boykott stand einer positiven Wirtschaftsentwicklung kontraproduktiv entgegen und brachte durch die Einschränkung der Konsumentenfreiheit Teuerungen mit sich. Obwohl sich im jüdischen Einzelhandel Insolvenzen häuften, konnten die Boykottaktionen die allgemeine ökonomische Situation der Juden wenig beeinträchtigen, zumal der Großhandel nicht betroffen war und viele jüdische Produzenten und Händler für den russischen Absatzmarkt arbeiteten. Weitaus negativer waren die Wirkungen, die über die ökonomische Sphäre hinausgingen. Die Nationaldemokraten erreichten ihr Ziel, die polnisch-jüdischen Spannungen zu verschärfen und offen auszutragen. Durch ihre scheinbar logisch-wirtschaftlichen Argumentationen war es ihnen gelungen, ihren Ansichten im politischen und gesellschaftlichen Diskurs zur Dominanz zu verhelfen. Die Forderung nach konkreten antisemitischen Maßnahmen fand Eingang in das politische Repertoire. Eine Atmosphäre von Konkurrenz und Missgunst und die Vorstellung eines unverrückbaren nationalen Antagonismus’ zwischen Polen und Juden bekamen Massencharakter. In dieser Stimmung häuften sich wiederum gewalttätige Übergriffe und Brandanschläge mit antisemitischem Hintergrund.
Literatur
Andrea Rudorff
Frank Golczewski, Polnisch-Jüdische Beziehungen 1881–1922, Wiesbaden 1981. Theodore Weeks, From Assimilation to Antisemitism. The Jewish Question in Poland 1850– 1914, DeKalb 2006.
Bücherverbrennungen (Mittelalter und frühe Neuzeit) Die Maßnahme Bücherverbrennung war im Christentum seit der Antike als Rechtsmittel verankert, ihr paradigmatischer Anwendungszusammenhang die Abwehr von abweichenden Lektüren der Offenbarung, also der Kampf gegen häretische Werke, etwa theologische Traktate, seit etwa 1200 auch volkssprachliche Übersetzungen von Bibeltexten für Laien. Hebräische Literatur dagegen blieb unangetastet, das religiöse Brauchtum der Juden war erlaubt und päpstlich geschützt. Es hängt mit den besonderen Zeitumständen zusammen: dem Erstarken der Universitäten, der Zunahme rationalistischer Deutungen des Gotteswortes, dem Engagement der neuen Bettelorden in der Bekämpfung der Ketzerbewegungen, dass 1232 in Montpellier Inquisitoren in den Maimonidesstreit, eine Kontroverse unter Rabbinern, eingriffen, was die erste nachweisbare Verbrennung jüdischer Schriften durch eine christliche Gerichtsinstanz zur Folge hatte. Betroffen war Maimonides’ philosophisches Oeuvre.
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Bücherverbrennungen (Mittelalter und frühe Neuzeit)
Die sich im Jahrzehnt darauf auf der päpstlichen Leitungsebene wie auch im Umfeld der Universität Paris durchsetzende Erkenntnis, dass die Juden neben dem Alten Testament, auf dessen buchstäblicher Bewahrung augustinischer Lehre zufolge ihre Existenznotwendigkeit gründete, noch ein „anderes Gesetz“ hätten, ein zweites autoritatives Werk, welches überdies voll sei von Blasphemien, dass also das zeitgenössische Judentum mitnichten dem biblischen entsprach, führte 1242 auf Betreiben Papst Gregors IX. in Paris zur Verurteilung des Talmuds als häretisch – und damit zur Verbrennung. Dieses Urteil wurde, wo und wann genau ist ungewiss, an konfiszierten Schriften öffentlich vollstreckt. Ein Augenzeuge, Rabbi Meïr von Rothenburg, dichtete eine Elegie: Sie schildert den Untergang des Talmuds nach Art einer Märtyrerklage und hält die Erinnerung an das von den Juden als Katastrophe erlebte Geschehen bis heute wach (als Bestandteil der Liturgie des Tags der Tempelzerstörung). Die Offensive gegen den Talmud bedeutete einen Angriff auf das Fundament und die Identität des rabbinischen Judentums, hatte aber nicht etwa die Konversion der Juden zum Ziel, sondern ihre Rückführung auf den Weg zu der Bestimmung, Zeugen der „veritas hebraica“ zu sein. Die Verbrennung von Paris, der erste „holocausto del Talmud et de libri talmudistici“ (Girolamo Muzio, 1553), war ein Fanal: ein Zeichen, dass „die kirchen-christliche Gesellschaft“ die Juden „nur in der Gestalt zu dulden bereit war, wie sie sie haben wollte, nicht wie sie waren“ (Patschovsky). Auch steht dieser Akt zäsurhaft für eine langfristig sich dramatisch verändernde Sicht auf die Juden als Menschen („Talmudjude“). Innozenz IV. setzte die von seinem Vorgänger eingeschlagene Linie fort, rief zu weiteren Verbrennungen auf (1244) und lieferte mit einem Kommentar zur Reichweite der päpstlichen Jurisdiktionsgewalt die kanonistische Rechtfertigungsgrundlage, auf die sich entsprechende Aktionen bis weit in die Buchdruckzeit hinein stützten. Doch eröffnete er bereits 1247 auch die Perspektive für eine weniger drastische Zensur jüdischer Belange, indem er die Expurgation anstößiger Passagen im Talmud als möglich erscheinen ließ. Zwischen diesen beiden Polen – bedingte Duldung oder unbedingtes Verbot – schwankte die Haltung der Kurie in den nächsten 350 Jahren, wenn sie nicht von Gleichgültigkeit jüdischem Schrifttum gegenüber geprägt war. Ein universaler Vernichtungsfeldzug ging vom Pariser Urteil jedenfalls nicht aus. Im großen Stile durchgeführte Talmud-Verbrennungsaktionen waren periodische Erscheinungen (mit Schwerpunkten in der Mitte des 13., im ersten Viertel des 14., Ende des 15. und Mitte des 16. Jahrhunderts), die die Durchsetzungsbereitschaft des weltlichen Arms verlangten. Diese war anfangs allein in Frankreich gegeben (bestätigt u.a. durch die Große Ordonanz Ludwigs IX. von 1254). Etwas verzögert traten auch anderswo weltliche Herrscher mit Verbrennungsanweisungen bezüglich bestimmter Schriften der Juden (Barcelona 1263–1265) oder Konfiskationsedikten (Neapel 1270) hervor, doch nachweislich zur Exekution gelangte Fälle außerhalb französischen und päpstlichen Territoriums sind erst aus dem 15. Jahrhundert bezeugt. Am 7. Dezember 1309 wurden in Paris abermals „libri judaeorum“ verbrannt, drei Jahre nachdem die Juden aus Frankreich vertrieben worden waren. Es handelte sich offenbar um deponierte oder in den Besitz von Christen gelangte Schriften. 1319 war Toulouse Schauplatz einer Verbrennung, und 1320 startete Papst Johannes XXII. einen Aufruf zur Fortsetzung der Offensive, der weitere Exekutionen auslöste (gesichert ist eine in Rom 1322). Hundert Jahre später traf es die Nachfahren der ehemals französi-
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schen Juden, die 1394 erneut das Land hatten verlassen müssen, in ihren Exilgebieten, namentlich in Savoyen (u.a. Chambéry 1417). Ab 1490 wurden bei den öffentlichen Akten der spanischen Inquisition, den Autodafés, häufiger auch hebräische Bücher verbrannt, in erster Linie, um sie den Conversos zu entziehen; diejenigen Juden, die bei der Vertreibung 1492 die Auswanderung der Taufe vorzogen, durften ihre Bücher mitnehmen. In Portugal, wo die Juden 1497 verbannt wurden, wurden hebräische Schriften konfisziert, und es soll zu einer größeren Verbrennung gekommen sein, doch ist die Quellenlage widersprüchlich. In Deutschland drohte den Juden – und den an jüdischer Gelehrsamkeit interessierten christlichen Gelehrten (Hebraisten) – erstmals 1509 die Wegnahme und Verbrennung der rabbinischen Schriften, nachdem Kaiser Maximilian I. den Konvertiten Johannes Pfefferkorn auf dessen Agitation hin mit einem entsprechenden Mandat ausgestattet hatte. Doch vermochte der Humanist Johannes Reuchlin so viel Widerstand zu mobilisieren, dass diese Gefahr nach langem Streit abgewendet werden konnte ( → Pfefferkornstreit). Die Kontroverse um die Behandlung der „Judenbücher“ wurde auf gutachterlicher wie auch auf publizistisch-polemischer Ebene ausgetragen und nahm Frontstellungen der nachreformatorischen Zeit vorweg, endete vorläufig aber mit einem päpstlichen Imprimatur für den Talmud 1520. Die rasante Verbreitung von Büchern durch den Buchdruck und die Folgen der Reformation veränderten die Koordinaten und trugen dazu bei, dass Rom 1553 eine Wende vollzog. Ein von Papst Julius III. autorisiertes Dekret der Kardinäle der Inquisition verpflichtete alle Fürsten, Prälaten und Inquisitoren zur Vernichtung des Talmuds und führte, obwohl in der Umsetzung weitgehend auf den Kirchenstaat und Oberitalien beschränkt, zu einer Serie von öffentlichen Verbrennungsakten, wie sie in diesem Ausmaß zuvor wohl nie vorgekommen sind. Die Auftakt-Verbrennungsveranstaltung fand am 9. September auf dem Campo de’ Fiori statt, „unter größtem Beifall des Volkes“, in den Monaten darauf folgten Venedig, Bologna, Ravenna, Ferrara, Mantua, Pesaro, Ancona und andere Orte, 1559 Cremona. So gewaltig diese Welle extremer Aktionen war, bereitete sie zugleich den Weg für etwas Neues, nämlich die Ausbildung eines feineren Instrumentariums der Buchproduktions- und Buchmarktkontrolle, mit der 1554 begonnen wurde. Die Maßnahme Vernichtung wurde durch die neuen Instrumente der Zensur nicht überflüssig gemacht oder delegitimiert, sondern blieb eine selbstverständliche Option, etwa für Bücher, die vor dem Druck nicht lizenziert oder ausreichend korrigiert worden waren, und fand z.B. in Strafprozessen gegen Besitzer solcher Drucke Anwendung. Die Zeit der „großen“ Talmudverbrennungen aber begann auszulaufen, noch bevor Papst Clemens VIII. 1593/96 den Talmud endgültig verbot. Letztmals im großen Maßstab durchgeführt wurden solche Verbrennungen 1757 auf Befehl des Erzbischofs von Lemberg, in dessen Bereich die Frankisten, eine kabbalistische Sekte von „Kontratalmudisten“ („Zohariten“), vorübergehend Einfluss gewonnen hatten. Über die Rahmenhandlungen und performativen Aspekte der Vollstreckungsschauspiele liegen kaum Informationen vor, zumal für die frühen Fälle. Die Literatur begnügt sich allzu oft mit einem Hinweis auf die angeblich reinigende Kraft des Feuers bzw. die solcher Rituale. Offensichtlich ist, dass im Unterschied zu den meisten Fällen aus dem christlichen Kontext, bei denen mit viel zeremoniellem Aufwand einer bloß geringen Anzahl von Handschriften der Untergang bereitet wurde, Talmudverbrennun-
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gen oft durch die Masse der zum Scheiterhaufen gekarrten Bücher imponierten. Die Quellen sprechen von 24 Wagenladungen plus sechs weiteren (1242), von drei (1309) und zwei (1319) Wagenladungen. Exakte Zahlen verbrannter Bücher sind nur ausnahmsweise überliefert (Mailand 1490: 172 Stück, verbrannt in einem Ofen im Beisein handverlesener Zeugen, anstatt wie üblich auf öffentlichem Platze). Im 16. Jahrhundert gehen sie im Einzelfall in die Zehn- und insgesamt wohl in die Hunderttausende – ganze Auflagen neu gedruckter Werke wurden hier auf einen Schlag vernichtet. Wohlgemerkt bestanden diese Bücherberge nicht allein aus talmudischen Traktaten. In die offizielle Kritik von Beginn an explizit einbezogen waren Glossen und sonstige rabbinische (Kommentar-)Literatur, u.a. Raschi und Tosafot; der Inquisitor Bernard Gui nennt Maimonides’ „Mischne Tora“ sowie eine „Glosa“ David Kimchis; im 16. Jahrhundert betroffen waren u.a. Isaak ben Jakob Alfasi und Judah ben Samuel Lerma, ein zeitgenössischer Autor. Eine Totalauslöschung jüdischen Geistesguts war nicht intendiert. Aber es gab, wenn Eiferer die Auswahl trafen oder Dilettanten, enorme Diskrepanzen zwischen Art und Anzahl der zum Feuer verurteilten Schriften und den letztlich darin verbrannten. Typischerweise war es so, dass sämtliche hebräischen Bücher, die in den betroffenen jüdischen Gemeinden aufzufinden waren, beschlagnahmt wurden, woraufhin Sprachkundige – in der Regel Konvertiten, die in der Zensurgeschichte jüdischer Literatur eine große Rolle spielten – prüften, welche davon gerichtlich untersucht bzw., falls das bereits geschehen war, welche davon verbrannt gehörten und welche nicht. Nicht im Visier der Zensoren war die schriftliche Thora. Ein Fall wie der des Märtyrers Hananiah ben Teradion, der während der hadrianischen Verfolgungen im 2. Jahrhundert in eine Thorarolle gewickelt den Flammentod erlitt, hat mit ziemlicher Sicherheit keine Entsprechung in den Strafrechtspraktiken der späteren, christlich dominierten Ära, wenngleich es hebräische Klagegedichte über Judenverbrennungen gibt, die eben dieses Bild erzeugen. Berichte über gemeinsam vollstreckte Verbrennungen von Menschen und Büchern sind, was das Mittelalter anbetrifft, generell mit Skepsis zu betrachten. 1290 soll sich in Paris der erste jemals wegen Hostienfrevels belangte Jude auf dem Scheiterhaufen „eine Schrift“ aus seinem Haus erbeten haben, ehe man ihn verbrannte – gemeint waren vielleicht die Phylakterien (Tefillin) dieses Delinquenten, also Gebetsriemen mit heiligen Texten, gewiss jedoch nicht die Thora oder der Talmud. Von den durch rechtliches Prozedere geprägten Schriftenvernichtungen sind solche abzugrenzen, die im Zuge von antijüdischen Gewaltaktionen begangen wurden – etwa von Kreuzfahrern oder fanatisiertem Mob. Zu nennen ist hier die Schändung und Zerstörung der Gesetzesrolle durch In-den-Schmutz-Werfen, durch Zertrampeln, Zerreißen und Verbrennen, Taten, die während des 1. Kreuzzugs (1096) im Rheinland in Serie geschahen, ähnlich später in Frankreich (1236, 1251). Besonderes Ziel solcher Aktionen war stets die Thora, waren allgemein die Schriften und Kultobjekte in der Synagoge. So z.B. bei der sogenannten Frankfurter Judenschlacht 1241 oder beim Prager Osterpogrom 1389, einem Massaker, das uns von einem Pamphletisten genüsslich und mit einer Brutalität geschildert wird, „die selbst den antisemitischsten modernen Christen verletzen muß oder müßte“, so Paul Lehmann 1922.
Thomas Werner
Bücherverbrennungen 1933
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Literatur
Susan L. Einbinder, Beautiful Death. Jewish Poetry and Martyrdom in Medieval France, Princeton, Oxford 2002. Paul Lehmann, Die Parodie im Mittelalter, München 1922, Stuttgart 1963². Fausto Parente, La Chiesa e il „Talmud“, in: Corrado Vivanti (Hrsg.), Gli ebrei in Italia (Storia d’Italia. Annali 11), Band 1, Turin 1996, S. 521–643. Alexander Patschovsky, Der „Talmudjude“. Vom mittelalterlichen Ursprung eines neuzeitlichen Themas, in: Alfred Haverkamp, Franz-Josef Ziwes (Hrsg.), Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, Berlin 1992, S. 13–27. Amnon Raz-Krakotzkin, The Censor, the Editor, and the Text. The Catholic Church and the Shaping of the Jewish Canon in the Sixteenth Century, Philadelphia 2007. Thomas Werner, Den Irrtum liquidieren. Bücherverbrennungen im Mittelalter, Göttingen 2007.
Bücherverbrennungen 1933 In den Abendstunden des 10. Mai 1933 brannten in 22 deutschen Hochschulstädten die Scheiterhaufen. Unter lärmenden Schmährufen warfen Studenten die Werke von Kurt Tucholsky, Heinrich Mann, Anna Seghers und zahlreichen weiteren Schriftstellern, Publizisten und Wissenschaftlern in die Flammen. Von über 400 Autoren lässt sich heute nachweisen, dass ihre Werke von den Bücherverbrennungen 1933 betroffen waren. Die Bücherverbrennungen im Mai 1933 waren Höhepunkt der reichsweiten „Aktion wider den undeutschen Geist“. Dabei handelte es sich um eine vierwöchige, generalstabsmäßig geplante und durchgeführte Kampagne mit dem Ziel der Vertreibung der deutsch-jüdischen und kritischen Intelligenz vor allem aus den Universitäten. Am 13. April 1933 begann sie: An allen Hochschulorten des Reiches wurde das Plakat „Wider den undeutschen Geist“ aufgehängt. Darauf waren in roten Lettern die Positionen und Ziele zu lesen: „Sprache und Schrifttum wurzeln im Volke“ lautete die erste der insgesamt zwölf Thesen. Durch die vierte These: „Unser gefährlichster Widersacher ist der Jude, und der, der ihm hörig ist“, wurde das antisemitische Leitmotiv herausgestellt. Mit der zwölften These wurde das wichtigste Ziel neben der Säuberung der Bibliotheken, nämlich die Vertreibung der deutsch-jüdischen und NS-kritischen Intelligenz an den Hochschulen, benannt: „Wir fordern die Auslese der Studenten und Professoren nach der Sicherheit des Denkens im deutschen Geiste.“ Am 19. April wurde die Aktion noch verschärft: Die organisierte Studentenschaft rief zum Boykott jüdischer und andersdenkender Hochschullehrer auf. Dozenten, „die Juden sind oder kommunistischen Organisationen bzw. dem Reichsbanner u.ä. angehört haben“, sollten denunziert werden. Die Hetzjagd ging soweit, dass an den Hochschulen in Königsberg, Rostock, Münster und Dresden zwei Meter hohe „Schandpfähle“ errichtet wurden, an die man die Namen der betroffenen Professoren und verfemte Bücher mit Nägeln anschlug. Parallel zum studentischen Boykott verfügte der preußische Kultusminister Bernhard Rust die Entlassung zahlreicher Professoren. Nobelpreisträger und Wissenschaftler von Weltruf wie Fritz Haber, James Franck, Max Born oder Emmy Noether wurden
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entlassen oder legten aus Protest ihre Lehrämter nieder. Rust begründete seinen Kahlschlag damit, studentischen Ausschreitungen an den Hochschulen vorbeugen zu wollen. Tatsächlich gewährte er den NS-Studenten einen Freifahrtschein: Waren sie vor 1933 noch im Zuge ihrer gewalttätigen Aktionen diszipliniert worden, so wurden solche Strafen am 19. April 1933 per Amnestieerlass kassiert. Auf diese Weise griffen die Gesetze und Erlasse der NS-Regierung und der politische Terror der Studenten wie Zahnräder ineinander, was die Machtdurchsetzung des Nationalsozialismus in den bis dahin traditionell konservativ geprägten Hochschulen beschleunigte. Anfang Mai 1933 setzte reichsweit die Sammelaktion der zur Verbrennung bestimmten Bücher ein. Die Reichsführung der „Deutschen Studentenschaft“ hatte festgelegt, dass im Vorfeld der Bücherverbrennungen die Bestände in Stadt- und Volksbüchereien, privaten Leihbüchereien, Buchhandlungen und Privatbibliotheken durchsucht werden sollten. Ausdrücklich ausgenommen wurden die Staats- und Universitätsbibliotheken, die Studentenschaften z.B. in Kiel und Braunschweig hielten sich aber nicht daran. Welche Bücher sollten jedoch verbrannt werden? Mit dieser Frage waren die studentischen Akteure überfordert und holten sich den sachverständigen Rat eines ihrer Bündnispartner ein. Aus den Reihen des „Verbandes Deutscher Volksbibliothekare“ wurde Anfang April 1933 ein „Ausschuss zur Neuordnung der Berliner Stadt- und Volksbüchereien“ gebildet. Die Federführung im Ausschuss übernahm Dr. Wolfgang Herrmann. Gemeinsam mit den Berliner Stadtbibliothekaren Dr. Max Wieser und Dr. Hans Engelhard erstellte Herrmann zunächst ein Neun-Punkte-Papier mit dem Titel „Grundsätzliches zur Anfertigung von Schwarzen Listen“. Darin wurde festgelegt, dass die Kriterien der Schwarzen Listen „literaturpolitischer Natur“ sein sollten. Es gelte „die fundamentale, für jede politische Entscheidung notwendige Vorfrage: Wer ist der eigentliche Feind? Gegen wen richtet sich der Kampf?“ Im Wesentlichen hatten die Literaturindizierungen folgende Stoßrichtungen: 1. Bücher von Autoren jüdischer Herkunft (z.B. Joseph Roth, Schalom Asch, Jakob Wassermann); 2. marxistische und sozialistische Autoren (z.B. Anna Seghers, Ernst Toller, Karl Grünberg), hierzu zählten auch sowjetische Schriftsteller wie Maxim Gorki, Alexandra Kollontai oder Sergei Tretjakow; 3. pazifistische Autoren, die sich gegen Krieg engagierten oder die Heroisierung des Ersten Weltkrieges anzweifelten (z.B. Bertha von Suttner, Ludwig Quidde, Erich Maria Remarque); 4. sogenannte Autoren der Großstadt, die von den Nationalsozialisten als „Asphaltliteraten“ diffamiert wurden (z.B. John Dos Passos und Alfred Döblin); 5. moderne französische und amerikanische Autoren (z.B. André Gide, Henri Barbusse, Ernest Hemingway, Upton Sinclair, Jack London); 6. Autorinnen, deren Werke das traditionelle weibliche Rollenverständnis in Frage stellten (z.B. Irmgard Keun, Christa Anita Brück, Gina Kaus); 7. kritische Publizisten und Journalisten (wie Theodor Wolff, Georg Bernhard, Carl von Ossietzky); 8. Wissenschaftler wie Sigmund Freud, Magnus Hirschfeld, Max Horkheimer. Schwerer einordnen lassen sich Autoren wie Waldemar Bonsels, der bis heute für seine „Biene Maja“ geschätzt wird, von den Nationalsozialisten hingegen wegen seines Werkes „Menschenwege. Aus den Notizen eines Vagabunden“ verfemt wurde. Liest man jenseits der Schwarzen Listen die Zeitungsberichte über die mehr als 95 Bücherverbrennungen, die 1933 deutschlandweit stattfanden, so findet sich einiges
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Überraschendes. In der Heine-Stadt Düsseldorf verbrannte die Hitlerjugend bereits am 11. April 1933 Heines Gedichtband „Romanzero“. In Berlin, so berichtete der „Würzburger Generalanzeiger“ am 6. Mai 1933, brannten seit Tagen auf den Schulhöfen die Scheiterhaufen: „Bei der Sichtung der Schulbibliotheken wurde u.a. festgestellt, dass die berüchtigte Karl-Marx-Schule in Neukölln 18 Exemplare von Boccaccios Decameron (!!) in ihrer Schulbibliothek hatte, die bei ihrer Entfernung sehr reichen Gebrauch zeigten.“ Und in Offenbach am Main verbrannte am 17. Juni 1933 der „Kampfbund für deutsche Kultur“ die Relativitätstheorie von Albert Einstein. Weder Heine, noch Boccaccio oder Albert Einstein standen auf den Schwarzen Listen von Wolfgang Herrmann. So bildeten die Schwarzen Listen den studentischen Stoßtrupps nur eine grobe Richtschnur, als sie im Vorfeld des 10. Mai 1933 deutschlandweit Buchhandlungen und Leihbüchereien heimsuchten und ihrer wertvollen Buchbestände beraubten. Die öffentlichen Stadt- und Volksbüchereien wurden dazu angehalten, ihre Bestände selbst zu säubern und die ausgesonderten Bücher den Studenten zur Verbrennung zu übergeben. Das ganze Ausmaß der Brutalität der Büchersammelaktion wurde am 6. Mai in Berlin sichtbar, als Studenten der „Hochschule für Leibesübungen“ das vom deutsch-jüdischen Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld gegründete „Institut für Sexualwissenschaft“ stürmten und ausplünderten. Die über zehntausend Bände umfassende, einzigartige Bibliothek aus Hirschfelds Institut wurde vier Tage später auf dem Berliner Opernplatz verbrannt. Entgegen der lange verbreiteten These, Joseph Goebbels sei der Urheber der Bücherverbrennungen gewesen, sind die Historiker sich inzwischen einig, dass die „Deutsche Studentenschaft“ als Dachverband der damals bereits vom NS-Studentenbund dominierten Einzelstudentenschaften die Gesamtaktion im Alleingang durchgeführt hatte. Diese These hat bis heute Gültigkeit, muss jedoch in ihrer Absolutheit korrigiert werden. Die Reichsführung der „Deutschen Studentenschaft“ war nämlich weder willens noch in der Lage, eine derart umfassende Kampagne alleine zu organisieren. Von Anfang an wurde auf die Mithilfe staatlicher Institutionen und vor allem der Parteiorganisationen der NSDAP gesetzt. Unterstützung kam vom Preußischen Kultusministerium, vom Reichspropagandaministerium, von den Polizeibehörden, von der SA, SS, HJ, den Burschenschaften, vom „Kampfbund für deutsche Kultur“, von Volksbibliothekaren und von Professoren mit NSDAP-Parteibuch oder Ambitionen darauf. Nur vor diesem Hintergrund ist die Schlagkraft der „Aktion wider den undeutschen Geist“ und das Ausmaß der Bücherverbrennungen erklärbar. Wichtig ist jedoch die Erkenntnis, dass der aktive Part der Bücherverbrennungen von Angehörigen der jungen „Generation des Unbedingten“ (Michael Wildt) getragen wurde. Während die „Aktion wider den undeutschen Geist“ seit Erscheinen der Studie von Gerhard Sauder 1983 relativ gut erforscht wurde, blieb lange Zeit unberücksichtigt, dass die NS-Bücherverbrennungen keine bloß temporär auf die Tage um den 10. Mai 1933 beschränkte und räumlich auf die Hochschulorte begrenzte Erscheinung waren. Inzwischen ist belegt, dass zwischen März und Oktober 1933 mindestens 95 Bücherverbrennungen stattfanden. Dabei bildeten die studentischen Bücherverbrennungen im Rahmen der „Aktion wider den undeutschen Geist“ zwar einen Schwerpunkt, machten
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mit 30 Autodafés jedoch nur knapp ein Drittel des zu betrachtenden Gesamtphänomens aus. Vielerorts waren die Bücherverbrennungen ein symbolischer Schlussstein derjenigen Maßnahmen und Ereignisse, mit denen in den Wochen und Monaten zuvor die neuen politischen Machtverhältnisse von der zentralstaatlichen auf die kommunale Ebene übertragen wurden. Dabei ging es keineswegs nur um den symbolischen Gehalt der Verbrennungsakte. Dieser war nämlich stets mit materieller Zerstörung und Vernichtung verbunden. Schließlich handelte es sich bei den betroffenen Büchern um öffentliches oder privates Eigentum. Hinzu kommt, dass der Begriff Bücherverbrennung in den meisten Fällen die tatsächlich durchgeführten Vernichtungsakte nur unzureichend beschreibt. Bei Betrachtung der zahlreichen, von den örtlichen Scheiterhaufen erhaltenen Fotografien fällt auf, dass die örtlichen Veranstalter ihre Scheiterhaufen oft mit großem Aufwand ausstaffierten. Neben Wahlplakaten, Schildern, Bildern, Schallplatten und Büsten sind Fahnen und Wimpel auf den Scheiterhaufen zu sehen. Schwarz-rot-goldene Fahnen, die drei Pfeile der SPD- und Gewerkschaftsnahen „Eisernen Front“ und Symbole des „Roten-Frontkämpferbundes“ sind ebenso zu erkennen, wie Plakate, die sich durch die groß gedruckten Ziffern 2 oder 3 als Wahlkampfmaterial der SPD (Liste 2) beziehungsweise KPD (Liste 3) den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 zuordnen lassen. Insbesondere die Verbrennung von Parteisymbolen zeigt, dass es sich bei den Bücherverbrennungen nicht nur um eine kulturpolitische Säuberungsaktion handelte. Die brennenden Scheiterhaufen waren vielmehr das Ergebnis der Zerschlagung des gesamten Spektrums der Opposition gegen den sich stabilisierenden NS-Staat in Kultur, Wissenschaft und Politik. Für den Zeitraum von März bis Oktober 1933 lassen sich drei Phasen von Bücherverbrennungen unterscheiden. Bei der ersten Phase (März-April 1933) handelte es sich hauptsächlich um Bücher-, Zeitungs- und Fahnenverbrennungen im Kontext der Erstürmung sozialdemokratischer Partei- und Verlagshäuser durch die SA und SS. Die zweite Phase (Mai 1933) bezeichnet die Bücherverbrennungen der „Aktion wider den undeutschen Geist“, die vor allem durch den Film- und Tonmitschnitt vom Berliner Opernplatz im kollektiven Gedächtnis präsent geblieben sind. Während der dritten Phase (Mai bis Oktober 1933) kam es noch zu einer Reihe weiterer ortsübergreifender Bücherverbrennungsaktionen, die hauptsächlich von der „Hitlerjugend“ und dem „Kampfbund für deutsche Kultur“ organisiert waren. Anders als die eher spontan durchgeführten Bücherverbrennungen der ersten Phase, die als Begleiterscheinungen des verstärkten politischen Terrors im Nachgang der Reichstagswahlen vom 5. März 1933 auftraten, verliefen die Bücherverbrennungen der zweiten und dritten Phase nach einem ähnlichen Ritual. Den Verbrennungen voraus ging meistens ein Fackelzug, bei dem die beteiligten Organisationen durch die Straßen des jeweiligen Ortes zum Verbrennungsplatz zogen. Dort angekommen wurden „Feuerreden“ gehalten, wobei im Falle der studentischen Bücherverbrennungen Funktionäre des NS-Studentenbundes und Professoren als Redner auftraten. Dann erfolgte die Verbrennung der Bücher, die entweder unter Ausrufung von „Feuersprüchen“ in einen brennenden Holzstoß geworfen wurden oder selbst zu einem Scheiterhaufen aufgeschichtet und entzündet wurden. Vor dem brennenden Scheiterhaufen wurden dann
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weitere Reden gehalten und Lieder gesungen („Horst-Wessel-Lied“, „Volk ans Gewehr“, „Flamme empor“, „Burschen heraus“ und die erste Strophe des „Deutschlandliedes“). In der regionalen und überregionalen Presse wurde dann in den Folgetagen meistens ausführlich über die jeweilige Bücherverbrennung berichtet.
Literatur
Werner Treß
Wolfgang Benz (Hrsg.), Bücherverbrennung Mai 1933 – Geschichte und Wirkung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), 5, S. 397–455. Hermann Haarmann, Walter Huder, Klaus Siebenhaar (Hrsg.), „Das war ein Vorspiel nur …“ Bücherverbrennung Deutschland 1933 (Katalog zur Ausstellung in der Akademie der Künste), Berlin, Wien 1983. Gerhard Sauder (Hrsg.), Die Bücherverbrennung. 10. Mai 1933, München, Wien 1983. Julius H. Schoeps, Werner Treß (Hrsg.), Orte der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933, Hildesheim, Zürich, New York 2008. Julius H. Schoeps, Werner Treß (Hrsg.), Verfemt und Verboten. Vorgeschichte und Folgen der Bücherverbrennungen 1933, Hildesheim, Zürich, New York 2010. Werner Treß, „Wider den undeutschen Geist“. Bücherverbrennung 1933, Berlin 2003.
Buenos Aires-Krawalle (1910) Die Ausschreitungen gegen die jüdische Gemeinde in Buenos Aires im Jahr 1910 sind im Kontext der Gewaltausbrüche gegen die Arbeiterbewegung zu betrachten. Die Einwanderer, die als dringend gebrauchte „Arbeitskräfte“ zum industriellen Wachstum Argentiniens beitrugen, waren auch in der Arbeiterbewegung aktiv beteiligt. Vordergründig ging es ihnen um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Für die argentinische Elite und Regierung stellte die Arbeiterbewegung indes eine Bedrohung dar, da sie sozio-politische Änderungen befürchteten. Zur Diskreditierung werteten die Eliten die Forderungen als „Undankbarkeit ausländischer Agitatoren“, die die „Grundlagen der Nation“ zerstören wollten. Nachdem im November 1902 in Buenos Aires ein Generalstreik ausgerufen wurde, ließ die Regierung das „Residenz-Gesetz“ verkünden. Dieses legte fest, dass alle Ausländer, die „die Zerstörung der sozialen Ordnung“ anstrebten, sofort des Landes verwiesen werden. Mit der Beteiligung osteuropäischer Juden an der Arbeiterbewegung verstärkten sich in den xenophoben Diskursen die antisemitischen Untertöne, in denen die Gleichsetzung der Bezeichnungen „Juden“, „Russen“ und „Agitatoren“ Einzug fand. Am 1. Mai 1909 hatte die argentinische Polizei einen organisierten Arbeiteraufmarsch mit Waffengewalt aufgelöst. Für die Repression des Mai-Umzuges war Oberst Ramón Lorenzo Falcón verantwortlich, der am 14. November 1909 vom russisch-jüdischen Anarchisten Simón Radowitzky ermordet wurde. Die Regierung rief daraufhin den Notstand aus. Der als „jüdisches Attentat“ bezeichnete Anschlag schürte den Hass gegen die jüdische Gemeinde. Neue Gewalttätigkeiten fanden im Mai 1910 statt, anlässlich der Hundertjahrfeier der Unabhängigkeit. Die Gewerkschaften CORA (Sozialist) und FORA (Anarchist) hatten einen Generalstreik proklamiert, um die Abschaffung des „Residenz-Gesetzes“
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Bundeswehrskandal (1977)
und die Entlassung zahlreicher Arbeiter aus dem Gefängnis zu erreichen. Die Befürchtung, dass dadurch die Hundertjahrfeier gestört wird, forderte den Angriff der Polizei und nationalistischer Gruppen heraus. Am 14. Mai überfielen eine Gruppe aus dem Argentinischen Sportverband (Sociedad Sportiva Argentina) und andere Mitglieder der Eliten mit Unterstützung der Polizei Arbeitervereine sowie das jüdische Viertel Once von Buenos Aires. Dabei wurden die Redaktionen der Arbeiterzeitungen „La Vanguardia“ und „La Protesta“ verwüstet. In dieser Nacht rief das Parlament erneut den Notstand aus. Im jüdischen Viertel Once wurden zahlreiche Geschäfte geplündert und Frauen misshandelt. Die Gewaltakte dauerten bis zum 15. Mai, als die Bibliothek des sozialistischen jüdischen Kulturzentrums zerstört wurde. Der russische und jiddische Buchbestand wurde auf dem Platz des Kongresses (Plaza del Congreso) verbrannt. Diese Gewalt gegen die jüdische Gemeinde wird als ein schreckliches Vorspiel der Ausschreitungen in der sogenannten → Semana tragica von 1919 gewertet.
Literatur
María Ximena Alvarez
Daniel Lvovich, Nacionalismo y Antisemitismo en la Argentina, Buenos Aires 2003. Sebastián Marotta, El movimiento sindical argentino, Tomo II, Buenos Aires 1960. Víctor A. Mirelman, En búsqueda de una identidad: Los inmigrantes judíos en Buenos Aires 1890–1930, Buenos Aires 1988. Luis Alberto Romero, Breve historia contemporánea de la Argentina, Buenos Aires 2001. Robert Weisbrot, The Jews of Argentina, Philadelphia 1979.
Bukarester Pogrom → Pogrom in Bukarest (1941)
Bundeswehrskandal (1977) Auf einem Kameradschaftsabend von Offizieren an der Bundeswehrhochschule (BWHS) in München fand am 17. Februar 1977 eine symbolische „Judenverbrennung“ statt, bei der Papierfetzen mit Bemerkungen wie „leg noch einen Juden nach“ ins Feuer geworfen wurden. Dabei sollen auch „Sieg-Heil“-Rufe ausgestoßen und das NSKampflied „Die Fahne hoch“ gesungen worden sein. Acht bis zehn Offiziere waren daran beteiligt. Die Aktion wurde durch das Eingreifen weiterer Offiziere beendet und dem Vorgesetzten gemeldet. Die Hochschulleitung, die nach einer intensiven Befragung der Beteiligten zu dem Schluss kam, bei diesen handele es sich nicht um „überzeugte und unverbesserliche Antisemiten und Nazis“, setzte auf eine interne pädagogische Bearbeitung des Falles. Der Vorfall und das Vorgehen der Verantwortlichen riefen unter den Wissenschaftlern und Studenten der BWHS heftige Diskussionen hervor. Der Vorfall wurde erst Ende September 1977 durch eine Anfrage der „Frankfurter Rundschau“ bei dem nicht informierten stellvertretenden Generalinspekteur der Bundeswehr von Reichert publik, der daraufhin eine Untersuchung anordnete. Neben dem Vorfall selbst wurden die unterlassene Meldung seitens des Hochschulpräsidenten und die interne Behandlung des Falles zu Streitpunkten. Der „Skandal um Leutnants“ löste nach Zeitungsberichten „in politischen und militärischen Kreisen“ Empörung aus. Der Fall gewann seine besondere Brisanz durch den „Fall Rudel“, der die Bundeswehr in den Geruch des Neonazismus brachte. Die Luftwaffe hatte den umstrittenen
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Ex-Oberst der Wehrmacht Ende 1976 zu einem Traditionstreffen eingeladen, woraufhin Verteidigungsminister Georg Leber (SPD) zwei Generäle entließ. Hinzu kamen 1977 neonazistische Umtriebe, Schändungen jüdischer Friedhöfe, sodass im In- und Ausland vor einer „braunen Nostalgie“ gewarnt wurde. Der Verteidigungsminister ordnete eine unverzügliche Untersuchung der Vorfälle an der Hochschule an und forderte einen Bericht des stellvertretenden Generalinspekteurs an. Umstritten blieb in der öffentlichen wie parlamentarischen Diskussion, ob es sich bei diesem Vorfall um einen Einzelfall handelte oder ob er ein Symptom für den Zustand der Bundeswehr bzw. einer allgemeinen gesellschaftlichen Strömung sei. Der Untersuchungsbericht des stellvertretenden Generalinspekteurs bestätigte die bisherigen Berichte über die Vorfälle. Das Verteidigungsministerium ließ daraufhin Verfahren auf fristlose Entlassung gegen sechs Zeitsoldaten einleiten, gegen fünf Berufssoldaten wurden disziplinarische Maßnahmen eingeleitet und die Staatsanwaltschaft wurde eingeschaltet. Diese personellen Entscheidungen wurden von einer öffentlichen und parlamentarischen Debatte über die Rolle und den Zustand der Bundeswehr sowie über Defizite der politischen Bildung in der Truppe sowie generell in der Schulausbildung begleitet. Der Generalinspekteur, General Wust, gab Mitte Oktober die Weisung heraus, dass alle Soldaten sich im staatsbürgerlichen Unterricht für das laufende Quartal vorrangig mit den Themen Nationalsozialismus, Antisemitismus und Rechtsradikalismus befassen sollten, und bekräftigte das Traditionsverständnis der Bundeswehr mit ihrer entschiedenen Abkehr vom Nationalsozialismus und seinen ideologischen Wurzeln. Tatsächlich hatte der Vorfall in der Bundeswehr auch längerfristige Folgen. Die Koblenzer Schule für innere Führung erarbeitete neue Lehrpläne für den politischen Unterricht, und im Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg wurde 1978 eine pädagogische Abteilung eingerichtet, die sich speziell mit der politischen Bildung in der Bundeswehr befassen sollte.
Literatur
Werner Bergmann
Werner Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989, Frankfurt am Main 1997.
Chmielnicki-Pogrome (1648–1649) Die polnischen Adligen, die die Ukraine seit der Union von Lublin 1569 beherrschten, bedienten sich jüdischer Verwalter und betrieben die städtische Peuplierung auch durch die Ansiedlung von Juden aus dem Kerngebiet der Krone Polen. Sie verpachteten manchmal ganze Dörfer an Juden und nutzten sie als Steuereintreiber und Schankwirte. Die Differenzen zwischen den meist katholischen Adligen und der orthodoxen Kirche, die man über die Brester Union von 1596 der päpstlichen Jurisdiktion unterstellen wollte, drückten sich ebenso in jüdisch-gentilen Beziehungen aus wie die sozio-ökonomischen Gegensätze. Da die Adligen zumeist nicht auf ihren ukrainischen Gütern lebten, richtete sich die Gewalt der von Bogdan Chmielnicki geführten Kosaken-, vor al-
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lem aber der Bauerntruppen hauptsächlich gegen die lokalen Juden als Repräsentanten der adligen Besitzer; sie gilt daher als erste umfassende Judenverfolgung in der Ukraine. Die Berichte über die Massaker machten in den westlicheren Teilen Polens und im übrigen Europa die Runde. Ein Flüchtlingsstrom aus den Unruhegebieten erreichte das vom Dreißigjährigen Krieg weitgehend unberührt gebliebene Polen, trug zur Popularisierung der Kenntnis über Massenmorde und Zwangsbekehrungen bei und löste eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Verschiedene Darstellungen kursierten über die Grausamkeiten der Kosaken und bestimmten seitdem das Bild des Geschehens. Im Vordergrund standen dabei Berichte über Gemeinden, in denen besonders viele Juden umgebracht worden waren, wie etwa Niemirów (Nemyriw) im Gebiet Winniza (Winnyzja), wo am 31. Mai 1648 viele einheimische Juden und Flüchtlinge, die in der Festung Zuflucht gesucht hatten und sich nicht zum Christentum bekehren lassen wollten, von Kosaken unter der Führung von Iwan Hansha (Hanža) gefoltert und ermordet wurden. Ähnliches geschah in Tultschin (Tulczyn/Tultschyn) in Podolien am 24. Juni 1648. Daraufhin wandten sich die Kosaken und die Bauern nach Wolhynien, wo unter anderem im Juli 1648 in Połonne/Polonne und im Oktober 1648 in Krzemieniec/Kremjanez unter dem Kosakenführer Maxym Krywonis Massaker stattfanden. In Dutzenden weiterer Orte wurden Teile der jüdischen Einwohnerschaft ermordet. Naturgemäß war die Frage, wie viele Juden 1648 eigentlich umgekommen seien, ein Streitpunkt zwischen den jeweils parteiischen Darstellungen. Dies lag zum einen daran, dass Zahlenangaben in Quellen des 17. Jahrhunderts durchweg kritisch betrachtet werden müssen, zum anderen schwankten die Werte zwischen 6.000 und 670.000. Saul Stampfer kommt mit seinen kritischen Berechnungen auf 18.000 – 20.000 jüdische Tote bei einer angenommenen jüdischen Gesamtbevölkerung von ca. 40.000. Tatsächlich kehrten Juden im Zuge der Verstetigung des polnischen Besitzes in der Ukraine westlich des Dnepr im Teilungsvertrag von Andrusowo vom 30. Januar 1667 wie schon bald nach dem Chmielnicki-Aufstand wieder in die polnisch dominierten Gebiete zurück. In den jüdischen Chroniken der Frühen Neuzeit wurde diese Verfolgung mit denjenigen der biblischen Zeit gleichgesetzt und religiös diskursiv genutzt. Die Figur Chmielnickis wurde dabei zu einem zentralen Feind des Judentums an sich stilisiert. Da andererseits Chmielnicki im Wege der nationalen Traditionsbildung der Ukrainer im 19. und 20. Jahrhundert zu einem der Begründer ukrainischer Staatlichkeit und damit der Nation wurde, geriet der Antagonismus zwischen Juden und Ukrainern zu einer scheinbar gesicherten Komponente der jeweiligen nationalistischen Sichtweisen. Sowohl die in der Ukraine ausgebrochenen Judenpogrome im ausgehenden Zarenreich (1881/82, 1903/06) und im Russischen Bürgerkrieg, der in der Ukraine als Ukrainische Revolution gefeiert wird (1917/1920), als auch die Beteiligung von Ukrainern an der Judenvernichtung der deutschen Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg werden daher gern mit der Chmielnicki-Zeit in Verbindung gebracht und als Axiom der ukrainisch-jüdischen Beziehungen stereotypisiert.
Frank Golczewski
Code Noir
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Literatur
Nahan Nata Hanover, Jawen Mezula [Bodenloser Abgrund]. Schilderung des polnisch-kosakischen Krieges und der Leiden der Juden in Polen während der Jahre 1648–1653. Bericht eines Zeitgenossen, Hannover 1863² (Erstausgabe Venedig 1663). Meir Ben Shmuel MeShebreshin, Bedstvija vremen [Die Katastrophen der Zeiten], Moskva 1859 (Erstausgabe Krakau 1650). Jaroslaw Pelenski, „The Cossack Insurrections in Jewish-Ukrainian Relations“, in: H. Aster, P. Potichnyj (Hrsg.), Ukrainian-Jewish Relations in Historical Perspective, Edmonton 1988, S. 31–42. Joel Raba, Between Remembrance and Denial. The Fate of the Jews in the Wars of the Polish Commonwealth during the mid-Seventeenth Century as shown in Contemporary Writings and Historical Research, Boulder 1995. Moshe J. Rosman, The Lord’s Jews: Magnate-Jewish Relations in the Polish-Lithuanian Commonwealth during the Eighteenth Century, Cambridge 1990. Shaul Stampfer, What actually happened to the Jews of Ukraine in 1648?, in: Jewish History 17 (2003), S. 207–227.
Code Noir Mit dem königlichen Erlass „Code Noir“ und seinen sechzig unter Mitwirkung des Finanzgeneralkontrolleurs Jean-Baptiste Colbert verfassten Artikeln vom März 1685 versuchte Ludwig XIV. in erster Linie den Status der afrikanischen Sklaven sowohl auf zivil- als auch auf strafrechtlicher Ebene neu zu regeln. Trotz dieses Schwerpunkts schreibt Artikel 1 die unbedingte Ausweisung aller Juden aus den französischen Kolonien vor. Damit war das königliche Toleranzedikt vom 23. April 1615 aufgehoben, und die zur Mitte des 16. Jahrhunderts begonnene Toleranzpolitik Frankreichs fand vorerst ihr Ende. Außerdem wurden im Artikel 3 alle Religionen mit Ausnahme der römischkatholischen Kirche verboten. Der „Code Noir“ blieb im Wesentlichen bis 1848 in Kraft. Seit dem Beginn der Toleranzpolitik unter Heinrich II. und dem von ihm 1550 verabschiedeten Patent von „Saint-Germaine-en-Laye“ war es Juden erlaubt, sich in der atlantischen Hafenstadt Bordeaux anzusiedeln, wo sie von Steuern befreit waren und ihren Glauben im privaten Rahmen pflegen durften. Auch für die Handelsstädte Bayonne, Metz und Rouen wurden ähnliche Vereinbarungen Anfang des 17. Jahrhunderts getroffen und eine punktuelle jüdische Besiedelung war die Folge. Die Rechtslage für Juden in Frankreich hatte sich seit dem Mittelalter mehrmals verändert. Auf die erste Ausweisung aus dem Königreich Frankreich 1181 unter Philipp III. folgte 17 Jahre später eine dezidierte Einladung, sich auf der Île de France (Paris) niederzulassen. Juden sollten als Geldverleiher die Macht des Königs stützen und waren diesem gegenüber verantwortlich, ähnlich dem Status Leibeigener. Darüber hinaus waren Juden zum Tragen der „rouelle“ verpflichtet, einem gelben Ring, der meist vorne auf der Kleidung in Brusthöhe anzubringen war. 1306 folgte erneut die Vertreibung und damit verbunden die Konfiszierung jüdischen Besitzes durch König Phillip IV., 1315 rief König Ludwig X. die Juden wieder aus der Verbannung zurück. Sein neuer Plan sah einen auf zwölf Jahre beschränkten Aufenthalt in Frankreich vor. Der Monarch garantierte den Juden in dieser Zeit Steuerbefreiung und seinen persönlichen
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Code Noir
Schutz. Fast achtzig Jahre hielt das Abkommen, bis im September 1394 die neuerliche Exilierung der Juden aus weiten Teilen Frankreichs beschlossen wurde. Um weiterhin in Frankreich siedeln zu dürfen, entschlossen sich einige Juden zur christlichen Taufe, anstatt ins Ausland zu fliehen. Vor allem in den Hafenstädten, in denen Juden erfolgreiche Handelsbeziehungen aufgebaut hatten, kam es zu einer Vielzahl von Übertritten zum Christentum. In Saint-Esprit-les-Bayonne, der Hafenstadt an der Grenze zu Spanien (Navarra), führten Judenverfolgungen 1497 zu Massenkonversionen, die eine eigene Neuchristengemeinde entstehen ließen. Diese vergrößerte sich im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts durch zahlreiche, vor der Heiligen Inquisition Zuflucht suchende portugiesische und spanische Neuchristen. Im selben Zeitraum erlebten die Hafenstädte Bordeaux, La Rochelle, Rouen, Bidache, Labastide-Clairence und Peyerhode eine ähnliche Entwicklung. Durch ihre Seeverbindungen konnten die Neuchristen weiterhin in Kontakt mit ihren ehemaligen sephardischen Glaubensgenossen bleiben, die nach Nordafrika sowie Teile Italiens und dem Osmanischen Reich geflohen waren. Darüber hinaus gelangten zahlreiche neuchristliche Händler aus den französischen Hafenstädten in die neuen französischen Kolonien in Übersee. Neuchristen wurden somit zu einem wichtigen Faktor im französischen Fernhandel. Dieser ökonomische Stellenwert erwirkte im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts eine Reihe von lokalen Ausnahmeregelungen für Angehörige jüdischen Glaubens, so auch ein eingeschränktes Siedlungsrecht in den Überseekolonien. Mit den französischen Eroberungen im karibischen Raum im 17. Jahrhundert (Martinique, Guadeloupe, Saint-Domingue, Cayenne, Dominica u.a.) begannen sich neben den Händlern auch einige Zuckerrohrproduzenten neuchristlicher und jüdischer Herkunft in den neuen Kolonien anzusiedeln. Auf Martinique dauerte dieser Zustand relativer Akzeptanz und Toleranz für jüdische Kolonisten und Händler bis zum Jahr 1683 an. Zum „Schutz“ der christlichen Plantagenbesitzer und Händler wurden Juden auf der Antilleninsel bereits zwei Jahre vor dem „Code Noir“ mit einem Siedlungsverbot belegt. Auf Martinique befanden sich im Jahr des „Code Noir“ noch immer etwa hundert Juden. Die meisten flohen in die niederländischen (Curaçao, Tobago, Essequibo, Pomeroon, Berbice, Suriname) bzw. benachbarten englischen Kolonien (Barbados, Jamaika, Nevis). Der „Code Noir“ hatte innerhalb von nur drei Jahren zu einem massiven Investitionsverlust in den Kolonien geführt und bereits 1688 mussten die Bestimmungen für Juden wieder gelockert werden, wodurch es zumindest jüdischen Händlern möglich war, sich kurzfristig in französischen Kolonien zu Erwerbszwecken aufzuhalten. Trotzdem blieb das allgemeine Siedlungsverbot für Juden bis zum „Code Napoleon“ 1802 bestehen und wurde zum Vorbild für das ab den 1720ern in Neufrankreich und auf Réunion geltende Niederlassungsverbot für Juden.
Literatur
Christian Cwik
Mordechai Arbell, Jewish settlements in the French colonies in the Caribbean (Martinique, Guadeloupe, Haiti, Cayenne), in: Bernardi Paolo, Fiering Norman, The Jews and the Expansion of Europe to the West, 1400–1800, New York 2001, S. 287–313. Danièle Iancu, L’expulsion des Juifs de Provence et de l’Europe méditerranéenne (XVeXVIe siècles): exils et conversions, Paris-Löwen 2005.
Constantine-Ausschreitungen (1934)
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Gerard Nahon, The Portuguese Jewish Nation of Saint-Esprit-les-Bayonne, in: Bernardi Paolo, Fiering Norman, The Jews and the Expansion of Europe to the West, 1400–1800, New York 2001, S. 255–286.
Constantine-Ausschreitungen (1934) Bei den Ausschreitungen vom 3. bis 5. August 1934 in Constantine im Nordosten Algeriens kamen 20 bis 30 Personen ums Leben. Nach Angaben der Behörden fanden sich 23 jüdische und 3 muslimische Personen unter den Todesopfern. Als unmittelbarer Anlass der Ausschreitungen wurde ein Streit ausgemacht, der sich am Abend des 3. August zwischen einem Juden und muslimischen Besuchern einer Moschee entwickelte. Der Streit griff in der Nacht auf Bewohner und Passanten in umliegenden Straßen über, das Einschreiten der Polizei und der Armee verhinderte zunächst eine weitere Eskalation der Ereignisse. Trotz der Intervention von Persönlichkeiten der muslimischen und jüdischen Gemeinde, die sich am Folgetag um eine Beruhigung der Situation bemühten, kam es am Morgen des 5. August zu weiteren Ausschreitungen, in denen sich zunächst Muslime und Gruppen einzelner Juden gegenüberstanden. Angestachelt durch Gerüchte über die vermeintliche Ermordung eines lokalen Führers der islamischen Gemeinde griffen die Ausschreitungen auf andere Stadtteile über, wo sich mehrere Hundert Muslime vor allem aus den verarmten Schichten der Bevölkerung an den Unruhen beteiligten. In mehreren Straßen wurden schließlich die Leichen von Juden gefunden, die während der Ausschreitungen getötet wurden. Dutzende Wohnungen und hunderte Geschäfte von Juden wurden im Laufe des Tages verwüstet. Begünstigt wurden die Ausschreitungen durch die Passivität von Polizei und Armee, die sich erst spät um die Eindämmung der Gewalt bemühten. Die Übergriffe standen für die zunehmenden Konflikte, die sich in den 1930er Jahren zwischen Juden und Muslimen in Constantine, aber auch in anderen Teilen des Landes, entwickelten. Die jüdische Gemeinde der knapp 100.000 Einwohner zählenden Stadt machte zu Beginn der 1930er Jahre etwa 12–13 Prozent der örtlichen Bevölkerung aus. Bis in die 1920er Jahre hinein wurden Ressentiments gegenüber Juden vor allem in der französischen Bevölkerung des Landes geschürt. Wie in Frankreich selbst spielte antijüdische Hetze auch hier in Teilen des politischen Spektrums eine maßgebliche Rolle. Während der ökonomischen Krise in den 1930er Jahren verschlechterte sich das Zusammenleben zwischen den jüdischen und muslimischen Gemeinden, das bisher weitgehend konfliktfrei geblieben war. Während die muslimische Bevölkerung der Stadt besonders von wachsender Arbeitslosigkeit und Verarmung betroffen war, galt die jüdische Bevölkerung als weiterhin wohlhabend und ökonomisch abgesichert. Die dadurch begünstigten Vorbehalte gegenüber der jüdischen Bevölkerung wurden durch die privilegierte Stellung der Juden unter französischer Herrschaft noch verstärkt. Aus Sicht vieler Muslime waren die algerischen Juden Profiteure der Kolonialherrschaft, die von nationalistischen Gruppierungen mit zunehmender Vehemenz bekämpft wurde (→ Crémieux-Dekret).
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Crémieux-Dekret (1870)
In der Forschung wird die Verquickung dieser Entwicklungen als Hintergrund der Ausschreitungen herausgestellt. In der Wahrnehmung vieler Muslime standen die Juden danach sowohl für die sozialen als auch für die politischen Missstände, von denen die muslimische Bevölkerung besonders betroffen war. Begünstigt wurde die Identifikation der Juden mit den Folgen der kolonialen Herrschaft zudem durch die antisemitische Propaganda, die seit 1933 auch von deutschen Stellen in der algerischen Öffentlichkeit befördert wurde. Hinzu kamen Gerüchte, nach denen von offizieller Seite eine verstärkte Einwanderung deutscher Juden geplant würde. Die aus Deutschland geflohenen Juden, so wurde kolportiert, sollten Arbeiten übernehmen, die zuvor von einheimischen muslimischen Arbeitern erfüllt wurden.
Literatur
Götz Nordbruch
Charles-Robert Ageron, Une émeute anti-juive à Constantine (août 1934), in: Revue de l’Occident musulman et de la Méditerranée 13–14 (1973), S. 23–40.
Crémieux-Dekret (1870) Das Crémieux-Dekret vom 24. Oktober 1870 sprach den algerischen Juden neben der französischen Nationalität auch die französischen Bürgerrechte zu. Diese Entscheidung betraf alle Juden und bedurfte keiner individuellen Antragstellung. Das Dekret steht für die Bemühungen Frankreichs, Algerien in das französische Hoheitsgebiet zu integrieren. Der Status der jüdischen und muslimischen Bevölkerung des Landes, das bereits 1834 offiziell annektiert wurde, war in der französischen Öffentlichkeit sehr umstritten, rührte es doch am Selbstverständnis der Nation und den damit verbundenen Konflikten um Fragen von Religion und Staatsbürgerschaft. Bereits in einem 1866 erlassenen Dekret wurde den algerischen Juden und Muslimen die Möglichkeit eingeräumt, auf individueller Basis für die französischen Bürgerrechte zu optieren. Diese Möglichkeit stand allerdings unter der Voraussetzung, sich auch in personenstandsrechtlichen Fragen den säkularen französischen Gesetzen zu unterwerfen. Aus Sicht vieler Muslime stand das Crémieux-Dekret, mit dem die Regelungen des Dekrets von 1866 modifiziert wurden, für die Ungleichbehandlung der jüdischen und muslimischen Bevölkerungsgruppen durch die französischen Behörden. Die Revision des Crémieux-Dekrets zählte zu den wesentlichen Forderungen der rechten französischen politischen Organisationen in Algerien. Im Oktober 1940 wurde das Dekret von der Vichy-Regierung aufgehoben, bevor es im Oktober 1943 vom „Comité français de la Libération nationale“ erneuert wurde.
Literatur
Götz Nordbruch
Richard Ayoun, Le décret Crémieux et l’insurrection de 1871 en Algérie, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 1 (1988), S. 61–87. Benjamin Stora, Les Trois Exils. Juifs d’Algérie, Paris 2006.
Dabru emet
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Dabru emet Am 10. September 2000 wurde „Dabru emet“, eine „jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum“ von vier amerikanischen und kanadischen jüdischen Gelehrten in der „New York Times“ und der „Baltimore Sun“ als einseitige Anzeige veröffentlicht. Die Stellungnahme „Dabru emet“ [Redet Wahrheit], die im Anschluss an ihre Veröffentlichung von vielen weiteren Rabbinern sowie anderen jüdischen Persönlichkeiten unterzeichnet wurde – wobei orthodoxe Unterzeichner in der Minderheit blieben –, stellt in acht Thesen und diesen jeweils folgenden kurzen erklärenden Abschnitten vor, „auf welche Weise Juden und Christen miteinander in Beziehung stehen können“. Angesichts der Tatsache, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf christlicher Seite zahlreiche kirchliche Dokumente zu den christlich-jüdischen Beziehungen veröffentlicht wurden, die einen bemerkenswerten Wandel in der Beurteilung des Judentums und damit auch in der Aufarbeitung christlicher Judenfeindschaft erkennen lassen, wollten die jüdischen Gelehrten den darin offenkundigen christlichen Veränderungen eine „wohl bedachte jüdische Antwort“ folgen lassen. Dabei geht es nicht nur um eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen entsprechenden Reflexionen auf jüdischer Seite, sondern auch um eine Würdigung des christlichen Wandels nach dem Holocaust. Das Dokument ist in jüdischen Kreisen nicht nur auf positive Resonanz gestoßen, sondern wurde auch sehr kritisch und kontrovers rezipiert. Während sich die grundsätzliche Kritik gegen ein Vorgehen richtet, das um des interreligiösen Dialoges willen scheinbar offene Diskussionen über grundlegende Glaubensinhalte vermeide und Unterschiede vernachlässige, bezieht sich die unmittelbare Kritik insbesondere auf die Thesen 1 und 5 des Dokuments. Dass Juden und Christen den gleichen Gott anbeten (These 1), wird infrage gestellt, weil das trinitarische Gottesverständnis nicht mit dem jüdischen Monotheismus vereinbar sei. Die These 5, dass der Nazismus kein christliches Phänomen gewesen sei, wird vor allen Dingen als Exkulpation christlichen und kirchlichen (Nicht-)Verhaltens vor und während der NS-Zeit zurückgewiesen. Der diese These erläuternde Satz: „Wäre den Nationalsozialisten die Vernichtung der Juden in vollem Umfang gelungen, hätte sich ihre mörderische Raserei weitaus unmittelbarer gegen die Christen gerichtet“, wird als ungenaue und irreführende Behauptung hinterfragt, weil sie im Sinne einer moralischen Gleichwertigkeit der tatsächlichen Vernichtung der Juden und der potentiellen Bedrohung von Christen verstanden werden kann. Im Unterschied zur kontroversen Rezeption des Dokuments im amerikanischen und europäischen Judentum wurde die Stellungnahme christlicherseits durchweg positiv aufgenommen und als Beginn einer neuen Phase des jüdisch-christlichen Dialogs verstanden. Dass das Christentum keine Bedrohung mehr für das Judentum und jüdische Menschen darstellt, wie dies „Dabru emet“ nahelegt, ist eine Annahme, der auf jüdischer Seite vor dem Hintergrund der durch das Dokument selbst konstatierten „langen Geschichte des christlichen Antijudaismus und christlicher Gewalt“ verständlicherweise nicht uneingeschränkt zugestimmt werden kann.
Matthias Blum
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Damaskus-Affäre (1840)
Literatur
Hubert Frankemölle (Hrsg.), Juden und Christen im Gespräch über „Dabru emet – Redet Wahrheit“, Frankfurt am Main, Paderborn 2005. Tikva Frymer-Kensky, David Novak, Peter Ochs, David Fox Sandmel, Michael A. Singer (Hrsg.), Christianity in Jewish Terms, Oxford 2000. Rainer Kampling, Michael Weinrich (Hrsg.), Dabru emet – redet Wahrheit. Eine jüdische Herausforderung zum Dialog mit den Christen, Gütersloh 2003.
Damaskus-Affäre (1840) Die „Damaskus-Affäre“ von 1840 markiert einen Einschnitt in den konfessionellen Beziehungen im Osmanischen Reich. Anlass der Affäre war das Verschwinden des Kapuzinerpaters Thomas und dessen Diener Ibrahim Amara am 5. Februar 1840 in Damaskus. Bereits kurze Zeit später richtete sich der Zorn der örtlichen Christen gegen die jüdische Gemeinde, die für den Tod des Paters und dessen Dieners verantwortlich gemacht wurde. Schnell tauchte dabei das Gerücht eines Ritualmordes auf, den die Juden begangen hätten. Eine maßgebliche Rolle in den anschließenden Verfahren gegen dutzende Mitglieder der jüdischen Gemeinde spielte der französische Konsul Ratti-Menton, der die Ritualmordvorwürfe auch in der Öffentlichkeit schürte und Gouverneur Sherif Pasha dazu drängte, gegen die jüdische Gemeinde vorzugehen. Unter Folter bekannten sich einige der verhafteten Juden zu den Vorwürfen. Vier Juden starben an den Folgen der Verhöre. Die Verfolgungen der Damaszener Juden stießen vor allem in der britischen Öffentlichkeit auf Protest. Zusammen mit acht weiteren europäischen Ländern setzte sich Großbritannien für den Schutz der jüdischen Gemeinde ein und erreichte am 6. September 1840 die Freilassung der noch inhaftierten Juden. Am 6. November 1840 bekräftigte der Osmanische Sultan den Schutz der Juden vor Verfolgungen und widersprach dabei auch der Vorstellung, rituelle Morde gehörten zu den religiösen Bräuchen des Judentums. Die Hintergründe der Damaskus-Affäre lagen in der zunehmenden Konkurrenz zwischen Christen und Juden unter osmanischer Herrschaft. Die Protektion der religiösen Minderheiten durch die jeweiligen europäischen Kolonialmächte begünstigte dabei die gezielte Manipulation der interkonfessionellen Beziehungen, um die örtliche Politik zugunsten der eigenen Machtposition zu beeinflussen. Ritualmordvorwürfe gegen Juden waren bis zu diesem Zeitpunkt im Osmanischen Reich weitgehend unbekannt, wurden in der Folgezeit aber immer wieder von Christen, zunehmend aber auch von Muslimen vorgebracht. Der Vorwurf, die Damaszener Juden hätten 1840 einen Ritualmord begangen, wird bisweilen auch heute noch erhoben. So brachte der langjährige syrische Verteidigungsminister Mustafa Tlass 1984 ein Buch heraus, in dem die damaligen Vorwürfe bekräftigt werden.
Götz Nordbruch
Darmstädter Wort
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Literatur
Roland Florence, Blood Libel. The Damascus Affair of 1840, Madison 2004. Jonathan Frankel, The Damascus Affair: „Ritual Murder“, Politics, and the Jews in 1840, Cambridge 1997. Norman A. Stillman, The Jews of Arab Lands. A History and Source Book, Philadelphia 1979.
Darmstädter Wort Im August 1947 traf sich der Bruderrat, das noch bestehende Leitungsorgan der Bekennenden Kirche, in Darmstadt. Unter Mitarbeit des ersten Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau, Martin Niemöller, wurde dort am 8. August 1947 das „Darmstädter Wort“ beschlossen. Es war von dem lutherischen Theologen Hans Joachim Iwand und dem reformierten Theologen Karl Barth, dem Hauptautor der „Barmer Theologischen Erklärung von 1934“, verfasst. Die Autoren thematisierten die Verstrickung der Evangelischen Kirche in den NS-Staat und benannten anders als das → Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 eine aktive Mitschuld der Kirche am NS-Regime. Iwand und Barth wollten eine Restaurierung der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) verhindern und einen Neuanfang markieren. Das schien den Autoren nötig, da sie im Aufbau der EKD eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte vermissten. Entgegen Niemöllers Empfehlung, den Text zuerst dem Rat der EKD zuzusenden und dessen Zustimmung abzuwarten, wurde der Text sofort gedruckt und am 12. August 1947 als Nr. 8 der „Flugblätter der Bekennenden Kirche“ an alle evangelischen Gemeinden, Kirchenbehörden und Landeskirchenbehörden geschickt. Der Rat der EKD konnte sich in der Folge nicht entschließen, das „Darmstädter Wort“ als seine Position zu übernehmen. Der Text entfaltete aber in der DDR, insbesondere in der dortigen Friedensbewegung, eine nachhaltige Wirkung. Vier der sieben Abschnitte beginnen mit dem Satz „Wir sind in die Irre gegangen [...]“. Mit dem Glauben an eine besondere deutsche Sendung und ihrer Befürwortung des Militarismus habe die Kirche dem Nationalsozialismus den Weg bereitet und theologische Legitimation geliefert. Die Kirche habe das Recht zur Revolution verneint, aber die Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen. Mit den Kategorien von Gut und Böse habe sie eine weltanschauliche Frontbildung mit getragen und theologisch untermauert. Schließlich habe die Kirche auch ihren Auftrag, sich für die Armen und Entrechteten zu engagieren, unterlassen und versäumt aus der Kritik am ökonomischen Materialismus zu lernen. Im Vergleich zu anderen Texten dieser Zeit nimmt das „Darmstädter Wort“ die aktive Beteiligung der Kirche an der Etablierung des NS-Herrschaftssystems deutlich in den Fokus. Das „Darmstädter Wort“ wurde von vielen jungen Theologen als Manifest der moralischen Erneuerung eines sozialpolitisch engagierten Protestantismus empfunden und der Abkehr von lutherischer Obrigkeitshörigkeit begrüßt.
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Darquier-Affäre (1978)
Genauso wenig wie das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ erwähnt auch das „Darmstädter Wort“ allerdings die Taten: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden finden im Text mit keinem einzigen Wort eine Erwähnung.
Literatur
Tanja Hetzer
Claudia Lepp und Kurt Nowak (Hrsg.), Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945–1989/90), Göttingen 2001. Hans Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen. Die Schuld der Kirche unterm Hakenkreuz, Köln 1987. Schriftenreihe des Instituts für vergleichende Staat-Kirche-Forschung, Heft 4: In die Irre gegangen? Das Darmstädter Wort in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1994.
Darquier-Affäre (1978) Als Darquier-Affäre wird im Jahr 1978 ein folgenreicher Skandal um ein Interview der französischen Zeitschrift „L’Express“ mit dem von 1942 bis 1944 amtierenden Generalkommissar für Judenfragen Louis Darquier de Pellepoix (1897–1980) bezeichnet, in welchem dieser seine Verbrechen und den Holocaust leugnete. Das Interview berührte damit den problembelasteten Umgang der französischen Gesellschaft mit dem VichyRegime und machte das Phänomen der Holocaustleugnung einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Louis Darquier de Pellepoix, seit Mitte der 1930er Jahre einer der wesentlichen Wortführer der Antisemiten Frankreichs, war 1942 von der Vichy-Regierung zum „Commissaire général aux Questions juives“ (Generalkommissar für Judenfragen) ernannt worden. In dieser Funktion hatte er nicht nur für die ständige Verschärfung der antisemitischen Gesetze des Regimes gesorgt, sondern war auch aktiv als Organisator an Maßnahmen zur „Endlösung“ in Frankreich beteiligt. Allein die von ihm mitorganisierte → Vélodrome-d’Hiver-Razzia vom 16./17. Juli 1942 bedeutete die Deportation und Ermordung von mehr als 12.000 Menschen. Nach der Befreiung Frankreichs 1944 war Darquier nach Spanien geflohen, wo er seither unter dem Schutz spanischer Militärs und der Regierung lebte, obwohl ihn ein französisches Gericht am 10. Dezember 1947 in Abwesenheit wegen „Verständigung mit dem Feind“ (im französischen Recht eine Art Landesverrat) zum Tode verurteilt hatte. 1978 gab Darquier dem Journalisten Philippe Ganier-Raymond von der Zeitschrift „L’Express“ – einem der bedeutendsten und auflagenstärksten französischen Nachrichtenmagazine – ein Interview, das am 28. Oktober 1978 veröffentlicht wurde. GanierRaymond hatte den 81-jährigen Darquier de Pellepoix dafür in dessen Aufenthaltsort in der spanischen Extremadura besucht. Darquier nutzte das Interview vor allem, um die Verantwortung für seine eigenen Verbrechen von sich zu weisen. So behauptete er, die Vélodrome-d’hiver-Razzia sei „von A bis Z“ von René Bousquet, dem damaligen Generalsekretär der französischen Polizei, geplant worden. Er selbst stilisierte sich zum Retter zahlreicher Juden – obwohl er das ganze Interview hindurch nicht mit antisemitischen Auslassungen sparte – und behauptete schließlich, dass die Shoah eine jüdische Erfindung sei: „Ich werde Ihnen sagen, was genau in Auschwitz passiert ist. Man hat vergast. Ja, das ist wahr. Aber man hat Läuse vergast.“ Des Weiteren seien alle
Darquier-Affäre (1978)
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Dokumente, die etwas anderes behaupteten, „jüdische Dokumente“. Er bezichtigte „die Juden“ auch, „Jerusalem zur Welthauptstadt machen“ zu wollen und einen Krieg gewollt zu haben. Dabei gab er sich ganz als französischer Patriot, der wenig – und wenn dann nur konfrontatorischen – Kontakt zu den deutschen Besatzern gehabt haben wollte. Diese Lügen entlarvte der durchweg sehr gut vorbereitete Ganier-Raymond anhand mitgebrachter Dokumente, die Darquier als willfährigen und äußerst engagierten Funktionär zeigen. Die zwei Ziele seiner Arbeit als Generalkommissar beschrieb Darquier so: Erstens „ein wohlweislich humanitäres Ziel: Die Situation der französischen Juden so angenehm wie möglich zu machen“, und zweitens gestand er ein, dass er so viele Juden wie möglich „loswerden“ wollte, jedoch nicht, um sie ermorden zu lassen, sondern indem er „all diese Leute“ weggeschickt habe, „um in ihrer Heimat das zu tun, was sie bei uns zu tun versucht haben“. Auf den Einwand des Journalisten hin, dass es 1942 doch gar kein „jüdisches Vaterland“ gegeben habe, antwortete Darquier, dass man den Juden „ich weiß nicht wo – in Polen [...] irgendwo dort ein Gebiet geben“ wollte und auch er „das Ende des ewigen Juden“ gewollt habe, damit „diese Leute da nach 2000 Jahren nicht mehr überall, wo sie sich befinden, Fremde sind“. Dazu sei die Deportation schon deshalb gerechtfertigt gewesen, weil „diese Fremden […] der Ursprung für all unsere Übel“ gewesen seien. Abschließend danach gefragt, ob er manchmal Schuldgefühle oder Reue empfinde, antwortete Darquier: „Reue wofür? Ich verstehe Ihre Frage nicht.“ Obgleich Darquier bereits 1972 in einem Interview mit „Le Monde“ seine Beteiligung an der Deportation von Juden aus Frankreich abstritt, führte erst das ausführliche Interview mit „L’Express“ 1978 zu einem öffentlichen Skandal (hier gab er die Deportationen allerdings freimütig zu). Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung wurde es bereits Gegenstand einer Debatte in der Nationalversammlung, in der die überwiegende Anzahl der Abgeordneten der Linie des Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing folgte und „L’Express“ wegen der Publikation von „sakrilegischen Texten“ scharf angriff. Auch Premierminister Raymond Barre hob in einem offenen Brief hervor, dass die Medien in Bezug auf die Geschichtsdarstellung aufgrund ihres „Gespürs für Sensationen“ keine „ungebührlichen Akzente“ setzen sollten, die „als Rehabilitierung wahrgenommen werden könnten“. Jedoch war weder das politische noch das gesellschaftliche Echo einheitlich; „L’Express“ wurde selbst von Regierungsvertretern für diesen „Weckruf“ gelobt. Das Interview traf einen wunden Punkt im Umgang der Franzosen mit ihrer eigenen Geschichte zwischen 1940 und 1944: Bezüglich des Vichy-Regimes und seiner Involvierung in den Holocaust, seiner ideologischen Wurzeln, der damaligen Akzeptanz in der Bevölkerung und der fehlenden oder nur zögerlichen juristischen Verfolgung seiner Funktionäre nach 1945 herrschte in der französischen Gesellschaft noch immer ein „Konsens des Schweigens und die kollektive Inszenierung des Vergessens“ (Etienne François) vor. Konnte Darquier im Interview noch wahrheitsgemäß erklären, dass man ihn zwar 1947 zum Tode verurteilt habe („Sie haben nicht anders gekonnt (er lächelt ein wenig)“), er aber seither „ganz königlich in Ruhe gelassen“ worden sei, begann sich dies nun zu ändern: Auch wenn Darquier bis zu seinem Tod 1980 nicht angeklagt wurde, leitete das französische Justizministerium eine Untersuchung gegen ihn ein und
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Décret de Crémieux
stellte einen – von Spanien jedoch abgelehnten – Auslieferungsantrag. Direkt und indirekt hatte die Darquier-Affäre auch Einfluss auf die Verfolgung weiterer ehemaliger Vichy-Funktionäre, sodass seit Anfang 1979 zunehmend Franzosen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurden. Die Publizität von Darquiers Leugnung des Holocaust wurde durch die sich unmittelbar anschließende → Faurisson-Affäre um den Literaturwissenschaftler Robert Faurisson noch verstärkt. Diese begann vier Tage nach Erscheinen des Darquier-Interviews mit Briefen Faurissons an verschiedene Zeitungen, in denen Faurisson schrieb, er hoffe, dass die Worte Darquiers „das breite Publikum endlich entdecken lassen, dass es sich bei den angeblichen Massakern mittels ‚Gaskammern‘ und dem angeblichen ‚Völkermord‘ um ein und dieselbe Lüge handelt“. Eine tiefergehende Verbindung zwischen der Darquier- und Faurisson-Affäre besteht trotz Faurissons Verweisen auf Darquier jedoch nicht. Im Gegensatz zu Faurisson, der gezielt die Publizität des Darquier-Interviews zur Propagierung seines Hauptanliegens – der Negierung des Holocaust – nutzte, verfolgte Darquier vielmehr eine auf die eigene Biografie bezogene entlastende Argumentationsstrategie. Die Verleugnung seines Wissens um das Schicksal der Juden, die auf seinen Befehl hin deportiert worden waren sowie die Verleugnung der diese Befehle belegenden Dokumente war nach der Verjährung seines Todesurteils im Jahr 1968 nötig, um seine bereits 1972 angefragte Wiedereinreise nach Frankreich zu ermöglichen. Diese Anfrage allerdings leugnete Darquier in der Folgezeit ebenfalls. In Frankreich steht das Interview mit Darquier am Anfang rasch aufeinanderfolgender und eng aufeinanderbezogener Affären und gesellschaftlich-politischer Debatten. Insgesamt gilt die Darquier-Affäre als Symptom und Katalysator eines seit den frühen 1970er Jahren vonstattengehenden tiefgreifenden Umbruchs in der Gesellschaft und der politischen Kultur Frankreichs, der letztlich zu einer grundlegenden Neubewertung des Vichy-Regimes und zu einem veränderten Umgang mit der eigenen Vergangenheit führte.
Literatur
Christian Mentel/Bjoern Weigel
Jean Laloum, La France antisémite de Darquier de Pellepoix, Paris 1979. Philippe Burrin, Vichy – Die Anti-Republik, in: Pierre Nora (Hrsg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 134–156. Etienne François, Frankreich und das Vichy-Syndrom, in: Harald Schmid, Justyna Krzymianowska (Hrsg.), Politische Erinnerung. Geschichte und kollektive Identität, Würzburg 2007, S. 185–195. Philippe Ganier-Raymond, „A Auschwitz, on n’a gazé que les poux“. Une interview de Darquier de Pellepoix, ex-commissaire aux Questions juives du gouvernement de Vichy, in: L’Express, 28. Oktober bis 4. November 1978, S. 76–90. Henry Rousso, Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours, Paris 19902. Henry Rousso, Frankreich und die „dunklen Jahre“. Das Regime von Vichy in Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2010.
Deckert-Fall → Fall Deckert Décret de Crémieux → Crémieux-Dekret
Décret Infâme (1808)
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Décret Infâme (1808) Am 17. März 1808 wurden durch Napoleon I. drei Dekrete zur Neuordnung der jüdischen Belange in Frankreich erlassen. Die ersten beiden enthielten Bestimmungen zum Aufbau einer auf regionalen Konsistorien beruhenden zentralistischen Gemeindestruktur, an deren Spitze das „Consistoire Centrale“ in Paris stehen sollte. Aufsehen und bei den Juden Frankreichs Bestürzung erregte jedoch weniger der neue Organisationsrahmen für ihre Gemeindeinstitutionen als vielmehr das dritte Dekret, mit dem die Behörden die wirtschaftlichen Aktivitäten der Juden beschnitten, ihre Mobilität innerhalb Frankreichs reglementierten und sie zum Militärdienst zwangen. Dieses Dekret erhielt von jüdischer Seite schon bald den bezeichnenden Titel eines „Décret Infâme“, führte es doch den Rechtsstatus der Juden partiell auf die Situation zur Zeit der Reformen unter Ludwig XVI. von 1784 zurück und verletzte in mehrfacher Hinsicht die Emanzipationsgesetzgebung von 1791. Das „Décret Infâme“ muss im Kontext des Bemühens Napoleon Bonapartes gesehen werden, die jüdische Bevölkerung Frankreichs institutionell in den Staat einzubinden. Dem „Décret Infâme“ unmittelbar vorausgegangen war auch eine Kampagne judenfeindlicher Politiker des Elsass, die den Kaiser vom schädlichen wirtschaftlichen und moralischen Einfluss der Juden ihrer Region zu überzeugen suchte. Da der Kaiser selbst nicht frei von judenfeindlichen Vorstellungen war, beschloss er, die jüdischen Institutionen Frankreichs – in bewusster Verletzung der seit der Revolution von 1789 verfassungsmäßigen Gleichheit aller Bürger – von Sondergesetzen begleiten zu lassen, die das angeblich schädliche Verhalten gerade der elsässischen Juden gegenüber der Gesamtgesellschaft und ihre damit verbundene soziale Sonderstellung beseitigten sollten. Mit dem „Décret infâme“ wurden die Juden in wichtigen Bereichen ihrer rechtlichen Gleichstellung beraubt. Zahlreiche Schulden wurden mit diesem Erlass einfach für aufgehoben erklärt. So Beträge, die die Juden an Minderjährige, Frauen und das Militär ausgeliehen hatten. Jedes Darlehen, das im Verdacht stand, unter betrügerischen und wucherischen Bedingungen vergeben worden zu sein, wurde ebenfalls annulliert. Die Handelstätigkeit der jüdischen Bürger Ostfrankreichs musste mit einem von der Präfektur des Departements ausgestellten Patent genehmigt werden. Ins Elsass durften keine weiteren Juden einwandern. Jüdischen Bürgern wurde untersagt, sich in einem anderen Departement als dem ihres gegenwärtigen Wohnortes niederzulassen, außer wenn sie sich als Bauern der Landwirtschaft widmeten. Junge jüdische Männer durften sich auch nicht wie ihre christlichen Altersgenossen durch einen Geldbetrag vom Militärdienst freikaufen und einen Ersatzmann benennen, der an ihrer Stelle eingezogen werden sollte. Der Umstand, dass die Bestimmungen bei Wohlverhalten nach zehn Jahren wieder aufgehoben werden konnten und dass nicht automatisch alle Juden diesen diskriminierenden Bestimmungen unterworfen waren, machte die demütigende Entrechtung für die damaligen jüdischen Bürger Frankreichs kaum erträglicher. Schnell wurde deutlich, dass die primär Leidtragenden des Dekrets die elsässischen und lothringischen Juden sein würden. Die Juden Südfrankreichs, jene von Paris und weiterer Regionen des Landes erhielten noch im Sommer die Zusicherung, dass sie nicht von den neuen Bestimmungen betroffen wären. Interventionen zugunsten der Juden Ostfrankreichs blieben jedoch erfolglos.
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Décret Infâme (1808)
Für zahlreiche elsässische Juden bedeutete das „Décret Infâme“ eine weitgehende Enteignung auf der Basis eines Erlasses, der bei weniger autokratischen Verhältnissen als denjenigen unter Napoleon kaum einer staatsrechtlichen Beanstandung standgehalten hätte. Während die reichen Bankiers in Paris und die begüterten und akkulturierten Großkaufleute von Bordeaux die Anwendung des „Décret Infâme“ für ihre Region verhindern konnten, hatten die armen Juden des Elsass 1808 keine Chance, dieses moralische und juristische Unrecht sowie materielle Unheil von sich abzuwenden. Selbst die jüdische Elite in Straßburg hatte nicht genügend Einfluss, um die partielle Aufhebung der Emanzipation der elsässischen Juden zu verhindern. Mit dem „Décret Infâme“ wurde zwar die Emanzipation der Juden im Elsass vorübergehend partiell aufgehoben. Die jüdische Bevölkerung konnte jedoch die Bürgerrechte, die nicht in direkter Beziehung zu den Inhalten des Dekrets standen, mit Aussicht auf Erfolg einklagen. Ein offensichtlicher Missbrauch des „Décret Infâme“ konnte so vermieden werden. Die de iure einschneidenden Bestimmungen des Erlasses scheinen in der Praxis doch stark den tatsächlichen Gegebenheiten des Elsass angepasst worden zu sein. Auch die lokalen Behörden, die sich ansonsten häufig als die Stimme der von den Juden „ausgebeuteten“ Landbevölkerung verstanden, zeigten nicht selten, trotz einer häufig judenfeindlichen Rhetorik im Alltag, dass sie die wichtige Rolle der Juden für eine funktionierende ländliche Wirtschaft sehr wohl erkannt hatten und deshalb vor einem exzessiven Gebrauch des „Décret Infâme“ zurückschreckten. Wenn auch das „Décret Infâme“ mehr auf einer symbolischen denn auf einer faktischen Ebene das alltägliche Leben der elsässischen Juden beeinträchtigte, wurde es von ihnen dennoch als schwer zu tolerierende Maßnahme empfunden. Allein die Existenz dieses diskriminierenden Erlasses entsprach einer faktischen Zurücknahme der eben erst erreichten bürgerlichen Gleichstellung und wurde jüdischerseits als bedrohlicher Präzendenzfall betrachtet. Am 18. März 1818 endete die Dekade, nach deren Ablauf die Notwendigkeit des Dekrets von der Regierung in Paris neu zu beurteilen war. Als der Termin näher rückte, bemühten sich sowohl die Vertreter der jüdischen Gemeinden als auch die den Juden feindlich gesinnten Instanzen im Elsass, einen Entscheid in ihrem Sinne zu erreichen. Vermutlich hätten sich jedoch beide Seiten, Juden wie Judenfeinde, ihre Anstrengungen schenken können. In ihrer Begründung zur definitiven Aufhebung des Erlasses argumentierte die Regierung allein mit dem Umstand, dass das „Décret Infâme“ sich nicht mit der in der Verfassung, der „Charte“ von 1814, garantierten Gleichheit aller Bürger vereinbaren lasse. Darüber hinaus existierten nach Ansicht der Regierung strenge Gesetze gegen den Wucher, die diesen wirksam bekämpfen könnten. Die konstitutionelle Monarchie der Bourbonen wertete 1818 die von ihr in der „Charte“ garantierten Grundrechte der französischen Bürger höher als das vom autokratischen Regime Napoleons auf Grund antisemitischer Vorurteile erlassene Sondergesetz. Das prinzipielle Bemühen des neuen „alten“ Regimes, sich von der Herrschaft Napoleons auch staatsrechtlich abzugrenzen, verhalf den elsässischen Juden im März 1818 zur endgültigen Überwindung ihrer gesetzlich verankerten Sonderstellung.
Daniel Gerson
Demjanjuk-Prozess
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Literatur
Jacques-Olivier Boudon, Napoléon et les cultes: les religions en Europe à l’aube du XIXe siècle, 1800–1815, Paris 2002. Daniel Gerson, Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsass 1778 bis 1848, Essen 2006. Michel Winock, La France et les juifs: de 1789 à nos jours, Paris 2004.
Demjanjuk-Prozess Am 30. November 2009 begann vor dem Landgericht München II der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk. Demjanjuk, gebürtiger Ukrainer, wurde 1941 aus deutscher Kriegsgefangenschaft von der SS rekrutiert, im SS-Ausbildungslager Trawniki in der Nähe Lublins zum Wachmann ausgebildet und anschließend u.a. im Vernichtungslager Sobibor eingesetzt. Nach dem Krieg tauchte er in einem Lager für Displaced Persons unter, ehe ihm 1952 die Emigration nach Amerika gelang. Dort lebte er als Arbeiter bei Ford, bis er in den 1970er Jahren in die Raster der Behörden gelangte und gegen ihn ermittelt wurde. Das Verfahren gegen ihn endete mit dem Verlust der amerikanischen Staatsbürgerschaft und seiner Auslieferung nach Israel. In Israel wurde ein nicht unstrittiger Prozess gegen ihn geführt. Vorgeworfen wurde ihm, als „Iwan der Schreckliche“ in Treblinka extrem grausam gegenüber den Häftlingen gewesen zu sein. Während die Anklage versuchte, das Leid der Opfer in den Mittelpunkt zu stellen und nochmals an die Geschichte des Holocaust zu erinnern, gelang es den beiden Verteidigern, die Identität des Angeklagten zum Hauptthema zu machen. Tatsächlich gab es berechtigte Zweifel an der Übereinstimmung mit „Iwan dem Schrecklichen“. Die Hauptlast lag bei den überlebenden Zeugen des Vernichtungslagers Treblinka, die ihn identifizierten. Die Verhandlung wurde zum Ringen um den Ausweis und andere Dokumente. Gutachter und Experten sagten über Schreibmaschinen, Papierarten und sogar Büroklammern aus. Der Prozess, der sich in die Länge zog, verlor zusehends das Interesse der Öffentlichkeit. Rundfunk und Fernsehen duften dem Prozess beiwohnen und ihn übertragen, was eine Abweichung von der israelischen Justiznorm bedeutete. Doch abgesehen davon handelte es sich um einen fairen und rechtmäßigen Prozess. Die Verteidigung erhielt alle nötige Hilfe des Staates Israel, sich vorzubereiten und Demjanjuk zu verteidigen. Die Richter hatten jedoch mit der doppelten Last zu kämpfen, nicht nur Gerechtigkeit walten zu lassen, sondern auch an die Geschichte des Holocaust zu erinnern und diese Erinnerung wachzuhalten. Nachdem Demjanjuk im Frühjahr 1988 zum Tode verurteilt worden war und in der Todeszelle auf die Vollstreckung des Urteils wartete, tauchten neue Beweise auf und wiesen einen anderen Mann als „Iwan den Schrecklichen“ aus. Demjanjuks Urteil wurde im Juli 1993 durch den israelischen Supreme Court aufgehoben. Der Versuch seitens des israelischen Gerichts, Demjanjuk auch wegen seiner Beteiligung am Betrieb des Vernichtungslagers Sobibor zur Verantwortung zu ziehen, scheiterte schließlich vor dem israelischen Verfassungsgericht. Die Begründung lautete u.a., die Verteidigung Demjanjuks hätte sich bezüglich der Vorwürfe seiner Tätigkeit in Sobibor nicht ausreichend vorbereiten können. Demjanjuk kehrte nach seinem Freispruch zurück in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er in einem weiteren Prozess erneut seine Staats-
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Deportation
bürgerschaft verlor. Nach langen Verhandlungen wurde er im Mai 2009 nach Deutschland ausgewiesen. Der Prozess gegen Demjanjuk in München zieht sich mittlerweile über ein Jahr hin. In über 70 Verhandlungstagen wurden Gutachter und Nebenkläger (knapp 40, größtenteils die überlebenden Familienangehörigen von in Sobibor ermordeten Juden, die aus Westerbork deportiert wurden) gehört. Die Anklage bemüht sich nun, die reine Anwesenheit als Wachmann in einem Vernichtungslager als Mordbeweis festzusetzen. Die Verteidigung argumentiert dagegen mit der Opferrolle sowjetischer Kriegsgefangener und bezweifelt darüber hinaus die Anwesenheit Demjanjuks in Trawniki und in Sobibor. Ähnlich wie im Prozess in Israel wird auch in München im Gerichtssaal lautstark gestritten, provoziert und gebrüllt. Auf zum Teil sehr unsachlicher Ebene gehen sich Verteidigung und Gericht an. Jede Partei versucht ein eindeutiges Bild zu zeichnen, die Anklage von dem skrupellosen, antisemitischen Mörder, die Verteidigung von dem unschuldigen, benutzten Kriegsgefangenen. Das Gericht versucht, objektiv zu entscheiden, was die Wahrheit ist. Die wohl größte Schwierigkeit ist die, dass im deutschen Strafrecht ein Einzeltatnachweis für Mord erforderlich ist, dieser jedoch bei Demjanjuk nicht zu erbringen ist. Während der Angeklagte mit seinen mittlerweile 90 Jahren die Verhandlungen aus einem Bett neben der Richterbank verfolgt, ist nicht abzusehen, wann ein Urteil gefällt wird. Langwierige Dokumenteneinlesungen und immer neue Anträge der Verteidigung ziehen das Verfahren in die Länge. Der vorläufig als letzter angesetzte Verhandlungstag ist der 2. März 2011.
Angelika Benz
Deportation Austreibung und Strafe war jahrhundertelang die wesentliche Absicht von Deportationen. Im 20. Jahrhundert kamen zwei neue Ziele dazu, die Umsiedlung bestimmter ethnisch, religiös, sprachlich definierter Bevölkerungsgruppen, die man mit Begriffen wie Austausch oder Transfer, schließlich „ethnische Flurbereinigung“, zuletzt „ethnische Säuberung“ umschrieb. Die Gewinnung von Arbeitskraft bildete im Zweiten Weltkrieg einen Grund zur Massendeportation. Die Zwangsrekrutierung von Arbeitern für die deutschen Kriegsanstrengungen war mit der Deportation von 2,8 Millionen „Ostarbeitern“ aus der Sowjetunion und von 1,7 Millionen Polen ins Deutsche Reich verbunden; zusammen mit Kriegsgefangenen, Angeworbenen und KZ-Häftlingen befanden sich im Zweiten Weltkrieg über 8 Millionen deportierte „Fremdarbeiter“ in Deutschland. Ab Frühjahr 1944 wurden 100.000 ungarische Juden zur Sklavenarbeit für die deutsche Rüstungsproduktion rekrutiert und deportiert. Die Vertreibung rumänischer Juden aus der Bukowina und Bessarabien nach Transnistrien 1941 und 1942 nahm den Tod der Abgeschobenen durch Hunger und Mord billigend in Kauf: Diese Deportationen enthielten ein neues Element, das der Vernichtung. Der Madagaskarplan war der Prototyp eines solchen Vernichtungsprojekts. Deportation als Methode des Genozids war erstmals im Frühjahr 1915 gegen die Armenier im Osmanischen Reich aus nationalen und religiösen Gründen praktiziert worden:
Djerba-Attentat (Tunesien 2002)
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In Karawanen wurden sie aus der Türkei nach Syrien und ins Zweistromland getrieben, durch Überfälle von Kurden und Aserbeidschanern, durch periodische Massaker in Lagern, durch Hunger und Epidemien wurden bis Herbst 1916 von zwei Millionen deportierten Armeniern schätzungsweise 1,5 Millionen Todesopfer. Enthielt die mörderische Vertreibung der Armenier noch Elemente der Spontaneität, so waren die Deportationen der Juden und der Sinti und Roma im deutschen Herrschaftsgebiet unter nationalsozialistischer Ideologie exakt geplante Aktionen, die nach einer Anfangsphase mit Stationen in Ghettos und Lagern auf polnischem und baltischem Territorium, in denen zunächst die Arbeitskraft der Deportierten ausgebeutet wurde, in der Endphase direkt in Vernichtungsstätten wie Chełmno, Bełżec, Sobibor, Treblinka, Auschwitz und andere führte. Der Zweck dieser Vernichtungslager bestand in der massenhaften Tötung nach Ankunft. Die Ermordung durch Giftgas war die Weiterentwicklung der Tötung durch Pogrom, Massaker und Massenerschießung, die ultimative Perfektionierung des Deportationszieles. Die Evakuierung der Konzentrationslager 1944/1945 durch Todesmärsche bildete die letzte Form nationalsozialistischer Deportation.
Literatur
Wolfgang Benz
Wolfgang Benz (Hrsg.), Vorurteil und Genozid. Ideologische Prämissen des Völkermords, Wien 2010. Israel W. Charny (Hrsg.), Encyclopedia of Genocide, 2 Bände, Santa Barbara 1999.
Djerba-Attentat (Tunesien 2002) Tunesien war seit seiner Unabhängigkeit 1956 besorgt, das Bild eines offenen, toleranten Landes abzugeben, das seine jüdische Minderheit als integralen Bestandteil der nationalen Gemeinschaft betrachtet. Wie in Marokko und im Gegensatz zur Mehrheit der anderen arabischen Staaten, musste die jüdische Bevölkerung Tunesiens tatsächlich nie unter institutioneller Diskriminierung leiden. Allerdings ließen der regionale Kontext mit dem Fortgang des israelisch-arabischen Konflikts, wie auch der innertunesische Kontext, in dem ein Anstieg des Antisemitismus durch die ideologische Hegemonie des arabischen Nationalismus begünstigt wurde, sowie die Wiederkehr einer Religiosität mit stark konservativer Konnotation die jüdische Bevölkerung von gut 100.000 Personen in den 1950er Jahren auf heute weniger als 2.000 zusammenschmelzen. Die Mehrheit der tunesischen Juden lebt in der Hauptstadt, der Rest auf der Insel Djerba im Süden des Landes. Auf dieser Insel befindet sich die Synagoge „La Ghriba“, eines der ältesten jüdischen Gotteshäuser im Mittelmeerraum. Jedes Jahr versammeln sich dort mehrere Tausend Juden tunesischer Herkunft anlässlich einer Pilgerfahrt. Die Synagoge befindet sich in Hara Srira, einem der beiden jüdischen Dörfer von Djerba, sie ist eine der hauptsächlichen Touristenattraktionen der Insel. Die Regierung befürchtet Zwischenfälle so sehr, dass die Synagoge seit langer Zeit ständig von der Polizei überwacht wird. Die tunesische Bevölkerung, die in der Tat sehr stark auf die Situation in Palästina reagierte, agierte ihre Gefühle im Lauf der letzten Jahrzehnte mehr als einmal in antijüdische Akte. Ein Teil der politischen Klasse und der Intellek-
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tuellen vermischt außerdem ohne weiteres Antizionismus mit Antisemitismus und erleichtert so das Amalgam, das die Jugend im Kopf hat, die nichts vom friedlichen Zusammenleben zwischen den verschiedenen Bevölkerungsteilen weiß, das einst existiert hat. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen explodierte am 11. April 2002 ein Tanklastwagen unmittelbar vor dem Gebäude, was 19 Tote und mehr als 30 Verletzte – darunter zahlreiche, mehrheitlich deutsche Touristen – zur Folge hatte. Während die Behörden sehr schnell Maßnahmen zur Abriegelung des Tatorts ergriffen und eine Untersuchung einleiteten, suchten sie mehrere Tage lang Zuflucht in der Darstellung, die Explosion sei ein Unfall gewesen. Diese Version galt allerdings bald als unwahrscheinlich, da Indizien einen Anschlag glaubwürdig erscheinen ließen. Tatsächlich zeigte die Untersuchung schnell, dass es sich um einen Anschlag handelte und dass der Fahrer des Lastwagens – der dabei starb – die Explosion selbst ausgelöst hatte, nachdem er einen mysteriösen Anruf bei einem Verbindungsmann in Europa gemacht hatte. Dieser Fahrer lebte seit vielen Jahren mit seiner Familie in Frankreich, in der Region um Lyon. Einige Tage nach dem Anschlag gab die in London erscheinende arabische Tageszeitung „Al Hayat“ an, ein Kommuniqué erhalten zu haben, das von der „Islamischen Armee zur Befreiung heiliger Stätten“ stammte. Hierin wurde behauptet, ein Nizar ben Mohammed Nawar habe die Mission gehabt, ein Selbstmordattentat als Zeichen der Unterstützung für die Palästinenser zu verüben. „Al Hayat“ präzisierte, dass es sich um eine Al-Qaida nahestehende Gruppe handeln würde. Nach und nach förderten die Ermittlungen der französischen und der deutschen Polizei die Existenz eines weitgefächerten Netzwerks zutage, das Verzweigungen in beiden Ländern hatte, was somit die Richtigkeit der These eines antisemitischen Anschlags, begangen von Anhängern der Al-Qaida, bestätigte. Trotz der Sorgfalt, die die tunesischen Behörden später darauf verwendeten, alle Spuren des Anschlags zu beseitigen, trotz der Wiederaufnahme der Pilgerfahrten und des Besuchs von Touristen, bestätigte der Anschlag auf die Synagoge „La Ghriba“ das nahende Ende einer jahrhundertealten jüdischen Gemeinde auf heute islamischem Boden.
Sophie Bessis
Übersetzung aus dem Französischen von Bjoern Weigel
Dorohoi-Pogrom → Pogrom in Dorohoi (1940)
Dreyfus-Affäre Die Dreyfus-Affäre gilt als einer der größten Justizskandale der französischen Geschichte. Zwischen 1898 und 1906 spaltete die Affäre ganz Frankreich in zwei Lager und führte noch lange darüber hinaus zu einer Reihe einschneidender politischer und sozialer Veränderungen. Die Affäre gilt des Weiteren als Kulminationspunkt der Geschichte des französischen Antisemitismus. Am Beginn der Ereignisse stand der 25. September 1894: Eine Putzfrau leerte den Papierkorb des Militärattachés Max von Schwartzkoppen in der deutschen Botschaft in Paris. Dort fand sie einen an Schwartzkoppen adressierten, zerrissenen Brief ohne Ab-
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sender, der als bordereau [Lieferschein, Begleitbrief] Geschichte machen sollte: Er stellte seinem Empfänger zahlreiche geheime, militärische Informationen in Aussicht. Die Frau, angeblich eine französische Agentin, übergab die Reste des bordereau dem Nachrichtenbüro des Kriegsministeriums. Dort setzte man das Schriftstück zusammen und begann mit graphologischen Untersuchungen, um den Verfasser zu finden. Den vermutete man aufgrund der im Brief angebotenen Informationen im Generalstab, wo die Suche nach einem Schuldigen begann. Ohnehin vorherrschende antisemitische Tendenzen im französischen Generalstab führten dazu, dass der „Schuldige“ schnell gefunden war: Alfred Dreyfus, ein elsässischer Hauptmann der Artillerie jüdischen Glaubens, sollte es gewesen sein, der den Deutschen geheime Informationen über ein neues Waffensystem zuspielen wollte. Mit seiner vom Kriegsgericht in Rennes einstimmig beschlossenen Verurteilung wegen Landesverrats am 22. Dezember 1894 – Dreyfus bekam die Höchststrafe: Degradierung und lebenslange Verbannung – schien der Fall zunächst erledigt. Dass Deutschland jegliche Spionage und vor allem jeglichen Kontakt zu Dreyfus abstritt, erschien in Frankreich nur als weiterer Beweis der Richtigkeit seiner Verurteilung. Die Öffentlichkeit hatte jedoch von den offenkundigen Mängeln des Prozesses kaum etwas erfahren: Der Prozess war unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt worden und der Schuldige stand bereits von vornherein fest. Die Anklage konnte kein glaubhaftes Motiv präsentieren, durfte auch den bordereau nicht veröffentlichen (denn das hätte bedeutet, Deutschland Spionage vorzuwerfen) und fälschte zahlreiche Beweisstücke. Hinzu kam, dass viele französische Zeitungen – allen voran „La libre parole“ des berüchtigtsten französischen Antisemiten Édouard Drumont – vorhandene antisemitische Einstellungen in der Gesellschaft nutzten, um Dreyfus als Schuldigen zu präsentieren. „Dass Dreyfus Verrat begangen hat schließe ich aus seiner Rasse“, ließ z.B. der konservative Schriftsteller Maurice Barrès verlauten. Ein großer Teil der Franzosen dachte genauso. Im Januar 1895 wurde Dreyfus degradiert und im April auf die als Strafkolonie genutzte Teufelsinsel, 13 km vor der Küste Französisch-Guyanas, gebracht, wo er in Einzelhaft lebte. Zunächst bemühten sich die Familienangehörigen, den Dreyfus-Prozess neu aufzurollen. Als der neue Chef des Nachrichtenbüros (und spätere Kriegsminister von 1906–1909) Marie-Georges Picquart im März 1896 den in Geldnöten steckenden Generalstabsoffizier Ferdinand Walsin-Esterházy als den wahren Spion, Verräter und Verfasser des bordereau entlarven konnte und dies auch dem französischen Staatspräsidenten Félix Faure in einer Denkschrift mitteilte, begann die eigentliche Dreyfus-Affäre: Hochrangige Militärs fälschten neue „Beweise“ gegen Dreyfus, versuchten, Picquart mundtot zu machen (er wurde 1897 nach Nordafrika versetzt) und protegierten Esterházy. Dieser wurde zwar Anfang 1898 offiziell angeklagt, jedoch sofort freigesprochen, weil eine Verurteilung das Eingeständnis bedeutet hätte, dass Dreyfus zu Unrecht verurteilt worden war. Der Freispruch Esterházys machte die Unglaubwürdigkeit seines Prozesses offenkundig und ließ starke Zweifel an der Verurteilung Alfred Dreyfus’ laut werden. Zwei Tage nach dem Esterházy-Freispruch veröffentlichte Émile Zola in der Zeitschrift „L’Aurore“ am 13. Januar 1898 seinen berühmt gewordenen offenen Brief an Präsident Faure: „J’accuse... !“ [Ich klage an]. Hierin sprach er erstmals vom „unausstehlichen
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Dreyfus-Affäre
Antisemitismus, an dem das große liberale Frankreich der Menschenrechte sterben wird“ und nannte die Verurteilung Dreyfus’ das Verbrechen, das dazu führen werde. Die Wahrheit bahne sich ihren Weg, mahnte Zola, und legte den Finger in die Wunde, die es dem Generalstab unmöglich machte, die Wahrheit auszusprechen: Der ganze Generalstab, mit Ausnahme von Picquart, bis hoch zum Kriegsminister war in die Affäre verstrickt. Die Wahrheit zu sagen hätte bedeutet, sich selbst, den Generalstab und den Kriegsminister krimineller Handlungen zu überführen. Vor allem konservative Politiker, antisemitisch eingestellte Katholiken und die Armeeführung wandten sich scharf gegen Zola, der viele Republikaner und Sozialisten sowie viele derjenigen hinter sich hatte, die nun verächtlich „Intellektuelle“ genannt wurden. Zola wurde in einem politischen Prozess wegen „Diffamierung“ zu einer Haft- und Geldstrafe verurteilt, floh jedoch nach London. Die Dreyfus-Affäre spaltete – nicht zuletzt aufgrund von Zolas Brief – die französische Gesellschaft bis in die Familien hinein und löste sich zunehmend von der Person Alfred Dreyfus’. Die „Dreyfusards“, die auf einer rechtsstaatlichen Behandlung des Falles bestanden, standen den „Antidreyfusards“ gegenüber, die die „Opferung“ des Hauptmanns einem Verlust der Autorität von Militär und Justiz vorzogen und/oder offen antisemitischen Gelüsten freien Lauf ließen. Die 1898 von Dreyfusards gegründete „Ligue française pour la défense des droits de l’homme et du citoyen“ bemühte sich um eine Revision des Dreyfus-Prozesses, die schließlich auch nötig wurde, als die „belastenden Dokumente“ als Fälschungen entlarvt wurden. In dem neuen Prozess wurde Dreyfus 1899 vom Kriegsgericht in Rennes unter mildernden Umständen erneut verurteilt. Um den öffentlichen Druck – auch aus dem Ausland – abzumildern, bot der neue französische Präsident Émile Loubet Dreyfus die sofortige Begnadigung an, wenn dieser auf eine Revision verzichtete. Am 15. September 1899 nahm Dreyfus an. Staatskrisen, wie der geplante Militärputsch der Antidreyfusards nach dem Tod Félix Faures im Februar 1899, oder die streng antijudaistische Haltung der katholischen Kirche, die letztendlich die Mehrheit der Franzosen für eine strikte Säkularisierung des Staates (vollendet per Gesetz im Dezember 1905) eintreten ließ, veränderten das gesellschaftliche Gefüge Frankreichs nachhaltig. Für laizistische Positionen plädierte auch Theodor Herzl in seinem Buch „Der Judenstaat“ (1896), das er unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre und als Beobachter des ersten Dreyfus-Prozesses geschrieben hatte. Nachdem 1902 erstmals eine linke Regierung in Frankreich an die Macht kam, ordnete Kriegsminister Maurice Berteaux 1905 die Revision des Dreyfus-Prozesses an. Dieser endete 1906 mit einem Freispruch für Dreyfus. Der vollständigen Rehabilitierung des Hauptmanns folgten seine Wiederaufnahme in die Armee, seine Beförderung zum Major und die Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion. Noch einmal wurde Frankreich von einer beispiellosen Welle des Antisemitismus erschüttert, so z.B. bei der Überführung der Gebeine Émile Zolas in den Pariser Panthéon (1908), bei der ein rechtsradikaler Journalist auf den anwesenden Dreyfus schoss und ihn am Arm verletzte. Alfred Dreyfus starb ohne großes öffentliches Aufsehen 1935.
Bjoern Weigel
Eichmann-Prozess (1961)
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Literatur
Vincent Duclert, Alfred Dreyfus. L’Honneur d’un patriote, Paris 2006. Vincent Duclert, Die Dreyfus-Affäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhaß, Berlin 1994. Julius H. Schoeps, Hermann Simon (Hrsg.), Dreyfus und die Folgen, Berlin 1995. Émile Zola, L’Affaire Dreyfus. La vérité en marche, Paris 1969.
Eichmann-Prozess (1961) Adolf Eichmann war seit 1934 innerhalb des Sicherheitsdienstes der SS mit „Judenfragen“ beschäftigt, ab Dezember 1939 als Referatsleiter IV D 4 (Auswanderung und Räumung) und später IV B 4 (Judenangelegenheiten und Räumung) im Reichssicherheitshauptamt. In dieser Funktion organisierte er während des Zweiten Weltkrieges mit wenigen Mitarbeitern die → Deportation der Juden aus dem deutschen Einflussbereich Europas in die Konzentrationslager, Ghettos und Vernichtungslager. Nach dem Krieg wurde Eichmann verhaftet und kam in ein Internierungslager, aus dem er 1946 entwich. Später lebte er unter falschem Namen in Argentinien. Im Mai 1960 entführte ihn der israelische Geheimdienst von dort nach Israel. Der Hauptorganisator des Massenmords sollte dort aufgrund des 1950 erlassenen Gesetzes zur Bestrafung von Nationalsozialisten und ihren Kollaborateuren vor Gericht gestellt werden. Nach umfänglichen Verhören und Voruntersuchungen eröffnete am 10. April 1961 der israelische Generalstaatsanwalt Gideon Hausner mit der Verlesung der 15 Anklagepunkte in der Strafsache 40/61 den Eichmann-Prozess vor dem Bezirksgericht Jerusalem unter dem Vorsitz von Richter Moshe Landau. Hausner, der seine Anklage auf die Beweiskraft von über 100 Zeugen und 1.648 Dokumenten stützen konnte, bezichtigte Eichmann der „Verbrechen gegen das jüdische Volk“ und anderer, seit den → Nürnberger Prozessen international anerkannter Straftatbestände wie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen“. Die Verteidigung stellte wegen der illegalen Entführung Eichmanns und der erst nach der Straftat geschaffenen gesetzlichen Grundlage für ihre Bestrafung die Zulässigkeit des Eichmann-Prozesses grundsätzlich in Frage. Außerdem bezweifelte sie das Recht des Staates Israel, Verbrechen, die vor seiner Gründung begangen worden waren, zu bestrafen. Auch stellte sie die Eignung jüdischer Richter in Frage, im Eichmann-Prozess objektiv verfahren und urteilen zu können. Das Gericht wies die Einwände zurück und betonte u.a., dass die Verbrechen Eichmanns nach allgemeiner Meinung schon zur Tatzeit und auch nach deutschem Recht strafwürdig gewesen seien. Auch sei die Einbindung der Richter in ihre jeweilige Gesellschaft ein generelles Problem und kein spezifisch israelisches, somit auch kein stichhaltiger Ablehnungsgrund. Die Richter sahen schließlich in der Bestrafung von Verbrechen gegen das „jüdische Volk“ ein Gründungsziel des Staates Israel. Die Beweisaufnahme enthüllte die vielfältigen persönlichen Verstrickungen Eichmanns in die Organisation der Massentötung von Juden aus fast ganz Europa. So hatte er im Januar 1942 als rechte Hand Heydrichs das Protokoll der → Wannsee-Konferenz geführt, hatte sämtliche Vernichtungslager von Chełmno und Auschwitz bis zu den Lagern der „Aktion Reinhardt“ inspiziert und die dortigen Verhältnisse gebilligt und noch
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Eichmann-Prozess (1961)
1944 in Himmlers Auftrag persönlich die Deportation der ungarischen Juden nach Auschwitz organisiert. Eichmann, der bereits vor Kriegsende und aus eigener Kenntnis die Zahl der während des Holocaust ermordeten Juden mit sechs Millionen angegeben hatte, erklärte sich in allen Anklagepunkten für unschuldig. Seine Verteidigung bemühte sich, den typischen Schreibtischtäter, der bei keiner Mordaktion persönlich Hand angelegt hatte, als kleines Rädchen im Getriebe des Vernichtungsapparates der SS darzustellen, der nur die ihm erteilten Befehle pflichtgetreu ausgeführt habe. Eichmann selbst unterstrich mit seinem Auftreten, vor allem durch seine beflissene Mitarbeit während des Prozesses, den von der Verteidigung beabsichtigten Eindruck absoluter persönlicher Subalternität, die die Philosophin Hannah Arendt als Prozessbeobachterin veranlasste, ihr Buch über den Eichmann-Prozess mit dem vielfach missverstandenen Untertitel „Von der Banalität des Bösen“ zu versehen. Das Jerusalemer Gericht zog aus dem erdrückenden Beweismaterial der Anklage die strafrechtlich relevanten Schlüsse, dass Eichmann eine wesentliche und aktive Rolle bei der Durchführung des Judenmords gespielt habe und bei der Ausführung von verbrecherischen Befehlen mit größtem persönlichen Einsatz vorgegangen sei. Eichmann wurde in allen Anklagepunkten schuldig gesprochen und am 15. Dezember 1961 zum Tod durch Erhängen verurteilt. Nach Ablehnung der Berufung durch den Obersten Gerichtshof des Staates Israel (29. Mai 1962) und einer Begnadigung durch Israels Staatspräsident Yitzhak Ben Zvi wurde er am 1. Juni 1962 hingerichtet, seine Asche ins Meer gestreut. Die Wirkung des Eichmann-Prozesses auf die Weltöffentlichkeit war beträchtlich. Für die öffentliche Meinung in Israel bedeutete Eichmanns Bestrafung einen Sieg der Gerechtigkeit zu einer Zeit, in der das Schicksal des Staates angesichts der Bedrohung durch die arabischen Nachbarstaaten noch ungewiss war. Israels Jugend erhielt erstmals ein detailliertes und umfassendes Bild der jüngsten Geschichte der Juden in Europa, das prägend war für die Vorstellung von einem wehrhaften Israel, aber auch für das Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland. In Deutschland wiederholten sich teilweise die bereits während der Nürnberger Prozesse geführten Diskussionen über die Schuld der Deutschen an den Verbrechen des Dritten Reiches. Der Anstoß, den die wissenschaftliche Erforschung des Nationalsozialismus und der jüdischen Geschichte, speziell in der Zeit des Holocaust, durch den Eichmann-Prozess erhielt, wirkte sich in den Jahren nach dem Prozess auch auf die Öffnung von Archiven und die Zusammenarbeit mit den deutschen Justizbehörden aus, die Schuld der Täter gründlicher zu ahnden, als es die deutschen Gerichte und Spruchkammern der ersten Nachkriegsjahre zu tun vermochten.
Literatur
Hermann Weiß
Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, München 1964. Bruce L. Brager, The trial of Adolf Eichmann: The Holocaust on trial, San Diego 1999. David Cesarani, Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder – Biografie, Berlin 2004. Christian Gerlach, The Eichmann Interrogations in Holocaust Historiography, in: Holocaust and Genocide Studies 15 (2001), 3, S. 428–453. Haim Gouri, Facing the glass booth. The Jerusalem trial of Adolf Eichmann, Detroit 2004.
Einsatzgruppen
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Jochen von Lang, Das Eichmannprotokoll. Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre, Frankfurt am Main u.a. 1985. Avner L. Less, Schuldig. Das Urteil gegen Adolf Eichmann, Frankfurt am Main 1987.
Einsatzgruppen Für den Vollzug des Judenmords in der deutsch besetzten Sowjetunion werden gemeinhin die Einsatzgruppen als mobile, nach dem Vorbild des Reichssicherheitshauptamts organisierte „Truppe des Weltanschauungskrieges“ verantwortlich gemacht. Der Ursprung dieser Sondereinheiten der Sicherheitspolizei und des SD liegt in dem schon in den Vorkriegsmonaten („Anschluss“ Österreichs, Zerschlagung der Tschechoslowakei) von Himmler und Heydrich angewandten Konzept der radikalen Gegnerbekämpfung mittels rascher sicherheitspolizeilicher „Befriedung“ neu hinzugewonnener Einflussgebiete begründet, das die deutsche Okkupationspolitik in Europa in je nach Region unterschiedlicher Form bis Kriegsende prägte und an dessen Durchsetzung neben den Einsatzgruppen eine Vielzahl von Einheiten der Polizei, der SS und der Wehrmacht beteiligt waren. Am Vorabend des deutschen Angriffs auf Polen betraute der bald darauf zum Chef des Reichssicherheitshauptamts ernannte Heydrich die ihm unterstellten Einsatzgruppen mit der „Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindlichen Elemente in Feindesland rückwärts der fechtenden Truppe“. Aufgrund der vorangegangenen Erfahrung von SS und Polizei im Umgang mit „Reichsfeinden“ erwies sich diese vage Formel unter den Bedingungen des Krieges als hinreichend, um den sieben verschiedenen Armeekorps der Wehrmacht zugeordneten Einsatzgruppen die Legitimation für die Erschießung von Angehörigen der polnischen Führungsschicht und von Juden zu liefern. Vereinzelte Proteste aus Kreisen der Armeeführung am Vorgehen der Einsatzgruppen blieben aufgrund der von Wehrmachtseinheiten eigenverantwortlich an Zivilisten verübten Gräuel sowie des raschen Übergangs zur Zivilverwaltung ohne nachhaltige Wirkung. Sie trugen aber dazu bei, Heydrich zum Erlass klarerer Verhaltensmaßregeln für die nachfolgenden Feldzüge zu bewegen, wobei die Härte der anvisierten Maßnahmen wesentlich vom Einsatzort und den spezifischen Zielen deutscher Besatzungspolitik abhing. Während Heydrich die für Norwegen vorgesehenen Einsatzgruppen im Frühjahr 1940 zur „korrekten“ Durchführung ihrer Aufträge ermahnte, dehnte er ein Jahr später die Definition der „Reichsfeinde“ für den Balkanfeldzug explizit auf Kommunisten und Juden aus. In der Planungsphase zum „Unternehmen Barbarossa“, dem Überfall auf die Sowjetunion, ermöglichte es das Interesse der Wehrmachtsführung an der Sicherung des Operationsgebiets sowie Hitlers Ermächtigung an Himmler zur Durchführung von „Sonderaufgaben im Auftrage des Führers, die sich aus dem endgültig auszutragenden Kampf zweier entgegengesetzter politischer Systeme ergeben“, den Führern der vier Einsatzgruppen größeren Freiraum bei der Umsetzung allgemein gehaltener Rahmenrichtlinien zu gewähren. Dies erwies sich aus der Sicht der Berliner Zentrale als umso sinnvoller, je stärker die Situation am Einsatzort selbständiges sicherheitspolizeiliches Handeln erforderte. Entsprechend der Angriffsgliederung der Wehrmacht waren die Einsatzgruppen den Heeresgruppen Nord (A unter Walter Stahlecker), Mitte (B unter
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Einsatzgruppen
Arthur Nebe) und Süd (C unter Otto Rasch) bzw. (D unter Otto Ohlendorf) dem im äußersten Süden der Front eingesetzten Armee-Oberkommando 11 zugeordnet und im Interesse größtmöglicher Mobilität in kleinere Untereinheiten („Einsatzkommandos“, „Sonderkommandos“, „Vorkommandos“) aufgeteilt. Ihre personelle Stärke schwankte jeweils zwischen 600 (D) und 1.000 Mann (A). Aus den Reihen der Ordnungspolizei und Waffen SS wurden die Einsatzgruppen wesentlich verstärkt. Das Führungspersonal war vom Reichssicherheitshauptamt ausgewählt worden; erfahrene SD-Offiziere fanden besondere Berücksichtigung. Die von einigen Angehörigen der Einsatzgruppen nach dem Krieg vertretene und von der historischen Forschung lange Zeit geteilte These, vor Angriffsbeginn sei die Übermittlung eines Führerbefehls zum Mord an den Juden erfolgt, lässt sich weder mit überlieferten zeitgenössischen Dokumenten noch anhand des Gangs der Ereignisse hinreichend stützen. Die in der Sowjetunion eingesetzten Einsatzgruppen begannen unmittelbar nach Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ mit Exekutionen, gingen aber erst allmählich zur unterschiedslosen Erschießung aller Juden über. Im Kontext des von deutscher Seite als Vernichtungskrieg konzipierten Feldzugs operierten die Einsatzgruppen Seite an Seite mit der Wehrmacht, die selbst tief in den Mord an Zivilisten – Juden, Kommunisten, „Zigeuner“, behinderte Anstaltsinsassen – und Kriegsgefangenen involviert war. Träger der mörderischen Dynamik waren neben den „regulären“ Einsatzgruppen kleinere, im Grenzbereich zur Sowjetunion zusammengestellte Einheiten wie das in Litauen operierende „Einsatzkommando Tilsit“ und Kommandos des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD in Krakau (später Einsatzgruppe zur besonderen Verwendung/ E.z.b.V.). Mit der Etablierung der Zivilverwaltung auf dem okkupierten Territorium der Sowjetunion unter dem Reichsminister für die besetzten Ostgebiete stellten die Einsatzgruppen weitgehend das Personal der Dienststellen des Befehlshabers bzw. Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD, denen der Vollzug der Judenpolitik oblag. Die Zahl der Opfer, die durch Massenerschießungen und Vergasungen unter Beteiligung der Einsatzgruppen auf dem Gebiet der besetzten Sowjetunion ermordet wurden, wird auf weit über 500.000 geschätzt. Während die Tätigkeit der Einsatzgruppen im Rahmen des „Unternehmens Barbarossa“ vergleichsweise gut dokumentiert ist und als Folge des Nürnberger Einsatzgruppenprozesses ( → Nürnberger Prozesse) schon frühzeitig bekannt wurde, gehört die Involvierung von mobilen Einheiten der Sicherheitspolizei und des SD in Verbrechen in anderen Teilen des deutschen Einflussgebiets wie Kroatien, Rumänien, Ungarn, Slowakei, Frankreich und Luxemburg aufgrund der Quellenlage bisher zu den wenig erforschten Themenkomplexen.
Literatur
Jürgen Matthäus
Peter Klein (Hrsg.), Die Tätigkeits- und Lageberichte und die Einsatzbefehle der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1941/42, Berlin 1997. Helmut Krausnick, Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942, Stuttgart 1981. Klaus-Michael Mallmann u.a. (Hrsg.), Die Ereignismeldungen der Einsatzgruppen, Band 1, Darmstadt 2011. Ralf Ogorreck, Die Einsatzgruppen und die „Genesis der Endlösung“, Berlin 1996.
EKD-Erklärung zur Judenfrage (1950)
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Richard Rhodes, Die deutschen Mörder. Die Einsatzgruppen und der Holocaust, Bergisch Gladbach 2004.
EKD-Erklärung zur Judenfrage (1950) Auf ihrer Synode in Berlin-Weißensee nahm die Evangelische Kirche (EKD) Ende April 1950 mit der Erklärung „Ein Wort zur Judenfrage“ Stellung zur nationalsozialistischen Judenverfolgung. Der Rat der EKD hatte keine Debatte zu diesem Thema vorgesehen, obgleich er viele Anfragen und Vorschläge dazu erhalten hatte. Entscheidender Auslöser waren die antisemitischen Ausschreitungen, die im Vorfeld jener Synode geschahen. Während des Prozesses gegen den Regisseur Veit Harlan, der u.a. wegen seines im Dritten Reich gedrehten antisemitischen Films „Jud Süß“ angeklagt war ( → Harlan-Debatte), gab es antisemitische Tumulte und Grabschändungen auf jüdischen Friedhöfen. Bundesinnenminister Gustav Heinemann, der gleichzeitig Präses der EKD-Synode war, missbilligte diese Ausschreitungen am 15. April im Nordwestdeutschen Rundfunk scharf. Daraufhin entwarf der Theologe Heinrich Vogel spontan das „Wort zur Judenfrage“ in acht Punkten, das am 27. April 1950 mit einigen Änderungen von der EKD in Berlin-Weißensee angenommen wurde. In dieser Erklärung heißt es unter Punkt 4: „Wir sprechen es aus, dass wir durch Unterlassen und Schweigen vor dem Gott der Barmherzigkeit mitschuldig geworden sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen wurde.“ Während in früheren Bekenntnissen noch von „Verwerfung“ und „Verfluchen“ des Volkes Israel im Zusammenhang mit dem Holocaust die Rede war, sprach die EKD hier nun, wenn auch verklausuliert, von einer Mitschuld und verpflichtete alle Christen, sich dem Antisemitismus zu widersetzen. Erstmals wurde auch auf eine Aufrechnung dessen verzichtet, was den Deutschen widerfahren war. Der ursprüngliche Entwurf von Vogel ging allerdings viel weiter; es hieß zunächst: „Wir bekennen uns zu der Schuld der Deutschen, die vor dem Gott der Barmherzigkeit durch den Massenmord an den Juden handelnd oder schweigend schuldig geworden sind.“ Einige Synodalen, wie etwa der Präses der bayerischen Landeskirche, Hans Meinzolt, lehnten diese Formulierung ab. Meinzolt wollte sicherstellen, dass sich damit nicht etwa materielle Forderungen an die Kirche begründen ließen. Hier wird deutlich, dass die Mehrheit in der EKD nicht bereit war, die Verstrickungen der Kirche und ihrer Mitglieder in die nationalsozialistische Judenpolitik öffentlich zu benennen. Die „Mitschuld der Kirche“ wird in der Erklärung von Berlin-Weißensee ausdrücklich auf den Bereich des Schweigens und des Unterlassens reduziert. Die Frage nach den Wirkungen des kirchlichen Redens und Handelns wurde damit ausgespart. Der veröffentlichte Text von 1950 zeigt, dass es noch keine Bewusstheit darüber zu geben schien, dass selbst der Terminus „Judenfrage“ aus dem antisemitischen Wortschatz stammte.
Literatur
Tanja Hetzer
Siegfried Hermle, Evangelische Kirche und Judentum – Stationen nach 1945, Göttingen 1990. Wolfgang Gerlach, Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden, Berlin 1993.
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Emanzipationsverweigerung (Rumänien 1859–1923)
Emanzipationsverweigerung (Rumänien 1859–1923) Rumänien war einer der letzten europäischen Staaten, der den Juden die Einbürgerung sowie die rechtliche Gleichstellung bis zum Ende des → Ersten Weltkrieges verweigerte. Obwohl mehrere internationale Verhandlungen und Friedensverträge eine diesbezügliche Änderung erwirkt hatten, konnte Rumänien mit Hinweis auf die Nichteinmischung in „innere Angelegenheiten“ die Zusagen und Auflagen umgehen. So hatte z.B. auch der → Berliner Kongress, der 1878 die internationale Anerkennung der Unabhängigkeit Rumäniens dezidiert an die Gleichberechtigung der Juden koppelte, daran nichts ändern können; die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung blieb weiterhin völlig rechtlos. Die Rechtsgleichheit wurde erst mit der Verfassung von 1923 erreicht. Die rumänischen Fürstentümer Moldau und Walachei vereinigten sich 1859 unter dem Fürsten Alexandru Ioan Cuza. In diesem Staatsgebilde, das sich ab 1862 Rumänien nannte, lebten 134.168 Juden (3,5 Prozent der Gesamtbevölkerung), denen die Naturalisierung verwehrt war; sie konnten nur das Heimatrecht (indigenat) erwerben, sodass sie zwar zivile, aber keine politischen Rechte erhielten. 1860 setzte sich Fürst Cuza für eine „stufenweise Emanzipation“ ein und bereitete 1864 eine Gesetzesvorlage vor, um den indigenen Juden die Einbürgerung unter bestimmten Voraussetzungen zu ermöglichen. Mit diesem Vorhaben und seinen Modernisierungsbestrebungen wie der Agrarreform, der Einführung eines allgemeinen Wahlrechts und der Reform des Finanz- und Bankwesens, stieß Cuza auf vehementen Widerstand der Großgrundbesitzer (Bojaren), rumänischen Kirchenfürsten und der sich formierenden bürgerlichen Kräfte. Im Februar 1866 wurde Cuza auf Betreiben seiner politischen Widersacher zur Abdankung gezwungen. Die Interimsregierung setzte als Nachfolger einen ausländischen Prinzen ein, der von Preußen und Frankreich unterstützt wurde: Karl I. von Hohenzollern-Sigmaringen (Carol I.), der im April 1866 zum neuen rumänischen Fürsten, im Mai 1881 zum König proklamiert wurde und als Staatsoberhaupt Rumäniens bis Oktober 1914 fungierte. Im Sommer 1866 musste zur Staatskonsolidierung eine neue Verfassung ausgearbeitet werden. Der Verfassungsentwurf sah u.a. eine Garantie der Grundrechte für alle Bewohner Rumäniens ohne Unterschied des Glaubens vor, wodurch die Religion bei der Einbürgerung keine Rolle spielen sollte. Die im Juni 1866 geführte Verfassungsdebatte war von Massenkundgebungen und Straßendemonstrationen in Bukarest und Iaşi begleitet, Unterschriftensammlungen und Petitionen wurden der Nationalversammlung unterbreitet, und Hetzartikel in der Presse heizten die Stimmung gegen die Einbürgerung der Juden auf. Der zeitgleich stattfindende Besuch von Adolphe Crémieux, Leiter der „Alliance Israélite Universelle“, stachelte die antisemitische Agitation in Bukarest an: Pöbelnde Massen belagerten das Parlamentsgebäude und zogen plündernd durch das jüdische Viertel. Diesem „inszenierten Druck der Straße“ nachgebend (Hausleitner), zogen die Abgeordneten den Entwurf zur Einbürgerungserleichterung zurück und verabschiedeten einstimmig die Neufassung des Artikels 7 der Verfassung, wonach „nur Fremde christlicher Religionszugehörigkeit rumänische Staatsbürger werden können“ (Numai străinii de rit creştin pot dobândi calitatea de român). Damit wurde der Großteil der seit Jahrhunderten in Rumänien lebenden Juden zu Staatenlosen deklariert; die 130.000 indigenen Juden galten nunmehr als „Fremde“. Den gesellschaftlichen Kräften, die hinter den Einbürgerungsprotesten standen, bescherte die „Fremden-
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Klausel“ Vorteile: Die Großgrundbesitzer mussten keine Konkurrenz im Agrarbereich befürchten, und die sich formierende bürgerliche Schicht konnte die „rechtlosen Fremden“ leichter aus den Geschäftsbereichen hinausdrängen. Im Interesse dieser und weiterer sozialer und politischer Kreise sollten in den folgenden fünfzig Jahren etwa 200 antijüdische Erlasse, Dekrete und Rundschreiben die Ausgrenzung weiter verschärfen, wogegen selbst Interventionen ausländischer Diplomaten, Audienzen bei Karl I. und Verhandlungsangebote der „Alliance Israélite Universelle“ wenig ausrichten konnten. Im Frühjahr 1867 verfügte Innenminister Ion Brătianu für die Region Moldau „energische Maßnahmen“, um sich „fremder Vagabunden“ (Juden waren gemeint) zu entledigen. In Rundschreiben an moldauische Präfekten verfügte er, dass „Juden verboten sei, in ländlichen Gemeinden zu wohnen, Gast- und Schankwirtschaften zu betreiben und Felder zu pachten“. Die Umsetzung oblag den Präfekten und Kommunalbeamten und erwies sich vielen Fällen abhängig von den Interessen örtlicher Notabeln (Großgrundbesitzer, Pfarrer, Bürgermeister). Je nachdem, wie diensteifrig die lokalen Beamten waren, haben sie in verschiedenen Ortschaften die „mit Privaten und mit dem Staate eingegangenen Pachtverträge“ ohne Widerspruchsrecht aufgehoben und die Juden aus den Dörfern vertrieben. In einigen Fällen entzogen Gemeindevertretungen den Juden die Lizenzen für Gasthäuser und Schankwirtschaften, sodass sie von einem Tag auf den anderen ihren Lebensunterhalt verloren. Die enteigneten und aus den Dörfern getriebenen Juden wurden zu dem, was man ihnen vorwarf: „Vagabunden“, umherirrende Menschen. Ein neues Rundschreiben des Innenministers verfügte nun „Maßregeln gegen das Vagabundieren“, die Verhaftung und sofortige Ausweisung vorsah. Hunderte als „Vagabunden“ bezeichnete Juden wurden über die Grenzen getrieben. Diejenigen, die in der Lage waren, Bestechungsgelder aufzubringen, konnten der Ausweisung entkommen. Als der österreichische, französische und britische Konsul gegen die willkürlichen Ausweisungen protestierten, gab die rumänische Regierung bekannt, dass es sich um „Gesundheitsmaßnahmen“ zur Verhinderung von Epidemien handelte, „die gegen alle Vagabunden ohne Unterschied der Confession ergriffen worden waren“. Nachdem in Iaşi 19 „wegen Vagabundierens“ verurteilte Juden eine gerichtliche Überprüfung erwirkten, wurden elf als nichtschuldig freigesprochen, da sie sowohl einen Beruf als auch einen festen Wohnsitz hatten. Es gab Fälle, in denen nach der gerichtlichen Überprüfung bereits Ausgewiesene wieder nach Rumänien zurückkehren konnten. Von 1868 bis 1870 berichteten ausländische Diplomaten regelmäßig über willkürliche Verfolgungen, von Behörden tolerierte Ausschreitungen und gewalttätige „christliche“ Straßenpöbeleien in Iaşi, Vaslui, Bacău, Focşani, Galaţi, Bîrlad. Es handelte sich um Städte, die entlang der im Aufbau befindlichen Eisenbahnstrecke von Bukarest nach Roman lagen und somit eine besondere wirtschaftliche Bedeutung hatten. Diese Orte blieben bis 1899 Schauplätze weiterer Ausschreitungen. In den Jahren 1870 bis 1877 schränkten weitere Verordnungen die Berufsausübung der Juden ein, diesmal in den staatlichen Institutionen: Hier durften sie als Anwälte, Apotheker oder Ärzte nicht mehr tätig sein. Zudem durften Juden keinen Handel mit Tabak, Salz und Alkohol betreiben, da diese Staatsmonopole geworden waren. Die Einbürgerungsfrage kam 1878 erneut ins Gespräch, als die Großmächte auf dem Berliner Kongress die Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit Rumäniens an die
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Änderung des Verfassungsartikels 7 koppelten. Demnach sollte die kollektive Einbürgerung der Juden umgesetzt werden. Gegen diese Auflagen wehrten sich die rumänischen Verhandlungsführer, Ministerpräsident Ion Brătianu und Außenminister Mihai Kogălniceanu; im rumänischen Abgeordnetenhaus sowie auf inszenierten Massenkundgebungen in Bukarest wurde gegen die Juden gehetzt, da sie das „negative Bild Rumäniens im Ausland“ erzeugt hätten. Fürst Karl I. gab bekannt, dass über die Einbürgerungsfrage die Verfassunggebende Versammlung im Frühjahr 1879 entscheiden werde. Bis dahin nahmen die Agitationen zu, die von rumänischen Dichtern, Schriftstellern, Gelehrten und zahlreichen Presseorganen mitgetragen wurden und das Feindbild der Juden als „Fremdkörper“ festigten. Sich auf die Proteste berufend umging das rumänische Parlament die Auflagen des Berliner Kongresses und verabschiedete im Oktober 1879 den neuen Verfassungsartikel 7, der die Einbürgerung von Juden nur „von Fall zu Fall“ (individuelle Einbürgerung) und nach Zustimmung beider Kammern des Parlaments vorsah. Dies hatte zur Folge, dass nur wenige Personen die Staatsbürgerschaft erlangen konnten; die meisten Einbürgerungsanträge, wie der → ŞăineanuFall verdeutlicht, wurden aufgrund antijüdischer Agitation und zunehmend nationalistischer Hetze abgelehnt. Bis zum Ersten Weltkrieg hatten auf dem Weg der individuellen Einbürgerung nur etwa 500 Juden die rumänische Staatsbürgerschaft erhalten; 888 Juden wurden als ehemalige Teilnehmer am Unabhängigkeitskrieg (1877) in einem Gruppenverfahren eingebürgert, viele von ihnen posthum. Ein Fremdengesetz, das im April 1881 in Kraft trat, verfügte die Beantragung von neuen Aufenthaltsbewilligungen. Personen ohne Bewilligungen konnten jederzeit ausgewiesen werden. Die Ausweisungsbestimmung bezog sich auch auf „Fremde, die die öffentliche Ordnung stören oder die Sicherheit des Staates beeinträchtigen“. Die Zahl von Vertriebenen, Ausgewiesenen und zur Ausreise Gezwungenen nahm Jahr um Jahr zu. Repressionen betrafen auch jüdische Intellektuelle, die sich für die geregelte Emigration ihrer Glaubensgenossen einsetzten oder kritische Artikel über Ausschreitungen verfassten, wie z.B. Moses Gaster, der 1885 ausgewiesen wurde. Er emigrierte nach Großbritannien und wurde dort zum Oberrabbiner der sephardischen Gemeinde gewählt. Zwischen 1881 und 1904 wurden 1.340 Juden aus Rumänien ausgewiesen. Als 1881/82 aufgrund der → Pogrome in der Ukraine zahlreiche russische Juden nach Rumänien flohen, verstärkte sich vor allem in der Region Moldau die antijüdische Stimmung. Wirtschaftswissenschaftler und renommierte Historiker wiesen in ihren Publikationen auf den „schädlichen Einfluss“ der Juden hin und stellten sie als Haupthindernis in der Entfaltung des rumänischen Mittelstandes dar. Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern, forderten sie „Schutzbestimmungen“ für rumänische Handwerker und Kaufleute. 1884 trat das „Hausierverbotsgesetz“ in Kraft, infolge dessen 20.000 Juden erwerbslos wurden. 1899 verabschiedete die Regierung das Gesetz zum „Schutz der Rumänen“, das Beschäftigungsquoten festlegte und Tausende jüdische Handwerker und Arbeiter erwerbslos machte. Von den 266.652 Juden (4,5 Prozent der Gesamtbevölkerung), die 1899 in Rumänien lebten, verließen 62.813 bis 1914 das Land und emigrierten größtenteils nach Kanada und in die USA.
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Die Einbürgerungsfrage kam Ende des Ersten Weltkrieges erneut auf die Tagesordnung, als es auf der Pariser Konferenz 1919 um die Bedingungen für den rumänischen Gebietszuwachs ging. Der rumänische Verhandlungsführer versuchte die Verankerung von Minderheitenrechten in den Friedensverträgen zu verhindern und verzögerte die Verhandlungen. Erst nach einem Ultimatum unterzeichnete er im Dezember 1919 den Friedensvertrag, in dem die Minderheitenschutz-Klausel integriert war. Letztendlich garantierte erst die rumänische Verfassung von 1923 allen Bewohnern – unabhängig von der Religion – die Staatsbürgerschaft.
Literatur
Brigitte Mihok
Die Alliance Universelle Israélite und die Juden Rumäniens, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 17 (1868), 4, S. 121–140. Georg Brandes, Das Heimatrecht in Rumänien, in: Ost und West 1901, Heft 5, S. 342–346. Mariana Hausleitner, Intervention und Gleichstellung – Rumäniens Juden und die Großmächte 1866–1923, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 1 (2002), S. 475–531. Carol Iancu, Miturile fondatoare ale antisemitismuslui. Din antichitate pînă în zilele noastre [Die Gründungsmythen des Antisemitismus. Von der Antike bis in die Gegenwart], Bucureşti 2005.
Emigration Eine Frage wird im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung oft gestellt: Warum haben sich die deutschen Juden der Verfolgung nicht mehrheitlich durch Auswanderung entzogen? Zu den Gründen gehören die ökonomischen und administrativen Schwierigkeiten, die einer Ausreise im Wege standen, ebenso die Hindernisse, die den Juden aus Deutschland (und später aus ganz Europa) von potentiellen Aufnahmeländern in den Weg gelegt wurden. Der mit der Emigration fast immer verbundene Statusverlust und die für Immigrationsländer fehlende berufliche Qualifikation waren neben dem Selbstverständnis der hoch assimilierten deutschen Juden weitere Hindernisse. 1933 verließen etwa 38.000 Juden das Deutsche Reich, 1934 waren es knapp 23.000. 1935 wanderten etwa 20.000 Menschen aus. Die → Nürnberger Gesetze vom September 1935 wirkten sich 1936 mit ca. 25.000 Emigranten aus. Die scheinbare Beruhigung der Situation im Olympiajahr 1936 zeigte sich in nur 23.000 Emigranten 1937. Die Verschärfung der judenfeindlichen Politik, demonstriert durch die Austreibung der polnischen Juden im Oktober 1938 und vor allem durch die → Novemberpogrome, führte zur größten Auswanderungswelle mit 33.000–40.000 Menschen 1938 und 75.000–80.000 im Jahre 1939. Nach dem „Anschluss“ im Frühjahr 1938 wurde Österreich Experimentierfeld für die durch Behörden forcierte Auswanderung der jüdischen Minderheit. Laut Volkszählung vom März 1934 lebten in Österreich 191.481 Personen israelitischer Konfession (nach der Definition der Nürnberger Gesetze wurde die Gesamtzahl auf 206.000 geschätzt). Die Volkszählung vom 17. Mai 1939 wies noch 94.601 Juden im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie und 84.214 „Glaubensjuden“ aus. Es waren also rund 130.000 österreichische Juden zwischen dem „Anschluss“ und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs emigriert. Sie flohen aus eigener
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Initiative, wichen aber auch dem Druck, den die von Adolf Eichmann im Auftrag des Reichssicherheitshauptamtes gegründete „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Wien seit August 1938 ausübte. Die Zentralstelle offerierte gegen eine Abgabe von 5 Prozent des Vermögens Reisepässe und organisierte unter weiterer Ausplünderung die Ausreise aus dem Deutschen Reich. Als reine Verdrängungsbehörde kümmerte sich die Zentralstelle nicht um die Formalitäten der Immigration. Zugrunde lag die Idee, die Auswanderung mit jüdischem Geld zu finanzieren und durch Zwangsabgaben auch die Emigration armer Juden zu betreiben. Die Wiener Zentralstelle, die ab 1941 die Deportationen in die Vernichtungslager organisierte und damit eine wesentliche Funktion beim Völkermord innehatte, bildete das Modell der Berliner „Reichszentrale für jüdische Auswanderung“, die im Januar 1939 eingerichtet wurde und deren Leiter ab Oktober 1939 Adolf Eichmann war. Bis 1939 forcierte und bremste der NS-Staat die Auswanderung der deutschen Juden gleichzeitig. Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft förderte deren Emigrationswillen, aber Vermögenskonfiskation und ruinöse Abgaben hemmten die Auswanderungsmöglichkeiten. Absicht des Regimes war es auch, Antisemitismus zu exportieren, dadurch dass die aus Deutschland vertriebenen verarmten Juden zum sozialen Problem in den Aufnahmeländern würden. An diesem Problem scheiterte im Juli 1938 die → Evian-Konferenz. Dem verstärkten Druck zur Emigration Anfang 1939 folgten massive Behinderungen bis zum → Auswanderungsverbot im Herbst 1941. Das bis 1935 unter Völkerbundsmandat stehende Saargebiet war ebenso erste Zuflucht für viele deutsche Juden wie bis 1938 Österreich und die Tschechoslowakei. Wichtigstes Exilland war 1933/1934 Frankreich. Bis Herbst 1938 hatten sich ca. 11.000 Juden auf die Britischen Inseln gerettet, nach der „Reichskristallnacht“ im November 1938 durften noch einmal 40.000 kommen. Generös war die rasche, unmittelbar nach den Novemberpogromen einsetzende Hilfe für jüdische Kinder aus Deutschland. Tausende konnten mit Hilfe der → Kindertransporte gerettet werden. Die wichtigsten Exilländer waren Palästina und die USA. Aus unterschiedlichen Gründen war es jedoch besonders schwer, dorthin zu gelangen. Palästina war britisches Mandatsgebiet, und die einwanderungswilligen Zionisten, meist junge Juden, die sich gemeinsam auf das Siedlerdasein vorbereiteten, wurden nur in geringer Zahl nach einem komplizierten Quotensystem zugelassen. Von der „Jewish Agency“ offiziell betreut, also legal, wanderten 1933–1936 bis zu 19.000 Juden aus Deutschland in Palästina ein, in den Jahren 1937–1941 waren es noch rund 18.000. Die illegale Einwanderung (Alijah Beth) war reich an Risiko und nur für einige Tausend Menschen insgesamt erfolgreich. Die USA waren das wichtigste Exilland überhaupt, in dem über 130.000 deutschsprachige Juden Zuflucht fanden. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bedeutete das Ende der meisten Auswanderungsmöglichkeiten durch Schließung von diplomatischen Vertretungen und durch den Wegfall von Transportgelegenheiten. 1940 konnten nur noch 15.000 Juden Deutschland verlassen, 1941 waren es noch 8.000. Trotz des Auswanderungsverbots, das am 23. Oktober 1941 erging, sind in den Jahren 1941–1945 noch etwa 8.500 Juden aus Deutschland entkommen. Nach den Arbeitsberichten des Zentralausschusses für Hilfe und Aufbau bzw. der Reichsvertretung der deutschen Juden verließen 1933–1941 zwi-
Erlanger Gutachten
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schen 257.000 und 273.000 Juden Deutschland. Insgesamt wird die Zahl der jüdischen Emigranten aus Deutschland auf 278.500 geschätzt.
Literatur
Wolfgang Benz
Wolfgang Benz, Flucht aus Deutschland. Zum Exil im 20. Jahrhundert, München 2001. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933/International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933–1945, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, München und von der Research Foundation for Jewish Immigration, New York, unter der Gesamtleitung von Werner Röder und Herbert A. Strauss, 3 Bände, München 1980–1983. Fritz Kieffer, Judenverfolgung in Deutschland – eine innere Angelegenheit? Internationale Reaktionen auf die Flüchtlingsproblematik 1933–1939, Stuttgart 2002. Claus-Dieter Krohn u.a. (Hrsg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, Darmstadt 1998.
Entartete Kunst (Ausstellung) → „Der ewige Jude“ (Propaganda-Ausstellung) Entschädigung → Wiedergutmachung
Erlanger Gutachten Mit der Einführung des → Gesetzes zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 entzündete sich innerhalb der Kirche eine heftige Diskussion darüber, ob der darin enthaltene „Arierparagraph“ auch Anwendung auf die Pfarrer und kirchlichen Beamten jüdischer Herkunft finden sollte. Die Generalsynode der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union, in der die nationalsozialistisch orientierten Deutschen Christen die Mehrheit hatten, übernahm die staatlichen Vorschriften in ihrem „Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Geistlichen und Kirchenbeamten“ vom 5. September 1933, ohne dazu von staatlicher Seite explizit aufgefordert worden zu sein. Daraufhin wandten sich der kurhessische Kirchentag an die Theologischen Fakultäten Marburg und Erlangen und bat sie um eine Stellungnahme, ob eine solche Vorschrift über die Anstellungsbedingungen mit dem Evangelium, mit der Lehre der Reformation und der Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche in Einklang zu bringen sei. Aus Marburg kam eine klare Antwort: Das Gutachten hielt fest, dass dies aus theologischen Gründen nicht vertretbar sei. Die Erlanger Fakultät hatte die beiden Systematiker Paul Althaus und Werner Elert mit dem Gutachten beauftragt. Diese kamen zu gegenteiligem Schluss: Grundsätzlich entspreche es der Tradition der christlichen Kirchen aller Zeiten, die Zulassung zu ihren Ämtern von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abhängig zu machen. In den deutschen Landeskirchen gelte bislang die deutsche Reichsangehörigkeit als Voraussetzung zur Zulassung, aber auch biologische Kriterien wie Alter, Geschlecht und körperliche Eignung. Warum sollte also nicht auch ein Kriterium „arische Abstammung“ theologisch begründbar sein? Althaus und Elert argumentierten auf der Basis ihrer Schöpfungs- und Ordnungstheologie für die Anwendung des Paragrafen. So hieß es gleich zu Beginn, auch wenn es vor Gott keine Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden gäbe, so hebe dies die
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biologischen und gesellschaftlichen Unterschiede nicht auf, sondern binde jeden an den Stand, in dem er berufen sei. Die „biologische Bindung“ an ein bestimmtes Volk sei von Christen auch mit „Gesinnung und Tat“ anzuerkennen. Das deutsche Volk empfinde die Juden mehr denn je als „fremdes Volkstum“. Es fühle sich gerade durch das emanzipierte Judentum bedroht und wehre sich nun mit rechtlichen Ausnahmebestimmungen. Das „Erlanger Gutachten“ forderte, dass die Kirche nicht nur das grundsätzliche Recht des Staates zu solchen gesetzgeberischen Maßnahmen anerkenne, sondern sich auch auf ihre Aufgabe, „Volkskirche der Deutschen“ zu sein, besinne. Dazu gehöre auch, dass sie gegenwärtig ihren Grundsatz von der völkischen Verbundenheit der Amtsträger mit ihrer Gemeinde bewusst neu geltend mache und ihn auch auf die Christen jüdischer Herkunft anwende. Da es die Aufgabe der Kirche sei, eine „Volkskirche der Deutschen“ zu sein, bedeute es für sie eine schwere Belastung und Hemmung, „ihre Ämter mit Judenstämmigen“ zu besetzen. Damit forderte das „Erlanger Gutachten“, fortan keine Christen jüdischer Herkunft mehr für kirchliche Ämter zuzulassen, doch vorerst von einer generellen Entlassung von Geistlichen und Amtsträgern „jüdischer oder halbjüdischer Abstammung, die schon im Amte stehen“, abzusehen. In der Praxis waren in Bayern nur wenige Personen betroffen. Das Gutachten lieferte aber einen entscheidenden Beitrag, staatliche und kirchliche Ausgrenzung von Menschen jüdischer Herkunft theologisch zu legitimieren.
Literatur
Tanja Hetzer
Tanja Hetzer, Deutsche Stunde. Volksgemeinschaft und Antisemitismus in der politischen Theologie bei Paul Althaus, München 2009. Axel Töllner, Eine Frage der Rasse? Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, der Arierparagraf und die bayerischen Pfarrerfamilien mit jüdischen Vorfahren im „Dritten Reich“, Stuttgart u.a. 2007.
Erster Weltkrieg Der Erste Weltkrieg mit seinen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Erschütterungen sowie kulturellen, mentalen und zivilisatorischen Verheerungen führte zu einer Radikalisierung des Antisemitismus. Ausschlaggebend dafür waren die katastrophalen Kriegserlebnisse, die Entfesselung von Gewalt und der Massentod in den Schützengräben sowie das Erleiden von Hunger und Mangel an der Heimatfront. Durch die Traumatisierung der Bevölkerung und die gestiegene Bereitschaft zur Anwendung physischer Gewalt verschärften sich in weiten Teilen Europas antisemitische Einstellungen und Handlungen. Im Mittelpunkt der neuen antisemitischen Agitation standen vor allem fünf Motive: Erstens der „jüdische Drückeberger“, wobei die Propaganda auf die überlieferten Stereotype von der angeblichen Feigheit und mangelnden Tapferkeit der Juden, die durch ihre körperliche Konstitution zum Kriegsdienst unfähig seien, zurückgriff. Als zweites Motiv kam der Vorwurf des Kriegsgewinnlers hinzu, der bereits in den Napoleonischen Kriegen aufgetaucht war. Darüber hinaus würden Juden nicht nur persönlichen Gewinn aus dem Krieg ziehen, sondern auch die Kriegswirtschaft zersetzen. Mit den sich verschärfenden Problemen der Nahrungsmittelversorgung und der Entstehung von
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Schwarzmärkten gesellte sich drittens der Vorwurf des Schmugglers und Schwarzmarkthändlers dazu. Juden wurden angeklagt, Waren heimlich auszuführen, rationierte Waren zu horten und illegal mit diesen Handel treiben. Viertens kam mit der gestiegenen Zuwanderung aus Osteuropa die Anschuldigung auf, Juden würden die Immigration fördern, ein Vorwurf, der zugleich die Angst vor Überfremdung schürte. Vor allem in Osteuropa tauchte fünftens der Vorwurf des Verrats und der Spionage für den Kriegsgegner auf. In den ersten Monaten des Krieges schien es in Deutschland, als könnte durch den von vielen Juden mit großer Zustimmung aufgenommenen Appell zum „Burgfrieden“, dem vom Kaiser propagierten Zusammenschluss aller innenpolitischen Kontrahenten gegen die äußeren Feinde, die Feindseligkeit gegenüber Juden überwunden werden. Tatsächlich schuf diese Politik für Juden die Möglichkeit, Ämter zu bekleiden, die ihnen zuvor verschlossen waren, und selbst einige für die Kriegsführung zentrale Verwaltungsstellen wurden von jüdischen Unternehmern geleitet. Innerhalb der jüdischen Bevölkerung setzte eine breite Selbstmobilisierung ein, und jüdische Zeitungen und Organisationen traten nachdrücklich für die Teilnahme am Krieg ein. Selbst zionistische Juden engagierten sich dezidiert für diesen Krieg. Diesem Appell sind deutsche Juden auch deshalb so empathisch gefolgt, weil er gegen das russische Zarenreich gerichtet war, dem Land, in dem die Juden nach wie vor keinerlei bürgerliche oder politische Rechte hatten und in dem brutalste Gewalt gegen Juden ausgebrochen war. Nach dem Ausbleiben der erwarteten raschen militärischen Siege und den erschreckender werdenden Kriegserfahrungen schlug die Hoffnung auf ein Ende des Antisemitismus jedoch in ihr Gegenteil um, und Juden sahen sich heftigen Angriffen und Anschuldigen ausgesetzt. Diese wurden vor allem von der völkischen Bewegung und dem von Heinrich Claß geleiteten „Alldeutschen Verband“ geschürt, die schon im Herbst 1914 entgegen dem Appell zum Burgfrieden ihre Agitation gegen die Juden fortgeführt hatten. Diese Versuche erzielten zunächst, nicht zuletzt durch die Maßnahmen der Militärzensur, nur geringe Wirkung, bis sich im Laufe der Jahre 1915 und 1916, als die Zensurbestimmungen immer müheloser unterlaufen werden konnten, die Anschuldigung und Vorhaltungen gegen Juden häuften und die Angriffe der antisemitischen Medien verschärften. Breiten Raum nahm in der antisemitischen Agitation in Deutschland der Vorwurf der Drückebergerei ein. Juden würden sich vor dem Dienst an der Front und in den Schützengräben drücken und sich unter fadenscheinigen Vorwänden auf gefahrlose Aufgaben in der Verwaltung versetzen lassen. Der von Theodor Fritsch initiierte „Reichshammerbund“ hatte seine Mitglieder mit denunziatorischen Absichten schon im Herbst 1914 dazu aufgerufen, eigene Ermittlungen über das Verhalten von Juden im Krieg durchzuführen und Material darüber zusammenzustellen, wie viele Juden tatsächlich gefallen waren oder verletzt wurden. Zwar konnten antisemitische Agitatoren zu diesem Zeitpunkt noch keine Erfolge mit ihrer Strategie erzielen, zwei Jahren später aber ordnete das preußische Kriegsministerium von sich aus eine offizielle Erhebung über die Tätigkeit von Juden im Militär und die Zahl derjenigen Juden, die sich vor dem Dienst gedrückt hätten, an ( → Judenzählung 1916). Das antisemitische Klima verschärfte sich auch deshalb, weil immer mehr antisemitische Schriften unzensiert erscheinen konnten. Im folgenden Jahr beeinflusste die Agitation der Antisemiten auch
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die Politik der Obersten Heeresleitung, als es dieser unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff gelang, den noch für den Burgfrieden stehenden Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg zu stürzen. Antisemiten, die ihn als „Kanzler der Juden“ diffamiert hatten, rechneten ihn zum Lager derjenigen, die für einen äußeren Verständigungsfrieden, einen Friedensschluss ohne Annexionen, eintraten. Den Kern dieses Lagers bildeten Juden, Linksliberale und Sozialdemokraten, sie stellten eine Phalanx von „Flaumachern“, die den „Siegfrieden“ von innen her, an der Heimatfront, untergraben würde. Nachdem die antisemitischen Agitatoren die Überfremdungsangst durch die Zuwanderung von Juden aus Osteuropa verstärkt in ihrer Propaganda bedient hatten, verfügte das preußische Innenministerium im April 1918 die Schließung der Ostgrenze für jüdische Zuwanderer. In der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie stand die jüdische Bevölkerung zwischen den Nationalitätenkonflikten, während sie im Kaiser ihren stärksten Rückhalt hatte. Auch hier galt zunächst eine Burgfriedenspolitik, und die Mehrheit der Juden trat nachdrücklich für den Krieg ein. Im österreichisch-ungarischen Heer konnten sie zwar nicht in die höchsten Ränge aufsteigen, zahlreiche Juden dienten aber als Reserveoffiziere. Da die östlichen militärischen Frontlinien durch Kronländer mit einem sehr hohen jüdischen Bevölkerungsanteil wie der Bukowina oder Galizien verliefen, zogen Juden in großer Zahl in die Hauptstadt Wien, woraufhin die antisemitische Propaganda auf die Überfremdungsängste setzte und breite Schichten der Bevölkerung mit ihrem Judenhass infizierte. Seit Sommer 1917 rückten christlichsoziale Politiker immer mehr von der Burgfriedenspolitik ab. Sie intensivierten erneut ihre antisemitische Propaganda, die sich nun gegen die galizischen Juden richtete. Die Agitation spitzte sich zu und führte im Sommer 1918 in Wien zu gewalttätigen Demonstration gegen Juden. In Russland erklärten Juden nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns und Deutschlands zwar, dass sie gemeinsam mit allen Russen kämpfen würden. Nachdem Russland jedoch die ersten schweren Niederlagen erlitten hatte, wurde den Juden vorgeworfen, heimlich mit Deutschland und Österreich zu sympathisieren. Ihre Loyalität gegenüber dem Zaren wurde in Frage gestellt. Da die östlichen Schlachten vor allem im Raum des Ansiedlungsrayons und in den polnischen Provinzen stattfanden, wurde die Umsiedlung der Juden nach Osten beschlossen. Die Durchführung dieser Evakuierungsmaßnahme ging einher mit massiver antisemitischer Gewalt sowie mit Plünderungen und Pogromen seitens des russischen Militärs. Dem „Burgfrieden“ in Deutschland vergleichbar hatte auch in Frankreich Präsident Raymond Poincaré Anfang August 1914 die „Union sacrée“ ausgerufen, der sich nicht nur Sozialisten, darunter zahlreiche Juden, anschlossen, sondern selbst Charles Maurras. Der Gründer der antisemitischen „Action française“ stellte daraufhin seine judenfeindlichen Kampagnen der Vorkriegszeit ein. Diese Zurückhaltung hielt indes nicht lange an. Mit den sich hinziehenden Kämpfen richtete die Organisation sich immer mehr gegen die in ihren Augen inneren Feinde Frankreichs, gegen die Spione und Verräter, und erneuerte in diesem Kontext ihre antisemitischen Kampagnen. Während der Antisemitismus in Frankreich im Verlauf des Ersten Weltkrieges eher zurückging, radikalisierte er sich in jenen Ländern, in deren politischen Kulturen antisemitische Tendenzen zuvor eher marginal waren wie Italien oder Großbritannien. So wurden britische Juden, die einen deutschen Familienhintergrund hatten, beschuldigt,
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heimliche Sympathie für Deutschland zu hegen. 1917 kam es in London und Leeds zu gewalttätigen Ausschreitungen, die sich vor allem gegen Juden aus Russland richteten. Obgleich es ihnen verboten war, Militärdienst zu leisten, wurde ihnen Drückebergerei vorgeworfen. Auch in Italien, wo antisemitische Vorwürfe zuvor meist in katholischen Zeitungen verbreitet worden waren, wurde der Antisemitismus im Verlauf des Krieges zu einem politischen Faktor. Obgleich sich italienische Juden aufgrund ihres Patriotismus und ihrer starken Stellung im italienischen Heer in großer Zahl freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatten, wurden sie auch hier von der nationalistischen Presse beschuldigt, eine antinationale Haltung einzunehmen und ein internationales Komplott gegen Italien zu organisieren. Selbst in Staaten, die nicht am Krieg beteiligt waren, wie die skandinavischen Länder oder die Schweiz, wurde die Situation durch die kriegsbedingte Zunahme jüdischer Immigranten immer konfliktreicher, und antisemitische Vorwürfe fanden verstärkten Eingang in die öffentliche Meinung. Der Erste Weltkrieg markierte, zusammen mit den unmittelbar aus ihm hervorgehenden politischen Umwälzungen, eine Zäsur in den Beziehungen von Juden und NichtJuden und führte zur Radikalisierung der Judenfeindschaft, die in den nationalsozialistischen Antisemitismus und die Ermordung der europäischen Juden münden sollte.
Literatur
Ulrich Wyrwa
Werner T. Angress, Das deutsche Militär und die Juden im Ersten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 19 (1976), S. 98–105. Werner Bergmann, Juliane Wetzel, Antisemitismus im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ein Forschungsüberblick, in: Bruno Thoß, Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn, München 2002, S. 437–469. John D. Klier, Shlomo Lambroza (Hrsg.), Pogroms. Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge 1992. Philippe E. Landau, Les juifs de France et la Grande Guerre. Un patriotisme républicain, Paris 2008. Werner E. Mosse, Arnold Paucker (Hrsg.), Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916–1923, Tübingen 1971. David Rechter, The Jews of Vienna and the First World War, London 2001. Jacob Rosenthal, „Die Ehre des jüdischen Soldaten“. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Frankfurt am Main, New York 2007. Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrung, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001. Herbert A. Strauss (Hrsg.), Hostages of Modernization. Studies in Modern Antisemitism 1870–1933/39, 2 Bände, Berlin 1993. Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969.
Eselsmasken-Aktion (1978) Am 20. Mai 1978 trat die ein halbes Jahr zuvor gegründete „Aktionsfront Nationaler Sozialisten“ (ANS) mit einer spektakulären Aktion in Hamburg an die Öffentlichkeit. Mehrere ihrer Mitglieder setzten sich Eselsköpfe auf und hängten sich Pappschilder um, auf denen Parolen wie „Ich Esel glaube noch, daß in Auschwitz Juden vergast
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wurden“ oder „Ich Esel glaube an die Vergasungslüge und will an Israel zahlen und zahlen“ geschrieben waren. Ausgangspunkt der Aktion war das Lokal „CanCan“ im Hamburger Stadtteil St. Georg, das zu jener Zeit von Lothar Wrobel, einem Mitglied des neonazistischen „Freizeitvereins Hansa“ (umgangssprachlich „Hansa-Bande“), geführt wurde. Organisator der Aktion war Michael Kühnen (1955–1991), der seit seiner frühen Jugend in extrem rechten Gruppen aktiv war und wegen neonazistischer Betätigung 1977 im Range eines Leutnants fristlos aus der Bundeswehr entlassen wurde. Die ANS ging aus dem Prozess der Neuorientierung der extremen Rechten in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Scheitern der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD) bei den Bundestagswahlen 1969 hervor. In Abgrenzung zur damaligen offiziellen Parteilinie der NPD trat Kühnen mit der ANS dafür ein, sich öffentlich positiv auf den deutschen Faschismus, zentrale Aspekte seiner Weltanschauung und führende Akteure zu beziehen und sich offen als „Nationalsozialist“ zu erkennen zu geben. Ende 1977 wurde die ANS als legaler Zweig einer illegal existierenden „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei/Auslands- und Aufbauorganisation“ (NSDAP/AO) anerkannt, in der sich zahlreiche Kader neonazistischer Gruppen trafen. Zu den Forderungen des seit Dezember 1977 gültigen „Kampfprogramms“ der ANS gehörte demzufolge auch die „Aufhebung des NS-Verbotes“ durch „die ersatzlose Streichung des Art. 139 GG sowie des § 86 StGB“ (ANS-Wahlplattform für die Hamburger Bürgerschaftswahl 1978). Die Eselsmasken-Aktion zielte in ihrem politischen Kalkül darauf, maximale Öffentlichkeit zu erreichen. Kühnen sah es in dieser Phase als zentral an, die (Fort-)Existenz einer „nationalsozialistischen Bewegung“ zunächst einmal allgemein bekannt zu machen, bevor in weiteren Schritten der organisatorische Ausbau und die Entwicklung von „Massenorganisationen“ möglich sein könnten. Nicht zufällig wurde für diese Aktion daher auch ein Thema gewählt, das einerseits hohes Skandalisierungspotenzial beinhaltete (Leugnung des Holocaust), andererseits jedoch über Topoi eines „sekundären Antisemitismus“ auch eine gewisse politische Anschlussfähigkeit besaß. Dieses Kalkül ging insofern auf, als nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch im Ausland umfangreich über die Aktion und die Gruppe um Kühnen berichtet wurde. Die Aktion war auch Auftakt zahlreicher antisemitischer und geschichtsrevisionistischer Aktivitäten neonazistischer Akteure („Auschwitz-Lüge“), die erst mit der Ergänzung des § 130 StGB am 28. Oktober 1994 weitgehend eingeschränkt werden konnten. Als eine Form neonazistischer Straßenpolitik wurden Aktionen mit Eselsmasken in den letzten Jahren immer wieder durchgeführt – sei es im Rahmen von Aufmärschen (z.B. in München am 2. April 2005, wo bereits das Motto der Veranstaltung entsprechend ausgelegt war: „Nur ein Esel glaubt noch an den Sozialstaat in der BRD“), sei es als „Straßentheater“ wie etwa in Hamburg-Bergedorf am 24. April 2007 („Ich Esel hab‘ immer noch nicht kapiert, daß Bergedorf überfremdet wird“, „Ich Esel verzichte für einen Ausländer gerne auf meinen Arbeitsplatz“), in Friedrichshafen am 28. April 2008 („Ich Esel arbeite bis 67“) oder in Celle am 26. September 2009 („Ich Esel glaube immer noch, dass die BRD ein Rechtsstaat ist“). Aus Sicht der neonazistischen Akteure
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ist die Aktionsform weiterhin geeignet, die Aufmerksamkeit für das in diesem Zusammenhang verteilte Propagandamaterial zu erhöhen.
Literatur
Fabian Virchow
ID-Archiv (Hrsg.), Drahtzieher im Braunen Netz. Der Wiederaufbau der NSDAP, Berlin, Amsterdam 1993. Klaus Maler, Das Netzwerk der militanten Neonazis, in: Jens Mecklenburg, Handbuch deutscher Rechtsextremismus, Berlin 1996, S. 572–594.
Estatutos de limpieza de sangre → Blutreinheitsgesetze
Eugenik auf der Iberischen Halbinsel Seit der Einführung der Inquisition auf der Iberischen Halbinsel kennen Portugiesen und Spanier einen Proto-Rassismus, der seine Bürger als Juden, Halb-, Viertel- und Achteljuden oder als „sangue judeu“ [aus jüdischem Blut] stigmatisiert. Unter dem Einfluss französischer und englischer Rassisten entstanden im Umkreis des „Integralismo Lusitano“ die antisemitischen Schriften von Mário Saa und Paulo de Tarso, die sich mit Bezugnahme auf Eugenik, biologischen Rassismus und Sozialdarwinismus zu Fürsprechern einer radikalen „ethnischen Apartheid“ machten, für die die Vernichtung der Juden eine Voraussetzung für die Wiederherstellung der natürlichen Rangordnung der Nationen und der Rasse war. Schon vor der Errichtung des autoritären und klerikal-faschistischen „Estado Novo“ (1930–1974) forderte der Anthropologe Mendes Correia (1888–1959) das Wegschließen von Wiederholungstätern, die Sterilisierung von Erbkranken und das Heiratsverbot für Bettler. Aber erst im „Estado Novo“ begann in Portugal eine ethnopolitische und anthropologische Debatte um die Eugenik. Am 15. Juni 1932 wurde auf Anregung des Anthropologen und späteren Gesundheitsministers Eusébio Tamagnini in Coimbra zur Gründung einer „Portugiesischen Gesellschaft für Eugenische Studien“ (Sociedade Portuguesa de Estudos Eugénicos) aufgerufen, die dann am 9. Dezember 1937 in Anwesenheit von Mitgliedern des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Erblehre, Anthropologie und Eugenik sowie zahlreicher ausländischer Gäste offiziell gegründet wurde. 1934 warnte Tamagnini vor den Gefahren von Mischrassen (mestiçagem) und von negroiden Mischlingen (negroides mestiços), versicherte aber auf einer Tagung anlässlich der Lissaboner Weltausstellung (1940), dass Portugal trotz der Bereitschaft seiner Bewohner, sich mit fremden Rassen einzulassen, ethnisch gesehen ein „reines Land“ sei. Da aber Mauren, Juden und Afrikaner Eindringlinge seien („povos intrusos“), müsse eine Vermischung mit ihnen in Zukunft strikt unterbunden werden. Dies sollte Salazar aber nicht hindern, europäische Juden, die dem Machtbereich der Nationalsozialisten zu entkommen suchten, in Angola anzusiedeln, um die überseeische Provinz „aufzuweißen“ (branquear). Dank der scharfen Ablehnung der katholischen Kirche konnte sich die Idee, mit Hilfe der Eugenik die portugiesische Rasse zu „verbessern“ (aperfeiçoar), weder politisch noch gesellschaftlich durchsetzen. In Spanien propagierte der Militärpsychiater und Falangist Antonio Vallejo-Nagera die „Regeneration der spanischen Rasse“ (eugenesia de la hispanidad y regeneración de la raza) und führte in Zusammen-
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arbeit mit den deutschen Rassenhygienikern in deutschen Konzentrationslagern konstitutionstypologische und charakterologische Untersuchungen durch.
Literatur
Michael Studemund-Halévy
Miguel Vale de Almeida, An Earth Coloured Sea: Race, Culture, and the Politics of Identity in the Postcolonial Portuguese-speaking World, New York 2004. Nuno Gonçalo Monteiro, O anti-semitismo nazi e os anti-semitas portugueses, in: História 7 (1979), S. 1–27. Irene Flunser Pimentel, Aperfeiçoar a Raça. O debate eugénico em Portugal nos anos trinta, in: História, nova série 3 (1998), S. 18–27. José Manuel Quintas, Filhos de Ramires: as origens do integralismo lusitano, Lisboa 2004.
Evian-Konferenz (1938) Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 12. März 1938 war für die dortigen Juden eine Katastrophe. Misshandlungen, Verhaftungen und Ausplünderungen lösten eine Fluchtwelle aus, die überall zur Folge hatte, dass der Grenzübertritt durch Einführung der Visumpflicht oder andere Regulierungen erschwert oder praktisch unmöglich gemacht wurde. So wurden bei der Einreise nach Großbritannien Personen, die den Anschein erweckten, jüdisch zu sein, befragt, ob eine Einwanderung beabsichtigt sei. Wenn der Antragsteller darauf bestand, es sei nur ein Besuch beabsichtigt, wurde er verwarnt, dass er bei Überschreitung der Aufenthaltsfrist zur Rückkehr nach Deutschland oder Österreich gezwungen werde. Derartiger Antisemitismus war weit verbreitet, auch in den USA, wie eine Meinungsumfrage vom März 1938 zeigt. Auf die Frage „Würden Sie der Zulassung einer größeren Anzahl jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland zustimmen“, antworteten von den befragten Amerikanern 75 Prozent mit „nein“, 8 Prozent waren unentschlossen und nur 17 Prozent antworteten mit „ja“. Am 21. März 1938 beauftragte Präsident Roosevelt den Stellvertretenden Außenminister Sumner Welles, binnen 24 Stunden „etwas“ zur Lösung der Flüchtlingsfrage vorzubereiten. Welles schlug die Gründung eines internationalen Komitees vor, das die Auswanderung von „religiösen“ und „rassischen“ Flüchtlingen aus Österreich und voraussichtlich Deutschland erleichtern sollte. Roosevelt änderte diese Begriffe in „politische“ Flüchtlinge. Am 23. März 1938 erging die Einladung an 31 Staaten (an 19 lateinamerikanische Republiken, an drei britische Dominions sowie an neun westeuropäische Nationen). In den Einwanderungsländern, auch in den einladenden USA, stand dem Interesse der Flüchtlinge das Interesse der einheimischen Arbeitslosen entgegen. In den USA lag deren Zahl zwischen 10,5 und 14 Millionen. Doch nach dem Einwanderungsgesetz von 1921 durften jährlich nur 25.957 Visa an deutsche und 1.413 an österreichische Einwanderer vergeben werden. Beide Quoten zusammen (27.270) machten etwa ein fünfzigstel Prozent der amerikanischen Bevölkerung aus. Diese Relation gab eigentlich keinen Anlass zur Dramatisierung. Das Haupthindernis war die Finanzierung der Einreise. Während der Weltwirtschaftskrise 1930 war in den USA die „Likely to become a Public Charge“-Klausel (abgekürzt LPC) eingeführt worden. Nur wenn der Einwanderer ein hinreichend großes
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Vermögen in den USA besaß oder ein amerikanischer Bürger ein „affidavit of support” abgab, also für den Unterhalt bürgte, war eine Einwanderung möglich. Diese neue Regelung wollte das State Department rigoros anwenden, um die Zahl der ausgegebenen Visa auf etwa zehn Prozent der gesetzlichen Quote zu beschränken. Auch die Quote selbst sollte gesenkt werden, um zu vermeiden, dass „in New York Schiffe ankommen, voll mit jüdischen Einwanderern“. Dennoch stieg bis 1937 die Zahl der Visa für Deutschland wieder auf 10.895, also auf 39 Prozent der Quote. Das Devisenproblem war nur für die Auswanderung nach Palästina gelöst: durch das am 25. August 1933 zwischen der „Jewish Agency“ und der Reichsbank abgeschlossene Haavara-Abkommen (Haavara = Transfer). Der Auswanderungswillige zahlte die für ein Einreisevisum benötigte Summe auf ein Sonderkonto bei der Reichsbank ein. Mit diesem Reichsmarkbetrag wurden deutsche Exportgüter für Palästina gekauft. Der dort erzielte Verkaufserlös in palästinischer Währung wurde, nach Abzug der Unkosten, dem Einwanderer beim „Haavara Trust and Transfer Office“ gutgeschrieben. Die Gutschrift diente als Vorzeigegeld für die Zuteilung eines Visums. Auf diesem Weg wurde von 1933–1941 mit 139,57 Millionen Reichsmark die Einwanderung von 52.000 Juden nach Palästina ermöglicht. Die Regierungsvertreter tagten vom 6. bis 15. Juli 1938 in Evian les Bains am französischen Ufer des Genfer Sees, nachdem die Schweizer Regierung die Aufnahme der Konferenz verweigert hatte. In das Konferenzregister waren auch 39 Flüchtlingsorganisationen eingetragen, darunter 20 jüdische. Die deutschen und österreichischen jüdischen Organisationen waren nicht eingeladen, jedoch „mit Genehmigung“ der Gestapo angereist. 200 Journalisten beobachteten kritisch das Geschehen. Zum Leiter der amerikanischen Delegation berief Roosevelt seinen politischen Freund Myron C. Taylor, von dem erwartet wurde, dass er ein Zeichen für mehr Liberalität in der Einwanderungspolitik setzen werde, doch er verlor kein Wort zu diesem Thema. Ebenso enttäuschte der britische Delegationsleiter, Earl of Winterton, Chancellor of the Duchy of Lancaster. Zu der jüngsten Beschränkung der jüdischen Einwanderung nach Palästina durch das „Palästina Weißbuch“ hatte er nichts zu sagen. Auch die übrigen, in öffentlicher Sitzung gehaltenen Reden der Regierungsvertreter brachten keine seriösen, belastbaren Angebote zur Flüchtlingsaufnahme. Die Auswertung der Stellungnahmen der privaten Organisationen blieb den einzelnen Delegationen überlassen. Den beiden jüdischen Delegationen aus Berlin und Wien wurde Gelegenheit gegeben, die Probleme aus ihre Sicht vorzutragen. Die Ergebnisse der nicht öffentlichen Beratungen in den Ausschüssen und der Inhalt der Denkschriften der Hilfsorganisationen machten deutlich, dass die Beratungsteilnehmer den Verhandlungen mit Deutschland sowohl einen zeitlichen wie einen inhaltlichen Vorrang einräumten. Zentrale Aufgabe des zu gründenden speziellen Komitees sollte es sein, mit dem Ursprungsland über die geordnete Auswanderung und mit den Einwanderungsländern über die Aufnahme der Flüchtlinge zu verhandeln. Das State Department wollte Verhandlungen mit Deutschland unbedingt verhindern. Doch erst wenn feststand, wieviel Kapital die Flüchtlinge mitbringen, wollten die Zielländer die Anzahl der Flüchtlinge festlegen, die sie aufnehmen würden. In der nichtöffentlichen Sitzung am 14. Juli erreichte Taylor die einstimmige Annahme der Schlussresolution, nachdem er zugesichert hatte, dass die Zustimmung nur eine
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„Empfehlung“ darstelle und jede Regierung selbständig über deren Übernahme entscheiden könne. Mit Sitz in London wurde ein „Intergovernmental Committee“ (IGC) als eine permanente, selbständige Einrichtung gegründet. Der Vorstand erhielt einen britischen Vorsitzenden, Lord Winterton, und vier stellvertretende Vorsitzende, darunter einen Amerikaner (Taylor), einen Franzosen, einen Niederländer sowie einen Brasilianer. „Geschäftsführender Direktor“ wurde ein Amerikaner, der auf diplomatischem Parkett erfahrene Rechtsanwalt George Rublee. Zunächst ermittelte Rublee aus Statistiken und Angaben der jüdischen Verbände, dass etwa 500.000 Personen aus dem erweiterten Deutschland evakuiert werden müssten, in einem Zeitraum von fünf Jahren, also in Jahresraten von jeweils 100.000 Menschen. Ein Viertel dieser Jahresrate, nämlich 27.000 Flüchtlinge, sollten die USA aufnehmen. Würden die übrigen Evian-Staaten in einem ähnlichen Verhältnis Flüchtlinge aufnehmen, wäre es möglich, die Sollzahl von 100.000 Einwanderern pro Jahr zu erfüllen. Mit Spenden allein war die Auswanderung von 500.000 Menschen nicht zu finanzieren. Ein Rückgriff auf das jüdische Vermögen in Deutschland war unumgänglich. Doch Außenminister Cordell Hull schloss eine Anwendung des Haavarasystems außerhalb Palästinas aus. Darüber kam es zum Streit mit Rublee und Taylor. Schließlich landete der Streitfall bei Professor Herbert Feis, dem Adviser on International Economic Affairs, dem einzigen Juden auf der Führungsebene im State Department. Feis empfahl einen Kompromiss: Geschlossen auswandernde Gruppen könnten sich mit ihrem Reichsmarkvermögen in Deutschland Maschinen, Geräte, Saatgut oder Düngemittel beschaffen, die nur dem unmittelbaren Aufbau einer neuen Existenz dienten. Damit war sichergestellt, dass keine deutschen Waren zusätzlich auf den internationalen Märkten erscheinen konnten. Der Stein des Anstoßes, der bilaterale Warentransfer, war weggeräumt. Doch in dem Modell von Feis fielen, anders als im Haavara-Modell, keine Bardevisen an, die als Landungs- oder Vorzeigegeld oder als Unterhaltsgarantie bei der Einzeleinwanderung benötigt wurden. Es verblieb nur die Gruppenauswanderung: die Kolonisation. Da das arktische Alaska aus juristischen Gründen als Siedlungsgebiet ausgeschieden war, konzentrierte sich das Interesse auf das tropische British-Guayana. Doch das Siedlungsgebiet war nur auf Eselsrücken oder mit einem Wasserflugzeug erreichbar. Chaim Weizmann hat diese Spekulationen in die Worte gefasst: „Alle Länder, über die gesprochen wurde, waren entweder zu heiß oder zu kalt. In der gemäßigten Zone konnte keines gefunden werden.“ Inzwischen wurden auf diplomatischem Weg Kontakte zu Deutschland gesucht. Diesen Versuchen kam schließlich der Reichsbankpräsident Dr. Hjalmar Schacht zuvor. Er reiste am 15. Dezember 1938 als „Privatperson“ mit Genehmigung Hitlers nach London. Dort führte er Gespräche mit seinem Kollegen Montagu Norman, dem Gouverneur der Bank von England, der die Reise vorbereitet hatte, sowie mit Lord Winterton und Rublee. Sein Konzept umfasste drei Komponenten für die Evakuierung von 400.000 Menschen innerhalb von drei Jahren: Kapitalexport von 1,5 Milliarden RM im Wege eines Warentransfers, die Vorfinanzierung dieser Kapitalbewegung durch eine Anleihe im Ausland, die bedingte Beendigung des antisemitischen Terrors in Deutschland ab dem Zeitpunkt, zu dem der Plan in Vollzug gesetzt würde.
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Schacht führte keine Verhandlungen; doch seine Informationsgespräche öffneten dem geschäftsführenden Direktor des IGC Rublee den Weg nach Berlin. Dort begannen am 11. Januar 1939 die Verhandlungen Rublees mit Schacht. Nach dessen Entlassung als Reichsbankpräsident wurden sie mit Ministerialdirektor Helmut Wohlthat, aus Görings Behörde für den Vierjahresplan, fortgesetzt. Nach zwölf Sitzungen übersandte Rublee am 1. Februar auf neutralem Papier ohne Kopfbogen ein „streng vertrauliches Memorandum“ an Wohlthat. Dieser bestätigte in gleicher Form, dass dieses Memorandum den Inhalt der geführten „Unterredungen richtig wiedergibt“. In dem Memorandum vom 1./2. Februar war festgelegt: Von den 600.000 in Deutschland, einschließlich Österreich und Sudetenland, lebenden Juden sollten 150.000 Lohnempfänger zuerst auswandern „und zwar in jährlichen Kontingenten während eines Zeitraums von drei bis höchstens fünf Jahren“. Ihnen sollte die Gruppe der Unterhaltsberechtigten folgen. Für die Juden, „die in Lagern festgehalten werden“, sollten, soweit sie nicht „aus Gründen der öffentlichen Sicherheit in Haft“ waren, die Haftgründe „automatisch verschwinden, wenn ein Programm für organisierte Auswanderung durchgeführt wird“. Davon war man in London und Washington weit entfernt. Man hoffte auf die Ergebnisse von „Fact Finding Missions“, die Siedlungsmöglichkeiten in British-Guayana, Nord Rhodesien, den Philippinen und in der Dominikanischen Republik erkundeten. Die langwierigen Prozeduren erregten das Misstrauen der Gestapo in Berlin. Sie schickte am 18. Mai eine Delegation der „Reichsvereinigung der deutschen Juden“ zum IGC nach London mit einem Musterformular, in das eingetragen werden sollte, wie viele Juden jeder Mitgliedsstaat des IGC in den nächsten drei Jahren jährlich aufnehmen sollte. Falls die Delegation keine derartige Erklärung aus London mitbringe, sähe sich die Polizei außerstande, eine neue Welle der Verfolgung zu verhindern. Lord Winterton lehnte diesen Erpressungsversuch ab. Der Stellvertreter des geschäftsführenden Direktors Robert Pell schrieb tief erschüttert über diese tragische Handlungsunfähigkeit: „Wir kamen uns vor wie die erbärmlichsten Hunde, als wir diese armen Menschen so im Stich lassen mußten. Sie verließen uns mit Tränen in den Augen.“ Im State Department war man zufrieden, „daß wir wegen der Flüchtlingsfrage keine Durchbrechung unserer Handelsstruktur zulassen“ und „daß die anderen Regierungen keine Geschäfte [mit Deutschland] machen, die irgendwelche Handelskonzessionen ... enthalten“. Man war überzeugt, durch diese Handelsstruktur das devisenarme Deutschland wirtschaftlich in die Knie und zur Aufgabe der Verfolgungen zwingen zu können. Der Assistant Secretary of State George S. Messersmith schrieb: „Nur eine anständige Behandlung dieser Menschen, dort wo sie jetzt sind, kann das Problem lösen; wir können das nur erreichen, wenn es in Berlin eine vernünftigere Regierung gibt.“ Man wollte nicht glauben, dass bis dahin Jahre vergehen würden. Die deutschen und europäischen Juden wurden Opfer dieser Fehleinschätzung. Bis zur formellen Auflösung nach dem Krieg hat sich das „Intergovernmental Committee“ nur noch mit sich selbst beschäftigt. Trotz hohen diplomatischen Aufwands wurde kein einziges Menschenleben gerettet.
Literatur
Fritz Kieffer
Samuel M. Adler-Rudel, The Evian Conference on the Refugee Question, in: Year Book Leo Baeck Institute XIII (1968), S. 235–273.
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„Der ewige Jude“ (Propaganda-Ausstellung)
Avraham Barkai, German Interests in the Haavara-Transfer Agreement 1933–1939, in: Year Book Leo Baeck Institute XXXV (1990), S. 245–266. Wolfgang Benz, Claudia Curio, Heiko Kauffmann (Hrsg.), Von Evian nach Brüssel. Menschenrechte und Flüchtlingsschutz 70 Jahre nach der Konferenz von Evian, Karlsruhe 2008. Susanne Heim, Deutschland muß ihnen ein Land ohne Zukunft sein, in: Susanne Heim (Hrsg.), Arbeitsmigration und Flucht, Berlin, Göttingen 1993. Fritz Kieffer, Judenverfolgung in Deutschland – eine innere Angelegenheit? Internationale Reaktionen auf die Flüchtlingsproblematik 1933–1939, Mainz 2000. Günter Schubert, Erkaufte Flucht: Der Kampf um den Haavara-Transfer, Berlin 2009. Tommie Sjöberg, The Powers and the Persecuted. The Refugee Problem and the Intergovernmental Committee on Refugees (IGCR) 1938–1947, Lund 1991. Barbara McDonald Stewart, United States Government Policy from 1933–1940, New York 1982. Arieh Tartakower, Kurt R. Grossmann, The Jewish Refugee. Institute for Jewish Affairs, New York 1944. Rolf Vogel, Ein Stempel hat gefehlt. Dokumente zur Emigration Deutscher Juden, München 1977. David S. Wyman, Das unerwünschte Volk. Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main 1989.
„Der ewige Jude“ (Propaganda-Ausstellung) Zur Vorgeschichte der antisemitischen Inszenierung „Der ewige Jude“ als PropagandaAusstellung im Deutschen Museum in München gehören zwei Ereignisse, die zum einen die Intention vorgaben, nämlich die Stimulierung von Emotionen durch Denunziation und zum anderen die Methode. Den größten Publikumserfolg mit mehr als zwei Millionen Besuchern hatte die Ausstellung „Entartete Kunst“, die vom 19. Juli 1937 bis zum 30. November 1937 in München gezeigt wurde. Die Kunstwerke waren in drangvoller Enge auf chaotische Weise präsentiert. Die Kommentare, als Parolen an die Wände geschmiert, lauteten „Offenbarung der jüdischen Rassenseele“ oder „Jüdische Wüstensehnsucht macht sich Luft – der Neger wird in Deutschland zum Rassenideal einer entarteten Kunst“. Am 7. November 1936 war eine andere Ausstellung, die „Große antibolschewistische Schau“, im Bibliotheksbau des Deutschen Museums eröffnet worden. Anprangerung war auch hier die Methode, die mit allen Mitteln der Suggestion, der Diffamierung, der Stigmatisierung angewendet wurde. Das Plakat der antikommunistischen Ausstellung, die in Vorwegnahme des Folgeprojekts schon reichlich antisemitische Elemente enthielt (um die Verbindung von Bolschewismus und Judentum zu demonstrieren), zeigt eine von einer Knochenhand gehaltene Brandfackel über einer von einer Kirche überragten Stadt. Politische Absicht war es, das nationalsozialistische Deutschland als Bollwerk gegen die Bedrohung der Welt durch den Kommunismus darzustellen. Die gleichen Männer verantworteten ein Jahr später auch die Schau „Der ewige Jude“: Der stellvertretende Gauleiter von München-Oberbayern Otto Nippold als Initiator, der stellvertretende Gau-Propagandaleiter Walther Wüster als Ausführender. Gestalter waren der Architekt Fritz von Valtier und der Maler Horst Schlüter.
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Die „größte Ausstellung Europas“ wurde in der „Hauptstadt der Bewegung“ im Bibliotheksbau des Deutschen Museums am 8. November 1937 eröffnet. Ein riesenhaftes Plakat mit dem Titel der Propagandaschau „Der ewige Jude“ war an der Fassade des Bibliotheksbaus montiert worden. Die Graphik, die das Zerrbild eines bärtigen Juden zeigte, ausgestattet mit den Attributen des Wucherers, einer Geißel und einer Weltkarte des Bolschewismus, wurde als Plakat, als Postkarte, als Buchumschlag der Begleitpublikation weit verbreitet. Im „Völkischen Beobachter“ war zu lesen, dass die Ausstellung „die erste in Art und Umfang auf der Welt überhaupt“ sei, die auf 3.500 qm Fläche „den Einfluß des Judentums von den ersten päpstlichen Edikten bis zur letzten Unterschlagungsurkunde“ zeige. Der Gang durch die 20 Säle demonstrierte, dass mit denunziatorischen Gesten, dem Appell an stereotype Feindbilder und der Wiederholung diffamierender Behauptungen die schlichte Weltsicht eines Rassenantisemitismus propagiert wurde, der im 19. Jahrhundert entstanden war, sich aber erst nach dem Ersten Weltkrieg als programmatisches Element rechtsextremistischer, ultrakonservativer und deutschnationaler Agitation voll entfalten konnte. Der erste Saal war den „biologischen Grundlagen des Judentums“ gewidmet, d.h. der rassistischen Diffamierung der Minderheit, im zweiten Saal war die jüdische Religion in Gestalt von Thora, Schulchan Aruch und Talmud Gegenstand herabsetzender, falscher und beleidigender Interpretation. Die „Geschichte des Judentums“ war anschließend thematisiert als Gang durch die Weltgeschichte, in der Juden angeblich omnipräsent waren als Wucherer und Hehler, die man aus Notwehr in Ghettos sperren oder vertreiben musste, die den Zorn des Papstes Innozenz III. ebenso wie die Wut des Reformators Martin Luther hervorriefen. Im Absolutismus hätten es viele Juden verstanden, sich an Fürstenhöfen unentbehrlich zu machen, indem sie dem Volk das Geld auspressten. Die Reformen Hardenbergs auf dem Weg zur Emanzipation hätten im 19. Jahrhundert den Juden den Weg freigemacht, sich aller Gebiete des wirtschaftlichen, staatlichen und kulturellen Lebens zu bemächtigen. Die Weimarer Republik („Novemberdeutschland“) sei das „Eldorado des Judentums“ gewesen: Film und Theater, die Revue, die Presse, die Literatur, den Rundfunk, die Mode, die Justiz, die Heilkunde, die Universität – alles hätten die Juden beherrscht. Die Sprache nationalsozialistischen Judenhasses war illustriert mit Kinoplakaten, Revuebildern, Werken jüdischer Schriftsteller, die pauschal als Schund- und Schmutzliteratur apostrophiert waren. Fotos jüdischer Unternehmer sollten Abscheu erregen, und skandalisiert waren sexuelle Aufklärung, wie sie Magnus Hirschfeld propagierte und der angeblich von Juden geführte Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen des Strafgesetzbuches. Ein Thema zentraler Entrüstung war auch der ewige Topos der „engen Verflechtung zwischen Judentum und Bolschewismus“. Als ebenso unerlässliches Nebenthema wurden die Freimaurer als vermeintliche Instrumente der Juden traktiert. Am Eröffnungsabend der Ausstellung, dem 8. November 1937, hatte das Bayerische Staatsschauspiel ins Münchner Residenztheater eingeladen, am 11. November wurde die Darbietung im Prinzregententheater wiederholt. Unter dem Titel „Der ewige Jude“ kam eine Collage von Szenen und Texten zur Aufführung, die mit theatralischen Mitteln den denunziatorischen Zweck der Ausstellung unterstützen sollte.
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Eine Broschüre begleitete die Ausstellung. Es handelte sich um eine Kompilation von 265 Bildern, die ohne erkennbare Systematik Juden in unvorteilhaften Situationen, als Verbrecher, als Sittenstrolche, als lächerliche Gestalten oder als gefährliche Politiker, Wirtschaftsbosse, Bankiers usw. vorführten. Leitidee war ausschließlich die pejorative Absicht, die in Bildunterschriften und höhnischen Kommentaren ohne jede Rücksicht auf Daten und Fakten verwirklicht wurde. Zusammengestellt war die Melange im Stürmerstil von Dr. Hans Diebow. Auch die Universität stellte sich in den Dienst antisemitischer Propaganda. Die „Forschungsabteilung Judenfrage“ des „Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands“ veranstaltete im Dezember 1937 und Januar 1938 einen Zyklus von neun Vorträgen in der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der Besuch der Ausstellung kostete 50 Pfennige Eintritt, im Vorverkauf bei den Ortsgruppen der NSDAP konnte man die Karten für 35 Pfennige erwerben. Womöglich war neben der breiten Berichterstattung auch das Verdikt „Jugendliche haben keinen Zutritt“ werbewirksam. Allerdings wurden die höheren Klassen der Münchner Volksschulen und die entsprechenden Jahrgänge der höheren Schulen „unter Führung ihrer Erzieher durch einen für Jugendliche geeigneten Teil der Ausstellung geführt“. Die Sonderpostkarte zur Ausstellung war nach wenigen Tagen vergriffen. Als am 31. Januar 1938 die Ausstellung schloss, waren 412.300 Besucher gezählt worden. Im Ausland hatte die Propagandaschau keine gute Presse. Die Londoner „Times“ schrieb, in der Naziausstellung würden Juden, die zu Deutschlands Ruhm und Größe beigetragen hätten wie Heine, Börne, Rathenau, Einstein, „der Schande preisgegeben“, was vom „Völkischen Beobachter“ höhnisch kommentiert wurde. Wien, das nach dem „Anschluss“, der Annexion Österreichs im März 1938, zum Deutschen Reich gehörte, war die erste Station der Ausstellung auf der Wanderschaft. In der Halle des Nordwestbahnhofs an der Taborstraße (sie diente seit 1924, als der Personenverkehr auf der Nordwestbahn eingestellt wurde, als Ort von Kundgebungen und sportlichen Ereignissen), eröffnete Reichsstatthalter Seyß-Inquart am 2. August 1938 die Ausstellung. Sie war für Wien durch zahlreiche Bezüge auf die Ostmark, wie Österreich nun genannt wurde, ergänzt worden. Auch ein Ausstellungsführer war speziell für Wien publiziert worden. Wie der „Völkische Beobachter“ in seiner Wiener Ausgabe hervorhob, biete der den österreichischen Juden gewidmete Teil der Ausstellung auch die Gelegenheit, sich erstmals davon zu überzeugen, „daß ihm bekannte Judengrößen in der gesunden bayerischen Luft zum erstenmal auf ihren krummen Lebenswegen wirkliche Arbeit kennen lernen“. Das war eine Anspielung auf das KZ Dachau, in das politische Gegner und Missliebige aus Österreich nach dem „Anschluss“ deportiert worden waren, unter ihnen der frühere Wiener Bürgermeister Richard Schmitz und der Schauspieler und Kabarettist Fritz Grünbaum, deren Fotos in der Ausstellung zu sehen waren mit der Legende „Juden und Judenknechte in Dachau auf Sommerfrische“. Auch in Wien war die Ausstellung, die bis zum Oktober verlängert wurde, ein großer Erfolg. 350.000 Besucher wurden gezählt, für Wiener Schüler war der Besuch obligatorisch. Anschließend ging die Ausstellung nach Berlin. Sie wurde dort am 12. November 1938 eröffnet, an dem Tag, an dem unter Vorsitz von Hermann Göring die Bilanz der → Novemberpogrome gezogen und Maßnahmen zur Ausplünderung und endgültigen
„Der ewige Jude“ (Propaganda-Ausstellung)
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Ausgrenzung der Juden beschlossen wurden. Im Schatten der „Reichskristallnacht“ fand die Ausstellung in Berlin weniger Beachtung. Bis zum 13. Januar 1939 wurden nach Presseberichten 250.000 Besucher gezählt. Die Sorglosigkeit, mit der die Ausstellung denunzierte, fand auch in Berlin Kritiker. Unter den diffamierenden Fotos, die dem Ausstellungsbesucher die Abscheulichkeit der Juden vor Augen führen sollten, war auch ein Porträt der Physikerin Lise Meitner, die sich zu der Zeit bereits im Exil in Stockholm befand. Daneben hing das Bild ihres Kollegen Otto Hahn, der 1945 für beider gemeinsame Erfolge den Nobelpreis erhielt. Gegen die versehentliche Schmähung Hahns protestierte der Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mit Erfolg. Hahns Foto wurde entfernt. Vom 4. Februar bis 5. März 1939 war die Ausstellung in Bremen zu sehen. Dann ging sie nach Dresden (24. März bis 23. April 1939) und schließlich nach Magdeburg, wo sie vom 13. Mai bis 11. Juni 1939 in der Stadthalle von 80.000 Besuchern gesehen wurde. In der Ausstellung war auch das Medium Film prominent eingesetzt. Eine Collage aus Szenenfotos, Filmplakaten, Filmkritiken und Filmausschnitten sollte beweisen, dass die „jüdische Filmindustrie“ das Geschäft mit der Spekulation auf die niedersten Instinkte des Publikums dominiert hatte. Neben dem zwanzigminütigen Streifen „Juden spielen sich selbst“ (in einer überarbeiteten Version hieß er „Juden ohne Maske“) wurde in einem anderen Raum in der Endlosschleife ein Film über das jüdische Schlachtritual des Schächtens vorgeführt. Der Film „Juden ohne Maske“, für den als Produktion der Reichspropagandaleitung der NSDAP Walter Böttcher und Leo von der Schmiede verantwortlich zeichneten, hatte eine Spieldauer von 36 Minuten. Er durfte nur in Veranstaltungen der NSDAP gezeigt werden, aber nicht vor Jugendlichen. Das waren die Anfänge eines anderen antisemitischen Propagandaprojekts, das unter dem gleichen Namen wenig später in Angriff genommen wurde. Der Kompilationsfilm „Der ewige Jude“, von Fritz Hippler als Regisseur verantwortet, hatte im November 1940 in Łódź („Litzmannstadt“) und in Berlin Premiere. Das pseudo-dokumentarische Propaganda-Elaborat steht in der Tradition der Münchner Propaganda-Ausstellung, benutzt die dort entwickelten Stilelemente der Denunziation bis in Einzelheiten. In Frankreich wurde ab Sommer 1941 die Ausstellung „Le Juif et la France“ gezeigt, die sich konzeptionell an das Münchner Modell anlehnte, aber für das französische Publikum mit großem Aufwand neu entwickelt wurde. Ein Höhepunkt war das elf Meter hohe Monument „Europa macht sich frei vom Juden“; im Ausstellungskino wurde eine französische Fassung von Hipplers Kompilationsfilm „Le peril Juif“ gezeigt. Die Ausstellung war in Paris (4. September 1941 – 10. Januar 1942), dann in Bordeaux (28. März – 10. Mai 1942) und in Nancy (4. Juli – 2. August 1942) zu sehen. Finanziert war das Projekt durch die Deutsche Botschaft in Paris, deren Informationsabteilung auch Planung und Durchführung oblagen. Als offizieller Veranstalter fungierte das vom Sicherheitsdienst der SS unter SS-Obersturmführer Theodor Dannecker (dem Leiter des Judenreferats der Gestapo in Paris) gegründete „Institut d’Etudes des Questions Juives“.
Wolfgang Benz
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Fall Ahmadinedschad
Literatur
Wolfgang Benz, „Der ewige Jude“. Metaphern und Methoden nationalsozialistischer Propaganda, Berlin 2010.
Fall Ahmadinedschad Wenige Wochen nach seinem Amtsantritt im August 2005 nutzte der Überraschungssieger der iranischen Präsidentschaftswahlen, Mahmud Ahmadinedschad, eine Konferenz unter dem bezeichnenden Titel „Die Welt ohne Zionismus“ für eine politische Positionsbestimmung. Vor 4.000 Sympathisanten verkündete er u.a.: „Wie schon der Imam [der verstorbene Ayatollah Khomeini] sagte: ‚Israel muss von der Landkarte verschwinden’.“ Die kurze Aussage vermittelte sowohl, dass Ahmadinedschad während seiner Präsidentschaft eine Renaissance der politischen Visionen Ayatollah Khomeinis anstrebte, als auch das feste Vorhaben, dafür nicht zuletzt dessen ausgeprägten Hass auf Israel wiederzubeleben und zu instrumentalisieren. Deshalb nutzte er auch danach zahlreiche Gelegenheiten im In- und Ausland, um seine Forderung zu wiederholen bzw. zuzuspitzen: „Der wahre Weg zum Frieden im Nahen Osten“ sei „die Vernichtung Israels“. Da aber Antizionismus, häufig kaum unterscheidbar verwoben mit Antisemitismus, zu den konstitutiven Elementen der iranischen Revolution und der aus ihr hervorgegangenen Islamischen Republik Iran gehört, stellten Ahmadinedschads Äußerungen für sich genommen kein Novum dar; auch andere iranische Spitzenpolitiker hatten sich vorher ähnlich geäußert. Bald darauf übertraf Ahmadinedschad aber alle seine Vorgänger und begründete eine neue Qualität des Hasses auf Israel. Im Dezember 2005 behauptete er, der Holocaust des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten habe nie stattgefunden: „Sie haben einen Mythos über den Holocaust geschaffen und stellen ihn über den Glauben an die Religion und die Propheten [...]. Wenn ein Mensch seinen Unglauben an Gott, die Religion und die Propheten bekundet, lassen sie ihn gewähren, aber sie werden jeden verfolgen, der die Wahrheit des Holocaust bezweifelt.“ Wenig später nannte er den Holocaust ein „Märchen“. 2006 nahm Ahmadinedschad den „Karikaturenstreit“ zum Anlass, um erneut polemisch zu fragen, warum die „wissenschaftliche Infragestellung“ des „Holocaust-Mythos“ unmöglich sein solle. Gleichzeitig lobte eine ihm nahestehende Zeitung einen Karikaturenwettstreit zum Thema Holocaust aus, dessen Preisträger im November bekannt gegeben wurden. Im Dezember 2006 lud Präsident Ahmadinedschad zahlreiche prominente Holocaust-Leugner zu einer internationalen Konferenz nach Teheran ein. Außenpolitisches Hauptziel von Ahmadinedschads Rundumschlag gegen Israel und den Zionismus war der Gewinn der „muslimischen Straße“ gewesen. Außerdem wurde ein massiver Bruch mit der Politik seines Amtsvorgängers Khatami signalisiert. Das politische Hauptziel von dessen „Dialog der Zivilisationen“ bestand letztlich im Auseinanderdividieren des Westens. Ahmadinedschad stellte nun resümierend fest, dass das Umwerben der Europäischen Union diese nicht zum Gegengewicht zu den USA gemacht habe, dass im Gegenzug aber das Interesse der Muslime an Iran schwächer geworden sei. Seine antizionistischen und offen antisemitischen Äußerungen machten
Fall Deckert
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nun eine Fortsetzung der Politik Khatamis gegenüber Europa unmöglich; die Holocaustleugnung folgte also einem klaren politischen Kalkül.
Literatur
Henner Fürtig
Fred Halliday, Lebanon, Israel, and the „greater west Asian crisis“ (online). Iran: What does Ahmadi-Nejad’s Victory Mean? International Crisis Group (Middle East Briefing, No. 18), 4.8.2005. Udo Wolter, Einheit durch Feindschaft, die Ideologie des iranischen Präsidenten Ahmadinejad und seiner Vorgänger, in: informationszentrum dritte welt – iz3w – 7/8 (2006).
Fall Bleibtreu, Adolf → Bleibtreu-Affäre (1949) Fall Budde → Fall Nieland (1959) Fall Buschhoff → Ritualmordvorwurf in Xanten (1891)
Fall Deckert Als „Fall Deckert“ wird eine Reihe von Prozessen zwischen 1992 und 1995 gefasst, in denen der NPD-Vorsitzende Günter Deckert u.a. wegen Volksverhetzung angeklagt und verurteilt wurde. Nachdem die Aufhebung des ersten Schuldspruchs durch den Bundesgerichtshof bereits erhebliche Proteste nach sich gezogen hatte, löste das Urteil der Berufungsverhandlung 1994 einen Skandal aus, da die Richter Sympathie und Unterstützung für den Verurteilten bekundeten. Am Beginn steht eine von Deckert durchgeführte Abendveranstaltung in dessen Wohnort Weinheim an der Bergstraße, die am 10. November 1991 vor ca. 120 Teilnehmern stattfand. Als Redner trat Fred A. Leuchter auf, bekannt für den Schriftsatz „Leuchter-Report“, in dem er die Existenz von Gaskammern bestreitet. Sein Vortrag „Poland, the Gas Chamber Myth and My Persecution by the Jews“, in dem mehrfach von der „Gaskammer-Lüge“ die Rede war, wurde von Deckert konsekutiv übersetzt, verbal und nonverbal zustimmend kommentiert, auch betonte und verschärfte Deckert insbesondere Leuchters antisemitische Bemerkungen. Die Staatsanwaltschaft erhob im März 1992 Anklage gegen Deckert, das Landgericht Mannheim sprach ihn am 13. November 1992 der Volksverhetzung, der üblen Nachrede, der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener und der Aufstachelung zum Rassenhass schuldig und verurteilte ihn zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch Deckert legten Revision ein, der Bundesgerichtshof (BGH) hob das Urteil am 15. März 1994 auf. In seiner Begründung betonte der BGH die offenkundige „geschichtliche Tatsache“ der Massenmorde in Gaskammern, verwies aber darauf, „dass das bloße Bestreiten der Gaskammermorde den Tatbestand der Volksverhetzung nicht erfüllt“, sondern hierfür zusätzlich ein Angriff auf die Menschenwürde hinzutreten müsse. Im Urteil seien solcherlei Angriffe Deckerts jedoch „nicht ausreichend dargelegt“ und „festgestellt“ worden, die dortigen Ausführungen teilweise „unklar und lückenhaft“. Zugleich machte der BGH darauf aufmerksam, dass eine Verurteilung als Beleidigung „nahe“ läge, da hierfür bereits die bloße Leugnung ausreiche: Bereits 1979 hatte der BGH in einem wegweisenden Urteil ent-
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Fall Deckert
sprechend entschieden ( → Holocaustleugnung). Von vielen Kommentatoren und in breiten Teilen der Öffentlichkeit wurde – nicht zuletzt aufgrund mangelhafter Vermittlung durch den BGH – die Entscheidung als Anleitung zur straffreien Leugnung des Holocaust verstanden und traf auf erhebliche Kritik. Das Urteil der Revision am Landgericht Mannheim vom 22. Juni 1994, welches das zuvor verkündete Strafmaß bestätigte, löste einen international beachteten Skandal aus. Scharfe Kritik und massive Proteste rief insbesondere die Urteilsbegründung hervor, in der die Richter Deckert als „Mann von hoher Intelligenz“ beschrieben, als „charakterstarke, verantwortungsbewusste Persönlichkeit mit klaren Grundsätzen“, dem seine politische Überzeugung „Herzenssache“ sei und die er „mit großem Engagement“ verfechte. Zugutegehalten wurde Deckert ein „schwere[s] Lebensschicksal“, da er aufgrund seiner Bindung an die NPD „seinen geliebten Beruf“ als Lehrer aufgeben musste. Positiv bewerteten die Richter weiterhin, dass Deckert „die Widerstandskräfte im deutschen Volk gegen die aus dem Holocaust abgeleiteten jüdischen Ansprüche“ stärken wollte, und sie berücksichtigten darüber hinaus auch „die Tatsache, dass Deutschland auch heute noch, rund fünfzig Jahre nach Kriegsende, weitreichenden Ansprüchen politischer, moralischer und finanzieller Art aus der Judenverfolgung ausgesetzt ist“. Deckerts Unrecht habe „im Grunde in der Äußerung einer Auffassung bestanden“. Der für die Urteilsformulierung zuständige Richter Rainer Orlet verteidigte später seine Formulierungen und fügte hinzu, er könne sich gut vorstellen, mit Deckert befreundet zu sein und verglich das Deckert-Urteil mit dem Urteil gegen Hitler nach dessen Putsch: In beiden Fällen habe strafmilderndes „uneigennütziges Verhalten“ vorgelegen. Noch bevor der baden-württembergische Landtag über eine angestrebte Richteranklage entschied, wurde Orlet 1995 auf eigenen Antrag „aus gesundheitlichen Gründen“ in den Ruhestand versetzt. Erneut beantragten die Staatsanwaltschaft sowie Deckert eine Revision; im Dezember 1994 hob der BGH das Urteil auf und entschied, dass das Hinwegsetzen über die „offenkundige Tatsache“ der Massenmorde in Gaskammern sowie „politische Verblendung“ keine Strafmilderung begründen könne, ebenso sei „ein durch seinen volksverhetzenden Charakter geprägtes Motiv“ nicht strafmildernd zu würdigen. Das Berufungsverfahren wurde nun dem Landgericht Karlsruhe übergeben, das Deckert im April 1995 der Beleidigung, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener und der Aufstachelung zum Rassenhass schuldig sprach und zwei Jahre Freiheitsstrafe anordnete. Ein Revisionsantrag Deckerts wurde im Oktober 1995 verworfen. Die heftige öffentliche Diskussion um den Fall Deckert und insbesondere die Feststellung des BGH vom März 1994, dass die Leugnung des Holocaust nur dann im Rahmen des Volksverhetzungsparagraphen § 130 strafbar ist, wenn sie mit einem Angriff auf die Menschenwürde einhergeht („qualifizierte Auschwitz-Lüge“), nicht jedoch wenn der Holocaust lediglich bestritten wird („einfache Auschwitz-Lüge“), beförderte gesetzgeberische Änderungen maßgeblich. Mit der Neufassung des § 130 des Strafgesetzbuchs wurde Holocaustleugnung zum 1. Dezember 1994 nun ein eigener Straftatbestand, der mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet wird.
Christian Mentel
Fall Frank, Leo (USA 1913)
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Literatur
Wolfgang Benz, Realitätsverweigerung als antisemitisches Prinzip: Die Leugnung des Völkermords, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils, München 1995, S. 121–139. Gregor Peter Schmitz, Geschichte per Gesetz? Die Debatten zum Umgang mit dem Phänomen der Holocaustleugnung in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika, Diss. Universität Erfurt 2007.
Fall Frank, Leo (USA 1913) Von einigen als „Amerikas Dreyfus-Affäre“ betrachtet, stellte der Fall Leo Frank einen der wichtigsten Ausbrüche von Antisemitismus in der Geschichte der Vereinigten Staaten dar. Der Fall Leo Frank begann mit der Ermordung eines Mädchens und endete mit dem Lynchmord an einem unschuldigen Mann. Am 26. April 1913 wurde Mary Phagan, eine dreizehnjährige Arbeiterin der „National Pencil Factory“ in Atlanta im Bundesstaat Georgia, ermordet. Unter wachsendem Druck der Presse verhaftete am 29. April die Polizei den Fabrikdirektor Leo Frank. Der Prozess gegen ihn begann am 28. Juli und dauerte vier Wochen. Die Anklage des Staatsanwalts basierte auf fehlerhaften Beweisen. Trotzdem brauchten die Geschworenen nur vier Stunden, um Frank für schuldig zu befinden, er wurde zum Tod durch den Strang verurteilt. Mit Hilfe einiger prominenter Juden aus dem Norden, u.a. Louis Marshall, Präsident des „American Jewish Commitee“, versuchte Franks Verteidigung mehrfach erfolglos, den Prozess neu aufzurollen. Im Juni 1915 änderte John M. Slaton, Gouverneur von Georgia, das Urteil in lebenslängliche Strafe um. Empört über die Entscheidung des Gouverneurs entführte eine Gruppe aus „besten Bürgern“ von Marietta Leo Frank am 16. August 1915 aus dem Gefängnis und erhängte ihn an einem Baum nicht weit von Mary Phagans Haus entfernt. Der Fall Leo Frank gehört in den größeren Zusammenhang von wachsendem Antisemitismus in den Vereinigten Staaten vor dem Ersten Weltkrieg. Im Süden führten wirtschaftliche und gesellschaftliche Änderungen zu Unsicherheit und Ressentiments, die viele Leute für antisemitische Ideen aufnahmefähig machten. Juden wurden für viele Probleme verantwortlich gemacht, für Drogen, Glücksspiel und Prostitution. Auch gab es in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine Tendenz, Juden mit dem „weißen Sklavenhandel“ in Verbindung zu bringen. Der angesehene Soziologe und Progressive E. A. Ross hat 1914 diese Empfindung zusammengefasst: „The fact that pleasure-loving Jewish businessmen spare Jewesses, but pursue Gentile girls, excites bitter comment.“ Die Sensibilität amerikanischer Juden für die antisemitischen Verwicklungen des Falls Leo Frank muss auch in einem internationalen Zusammenhang verstanden werden. Die Tatsache, dass der Fall kurz nach der → Dreyfus-Affäre in Frankreich und der → Beilis-Affäre in Russland stattfand, trug zur Unruhe unter den Juden bei. Antisemitische Parolen wurden besonders häufig nach der Umwandlung von Franks Todesurteil verbreitet. In Marietta wurde Gouverneur Slatons Bild mit einem Schild verbrannt, auf dem stand „John M. Slaton, King of the Jews and Georgia’s Traitor Forever“. In vielen Orten wandten sich Einwohner Georgias gegen ihre jüdischen Nach-
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Fall Jenninger
barn. In Canton drohten sie allen Juden, die nicht innerhalb von 24 Stunden die Stadt verlassen würden, mit Kollektivrache. Öffentliche Drohungen sind auch in anderen Teilen Georgias gegen Juden ausgesprochen worden, jüdische Kaufläden wurden boykottiert. Der populistische Demagoge Tom Watson deutete an, dass Geld und Einfluss geholfen hätten, einen jüdischen Mörder zu retten. Vier Wochen nachdem Frank ins Gefängnis gesperrt worden war, wurde er von einem Mann in den Hals gestochen, der behauptete, dass er „vom Himmel“ dazu berufen worden sei, den Juden umzubringen. Zwei bemerkenswerte Nachwirkungen des Falls Leo Frank zeigen die Bedeutung dieser Episode für die weitere Geschichte des Antisemitismus in den USA: einerseits die zweite Gründung des „Ku Klux Klans“ durch Colonel William J. Simmons im Herbst 1915. Simmons hatte schon früher darüber nachgedacht, aber erst die verbreitete Wut über den Prozess gab ihm dazu die Möglichkeit. Abgesehen von den Ähnlichkeiten zum Klan aus der Zeit nach dem Bürgerkrieg, war dieser neue „Ku Klux Klan“ insofern anders, als dass nun Juden in die Liste der Feinde aufgenommen wurden. In den 1920er Jahren wurde der Klan aus größten antisemitischen Organisation in Amerika. Andererseits hat der Fall Leo Frank auch zu einer Reaktion auf jüdischer Seite geführt. Vier Wochen nach dem Prozess gründete die „B’nai B’rith“ die „Anti-Defamation League“, um Antisemitismus zu bekämpfen. Das Leitungsgremium hatte dies schon länger diskutiert, der Fall Frank gab den endgültigen Impuls dazu. Diese Gründung reflektierte das Bewusstsein amerikanischer Juden hinsichtlich der Zunahme des Antisemitismus in den USA vor dem Ersten Weltkrieg.
Literatur
Richard Frankel
Leonard Dinnerstein, The Leo Frank Case, Athens 2008. Albert S. Lindemann, The Jew Accused: Three Anti-Semitic Affairs (Dreyfus, Beilis, Frank) 1894–1915, Cambridge 1991.
Fall Jenninger Der CDU-Politiker Philipp Jenninger hielt in seiner Funktion als Bundestagspräsident am 10. November 1988 in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages vor den Abgeordneten und zahlreichen Ehrengästen die Gedenkrede zum 50. Jahrestag der → Novemberpogrome von 1938. In dieser Rede, in der Jenninger sich in den „Geist der NSZeit“ versetzte, ging er der Frage nach, warum sich so viele Deutsche für den Nationalsozialismus begeistert und an der Verfolgung der Juden beteiligt bzw. schweigend zugesehen hätten. Durch die dabei verwendete Form der „erlebten Rede“, seine sachlichkühle und monotone Sprechweise und Formulierungen, in denen er die Jahre 1933 bis 1938 als „Faszinosum“ bezeichnete oder den Reichsführer SS Heinrich Himmler ausführlich zu Wort kommen ließ, erweckte er bei einigen Zuhörern den Eindruck, er identifiziere sich mit dem Verhalten der damaligen Bevölkerung bzw. gar mit den Nationalsozialisten, während er damit versucht hatte, deren zustimmende Haltung und damit ihre historische Mitverantwortung zu bekräftigen. Schon kurz nach Beginn der Rede erhob die Abgeordnete der Grünen Jutta Oesterle-Schwerin Protest und verließ den Plenarsaal, ihr folgten nach und nach eine grö-
Fall Jenninger
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ßere Zahl von Abgeordneten. Die Rede und der Protest dagegen lösten einen Skandal aus, der in der ausländischen Presse in dem Vorwurf gipfelte, in der Rede sei eine Verteidigung der Hitler-Ära und Antisemitismus spürbar geworden. Zwar erhoben nur die Grünen eine Rücktrittsforderung, doch ging es allen Parteien um innen- wie außenpolitische Schadensbegrenzung. Einen Tag nach seiner Rede trat Jenninger nach anfänglichem Widerstand mit dem Ausdruck des Bedauerns, „andere in ihren Gefühlen verletzt zu haben“ und „zutiefst missverstanden worden zu sein“, verbittert von seinem Amt zurück. Für diesen von den Parteien für angemessen und notwendig gehaltenen Schritt wurde ihm Respekt von Seiten der eigenen Partei und der SPD wie FDP gezollt. In der Öffentlichkeit wurde die Rede, zumal viele sie später in der Schriftform rezipierten, ganz gegensätzlich beurteilt. Neben Stimmen, die von Schock und Skandal sprachen, verteidigten andere die Rede und sahen in ihr sogar „einen beachtlichen Beitrag zum Verständnis des Schicksalsjahres 1938“ – so der Zeithistoriker Hans-Adolf Jacobsen. Der Vorwurf, „Jenninger habe keinen historischen Fehler vermieden“, war jedenfalls unberechtigt. Mit wachsendem zeitlichen Abstand gab es ein gewisses Umschwenken der öffentlichen Meinung, da viele ihr negatives Urteil beim Nachlesen der Rede revidierten. In Tausenden von Briefen aus dem In- und Ausland erfuhr Jenninger im Gegensatz zur Kritik von Politikern und Medien eine eher „nachdenkliche Zustimmung“. Dass nicht der Inhalt der Gedenkrede, sondern Jenningers Vortragsstil das Missverständnis und den Protest auslösten, wird daran erkennbar, dass der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, am 9. November 1989 die monierten Passagen der Rede im Wortlaut vortrug, ohne auf Kritik zu stoßen. Er selbst hielt die Rede für eine zutreffende Beschreibung des Mitläufertums in der NS-Zeit und die Erzwingung des Rücktritts für eine Überreaktion. Diese Überreaktion ist nur aus der Vorgeschichte des Falles zu verstehen. Sie ist einmal dem Sensibilisierungsprozess, aber auch der zunehmenden Normierung von Gedenkritualen geschuldet, die in den 1980er Jahren durch eine ganze Reihe öffentlicher Konflikte um die NS-Vergangenheit und den Holocaust ( → Bitburg-Affäre, → Fassbinder-Kontroversen, → Historikerstreit) in Gang gekommen waren. Der Vorwurf an Jenninger lautete vor allem „Mangel an Sensibilität“, so der Brief der SPD-Fraktion, und Verkennung der Wirkung auf die jüdischen Opfer. Er sei mit „geistigen Knobelbechern durch die Geschichte marschiert“, warf ihm die „Süddeutsche Zeitung“ am Tag nach der Rede vor. Der Fall hat aber noch eine andere, von Konflikten im Vorfeld der Rede geprägte Vorgeschichte, die vermuten lässt, dass die Skandalisierung geplant war. Ende Oktober 1988 war es zu einer „Kontroverse über Pogrom-Gedenkstunde“ gekommen („Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 29.10.1988), weil Abgeordnete der Grünen und der FDPAbgeordnete Lüder den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in West-Berlin, Heinz Galinski, andere einen Historiker oder den Bundesratspräsidenten Björn Engholm (SPD) bei der geplanten Gedenkstunde hatten sprechen lassen wollen. Die Zurückweisung seitens des Ältestenrates des Bundestages und das hartnäckige Beharren auf Übernahme der Rede durch Jenninger, der als rhetorisch wenig begabt galt, machte die Gedenkstunde schon vorab zum Politikum, zumal von dem konservativen Politiker von vielen eher Verdrängung oder historische Selbstentlastung der Deutschen erwartet wurde. So war Jenningers Rede schon umstritten, bevor er überhaupt einen Satz gesagt
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Fall Lewin, Herbert
hatte. Dafür spricht auch der Ablauf der Gedenkveranstaltung. Die Abgeordnete Oesterle-Schwerin protestierte bereits nach wenigen einleitenden Begrüßungssätzen Jenningers mit dem Zwischenruf „Das ist alles gelogen“, verließ mit anderen Abgeordneten vor den live übertragenden Kameras mehrerer Fernsehsender den Saal und löste so in einer Art „autosuggestiver Dynamik“ den Skandal aus, da die Medien dieser Skandalisierung folgten. Deshalb wird rückblickend das Ereignis als politisch inszenierter, vorsätzlicher „Pseudo-Skandal“ gewertet.
Literatur
Werner Bergmann
Werner Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989, Frankfurt am Main 1997. Hans Jürgen Heringer, Wie man etwas nicht sagen darf: Der Fall Jenninger, in: Hans Jürgen Heringer, „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort“: Politik, Sprache, Moral, München 1990, S. 163–176. Claus Leggewie, Sybille Müller, Tim Nungesser, „Nicht alles darf man beim Namen nennen – in Deutschland“, Skandal im Skandal: Die Bundestagsrede Philipp Jenningers zur „Kristallnacht“, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 20 (1991), S. 128–132. Frank Stern, „Irgendwie musste das ja endlich mal gesagt werden!“ Die Jenninger-Rede zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht 1938, in: Ruth Wodak u.a., Die Sprachen der Vergangenheit. Öffentliches Gedenken in österreichischen und deutschen Medien, Frankfurt am Main 1994, S. 163–190.
Fall Lewin, Herbert Die Vorgänge um die Berufung des aus dem Konzentrationslager zurückgekehrten Herbert Lewin als Chefarzt der Städtischen Frauenklinik Offenbach begründeten 1949/50 einen der ersten antisemitischen Skandale der jungen Bundesrepublik. Die Stadt Offenbach suchte 1949 einen Chefarzt an der Städtischen Frauenklinik. Für den schon über 50-jährigen Herbert Lewin schien es ein Glücksfall. Der Arzt hatte sich 1948 in Köln habilitieren können. 1941 war er von dort mit Frau und Kind in das Getto („Litzmannstadt“) deportiert worden. Er überlebte Łódź und die Lager Auschwitz-Birkenau, Sachsenhausen, Schwarzheide und schließlich Theresienstadt, wo er jeweils als Häftlingsarzt eingesetzt worden war. Seine Frau wurde in Ravensbrück ermordet, vom Schicksal des Sohnes – der überleben konnte – wusste er lange nichts. Bei der Besetzung der gynäkologischen Chefarztstelle hatte der Magistrat in geheimer Abstimmung zunächst Lewin mit fünf Stimmen den Vorzug gegeben, der Gegenkandidat Tietze – vor 1945 Lehrstuhlinhaber an der Universität Danzig – erhielt vier Stimmen. Offensichtlich war das Ergebnis so nicht erwartet worden. Es wurde debattiert und erneut – nun offen – abgestimmt. Diesmal fiel mit vier Simmen für Tietze, zwei Stimmen für Lewin und drei Enthaltungen die Entscheidung gegen Lewin aus. Es war der Offenbacher Stadtrat Heinrich Galm, Stadtverordneter der linkssozialdemokratischen und nur in Offenbach relevanten, vor allem aus der Kommunistischen Partei Opposition (KPO) der Weimarer Zeit hervorgegangenen Arbeiterpartei, der die skandalöse Debatte publik machte. Demnach habe sich der CDU-Bürgermeister wie folgt ge-
Fall Lewin, Herbert
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äußert: „Sie können den Offenbacher Frauen nicht zumuten, dass sie einem Mann wie Dr. Lewin ausgeliefert werden […], es handelt sich hier um einen Mann, der aus dem KZ kommt und dessen Familie […] entweder vergast oder ermordet worden ist, der also mit den Ressentiments seiner Rasse und mit dem Rachegefühl des KZlers seine Arbeit antreten wird.“ Und der sozialdemokratische Oberbürgermeister soll gesagt haben: „Sie entscheiden sozusagen über das Schicksal der Offenbacher Frauen […] Sie können die Frauen Offenbachs und die Frauenklinik nicht einem Dr. Lewin anvertrauen.“ Auch seitens der Gutachter, allesamt frühere NS-Mediziner, kamen entsprechende Einschätzungen. Auch wenn die antisemitischen Sätze später geleugnet wurden und sich keiner mehr an die genaue Wortwahl erinnern wollte, war der Skandal in der Welt. Bereits „wenige Stunden nach der ersten Pressemeldung“, so berichtete seinerzeit das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, traf „Mr. M. M. Mayer, von der Abteilung für politische Affären beim US-Landeskommissar für Hessen in Offenbach ein. Landeskommissar James R. Newton interessiert sich persönlich für den Fall.“ Mayer und Mitarbeiter verhörten stundenlang die Magistratsmitglieder. Die zuständige Spruchkammer Frankfurt leitete sogar ein (später eingestelltes) Ermittlungsverfahren gegen den Magistrat wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen Bestimmungen des Befreiungsgesetzes ein, das auch die Verbreitung von rassistischen Ideen unter Strafe stellte. Schließlich erwirkten vorgesetzte Behörden und weltweiter Protest eine abermalige Korrektur des Votums. Lewin wurde Chefarzt (später Direktor) an der Städtischen Frauenklinik, und beide Bürgermeister mussten schließlich abdanken. 1952 wurde Lewin apl. Professor für Gynäkologie in Frankfurt am Main. Von 1963 bis 1969 war er Vorsitzender des Direktoriums des Zentralrats der Juden. Seine zweite Frau, die ebenfalls im Konzentrationslager gewesen war, litt zeitlebens schwer unter der Last des Erlebten. Die gemeinsame Tochter beging im Alter von knapp 30 Jahren Selbstmord. Seine Bemühungen um → Wiedergutmachung für den erlittenen beruflichen Schaden durch die Verweigerung der Habilitation 1933 zogen sich bis 1975 hin. Es wurde bezweifelt, dass ihm die Habilitation allein aus „rassischen Gründen“ versagt worden war. Lewin wirkte in der UNESCO-Kommission und im Bundesgesundheitsrat und wurde dafür u.a. mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet; nach seinem Tod im November 1982 gab es allerdings in keiner medizinischen Zeitschrift einen Nachruf auf den deutsch-jüdischen Mediziner. 1986 wurde die Straße in Köln, in der die Bundesärztekammer seinerzeit residierte, in Herbert-Lewin-Straße umbenannt. Nicht wenige Ärztefunktionäre waren empört, trug die Straße doch zuvor den Namen Karl Haedenkamps. Haedenkamp war einer der einflussreichsten ärztlichen Standespolitiker der Weimarer Republik gewesen und der einzige Spitzenfunktionär, der seine Karriere sowohl im Nationalsozialismus als auch in der Bundesrepublik bruchlos fortzusetzen wusste. Nun werde sein Name „ausgemerzt“, war im „Deutschen Ärzteblatt“ damals zu lesen. Seit Oktober 2004 ist auch der Platz vor dem jetzigen Sitz von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung in Berlin-Charlottenburg nach Herbert Lewin benannt.
Christoph Kopke, Walter Wuttke
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Fall Merker → Paul Merker-Fall
Literatur
Walter Dirks, Der Fall Offenbach, in: Frankfurter Hefte 5 (1950), S. 32–40. Walter Dirks, Die Gutachten für und wider Dr. Lewin, in: Frankfurter Hefte 5 (1950), S. 240–242. Rebecca Schwoch, „Durch großen Zufall dem Inferno entronnen.“ Der deutsche Arzt Herbert Lewin (1899–1982), in: Zeitschrift für Allgemeinmedizin 82 (2006), S. 349–351. Rebecca Schwoch, Walter Wuttke, Herbert Lewin und Käthe Frankenthal. Zwei Jüdische Ärzte aus Deutschland, in: Deutsches Ärzteblatt 101 (2004), A: 1319–1321. Walter Wuttke, Das Schicksal jüdischer Ärzte in Deutschland – Herbert Lewin, in: Demokratisches Gesundheitswesen. Zeitschrift für Gesundheits- und Sozialberufe 7/8 (1986), S. 42–45.
Fall Lüth → Harlan-Debatte Fall Merker → Paul Merker-Fall
Fall Nieland (1959) 1959 löste das Urteil eines Hamburger Richters einen Justizskandal aus, der bundesweit stark beachtet wurde – die Entscheidung im „Fall Nieland“. 1957 publizierte der Hamburger Holzhändler Friedrich Heinrich Wilhelm Nieland (1896–1973) eine Broschüre mit dem Titel: „Wieviel Welt (Geld)–Kriege müssen die Völker noch verlieren?“ In einer Auflage von 2.000 Exemplaren wurde sie in Stade von dem völkischen Verleger Adolf Ernst Peter Heimberg (1881–1971) gedruckt und an alle Minister und Parlamentarier des Bundes und der Länder verschickt. Nieland warnte darin vor einem Dritten Weltkrieg, der angeblich von insgeheim regierenden Juden vorbereitet werde. Er leugnete die millionenfache Ermordung der Juden im „Dritten Reich“, wobei er sich u.a. auf Mathilde Ludendorff (1877–1966) und die → „Protokolle der Weisen von Zion“ berief. Der rheinland-pfälzische SPD-Landtagsabgeordnete Maxim Kuraner (1901–1978) stellte Strafantrag wegen öffentlicher Beleidigung und die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg leitete ein Ermittlungsverfahren gegen Nieland ein. 1958 erhob die Staatsanwaltschaft zudem Anklage wegen „Verbreitung einer staatsgefährdenden Schrift“ (§ 88 StGB) und „öffentlicher Beleidigung der jüdischen Bürger“ (§ 185 StGB). Dem Antrag der Staatsanwaltschaft, das Hauptverfahren zu eröffnen, wurde von der zuständigen Großen Strafkammer I des Landgerichts Hamburg nicht stattgegeben. Der Vorsitzende Landgerichtsdirektor Dr. Enno Budde (1901–1979) begründete die Entscheidung damit, dass die Angeschuldigten „sich nicht gegen die Juden schlechthin wenden wollen, sondern nur gegen einen eng begrenzten Kreis von Juden, der nach ihrer Überzeugung für das weltgeschichtliche Geschehen der letzten Jahrzehnte verantwortlich sei. Auch Hitler sei nur ein Werkzeug dieses Kreises gewesen“, was ihnen subjektiv nicht widerlegt werden könne. Die eingelegte Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft wurde vom Ersten Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts unter dem Vorsitz von Dr. Otto Erich Herr (1893–1979) zurückgewiesen. Auffallend war, dass beide Vorsitzenden Richter 1933 NSDAP-Mitglieder geworden waren. Herr zählte zum Freundeskreis des nationalsozialistischen Justizsenators Curt
Fassbinder-Kontroversen
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Rothenberger (1896–1959). Budde war bereits 1927 wegen Vergehens gegen das Republikschutzgesetz verurteilt worden und hatte antisemitisch publiziert. So hatte er 1935 betont, dass „die Reinhaltung der Rasse lebensnotwendig zur Erhaltung der Rasse ist“. Begriffe wie „artfremd“, „artzersetzend“, „Blutquelle“, „Blut und Boden“ durchzogen den Text. 1936 schrieb er: „Rasse und Blut sind […] die von Gott gegebene Größe.“ Nach diesen Entscheidungen setzte eine Welle der Empörung in der Öffentlichkeit und unter Politikern ein, die sich vor allem auf den unter dem Vorsitz Enno Buddes gefassten Beschluss konzentrierte. In der Hamburger Bürgerschaft fand im Januar 1959 eine Sitzung statt, in der erstmalig aus Anlass dieser Entscheidung eine Auseinandersetzung über die Richter und ihre Rechtsprechung stattfand. Der sozialdemokratische Bausenator und spätere Bürgermeister Dr. Paul Nevermann (1902–1979) stellte die Frage, wie sich der Nieland-Richter Budde nach 1945 in der demokratischen Ordnung verhalten habe, und trug andere Urteile aus seiner Amtszeit nach Kriegsende vor. „Der Spiegel“ und die sozialdemokratische Tageszeitung „Hamburger Echo“ wiesen auf Buddes nationalsozialistische Vergangenheit hin und stellten einen Zusammenhang zum Urteil her. Prominente Schützenhilfe erhielt der kirchlich engagierte Protestant Budde in der öffentlichen Auseinandersetzung vom bekannten Hamburger Theologen Helmut Thielicke (1908–1986). Der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Zentralrat der Juden in Deutschland forderten Bundesregierung und Bundestag auf, unverzüglich eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, um eine solche juristische Entscheidung künftig zu verhindern. Hamburgs Bürgermeister Max Brauer (1887–1973) empfand die Entscheidung als „einen Schlag ins Gesicht“ und reiste Anfang Januar 1959 nach Bonn, um den Vorfall mit Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) zu erörtern. Sechs Tage später verabschiedete das Bundeskabinett als Reaktion auf den Fall Nieland und andere antisemitische Vorkommnisse den Entwurf eines „Gesetzes gegen Volksverhetzung“, das 1960 verabschiedet wurde. Enno Budde ließ sich als Konsequenz der öffentlichen Diskussion an die 16. Zivilkammer für Mietauseinandersetzungen versetzen und konnte unbehelligt bis zu seiner Pensionierung tätig sein. In seiner Personalakte findet sich kein Hinweis auf den „Fall Nieland“, der eigentlich ein „Fall Budde“ war.
Literatur
Rainer Hering
Werner Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989, Frankfurt am Main, New York 1997. Rainer Hering, Der Fall „Nieland“ und sein Richter. Zur Kontinuität in der Hamburger Justiz zwischen „Drittem Reich“ und Bundesrepublik, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 81 (1995), S. 207–222.
Fassbinder-Kontroversen Die Debatten um den Antisemitismus-Vorwurf gegen Rainer Werner Fassbinders Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ verhandelten in verschiedenen Etappen – von 1976 bis 2009 – vor dem Hintergrund je unterschiedlicher debatten- und diskursgeschichtlicher Konjunkturen der „Vergangenheitsbewältigung“ die Grenzen der
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Kunstfreiheit in Bezug auf das deutsch-jüdische Verhältnis nach Auschwitz. Sie führten zu Aufführungsboykotten und -absetzungen, zu Zensur- und Tabu-Vorwürfen. Die Kritik lautete, durch die Figur des „Reichen Juden“, eines rigiden Immobilienspekulanten, würden antisemitische Stereotype fortgeschrieben und diskursfähig gemacht; der Text habe das Potential, als Katalysator und Alibi für Antisemitismus zu dienen. Verteidiger des Stücks argumentierten, dass Fassbinder – indem zugleich zwei unbelehrbare Nazis auftreten sowie antisemitische Klischees als Gerüchte entlarvt werden – im Gegenteil antisemitische Argumentationsmuster und Verhaltensweisen antizipiere und vorführe. Dass diese wenig später wie auf Abruf in den Kontroversen um das Stück aufbrachen, wurde jedoch auch als Bestätigung der Gefahr, die von dem Text ausgeht, und nicht nur als eventuell intendierter Effekt des Bloßstellens gesehen. Geäußert wurde diese Kritik nicht nur von jenen, die Stück und/oder Autor für antisemitisch hielten, sondern auch von jenen, die den Antisemitismus-Vorwurf für unbegründet hielten, in dem Spiel mit Ressentiments und Tabus aber eine zu gefährliche Provokation sahen. Als Vorlage des Stückes gilt Gerhard Zwerenz’ Roman „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“, als realer Hintergrund der Frankfurter Westend-Konflikt, die Zerstörung eines Stadtteils durch Immobilienspekulation. Die extreme soziale Umwälzung war möglich geworden durch die Vertreibung und Enteignung jüdischer Immobilienbesitzer während des Nationalsozialismus: Aus Angst vor der Rückkehr der früheren Bewohner und ihrer Erben verkauften die „Arisierungsgewinnler“, die den Besitz dieser Häuser vielfach nur auf die „Rechtslage“ nach 1933 stützen konnten, nach 1945 allzu bereitwillig. Die Umstrukturierungsprozesse der 1970er Jahre wurden jedoch den – entgegen der damals verbreiteten Wahrnehmung proportional keineswegs überrepräsentierten – jüdischen Investoren als „Rache-Akt“ vorgeworfen. Protegiert und bewusst zur Erledigung unliebsamer Aufgaben instrumentalisiert würden sie dabei durch Stadt und Banken, da sie als tabuisiert und nicht angreifbar gälten – ein Verfahren, das Fassbinders Stück thematisiert: „Die Stadt schützt mich, das muss sie. Zudem bin ich Jude“, „Der Plan ist nicht meiner, der war da, ehe ich kam.“ Da dieser politisch-ökonomische Herrschaftskontext im Text jedoch nicht konkretisiert werde, könne der „Reiche Jude“ als gewissenloser „Holocaust-Profiteur“ gelesen werden, der seine Umwelt durch den „Würgegriff der Schuld“ beherrscht, so die Kritiker. Erstmals erhoben wurde der Antisemitismus-Vorwurf nach dem Erscheinen des Stücks bei Suhrkamp im März 1976 von Helmut Schmitz in der „Frankfurter Rundschau“ (12. März 1976) sowie in einem vielfach als demagogischer „Entlastungsangriff“ gewerteten Artikel von Joachim Fest in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (19. März 1976). Unter dem Titel „Reicher Jude von links“ nutzte Fest die Debatte zur Diskreditierung politischer Gegner, denen er antikapitalistisch motivierten „Linksfaschismus“ vorwarf. Der Verlag wies die Vorwürfe zurück, reagierte jedoch mit Auslieferungsstopp und schließlich Einstampfung der Auflage. Die darauf folgende Verfilmung des Stücks durch Daniel Schmid, „Schatten der Engel“, führte während der Filmfestspiele in Cannes 1976 zu Protesten der israelischen Delegation; weitere Vorwürfe wegen antisemitischer Figurenzeichnung und einer Täter-Opfer-Umkehr folgten gegen Fassbinders Filme „In einem Jahr mit 13 Monden“ (1978), in dem die Vorgeschichte des „Reichen Juden“ erzählt wird, „Lili Marleen“ (1980) und „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ (1982).
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Nach den weitgehend (lokal-) publizistisch ausgetragenen Grabenkämpfen Konservativer und Linker bekam die Kontroverse ab 1984 durch Parlamentsdebatten, Stellungnahmen des Bundeskanzlers und der Knesset eine politische Dimension und internationales Echo. Die Kritik entzündete sich an Aufführungsplänen des Generalmanagers der Alten Oper Frankfurt am Main, Günther Schwab, die in dessen fristloser Kündigung endeten (1984), und des Intendanten der Kammerspiele, Günther Rühle, die ihm eine Strafanzeige wegen Volksverhetzung und Aufstachelung zum Rassenhass einbrachten (1985). Die geplante Premiere am 31. Oktober 1985 wurde schließlich von Mitgliedern der Frankfurter Jüdischen Gemeinde durch die Besetzung der Bühne verhindert. In der Folge kam es zu problematischen, da offenkundig antisemitisch motivierten Klagen über Zensur und Beschränkung der Kunst- und Meinungsfreiheit durch vermeintliche gesellschaftliche Tabus. Der Tenor lautete, die negative Darstellung von Juden werde durch „Schuldfesseln“ unmöglich gemacht, der jüdischen Gemeinde wurde „Bücherverbrennung“ sowie Hausfriedensbruch vorgeworfen, den man nur ob des „unwiderlegbaren Auschwitz-Nachkommen-Bonus“ („Schwäbisches Tageblatt“) ungestraft hätte begehen können. Befürchtungen, dass die Absetzung des Stücks den Antisemitismus noch befördern könne, wurden u.a. von Marion Gräfin Dönhoff in der „Zeit“ geäußert: „Wird das Stück – ungeachtet aller Proteste – aufgeführt, triumphieren die Antisemiten; wird es nicht aufgeführt, dann triumphieren sie auch, denn dann können sie sagen: ‚Da sieht man mal wieder, welche Macht die Juden haben.‘“ Die verschiedenen Spielarten des Schuldabwehrantisemitismus – „Schuldkontenbegleichung“, Konstruktion des „schuldigen Opfers“ und „jüdischer Rache“ – fanden sich so nicht nur im Text, sondern auch in den außerliterarischen Kontroversen um ihn. Die Debatte wird als Schlüsselszene und Kulminationspunkt eines zentralen Abschnitts der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ gewertet. Nach Bundeskanzler Kohls Rede von der „Gnade der späten Geburt“ (1984), der → Bitburg-Affäre und dem Gesetz zur Auschwitz-Lüge (1985 → Holocaustleugnung als Straftatbestand) werde nun am Fassbinder-Stück als „Ersatzobjekt“ an Protest nachgeholt, was bislang unterlassen worden sei, so Kritiker. Die Bewertung des Stücks teilte sich hierbei entlang der Konfliktlinien der Debatte. Für Gegner stellte das Stück ein weiteres Glied einer Kette von relativierenden Enttabuisierungen im Sinne einer „Schlussstrichmentalität“ und „Normalisierungs-Sehnsucht“ dar. Die Gegenposition lautete, dass Fassbinder sich durch diese „Folgeskandale“ als Warner vor gesellschaftlich latent antisemitischen Stimmungen bestätigt fühlen könne. Die Sanktions- und Abwehrmechanismen würden deren Aktualität nur belegen: verhindert werden solle die Darstellung eines Antisemitismus, den es in der deutschen Gesellschaft de facto jedoch gäbe. Eine 1998 – d.h. während der → Walser-Bubis-Debatte und Diskussionen um das Berliner Holocaust-Denkmal – geplante Aufführung am Berliner Maxim-Gorki-Theater kam nach Protesten nicht zustande; 2009 wurde das Stück trotz Einwänden der Jüdischen Gemeinde im Mülheimer Theater an der Ruhr zum ersten Mal in Deutschland regulär gespielt.
Literatur
Nike Thurn
Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Rainer Werner Fassbinder, Text und Kritik, Heft 103, Juli 1989.
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Faurisson-Affäre (1978/79)
Janusz Bodek, Die Fassbinder-Kontroversen: Entstehung und Wirkung eines literarischen Textes. Zu Kontinuität und Wandel einiger Erscheinungsformen des Alltagsantisemitismus in Deutschland nach 1945, seinen künstlerischen Weihen und seiner öffentlichen Inszenierung, Frankfurt am Main 1991. Rainer Werner Fassbinder, Die bitteren Tränen der Petra von Kant. Der Müll, die Stadt und der Tod. Zwei Stücke, Frankfurt am Main 1984. Elisabeth Kiderlen (Hrsg.), Deutsch-jüdische Normalität ... Fassbinders Sprengsätze, Pflasterstrand Flugschrift – I, Frankfurt am Main 1985. Heiner Lichtenstein (Hrsg.), Die Fassbinder-Kontroverse oder Das Ende der Schonzeit, Königstein/Ts. 1986. Pól O’Dochartaigh (Hrsg.), Jews in German Literature since 1945: German-Jewish Literature? Amsterdam, Atlanta 2000. Gerhard Zwerenz, Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond, Frankfurt am Main 1973.
Faurisson-Affäre (1978/79) Als „Faurisson-Affäre“ wird ein Skandal um holocaustleugnende Äußerungen des Universitätsdozenten Robert Faurisson zum Jahreswechsel 1978/79 bezeichnet. Ab Herbst 1979 schloss sich eine scharfe publizistische Kontroverse an, die durch eine von Noam Chomsky mitunterzeichnete Petition zugunsten Faurissons Redefreiheit ausgelöst wurde. Auf zusätzliche Kritik stieß im Jahr darauf ein Debattenbeitrag Chomskys, der als Vorwort für eine Rechtfertigungsschrift Faurissons Verwendung fand. Am Beginn der Faurisson-Affäre stand zunächst ein anderer Skandal: Am 28. Oktober 1978 erschien in Frankreich ein Interview mit dem ehemaligen Generalkommissar der Vichy-Regierung für Judenfragen, Louis Darquier de Pellepoix. Der nach der Befreiung Frankreichs nach Spanien geflohene und 1947 von der französischen Justiz in Abwesenheit zum Tode verurteilte Darquier behauptete darin, der Holocaust sei eine „jüdische Erfindung“ und in Auschwitz seien nur „Läuse vergast“ worden ( → Darquier-Affäre). Bereits wenige Tage später, am 1. November, schrieb Faurisson einen Brief an mehrere Zeitungen, darunter an den „Le Matin de Paris“. Der Literaturwissenschaftler Faurisson, der seit 1974 an der Universität Lyon II lehrte, bezog sich darin auf Darquier und führte aus, dass es sich bei „den angeblichen Massakern mittels ‚Gaskammern‛ und dem angeblichen ‚Völkermord‛ um ein und dieselbe Lüge handelt“. Trotz einem bereits im Juni 1978 publizierten, inhaltlich vergleichbaren Beitrag Faurissons in der rechtsextremen Zeitschrift „Défense de l’Occident“ gilt erst ein am 16. November 1978 im „Matin de Paris“ erschienener Artikel über Faurisson und seine Ansichten, der auf einem kurz zuvor geführten Interview basiert, als Auslöser der Affäre. Bereits am Tag nach dem Erscheinen wurde Faurisson durch die Universitätsleitung suspendiert, wenig später erhielt er Hausverbot. Kurz darauf, am 29. Dezember 1978, veröffentlichte Faurisson in „Le Monde“ den Text „‚Le problème des chambres à gaz‘ ou ‚La rumeur d’Auschwitz‘“, wozu die Zeitung im Rahmen einer Gegendarstellung verpflichtet war. Erneut stellte Faurisson Ermordungen durch Giftgas als technisch undurchführbar und unbewiesen dar; die „Nichtexistenz der ‚Gaskammern‘“ sei „eine gute Nachricht für die arme Menschheit“. Eine Zurückweisung von Faurissons Behauptungen durch den jüdischen Forscher und ehemaligen Auschwitz-Häftling Georges Wellers auf derselben Zeitungsseite bewirkte ein erneutes Recht Faurissons auf Ge-
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gendarstellung, sodass am 16. Januar 1979 ein weiterer Beitrag von ihm in „Le Monde“ erschien. Diesem Text wurde erneut eine Widerlegung beigegeben – da Faurisson nun jedoch nicht mehr namentlich erwähnt wurde, lag kein Recht auf eine abermalige Erwiderung vor. Darüber hinaus veröffentlichten 34 namhafte französische Historiker am 21. Februar 1979 ebenfalls in „Le Monde“ eine Stellungnahme, in der sie erklärten: „[Z]ur Frage der Existenz der Gaskammern gibt es keine Diskussion und kann es keine geben“. Die Wiederaufnahme von Faurissons Lehrveranstaltungen im Januar 1979 wurde durch heftige Proteste bis in den Sommer hinein größtenteils verhindert, im Herbst wurde Faurisson schließlich an das Zentrum für Fernstudien versetzt, wo er bis 1990 tätig war. Ebenfalls im Herbst 1979 lancierten die Betreiber des rätekommunistisch ausgerichteten Verlags „La Vieille Taupe“, wo auch Bücher des Holocaustleugners Paul Rassinier erschienen, eine Petition zugunsten Faurissons. In dieser Eingabe wurde Faurisson als „angesehener Professor“ bezeichnet, der „unabhängige historische Forschung zur ‚Holocaust‘-Frage betreibe“. Eine „bösartige Kampagne“ mit der Absicht, Faurisson „zum Schweigen zu bringen“, wurde konstatiert, und die Universität sowie die französische Regierung wurden aufgerufen, dessen Sicherheit und die Ausübung seines Rechts auf freie Rede zu gewährleisten. Der namhafteste Unterzeichner, Noam Chomsky, verfasste auf Bitten der Initiatoren im Oktober 1980 den Essay „Quelques commentaires élémentaires sur le droit à la liberté d’expression“, der wenige Wochen darauf als Vorwort zu Faurissons Rechtfertigungsschrift „Mémoire en défense contre ceux qui m’accusent de falsifier l’histoire – La question des chambres à gaz” bei „La Vieille Taupe“ erschien. Chomskys grundsätzliche Verteidigung des Rederechts Faurissons wurde oftmals als inhaltliche Verteidigung von Faurissons Behauptungen verstanden und in der französischen Presse entsprechend rigoros zurückgewiesen. Nichtsdestoweniger rief weniger Chomskys uneingeschränktes Plädoyer für die Redefreiheit Kritik hervor, als vielmehr seine Aussage, Faurisson sei ein „relativ apolitischer Liberaler“ und er könne keinen Hinweis auf dessen Antisemitismus erkennen – wobei Chomsky gleichzeitig jedoch auch einräumte, „nur sehr wenig“ Kenntnis über Faurisson und dessen Wirken zu besitzen. Die Faurisson-Affäre, die in Frankreich weithin als Inbegriff der Holocaustleugnung gilt, fand zu einem Zeitpunkt statt, als die Erinnerung an die Zeit des Zweiten Weltkriegs und den Holocaust einem grundlegenden Wandel unterworfen war. Vor allem jüdische Überlebende traten verstärkt an die Öffentlichkeit und es wurde deutlich, dass ein Teil der intellektuellen Elite Frankreichs und der Vichy-Staatsapparat bereitwillig mit den Nationalsozialisten kollaboriert hatten und dadurch an der rechtlichen Diskriminierung und Vernichtung der Juden beteiligt waren. Derartig eingebettet und bezogen auf Debatten und sich rasch vollziehende, tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen, wurde Faurisson und seinen Äußerungen große Aufmerksamkeit zuteil und vor dem Hintergrund der Darquier-Affäre das Phänomen der Holocaustleugnung einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Gleichwohl trugen Faurissons Behauptungen aber auch dazu bei, umfangreiche wissenschaftliche Forschungsarbeiten zu technischen Aspekten und zur Funktionsweise der Gaskammern und Krematorien anzustoßen, die über eine Widerlegung Faurissons weit hinausreichen. Dass die Leugnung des Holocaust im Juli
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Fedtmilch-Aufstand
1990 in Frankreich mit dem „Loi Gayssot“ unter Strafe gestellt wurde, kann als indirekte Konsequenz der Faurisson-Affäre gelten.
Literatur
Jean-Yves Camus, Christian Mentel
Valérie Igounet, Histoire du négationnisme en France, Paris 2000. Henry Rousso, Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours, Paris 19902. Pierre Vidal-Naquet, Die Schlächter der Erinnerung. Essays über den Revisionismus, Wien 2002.
Fedtmilch-Aufstand Die freie Reichsstadt Frankfurt am Main hatte um 1600 etwa 22.000 Einwohner. Der überwiegende Teil der Bewohner gehörte der lutherischen Kirche an, die Zahl der Katholiken belief sich auf wenige Hundert, und neben 2.500 calvinistischen Niederländern lebten 2.200 Juden in der Stadt. Als freie Reichsstadt war Frankfurt direkt dem Kaiser unterstellt, doch die gesetzgebende und ausübende Gewalt hatte der Rat der Stadt inne. Der Rat der Stadt, ausschließlich aus Patriziern bestehend, wählte aus sich heraus seine Mitglieder und war der Bürgerschaft gegenüber nicht verantwortlich. Die Bürgerschaft teilte sich in die Gruppe von wohlhabenden Kaufleuten, Gelehrten und Unternehmern sowie die Gruppe der zünftigen Handwerker. Gesellen und Arbeiter gehörten ebenso wenig zur Bürgerschaft wie die Juden der Stadt. Letztere genossen zwar kaiserlichen Schutz, erhielten jedoch keine Bürgerrechte und mussten ihre Aufenthaltsbewilligungen alle drei Jahre von der Stadt käuflich erwerben. Etwa drei Viertel der Juden lebten vom Trödel-, Vieh- oder Kleinhandel, die Übrigen vom Geldverleih, da dieses Gewerbe den christlichen Bewohnern der Stadt verboten war. Die finanzielle Situation der Stadt war zu Beginn des 17. Jahrhunderts desolat. Durch die Abwanderung der Niederländer, die das Stadtsäckel durch ihre Seidenmanufakturen nicht nur gefüllt, sondern auch für Beschäftigung gesorgt hatten, waren die Einnahmen des Rates stark geschrumpft. Hinzu kam, dass durch diese Abwanderung auch andere Wirtschaftszweige zusammenbrachen und billigere Waren von außerhalb nach Frankfurt gelangten, was wiederum die Handwerker traf, die auf ihren Produkten sitzen blieben. Es folgte eine Entlassungswelle und eine Pauperisierung der Bevölkerung. Der Rat der Stadt, der gewohnt war, auf großem Fuße zu leben, erhob nun Brotund Getränkesteuern und verdoppelte die Konzessionsgebühren, um die entgangenen Einnahmen auszugleichen. Diese Preissteigerungen führten zu weiteren Entlassungen, Stellungs- und Arbeitslose wurden zu Steuerschuldnern, die in Haft genommen oder aus der Stadt verwiesen wurden. Als im Mai 1612 in Frankfurt Kaiser Matthias zum Nachfolger des verstorbenen Rudolf II. gewählt werden sollte, wurde die Bürgerschaft aufgefordert, einen Eid zu leisten, der dem Kaiser und den anwesenden Kurfürsten Sicherheit während der Wahldekade garantierte. Die Eidesformel beinhaltete die Strafandrohung, die Bürgerschaft werde bei einem Verstoß alle ihre Rechte, Freiheiten und Privilegien verlieren. Frankfurts Bürgerschaft war über ihre Privilegien seit mehr als hundert Jahren nicht mehr informiert worden, und so richteten sie eine Petition an den Rat der Stadt und forderten diesen auf, die bürgerlichen Privilegien offen zu legen. Die wirtschaftliche Situation
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hatte sie dem Rat gegenüber aber auch misstrauisch werden lassen, und so fügten sie ihrer Forderung an, der Rat solle einen freien Kornmark installieren – bislang lag der Kornvorkauf in den Händen wohlhabender Händler – und die Zahl der Juden solle verringert werden. Da die mittelständischen Handwerker von den jüdischen Krediten abhängig waren, gaben sie den jüdischen Kreditgebern eine Mitschuld an dem finanziellen Niedergang der Stadt und vor allem ihrer eigenen finanziellen Not. Erst am 9. Juli, noch vor der Wahl des Kaisers, wies der Rat alle Forderungen der Bürger zurück. Diese Ablehnung gab den Bürgern oppositionellen Auftrieb und sie organisierten einen Bürgerausschuss, dessen Anführer der Lebkuchenbäcker Vincent Fedtmilch war. Er drang am 12. Juli 1612 mit 200 Mitstreitern in das Rathaus ein, um über die Forderungen zu verhandeln. Da der freie Kornmarkt weiterhin durch Vorkauf wohlhabender Händler unrealistisch war und die Beschränkung der Juden auf die Autorität des Kaisers abgewälzt wurde, führten die Verhandlungen zu keinem Ergebnis. Nun drohte der Rat der Stadt die Geschäfte niederzulegen, was die Bürger verunsicherte und sie sich dazu hinreißen ließen, auf die Bedingungen des Rates einzugehen. Hinzu kam, dass die zur Kaiserkrönung stationierten Soldaten noch immer vor Ort waren und auch die Oppositionellen sich bewaffnet hatten und somit die Bürger gewalttätige Auseinandersetzungen befürchteten. Ein kaiserliches Schreiben bezeichnete den Bürgerausschuss als ungesetzlich und forderte die Bürger auf, ihre Waffen niederzulegen. In Teilen der Bevölkerung und vor allem unter den Anhängern Fedtmilchs gärte weiterhin der Unmut, sie verlangten die Neubesetzung des Rates sowie die rigorose Ausweisung der Juden. Im Dezember 1612 wurde ein Vertrag unterzeichnet, der eine Neuwahl des Rates festlegte, allen Bürgern das Recht auf Zunftmitgliedschaft bzw. Gewerbegesellschaften einräumte und den Juden einen Zinssatz nur bis 8 Prozent erlaubte. Anfang 1613 wurde sichtbar, dass es jahrelang nicht nur zu Unregelmäßigkeiten in der Stadtkasse gekommen und Geld veruntreut worden war, sondern dass sich die Schulden Frankfurts auf 9,5 Tonnen Gold beliefen; von den Reserven der Stadt fehlte jede Spur. Neben dem Entsetzen, das nach Bekanntwerden des finanziellen Ruins in der Stadt herrschte, den Kompetenzstreitigkeiten unter den Zünften, den Interessenkollisionen der neu zu gründenden Gesellschaften und der sich immer weiter ausbreitenden wirtschaftlichen Not der Einzelnen erfasste die Stadt zunehmend Unruhe und Aufruhr. Es wuchs das Misstrauen, die Juden hätten an der Ausplünderung der Stadt ihren Anteil genommen. Im Januar 1614 sollte der Rat der Stadt neu besetzt werden. Gleichzeitig erging eine kaiserliche Order, kein Bürger dürfe die Stadt verlassen, damit eine Untersuchungskommission ihrer habhaft werden könne. Aus Angst, in Acht und Bann geworfen zu werden, verzichteten die Bürger auf ihre Forderung einer Neubesetzung der Ämter und unterwarfen sich dem bestehenden Rat. Im Mai 1614 drang Fedtmilch mit einer Gruppe bewaffneter Gleichgesinnter ins Rathaus, setzte einen Teil der Ratsmitglieder fest und zwang sie zum Rücktritt. Frankfurts Bürger waren über das Vorgehen von Fedtmilch gespalten, vor allem, weil er zwar einige bürgerliche Ratsherren an die Spitze der Stadt gesetzt hatte, aber er allein die Zügel in der Hand hielt. Die seit März dauernden Anfeindungen und teilweise Übergriffe gegen die Juden nahmen indes zu. Ende August 1614 zogen bewaffnete Gruppen
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unter der Führung von Fedtmilch ins jüdische Ghetto. Die Horden demolierten und plünderten jüdische Wohnhäuser, zwei Juden fanden dabei den Tod, zahlreiche wurden verletzt. Erst um Mitternacht konnten bewaffnete Soldaten die Plünderer aus dem Ghetto treiben. Doch schon am folgenden Tag stürmte Fedtmilch mit seinen Gefolgsleuten erneut das jüdische Ghetto und kündigte ihnen im Namen der Bürgerschaft den Schutz auf. Der Pöbel forderte lautstark die Vertreibung und drohte mit der Ermordung der Juden. Die Juden flohen – z.T. mit Hilfe des Rats der Stadt – nach Hanau und Höchst und kehrten erst nach der Hinrichtung Fedtmilchs und anderer Rädelsführer im Februar 1616 wieder nach Frankfurt zurück.
Literatur
Marion Neiss
Horst Karasek, Der Fedtmilch-Aufstand. Wie die Frankfurter 1612/14 ihrem Rat einheizten, Berlin 1979. Matthias Meyn, Die Reichsstadt Frankfurt vor dem Bürgeraufstand von 1612 bis 1614, Struktur und Krise, Frankfurt am Main 1980.
Flüchtlingskonferenz in Evian → Evian-Konferenz (1938)
Französische Revolution Die französische Revolution von 1789 schuf in Europa erstmals die Grundlage für eine rechtlich egalitäre Gesellschaft, in der auch die jüdische Minderheit den Status gleichberechtigter Bürger erlangen konnte. Die Philosophie der Aufklärung, die zu einem säkularisierten Staatsdenken führte und eine naturrechtlich postulierte Gleichheit aller Menschen begründete, bildete die theoretische Voraussetzung für eine in ihren Konsequenzen revolutionäre politische Entwicklung. Als am 24. Januar 1789 die Einberufung der „Etats généraux“, der Generalstände, für Anfang Mai verkündet wurde, stellte sich für die französischen Behörden die Frage, inwiefern die Juden Frankreichs als Franzosen, durch Geburt oder durch Einbürgerung, zu bezeichnen seien. Die Spaltung des französischen Judentums in eine akkulturierte sephardische Gruppe in Südfrankreich und in eine kulturell und sozial stärker abgesonderte und diskriminierte aschkenasische Gemeinschaft in Ostfrankreich wurde bei dieser staatsrechtlich entscheidenden Frage um die Zulassung zu den Wahlen zu den „Etats généraux“ offensichtlich. Nur die Sepharden konnten ihre Beteiligung an den Wahlen zu den Abgeordneten durchsetzen. Die Behörden des Elsass und Lothringens fürchteten im Falle einer jüdischen Beteiligung an den Wahlen Unruhen, sodass sie in ihren Berichten nach Paris, wo man sich über die Lage und den Status der Juden erkundigte, die jüdische Minderheit als nicht assimilierte Fremde charakterisierten. Die Zentralregierung sprach sich denn auch entschieden gegen eine Beteiligung der Juden Ostfrankreichs an den Wahlen zu den Generalständen aus. Der Ausschluss der Juden von den Vorbereitungen zur Einberufung der Generalstände mit der Begründung, ihre Beteiligung würde die öffentliche Ordnung gefährden, kann als antisemitisches Manöver betrachtet werden, das darauf abzielte, die Regierung
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in Paris, die tendenziell aufgeklärt-judenfreundlich eingestellt war, von einer politischen Integration der Juden in die französische Nation abzuhalten. Die pogromartigen Ausschreitungen vom Sommer 1789 in Teilen des Elsass belegen jedoch, dass die antijüdische Gewaltbereitschaft einer Realität entsprach. Den Juden Ostfrankreichs wurde ihre Zugehörigkeit zur französischen Gesellschaft abgestritten. Die Vertreter der regionalen Verwaltung zeichneten ein Bild vom aschkenasischen Judentum, das dieses als nicht assimiliert und nicht integriert erscheinen ließ. Die Juden des Elsass und Lothringens, so die implizite Botschaft, hätten erst ein Recht Franzosen zu sein, wenn sie wie ihre südfranzösischen Glaubensgenossen akkulturiert seien. Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 symbolisierte das revolutionäre Ende des Ancien Régime. Der „Systemwechsel“ wurde am 4. August mit der Abschaffung der ständischen Privilegien auch formal vollzogen. Mit der Erklärung der Menschenund Bürgerrechte vom 26. August durch die Verfassunggebende Versammlung war der ideologische Grundstein für eine neue Gesellschaft gelegt. Am 1. September kam es auf Initiative des judenfreundlichen Politikers Abbé Grégoire zu einer kurzen Debatte über den Status der Juden. Das Parlament vertagte jedoch den Tagesordnungspunkt sogleich. Die Nationalversammlung war offensichtlich nicht bereit, sofort entscheidende Verfügungen zugunsten der Juden einzuleiten. Nicht dass die jüdische Minderheit keine einflussreichen Befürworter einer Emanzipation in der Nationalversammlung gehabt hätten: Neben ihrem unermüdlichen Fürsprecher Abbé Grégoire bewies auch der prominente liberale Politiker Graf Stanislas de ClermontTonnere in zahlreichen Reden und Interventionen, dass er eine rechtliche Gleichstellung der Juden befürwortete. Jedoch gab es in der Nationalversammlung eine einflussreiche Gruppe vorwiegend elsässischer Abgeordneter, die jeden Versuch, die Juden ihrer Provinz zu emanzipieren, entschieden bekämpfte. Der Abgeordnete Jean-François Reubell intervenierte bei allen Debatten, die das Schicksal der Juden in Frankreich betrafen. Der elsässische Abgeordnete, der als Jakobiner dem linken Flügel der Nationalversammlung angehörte, bekämpfte die Juden als Fremde, indem er sie in Anlehnung an Voltaire als „Afrikaner“, die das Elsass kolonisiert hätten, verunglimpfte. Die Juden wurden von ihm weiter als Ausbeuter definiert, die die angeblich einzige der Revolution treu ergebene Klasse, die Bauern, ins Elend und in den Ruin trieben. Reubell verwahrte sich dagegen, als intoleranter Gegner einer fremden Religion bezeichnet zu werden. Das Judentum stelle jedoch einen besonderen Fall dar, da diese Religion Separatismus und die Verachtung der Nichtjuden predigte. Alte christlich geprägte judenfeindliche Stereotypen traten so bei Reubell in einem pseudo-aufgeklärten Gewand auf. Im Prinzip schien die rechtliche Lage seit den revolutionären Umwälzungen des Sommers 1789 eindeutig zu sein: Auf Grund seiner Religion durfte niemand vom Genuss aktiver Bürgerrechte ausgeschlossen werden. Hindernisse für das Recht, sich am politischen Leben des Staates zu beteiligen, waren gemäß den Prinzipien der Revolution von 1789 nur das Geschlecht (Frauen), das Alter (Minderjährigkeit), die Armut und die Stellung als Bediensteter. Am 23. Dezember 1789, während der parlamentarischen Debatte über die Religionsfreiheit im Allgemeinen und den Status der Juden in Frankreich im Besonderen, fielen in einem erneuten Plädoyer zugunsten der Emanzipation die berühmten Worte von
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Clermont-Tonnerre, mit denen er die Nationalversammlung aufforderte, den Juden als Nation keine Rechte zu gewähren, ihnen jedoch als Bürgern die volle Gleichberechtigung zuzuerkennnen: „Den Juden ist als Nation alles zu verweigern und als Individuen alles zu gewähren. Sie dürfen innerhalb des Staates weder eine politische Körperschaft bilden noch einen Stand, sondern sie müssen individuell als Bürger gelten.“ Mit der Gewährung der bürgerlichen Gleichstellung war damit von Anfang an die klare Forderung nach Assimilation verknüpft. Doch im Gegensatz zu Gegnern der Emanzipation erhob Clermont-Tonnerre die Assimilation nicht zu einer Vorbedingung für eine rechtliche Gleichstellung. Eine Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft wurde von den Befürwortern einer sofortigen rechtlichen Gleichstellung zwar erwartet, aber nicht weiter als Druckmittel eingesetzt. Doch zahlreiche Abgeordnete, besonders solche aus dem Elsass und aus Lothringen, verschlossen sich diesem Aufruf. Sie behaupteten, dass der angebliche jüdische Wucher das elsässische Volk versklaven würde. Die judenfeindlichen Parlamentarier suggerierten zudem, dass die Juden in den vergangenen Monaten durch die revolutionäre Entwicklung immer mächtiger geworden seien. Wohl im Bewusstsein, dass selbst den angeblich Wucher treibenden elsässischen Juden in den Augen der Nationalversammlung letzten Endes nicht die Eigenschaft als französische Bürger abgesprochen werden konnte, versuchten sie mit einem zweiten Argumentationsstrang die Mehrheit des Parlaments vom Ausschluss zumindest der ostfranzösischen Juden von den Bürgerrechten zu überzeugen. Es gebe in Frankreich nämlich eine große Anzahl von Juden, die gar keine Franzosen sein könnten, da sie nur vorübergehend Aufenthalt im Königreich genommen hätten. Dies seien vielmehr „Kosmopoliten“, die auch niemals Anspruch auf den Titel eines französischen Bürgers erhoben hätten. Die Gegner der Emanzipation erreichten mit diesen Beschuldigungen, dass die Debatte über die Emanzipation der Juden Ende 1789 vertagt wurde. Nur die Sepharden erlangten im Januar 1790 die Anerkennung ihrer Bürgerrechte. Die Emanzipation der Juden Ostfrankreichs blieb weiterhin in der Schwebe. Erst als im Herbst 1791 die Nationalversammlung die neue Verfassung verabschiedete, erinnerten verschiedene Abgeordnete an die noch nicht vollzogene Gleichstellung der elsässischen und lothringischen Juden und werteten deren Diskriminierung als einen rechtlich unhaltbaren Zustand. Zu diesem Zeitpunkt hatten die judenfeindlichen Abgeordneten Ostfrankreichs ihren politischen Einfluss weitgehend eingebüßt. Die Nationalversammlung erklärte am 27. September 1791 alle Juden Frankreichs zu gleichberechtigten Bürgern.
Literatur
Daniel Gerson
Daniel Gerson, Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsaß 1778 bis 1848, Essen 2006. Rita Hermon-Belot, L’émancipation des juifs en France, Paris 1999. Arthur Hertzberg, The French Enlightment and the Jews: The Origins of Modern Antisemitism, New York 1990.
Fremden-Klausel → Emanzipationsverweigerung (Rumänien 1859–1923)
Friedhofsschändung in Erfurt (1983)
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Friedhofsschändung in Erfurt (1983) In der Nacht vom 8./9. Juli 1983 ritzten Unbekannte auf dem jüdischen Friedhof in der Werner-Seelenbinder-Straße in Erfurt mit spitzen Gegenständen 23 SS-Runen, Hakenkreuze sowie „Juden raus!“-Parolen in Grabsteine ein und zogen sie mit Kerzenwachs nach; sie warfen zwei Grabsteine um, einer zerbrach. Am 9. Juli besichtigte der stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen Raphael ScharfKatz zusammen mit weiteren Mitgliedern den Friedhof und machte Fotoaufnahmen. Die auf dem Friedhof anwesenden Polizisten nahmen ihm – mit der Begründung, die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen – den Fotoapparat ab und beschlagnahmten trotz Protestes den Film. Laut Gesprächsprotokoll des Stellvertreters des Oberbürgermeisters für Inneres mit dem jüdischen Gemeindevorsitzenden Herbert Ringer habe Herr Scharf-Katz im Nachhinein seine Zustimmung zur Sicherstellung des Filmes gegeben. Im Bericht des Stellvertreters des Bürgermeisters wurde notiert, dass ein Mitglied der Gemeinde hierbei äußerte, „daß sie über so etwas sehr empört sei, aber andererseits in den Zeitungen der DDR Karikaturen über Israel enthalten seien, die früher im ‚Stürmer‘ gezeigt worden seien. Sie war der Auffassung, daß so etwas in der DDR nicht passiere, sie ist jetzt anderer Auffassung.“ Sie sei auch „der Meinung, daß derartige Vorkommnisse nicht verschwiegen werden dürfen, sondern bekanntgemacht werden müssen“, wurde an anderer Stelle verzeichnet. Der Gemeindevorsitzende Ringer wies seine gesamte Leitung an, sich über dieses Vorkommnis weder in Schrift- noch in Interview-Form zu äußern, und versicherte dem städtischen Repräsentanten, „keinerlei Auskünfte über das Vorkommnis den Journalisten oder anderen nicht befugten Personen weiterzugeben“. Antisemitische Übergriffe galt es geheim zu halten. Hier zeigte sich eine Vermischung verschiedener staatlicher Aufklärungsinteressen, der sich die Jüdische Gemeinde ausgesetzt sah. Einerseits stand die Jüdische Gemeinde selbst unmittelbar und konkret spürbar unter Beobachtung und Reglementierung, gleichsam als paralleles Untersuchungsobjekt. Andererseits gab es den eigentlichen Untersuchungsgegenstand der Friedhofsschändung, eine antisemitische Straftat, deren Aufklärung eindeutig im Interesse der Jüdischen Gemeinde lag, nicht aber im Mittelpunkt des ermittelnden Handelns der befassten Organe. Zusammenfassend kam der Stellvertreter des Erfurter Oberbürgermeisters in seinem Bericht zu dem Schluss: „Das Vorkommnis ist als eine eindeutig neofaschistische Handlungsweise einzuschätzen.“ Die Täter wurden nicht ermittelt. Zwei Jahre später fand eine weitere Schändung des Friedhofs statt. Am Nachmittag des 6. Juli 1985 wurden zwei Kinder vom Sohn des Friedhofswärters „auf frischer Tat gestellt“. Sie hatten 21 große Grabsteine und 10 Kindergrabsteine umgestoßen und dabei weitere Zerstörungen an den Gräbern verursacht. „Aus Langeweile“ hätten sie die Grabsteine umgestoßen und „sich so reingesteigert, daß sie es als Mutprobe bezeichnet haben“. Die Eltern gaben an, die Kinder hätten „ohne irgendwelche Motive, aus reiner Zerstörungswut“ gehandelt. Bewährt habe sich „das Gespräch mit allen Beteiligten auf dem Jüdischen Friedhof“, anwesend waren hier der Vorstand der Jüdischen Landesgemeinde, die Kinder und ihre Eltern, ein Mitarbeiter für Kirchenfragen vom Rat der Stadt und der Friedhofswärter.
Monika Schmidt
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Galaţi-Massaker (1940)
Literatur
Monika Schmidt, Schändungen jüdischer Friedhöfe in der DDR. Eine Dokumentation, Berlin 2007.
Galaţi-Massaker (1940) In der rumänischen Stadt Galaţi an der Donau kam es am 30. Juni 1940 zu einem Massaker, über das nur wenig bekannt ist. Der Vorfall fand in einer für Rumänien sehr düsteren Zeit statt: Durch das sowjetische Ultimatum vom 26. Juni musste die rumänische Verwaltung Bessarabien und die Nord-Bukowina innerhalb von vier Tagen räumen. Auf den Straßen stauten sich die abziehenden Militäreinheiten und die Transporte der Behörden, die Weisung hatten, das Staatseigentum mitzunehmen. Galaţi (Galatz) lag unmittelbar an der neuen Demarkationslinie, dort waren Züge mit etwa 10.000 Flüchtlingen aus Bessarabien angekommen. Zusätzlich strömten in die Stadt noch Juden und Slawen, die in das nun sowjetische Bessarabien auswandern wollten. Gemäß dem Bericht des Schweizer Botschafters in Rumänien, René de Weck, warteten am 30. Juni etwa 2.000 bis 3.000 Personen auf ihren Transport in den Nachbarhafen Reni; sie wurden nur von einigen Polizisten und Matrosen bewacht. Als sich einige Auswanderer aufgrund der sommerlichen Hitze entfernen wollten, wurde auf sie geschossen. Es entstand Panik und die Bewacher schossen mit Maschinengewehren in die Menge. Das Massaker beendete General Aurelian Son vom 11. Armeekorps. Der britische Botschafter, Sir Reginald Hoare, meldete am 1. Juli, dass er von seinem Konsul in Galaţi über ein Massaker der Armee informiert worden war. In die Sowjetunion seien über Reni bereits 7.600 Personen ausgereist. Im Bericht des Generalstabs der rumänischen Armee vom 1. Juli zur „Haltung der Juden bei der Evakuierung aus den abgetretenen Gebieten“ ist nach einer langen Auflistung von angeblichen Übergriffen der Juden am Ende in sechs Zeilen der Schusswaffeneinsatz in Galaţi erwähnt. Unter den 2.000 Personen, die nach Bessarabien wollten, seien 90 Prozent Juden gewesen. Einige hätten sich trotz Warnung entfernen wollen und angeblich zuerst geschossen. Es habe 10–12 Tote und etwa 40 Verletzte gegeben. 80 Personen seien verhaftet worden. Der Drang zur Auswanderung entstand, weil seit 1938/39 etwa ein Drittel der Juden Rumäniens die Staatsbürgerschaft verloren hatte. Viele Berufssparten waren ihnen dadurch versperrt. Staatenlos waren besonders jene Juden geworden, die aus Bessarabien und der Bukowina stammten. Deren verwandtschaftliche Bindungen spielten wohl bei der Auswanderung auch eine Rolle, denn die Bessarabier wussten aus den Erfahrungen von 1918, dass die Grenze bald hermetisch abgeschlossen sein würde. Die anschwellende Zahl von Juden aus Rumänien, die in die Sowjetunion wollten, verbreitete das Bild von den sogenannten Judeo-Bolschewisten, das bis dahin vor allem in der rechten Presse gepflegt worden war. Nun tauchte dieser Begriff gelegentlich auch in offiziellen Dokumenten auf. Der militärische Informationsdienst versuchte das Chaos beim Rückzug zu vertuschen, bei dem 42.876 Angehörige der rumänischen Armee gemäß dem Bericht des Generalstabs desertiert waren. Da die sowjetische Armee mit Fallschirmspringern die Knotenpunkte frühzeitig besetzte, hatten viele rumänische Offiziere in Panik ihre Ein-
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heiten verlassen. Diese wiederum entledigten sich oft ihrer Ausrüstung, um die Demarkationslinie schneller zu erreichen, was sie dann mit Angriffen von Juden rechtfertigten. Der Oberrabbiner Alexandru Safran vermutete, dass die Juden von Beginn an als Blitzableiter der nationalen Frustrationen auserkoren wurden. Er verwies darauf, dass er am 26. Juni zusammen mit dem Vertreter der „Föderation Jüdischer Gemeinden“ zum Innenminister, Mihail Ghelmegeanu, gerufen worden war. Sie wurden ermahnt, dass die Juden sich in den folgenden Tagen als Patrioten verhalten sollten. Dabei gab es zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit, mit Vertretern der Juden in den abgetretenen Gebieten Kontakt aufzunehmen. Jene durften diese Gebiete nicht verlassen, die rumänischen Grenzer hatten dazu klare Anweisungen. Dies wurde in der Bukarester Presse nicht erwähnt, dagegen aber viel über angebliche Demütigungen der abziehenden Truppen durch die Juden jener Gebiete. Selbst König Carol II. notierte in seinem Tagebuch am 28. Juni, dass „kommunistische Juden-Horden“ Flüchtlingszüge angegriffen hätten. Als der Oberrabbiner im Senat eine Erklärung abgeben wollte, erhob sich Tumult. Viele Senatoren brüllten, die Juden und Kommunisten hätten das Land verkauft. Unter dem Eindruck des Desasters brach in jenen Tagen die Regierung zusammen, und am 4. Juli 1940 erhielten Mitglieder der „Eisernen Garde“ Ministerposten. Nach 1990 erschienen in Rumänien viele Publikationen, die den rumänischen Holocaust leugneten und die Deportationen von 1941 mit den angeblichen Angriffen von Juden auf die rumänische Armee Ende Juni 1940 legitimierten. Die internationale Kommission zur Erforschung des rumänischen Holocaust erklärte 2004 diese Angriffe als Legenden und bezifferte die Anzahl der in Galaţi getöteten Personen auf etwa 300.
Literatur
Mariana Hausleitner
Wolfgang Benz, Brigitte Mihok (Hrsg.), Holocaust an der Peripherie. Judenpolitik und Judenmord in Rumänien und Transnistrien, 1940–1944, Berlin 2009. Comisia internaţională pentru studierea holocaustului în România: Raport final [Internationale Kommission zur Erforschung des Holocaust: Endbericht], Iaşi 2005. Mariana Hausleitner, Deutsche und Juden in Bessarabien 1814–1941. Zur Minderheitenpolitik Russlands und Großrumäniens, München 2005. Dumitru Hîncu (Hrsg.), Confidenţial! Bucureşti – Berna. Rapoartele diplomatice ale lui René de Weck [Vertraulich! Bukarest – Bern. Die diplomatischen Berichte von René de Weck], Bucureşti 2002. Alexandre Safran, Resisting the Storm. Romania 1940–1947. Memoirs, Jerusalem 1987. Sandu Singer u.a. (Hrsg.) Evreii din România între anii 1940–1944 [Die Juden Rumäniens in den Jahren 1940–1944], vol. III, 1, 1940–1942: Perioada unei mari restrişti [Eine Zeit großer Bedrängnis], Bucureşti 1997.
Galizische Bauernunruhen (1898) Im Sommer 1898 überfielen oder beschädigten Christen in mehr als 400 Dörfern und Kleinstädten Westgaliziens jüdische Schenken und Häuser. Ende Juni verhängte der galizische Statthalter Leon Piniński über 33 Bezirke den Ausnahmezustand, über zwei Bezirke das Standrecht. Bei Interventionen von Gendarmerie und Militär wurden 20
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Galizische Bauernunruhen (1898)
Menschen erschossen und 3.800 wegen ihrer Beteiligung an den Unruhen vor Gericht gestellt. Die Unruhen ereigneten sich im Kontext großer sozialer und ökonomischer Umwälzungen auf dem galizischen Land seit Abschaffung der Frondienste 1848 und der zunehmenden Kommerzialisierung des Wirtschaftslebens im verarmten österreichischen Kronland Galizien. Einfluss auf die Ausschreitungen hatte die politische Mobilisierung breiter Schichten nach den Wahlrechtsreformen in Cisleithanien in den 1890er Jahren. Während der Reichsratswahlen 1897 hatten sich Bauernparteien massiver antisemitischer Agitation bedient. Agrarantisemitische Programme verlangten nach einer Verdrängung der Juden aus ihrer dominanten Position im Zwischenhandel, Schank- und Kreditwesen. Bei der Nachwahl für ein Reichsratsmandat im Frühjahr 1898 nutzten die beiden konkurrierenden polnischen Bauernparteien antisemitische Agitation auch zur gegenseitigen Desavouierung. Zu Ostern 1898 erzählten sich Menschen in Wieliczka, dass Juden ein Attentat auf den Gemeindepfarrer und Reichsratsabgeordneten der Christlichen Volkspartei, Andrzej Szponder, planten. Obwohl sich das Gerücht als unwahr herausgestellt hatte, bewarfen jugendliche Randalierer die Häuser von Juden mit Steinen. Es hielt sich die Erzählung, dass es bald zu einer „Abrechnung“ mit den Juden kommen werde. Zu Pfingsten kamen Tausende von Menschen nach Kalwarya Zebrzydowska, einer Pilgerstätte südlich von Krakau, die zusätzlich den hundertsten Geburtstag des Dichters Adam Mickiewicz feierte. Im Vorfeld der Feiern hatten Gerüchte Runde gemacht, wonach Juden ein Mordkomplott gegen den Kaiser geschmiedet hätten, das jedoch aufgedeckt werden konnte. Zur Strafe sollten Juden für einen bestimmten Zeitraum geschlagen und beraubt werden dürfen. Am Abend zog eine große Menge auswärtiger Bauern durch die Stadt und schleuderte Steine gegen jüdische Häuser. Bei dem Versuch die Menge zu zerstreuen, erschossen die Gendarmen zwei Randalierer. An Fronleichnam wurden in Frysztak elf Menschen erschossen, als auf dem Marktplatz jüdische Häuser und Stände attackiert wurden und die Menge auch die einschreitende Gendarmerie angriff. Die Nachrichten von den blutigen Zusammenstößen verbreiteten sich schnell und polarisierten die ländliche Bevölkerung. Viele jüdische Gemeinden ersuchten die Staatsorgane um militärischen Schutz. Häufig mussten sie die Kosten für die Einquartierung des Militärs selbst tragen. Viele Juden verschlossen ihre Läden und verreisten, wenn sich vor Ort eine Ausschreitung ankündigte, oder versuchten mit Bestechung oder Verhandlung mit den Angreifern das Schlimmste abzuwenden. Vor allem christliche Bauern und Landarbeiter, aber auch Handwerker, Priester und Teile der städtischen Intelligenz waren erregt über die unverhältnismäßige Härte des Militärs „zum Schutz der Juden“, die sie der Provokation beschuldigten. In vielen Gemeinden belästigten Christen ihre jüdischen Nachbarn mit Steinwürfen und Katzenmusik, traditionellen Formen kollektiver Bestrafung, mit denen die christliche Gemeinschaft ihre Macht gegenüber der Minderheit demonstrieren wollte. Die Gewalt gegen Juden blieb meist begrenzt. In vielen Orten nahm sie ihren Ausgang unter Einfluss von Alkohol in Schenken. Auf Anweisung des Statthalters vom 18. Juni hatten die Gemeinden Bürgerwehren zu bilden, die Tag und Nacht patrouillierten. Der ursprüngliche Konflikt zwischen Christen und Juden wandelte sich im Laufe der Unruhen. Vor allem in den abgelegenen
Gaskammern
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Gegenden führten Banden von bisweilen über hundert Teilnehmern Raubzüge durch, die nicht mehr nur Juden, sondern auch wohlhabendere Christen bedrohten. Am 25. Juni plünderten und brandschatzten zweitausend Menschen die jüdischen Häuser und Geschäfte am Marktplatz von Stary Sącz. Der Statthalter Leon Piniński verhängte den Ausnahmezustand und das Standrecht. Militäreinheiten bemühten sich um die Rückgabe geraubter Güter. In zwei Orten überfielen jedoch Dragoner auf ihrem Rückweg nach Mähren jüdische Bürger und Häuser. In der kollektiven Erinnerung der christlichen Landbevölkerung überformten die zahlreichen Opfer und der Ausnahmezustand den ursächlichen Konflikt mit den Juden. Im Reichsrat nutzten galizische Politiker wie Stanisław Stojałowski die Unruhen zur Repräsentation ihrer agrarantisemitischen Agenda. Nichtdestotrotz blieben die galizischen Juden bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs von größeren kollektiven Gewaltausbrüchen verschont.
Literatur
Tim Buchen
Tim Buchen, Herrschaft in der Krise – der „Demagoge in der Soutane“ fordert die „galizischen Allerheiligen“, in: Jörg Baberowski, David Feest, Christoph Gumb (Hrsg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt 2008, S. 331–355. Frank Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen 1881–1922. Eine Studie zur Geschichte des Antisemitismus in Osteuropa, Wiesbaden 1981. Daniel Unowsky, Peasant Political Mobilization and the 1898 anti-Jewish Riots in Western Galicia, in: European History Quarterly 40 (2010), 3, S. 412–435.
Gaskammern Gaskammern sind Tötungseinrichtungen in Form von hermetisch abgeschlossenen Räumen, in die Gas eingeleitet wird. In den in den NS-Konzentrations- und Vernichtungslagern eingesetzten Gaskammern wurden Kohlenmonoxid (CO) oder Blausäure (unter dem Handelsnamen Zyklon B von der Firma Degesch produziert) verwendet. Das Kohlenmonoxid wurde aus Gasflaschen eingeleitet oder von KfZ-Motoren produziert. Die ersten Versuche dieses Tötungsverfahrens wurden im Dezember 1939 innerhalb der „Aktion T 4“ an polnischen Insassen der Heilanstalten Fort VII in Owinska bei Posen durchgeführt. Anfang 1940 erfolgte eine Probevergasung im ehemaligen Zuchthaus Brandenburg/Havel mittels Kohlenmonoxid in einer Gaskammer, die als Inhalationsraum getarnt war. In sechs Euthanasie-Anstalten in Deutschland und Österreich wurden Gaskammern errichtet, nachdem der Chef des Euthanasieprogramms Viktor Brack entschieden hatte, Kohlenmonoxid zur Tötung von Behinderten zu verwenden. Ab April 1941 wurden in den Gaskammern der Euthanasie-Anstalten innerhalb der „Aktion 14 f 13“ arbeitsunfähige Häftlinge aus den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Auschwitz, Groß-Rosen, Ravensbrück, Buchenwald und Dachau ermordet. Am 2./3. September 1941 wurde eine erste Massenvergasung im Keller von Block 11 im Stammlager Auschwitz an sowjetischen Kriegsgefangenen durchgeführt.
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Gaskammern
Mit dem systematischen Bau von Gaskammern wurde in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“ begonnen. Die Gaskammern waren als Dusch-, Desinfektionsoder Inhalationsanlagen getarnt. Ende Februar 1942 wurde der Bau der Tötungsanlagen von Bełżec fertiggestellt. Nach ersten Versuchen mit Gasflaschen und Motorabgasen wurden in den drei primitiven Gaskammern des Holzgebäudes mittels der Abgase eines Panzermotors bis Mitte 1942 ca. 96.000 Juden ermordet. Diese Gaskammern waren der Prototyp für die größeren Gaskammern in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“ Sobibor und Treblinka. Im Juni 1942 wurde das Holzgebäude abgerissen und durch ein Steingebäude ersetzt, dessen sechs Gaskammern gleichzeitig 1.500 Personen fassen konnten. Im Vernichtungslager Sobibor befanden sich die ersten drei Gaskammern in einem Steingebäude mit Betonfundament; auch hier wurde ein Panzermotor verwendet. Zwischen April und Juni 1942 wurden insgesamt 77.000 Juden in Sobibor ermordet. Im September 1942 erhielt das Vernichtungslager Sobibor ein neues Gebäude mit sechs Gaskammern, die 1.200 bis 1.300 Menschen fassen konnten. Das Vernichtungslager Treblinka war der perfekteste Tötungsort der „Aktion Reinhardt“; hier erreichten die Massentötungen mittels Giftgas ihren Höhepunkt. Ursprünglich befanden sich dort drei Gaskammern, in die aus einem angebauten Raum Gas von einem Dieselmotor eingeleitet wurde, ein System, dessen Kapazität im Juli 1942 vergrößert wurde. In insgesamt zehn Gaskammern konnten gleichzeitig bis zu 4.000 Menschen innerhalb einer Stunde ermordet werden. Zwischen dem 23. Juli und dem 28. August 1942 wurden im Vernichtungslager Treblinka ca. 268.000 Juden, zumeist aus dem Warschauer Ghetto, mittels Giftgas getötet. Die Prozedur der Ermordung wurde in allen Vernichtungslagern perfektioniert. Die Opfer wurden gezwungen, sich zu entkleiden, mit erhobenen Armen die Gaskammern zu betreten und sich so zusammenzudrängen, dass eine maximal erreichbare Anzahl von Körpern die Räume füllten. Kleinkinder und Babys wurden zumeist auf die Menge geworfen. Dies geschah nicht nur aus Platzgründen, sondern begünstigte die „Effektivität“, da sich somit insgesamt weniger Luft in der Gaskammer befand. Daher hatte die Gaskammer auch eine möglichst niedrige Decke, im Fall des Vernichtungslager Treblinka 2 Meter Höhe. Die Zahl der in den Gaskammern der „Aktion Reinhardt“ getöteten Juden betrug 600.000 (Bełżec), 250.000 (Sobibor) und 900.000 (Treblinka). Nach den ersten Versuchen mit Zyklon B im Konzentrationslager Auschwitz vom 2.-3. September 1941 wurden zwei verlassene, im Wald von Birkenau gelegene Bauernhäuser zu Gaskammern umgebaut, die im Januar und Ende Juni 1942 in Betrieb genommen wurden: Bunker eins und Bunker zwei. 1943 wurden auf dem Gelände von Birkenau vier moderne Krematorien errichtet, die aus jeweils drei Teilen bestanden: Entkleidungsraum, Gaskammer, Verbrennungsöfen. Lagerkommandant Rudolf Höß setzte die ausschließliche Verwendung des Entwesungsmittels Zyklon B durch. Die Zahl der im Konzentrationslager Auschwitz durch Vergiftung der freigesetzten Gase durch Zyklon B getöteten Menschen wird auf 1.000.000 geschätzt. Das Konzentrationslager Majdanek verfügte ab Oktober 1942 über zwei in einer Holzbaracke befindliche Gaskammern für 150 und 300 Personen. Die Morde erfolgten durch den Einsatz von Kohlenmonoxid und Zyklon B. In Mauthausen wurde im Herbst 1941 mit dem Bau einer Gaskammer begonnen. Im Hauptlager und im Nebenlager Gusen wurde Zyklon B verwendet. Sachsenhausen verfügte über eine Gaskammer, die
Gaswagen
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nur in besonderen Fällen in Betrieb genommen wurde. Im Konzentrationslager Ravensbrück wurde erst in der Endphase eine Gaskammer in einem Bretterbau errichtet. Im Konzentrationslager Stutthof wurden erstmalig am 22. Juni 1944 Menschen mittels Zyklon B getötet. Die Opfer waren Weißrussen und Polen. In Neuengamme wurden nachweislich zweimal sowjetische Kriegsgefangene durch Zyklon B ermordet. Hier war das Lagergefängnis zur Gaskammer umfunktioniert worden. Das Konzentrationslager Natzweiler verfügte über eine Gaskammer, in der Experimente mit Phosgengas stattfanden.
Literatur
Katrin Reichelt
Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997. Eugen Kogon, Hermann Langbein, Adalbert Rückerl (Hrsg.), Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1986. Franciszek Piper, Massenvernichtungen von Juden in den Gaskammern des Konzentrationslagers Auschwitz, in: Auschwitz. Nationalsozialistisches Vernichtungslager, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau 1997. Jean-Claude Pressac, Die Krematorien von Auschwitz. Die Technik des Massenmordes, München 1994.
Gaswagen Die mobilen Mordwerkzeuge (in der Sprache der Täter: Sonderwagen, Spezialwagen, S-Wagen) waren Lastkraftwagen, in deren luftdicht abschließbaren Laderäumen durch eingeleitete Auspuffgase zumeist Juden getötet wurden. Die Methode war durch Albert Widmann vom Kriminaltechnischen Institut des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) und Arthur Nebe, Leiter des Reichskriminalamtes, gemeinsam entwickelt worden. Erste Experimente fanden im Rahmen der „Aktion T 4“ zwischen Dezember 1939 und Juni 1940 in Polen an geistig Behinderten aus dem Warthegau, Pommern, Danzig und Ostpreußen statt. In dieser Anfangsphase wurden LKW-Anhänger mit der Aufschrift „Kaiser’s-Kaffee-Geschäft“ verwendet, die durch eine Zugmaschine bewegt wurden und in denen die Opfer durch eingeleitetes Kohlenmonoxid aus Gasflaschen getötet wurden. Bereits zuvor waren ähnliche Vergasungsexperimente mit verschließbaren Lastwagenanhängern in den Konzentrationslagern Mauthausen und Sachsenhausen durchgeführt worden. Die ersten speziell angefertigten Gaswagen wurden Ende 1939 bis Mitte 1940 unter der Mitwirkung der Kanzlei des Führers und des RSHA hergestellt. Die Abteilung II D 3a des RSHA war für den Bau und Einsatz der Gaswagen sowie die Fahrer und die Versorgung mit Ersatzteilen verantwortlich. Insgesamt fanden zwei Typen von Gaswagen Verwendung: kleinere mit bis zu 3,5 Tonnen Nutzlast für etwa 50 Menschen (Diamond, Opel Blitz und ein Renault-LKW) und größere mit ca. fünf Tonnen Nutzlast für ca. 70 Menschen (Saurer-LKW). Diese Wagen hatten einen luftdicht abgeschlossenen Aufbau. Der große Saurer-Wagen ähnelte einem Möbelwagen. Die Abgase wurden durch einen Schlauch in das Innere des Wagens geleitet, bei Bedarf konnte eine vergitterte Lampe die Ladefläche erleuchten.
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Gaswagen
Für die Massentötungen in der besetzten Sowjetunion war die Beschaffung von Gasflaschen zu aufwendig, sodass bald nach alternativen Möglichkeiten gesucht wurde. Man versuchte, die Opfer mit nach innen geleiteten Auspuffgasen zu ermorden. Diese neuen Gaswagen wurden mit der Absicht gebaut, Zugmaschine, Anhänger und Giftgasquelle zu vereinigen und Platz für insgesamt 30–50 Opfer zu schaffen. Die ersten Tötungen mit nach innen geleiteten Auspuffgasen fanden in einer Anstalt für Geisteskranke in Mogilew statt. Auf Befehl des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, beauftragten SS-Obersturmbannführer Walther Rauff (Chef der Gruppe II D 3, Technischer Service der Sipo), SS-Hauptsturmführer Friedrich Pradel (Referat II D 3a, Chef des Technischen Dienstes des Reichskriminalpolizeiamtes) und Harry Wentritt (Abteilung II D 3a, Chef der Kfz-Werkstatt des Reichskriminalpolizeiamtes) vom RSHA die Firma Gaubschat Fahrzeugwerke GmbH in Berlin, die Herstellung der Kastenbauten zu übernehmen. Gegenüber der Firma wurde angegeben, die Fahrzeuge würden für den Transport von Seuchenopfern benötigt. Die Lieferung der Fahrgestelle (Renault), insgesamt fünf oder sechs Stück, erfolgte durch das RSHA selbst. Die Firma Gaubschat lieferte am 23. Juni 1942 ca. 20 von den 30 bestellten Gaswagen, die übrigen zehn Fahrzeuge sollten ursprünglich auf Rauffs Wunsch hin modifiziert werden, was sich jedoch als technisch zu umständlich erwies. Der Ablauf der Tötung erfolgte nach einem strengen Schema. Die Opfer mussten ihre Wertsachen abliefern und sich in vielen Fällen entkleiden. Nachdem sie den Gaswagen betreten hatten, wurden dessen Türen verschlossen und der Gasschlauch am Auspuff befestigt. Um die eingeschlossenen Menschen für einige Minuten zu beruhigen, wurde in der Regel die Lampe im Innenraum eingeschaltet. Danach startete der Fahrer den Motor und ließ ihn ca. zehn Minuten im Leerlauf laufen. Das nach innen geleitete Gas erstickte die Opfer, wobei der Prozess durch den Luftmangel in dem überfüllten Laderaum beschleunigt wurde. Nachdem die Schreie und das Trommeln der Opfer gegen die Wagenwände verstummt waren, wurde der Wagen zum Verbrennungsort gefahren. Die Entladung und Verbrennung der Leichen erfolgte durch jüdische Sonderkommandos. Es gab jedoch auch Abweichungen von diesem Schema, und der Gaswagen wurde zum Verbrennungsort gefahren, wo die Vergasung erfolgte (z.B. am Ostermontag 1942 in Stalino). Die erste Tötung in einem Gaswagen hatte bereits am 3. November 1941 im Konzentrationslager Sachsenhausen stattgefunden. Die mit nach innen geleiteten Auspuffgasen betriebenen Gaswagen kamen Ende November, Anfang Dezember 1941 zum Einsatz. Ab Dezember 1941 wurden zwei bis vier Gaswagen (es liegen unterschiedliche Zeugenaussagen und Quellen vor) beim „Sonderkommando Lange“ im Vernichtungslager Chełmno (Kulmhof) verwendet; in der besetzten Sowjetunion, insbesondere in Weißrussland und in der Ukraine, sollen 15 Gaswagen eingesetzt worden sein, u.a. zur Ermordung der Juden des Ghettos Minsk im Vernichtungslager Maly Trostinec. Im November und Dezember 1941 und im Januar 1942 wurden Juden aus Poltava mit einem Gaswagen ermordet. In den ersten Monaten des Jahres 1942 waren auch im Gebiet der Einsatzgruppe A zwei Gaswagen in Gebrauch; die Einsatzgruppe D verfügte Anfang Januar 1942 über drei Gaswagen, und die Einsatzgruppe C benutzte fünf Gaswagen zur Massentötung von Juden. Im Vernichtungslager Bełżec wurden ebenfalls
General Order No. 11 (USA 1862)
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Experimente mit Gaswagen durchgeführt; unter dem Kommando von Christian Wirth wurde ein grau angestrichener Paketwagen der Reichspost zum Gaswagen umgebaut. Im Internierungslager Zemun (Semlin) bei Belgrad wurden ebenfalls Juden durch ein Sonderkommando in Gaswagen ermordet. Weitere Einsatzgebiete waren im Kaukasus und in Lublin. Ende 1941 wurden größere Gaswagen der Marke „Saurer“ für jeweils 100 Opfer gebaut. Ab Dezember 1941 wurden nur noch größere Gaswagen hergestellt, da geplant war, jedes Sonderkommando der Einsatzgruppen mit Gaswagen auszustatten und die Vergasungskapazität zu steigern. Insgesamt wurden ca. 500.000 Menschen in Gaswagen ermordet.
Literatur
Katrin Reichelt
Matthias Beer, Die Entwicklung von Gaswagen beim Mord an den Juden, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 35 (1987), S. 403–417. Eugen Kogon, Hermann Langbein, Adalbert Rückerl (Hrsg.), Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1986.
General Order No. 11 (USA 1862) Der „General Order No. 11“ stellt einen der wichtigsten Fälle von staatlichem Antisemitismus in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika dar. Er ist im Kontext des Bürgerkriegs entstanden und brachte den bis dahin latenten Antisemitismus an die gesellschaftliche Oberfläche. Am 17. Dezember 1862 erließ Generalmajor Ulysses S. Grant, Kommandant der Unionstruppen in Tennessee, den „General Order No. 11“, der die Vertreibung aller Juden aus dem von ihm kontrollierten Gebiet anordnete. Diese Region galt als Umschlagplatz für den Handel mit Gold und Silber, Waffen und medizinischen Artikeln aus dem Norden im Austausch für Baumwolle und andere landwirtschaftliche Produkte aus dem Süden. Zahlreiche Menschen waren in diesen Handel involviert, einschließlich Händler, Spekulanten und Soldaten. Obwohl Juden nicht die einzigen Beteiligten waren, wurden sie zur einzigen vom Befehl betroffenen Gruppe: „The Jews, as a class violating every regulation of trade established by the Treasury Department and also department orders, are hereby expelled from the department within twenty-four hours from the receipt of this order.“ Infolgedessen mussten die Juden die Staaten Mississippi, Kentucky und Tennessee verlassen. Im Fall der Stadt Paducah/Kentucky wurden dreißig Familien zum Auszug aufgefordert, nur zwei ältere und zudem kranke Frauen durften bleiben. Die Reaktion der jüdischen Gemeinde folgte schnell. Cesar Kaskel aus Paducah schrieb Briefe, traf sich mit lokalen jüdischen Vertretern und leitete eine kleine Delegation nach Washington, um die Aufhebung des Befehls zu erreichen. Nach einem Treffen mit der jüdischen Delegation ordnete Präsident Abraham Lincoln gegenüber dem General-in-Chief der Armee Henry W. Halleck an, den Befehl aufzuheben. Grant vollzog dies offiziell am 7. Januar 1863. „General Order No. 11“ stellte den Höhepunkt einer Reihe von Versuchen Grants dar, die Juden aus „seinem Gebiet“ zu vertreiben. Grant und sein Kollege General William Tecumsah Sherman zeigten dabei eine antisemitische Haltung, die typisch während des amerikanischen Bürgerkriegs war,
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Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums
den die Nordstaaten (Union) gegen die Südstaaten (Konföderation) um die Sklaverei führten. Im Norden standen die Juden im Verdacht, mit dem Süden zu sympathisieren. In einem Fall führte dieser Verdacht zur Verhaftung von Simon Wolf von „B’nai B’rith“ durch den Chef der Detective-Abteilung des Kriegsministeriums, der glaubte, dass „B’nai B’rith“ den Süden unterstütze. In vielen Fällen bezogen sich die Anklagen auf finanzielle Aktionen, Zielscheibe waren jüdische Bankiers, die im Verdacht von Geldspekulationen standen. Als Stellvertreter der Rothschilds in Amerika wurde der als „Bankjude“ bezeichnete August Belmont aus New York regelmäßig der Unterstützung des Südens beschuldigt. Im Süden wurden die Juden ebenfalls der mangelnden Loyalität bezichtigt. Auf der lokalen Ebene wurden jüdische Ladenbesitzer und Kaufleute als „Erpresser“ bezeichnet; in den Kleinstädten Talbotton und Thomasville im Bundesstaat Georgia stimmten die Bürger dafür, ihre jüdischen Nachbarn zu vertreiben. Auf nationaler Ebene kamen antisemitische Äußerungen oftmals von Mitgliedern des Confederate Congress, die die Juden als Heuschrecken bezeichneten, die in den Süden einfielen. Was August Belmont im Norden war, war Judah P. Benjamin für den Süden. Beide, Belmont und Benjamin waren keine religiösen Juden, sie hatten christliche Ehefrauen und erzogen ihre Kinder im christlichen Glauben. Als Kriegsminister wurde Benjamin für alle militärischen Niederlagen der Südstaaten verantwortlich gemacht, als Außenminister für alle diplomatischen Niederlagen. Nach dem Bürgerkrieg ging die Welle von öffentlichem Antisemitismus zwar zurück, aber die Vorwürfe, auf denen sie basierten, z.B. Juden seien unehrliche und verräterische Außenseiter, waren nicht verschwunden, sie tauchten in den folgenden Krisenzeiten immer wieder auf.
Literatur
Richard E. Frankel
Hasia R. Diner, A Time for Gathering: The Second Migration 1820–1880, Baltimore 1992. Bertram W. Korn, American Jewry and the Civil War, Philadelphia 1951.
General-Juden-Reglement → Preußische General-Juden-Reglements (1730 und 1750) Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Geistlichen → Erlanger Gutachten Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre → Nürnberger Gesetze Gesetz zur Verteidigung der italienischen Rasse → Italienische Rassengesetze
Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums Die erste Diskriminierung von Juden durch ein Reichsgesetz erfolgte kaum mehr als zwei Monate nach der Machtübernahme durch die Hitler-Regierung. Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 verloren Juden
Ghetto im Mittelalter
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(ebenso wie Sozialdemokraten und Kommunisten) ihren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst. Das war eine erste praktische Konsequenz aus dem Parteiprogramm der NSDAP, vorläufig noch gemildert für diejenigen, die schon vor dem 1. August 1914 Beamte oder im Weltkrieg Frontkämpfer gewesen waren oder Väter oder Söhne im Weltkrieg verloren hatten. Zum Ärger der Nationalsozialisten, die unermüdlich das Klischee von der jüdischen Feigheit verbreiteten, war dieser Personenkreis aber sehr groß. Das zeigte sich auch bei einem anderen Ausschlussgesetz, das ebenfalls am 7. April verkündet wurde und die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft regelte. Anwälten „nichtarischer Abstammung“ wurde bis zum 30. September die Zulassung entzogen. Die Ausnahmebestimmung des Frontkämpferprivilegs ging auf eine Intervention des Reichspräsidenten beim Reichskanzler zurück, nachdem jüdische Kriegsteilnehmer Hindenburg zu Hilfe gerufen hatten. Das Staatsoberhaupt ließ daraufhin Hitler wissen, „wenn sie wert waren, für Deutschland zu kämpfen und zu bluten, sollen sie auch als würdig angesehen werden, dem Vaterland in ihrem Beruf weiter zu dienen“. Wie hinderlich das Frontkämpferprivileg für die Absichten der Regierung war, zeigte sich daran, dass in Preußen von 3370 jüdischen Anwälten 2609 ihre Zulassung behalten konnten. Nach einer Schätzung der „Zentralstelle für jüdische Wirtschaftshilfe“ verloren 1933 etwa 2000 Beamte des höheren Dienstes Arbeitsplatz und Beruf, außerdem wurden 700 Hochschullehrer von den Universitäten hinausgeworfen. Die indirekte Wirkung des „Berufsbeamtengesetzes“ durch die Anwendung des „Arierparagraphen“ außerhalb des staatlichen Bereichs in Verbänden, Organisationen, Körperschaften, Berufsvereinigungen usw. übertraf die unmittelbaren Folgen des Gesetzes bei Weitem. Analog zum Gesetz wurden Juden in vorauseilendem Gehorsam aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Berufsverbote trafen Juden in allen Sparten. Ab 4. Oktober 1933 richtete sich das → Schriftleitergesetz gegen jüdische Redakteure von Zeitungen und Zeitschriften. Schon im September 1933 hatte die Generalsynode der preußischen Union der evangelischen Kirche verboten, dass „Nichtarier“ als Geistliche und Beamte der kirchlichen Verwaltung berufen werden durften. Das Gleiche galt für Ehemänner „nichtarischer“ Frauen. „Arische“ Beamte, die eine Person „nichtarischer“ Abstammung heirateten, waren ebenfalls aus dem Kirchendienst zu entlassen. Das Schriftleitergesetz verdrängte jüdische Journalisten im Oktober 1933 aus den Redaktionen; eine Verfügung des preußischen Innenministers richtete sich gegen jüdische Herrenreiter und Jockeys; ein Auftrittsverbot machte im März 1935 jüdische Schauspieler brotlos.
Literatur
Wolfgang Benz
Joseph Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen – Inhalt und Bedeutung, Heidelberg, Karlsruhe 1981.
Ghetto im Mittelalter Oft wird jegliche Form jüdischer Ansiedlung in den mittelalterlichen europäischen Städten undifferenziert als „Ghetto“ bezeichnet. Für die Zeit bis zum 15. Jahrhundert ist dieser Begriff jedoch kaum auf die mittelalterlichen Siedlungsstrukturen anwendbar,
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jedenfalls nicht im Sinne eines „von außen“ abgeschlossenen Territoriums, dessen Grenzen von der jüdischen Bevölkerung nicht überschritten werden durften. Der moderne Leser assoziiert mit dem Begriff meist einen umzäunten oder ummauerten Bereich, dessen Tore verschlossen wurden, nicht von innen geöffnet werden konnten und dessen jüdische Bewohner unter teils unwürdigen Bedingungen auf engstem Raum lebten. Kurz: Ghetto evoziert in unserem Sprachgebrauch „Zwang“. Die jüdische Siedlungstopographie des Mittelalters ist jedoch sehr komplex und wird durch Begriffe wie „Jüdisches Viertel oder „Jüdische Straße(n)“ besser umschrieben. Das nahe Zusammenleben einer ethnischen oder religiösen Gruppierung innerhalb der Mehrheitsgesellschaft ist nichts Ungewöhnliches. Es ist natürlich, in der Nähe vertrauter Bezugsgrößen leben zu wollen, zu denen religiöse, kulturelle und soziale Einrichtungen ebenso gehören wie Sprache, Kleidung und Küche. Sie bewahren Identität und bieten in unterschiedlichem Maße emotionale und soziale Sicherheit. Für den Kontext der jüdischen Ansiedlung spielten jedoch auch andere Faktoren eine Rolle. Zum einen bedurfte die jüdische Gemeinschaft immer wieder des Schutzes durch die christliche Obrigkeit. Zum anderen bestand die Notwendigkeit, am Schabbat bzw. Feiertagen den Versammlungsort zu Fuß erlaufen zu können. Auch sollten aus praktischen Gründen Einrichtungen wie Badehaus oder Mikwe bequem zu erreichen sein. Die jüdischen Siedlungsstrukturen wandelten sich, je nach Ort und Zeit. Auch wurde die Ansiedlung in einigen Städten mehrfach unterbrochen, fand einen dynamischen Aufstieg genauso wie ein jähes Ende. Zudem unterschieden sich Städte grundlegend durch die jeweiligen Herrschaftsformen und damit Gesetzgebungen, denen sie unterlagen. Hinzu kamen weitere Faktoren: geographische Lage, soziale und ökonomische Struktur. Von ca. 1150 bis zur Pestzeit um 1350 stieg die Zahl der jüdischen Siedlungen im Römischen Reich Deutscher Nation von etwa 50 auf über 1.000 an. Dies ging einher mit der Neugründung von Städten und dem Aufschwung vormals dörflicher Gebilde. Bis ins frühe 16. Jahrhundert hinein blieb diese Zahl relativ stabil. Die jüdische Bevölkerung der Städte war zumeist nicht verpflichtet, innerhalb der Grenzen bestimmter Bezirke zu wohnen und daher residierten Gemeindemitglieder auch außerhalb der „jüdischen Viertel“. Umgekehrt war es üblich, dass Christen in den jüdischen Straßen Grundstücke besaßen. Oft waren sie die Eigentümer der von Juden bewohnten Häuser und erhielten von diesen Pacht bzw. Miete. Ausschließlich jüdische Bezirke waren eher selten. Wenn das jüdische Viertel von Toren eingegrenzt wurde, so bedeutete dies im mittelalterlichen Kontext zunächst einmal nichts Ungewöhnliches (dass eine Stadt nachts ihre Pforten verschloss, war gängige Praxis). Im Allgemeinen waren besagte Tore tatsächlich von innen und außen abschließbar, d.h., auch die jüdische Gemeinschaft besaß die Möglichkeit, die Türen zu öffnen oder zu versperren. Darüber hinaus stellten einige Gemeinden Wachleute an (jüdische wie christliche), um die Eingänge zu sichern (z.B. Köln und Prag). Das jüdische Viertel war also ein „durchlässiges“ Gebilde, das von Juden verlassen und von Christen betreten wurde. Wasser schöpfte man aus denselben Brunnen; Synagoge und Kirche trennte teils nur eine kurze Strecke; das Wirtshaus wurde von Juden wie Christen frequentiert; jüdische Musiker spielten auf christlichen Fe-
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sten und umgekehrt; christliche Knechte und Mägde arbeiteten für jüdische Arbeitgeber; jüdische Ärzte untersuchten christliche Patienten usw. Insgesamt ist es kaum möglich, von separaten christlichen und jüdischen Lebenswelten zu sprechen, die der Begriff „Ghetto“ nahelegt. Die vielfachen Verbote in Bezug auf bestimmte Aspekte des Miteinanders wie Tanz, Musik, Feierlichkeiten etc. (von christlicher, gelegentlich aber auch von jüdischer Seite) beweisen, dass diese alltäglich waren. Dass besagte Verbote oft mehrfach ausgesprochen werden mussten, belegt ein hohes Maß an Selbstverständlichkeit des Umgangs im sozialen Geflecht der Städte. Letzteres setzt ein hohes Maß an Freizügigkeit voraus. Nach den Kreuzzügen und bis zu den großen Vertreibungen aus beinahe allen Städten am Ende des Mittelalters stellten die Übergriffe und Verfolgungen der Pestzeit (um 1348–1350) den wohl größten Einschnitt für die jüdische Bevölkerung dar (lediglich 33 von über 1.000 jüdischen Ansiedlungen bestanden kontinuierlich weiter). Dementsprechend änderte sich auch die Siedlungsstruktur und -topographie vielerorts. Für das Frühe und Hohe Mittelalter war es kennzeichnend, dass sich jüdische Viertel an den zentralen Knotenpunkten der Stadt befanden. Entweder lagen die jüdischen Häuser direkt am Markt oder in den umliegenden Gassen, den Hauptverkehrsstraßen, Häfen, am Fuße einer Burg oder nahe den kirchlichen Zentralgebäuden. Die unmittelbare Nachbarschaft von Synagogen und Kirchen, Rathäusern und anderen städtischen Einrichtungen wurde offenbar nur in Ausnahmefällen als anstößig empfunden. Nach den sogenannten Pestjahren fand zum Teil eine „topographische Marginalisierung“ der jüdischen Bevölkerung statt, d.h. sie wurden im Stadtbild weiter an die Peripherie gedrängt. Fälle, in denen das jüdische Viertel nach der Wiederansiedlung in „schlechtere Bezirke“ der Stadt verlegt wurde, ereigneten sich u.a. in Augsburg, Donauwörth, Frankfurt am Main, Nürnberg, Passau und Rothenburg ob der Tauber. Es handelt sich bei diesen Ortschaften jedoch um vergleichsweise wenige, gemessen an der Zahl derer, deren Wohnsituation und Ansiedlungsareal innerhalb der Stadt sich nach 1350 deutlich verbesserte. Wie Michael Toch darstellt, gehören dazu u.a. die Gemeinden in Breslau, Brünn, Eger, Erfurt, Graz, Halle, Heilbronn, Hildesheim, Koblenz, Köln, Konstanz, Magdeburg, München und Prag. In 82 Prozent der Fälle lagen die neuen jüdischen Viertel zentraler (also z.B. nahe dem Hauptmarkt), in nur 18 Prozent peripher. Zu einer radikalen Trennung der jüdischen und christlichen Wohnbereiche unter Zwang kam es erst im 15. Jahrhundert. Sukzessive entwickelte sich eine Ansiedlungsform, auf die der Begriff „Ghetto“ anwendbar ist. Zum Teil geschah dies relativ kurz vor der Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus den Städten des ausgehenden Mittelalters.
Literatur
Diana Matut
Alfred Haverkamp, The Jewish Quarters in German Towns during the late Middle Ages, in: Ronnie Po-chia Hsia, Hartmut Lehmann (Hrsg.), In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany, Cambridge 1995, S. 13–28. Michael Toch, Peasants and Jews in Medieval Germany. Studies in Cultural, Social and Economic History, Aldershot 2003.
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Markus J. Wenninger, Zur Topographie der Judenviertel in den mittelalterlichen Städten anhand österreichischer Beispiele, in: Fritz Mayrhoder, Ferdinand Oppl (Hrsg.), Juden in der Stadt, Linz/Donau 1999, S. 81–117. Markus J. Wenninger, Grenzen in der Stadt? Zu Lage und Abgrenzung mittelalterlicher deutscher Judenviertel, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 14 (2004), 1, S. 9–29.
Ghetto unter NS-Herrschaft Der Begriff Ghetto und seine zeitgenössischen Synonyme (Judenviertel, jüdischer Wohnbezirk) assoziieren historische Vorbilder jüdischer Segregation und verwischen damit die zäsurale Bedeutung deutscher Judenpolitik im Zweiten Weltkrieg. Von der Forschung werden die Ghettos in der Regel als Durchgangsstationen auf dem Weg in die Arbeits- und Todeslager beschrieben. Aus historischer Perspektive trifft dieser Befund im Endeffekt zu; er impliziert aber einen linearen Verlauf des Verfolgungsprozesses und seine gleichsam unabänderliche Kulmination in der „Endlösung der Judenfrage“, womit der Komplexität der Ereignisse nicht angemessen Rechnung getragen ist. Stattdessen sollte Ghetto als nur begrenzt aussagekräftiger Sammelbegriff für unterschiedliche Erscheinungsformen jüdischer Zwangsgemeinschaft verstanden werden. Im Zuge des nationalsozialistischen Strebens nach Ausgrenzung der jüdischen Minderheit tauchte die Idee, sie auch räumlich von der restlichen Gesellschaft zu segregieren, in Verlautbarungen und Planungsmodellen von Parteifunktionären schon früh als Zielvorstellung staatlichen Handelns auf. Ihr konzeptionell eng verbunden und, zumindest in der Anfangsphase, zeitlich vorangestellt war das Bestreben, Juden systematischer Kontrolle und Überwachung zu unterwerfen. Daraus erklärt sich, dass in dieser Frage aktive Instanzen in Ergänzung zu anderen diskriminierenden Maßnahmen die Schaffung verantwortlicher Zwangsvertretungen erwogen, wie sie zuerst in Gestalt der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ (die 1933 als „Reichsvertretung der deutschen Juden“ gegründet worden war), später als Ältesten- oder Judenrat in den jeweiligen Ghettos verwirklicht wurden. Bis zum Beginn des Krieges dominierte allerdings das Ziel, die Juden aus dem Deutschen Reich zu vertreiben, sodass sich Konzentration und Kontrolle in erster Linie gegen diejenigen Gruppen richteten, die das Land nicht verlassen wollten oder konnten. Als Vorform der Ghettos können die „Judenhäuser“ gelten, die in verschiedenen deutschen Städten in den späten 1930er Jahren eingerichtet wurden und die soziale Segregation faktisch vollendeten. Von hier deportierte man die Juden direkt in die Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager des Ostens, ohne dass es im Reichsgebiet in den Vorkriegsgrenzen zur Einrichtung von Ghettos kam. Die Welle der Ghetto-Gründungen nach der deutschen Okkupation Polens markierte eine neue Phase im Prozess der Judenverfolgung, die eng mit den spezifischen Bedingungen im ehemaligen russischen Ansiedlungsrayon wie auch mit der deutschen Perzeption des Ostens als Siedlungs- und Herrschaftsraum zusammenhing. Die Tatsache, dass die Ghettoisierung der polnischen Juden regional, zeitlich und in qualitativer Hinsicht unterschiedlich verlief, verweist auf das Fehlen konkreter Planungsvorgaben aus den Berliner Zentralen. Zuständig für die Ghettos als Teil der deutschen Judenpolitik
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in den besetzten Gebieten waren die Organe der Sicherheitspolizei sowie der Militärund Zivilverwaltung. Heydrichs Weisung vom 21. September 1939 an die → Einsatzgruppen, die die „Konzentration der Juden in Großstädten“ vorsah, ist schon deshalb nicht als grundlegender Befehl für die Gründung von Ghettos zu werten, weil andere Instanzen Mitsprache- und Entscheidungsrecht in der Behandlung der „Judenfrage“ beanspruchen und durchsetzen konnten. Die fehlende Einheitlichkeit, mit der die Ghettoisierung in der Folgezeit vollzogen wurde, spiegelt die in der ersten Kriegshälfte noch unklare Zielsetzung antijüdischer Maßnahmen wider. Weiterhin umstritten bleibt, welche Motive der Ghettoisierungswelle im besetzten Polen zugrunde lagen. Wie für die nationalsozialistische Judenpolitik insgesamt, so wirkten auch hier verschiedene Faktoren zusammen: 1. Die Einschätzung der polnischen Juden als fremdartig, minderwertig und gefährlich, wobei der Rekurs auf das schon im 19. Jahrhundert verbreitete und während des Ersten Weltkriegs verfestigte „Ostjuden“-Stereotyp nicht zu übersehen ist. 2. Das Anknüpfen an den in Deutschland erreichten Stand der Expropriierungs- und Verfolgungsmaßnahmen und deren Weiterentwicklung unter den Bedingungen der Besatzungsherrschaft. 3. Das mit der angestrebten „Ostsiedlung“ verbundene Streben nach Ausschaltung potentiell „reichsfeindlicher“ Bevölkerungselemente zugunsten von „Volksdeutschen“ und anderen Gruppen. In vielen Fällen kann die Gründung von Ghettos als Versuch gewertet werden, einen durch die vorangegangenen Maßnahmen verursachten „unmöglichen Zustand“ kurzund mittelfristig zu beheben, was wiederum die Tendenz zur Radikalisierung beschleunigte. Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde deutlich, dass eine als Massenmord konzipierte „Endlösung der Judenfrage“ auch ohne vorangegangene Konzentration von Juden in speziellen Wohnvierteln auskam. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD machten in Zusammenarbeit mit der Wehrmacht ganze Landstriche „judenfrei“ und richteten zumeist in größeren Städten vor wie auch nach Massenerschießungen Ghettos ein, die nur in Ausnahmefällen längerfristig Bestand hatten. Bis zum Herbst 1943 hatten deutsche Besatzungsinstanzen die bis dahin noch vorhandenen Ghettos liquidiert oder in KZ umgewandelt. Insbesondere ökonomische Gesichtspunkte scheinen eine gewichtige Rolle gespielt zu haben bei der Festsetzung jüdischer Wohnviertel im deutsch besetzten Osteuropa, der Bemessung von Nahrungsmittelrationen und der Heranziehung der Ghettobewohner zur Zwangsarbeit, wobei aus den deutschen Quellen allerdings nur selten hervorgeht, inwieweit es sich um vorgeschobene Rationalisierungen handelte. Im Rahmen der verzweifelten Suche nach den Ursachen und Zielen der deutschen Judenpolitik maßen die Betroffenen, allen voran die Judenräte, dem Aspekt wirtschaftlicher Ausbeutung besondere Bedeutung zu und versuchten, auf dieser Grundlage künftige deutsche Maßnahmen zu antizipieren. Wenngleich ökonomische Faktoren zu keiner Zeit die einzigen Determinanten deutscher Politik gegenüber den Juden waren, gerieten mit fortschreitender Kriegsdauer auch die Ghettos stärker in die Perspektive deutscher Wirtschaftsplaner. Angesichts der Zwangsfunktion der Ghettos für alle Juden einschließlich von Kindern, Alten und Kranken schien ihr Ausbeutungspotential jedoch beschränkt. Die ab 1942 von Himmler forcierte Expropriation jüdischer Zwangsarbeiter führte zur Auflösung der Ghettos und ihrer Umwandlung in Konzentrations- oder Arbeitslager.
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Es entsprach dem nur bedingt zweckrationalen Wesen der „Endlösung“, dass neben den als nicht arbeitsfähig geltenden Juden auch solche ermordet wurden, die im Rahmen staatlicher oder privater Unternehmungen kriegswirtschaftlich wichtige Funktionen erfüllten. Angesichts des beschränkten Erklärungswerts des Pauschalbegriffs Ghetto wird in der Forschung oft nach unterschiedlichen Ghettoformen differenziert: „offene“ Ghettos ohne feste Außengrenzen und „geschlossene“, von Mauern oder Zäunen umgebene Ghettos; Ghettos in Polen, der Sowjetunion und „Sonderfälle“ in anderen deutsch kontrollierten Gebieten (Theresienstadt, Amsterdam, Saloniki, Budapest). Da flächendeckende, empirisch abgesicherte Fallstudien weitgehend fehlen, sind der heuristischen Bedeutung derartiger Versuche typologischer Abgrenzung enge Grenzen gesetzt. Strukturelle Gemeinsamkeiten existieren in der Gestalt der „jüdischen Selbstverwaltung“ mit dem Judenrat als Verwaltungsspitze und diversen anderen Instanzen (Ghettoämter, bisweilen auch Ghettopolizei, Gerichte, kulturelle Einrichtungen) als ausführenden Organen. Diese hierarchisierte Binnenorganisation in Verbindung mit der Delegierung von Teilverantwortlichkeiten diente – nicht unähnlich der „Häftlingsverwaltung“ in den Konzentrationslagern – der Vereinfachung administrativer Abläufe sowie der Einsparung von personellen und anderen Ressourcen. Ihr Effekt auf Seiten der jüdischen Ghettoinsassen war, dass die Verantwortlichkeiten für die Zustände in den Ghettos verschwammen, da sich Unmut statt an deutschen Entscheidungsträgern an jüdischen Erfüllungsgehilfen festmachte. Gleichzeitig förderte das System der Ghettos – oft unter stillschweigender Billigung, bisweilen mit aktiver Förderung durch den Judenrat – das Entstehen subversiver, gegen die deutschen Maßnahmen gerichteter Strukturen von der illegalen Beschaffung von Lebensmitteln außerhalb der Ghettogrenzen bis hin zu systematischer Fluchthilfe und bewaffneten Widerstandsgruppen. Angesichts der Bedingungen in den Ghettos und der im Allgemeinen brüchigen, ständiger Bedrohung durch deutsche Repression unterworfenen Verbindungslinien zur Außenwelt blieb militärischer Widerstand zumeist im Planungsstadium stecken und kulminierte nur in Ausnahmefällen (z.B. Warschau, Białystok) in koordinierten Aktionen.
Literatur
Jürgen Matthäus
Dan Michman, „Judenräte“ und „Judenvereinigungen“ unter nationalsozialistischer Herrschaft: Aufbau und Anwendung eines verwaltungsmäßigen Konzepts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998), S. 193–204. Dieter Pohl, Ghettos, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors, Band 9, München 2009, S. 161–191. Isaiah Trunk, Judenrat. The Jewish Councils in Eastern Europe under Nazi Occupation, New York 1972. United Holocaust Memorial Museum, Encyclopedia of Camps and Ghettos 1933–1945, vol. 2: Ghettos in German-Occupied Eastern Europe, Indiana 2011. The Yad Vashem Encyclopedia of the Ghettos during the Holocaust, Jerusalem 2009.
Grattenauer-Kontroverse (1803–1805)
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Grattenauer-Kontroverse (1803–1805) Gegner und Befürworter der Judenemanzipation stritten seit der Veröffentlichung von Christian Wilhelm Dohms Buch „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ (1781) über die Frage, ob „das Wesen und die Natur des Judentums der Aufnahme der Juden zu Bürger entgegenstehe“ und ob die behaupteten negativen Eigenschaften der Juden unveränderlich zu ihrem Charakter gehörten. Als der bekannte jüdische Reformer David Friedländer 1799 anonym sein „Gespräch über das Sendschreiben von einigen jüdischen Hausvätern an den Probst Teller. Zwischen einem christlichen Theologen und einem alten Juden“ veröffentlichte, löste er damit eine vielstimmige und kontroverse Debatte („Hausväterstreit“) über die mögliche, von Friedländer skizzierte Konvergenz der Religionen in einem ethischen Monotheismus aus. Zur Kultusangleichung bot er weitgehende Konzessionen hinsichtlich der äußeren christlichen Bräuche an, ohne jedoch den „unglaublichen Lehrsätzen des Christenthums, welche die Seele erniedrigten, zuzustimmen“. Theologen wie Friedrich Schleiermacher warnten vor einem „judaisierenden Christentum“ und lehnten Konversionen von Juden aus einem theologisch und sozial begründeten Antijudaismus heraus ab, andere, wie etwa der Göttinger Professor für Philosophie und Geologie Jean André de Luc, sahen in den Vorschlägen Friedländers gar eine Schmähung des Christentums. Der Berliner Jurist Christian Ludwig Paalzow kritisierte in seiner Schrift „Die Juden. Nebst einigen Bemerkungen über das Sendschreiben an den Herrn Oberkonsistorialrat und Probst Teller zu Berlin von einigen Hausvätern jüdischer Religion und die darauf erfolgte Tellersche Antwort“ (1799) das Angebot Friedländers als Herablassung gegenüber dem Christentum und hielt den Juden einen Mangel an Liebe gegen die Christen vor. Dem Judentum sprach er den Charakter einer Religion ab, dessen Gesetze für ihn stattdessen eine theokratische Staatsverfassung darstellten. Indem er für die völlige Auflösung des Judentums plädierte, nahm er in der Diskussion eine besonders radikale Position ein. Er befürchtete, die emanzipierten Juden würden Handel und Gewerbe monopolisieren, die Christen zu Sklaven machen und die Weltherrschaft anstreben. 1803 wiederholte Paalzow diese Gedanken in seiner lateinischen Schrift „Tractatus historico-politicus de civitate Judaeorum“ (1803), auf die sich wiederum sein Kollege am Berliner Kammergericht, Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer, in seiner anonym publizierten, extrem judenfeindlichen Schrift „Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere Mitbürger“ (1803) vorwiegend stützte, womit er 1803 einen PamphletKrieg von Erklärungen und Gegenerklärungen zur Judenemanzipation auslöste, den die „Bibliographie zur Judenfrage“ von Volkmar Eichstädt mit über sechzig Einträgen als „erste antisemitische Bewegung“ rubriziert hat. Bereits 1791 hatte Grattenauer in seiner Schrift „Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden“ den Juden unveränderliche, korrupte Charaktereigenschaften zugeschrieben, woran auch eine Konversion nichts ändern könne, sodass letztlich nur ihre Ghettoisierung oder Aussiedlung, wahlweise nach Kanaan oder in die britische Strafkolonie Botany Bay in Australien, als Problemlösung in Frage kam. Seine Schrift „Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere christlichen Mitbürger“ von 1803 richtete sich offen judenfeindlich gegen die Emanzipation und ihre „Judenadvokaten“ und stieß aufgrund des gegenüber 1791 gewandelten politischen Klimas auf große Resonanz und wurde mit sechs Auflagen und 13.000 Exemplaren zu einem Best-
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seller seiner Zeit. Die Juden werden in dieser Schrift als unverbesserliche Wucherer, Gauner und Aasgeier porträtiert, und die Folgen der Emanzipation werden in schwärzesten Farben ausgemalt, da die Juden sich allen Besitz aneignen, die christlichen Bürger versklaven und den Staat usurpieren würden. Aus dem Pamphlet sprechen, wie Grattenauer selber eingesteht, „Ekel, Abscheu, Hass und Widerwillen gegen das Judenvolk“, aber auch Sozialneid gegen die reichen und gebildeten jüdischen Berliner „Salonièren“. Paalzow beteiligte sich an der Kontroverse mit der deutschen Übersetzung seines Tractatus unter dem Titel „Über den Juden-Staat (de civitate Judaeorum) oder über die bürgerlichen Rechte der Juden“ (1803; auch: „Über das Bürgerrecht der Juden. Übersetzt von einem Juden“, 1803) und mit dem etwas ausgewogeneren Streitgespräch „Der Jude und der Christ: eine Unterhaltung auf dem Postwagen“ (1804), in der er zu dem Schluss gelangte, dass die Juden aufgrund ihrer Zeremonialgesetze, ihres Separatismus, des vermeintlichen Gebots, alle anderen Religionen zu hassen, und ihres Charakters derzeit nicht zu gleichberechtigten Staatsbürgern taugten, dass sie aber die notwendigen Eigenschaften erwerben könnten. In der scharf geführten Debatte von 1803 meldete sich auch Friedrich Buchholz, ein bekannter politischer Schriftsteller mit seiner 266-seitigen Schrift „Moses und Jesus, oder über das intellektuelle und moralische Verhältnis der Juden und Christen. Eine historisch-politische Abhandlung“ zu Wort, in der er Adel und Juden vorwarf, dem Staatszweck zuwiderzuhandeln und sich an den Resultaten der Arbeit anderer zu bereichern, dass Juden die Christen hassten und durch ihre Immoralität die Bürger schädigten. Buchholz warnte vor den Gefahren einer sich lange hinziehenden Erziehung der Juden, doch musste er auch allen schnell wirkenden Mitteln sowie ihrer Vertreibung eine Absage erteilen. Bei der allmählichen Verbesserung setzte Buchholz sowohl auf das Mittel des äußeren Zwanges wie eine lebenslange Militärpflicht für Juden als auch auf die zivilrechtliche „Mischehe“ zur Verschmelzung der Bevölkerungsgruppen. Neben den Traktaten dieser Autoren gab es eine ganze Reihe weiterer Hetzschriften, die häufig unter Pseudonym oder anonym publiziert wurden, zumal die preußischen Behörden, die befürchteten, es könnte zu antijüdischen Übergriffen kommen, im September 1803 alle weiteren Schriften dieser Art verboten. Dagegen legte Grattenauer in einer Bittschrift Widerspruch ein (14. September 1803) und richtete, nachdem Minister von Hardenberg diesen zurückgewiesen hatte, zwei Wochen später noch ein – vergebliches – Gesuch an den preußischen König Friedrich Wilhelm III. Dennoch ging der Pamphlet-Krieg bis 1805 weiter, in dem sich auch eine größere Zahl christlicher und auch einige jüdische, der Haskala zuzurechnende Autoren (Joseph Sabattja Wolff, Aaron Halle-Wolffsohn, Salomon Pappenheim) gegen Grattenauer und Konsorten stellten. So publizierte der Breslauer Pastor Johann Timotheus Hermes seine Weihnachtspredigt „Das Urteil unseres Herrn über sein Stammvolk, verglichen mit denjenigen Urteilen, welche jetzt so viel Aufsehen machen“ (1804), die sogleich einen kleinen Schriftenkrieg provozierte, in dem sich Breslauer Bürger anonym gegen Hermes‘ Kritik an den Judenfeinden äußerten, während sich der Rabbiner und Gemeindevorsteher, Salomon Pappenheim, ebenfalls anonym unter dem Kürzel PS, „An das Breslauer Publikum“ mit einem „Wort des Friedens des über die von Herrn Pastor Hermes am zweiten Weihnachtstag gehaltene Predigt ausgebrochenen Streites“ (1804),
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wandte. Von christlicher Seite stellten sich vor allem, wohl auf Veranlassung von jüdischer Seite, der Jurist und Professor Johann Wilhelm Andreas Kosmann (Für die Juden. Ein Wort der Beherzigung an die Freunde der Menschheit und wahren Verehrer Jesu, 1803), der Anfang 1803 noch selbst gegen die Juden geschrieben hatte und daher wenig glaubwürdig erschien, und der angesehene Generalmajor a. D. Freiherr Karl Wilhelm von Diebitsch (u.a. Cosmopolitische, unpartheiische Gedanken über Juden und Christen erzeugt durch das Werk: wider die Juden. Eine Vertheidigung dessen, was gerecht und billig ist, 1804) gegen Grattenauer, indem sie seine Argumente Punkt für Punkt zu widerlegen suchten. Dieser konterte diese Schriften und die anderer Autoren, die zum Teil persönliche Beleidigungen und Spottverse enthielten, mit einer „Erklärung an das Publikum über meine Schrift: Wider die Juden“ (1803) und einem weiteren „Nachtrag“ dazu (1803), in denen er sich in seinem Hass auf die Juden weiter steigerte. Der Schriftenkampf, der in ganz Deutschland Aufmerksamkeit erregte, fand seine Fortsetzung in Zeitungspolemiken, etwa in der „Vossischen Zeitung“; die „Königlichprivilegierte Berlinische Zeitung“ berichtete fortlaufend über mehrere Wochen, bis die preußische Zensurbehörde weitere Publikationen verbot. Der Zensur fiel auch das Angebot der angesehenen Frankfurter Buchhändler Varrentrapp und Wenner zum Opfer, die Grattenauer 1803 die Herausgabe eines neuen Journals „Wider die Juden“ angeboten hatten. So wie die antijüdische Propaganda, weil sie sich wegen der Zensur nicht mehr frei entfalten konnte, auf das Theater auswich und in mehreren Travestien Lessings „Nathan den Weisen“ verballhornte (Anonym, Der wuchernde Jude am Pranger, Anonym, Nathan der Weise travestirt und modernisirt, Anonym (Julius von Voß), Der travestierte Nathan der Weise), griff auch die Kritik an den Judenfeinden zum Mittel der Satire, wenn etwa ein Autor unter dem Pseudonym Domenikus Haman Epiphanes ein „Sendschreiben an Herrn Justiz-Commisarius Grattenauer mit dem Titel „Unumstößlicher Beweis, dass ohne die schleunigste Niedermetzelung aller Juden und Verkauf aller Jüdinnen zur Sclaverei, die Menschheit, das Christenthum und alle Staaten nothwendig untergehen müssen“ (1804) richtete und ein anderer unter dem Pseudonym S.J. Lefrank (d.i. Johann Kaspar Fränkel) seine Schrift „Bellerophon, oder der geschlagene Grattenauer, nebst einer Dedikazion an den Teufel, 1803) titulierte. Unter Verwendung sprechender Pseudonyme wie Pseudo-Haman oder Joseph Euphrat kritisierte man Grattenauer und versuchte, ihn lächerlich zu machen. Die Bedeutung dieser frühantisemitischen Kontroverse, die einen Angriff auf die preußische Toleranz- und Reformdiskussion der letzten beiden Jahrzehnte darstellte, liegt neben der Einführung eines harschen antijüdischen Tones darin, dass sie in der Abwehr des kulturellen und ökonomischen Hervortretens der Juden weniger religiös argumentierte und nicht auf vormoderne Lösungen zurückgriff, sondern dass sie den aufklärerischen Universalismus mit z.T. radikalen Zwangsmaßnahmen des Staates zur Judenemanzipation verband und sich gegen die Anerkennung von Bürgerrechten für die Juden aussprach, solange diese ihren Sonderstatus nicht aufgäben und alle Staatsbürgerpflichten ohne jede Einschränkung übernähmen. Im Grunde wünschten sich diese antijüdischen Stimmen einen christlichen Staat unter Ausschluss der Juden. Die-
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ser Schriftenkampf hatte Rückwirkungen auf die Politik, indem er die judengegnerischen Strömungen verstärkte und anstehende Reformschritte blockierte.
Literatur
Werner Bergmann
Klaus L. Berghahn, Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung, Köln, Weimar, Wien 2000. Rainer Erb, Werner Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780–1860, Berlin 1989. Ismar Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen, Band 1, Berlin 1912. Ludwig Geiger, Der Schriftenkampf für und wider die Juden 1803 und 1804, in: Ludwig Geiger, Geschichte der Juden in Berlin, Band II, Berlin 1871, S. 301–319 (Nachdruck Berlin 1987). Jonathan M. Hess, Germans, Jews and the Claims of Modernity, New Haven und London 2002. Ulrich Wyrwa, Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung, Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg i. Pr., Tübingen 2003.
Grevesmöhlen-Fehde (1815) Die „Grevesmöhlen-Fehde“ bezeichnet eine Polemik im Königreich Schweden, die ihren Ausgang in der europäischen Finanzkrise nach den Koalitionskriegen (1792–1815) nahm. Aus ihr erwuchs die erste öffentlich geführte grundsätzliche Debatte um die Position der Juden im schwedischen Königreich. Die Polemik begründete sich zu wesentlichen Teilen auf der fortdauernden Opposition des schwedischen Bürgerstandes gegen die teilweise Aufhebung des Niederlassungsverbotes für Juden 1775. Hinzu kamen die ungefestigte Situation von Reichsverfassung und Dynastie nach der Absetzung Gustaf IV. Adolfs 1809 sowie die schweren Belastungen der schwedischen Staatskasse durch die vorangegangenen Kriege. Angesichts der prekären finanziellen Situation des Reiches erhoben Vertreter des Bürgerstandes während des Reichstages 1815 Anschuldigungen gegen die wenigen im Land lebenden jüdischen Familien und forderten die Verschärfung des bestehenden Judenreglementes bzw. ein erneutes Einwanderungsverbot. In Eingaben wurde den Juden vorgeworfen, durch unproduktiven und betrügerischen Handel, unpatriotische Gesinnung und die Verbreitung von Unmoral durch die Einfuhr von Luxusgütern die schwierige Lage des Staates mitverursacht zu haben. Die angebliche Mitverantwortung der Juden für die Krise rückte in der Folge in das Zentrum der Beratungen des Reichstags um die Neuordnung der öffentlichen Finanzen. Die Diskussion erhielt erneute Nahrung durch den Konkurs mehrerer jüdischer Handelshäuser im Verlauf des Jahres 1815 und insbesondere durch die Intervention Carl August Grevesmöhlens (1754–1823). Grevesmöhlen war zunächst Beamter in der Zollverwaltung und Verfasser ökonomischer Schriften, hatte sich aber seit dem Staatsstreich 1809 einen Namen als ebenso pointiert wie diffamierend argumentierender Polemiker gemacht. Er zeigte sich als scharfer Gegner der Eliten des Ancien Régimes und stand in enger Verbindung zu den neuen Machthabern um den gewählten Kronprinzen Karl Johan (geb. Jean-Baptiste Bernadotte). In Streitschriften hatte er sich be-
Haider-Muzicant-Konflikt (Österreich 2001)
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reits während des Reichstages gegen den oppositionellen Adeligen Johan Ludvig Boye gewandt, der zur Bekämpfung der Finanzkrise größere Geldemissionen befürwortete, aber auch einige der judenfeindlichen Thesen des Bürgerstandes unterstützte. Eine weitere Broschüre Grevesmöhlens „Förliknings-projekt till biläggande af anfalls-kriget emot judarne [...]“ [Schlichtungs-Projekt zur Beilegung des Angriffskrieges gegen die Juden] eröffnete im Herbst 1815 eine in Bezug auf Schärfe und Umfang bis dato in Schweden unbekannte Pamphletdebatte. Während der „Grevesmöhlen-Fehde“ entstanden binnen weniger Monate rund 150 Schriften, wobei rund ein Viertel die Situation der jüdischen Minderheit im Land thematisierte. Die Broschüren variierten im Wesentlichen die Hauptargumente der vorangegangenen Reichstagsdebatte, erhielten aber durch ihre skandalösen Übertreibungen, Sarkasmen und persönlichen Angriffe eine weite Verbreitung in der schwedischen Öffentlichkeit. In der Anwendung von Auszügen und Übersetzungen zeigt die Debatte vielfältige direkte Verbindungen zu zeitgleichen Diskussionen in den Nachbarländern, u.a. zu der sogenannten Jødefejde in Dänemark 1813. Die durch Thomas Thaarup ins Dänische übertragene und mit einer ausführlichen „Vorerinnerung“ versehene Schrift „Moses und Jesus“ des Deutschen Friedrich Buchholz findet sich ebenso in schwedischer Übersetzung wie die judenfeindlichen Passagen aus Johann Gottlieb Fichtes Arbeit zur Französischen Revolution (1793). Der Streit endete im Frühjahr 1816 nach einem Injurienprozess mit der Verurteilung beider Kontrahenten zu Festungshaft bzw. Landesverweis.
Literatur
Christoph Leiska
Simon Aberstén, 1815 års judefäjd i Sverige [Die Judenfehde des Jahres 1815 in Schweden], in: Tidskrift for jødisk historie og literatur 1 (1920), S. 69–105. Ernst Meyer, Die Literatur für und wider die Juden in Schweden im Jahre 1815, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 5 (1907), S. 513–541. Hugo Valentin, Judarnas historia i Sverige [Die Geschichte der Juden in Schweden], Stockholm 1924.
Große antibolschewistische Schau → „Der ewige Jude“ (Propaganda-Ausstellung)
Haider-Muzicant-Konflikt (Österreich 2001) Der schwelende Konflikt zwischen Jörg Haider, damaliger Landeshauptmann von Kärnten, und Ariel Muzicant, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), kulminierte im Februar 2001 um eine Aussage Jörg Haiders. Dieser meinte in Anspielung auf ein bekanntes Waschmittel: „Der Herr Ariel Muzicant: Ich verstehe überhaupt nicht, wie wenn einer Ariel heißt, so viel Dreck am Stecken haben kann; das verstehe ich überhaupt nicht.“ Haider machte diese Aussage vor laufenden Kameras im Rahmen seiner Rede auf dem „Rieder Aschermittwoch“, einer seit 1991 jährlich stattfindenden Veranstaltung für Sympathisanten und Aktivisten der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Auf die darauf folgenden in- wie ausländischen Proteste sowie auf eine Klage Muzicants rea-
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Haider–Muzicant-Konflikt (Österreich 2001)
gierte Haider einerseits verharmlosend, indem er seine Aussage als „Scherz“ bzw. „scherzhaftes Wortspiel“ abtat, andererseits verschärfte er seine Angriffe auf Muzicant. In Anspielung auf die internationalen Reaktionen, die der Angelobung der österreichischen Bundesregierung im Jahr 2000 folgten, meinte Haider über Muzicant, dieser sei „einer der Hauptverantwortlichen für die unerträgliche Hetze gegen unser Land nach Bildung der FPÖ/ÖVP Koalition“ gewesen und dass er es „als Auszeichnung empfinde, von Muzicant geklagt zu werden“. Haiders Aussagen sind aber nicht nur im Zusammenhang mit den 2001 noch andauernden innen- wie außenpolitischen Turbulenzen anlässlich der Angelobung der rechtskonservativen Regierung und dem Wahlkampf zu den Wiener Landtagswahlen zu sehen, sondern auch vor dem Hintergrund der damals laufenden Restitutionsverhandlungen, an denen Ariel Muzicant als Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde teilnahm. Im Zuge des gerichtlichen Verfahrens wurden mehrere wissenschaftliche Gutachten erstellt, die den antisemitischen Gehalt der Aussage Haiders nachwiesen; so erklärten die Autoren des linguistischen Gutachtens zusammenfassend, dass „die Beleidigung Ariel Muzicants durch Jörg Haider dazu angetan war, bei den Zuhörern in der Rieder Jahnturnhalle, aber auch bei Rezipienten außerhalb der Halle judenfeindliche Assoziationen und Vorurteile hervorzurufen und zu schüren“. Der renommierte Politikwissenschafter Anton Pelinka kam in seiner Analyse zu dem Schluss, dass „Haiders ‚Aschermittwochrede’ als Prototyp antisemitischen Verhaltens in der Zeit nach dem Holocaust angesehen werden muss“. Das Verfahren endete im Januar 2002 mit einem außergerichtlichen Vergleich zwischen Haider und Muzicant. Haider gab fünf Ehrenerklärungen ab, in denen er die inkriminierten Aussagen „mit dem Ausdruck des Bedauerns und der Entschuldigung“ zurückzog, da er, wie es die von beiden Seiten verfasste Presseerklärung formulierte, „die Gefährlichkeit bestimmter Andeutungen und Wortspiele, aber auch von Unterstellungen erkannt“ habe. Der eigentliche Autor der „Aschermittwochrede“, Herbert Kickl, langjähriger Redenschreiber Jörg Haiders und 2001 zuständig für die Wahlkampfkoordination der Partei, prägt seit 2005 als einer der beiden Generalsekretäre der FPÖ inhaltlich maßgeblich die umstrittene Wahlwerbung der Partei. So zeichnete er für heftig kritisierte Slogans, wie zum Beispiel den im Wiener Wahlkampf 2010 plakatierten Spruch „Wiener Blut – zu viel Fremdes tut niemandem gut“, verantwortlich.
Literatur
Martina Aicher
Anton Pelinka, Struktur und Funktion der „Aschermittwochrede“ Jörg Haiders. Ein politwissenschaftliches Gutachten, in: Anton Pelinka, Ruth Wodak (Hrsg.), „Dreck am Stecken“. Politik der Ausgrenzung, Wien 2002, S. 61–74. Sieglinde Katharina Rosenberger, Christian Stöger, „…eine freie Meinung äußern dürfen …“. Zum Vor- und Umfeld von Jörg Haiders „Aschermittwochrede“ 2001, in: Anton Pelinka, Ruth Wodak (Hrsg.), „Dreck am Stecken“. Politik der Ausgrenzung, Wien 2002, S. 75–92. Ruth Wodak, Martin Reisigl, „ …wenn einer Ariel heißt …“. Ein linguistisches Gutachten zur politischen Funktionalisierung antisemitischer Ressentiments in Österreich, in: Anton
Harlan-Debatte
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Pelinka, Ruth Wodak (Hrsg.), „Dreck am Stecken“. Politik der Ausgrenzung, Wien 2002, S. 134–172.
Harlan-Debatte Mit Veit Harlan stand 1950 einer der wichtigsten Filmregisseure des „Dritten Reichs“ vor Gericht. Die Anklage lautete auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Gerichtsprozess galt seiner Tätigkeit als Regisseur des antisemitischen Spielfilms „Jud Süss“ (1940). Harlan wurde freigesprochen. Das Verfahren gegen Harlan und die Auseinandersetzung um Harlan legten politische und kulturelle Kontinuitäten zwischen NS-Deutschland und der BRD offen – im Justizsystem, im Polizeiwesen und in der deutschen Filmindustrie. Es löste aber auch – zum ersten Mal in der BRD – eine landesweite von Studenten getragene Protestbewegung aus. Veit Harlan (1899–1964) arbeitete in den 1920er Jahren als Schauspieler am Theater und im Film. Von 1934 an war er als Filmregisseur tätig und wurde zu einem der erfolgreichsten und politisch zuverlässigsten Filmschaffenden im Dritten Reich. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Spielfilme wie „Kreutzersonate“ (1937), „Jud Süss“ (1940), „Der grosse König“ (1942), und „Kolberg“ (1945). Harlans Karriere als führender Regisseur NS-Deutschlands folgte 1951 ein Comeback als Regisseur in der BRD mit dem Film „Unsterbliche Geliebte“. Der Film „Jud Süss“ führte seinen gleichnamigen Hauptcharakter als betrügerischen, sex- und machtbesessenen Financier des Herzogs von Württemberg vor, der den Regenten, den Staat und seine Bewohner in den Untergang zu stürzen drohte. Er stellte damit die historisch belegte Rolle Joseph Süss Oppenheimers (1698–1738) auf den Kopf. Harlan war nicht nur der Regisseur dieses Films, sondern auch für das Drehbuch verantwortlich. Der antisemitische Film „Jud Süss“ lief Ende September 1940 in den deutschen Kinos an. „Jud Süss“ war mit führenden zeitgenössischen Starschauspielern besetzt. Bis zum Frühjahr 1945 sahen über 20 Mio. Zuschauer den Film; er spielte für seine Produktionsgesellschaft Terra Filmkunst rund 6,8 Mio. RM ein. „Jud Süss“ gilt damit als einer der 20 finanziell erfolgreichsten Filme in NS-Deutschland. Im Dezember 1947 stufte ein Entnazifizierungsverfahren Harlan als „entlastet – Stufe V“ ein, die niedrigste aller Stufen. Diese Entscheidung führte zu öffentlichen Protesten. Die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) und die „Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen“ stellten im Januar 1948 bei der Staatsanwaltschaft Hamburg den Antrag, Harlan aufgrund seiner Tätigkeit als Drehbuchautor und Regisseur des Films „Jud Süss“ wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anzuklagen. Dem Antrag wurde stattgegeben und das Verfahren am 3. März 1949 in Hamburg, wo Harlan seit 1945 lebte, eröffnet. Formale Grundlage des Verfahrens war das Kontrollratsgesetz Nr. 10 II, das auch Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe setzte. Neu am Hamburger Verfahren war, dass erstmals ein Akteur aus der Sphäre der Kultur vor Gericht stand und der mögliche Zusammenhang zwischen seiner Arbeit in eben dieser Sphäre und der nationalsozialistischen Judenpolitik juristisch zu beurteilen war. Der Prozess unter dem Vorsitz des Landgerichtsrats Walter Tyrolf (1901–1971) erregte großes Aufsehen und fand vor gefüllten
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Harlan-Debatte
Zuschauerrängen statt. Die Verteidigung argumentierte vor allem damit, dass der Film wohl antisemitisch sei, aber „nicht unmenschlich“ in dem Sinne, dass der Film zu verbrecherischen antisemitischen Maßnahmen aufgerufen habe. Das Verfahren endete am 23. April mit einem Freispruch für Harlan: Für das Gericht ließ sich aus juristischer Perspektive kein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem antisemitischen Film „Jud Süss“ und der Formulierung und Umsetzung nationalsozialistischer Judenpolitik feststellen. Das Urteil wurde im Gerichtssaal mit Applaus aufgenommen und Harlan von Anhängern auf Schultern aus dem Saal getragen. Die Staatsanwaltschaft ging in Revision, der Oberste Gerichtshof für die britische Zone hob das Urteil am 12. Dezember 1949 auf und verwies das Verfahren zurück an das Hamburger Landgericht. Im Gegensatz zum Landgericht sah der OGH einen Kausalzusammenhang zwischen Film und NS-Judenpolitik als erwiesen an. Als Beleg galt u.a. das Verhalten der Lagermannschaft des KZ Sachsenhausen, die nach einer Vorführung von „Jud Süss“ besonders brutal gegen jüdische Häftlinge vorgegangen war. Die Verhandlungen des zweiten Verfahrens wurden am 30. März 1950 eröffnet. In diesem Verfahren stand nun nicht mehr die Frage des Kausalzusammenhangs im Zentrum, sondern die Frage nach dem „Notstand“: Handelte Harlan freiwillig oder unter Zwang? Die Verteidigung lud mehrere prominente Schauspieler des „Dritten Reichs“ vor, wie beispielsweise Willi Forst oder Gustaf Gründgens, die alle Harlan bescheinigten, unter dem Zwang von Propagandaminister Joseph Goebbels gehandelt zu haben. Mit ihren Aussagen versuchten die vor Gericht auftretenden Filmschaffenden nicht nur Harlan im Sinne der Verteidigung, sondern auch sich selbst zu entlasten. Würde Harlan schuldig gesprochen, so hätten möglicherweise auch sie selbst ein Verfahren zu befürchten. Zu einem Tumult führte die Aussage von Karina Niehoff (1920–1992). Die jüdische Journalistin Niehoff hatte in den 1930er Jahren vorübergehend als Assistentin für Ludwig Metzger gearbeitet, der wiederum am Drehbuch von „Jud Süss“ beteiligt gewesen war. Sie erklärte, dass Harlan das Drehbuch massiv antisemitisch umgeschrieben habe. Niehoff wurde von Zuschauern als „Judensau“ beschimpft und musste unter Polizeischutz aus dem Gebäude geführt werden. Am 29. April 1950 endete das Verfahren mit einem Freispruch für Harlan. Das Gericht, wiederum unter Vorsitz von Tyrolf, sah zwar den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit als erfüllt an, billigte Harlan aber zu, unter „Nötigungsnotstand“ gehandelt zu haben. Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf Revision und damit endete die strafrechtliche Auseinandersetzung um Harlan. Kurz nach dem Freispruch begann Harlan mit den Dreharbeiten zu seinem ersten Nachkriegsfilm „Unsterbliche Geliebte“, der melodramatischen Verfilmung einer Novelle von Theodor Storm. Am 20. September 1950 veröffentlichte Erich Lüth (1902– 1989), Senatsdirektor in Hamburg und Leiter der Pressestelle, aus Anlass der Eröffnung der „Woche des deutschen Films“ einen Aufruf. Er forderte dazu auf, den noch nicht fertiggestellten Film Harlans zu boykottieren. Die Göttinger Domnick-Film-Produktion GmbH und die Münchner Herzog-Film, Produzent und Verleiher von „Unsterbliche Geliebte“, erwirkten im November 1950 beim Landgericht Hamburg eine Verfügung gegen Lüth; ihm wurde untersagt, seinen Aufruf öffentlich zu wiederholen. Lüth legte Berufung ein, scheiterte damit aber im Februar 1951 beim Hanseatischen Oberlandesgericht und das Hamburger Landgericht erneuerte seine Verfügung. Im De-
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zember 1951 schließlich legte der SPD-Bundestagsabgeordnete und Jurist Adolf Arndt (1904–1974) im Namen von Lüth eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe ein; für Arndt verletzte das Urteil des Landgerichts das grundsätzliche Recht auf Meinungsfreiheit. Das zivilrechtliche Urteil gegen Lüth wandelte sich zu einer verfassungsrechtlichen Frage. Publizisten, Universitätsdozenten, Gewerkschafter und Studenten engagierten sich in der Folge öffentlich für Lüth. An dieser Protestbewegung beteiligten sich u.a. die VVN, die „Notgemeinschaft der von den Nürnberger Gesetzen Betroffenen“, die „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“, der DGB, die SPD und vor allem der VDS, der „Verband Deutscher Studentenschaften“. Zentren des Protestes waren Universitätsstädte wie Göttingen oder Freiburg und Großstädte wie Frankfurt und Berlin. Diese entscheidend von Studenten getragene Anti-Harlan-Bewegung entlud sich in den Jahren 1951–1954 in rund 70 Einzelaktionen. Nach 1954 flachten die Proteste wieder ab. Lüth startete im August 1951 die Aktion „Friede mit Israel“, die für eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, eine Anerkennung des Staates Israel und Wiedergutmachungszahlungen plädierte. In Lüths Initiative „Friede mit Israel“ formulierte sich für viele der Protestierenden eine politische und intellektuelle Alternative zu den Positionen in der Bundesrepublik, die sie in Harlan und seinen Anhängern vertreten sahen. Unmittelbare Anlässe für Protestaktionen waren in der Regel die Kino-Premieren von Harlans neuen Filmen wie die Uraufführungen von „Unsterbliche Geliebte“ 1951 oder der Start von „Hanna Amon“, einem weiteren Melodram, im Jahre 1952. In Salzburg (2./3. April 1951), Freiburg (15./16. Januar 1952) und Göttingen (25. Januar 1952) eskalierten die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten sowie Gegendemonstranten und Polizei. In Salzburg schlugen Polizisten gezielt auf Protestierende ein, die sie als „jüdisch“ ansahen, und verprügelten Fotografen, die das Vorgehen der Polizei dokumentarisch festhalten wollten. Zuschauer unterstützten die Polizei mit antisemitischen Anfeuerungsrufen. In Freiburg wurden demonstrierende Studenten von Passanten mit antisemitischen Tiraden bedroht. Die Polizei ließ die Passanten gewähren, prügelte aber auf die Studenten ein, verhaftete mehrere von ihnen und verprügelte sie noch ein zweites Mal in den Dienstzimmern der Behörde. In Göttingen protestierten Studenten mit „Friede mit Israel“-Transparenten und wurden von Gegendemonstranten mit antisemitischen Schlagrufen beschimpft und schließlich physisch massiv attackiert. Als 1954 ein weiterer Harlan-Film uraufgeführt wurde, war Berlin das Zentrum der Proteste. Am 15. Januar 1958 verkündete das BVG sein Urteil im Fall Lüth, das Lüth Recht gab. Es sah seine Meinungsfreiheit durch das Hamburger Urteil eingeschränkt. Für das BVG war die im Grundgesetz verankerte Meinungsfreiheit höher zu werten als Geschäftsinteressen der Filmindustrie. Damit fällte das BVG ein Grundsatzurteil zu den Grundrechten. Es begriff die Grundrechte – im Fall Lüth die Meinungsfreiheit – als „objektive Wertordnung“, die für alle Bereiche des Rechts zu gelten hat, insbesondere auch für das Zivilrecht. Die Harlan-Debatte hatte sich in einen Fall Lüth gewandelt, und der Fall Lüth endete mit einem für die junge BRD und ihr demokratisches System im positiven Sinne Maß-
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stäbe setzenden BVG-Urteil. Die mehrstufigen juristischen Verfahren und die teilweise gewaltsamen Proteste verwiesen aber auch auf ungebrochene Karrieren von Kulturschaffenden, Juristen und Polizeibeamten in NS-Deutschland und in der BRD. So war beispielsweise Walter Tyrolf Mitglied der NSDAP gewesen und als Sonderrichter in NS-Deutschland verantwortlich für mehrere Todesurteile, u.a. wegen „Rassenschande“. Rudolph Seyffert, der Vorsitzende des Hanseatischen Oberlandesgerichts, war bereits im „Dritten Reich“ der Vorsitzende des OLG. Die physische Gewalt der Polizei und der Gegendemonstranten, die Rufe der Zuschauer warfen ein scharfes Licht auf das Fortwirken antisemitischer Vorstellungen in der BRD. Auch wenn Lüth seinem Ziel, Harlan eine Karriere in der BRD unmöglich zu machen, nicht nahe kam, so hatte er dennoch für eine längere öffentliche Auseinandersetzung über den Umgang mit der Vergangenheit gesorgt.
Literatur
Daniel Wildmann
Régine Mihal Friedman, L’image et son Juif. Le Juif dans le cinéma nazi, Paris 1983. Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart (Hrsg.), „Jud Süss“. Propagandafilm im NS-Staat, Katalog zur Ausstellung, Stuttgart 2007. Thomas Henne, Arne Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-) historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2005. Wolfgang Kraushaar, Der Kampf gegen den „Jud Süss“-Regisseur Veit Harlan. Ein „Meilenstein in der Grundrechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts“, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 4 (1995), 6, S. 4–33. Alexandra Przyrembel, Jörg Schönert (Hrsg.), „Jud Süss“. Hofjude, literarische Figur, antisemitisches Zerrbild, Frankfurt am Main 2006.
Hebron-Massaker → Klagemauer Vorfall (1929)
Hepp-Hepp-Krawalle 1819 Die Hepp-Hepp-Krawalle bezeichnen pogromartige Ausschreitungen, die im Sommer und Herbst 1819 zahlreiche Städte u.a. in Deutschland, Österreich, Dänemark und Polen erfassten. Trotz ihrer ausgedehnten geographischen Verbreitung lassen sich für die Hepp-Hepp-Krawalle neben dem gemeinsamen Schlachtruf weitere verbindende Elemente feststellen, die diese antisemitische Welle als erste internationale Kampagne gegen den Emanzipationsprozess der europäischen Juden erscheinen lassen. Der dominierende Einfluss des revolutionären Frankreichs auf weite Teile Europas war zwar 1815 mit der Niederlage Napoleons I. bei Waterloo definitiv beendet worden. Die Emanzipation der Juden, die nach französischem Vorbild in dessen Einflussbereich zwischen 1797 und 1813 in zahlreichen westeuropäischen Staaten ganz oder wenigstens partiell eingeführt wurde, konnte jedoch selbst von sehr restaurativen Regimes nach 1815 nicht mehr vollständig zurückgenommen werden. Niederlassungs- und Gewerbefreiheit blieben der jüdischen Minderheit meist erhalten, auch wenn ihnen politische Rechte weiterhin verweigert wurden. Viele Juden hatten in den knapp zwei Jahrzehnten französischer Hegemonie die neuen sozialen und wirtschaftlichen Spielräume genutzt. Sie zogen aus dem ländlichen
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Umland in bis dahin für sie verbotenen Städte oder sie verließen die Ghettobezirke, in denen sie wie in Frankfurt am Main bis dahin wohnen mussten. Zugleich eröffneten sich vielen neue ökonomische Bereiche, in denen einzelne jüdische Exponenten nun erfolgreich auch als Konkurrenz zu Christen auftreten konnten. Der Wegfall sichtbarer aber auch unsichtbarer Ghettomauern für die jüdische Minderheit wurde gerade in städtischen Verhältnissen von Teilen des christlichen Bürgertums ungern gesehen, da sie nicht selten das Ende der ständestaatlichen Gesellschaft mit einem freieren Spiel der sozialen, aber gerade auch der ökonomischen Kräfte als bedrohlich empfanden. 1815 setzte eine Debatte in den deutschen Staaten wie auch in anderen europäischen Nationen ein, um den rechtlichen Status der Juden frei von französischem Einfluss zu definieren. Gesellschaftlich konservative und judenfeindliche Kräfte sahen ihre Chance, den Handlungsspielraum der jüdischen Minderheit wieder möglichst stark zu beschneiden. Dieser politische Kampf mit großem antisemitischen Potential um den Platz der Juden innerhalb einer sich bildenden bürgerlichen Gesellschaft lässt sich exemplarisch an den Hepp-Hepp-Krawallen in Würzburg festmachen, die am Anfang der Ausschreitungen von 1819 standen. 1803 sah sich der Stadtrat unter französischem Einfluss veranlasst, Juden die Niederlassung wieder zu gewähren. Zugleich kam die Stadt zum Königreich Bayern, dass zwischen 1813 und 1819 eine moderne Gesetzgebung für die jüdische Minderheit zu erarbeiten suchte, die jedoch noch keine vollständige Emanzipation vorsah. In Würzburg hatte sich innerhalb weniger Jahre eine jüdische Gemeinde gebildet, die mit der Familie des 1818 geadelten Joel Hirsch über ein markantes Beispiel eines sozialen Aufsteigers verfügte. Dank ihres wirtschaftlichen Erfolgs und dem Erwerb eines Stadtpalais sowie des Schlosses Gereuth im nahen Umland hatte sich die Familie Hirsch innerhalb weniger Jahre zu einem Machtfaktor in der Region entwickelt, der zudem als Hofbankier der Wittelsbacher über privilegierte Beziehungen zum neuen Landesherrn in München verfügte. Als zu Beginn des Jahres 1819 die Ständeversammlung in München das sehr liberale Judengesetz von 1813 verhandelte, kam es auch zu politischen Auseinandersetzungen in Würzburg. Die Möglichkeit, erneut eine restriktive Gesetzgebung gegenüber der jüdischen Minderheit durchsetzen zu können, rief auch die Würzburger Judenfeinde auf den Plan, die den öffentlichen Diskurs bald dominierten. Liberale Politiker, die sich für eine Beibehaltung der Gesetze von 1813 einsetzten, wurden in der Debatte überstimmt, und 1819 wurde schließlich eine restriktivere Judengesetzgebung verabschiedet. Als am 2. August 1819 der judenfeindliche Landtagsabgeordnete Behr in Würzburg eintraf, empfing ihn eine begeisterte Menge. Die gleichzeitige Präsenz des emanzipationsfreundlichen Professors Brendel heizte die Stimmung zusätzlich an, sodass es in der Folge zu Ausschreitungen (Morddrohungen, Sachbeschädigungen, Plünderungen) gegen die jüdische Gemeinschaft kam. Die Lage erschien so bedrohlich, dass alle Juden die Stadt fluchtartig verließen und erst nach einigen Wochen wieder nach Würzburg zurückkehrten. Weitere judenfeindliche Unruhen ähnlicher Natur ereigneten sich in zahlreichen Ortschaften des weiteren Umlandes von Würzburg.
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Die Ausschreitungen in der Region Würzburg stechen durch ihre Vehemenz hervor. Die Hepp-Hepp-Krawalle in anderen Regionen Deutschlands (Baden, Mecklenburg, Preußen, Sachsen) und des benachbarten Auslands während der folgenden Wochen wiesen meistens weniger physische Gewalt auf und führten zu geringeren materiellen Schäden wie beispielsweise eingeschlagenen Fensterscheiben. Inhaltlich forderten sie jedoch radikal nicht nur eine umfassende rechtliche Diskriminierung, sondern ein Ende der jüdischen Präsenz vor Ort. So wurden z.B. in Danzig Zettel mit „Todesurteilen“ gegen die Juden angeschlagen. Zu direkter physischer Gewalt kam es dagegen auch in einigen Großstädten, wo der Platz der Juden als gleichberechtigte Partner innerhalb der urbanen Gesellschaft u.a. in Frankfurt am Main, Hamburg und Kopenhagen massiv in Frage gestellt wurde. In Frankfurt am Main, wo die Juden erst seit rund zwei Jahrzehnten außerhalb des Ghettos wohnen durften, wurden sie am 10. August 1819 mit Hepp-Hepp-Rufen von der öffentlichen Promenade am Stadtrand vertrieben. Eine aufgebrachte Menge zog durch das ehemalige Ghetto zum Haus der Familie Rothschild und zertrümmerte zahlreiche Scheiben in von Juden bewohnten Häusern. Im Falle Hamburgs zeigte sich die antiemanzipatorische Stoßrichtung der Ausschreitungen ebenfalls deutlich. Juden wurden am 20. August 1819 aus Kaffeehäusern und öffentlichen Parks vertrieben. Am 24. August kam es zu pogromartigen Zwischenfällen, bei denen Häuser wohlhabender Juden angegriffen und erneut jüdische Gäste aus Kaffeehäusern vertrieben wurden. Als sich diesmal Juden zur Wehr setzten, verschärfte sich die Lage, und am folgenden Tag ereigneten sich schwere Ausschreitungen. In der dänischen Hauptstadt Kopenhagen erfolgten zwischen dem 3. und 5. September 1819 von Hepp-Hepp-Rufen begleitete Ausschreitungen, bei denen die Wohnhäuser jüdischer Bürger angegriffen und die Fenster eingeschlagen wurden. In den folgenden Tagen liefen in zahlreichen dänischen Städten Menschen unter Hepp-Hepp-Rufen durch die Straßen. Die Obrigkeit bemühte sich generell, mit Hilfe von Armee und Polizei den Ausschreitungen Einhalt zu gebieten. In Frankfurt am Main riefen auch Vertreter der christlichen Kirchen zum Verzicht auf Gewalt auf. Wandte sich die Obrigkeit meist entschieden gegen die Ausschreitungen, die die öffentliche Ordnung und damit auch ihre Macht zu gefährden drohten, so hatten die meisten Regierungen keine Hemmungen, die Emanzipationsgesetzgebung von vor 1815 zurückzunehmen oder zumindest stark zu relativieren. Dies war für die gesellschaftlichen Kräfte, die die Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit ablehnten, wiederum ein deutliches Zeichen für die Schwäche der Position der Juden als prinzipiell vollwertige Bürger. Für die jüdische Minderheit stellte dieser Ausbruch kollektiver Gewalt, der die Zeitgenossen an Formen von Judenverfolgungen im Mittelalter erinnerte, eine schwere Erschütterung der Hoffnung auf einen kontinuierlichen Integrationsprozess dar. Im Nachhinein lassen sich die Hepp-Hepp-Unruhen als Vorboten eines antisemitischen Diskurses beschreiben, der teilweise noch in der Sprache einer vormodernen Judenfeindschaft eine radikale Ausgrenzung, ja gar Vertreibung oder Vernichtung der jüdischen Minderheit anstrebte. Für das Ringen um die Akzeptanz der Juden Europas als
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Bürger der sich bildenden Nationalstaaten stellte diese erste internationale Pogromwelle ein Präjudiz von großer Tragweite dar.
Literatur
Daniel Gerson
Werner Bergmann, Rainer Erb, Die Nachtseite der Judenemanzipation, Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland, Berlin 1989. Jacob Katz, Die Hep-Hep-Verfolgungen des Jahres 1819, Berlin 1994. Stefan Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, Antijüdische Ausschreitungen im Vormärz und Revolution (1815–1848/49), Frankfurt am Main 1993.
Hepp-Hepp-Unruhen in Dänemark → Judenfehde und Hepp-Hepp-Unruhen in Dänemark (1813, 1819)
Hilsner-Affäre Als im März 1899 in der tschechischen Kleinstadt Polná ein brutaler Mord am 19-jährigen christlichen Mädchen Anežka Hrůzová verübt wurde, verbreiteten sich in der Stadt sofort Gerüchte über einen angeblichen jüdischen Ritualmord. Leopold Hilsner, ein 22-jähriger, mittelloser Jude aus Polná, wurde verhaftet und wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Hilsner befand sich zwar am Tag des Verbrechens unweit vom Tatort, wurde aber ohne Beweise, nur auf Grund von im Volk kursierenden Gerüchten festgenommen. Die Untersuchung des Mordes stand von Anfang an unter dem Einfluss antisemitischer Aktivisten: antisemitische Journalisten aus der Habsburgermonarchie und Deutschland wirkten zusammen und am Polnáer Rathaus war ein informeller „Rechtlicher Ausschuss“ tätig, der Zeugen verhörte und beeinflusste. Anhand manipulierter bzw. unter der Ritualmord-Suggestion erzeugten Aussagen wurde Hilsner 1899 und nach Berufung erneut 1900 zum Tode verurteilt. Obwohl die These des jüdischen Ritualmordes in der Anklage oder im Urteil nicht erscheint, war der Ausgang des Prozesses ohne diese Konstruktion nicht denkbar. Das Urteil war ohne den sich in der tschechischen Gesellschaft vor allem ab 1897 verbreitenden politischen Antisemitismus nicht möglich. Der Ritualmordvorwurf war in den antisemitischen Diskurs der tschechischen Nationalisten und „Klerikaler“ integriert. Ähnlich wie die → Dreyfus-Affäre spaltete der Fall Hilsner die politische Gesellschaft in zwei verfeindete weltanschauliche Lager. Als privater Anwalt der Mutter des ermordeten Mädchens übte Karel Baxa, ein Politiker der antisemitischen „Radikal-staatsrechtlichen Partei“ (Strana radikálněstátoprávní), auf die Verhandlung des Gerichtes einen bedeutenden Einfluss. Gegen die Beschuldigung stellte sich vor allem Tomáš G. Masaryk. Die Affäre bildete den Höhepunkt der ersten Welle des tschechischen Antisemitismus um die Wende des 19. und 20. Jahrhundert.
Literatur
Michal Frankl
Bohumil Černý, Vražda v Polné [Der Mord in Polná], Praha 1968. Jiří Kovtun, Tajuplná vražda. Případ Leopolda Hilsnera [Der Fall Leopold Hilsner], Praha 1994.
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Historikerstreit
Miloš Pojar (Hrsg.), Hilsnerova aféra a česká společnost 1899–1999 [Die Hilsner-Affäre und die tschechische Gesellschaft], Praha 1999.
Historikerstreit Der „Historikerstreit“ gilt als Schlüsseldebatte um den Stellenwert des Holocaust für das historisch-politische Selbstverständnis der Bundesrepublik der 1980er Jahre. Die von Historikern, Intellektuellen und Publizisten in scharfem Ton in den führenden Tages- und Wochenzeitungen ausgetragene Auseinandersetzung kann erst in zweiter Linie als Fachkontroverse um historiografische Fragen bezeichnet werden. Sie dauerte im Kern von Mitte bis Ende 1986, wurde 1987 in abgeschwächter Form weitergeführt und blieb bis zum Umbruch von 1989/90 virulent. Auslöser des Historikerstreits waren Thesen des – nicht im engeren Sinn als Historiker zu charakterisierenden – Geschichtsphilosophen Ernst Nolte zum Nationalsozialismus und zum Holocaust, die zuerst von dem Sozialphilosophen Jürgen Habermas als apologetisch verurteilt wurden. Nolte galt schon vor Beginn des Historikerstreits trotz seines allseits anerkannten Werks „Der Faschismus in seiner Epoche“ (1963) als Außenseiter in der Zunft. Obgleich Nolte die Thesen, die im Mittelpunkt des Historikerstreits standen, bereits seit Jahren vertrat, entbrannte die Kontroverse erst mit seinem Aufsatz in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, „Vergangenheit, die nicht vergehen will – Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte“ (6. Juni 1986). Nolte beklagt darin den Ausnahmestatus der nationalsozialistischen Vergangenheit im Vergleich zu anderen geschichtlichen Epochen und suggeriert, dass dies auch auf die „Interessen der Verfolgten und ihrer Nachfahren an einem permanenten Status des Herausgehoben- und Privilegiertseins“ zurückzuführen sei. Jener Ausnahmestatus des Nationalsozialismus lenke jedoch von den „entscheidenden Fragen der Gegenwart“ ab und setze für den Historiker „die einfachsten Regeln, die für jede Vergangenheit gelten“, außer Kraft. Dabei sei der Holocaust, mit dessen Singularität die Sonderstellung des Nationalsozialismus begründet würde, nur hinsichtlich „des technischen Vorgangs der Vergasung“ einzigartig, ansonsten stelle er eine Reaktion auf die vorhergehenden Massenverbrechen der Bolschewisten dar, „ein kausaler Nexus“ zwischen beiden sei „wahrscheinlich“. „Vollbrachten die Nationalsozialisten“, so fragt Nolte, „eine ‚asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle und oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ‚Archipel GULag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassemords‘ der Nationalsozialisten?“ In seinem den Historikerstreit eröffnenden Essay in „Die Zeit“ (11. Juli 1986), betitelt „Eine Art Schadensabwicklung – Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung“, ordnet Habermas Noltes Position in einen breiteren geschichtspolitischen und gesellschaftlichen Zusammenhang ein. Neben Nolte sieht Habermas auch die „neokonservativen Zeithistoriker“ Andreas Hillgruber, Klaus Hildebrand und den der Kohl-Regierung nahestehenden „Ideologieplaner“ Michael Stürmer gleichermaßen damit beschäftigt, „Hypotheken einer glücklich entmoralisierten Vergangenheit abzuschütteln“, den Holocaust „mindestens verständlich“ zu machen und „eine revisionistische Historie“ für den Aufbau einer nationalen Identität in Dienst zu
Historikerstreit
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nehmen, welche „die einzig verlässliche Basis unserer Bindung an den Westen“, die erst nach und erst durch den Holocaust möglich geworden sei, zerstöre. Zur Begründung verweist Habermas auch auf frühere Aussagen Noltes, etwa dass der Holocaust „nicht in erster Linie aus dem überlieferten Antisemitismus“ resultiere, sondern es „sich vor allem um die aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution“ handle, der Holocaust mithin eine „verzerrte Kopie und nicht ein erster Akt oder das Original“ sei. Weiterhin prangert Habermas Noltes Position an, angesichts der Äußerung des Chefs der Zionistischen Weltorganisation Chaim Weizmann, die Juden in aller Welt würden im Falle eines Krieges auf der Seite der Demokratien kämpfen, habe Hitler „gute Gründe“ gehabt, „von dem Vernichtungswillen seiner Gegner“ überzeugt zu sein und habe entsprechend „die deutschen Juden als Kriegsgefangene behandeln und d.h. internieren“ dürfen. Nach Habermas’ Artikel, der die Frontlinien absteckte und die folgende Debatte entlang der zwei großen politischen Lager strukturierte, meldeten sich in rascher Folge neben den Angegriffenen auch Fachhistoriker, Redakteure und Publizisten zu Wort. Sie wurden unwillkürlich entweder dem linksliberalen Lager um Habermas zugeschlagen, der in der Infragestellung der Singularität des Holocaust den negativen Grundkonsens der westdeutschen Demokratie angegriffen sah, oder aber dem konservativen Lager um Nolte, der in der Ausnahmestellung des Holocaust einen Geschichtsmythos und eine Staatsideologie erblickte, die durch Tabus die Freiheit der Wissenschaft bedrohe. Anfang 1987 veröffentlichte Nolte mit „Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945 – Nationalsozialismus und Bolschewismus“ ein Buch, das seine Thesen ausführlich darlegte, verschärfte und damit erneute publizistische Aufmerksamkeit generierte. Nolte stand nun jedoch alleine in der Kritik; auf breiter Front moniert wurden u.a. die unzureichende Belastbarkeit seiner Hypothesen, innere Widersprüche, theoretische Spekulationen, Unterstellungen und nicht zuletzt vage Anspielungen, die für viele Kritiker antisemitische Anklänge besaßen. Die Übernahme antisemitischer Versatzstücke und Argumente von rechtsextremen Schreibern, die mehrfach geäußerte Wertschätzung von holocaustleugnenden Schriften und Forderungen nach wissenschaftlicher Anerkennung derselbigen, Auftritte bei revisionistischen Organisationen sowie Beiträge in einschlägigen Medien isolierten Nolte in der Folgezeit zunehmend und führten ihn schließlich ins Abseits. Als eigentlicher Gegenstand des Historikerstreits kann weit weniger die Diskussion um die Plausibilität von Noltes Thesen oder gar die historiografische und methodische Frage nach der Einzigartigkeit und/oder Vergleichbarkeit des Holocaust gelten, sondern vielmehr der öffentliche Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Vor dem Hintergrund der geschichtspolitischen Initiativen und Symbolakte der Regierung Kohl ( → Bitburg-Affäre), die Habermas bereits 1985 als „Entsorgung der Vergangenheit“ gegeißelt hatte, drehte sich der Historikerstreit in erster Linie darum, ob die Bedeutung, die die Erinnerung an den Holocaust für die bundesrepublikanische Gesellschaft besaß, beibehalten oder relativiert werden sollte. Dies wurde auch von der extremen Rechten aufgegriffen, die den Historikerstreit als „wesentlichen Einbruch in die Front der Umerziehung […] und des verordneten Geschichtsbilds“ propagandistisch instrumentalisierte.
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Hohmann-Affäre
Obwohl der Historikerstreit ohne unmittelbare Ergebnisse blieb, hatte er doch einen nachhaltigen Einfluss nicht nur auf die politische Kultur der Bundesrepublik, sondern prägte auch die Forschungsschwerpunkte und Debatten der folgenden Jahre. Mittelbar trug er zu einer Perspektivenverschiebung in der Geschichtswissenschaft bei, die den – bislang nur wenig thematisierten – Holocaust nun verstärkt empirisch zu untersuchen begann und ihn zum zentralen Gegenstand der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus machte. Auch das Plädoyer Martin Broszats für eine Historisierung des Nationalsozialismus, auf das im Historikerstreit – oft verzerrt – Bezug genommen wurde, wurde im Nachgang der Debatte intensiv diskutiert. Die mit zunehmendem zeitlichen Abstand konstatierbaren Bemühungen der Rehabilitierung Noltes und seiner Positionen sind in der Wissenschaft jedoch nicht mehrheitsfähig und wurden stets auf breiter Front zurückgewiesen.
Literatur
Christian Mentel
Richard J. Evans, Im Schatten Hitlers? Historikerstreit und Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1991. Ulrich Herbert, Der Historikerstreit. Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte, in: Martin Sabrow, Ralph Jessen, Klaus Große Kracht (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 94–113. Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005. Piper Verlag (Hrsg.), „Historikerstreit“ – Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München, Zürich 1987.
Hohmann-Affäre Am 3. Oktober 2003 hielt der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann in Neuhof bei Fulda im Bürgerhaus eine Rede zum Nationalfeiertag. Er hatte seiner Ansprache das Motto „Gerechtigkeit für Deutschland“ gegeben und außerdem angekündigt, er wolle sich „über unser Volk und seine schwierige Beziehung zu sich selbst“ einige Gedanken machen. Hohmann, der 14 Jahre lang Bürgermeister in Neuhof gewesen war, gehört ins Lager der christlich fundamentierten Konservativen mit hohem nationalen Empfinden und ausgeprägter Abneigung gegen Homosexuelle, Gottlose, übertriebene Entschädigungen für Zwangsarbeiter und das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Der Jurist und praktizierende Katholik war Terrorismusexperte im Bundeskriminalamt gewesen; er wurde 1998 in den Bundestag gewählt. Als Parlamentarier war er wenig aufgefallen, eher als eifriger Propagandist christlicher und nationaler Werte in seiner Region. Seine Rede am 3. Oktober 2003 artikulierte und stimulierte Emotionen von gekränktem Nationalstolz. Durch das Aufbäumen gegen einen angeblichen Kollektivschuldvorwurf sollte Identitätsbeschwerden Linderung geschaffen werden, und trotzig wurde etwas eingeklagt, was als notwendiger Schlussstrich unter die Vergangenheit, als Ende vermeintlich verordneter deutscher Bußfertigkeit, als „Gerechtigkeit für Deutschland“ am rechten Rand des konservativen Spektrums gerne beschworen wird.
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Hohmann hatte den Beifall von etwa 120 Zuhörern, die Lokalpresse fand nichts Anstößiges an der Rede. Die örtliche CDU stellte den Text ins Internet, aber es dauerte noch fast zwei Wochen, bis sich eine öffentliche Reaktion zeigte. Eine Leserin in den USA machte den Hessischen Rundfunk auf den Text aufmerksam, dann kam die Affäre in die Medien. Zum Skandal war die Ansprache deshalb geworden, weil der Redner judenfeindliche Klischees bedient, weil er antisemitische Ressentiments, Vorurteile und Feindbilder in seiner Beweisführung benutzt hatte. Die CDU-Führung distanzierte sich deutlich. Die Parteivorsitzende beantragte am 10. November 2003 seinen Ausschluss aus der Fraktion. Am 14. November entschieden 243 christdemokratische Abgeordnete über das politische Schicksal Hohmanns: 195 votierten für seinen Ausschluss, insgesamt 48 stimmten dagegen. Manche kritisierten, dass die Entfernung Hohmanns aus der Bundestagsfraktion weniger aus Überzeugung als unter dem Druck öffentlicher Meinung, jedenfalls aber erst nach einigem Zögern erfolgt war, und in der Region sowie hie und da an der Parteibasis formierte sich Solidarität mit dem nunmehr fraktionslosen Bundestagsabgeordneten. Gegen einen hochrangigen Sympathisanten, der Hohmann Beifall spendete, war das Exempel ohne irgendwelche Verzögerung statuiert worden. Brigadegeneral Reinhard Güntzel, gelegentlich durch stramme Äußerungen als ziemlich weit rechts orientiert aufgefallen, lobte den Reservemajor Hohmann auf Briefpapier der Bundeswehr für die „ausgezeichnete Ansprache“ und den darin zum Ausdruck gekommenen „Mut zur Wahrheit und Klarheit“. Der General wurde sofort in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Der Text der Hohmann-Rede beginnt mit Überlegungen zur Ausländerkriminalität, über Sozialhilfe für unwürdige Empfänger und über Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter. Tenor der Ausführungen, die den Auftakt zum Hauptteil bilden, ist die Klage, dass Deutsche in Deutschland gegenüber Fremden und anderen Unwürdigen zurückgesetzt seien. Der unterschwellige Appell an angeblich oktroyierte kollektive Schuldgefühle, wie sie an Stammtischen verhandelt werden, um sie mit Entrüstung abweisen zu können, korrespondiert in der Rede mit der Larmoyanz über deutsche Leiden – Vertreibungen und Bombenkrieg –, derer angeblich nicht gedacht werden darf. In der zentralen Passage seiner Rede sucht Hohmann dann nach jüdischen Schuldigen. Nach der detaillierten Schilderung „jüdischer“ Menschheitsverbrechen durch die Erfindung und Durchsetzung des Bolschewismus, mit der „die Juden“ zum Tätervolk definiert werden könnten, erklärt Hohmann dann in einer rhetorischen Volte, wenn die Juden nicht als Täter wahrgenommen würden, dann seien die Deutschen aber auch nicht schuldig. Man müsse genauer hinschauen: „Die Juden, die sich dem Bolschewismus und der Revolution verschrieben hatten, hatten zuvor ihre religiösen Bindungen gekappt. Sie waren nach Herkunft und Erziehung Juden, von ihrer Weltanschauung her aber meist glühende Hasser jeglicher Religion.“ Ohne das Problem, ob sie denn dann noch Juden waren, zu erörtern, werden sie den Nationalsozialisten gleichgesetzt, die ebenfalls ihre (christlich) religiösen Bindungen abgelegt hätten. Die Schlussfolgerung lautet, dass „Gottlosigkeit“ das eigentliche Übel darstelle, dass weder „die Deutschen“ noch „die Juden“ ein Tätervolk seien, sondern die Gottlosen als „Vollstrecker des Bösen“.
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Hohmann-Affäre
Diese Argumentation weist den Verfasser als Verfechter eines christlichen Fundamentalismus aus. Das macht ihn freilich noch nicht zum Antisemiten. In seiner Rede zum 3. Oktober 2003 hat Hohmann aber nicht nur vorgeführt, wie Hass gegen Juden instrumentalisiert wird, er hat auch eine lupenreine Probe gegeben, wie Antisemitismus funktioniert. Die Suche nach der Schuld der Juden als Entlastungsstrategie bei der Betrachtung deutscher Geschichte oder als Versuch der Ablenkung ist freilich nicht originell, und die angebliche besondere Verstrickung „der Juden“ mit dem kommunistischen System hat eine lange Tradition. Die Beschreibung der angeblich führenden Mitwirkung von Juden an der kommunistischen Herrschaft – als Theoretiker des Sozialismus, als Revolutionäre, als Exekutoren im Machtapparat – stützt das alte Klischee, der Bolschewismus sei eine jüdische Erfindung, eine Vermutung, die Deutschnationalen und Konservativen in Deutschland seit 1918 zur Argumentation diente und die von Hitler und Goebbels exzessiv propagandistisch benutzt wurde. Neu am antisemitischen Skandal Hohmanns war die Tatsache, dass erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine geschlossene judenfeindliche Argumentation von einem Politiker einer demokratischen Partei vorgetragen wurde, die nicht als rhetorische Entgleisung oder als missglückte Phrase im Eifer des Gefechtes mit einer Entschuldigung abzutun gewesen wäre. Die Rede war elaboriert, dahinter stand Gesinnung und Literaturstudium. Ihr Autor fügte anscheinend bewiesene Fakten des allgemeinen Wissens aneinander und stellte eindeutige Bezüge her. Die rhetorische Inszenierung der Darbietung unter dem Motto „Gerechtigkeit für Deutschland“ war gut überlegt und übersichtlich. Der Prolog lautete: Die historische Wahrheit gelte es auszuhalten, „das Unangenehme, das Unglaubliche, das Beschämende“. Seit Jahrzehnten, versicherte der Redner seinem Publikum, halte man es aus, aber „bei vielen kommt die Frage auf, ob das Übermaß der Wahrheiten über die verbrecherischen und verhängnisvollen 12 Jahre der NS-Diktatur“ nicht instrumentalisiert werde und deshalb entgegen volkspädagogischer Erwartung „in eine innere Abwehrhaltung“ umschlagen müsse. Nach Erkenntnissen der Resozialisierungspsychologie müsse „immer und immer wieder die gleiche schlimme Wahrheit“ psychische Schäden bewirken. Seine Strategie gegen zu viel und zu schlimme Wahrheit leitete Hohmann mit der Frage ein: „Gibt es auch beim jüdischen Volk, das wir ausschließlich in der Opferrolle wahrnehmen, eine dunkle Seite in der neueren Geschichte oder waren Juden ausschließlich die Opfer, die Leidtragenden?“ Nach solcher Absicherung schilderte Hohmann Gräueltaten, die Juden als Revolutionäre und Bolschewisten begangen haben sollen. Die Quellen, aus denen Hohmann schöpfte, sind trübe, ihrer haben sich schon Goebbels und Hitler bedient: Es sind uralte antisemitische Stereotype und Klischees, mit denen Verängstigte und Ratlose auf kommunistische Revolution, Räteherrschaft und anderes Ungemach reagiert haben. „Viele der für den Bolschewismus engagierten Juden fühlten sich sozusagen als gläubige Soldaten der Weltrevolution“, sagte der Abgeordnete Hohmann am 3. Oktober 2003. Dann „bewies“ er mit Zahlen und Zitaten, dass Juden in den revolutionären Gremien Sowjetrusslands überproportional vertreten waren und legte den Schluss nahe, niedere Beweggründe hätten sie zum Bolschewismus getrieben.
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Die Mordphantasien der „kommunistischen jüdischen Revolutionäre“ seien keine leeren Drohungen gewesen, behauptet Hohmann: „Das war Ernst. Das war tödlicher Ernst. Nach einer von Churchill 1930 vorgetragenen statistischen Untersuchung eines Professors sollen den Sowjets 1924 folgende Menschen zum Opfer gefallen sein: 28 orthodoxe Bischöfe, 1219 orthodoxe Geistliche, 6000 Professoren und Lehrer, 9000 Doktoren, 12 950 Grundbesitzer, 54 000 Offiziere, 70 000 Polizisten, 193 000 Arbeiter, 260 000 Soldaten, 355 000 Intellektuelle und Gewerbetreibende sowie 815 000 Bauern.“ Sowjets und Juden sind damit stillschweigend synonym erklärt und die Magie der Statistik beweist sich scheinbar selbst. Das sind traditionelle Argumentationsmuster judenfeindlicher Demagogie. Hohmanns Ausführungen sind ein Lehrstück für den antisemitischen Diskurs schlechthin. Zum „jüdischen Bolschewismus“ werden historische Fakten erwähnt – Russische Revolution, Münchner Räterepublik –, dann werden die Akteure, deren Namen bekannt sind (Leo Trotzki, Béla Kun usw.), unter Verzicht auf alle Protagonisten benannt, die nicht ins Bild passen. Die „Fakten“ selbst sind aber auch nur Behauptungen und Mutmaßungen, die mit Autorität und unter Anführung von Belegen vorgebracht werden. An Ort und Stelle kann das nicht widerlegt werden, das würde auch niemand dem Festredner entgegenhalten, selbst wenn er es besser wüsste. Dass Kurt Eisner, den Hohmann zu den jüdischen Rädelsführern der Münchner Räterepublik von 1919 zählt, weder Kommunist war noch die Räteherrschaft erlebte, zeigt nur, mit welcher Ahnungslosigkeit der Politiker als Experte aufgetreten ist. Zu den von Hohmann angewandten Mitteln gehört die Verallgemeinerung. Die Weltrevolution wird zur jüdischen Affäre gemacht. Dem wird tradiertes Volkswissen beigemengt, das weder verifizierbar noch falsifizierbar ist. Die Technik des antisemitischen Diskurses liegt in der Instrumentalisierung des Vorurteils, in der Beschwörung des Ressentiments, in der raffinierten Erzeugung von Assoziationen und Konnotationen. Der Redner suggerierte seinem Publikum, man habe durch gemeinsame Forschungsarbeit die Erkenntnis gewonnen, „daß der Vorwurf an die Deutschen, schlechthin ‚Tätervolk‘ zu sein“, unberechtigt sei. Dazu hat Hohmann den klassischen antisemitischen Diskurs vorgeführt, wie man ihn seit den Reden kennt, in denen im 19. Jahrhundert die „Judenfrage“ erfunden, deren Lösung dann propagiert und deren „Endlösung“ schließlich im 20. Jahrhundert betrieben wurde. Zum Wesen dieses Diskurses gehört, dass die jüdische Minderheit in Anspruch genommen wird, um Probleme nationaler Identität der Mehrheit zu artikulieren. Das wurde in den Reaktionen des Publikums deutlich. Dass die Region, in der ihn 2002 54 Prozent der Wähler zum zweiten Mal in den Bundestag gesandt hatten, zur Solidarität mit dem beliebten Politiker neigte, war nicht verwunderlich, und das ist auch kein Indiz für antisemitische oder rechtsradikale Neigungen des Milieus, wie voreilig von manchen vermutet wurde. Die Solidarität wurde in erster Linie gegenüber der Person geübt, unter Hervorhebung von Verdiensten und der Abweisung von Zuschreibungen, die in der Regel gar nicht erfolgt sind. So ging es auch im Falle Hohmann nicht darum, ihn als Antisemiten zu brandmarken oder zu beweisen, dass er kein Antisemit sein könne. Außerhalb des Milieus, in dem Hohmann als Person bekannt und geschätzt ist – im Wesentlichen war das bis Oktober 2003 sein Wahlkreis –, eilten Sympathisanten zu Hilfe, die Applaus spendeten wie der General Güntzel, weil sie sich mit den deutschna-
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tionalen Zielen Hohmanns identifizieren konnten, ohne die Mittel zu prüfen, mit denen Hohmann sie propagierte. Was denn antisemitisch daran sei, wenn man zu dem Schluss komme, dass die Deutschen ebenso wenig wie die Juden ein Tätervolk seien, fragten andere, die dann aber auch oft mutmaßten, man dürfe in Deutschland bestimmte Wahrheiten nicht aussprechen, man werde als Antisemit niedergemacht, wenn man es trotzdem tue. Vielen erging es so, die mangels Kenntnis der antisemitischen Agitation im Hauptteil der Rede, die Reaktion der Medien und der CDU für überzogen hielten und darauf verwiesen, dass Hohmann sich doch reichlich und oft genug entschuldigt habe. Besonders aktiv waren die Initiatoren der Aktion „Kritische Solidarität mit Martin Hohmann“. Über 1.600 CDU- und CSU-Mitglieder haben den Aufruf unterzeichnet, der als Zeitungsannonce unter anderem in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Ende November 2003 erschien. Kritik geübt wurde darin am Fraktionsausschluss, der Führungsstil der Unionsparteien wurde ebenso verurteilt wie die „Medienkampagne gegen die Union“, auf die mit dem politischen Todesurteil gegen Hohmann reagiert worden sei. Dass die Rede Hohmanns problematisch war, wurde von denen, die kritische Solidarität üben und fordern, nicht bestritten, aber sie wollten auch nicht erkennen, dass Hohmanns Ansprache zum 3. Oktober antisemitisch war. Verwiesen wurde unter Vernachlässigung des Kontextes und ohne Gespür für die rhetorischen Finessen, mit denen Hohmann seine Unterstellungen zum „jüdischen Bolschewismus“ lancierte, auf den Satz, nach dem die Juden kein Tätervolk (und die Deutschen deshalb auch von solchem Makel freizusprechen) seien. Es sei halt die falsche Rede zu diesem Zeitpunkt gewesen, lautet das Argument, das Hohmann exkulpieren sollte. Wahrscheinlich die schlimmste Wirkung der Hohmann-Affäre mit den nachhaltigsten Folgen war, dass eine beträchtliche Zahl von Bürgern, wenig informiert über das, was tatsächlich geschah, was Hohmann sagte und warum das historisch unrichtig, warum es wegen der instrumentalisierten Ressentiments gegen Juden beleidigend war, in dem Glauben bestärkt wurde, bestimmte Dinge dürfe man nicht ungestraft sagen. Patriotische Gefühle – der größte gemeinsame Nenner bei der Formulierung kollektiven wie individuellen politischen Unbehagens –, die Hohmann instinktsicher stimuliert hatte, sind durch die Reaktionen auf seine Rede bei vielen verletzt worden. Das beweist auch einmal mehr, dass Ressentiments gegen Juden hohen Gebrauchswert haben, wenn Diskurse über nationale Identität und Selbstwertgefühle in Gang gesetzt werden. Im Bierdunst der Stammtische, am Arbeitsplatz im Alltag, in Taxis oder auf dem Sportplatz konnten sich viele darüber verständigen, dass dem Abgeordneten Hohmann irgendwie Unrecht geschehen sei. Bei der Suche nach den Schuldigen griffen sie auf bewährte Zuweisungen zurück: Die Presse, den jüdischen Einfluss, die Politik Israels. Die Klischees und Vorurteile, die Hohmann eingesetzt hat, als er sich als biederer Mann mit besten nationalen Ambitionen und als Verkünder traditioneller Wertvorstellungen darstellte und seinem Publikum die erlösende Konstruktion einer Schuld der Juden vor Augen führte, gedeihen auf dem fruchtbaren Boden des Halbwissens und der Voreingenommenheit. Am 20. Juli 2004 wurde Martin Hohmann aus der CDU aus-
Holocaustleugnung (Straftatbestand)
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geschlossen. Die Wirkung seiner Rede im November 2003 hat er zwar bedauert, aber von Intention, Inhalt und Argumentation des Textes hat er sich nicht distanziert.
Literatur
Wolfgang Benz
Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus, München 2004.
Holocaustleugnung (Straftatbestand) Die Leugnung des Holocaust wurde in der Bundesrepublik durch eine Änderung des Paragraphen § 130 (Volksverhetzung) im Strafgesetzbuch zum 1. Dezember 1994 erstmals explizit strafbar und ist mit der Höchststrafdrohung von fünf Jahren belegt. Strafrechtlich relevant war Holocaustleugnung aber bereits zuvor: Abhängig von den jeweiligen Umständen war sie – auch ohne ausdrücklich erwähnt worden zu sein – bereits nach der alten Fassung des § 130 als Volksverhetzung justiziabel. Vor der Gesetzesänderung von 1994 kamen zudem hauptsächlich die Bestimmungen zu Beleidigungstatbeständen (§§ 185 ff.) zur Anwendung, maßgeblichen Einfluss hatte hier ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 18. September 1979, das die Leugnung des Holocaust als Kollektivbeleidigung einstufte. In ihrem Leitsatz formulierten die Bundesrichter: „Menschen jüdischer Abstammung haben aufgrund ihres Persönlichkeitsrechts in der Bundesrepublik Anspruch auf Anerkennung des Verfolgungsschicksals der Juden unter dem Nationalsozialismus. Wer die Judenmorde im ‚Dritten Reich‛ leugnet, beleidigt jeden von ihnen. Betroffen sind durch solche Äußerungen auch erst nach 1945 geborene Personen, wenn sie als ‚Volljuden‛ oder ‚jüdische Mischlinge‛ im ‚Dritten Reich‛ verfolgt worden wären.“ Des Weiteren betonten die Richter, dass Holocaustleugnung nicht „vom Schutz der Meinungsfreiheit gedeckt“ sei und einen Angriff auf das Persönlichkeitsbild von Juden darstelle, zu deren Würde es gehöre, „als zugehörig zu einer […] Personengruppe begriffen zu werden, der gegenüber eine besondere moralische Verantwortlichkeit aller anderen besteht“. Für Juden sei das Verfolgungsschicksal, „das über das persönliche Erlebnis“ hinausgehe, „auch heute gegenwärtig“, die Achtung dessen stelle „eine Grundbedingung für ihr Leben in der Bundesrepublik“ dar. Umgekehrt bedeute die Leugnung für jeden Betroffenen „die Fortsetzung der Diskriminierung“. Trotz der Klärung durch den BGH, dass Holocaustleugnung den Straftatbestand der Beleidigung erfüllt, beabsichtigte der Gesetzgeber in den frühen 1980er Jahren, Holocaustleugnung als eigenen Tatbestand zu fassen, und zwar unabhängig von der Verletzung individueller Rechte. Von der Regierung Schmidt ausgearbeitet und nach dem Regierungswechsel 1982 von der Regierung Kohl übernommen, wurde ein entsprechendes Gesetzesvorhaben im Bundesrat mehrfach abgelehnt. 1985 wurde lediglich das bestehende Recht modifiziert, Holocaustleugnung nun als Offizialdelikt auch ohne Strafantrag eines Beleidigten verfolgbar und zudem ein Passus in das Gesetz eingefügt, der es ermöglichen sollte, auch die Leugnung der Verbrechen „anderer Gewalt- und Willkürherrschaften“ – gemeint waren die Vertreibungen von Deutschen aus den Ostgebieten – zu verfolgen.
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Holocaustleugnung (Straftatbestand)
Die Diskussion um Holocaustleugnung als separatem Straftatbestand flammte wieder auf, als der BGH am 15. März 1994 die Verurteilung des NPD-Vorsitzenden Günter Deckert wegen Volksverhetzung aufhob ( → Fall Deckert). Der BGH begründete dies damit, dass für eine Verurteilung von Holocaustleugnung als Volksverhetzung zusätzlich zur Leugnung ein – im aufgehobenen Urteil nicht ausreichend nachgewiesener – Angriff auf die Menschenwürde vorliegen müsse („qualifizierte Auschwitz-Lüge“). Hingegen sei für eine – von der Anklage jedoch nicht angestrebte – Verurteilung als Beleidigung bereits die bloße Leugnung hinreichend („einfache Auschwitz-Lüge“). Nicht zuletzt diese Ausführungen des BGH und das folgende, als skandalös bewertete Urteil der Berufungsverhandlung im Juni 1994 trugen maßgeblich dazu bei, dass zum Ende des Jahres der Volksverhetzungs-Paragraph im Strafgesetzbuch novelliert und neben dem bereits justiziablen „qualifizierten“ Leugnen (§ 130, 1) nun auch das „einfache“ Leugnen (§ 130, 3) als Volksverhetzung strafbar wurde. Der im politischen und juristischen Sprachgebrauch zunächst übliche Begriff „Auschwitz-Lüge“, mit dem die Leugnung der Gaskammern bzw. des Holocaust insgesamt bezeichnet wurde, ist nicht unproblematisch und wird seit den 1990er Jahren größtenteils gemieden. Grund sind seine im neonazistischen Kontext liegenden Wurzeln: In der 1973 publizierten und zum Inbegriff der Holocaustleugnung gewordenen Broschüre „Die Auschwitz-Lüge“ nannte Thies Christophersen in bis zu diesem Zeitpunkt kaum bekannter Aggressivität die Massenvergasungen in Auschwitz eine „glatte Lüge“. Auch wenn die Bezeichnung „Auschwitz-Lüge“ mit der Übernahme in den offiziellen Sprachgebrauch die Bedeutung maßgeblich verändert hat und nun nicht mehr die Gaskammer-Morde, sondern die Behauptungen der Holocaustleugner als Lüge bezeichnet, blieb der Begriff stets missverständlich. Zur Holocaustleugnung im Internet entschied der BGH in einem Grundsatzurteil am 12. Dezember 2000, dass diese auch dann in Deutschland strafbar ist, wenn „ein Ausländer von ihm verfasste Äußerungen […] auf einem ausländischen Server in das Internet [stellt], der Internetnutzern in Deutschland zugänglich ist“. Schließlich wurde im November 2008 in einem EU-Rahmenbeschluss „zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ festgelegt, die einschlägige Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu harmonisieren. Vereinbart ist, bis Ende 2010 u.a. „das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord“ mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe zu belegen. Dabei wird es jedoch den einzelnen Staaten überlassen bleiben, nur diejenigen Äußerungen unter Strafe zu stellen, die dazu geeignet sind, „die öffentliche Ordnung zu stören“ oder die „Drohungen, Beschimpfungen oder Beleidigungen darstellen“.
Literatur
Christian Mentel
Hanna Borgwardt, Die Strafbarkeit der „Auschwitzlüge“, in: Heribert Ostendorf (Hrsg.), Rechtsextremismus. Eine Herausforderung für Strafrecht und Strafjustiz, Baden-Baden 2009, S. 233–266. Thorsten Eitz, Georg Stötzel, Auschwitz-Lüge, in: Thorsten Eitz, Georg Stötzel, Wörterbuch der „Vergangenheitsbewältigung“, Hildesheim 2007, S. 55–75.
Inquisition in Lateinamerika
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Matthias Leukert, Die strafrechtliche Erfassung des Auschwitzleugnens, Diss. Universität Tübingen 2005. Thomas Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, Berlin 2000.
Hostienfrevel in Röttingen (1298) → Rintfleisch-Verfolgungen
Inquisition in Lateinamerika Die spanische (1478–1834) und portugiesische → Inquisition (1537–1821) hatten in ihrer langen Geschichte Tausende Opfer gefordert. Dabei beschränkte sich die Arbeit der „heiligen“ katholischen Inquisition nicht nur auf die Iberische Halbinsel, sondern erstreckte sich auch über die Kolonien Portugals und Kastiliens bzw. ab 1700 Spaniens. Dies führte etwa in den Amerikas zur Gründung von → Inquisitionsgerichtshöfen in Lima und Mexiko-Stadt 1571 sowie in Cartagena de Indias 1610. Zur Gruppe der Opfer der katholischen Inquisitoren zählten von Beginn an getaufte Neuchristen (Conversos), oft ehemalige Juden, die als Judaisierer (Judaizantes), Krypto-Juden oder Marranen von Dritten als „Häretiker“ denunziert wurden. Die 1478 von den katholischen Königen und Kirchen Kastiliens und Aragons in beiderseitigem Einvernehmen geschaffene Inquisition verfolgte jedoch nicht nur religiöse, sondern ebenso ökonomische und politische Ziele. Die Inquisition sollte einerseits die Einheit der katholischen Kirche garantieren. Andererseits wurde sie zu einer wichtigen Institution des staatlichen Einigungsprozesses Spaniens unter Ausschluss von Muslimen, Juden und Ausländern. Da die Judenverfolgungen seit 1391 die gesamte Iberische Halbinsel zunehmend erfassten, sahen sich immer mehr Juden gezwungen, zum Katholizismus überzutreten, um sich vor dem blinden Hass des katholischen Mobs zu retten. Manche Konvertiten blieben jedoch auch nach ihrer Zwangstaufe dem jüdischen Glauben treu und praktizierten im Geheimen weiterhin ihr Judentum (Kryptojuden). Da die ehemaligen Juden als Neuchristen keinen beruflichen Beschränkungen mehr unterlagen, gelang es einigen schon bald, vor allem im Bereich des Handels mit den neuen portugiesischen und spanischen Kolonien (atlantische Inseln und Küstensäume Afrikas) sowie im Mittelmeer mittels ausgedehnter Netzwerke ökonomische Erfolge zu erzielen. Andere verfolgte Juden flüchteten nach Portugal, an die afrikanische Mittelmeerküste, nach Italien oder ins Osmanische Reich, sodass sich die Zahl der in den christlichen Königreichen Kastilien und Aragon ansässigen Juden stetig verringerte, bis sie 1492 per Dekret vollständig vertrieben wurden bzw. unter Druck zum Katholizismus konvertieren mussten. So mancher Neuchrist sah in Folge in den entfernten Kolonien Amerikas und Afrikas die einzige Chance auf eine friedliche Existenz. Auf der Suche nach einem sicheren Exil gelangten von Anfang an zahlreiche Neuchristen – meist auf illegale Weise – in die Neue Welt.
Literatur
Christian Cwik
Ricardo Escobar Quevado, Inquisición y Judaizantes en América España. Editorial Universidad del Rosario. Colección Textos de Ciencias Humanas, Bogotá 2008.
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Inquisition in Portugal
Prodian Garcia, Los judios en America. Sus actividades en los Virreinatos de Nueva Castillo y Nueva Granada en el siglo XVII, Madrid 1966. Seymour Liebman, The Inquisitors and the Jews in the New World. Summaries of procesos, 1500–1810, and bibliographical guide, University of Miami, Coral Gables 1974.
Inquisition in Portugal Das „Tribunal do Santo Ofício“ war im Portugal der Frühen Neuzeit ein königlicher Gerichtshof zur Entdeckung und Bestrafung aller vom Katholizismus abweichenden Praktiken und Meinungen, insbesondere der judaisierenden Tendenzen unter den Neuchristen. Bei der von ihm angeordneten Zwangstaufe der Juden Portugals 1497 sicherte König Manuel I. den Neuchristen eine Schonfrist von zwanzig (später verlängert auf vierzig) Jahren gegen Ermittlungen über ihre religiöse Praxis zu. Begünstigt durch die anfängliche Straffreiheit konsolidierte sich eine geheimjüdische Subkultur und zugleich ein Wirtschaftsbürgertum, das der Inquisitionsgründung jahrelange diplomatische Anstrengungen beim Heiligen Stuhl in den Weg zu setzen wusste. Der 1536 päpstlich eingesetzten portugiesischen Inquisition fehlten zunächst das Recht zur geheimen Prozessführung, die durch Gütereinziehung finanzierte Autonomie und andere Vollmachten des spanischen Vorbilds; sie hatte aber bis 1568 allmählich dessen Machtfülle erreicht und übertraf sie sogar in der Folge. Das europäische Portugal war auf die drei regionalen Gerichtshöfe von Coimbra, Evora und Lissabon aufgeteilt; letzterer überwachte zudem die atlantischen Kolonien, während für die indischen ein eigenes Tribunal in Goa zuständig war. Zentrale Autorität war der Großinquisitor (Inquisidor Geral) und sein Hochrat (Conselho Geral) in Lissabon. Auf ein landesweites Klientel- und Spitzelnetz gestützt, erlebte die portugiesische Inquisition in den Jahren 1590–1684 den Höhepunkt ihrer Aktivität. Gegen die immer willkürlichere Jagd auf die neuchristliche Kaufmannschaft formierte sich eine Opposition aus merkantilistisch gesinnten Kronbeamten und Jesuiten, deren Allianz beim Papst fünfmal kurzlebige Beschränkungen der Inquisitionsvollmachten durchsetzen konnte (1574, 1605, 1627, 1649, 1674). Den Verfolgungen wegen Geheimjudentums, die sich zuletzt auf abgelegene Landstädte konzentrierten, setzte 1765 die autoritär-aufgeklärte Regierung unter Marquês de Pombal ein Ende, lange vor der eigentlichen Aufhebung des Tribunals 1821. Für Montesquieu, Voltaire und andere europäische Aufklärer war die portugiesische Inquisition das extremste damalige Relikt des christlichen Fanatismus. Die neuere Geschichtsschreibung hat herauszuarbeiten versucht, dass das Tribunal auch politische Interessen verfolgte (monarchische Zentralisierung), desgleichen ökonomische (Verteidigung der Feudalordnung gegen das Handelsbürgertum) und ideologische (Einigung durch Ausgrenzung). Indes steht die portugiesische Inquisition nicht allein durch ihre Rhetorik in der Tradition des christlichen Antijudaismus; ihr zentraler Auftrag war die Verfolgung einer religiösen Minderheit. Von den insgesamt etwa 55.000 Verfolgten der Inquisition waren vermutlich zwei Drittel wegen Judentums angeklagt. Etwa ein Drittel der Prozesse beinhalteten Folter, und jeder Zwanzigste, fast 1.500, endete mit Vollstreckung der Todesstrafe auf dem Scheiterhaufen. Portugal hat damit eine seiner dyna-
Inquisitionstribunal in Lima
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mischsten Bevölkerungsklassen pauperisiert oder vertrieben, während in den bedeutenden Seehäfen des 17.-18. Jahrhunderts eine portugiesisch-jüdische Diaspora entstand.
Literatur
Carsten Wilke
Francisco Bethencourt, Inquisition: A Global History, 1478–1834, Cambridge 2009. Alexandre Herculano, History of the origin and establishment of the Inquisition in Portugal, New York 1972. António José Saraiva, The Marrano Factory: the Portuguese Inquisition and its New Christians 1536–1765, Leiden 2001. Nathan Wachtel, La logique des bûchers, Paris 2009.
Inquisitionstribunal in Lima Mit der Eroberung des Inkareiches zwischen 1526 und 1538 durch die kastilischen Conquistadoren Francisco Pizarro González, Diego de Almagro und Hernando de Soto entstand ein zweites politisches Zentrum spanischer Macht in den Amerikas. Bereits 1542 erhob König Karl I. (Kaiser Karl V.) die Gebiete zwischen Cartagena de Indias im Norden bis Buenos Aires im Süden zum Vizekönigreich Neu-Kastilien (auch als Vizekönigreich Peru bezeichnet). Ab 1550 entwickelte sich Lima zum wichtigsten Handelszentrum Südamerikas. Die Zahl der Fernhändler, die sich hier niederließen, stieg rasant an; zugleich nahm auch die Zahl portugiesischer und spanischer Neuchristen aus ehemals jüdisch-sephardischen Familien zu. Insgesamt konvertierten rund 50 Prozent der etwa 200.000 Juden in den christlichen Königreichen auf der Iberischen Halbinsel bis 1492 bzw. in Portugal bis 1497 zwangsweise zum Christentum. Die nicht taufwilligen Juden wurden sowohl von der katholischen Kirche als auch ihrer verbündeten politischen Kreise verfolgt und aus Spanien und Portugal vertrieben. Sie flüchteten nach Nordafrika, Italien und in das Osmanische Reich, wo sie unter großen Schwierigkeiten ein neues Gemeindeleben aufbauten. Doch auch als Neuchristen wurden die getauften ehemaligen Juden und ihre Nachkommen zu Opfern antijüdischer Politik. Die bereits seit 1449 existierenden Blutreinheitsgesetze von Toledo und die katholische Inquisition, die 1481 in Sevilla ihre Arbeit aufnahm und bis 1574 die katholischen Königreiche der Halbinsel flächendeckend mit Inquisitionsgerichtshöfen überzog, führten zu einem Zustand der permanenten Bedrohung. Diesem Szenario versuchten sich die teilweise unter den neuen rechtlichen Rahmenbedingungen als Christen wirtschaftlich durchaus erfolgreichen Konvertiten durch Flucht in die Kolonien zu entziehen. Informationen über neuchristliche Siedler in Lima gehen bereits auf die ersten Dekaden nach der Gründung der Stadt zurück. Ebenso lange lassen sich die Forderungen des Klerus nach einer Einführung der Inquisition im Vizekönigreich Peru zurückverfolgen. Stattete Rom anfänglich seine Priester in den kastilischen Überseegebieten nur mit apostolischen Inquisitionsvollmachten aus, änderte sich die Situation 1569/1570 durch die Errichtung von zwei → Inquisitionstribunalen (mit Autodafévollmacht) in Lima und Mexiko-Stadt, die 1571 ihre Arbeit aufnahmen, vollständig. Bis zur Wende zum 17. Jahrhundert wurden in Peru, trotz der in der Literatur geschätzten hohen Zahl von ca. 4.000 „Kryptojuden“, nur sechs Portugiesen als „Judaisierer“ in Autodafés an-
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Inquisitionstribunal in Lima
geklagt. Zwei „Delinquenten“ verurteilte das Autodafé von 1595 wegen ihrer Weigerung, am Samstag Maultiere zu kaufen, zum Tode, der dritte Angeklagte beging aufgrund der harten Folterungen im Kerker Selbstmord. Während des Autodafés im Dezember 1600 wurden insgesamt 15 Personen als „Judaisierer“ verurteilt. Die Festnahmen sollten primär dazu dienen, die Angeklagten zu berauben. Den Verdächtigen wurde ihr gesamtes Vermögen abgenommen, und das konfiszierte Geld floss in die Taschen der Inquisition. Ab 1634 nahm die Welle der inquisitorischen Gewalt gegen die mehrheitlich portugiesischen Neuchristen zu. Betrug die Zahl der als Judaisierer angeklagten Neuchristen 1634 insgesamt 64 Beschuldigte, waren es 1638 bereits 112 Personen. Diese Zahl stieg im darauffolgenden Jahr auf 225 Personen an. Die Anklage konstruierte ein portugiesisch-jüdisches Komplott gegen Spanien. Der Inquisitor Juan de Mañozca y Zamora führte die Angeklagten nach langer und grausamer Folter in den Kerkern der Inquisition von Lima vor das große Autodafé vom 23. Januar 1639. Von den 71 Angeklagten wurden nur acht Neuchristen freigesprochen. Der Rest wurde verurteilt, davon zwölf zum Tode durch das Feuer. Unter den Todeskandidaten befanden sich vor allem Kaufleute. Damit sicherte sich die Inquisition umgerechnet rund 1 Million US-Dollar, womit sie sich für eine Zeit lang ökonomisch sanieren konnte. Ebenfalls unter den Opfern befand sich der Arzt Francisco Maldonado de Silva, der während seiner zwölfjährigen Haft in den Kerkern der Inquisition zahlreiche apologetische Abhandlungen schrieb. In der Folgezeit kam es zwar zu weiteren Autodafés, die Größe des Inquisitionsgerichts vom Januar 1639 wurde allerdings nicht mehr erreicht. Erwähnenswert ist, dass im Jahr 1745 mit Don Juan de Loyola y Haro, ein Nachfahre des Jesuitenordensgründers, als „Judaisierer“ verdächtigt im Kerker der Inquisition von Lima ums Leben kam. Die Inquisition wurde in Peru am 9. März 1820 abgeschafft.
Literatur
Christian Cwik
Paulino Castañeda Delgado, Pilar Hernández Aparicio, La inquisición de Lima (1635– 1696), 2 Bände, Madrid 1995. Ricardo Escobar Quevado, Inquisición y Judaizantes en América Española, Universidad del Rosario, Bogotá 2008. Lucia Garcia de Proodian, Los judíos en América. Sus activitades en los Virreinatos de Nueva Castilia y Nueva Granada, siglo XVII. Consejo Superior de Investigaciones Cientificas, Madrid 1966. Teodoro Hampe Martínez, Santo Oficio e historia colonial: aproximaciones al tribunal de la inquisición de Lima (1570–1820), Lima 1998. René Millar Carvacho, Las confiscasiones de la Inquisición de Lima a los comerciantes de origen judio-portugués de la “gran complicidad” de 1635, in: Revista de Indias 43 (1983), 171, S. 27–58. René Millar Carvacho, Inquisición y sociedad en el virreinato peruano: estudios sobre el tribunal de inquisición de Lima, Lima 1998. Ricardo Palma, Anals de la Inquisición de Lima, Lima 1997 (Erstauflage 1897). José Toribio Medina, Historia del Tribunal del Santo Oficio de la Inquisicion en Chile, Santiago 1890.
Irving-Prozess
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Inquisitionstribunal in Mexiko-Stadt Mit der Errichtung des Inquisitionstribunals (Tribunal del Santo Oficio de Inquisición) in Mexiko-Stadt im Jahre 1571 wurde das gesamte Vizekönigreich Neu-Spanien der Gerichtsbarkeit der Inquisition unterstellt. Die spanische Inquisition war auch vorher schon aktiv gewesen, und zwar durch Geistliche, die die spanischen Eroberer begleitet hatten. Zum ersten Generalinquisitor von Neu-Spanien wurde der Inquisitor von Murcia, Pedro Moya de Contreras, berufen. Zu Beginn standen zunächst die Verfahren gegen englische Freibeuter und „Lutheranos“ sowie Prozesse wegen Bigamie und Blasphemie im Vordergrund. Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts verlagerte sich das Vorgehen auf die sogenannten Judaisierer (judaizantes), insbesondere portugiesischer Herkunft. Bei diesen, auch Krypto-Juden genannt, handelte es sich um Konvertiten (conversos), denen der Vorwurf gemacht wurde, weiterhin an ihrem jüdischen Glauben und Brauchtum festzuhalten. Zwischen 1589 und 1596 wurden fast 200 Personen dieses Vergehens beschuldigt; der prominenteste Fall war derjenige der Familie des Gouverneurs der Provinz Nuevo León, Luis de Carvajal. Nach den öffentlichen Prozessen der großen Autodafés im 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts ging die Verfolgung der Konvertiten durch die Inquisition seit Mitte des 17. Jahrhunderts zwar zurück, doch endgültig abgeschafft wurde sie erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Literatur
Nina Elsemann
Richard E. Greenleaf, La Inquisición en Nueva España, Siglo XVI, México 1981. Stanley M. Hordes, La Inquisición y la comunidad criptojudía en las colonias de Nueva España y Nuevo México, in: Sefardica 10 (1993), S. 13–28. José Luis Soberanes Fernández, La Inquisición en México durante el siglo XVI, in: Revista de la Inquisición 7 (1998), S. 283–295.
Irving-Prozess Beim „Irving-Prozess“ handelt es sich um eine weltweit Aufsehen erregende Gerichtsverhandlung im Frühjahr 2000, in welcher der Publizist David Irving den Verlag Penguin Books und die Autorin Deborah E. Lipstadt, die Irving in einem Buch als Holocaustleugner charakterisierte, wegen Verleumdung verklagte und damit spektakulär scheiterte. 1994 veröffentlichte die amerikanische Historikerin Deborah E. Lipstadt in Großbritannien das Buch „Denying the Holocaust – The Growing Assault on Truth and Memory“ (dt. Version, Betrifft: Leugnen des Holocaust, Zürich 1994), das bereits im Jahr zuvor in den USA erschienen war. Darin beschreibt sie Irving, der sich als Autor zahlreicher populärer Bücher zur NS-Geschichte einen Namen gemacht hatte, als „rechtsextremen Autor“, „Holocaust-Leugner“ und „eifrigen Bewunderer“ Hitlers und nennt ihn „eines der gefährlichsten Sprachrohre für die Holocaust-Leugnung“, da er „die historischen Sachverhalte“ genau kenne, sie jedoch verdrehe, „bis sie sich seinen ideologischen Neigungen und politischen Hintergedanken anpassen“.
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Irving-Prozess
Irving, der in der Vergangenheit bereits selbst wegen Verleumdungen verurteilt worden war und des Öfteren Zeitungen, Verlagen und Autoren mit Verleumdungsklagen gedroht und damit zahlreiche außergerichtliche Einigungen erzielt hatte, erhob Ende 1996 beim High Court of Justice in London Anklage gegen den Verlag und die Autorin. Nach englischem Recht lag die Beweislast bei den Beklagten, die folglich nachzuweisen hatten, dass die beanstandeten Aussagen gerechtfertigt waren. Zwei Angebote Irvings, das letzte drei Monate vor Prozessbeginn, seine Klage gegen Rückzug des Buches, eine offizielle Entschuldigung sowie den symbolischen Betrag von 500 Pfund fallen zu lassen, wurden von den Beklagten zurückgewiesen. Am 11. Januar 2000 begann in London der Prozess, in dem sich Irving ohne Rechtsbeistand selbst vertrat. In seiner Eröffnungserklärung beschuldigte Irving die Beklagten, Teil einer internationalen jüdischen Verschwörung zur Zerstörung seiner Existenz zu sein, die ihm mit den Etiketten „Holocaustleugner“ und „Antisemit“ einen „verbalen Gelben Stern“ anhefte. Die Verteidigung beschuldigte ihrerseits Irving, ein „Geschichtsfälscher“ und „Lügner“ zu sein, der, motiviert durch seine „extremistischen Ansichten und Sympathien“, den Holocaust leugne, indem er Dinge erfinde, falsch zitiere, unterschlage, manipuliere und nicht zuletzt falsch übersetze. Zahlreiche namhafte Experten, darunter Christopher Browning, Peter Longerich und Richard J. Evans, erstatteten dem Gericht umfangreiche Fachgutachten zu historischen, historiografischen und politischen Aspekten. Konfrontiert mit deren Ergebnissen und den Quellen, gab Irving im Verlauf des Verfahrens zentrale Positionen auf, insbesondere zur Dimension der Morde durch Giftgas, deren systematischen Charakter und Hitlers Involviertheit, um eben diese Konzessionen später – zumindest teilweise – wieder zu relativieren. Nach 32 Verhandlungstagen wurde am 11. April 2000 das Urteil gesprochen, das Irving – der in seiner Abschlusserklärung den Richter irrtümlich mit „Mein Führer“ ansprach – auf ganzer Linie scheitern ließ. Auf über 300 Seiten führte der Richter aus, dass Irving „unfundierte Behauptungen über das Naziregime“ getätigt habe, „die dazu tendieren, die Nazis hinsichtlich der entsetzlichen Grausamkeiten, die sie über die Juden brachten, zu entlasten“ und dass in diesem Zusammenhang Irving Hitler „in einem ungerechtfertigt vorteilhaften Licht dargestellt“ habe. Die wiederholten Aussagen Irvings über den Holocaust seien für Juden „beleidigend“, auch hätten sich dessen feindselige Aussagen sowohl individuell als auch kollektiv gegen Juden gerichtet. Der Richter stellte fest, dass Irving historische Dokumente absichtsvoll verzerrt, falsch dargestellt und manipuliert habe, um sie mit seinen politischen Auffassungen und ideologischen Überzeugungen in Übereinstimmung zu bringen. Irving sei ein „rechtsradikaler, pro-nazistischer Polemiker“, ein „aktiver Holocaustleugner“, „Rassist“ und „Antisemit“, der nicht nur regelmäßig „mit Rechtsextremisten verkehrt, die Neonazismus propagieren“, sondern „mit deren Ansichten sympathisiert und zuzeiten für diese wirbt“. Zwei Berufungsanträge Irvings wurden abgelehnt, der dritte wurde schließlich im Juni 2001 zur mündlichen Anhörung zugelassen. Doch auch dieser Antrag blieb letztlich erfolglos, da er maßgeblich auf einen Schriftsatz gestützt war, den Irving kurzfristig wieder zurückzog. Verfasst wurde die fast 400 Seiten zählende eidesstattliche Erklärung zu Auschwitz und den Gaskammern von dem rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilten und justizflüchtigen Germar Rudolf, der – wie er an anderer Stelle selbst zugab – in vergleichbaren Fällen Gerichte bereits zielgerichtet getäuscht hatte.
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Nicht in der Lage, die ca. zwei Millionen Pfund, die als Verteidigungskosten für Penguin Books und Lipstadt angefallen waren, zu begleichen, wurde Irving 2002 schließlich für bankrott erklärt. Der Irving-Prozess stieß auf ein erhebliches Medieninteresse in aller Welt, rief großen Publikumsandrang hervor und wurde in seiner Bedeutung oft mit dem → Eichmann-Prozess verglichen. Zahlreiche Holocaustleugner, die Irving in der Vergangenheit unterstützten, kritisierten diesen nach seinem Scheitern heftig. So monierte etwa Ernst Zündel, für den Irving Jahre zuvor bereits als Zeuge ausgesagt hatte ( → ZündelAffäre), dass Irving keinen Anwalt hinzugezogen, Distanz zu Gesinnungsgenossen gehalten und keine substanziellen eigenen Zeugen berufen habe. Irving bediente im Nachgang des Prozesses den verbreiteten falschen Eindruck, dass er der Angeklagte gewesen sei, der mundtot gemacht werden sollte und nutzte unvermindert seine Internetseite zur Diffamierung nicht nur der Gutachter und der von ihm Beklagten, sondern auch der beteiligten Richter.
Literatur
Christian Mentel
Richard J. Evans, Der Geschichtsfälscher. Holocaust und historische Wahrheit im David-Irving-Prozess, Frankfurt am Main, New York 2001. Deborah E. Lipstadt, History on Trial. My Day in Court with David Irving, New York 2005. Peter Longerich, Der Holocaust vor Gericht? Bericht über den Londoner Irving-Prozess, in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), „Gerichtstag halten über uns selbst ...“ Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, Frankfurt am Main, New York 2001, S. 317–351. Eva Menasse, Der Holocaust vor Gericht. Der Prozess um David Irving, Berlin 2000.
„Isidor“-Kampagne Die „Isidor“-Kampagne ist als eine der berüchtigtsten antisemitischen Diffamierungsaktionen der Weimarer Republik bekannt geworden. Initiator der Kampagne, die von 1927 bis 1932 dauerte, war der Berliner NSDAP-Gauleiter und spätere Propagandaminister Joseph Goebbels (1897–1945); Ziel seiner Attacken war Bernhard Weiß (1880– 1951), Vizepräsident der Berliner Polizei. Im November 1926 wurde Joseph Goebbels zum Gauleiter der NSDAP in Berlin bestimmt. Schon am 5. Mai 1927 verbot die Polizei unter ihrem erst seit März amtierenden Vizepräsidenten Bernhard Weiß die Berliner NSDAP samt SA und SS nach Krawallen bei einer Parteiversammlung (das Verbot galt bis 31. März 1928). Goebbels erhielt bis Ende Oktober 1927 Redeverbot. Er musste nach neuen Wegen suchen, um auf sich und seine in Berlin nicht sehr bedeutsame Partei aufmerksam zu machen. Mit der Gründung des Wochenblattes „Der Angriff“ (die erste Nummer erschien am 4. Juli 1927) schuf sich Goebbels als Herausgeber und Autor (nach dem Ende des Redeverbots) eine Propagandaplattform, die zwar außerhalb der NSDAP-Leserschaft kaum Abnehmer fand, jedoch mit ihrer aggressiven, direkten und sehr auf Gewalt ausgerichteten Sprache in scharfem Kontrast zu den üblichen Zeitungen stand. Antisemitische Propaganda gehörte von Anfang an zu den wichtigsten Programmpunkten des „Angriff“ (z.B. die Seite „Der Philosemit“, die später dem „Kampf um
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„Isidor“-Kampagne
Berlin“ wich). In dem Juden Bernhard Weiß hatte Goebbels nun einen Mann gefunden, der noch dazu für alles andere stand, was den Nationalsozialisten verhasst war: Weiß war als Vize-Polizeipräsident („Vipoprä“) ein exponierter Vertreter der Weimarer Republik und des „demokratischen Bollwerks“ Preußen in einer politisch wichtigen Stellung (das Berliner Polizeipräsidium nahm seit 1822 auch alle Aufgaben wahr, die eigentlich in den Bereich eines Regierungspräsidenten gehörten, den es jedoch nicht gab). Weiß war auch Mitglied der „Deutschen Demokratischen Partei“ (DDP), hatte zunächst beim Militär, dann bei der Polizei eine glänzende Karriere gemacht, war einer der sehr wenigen ungetauften Juden im preußischen Staatsdienst, tadelloser Demokrat und Teil der mondänen Berliner Gesellschaft. Der promovierte Jurist entsprach außerdem – schon aufgrund seines Erscheinungsbildes mit Nickelbrille – dem Klischee eines „Intellektuellen“, wie es seinerzeit nicht nur die NSDAP propagierte und grundsätzlich mit „jüdisch“ in Verbindung brachte. Einzig sein Name – Bernhard Weiß – hatte für Goebbels und seine Anhänger keinerlei jüdische Konnotation. Goebbels hatte daher die perfide Idee, Weiß zum Ziel des Spottes zu machen, indem er ihm den Namen „Isidor“ verlieh. „Isidor“ galt, wie Dietz Bering nachwies, als jüdischer Name par excellence, obwohl er griechischen Ursprungs ist („Geschenk [dōron] der Isis“). Goebbels verfolgte kein anderes Ziel, als in Zeiten des preußischen NSDAP-Verbots Aufmerksamkeit zu erheischen und seiner weder besonders großen, noch gebildeten Leserschaft klarzumachen, dass es sich in Weiß’ Fall um einen Feind handelte. Seit 1927 erschienen im „Angriff“ kontinuierlich hämische Attacken in Artikeln und Karikaturen, die keinerlei Sachkritik übten, sondern mittels des Schmähnamens „Isidor“ die Person des Vize-Polizeipräsidenten lächerlich machen sollten. „Wer die Lacher auf seiner Seite hat, der hat bekanntlich recht. Das machten wir uns zunutze“, schrieb Goebbels 1932 in seinem Buch „Der Kampf um Berlin“ über die „Isidor“Kampagne. Für seine infamen Unterstellungen, Verleumdungen, Beleidigungen und Erfindungen konnte sich Goebbels ab 1928 hinter seiner Immunität als Reichstagsabgeordneter verstecken. War er vorher gezwungen, Weiß wenigstens dem Schein nach nicht zu persönlich zu attackieren, verschärfte er den Ton ab 1928 erheblich. Weiß wurde als „Isidor“ zur antisemitischen Karikatur: An seiner Person wurden gängige antisemitische Stereotype, vom „Intellektuellen“ über den durch einen falschen Namen „maskierten Ostjuden“ bis hin zum „einflussreichen Machtjuden“, festgemacht. Eine Text- und Karikaturensammlung, die Goebbels gemeinsam mit dem Zeichner Hans Schweitzer (der sich „Mjölnir“ nannte) verfasst hatte, erschien 1928 als „Das Buch Isidor. Ein Zeitbild voll Lachen und Haß“ – vor allem Hass stach als Triebfeder der Autoren hervor. Nur ein Jahr später legte Goebbels mit „Knorke. Ein neues Buch Isidor für Zeitgenossen“ nach. Beide Bücher erlebten mehrere Auflagen. Daneben wetterte Goebbels in zahlreichen Reden gegen „Isidor“, den er auch in seinen Tagebüchern nie anders nannte, sich jedoch hier zum Opfer des „übermächtigen“ Polizeichefs stilisierte, gegen den er sich „wehren“ müsse. Der Name „Isidor“ wurde schnell populär: Auch die kommunistische „Rote Fahne“ benutzte nun den Spottnamen, wenn es um Bernhard Weiß ging, hatte allerdings bereits im Juli 1923 („Rote Fahne“, Nr. 152, 5. Juli 1923) schon in anderem Zusammenhang ein antisemitisches Gedicht gegen ihn veröffentlicht und ihn dabei auch „Isidor“ genant.
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Doch Weiß war eine Kämpfernatur mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein und einem genauso ausgeprägten Glauben an die Macht der Gerichte. Er führte 63 Prozesse gegen Goebbels sowie 40 wegen der „Isidor“-Verleumdungen und gewann jeden einzelnen, was Goebbels zwar zermürbte („Die Prozesse machen mich tot“, vertraute er seinem Tagebuch im Frühjahr 1931 an), jedoch nur zu erneuter Häme im „Angriff“ führte. Goebbels wurde mehrfach zu Geldstrafen verurteilt, ein Karikaturist musste sogar ins Gefängnis, das Erscheinen des „Angriff“ wurde mehrfach verboten, doch profitierte Goebbels auch von Amnestien, die ihm immer wieder die ohnehin geringen Strafen ersparten. Die Denunziation gelang ebenfalls: Weiß konnte nicht verhindern, dass sich der Name „Isidor“ auch bei Leuten festsetzte, die keinerlei antisemitische oder nationalsozialistische Ideen befürworteten und dennoch auch Jahrzehnte später noch glaubten, Bernhard Weiß habe tatsächlich „Isidor“ geheißen. So ist noch heute – teilweise sogar in seriösen Publikationen – von „Bernhard Isidor Weiß“ die Rede. Bernhard Weiß wurde mit dem Staatsstreich in Preußen im Juli 1932 durch Reichskanzler von Papen entmachtet. Er floh 1933 vor den Nationalsozialisten über Prag nach London und stand auf der ersten Ausbürgerungsliste des NS-Regimes. In London starb er 1951 kurz vor seiner Wiedereinbürgerung. Bei einem Besuch in Berlin 1949 benutzte Weiß selbst seinen ehemaligen Schmähnamen. In der Gewissheit, endgültig über Goebbels gesiegt zu haben, schrieb er an seine Tochter Hilde: „Kannst Dir nicht vorstellen, wie sich die Berliner mit Isidor freuen. Selbst auf der Straße sprechen mich Leute an, ob ich nicht der frühere Vipoprä bin.“ An seiner ehemaligen Wohnung am Steinplatz in Berlin-Charlottenburg ist eine Berliner Gedenktafel angebracht, die auch auf die „Isidor“-Kampagne Bezug nimmt.
Literatur
Bjoern Weigel
Dietz Bering, Kampf um Namen. Bernhard Weiß gegen Joseph Goebbels, Stuttgart 1991. Dietz Bering, Der Kampf um den Namen Isidor. Polizeivizepräsident Bernhard Weiß gegen Gauleiter Joseph Goebbels, in: Beiträge zur Namenforschung, hrsg. von Rudolf Schützeichel, Band 18 (1983), S. 121–153.
Italienische Rassengesetze Der koloniale Rassismus ist in der italienischen Forschung bisher nur wenig beachtet worden, obgleich die Mechanismen und die Dynamik, die sich außerhalb des Mutterlandes entwickelten, Grundlage einer intoleranten Haltung wurden und bereits sozialdarwinistische Elemente enthielten. Die Bewohner der italienischen Kolonien in Afrika galten als minderwertige Menschen; Mussolini selbst, aber auch seine Marschälle, verwendeten in Berichten aus Addis Abeba Begriffe wie „totale Eliminierung“ und offenbarten damit ihre rassistischen Dispositionen. Es ist das Verdienst des italienischen Journalisten Angelo Del Boca, den Rassismus und die Massenexekutionen der Italiener in Äthiopien zum Gegenstand eines öffentlichen Diskurses gemacht zu haben. Zudem hat del Boca nachgewiesen, dass die italienischen Streitkräfte während ihres Afrika-Feldzuges Giftgas (Yperit, Phosgen) verwendeten, um den äthiopischen Widerstand zu brechen. Offen bleibt die Frage, inwieweit es sich hier um das Ausleben von xenophoben Vorurteilen handelte oder um rassisti-
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sche Tendenzen. Erst in jüngster Zeit werden solche Phänomene in der Forschung thematisiert und ihre historische Relevanz im Hinblick auf die Verfestigung rassistischer Ideen in der italienischen Bevölkerung beachtet. Mit der Proklamation des Imperiums am 9. Mai 1936 war die Hinwendung von einer „kolonialen“ zu einer „universalen“ Rassenpolitik abgeschlossen. Am 26. Mai 1936 forderte der damalige Minister für Presse und Propaganda und spätere Außenminister Galeazzo Ciano die Presse auf, eindeutig Stellung zu beziehen: „Es ist notwendig eine klare Trennung zwischen dominierter und dominierender Rasse zu vollziehen. Die italienische Rasse darf sich keinesfalls der Rasse der Neger annähern, sie muss ihre absolute Reinheit bewahren.“ Am Ende des militärischen Unternehmens in Äthiopien ließ sich ein sprunghafter Anstieg von Verlautbarungen rassistischer Art und im Besonderen eine Kampagne gegen „Mischlinge“ konstatieren. Letztere bereitete propagandistisch die Einführung des ersten italienischen Rassengesetzes vom 19. April 1937 über die „Rechtswirkungen ehelicher Verbindungen zwischen italienischen Bürgern und Untertanen [Einheimische der Kolonien]“ vor. Damit war der Rassismus sanktioniert und fand auch seinen Widerhall in einer Zunahme antisemitischer Übergriffe, die mit der Verhaftung einiger jüdischer Antifaschisten weiteren Auftrieb erhielt. Es war der Beginn einer systematischen Kampagne, die in der italienischen Gesellschaft einen Gewöhnungsprozess in Gang setzte. Der in den Kolonien praktizierte Rassismus blieb nicht ohne Folgen für die Politik im Mutterland. Am 16. Februar 1938 erschien im Amtsblatt „Informazione diplomatica“ eine Regierungsverlautbarung, die einen numerus clausus für Juden einführte. Danach sollte künftig „der Anteil der Juden am Gesamtleben der Nation nicht überproportioniert zu den Verdiensten der Einzelnen und der zahlenmäßigen Bedeutung ihrer Gemeinde“ liegen. Kurz zuvor hatte Mussolini den Anthropologen und Antisemiten Guido Landra beauftragt, Vorlagen für eine italienische Rassenpolitik zu entwickeln. Wenige Monate später, am 14. Juli 1938, wurde das „Rassenmanifest“, das „Manifesto degli scienziati razzisti“ bzw. „Manifesto della razza“ veröffentlicht. Damit war die theoretische Grundlage eines bereits über lange Zeit schwelenden Rassismus im italienischen Staat geschaffen. Das Manifest kennzeichnet den Beginn der operativen Phase der Rassenkampagne in Italien, die sich allerdings nicht nur auf Juden bezog, sondern sich auch gegen andere Minderheiten richtete. Erstmals wurden die zentralen Punkte des italienischen Rassenantisemitismus festgeschrieben: die auf biologistischen Grundlagen basierende Rassendefinition (Rassen seien eine Realität, „die auf der Biologie gründen“), die Trennung der Juden als einer der italienischen Rassengemeinschaft fremden Kategorie (es gäbe eine „reine italienische Rasse“ arischen Ursprungs und „die Juden“ gehörten der „italienischen Rasse nicht“ an), die aus nicht-europäischen Rassenelementen bestehe und schließlich die explizite Festlegung der Zugehörigkeit des italienischen Volkes zur „arischen Rasse“. Der Text endete mit der Verurteilung jeglicher „Rassenvermischung“, einer Prämisse, die bereits bei den „kolonialen“ Rassengesetzen grundlegend war. Am 13. September 1938 trat das Dekret Nr. 1390 in Kraft, das alle jüdischen Schüler und Lehrer aus den öffentlichen Schulen Italiens und seiner Kolonien vertrieb; jüdische Studenten durften vorerst weiter an den Hochschulen immatrikuliert bleiben. Italien
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übernahm damit eine Vorreiterrolle gegenüber Deutschland. Das NS-Regime hatte den Schulbesuch zwar schon zuvor begrenzt und jüdische Lehrer entlassen, eine endgültige Relegierung aller jüdischen Schüler erfolgte aber erst Mitte November 1938. Das Jahr 1938 wurde zum Wendepunkt für die Juden Italiens, zunächst erfolgte am 22. August die „Judenzählung“, am 6. Oktober gab der „Große Faschistische Rat“ eine Erklärung über die Rasse ab, und am 17. November trat das Gesetz zur Verteidigung der italienischen Rasse (Provvedimenti per la difesa della razza italiana) in Kraft, das in Teilen die → Nürnberger Gesetze noch übertraf; weitere Dekrete und Maßnahmen folgten. Als „Jude“ galt fortan derjenige, der zwei jüdische Elternteile hatte (gleich ob sie getauft waren oder nicht) oder Kind eines jüdischen Vaters und einer ausländischen Mutter war bzw. von einer jüdischen Mutter mit unbekanntem Vater stammte bzw. derjenige, der einen „arischen“ Elternteil besaß, also aus einer „Mischehe“ stammte, und der jüdischen Religion angehörte. Die Kategorie „Mischlinge“ wie im nationalsozialistischen Deutschland wurde in Italien nicht eingeführt, wer aus einer „Mischehe“ stammte und nicht jüdisch erzogen wurde, galt als Italiener. Ehen zwischen Juden und Italienern waren nun verboten, Mischehen sollten annulliert werden, es durften keine „arischen“ Hausangestellten mehr beschäftigt werden, jüdische Angestellte im Verwaltungsbereich oder in Firmen von öffentlichem Interesse waren untersagt, Juden durften nicht mehr Mitglied des „Partito Nazionale Fascista“ sein; sie mussten ihr Parteibuch zurückgeben. Die Vorschriften ließen allerdings einige Ausnahmen zu, wenn es sich um „arisierte“ Personen handelte, die sich gewisse Verdienste beim Militär oder in politischen Positionen erworben hatten. Am 19. November 1938 wurden alle Juden, selbst wenn sie Verdienste um den Faschismus hatten, aus der faschistischen Partei ausgeschlossen. Dieses eindeutige Signal zwei Tage nach Einführung des „Gesetzes zur Verteidigung der italienischen Rasse“ war der vorläufige Endpunkt einer schrittweisen Entwicklung, eines kurzen, aber intensiven Prozesses, der Mussolini davon überzeugen musste, dass er erfolgreich immer schärfere Verfolgungsmaßnahmen ausarbeiten und innerhalb der Bevölkerung akzeptierbar machen konnte. Der langjährige römische Nachkriegsoberrabbiner Elio Toaff (1951–2001), der damals als Oberrabbiner in Ancona tätig war und sich 1943 in den Bergen der Versilia dem Widerstand angeschlossen hatte, schrieb 1997 im Rückblick, dass vor der Einführung der Rassengesetze in Italien kein Antisemitismus zu spüren gewesen war. Es hätte keine Unterschiede zwischen Nicht-Juden und Juden gegeben. Umso traumatischer wären die Folgen der Rassengesetze gewesen: „Denn sie stellte eine ganz spezielle italienische, wohl nahezu einmalige Erfahrung einer vollständigen Integration in der Bevölkerung, die nicht antisemitisch war, zur Disposition.“ Die Rassenpolitik hatte sich in Italien nun endgültig durchgesetzt, man unterschied zwischen der reinen „italienischen Rasse“ und den Juden, deren Zugehörigkeit zur „jüdischen Rasse“ einer speziellen Definition unterlag. Ebenso wie in Deutschland fanden sich nun an Geschäften und Gaststätten die entsprechenden Hinweise wie „arisches Geschäft“, „Juden unerwünscht“ etc., die von den Tageszeitungen kolportiert wurden und damit eine Verbreitung weit über die örtlichen Diskriminierungen hinaus erreichten. Der Vermerk „Jude“ hatte von nun an auf sämtlichen Bescheinigungen sowie auf dem Arbeitsbuch zu stehen, musste in Hotels und bei Zimmervermietungen angegeben
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werden. Bis zum 12. März 1939 mussten alle Juden, die nach dem 1. Januar 1919 einen Wohnsitz in Italien genommen hatten, das Land verlassen. Die „Abwanderung der Juden, die sich im Ausland niederlassen wollen“, sollte „mit allen Mitteln“ erleichtert werden. Mit dieser Anweisung des italienischen Innenministeriums an die Präfekten vom 28. Januar 1939 war die Zielrichtung klar vorgegeben. Die Abschiebung nach Deutschland ließ Mussolini nach Interventionen des Verbandes der Jüdischen Gemeinden Italiens und insbesondere des amerikanischen Botschafters 1939 wieder einstellen. Der Katalog diskriminierender Maßnahmen jedoch wurde fortgesetzt. Ab 1940 war es Juden verboten, sich in Haupttouristenorten aufzuhalten, ab März 1942 war jenen, die arbeitsverpflichtet waren, jegliche Ferienreise im Sommer (trasferimento estivo) untersagt, ab Dezember 1942 erfolgten erste Restriktionen in Bezug auf einen Wohnungswechsel. Nicht eingeführt wurde eine Kennzeichnungspflicht; man war überzeugt, dass Juden leicht an ihrem Namen zu erkennen seien, entsprechend wurden Regelungen bezüglich der Namengebung erlassen. Nach Einführung der Rassengesetze und dem Aufenthaltsverbot für ausländische Juden allerdings galt für Emigranten eine Art Kennzeichnungspflicht. Die Fremdenpolizei war ab Herbst 1938 angehalten, die „Rassezugehörigkeit“ in den Formularen für die Aufenthaltserklärung einzutragen. Trotz der Rassengesetze und antisemitischer Propaganda blieben gewalttätige Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung die Ausnahme und den Forderungen des Achsenpartners Deutschland, Juden auszuliefern, wurde nicht entsprochen. Bis zum 25. Juli 1943 – dem Sturz Mussolinis – und dem Waffenstillstand mit den Alliierten am 8. September 1943 verfolgte Italien weiter die Politik der Auswanderung und setzte alles daran, den Juden das Leben in Italien immer schwerer und unerträglicher zu machen, um sie in die Emigration zu zwingen. Mit der Gründung der Repubblica Sociale Italiana (RSI) im September 1943, der italienischen Sozialen Republik in Salò, die bis Rom reichte – der Süden war bereits von den Alliierten befreit, verschärfte sich das Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung Italiens. Italienische Antisemiten, die bisher nur zeitweise über Einfluss verfügt hatten, rückten nun in das Zentrum des politischen Geschehens, das vom nationalsozialistischen Deutschland beeinflusst war. Die Radikalisierung der Politik gegen die Juden gipfelte im Manifest des „Partito Fascista Repubblicano“ vom 14. November 1943; Juden wurden nun gänzlich aus der italienischen Gesellschaft ausgeschlossen und galten als Feinde. Eine Verfügung des Innenministeriums der Repubblica Sociale Italiana bestimmte die Einweisung aller Juden in Konzentrationslager. In den Operationszonen „Alpenvorland“ und „Adriatisches Küstenland“ im Norden Italiens, die von der Wehrmacht besetzt worden waren und seit September 1943 de facto unter deutscher Verwaltung standen, galten die NS-Rassengesetze.
Literatur
Juliane Wetzel
Enzo Collotti, II fascismo e gli ebrei. Le leggi razziali in Italia, Rom, Bari 2003. Kai Kufeke, Rassenhygiene und Rassenpolitik in Italien. Der Anthropologe Guido Landra als Leiter des „Amtes zum Studium des Rassenproblems“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10 (2001), S. 265–286. Carlo Moos, Ausgrenzung, Internierung, Deportation. Antisemitismus und Gewalt im späten italienischen Faschismus (1938–1945), Zürich 2004.
Jewish Naturalization Act (1753)
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Juliane Wetzel, Der Mythos des „braven Italieners“. Das faschistische Italien und der Antisemitismus, in: Hermann Graml, Angelika Königseder, Juliane Wetzel (Hrsg.), Vorurteil und Rassenhaß. Antisemitismus in den faschistischen Bewegungen Europas, Berlin 2001, S. 49–74.
Jenninger-Fall → Fall Jenninger Le Jeudi noir → Vélodrome d’Hiver-Razzia (1942) Jew Bill → Jewish Naturalization Act (1753)
Jewish Naturalization Act (1753) Im Frühjahr 1753 wurde die Gesetzesvorlage „Jewish Naturalization Act“, die Juden im Geiste religiöser Toleranz die Einbürgerung ermöglichen sollte, im englischen Parlament von Premierminister Henry Pelham und der Whig-Regierung eingebracht, im Ober- und Unterhaus ohne größeren Widerstand verabschiedet und im Mai 1753 von der Krone anerkannt. Nach einer beispiellosen antijüdischen Pressekampagne hob jedoch das britische Parlament im Dezember 1753 das nun als „Jew Bill“ diffamierte Gesetz wieder auf. Die Frage einer Liberalisierung der Einbürgerung stand seit dem 17. Jahrhundert wiederholt auf der Agenda des englischen Parlaments. 1709 war bereits ein liberales Einbürgerungsgesetz in Kraft getreten, das kurz danach wieder aufgehoben wurde. 1740 bewilligte das britische Parlament Juden und Angehörigen protestantischer Sekten, nicht aber Katholiken in den britischen Kolonien nach sieben Jahren Aufenthalt die Staatsbürgerschaft. Der Versuch aber, für Juden die Bürgerrechte Londons zu erlangen, wurde abgewiesen, und auch in Irland scheiterte 1746 ein entsprechendes Einbürgerungsgesetz. Die sephardische Gemeinde Londons sandte im Januar 1753 ein Memorandum für die Einbürgerung von Juden an den Herzog von Newcastle, den Bruder des Premierministers. Die Oberschicht der sephardischen und aschkenasischen Gemeinden in London bildeten jüdische Kaufleute, in den Provinzstädten formten die meist mittellosen aschkenasischen Juden aus Osteuropa und Deutschland, häufig Hausierer und Altkleiderhändler, neue jüdische Gemeinden. Mindestens die Hälfte der etwa 8.000 Juden in Großbritannien war im Ausland geboren. Im Ausland geborene Juden durften kein Land besitzen, waren vom Kolonialhandel ausgeschlossen oder mit extra Steuern und Zöllen belegt, ihnen konnte jederzeit die Ausweisung angedroht werden. Auch die in Großbritannien geborenen Juden durften nicht wählen, nicht für öffentliche Ämter aufgestellt werden oder Universitätsabschlüsse ablegen. Der „Jewish Naturalization Act“ erlaubte Juden, die seit mindestens drei Jahren in England und Irland lebten, die schwerfällige und kostspielige Prozedur der Einbürgerung auf dem Wege einer Petition an das Parlament unter Leistung der Treueide, des Huldigungs- und des Suprematseids sowie einer parlamentarischen Befragung, jedoch ohne die Bedingung des Sakraments in einer protestantischen Kirche zu absolvieren. Ihre Reichweite blieb aber auf wohlhabende Juden beschränkt. Bei der zweiten, einfacheren und weniger kostspieligen Form einer eingeschränkten Staatsbürgerschaft durch einen Patentbrief, die Denization, blieben einschneidende erbrechtliche, wirtschaftliche
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Juden ohne Maske
und politische Beschränkungen bestehen: u.a. Ausschluss von der Mitgliedschaft in Handelskompanien, Nachteile im Überseehandel und im Erbrecht. Der einsetzende Aufruhr gegen das Gesetz, zunächst als Angriff der Tory-Opposition gegen die Regierung, wohl auch mit Blick auf die bevorstehenden Parlamentswahlen angestiftet und als antijüdische Kampagne geschürt, brachte in den folgenden Monaten ein enormes Ausmaß judenfeindlicher Propaganda und Hetze zum Vorschein: Stereotype des traditionellen Antijudaismus bis hin zum Vorwurf des Ritualmords oder des Gottesmords fanden sich in einer Flut von Karikaturen, Petitionen, Pamphleten, Flugblättern, Presseartikeln und Balladen wieder. Zudem wurden Prophezeiungen und Visionen eines jüdisch beherrschten Königreiches phantasiert und Gerüchte in Umlauf gebracht, wonach der St. Pauls Kathedrale in London die Umwandlung in eine Synagoge drohen und England die Überflutung mit Antichristen bevorstehen würde, oder dass bald an jeder Straßenecke eine Synagoge zu finden sei. Gewaltakte unterblieben, wenn auch einige prominente Juden in der Öffentlichkeit verbal attackiert wurden. Die Anfeindungen und Diffamierungen der „Jew Bill“ trugen in der anglikanischen Hochkirche insbesondere ihr konservativer Flügel und der gering entlohnte ländliche Klerus. Die konservativen anglikanischen Gesellschaftskreise Londons sahen in Juden Geschäftsrivalen, gegen die sie die Alleingültigkeit des christlichen Glaubens ins Feld führten. Die Londoner Stadtherren zählten zu den schärfsten Kritikern der „Jew Bill“. Die lautstarke Kampagne, die die Beherrschung Englands durch einwandernde Juden an die Wand malte, erzwang die Rücknahme des Gesetzes. Als nun in erstaunlicher Geschwindigkeit die notwendigen parlamentarischen Schritte durchlaufen waren und das Gesetz aufgehoben war, verschwand auch nahezu über Nacht die Hetze gegen Juden in den Tory-Zeitungen. Die von offener Judenfeindschaft getragene Auseinandersetzung um den „Jewish Naturalization Act“ war eines der wenigen Beispiele in der britischen Geschichte, in dem Juden im Zentrum einer diffamierenden politischen Debatte dieses Ausmaßes standen.
Literatur
Monika Schmidt
Todd M. Endelman, The Jews of Britain, 1656 to 2000, Berkeley, Los Angeles, London 2002. Frank Felsenstein, Anti-semitic Stereotypes. A paradigma of otherness in English popular culture, 1660–1830, Baltimore, London 1995. Robert Liberles, The Jews and Their Bill: Jewish Motivations in the Controversy of 1753, in: Jewish History 2 (1987), 2, S. 29–36. Thomas W. Perry, Public Opinion, Propaganda, and Politics in Eighteenth-Century England. A Study of the Jew Bill of 1753, Cambridge 1962. William D. Rubinstein, A history of the Jews in the English-speaking world: Great Britain, Basingstoke u. a. 1996.
Jødefejde → Judenfehde und Hepp-Hepp-Unruhen in Dänemark (1813, 1819) Juden ohne Maske → „Der ewige Jude“ (Propaganda-Ausstellung)
Judeneid
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Juden-Edikt des Großen Kurfürsten → Preußische General-Juden-Reglements (1730 und 1750)
Judeneid In zahlreichen deutschen Territorien galt für Juden mit dem sogenannten Judeneid eine besondere Diskriminierung vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Der Judeneid bot neben dem → Leibzoll und Niederlassungsbeschränkungen eine der stärksten Schikanen gegen Juden. Da das Beweisrecht ein Spiegelbild kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Bedingungen ist, verdeutlicht es in besonderer Weise die Ausprägung von Judenfeindschaft. Die konkrete Ausgestaltung des Judeneides divergierte zeitlich und regional. Der Judeneid bestand jedoch in der Regel aus drei Teilen. Zunächst erfolgte eine Unschuldsbeteuerung, daraufhin die Anrufung Gottes und zuletzt die Selbstverfluchung bei Meineid unter Berücksichtigung der damit in Zusammenhang stehenden Strafen aus dem Alten Testament. Der Selbstverfluchungsteil war meist besonders lang, herabwürdigend und diskriminierend. Äußerst entehrend war der Judeneid im Schwabenspiegel von vermutlich um 1275, wonach Juden bei der Eidesleistung zu ihrer Verhöhnung auf einer Sauhaut stehen mussten. Bestimmend für die Frühe Neuzeit war der Judeneid aus der Ordnung „belangend den Gerichtlichen Prozeß des Kayserl. Cammer=Gerichts“ von 1538, der in die Reichskammergerichtsordnung von 1555 übernommen wurde und über den Reichsabschied von 1654 Eingang in entsprechende Ordnungen der Territorien fand. Festgelegt war der Judeneid in den reichs- und zahlreichen territorialrechtlichen Ordnungen, durch die der völlig haltlose Verdacht bestand, dass nach jüdischem Gesetz ein einem anderen Glaubensangehörigen gegenüber geleisteter Eid keine Gültigkeit habe. Zudem wurden Juden in den Ordnungen grundlos beschuldigt, dass sie sich nachträglich vom Eid durch Rabbiner lösen lassen könnten. Es lag den Eiden die antisemitische Vorstellung des betrügenden und lügenden Juden zugrunde, und die Formeln trugen das Gepräge eines vorausgesetzten Misstrauens gegen die Wahrheitsliebe von Juden in sich. Kaiser Joseph II. (1741–1790), der ansonsten zumindest ansatzweise die Judenemanzipation förderte, mahnte eine strenge Einhaltung des Judeneides an. Nach der Beseitigung des Judeneides 1869/1871 wurde die Thematik der „Glaubwürdigkeit des jüdischen Eides“ immer wieder aufgegriffen. Der Antisemit Hermann Ahlwardt (1846–1914) warf in seiner Schrift „Der Eid eines Juden“ dem Bankier Gerson von Bleichröder (1822–1893) vor, falsche Eide zu leisten. Vor Ausbruch des → Ersten Weltkrieges, als Juden weiter um den Zutritt zum Offizierskorps kämpfen mussten, wurden in dem von Hans Groß (1847–1915) herausgegebenen „Archiv für Kriminalanthropologie“ unter dem Deckmantel eines „Gelehrtenstreits“ zahlreiche Abhandlungen veröffentlicht, wonach es Juden erlaubt sei, gegen Andersgläubige einen Schwur zu brechen oder Meineide zu leisten. Auf diese Weise sollte der Treueid jüdischer Soldaten entwertet werden. Trotz der von Groß mitverantworteten antisemitischen Hetze vergibt der Landesverband Brandenburg des „Bundes Deutscher Kriminalbeamter“ seit 2009 einen Hans-Groß-Preis. Die Nationalsozialisten knüpften an die seit Jahrhunderten bestehende Agitation gegen den Eid von Juden an. Der NS-Ideologe Alfred Rosenberg (1893–1946) hetzte im
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Judenfehde und Hepp-Hepp-Unruhen in Dänemark (1813, 1819)
„Mythus des 20. Jahrhunderts“ gegen Eide durch Juden, und 1936 erschien im Stürmer-Verlag das antisemitische Kinderbuch „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid“ von Elvira Bauer. Zurückzuführen war dieser Buchtitel auf die Aussage Martin Luthers (1483–1546): „Trau keinem Wolf auf wilder Heiden. Auch keinem Juden auf seine Eiden“. Die rassistische „Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten“ von 1941 bestimmte diskriminierend: „Polen und Juden werden in Strafverfahren nicht beeidigt“.
Literatur
Hannes Ludyga
Oda Cordes, Prozeßrecht im Dienste eines Vorurteils: Der Judeneid, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 11 (2002), S. 13–30. Binjamin Segel, Der Judeneid, in: Ost und West 14 (1914), Sp. 481–490. Thomas Vormbaum, Der Judeneid im 19. Jahrhundert vornehmlich in Preußen. Ein Beitrag zur juristischen Zeitgeschichte, Berlin 2006. Volker Zimmermann, Die Entwicklung des Judeneids. Untersuchungen und Texte zur rechtlichen und sozialen Stellung der Juden im Mittelalter, Frankfurt am Main 1973.
Judenfehde und Hepp-Hepp-Unruhen in Dänemark (1813, 1819) Die Konflikte von 1813 und 1819 stellen eine entscheidende Zäsur im Umgang der dänischen Gesellschaft mit der „Judenfrage“ dar. Seit den 1780ern hatten aufgeklärte Reformbürokraten und jüdische Kaufleute gemeinsam die rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Einbindung der Juden vorangetrieben. Dieser Prozess war anfangs kaum in Frage gestellt und nicht an Vorbedingungen geknüpft worden und stand nun mit der Arbeit am Emanzipationsgesetz von 1814 kurz vor seinem vorläufigen Abschluss. Der historische Kontext der zunächst publizistischen, dann auch gewalttätigen Proteste war die massive Krise des Landes, die mit der Niederlage gegen Großbritannien einsetzte: Das mit Napoleon verbündete Dänemark verlor 1807 seine gesamte Handelsflotte, der Überseehandel versiegte als primäre nationale Einkommensquelle, und eine verfehlte Finanzpolitik führte gemeinsam mit den enormen Kosten eines stehenden Heeres zur Zahlungsunfähigkeit des Staates im Januar 1813. Staatsbankrott, Währungsverfall und Kaufkraftverlust bedingten ein hohes Maß an sozialer Unsicherheit und innergesellschaftlichen Spannungen, wobei die mit dem Krieg einhergehende patriotisch-nationale Euphorie einen erheblichen Dämpfer durch Abtretung Norwegens 1814 erlitt. Nachdem bereits in den Jahren zuvor Schriften u.a. des dänischen Theologen und Regierungsbeamten C.F. von Schmidt-Phiseldek zentrale antijüdische Topoi eingeführt hatten, setzte die eigentliche „Literarische Judenfehde“ Mitte Mai 1813 ein: Für etwa drei Monate erschien nahezu täglich eine neue Veröffentlichung, von anspruchsvolleren Abhandlungen über meist eher kurzlebige Zeitschriften bis hin zu schnell zusammengeschriebenen Pamphleten, Übersetzungen älterer Schriften, Schmähliedern und Predigten. Unmittelbarer Auslöser des Broschürenkampfes war die von Thomas Thaarup besorgte Übersetzung von Friedrich Buchholtz’ judenfeindlicher Schrift „Moses und Je-
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sus“ (1803). Während Buchholtz meinte, der Dienst im preußischen Militär würde den Juden ihr Streben nach Reichtum und Weltherrschaft austreiben, betonte der anerkannte und als reformfreundlich geltende Dichter den unabänderlichen und religiös verwurzelten Nationalcharakter der Juden: „Eigennutz, Grausamkeit, und Faulheit ist das Charakteristikum dieser Nation seit ihrer Anfänge“. Thaarups diffuses und widersprüchliches Plädoyer für eine massive Einschränkung der wirtschaftlichen und rechtlich-gesellschaftlichen Spielräume der Juden wurde von zahlreichen Autoren aufgegriffen. Die Frage der rechtlichen Gleichstellung spielte dabei kaum eine Rolle. Im Vordergrund stand vielmehr der Vorwurf, dänisch-jüdische Bankiers und Großkaufleute hätten sich nicht nur durch die betrügerische Ausfuhr von Edelmetallen und andere Spekulationen bereichert, sondern durch ihren Zugang zu den Korridoren der Macht auch eine ruinöse Geldpolitik und damit letztlich die nationale wirtschaftliche Krise verursacht. Diese konkreten Schuldzuweisungen wurden von prominenten Theologen wie Christian Bastholm und Otto Horrebow mit Hasstiraden verflochten, die auf tradierte judenfeindliche Stereotype rekurrierten, den Juden zudem jegliche Kulturfähigkeit absprachen und dies nicht selten mit einer Parasitenmetaphorik verbanden: die Juden gehörten zu jenen Insekten, die sich nie ganz ausrotten lassen würden, sie würden wie eine parasitäre Schlingpflanze den Baumstamm umschlingen und aussaugen, bis er ausgemergelt und von innen aufgefressen in sich zusammenfalle. Von nichtjüdischer Seite trat insbesondere der Jurist Johan Hendrich Bärens, aber auch der Dichter Henrik Baggesen diesen Angriffen entgegen. Von jüdischer Seite verwiesen Autoren wie Gottlieb Euchel darauf, man sei seit über zwei Jahrzehnten erfolgreich um die „Veredelung“ der jüdischen Gemeinde bemüht, habe dem partikularistischen und abergläubigen „Talmudismus“ abgeschworen und verstehe sich als loyale Dänen. Die von den Gemeinderepräsentanten der Regierung vorgetragene Sorge, diese Hasstiraden könnten sich in Gewalt entladen, erwies sich als begründet: Im September 1819 fanden in Kopenhagen und einer Reihe dänischer Städte „Hepp-Hepp-Krawalle“ statt. Von ihren Meistern ermutigt und von Flugblättern angestachelt, die an die Judenfehde anknüpften und dem „Judenkönig“ seine integrationsfreundliche Politik vorwarfen, griffen vor allem Gesellen und Lehrlinge jüdische Bürger und Geschäfte an. Die blutigen Ausschreitungen währten über eine Woche und konnten nur durch den massiven Einsatz der berittenen königlichen Garde und der Verhängung drakonischer Gefängnisstrafen beendet werden. Die dänische Regierung ließ sich von diesen Widerständen in ihrer emanzipationsfreundlichen Politik kaum beirren, der Prozess gesellschaftlicher Inklusion verband sich jedoch in den Folgejahren mit einem wachsenden Assimilationsdruck.
Literatur
Thorsten Wagner
Moses og Jesus eller om Jødernes og de Christnes intellektuelle og moralske Forhold, en historisk-politisk Afhandling af Friedrich Buchholtz, oversat med Forerindring af Thomas Thaarup, [Moses und Jesus, oder über das intellektuelle und moralische Verhältnis der Juden und Christen, eine historisch-politische Abhandlung von Friedrich Buchholtz, übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Thomas Thaarup], Kopenhagen 1813.
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Judenflinten-Prozess
Judenflinten-Prozess Der „Judenflinten-Prozess“ ist der wichtigste durch Hermann Ahlwardt ausgelösten Sensationsprozesse und bildete zugleich den Höhepunkt seiner öffentlichen Wirksamkeit. Er führte zu einer großen öffentlichen Debatte um das Verständnis von Staat, Recht und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Anfang April 1892 erschien Ahlwardts Broschüre „Neue Enthüllungen – Judenflinten“ beim Dresdner Verlag F. W. Glöß. Darin wurde behauptet, dass die Berliner Gewehrfabrik Ludwig Loewe als Teil einer von der „Alliance Israélite Universelle“ in Paris gesteuerten Verschwörung dem deutschen Heer über 400.000 schadhafte Gewehre geliefert habe. Hauptbeschuldigte waren der jüdische Fabrikbesitzer Isidor Loewe und der christliche Waffeninspektor Kühne. Die im Stil eines Sensationsberichtes verfasste Broschüre erlebte mehr als 30 Auflagen und wurde über 100.000 Mal verkauft. Ende Mai 1892 dementierte der Preußische Kriegsminister Georg von Kaltenborn offiziell die Vorwürfe Ahlwardts. Da er für einige Armeeangehörige Strafantrag wegen Beleidigung gestellt hatte, ebenso wie Loewe und Kühne, beantragte die Staatsanwaltschaft die Beschlagnahme der Broschüre (von der inzwischen ein zweiter Teil erschienen war) und die Verhaftung Ahlwardts, die jedoch erst Anfang Juni 1892 erfolgte. Kurz darauf wurde Ahlwardt gegen 10.000 Mark Kaution aus der Untersuchungshaft entlassen, nach der Erhöhung der Kautionssumme auf 50.000 Mark jedoch erneut verhaftet. Doch auch diese Summe konnte durch eine von der „Staatsbürger-Zeitung“ initiierte Sammlung aufgebracht werden, sodass Ahlwardt am 1. Juli entlassen wurde; Anfang Oktober wurde er schließlich wegen öffentlicher Verleumdung und Beleidigung angeklagt. Nachdem die viermonatige Haftstrafe aus einem anderen Gerichtsverfahren gegen Ahlwardt rechtskräftig geworden war, wurde er Ende Oktober 1892 zur Strafverbüßung erneut inhaftiert. Die Hauptverhandlung fand vom 29. November bis 9. Dezember 1892 statt. Obwohl das Gericht bereits sehr viele Zeugen (u.a. Moritz Lazarus) geladen hatte, stellte die Verteidigung ständig neue Beweisanträge und benannte weitere Zeugen (u.a. Carl Paasch), um den Prozess zu verschleppen, da Ahlwardt die Aussicht hatte, in den Reichstag gewählt zu werden und dann von der Immunität als Abgeordneter profitieren würde. Den für seine autoritäre Verhandlungsführung gegenüber Angeklagten aus der Arbeiterbewegung berüchtigten Vorsitzenden Richter Robert Georg Brausewetter bezeichnete Hellmut von Gerlach als „Blutrichter, der als Verrückter jahrelang amtiert hat“. Auch Ahlwardt musste Brausewetters Missachtung erfahren, obwohl er beständig seine monarchisch-konservative Haltung beteuerte. Gegen das Urteil von fünf Monaten Gefängnis wegen Beleidigung legte Ahlwardt Revision ein. Da er am 5. Dezember die Stichwahl im Reichstagswahlkreis Arnswalde-Friedeberg als parteiloser Kandidat gewonnen hatte, beantragte Liebermann von Sonnenberg Ahlwardts Immunität, die gegen die Stimmen der Links- und Nationalliberalen gewährt wurde. Zwar wurde Ahlwardt trotzdem nicht aus der Haft entlassen, weil die Immunität nicht auf eine bereits laufende Strafvollstreckung angewandt werden konnte, aber das Verfahren wegen der „Judenflinten“-Broschüren wurde für die Dauer der laufenden Reichstags-Session eingestellt. Erst während der Sitzungspause im September 1893 verwarf das Reichsgericht den Revisionsantrag, sodass Ahlwardt die Strafe vom 4. Oktober 1893 bis 6. März 1894 verbüßen musste. Ein u.a. von Otto Boeckel eingebrachter
Judenflinten-Prozess
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Antrag, ihn nach dem Beginn der nächsten Sitzungsperiode des Reichstags im November 1893 wieder aus der Haft zu entlassen, war mangels Unterstützung zurückgezogen worden. Die vielfach zu lesende Behauptung, Ahlwardt habe seine Strafe aus dem „Judenflinten-Prozess“ nicht verbüßen müssen, ist daher unzutreffend. Der „Judenflinten-Prozess“ wurde in der Presse äußerst kontrovers diskutiert. Einige konservative Blätter forderten ein entschiedenes Vorgehen gegen Ahlwardt, während die liberalen Zeitungen darin nur einen Vorwand erblickten, die Pressefreiheit einzuschränken. Die Antisemiten beklagten einmal mehr die angebliche „Verjudung“ der Justiz. Paul Förster kritisierte aus dieser Perspektive grundsätzlich den Obrigkeitsstaat, denn die „Pflicht des guten Staatsbürgers ist nicht der Gehorsam allein und das Vertrauen in die Obrigkeit; sondern er soll auch an dem Staatswesen frei mitarbeiten und um dessen wirthschaftlichen und sittlichen Bestand sich sorgen.“ Die Verteidigung des Staates nach innen und außen, so Förster weiter, sei nicht nur die Aufgabe der „Wehrleute in des Königs Rock“, sondern müsse auch von „des Rechtes Wehrleuten im bürgerlichen Kleide“ wahrgenommen werden. Nicht nur Partei-Antisemiten, sondern auch der nationalliberale, von judenfeindlichen Ressentiments allerdings nicht freie Jurist Otto Bähr kritisierten die voreingenommene Verhandlungsführung des Vorsitzenden Richters scharf. Die liberale „NationalZeitung“ beklagte, dass der Strafprozess durch Ahlwardt „zu einem Mittel der Agitation herabgewürdigt“ worden sei. Die „Frankfurter Zeitung“ bescheinigte dagegen der Regierung einerseits politisches Versagen, hätte „der unerhörte Schwindel“ doch „in seinen Anfängen unterdrückt werden können“; andererseits bestand sie aber auch darauf, die „Stimme dagegen zu erheben, daß er [Ahlwardt] auch nur um Haares Breite am Rechte verkürzt werde“. Die sozialdemokratische Presse verglich die parteiische Prozessführung gegen Ahlwardt mit ihren eigenen Erfahrungen unter dem Sozialistengesetz. Die „Allgemeine Zeitung des Judenthums“ schließlich zeigte sich optimistisch, da die Angriffe Ahlwardts auf Armee und Justiz „den Juden plötzlich Verbündete gebracht“ hätten, nämlich die Konservativen. Das war jedoch eine Illusion, hatten die Konservativen doch auf dem zeitgleich zum „Judenflinten-Prozess“ stattfindenden „Tivoli“-Parteitag einen antisemitischen Passus in ihr Parteiprogramm aufgenommen. Neben einem breiten Presseecho war der „Judenflinten-Prozess“ auch Gegenstand zahlreicher Publikationen, in denen sich Gegner und Befürworter Ahlwardts ebenso zu Worte meldeten wie militärische Fachleute. Dieser Prozess geriet so zu einem Justizskandal und zeigte in typischer Weise die Reaktion des Wilhelminischen Staates auf die antisemitische Agitation. Gegen diese wurde nur punktuell vorgegangen, wobei das Ziel nicht der Schutz der Juden und die Bekämpfung der Judenfeindschaft war, sondern die Verteidigung des Ansehens der Armee und die Wahrung der Staatsautorität. Dieses autoritäre Verständnis von Politik und Gesellschaft rief jedoch parteiübergreifenden Protest hervor und zeigte, wie brüchig die Legitimation des Wilhelminischen Obrigkeitsstaates war.
Literatur
Christoph Jahr
Der Judenflinten-Prozess, in: Hugo Friedländer, Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 1, Berlin 1910, S. 137–150 [neu ediert in: Gideon Botsch,
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Judenmord von Payerne (1942)
Christoph Kopke (Hrsg.), Mörder, Verräter, Attentäter. Gerichtsreportagen aus dem Kaiserreich, Berlin 2008, S. 211–222]. Christoph Jahr, Ahlwardt on Trial: Reactions to the Antisemitic Agitation of the 1890s in Germany, in: Leo Baeck-Institute Year Book 48 (2003), S. 67–85.
Judenmord von Payerne (1942) Der jüdische Viehhändler Arthur Bloch aus Bern besuchte rund dreißig Jahre lang die Viehmärkte der Schweiz. Am 16. April 1942 fuhr er frühmorgens auf den Viehmarkt in der Kleinstadt Payerne im Kanton Waadt. Am Nachmittag entdeckte der Bahnhofvorstand, dass die von Bloch gekauften Tiere festgebunden und verlassen beim Güterbahnhof standen. Der Berner Viehhändler blieb verschwunden. Eine Woche später fand ein junger Bauer in einer Waldhöhle, wenige Kilometer außerhalb von Payerne, die blutgetränkten Kleider des Vermissten sowie die leere Brieftasche nebst einigen Werkzeugen. Zwei in der Nähe wohnhafte Knaben bezeugten, dass sie Tage vor dem Verschwinden Blochs zwei Männer auf einem Motorrad beobachtet hätten, die Schaufel und Pickel auf der Schulter trugen. Die Polizei identifizierte den Motorradfahrer als Fernand Ischy und verhaftete daraufhin fünf Männer, alle Mitglieder der lokalen Sektion der verbotenen „Nationalen Bewegung der Schweiz“ (NBS). Ihr Anführer Fernand Ischy, Angestellter in der Autogarage seiner Brüder, gestand nach kurzem Leugnen. Er wies den Polizisten den Weg zur Leiche, die in drei Milchkannen gesteckt im nahe gelegenen Neuenburger See lag. Ischy hatte seinen Kameraden knapp drei Wochen vor der Tat berichtet, er habe von Philippe Lugrin, ehemaliger Pastor, militanter Antisemit und informeller Anführer der Waadtländer Nazis, den Auftrag erhalten, zur Abschreckung einen Juden zu töten; der Befehl komme „von ganz oben“, auch weitere Gruppen würden zur Tat schreiten. Ischy überzeugte vier Mitglieder der lokalen Nazigruppe, einen Automechaniker-Lehrling, einen Metzger und zwei Brüder, die gemeinsam einen Hof führten. Sie einigten sich darauf, beim nächsten Viehmarkt am Vortag einen jüdischen Viehhändler aus Basel zu beseitigen, doch dieser war nicht am Ort. Am Markttag lungerten zwei, manchmal drei Tatwillige auf dem Markt herum, bis sie nach Stunden Arthur Bloch ansprachen und ihn mit dem Hinweis auf einen verkaufswilligen Bauern in einen nahe gelegenen Kuhstall lockten. Nach längerem Zögern schlug der Metzger Bloch mit einem Eisenstab nieder, der Lehrling schoss ihm noch eine Kugel in den Kopf. Der Metzger zerlegte die Leiche. Zwei Täter fuhren die Leiche in den Milchkannen zum Neuenburger See und versenkten die Kannen im Wasser, die Kleider des Ermordeten versteckten sie in der Waldhöhle. Das Bezirksgericht Payerne verurteilte die Täter im Februar 1943 wegen Mordes, dreimal zu lebenslänglich, einmal zu 20, einmal zu 15 Jahren Gefängnis. Der Anstifter Lugrin floh mehrere Tage nach der Verhaftung der Täter mit Hilfe des deutschen Konsulates in Lausanne nach Frankreich. Zuerst arbeitete er in Paris als Journalist, später in Frankfurt am Main beim antisemitischen „Welt-Dienst. Zeitschrift für die Judenfrage“. Nach Kriegsende wurde er in München von US-Soldaten verhaftet und an die Schweiz ausgeliefert. Das Bezirksgericht Payerne verurteilte ihn im Juni 1947 wegen Anstiftung zum Mord zu 20 Jahren Gefängnis.
Judenordnungen
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Der Mord an Arthur Bloch war das schwerste antisemitische Verbrechen in der Schweiz im 20. Jahrhundert. Die Behörden, u.a. der Bundesrat und die Pressezensur, bemühten sich, auch aus Rücksicht auf NS-Deutschland, bereits unmittelbar nach der Tat das antisemitische Motiv zu kaschieren. In Payerne wollte man „den bedauerlichen Zwischenfall“ schnell wieder vergessen. Als 35 Jahre später der Filmer Yvan Dalain und der Journalist Jacques Pilet für einen Film recherchierten, stießen sie auf Abwehr und Ignoranz. Und als im Winter 2009 Jacques Chessex, geboren und aufgewachsen in Payerne und inzwischen der bedeutendste Schriftsteller der französischsprachigen Schweiz, einen Roman über den Judenmord veröffentlichte, wurde er angefeindet und sein Werk von den lokalen Behörden ignoriert. Chessex’ Vorschlag, einen Platz nach dem Ermordeten zu benennen oder zumindest eine Gedenktafel anzubringen, wurde vom Gemeindeparlament abgelehnt. Nach langem Zögern verabschiedete das Parlament Anfang Mai 2009 eine Erklärung, wonach die Schuldigen bestraft worden seien, aber auch die „Arbeit des Erinnerns, damit die Wachsamkeit jederzeit erhalten bleibt“, bedeutsam sei.
Literatur
Hans Stutz
Jacques Chessex, Ein Jude als Exempel, Zürich 2010. Jacques Pilet, Yvan Dalain, Analyse d’un crime, Fernseh-Dokumentarfilm, Genf 1977. Jacques Pilet, Le crime nazi de Payerne, Lausanne 1977. Hans Stutz, Der Judenmord von Payerne, Zürich 2000.
Judenordnungen Mittelalterliche und frühneuzeitliche Judenordnungen wurden in allen Königreichen, reichsunmittelbaren Fürstentümern und Herrschaften, in denen Juden lebten, erlassen. Sie galten für eine Gruppe der ständischen Gesellschaft und sind ihrer rechtlichen Qualität nach zu vergleichen mit den Ordnungen, die für andere Gruppen erlassen worden sind: mit Dorf- und Gemeindeordnungen, Gerichts- und Städteordnungen oder mit den Statuten der Universitäten. Die Judenordnungen waren häufig, aber nicht ausschließlich, von gehässigen, antijüdischen Ressentiments beeinflusst. Über die Regelungen der ständischen und religiösen Angelegenheiten hinaus wurden Bestimmungen erlassen, die entwürdigende Formalien bei der Eidesleistung, die Anordnung von Kennzeichnungen oder das Verbot der Niederlassung in bestimmten Wohnvierteln enthielten. Selbst unter diesen Umständen gehören die Bestimmungen in den Zusammenhang der ständischen Rechtsordnung, in der den einzelnen Gemeinschaften von der Herrschaft oder – in der Neuzeit – der Obrigkeit die Regeln gesetzt wurden, nach denen sie ihre gemeinsamen Angelegenheiten zu ordnen, Gericht zu halten, Vorsteher zu wählen, Abgaben und Steuern einzuziehen, Rechnungen zu legen, das Personenstandswesen zu ordnen hatten. Das Prinzip dieser Ordnungen war nicht Ausgrenzung, sondern die Zuweisung eines definierten Rechtskreises an Gruppen der ständischen Gesellschaft. Sie waren Bestandteil der Rechtsordnung des Ancien Régime. Grundlegend davon unterschieden sind die „Judenordnungen“, die in den souveränen modernen Staaten des 19. oder gar noch des 20. Jahrhunderts erlassen oder beibehalten wurden. Diese fallen aus dem Rahmen der bestehenden Rechtsordnung. Nach-
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Judenordnungen
dem die Staaten alle anderen, nichtstaatlichen Gerichte und Obrigkeiten mediatisiert und schließlich beseitigt hatten, wurde eine einheitliche Staatsbürgergesellschaft hergestellt. Jetzt waren besondere Judenordnungen ein Verstoß gegen das Prinzip der Rechtseinheit und Rechtsgleichheit. Sie etablierten ein Sonderrecht, das nur für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe galt. Im Gegensatz zu den Ordnungen, die im Ancien Régime für verschiedene ständische Gruppen erlassen wurden, ist mit diesen modernen Ordnungen auf der Grundlage nicht juristischer, sondern politischer Entscheidungen die Ausgrenzung einer Minderheit betrieben worden, der ein Teil der staatsbürgerlichen Rechte vorenthalten wurde.
Die Judenordnungen der ständischen Gesellschaft Die Rechtsstellung der Juden und der Kaufleute in der mittelalterlichen Gesellschaft war ähnlich, weil beide Gemeinschaften überregional auf Schutz angewiesen waren. Mit den Privilegien für die Juden von Worms und Speyer setzte 1090 Kaiser Heinrich IV. Maßstäbe, nach denen die jüdischen Gemeinden bis in das 13. Jahrhundert ihre Angelegenheiten regelten. Daraus ist aber nicht generell zu schließen, dass die Juden unmittelbar zum Reich waren. In Speyer etwa hatten die Juden bereits 1084 ein Privileg des Bischofs Ruotger erhalten; die Rechte des Bischofs gegenüber den Juden wurden vom Kaiser 1090 ausdrücklich bestätigt. Auch über die Würzburger Juden, die kein königliches Privileg erhielten, entschied und urteilte in Streitfällen der Bischof. Den besonderen Königsschutz bestätigten die Landfrieden, die seit dem 12. Jahrhundert zwischen König und Reichsfürsten geschlossen wurden. 1103 bereits beschworen Kaiser Heinrich IV. und zahlreiche Fürsten in Mainz einen mehrjährigen Frieden zum Schutz von Kirchen und Klerus, Kaufleuten, Frauen und Juden. Kaiser Friedrich I. bestätigte diesen Landfrieden im Jahre 1157. Kaiser Friedrich II. anerkannte 1236 die Privilegien der Juden und bezeichnete sie erstmals als seine „Kammerknechte“ (servi camere nostre). Ähnlich wie beim Klerus wird heute vermutet, dass der besondere Schutz der Juden im Rahmen der Landfriedensordnungen dazu führte, dass ihnen damit auch das Recht der gewaltsamen Selbstverteidigung genommen und das Tragen von Waffen verboten wurde. Zur selben Zeit führte der wachsende Einfluss des römischen Rechts dazu, Herrschaftsverhältnisse zunehmend eigentumsrechtlich zu definieren. Die Bezeichnung der Juden als königliche Kammerknechte wurde als uneingeschränkte Verfügungsgewalt über sie interpretiert, sodass der Herrscher ihnen nach Belieben Abgaben auferlegen und sogar ihr Vermögen konfiszieren konnte. Die faktische Herrschaft über die Juden übten nicht die Könige aus, sondern die Fürsten. Deren „Regal“ (Reichsrecht) über die Juden wurde in der Goldenen Bulle 1356 bestätigt. Das schließt nicht aus, dass die Juden, schon wegen ihrer überregionalen Geschäftsbeziehungen, in Streitfällen nicht nur ihre landesherrlichen Gerichte anriefen. Sie wandten sich an die kaiserlichen Landgerichte, die im 13. Jahrhundert im Rahmen der Landfriedensordnungen errichtet worden waren, und an den königlichen Hofrichter, der entsprechend den Bestimmungen des Mainzer Reichslandfriedens 1235 eingesetzt worden war. Nach der Errichtung des Reichskammergerichts 1492 und der Reform des Reichshofrates 1497/98 appellierten Juden und jüdische Gemeinden an diese beiden höchsten Reichsgerichte.
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Wenn es auch Versuche der Reichsoberhäupter gegeben hat, noch in der Neuzeit an die „Kammerknechtschaft“ der Juden zu erinnern und sie unmittelbar dem Reich zu unterwerfen, so war es doch irreversibel, dass in den Territorialstaaten des Spätmittelalters und der Neuzeit die Herrschaft über die Juden und damit auch das Recht, Judenordnungen zu erlassen, an die Landesfürsten gelangt war. Nicht einmal die Regensburger „Reichstagsjuden“, die von den Reichsmarschällen von Pappenheim zur Versorgung der Reichstagsgesandtschaften in der Stadt angesiedelt wurden, unterstanden der unmittelbaren Reichsgerichtsbarkeit. Deren rechtliche Angelegenheiten wurden von den Reichserbmarschällen, den Grafen von Pappenheim, geregelt, die auch Judenordnungen, wie sonst die Reichsfürsten, erließen. Streitfälle zwischen der Stadt Regensburg und den Erbmarschällen aber wurden vor dem Geheimen Konsilium in Dresden verhandelt, weil der Kurfürst von Sachsen das Erzmarschallamt des Reiches innehatte.
Die Judenordnungen der Neuzeit Im Mittelalter hatten sich überregionale Bestimmungen zu den Verhältnissen der Juden auf den Landfrieden und auf die damit zusammenhängenden Fragen (etwa den Eid der Juden) bezogen. In der Neuzeit trat das Verhältnis der Obrigkeit der fürstlichen Territorien zu den Korporationen der Juden in den Vordergrund. Im 16. Jahrhundert begannen die Fürsten, die in ihren Territorien die Juden duldeten, die gesamten Judenschaften zu Korporationen zusammenzufassen. Sie hatten neue Abgaben und Steuern regelmäßig „in folle“, als Gesamtbetrag, abzuliefern. Die landesherrliche Obrigkeit hatte mit einem einzelnen Juden nur dann zu tun, wenn Schutzbriefe erteilt oder in Streitsachen Urteile und Verordnungen erlassen wurden. Finanz- und Steuerangelegenheiten hingegen wurden nur noch mit der Gemeinschaft der Landjudenschaft verhandelt. Entscheidend war dabei nicht, dass die Juden in ihren Wohnorten kein Bürgerrecht hatten und nur Schutz genossen; es gab außer ihnen auch viele andere „Schutzverwandte“ (etwa auswärtige Handwerker, Knechte, Dienstpersonal), für die jedoch im Gegensatz zu den Juden keine Ordnungen erlassen wurden. Entscheidend war vielmehr, dass die Obrigkeit fast ausschließlich mit den Korporationen der Juden, den „Landjudenschaften“, in Verbindung trat. Die Landjudenschaften, die sich aus den Judenschaften der einzelnen Orte zusammensetzten, regelten ihre rechtlichen und finanziellen Angelegenheiten selbst. Den regelmäßig zu leistenden Gesamtbetrag ihrer Abgaben an den Landesherrn repartierten sie auf ihren Versammlungen oder Landtagen unter die einzelnen Gemeinden, die wiederum die Familien mit den Anteilen belasteten. Zur Regelung der rechtlichen und finanziellen Verfahren, der Eidesleistungen, der Zusammenkünfte der Landjudenschaften, der Wahlen zu den Vorstehern, der Einrichtung von Schulen und Synagogen wurden Judenordnungen erlassen. Diese Judenordnungen waren das unverzichtbare Resultat der Entscheidung, die Juden als Korporation im Lande zu behandeln. Hinsichtlich der Leistungen an den Landesherrn, der Rechtsstellung gegenüber der Obrigkeit sowie des Verhältnisses zu den christlichen Nachbarn und Stadtverwaltungen mussten Regeln geschaffen werden. Selbst wenn so missgünstige und feindselige Ordnungen erlassen wurden wie etwa durch die General-Juden-Reglements in Preußen 1730 und 1750, waren diese Bestimmungen doch Bestandteil der Verfassungsordnung der ständischen Gesellschaft. Die Voraussetzung für die Judenordnungen war nicht der jüdische Glaube
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im Gegensatz zum christlichen Mehrheitsglauben, sondern die Zusammenfassung der jüdischen Familien in ihren Korporationen, mit denen die Obrigkeit in Kontakt trat.
Judenordnungen unter den Bedingungen moderner Staatlichkeit Zu den Prinzipien der Reformen des 19. Jahrhunderts gehörte es, dass die staatliche Obrigkeit nicht mehr mit Korporationen verhandelte, sondern die Individuen unmittelbar der Staatsverwaltung, der Besteuerung und der Rechtsprechung unterwarf. Die Beseitigung der ständischen Korporationen gehörte zur Logik des etatistischen Staatsmodells. Andererseits hielt man in den meisten deutschen Staaten daran fest, die historisch gewachsenen Rechtsverhältnisse, die Ordnungen und Statuten der Regionen, aufrechtzuerhalten. Gesamtstaatliche Gesetze, wie das Allgemeine Landrecht in Preußen oder das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch in Österreich, galten nur subsidiär, das heißt für alle Fälle, für die in den regionalen Statuten keine Bestimmungen enthalten waren. Entsprechend galten in den deutschen Bundesstaaten, garantiert durch Art. 16 der Bundesakte von 1815, für die Juden diejenigen Rechte, die in den jeweiligen Landesteilen hergebracht waren. Während aber die Bundesakte den einzelnen Bundesstaaten keine Vorschriften machte, dass sie etwa ihre Rechtszustände vereinheitlichen sollten, wurde ihnen empfohlen, jeweils einheitliche Judenordnungen zu erlassen, die freilich in keinem Landesteil die Rechte der Juden schmälern sollten. Das bedeutete, dass die jeweils günstigsten Vorschriften als Grundlage für eine Vereinheitlichung der Judenordnungen dienen sollten. In den Ländern gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts deshalb nicht nur die unterschiedlichen bürgerlichen Rechtsverhältnisse in den Regionen, sondern innerhalb der Regionen nochmals die abweichenden Rechtsverhältnisse der Juden. Während die Einheit des bürgerlichen Rechts überhaupt erst zustande kam, als im Jahre 1900 im Deutschen Reich das Bürgerliche Gesetzbuch eingeführt wurde, widmeten sich überall die Ministerialbeamten der Aufgabe, wenigstens für die Juden gesamtstaatlich einheitliche Bestimmungen zu schaffen. Die Bezeichnungen dafür waren unterschiedlich; sie hießen nun häufig „Gesetze/Edikte über die Verhältnisse der Juden“. Da sie die Fortsetzung altständischer Ordnungen waren, wurde auch der Begriff „Judenordnung“ weiterhin gebraucht. Trotz zahlreicher Widerstände aus den Landesteilen gegen die Verbesserung der prekären Rechtslage der Juden wurden bis 1848 in den meisten Bundesstaaten solche Ordnungen geschaffen. Daraus ergab sich die bemerkenswerte Situation, dass in den Bundesstaaten die Rechtsungleichheit gewöhnlich die Regionen betraf, im Falle der Juden hingegen eine ganze gesellschaftliche Gruppe, die jedoch insgesamt einem einheitlichen Recht unterworfen wurde. Die Rechtsungleichheit der Regionen ist mit dem Sonderrecht der Juden nicht auf dieselbe Ebene zu stellen. Tatsächlich wurde nicht für die Regionen, wohl aber für die Juden ein ständisch-korporatives Recht aufrechterhalten, das dem Rationalismus und Pragmatismus der modernen Staatsverwaltung widersprach. Statt jedoch dem Prinzip der Rechtseinheit und Rechtsgleichheit aller Staatsbürger konsequent zu folgen und – wie es in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und USA bereits geschehen war – die Bürgerrechte unabhängig vom Religionsbekenntnis zu garantieren, wurde nun den Juden zugemutet, ihre Religion aufzugeben, sich dem Christentum zuzuwenden und damit die Voraussetzungen für die Ungleichheit der Rechte zu beseitigen.
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In Preußen wurde noch 1847 ein Gesetz über die Verhältnisse der Juden erlassen, das ihnen gleiche Rechte wie den christlichen Untertanen nur in dem Umfang zubilligte, „soweit dieses Gesetz nicht ein Anderes bestimmt“. Tatsächlich wurde „Anderes bestimmt“: Vor allem der Zugang zu öffentlichen Ämtern wurde untersagt, die mit hoheitlichen Befugnissen verbunden waren, sodass etwa Baruch Sutro 1853 in Preußen als Feldmesser abgewiesen werden konnte, weil er Jude war. Die partikularen Judenordnungen wurden im Norddeutschen Bund erst durch die Verordnung vom 3. Juli 1869 aufgehoben. Sie wurde durch das Reichsgesetz vom 22. April 1871 auch in den süddeutschen Staaten verbindlich.
Regelungen in anderen europäischen Staaten In Frankreich und den Niederlanden hatten die Juden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dieselben Bürgerrechte wie die Christen. Das Dekret Napoleons vom 17. März 1808, das in Frankreich die Rechte der Juden beschränkte, wurde 1818 formell aufgehoben, nachdem es schon Jahre zuvor vom obersten Gericht, dem Cour de Cassation, als rechtswidrig verworfen worden war. In Belgien spielte seit der Staatsgründung 1830 die Religionszugehörigkeit bei der Verleihung der Staatsbürgerrechte keine Rolle, ebenso in Italien seit 1869. In England gab es keine Judenordnungen. Dort galt jeder im Lande geborene Jude formell als gleichberechtigter Bürger. Ein Hindernis für die Ausübung der politischen Rechte war jedoch der Eid, den alle Anwärter auf öffentliche Ämter und die Abgeordneten des Parlaments ablegen mussten. Der Schwur lautete auf den „wahren Glauben eines Christen“. 1858 verabschiedeten Unterhaus und Oberhaus ein Gesetz, das es beiden Kammern erlaubte, die Eidesformel abzuändern. Jetzt wurde im Unterhaus der Eid so angepasst, dass auch die zu Abgeordneten gewählten Juden ihre Sitze einnehmen konnten. Das Toleranzpatent Kaiser Josephs II. von 1782 galt in den österreichischen Erblanden nur für die Juden in Niederösterreich ( → Toleranzpatente). Für die Juden Galiziens wurde 1789 eine „Neue Judenordnung“ erlassen. Demnach mussten die Juden nicht nur alle Steuern und Abgaben wie die Christen leisten, sondern zusätzliche Schutzgelder und „Verzehrungssteuern“ für koschere Nahrung bezahlen. Ansonsten sollten sie den Christen rechtlich gleichgestellt werden. Tatsächlich gelang es aber vielen österreichischen Städten im selben Jahr, amtliche Bestätigungen für Niederlassungsverbote (Privilegia de non tolerandis Judaeis) zu erhalten. 1797 wurde noch eine zusätzliche Steuer für die Juden eingeführt, und zwar der „Lichteranzündungssteueraufschlag“. Die formale Gleichberechtigung und die Aufhebung der Judenordnungen brachte die Verfassung vom 4. März 1849, die bestimmte: „Der Genuß der bürgerlichen und politischen Rechte ist von dem Religionsbekenntnisse unabhängig.“ Restriktive Sonderbestimmungen wurden in Mitteleuropa am längsten in der Schweiz aufrechterhalten. Nur im Kanton Aargau war überhaupt die Niederlassung von Juden erlaubt, ohne dass sie jedoch in den Gemeinden und im Kanton dieselben bürgerlichen Rechte wie christliche Schweizer wahrnehmen durften. Die Erlaubnis des Eidgenössischen Bundesrates 1856, dass die Aargauer Juden Freizügigkeit im ganzen Land genießen sollten, wurde durch Volksabstimmungen wieder rückgängig gemacht. Erst die Bundesverfassung von 1874 hob schließlich die Beschränkungen auf.
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Als 1878 der → Berliner Kongress die Verhältnisse auf dem Balkan ordnete, wurde auf Antrag der französischen Vertreter die Anerkennung der Unabhängigkeit der drei neuen Balkanstaaten Bulgarien, Serbien und Rumänien von der Bedingung abhängig gemacht, dass die Bürgerrechte unabhängig vom Religionsbekenntnis zu verleihen waren. Die Vertreter Serbiens und Bulgariens konnten sogleich zustimmen. Die entsprechenden Artikel wurden in die Verfassungen beider Länder aufgenommen. Der rumänische Vertreter widersprach nicht, stimmte aber auch nicht ausdrücklich zu. Dann widersetzte sich die rumänische Regierung und erhielt Unterstützung von Russland, das die Juden nach wie vor nach dem → Judenreglement von 1804 behandelte. Dessen Bestimmungen wurden im 19. Jahrhundert restriktiv verschärft, etwa 1844 durch die Aufhebung der Selbstverwaltung der jüdischen Gemeinden. Nach dem Berliner Kongress und bis zum Ende des → Ersten Weltkrieges waren Russland und Rumänien die beiden europäischen Staaten, in denen die Juden nach wie vor Sondergesetzen unterworfen waren. Der Berliner Kongress war dennoch ein großer Erfolg auf dem Wege zur Aufhebung der Judenordnungen und zur Einführungen gleicher Rechte unabhängig vom Religionsbekenntnis. Jetzt wurden die Rechtsgleichheit und die Ablehnung spezieller Judenordnungen über die nationalen Grenzen hinaus zu einem international anerkannten Prinzip, dem alle zivilisierten Staaten zustimmten.
Literatur
Manfred Jehle
Simon Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bände 5–10, Berlin 1927–1929. Rainer Erb, Werner Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780–1860, Berlin 1989. Guido Kisch, Forschungen zur Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Juden während des Mittelalters, 2 Bände, Sigmaringen 1978–1979. Michael A. Meyer, Michael Brenner (Hrsg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bände 1–3, München 1996–1997. Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975.
Judenparagraph des norwegischen Grundgesetzes (1814) Das norwegische Grundgesetz, am 17. Mai 1814 in Eidsvoll beschlossen und von Friedrich Engels als eine der progressivsten Verfassungen ihrer Zeit beschrieben – „weit demokratischer als irgendeine gleichzeitige in Europa“ –, verbot in seinem Artikel 2, dem „Judenparagraphen“, Juden und Jesuiten den Aufenthalt im Lande und stand damit im Kontrast zur europäischen Tendenz der juristischen Gleichstellung der Juden. Das Totalverbot war auch eine Verschärfung gegenüber den Rechten, die „portugiesische“ Juden bis zum Frühjahr 1814 in der Doppelmonarchie Dänemark-Norwegen hatten und die Juden generell in Dänemark und Schweden erhielten. Die vorausgehenden Verfassungsentwürfen und Debatten 1814 deuteten zunächst nicht auf ein rigoroses Aufenthaltsverbot. Es gab Stimmen, nicht zuletzt auch von Pfarrern und Pröpsten, die volle Religionsfreiheit forderten, für Toleranz eintraten und Juden verteidigten, aber auch andere, die die „jüdische Nation“ beschuldigten, als „Volk immer aufrührerisch und betrügerisch gewesen“ zu sein und ihre „religiöse Lehre“ sie
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„zu Intrigen und zur Bildung eines Staates im Staat verleitet“ (N. Wergeland). Andere Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung in Eidsvoll argumentierten damit, dass Juden es nicht als Unrecht ansahen, Christen zu betrügen und dass „Schacherjuden“, die sich nicht der Religion und Staatsform Norwegens verpflichtet fühlten, das Land „überschwemmen“ würden. Wiederum andere argumentierten damit, dass man bereits vorher keine Juden im Land gehabt hatte und ein Totalverbot ihnen damit kein Unrecht zufügen würde. Trotz aller Befürworter freier Einreise- und Niederlassungsmöglichkeiten war der Verbotsbeschluss einstimmig, sodass Juden bis 1851 keinerlei Zugang nach Norwegen hatten. Das führte zum Teil zu grotesken Urteilen und Abschiebungen, beispielsweise im Falle schiffbrüchiger Juden, die an Land gerettet und dann verurteilt wurden. In der zweiten Hälfte der 1830er Jahre wurde erstmals die Aufhebung des Verbots gefordert, und wenige Jahre später erhielten einige „portugiesische“ Juden einen Schutzbrief. Treibende Kraft beim Bemühen, den Artikel 2 aus der Verfassung zu entfernen, war der Pastorensohn, Lyriker, Dramatiker und Essayist Henrik Wergeland (1808–1845), der ursprünglich die Ansichten seines Vaters – einem der „Eidsvoll-Männer“, die sich stark gegen die Juden geäußert hatten – geteilt hatte, dann aber Lessing und dessen „Nathan“ in Norwegen bekannt gemacht und mit Gabriel Riesser korrespondiert hatte. Wergeland veröffentliche zahlreiche „Beiträge zur Judensache“, Gedichtbände wie „Der Jude“ und „Die Jüdin“ und schlug 1839 erstmals dem norwegischen Parlament (Storting) vor, den Paragraphen aufzuheben. In den Parlamentsdebatten der Jahre 1842, 1845 und 1848 gab es zwar eine wachsende Meinung zur Aufhebung des Paragraphen, doch wurde die erforderliche Zweidrittelmehrheit erst 1851, sechs Jahre nach Wergelands Tod, erreicht. Norwegische Historiker haben nur sehr begrenzt diesen Beschluss erklärt und die Bilder von Juden bei Menschen analysiert, die kaum je einem Juden begegnet waren. Im norwegischen Bewusstsein existierten zwei verschiedene Juden: Das biblische Volk Israels und der imaginierte „Schacherjude“. Traditionelle religiöse Argumente spielten in den Debatten eine untergeordnete Rolle. Eine Analyse der Parlamentsdebatten zeigt, dass in erster Linie ökonomische und kommerzielle Interessen gegen die Juden ins Feld geführt wurden. Der „Schacherjude“ wurde – wie einer der „Eidsvoll-Männer“, Propst Hertzberg, erklärte – „mit der Muttermilch“ eingesogen und durch Jahrhunderte durch die Dorfschulen internalisiert. In den Parlamentsdebatten erschien immer wieder die Behauptung, dass die Juden zu einem Kapitaltransfer aus Norwegen beitragen und sich des Silberbergwerkes in Kongsberg bemächtigen würden, dass sie durch unlauteren Wettbewerb der norwegischen Wirtschaft schaden und der Bevölkerung Luxuswaren und Ramsch verkaufen würden, ferner zum Müßiggang beitrügen und der norwegischen Seefahrt den „Gnadenstoß“ versetzen würden. Ein auch in späteren Jahren immer wieder benutztes Argument war, dass es zu einer unmittelbaren Masseninvasion von Juden kommen würde. Der erste Jude zog 1852 nach Norwegen, die nächsten kamen acht Jahre später, die erste Gemeinde wurde 1892 gegründet. Im März 1942, knappe sechs Wochen nach der Ernennung Quislings zum Ministerpräsidenten und acht Monate vor der ersten großen Judendeportation, wurde der Wortlaut des Paragraphen vom Quisling-Regime reaktiviert.
Einhart Lorenz
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Judenreglement (Russland 1804)
Literatur
Oskar Mendelsohn, Jødenes historie i Norge gjennom 300 år [Geschichte der Juden in Norwegen durch 300 Jahre], Band 1, Oslo 1969.
Juden-Reglement → Preußische General-Juden-Reglements (1730 und 1750)
Judenreglement (Russland 1804) Eine kontextualisierte Betrachtung des zarischen Judenreglements (Položenie dlja evreev) von 1804 erfordert, zwischen Vorgeschichte, Intentionen, Inhalten und Umsetzung des Rechtsdokuments zu unterscheiden. Das am 9. Dezember von Alexander I. erlassene Reglement war der erste Versuch, die Rechte und Pflichten jüdischer Untertanen im Russländischen Reich auf eine allgemeine gesetzliche Grundlage zu stellen. Ihm lagen komplexe politische Entwicklungen zugrunde, die mit den drei Teilungen Polen-Litauens (1772, 1792, 1795) und der folgenden Annexion weißrussischer, ukrainischer und litauischer Gebiete durch das Zarenreich einhergingen. Im Zuge des Herrschaftswechsels wurden erstmals mehrere Hunderttausend Juden, die in Polen-Litauen weitreichende Verwaltungsautonomie genossen hatten, zu Untertanen der Zaren. Zunächst bestätigte 1772 Katharina II. die alten Standesprivilegien und sozialen Hierarchien in den neu eroberten Territorien, doch in der Folgezeit deklarierte sie die jüdische Bevölkerung – ungeachtet der umfangreichen ländlichen Siedlung – im Sinne der Stadtentwicklung pauschal zu Stadtbewohnern und versuchte, die jüdische Elite durch gesetzliche Maßnahmen an der städtischen Selbstverwaltung zu beteiligen. Dies lief der alten Ordnung zuwider und stieß auf den Widerstand der etablierten christlichen Elite. Um sozialen Unruhen entgegenzuwirken, holte Katharinas Nachfolger Paul I. in seiner kurzen Regierungszeit Stellungnahmen zarischer Beamter zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den westlichen Gouvernements ein. Eine Auswertung der konkurrierenden und nicht allein den Juden geltenden Gutachten unternahm erst das Komitee zur Formung der Juden zum Nutzen des Staates und der Juden selbst (Komitet o ustroenii evreev na pol’zu gosudarstvennuju i ich sobstvennuju), das Alexander I. am 9. November 1802 einberief. Es bestand aus führenden zarischen Beamten, unter ihnen zwei polnische Magnaten. Von ihnen sprach sich allein Justizminister Gavriil P. Derschawin, der selbst 1800 im Auftrag des Zaren nach Weißrussland gereist war, um die Ursachen der dortigen Hungersnot zu ergründen, unter dem Einfluss christlicher Städter und Jesuiten für eine restriktive Judenpolitik aus. Die übrigen Mitglieder plädierten, getragen von Ideen der europäischen Aufklärung, für eine allmähliche, auf persönlichen Anreizen beruhende Reform der jüdischen Gesellschaft. Über diesen exklusiven Kreis hinaus nahmen wenige jüdische Unternehmer und Aufklärer (Maskilim), insbesondere Nota Notkin, beratend Einfluss auf das Komitee. Hingegen lehnten Vertreter der traditionellen jüdischen Gemeinden jegliche Intervention in ihre autonome Verwaltung ab. Mit dieser Absage konfrontiert legte das Komitee im Oktober 1804 seinen Entwurf eines Judenreglements dem Zaren zur Bestätigung vor. Diese erfolgte innerhalb weniger Wochen.
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Die Inhalte des Judenreglements untergliederten sich in 54 Artikel, die wiederum in sechs Kapiteln zu den Themen Bildung, Wirtschaft, Untertanenpflichten, Recht und Verwaltung, Rabbinat und jüdische Gemeindeverwaltung (Kahal) zusammengefasst waren. Kapitel I räumte den Juden freien Zugang zu sämtlichen öffentlichen Schulen und Hochschulen des Imperiums ein, im Gegenzug sollten jüdische Amtsinhaber zumindest langfristig eine der anerkannten Bildungssprachen Russisch, Polnisch oder Deutsch beherrschen. In Kapitel II wurde die jüdische Bevölkerung für die Zukunft in vier Klassen unterteilt: Landwirte, Fabrikanten und Handwerker, Kaufleute sowie übrige Stadtbewohner. Landwirtschaftskolonisten sagte die Regierung persönliche Freiheit, Steuernachlass, Land und Darlehen zu, Fabrikanten stellte sie Steuersenkungen und Kredite in Aussicht, Händlern und Kaufleuten erlaubte sie Geschäftsreisen in zentralrussische Gebiete. Kapitel III enthielt die gravierendsten Restriktionen des Reglements: das Verbot des Branntweinhandels in ländlichen Gebieten und die Anweisung, dieselben innerhalb von zwei Jahren zu verlassen. In Kapitel IV garantierte die Regierung Schutz von Person, Eigentum und Religionsfreiheit und räumte jeder jüdischen Gemeinde die Wahl eines Kahal ein. Im Gegenzug verpflichtete sie die Juden zu Registrierung und Steuerzahlung und unterstellte sie der allgemeinen Gerichtsbarkeit. Kapitel V hob die Rechtsprechung der Rabbiner jenseits religiöser Fragen auf und nahm ihnen ihre traditionellen Sanktionsmittel. Im letzten Kapitel wurden die Kahal-Verwaltungen unter Androhung von Strafe ermahnt, die Kronsteuern in ihren Gemeinden einzuziehen und darüber sowohl den Steuerzahlern als auch der Regierung Rechenschaft abzulegen. Das Judenreglement von 1804 war ein typisches Zeugnis des aufgeklärten Absolutismus. Es hatte kaum konkreten gesetzgebenden Charakter, sondern zielte auf die Besserung und Erziehung der jüdischen Bevölkerung zu loyalen und ökonomisch einträglichen Untertanen ab. Seine Priorität schwankte zwischen „dem wahren Wohl der Hebräer“ und „dem Nutzen der autochthonen Bewohner“ (Präambel), die einzelnen Artikel zeugten von den widerstreitenden Positionen im Komitee: In der Bildungsreform hatten sich die Anhänger der Aufklärung durchgesetzt, die Einführung landwirtschaftlicher Kolonisation trug die Handschrift Derschawins, und die Förderung des Manufakturwesens verwies auf Notkins Entwürfe. Indessen ging die Hauptrestriktion des Reglements, das Verbot des Branntweinhandels, auf ökonomisch bedingte Judenfeindschaft in ländlichen Gebieten zurück. In diesem Punkt zeigt sich eine Unzulänglichkeit des zarischen Reglements. Wie die Reformprojekte der alten polnischen Elite zwischen 1788 und 1792 ließ es das feudale Wirtschaftssystem unangetastet. Nicht das Branntweinmonopol des in den westlichen Gouvernements noch immer dominanten polnischen Adels wurde aufgehoben, sondern die jüdischen Mittler wurden ausgewiesen. Ebenso gestand das Reglement den Juden das Wahlrecht in der allgemeinen städtischen Selbstverwaltung nur zu, wenn dies nicht alten christlichen Privilegien widersprach. Diese Politik wirkte sich auch zugunsten der jüdischen Gemeinden und ihrer traditionellen Elite aus. Ihr religiöses Leben blieb unangetastet, die etablierten Institutionen der Selbstverwaltung wurden bestätigt und in den Dienst des Imperiums gestellt. Soziale Unruhen und materielle Not unter der jüdischen Bevölkerung verursachte die restriktive Auslegung und mangelhafte Umsetzung des Reglements. In der Praxis bestand im frühen 19. Jahrhundert in einem rudimentären, katholisch geprägten Ele-
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mentarschulsystem keine reale Integrationsoption für jüdische Kinder. Darüber hinaus unterblieb die zugesagte finanzielle Unterstützung landwirtschaftlicher und industrieller Projekte angesichts knapper Ressourcen während der napoleonischen Kriege. Indessen waren Branntweinhändler und ihre Familien – etwa ein Fünftel der jüdischen Bevölkerung – mit Ablauf der Zweijahresfrist auf regionaler Ebene konkret von Enteignung und Ausweisung bedroht. Mangels neuer Perspektiven wichen sie in die kaum entwickelten Städte aus, wo sie die Armut potenzierten und mit feindseligen Reaktionen ihrer christlichen Konkurrenten konfrontiert waren. Auch wenn die Ausweisungen von der zarischen Verwaltung aus pragmatischen Gründen mehrfach ausgesetzt wurden, etablierte sich das Prinzip Ausweisung für die Folgejahrzehnte als legitimes Politikmuster.
Literatur
Yvonne Kleinmann
Simon M. Dubnow, History of the Jews in Russia and Poland from the Earliest Times until the Present Day, vol. 1: From the Beginning until the Death of Alexander I (1825), Philadelphia 1916, S. 306–347. Dmitrij Z. Fel’dman, Stranicy istorii evreev Rossii XVIII–XIX vekov. Opyt archivnogo isledovanija [Studien zur Geschichte der Juden Russlands im 18. und 19. Jahrhundert. Erträge aus der Archivforschung], Moskau 2005. David E. Fishman, Russia’s First Modern Jews. The Jews of Shklov, New York 1995. Yvonne Kleinmann, Jüdische Eliten, polnische Traditionen, westliche Modelle und russische Herrschaft. Kulminationen in den Jahren 1804, 1844, 1869 und 1881, in: Karsten Holste, Dietlind Hüchtker, Michael G. Müller (Hrsg.), Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse, Berlin 2009, S. 193–222. John D. Klier, Russia Gathers Her Jews. The Origins of the Jewish Question in Russia, 1772–1825, Illinois 1986. Eli Lederhendler, The Road to Modern Jewish Politics. Political Tradition and Political Reconstruction in the Jewish Community of Tsarist Russia, Oxford, New York 1989. Isaac Levitats, The Jewish Community in Russia, 1772–1844, New York 1943. Matthias Rest, Die russische Judengesetzgebung von der ersten polnischen Teilung bis zum „Položenie dlja evreev“ (1804), Wiesbaden 1975.
Judenstein → Anderl-von-Rinn-Kult
Judenstern Seit November 1938 gab es in NS-Deutschland Bestrebungen zur sichtbaren Kennzeichnung der Juden. Dies wurde in der Sitzung unter Vorsitz Görings nach den → Novemberpogromen erörtert, nachdem bereits Pässe und Personaldokumente deutscher Juden gekennzeichnet worden waren sowie die Zuweisung jüdischer Vornamen am 17. August 1938 amtlich geworden war. Während im von den Deutschen besetzten Polen schon seit Kriegsbeginn der Judenstern uneinheitlich befohlen war, erteilte Hitler seine Zustimmung zur Einführung im Reichsgebiet erst am 20. August 1941 auf Anregung des Staatssekretärs Wilhelm Stuckart. Im juristischen Sinne war die Kennzeichnung
Judenverfolgung im Elsass und im Großherzogtum Baden (1848)
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durch eine Rechtsverordnung begründet, die am 1. September 1941 durch das Reichsministerium des Innern erlassen wurde. Mit Wirkung zum 19. September 1941 musste im gesamten Reichs- und Protektoratsgebiet jeder Jude ab dem Alter von 6 Jahren einen gelben Davidstern mit einer schwarzen, hebräische Schrift karikierenden Aufschrift „Jude“ tragen. Dieser Judenstern war sichtbar auf der äußeren Kleidungsschicht auf der Höhe der linken Brust anzubringen. Ausgenommen von der Tragepflicht wurden Juden in „privilegierter Mischehe“ – also Juden, die mit einem nichtjüdischen Partner verheiratet waren und eheliche Abkömmlinge hatten, die getauft waren. Befreit waren ebenso getaufte Juden, die von nur einem jüdischen Elternteil abstammten, sowie Juden mit nur einem jüdischen Großelternteil. Für die Betroffenen bedeutete das Tragen des Sterns die absolute Form der sozialen Ausgrenzung und öffentlichen Stigmatisierung. Die sichtbare Kennzeichnung erleichterte der Polizei die Durchsetzung der Wohn- und Bewegungsbeschränkungen und ermöglichte permanente Kontrollmaßnahmen. Dies hatte eine einschüchternde und lähmende Wirkung auf die Betroffenen, die fortan auch vermehrten Schikanen vonseiten der judenfeindlichen Bevölkerung ausgesetzt waren. Die Reaktion der Bevölkerung wird in den geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS als überwiegend zustimmend beschrieben. Die Anwesenheit christlich getaufter Juden in evangelischen und katholischen Gottesdiensten stieß zum Teil auf Ablehnung unter den Gemeindemitgliedern. Zu allgemeingültigen Regelungen zur Absonderung der getauften Juden von der übrigen Gemeinde kam es jedoch nicht. In den Lageberichten des SD wird jedoch von Stimmen des Mitleids in bürgerlichen und katholischen Kreisen berichtet. Erlebnisberichte zeugen zudem von einem eher heterogenen Meinungsspektrum. Die sichtbare Kennzeichnung der Juden bewirkte in einigen Fällen Anteilnahme am Schicksal der Betroffenen, die jedoch nichts an der allgemeinen Haltung der widerspruchlosen Hinnahme zu ändern vermochte.
Literatur
Ulrike Wegehaupt
Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945, Band 2, München 2006. Konrad Kwiet, Nach dem Pogrom: Stufen der Ausgrenzung, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Juden in Deutschland 1933–1945, München 1988, S. 614–631.
Judenverfolgung im Elsass und im Großherzogtum Baden (1848) Die Februarrevolution von 1848 in Frankreich löste zunächst im Elsass zahlreiche Pogrome und Vertreibungen aus. Als Zentrum der Judenverfolgungen manifestierte sich der Bezirk Sundgau, in dem zahlreiche jüdische Gemeinden existierten und der seit dem späten 18. Jahrhundert verschiedentlich Schauplatz von Pogromen wurde. Dabei denunzierten lokale Behörden die Juden als „wucherische Ausbeuter“ und als die neuen „Herren“ des Elsasses. Wie bereits in früheren Jahren (1778, 1789, 1831) spielten sich die Verfolgungen 1848 nach demselben Muster ab: Größere Gruppen von Nichtjuden drohten verbal jüdischen Dorfbewohnern, ihre Häuser zu plündern und sie im Falle von Widerstand auch zu ermorden. Vereinzelt kam es zu tätlichen Übergriffen.
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Judenverfolgung im Elsass und im Großherzogtum Baden (1848)
Tote waren jedoch nur ganz vereinzelt zu beklagen. Die jüdische Bevölkerung entzog sich der angekündigten Gewalt durch Flucht in „sichere“ Ortschaften oder auch ins benachbarte Ausland. Die Schweizer Grenzstadt Basel gewährte mehreren hundert verfolgten Juden vorübergehend Asyl. Die verlassenen Häuser wurden in aller Regel geplündert und nicht selten auch völlig zerstört. Solidarität und Hilfe vonseiten der nichtjüdischen Nachbarn ist nur in Ausnahmefällen belegt. Doch beteiligten sich häufig auch nichtjüdische Nachbarn an den Ausschreitungen. Prozessakten, in denen betroffene Juden nach 1848 ihre Verluste bei ihren Wohnorten, wegen Vernachlässigung deren Sorgfaltspflicht, einklagten, belegen, dass unterschiedslos arme und reiche jüdische Bürger verfolgt wurden. Die Täter machten jedoch „jüdischen“ Reichtum basierend auf „ausbeuterischem Wucher“ für ihren gewalttätigen Unmut verantwortlich. Die Ernennung von Juden in öffentliche Ämter, wie diejenige des Bürgermeisters von Durmenach, wo um 1848 mehrheitlich Juden lebten, sorgte zusätzlich für judenfeindliches Potential. Die antisemitische Optik, Juden seien die wahren Gewinner des postrevolutionären Frankreichs und würden ihre angebliche Macht zur Ausbeutung der Nichtjuden missbrauchen, wurde von den lokalen Behörden häufig geschürt, um von ihrem Versagen bei den jüngsten sozialen Krisen (Missernten, Hungersnot) abzulenken. Die Zentralregierung in Paris verurteilte die Pogrome klar. Der Pariser Revolutionsregierung gehörten im Frühjahr 1848 erstmals auch jüdische Minister an. Die Regierung entsandte auch einen jüdischen Bevollmächtigen, der die Pogrome untersuchen sollte. Schutz und Verteidigung der Juden durch Militär und Nationalgarde konnten jedoch nur in Ausnahmefällen rechtzeitig Gewaltausbrüche verhindern und den Verfolgten helfen. Der isolierte Versuch des Hegenheimer Rabbiners, Moses Nordmann, aktiv die jüdische Bevölkerung zu Widerstand gegen die Bedrohung durch marodierende Banden zu mobilisieren, zeitigte im März 1848 vorübergehend Erfolg. Doch im April kam es auch in dieser größten jüdischen Landgemeinde des Elsasses zu pogromartigen Ausschreitungen und zur Vertreibung der fast 1.000 Personen umfassenden jüdischen Gemeinde. Manche elsässischen Juden flohen auch ins benachbarte Großherzogtum Baden auf der gegenüberliegenden Rheinseite. Doch wurde besonders Nordbaden bald schon ebenfalls Schauplatz judenfeindlicher Ausschreitungen. Im Gegensatz zu ihren französischen Glaubensgenossen harrten die Juden des Großherzogtums Baden, wie alle Juden des Deutschen Bundes, 1848 noch immer ihrer vollständigen rechtlichen Gleichstellung. Auf Grund der schrittweisen Emanzipation konnte sich bei jeder Debatte um die Verbesserung der bürgerlichen Rechte der Juden eine heftige politische Kontroverse entzünden, die auch immer judenfeindlichen Diskursen neuen Auftrieb gab. Im Großherzogtum Baden war eine vollständige Emanzipation der Juden nicht zuletzt auch am Widerstand der lokalen Behörden gescheitert, die sich der vollständigen rechtlichen Integration der Juden in ihren Wohngemeinden widersetzten. Bei den Parlamentswahlen von 1846 hatten sich jedoch die politischen Verhältnisse im Großherzogtum dahingehend entwickelt, dass nun eine Mehrheit der Befürworter der Emanzipation im badischen Landtag Einzug hielt. Eine abschließende Emanzipationsgesetzgebung rückte damit für Baden in greifbare Nähe.
Judenverfolgung im Elsass und im Großherzogtum Baden (1848)
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Zugleich verschärften sich auf Grund von Missernten und der Kartoffelkrankheit, wie im benachbarten Elsass, die sozialen Spannungen. Wie dort tauchten in Baden 1847 Plakate auf, die revolutionäre Forderungen mit Judenfeindschaft verbanden: „Wir wollen nun sagen, weswegen die Revolution vonstatten gehen soll. 1.) Der Adel muss vernichtet werden. 2.) Die Juden müssen aus Deutschland vertrieben werden. 3.) Müssen alle Könige, Herzöge und Fürsten weg und Deutschland ein Freistaat wie Amerika werden. 4.) Müssen alle Beamten gemordet werden. Dann wird es wieder gut in Deutschland“. In den Tagen, in denen in Frankreich Ende Februar 1848 die Juli-Monarchie gestürzt wurde, beriet der Badische Landtag in Karlsruhe über die vollständige Emanzipation der Juden des Großherzogtums und verabschiedete am 2. März 1848 ein Gesetz, das die rechtliche Gleichstellung verwirklichen sollte. Die Nachricht von der Abschaffung der letzten rechtlichen Diskriminierungen der Juden führte, zusammen mit einer allgemeinen revolutionären Unrast, in vielen nordbadischen Ortschaften in den folgenden Tagen zu judenfeindlichen Ausschreitungen. Dass die Pogrome im Elsass den badischen Judenfeinden als direktes Vorbild gedient und sie zu ihren Untaten veranlasst hätten, kann hingegen bezweifelt werden. In einem Bericht der Gemeindebehörden von Bretten, einer Ortschaft, die von den Ausschreitungen betroffen war, hieß es am 4. März 1848: „Auf dem Lande weiss man kaum etwas von den in Frankreich stattgehabten jüngsten Ereignissen. Nur die Verhandlungen der badischen Ständeversammlung erregten Interesse beim Volk und eine missverstandene gestern hierhergekommene Nachricht, dass nemlich die Emancipation der Juden von der II-ten Cammer genehmigt worden, erzeugte Blitzesschnelle grossen Unwillen in allen Gemeinden.“ In den folgenden Tagen wurden an 34 Orten im Großherzogtum judenfeindliche Ausschreitungen verzeichnet. Neben dem Widerstand gegen die Emanzipationsgesetzgebung wurde auch der angebliche Wucher der Juden zum Anlass genommen, die jüdische Minderheit zu verfolgen. Doch richtete sich die Hauptstoßrichtung der Unmutsäußerungen explizit gegen die vollständige Gleichstellung. Während im Elsass der „Wuchervorwurf“ den judenfeindlichen Diskurs in jenen Tagen dominierte, die Emanzipation aber nicht mehr direkt in Frage gestellt wurde, war es im Großherzogtum Baden genau umgekehrt: Der Kampf gegen die noch nicht gesicherte Emanzipation beherrschte den judenfeindlichen Diskurs, und der Wuchervorwurf diente allein zur Verstärkung der ablehnenden Haltung gegenüber den Juden als gleichberechtigte Bürger. Die Ausschreitungen entsprachen in ihrem Charakter und Verlauf weitgehend den Pogromen im nördlichen Elsass. Die Juden wurden zunächst mit Gewalt und Todesdrohungen eingeschüchtert. Anschließend wurde ihr Besitz zerstört oder geraubt. Menschenleben waren nicht zu beklagen. Größere Fluchtbewegungen der jüdischen Bevölkerung sind ebenfalls nicht zu verzeichnen. Als Täter, die die jüdische Bevölkerung drangsalierten und ausraubten, traten in den ländlichen Gebieten vor allem umherziehende Banden von Landarbeitern sowie in den Städten Vertreter der Handwerkszünfte in Erscheinung. Vergleichbar mit den Reaktionen der revolutionären Regierung in Paris war auch die Haltung gegenüber den judenfeindlichen Unruhen von Seiten der Führer der bürger-
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Judenzählung (1916)
lich-liberalen Revolutionsbewegung in Baden. Wie jene verurteilten die badischen Politiker den judenfeindlichen Aspekt der revolutionären Erhebung. In einem Aufruf prominenter Reformpolitiker vom 8. März hieß es: „Mit tiefem Schmerz […] vernehmen wir die Nachricht, dass […] die Tage, welche unser ganzes Volk erlösen sollen von dem Drucke und der Knechtschaft von Jahrzehnten, ja von Jahrhunderten, entweiht werden wollten durch blinde Zerstörungswuth und Gefährdung der Personen und des Eigenthums unserer Mitbürger mosaischen Glaubens, dass das leuchtende Panier der Freiheit besudelt werden will durch schmähliche Excesse.“ Die „Karlsruher Zeitung“ forderte, möglicherweise in Anlehnung an die Rechtslage in Frankreich, in ihrer Ausgabe vom 15. März 1848 ein Gesetz, mit dem die Gemeinden für Schäden, die bei derartigen Unruhen entstanden, haftbar gemacht werden sollten. Im deutlichen Gegensatz jedoch zu Frankreich, wo judenfeindliche Gewalt nach 1789 die Emanzipationsgesetzgebung von 1791 nicht mehr aufheben konnte, überlebte selbst im für deutsche Verhältnisse politisch fortschrittlichen Großherzogtum Baden die endgültige Gleichstellung der jüdischen Bürger die ersten Monate der → Revolution von 1848 nicht. Ende 1848 verzichtete die deutsche Nationalversammlung darauf, die vollständige Emanzipation als Verfassungsgrundsatz festzuschreiben, und legitimierte somit die weitere Existenz diskriminierender Gesetze. Baden beschloss 1849 aufgrund der Androhung neuer Unruhen, den Juden das versprochene Gemeindebürgerrecht nicht zu gewähren. Die jüdische Bevölkerung des Großherzogtums musste sich bis 1862 gedulden, bis auch diese letzte Hürde auf dem Weg zur rechtlichen Gleichstellung überwunden war.
Literatur
Daniel Gerson
Daniel Gerson, Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsass 1778 bis 1848, Essen 2006. Stefan Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, Antijüdische Ausschreitungen im Vormärz und Revolution (1815–1848/49), Frankfurt am Main 1993. Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1987. Rainer Wirtz, Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle, Tumulte und Skandale: soziale Bewegung und gewalthafter Protest in Baden 1815–1848, Baden-Baden 1998.
Judenzählung (1916) Mit Beginn des Krieges 1914 und der Verkündung des sogenannten Burgfriedens schien es zunächst, dass auch die Juden in Deutschland die Chance bekämen, endlich als deutsche Patrioten anerkannt zu werden. Jüdische Wirtschaftsführer wie Walther Rathenau und Max Warburg erhielten wichtige Stellen in der Kriegswirtschaft, und auch beim Militär schienen die Vorbehalte gegen Juden in Offiziersstellungen zu schwinden. Der in vielen Presseerzeugnissen vor dem Krieg permanent manifestierte Antisemitismus wurde zunächst auch durch die Zensur gezügelt. Nachdem aber der erwartete schnelle Sieg ausblieb und sich die Versorgungslage im Reich verschlechterte, suchten Politiker der Rechten Schuldige für die aufziehende Misere und fanden sie bei den Juden. Antisemitische Kampagnen unterstellten, Juden
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würden sich als Profiteure der Not schamlos bereichern und sich vor dem Dienst an der Front drücken. Außerdem würden die aus den eroberten Gebieten ins Reich strömenden Ostjuden durch „Rassenvermischung“ und Verbreitung revolutionärer Ideen die Widerstandskraft der Deutschen unterminieren. Der latente Antisemitismus im Offizierskorps lebte wieder auf; es wollte die bei Kriegsbeginn verkündete Erleichterung bei der Ernennung jüdischer Offiziere und damit ihre Gleichstellung in der Militärkaste nicht hinnehmen. Jüdischen Offizieren und Frontsoldaten wurde Drückebergerei und Feigheit unterstellt. Bei antisemitischen Gruppierungen in der Heimat fanden die „deutschen“ Offiziere willige Mitstreiter. In der politischen und militärischen Führung wurden die Verleumdungen gegen jüdische Soldaten aufgegriffen. Der wiederaufflammende Antisemitismus führte schließlich dazu, dass im Oktober 1916 unter dem Vorwand, man wolle die antisemitischen Vorwürfe widerlegen, durch einen Erlass des preußischen Kriegsministeriums eine interne „Judenzählung“ im Heer angeordnet wurde. Hier hieß es: „Fortgesetzt laufen beim Kriegsministerium aus der Bevölkerung Klagen darüber ein, dass eine unverhältnismäßige Anzahl wehrpflichtiger Angehöriger des israelitischen Glaubens vom Heeresdienst befreit sei oder sich vor diesem unter allen nur möglichen Vorwänden drücke. Auch soll es nach diesen Mitteilungen eine große Zahl im Heeresdienst stehender Juden verstanden haben, eine Verwendung außerhalb der vordersten Front, also in dem Etappen- und Heimatgebiet und in Beamten- und Schreiberstellen zu finden.“ Zwei Fragebogen zu diesen schwerwiegenden Anschuldigungen sollten alle Truppenteile ausfüllen und bis zum 1. Dezember 1916 an das Kriegsministerium senden. Im ersten wurde nach der Anzahl der Juden unter den Wehrpflichtigen, im zweiten nach Zurückstellungen, Ausmusterungen und Verlegung von Juden in die Etappe gefragt. Es gab keinerlei Anleitungen, wie die Erhebung durchgeführt werden sollte, Angaben von Namen wurden nicht verlangt. Die Durchführung überließ man den einzelnen Kommandostellen. Kein Wunder, dass die Erhebung uneinheitlich und oft schlampig durchgeführt wurde, und, wie später herauskam, antisemitische Offiziere sogar zur bewussten Fälschung des Ergebnisses vor der Zählung jüdische Frontsoldaten in die Etappe versetzten. Da das Ergebnis den Erwartungen der antisemitischen Initiatoren der Zählung dennoch nicht entsprach, wurde es auch nicht veröffentlicht. Das gab antisemitischen Hetzern willkommenen Anlass zu Vermutungen und Unterstellungen, denen wegen der Nichtveröffentlichung kaum beizukommen war. Nach dem verlorenen Krieg wurde die Judenzählung von antisemitischen Gruppierungen, vor allem auf Grundlage der Erinnerungen des ehemaligen Direktors des Allgemeinen Kriegsdepartements im Kriegsministerium, Oberst Ernst von Wrisberg, in ihrem Sinne umgedeutet und ausgeschlachtet. Anfang 1919 veröffentlichte Alfred Roth unter dem Pseudonym Otto Arnim ein Buch „Die Juden im Heere – Eine statistische Untersuchung nach amtlichen Quellen“, das vermutlich auf Angaben Wrisbergs beruhte. Dieser hatte auch schon 1916 auf einer Tagung der Armeekommandeure und Kriegsminister der deutschen Bundesstaaten Juden der „Drückebergerei“ bezichtigt und ihnen unterstellt, „ohne Gewissen“ häufig Freistellungen zu beanspruchen. Entsprechend frisiert waren dann auch seine 1922 erschienenen „Erinnerungen“.
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Jüdischer Exodus aus Polen (1968)
Fachleute kamen zu völlig anderen Ergebnissen. So stellte der Statistiker und Demograph Franz Oppenheimer in einer Untersuchung 1922 fest, dass Roth und Wrisberg in ihren Publikationen elementare Grundsätze der Statistik bewusst missachtet hatten. Offenbar hatten sie auch absichtlich falsche Zahlen veröffentlicht. So waren sie von einer überhöhten Anzahl von Juden unter der Bevölkerung ausgegangen und hatten damit den prozentualen Anteil der Juden im Heer heruntergerechnet. Außerdem gaben sie die Zahl der jüdischen Frontsoldaten um 20.000 zu niedrig an. Da die entsprechenden Zahlen bei Rückstellungen, Beurlaubten und in der Etappe eingesetzten Nichtjuden nicht zum Vergleich herangezogen worden waren, kam Oppenheimer zu dem vernichtenden Urteil, die Judenzählung sei „die größte statistische Ungeheuerlichkeit, deren sich eine Behörde jemals schuldig gemacht hat“. Nachweislich haben rund 100.000 deutsche Juden am Krieg teilgenommen, 78.000 von ihnen an der Front gekämpft, 12.000 sind im Krieg gefallen. Mehr als 10.000 hatten sich freiwillig gemeldet, 30.000 für besondere Tapferkeit Auszeichnungen erhalten. In etwa entsprach der prozentuale Anteil der deutschen Juden bei Kriegsteilnehmern, Frontkämpfern und Gefallenen dem bei Nichtjuden. Wissenschaftliche Klarstellungen konnten nichts an dem durch die Judenzählung außerordentlich verstärkten Antisemitismus in der Armee, aber auch in der Nachkriegsgesellschaft ändern.
Literatur
Wolfram Selig
Otto Arnim (Alfred Roth), Die Juden im Heer – eine statistische Untersuchung nach amtlichen Quellen, München 1919. Franz Oppenheimer, Die Judenstatistik des preußischen Kriegsministeriums, in: Fragen der Zeit, München 1922. Jacob Rosenthal, Die Ehre des jüdischen Soldaten. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Frankfurt am Main, New York 2007. Andrea Tyndall, The 1916 German Judenzählung, Action and Reaction, University of North Carolina at Greensboro 1986.
Jüdischer Exodus aus Polen (1968) Der israelisch-arabische Krieg im Juni 1967, der als Sechstagekrieg in die Geschichte einging, führte wie in fast allen Ostblockstaaten auch in der Volksrepublik Polen zu einem Wendepunkt in der Politik gegenüber Israel. Während die sowjetischen Medien den Topos der jüdischen Weltverschwörung im Gewand des „Zionismus“ als gefährlichste Spielart des Imperialismus propagierten, wurde in Polen 1968 ein antisemitischer Propagandafeldzug inszeniert, der sich gegen polnische Staatsbürger jüdischer Herkunft im eigenen Land richtete. Am 7. Juni 1967 verurteilte eine Regierungserklärung Israel „im Namen des ganzen Volkes“ als Aggressor und sicherte dem „gerechten Kampf der arabischen Länder“ die volle Unterstützung zu. Zu diesem Zeitpunkt richtete sich die antiisraelische Kampagne noch nicht gegen Juden in Polen. Am 19. Juni 1967 jedoch verkündete der Erste Parteisekretär Władysław Gomułka auf dem Gewerkschaftskongress: „Wir wollen nicht, dass sich in unserem Land eine fünfte Kolonne bildet.“ Diese Äußerung zielte
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gegen alle, die Sympathien für Israel hegten, in erster Linie aber gegen polnische Juden, die pauschal mit Israel identifiziert wurden. Neu war die Beschwörung einer „fünften Kolonne“ in Volkspolen nicht. Im Februar 1953, kurz vor Stalins Tod, verbreitete das theoretische Parteiorgan „Nowe Drogi“, der „Zionismus“ als Werkzeug des US-Imperialismus wolle sowohl in der Sowjetunion als auch in den anderen Volksrepubliken durch Einschleusen von Agenten eine „fünfte Kolonne“ schaffen. Am 8. März 1968, im Jahr des „Prager Frühlings“ und der Unruhen an westlichen Universitäten, demonstrierten Studenten der Warschauer Universität für die Wiederzulassung von Kommilitonen, die wegen ihres Protests gegen die Absetzung von Adam Mickiewiczs Drama „Dziady“ [Die Ahnen] vom Spielplan des Nationaltheaters relegiert worden waren. Gewaltsame Übergriffe der Miliz auf die Protestierenden lösten in Warschau Demonstrationen und Straßenkämpfe aus, die auf Hochschulen anderer Städte übergriffen. Die Demonstranten protestierten gegen die restriktive staatliche Kulturpolitik und forderten demokratische Reformen des Systems. Unter Führung von Innenminister Mieczysław Moczar begann daraufhin eine antisemitische Treibjagd seiner „Partisanen“-Fraktion in der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR) mit dem Ziel, durch antijüdische Säuberungen des Partei- und Staatsapparats im innerparteilichen Machtkampf die Oberhand zu gewinnen. Die hasserfüllte Pressekampagne richtete sich gegen angebliche Akteure der Studentenunruhen „hinter den Kulissen“. Als Drahtzieher und Rädelsführer galten in erster Linie Studierende, die jüdische Vorfahren hatten. Sie sollten als „Agenten des internationalen Zionismus und der BRD“ entlarvt werden. Angebliche „Rädelsführer“ [„inspiratorzy“], die aus dem Verborgenen perfide zum Aufruhr anstifteten, wurden zum Schlüsselbegriff im Verschwörungsdiskurs. Sie würden ein Komplott gegen alles schmieden, „was gut und was unser“, d.h. sozialistisch und national war. „Zionismus“, als „Ideologie der jüdischen Bourgeoisie“ dämonisiert, galt als Inbegriff all dessen, was bekämpft werden musste. Die Behörden organisierten „antizionistische“ Arbeiterkundgebungen gegen die angeblich von Zionisten unterwanderte akademische Jugend. Sowohl in der antiisraelischen Propaganda 1967 als in der antizionistischen Kampagne 1968 glichen sich Sprach- und Deutungsmuster landesweit. Die Worthülsen, mit denen etwa Arbeiter einer Transformatorenfabrik in Łódź ihre Unterstützung für die arabischen Nationen zum Ausdruck brachten, sind austauschbar mit Erklärungen aus Warschau, Krakau oder Wrocław, was aber nicht bedeutete, dass die Parolen keine Unterstützung fanden. Die in der Parteipresse als „Volkes Stimme“ veröffentlichten Resolutionen 1968 enthalten eine Mixtur aus gängigen Ressentiments: „Wenn man den Polen Antisemitismus vorwirft, dann verlangen sie eine Erklärung, wie viele Juden in Polen in Berufen arbeiten wie Stahlarbeiter, Bergmann, Weber, und wie viele Juden leitende Positionen im Partei- und Staatsapparat einnehmen“, heißt es etwa in Łódź, wo die Hetzkampagne besonders rigide Ausmaße annahm. In der Volksrepublik als Textilmetropole proletarisches Aushängeschild, galt das Vorgehen des Parteikomitees 1968 in dieser Großstadt als besonders aggressiv. Nach Dariusz Stola forcierten die dortigen Funktionäre die Abrechnung mit den „Zionisten“ mit so viel Energie und Engagement, dass die Parteiführung ihren Eifer dämpfen musste. Besondere Skrupellosigkeit zeigte das Lodzer
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Jugoslawische antijüdische Gesetze (1940)
Parteikomitee auch darin, dass es 1968 nicht vor einer Neuauflage der → „Protokolle der Weisen von Zion“ zurückschreckte, die allerdings nur inoffiziell im engsten Kreis kursieren sollte. Zwanzig Jahre früher hätte dies die Todesstrafe nach sich gezogen, bemerkt Stola. Traditionelle antijüdische Vorwürfe und Stereotype aus der antisemitischen Vorkriegsliteratur wurden nun auf „Zionisten“ projiziert. Sie hätten die Presse der Volksrepublik beherrscht und sich mit den Feinden des „Volksvaterlandes“ verbündet. Auch wurde suggeriert, Jude-Sein bedeute die Zugehörigkeit zu einer geheimen Organisation. Die Kampagne beschränkte sich nicht auf allgemeine öffentliche Stimmungsmache durch Verleumdung, sondern zielte direkt auf die Stigmatisierung und Ausgrenzung von Personen jüdischer Herkunft unter Anwendung rassistischer Kriterien. Sie wurden von ihren Arbeitsstellen und aus ihren Wohnungen vertrieben, ein Vorgehen, für das es weder im Nachkriegspolen noch im Nachkriegseuropa eine Präzedenz gibt. Die „antizionistische“ Kampagne hatte eine komplexe Funktion innerhalb des maroden Systems: Sie verstärkte antijüdische Ressentiments in der Gesellschaft und instrumentalisierte sie für den innerparteilichen Machtkampf in der Partei und lenkte vom außenpolitischen Prestigeverlust und der ökonomischen Krise der Volksrepublik ab. Opfer der Kampagne wurden nicht nur Prominente, sondern auch Betriebsleiter und Ingenieure, Ärzte und schlichte Ladenbesitzer, Zahntechniker und kleine Verwaltungsangestellte, die ihre Existenzgrundlage verloren und sich zur Emigration gezwungen sahen. Vor allem für junge Leute war die Wucht der 1968er-Kampagne ein traumatisches Erlebnis, zumal viele von ihnen erst in dieser Situation von ihrer jüdischen Herkunft erfuhren. Rund 15.000 Personen verließen nach dem März 1968 unter demütigenden Umständen die Volksrepublik Polen und emigrierten nach Israel, in die USA oder in westeuropäische Länder. In den 1990er Jahren setzte in Polen die historische Forschung und eine Debatte über die „Märzereignisse“ ein, die oft als „hańba Marca“ [Märzschande] bezeichnet werden. Die damals Ausgebürgerten können seit einigen Jahren auf Wunsch die polnische Staatsangehörigkeit zurückbekommen.
Literatur
Beate Kosmala
Beate Kosmala, Łódź 1968: Die „Protokolle” und die antizionistische Kampagne in Polen, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 14 (2005), S. 161–178. Beate Kosmala (Hrsg.), Die Vertreibung der Juden aus Polen 1968. Antisemitismus und politisches Kalkül, Berlin 2000. Piotr Osęka, Marzec ’68 [März 68], Kraków 2008. Konrad Rokicki, Sławomir Stępień (Hrsg.), Oblicza Marca 1968. Konferencje IPN [Aspekte des März 1968. Konferenzen des Instituts für Nationales Gedenken], Warszawa 2004. Dariusz Stola, Kampania antysyjonistyczna w Polce 1967–1968 [Antizionistische Kampagne in Polen 1967–1968], Warszawa 2000.
Jugoslawische antijüdische Gesetze (1940) Als Initiator zweier antisemitischer Gesetze im Königreich Jugoslawien vom Oktober 1940 gilt der Slowene und damalige Bildungsminister Anton Korošec. Bereits Mitte
Jugoslawische antijüdische Gesetze (1940)
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1940 setzte er sich während mehrerer Kabinettssitzungen für die Einführung strenger antisemitischer Verordnungen und Gesetze ein. Korošec verlangte, dass Juden aus dem Kulturbetrieb, wie Film, Theater und Radio, aus der Presse und von allen publizistischen Tätigkeiten ausgeschlossen werden sollten. Die jugoslawische Regierung war in diesen Fragen gespalten, so dass Korošec’ Vorschläge zunächst nicht umgesetzt wurden. Im Laufe des Monats September 1940 beriet das Kabinett erneut über antijüdische Gesetze. Diesmal kristallisierten sich zwei Vorschläge heraus, nämlich die Ausgrenzung der Juden von Teilen der jugoslawischen Wirtschaft sowie die Einführung eines „Numerus clausus“ für Juden an den Hochschulen. Die Beratungen der Regierung wurden in einigen Teilen der jugoslawischen Presse wohlwollend aufgenommen. So schrieb das regierungstreue serbische Blatt „Vreme“ am 20. September 1940, die Königliche Regierung „bekämpfe entschlossen die jüdische Spekulation im Land“. Am 5. Oktober 1940 verkündete die jugoslawische Regierung die zwei Gesetze, die die Rechte der jugoslawischen Juden deutlich beschnitten. Die „Verordnung über die Maßnahmen, die sich auf Juden bezüglich der Verrichtung der Arbeit mit Gegenständen der menschlichen Ernäherung beziehen“, sah trotz des holprig und unscheinbar wirkenden Titels den praktischen Ausschluss von Juden aus dem Lebensmittelhandel vor. Juden wurde die Arbeit in der Lebensmittelindustrie und dem Großhandel verboten. Jüdischen Geschäften wurde die Lizenz entzogen und sie wurden aus den Handelsregistern gestrichen. In der Lebensmittelindustrie konnten jedoch Vertrauenspersonen oder Kommissare, die die Qualität sicherstellen sollten, eingesetzt werden. Bei einem Verstoß gegen das Gesetz drohten Gefängnisstrafen bis zu zwei Jahren und hohe Geldbußen. Die „Verordnung über die Einschreibung von Individuen jüdischer Herkunft und Schüler der Universität, der Hochschulen im Rang einer Universität, höherer, mittlerer, pädagogischer und anderer Fachschulen“ bedeutete die Einführung eines „Numerus clausus“ für Juden. Demnach sollte die Anzahl der jüdischen Schüler und Studenten den Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung nicht überschreiten. Für die etwa 70.000 Juden Jugoslawiens, die 0,46 Prozent der Gesamtbevölkerung, aber 4,4 Prozent der Studentenschaft stellten, bedeutete diese Maßnahme, die zum Beginn des Herbstsemesters 1940 greifen sollte, einen tiefen Einschnitt in ihr Leben. Das Gesetz fand an den Grund- und Oberschulen keine Anwendung, da das Schuljahr bereits einen Monat zuvor begonnen hatte und das neue Gesetz nicht rückwirkend angewendet wurde. So konnten auch beispielsweise Zagreber jüdische Studenten der Medizin und Rechtswissenschaften, die etwa 16 Prozent der Studenten in diesen Fächern stellten, das Gesetz umgehen. Da die Absichten der Regierung bereits im September bekannt wurden, nutzten viele jüdische Studenten die ersten Einschreibefristen und waren so im Oktober 1940 bereits immatrikuliert. Mehrere jugoslawische Zeitungen hatten die antisemitischen Gesetze begrüßt. Die zionistische Zeitschrift „Židov“ berichtete daher Anfang November 1940 verstärkt über die wachsende antisemitische Propaganda und zeigte sich über die Stellung der Juden im Land äußerst besorgt. Die Sorge war nicht unbegründet: nur etwa sechs Monate später begann mit der Zerschlagung Jugoslawiens die Vernichtung der jugoslawischen Juden.
Marija Vulesica
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Kairoer Judenprozess (1933/34)
Literatur
Narcisa Lengel-Krizman, Numerus clausus-jesen 1940 [Numerus clausus-Herbst 1940], in: Časopis za suvremenu povijest [Zeitschrift für Zeitgeschichte] 3 (2006), S. 1007–1012.
Le Juif et la France → „Der ewige Jude“ (Propaganda-Ausstellung)
Kairoer Judenprozess (1933/34) Die unter dem diffamierenden Titel „Kairoer Judenprozess“ geführte Gerichtsverhandlung sollte ursprünglich am 16. Oktober 1933 vor dem „Tribunal Mixte“ [hier wurden zivil- und wirtschaftsrechtliche Streitfälle zwischen Ägyptern und ausländischen Staatsbürgern sowie zwischen Ausländern verschiedener Nationalitäten verhandelt] in Kairo stattfinden, wurde dann aber auf den 8. Januar 1934 nach Alexandria vertagt. Gegenstand war die Klage des Geschäftsmanns Umberto Jabès gegen den Vorsitzenden des Deutschen Vereins in Kairo, Wilhelm van Meeteren, wegen Beleidigung, Verbreitung von Rassenhass und Störung der Öffentlichen Ordnung auf 101 Ägyptische Pfund Schadensersatz. Unterstützung erhielt Jabès u.a. von der „Ligue Internationale Contre l’Antisémitisme“ (LICA). Van Meeteren hatte im Juni 1933 in Absprache mit der örtlichen Gruppe der NSDAP eine auf Deutsch und Französisch verfasste Broschüre „Zur Judenfrage in Deutschland“ verbreitet. Eine treibende Kraft hinter der Erstellung der Broschüre war der Gesandtschaftsrat Hans Pilger, der sich einige Wochen zuvor mit der Bitte um Informationsmaterial zur Bekämpfung der „jüdischen Hetze“ an das Auswärtige Amt gewandt hatte. Die LICA hatte aufgrund der antisemitischen Ereignisse in Deutschland zum Boykott gegen deutsche Waren und Dienstleistungen in Ägypten aufgerufen. Das Auswärtige Amt reagierte schnell und schickte das angeforderte Material nach Kairo. Auf die Klage gegen van Meeteren wurde das Auswärtige Amt durch ein Schreiben des deutschen Gesandten Eberhard von Stohrer vom 7. August 1933 aufmerksam, in dem er über den anstehenden Prozess berichtete und um Hilfe bat. In einer Besprechung im Auswärtigen Amt wurde das weitere Vorgehen erörtert. Während das Außenministerium die Bagatellisierung des Prozesses bevorzugte, vertrat Wolfgang Diewerge aus dem Reichspropagandaministerium die Absicht, den Prozess im Kampf gegen die „Diffamierung Deutschlands“ durch eine angebliche „jüdische Verschwörung“ in Ägypten auszunutzen. Diewerge konnte sich mit seinen Ansichten durchsetzen und wurde nach Kairo entsandt, um eine Gegenstrategie auszuarbeiten und den Prozess zu begleiten. Noch im September 1933 verfasste er ein Gutachten mit dem Titel „Die pressemäßige Unterstützung des Kairo-Prozesses“, in dem er mit der Bezeichnung „Kairoer Judenprozess“ einen einheitlichen Begriff für die Pressearbeit vorschlug, der sich schnell durchsetzte. Ziel war es nicht nur, in Deutschland über die „jüdische Hetz- und Gräuelpropaganda“ zu berichten, sondern auch, in Ägypten eine breite „antijüdische Stimmung“ zu erzeugen. Durch Kontakte zu ägyptischen Zeitungen, wie „al-Muqattam“, sollte den Ägyptern die Gefahr einer „internationalen jüdischen Verschwörung“ vermittelt werden. Der Vertrauensanwalt der Gesandtschaft, Felix Dahm, stand diesem Ansatz skeptisch gegenüber. Er argumentierte, der Bildungsgrad der ägyptischen Bevölkerung sei
Kantonisten
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noch nicht fortgeschritten genug, um die „judenfeindliche Bewegung“ zu verstehen. Deshalb betonte Dahm die Notwendigkeit, Einfluss auf die ägyptische Regierung zu gewinnen. Im Prozess konzentrierte sich die deutsche Verteidigung unter Führung des Rechtsprofessors Friedrich Grimm darauf, den politischen Gehalt von der Rechtsform der Klage zu trennen. Das Gericht gab diesem Ansinnen statt und verhandelte nicht über den sachlichen Inhalt der Propaganda-Broschüre, sondern einzig über die Rechtsfrage. Es kam zu dem Ergebnis, Jabès habe als einzelner Jude kein Klagerecht, da mit der Broschüre das „Gesamtjudentum“ gemeint sei, und wies die Klage ab. Auch im Berufungsverfahren im Mai 1935 entschied der „Cour d’Appel Mixte“ in Alexandria mit der gleichen Argumentation. In Deutschland diente der „Kairoer Judenprozess“ als nachträgliche Rechtfertigung für den → Boykott-Tag vom 1. April 1933, der sich als „reine Abwehrmaßnahme“ gegen die „Auslandshetze der Juden“ gewandt habe. Die Prozessakten wurden in Ägypten gemäß Routine 1956/57 vernichtet.
Literatur
Malte Gebert
Mahmoud Kassim, Die diplomatischen Beziehungen Deutschlands zu Ägypten 1919–1936, Hamburg 2000, S. 361–273. Gudrun Krämer, Minderheit, Millet, Nation? Die Juden in Ägypten 1924–1952, Wiesbaden 1982, S. 265–279.
Kantonisten Von 1805 bis 1856 dienten im zarischen Russland Kinder in Armeeeinheiten zur Vorbereitung auf ihren anschließenden Kriegsdienst. Die Jungen mussten mindestens zwölf Jahre alt sein und lebten als Kantonisten bis zum 18. Lebensjahr. Anschließend erfolgte ihre Überstellung an die Armee, in der sie 25 Jahre dienten. Die Idee, Jungen für die Streitkräfte zu mobilisieren, ging auf Zar Peter I. zurück (1721). Ab 1805 regulär aufgestellt, wurden die Jungen „Kantonisten“ genannt. Dieses Wort war der preußischen Militärverwaltung entlehnt, die mit dem Ausdruck „Kanton“ einen Wehrkreis bezeichnete. Als Kantonisten dienten im Russischen Reich vorwiegend Kinder von niederen Soldaten. Die Jungen erhielten in den Einheiten eine elementare Schulbildung (Lesen und Schreiben) und oft auch eine handwerkliche Ausbildung (etwa Schlosser, Schmied, Schuhmacher). Nach und nach wurden auch (arme) Kinder aus Finnland, Kinder von „Zigeunern“, von aufständischen Polen, von Altgläubigen sowie obdachlose Kinder zu den Kantonisten gezogen. 1827 verfügte Zar Nikolaj I. die Einführung der Wehrpflicht auch für Juden des Imperiums; damit erfolgte per Gesetz ebenso die Einberufung von jüdischen Kindern in die Kantonisten-Einheiten. Pro tausend jüdische Männer sollten zehn Kinder ihren Dienst versehen – für Christen lag die Quote bei sieben Kindern pro Tausend. Von der Einberufung ausgenommen waren Kinder, deren Väter Rabbiner, Kaufleute, Mitglieder einer Gilde oder Älteste eines Kahal waren. Ferner mussten die Juden in den Gebieten des zu Russland gehörenden Königreichs Polen und bis 1852 auch die Juden Bessara-
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biens ihre Kinder nicht zu den Kantonisten geben, weshalb viele jüdische Familien aus der Ukraine, Weißrussland und Litauen dorthin flohen. Die Abgabe ihrer Kinder hatten die Juden im Zarenreich selbst zu organisieren. Die Gemeindevorsteher waren persönlich für die Erfüllung der Quote haftbar und wählten deshalb oft den einfachsten Weg, indem sie für den schwierigen Dienst vor allem Kinder von armen Gemeindemitgliedern bestimmten. Skrupellos erfolgte oft ihre Aushebung, die von sogenannten Chappers (jiddisch für Entführer, entlehnt vom ukrainischen „schapati“) durchgeführt wurde: Sogar Acht- oder Neunjährige schickten sie zu den Kantonisten. Dort lebten die Jungen oft unter äußerst schlechten Bedingungen. Viele starben an Seuchen oder an der anstrengenden Arbeit, der sie altersmäßig nicht gewachsen waren, oder schon während der Strapazen auf den langen Wegen durch das Zarenreich zu ihren Einheiten. Ein Ziel der Zarenregierung lag neben der frühen militärischen Ausbildung von Kindern darin, die jüdischen Kantonisten während ihrer Dienstzeit zu christianisieren. Ihnen wurde verboten, Jiddisch zu reden, ihren Angehörigen zu schreiben, zu beten, ihre religiösen Bräuche auszuüben. Wenige konnten dieser Zwangschristianisierung widerstehen, vor allem nachdem 1843 diese Bestrebungen noch verstärkt worden waren. Neben einigen Vergünstigungen erhielten Juden 25 Rubel für ihre Konversion. Die Getauften nahmen nun einen neuen christlichen Vor- und Nachnamen an und begannen ihrerseits, ihre ehemaligen Glaubensbrüder zu missionieren. Widerständige gegen den neuen Glauben hat es gleichwohl gegeben, zumal unter den Älteren. Manche Jungen bekannten sich später mit 18 oder nach ihrem Ausscheiden aus dem Armeedienst wieder zum Judentum. Viele von ihnen hatten heimlich an ihrer Religion während der langen Militärzeit festgehalten. Während des Krimkriegs (1853–56) wurden die Einberufungszahlen erhöht. Juden mussten nun 30 Kinder auf tausend Männer pro Jahr stellen. Mit dem Kriegsende und dem Zarenwechsel (1855) löste Alexander II. per Gesetz die Kantonisten-Einheiten auf. Alle Kantonisten bis zum Alter von 20 Jahren durften nach Hause zurückkehren. Zwischen 1827 und 1856 hatten mehr als 50.000 Juden als Kantonisten gedient. Ihr Schicksal hat tiefe Spuren in der jüdischen Literatur hinterlassen, besonders ihr Leiden und Sterben, aber auch die erfolgte Zwangschristianisierung war ein Thema vieler jüdischer Autoren.
Literatur
Jörn Happel
Larry Domnitch, The Cantonists. The Jewish children’s army of the Tsar, Jerusalem, New York 2003. Olga Litvak, Conscription and the search for modern Russian Jewry, Bloomington 2006. Benjamin Nathans, Beyond the pale. The Jewish encounter with late imperial Russia, Berkeley 2002. Jochanan Petrovskij-Štern, Jews in the Russian army, 1827–1917. Drafted into modernity, Cambridge 2009.
Kantorowicz-Affäre (1880)
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Kantorowicz-Affäre (1880) Die Kantorowicz-Affäre, oder auch Pferdebahn-Affäre, ist heutzutage weithin der Vergessenheit anheim gefallen. Höchstens als Fußnote im Kontext des → Berliner Antisemitsmusstreits taucht sie in der Literatur auf, ihren zeitgenösischen Stellenwert – die Affäre war sogar der „Times“ eine Nachricht wert – hat sie jedoch verloren. Das überwiegende Desinteresse der Antisemitismusforschung an diesem Ereignis mag aus seiner scheinbaren Alltäglichkeit resultieren: Am späten Nachmittag des 8. November 1880 bestieg an der Haltestelle Leipzigerstraße in Berlin der aus Posen stammende jüdische Spirituosenfabrikant Edmund Kantorowicz die Pferdebahn in Richtung Behrenstraße. Im Wagen befanden sich neben anderen Passagieren auch Dr. Carl Jungfer und Dr. Bernhard Förster, beide Lehrer am Friedrichs-Gymnasium und in der „Berliner Bewegung“ aktiv. Nun zogen die Akademiker mit Hilfe von Kollektivinjurien („jetzt werden nicht mehr Worte gebraucht, es gibt jetzt deutsche Hiebe“) alle Register des von ihresgleichen eigentlich ostentativ abgelehnten Pöbelantisemitismus, hatte Heinrich von Treitschke diesem doch kurz zuvor schon den „Kappzaum der Scham“ (Theodor Mommsen) genommen. Das Wechselspiel zwischen Provokation, Beleidigung und Bedrohung erhielt sein Ende durch die Zivilcourage von Edmund Kantorowicz. Der Fabrikbesitzer stellte die Unruhestifter zur Rede, es kam zu Handgreiflichkeiten, schließlich wurde ein Wachmann dazu gerufen. Als Kantorowicz das baldige Erscheinen eines Ordnungshüters begrüßte, bekam er von Jungfer mit den Worten „Sie sind ja nur ein Jude!“ zu verstehen, dass er sich keine allzu großen Hoffnungen auf Recht und Gesetz machen sollte; unu actu ohrfeigte Kantorowicz Jungfer (und nicht Förster, wie manchmal irrtümlich dargestellt wird) in aller Öffentlichkeit: nach damaliger sozialer Konvention eine Duellaufforderung. Am nächsten Tag bekam Kantorowicz einen von Förster in dessen Eigenschaft als Kartellträger verfassten Brief, in dem Kantorowicz als „völlig unsatisfactionsfähig“ bezeichnet und stattdessen der „Weg der Civilklage“ angekündigt wurde. Der Fabrikant wehrte sich gegen die Täter-Opfer-Umkehrung und schrieb seinerseits an den Direktor des Friedrichsgymnasiums einen Beschwerdebrief. Damit ließ er es jedoch nicht bewenden und schickte noch ein weiteres Schreiben an den liberalen „Berliner Börsen-Courier“ und zuletzt an das Landwehr-Bezirkskommando, mit der Aufforderung, dass sich ein Ehrengericht mit dem Verhalten des Seconde-Lieutnants Förster auseinandersetzen sollte. Kantorowicz hatte viele Jahre in der preußischen Armee gedient. Der point d`honneur wurde vor dem Hintergrund des virulenten Antisemitismusstreits schnell zu einem Politikum. Flugschriften entstanden, und vor allem nahm reflexartig die jeweilige Tagespresse Partei für die eine oder andere Seite ein. Von einem regelrechten „Zeitungssturm“ sprechen die zeitgenössischen Quellen. Dabei verzichtete die „National-Zeitung“ nicht auf inkriminierende Artikelserien über das angeblich unseriöse Geschäftsgebaren des „Schnapsjuden“ Kantorowicz, dessen Ohrfeige ein Schlag ins „Gesicht aller Deutschen“ gewesen sei. In der katholischen Presse ergriff man weniger Partei für die beiden Pädagogen aus dem protestantischen Bildungsbürgertum, als dass man versuchte, die Verwerfungen der Moderne im Sinne des Syllabus errorum als semitisch zu denunzieren. Liberale Blätter, wie der „Berliner Börsen-Cou-
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rier“ oder das „Berliner Tageblatt“, hielten dagegen und belehrten ihre Leser über den nicht über jeden Zweifel erhabenen Leumund des Bernhard Förster. Die Ehrensache hatte auch ein parlamentarisches Nachspiel: Bereits am 11. November 1880 wurde in der Berliner Stadtverordnetenversammlung von den linksliberalen Stadtverordneten Wilhelm Hermes und Paul Langerhans die Anfrage gestellt: „Hat der Magistrat Kenntniß genommen von der Aufführung zweier Lehrer einer städtischen höheren Lehranstalt an einem öffentlichen Ort in Beziehung auf Mitbürger jüdischer Konfession?“ Die Schulaufsichtsbehörde, das Königliche Provinzial-Schul-Kollegium, wurde beauftragt, ein Disziplinarverfahren gegen Förster und Jungfer einzuleiten. In der großen Aussprache über die „Judenfrage“ im Preußischen Abgeordnetenhaus am 20. und 22. November 1880 verdeutlichte der Abgeordnete Strosser nochmals die Position der Konservativen: „Hier nun fordern die Herren uns auf in wahrer Begeisterung uns für die Juden in die Schanze zu schlagen! Ja, meine Herren, wenn noch so viele Beleidigung und Besudelung von Personen und christlichen Glaubenswahrheiten die Christenheit aller Konfessionen sich jetzt auf den Fall Kantorowicz hin begeistert in die Schanze schlagen sollte, so hieße das – und das wird der Geschichtsschreiber des römischen Volkes, Herr Professor Mommsen, am besten wissen, – die Christenheit auffordern, unter dem kaudinischen Joche hindurchzukriechen.“ Das letzte Wort sprach freilich die Justiz: Kantorowicz wurde zu einer einmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, im Berufungsverfahren fiel die Strafe mit lediglich 100 Mark aber um einiges milder aus. Die Konsequenzen für Förster und Jungfer waren ungleich härter: Nach Abschluss der Untersuchungen der Schulbehörde wurden beide vom städtischen Schuldienst suspendiert, Förster verlor obendrein seinen Offiziersrang und kehrte schließlich seiner Heimat grollend und irrlichternd in Richtung Südamerika ganz den Rücken. Die beiden „gebildeten Doppelgänger“ (Uffa Jensen) gerierten sich dabei als die ersten Märtyrer der antisemitischen Bewegung und empfingen dementsprechend Solidaritätsadressen. So kleidete Ernst Siecke, ein Kollege vom FriedrichsGymnasium und Verfasser des Pamphlets „Die Judenfrage und der Gymnasiallehrer“ sein j’accuse in die Frage: „Welche Stellung muß einem Lehrer erlaubt sein, in der brennendsten Tagesfrage, betreffend die Stellung des semitischen Elementes im germanischen Staatsleben, zu nehmen?“ Die larmoyante Selbstviktimisierung, wie sie hier zum Ausdruck kam, wurde dabei für die ganze antisemitische Bewegung – notabene bis zum heutigen Tag – stilbildend.
Literatur
Clemens Escher
Barnet Hartston, Sensationalizing the Jewish Question. Anti-Semitic Trials and the Press in the Early German Empire, Leiden 2005. Uffa Jensen, Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005. Karsten Krieger (Bearbeiter), Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Kommentierte Quellenedition im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung, 2 Teile, München 2003. Simplicissimus, Der Fall Kantorowicz als Symptom unserer Zustände, Berlin 1881.
Kielce-Pogrom → Pogrom in Kielce (1946)
Klagemauer-Vorfall in Jerusalem (1929)
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Kindertransporte In den Jahren 1938 und 1939 konnten mit den Kindertransporten etwa 10.000 überwiegend jüdische Kinder aus Deutschland, dem annektierten Österreich und in kleinerem Umfang aus der Tschechoslowakei und der Freien Stadt Danzig nach Großbritannien ausreisen, nachdem die britische Regierung infolge der → Novemberpogrome 1938 auf Druck von Hilfsorganisationen eine erleichterte Einreise minderjähriger vom NSRegime Verfolgter beschlossen hatte. Außenpolitische Hintergründe der relativ großzügigen Entscheidung waren die sehr restriktiven Einwanderungsrichtlinien der britischen Mandatsmacht in Palästina und die gescheiterte Appeasementpolitik. Von beidem sollte durch die humanitäre Entscheidung abgelenkt werden. Kein anderes Land öffnete damals seine Tore in nur annähernd großem Umfang für die verfolgten Kinder. Die britische Regierung sorgte mit strikten Vorgaben dafür, dass die Einreise der Kinder keine innenpolitischen Spannungen verursachte. So mussten sämtliche anfallenden Kosten durch private Gelder gedeckt werden. Von einer Weiterwanderung der Kinder in andere Länder wurde zunächst ausgegangen, dies machte der Kriegsausbruch jedoch unmöglich. Die Auswahl der jüdischen Kinder und die Durchführung der Transporte erfolgte durch die Wiener „Israelitische Kultusgemeinde“ und durch die „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“, christliche oder nichtkonfessionelle Kinder jüdischer Herkunft wurden durch verschiedene kirchliche Hilfsorganisationen und die Quäker ausgewählt. Auf britischer Seite beschafften private Hilfsorganisationen, vor allem das „Movement for the Care of Children from Germany“/“Refugee Children’s Movement“, Bürgschaften und Unterkünfte. In der Regel reisten die Kinder mit dem Zug nach Hoek van Holland und wurden dann mit Schiffen nach Harwich gebracht und nach ihrer Ankunft entweder vorübergehend in einem der Auffanglager in Südostengland (das bekannteste war Dovercourt Camp bei Harwich) oder direkt bei britischen, oftmals nichtjüdischen Pflegefamilien (was bei vielen Kindern zu schneller Anglisierung und Religionsverlust führte) bzw. seltener in Hostels untergebracht. Eine geringere Zahl Kindertransporte erfolgte über die Route Hamburg-Southampton. Der Kriegsausbruch 1939 beendete die Kindertransporte. Einer großen Zahl Kinder gelang die Flucht mit einem Kindertransport nicht. So lagen zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs bei der Reichsvertretung der Juden in Deutschland noch über 10.000 Anträge vor. Nach 1945 ließ sich ein großer Teil der Kinder – die Eltern waren meist im Holocaust ermordet worden – dauerhaft in Großbritannien nieder, viele wanderten aber auch nach Palästina/Israel und in die USA aus.
Literatur
Claudia Curio
Claudia Curio, Verfolgung, Flucht, Rettung. Die Kindertransporte 1938/39 nach Großbritannien, Berlin 2006.
Klagemauer-Vorfall in Jerusalem (1929) Am 16. August 1929 zogen in Jerusalem im Anschluss an das Freitagsgebet ca. 2000 Araber zur Klagemauer. Die Imame hatten in den Moscheen zur Verteidigung der hei-
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Klagemauer-Vorfall in Jerusalem (1929)
ligen Stätten aufgerufen. Sie fühlten sich dadurch provoziert, dass während des jüdischen Trauertages einen Tag zuvor junge Zionisten die Hatikwah gesungen und die zionistische Flagge gezeigt hatten. Auf ihrem Weg riefen die Araber Parolen wie „Bringt die Juden um!“ und „Die Mauer ist unser!“. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, verprügelten sie die dort anwesenden Juden und verbrannten Thorarollen. Bereits ein Jahr zuvor war es am 24. September 1928 während des jüdischen Versöhnungsfestes zu Übergriffen an der Klagemauer gekommen, weil die dort Betenden Stühle für die Alten und eine tragbare Trennwand zwischen Männern und Frauen aufstellten. Aufgrund starker Proteste griff die britische Polizei ein und entfernte die Trennwand, während sie von arabischen Anwohnern mit antijüdischen Parolen angefeuert wurden. Direkt nach dem Vorfall begann der Mufti von Jerusalem, Hajj Amin al-Husseini, der als Repräsentant des Obersten Muslimischen Rats seit 1922 mit der Verwaltung der Klagemauer vertraut war, sich als Verteidiger der islamischen Heiligtümer zu stilisieren. Er warf den Juden vor, eine Verschwörung zu planen, durch die sie die Klagemauer an sich bringen und die Moscheen auf dem Tempelberg zerstören wollten. Hierfür griff er auch auf den Schlüsseltext des modernen Antisemitismus, die → „Protokolle der Weisen von Zion“, zurück. Er schürte in der Öffentlichkeit die Furcht vor einer „jüdischen Bedrohung“ und festigte so erfolgreich sein Ansehen als nationale Führungsfigur. In der Folge kam es immer wieder zu Übergriffen von Arabern auf Juden. Nach dem 16. August 1929 eskalierte die Situation und fand eine Woche später ihren Höhepunkt in pogromartigen Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung. Im gesamten Mandatsgebiet Palästina hatte sich das Gerücht verbreitet, die Juden hätten einen Angriff auf die al-Aqsa-Moschee geplant und bereits mehrere Araber getötet. Am 23. August schließlich machten sich tausende bewaffnete Bauern aus den umliegenden Dörfern auf den Weg nach Jerusalem, um dort am Freitagsgebet teilzunehmen. Einzelne Imame forderten in ihren Predigten, die Juden „bis zum letzten Blutstropfen“ zu bekämpfen. Ab Mittag erfolgten Angriffe auf jüdische Passanten und schließlich auf die Stadteile Mea Schearim, Jemin Moshe und Talpiot. Im Laufe dieses und des nächsten Tages wurden 17 Juden getötet. Wie eine Welle breiteten sich die Unruhen über Jerusalem hinaus auf das ganze Land aus. So erreichten die Gerüchte noch am selben Nachmittag das 30 Kilometer entfernte Hebron. Dort griff eine aufgebrachte Menge jüdische Häuser an, plünderte Geschäfte und ermordete 67 Juden. Zeugen berichteten von Gräueltaten wie der Kastration zweier Rabbis oder der Tötung eines zweijährigen Kindes, dem der Kopf abgerissen worden sei. Auch in Safed wurden 20 Juden getötet; sechs Kibbuzim wurden vollständig zerstört. Erst nach einer Woche erlangte die britische Polizei die Kontrolle über die Situation. Bis zu diesem Zeitpunkt waren 133 Juden sowie 116 Araber getötet und 339 Juden sowie 232 Araber verletzt worden. Die meisten arabischen Opfer waren in Auseinandersetzungen mit der Polizei getötet oder verletzt worden. Insgesamt stellt der Klagemauer-Vorfall einen Wendepunkt im Verhältnis zwischen Arabern und Juden in Palästina dar. Die Gewalt richtete sich gegen alle als Juden identifizierten Menschen, darunter Angehörige des alten Jischuw, die über Jahrhunderte friedlich neben den Arabern gelebt hatten. Zwar hatten viele Araber ihre jüdischen Nachbarn beschützt, dennoch waren die hoffnungsvollen Vorstellungen eines friedli-
Kölner Karneval (1934–1939)
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chen Nebeneinanders nachhaltig geschädigt. Zu groß war inzwischen der Einfluss der palästinensischen Nationalbewegung unter al-Husseini.
Literatur
Malte Gebert
Gudrun Krämer, Geschichte Palästinas, München 2002. Tom Segev, Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, München 2006.
Kölner Karneval (1934–1939) Seit 1823 gibt es den „bürgerlichen“ Karneval im Rheinland, seitdem waren auch Kölner Juden in das Fest integriert. Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren jüdische Karnevalisten auch in zentralen Funktionen und Ämtern im Festkomitee Kölner Karneval und in Karnevalsvereinen vertreten. Mit Inflation und Wirtschaftskrise 1923 wurden erste antisemitische Tendenzen im Karneval sichtbar. In einigen Karnevalsgesellschaften kam es schon damals zu kontroversen Diskussionen um die Mitgliedschaft von Juden, einige Gesellschaften schlossen ihre jüdischen Mitglieder aus, in anderen durften sie noch im Hintergrund am internen Vereinsleben teilnehmen. Mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation wandelte sich in den Folgejahren auch das Maß der Ausgrenzung. Als Reaktion darauf bildete sich mit dem „Kleinen Kölner Klub“ 1922 ein jüdischer Karnevalsverein unter der Präsidentschaft des Textilhändlers Max Salomon, dem jüdische wie nichtjüdische Mitglieder angehörten. Nach dem 30. Januar 1933 wandelte sich der für viele kaum wahrnehmbare, versteckte Antisemitismus zur öffentlichen und aggressiven Judenfeindschaft. Die allgemeine Ausgrenzung erfolgte im Karneval nicht abrupt, sondern schrittweise. Erst nach den → Nürnberger Gesetzen mussten die Karnevalsgesellschaften im Herbst 1935 „Arierparagraphen“ in ihren Satzungen aufnehmen und die noch verbliebenen jüdischen Karnevalisten aus den Vereinen weisen. Offener Antisemitismus zeigte sich indessen schon in der Session 1933/34 in Sitzungen und den Umzügen – der erste antisemitische Motivwagen wurde im Rosenmontagszug 1934 mitgeführt. Er zeigte unter dem Titel „Die letzten ziehen ab“ einen Wagen, auf dem Männer im Kaftan und mit Schläfenlocken dezidiert als Ostjuden zur Schau gestellt wurden. Die Wagen waren zudem mit Knoblauch und Zwiebeln als „typisch jüdischen“ Attributen drapiert. Mit dem Transparent „Mer mache nur e kleines Ausflüpche nach Lichtenstein und Jaffa“ sollte der Zweck für jeden erkennbar sein – man verhöhnte die erzwungene Ausreise von Juden nach Palästina. Verantwortlich für den Wagen war nicht der NS-Beigeordnete Wilhelm Ebel, der als Vorsitzender des Kölner Verkehrsvereins für die Organisation und Durchführung der Rosenmontagszüge 1934 und 1935 zuständig war, es waren unbekannte Kölner Bürger, die den Wagen zunächst in den kleinen Sonntagsumzügen mitführten. Für Ebel standen nicht ideologische Ziele, sondern der Karneval als Tourismus- und Wirtschaftsfaktor im Vordergrund. In den Jahren danach bedienten sich verschiedene Motivwagen aus dem Reservoir antisemitischer Stereotypen, die seit Jahrhunderten in Deutschland verbreitet sind. Wer
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diese Wagen im Einzelnen entworfen hat, ist oft nicht mehr feststellbar. FestausschussPräsident Thomas Liessem und Zugleiter Carl Umbreit arbeiteten seit 1935 teils unter Druck, überwiegend aber aus Überzeugung eng mit der nationalsozialistischen Obrigkeit zusammen, vor allem mit dem allmächtigen Gauleiter Josef Grohé, dem sogar das letzte Wort bei der Auswahl des Rosenmontags-Mottos zugestanden wurde. Zu den Wagen und Fußgruppen in den Rosenmontagszügen 1935 bis 1939 gehörten Motive, die den Völkerbund als Heimstatt der jüdischen Weltverschwörung zeigen, die jüdische Emigranten in Paris verspotten, die immer wieder jüdische Bankiers als Devisenschieber darstellen und etwa auch den jüdischen Bürgermeister von New York, Fiorello Henry La Guardia, verhöhnten. Ein besonders perfider antisemitischer Wagen zeigte 1936 einen personifizierten Paragraphen, der einem jüdischen Bankier auf den Schlips trat. Mit dem kölschen Motto „Däm han se op d’r Schlips getrodde!“ wurde damit die Entrechtung der Juden durch die Nürnberger Gesetze verharmlosend dargestellt. Neben diesen Motivwagen in den Rosenmontagszügen griffen Karnevalisten auch in Büttenreden und Liedern antisemitische Stereotypen auf. Die Instrumentalisierung des Kölner Karnevals durch die Nationalsozialisten zeigt nicht zuletzt die überregionale Bedeutung, die dem Fest beigemessen wird, Karneval diente als Mittel zur Herstellung der propagierten „Volksgemeinschaft“. Die Ausgrenzung der Juden wurde auf diesem Wege für eine breite Öffentlichkeit als alltäglich und als von der Mehrheit unterstützte Maßnahme vermittelt.
Literatur
Carl Dietmar/Marcus Leifeld
Carl Dietmar, Marcus Leifeld, Alaaf und Heil Hitler. Karneval im „Dritten Reich“, München 2010. Marcus Leifeld, Der Kölner Karneval im „Dritten Reich“. Eine Studie zum zentralen Kölner Brauch zwischen Anpassung, Gleichschaltung und oppositionellen Verhalten, Diss., Bonn 2011.
Köpenicker Blutwoche Einen Höhepunkt des SA-Terrors nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler stellte die „Köpenicker Blutwoche“ in Berlin dar. Am Vormittag des 21. Juni 1933 begannen Mitglieder des selbständigen SA-Sturmbanns 15 unter Leitung von Herbert Gehrke anlässlich des reichsweiten Verbots des „Deutschnationalen Kampfrings“ gezielt, politische Gegner und Juden in Berlin-Köpenick zu verhaften. Die übergeordneten Direktiven bezogen sich zwar nur auf Hausdurchsuchungen nach Waffen und Druckschriften, die Feststellung von Kommunisten und Sozialdemokraten im Kampfring sowie die Auflösung der Kampfstaffeln im Bezirk Köpenick. Dennoch weitete sich die Maßnahme zur Terroraktion aus. In deren Verlauf schoss das bedrohte SPDMitglied Anton Schmaus drei Männer des SA-Sturmes 1/15 nieder. Die Gewalt eskalierte, bis zum 26. Juni 1933 verschleppten und folterten SA-Männer über 130 Personen, mindestens 23 Menschen starben. Schmaus selbst, der sich der Polizei gestellt hatte, wurde im Polizeipräsidium am Alexanderplatz von einem SA-Trupp unter Gehrkes Führung angeschossen und erlag der Verletzung und weiteren Misshandlungen durch die SA am 16. Januar 1934.
Köpenicker Blutwoche
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Zu den wichtigsten Haftstätten gehörte das SA-Sturmlokal „Demuth“ in der damaligen Elisabethstraße 23. Die Gastwirtschaft der Familie Demuth war seit 1931/32 Sitz des SA-Sturmes 2/15 und diente schon vor dem Juni 1933 als Folterstätte für politische Gegner. Während der „Köpenicker Blutwoche“ wurden die Verhafteten auf dem Heuboden im Hinterhof martialisch gequält und später in das Amtsgerichtsgefängnis Köpenick überführt. An den Folgen dieser Misshandlungen starben mindestens acht Personen. Das Köpenicker Amtsgerichtsgefängnis, seit Mai 1933 Stabsquartier des SA-Sturmbanns 15, diente als Koordinationsstelle der gesamten Verhaftungsaktion. Zahlreiche Personen, die bereits in den SA-Sturmlokalen misshandelt worden waren, wurden anschließend hierher überstellt. In der Kapelle setzten SA-Angehörige die Folterungen fort. Unter den Ermordeten befand sich auch der ehemalige Ministerpräsident von Mecklenburg-Schwerin und Reichstagsabgeordnete Johannes Stelling (SPD). Die Leichen wurden in Säcke genäht und in der Dahme versenkt. Wenige Tage darauf inszenierte die SA am 26. Juni 1933 mit Gauleiter Joseph Goebbels an der Spitze ein Staatsbegräbnis für die drei erschossenen SA-Männer. Ihr Tod diente der propagandistischen Rechtfertigung des Terror- und Mordfeldzugs der Köpenicker SA im Juni 1933. „In Anerkennung seiner Verdienste um die Durchführung der nationalen Revolution“ wurde Herbert Gehrke mit Wirkung vom 1. Juli 1933 zum SA-Obersturmbannführer befördert. Zu den Opfern gehörte auch der konfessionslose Unternehmer Georg Eppenstein, der einer jüdischen Familie aus Berlin-Nikolassee entstammte. Der promovierte Chemiker wurde am ersten Tag der „Köpenicker Blutwoche“ von SA-Männern verhaftet und im Sturmlokal „Demuth“ schwer misshandelt. Er erlag am 3. August 1933 seinen Verletzungen in der Charité. Eppensteins Ermordung war eine der ersten antisemitisch motivierten Tötungen 1933 in Berlin. Ein erstes Verfahren zum Tatkomplex „Köpenicker Blutwoche“ fand 1947 vor dem Landgericht Berlin-Moabit statt, ein zweites 1948. Fünf Haftstrafen wurden ausgesprochen. Zwei Jahre später erhob der Oberstaatsanwalt von Berlin (Ost) Max Berger in der Strafsache gegen „Plönzke u.a.“ Anklage gegen 61 frühere SA-Männer. Herbert Gehrke befand sich nicht unter ihnen, er war am 18. März 1945 in Dirmingen/Saar gefallen. Die 4. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin (Ost) verhandelte vom 5. Juni bis 19. Juli 1950 gegen 32 anwesende und 24 abwesende Personen. Das Tribunal verurteilte 15 Angeklagte zum Tode, 13 zu lebenslanger Haft und die übrigen Beschuldigten zu Haftstrafen zwischen fünf und 25 Jahren. Der ehemalige SA-Scharführer Gustav Erpel, der maßgeblich an den Folterungen von Georg Eppenstein im SA-Lokal „Demuth“ beteiligt gewesen war, wurde am 20. Februar 1951 in Frankfurt/Oder durch das Fallbeil hingerichtet. Sowohl Schuldsprechung als auch Faktentreue sind für den Ostberliner Prozess umstritten. Zur Aufhebung der Urteile kam es trotz diesbezüglicher Bemühungen Anfang der 1990er Jahre nicht. Seit dem 8. Mai 1980 befindet sich im ehemaligen Amtsgerichtsgefängnis Köpenick eine Gedenkstätte, die vom Berliner Bezirk Treptow-Köpenick verwaltet wird.
Stefan Hördler
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Kommissarbefehl
Literatur
Günter G. Flick, Die Köpenicker Blutwoche. Fakten, Legenden und politische Justiz, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 21 (2007), S. 3–17. Stefan Hördler, Ruilos Knoblauch-Verwertungs-G.m.b.H. [„Köpenicker Blutwoche“], in: Christoph Kreutzmüller, Kaspar Nürnberg (Hrsg.), Verraten und Verkauft. Jüdische Unternehmen in Berlin 1933–1945, Berlin 2008 (2. Auflage 2009), S. 52–55. Heinrich-Wilhelm Wörmann, Widerstand in Köpenick und Treptow, Berlin 1995.
Kommissarbefehl Die „Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare“, der sogenannte Kommissarbefehl, ordnete unter Bruch des Völkerrechts die Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener an. In seiner Ansprache am 30. März 1941 vor 250 Offizieren, in der er den Feldzug gegen die Sowjetunion mit dem Ziel der Vernichtung des Bolschewismus bekannt gab, ging Hitler auch auf die Behandlung politischer Funktionäre und Kommissare, der Politoffiziere der Roten Armee, ein. Diese könnten nicht als Soldaten angesehen und daher gegebenenfalls auch nicht als Kriegsgefangene behandelt werden. Ebenso wie die politischen Funktionäre seien sie gleich nach der Gefangennahme von den anderen Kriegsgefangenen zu trennen und den Einsatzgruppen des SD zu übergeben. Wo die Übergabe an den SD wegen der Kampfverhältnisse nicht möglich sei, müssten die Funktionäre und Kommissare von der Truppe erschossen werden. Hitlers Ausführungen setzten das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) und das Oberkommando des Heeres (OKH) in Befehle um: am 28. April 1941 in die „Regelung des Einsatzes der Sicherheitspolizei und des SD im Verbande des Heeres“, am 13. Mai in den „Erlaß über die Ausübung der Gerichtsbarkeit im Gebiet Barbarossa und über besondere Maßnahmen der Truppe“ und am 6. Juni 1941 in den Kommissarbefehl. Zivile „Kommissare jeder Art und Stellung“ seien zu erschießen, „auch wenn sie nur des Widerstandes, der Sabotage oder der Anstiftung hierzu verdächtig sind“. Die Truppenkommissare seien „noch auf dem Gefechtsfelde“ von den Kriegsgefangenen zu trennen und nach „durchgeführter Absonderung zu erledigen“. Diesen Mordbefehl gaben die Armeebefehlshaber in den letzten zehn Tagen vor dem Überfall im Rahmen der Einsatzbesprechungen bis auf Kompanieebene weiter. Die meisten Verbände setzten den Befehl konsequent um, während seiner einjährigen Geltungsdauer erschossen sie mindestens 4.000 Politoffiziere unmittelbar nach der Gefangennahme. Die Vorstellung, dass es sich bei den Kommissaren mehrheitlich um Juden handelte, spiegelte sich in den von der Abteilung Wehrmachtspropaganda herausgegebenen „Mitteilungen für die Truppe“: „Was Bolschewiken sind, das weiß jeder, der einmal einen Blick in das Gesicht eines der Roten Kommissare geworfen hat. […] Es hieße die Tiere beleidigen, wollte man die Züge dieser zu einem hohen Prozentsatz jüdischen Menschenkinder tierisch nennen.“ In Flugblättern der Wehrmacht an die sowjetischen Soldaten hieß es: „Schlagt den Judenkommissar, seine Fresse schreit nach einem Ziegelstein! Schlagt die Juden! Schlagt sie, die Henker, die Kommissare, glaubt nicht den Betrügern, den politischen Leitern!“
Kulturkampf
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Da die Verbrechen unter den Rotarmisten bekannt wurden, entfernten viele Politoffiziere bei Gefangennahme die Uniformzeichen und gelangten zunächst unerkannt in die deutschen Kriegsgefangenenlager. Auf Drängen des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) arbeitete das OKW deshalb Befehle zur Trennung und Aussonderung von politisch unerwünschten Kriegsgefangenen sowie zur Zusammenarbeit mit den Kommandos der Sicherheitspolizei und des SD aus. Das RSHA gab gleichzeitig Einsatzbefehle mit „Richtlinien für die in die Stalags abzustellenden Kommandos“ heraus, in denen der auszusondernde und zu tötende Personenkreis festgelegt war: Staats- und Parteifunktionäre, Kommissare, Persönlichkeiten der Wirtschaft und alle Juden. In Polen und der besetzten Sowjetunion führten die Kommandos, im Operationsgebiet die Wehrmacht selbst, die Exekutionen in der Nähe der Kriegsgefangenenlager durch; im Reich wurden 38.000 Soldaten in KZ gebracht, dort erschossen, mittels Injektionen oder durch Gas getötet. Insgesamt 150.000 Kriegsgefangene, davon ein Großteil jüdischer Herkunft, wurden Opfer dieser Massenmorde.
Literatur
Mario Wenzel
Reinhard Otto, Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Reichsgebiet 1941/42, München 1998. Felix Römer, Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/ 42, Paderborn u.a. 2008. Alfred Streim, Sowjetische Gefangene in Hitlers Vernichtungskrieg. Berichte und Dokumente 1941–1945, Heidelberg 1982. Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Stuttgart 1978.
Konitzer Ritualmordvorwurf → Ritualmordvorwurf in Konitz (1900)
Kulturkampf Obgleich das politische Schlagwort Kulturkampf 1873 in Deutschland im Kontext des Konfliktes zwischen Bismarck, der seinerzeit noch mit den Liberalen zusammenarbeitete, und der katholischen Kirche geprägt worden ist, handelte es sich um ein europäisches Phänomen, das in jeweils spezifischen Formen und Konstellationen in allen Staaten Europas mit katholischer Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung trat. Zugrunde lagen diesem Kampf der Wandel von der ständischen zur staatsbürgerlichen Gesellschaft und die Herausbildung von säkularen Verfassungsstaaten, sodass das Verhältnis von Kirche und Staat neu ausgehandelt werden musste. Während die Kirche zuvor eine integrative Kraft eines dezidiert von der Religion zusammengehaltenen Systems war, wurde sie im Zuge der sozialen und politischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts zu einem separaten System innerhalb der Gesellschaft. Entscheidend für die Schärfe, mit der der Konflikt ausgetragen wurde, war der Antagonismus zwischen der katholischen Kirche, die gegen ihren politischen und gesellschaftlichen Einflussverlust ankämpfte, und den vornehmlich im liberalen politischen Lager angesiedelten Vertretern einer Trennung von Kirche und Staat.
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Kulturkampf
Im europäischen Kontext nahm dieser Konflikt in dem Maße unerbittlichere Züge an, wie Papst Pius IX. mit einer immer intransigenteren Politik auf die Anforderungen der Zeit reagierte. Seinen Widerstand gegen die Forderungen nach staatsbürgerlichen und konstitutionellen Verhältnissen, nach Presse- und Versammlungsfreiheit und politischen Rechten der Bürger sowie seine Verurteilung aller liberalen und nationalstaatlichen Forderungen hatte der Papst 1864 in dem „Syllabus errorum“ verkündet, und auf dem Ersten Vatikanischen Konzil von 1869/70 beharrte Pius IX. nicht nur auf der absoluten Herrschaftsstellung des Papstes über die katholische Kirche, sondern rief darüber hinaus die Unfehlbarkeit des Papstes aus. Da dieser Kampf der katholischen Kirche für den Vorrang von Autorität und Tradition mit vehementen Anschuldigungen gegen die Juden und forciertem Widerstand gegen ihre staatsbürgerliche Gleichstellung verbunden war, kritisierte die jüdische Öffentlichkeit die ultramontane Politik des Papstes nachdrücklich. Auf der italienischen Halbinsel verschärfte sich der Konflikt zwischen Kirche und Staat dadurch, dass der Papst hier zugleich Herrscher eines eigenen Staates war und die Forderung nach Bürgerrechten sowie nach einer Bindung der politischen Macht an Verfassungen ebenso heftig zurückwies wie die Ansprüche der italienischen Nationalbewegung auf das Territorium des Kirchenstaates. Die Regierung des Deutschen Reiches reagierte auf die intransigente politische Linie der katholischen Kirche im Dezember 1871 mit dem sogenannten Kanzelparagraph, der Geistlichen verbot, staatliche Themen „in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise“ zu behandeln. Im März 1872 folgte ein Gesetz, das die kirchliche Aufsicht der Schulen durch staatliche Kontrolle ersetzte, und im Juli 1872 wurde der Jesuitenorden in Deutschland verboten. Seinen Höhepunkt erfuhr der Kulturkampf durch die sogenannten Maigesetze von 1873, die für die Anstellung von Geistlichen die Absolvierung eines wissenschaftlichen Studiums einschließlich des Ablegens staatlicher Prüfungen verlangten, ferner die kirchliche Disziplinargewalt einschränkten und den Austritt aus der Kirche ermöglichten. In den folgenden Jahren wurde die Zivilehe im Deutschen Reich eingeführt, und mit dem im April 1875 erlassenen „Brotkorbgesetz“ wurde die staatliche Finanzierung der Kirche an die schriftliche Verpflichtung der Geistlichen, die Gesetze des Staates zu befolgen, gebunden. Im Mai 1875 wurden schließlich nahezu alle kirchlichen Orden aufgelöst. Durch diese Politik verschärfte sich der Konflikt zwischen der Reichsregierung und den Liberalen auf der einen und den deutschen Katholiken auf der anderen Seite. Die katholischen Medien griffen aber nicht nur Bismarck und den Liberalismus an, sondern auch die Juden. Katholische Zeitungen, insbesondere das Zentralorgan des Zentrums „Germania“, gaben den Juden in Deutschland die Schuld am Kulturkampf und nutzten diese Gelegenheit für eine unnachgiebige antisemitische Kampagne. Die Juden, so die „Germania“, hätten im Kulturkampf das Ziel verfolgt, Rom zu Fall zu bringen. Die Zeitung stellte den Kulturkampf als eine unmittelbare Folge der „Judenwirtschaft“ dar, er sei den Juden gleichsam „auf den Leib geschnitten“. Die jüdische Öffentlichkeit in Deutschland fühlte sich zwar durch den Ausbruch des klerikalen Fundamentalismus und katholischen Antisemitismus bedroht und sah in der Politik des Papstes eine Gefahr für die von ihnen vertretenen Prinzipien wie der Trennung von Kirche und Staat. Auf der anderen Seite lehnten jüdische Liberale die Politik
Kulturkampf
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von Ausnahmegesetzen ab. So verweigerten die jüdischen Abgeordneten im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag Bismarck die Zustimmung zu den Maigesetzen. Nach dem Tod von Pius IX. – dem Papst der Militanz (Thomas Nipperdey) – und der Wahl des kompromissbereiteren Papstes Leo XIII. im Jahr 1878 sowie der politischen Wende Bismarcks lief die Kirchenkampfgesetzgebung nach und nach aus. Als der Vorsitzende der katholischen Zentrumspartei 1882 im Reichstag beantragte, Teile der Kulturkampfgesetze aufzuheben, fand er breite Unterstützung von Seiten der jüdischen Abgeordneten. In der Habsburgermonarchie, wo sich der Klerus im Konkordat von 1855 mit seinen Forderungen noch hatte durchsetzen können, brach der Kampf nach der Niederlage Österreichs im Deutschen Krieg von 1866 und im Zuge des Ausgleichs, d.h. der verfassungsrechtlichen Neuausrichtung der Habsburgermonarchie, aus. Nachdem sich der Kaiser hinter die liberalen Forderungen gestellt, das Konkordat aufgelöst und neue Kirchengesetze erlassen hatte, kam es in der Habsburgermonarchie zur Spaltung des österreichischen Klerus in intransigente und kompromissbereite Bischöfe. Hatten ultramontane Kreise des österreichischen Episkopats schon die Kritik an dem Konkordat von 1855 als Äußerungen von Juden, Freimaurern und Protestanten diffamiert, so verstärkte sich nun im Zuge des österreichischen Kulturkampfes der Antisemitismus vor allem in jenen Teilen des österreichischen Klerus, die sich der neuen Kirchenpolitik entgegenstellten. In Italien führte der Kulturkampf nach der nationalen Einigung zu einem tiefen politischen Bruch zwischen dem liberalen Staat und der katholischen Kirche, und in der Schweiz wurde er nicht zuletzt von katholischen Geistlichen selbst getragen, die die ultramontane Politik des Papstes nicht teilten und in ihrer Haltung von der Bundesregierung unterstützt wurden. In Frankreich kam der mit der Revolution von 1789 ausgebrochene Konflikt zwischen der Kirche und dem republikanischen Frankreich erst 1905, mit der endgültigen Trennung von Kirche und Staat, zu einem Ende, und in Belgien kulminierte der Kulturkampf in dem erst zwischen 1878 und 1884 ausgetragenen Schulstreit. Gemeinsam war dem Vorgehen des katholischen Klerus gegen den laizistischen Staat sowie das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat in den verschiedenen Ländern Europas, dass er den Kulturkampf für eine forcierte antisemitische Kampagne nutzte und die Juden beschuldigte, verantwortlich für den Ausbruch desselben gewesen zu sein. Eine zentrale Rolle spielten in der katholischen Propaganda antisemitische Verschwörungstheorien und der Vorwurf, Juden zielten auf eine Zersetzung des Christentums. Das „Israelitische Wochenblatt“ schrieb 1882 zum Ende des Kulturkampfes in Deutschland, dass die Juden in diesem „als Prügelknaben und Sündenböcke herhalten mussten“.
Literatur
Ulrich Wyrwa
Winfried Becker, Kulturkampf als europäisches und als deutsches Phänomen, in: Historisches Jahrbuch 101 (1981), S. 422–466. Olaf Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1997.
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Kurfürstendammkrawalle
Olaf Blaschke, Offenders or Victims? German Jews and the Causes of Modern Catholic Antisemitism, Lincoln u.a. 2009. Alexander Joskowicz, Liberal Judaism and Confessional Politics of Difference in the German Kulturkampf, in: Leo Baeck Institute Yearbook 50 (2005), S. 177–197. Uriel Tal, Christians and Jews in Germany. Religion, Politics and Ideology in the Second Reich 1870–1914, New York 1975.
Kunmadaras-Pogrom → Pogrome in Ungarn (1946)
Kurfürstendammkrawalle Im Juli 1935 ereigneten sich entlang der belebten Berliner Geschäftsstraße Kurfürstendamm eine Serie von antijüdischen Ausschreitungen, die von Angehörigen der Berliner NSDAP initiiert worden waren. Am 15. Juli 1935 rottete sich vor einem Kino am Kurfürstendamm eine gewaltbereite Menschenmenge zusammen, aus der heraus jüdische Besucher des Kinos und der umliegenden Lokale bedroht und tätlich angegriffen wurden. Den Randalierern und Schlägern diente ein von der von Gauleiter Joseph Goebbels gelenkten Berliner NS-Presse verbreitetes Gerücht zur Rechtfertigung ihrer Gewaltakte: Jüdische Zuschauer hätten in einem Kino auf dem Kurfürstendamm die Vorführung des antisemitischen Spielfilms „Petterson & Bendel“ gestört. Bei den Rädelsführern handelte es sich um Angehörige der NS-Bewegung. Im Verlauf der Krawalle kam es zu einer offenen Konfrontation von NSDAP und Berliner Polizei. Herbeigerufene Schutzpolizisten, die von der aufgebrachten Menge lautstark als „reaktionäre Schweine“ und „Judenknechte“ bezeichnet wurden, schritten zunächst ein, wurden aber wenig später von ihren verunsicherten Vorgesetzten zur Zurückhaltung aufgefordert. Aufgrund des unentschlossenen Vorgehens der Polizei setzten sich die Ausschreitungen, die in ihrer Intensität erst wieder von den → Novemberpogromen des Jahres 1938 übertroffen wurden, an den folgenden Tagen fort. Erst als Goebbels am 19. Juli 1935 die Krawalle für beendet erklärte, kehrte wieder Ruhe auf dem Kurfürstendamm ein. Joseph Goebbels begrüßte die Kurfürstendammkrawalle des Sommers 1935 als vermeintlich spontanen Ausbruch des Volkszorns. Doch vor allem aus Furcht, dem Deutschen Reich könnte außenpolitischer Schaden entstehen, distanzierten sich zugleich führende Vertreter von Partei und Staat, wie Rudolf Hess und Hjalmar Schacht, von den Ausschreitungen. Goebbels gelang es, die Schuld an den Krawallen dem Berliner Polizeipräsident Magnus von Levetzow zuzuschieben, der wenig später entlassen wurde. Die Kurfürstendammkrawalle waren Teil der zweiten großen antisemitischen Welle nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, die zur Jahreswende 1934/35, nach einer eineinhalbjährigen Phase relativer Ruhe, mit voller Wucht begonnen hatte. Diese reichsweite von der NSDAP gesteuerte antisemitische Kampagne wurde bis zum Erlass der → Nürnberger Gesetze im September 1935 fortgesetzt. Bereits am 12. September 1931, dem Tag des jüdischen Neujahrsfestes, hatten antisemitische Krawalle auf dem Kurfürstendamm stattgefunden. Der Kurfürstendamm galt den Nationalsozialisten als „Hauptstraße des Judentums“, als Symbol des jüdischen Berlin. Eine Kundgebung Hunderter Nationalsozialisten vor der Gedächtniskir-
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che entwickelte sich schnell zu einer Hetzjagd. SA-Männer griffen Bürger an, die sie für Juden hielten, warfen Schaufenster ein und attackierten Straßenlokale. Der scheinbar plötzliche Gewaltexzess war in Wirklichkeit von der Berliner SA-Führung und dem Gauleiter Goebbels zum Zweck der Machtdemonstration geplant worden. Im folgenden Prozess wurde der Berliner SA-Chef Wolf-Heinrich Graf von Helldorf mangels Beweisen vom Vorwurf der Rädelsführerschaft freigesprochen. Lediglich einige SAAngehörige niederen Ranges erhielten mehrmonatige Haftstrafen.
Literatur
Phillip Wegehaupt
Cornelia Hecht, Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn 2003. Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998.
Kutisker-Barmat-Skandal → Barmat-Skandal (1925)
Laterankonzil 1215 Das IV. Laterankonzil, das im November 1215 unter der Teilnahme von etwa 400 Bischöfen der Westkirche und der lateinischen Ostkirche sowie einer großen Zahl von Äbten und Gesandten der weltlichen Gewalt in der Lateranbasilika in Rom begann, stellt die bedeutendste Initiative Papst Innozenz III. (1198–1216) dar. Als Konzilsziele wurden vor dem Hintergrund einer intendierten Wiederherstellung des kirchlichen Gemeinwesens u.a. die „Ausrottung der Laster“, „Abschaffung der Missbräuche“, „Beseitigung der Häresien“ sowie „Hilfe und Unterstützung des Heiligen Landes“ durch Innozenz III. benannt. Die Konstitutionen 67–70 des IV. Laterankonzils befassen sich ausdrücklich mit den Juden, während die erste Konstitution in der Thematisierung der eucharistischen Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi in der Folgezeit nicht ohne Einfluss auf Hostienfrevellegenden geblieben ist. Die letzte Konstitution, die sich mit der Vorbereitung des Kreuzzugs als „Sache Jesu Christi“ befasst, beschäftigt sich wiederum mit den Zinsgeschäften der Juden. Unter der Realpräsenz Christi versteht das Konzil in seiner ersten Konstitution, welche wie ein neues Glaubenssymbol betrachtet wurde, dass „sein Leib und sein Blut […] im Sakrament des Altars unter den Gestalten von Brot und Wein wahrhaft enthalten [sind], sobald durch göttliche Macht das Brot in den Leib und der Wein in das Blut transsubstantiiert worden sind“. Unter der Transsubstantiation ist eine Wesensverwandlung bzw. Substanzverwandlung zu verstehen, wobei das Sakrament selbst nur von einem rechtmäßig ordinierten Priester vollzogen werden kann. Obwohl diese erstmalig in die Konzilssprache übernommene Begrifflichkeit (lat. transsubstantiatio) einem vordergründigen Blutrealismus entgegenwirken sollte, begünstigte eine, auch von christlicher Seite, popularisierte Transsubstantiationslehre jedoch ein verdinglichtes Verständnis der eucharistischen Realpräsenz Christi und damit Hostienfrevellegenden, nach denen die Juden als Hostienfrevler analog zur Kreuzigung Jesu nochmals den in der Eucharistie real präsenten Leib des Herrn marterten. Nach diesen christlichen Verleumdungen schänden die Juden die Hostie, die dabei blutet, was dann wiederum ihr Wissen
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darum bezeugt, dass Christus in der Hostie präsent ist. Das einsetzende Wunder belegt vor dem Hintergrund der Hostienschändung durch eine entsprechende Visualisierung (Bluten der Oblate, Abbild des Gekreuzigten) ebenso die Schuld der Juden wie die Heiligkeit der Eucharistie. Dass die Juden dabei erneut zu negativen Zeugen werden, ist für den christlichen Antijudaismus beispielhaft. Die Konstitution 67 beschäftigt sich mit den Zinsgeschäften der Juden und stellt bereits im einleitenden Satz die christliche Religion (christiana religio) und den Unglauben der Juden (Iudaeorum perfidia) einander gegenüber: Die Zurückhaltung der christlichen Religion im Zinsgeschäft begünstige den Unglauben der Juden, die in kurzer Zeit das Vermögen der Christen aufzehrten. Das Synodaldekret untersagt den Juden deshalb übermäßiges Zinsnehmen, nicht jedoch das Zinsgeschäft als solches. Die Konstitution 68 legt fest, dass sich Juden – sowie Sarazenen – von den Christen in der Kleidung unterscheiden müssen. Als Grund wird gruppenübergreifender Geschlechtsverkehr – aus Versehen – angeführt. Ferner untersagt diese Konstitution den Juden unter Androhung von Strafe das Erscheinen in der Öffentlichkeit an „den Tagen der Klagen und der Passion des Herrn“, d.h. in der Zeit von Mittwoch bis Samstag der Karwoche. Diesem Verbot liegt die Befürchtung zugrunde, dass die Juden die klagenden Christen schamlos verspotten und den Erlöser beleidigen würden. Obwohl die Kennzeichnungspflicht Juden und Sarazenen betraf, richtete sich die Konstitution in der Folgezeit nahezu ausschließlich gegen die Juden. Dass Juden keine christlichen Frauen haben oder dass Christinnen nicht mit Juden oder Sarazenen zusammenwohnen dürfen, wurde immer wieder betont – bereits vor dem IV. Laterankonzil als auch in der Zeit danach. Ebenso hat die Kennzeichnungspflicht eine Vielzahl von Wiederholungen erfahren. Das Ausgehverbot, insbesondere am Karfreitag, findet sich noch in der weltlichen Gesetzgebung des 18. Jahrhunderts. Die viel diskutierte und rezipierte 68. Konstitution hat die Frage aufgeworfen, ob die Kennzeichnungspflicht bereits in diskriminierender Absicht erlassen oder nicht zunächst von einer pastoralen Sorge um den scheinbar glaubensgefährdenden Sexualverkehr mit Juden getragen wurde. Dass die westeuropäischen Juden schon vor dem IV. Laterankonzil durch ihr Erscheinungsbild als Juden erkennbar sind, wie dies die christliche Ikonographie des Judenthemas im 11. bis 12. Jh. zeigt, widerspricht dem weitverbreiteten Eindruck, dass das IV. Laterankonzil durch die Kennzeichnungspflicht die soziale Isolierung der Juden veranlasst habe (Schreckenberg). Möglicherweise hat also das Konzil zunächst nur eine regional bereits übliche Praxis für verbindlich erklärt. Die Konstitution 69 trägt dafür Sorge, dass Juden nicht mit öffentlichen Ämtern betraut werden, da es ganz widersinnig wäre, dass ein Lästerer Christi (Christi blasphemus) Amtsgewalt über Christen ausübte. Dass Juden aus den öffentlichen Ämtern zu entfernen sind, entspricht der Diktion vieler Synoden des 13. Jahrhunderts. Dass derjenige, der sich vom Judentum zum Glauben bekehrt hat, nicht an der alten Lebensform festhalten darf, legt die 70. Konstitution fest. Denn Juden, die freiwillig getauft wurden, entstellten durch Beibehaltung des früheren Ritus „den Glanz der christlichen Religion“. Die Frage der von den Kreuzfahrern an Juden zu zahlenden Schuldzinsen regelt die 71. Konstitution über den Feldzug zur Rückgewinnung des Heiligen Landes. Die Ju-
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den sollen den Kreuzfahrern sowohl die Zinsen erlassen, als auch im Bedarfsfall einen Zahlungsaufschub gewähren. Die genannten Vorschriften des IV. Laterankonzils werden gemeinhin als entscheidende Wegmarke der rechtlichen und sozialen Ausgrenzung der Juden angesehen. Dem entspricht in der Forschungsliteratur die Annahme, die Verschärfung der kirchlichen Judengesetzgebung seit dem IV. Laterankonzil für die Verschlechterung der Lebensbedingungen der Juden verantwortlich zu machen.
Literatur
Matthias Blum
Friedrich Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, Teilband I: Von den Anfängen bis 1650, Darmstadt 2000². Heinz Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Traktate (11.-13. Jh.); mit einer Ikonographie des Judenthemas bis zum 4. Laterankonzil, Frankfurt am Main 1997³. Joseph Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien. Band 2: Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517), Paderborn 2000, S. 225–271.
Leibzoll Beim Leibzoll handelte es sich um eine Abgabe von Juden an König, Landesherrn oder Städte. So wie Juden eine Abgabe für den Schutz in dem Ort oder Land, wo sie ansässig waren, leisten mussten, hatten sie beim Passieren einer Zollstelle über den für Juden üblicherweise erhöhten Warenzoll hinaus einen Leibzoll zu entrichten, wenn sie ihre Heimat verließen oder durch andere Gebiete reisten. Verbunden mit dem Personalzoll war die diskriminierende und herabsetzende Behandlung der Juden wie Handelswaren. Einige Zollordnungen verglichen jüdische Reisende mit Tieren, wie die Zollordnung am Alpenübergang Fernstein am Fernpass um 1500 aufzeigt: „Wenn ain Jud an fürget oder reit … so sol er zollen als viel als ein Schwein.“ Verbunden mit der Eintreibung des Leibzolls waren häufig spöttische Schikanen und lebensgefährliche Misshandlungen an den Zollstationen. Besonders hart traf die Abgabe arme jüdische Kleinhändler mit ohnehin geringem Verdienst. So beklagten Kronberger Juden 1776 bei der Hofkammer in Mainz, „daß mehreren von uns ist die Armut so groß, daß mancher wegen Mangel des mit zehn Kreuzer zu zahlenden Leibzolls zu Haus bleiben und den Handel verabsäumen und den bittersten Hunger leiden muß“. Nachhaltig schränkte der Leibzoll das Leben in flächenmäßig kleinen Territorien und ländlichen jüdischen Gemeinden ein. So mussten auf dem Land lebende Juden, um zum Friedhof oder zur Synagoge zu gelangen, häufig große Distanzen im territorial zersplitterten deutschen Reich überwinden und dabei Leibzoll entrichten. Teilweise wurde auch der Leichnam eines Juden, der bei der Überführung auf einen Friedhof eine Zollstelle passieren musste, mit dem Leibzoll belegt. So wurden 1313 im Herzogtum Bayern für einen jüdischen Leichnam auf der Strecke zwischen Passau und Straubing ein halbes Pfund Passauer Pfennige und ein Pfund Pfeffer sowie im ansbachischen Amt Cadolzburg 1414 für einen „toten juden ein pfunt“ Leibzoll erhoben. Nur wenige Juden wurden aufgrund von Privilegien vom Leibzoll befreit.
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Levin-Poeschke-Mord (1980)
Erstmals bezeugt ist der judenfeindliche Leibzoll, der sich aus dem Geleitsrecht entwickelte und die freie Bewegung sowie Wirtschaftstätigkeit von Juden im deutschen Reich beinahe überall erschwerte, im 12. Jahrhundert. Reichsweit ordnete Ludwig der Bayer (1281/82–1347) den Leibzoll 1342 an. Er bestimmte, „daß ihm jeder Jude, jede Jüdin, die Witwe ist, und die, welche zwölf Jahre alt sind und zwanzig Gulden Wert haben, jeglicher und jegliche, alle Jahre einen Gulden geben sollen zu Zins von ihrem Leibe, welcher dann dem Reich an dessen Kosten zustatten kommen soll“. Auf Kritik stieß der Leibzoll im Zeitalter der Aufklärung. Österreich schaffte den Leibzoll 1781/ 82 und Preußen 1787/88 ab. In weiten Teilen Deutschlands bestand der Leibzoll hingegen fort. Für eine Beseitigung des Leibzolls in ganz Deutschland setzten sich nachhaltig die Bankiers und Vorkämpfer für die Judenemanzipation Wolf Breidenbach (1750– 1829) und Israel Jacobsohn (1768–1828) in Eingaben an einzelne Regierungen ein. 1803 hob Breidenbachs Heimat Isenburg den Leibzoll auf, 1805 Westfalen, 1808 Bayern und 1813 Sachsen. Die drückende Abgabenlast für Juden blieb nach der Aufhebung des Leibzolls bestehen, da in zahlreichen Regionen in der Folge die Höhe zu leistenden Schutzgeldes angehoben wurde.
Literatur
Hannes Ludyga
Karl-Heinz Burmeister, Der Würfelzoll, eine Variante des Leibzolls, in: Aschkenas 3 (1993), S. 49–64. Guido Kisch, Forschungen zur Rechts- und Sozialgeschichte der Juden in Deutschland während des Mittelalters, Stuttgart 1955. Barbara Rösch, Leibzoll, Judenbrautgeld, Totenzoll – Ausbeutung, Schikane und Lebensgefahr. Ein übersehenes Kapitel innerdeutscher Zollgeschichte, in: transversal. Zeitschrift für jüdische Studien 8 (2007), S. 115–148. Otto Stobbe, Die Juden in Deutschland während des Mittelalters in politischer, sozialer und rechtlicher Beziehung, Braunschweig 1866 (Nachdruck Amsterdam 1968).
Leo Frank-Fall → Fall Frank, Leo (USA 1913)
Levin-Poeschke-Mord (1980) Am 19. Dezember 1980 wurden Shlomo Levin (69), jüdischer Verleger und ehemaliger Vorsitzender der israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, und seine Lebensgefährtin, Elfriede Poeschke (57) in ihrer Wohnung in Erlangen erschossen. Am Tatort dieses ersten politisch motivierten Judenmordes in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 blieb eine Brille zurück, die Franziska Birkmann gehörte, der Lebensgefährtin von Karl-Heinz Hoffmann, Gründer einer neonazistischen Wehrsportgruppe (WSG). Als Täter ermittelte die Polizei den WSG-Angehörigen Uwe Behrendt, der – wie Hoffmann – auf dem Schloss Ermreuth in der Nähe Erlangens wohnte. Hoffmann hatte 1973 die nach ihm benannte „WSG Hoffmann“ gegründet, die in den Folgejahren durch die Kooperation mit anderen extrem rechten Organisationen, wie beispielsweise der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD), dem „Hochschulring Tübinger Studenten“ (HTS) und der „Wiking-Jugend“ (WJ), insbesondere aber durch ihr paramilitärisches Auftreten und durch Gewalttaten für Schlagzeilen
Linker Antisemitismus in der Schweiz
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sorgte. Im Bundesgebiet entstanden mehrere ähnliche Gruppen, etwa der „Sturm 7“ und die „Wehrsportgruppe Schlageter“. Die „WSG Hoffmann“ wurde am 30. Januar 1980 vom Bundesinnenministerium verboten; am 26. September 1980 zündete Gundolf Köhler, Mitglied des HTS mit Verbindungen zur „WSG Hoffmann“ eine Rohrbombe auf dem Münchner Oktoberfest, tötete 13 Menschen und verletzte mehr als 200 weitere. Nach dem Mord an Levin und Poeschke setzte sich Uwe Behrendt in den Libanon ab, wo die „WSG Hoffmann“ eine Auslandsgruppe gebildet hatte, die zunächst bei den falangistischen Milizen, später dann bei einer Gruppe der PLO Unterschlupf fand. Hoffmann selbst hielt sich zeitweise im Libanon auf, wo es unter den Mitgliedern der Gruppe zu Gewaltexzessen kam, die das Mitglied Kay Uwe Bergmann nicht überlebte. Während Behrendts Verbleib ungeklärt ist, wurde Karl-Heinz Hoffmann Anfang 1981 verhaftet und u.a. wegen des Doppelmordes angeklagt. Es konnte ihm jedoch nicht nachgewiesen werden, dass er den Mord in Auftrag gegeben hatte. Dies ist nicht zuletzt auf die schlampige Ermittlungsarbeit der Polizei zurückzuführen. Diese ermittelte zunächst vorrangig im Kreis der Israelitischen Gemeinde, obwohl aufgrund des Bekanntheitsgrades von Shlomo Levin ein politisches, d.h. antisemitisches Motiv auf der Hand lag. Erst fünf Wochen nach der Tat tauchten die Beamten bei Hoffmann und Birkmann auf, obwohl deren am Tatort gefundene Brille als seltenes Modell leicht zuzuordnen war und der Optiker ein ehemaliger Nachbar Hoffmanns war. Hoffmann wurde wegen Freiheitsberaubung, Geldfälschung, Strafvereitelung und gefährlicher Körperverletzung am 30. Juni 1986 zu einer 91/2-jährigen Haftstrafe verurteilt. Bereits 1989 war Hoffmann wegen „guter Führung“ wieder auf freiem Fuß. Spätere Versuche, die Mordermittlungen mit neuen forensischen Methoden wieder aufzunehmen, blieben erfolglos.
Literatur
Fabian Virchow
Ulrich Chaussy, Oktoberfest. Ein Attentat, München 1985. Rainer Fromm, Die „Wehrsportgruppe Hoffmann“. Darstellung, Analyse und Einordnung, Frankfurt am Main u.a. 1998.
Lewin-Fall → Fall Lewin, Herbert Limpieza de sangre → Blutreinheitsgesetze
Linker Antisemitismus in der Schweiz Antisemitische Haltungen und Äußerungen finden sich seit der Herausbildung der schweizerischen Linken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gleichwohl bildete Judenfeindschaft nie einen integralen Bestandteil sozialdemokratischer, gewerkschaftlicher oder kommunistischer Programmatik in der Schweiz. Im Unterschied etwa zum Antisemitismus agrarischer oder katholisch-konservativer Kreise äußerten sich innerhalb der Linken antisemitische Vorurteile punktuell und waren oftmals situationsgebunden. Anders als in der Bundesrepublik Deutschland, wo Debatten um einen linken Antisemitismus in den 1980er Jahren einsetzten, ist in der Schweiz die Meinung unter Linken weit verbreitet, dass sich linke Positionen und Antisemitismus gegenseitig aus-
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Linker Antisemitismus in der Schweiz
schließen würden und Judenfeindschaft folglich ein Phänomen der politischen Rechten sei. Die mangelnde Auseinandersetzung mit antisemitischen Äußerungen in den eigenen Reihen steht jedoch im Widerspruch zum Selbstverständnis der schweizerischen Linken als Vertreterin antirassistischer und egalitärer Haltungen. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbanden sich von schweizerischen Linken geäußerte antisemitische Vorurteile am ehesten mit antikapitalistischen oder religionskritischen Argumenten. Letztere entsprangen dem von der Linken mitgetragenen aufklärerischen Impetus, der in der Religion und spezifisch im Bibelunterricht eine Gefährdung der Gesellschaft sah, wobei das Alte Testament als besonders schädlich verstanden wurde. Einige linke, teilweise der Sozialdemokratie nahe stehende Zeitungen paarten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kritik am Kapitalismus mit antisemitischen Vorurteilen und instrumentalisierten Stereotype wie angebliche Profitgier oder Scheu vor redlicher Arbeit von Juden. Auch dem Sozialismus nahe stehende Schriftsteller griffen in ihren Werken vereinzelt auf judenfeindliche Stereotype zurück. Auf der anderen Seite setzten sich sozialdemokratische oder gewerkschaftliche Organisationen gegen Diskriminierungen von Juden ein, etwa im Zusammenhang mit der 1893 zur Abstimmung gelangten Initiative für die Einführung des Schächtverbots oder während der → Dreyfus-Affäre. Der Anstoß für solche Stellungnahmen lag allerdings nicht vordringlich in der Forderung nach dem Schutz der jüdischen Minderheit, sondern ging oftmals auf regierungskritische oder antibürgerliche Motive zurück. Um 1900 kam in der Schweiz der sogenannte Überfremdungsdiskurs auf, der Juden, insbesondere „Ostjuden“, als „doppelt fremd“ (ethnisch und konfessionell) darstellte. Die Haltung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in diesem Zusammenhang blieb ambivalent. Während sie einerseits aus internationalistischer Überzeugung den Kampf gegen die „Überfremdung“ kritisierten, da sich dieser spezifisch auch gegen ausländische Arbeiter richten würde, propagierten sie andererseits immer wieder Maßnahmen zum Schutz der einheimischen Arbeitskräfte und gerieten damit ins Fahrwasser ausgrenzender Politik. Beispielsweise stützten die vier Sozialdemokraten in der Zürcher Stadtregierung deren Entscheid zur Erschwerung der Einbürgerung von „Ostjuden“ im Jahr 1920. Auch bei in den 1910er und 1920er Jahren immer wieder diskutierten Fragen von Sabbatdispensen für Schulkinder oder Liberalisierungen des Sonntagsruhegesetzes für jüdische Geschäfte waren sich die Sozialdemokraten nicht einig und unterstützten teilweise diskriminierende Bestimmungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich das weitgehend von Indifferenz geprägte Verhältnis der schweizerischen Linken gegenüber dem Judentum zugunsten eines breit getragenen Philosemitismus. Dieser nährte sich zum einen aus Schuldgefühlen, während der NS-Zeit nicht genügend für die verfolgten Jüdinnen und Juden getan zu haben, zum anderen aus der Begeisterung für den als sozialistisches Projekt verstandenen Aufbau des israelischen Staates. Schon in der Zwischenkriegszeit hatte die internationalistisch begründete Skepsis gegenüber der Idee einer jüdischen Nation allmählich dem Interesse für den sozialistischen Aspekt des Zionismus Platz gemacht. Der prozionistisch geprägte Philosemitismus innerhalb der Linken fand seinen Höhepunkt in den 1950er und 1960er Jahren und drückte sich etwa in der starken sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Fraktion innerhalb der 1957 gegründeten „Gesellschaft
Linzer Programm
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Schweiz-Israel“ oder in der bedingungslosen Unterstützung Israels während des Sechstagekriegs von 1967 aus. Die im Zuge der 68er Bewegung entstandenen Parteien der Neuen Linken brachen mit dieser proisraelischen Sichtweise und negierten das Existenzrecht Israels. Mit ihrer prononciert antizionistischen Position gingen teilweise antisemitische Tendenzen einher, die sich etwa in der Ausblendung der Shoah, der Gleichsetzung von Zionisten und Nationalsozialisten oder im Rückgriff auf traditionelle marxistische, judenfeindlich unterlegte Kapitalismus- und Imperialismuskritik bemerkbar machten. Auch in Verlautbarungen der kommunistischen Partei der Arbeit waren antisemitische Aussagen zu finden, was oftmals eine Folge ihrer Orientierung an der Sowjetunion und deren Position zum Nahostkonflikt war. Als im Zuge der Debatten über die Rolle der Schweiz während der NS-Zeit Mitte der 1990er Jahre eine starke antisemitische Welle die Schweiz erfasste, gehörten Linke kaum zu den Vertretern des vorab nationalistisch motivierten Antisemitismus. Ein im Januar 1997 vornehmlich aus linken Kreisen verlautbartes Manifest äußerte sich kritisch zum beobachteten Anstieg judenfeindlicher Äußerungen. Allerdings folgte der Wortlaut des Manifests der traditionell linken Annahme, dass Antisemitismus in erster Linie von den Behörden und von der Rechten komme, während Vertreter der Linken davor gefeit seien. Insgesamt zeigt sich im Verhältnis zwischen schweizerischer Linker und Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert eine Kontinuität, die sich weniger in konkreten antisemitischen Positionen seitens Exponenten der Linken als vielmehr in deren Indifferenz dem Phänomen gegenüber äußert, insbesondere wenn es darum geht, die Existenz antisemitischer Tendenzen innerhalb der Linken anzuerkennen.
Literatur
Christina Späti
Aaron Kamis-Müller, Antisemitismus in der Schweiz 1900–1930, Zürich 20002. Friedrich Külling, Antisemitismus. Bei uns wie überall?, Zürich 1977. Aram Mattioli (Hrsg.), Antisemitismus in der Schweiz 1848–1960, Zürich 1998. Jacques Picard, Die Schweiz und die Juden 1933–1945. Schweizerischer Antisemitismus, jüdische Abwehr und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik, Zürich 19973. Christina Späti, Die schweizerische Linke und Israel. Israelbegeisterung, Antizionismus und Antisemitismus zwischen 1967 und 1991, Essen 2006.
Linzer Programm Das am 16. September 1882 verkündete Linzer Programm war das Manifest des linken Flügels der „Deutschliberalen Partei“, die in den ersten Jahren nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich (1867) die österreichische Politik dominierte. Ihre Geisteshaltung war freiheitlich-aufgeklärt, daher gemäßigt antiklerikal. Insofern sie die Interessen des gehobenen Bürgertums, von Industrie, Finanzwirtschaft und Teilen des Großgrundbesitzes vertrat, war sie in sozialpolitischen Belangen vorwiegend konservativ eingestellt. Aufgrund ihres Programms wurde sie auch von den meisten Juden in Wien und den Ländern der böhmischen Krone unterstützt. Innerhalb dieses lockeren
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Linzer Programm
Parteigebildes entstand Ende der 1870er Jahre eine Opposition gegen den oligarchischen Führungsstil und das Desinteresse der etablierten Deutschnationalen an Reformen. Besonders nach dem → Börsenkrach von 1873 und dem darauf folgenden wirtschaftlichen Notstand betonte die Opposition in zunehmendem Maße die Kritik am ungezügelten Kapitalismus. In der heterogenen Koalition der Reformer forderten einige politische und verfassungsrechtliche Reformen, andere wiederum soziale und wirtschaftliche. Die meisten von ihnen waren ehemalige Mitglieder von farbentragenden studentischen Korporationen oder hatten sich im „Leseverein der deutschen Studenten in Wien“ kennengelernt. Das Ergebnis verschiedener programmatischer Konzepte war das „Linzer Programm“. Seine Hauptpunkte lauteten: Die Trennung der ehemals dem Deutsche Bunde angehörigen Kronländer von den außenstehenden (Galizien, Bukowina, Dalmatien); Deutsch als Staatssprache des neuen Staatengebildes; Erweiterung des Wahlrechts; Vereins- und Pressefreiheit, „freiheitliche Erziehung“; Steuerreform, „Unabhängigkeit des Staates von den Geldmächten“; Zollunion mit dem Deutschen Reich; Verstaatlichung der Eisenbahnen und des Versicherungswesens; Schutz der einheimischen Produktion; „Erhaltung eines kräftigen Bauernstandes“; Befestigung des Bündnisses mit dem Deutschen Reich durch einen Staatsvertrag. Obwohl der hauptsächliche Befürworter der antikapitalistischen Punkte, Georg von Schönerer, schon zu diesem Zeitpunkt in vorwiegend studentischen antisemitischen Kreisen verkehrte, blieb die Koalition intakt und umfasste auch namhafte Teilnehmer jüdischer Abstammung, z.B. den Historiker und Publizisten Heinrich Friedjung, den späteren Gründer der österreichischen Sozialdemokratie Victor Adler und den oppositionellen Wiener Gemeinderat Ignaz Mandl. Auch prominente Kulturtragende wie Siegfried Lipiner und Gustav Mahler standen diesen Kreisen nahe. All dies änderte sich schlagartig, als Schönerer 1885 eigenmächtig einen weiteren Punkt dem Programm hinzufügte: „Zur Durchführung der angestrebten Reformen ist die Beseitigung des jüdischen Enflusses auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens unerlässlich.“ Damit war die endgültige Spaltung im „Deutschnationalen Verein“, wie er sich jetzt nannte, herbeigeführt. Wer mit dieser Formulierung nicht einverstanden war, verließ den Verein oder wurde ausgestoßen, in Richtung entweder der Liberalen oder der Sozialdemokratie. Was blieb, war ein ausgesprochen völkischer, rassenantisemitischer Rest, der die Hausmacht Schönerers bildete. Als politische Partei waren Schönerers „Alldeutsche“ bei Wahlen nicht erfolgreich. Wie es bei extremistischen Sekten üblich ist, waren sie Spaltungen und persönlichen Querelen ausgesetzt. Indirekt waren sie jedoch nicht ohne Einfluss. Mit ihren maximalen völkischen Forderungen konnten sie gemäßigte Politiker einschüchtern und erpressen. Auf diese Weise gelang es ihnen, den Antisemitismus stets auf der politischen Tagesordnung zu halten. In verschiedenen bürgerlichen Vereinen konnten sie ebenfalls ihr Programm durchsetzen. Dies traf vor allem auf die Burschenschaften zu, die von 1878 an Juden von der Mitgliedschaft ausschlossen und 1896 den Beschluss fassten, jüdischen Studenten die Satisfaktion zu verweigern. Auch in den österreichischen Turn- und Alpenvereinen wurden „Arierparagraphen“ eingeführt. Mit seiner Instrumentalisierung des Hasses waren Schönerer und die von ihm geführten Parteien und Vereine die Pioniere eines revolutionären, antidemokratischen Populismus, der sich zu
Luxemburger Abkommen 1952
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einem der Merkmale der Politik des 20. Jahrhunderts entwickelte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Adolf Hitler Schönerer als Vorbild bewunderte.
Literatur
Peter Pulzer
Bruce F. Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993. Andrew G. Whiteside, Georg Ritter von Schönerer. Alldeutschland und sein Prophet, Graz 1981.
Loi Gayssot → Faurisson-Affäre
Luxemburger Abkommen 1952 Die israelische Regierung hatte nach der Staatsgründung in einer Note an die vier alliierten Großmächte als Mandatare Deutschlands die Forderung nach materieller Wiedergutmachung erhoben. Sie wurde im Januar 1950 wiederholt und in einer Note vom 12. März 1951 konkretisiert. Völkerrechtlich konnte Israel keine Reparationsansprüche gegen den oder die Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches erheben, da der jüdische Staat erst 1948, drei Jahre nach dem Untergang des NS-Regimes und des Deutschen Reiches, gegründet worden war. Die israelische Argumentation lautete daher unter Verweis auf die von ganz Deutschland zu verantwortenden Verbrechen an den Juden, Israel habe als Zuflucht der überlebenden und heimatlos gewordenen Opfer des Holocaust die eigenen Kräfte weit übersteigende Anstrengungen unternommen, um etwa 500.000 jüdische Verfolgte in Israel einzugliedern. Die Kosten dafür veranschlagte die israelische Regierung mit 1,5 Milliarden Dollar (nach damaligem Wechselkurs waren das etwa sechs Milliarden D-Mark). Aufzuteilen sei die Summe auf beide deutsche Nachkriegsstaaten, zwei Drittel zu Lasten der Bundesrepublik, ein Drittel zu Lasten der DDR. Die Sowjetunion hatte die israelische Note nicht beantwortet, die drei Westmächte reagierten am 5. Juli 1951 mit der Versicherung, dass sie zwar eine Lösung des Problems begrüßen würden, sich aber nicht in der Lage sähen, selbst tätig zu werden. Die Empfehlung an die israelische Regierung lautete, direkt Kontakt mit Bonn zu suchen (für die DDR fühlten sich die Westmächte nicht zuständig). Unmittelbare Kontakte israelischer Regierungsvertreter mit Deutschen waren aber aus psychologischen und emotionalen Gründen noch nicht denkbar. In Bonn bestand zwar die Bereitschaft zur Lösung des Problems, aber es gab keinerlei Prognosen über die ökonomische Leistungsfähigkeit des westdeutschen provisorischen Staates. Die Auseinandersetzung mit den Forderungen von Holocaust-Überlebenden stand auch im Kontext mit Verhandlungen in London, wo 65 Gläubigernationen des Deutschen Reiches über deutsche Staatsschulden berieten. Die bevorstehenden ökonomischen, finanztechnischen und prozeduralen Probleme waren dem Kanzler der Bundesrepublik Adenauer im Einzelnen gewiss nicht bewusst, als er Ende September 1951 vor dem Bundestag die Rede hielt, die auf deutscher Seite den Weg freimachte. Einem Wunsch Adenauers entgegenkommend, hatte die jüdische Seite eine Persönlichkeit benannt, die für Israel und die jüdischen Organisationen wie die „Jewish
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Claims Conference“ außerhalb Israels zugleich sprechen würde. Mit Dr. Nahum Goldmann, seit Oktober 1951 Vorsitzender der „Conference on Jewish Material Claims Against Germany“, war ein Mann gefunden, der den Kanzler der Bonner Republik bei der ersten Begegnung in New York am 6. Dezember 1951 beeindruckte. Goldmann, in Litauen geboren, war deutscher Jude und Zionist, er hatte 1920 in Heidelberg promoviert, war 1933 emigriert, er hatte 1935–1939 den jüdischen Weltkongress beim Völkerbund vertreten, dann war er Repräsentant der „Jewish Agency“ in den USA gewesen. 1953–1977 stand Goldmann an der Spitze des jüdischen Weltkongresses und 1956–1968 war er Präsident der Zionistischen Weltorganisation. Er war die zentrale Figur des Judentums auf dem internationalen Parkett. Mit dem israelischen Regierungschef Ben Gurion (der aus politischem Grund in dieser Angelegenheit nicht in den Vordergrund trat), dem deutschen Kanzler Adenauer und Nahum Goldmann bestand oberhalb der operativen Ebene, auf der die Verhandlungen im Detail geführt wurden, ein für den Erfolg entscheidendes verlässliches Triumvirat, das aber nie als Gremium agierte. Die Regierungserklärung Adenauers am 27. September 1951 war das Ergebnis langer Verhandlungen und gründlicher Redaktion. Die Erklärung war als Vorbedingung zur Aufnahme offizieller Gespräche zwischen Vertretern Israels und der Bundesrepublik von der israelischen Seite gefordert worden. Die deutsche Regierung solle unmissverständlich öffentlich dokumentieren, dass sie Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen übernehmen wolle. Adenauers Rede enthielt den entscheidenden Satz: „Im Namen des deutschen Volkes sind aber unsagbare Verbrechen begangen worden, die zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung verpflichten, sowohl hinsichtlich der individuellen Schäden, die Juden erlitten haben, als auch des jüdischen Eigentums, für das heute individuell Berechtigte nicht mehr vorhanden sind.“ Die Versicherung, die Bundesregierung werde für den baldigen Abschluss der Wiedergutmachungsgesetzgebung Sorge tragen, leitete zur politischen Ankündigung über, die Anlass der Regierungserklärung war. Die Bundesregierung sei bereit, mit Vertretern des Judentums und des Staates Israel eine Lösung des materiellen Wiedergutmachungsproblems herbeizuführen, „um damit den Weg zur seelischen Bereinigung unendlichen Leides zu erleichtern“. Für Israel, das aus schierer Not auf materielle Hilfe angewiesen war, bestand ein viel größeres Problem als die Frage nach der völkerrechtlichen Legitimation, ob Reparationsansprüche gegen Deutschland zu erheben seien, in der emotionalen Belastung, ob man von Deutschland überhaupt etwas fordern wolle. Diese Frage spaltete die junge Nation. Die Abstimmung in der Knesset am 9. Januar 1952 war so dramatisch wie die Debatte: Von den 120 Abgeordneten des israelischen Parlaments (vier fehlten, fünf enthielten sich der Stimme) votierten 61 dafür, mit der Bundesrepublik Deutschland über Entschädigungsleistungen zu verhandeln. Das war eine knappe Mehrheit (50 Abgeordnete stimmten mit nein), aber eher eine positive Überraschung angesichts der Stimmung im Lande, in dem ein Großteil der Bürger vom Holocaust traumatisiert war und die Vorstellung, Deutschland, Deutsche, die deutsche Sprache, auch deutsche Waren auf alle Zeit zu ignorieren und zu boykottieren, eine Selbstverständlichkeit schien. Am 15. Januar 1952 ermächtigte das Parlament die israelische Regierung, „in der Frage der Entschädigung von Deutschland tätig zu werden, einschließlich der Möglich-
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keit, direkte Verhandlungen zu führen, so wie es die Umstände und Bedingungen erfordern“. Die Verhandlungen sollten ab Ende Februar 1952 in Brüssel geführt werden. Wegen der großen öffentlichen Aufmerksamkeit, Drohungen, einem Attentatsversuch auf Bundeskanzler Adenauer wurden die Gespräche in einem Hotel in Wassenaar bei Den Haag geführt. Sie begannen am 21. März 1952. Die israelische Delegation führten gleichberechtigt der MAPAI-Politiker Giora Josefthal, der 1912 in Deutschland geboren und 1938 in Palästina eingewandert war, und Felix E. Shinnar, 1905 in Stuttgart geboren und seit 1934 in Palästina. Shinnar war eine Zeit lang Vorsitzender der Progressiv-Liberalen Partei gewesen und renommiert als Jurist, Finanzexperte und Chef der Tageszeitung „Haaretz“. Josefthal war auch Schatzmeister der „Jewish Agency“, er gehörte zum „Versöhnungsflügel“ der MAPAI. Die zweite jüdische Delegation, gestellt von der „Jewish Claims Conference“, vertrat die Ansprüche der nicht in Israel lebenden Juden. Führende Köpfe der Claims Conference Delegation waren der Schatzmeister Moses Leavitt und der Entschädigungsspezialist Nehemia Robinson. Die beiden jüdischen Delegationen arbeiteten eng und reibungslos zusammen. Auf deutscher Seite standen ihnen Franz Böhm, Professor für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht in Frankfurt am Main (später für die CDU im Deutschen Bundestag), und Otto Küster, Rechtsanwalt in Stuttgart und Wiedergutmachungsbeauftragter der Regierung von Württemberg-Baden (ab 1952 Baden-Württemberg), gegenüber. Die Atmosphäre der Verhandlungen in Wassenaar war frostig, zu den psychologischen Problemen kamen Sachzwänge. Eine Hauptschwierigkeit bestand darin, dass die deutsche Leistungsfähigkeit eine unbekannte Größe bildete. In London liefen zeitgleich die Verhandlungen mit 65 Gläubigernationen Deutschlands zur Regelung der Vorkriegsschulden und der Besatzungskosten. Der deutsche Delegationschef Hermann Josef Abs, ein Bankfachmann von hohen Graden und Vertrauter Adenauers, bemühte sich nach Kräften, die Schuldenlast unter Hinweis auf die deutsche Leistungskraft zu mindern. Das Streben nach Schuldennachlass in London durfte nach Meinung Abs‘ nicht durch großzügiges Entgegenkommen in Wassenaar konterkariert werden. Darüber gerieten die Verhandlungen in Wassenaar in die Sackgasse. Bundesfinanzminister Fritz Schäffer opponierte wie Abs gegen eine Globalentschädigung an Israel, er machte haushaltsrechtliche und verfassungsmäßige Bedenken geltend. Die deutsche Delegation taktierte und konnte sich nicht auf Summen festlegen. Zwischen der israelischen Forderung (drei Milliarden DM) und den auf deutscher Seite für möglich gehaltenen Leistungen (sowohl in der Summe wie den Annuitäten) tat sich eine Kluft auf, die zur Krise führte. Die Verhandlungen wurden am 10. April unterbrochen. Am 19. Mai trafen sich Abs und Shinnar in London. Abs offerierte 100 Millionen DM jährlich, was die israelische Seite als Affront wertete. Die Krise war auf dem Höhepunkt. Inzwischen hatten Böhm und Küster ihren Rücktritt erklärt und zwar aus Solidarität mit Israel und aus Protest gegen das deutsche Angebot. Küster ließ sich nicht umstimmen, Böhm wurde dagegen zum Bleiben bewogen. Am 9. und 10. Juni 1952 erfolgte die Wende in Bonn. Unter Vorsitz Adenauers (und in Abwesenheit des Finanzministers Schäffer) verständigten sich die Hauptakteure (zugegen waren auch Nahum Goldmann und Felix Shinnar), als Ziel wurden drei Milliarden DM als Summe
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avisiert. Die Einzelheiten wurden vom 24. Juni bis 22. August wieder in Wassenaar verhandelt. Im Ergebnis wurden drei Milliarden DM an Israel als Globalentschädigung vereinbart und weitere 450 Millionen DM an die Claims Conference als Interessenvertretung derjenigen Holocaustopfer, die nicht in Israel lebten. Die Leistungen erfolgten vorwiegend durch Warenlieferungen in einem Zeitraum von zwölf Jahren. (Mit einer Milliarde DM wurden z.B. Erdölkäufe Israels finanziert.) Die Unterzeichnung des Abkommens am Vormittag des 10. September 1952 im Rathaus der Stadt Luxemburg (der Ort war geheim gehalten worden) war nicht nur eine Zeremonie von symbolischer Bedeutung. Das Ereignis war politisch und emotional unvergleichbar. Die Bundesrepublik bekannte sich zur Verantwortung für die Ermordung von sechs Millionen Juden und der Staat Israel akzeptierte die Geste. Diplomatische Beziehungen gab es nicht, sie waren auch auf lange Zeit hin noch nicht möglich. So war es auch ein Politikum, wer für die jüdische Seite das Abkommen unterzeichnen würde. Für die Bundesrepublik wollte Adenauer als Kanzler und Außenminister signieren, für die Claims Conference sollte Nahum Goldmann unterschreiben, das stand ebenfalls fest. Dass Moshe Sharett, Israels Außenminister, in Luxemburg dem deutschen Regierungschef gegenübertreten würde, war in Israel so umstritten wie zuvor die Aufnahme der Verhandlungen. Sharett begriff die Situation als „geschichtlich präzedenzlosen Akt – parallel zum präzedenzlosen Massenmord an den Juden“, und er wies die Kritik daran zurück, dass Adenauer auf der Unterzeichnung durch ein Mitglied der israelischen Regierung bestand: „Es wäre unritterlich, engstirnig und geschichtsblind, ihm dieses Privileg zu nehmen und ... die Unterzeichnungszeremonie auf einem niedrigeren Niveau ablaufen zu lassen.“ Die Haltung Israels, das moralisch und historisch auf den Ruinen Nazideutschlands errichtet wurde, womit die von den Deutschen verletzte Ehre des jüdischen Volkes wiederhergestellt worden sei, müsse „auf den Normen von Respekt, Gegenseitigkeit und sogar Ritterlichkeit auch gegenüber dem deutschen Regierungschef beruhen“. Die protokollarischen Probleme des Unterzeichnungsaktes waren entsprechend kompliziert. Am Vorabend wurden die Entwürfe der Reden ausgetauscht, die Adenauer und Sharett halten sollten. Der israelische Außenminister hatte einen Text, der vom MAPAI-Zentralkomitee autorisiert war, also keine Änderungen zuließ und deren zentraler Satz lautete, dass für die Shoah „kaum eine Sühne denkbar“ sei. Adenauer ließ Sharett ausrichten (beide hielten sich in ihren Hotelzimmern auf, Nahum Goldmann eilte als Bote zwischen ihnen hin und her), er persönlich sei bereit, sich dies anzuhören, „nicht jedoch Deutschland“. Man verzichtete schließlich auf beide Reden. Die Zeremonie der Unterzeichnung dauerte 13 Minuten, sie wurde von Teilnehmern als welthistorischer Augenblick, als Szene von shakespearischer Größe wahrgenommen. Adenauer schritt Sharett entgegen und sagte „Ich habe diesem Tag in Erwartung und mit Freude entgegengesehen“, der israelische Außenminister, totenblass, äußerst bewegt, entgegnete auf deutsch „Auch für uns ist es ein besonderer und bedeutsamer Tag“. Der Bundestag verabschiedete am 18. März 1953 das Zustimmungsgesetz zum Luxemburger Abkommen einstimmig. Hinweise auf die Folgen dieser „Bevorzugung Israels“, die in Bonn von den Staaten der Arabischen Liga protestierend und drohend
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monatelang vorgebracht wurden, blieben wirkungslos. Die Regierung der Bundesrepublik war sich des Vorrangs der Verpflichtung gegenüber Israel bewusst. Die Luxemburger Vereinbarungen waren ein Anfang, dem bis in die 1960er Jahre Wiedergutmachungsabkommen mit zahlreichen Nationen zugunsten derjenigen ihrer Staatsbürger, die Verfolgung erlitten hatten, folgten. Die Übernahme der Wiedergutmachungs- und Entschädigungspflicht setzte die Gesetzgebungsmaschinerie in beträchtlichem Umfang in Bewegung, und die Ausführung der einschlägigen Gesetze und Verordnungen wurde einer eigenen Bürokratie übertragen. Wichtiger aber als die juristische Innovation und die materielle Anstrengung war die moralische Legitimation, die sich die Bundesrepublik dadurch erwarb. Und ihren politischen Zielsetzungen, der Betonung des Anspruchs, allein und legitim deutsche Interessen in der Welt zu vertreten, kam die Übernahme der Hypothek des Deutschen Reiches in hohem Maße zugute, vor allem natürlich auch deshalb, weil die DDR entsprechende Verpflichtungen nicht anerkannte. So erwies sich der so stark betonte Primat des Moralischen doch auch als kluge Politik, die rasch Früchte trug. Das Publikum war übrigens äußerst zurückhaltend. Eine Meinungsumfrage im August 1952 zeigte Zustimmung nur bei 11 Prozent der Bundesbürger, 24 Prozent hielten die Leistungen zur „Wiedergutmachung“ für zu hoch und 44 Prozent meinten, solche Anstrengungen seien überhaupt unnötig.
Literatur
Wolfgang Benz
Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005. Constantin Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus (1945–1954), München 1992. Otto Küster, Erfahrungen in der deutschen Wiedergutmachung, Tübingen 1967. Nana Sagi, German Reparations. A History of the Negotiations, New York, Jerusalem 1986. Felix E. Shinnar, Bericht eines Beauftragten. Die deutsch-israelischen Beziehungen 1951– 1966, Tübingen 1967.
Magdeburger Justizskandal (1925/26) Die „Affäre Haas bzw. Kölling-Haas“, von Zeitgenossen auch „Magdeburger Mordfall Helling-Haas“ genannt und teilweise als „größter Skandal in der preußischen Justizgeschichte“ bezeichnet, löste Diskussionen um die vom sozialdemokratischen preußischen Landtagsabgeordneten Erich Kuttner (1887–1942) sogenannte Vertrauenskrise der Justiz in der Weimarer Republik in den Jahren zwischen 1926 und 1928 aus. Die Affäre führte in der Weimarer Zeit nach einem Antrag der SPD und KPD zu einer dreitägigen Debatte im preußischen Landtag, bei der Kuttner erklärte: „Der in der preußischen Richterschaft herrschende Geist mußte einmal zu einer solchen Katastrophe führen.“ Die Affäre wurde 1948 im DEFA-Spielfilm „Affäre Blum“ teilweise verfilmt. Der Buchhalter Hermann Helling aus Magdeburg war 1925 von dem in Geldnot lebenden Rechtsradikalen Richard Schröder ermordet worden, der sich in der Öffentlichkeit der Teilnahme an zahlreichen politischen Morden rühmte und 1919 an der Niederwerfung des Spartakusaufstandes mitgewirkt hatte. Schröder hatte Helling in seine Wohnung in Groß-Rottmersleben gelockt, dort ausgeraubt und schließlich ermordet.
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Magdeburger Justizskandal (1925/26)
Der Magdeburger Untersuchungsrichter Johannes Kölling versuchte aufgrund politischer Voreingenommenheit und aus antisemitischen Motiven, den Mord dem jüdischen Industriellen Rudolf Haas, der Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold und ein früherer Arbeitgeber Hellings war, anzulasten. Helling hatte bei Haas gekündigt, da ihm eine leitende Stelle verwehrt worden war und zeigte aus Rachsucht vermeintliche Steuerverfehlungen von Haas an. Kölling stützte seine Untersuchungen wesentlich auf Schröder als Belastungszeugen, unterdrückte sämtliche Hinweise auf den tatsächlichen Täter – wie etwa den Fund der Tatwaffe in Schröders Wohnung – und ging einseitig gegen Haas vor. Unterstützung erhielt er bei seinen Bemühungen von der rechten Presse, die wie Kölling eine Vorverurteilung von Haas in der Öffentlichkeit vornahm und erklärte, dass Haas die „Parvenümanieren … der zweiten reichgeborenen Generation“ nicht fremd seien. Es dominierte in der rechten Presse das Negativbild des „jüdischen Industriellen“. Kölling weigerte sich – auch nach einem Geständnis Schröders und dem Fund der Leiche Hellings in Schröders Haus – Haas aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Auch dessen Anträge gegen Kaution freigelassen zu werden, wurden abgelehnt. Eine Wende zugunsten von Haas brachten erst ein Eingreifen und eigene Ermittlungen des damaligen sozialdemokratischen Oberpräsidenten der Provinz Sachsen Otto Hörsing (1874–1937), des Berliner Kriminalkommissars Otto Busdorf (1878–1957) und des Magdeburger Verteidigers von Haas, Heinz Braun (1883–1962), die zeigten, dass gegen Haas zu Unrecht wegen Mordes ermittelt wurde. Nachhaltig unterstützt wurden diese durch die demokratische Presse, die ebenfalls für Haas eintrat. Gegen Schröder erging schließlich am 17. September 1926 durch das Landgericht Magdeburg unter dem Vorsitzenden Richter Siegfried Loewenthal ein Todesurteil, das später in lebenslange Haft umgewandelt wurde. Der Gerichtsreporter Paul Schlesinger (1878– 1928) bemerkte dazu in der „Vossischen Zeitung“: „Ein häßliches Kapitel im deutschen Rechtsleben findet heute ein rühmliches Ende. Aber man wünscht, es wäre nie gelebt und nie geschrieben worden.“ Carl von Ossietzky schrieb in der „Weltbühne“ von einer „Justiz-Konspiration“ gegen den republikanischen Staat. Auch wenn Haas eindeutig rehabilitiert worden war, tauchten immer wieder falsche neuerliche Verdächtigungen gegen ihn auf. Schließlich wurden Haas und seine Ehefrau nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in den Suizid getrieben. Kölling wurde Landgerichtsdirektor in Magdeburg und später sogar Landgerichtspräsident in Aurich.
Literatur
Hannes Ludyga
Heinz Braun, Am Justizmord vorbei. Der Fall Kölling-Haas, in: Robert A. Stemmle (Hrsg.), Justizirrtum. Der Fall Kölling-Haas und fünf weitere internationale Kriminalfälle, München 1965, S. 13–142. Matthias Hambrock, Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband nationaldeutscher Juden 1921–1935, Köln 2003. Robert Kuhn, Die Vertrauenskrise der Justiz (1926–1928). Der Kampf um die „Republikanisierung“ der Rechtspflege in der Weimarer Republik, Köln 1983. Gustav Radbruch. Politische Schriften aus der Weimarer Zeit I. Demokratie, Sozialdemokratie, Justiz (Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Band 12), Heidelberg 1992. Sling [Paul Schlesinger], Richter und Gerichte, hrsg. von Robert Kempner, Berlin 1929.
Maigesetze (Russland 1882)
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Magdeburger Mordfall Helling-Haas → Magdeburger Justizskandal (1925/26)
Maigesetze (Russland 1882) Die am 3. [15.] Mai 1882 von Zar Alexander III. bestätigte Verordnung „Über das Verfahren zur Umsetzung von Vorschriften für die Juden“ (O porjadke privedenija v dejstvie pravil o evrejach) ist in die Geschichtsschreibung in Form von zwei Kurzbezeichnungen eingegangen – als Maigesetze (Majskie pravila) und Provisorische Verordnung (Vremennye pravila); der Historiker Simon Dubnow hat sie darüber hinaus polemisch als „legislativen Pogrom“ tituliert. Jede dieser Bezeichnungen ist gleichzeitig eine Kontextualisierung der Verordnung. Ihr voraus ging die Ermordung Alexanders II. durch ein Attentat der terroristischen revolutionären Vereinigung „Narodnaja Wolja“ [Volkswille] am 1. [13.] März 1881, das den Regierungsapparat in eine tiefe Krise stürzte. Nur wenige Wochen später initiierten Händler, Handwerker und russische Wanderarbeiter in der Ukraine zahlreiche Pogrome ( → Pogrome in der Ukraine). Sie richteten sich vor allem gegen den Besitz der jüdischen Bevölkerung, doch stellten sie zwangsläufig deren Sicherheit im Russländischen Imperium grundsätzlich in Frage. Die zarische Regierung Alexanders III. klassifizierte die Pogrome spontan als weiteren Angriff der revolutionären Bewegung auf die öffentliche Ordnung und suchte eilends nach Mitteln, die Kontrolle über ihre Untertanen wieder zu erlangen. Einen engagierten Schutz der jüdischen Bevölkerung hielt der unverhohlen judenfeindliche Zar für unangebracht. Die Ursachen der Pogrome zu ermitteln und die weitere Regierbarkeit der westlichen Gouvernements des Reiches zu gewährleisten, war Aufgabe des neuen Innenministers Nikolaj P. Ignatjew, einem erklärten Antisemiten, Panslawisten und Vertreter des alten Ständesystems. Im August 1881 berief er in den Gouvernements des so genannten jüdischen Ansiedlungsrayons Untersuchungskommissionen ein, die die näheren Umstände der Pogrome klären und Empfehlungen für eine Revision der zarischen Judenpolitik erarbeiten sollten. Das gewünschte Ergebnis nahm er in einem widersprüchlichen Rundschreiben an die Gouverneure vorweg: Sie sollten die „Schädigung der christlichen Bevölkerung des Landes durch die Wirtschaftstätigkeit der Juden, deren Stammesseparatismus und religiösen Fanatismus“ kommentieren. Damit machte Ignatjew die Juden selbst für die Pogrome verantwortlich. Er bezog sich einerseits auf Jahrzehnte alte Erwägungen der zarischen Bürokratie, jüdische Händler und Pächter aus ländlichen Siedlungen auszuweisen, um die slawischen Bauern vor „Ausbeutung“ zu schützen. Andererseits warf er den Juden kollektiv kulturelle Absonderung von der christlichen Bevölkerung vor. Die Gutachten der Gouverneure fielen ungeachtet der Vorgaben Ignatjews sehr unterschiedlich aus. Zwar problematisierten fast alle die ökonomische Abhängigkeit der christlichen Bauern von jüdischen Pächtern und die Gefährdung der traditionellen christlichen Korporationen, doch zogen sie im Einzelnen andere Schlüsse als der Innenminister. Manche betrachteten die jüdischen Mittler als unverzichtbaren Bestandteil der ländlichen Wirtschaft. Die Mehrheit plädierte dafür, der ökonomischen Not durch die gänzliche Aufhebung von Siedlungsbeschränkungen abzuhelfen und damit auf jeg-
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Maigesetze (Russland 1882)
liche Segregation zu verzichten. Auch im Ministerrat, dem wichtigsten Forum administrativer Diskussion, stieß Ignatjew auf Widerstand. Vor allem die verbleibenden liberalen Berater Alexanders II. erteilten den antikapitalistischen Zielen des Innenministers sowie einer grundlegenden Wende in der auf Integration angelegten Judenpolitik eine Absage. Seinen Erfolg verdankte Ignatjew dem politischen Druck, insbesondere der die zarische Verwaltung beherrschenden Angst vor weiteren Pogromen. Dennoch war die am 3. Mai 1882 in Kraft getretene Verordnung ein Kompromiss, der im Vergleich mit Ignatjews Vorstellungen milde ausfiel. Sie wurde ausdrücklich „als zeitlich befristete und grundsätzlich zu revidierende Maßnahme“ bezeichnet und kam somit einer Notverordnung gleich. Die Maigesetze verschlechterten den Rechtsstatus der jüdischen Bevölkerung in dreierlei Hinsicht: Erstens untersagten sie ihr, sich künftig außerhalb von Städten und Schtetln dauerhaft neu niederzulassen. Zweitens verwehrten sie den Juden vorläufig, auf dem Lande Grundbesitz zu erwerben und Pachtverträge abzuschließen. Und drittens sollte es Juden künftig verboten sein, am Sonntagvormittag und an christlichen Feiertagen Handel zu treiben. Die Beschränkungen galten für das permanente Siedlungsgebiet der jüdischen Bevölkerung. Die Kürze der Verordnung, aber auch die jeweilige politische Position der entscheidenden Institution oder Person führte in der lokalen Praxis zu unterschiedlichen, meist restriktiven Auslegungen. Die Umsetzung der Maigesetze oblag vor allem den Gouvernements- und Lokalverwaltungen, an erster Stelle der örtlichen Polizei. Angesichts der Obsession mit der „Schädlichkeit“ der Juden verwehrten Gouvernementsverwaltungen Juden Zugang zu Pachtstücken, auch wenn diese industrieller Nutzung dienten, behinderten den Bau von Fabriken etc. Gerichte annullierten Pachtverträge, auch wenn diese zwischen Juden abgeschlossen worden waren; Stadtverwaltungen schlossen Juden ohne rechtliche Basis von der Pacht städtischen Grundes aus; Dorfgemeinden verwehrten ihnen schon nach kurzer Abwesenheit die Rückkehr. Andererseits war die chronisch unterbezahlte örtliche Polizei anfällig für Korruption und Bestechung. Als Appellationsinstanz und Korrektiv fungierte der Regierende Senat, den zahlreiche Beschwerden und Petitionen ausgewiesener oder in ihrer Wirtschaftstätigkeit behinderter Juden erreichten. Bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts erließ er generelle Verfügungen zu strittigen Fragen: Unter anderem nahm er das städtische Agrarland von den Maigesetzen aus und beschränkte deren Anwendung ausdrücklich auf die ländlichen Gebiete in den 15 Gouvernements des Ansiedlungsrayons. Darüber hinaus gestattete er Juden, die ihren schon vor 1882 etablierten ländlichen Wohnsitz vorübergehend verlassen hatten, die Rückkehr. Jüdischen Städtern räumte er zumindest den vorübergehenden Aufenthalt auf dem Lande ein; Juden im Besitz des reichsweiten Siedlungsrechts befreite er generell von den Restriktionen der Maigesetze. Im Bereich der Wirtschaft beschränkte der Senat das Pachtverbot auf die Pacht von Agrarland und gestattete ausdrücklich die Pacht von Grundstücken zur industriellen und kommerziellen Nutzung. Pachtverträge, die vor dem 3. Mai 1882 abgeschlossen worden waren, blieben – selbst wenn es sich um die unpopulären Schenken handelte – in Kraft. Der Senat ebenso wie die Ministerien berücksichtigten auch demographische Entwicklungen. So wurden bis 1909 insgesamt 291 Dörfer, die sich in Handels- und Industriezentren verwandelt hatten, von den Maigesetzen ausgenommen.
Marburger Antisemitismusprozess (1888)
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Auch wenn die Zentralbürokratie meist zugunsten der jüdischen Bevölkerung entschied, war dies für die konkreten Kläger kaum von Bedeutung. Die Entscheidungen des Senats konnten sich über Jahre hinziehen, sodass sie für Ausgewiesene und wirtschaftlich Geschädigte zu spät kamen. Unter diesen Bedingungen litten Juden unter zunehmender Verarmung in den Städten, außerdem unter nun offiziell bekräftigter Judenfeindschaft. Somit mündete die rechtliche Diskriminierung ebenso wie die Gewalt der Pogrome zunehmend in Resignation und Emigration. Das deklarierte Ziel, weitere Pogrome zu verhindern, erreichten die Maigesetze nicht. Im Sinne einer soliden Revision versammelte sich auf Befehl Alexanders III. schon 1883 die Höchste Kommission zur Revision der im Imperium geltenden Gesetze über die Juden (Vysšaja kommissija dlja peresmotra dejstvujuščich o evrejach v Imperii zakonov) – ein Gremium aus höchsten zarischen Beamten verschiedener Ressorts unter dem Vorsitz von Konstantin I. Pahlen. Nach zahlreichen Sitzungen sprach sie sich 1888 mehrheitlich dafür aus, die Maigesetze ebenso wie alle weitere rechtliche Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung im Interesse des Staates sukzessive aufzuheben. Alexander III. ignorierte diese Empfehlung. Auf dieser Grundlage blieben die Maigesetze – dem vorgeschriebenen Umgang mit provisorischen Verordnungen zuwider – bis 1917 in Kraft und variierten lediglich in der Intensität ihrer Anwendung. Erst die Provisorische Regierung annullierte sie nach der Februarrevolution 1917 mit allen übrigen Benachteiligungen auf Grundlage religiöser Zugehörigkeit.
Literatur
Yvonne Kleinmann
I. Michael Aronson, Troubled Waters. The Origins of the 1881 Anti-Jewish Pogroms in Russia, Pittsburgh 1990. Simon M. Dubnow, History of the Jews in Russia and Poland from the Earliest Times until the Present Day, vol. 2: From the Beginning until the Death of Alexander I (1825), Philadelphia 1918. Julij V. Gessen, V. Fridštejn, Sbornik zakonov o Evrejach s raz’’jasnenijami po opredelenijam Pravitel’stvujuščago Senata i cirkuljaram Ministerstv [Sammlung der Gesetze über die Juden mit Erläuterungen laut der Verfügungen des Regierenden Senats und der Zirkulare der Ministerien], St. Petersburg 1904. Frank Golczewski, Gertrud Pickhan, Russischer Nationalismus. Die russische Idee im 19. und 20. Jahrhundert. Darstellung und Texte, Göttingen 1998. Heinz-Dietrich Löwe, The Tsars and the Jews. Reform, Reaction and Anti-Semitism in Imperial Russia 1772–1917. Alexander Orbach, The Development of the Russian Jewish Community, 1881–1903, in: John D. Klier, Shlomo Lambroza (Hrsg.), Pogroms. Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge 1992, S. 137–163. Hans Rogger, Jewish Policies and Right-Wing Politics in Imperial Russia, Berkeley, Los Angeles 1996.
Marburger Antisemitismusprozess (1888) Im Frühjahr 1888 fand vor dem Marburger Königlichen Landgericht ein reichsweit beachteter Prozess um die Bedeutung des Talmuds als jüdische Religionsquelle statt. Zur Debatte stand das Verhalten des Volksschullehrers Ferdinand Fenner, der sich in einer
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Marienkult und Judenfeindschaft in Polen
Wahlkampfveranstaltung der antisemitischen Böckel-Bewegung zu der Äußerung verstiegen hatte, der Talmud fordere die Juden zum Betrug an den Christen auf. Auf Initiative des Marburger Rabbiners Leo Munk wurde nach § 166 des Strafgesetzbuchs Anklage wegen Verunglimpfung einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft erhoben. Zu Fenners Verteidigung verfasste der bekannte Orientalist und notorische Antisemit Paul de Lagarde ein Gutachten, das vor Gericht verlesen wurde. Es berief sich auf August Rohlings Hetzschrift „Der Talmudjude“ und vertrat eine Fülle antisemitischer Ansichten. Sie gründeten in einem strikten Antiliberalismus und der geschichtsphilosophischen Überzeugung von der Zukunftslosigkeit des Judentums. Auf der Gegenseite betonte der Philosoph und führende Vertreter des liberalen Judentums Hermann Cohen die religiöse Bedeutung und ethische Dignität des Talmuds. Gleichzeitig stellte er Lagardes unseriöse, die Originalquellen missachtende Vorgehensweise heraus. Der Prozess endete mit einem Kompromiss. Fenner wurde zu einer zweiwöchigen Gefängnisstrafe und zur Übernahme der Prozesskosten verurteilt. Beide Seiten empfanden den Prozessausgang als Niederlage. Die Anhänger Böckels stilisierten Fenner zum Märtyrer, während Cohen darüber enttäuscht war, dass der Wahrheitsgehalt der Gutachten bei der Urteilsbegründung keine Rolle gespielt hatte. Die in der Presse lebhaft kommentierte Gerichtsentscheidung dokumentierte staatlichen Willen zur Bekämpfung des Antisemitismus, zeigte aber auch die begrenzte Akzeptanz wissenschaftlicher Argumente bei der Verteidigung des Judentums.
Literatur
Ulrich Sieg
Gesine Palmer, The Case of Paul de Lagarde, in: Hubert Cancik, Uwe Puschner (Hrsg.), Antisemitismus, Paganismus, Völkische Religion, München 2004, S. 37–53. Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007, S. 256–272.
Marienkult und Judenfeindschaft in Polen Das Phänomen der Marienverehrung, dem die polnische Kirche eine integrative Rolle in Bezug auf die Katholiken Polens zuschreibt, wurde zum ausgrenzenden Element im Verhältnis zur nicht-katholischen, speziell zur jüdischen Bevölkerung. Verschiedene, sehr speziell polnische Entwicklungen führten zu einem ersten Höhepunkt des Marienkults im 17. Jahrhundert: die Entwicklung der polnischen Marienverehrung mit zunehmend nationaler Akzentuierung, ein aufblühender religiöser Bilderkult sowie die in Polen vor allem von den Jesuiten getragene siegreiche Gegenreformation. Zu diesen Phänomenen tritt zeitgleich eine ebenfalls seit dem 17. Jahrhundert zunehmende Judenfeindschaft. Die für den katholischen Glauben und die katholische Vorstellung von der Gottesmutter unverzichtbaren Anteile des Marienbildes lieferten zugleich Argumente und Stichworte für ein Verhalten gegenüber Andersgläubigen im Allgemeinen, im Verhältnis zu Juden im Besonderen, die sich im 19. und 20. Jahrhundert im Abwehrkampf gegen eine „jüdische Bedrohung“ verwenden ließen. Die Vorstellung einer „jüdischen Bedrohung“ korrespondierte mit dem allgemeinen Topos von Bedrohung und Verteidigung, der das Selbst- und Weltverständnis der katholischen Kirche nach Aufklärung
Marienkult und Judenfeindschaft in Polen
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und → Französischer Revolution stark prägte und in dem das Judentum zur Metapher für alle Schrecken und Gefahren der Moderne wurde. Die Juden in Polen mit ihrem fremden, immer auch als unheimlich empfundenen Glauben, ihrer unverständlichen Sprache, ihrer abweichenden Tracht, den dem Mehrheitsvolk fremden Festen und Gebräuchen, boten sich einer noch weithin illiteraten Bevölkerung als Projektionsfläche aller Ängste und Inbegriff der nationalen Identitätsbedrohung an. In der Vereinnahmung Marias als Schutzpatronin des Landes war Polen keineswegs das einzige, ja, nicht einmal das erste mitteleuropäische Land. Die ersten Ritter auf polnischem Boden, die sich speziell dem Dienst der Mutter Gottes geweiht hatten, waren die deutschen Ordensritter. Aber schon in der für das zukünftige polnische Geschichtsbewusstsein so bedeutenden Schlacht bei Grunwald 1410 zogen auch die polnischen Ritter mit dem Lied „Bogurodzica“ [Gottesgebärerin], das zur religiösen Nationalhymne wurde, und mit dem Gnadenbild aus Częstochowa den Ordensrittern entgegen. Der Sieg festigte ihre Überzeugung, die Gottesmutter werde fortan zum Schutz der polnischen Ritter eintreten. Die Verehrung Mariens als Königin und Herrin des Himmels und der Erde war ein besonderes Anliegen der ungarischen Pauliner, die 1383 nach Polen kamen und auf dem Hellen Berge in Częstochowa das Kloster Jasna Góra gründeten. Die für Polen existenzgefährdenden Kriege des 17. Jahrhunderts waren immer zugleich Kämpfe gegen Andersgläubige und Ungläubige – Schweden, Russen und Türken. Im Zusammenhang mit diesen Kriegen formierte sich im Inneren des Landes eine zunehmende Abwehrhaltung gegen die als Bedrohung der christlich-nationalen Identität empfundenen Juden. 1656 legte der polnische König Jan Kazimierz feierlich und formell sein Königreich der Gottesmutter als Lehen zu Füßen. Im 17. Jahrhundert nahm der Marienkult in Polen immer stärkere und ausgeprägtere Formen an, wobei besonders die Jesuiten gestaltenden Anteil hatten, die in Polen im Wesentlichen sowohl die Träger der Gegenreformation waren als auch zur führenden geistlichen Elite wurden. Dazu gehörte neben dem Monopol auf die Erziehung des jungen Adels auch die Verbreitung des Marienkultes, der im 18. Jahrhundert eine weit gefächerte paraliturgische Ausgestaltung in Form von Prozessionen, besonderen Andachten, Errichtung von Marienstatuen, Pilgerfahrten und Ähnliches fand. Die Jesuiten und andere Orden gründeten Marienbruderschaften und Sodalitäten Mariens für die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppierungen, durch die die Marienfrömmigkeit seit dem 17. Jahrhundert weitgehend den Charakter der polnischen Massenfrömmigkeit bestimmte. Im 18. Jahrhundert begann sich aber auch die Lage des polnischen Judentums grundlegend zu verändern. Die Zeit der relativen geistig-religiösen Toleranz gegenüber den Juden, die nach der Re-Katholisierung des Landes im Wesentlichen die einzige große Gruppe von Andersgläubigen und vor allem von Nicht-Christen waren, ging zu Ende. Die entscheidende Ausformung des polnischen Marienkults und seine grundlegende Bedeutung als integrative Kraft vollzogen sich im 19. Jahrhundert, nachdem Polen durch seine Nachbarstaaten von der Landkarte getilgt worden war und zur Absicherung und Erhaltung seiner nationalen Identität eines spirituellen Integrationsfaktors bedurfte. Dies konnte nur der katholische Glaube sein und innerhalb des Glaubens eine vom Volk tief empfundene Marienverehrung. Integrativ bezieht sich von nun immer auf das als – ethnisch, kulturell und religiös – einheitlich verstandene polnische Volk (naród).
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Massaker von Lissabon (1506)
Die drei für das polnische Marienbild bestimmenden Marienepitheta – Gottesmutter, allerreinste Jungfrau und Königin der Krone Polens – lassen sich gewissermaßen spiegelverkehrt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in der Auseinandersetzung mit Juden und Judentum in der katholischen Presse der Vor- und Nachkriegszeit nachweisen. Die polnischen Sanktuarien wurden zu Symbolen nationaler Traditionen, des Widerstands gegen die Teilungsmächte, die Marienlieder zu kirchlichen Nationalhymnen. Nicht-christliche Landesbewohner wurden zu Fremden. Auf keine Gruppe traf dieses Fremdheitsempfinden mehr zu als auf die Juden. Wer nicht „Polak-katolik“ war, blieb Fremder und damit potentieller Verräter. Trotz ihres jahrhundertelangen Daseins auf polnischem Boden galt die Bindung der jüdischen Bevölkerung an ihre Heimat als fragwürdig. Maria als Jüdin zu denken lag zu diesem Zeitpunkt weit außerhalb der Vorstellungskraft polnischer Katholiken. Die enge Verbindung von Religion und Nationalismus bestand während der Zeit zwischen den Weltkriegen und besteht bis in die Gegenwart fort. Die Kirche machte in den 1920er und 1930er Jahren als Ursache für die Gefährdung Polens durch den als „jüdisch“ apostrophierten Kommunismus die jüdische Bevölkerung im eigenen Lande aus. Während des polnisch-sowjetischen Krieges wiederholte der Primas von Polen 1920 die große symbolische Geste, das Land der Himmelskönigin Maria als Lehen zu Füßen zu legen. In allen Zeiten nationaler Bedrohung konnte das polnische Volk unter dem Mantel Mariens Zuflucht und Trost suchen. Die jüdischen Polen gehörten nicht dazu.
Literatur
Viktoria Pollmann
Ewa Jabłońska-Deptułowa, Kult Matki Boskiej Częstochowskiej – Królowej Polski w okresie niewoli narodowej [Der Kult der Muttergottes von Częstochowa – Königin Polens in der Zeit der Unfreiheit], in: Więż 25 (1982), 10, S. 3ff. Peter Kriedte, Katholizismus, Nationsbildung und verzögerte Säkularisierung in Polen, in: Hartmut Lehmann (Hrsg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, Göttingen 1997. Viktoria Pollmann, Der „Ritter der Unbefleckten“ und „Die Fahne Mariens“. Marienkult und Judenfeindschaft in Polen auf der Grundlage ausgewählter katholischer Presse vor 1939, in: Johannes Heil und Rainer Kampling (Hrsg.), Maria – Tochter Sion? Mariologie, Marienfrömmigkeit und Judenfeindschaft, Paderborn u.a. 2001. Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 1994.
Massaker von Lissabon (1506) Das Massaker von Lissabon war eines der schwersten Pogrome der iberischen Geschichte, bei dem vom 19. bis 21. April 1506 mehrere Tausend konvertierte Juden (conversos) ermordet wurden. König Manuel I. hatte die Juden Portugals 1497 zwangsgetauft, sie jedoch keiner Inquisitionskontrolle unterworfen und manchen von ihnen hohe Staatsämter anvertraut, seit 1505 auch das koloniale Handelsmonopol. Das religiöse Doppelleben vieler dieser „Neuchristen“ (cristãos-novos) zog ihnen die Feindschaft des Klerus zu, ihre Tätigkeit für die königlichen Finanzen den Hass der Volksmenge. Während der König und sein
Miskolc-Diósgyör-Pogrom
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Hofstaat im April 1506 wegen der Pest aus Lissabon abwesend waren, deuteten die Dominikaner die Seuche als Strafe für Manuels religiöse Nachsichtigkeit und führten als Warnzeichen ein hell strahlendes Kruzifix in ihrer Stadtkirche vor. Als ein Neuchrist Zweifel an dem angeblichen Wunder äußerte, brach Zorn gegen ihn und die seinen aus. Niederländische und französische Seeleute, denen sich die Unterschichten und afrikanischen Sklaven der Stadt anschlossen, plünderten das Geschäftsviertel der Rua Nova, ermordeten dessen neuchristliche Bewohner und verbrannten die Leichen auf Scheiterhaufen. Zwei Dominikaner leiteten die Menge an den folgenden Tagen in Stadt und Umland zu seriellen Morden, die von der Treibjagd auf den obersten Steuereinnehmer João Rodrigues Mascarenhas bis zu wahllosen Grausamkeiten an Frauen und Kindern reichten. Erst am Abend des dritten Tages, nachdem zwei- bis viertausend Menschen dem Massaker zum Opfer gefallen waren, brachten königliche Truppen die Stadt unter Kontrolle. König Manuel ließ die beiden Dominikaner und weitere Rädelsführer hinrichten; Lissabons Rat und Bürgerschaft wurden für ihre Untätigkeit mit der zeitweiligen Aufhebung der Stadtprivilegien bestraft. Ausreisewilligen Neuchristen erlaubte Manuel 1507 die Emigration und unternahm 1516 erste Versuche, die anderen unter Inquisitionsjustiz zu stellen. Die portugiesische Inquisition entstand wie die spanische im Gefolge von Pogromen als Mittel zur zentralen bürokratischen Regulierung der judenfeindlichen Gewalt. Die in Portugal präzedenzlosen Geschehnisse, an die seit 2008 ein Mahnmal erinnert, erklärte Y. H. Yerushalmi mit einer unterschwelligen iberischen Judenfeindschaft, die bei jedem Nachlassen des königlichen Schutzes hervorzubrechen drohte. Der nicht gegen Juden, sondern gegen Konvertiten gerichtete Massenmord nimmt das moderne Paradox vorweg, dass die Assimilation der Minderheit feindlichere Reaktionen hervorrufen konnte als die frühere Ausgrenzung. Doch zeigt der Hergang des Massakers auch den Import mitteleuropäischen Judenhasses. Deutsche Kaufleute, die mit den Neuchristen um den Indienhandel Lissabons konkurrierten, haben mit ihren aus ganz Europa zusammengewürfelten Schiffsbesatzungen den „christenlichen streyt“ gegen die „newen christen oder juden“ mitgetragen und propagandistisch gefeiert, möglicherweise sogar angezettelt.
Literatur
Carsten L. Wilke
Yosef Hayim Yerushalmi, The Lisbon massacre of 1506 and the royal image in the Shebet Yehudah, Cincinnati 1976.
Maßregeln gegen das Vagabundieren → Emanzipationsverweigerung (Rumänien 1859–1923) Merker-Fall → Paul Merker-Fall Miskolc-Diósgyör-Pogrom → Pogrome in Ungarn (1946)
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Möllemann-Affäre
Möllemann-Affäre Der vom FDP-Politiker Jürgen Möllemann im Wahlkampf 2002 entfachte „Antisemitismus-Streit“ instrumentalisierte Ressentiments und Vorurteile: Auslöser war seine Feststellung, Antisemitismus sei ein Reflex auf das Verhalten prominenter Juden (des deutschen Fernsehmoderators Friedman und des israelischen Ministerpräsidenten Sharon). Den Hintergrund bildete die ebenso populistische und wirksame wie absurde Behauptung, es existiere ein Verdikt, Kritik an Israel zu üben und es gebe einschlägige Denk- und Meinungsverbote. Möllemann empfahl sich als Tabubrecher und benutzte, um sich allgemein verständlich zu machen, klassische judenfeindliche Stereotype als Appell an Wähler bis hin zu Weltverschwörungsphantasien in Gestalt einer „zionistischen Lobby“, die unerwünschte Kritiker bei Bedarf mundtot mache. Angefangen hatte es mit antisemitischen Äußerungen eines Landtagsabgeordneten in Nordrhein-Westfalen, die als Israelkritik getarnt waren. Der Abgeordnete Jamal Karsli war von den Grünen zur FDP-Fraktion gewechselt, die ihn zunächst als Gast, dann als Mitglied aufnahm und unter öffentlichem Druck wieder ausschloss. Der Fall Karsli verdiente kein besonderes Interesse, hätte nicht der Landeschef und damalige stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP, Jürgen Möllemann, die Angelegenheit zum Skandal gemacht, hätte nicht der Vorsitzende der Partei, Guido Westerwelle, Konkurrent Möllemanns als Protagonist werbewirksamer Strategien und als FDP-Kanzlerkandidat mit Blick auf eine erstrebte Hausmacht von 18 Prozent der Wähler, so viel Geduld und Gelassenheit gezeigt, bis er endlich – um sich selbst zu retten und weiteren Schaden von der Partei abzuwenden – auf Distanz zu Karsli und Möllemann ging. Unter dem Vorwand der Israelkritik, die als befreiender Tabubruch dargestellt wurde, sind in dieser Debatte die Stereotype der Judenfeindschaft in die öffentliche Auseinandersetzung zurückgekehrt. Das war das Neue an dem Diskurs, der mit zunehmender Erbitterung von Menschen geführt wird, die mit bierernster Trotzigkeit einklagen, was niemand bestreitet, nämlich das vermeintlich vorenthaltene Recht auf Kritik an Israel, das Ende vermuteter Privilegien „der Juden“ in Deutschland, die es (sieht man von der besonderen Aufmerksamkeit ab, die auf die Minderheit gerichtet ist) nicht gibt. Die Debatte wurde auf zwei Ebenen geführt. In den Medien mühte sich politische und sonstige Prominenz darum, einen Konsens zu bewahren, der essentieller Bestandteil politischer deutscher Kultur ist, den Konsens darüber, dass Antisemitismus als Mittel der Politik verpönt, dass Judenfeindschaft nach Hitler ein für allemal in diesem Land geächtet ist. Im Alltagsdiskurs, der zweiten und wirkungsmächtigeren Ebene, erfolgte mit Hilfe tradierter Stereotype gegen Juden die Reanimierung muffiger Ressentiments, die ausschließlich mit den Kategorien „fremd“ versus „eigen“ ein Politikverständnis mit dem Ziel artikuliert, Gemeinschaft durch Ausgrenzung zu stiften. Möllemann hat in seinem Pamphlet „Klartext. Für Deutschland“, das im Zorn geschrieben wurde und das ausschließlich dem Zweck der Abrechnung dient, den Chefredakteur des Magazins „Focus“ zum Kronzeugen ernannt, was Antisemitismus sei: „Einen Deutschen einen Antisemiten zu nennen, ist die größte denkbare Diffamierung, denn sie assoziiert Rassenhass, Massenmord, Auschwitz [...] Antisemit – das ist ein Killerwort. An wem es klebt, der ist gesellschaftlich und politisch geächtet [...] Wem Friedman zu arrogant ist, der ist kein Antisemit [...].“
Möllemann-Affäre
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Möllemann hatte sich in die Rolle des Märtyrers begeben und benutzte sie, um bestimmte Assoziationen wie Verschwörung, Unversöhnlichkeit, Intoleranz mit der Person des Präsidenten und des Vizepräsidenten des Zentralrats und anderer jüdischer Politiker zu verbinden und sich selbst zum Tabubrecher zu stilisieren. Die Methode seiner Selbstinszenierung bestand aus dem Gemisch von Unterstellung, Vermutung und Undeutlichkeit, das, weil es Emotionen bedient und Sachaussagen meidet, wirkungsvoll ist. Es legt Schlüsse nahe, ohne etwas beweisen zu müssen und rührt an Unterschwelliges, stimuliert Ängste und bietet kompakte Erklärungen für verbreitetes Unbehagen: „Darf in Deutschland nur die Linke Vergleiche mit den Verbrechen der NS-Zeit anstellen? Auch dann, wenn sie offensichtlich völlig unangemessen sind? Was ist von der in Festreden viel gepriesenen Medienvielfalt zu halten, wenn diese Vielfalt zur Einfalt wird, in der sich Nachrichten und Kommentare noch mehr vermischen als sonst? Und in der Andersdenkende mit Beschimpfungen und Vorverurteilungen öffentlich hingerichtet werden?“ Mit Mythenproduktion hat Möllemann einen Beitrag zum Antisemitismus geleistet. Er bediente judenfeindliche Ressentiments im Dienste eines patriotischen Projekts. Die Botschaft derer, die sich durch Appelle an Nachdenklichkeit und politische Moral bedroht sehen, ihr Unbehagen an Eigenschaften und Äußerungen Einzelner personalisieren, dies aber dann verallgemeinern und das Kollektiv „der Juden“ meinen, ist eindeutig: die Minderheit ist schuld am Unbehagen der Mehrheit. Das hat Möllemann in einem Faltblatt zur Bundestagswahl 2002 klar gemacht durch die Konstruktion des Gegensatzes zwischen dem Kandidaten Möllemann, der ausgestattet ist mit den guten Eigenschaften der Mehrheit („Einer wie wir“) und der sich „beharrlich für eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts“ einsetzt, und zwei als Feindbilder stilisierten Juden, dem israelischen Ministerpräsidenten, der dadurch charakterisiert wird, dass er „Panzer in Flüchtlingslager“ schicke und „Entscheidungen des UNO-Sicherheitsrates“ missachte, und Michel Friedman, der „das Vorgehen der Sharon-Regierung“ verteidige und versuche, den „Sharon-Kritiker Jürgen W. Möllemann als ‚antiisraelisch‘ und ‚antisemitisch‘ abzustempeln“. An leicht zu stimulierende Ressentiments anknüpfend, konstruierte Möllemann damit, ohne ihn auszusprechen, aber unmissverständlich, den Vorwurf, „die Juden“ seien die Ursache der Abneigung, die ihnen entgegengebracht werde. Parallel zum Schuldvorwurf wird eine zweite Botschaft transportiert, die des Tabubrechers, der sich nicht einschüchtern und auch „den Mund nicht verbieten“ lässt und als deutscher Patriot mutig seine Stimme gegenüber fremden Feinden erhebt. Möllemanns Wahlkampf-Traktat, das den Höhepunkt seiner Anstrengung bildete, judenfeindliche Ressentiments in den Dienst einer parteipolitischen Werbekampagne zu nehmen, mit dem aber auch seine politische Karriere endete, beweist einmal mehr, dass Antisemitismus ein Verständigungsmittel ist, das mit Codes arbeitet, die aus dem öffentlichen „Klartext“ erst zu entschlüsseln sind (die also auch ignoriert oder geleugnet werden können). Die codierte Botschaft ist ebenso leicht verständlich wie sie zu dementieren ist. Das ist der essentielle Mechanismus einer Judenfeindschaft, die nicht durch brachiale Gewalt und kaum verbal, aber mit großer Wirkung agiert.
Literatur
Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus, München 2004.
Wolfgang Benz
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Mortara-Affäre
Mortara-Affäre Am 23. Juni 1858 wurde der damals sechsjährige Edgardo Mortara durch die päpstliche Polizei mit Gewalt aus seinem Elternhaus herausgerissen und in die Obhut der Katholischen Inquisition gegeben. Die Familie Mortara lebte in Bologna, das zum Kirchenstaat gehörte, wo Juden speziellen Gesetzen unterlagen. Edgardos Eltern wurden später benachrichtigt, dass ihr Sohn, laut Aussage einer ehemaligen Hausangestellten der Familie, heimlich von dieser getauft worden war, als sie ihn während einer Krankheit im Alter von einem Jahr pflegte. Da nach den Regeln des Kirchenstaates kein Christ von jüdischen Eltern erzogen werden durfte, beschloss die Inquisition, dass das Kind von seiner Familie getrennt werden musste. Edgardo wurde daraufhin nach Rom gebracht, wo er zum Katholiken erzogen und später zum Priester geweiht wurde. Er kehrte nie mehr zum Judentum zurück. Das Schicksal Edgardo Mortaras war zur damaligen Zeit kein Einzelfall in Italien. Allerdings ist seine Entführung die bekannteste unter vergleichbaren Ereignissen. Sie erzeugte nationalen und internationalen Aufruhr und wurde als „Mortara-Affäre“ bzw. „Mortara-Fall“ bekannt. Als klar wurde, dass die Bitte der Familie, Edgardo zurückzubekommen, vom Vatikan nicht erhört werden würde, drängten die italienischen Juden die jüdischen Gemeinden im Ausland dazu, durch öffentlichen Protest und Appelle Druck auf die päpstlichen Instanzen auszuüben. Dies führte zu weit verstreuten Demonstrationen in Europa und den USA. Den Juden in Frankreich gelang es, die Aufmerksamkeit von Napoleon III. auf die Affäre zu lenken. In Frankreich, das die Souveränität des Kirchenstaats garantierte, widerstrebte der Öffentlichkeit die Unterstützung eines Regimes, das von vielen als antiquiert betrachtet wurde. In Deutschland sandten 40 prominente Rabbiner einen Protestbrief an den Papst. In den USA wurde eine Bewegung zugunsten Edgardo Mortaras angeregt, aber sie war durch die Kontroversen über Sklaverei behindert. Auch die Rothschild-Familie intervenierte zugunsten des entführten jüdischen Kindes. Trotz dieser Interventionen revidierte der Papst seine Entscheidung nicht. Die Mortara-Affäre ist sowohl für die Geschichte Italiens und die der römisch-katholischen Kirche als auch für die Geschichte des Judentums und des Antisemitismus von Bedeutung. Die Haltung des Papstes während der Affäre heizte den Antiklerikalismus in Italien und Frankreich an. Deshalb wurde argumentiert, dass das päpstliche Gebaren während der Mortara-Affäre Einfluss hatte auf die Entscheidung Napoleons III., an dem Krieg Piemonts gegen Österreich teilzunehmen und in die piemontesische Übernahme der Päpstlichen Staaten von 1870 einzuwilligen, was eine Bedingung für die endgültige Vereinigung Italiens war. Andererseits führte die Affäre zur Bildung der ersten jüdischen Organisationen in den USA und auch zur ersten internationalen jüdischen Organisation für Selbstverteidigung, der „Alliance Israélite Universelle“ (1860 gegründet). Im Hinblick auf die Geschichte des Antisemitismus sind zwei Aspekte der Mortara-Affäre interessant: Auf der einen Seite zeugt sie von einer katholischen Tradition des Antijudaismus hinsichtlich Diskriminierung und Segregation. Auf der anderen Seite hat die Affäre, durch die Verstärkung von Stereotypen bzgl. jüdischer Verschwörungen, Kosmopolitismus, kirchenfeindlicher Hetze und Bündnissen zwischen Juden und Liberalen, antijüdische Gefühle im katholischen Klerus verstärkt. Dies führte in
Novemberpogrome 1938 („Reichskristallnacht“)
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der Folge zu einem klerikalen Gegenangriff auf Juden und Liberale, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch intensivieren sollte.
Literatur
David L. Dahl
David I. Kertzer, The Kidnapping of Edgardo Mortara, New York 1997. Bertram Wallace Korn, The American Reaction to the Mortara Case 1858–1859, Cincinnati 1957.
Neuenhovener Ritualmordvorwurf → Ritualmordvorwurf in Neuenhoven (1834) Nieland-Fall → Fall Nieland Nostra aetate → Zweites Vatikanisches Konzil
Novemberpogrome 1938 („Reichskristallnacht“) Im Herbst 1938, nach fünfeinhalb Jahren nationalsozialistischer Herrschaft, hatten sich für die deutschen Juden aufgrund staatlich geplanter und verordneter Diskriminierungen die Existenzbedingungen drastisch verschlechtert. Dass es noch schlimmer kommen könnte, mochten viele nicht glauben, andere waren aber auch überzeugt, dass die angekündigte Drohung einer „Lösung der Judenfrage“ – wie immer sie aussehen würde – wahrgemacht würde, niemand aber glaubte nach allem, was bereits geschehen war, an den „spontanen Volkszorn“, der angeblich am 9. November 1938 zum Ausbruch gekommen war. Ein marginaler Anlass bildete die Vorgeschichte der Novemberpogrome 1983. Im März 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs, hatte die polnische Regierung die Gültigkeit der Pässe aller Auslandspolen zur Disposition gestellt, wenn sie mehr als fünf Jahre ohne Unterbrechung im Ausland gelebt und dadurch die Verbindung mit dem polnischen Staat verloren hatten. Warschau fürchtete im Frühjahr 1938 die Rückkehr der rund 20.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit, die seit langem in Österreich ansässig waren, sich aber jetzt möglicherweise dem nationalsozialistischen Regime entziehen wollten. Das polnische Gesetz trat am 31. März 1938 in Kraft, aber es wurde noch nicht angewendet. Erst im Herbst, unmittelbar nach dem „Münchener Abkommen“, erging am 15. Oktober eine Verordnung, die die Überprüfung der Personaldokumente der Auslandspolen vorsah. Alle im Ausland ausgestellten Pässe sollten ab dem 31. Oktober 1938 nur noch dann zur Einreise nach Polen berechtigen, wenn sie einen besonderen Vermerk in den polnischen Konsulaten bekommen hatten. Das betraf nun auch die rund 50.000 polnischen Juden, die im Deutschen Reich lebten. Die Mehrzahl von ihnen sollte nach den Intentionen der Regierung in Warschau am 30. Oktober staatenlos werden. Danach hätte auch die deutsche Reichsregierung keine Möglichkeit mehr gehabt, die ihr lästigen Ostjuden über die Ostgrenze abzuschieben, da Polen sie dann nicht mehr als Bürger anerkannte. Am 26. Oktober 1938 übertrug das Auswärtige Amt die Lösung des Problems der Gestapo: Alle polnischen Juden sollten in den nächsten vier Tagen abgeschoben werden. Die Gestapo machte sich unverzüglich und mit aller Brutalität ans Werk. Ca.
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Novemberpogrome 1938 („Reichskristallnacht“)
17.000 Juden wurden an die polnische Grenze deportiert ( → Ausweisung polnischer Juden 1938). Unter diesen Juden mit ungültigem polnischen Pass befand sich die Familie Grynszpan aus Hannover. Ein Sohn, der 17-jährige Herschel, erhielt am 3. November eine Postkarte seiner Schwester, die ihm das Schicksal der Familie schilderte. Der staatenlose, illegal in Paris lebende Herschel Grynszpan löste wenige Tage später Ereignisse aus, deren Dimension er nicht entfernt erkennen konnte. Denn die Pogrome, für die sein Revolverattentat auf den Legationssekretär der Deutschen Botschaft in Paris Ernst vom Rath zum auslösenden Moment wurde, markierte die Wende zur Barbarei, in dieser Nacht wurden die Errungenschaften der Aufklärung, der Emanzipation, der Gedanke des Rechtsstaats und die Idee von der Freiheit des Individuums zuschanden, und in diesem November 1938 wurde den Juden in Deutschland und zugleich der Weltöffentlichkeit, auf die man bisher noch Rücksicht genommen hatte, demonstriert, dass bürgerliche Rechte und Gesetze für diese Minderheit nicht mehr galten. Mit keinem anderen Ereignis hat das NS-Regime so zynisch demonstriert, dass es auch auf den Schein rechtsstaatlicher Tradition nun keinen Wert mehr legte. Antisemitismus und Judenfeindschaft, wie sie als Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie schon immer propagiert worden waren, schlugen jetzt um in die primitiven Formen physischer Gewalt und Verfolgung. Die „Reichskristallnacht“ bildete den Scheitelpunkt des Wegs zur „Endlösung“, zum millionenfachen Mord an Juden aus ganz Europa. Der NS-Propaganda war die Tat des 17-jährigen Juden hochwillkommen, sie wurde als Verschwörung des „Weltjudentums“ gegen das Deutsche Reich stilisiert und diente zur Einleitung der endgültigen Ausgrenzung der deutschen Juden aus allen sozialen und ökonomischen Zusammenhängen. Goebbels benutzte Grynszpans Attentat zunächst zu einer antisemitischen Pressekampagne, und als am Abend des 9. November die Nachricht kam, dass Ernst vom Rath den Folgen des Anschlags erlegen war, zündete der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda die Lunte am Pulverfass. Die Gelegenheit war überaus günstig: Die Führer der NSDAP waren wie jedes Jahr an diesem Tag in München versammelt, um des Hitlerputsches von 1923 zu gedenken. Hier, im Alten Rathaus, rief Goebbels in einer spätabendlichen Hasstirade zum Schlag gegen die Juden auf, und seine Zuhörer gaben die Botschaft sogleich an die heimischen SA-Stürme und an die örtlichen NSDAP-Größen weiter. Überall im Deutschen Reich machten sich Schlägerkolonnen ans Werk, demolierten Schaufenster jüdischer Geschäfte, steckten die Synagogen in Brand, misshandelten Unschuldige, zerstörten die Wohnungen jüdischer Menschen. Um die Mär vom „spontanen Volkszorn“ aufrechtzuerhalten, erschienen sie meist in Räuberzivil; Ortsgruppenleiter der NSDAP (häufig waren sie gleichzeitig auch Bürgermeister) und andere Würdenträger überwachten das Treiben an vielen Orten persönlich, während sich die Bürger in der Mehrzahl angewidert vom Vandalismus oder einfach nur erschreckt, ängstlich und verstört im Hintergrund hielten oder sich anstecken ließen. Aus Nachbarn wurden aber mancherorts auch Pogromtäter. Die Feuerwehren taten ihre Pflicht – aber nur nichtjüdischem Eigentum gegenüber, sie achteten nämlich darauf, dass die Flammen von den Synagogen nicht auf Nachbargebäude übergriffen. Die Raserei, die sich in den nächsten Tagen fortsetzte, ergriff schließlich auch solche, die mit den Zielen der Nationalsozialisten oder mit Politik überhaupt nichts im Sinn hatten. Die „Reichskristallnacht“ wurde zum Ven-
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til für niedere Instinkte, für Mord- und Zerstörungslust. Einige wenige artikulierten auch vorsichtig ihren Unmut über die Aktion, die meisten freilich weniger aus Mitleid mit den jüdischen Mitbürgern, sondern wegen der sinnlosen Zerstörungen und wegen der Wirkung im Ausland. Darin waren sich viele, die die Juden weniger geräuschvoll und ohne Beteiligung des Straßenpöbels aus der deutschen Gesellschaft entfernen wollten, mit Hermann Göring einig. Als Beauftragter für den Vierjahresplan hatte Göring die Funktion eines Superwirtschaftsministers des Dritten Reiches, und in dieser Eigenschaft machte er Goebbels für die Inszenierung der Pogrome heftige Vorwürfe: Ihm tat es um die Sachwerte leid, um die Rohstoffe und Devisen, die zur Behebung der Schäden eingesetzt werden mussten. Die Vernichtung von Sachen beklagten auch viele Bürger, vor allem auf dem Land. In amtlichen Berichten ist diese Missbilligung festgehalten. Über Solidarität mit den Juden ist dort aber nichts zu lesen. Sowenig amtliche Berichte der geeignete Ort für Gefühlsäußerungen sind, so fällt doch auf, mit welcher Kaltschnäuzigkeit jüdische Todesopfer, die als Folge des Pogroms zu beklagen waren, erwähnt sind. Das Bedauern über die vernichteten Güter war allemal größer, und die Meinung war oft zu hören, man hätte mit weniger rabiaten Mitteln die jüdischen Mitbürger enteignen, entrechten, verdrängen und verjagen können. Im Übrigen blieb man kühl und gelassen wie der Oberbürgermeister von Ingolstadt, der meldete: „Die Aktion gegen die Juden wurde rasch und ohne besondere Reibungen zum Abschluss gebracht. Im Verfolg dieser Maßnahme hat sich ein jüdisches Ehepaar in der Donau ertränkt.“ Die materielle Bilanz des Pogroms vom 9. November 1938, für den der Begriff „Reichskristallnacht“ populär wurde, wurde unmittelbar nach den Ereignissen gezogen, am 12. November in Berlin unter dem Vorsitz von Hermann Göring, dem zweiten Mann im Staate Hitler. 7.500 zerstörte jüdische Geschäfte wurden gemeldet, fast alle Synagogen waren abgebrannt oder zerstört (nach amtlichen Angaben waren 191 jüdische Gotteshäuser durch Feuer, weitere 76 durch menschliche Gewalt vernichtet worden, nach neueren Forschungen sind jedoch weit über 1.000 Synagogen und Gebotshäuser insgesamt dem Pogrom zum Opfer gefallen), Schaufensterscheiben im Wert von vielen Millionen waren in der Nacht zum 10. November zerschlagen worden, und geplündert wurde in der Schreckensnacht nach Kräften. Das wurde von den nationalsozialistischen Machthabern zwar energisch bestritten – der „Volkszorn“ und die „gerechte Empörung“ der Deutschen hätten mit trivialem Diebstahl nicht das Geringste zu tun – aber ein einziges Juweliergeschäft in Berlin hatte zum Beispiel der Versicherung einen Schaden von 1,7 Millionen Reichsmark gemeldet, entstanden durch vollständige Ausplünderung. Bei den Brandstiftungen und Beraubungen, bei der Misshandlung und Verhöhnung jüdischer Menschen war es nicht geblieben. In den Tagen danach wurden im ganzen Deutschen Reich etwa 30.000 jüdische Männer, und zwar überwiegend besser situierte, verhaftet und in die drei Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen eingeliefert. Was das für die betroffenen „Aktionsjuden“ bedeutete, ist trotz zahlreicher Berichte kaum darstellbar. Dass die Aktion auf einige Wochen begrenzt war, dass sie „nur“ der Einschüchterung diente und der Pression zur Auswanderung, aber (noch) nicht der Vernichtung der Juden – diese Feststellungen wiegen wenig gegenüber der
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Novemberpogrome 1938 („Reichskristallnacht“)
Katastrophe, die der Aufenthalt im KZ für die bürgerliche Existenz, als Zerstörung der bisherigen Lebensform und im Bewusstsein der Opfer darstellte. Der Vandalismus der Novemberpogrome war noch nicht das Ärgste, aber er leitete es ein. Am 12. November 1938 wurde den Juden eine willkürliche Sondersteuer, eine „Sühneabgabe“, auferlegt, es folgte die Liquidierung aller Geschäfte und Unternehmen, die „Arisierung“ des Grund- und Immobilienbesitzes, die völlige Entrechtung und Demütigung bis zur Kennzeichnung mit dem Judenstern im Herbst 1941, der letzten Etappe vor den Deportationen in die Vernichtungslager des Ostens. In der Sitzung am 12. November 1938, als die Bilanz des Pogroms gezogen wurde (und bei welcher Gelegenheit Göring die wirtschaftlichen Schäden und die beim Pogrom zerstörten Werte Goebbels vorhielt), wurde der weitere Kurs der nationalsozialistischen Politik gegenüber den Juden festgelegt. Goebbels durfte in den folgenden Tagen und Wochen propagandistisch unterfüttern, was als Vollstreckung „des Volkswillens“ deklariert wurde, nämlich zuerst die Enteignung, dann die Ghettoisierung und schließlich die Deportation und Vernichtung der deutschen Juden, die nicht das Glück hatten, dem deutschen Herrschaftsbereich noch zu entkommen. Die Enteignung der Juden war am 12. November 1938 schon beschlossene Sache, die vollständige „Arisierung“ der deutschen Wirtschaft von Hitler entschieden. Einig waren sich die im Reichsluftfahrtministerium versammelten Minister und Beamten, dass die Juden nicht nur für die Schäden haften sollten, die beim Pogrom angerichtet wurden – wobei durch die Beschlagnahme der Versicherungssumme sichergestellt war, dass sie auch tatsächlich geschädigt waren –, sondern dass den deutschen Juden darüber hinaus eine „Buße“ auferlegt wurde, über deren Höhe nicht lange diskutiert wurde: Eine Milliarde Reichsmark wurde festgesetzt, tatsächlich waren es schließlich 1,12 Milliarden. Umstritten war lediglich, wer den Gewinn einstreichen durfte, der Staat oder die NSDAP. Göring, als Beauftragter für den Vierjahresplan, trug in der Sitzung vom 12. November den Sieg über den Reichspropagandaminister Goebbels davon, der die Kassen der Partei mit dem Geld der Juden hatte füllen wollen. Die „Arisierung“ erst aller jüdischen Einzelhandelsgeschäfte, dann der Fabriken und Beteiligungen wurde an diesem 12. November beschlossen, ehe die Herren über Maßnahmen berieten, wie die Juden endgültig aus der deutschen Gesellschaft ausgegrenzt und isoliert werden sollten. Die Ideen reichten vom Verbot des Betretens deutschen Waldes über die Beseitigung aller Synagogen zugunsten von Parkplätzen, über Vorschriften zum Benutzen der Eisenbahn bis zum Judenbann in Anlagen und zur äußeren Kennzeichnung der Juden. Die meisten dieser Vorschläge wurden in der Folgezeit realisiert, als, unmittelbar nach den Pogromen, die vollständige Entrechtung der Juden durch einen Katarakt von Anordnungen und Erlassen, Befehlen und Verboten vollzogen wurde. Die physische Vernichtung bildete dann nur noch die letzte Station des Weges, der mit der Inszenierung der Pogrome im November 1938 bewusst und öffentlich eingeschlagen war.
Literatur
Wolfgang Benz
Wolfgang Benz, Der Novemberpogrom 1938, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Juden in Deutschland 1933–1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, München 1993³.
Nürnberger Gesetze
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Wolfgang Benz, Mitglieder der Häftlingsgesellschaft auf Zeit. „Die Aktionsjuden“ 1938/39, in: Dachauer Hefte 21 (2005), S. 179–196. Hermann Graml, Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich, München 1988. Andreas Nachama, Uwe Neumärker, Hermann Simon (Hrsg.), „Es brennt!“ Antijüdischer Terror im November 1938, Ausstellungskatalog Berlin 2008. Novemberpogrom 1938. Reaktionen und Wirkungen, Themenheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998), Heft 11. Walter H. Pehle (Hrsg.), Der Judenpogrom 1938. Von der Reichskristallnacht zum Völkermord, Frankfurt am Main 1988. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007.
Numerus clausus → Judenordnungen → Judenparagraph des norwegischen Grundgesetzes → Jugoslawische antijüdische Gesetze → Italienische Rassengesetze → Slowakische Rassengesetze → Ungarische Rassengesetze
Nürnberger Gesetze Am 15. September 1935 wurden auf dem „Reichsparteitag der Freiheit“ die beiden „Nürnberger Gesetze“ verabschiedet, mit denen die deutschen Juden zu Einwohnern minderen Rechts degradiert wurden. Das „Reichsbürgergesetz“ unterschied jetzt „arische“ Vollbürger mit politischen Rechten und „Nichtarier“ als „Staatsangehörige“ ohne politische Rechte. Das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verbot Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden und stellte sexuelle Beziehungen zwischen „Deutschblütigen“ und Juden nach dem neu eingeführten Delikt „Rassenschande“ unter drakonische Strafe. Mit den „Nürnberger Gesetzen“ war die Emanzipation der Juden in Deutschland rückgängig gemacht und der Weg zur physischen Vernichtung der Minderheit trassiert. Die mörderische Konsequenz war freilich noch nicht zu erkennen, auch nicht von den Betroffenen, die jetzt ausschließlich nach rassistischen Kategorien behandelt wurden, unabhängig davon, ob sie sich selbst als Juden verstanden, einer jüdische Kultusgemeinde angehörten oder überhaupt von ihrer jüdischen Abstammung wussten. Komplizierte Definitionen, wer Jude im Sinne der neuen Gesetze war, wer als „Mischling“ ersten oder zweiten Grades eingestuft, wer zum „Geltungsjuden“ deklariert wurde, wer den Makel „jüdisch versippt“ zu tragen hatte, wer in „privilegierter Mischehe“ vor Verfolgungen (nicht vor Diskriminierung) geschützt war, bestimmten den Alltag der Minderheit, während die nichtjüdische Mehrheit durch „Abstammungsnachweise“ die verhängnisvollen Konsequenzen des „Arierparagraphen“ vermeiden konnte. Nach den Definitionen des Reichsbürgergesetzes war „Jude“, wer von drei jüdischen Großelternteilen abstammte, oder zwei jüdische Großeltern hatte und bei Erlass des Gesetzes der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte bzw. ihr später beitrat oder zu diesem Zeitpunkt mit einem „Volljuden“ verheiratet war (Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz). Paradox an den Definitionen der Rassengesetze war, dass die Religionszugehörigkeit eine erhebliche Rolle spielte. Mit den „jüdisch Versippten“ bzw. Personen „ge-
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Nürnberger Prozesse
mischten jüdischen Blutes“ war eine neue rechtliche Kategorie, die der „Mischlinge“, geschaffen, deren Behandlung den Verwaltungsbehörden erhebliche Mühe bereitete. Hilfreich war der NS-Administration der Kommentar, den die Beamten im Reichsinnenministerium Wilhelm Stuckart und Hans Globke verfasst hatten (1936). Auf der → Wannsee-Konferenz 1942 war die Behandlung der „Mischlinge“ umstritten, sie wurde auf die Zeit nach dem „Endsieg“ vertagt. Die Nürnberger Gesetze waren nach der Aussage des beteiligten Referenten im Reichsinnenministerium, Bernhard Lösener, in großer Hast während des Parteitages formuliert worden, ihr Programm war aber durch die NS-Ideologie vorgegeben und es wurde ab 1933 bereits praktiziert ( → Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, → Schriftleitergesetz). Als Gesetzgebungsakt dienten sie der Legalisierung der Judenpolitik des NS-Staats. Mit Durchführungsverordnungen und Ausführungsbestimmungen wurden alle Maßnahmen der Diskriminierung, Expropriierung und Deportation geregelt.
Literatur
Wolfgang Benz
Cornelia Essner, Die „Nürnberger Gesetze“ oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933– 1945, Paderborn u.a. 2002. Lothar Gruchmann, „Blutschutzgesetz“ und Justiz. Entstehung und Anwendung des Nürnberger Gesetzes vom 15. September 1935, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), S. 148–442. Michael Ley, „Zum Schutz des deutschen Blutes...“ – „Rassenschande“-Gesetze im Nationalsozialismus, Bodenheim 1997. Das Reichsministerium des Innern und die Judengesetzgebung. Dokumentation, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 9 (1961), S. 262–313.
Nürnberger Prozesse Großbritannien, die USA und die Sowjetunion hatten bereits in ihrer Moskauer Erklärung vom 1. November 1943 angekündigt, NS-Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen. Auf Grundlage des Londoner Abkommens vom 8. August 1945 schufen sie unter Einbeziehung Frankreichs ein Internationales Militärtribunal (IMT). Ab dem 20. November 1945 verhandelte dieses in Nürnberg gegen die deutschen „Hauptkriegsverbrecher“. 22 führende Politiker, Beamte, Funktionäre der NSDAP und Generale standen vor Gericht. Anklagepunkte waren 1. Verbrechen gegen den Frieden, d.h. Planung, Vorbereitung und Führung von Angriffskriegen unter Verletzung internationaler Verträge; 2. Kriegsverbrechen, d.h. die Verletzung der Kriegsgesetze und -gebräuche. Dazu zählten u.a. Mord, Misshandlungen, Deportation zur Zwangsarbeit oder für andere Zwecke von Angehörigen der Zivilbevölkerung besetzter Gebiete, Mord oder Misshandlung von Kriegsgefangenen, das Töten von Geiseln; 3. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nämlich Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung und Verfolgungen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen. Der Prozess dokumentierte das ganze Ausmaß der Verbrechen des NS-Regimes, so v.a. auch das System der KZ und Vernichtungslager. Der Genozid an den europäischen Juden war kein herausgehobener Anklagepunkt, trat aber durch Zeugenaussagen, Beweisdokumente und Filmmaterial offen zutage. Die Urteile ergingen am 30. September
Nürnberger Prozesse
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und 1. Oktober 1946. Die Todesstrafe verhängte das IMT u.a. gegen Hans Frank, Hermann Göring, Wilhelm Keitel, Joachim von Ribbentrop und Julius Streicher. Acht Angeklagte verurteilte das IMT zu Haftstrafen, drei sprach es frei. Die Rechtsgrundlage des IMT war aufgrund des bestehenden Rückwirkungsverbots („nulla poena sine lege“) lange Zeit heftig umstritten und in Frage gestellt. Allerdings hätten etwa die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgten Taten auch nach dem zur Tatzeit geltenden deutschen Strafrecht geahndet werden können. Das IMT war darauf angelegt, große Resonanz in Deutschland und in der internationalen Öffentlichkeit zu finden. Durch die Publizität sollte es eine aufklärende und abschreckende Wirkung erzielen. Das IMT erfuhr zunächst noch relativ viel Zustimmung, sahen viele Deutsche doch nach dem totalen politischen und gesellschaftlichen Zusammenbruch in den Angeklagten die Hauptverantwortlichen für die Verbrechen des NSRegimes. Im Anschluss an den Hauptkriegsverbrecherprozess fanden 1946–1949 in Nürnberg zwölf Nachfolgeprozesse vor amerikanischen Militärgerichten statt. Verhandelt wurde gegen Ärzte (Fall 1), Juristen (Fall 3), SS-und Polizeiangehörige (Fälle 4, 8 und 9), Militärangehörige (Fälle 7 und 12), Industrielle und Manager (Fälle 5, 6 und 10) sowie Minister und Regierungsfunktionäre (Fälle 2 und 11). Die Stimmung in der deutschen Bevölkerung änderte sich grundlegend, als sich nun auch Angehörige der traditionellen Funktionseliten vor Gericht verantworten mussten und deren Komplizenschaft mit dem NS-Regime offenbar wurde. Die Nachfolgeprozesse wurden zunehmend als „Siegerjustiz“ und die Urteile als Kollektivbestrafung betrachtet. Hatten bei Abschluss des IMT im Oktober 1946 noch 6 Prozent die Urteile als unfair bezeichnet, erklärten dies in einer Erhebung des Office of Military Government for Germany, US (OMGUS) vier Jahre später bereits 30 Prozent der Befragten; 40 Prozent von ihnen hielten die Urteile für zu streng (1946: 9 Prozent). Ein erheblicher Teil der Deutschen zeigte sich dabei weiterhin rassistisch und antisemitisch eingestellt. Eine Erhebung im Dezember 1946 hatte 18 Prozent der Bevölkerung in der US-Zone als „harte“ Antisemiten, weitere 21 Prozent als Antisemiten und 22 Prozent als Rassisten eingestuft: Der Schock der Kriegsniederlage und der alliierten Besetzung war offenbar allmählich gewichen, neue Ressentiments gegen Juden entstanden u.a. aufgrund von Restitutionsansprüchen und wegen der teilweise exponierten Rolle, die Juden nicht nur als Zeugen sondern auch als Ankläger in den Nürnberger Verfahren spielten. Entsprechende Reaktionen lassen sich sowohl für Angeklagte wie für die Öffentlichkeit belegen. So erklärte etwa der im Prozess gegen Friedrich Flick und fünf seiner engsten Mitarbeiter im Dezember 1947 freigesprochene Odilo Burkart gegenüber Flicks Söhnen, er sei während seines Prozesses – in dem die Angeklagten sich auch wegen des Einsatzes von Zwangsarbeitern und der „Arisierung“ von Unternehmen hatten verantworten müssen – nicht zum Freund der Juden geworden, er hielte diese vielmehr für „unsere größten Feinde“. Besonders umstritten war der Wilhelmstraßen-Prozess (Fall 11), dessen Bedeutung in der herausgehobenen politischen und gesellschaftlichen Stellung der 21 Angeklagten, unter ihnen der frühere Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ernst von Weizsäcker, lag. Im Fokus der Kritik stand der leitende Ankläger Robert M. W. Kempner, gegen den sich die Wut über die Beschuldigungen durch die Alliierten richtete.
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Nürnberger Prozesse
Kempner, ein aus jüdischem Elternhaus stammender und 1935 aus Deutschland emigrierter Jurist, war nach Kriegsende als amerikanischer Staatsbürger nach Deutschland zurückgekehrt und hatte 1945/46 bereits in der Anklagebehörde im IMT mitgearbeitet. Die Kampagne gegen Kempner eröffnete Anfang 1948 kurz nach Prozessbeginn Richard Tüngel in der „Zeit“. Kempner wurde als einer der „Morgenthau-Boys“ diffamiert, die die „deutsche Tragödie“ aus dem sicheren Ausland beobachtet hätten und nun sogar gegen ehemalige Kollegen in der Ministerialbürokratie ermittelten. Die Kritik riss auch nach Abschluss der Verfahrensserie nicht ab: Noch 1951 vermutete der Referent in der Personalabteilung des Auswärtigen Amtes Curt Heinburg in einem internen Papier Kempner an der Spitze einer israelischen Abwehrorganisation und bediente damit Verschwörungstheorien. Die offenbar gewordenen und vielfach belegten nationalsozialistischen Verbrechen führten zu keiner Einsicht und keinem Schuldeingeständnis, sondern vielmehr zu heftigen Abwehrreaktionen. Angesichts der veränderten weltpolitischen Lage beurteilten aber auch Teile der amerikanischen Öffentlichkeit und Politik die Nürnberger Prozesse zunehmend ambivalent, dies mit einem zuweilen deutlich antisemitischen Subtext. So hatte der Vorsitzende Richter im sogenannten Geiselmord-Prozess gegen zehn an der Südostfront eingesetzte Wehrmachtgenerale (Fall 7), Charles F. Wennerstrum, nach der Verkündung der Urteile am 19. Februar 1948 einem Korrespondenten der „Chicago Tribune“ ein Interview gegeben, in dem er erklärte, dass er nicht nach Nürnberg gekommen wäre, wenn er vor sieben Monaten gewusst hätte, was ihn erwartete. Nicht nur bezeichnete er die Verfahren als unfair, vielmehr nannte er auch das Konzept der Anklage „rachsüchtig“ und von „persönlichen Ambitionen“ geprägt. Die Anklagebehörde habe, so Wennerstrum, etliche Mitarbeiter, die erst in den vergangenen Jahren Amerikaner geworden und die daher weiter in den „Vorurteilen und den Haßgefühlen Europas verhaftet“ seien. Wennerstrums Äußerungen erhöhten den zu dieser Zeit bereits beträchtlichen deutschen Druck, die Urteile abzumildern. Proteste amerikanischer Politiker rief auch der Prozess gegen Alfried Krupp von Bohlen und Halbach und führende Manager des Krupp-Konzerns hervor (Fall 10). Mehrere Kongress-Abgeordnete meldeten sich zu Wort. Der Republikaner William Langer vermutete einen „kommunistisch-inspirierten Schauprozess“, und der Demokrat John Rankin sprach von den „Verfolgungsexzessen einer rassischen Minderheit“, die „zweieinhalb Jahre nach Kriegsende nicht nur deutsche Soldaten aufgeknüpft, sondern auch deutsche Geschäftsmänner im Namen der Vereinigten Staaten abgeurteilt“ hätte. Der öffentliche und politische Druck in Deutschland (aber auch in den USA) führte ab 1950, als im Kalten Krieg die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte im Interesse der USA lag, zur raschen Begnadigung der Mehrzahl der in Nürnberg Verurteilten.
Literatur
Jörg Osterloh
Klaus Kastner, Von den Siegern zur Rechenschaft gezogen. Die Nürnberger Prozesse, Nürnberg 2001. Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt am Main 2008³. Annette Weinke, Die Nürnberger Prozesse, München 2006.
Ostjudendebatte
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Oberammergauer Passionsspiele → Passionsspiele Operation Frühlingswind → Vélodrome d’Hiver-Razzia (1942)
Ostjudendebatte Die in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in der deutschen Öffentlichkeit geführte Diskussion um die Einwanderung jüdischer Flüchtlinge und Migranten aus Osteuropa war stark von antisemitischen Deutungsmustern geprägt. In der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden die zumeist abschätzig als „Ostjuden“ bezeichneten osteuropäisch-jüdischen Migranten immer häufiger für die Kriegsniederlage, die Revolution, die Wirtschaftskrise und die Notlage der deutschen Bevölkerung verantwortlich gemacht. Das in der Bevölkerung weit verbreitete antisemitische Ostjudenstereotyp setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg aus Elementen des bereits Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten negativen Ostjudenbildes zusammen, in dem osteuropäische Juden als schmutzig, laut, roh und kulturell rückständig galten. Dieses vorwiegend kulturelle Vorurteil wurde nun in der öffentlichen Diskussion um volkswirtschaftliche und politische Negativzuschreibungen ergänzt. So wurden die „Ostjuden“ vor allem als Schieber, Schleichhändler, Schmuggler, Bolschewisten, Kommunisten und Anarchisten bezeichnet. In der politischen Diskussion wurden die antisemitischen Ressentiments und Projektionen insbesondere von antidemokratischen und völkisch-antisemitischen Gruppierungen instrumentalisiert. Mehrere Anfragen der „Deutschnationalen Volkspartei“ (DNVP) führten dazu, dass in den Haushaltsdebatten des Preußischen Landtages die „Ostjudenfrage“ in den Jahren 1921 bis 1924 immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Konkret waren es stets drei Aspekte, die angesprochen wurden: Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und Lebensmittelknappheit der deutschen Bevölkerung. Ihren Höhepunkt fanden diese Debatten in der Großen Anfrage über die Einwanderung der Ostjuden nach Deutschland im November 1922, die sich über mehrere Verhandlungstage erstreckte. Dabei ging es um Fragen der Zuwanderung und des Aufenthalts in Preußen, der Internierung und Ausweisung. Die Fraktionsredner der bürgerlichen Parteien sprachen sich durchweg gegen die Zuwanderung und den Verbleib osteuropäischer Juden in Deutschland aus. Der Grad ihrer Ablehnung reichte dabei von unverhohlenem rassistisch gefärbtem Antisemitismus bis zu allgemeiner Antipathie. So forderte der Abgeordnete der DNVP Georg Quaet-Faslem eine „Reinigung des deutschen Volkskörpers von fremdstämmigem Blut“. Die liberalen Parteien sahen in den osteuropäischen Juden dagegen die Ursache für einen „staatsgefährlichen“ Antisemitismus, der unbedingt beseitigt werden müsse und befürworteten daher schärfere Ausweisungsregelungen. Der Abgeordnete der Zentrumspartei Friedrich Loenartz lehnte dagegen jeglichen „Radauantisemitismus“ ab und betrachtete die „Fremdenfrage“ unter dem Nützlichkeitsaspekt. Lediglich die Parlamentarier der Linksparteien SPD/USPD und KPD brachten trotz argumentativer Unterschiede einen sachlicheren Ton in die überwiegend emotional und antisemitisch geführten Debatten. So regte der SPD-Fraktionsvorsitzende Ernst Heilmann bereits im Juli 1921 eine Diskussion über den Sinn der Internierungslager an, während der sozialdemokratische Innenminister Carl Severing schon von Amts wegen die im → Ostjuden-Erlass vom 1. November 1919 formulier-
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ten Grundlinien preußischer Politik verteidigte. Darüber hinaus war es vor allem der jüdische USPD-Abgeordnete Oskar Cohn, der sich vorbehaltlos für die Belange der osteuropäisch-jüdischen Arbeiter einsetzte, während für die KPD die „Ostjudenfrage“ ausschließlich eine „Klassenfrage“ blieb. In den „Ostjudendebatten“ zeigt sich exemplarisch, was für das gesellschaftliche Klima in den Anfangsjahren der Weimarer Republik galt: die Haltung nicht-antisemitischer Kreise war nicht so gefestigt, als dass sie nicht gegenüber bestimmten Gruppen von Juden ins Wanken gebracht werden konnte.
Literatur
Anne-Christin Saß
Ludger Heid, Maloche – nicht Mildtätigkeit. Ostjüdische Arbeiter in Deutschland 1914– 1923, Hildesheim, Zürich, New York 1995. Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1986.
Ostjuden-Erlass (1919) In seinem Erlass vom 1. November 1919 ordnete der sozialdemokratische preußische Innenminister Wolfgang Heine die vorläufige Duldung der infolge des Ersten Weltkriegs zum Teil unter Zwang nach Deutschland gekommenen Juden aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa an. Die etwa 70.000 bis 100.000 Personen umfassende Gruppe sollte trotz der Notlage der inländischen Bevölkerung aus völkerrechtlichen und aus Gründen der Menschlichkeit „zur Zeit und bis auf Weiteres“ nicht abgeschoben werden. Selbst bei illegalem Grenzübertritt und fehlenden Papieren sollte von einer Ausweisung abgesehen werden, da den Betroffenen in ihren Herkunftsländern „vielfach unmittelbare Gefahr für Leib und Leben“, zumindest aber eine Bestrafung wegen Fahnenflucht und Wehrpflichtentziehung drohte. Die Ausweisung in einen Drittstaat kam aufgrund der in ganz Europa herrschenden Pass- und Visumpflicht sowie der in vielen Fällen ungeklärten Staatsangehörigkeitsverhältnisse der jüdischen Migranten ebenfalls nicht in Frage. Mit der Duldung verband sich jedoch kein geregelter Aufenthaltsstatus. Es handelte sich vielmehr um eine begrenzte Ausnahme von der allumfassenden Ausweisungskompetenz der Polizeibehörden. Ausweisungen sollten weiter erfolgen können, wenn jüdische Migranten rechtskräftig verurteilt waren, keine angemessene Unterkunft oder nutzbringende Beschäftigung vorweisen konnten. Übernahm jedoch eine der anerkannten jüdischen Hilfsorganisationen die Fürsorge für einen wohnungs- oder erwerbslosen Migranten und wurden damit staatliche Fürsorgeleistungen nicht in Anspruch genommen, erfolgte ebenfalls keine Ausweisung. Eine weitere Ausnahmeregelung sah vor, dass die mit Hilfe jüdischer Fürsorgeorganisationen vermittelten erwerbslosen Migranten die für ausländische Arbeiter erforderliche Beschäftigungsgenehmigung nicht benötigten, wenn sie in einem Betrieb mit weniger als zehn ausländischen Beschäftigten angestellt wurden. Asyl in Preußen blieb damit ein prekärer Status. Trotz der nur beschränkten Asylgewährung war der Erlass umstritten. Während er von jüdischer Seite mit Wohlwollen aufgenommen wurde, wurde er von Seiten des Reichsinnenministeriums und insbesondere in antisemitischen Publikationsorganen scharf kritisiert, da er ein Ausnahmerecht für jüdische Zuwanderer schaffe und sie
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durch die Einbindung jüdischer Hilfsorganisationen staatlicher Kontrolle entziehe. Die preußische Regierung rückte in der Folge zwar nicht von ihrer Politik der beschränkten Asylgewährung ab, reagierte aber auf die Kritik im Juni 1920 mit einem weiteren Erlass. Dieser sah eine schärfere Überwachung aller Asylsuchenden und die strikte Ahndung von Verstößen gegen deutsche Gesetze und Verordnungen vor.
Literatur
Anne-Christin Saß
Ludger Heid, Maloche – nicht Mildtätigkeit. Ostjüdische Arbeiter in Deutschland 1914– 1923, Hildesheim, Zürich, New York 1995. Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1986. Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005.
Passionsspiele Die Passionsspiele sind vor dem Hintergrund der einfachen, für das ganze Mittelalter bekannten, liturgischen Spiele entstanden. Obwohl die frühe Kirche dem Schauspiel grundsätzlich ablehnend gegenüberstand, sind liturgische Oster- und Weihnachtsspiele für den gesamten europäischen Raum überliefert. Im 12. Jahrhundert wurden ausdifferenziertere Spielformen herausgebildet, während das volkssprachliche religiöse Schauspiel im 13. Jahrhundert etabliert wurde. Die Passionsspiele erfreuten sich insbesondere in Nordfrankreich und den Niederlanden großer Beliebtheit, wobei ebenfalls die Auseinandersetzung zwischen Ecclesia und Synagoga sowie der Streit zwischen Altem und Neuem Gesetz einschließlich einer Karikierung der jüdischen rituellen Praxis dargestellt wurden (Passion von Semur aus Burgund). Während in den französischen Spielen jedoch sowohl schlechte als auch gute Juden gezeigt wurden (bon juifs in Michels Passion), wird in den deutschen Spielen die Rolle der Juden als Widersacher des Erlösers durchweg negativ gezeichnet. Akteure des volkssprachlichen deutschen Spiels waren in der Regel Bürger, die Spiele wurden auf Plätzen oder prozessionsartig in Kirchen oder auf den Straßen aufgeführt. Die Teilnahme von Juden an den Aufführungen der mittelalterlichen Passionsspiele ist nicht nur aufgrund ihrer sozialen und religiösen Ausgrenzung unwahrscheinlich, sondern auch wegen der in dieser Zeit ansteigenden Bedrohung durch aufgebrachte Christen, die durch die Spiele in ihren Ressentiments gegenüber den Juden als vermeintlichen „Gottesmördern“ noch bestärkt wurden. Zudem weisen die fingierten Dialoge zwischen Christen und Juden in ihrer antijüdischen Ausrichtung eine rein binnenchristliche Perspektive auf. Die Frankfurter Dirigierrolle für ein zweitägiges Passionsspiel aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, ein als Rotula überliefertes „Regiebuch“ mit Rede- und Gesanganfängen, führt die Juden bereits in der Eingangsszene als unbelehrbar, verstockt und aggressiv an, während die Schlussszene die Disputation zwischen Kirche und Synagoge mit abschließender Bekehrung bietet. Charakteristisch ist die Bezeichnung der Juden mit zeitgenössischen Namen, die ebenso wie Kleidung und Gebärdensprache eine Assoziation mit gegenwärtigen Juden ermöglichte. Die Bekehrung der Juden in der Schlussszene legt nahe, die Intention des Spiels in der Darstellung des klassischen christlichen Superioritätsanspruches und darin der Apologetik christlicher Glaubensin-
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Passionsspiele
halte zu sehen und nicht so sehr in einer auf die alltägliche Lebenspraxis zielenden antijüdischen Agitation. Eine solche Agitation kann jedoch vor dem Hintergrund der in der Mitte des 14. Jahrhunderts einsetzenden Frankfurter Judenpogrome auch evoziert worden sein. Während die Juden in der Frankfurter Dirigierrolle eingangs als verstockt und unbelehrbar dargestellt werden, tritt in dem Frankfurter Passionsspiel von 1493 das Attribut des geldgierigen Wucherers hinzu, dessen Darstellung bereits ebenfalls in das Vorspiel integriert ist. Die Rolle der Juden als Feinde der Christen erfährt darin eine Vergegenwärtigung, die der Publikumsrealität entsprechen soll. Die Juden werden zu Feinden der christlichen Gesellschaft. Gegenüber diesem Frankfurter Passionsspiel bringt das Alsfelder Passionsspiel, das in einer Handschrift vom Anfang des 16. Jahrhunderts vorliegt, keine wirtschaftlichen Anspielungen, die Juden werden vielmehr in starker Typisierung als die eigentlichen Gegenspieler Christi herausgestellt und analog zur Teufelsdarstellung den Mächten des Bösen zugeordnet. Indem die Vorspiele aller drei Passionsspiele darauf zielen, die Juden von Beginn an als Feinde der Christen zu charakterisieren, evozieren sie auf der Zuschauerseite von Anfang an die Bestätigung und Herausbildung negativer Ressentiments und antijüdischer Vorurteile. Grundsätzlich wird die antijüdische Ausrichtung der Passionsspiele noch durch Regieanweisungen verstärkt, welche die Juden als physisch und psychisch deformiert charakterisieren. Die bekannte literarische Diffamierung der Juden – nicht nur in der Adversus-JudaeosLiteratur – wird um die visuelle Verleumdung ergänzt. Die Konkretisierung der antijüdischen Bilder in der Spielhandlung und Judendarstellung ermöglichte eine Zuschauerrezeption, die in der Wahrnehmung der Juden noch über das Spiel hinaus von diesem chimären Konstrukt bestimmt war. Die Tradition des geistlichen Spiels hat sich im Oberammergauer Passionsspiel bis in die Gegenwart erhalten. Das weltweit bekannte Passionsspiel, das erstmalig nach einem Pestgelübde 1634 aufgeführt wurde, wird in der Regel im Zehn-Jahres-Rhythmus von den Einwohnern der bayerischen Gemeinde Oberammergau ausgerichtet, die jeweils zirka 100 Vorstellungen werden von etwa einer halben Million Zuschauern besucht. Während es jedoch die szenische Verarbeitung des volkssprachlichen Spiels in der Vergangenheit ermöglichte, den klassischen christlichen zum Teil um zeitgenössische Motive angereicherten Antijudaismus über die Rezeption biblischer Texte hinaus zu entfalten und zu steigern, sehen sich die Veranstalter von Oberammergau spätestens seit der veränderten Israeltheologie des → Zweiten Vatikanischen Konzils vor die Aufgabe gestellt, bei aller Bewahrung der Spieltradition die klassische, von antijüdischen Zügen getragene Vorlage zu überarbeiten und darin einer entsprechenden Zuschauerrezeption vorzubeugen. Die für lange Zeit maßgebliche, immer wieder leicht überarbeitete Textvorlage, die auf die Fassung des Oberammergauer Pfarrers Joseph Alois Daisenberger von 1860 zurückgeht, weist eklatante Antijudaismen auf. Dementsprechend ist die judenfeindliche Inszenierung bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von den klassischen Stereotypen bestimmt, die dramaturgisch in Szene gesetzt wurden: die orientalisch aussehenden Juden als böse und niederträchtige Menschen, die Pharisäer als machtgierige Heuchler, die Betonung der Schuld der Juden am Tod Jesu und Verstoßung der Synagoge sowie die entsprechend dramatische Inszenierung des sogenannten Blutrufes (Matthäus 27,25) „Sein Blut komme über uns und unserer Kinder“ als Selbstverfluchung des jüdischen Volkes, während das Judesein Jesu negiert wird. Dem-
Paul Merker-Fall
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entsprechend fiel Hitlers Kommentar nach dem Besuch der Passionsspiele 1934 überaus positiv aus. Obwohl die Kritik an den judenfeindlichen Zügen der Spiele 1950 erneut einsetzte, das Zweite Vatikanische Konzil 1965 eine epochemachende Wende der Katholischen Kirche in der Beurteilung des Judentums einleitete und 1970 jüdische Organisationen die Spiele boykottierten, wurde noch 1980 eine zwar veränderte, aber nach wie vor auf der Daisenberger-Vorlage basierende Textfassung präsentiert. Erst 1990 bemühte man sich um Lösungen für die Anfragen der US-amerikanischen „AntiDefamation League“ und bot im Jahr 2000 nach einer umfassenden Revision des althergebrachten Textes eine grundsätzliche Neubearbeitung der Spiele. In Hinblick auf die Spiele im Jahr 2010 setzte der „Council of Centers on Jewish-Christian Relations“ ein „Ad Hoc Committee“ zur Prüfung des aktuellen Textbuches ein, das u.a. die Darstellung Jesu als Jude positiv hervorhob, während die Zeichnung der jüdischen Opponenten Jesu in extremen Konturen bemängelt wurde. Die grundsätzliche Anmerkung der „Anti-Defamation League“, dass Passionsspiele eine Quelle theologischer Judenfeindschaft seien (Gutachten zu den Passionsspielen von 2000), bleibt deshalb als Anfrage an die Verantwortlichen der Spiele bestehen. Dass es aber auch gerade auf der dramaturgischen Ebene gelingen kann, die lebenden Bilder, die in der Vergangenheit stets das christliche Überlegenheitsgefühl spiegelten, von dem Motiv dieses „Supersessionism“ zu befreien, zeigt die Inszenierung von 2010. Insbesondere die Künstlichkeit dieser „Tableaux Vivants“ bietet die Möglichkeit, von einer historisierenden Präsentation zu abstrahieren und darin die althergebrachten judenfeindlichen Züge zu dispensieren in dem Wissen, dass einerseits eine Wahrung der Überlieferungstreue nur auf einen Anachronismus hinauslaufen würde und dass andererseits die biblischen Texte als Glaubenstexte an sich gar keine historische Rekonstruktion ermöglichen.
Literatur
Matthias Blum
Wolfgang Reinbold, Der Text der Oberammergauer Passionsspiele 2000. Ein Produkt des christlich-jüdischen Dialogs und ein Testfall für dessen gegenwärtigen Stand, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 98 (2001), S. 131–160. Helena Waddy, Oberammergau in the Nazi Era. The Fate of a Catholic Village in Hitler‘s Germany, Oxford 2010. Edith Wenzel, „Do worden die Judden alle geschant“: Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen, München 1992.
Paul Merker-Fall Gegen den hohen SED-Funktionär Merker wurde Anfang der fünfziger Jahre in der DDR ein Schauprozess vorbereitet. Dies war von massiver Propaganda gegen den „Zionismus“ als besonders tückische Agentur des Westens, aber auch von Repressionen gegen die Juden in der DDR begleitet. Bei den Verfahren gegen kommunistische Politiker, die ab 1949 in den Staaten des sowjetischen Einflussbereichs durchgeführt wurden, wurde das Bild eines umfassenden westlichen Agentennetzes entworfen. Besonders verdächtig waren dabei alle, die im westlichen Exil die NS-Jahre überstanden und mit Amerikanern Kontakt hatten. Schlüsselfigur war der Vertreter einer christlichen Hilfsorganisation Noel Field, den die
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Paul Merker-Fall
Ermittler zum zentralen Einflussagenten der USA stilisierten. Zu Fields Kontaktpersonen gehörte Paul Merker, der in Mexiko gelebt hatte und seit 1949 dem ZK und dem Politbüro der SED angehörte. Auf Drängen Ulbrichts wurden 1949 alle Verbindungen zu Field untersucht; im folgenden Jahr kam es zu ersten Verhaftungen. Merker gehörte nicht dazu, doch wurde er Ende August 1950 aus der SED ausgeschlossen. Öffentlich wurde dies mit seinen Kontakten zu Field begründet. Intern wurde Merkers Fall vor der Zentralen Parteikontroll-Kommission verhandelt, deren Leiter Hermann Matern schon im November 1949 Ermittlungen gegen „jüdisch-trotzkistische“ Emigranten gefordert hatte. Bei den Vernehmungen Merkers spielte dessen Engagement für die Entschädigung jüdischer NS-Opfer eine Rolle, doch dieser Aspekt stand noch nicht im Vordergrund. Gemäß den sowjetischen Vorgaben und dem Beispiel des Budapester Schauprozesses gegen László Rajk ( → Rajk-Schauprozess) wurde nach „trotzkistischen“ oder „titoistischen“ Verfehlungen der deutschen Kontaktpersonen Fields gesucht. Von diesen wurden etliche an die Sowjetunion ausgeliefert; die Vorbereitung eines Prozesses nach dem Vorbild des ungarischen Verfahrens wurde 1951 aufgegeben. Dafür drängten ab Sommer 1951 die Berater aus der Sowjetunion – wo im Zuge der Kampagne gegen „jüdische Nationalisten“ zeitgleich verstärkt im inneren Apparat nach jüdischen Verrätern gesucht wurde ( → Stalinistische Kampagnen) – ihre Kollegen der DDR Staatssicherheit zur Untersuchung „zionistischer“ Aktivitäten. Merker wurde erst im Dezember 1952 verhaftet – nach dem Prager Schauprozess gegen Rudolf Slánský (→ Slánský-Prozess), bei dem gemäß „Drehbuch“, das unter Einfluss sowjetischer Berater entstand, belastende Aussagen gegen Merker gemacht wurden. Das ZK der SED verabschiedete darauf „Lehren aus dem Prozess gegen das Verschwörerzentrum Slánský“, die Anfang 1953 im „Neuen Deutschland“ veröffentlicht wurden: Amerikanische Agenten hätten „unter jüdisch-nationaler Flagge segelnd“ Spionage- und Sabotageakte „mit Hilfe zionistischer Organisationen“ organisiert. Dabei hätten sie spekuliert, dass die gegen den Antisemitismus erzogenen Werktätigen sich mit den Juden solidarisch fühlten. So seien „fortschrittliche Genossen“ des Antisemitismus bezichtigt worden. In den „Lehren“ wurde damit versucht, gleichzeitig Verschwörer mit antisemitischen Klischees zu brandmarken und den Antisemitismusvorwurf zu kontern. Letzteres wurde auch durch die Konzentration auf den Nichtjuden Merker begünstigt, dem nun vorgeworfen wurde, schon im Exil die Interessen „zionistischer Monopolkapitalisten“ verteidigt zu haben. Diese Vorwürfe hatten als Anknüpfungspunkt, dass Merker sich während des Krieges als einer der wenigen Kommunisten mit der Verfolgung der Juden auseinandergesetzt hatte. Die SED deutete dies nun so, dass Merker als „Subjekt der USA-Finanz-Oligarchie“ die Entschädigung jüdischer Vermögen fordere, um dem „US-Kapital das Eindringen in Deutschland zu ermöglichen“. Merker betreibe die „Verschiebung deutschen Volksvermögens“, wenn er Erstattungen an Juden fordere, die im Ausland lebten. Die „Lehren“ dienten nicht nur der Schärfung der Wachsamkeit gegen jüdische und pro-jüdische Verräter. Am Pranger stand auch das Verhalten der Exil-KPD 1939 in Frankreich, wo Merker und Franz Dahlem die Parteimitglieder aufgefordert hatten, sich der von Deutschland angegriffenen Regierung zu stellen. Hinter dem Vorwurf, sich schon damals gegen die Sowjetunion und für ein westliches Land entschieden zu haben, stand der Versuch Ulbrichts, das Politbüromitglied Dahlem als Verräter zu ent-
Paul Merker-Fall
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larven – auch ohne „zionistische“ Verstrickungen. Doch die Untersuchungen und Repressionen gingen im Januar 1953 – als in der Sowjetunion ein Mordkomplott vor allem jüdischer Kremlärzte „aufgedeckt“ wurde ( → Verschwörung der Kremlärzte) – nur noch in diese Richtung. Listenmäßige Erfassung und gezielte Ermittlungen richteten sich gegen jüdische SED-Mitglieder und gegen Vertreter der jüdischen Gemeinden. Hunderte versuchten sich durch Flucht nach West-Berlin den Verfolgungen zu entziehen. Im Februar 1953 folgte die erzwungene Selbstauflösung der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN). In der Fluchtwelle wurden die jüdischen Gemeinden um über ein Viertel ihrer Mitglieder dezimiert. Dazu kamen Austritte aus den Gemeinden, auch deswegen, weil die „Lehren“ Merker unterstellt hatten, er habe jüdische Kommunisten aufgefordert, in die Gemeinden einzutreten, nur um sie als Empfänger amerikanischer Hilfsleistungen den USA zu verpflichten. Schon die Tatsache dieser Hilfe (gerade durch die Organisation „American Joint Distribution Committee“, die als Drahtzieher der „Verschwörung der Kremlärzte“ angeklagt war), schärfte den Generalverdacht gegen alle Juden. In den Verhören Merkers kam es zu antisemitischen Anwürfen und zur Anwendung von Foltermaßnahmen. Er ließ sich jedoch keine Geständnisse oder Beschuldigungen anderer abzwingen, so kam bis Stalins Tod (März 1953) kein Material für einen Prozess zusammen. Im April 1953 wurde die „Ärzteverschwörung“ dementiert, die sowjetischen Ermittler wurden aus dem Fall Merker abgezogen. Doch auch ohne sowjetischen Druck galten die ideologischen Prämissen unvermindert. Im Mai 1953 hielt das ZK der SED fest, dass der Slánský-Prozess mit der „Entlarvung des Zionismus“ zur „Demaskierung Merkers als eines Agenten des USA-Imperialismus“ geführt habe. Da „Trotzkisten, Zionisten, Freimaurer“ die Partei zersetzen sollten, müsse mit gesteigerter Wachsamkeit reagiert werden. Tatsächlich stand die Entlarvung weiterer Feinde – vor allem Dahlems – nun im Mittelpunkt. Der „Antizionismus“ trat zurück, ohne grundsätzlich revidiert zu werden: 1955 wurde Merker als „zionistischer Agent“ ohne öffentliche Erwähnung zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Zuge der Entstalinisierung kam er 1956 frei, wurde wenig später strafrechtlich, aber nicht politisch rehabilitiert und wieder in die SED aufgenommen. Eine Auseinandersetzung mit seinem Fall fand in der DDR nicht statt.
Literatur
Matthias Vetter
Thomas Haury, Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002. Jeffrey Herf, Antisemitismus in der DDR. Geheime Dokumente zum Fall Paul Merker aus SED- und MfS-Archiven, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42 (1994), S. 635–667. Wolfgang Kiessling, Paul Merker in den Fängen der Sicherheitsorgane Stalins und Ulbrichts, Berlin 1995. Gerd Koenen, Die DDR und die „Judenfrage“, in: Leonid Luks (Hrsg.), Der Spätstalinismus und die „Jüdische Frage“, Köln, Weimar, Berlin 1998, S. 237–270. Ulrike Offenberg, „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und der DDR 1945 bis 1990, Berlin 1998. Hermann Weber, Schauprozeß-Vorbereitungen in der DDR, in: Hermann Weber, Ulrich Mählert (Hrsg.), Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936–1954, Paderborn u.a. 20012, S. 459–485.
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Pfefferkornstreit
Peel-Commission → Arabischer Aufstand (1936–1939) Péril Juif → „Der ewige Jude“ (Propaganda-Ausstellung)
Pfefferkornstreit Die 1510/11 begonnene Auseinandersetzung zwischen dem Humanisten Johannes Reuchlin und dem jüdischen Konvertiten Johannes Pfefferkorn um die Erhaltung des jüdischen Schriftguts ist eine der bedeutendsten intellektuellen Kontroversen der Frühen Neuzeit, obgleich der Namensgeber Pfefferkorn kaum zu den Intellektuellen gerechnet werden kann. Nach seiner Taufe (1504) rief Pfefferkorn in vier Flugschriften in deutscher Sprache dazu auf, in den jüdischen Gemeinden den Talmud und andere jüdische Bücher (die hebräische Bibel ausgenommen) zu konfiszieren. Er war damit einer der ersten, der die später von der reformatorischen Öffentlichkeit ausgiebig genutzte mediale Form der Flugschriften in deutscher Sprache anwendete und damit eine breite Öffentlichkeit erreichte. Darüber hinaus forderte er in seinen Schriften, den Juden den Geldverleih zu verbieten und sie zu niedrigen Arbeiten zu zwingen, da sie sonst nur dem Eigen- nicht dem Gemeinnutz dienten. Ferner sollten ihnen die bürgerlichen Rechte genommen und sie zu Bekenntnispredigten gezwungen werden, wie sie die Dominikaner forderten. Mit seinen Schriften gelang es Pfefferkorn, am 19. August 1509 ein Mandat Kaiser Maximilians I. (Reg. 1493–1519) zu erreichen, durch das er mit Unterstützung der weltlichen und geistlichen Instanzen alle gegen den christlichen Glauben gerichteten jüdischen Bücher einziehen durfte. Pfefferkorn verfasste 1510 als Dank die Schrift „Lob und Ehr dem Allerdurchlauchigsten [...] Herrn Maximilian“. Der Mainzer Kurfürst Uriel von Gemmingen sah sich durch die Vollmacht für Pfefferkorn in seinen landesherrlichen Rechten beeinträchtigt. Auf seine Intervention und die der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main hin hielt der Kaiser das Verfahren an, verfügte 1510 die Rückgabe der Bücher und forderte Gutachten der Universitäten Köln, Mainz, Erfurt und Heidelberg sowie einiger fachkundiger Gelehrten, darunter Johannes Reuchlin an. Auf der Basis von Reuchlins Gutachten hob der Kaiser das Mandat Pfefferkorns auf. Gegen Reuchlin verfasste Pfefferkorn 1511 seinen „Brandspiegel“ (veröffentlicht 1512), auf den Reuchlin im selben Jahr noch mit seinem „Augenspiegel“ antwortete. In dieser Kontroverse, die sich zur Auseinandersetzung zwischen der traditionellen scholastischen Schule und der neuen Richtung des Humanismus entwickelte, erhielt Pfefferkorn die Unterstützung der Kölner theologischen Fakultät, die an der Verbrennung der jüdischen Bücher interessiert war. Außerdem wurde er von dem Inquisitor für Deutschland, dem Kölner Dominikaner Jacob von Hochstraten, in Schutz genommen, der sich mit dem Dominikaner-Orden als Pressuregroup letztlich 1530 in Rom gegen Reuchlin durchsetzte. Die traditionelle scholastische Schule hatte damit offiziell über die Humanisten den Sieg davon getragen; Reuchlin erhielt die Unterstützung der meisten deutschen Humanisten. Doch ging es diesen weniger um die Rettung der jüdischen Bücher, eher um eine satirische Auseinandersetzung – so in den bekannten „Dunkelmännerbriefen“ (1515/17) – mit den als mittelalterlich verschrieenen Kölner Scholastikern. Mit der beginnenden Reformation verlor die Auseinandersetzung an Bedeutung, und auch die Forderung nach Vernichtung der jüdischen Schriften wurde
Pogrom in Bagdad („Farhud“, 1941)
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nicht mehr erhoben. Pfefferkorn, seit 1513 Spitalmeister des Kölner St. Ursula-Stifts, verschwand aus der Öffentlichkeit, während Reuchlin, verarmt durch die Prozesskosten, bis zu seinem Tod (1522) um seine Rehabilitation durch die Kirche kämpfte.
Literatur
Arno Herzig
Arno Herzig, Julius Schoeps (Hrsg.), Reuchlin und die Juden, Sigmaringen 1993. Hans-Martin Kion, Das Bild vom Juden im Deutschland des frühen 16. Jahrhunderts, dargestellt an den Schriften Johannes Pfefferkorns, Tübingen 1989.
Pferdebahn-Affäre → Kantorowicz-Affäre (1880)
Pogrom in Bagdad („Farhud“, 1941) Am 1. und 2. Juni 1941 fanden in Bagdad gewaltsame antijüdische Ausschreitungen statt – begangen durch Teile der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung –, bei denen 170 bis 180 Menschen ums Leben kamen, mehrere hundert verletzt und etwa 1.500 Häuser und Geschäfte zerstört wurden. Als „Farhud“, so das arabische Wort für Pogrom, ging der Exzess ins kollektive irakisch-jüdische Gedächtnis ein. Er offenbarte die antisemitischen Tendenzen des irakischen Nationalismus und veränderte nachhaltig die Dynamik der irakisch-jüdischen Geschichte. Als tief in der arabischen Kultur ihrer Heimat verwurzelter Teil der modernen irakischen Gesellschaft fand sich die jüdische Minderheit seit den 1930er Jahren in einer schwierigen politischen Situation. Die irakischen Nationalisten, die das ehemalige britische Mandatsgebiet 1932 zum ersten formal unabhängigen arabischen Staat erklärt hatten, betrachteten die irakischen Juden als nationale bzw. ethnische Minderheit, die nicht dem irakischen Volk angehörte. Im nationalsozialistischen Deutschland sahen sie einen potentiellen Verbündeten gegen die britische Vorherrschaft im Nahen Osten. Die irakischen Juden dagegen waren mehrheitlich pro-britisch eingestellt. Das 1936 gegründete „Komitee zur Verteidigung Palästinas“ beschuldigte die irakischen Juden der Kollaboration mit dem britischen Kolonialismus und dem Zionismus. In den Jahren 1936, 1937 und 1938 fanden mehrere antijüdische Attentate im Irak statt. Die offiziellen Repräsentanten der jüdischen Gemeinde distanzierten sich aber auch weiterhin von jeglichen zionistischen Bestrebungen. Im Mai 1941, nachdem sich die erst im Februar desselben Jahres abgetretene Regierung des Führers der nach nationaler Unabhängigkeit strebenden „Vaterländischen Bruderschaft“ („Ikha al-Watani“), Rashid Ali al-Gaylani, im April erneut an die Macht geputscht hatte, fanden Kämpfe zwischen irakisch-nationalistischen und britischen Truppen statt. In der Zeit zwischen der Niederlage der Truppen al-Gaylanis und dem Einzug britischer und pro-britischer Truppen in Bagdad entstand ein Machtvakuum. Angeführt von versprengten irakischen Soldaten, Polizisten und Angehörigen der bündischen Jugendorganisation „Futuwwa“ brachen in dieser angespannten Situation gewaltsame Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung Bagdads aus. Zwar wurden in gemischten Stadtteilen viele Juden von ihren muslimischen Nachbarn verteidigt und gerettet, dennoch gab es Tote und Verletzte.
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Pogrom in Bukarest (1941)
Eine britische Untersuchungskommission stellte die Propaganda der deutschen Vertretung in Bagdad und des arabischsprachigen Rundfunks in Deutschland, die Hetze des Muftis von Jerusalem, palästinensischer und syrischer Lehrer sowie nationalistischer Jugendverbände als Ursachen des Pogroms fest. Die Tatsache, dass der „Farhud“ unmittelbar nach der Niederlage der nationalistischen, pro-deutschen Truppen stattfand, legt zudem die Vermutung nahe, dass den Bagdader Juden ihre pro-britische Haltung angelastet wurde. Obwohl die anschließende britische Okkupation des Landes für die irakischen Juden eine gewisse Beruhigung ihrer politischen Situation und ökonomischen Aufschwung bedeutete, kann der „Farhud“ als Beginn einer krisenhaften Zeit verstanden werden, in der Angst und Unsicherheit die Suche nach politischen Auswegen verstärkten. Vor allem junge, gebildete Juden wandten sich nun zunehmend dem Kommunismus und dem Zionismus zu. Andere hofften immer noch auf eine demokratische Umgestaltung des Landes. Erst 1950 und 1951, nach mehreren bis heute ungeklärten Bombenattentaten auf jüdische Einrichtungen in Bagdad, verzichteten die meisten irakischen Juden auf ihre Staatsbürgerschaft und ihren Besitz und flohen nach Israel.
Literatur
Arnon Hampe
John Bunzl, Juden im Orient. Jüdische Gemeinschaften in der islamischen Welt und orientalische Juden in Israel, Wien 1989. Esther Meir-Glitzenstein, Zionism in an Arab country: Jews in Iraq in the 1940s, London, New York 2004. Bernd Philipp Schröder, Irak 1941, Freiburg i.Br. 1980.
Pogrom in Berlin → Berliner Judenpogrom (1571)
Pogrom in Bukarest (1941) Im Januar 1941 versuchte die „Eiserne Garde“, General Antonescu von der Macht zu verdrängen; während der bewaffneten Rebellion wurde in den jüdischen Vierteln von Bukarest geplündert und gemordet. Nachdem Rumänien zwischen Juni und August 1940 fast die Hälfte seines Staatsterritoriums an die Sowjetunion, Ungarn und Bulgarien abtreten musste, wurde König Carol II. gezwungen, zugunsten seines minderjährigen Sohnes abzudanken. Am 14. September übernahm General Ion Antonescu zusammen mit Ministern der „Eisernen Garde“ die Macht. Antonescu proklamierte im grünen Hemd der Garde den „Nationallegionären Staat“. Der Führer der Garde, Horia Sima, wurde Ministerpräsident. Am 27. September verkündete Antonescu den Anschluss an die Achse Deutsches Reich, Italien und Japan, den Vertrag unterzeichnete er im November in Berlin. Eine deutsche Militärmission kam nach Rumänien. Die „Eiserne Garde“ rief zum Boykott jüdischer Geschäfte auf und zwang deren Besitzer durch Folter zur Abtretung der Eigentumstitel. Gardisten eigneten sich auch viele Fabriken, Handwerksbetriebe und Handelsunternehmen an. Der Wirtschaftsminister warnte Antonescu, dass die Kommissare zur Rumänisierung aus der Garde den ökonomischen Austausch gefährdeten. Die Garde baute auch, ungehindert vom Innenmini-
Pogrom in Bukarest (1941)
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ster General Ion Petrovicescu, eine parallele bewaffnete Truppe aus ihren Mitgliedern auf. Solange die „legionäre Polizei“ nur Juden als angebliche Kommunisten verhaftete, reagierte Antonescu nicht. Das änderte sich, als Mitglieder der Garde 65 frühere Regierungsmitglieder am 26./27. November 1940 festnahmen, welche die Garde vor 1940 kritisiert und verfolgt hatten, und sie ermordeten. Nun forderte Antonescu, dass es nur eine Polizei geben dürfe und entließ den Bukarester Polizeichef, ein radikales Mitglied der Garde. Hitler war über den Machtkampf zwischen Antonescu (den die Generäle unterstützten) und der Garde beunruhigt. Für den Kriegszug gegen die Sowjetunion waren die Ölfelder Rumäniens von großer Bedeutung, daher durfte es dort nicht zu Unruhen kommen. Der Vertreter der deutschen Militärmission informierte General Antonescu im Dezember 1940 über den Angriffsplan, genauere Absprachen über das Zusammenwirken sollten bei einem Staatsbesuch bei Hitler im Januar besprochen werden. Ursprünglich sollte am 14. Januar auch Horia Sima zu Hitler mitfahren, doch dieser entschied sich anders. Dadurch hatte Antonescu Gelegenheit, die Garde als eine Organisation darzustellen, in die Kommunisten eingedrungen seien. Gestärkt durch Hitlers Entgegenkommen entließ Antonescu am 20. Januar den Innenminister General Ion Petrovicescu. Er wurde für den Mord an einem Mitglied der deutschen Militärmission verantwortlich gemacht. Auch der Chef der Sicherheitspolizei, Alexandru Ghica, sollte ersetzt werden, doch er verbarrikadierte sich mit fünfzig Untergebenen, die auf Soldaten schossen. Mitglieder der Garde besetzten die Telefonzentrale und viele Zeitungsredaktionen. Gleichzeitig begannen in den jüdischen Vierteln von Bukarest Dudeşti und Văcăreşti Plünderungen jüdischer Geschäfte. Dabei wurden viele Juden ermordet und Häuser in Brand gesetzt. Kommandos der Garde suchten auch gezielt nach Vertretern der jüdischen Gemeinde, die Verhafteten wurden gefoltert, damit sie ihr Eigentum der Garde überschrieben. In der Wohnung des Oberrabbiners bedrohten sie dessen Ehefrau, um sein Versteck zu erfahren. Antonescu griff erst am Abend des 22. Januar durch, nachdem Hitler ihm dazu in einem Telefongespräch freie Hand gegeben hatte. Die Barrikaden wurden mit Panzerfahrzeugen der Armee geräumt. Ein deutscher Unterhändler verlangte am 23. Januar von Sima, dass er die Kapitulation unterzeichne, er ermöglichte ihm und anderen Führern der Garde die Flucht in deutschen Militärfahrzeugen. Zumeist über Bulgarien gelangten etwa 300 Gardisten ins Deutsche Reich, wo sie interniert wurden. Am 24. Januar zogen motorisierte Kolonnen der deutschen Wehrmacht durch das Zentrum von Bukarest, sie demonstrierten ihre Unterstützung für General Antonescu. Sie waren auf dem Durchzug zum Einsatz in Griechenland. Die offizielle Statistik verzeichnete 74 Tote unter den Angehörigen des Militärs. Von den 236 zivilen Opfern in Bukarest waren 150 Juden. Zwei Synagogen wurden völlig zerstört, viele andere beschädigt. Im Februar 1941 wurden über 9.000 Gardisten verhaftet und viele zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Jegliche politische Betätigung wurde verboten. Nach der Ernennung einer Regierung bestehend vor allem aus Generälen hofften die Juden auf eine Verbesserung ihrer Lage. Doch im März 1941 begann ihre durch Gesetze abgesicherte Ausplünderung mit der Enteignung jüdischer
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Pogrom in Dorohoi (1940)
Immobilien, im Sommer folgten die angeordneten Massenmorde in den zurückeroberten Gebieten Bessarabien und der Nord-Bukowina.
Literatur
Mariana Hausleitner
F. Brunea-Fox, Oraşul măcelului. Jurnalul rebeliunei şi al crimelor legionare [Die Stadt des Massakers. Tagebuch der Rebellion und der Verbrechen der Legionäre], Bucureşti 1997³. Comisia internaţională pentru studierea holocaustului în România: Raport final [Internationale Kommission zur Erforschung des Holocaust in Rumänien: Abschlussbericht], Iaşi 2005. Dennis Deletant, Hitler’s Forgotten Ally. Ion Antonescu and His Regime, Romania 1940– 44, Basingstoke 2006. Armin Heinen, Legiunea „Arhangelul Mihail“. O contribuţie la problema fascismului internaţional [Die Legion „Erzengel Michael“. Ein Beitrag zum Problem des internationalen Faschismus], Bucureşti 1999. Alexandre Safran, Resisting the Storm. Romania 1940–1947. Memoirs, Jerusalem 1987. Sandu Singer u.a. (Hrsg.), Evreii din România între anii 1940–1944 [Die Juden Rumäniens in den Jahren 1940–1944], vol. III, 1, 1940–1942: Perioada unei mari restrişti [Eine Zeit großer Bedrängnis], Bucureşti 1997.
Pogrom in Constantine (1934) → Constantine-Ausschreitungen (1934) Pogrome im Deutschen Reich November 1938 → Novemberpogrome 1938
Pogrom in Dorohoi (1940) In der nordrumänischen Stadt Dorohoi ereignete sich am 1. Juli 1940 ein blutiger Pogrom, zwei Tage nach dem → Galaţi-Massaker. Aufgrund des sowjetischen Ultimatums mussten die rumänische Verwaltung und die Militäreinheiten Bessarabien und die Nord-Bukowina räumen. Das 29. Infanterie-Regiment hatte die Nord-Bukowina am 28. Juni fluchtartig verlassen, weil sowjetische Vortrupps vor der vereinbarten Frist die Knotenpunkte besetzten. Am nächsten Tag kam es bei Herţa zu einem Zwischenfall mit einer sowjetischen Vorhut: Die sowjetische Einheit erschoss den rumänischen Hauptmann Ioan Boroş; gleichzeitig starb ein jüdischer Soldat, der ihm zu Hilfe geeilt war. Als dieser auf dem jüdischen Friedhof beerdigt werden sollte, ermordeten Soldaten aus dem 8. Artillerie-Regiment fünf jüdische Soldaten, die dem Toten die letzte Ehre erweisen wollten. Von der Trauergemeinde kamen weitere zehn Personen um. Sofort breitete sich der Pogrom im Ort aus. Es waren wohl Einheimische beteiligt, die die Häuser der Juden kannten, denn Rumänen erlitten keinen Schaden. Der Arzt der Stadt untersuchte am 4. Juli fünfzig jüdische Leichen, davon waren elf Frauen und fünf Kinder. Es wurde ausgiebig geplündert, z.B. im jüdischen Krankenhaus und Kindergarten. Viele Juden konnten zu ihren nichtjüdischen Nachbarn flüchten, als die marodierenden Soldaten durch die Straßen zogen. Der Pogrom endete durch einen starken Regenguss. Bald darauf traf General Constantin Sănătescu, Kommandant 8. Armeekorps, ein und rügte den Offizier Teodor Şerb wegen dieser „Akte von Banditentum“. Dem Staatsanwalt wurde mitgeteilt, dass die Ermittlungen an das Kriegsgericht abgegeben worden seien. Bei dieser Untersuchung wurden zwei Verantwortliche
Pogrom in Dusetos
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(Gheorghe Teoharie und Constantin Sergie) von der Grenztruppe benannt, sie erhielten kurze Arreststrafen. Die „Union Jüdischer Gemeinden“ überwies aus Bukarest einen höheren Geldbetrag zur Unterstützung der Witwen und Waisen in Dorohoi. Im November 1941 wurden die Juden dieser Stadt nach Transnistrien deportiert, wo viele umkamen. In der Umgebung Dorohois gab es ebenfalls Überfälle auf Juden, so etwa in Siret, wo am 2. Juli jüdische Geschäfte geplündert und mehrere Juden ermordet wurden. Am 5. Juli wurden die Kommandanten der Einheiten im Nordosten im Auftrag des Innenministers gewarnt, keine Plünderungen jüdischer Geschäfte zuzulassen.
Literatur
Mariana Hausleitner
Jeaneta Alexandru u.a. (Hrsg.), Martiriul evreilor din România 1940–1944. Documente şi mărturii [Das Martyrium der Juden Rumäniens 1940–1944], Bucureşti 1991. Mariana Hausleitner, Die Rumänisierung der Bukowina. Die Durchsetzung des nationalstaatlichen Anspruchs Großrumäniens 1918–1944, München 2001. Armin Heinen, Rumänien, der Holocaust und die Logik der Gewalt, München 2007. Radu Ioanid, The Holocaust in Romania. The Destruction of Jews and Gypsies Under the Antonescu Regime 1940–1944, Chicago 2000. Sandu Singer u.a. (Hrsg.), Evreii din România între anii 1940–1944, vol. III, 1, 1940–1942: Perioada unei mari restrişti [Die Juden Rumäniens in den Jahren 1940–1944], vol. III, 1, 1940–1942: Perioada unei mari restrişti [Eine Zeit großer Bedrängnis], Bucureşti 1997.
Pogrom in Dusetos Der Pogrom von Dusetos ereignete sich am Osterdienstag, dem 18. April [1. Mai] 1905. Es war der einzige Pogrom auf dem Gebiet des heutigen Staates Litauen während der gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden, die 1903 im Westen des Russischen Reiches einsetzten und erst nach der Revolution von 1905/06 aufhörten ( → Pogrome im Russischen Reich). Dusetos (jiddisch: Dusiat; russisch: Dusjaty; polnisch: Dusiaty) zählte im Jahr 1897 1.301 Einwohner, von denen 89 Prozent Juden waren. Gelegen im Kreis Nowoaleksandrowsk (Gouvernement Kowno) im Osten Litauens, das zu diesem Zeitpunkt zum Russischen Reich gehörte, war der Ort aufgrund seines Marktes und seiner Pfarrkirche Anziehungspunkt für litauische und weißrussische Bauern aus dem Umland. In der Nacht vom Ostersonntag auf den Ostermontag brach ein Feuer aus. Da die Mehrzahl der vom Brand beschädigten Häuser im Besitz von Christen waren, wurden die Juden beschuldigt, das Feuer gelegt zu haben, um den christlichen Händlern zu schaden. Augenzeugen berichteten von Pogromgerüchten, die sich am Ostermontag ausbreiteten. Am 18. April schließlich versammelten sich nach der Messe rund 1.000 Menschen – die meisten von ihnen litauische Bauern aus den umliegenden Dörfern – und begannen, Häuser und Geschäfte der Juden zu zerstören und zu plündern. Innerhalb von vier Stunden wurden 25 Wohnhäuser und 46 Wirtschaftsgebäude beschädigt. Als einige Juden begannen, ihren Besitz mit Schusswaffen zu verteidigen, gingen die Plünderer mit Gewalt gegen diese vor. Etliche Juden wurden verletzt, zwei von ihnen schwer. Erst nachdem der Jude Itzak Baron durch die Pogromisten getötet worden war,
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Pogrom in Gunzenhausen (1934)
kehrten die Bauern in die umliegenden Dörfer zurück. Insgesamt wurden 59 Juden durch den Pogrom geschädigt. Der gesamte Sachschaden belief sich auf 76.357 Rubel. Am 19. April traf der Polizeichef des Kreises Nowoaleksandrowsk (Isprawnik) in Begleitung von Kosaken in Dusetos ein und nahm Ermittlungen auf. In den folgenden Tagen fanden erneut kleinere Zwischenfälle statt; die Behörden blieben in Alarmbereitschaft. Litauer, in deren Häusern geplünderte Waren aus jüdischen Geschäften gefunden wurden, wurden verhaftet. Die Ordnungskräfte nahmen 58 Personen wegen des Verdachts der Teilnahme am Pogrom fest. Die Duseter Juden wurden vom Kownoer Anwalt Schloime Horonschitzki, die litauischen Bauern vom litauischen Rechtsanwalt, Politiker und Publizisten Jonas Vileišis vertreten. 21 Litauer wurden am 17. September 1906 zu Haftstrafen zwischen acht Monaten und anderthalb Jahren verurteilt. Während Zeitgenossen die Rückständigkeit der Region im Osten Litauens als Grund für den Ausbruch des Pogroms anführten oder den Duseter Juden die Schuld zuschoben, dürften der ökonomische Konflikt zwischen jüdischen und christlichen Händlern, der Ausbruch eines Feuers ausgerechnet zur Osterzeit sowie starker Alkoholkonsum eine größere Rolle gespielt haben. Viele der in der Folge des Pogroms von litauischer Seite vorgebrachten Rechtfertigungsversuche haben ihren Eingang in die litauischsprachige Geschichtsforschung gefunden.
Literatur
Klaus Richter
Klaus Richter, Die Reaktion der Litvaken auf Gewalt und rechtliche Diskriminierung in den litauischen Gouvernements (1881–1914), in: Ulrich Wyrwa (Hrsg.), Die Entstehung des Antisemitismus in Europa und die Reaktionen des Europäischen Judentums, Wiesbaden 2010, S. 313–334.
Pogrom im Elsass (1338) → Armleder-Pogrome Pogrom in Franken und am Mittelrhein → Armleder-Pogrome Pogrom in Gomel → Pogrome im Russischen Reich (1903–1905)
Pogrom in Gunzenhausen (1934) In Gunzenhausen in Westmittelfranken lebten Anfang 1933 bei einer Gesamtbevölkerung von 5.686 Einwohnern 184 Bürger jüdischen Glaubens (3,3 Prozent). In der Kleinstadt hatte die NSDAP bei allen Reichstagswahlen seit 1928 einen weit höheren Stimmenanteil als im Reichsdurchschnitt erzielt. Bei der letzten, einigermaßen freien Reichstagswahl am 5. März 1933 kam die NSDAP in der Stadt auf 67,1 Prozent gegenüber 43,9 Prozent im gesamten Reich. Bereits am 23. März 1933 wurde Hitler zum Ehrenbürger von Gunzenhausen ernannt, der zentrale Marktplatz in Adolf-Hitler-Platz umbenannt. Der Bürgermeister Heinrich Münch war schon 1932 der NSDAP und der SA beigetreten. Johann Appler, Beamter am Gunzenhauser Finanzamt, als Antisemit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt, war 1930 von Julius Streicher als Kreisleiter von Gunzenhausen eingesetzt worden.
Pogrom in Gunzenhausen (1934)
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Bald nach der „Machtergreifung“ kam es in Gunzenhausen zu antisemitischen Ausschreitungen. SA-Angehörige verprügelten im März 1933 den jüdischen Gastwirt Simon Strauß und dessen Sohn Julius. Kreisleiter und SA-Sonderkommissar Appler organisierte am 1. April 1933 den reichsweit angeordneten Boykott jüdischer Geschäfte in Gunzenhausen. In der Folgezeit fanden in der Stadt zahlreiche Massenkundgebungen mit Aufmärschen der SA statt, bei denen maßlose Hetzreden gegen Juden gehalten wurden. Im Juni desselben Jahres rotteten sich an die 100 Nationalsozialisten vor verschiedenen Anwesen jüdischer Bürger zusammen und forderten deren Verhaftung. Die Polizei nahm dann die betroffenen Juden zur „Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung“ vorübergehend in Schutzhaft. Die Gewalt eskalierte. Ein jüdischer Bürger, der sich beim Bürgermeister über Ausschreitungen beschwert hatte, wurde im März 1934 von SA-Männern krankenhausreif geschlagen. Schließlich lösten SA-Banden unter Obersturmführer Karl Bär am 25. März 1934 den sogenannten Palmsonntagspogrom aus. Wohl unter Alkoholeinfluss zogen SA-Männer unter Anführung von Kurt Bär, dem Neffen von Karl Bär, zur Wirtschaft Strauß und ohrfeigten Besucher, weil sie „beim Juden Bier tranken“. Bär schlug den Gastwirt und dessen Frau, bedrohte sie mit einer Waffe und schoss um sich. Als er auf dem Rückzug dem Sohn von Strauß begegnete, ließ er diesen mit der Beschuldigung, ihn angespuckt zu haben, von seinen Männern zusammenschlagen. Vor der Straußschen Wirtschaft hielt Kurt Bär dann eine Hetzrede und veranlasste, dass die Einrichtung der Gastwirtschaft demoliert und Strauß sowie seine Familie zu ihrem „Schutz“ ins Stadtgefängnis gebracht wurden. Den bewusstlosen Julius Strauß ließen die ihn schleppenden SA-Männer immer wieder fallen und traten ihn mit Füßen. Anschließend zogen SA-Trupps durch die Straßen vor Häuser jüdischer Mitbürger und brachen Wohnungstüren auf. 35 Juden, 29 Männer und 6 Frauen, wurden zum Teil im Nachtgewand und unter Schlägen „von SA-Männern, Bürgern und Polizisten, einschließlich des Ersten Bürgermeister Dr. Münch, ins Gefängnis eskortiert“ und dort in „Schutzhaft“ genommen. Im Rahmen der Ausschreitungen kamen zwei Juden, Jakob Rosenfelder und Max Rosenau, „unter mysteriösen Umständen“ ums Leben, offiziell durch Selbstmord. Recherchen nach dem Krieg ergaben, dass Rosenfelder sich wohl aus Furcht vor den in seine Wohnung eindringenden SA-Rabauken selbst getötet hatte. Rosenau war stranguliert und anschließend erhängt worden, um so einen Selbstmord vorzutäuschen. Nachdem die Vorfälle im Ausland publik geworden waren, ordnete das Reichsinnenministerium eine gerichtliche Untersuchung der Vorfälle an und äußerte Zweifel an der Selbstmordversion. Vor dem Amtsgericht Ansbach kam es im Sommer 1934 zur Anklage wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung. Die Angeklagten SA-Männer blieben auch nach der Verurteilung zu Gefängnisstrafen von drei bis zehn Monaten auf freiem Fuß. Kurt Bär nutzte dies, drang am 15. Juli 1934 in die Straußsche Gaststätte ein und schoss aus Rache, weil diese im Prozess gegen ihn ausgesagt hatten, Simon und Julius Strauß nieder. Simon Strauß starb, sein Sohn erlitt schwere Verletzungen. Am 11. August 1934 wurde Kurt Bär wegen Mordes an Simon Strauß vom Landgericht Ansbach zu lebenslanger Zuchthausstrafe und wegen Mordversuchs am Julius Strauß zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Bereits Ende 1938 wurde Kurt Bär begnadigt.
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Pogrom in Iaşi (1941)
Nach dem Krieg stellte sich die Stadt Gunzenhausen diesem unrühmlichen Kapitel ihrer Geschichte und unterstützte Forschungen zur Aufklärung der damaligen Ereignisse.
Literatur
Wolfram Selig
Wilhelm Lux, Der Nationalsozialismus in Gunzenhausen, 1.-3. Teil, in: Alt-Gunzenhausen, Beiträge zur Geschichte der Stadt und Umgebung 43, 44, 45 (1987 -1989). Heike Tagsold (Hrsg.), „Was brauchen wir einen Befehl, wenn es gegen Juden geht?“ Das Pogrom von Gunzenhausen 1934, Nürnberg 2006.
Pogrom in Iaşi (1941) Nach dem Beginn des deutsch-rumänischen Feldzuges gegen die Sowjetunion fand vom 28.-30. Juni 1941 in der Stadt Iaşi der bis dahin größte Pogrom Rumäniens statt. Während des mehrtägigen Mordens sind fast 10.000 Juden getötet worden. Die rumänischen Militärbehörden verbreiteten das Gerücht, die jüdische Bevölkerung unterstütze die sowjetischen Truppen und greife die an die Front ziehenden rumänischen und deutschen Soldaten an. Ohne Untersuchung der Anschuldigungen befahl General Ion Antonescu Vergeltungsmaßnahmen. In der Nacht vom 28. auf den 29. Juni drangen Ordnungskräfte und organisierte Schlägertrupps in die Häuser der Juden, zerrten die Menschen aus den Wohnungen, misshandelten und ermordeten sie, plünderten ihr Hab und Gut. Am 29. Juni wurden mehrere tausend Juden auf das Gelände des Polizeiquartiers gebracht. Die in der Stadt stationierten rumänischen und deutschen Soldaten schossen in die Menschenmenge; mehrere hundert Tote wurden in Massengräbern auf dem jüdischen Friedhof verscharrt. Nach dem Massaker wurden 3.400 Juden zum Bahnhof getrieben, in Viehwaggons gepfercht und ohne Verpflegung tagelang durchs Land gefahren; über 2.000 von ihnen sind in diesen „Todeszügen“ qualvoll gestorben. Bereits im Vorfeld der Gewalteskalation hatte die antijüdische Agitation in der Stadt zugenommen, teils von der lokalen Presse teils von Behördenseite geschürt. Nachdem am 24. und 26. Juni die Stadt sowjetischen Bombardements ausgesetzt gewesen war, verbreiteten Militärkreise das Gerücht, dass die Juden den sowjetischen Fliegern „Signale gegeben“, „Fallschirmspringer versteckt“ und „verdächtige Versammlungen abgehalten“ hätten. Die Behörden ließen offiziell verlauten, dass die Juden für die Bombenangriffe verantwortlich seien. Am Abend des 26. Juni fanden die ersten Durchsuchungen und Razzien in jüdischen Wohnungen statt, weitere Verhaftungen und Exekutionen folgten am nächsten Tag. In vielen Stadtteilen waren Plakate zu sehen, die zum „Judenmord“ aufriefen: „Rumänen! Mit jedem getöteten Juden habt ihr einen Kommunisten getötet. Die Zeit der Rache ist gekommen!“ Zugleich gab es Hinweise, dass die Polizei den rumänischen Bewohnern empfahl, ihre Haustore oder Fenster mit einem Kreuz zu kennzeichnen. An den Ausschreitungen vom 28.-30. Juni waren Polizisten, Gendarmen und Soldaten beteiligt, wie auch „gewöhnliche Rumänen, die auf den richtigen Moment gewartet hatten, um zu rauben und zu töten“. Die Ereignisse eskalierten, der Mob jagte unbehelligt Juden und ermordete sie auf offener Straße. Die zum Polizeiquartier getriebenen Juden wurden auf dem Weg dorthin von der zuschauenden Menge
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bespuckt, getreten und mit Steinen beworfen. Vor Erschöpfung umfallende Menschen sind an Ort und Stelle erschossen worden. Massaker fanden auf dem Gelände des Polizeiquartiers und in verschiedenen Industrieanlagen statt. Während in Iaşi die Ausschreitungen nach dem 30. Juni aufhörten, waren die 3.400 in zwei „Todeszügen“ eingepferchten Juden noch tagelang unmenschlichen Qualen ausgesetzt. An den Pogrom von 1941 erinnert seit 2001 eine kleine Gedenktafel, die im ehemaligen Hof des Polizeiquartiers angebracht ist. Diese Plakette ließ ein kanadischer Dokumentarfilmer anfertigen und aufstellen, dessen Vater während des Pogroms verwundet wurde. Die jüdische Gemeinde organisiert jährliche Gedenkveranstaltungen auf dem jüdischen Friedhof beim Denkmal vor den Massengräbern.
Literatur
Brigitte Mihok
Jean Ancel, Der Pogrom von Iaşi am 29. Juni 1941, in: Wolfgang Benz, Brigitte Mihok (Hrsg.), Holocaust an der Peripherie. Judenpolitik und Judenmord in Rumänien und Transnistrien 1940–1944, Berlin 2009, S. 31–43. Radu Ioanid, Evreii sub regimul Antonescu [Die Juden unter dem Antonescu-Regime], Bucureşti 1998, S. 87–123.
Pogrom in Jedwabne (1941) Jedwabne ist eine Kleinstadt in der Umgebung von Łomża im Nordosten Polens, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Russischen Reich gehörte und etwas mehr als tausend Einwohner zählte. Über die Hälfte der Bevölkerung bekannte sich zum jüdischen Glauben. Die Mehrheit der Bewohner des Gebietes um Łomża und Białystok waren Polen katholischen Glaubens. Seit 1918 gehörte die Stadt zur zweiten polnischen Republik. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt, dem deutschen Überfall und der anschließenden Teilung Polens gelangte die Stadt Ende September 1939 unter sowjetische Besatzung. Dies bedeutete die Annexion durch die UdSSR, die Eingliederung in die weißrussische Sowjetrepublik sowie die Entrechtung, Verfolgung und massenhafte Deportation der Eliten des zerschlagenen polnischen Staates. Die Rolle der jüdischen Bevölkerung nach dem sowjetischen Einmarsch wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt: Während einige Historiker mit Nachdruck darauf verweisen, dass ein substantieller Teil der Juden die Rote Armee begrüßte, keine Loyalität zu Polen zeigte und in sowjetische Dienste getreten sei, verweisen andere Forscher darauf, dass Polen jüdischen Glaubens überproportional von der Deportation nach Sibirien und Zentralasien betroffen waren und wegen ihrer traditionellen Lebensweise verfolgt wurden. Unbestritten ist, dass ein bedeutender Teil der katholischen Bevölkerung die lokalen Juden als Kollaborateure wahrgenommen hat und sich die bereits zuvor nicht spannungsfreien Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen unter sowjetischer Herrschaft verschlechterten. Die Vorstellung einer engen Verbindung zwischen Judentum und Kommunismus („żydokomuna“) war im Antisemitismus der polnischen Rechten, die im Nordosten des Landes stark war, bereits seit dem späten 19. Jahrhundert ausgeprägt. Wegen der sowjetischen Gewaltherrschaft begrüßten zahlreiche Polen die einmarschierende Wehrmacht Ende Juni 1941 als Befreier. Es gehörte zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, die
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lokale Bevölkerung gegen die Juden aufzuhetzen und sie zur „spontanen“ Rache für die Demütigungen der sowjetischen Besatzung anzuhalten. Dies geschah auch im Białystoker Gebiet. Am Morgen des 10. Juli 1941 wurden die jüdischen Einwohner der polnischen Kleinstadt Jedwabne sowie jüdische Flüchtlinge aus der Umgebung, die sich in der Stadt aufhielten, gezwungen, sich auf dem Marktplatz zu versammeln. Dort hielten ihre Mitbürger sie fest, demütigten und schlugen sie. Einer Gruppe jüdischer Männer wurde befohlen, das Lenindenkmal in der Stadt abzureißen und zu begraben. Dabei mussten sie sowjetische Lieder singen. Diese drei Dutzend Männer wurden dann in eine Scheune verbracht und dort getötet. Anschließend wurde die restliche jüdische Bevölkerung, wenigstens 300 Personen, unter ihnen zahlreiche Frauen und Kinder, in dieselbe Scheune getrieben, eingeschlossen und dort lebendig verbrannt. Ihre Überreste wurden in zwei Massengräbern verscharrt. Zum Zeitpunkt des Pogroms befanden sich ca. 20 deutsche Uniformierte in der Ortschaft. Der Massenmord wurde jedoch von der lokalen Bevölkerung ausgeführt. Bereits seit dem Einmarsch deutscher Truppen in Jedwabne um den 23. Juni 1941 war es dort zu Übergriffen und Gewalttaten gegen einzelne Juden gekommen. Auch in anderen Städten der Umgebung fanden in diesen Wochen Massentötungen statt, die teilweise von deutschen Einsatzgruppen, teilweise aber auch auf deren Anweisung oder mit ihrem Wohlwollen von Polen durchgeführt wurden. In den Jahren 1949/50 kam es im kommunistischen Polen zu Gerichtsverfahren, in denen ein Teil der Täter verurteilt wurde. Der Leiter der Einsatzgruppe B im Gebiet von Łomża und Białystok, SS-Obersturmführer Hermann Schaper, wurde in der Bundesrepublik Deutschland zwar mehrfach angeklagt, doch er musste keine nennenswerte Haftstrafe verbüßen. Das Massaker von Jedwabne bedeutete das Ende einer jüdischen Gemeinde, die sich seit dem 18. Jahrhundert nachweisen lässt. Im Jahr 2000 veröffentlichte der amerikanische Soziologe und Historiker polnischjüdischer Herkunft Jan T. Gross eine Mikrostudie („Nachbarn“) über den Massenmord von Jedwabne. Er beschrieb in seiner Arbeit, die sich auf Augenzeugenberichte und Gerichtsakten stützt, detailliert die Brutalität der polnischen Täter und blendete die deutsche Beteiligung und die sowjetische Besatzung weitgehend aus. Das Buch löste zunächst in Polen, aber auch darüber hinaus in der Holocaustforschung eine breite Debatte aus. Mit seiner Herausstellung polnischer Täterschaft griff Gross das tradierte Geschichtsbild Polens als einer Nation der Freiheitskämpfer und Märtyrer an. Als Reaktion auf die Studie entstand eine umfangreiche Dokumentation des polnischen Instituts des Nationalen Gedenkens (IPN), die Gross’ These von der polnischen Täterschaft bestätigte, aber zugleich für eine stärkere Kontextualisierung des Verbrechens plädierte. Als Motive der Mörder von Jedwabne nannte das IPN Raub und Habgier, den traditionellen Antisemitismus, Rache für tatsächliche oder eingebildete Zusammenarbeit der jüdischen Bevölkerung mit sowjetischen Behörden und die deutsche Anstiftung zum Verbrechen. Der ermittelnde polnische Staatsanwalt sprach 2002 von einer deutschen Verantwortung sensu largo und einer polnischen Täterschaft sensu strictu. Bereits am 60. Jahrestag des Verbrechens 2001 entschuldigte sich Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski im Namen der polnischen Nation für das Verbrechen.
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Für das Verständnis des Pogroms von Jedwabne sind nationalsozialistischer Vernichtungskrieg und Holocaust ebenso entscheidend wie die Erfahrung der gewaltsamen Sowjetisierung. Schließlich fand das Verbrechen in einem Raum der Entrechtung und Gewalt statt, der durch die Zusammenarbeit und den Zusammenstoß von Nationalsozialismus und Stalinismus entstand. Es wurde aber erst durch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik ermöglicht.
Literatur
Jan C. Behrends
Edmund Dmitrów u.a. (Hrsg.), Der Beginn der Vernichtung. Zum Mord an den Juden von Jedwabne und Umgebung im Sommer 1941, Osnabrück 2004. Jan T. Gross, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001 [polnische Originalausgabe Warschau 2000]. Marci Shore, Conversing with Ghosts. Jedwabne, Żydokomuna, and Totalitarianism, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), 2, S. 345–374.
Pogrom in Kielce (1946) Im Herbst 1945 lebten von ehemals 3,5 Millionen nur noch 80.000 Juden in Polen. Ihre Situation war verzweifelt. Polens erste Nachkriegsjahre waren von Bürgerkrieg, politischen Machtkämpfen und den Versuchen geprägt, die Kriegsfolgen zu überwinden. Viele Polen hatten von der Verfolgung der Juden profitiert. Sie bemühten sich nun um die Sicherung des Besitzes, den sie sich nach der Deportation der ehemaligen Nachbarn angeeignet hatten und verweigerten die Rückgabe jüdischen Eigentums. Die Angst vor einer möglichen Rückkehr der ehemaligen Besitzer, eine latente Judenfeindschaft und die Besetzung Polens durch die Rote Armee 1944/45 hatten zu einem rapiden Anstieg antisemitischer Ressentiments geführt. Dieser Antisemitismus bediente sich nicht nur traditioneller religiöser und wirtschaftlicher Stereotypen, sondern hatte mit der Instrumentalisierung jüdisch-bolschewistischer Verschwörungstheorien auch eine politische Dimension. Alte und neue Varianten antisemitischer Vorurteilsstrukturen mischten sich mit Ängsten vor einer ungewissen Zukunft, aber auch mit Neid auf die vermeintlich bessere Versorgung jüdischer Überlebender durch Hilfsorganisationen. Die Stimmung war derart aufgeladen, dass bereits das geringste Gerücht zu antisemitischen Übergriffen auf die wenigen verbliebenen Juden führte. So kam es in vielen Städten zu pogromartigen Ausschreitungen, die insgesamt zwischen 1944 und 1947 etwa 1.500 bis 2.000 Überlebenden der nationalsozialistischen Judenverfolgung das Leben kosteten. Die antisemitische Welle erreichte ihren ersten Höhepunkt am 11. August 1945 in Krakau, als der Mob in die Kupa-Synagoge einbrach, um einen angeblichen Ritualmord an polnischen Kindern zu rächen. Mehrere Juden kamen ums Leben und zahlreiche wurden verletzt, die Synagoge brannte, jüdische Einrichtungen wurden verwüstet und Häuser jüdischer Bewohner geplündert. Beteiligt an den Ausschreitungen waren auch polnische Milizionäre (Polizisten) und Armeeangehörige. In Rabka bei Krakau wurde im August 1945 in einem Sanatorium für jüdische Waisenkinder eine Bombe gelegt und mit Maschinengewehren auf das Gebäude geschossen. Das Sanatorium brannte ab und vier Kinder kamen ums Leben.
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Die antisemitische Stimmung in Polen kulminierte schließlich im Juli 1946 mit dem Pogrom von Kielce, einer Stadt, 170 km südlich von Warschau gelegen, mit etwa 50.000 Einwohnern, die auf eine judenfeindliche Tradition zurückblicken konnte. 1918 hatte sich hier der erste antijüdische Pogrom im wieder entstandenen unabhängigen Polen ereignet. Bei Kriegsausbruch 1939 hatten in Kielce 25.000 Juden gelebt, nach dem Krieg waren 200 vor allem aus der Sowjetunion, wohin sie vor den Nationalsozialisten hatten fliehen können, zurückgekehrt. Der Großteil wurde in einem Gebäude des Jüdischen Komitees untergebracht. Am Abend des 3. Juli 1946 meldete der Vater des neunjährigen Henryk Blaszczyk der Polizei von Kielce, dass sein Sohn seit zwei Tagen vermisst sei. Am nächsten Tag tauchte Henryk in Begleitung seines Vaters in der Polizeistation auf und berichtete, er sei in der Planty Allee 7, dem Haus des Jüdischen Komitees, wo er ein Paket abliefern musste, gefangen gehalten und misshandelt worden. Im Keller, in dem er festgehalten worden sei, hätte er die Körper ermordeter Christenkinder gesehen. Glücklicherweise hätte er entkommen können. Der Polizeibeamte sandte eine Abordnung zum Haus des Jüdischen Komitees, vor dem Henryk allen Passanten seine Geschichte erzählte. Daraufhin entlud sich die antisemitische Stimmung in einem Pogrom, der sich rasch ausbreitete und an dem auch polnische Soldaten beteiligt waren. 42 jüdische Männer, Frauen und Kinder, unter ihnen auch eine KibbuzGruppe mit Jugendlichen, die sich auf ihre Auswanderung vorbereitete, wurden ermordet; mehr als 40 Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Ums Leben kamen auch zwei nicht-jüdische Polen, die den Angegriffenen hatten helfen wollen. Henryk Blaszczyk gab einen Tag später zu, es habe sich um eine frei erfundene Geschichte gehandelt, mit der er eine unerlaubte Tour aufs Land vertuschen wollte. Die polnische Regierung zeigte sich erschüttert, und offizielle Vertreter nahmen an der Beerdigung der Opfer teil. Nach einer rasch anberaumten gerichtlichen Untersuchung des Vorfalls wurden neun Täter zum Tode verurteilt und am 12. Juli 1946 hingerichtet, drei Angeklagte erhielten mehrjährige Haftstrafen. An den willkürlich aus der Menge herausgegriffenen Angeklagten wurde allerdings nur ein Exempel statuiert, das der Bevölkerung als Warnung dienen und dem Ausland gegenüber ein hartes Durchgreifen dokumentieren sollte. Am 18. November begann ein zweiter Prozess gegen 15 am Pogrom beteiligte Personen; sie wurden entweder freigesprochen oder zu geringen Haftstrafen verurteilt. Welche Rolle die kommunistische Führung, die Miliz und die örtlichen Polizeidienststellen bei den Ausschreitungen spielten, ist bis heute nicht geklärt. Eine zu Beginn der 1990er Jahre eingesetzte Untersuchungskommission für die Erforschung deutscher und stalinistischer Verbrechen in Polen (Hauptkommission zur Erforschung von Verbrechen gegen das Polnische Volk/Główna Komisja Badania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu – Instytut Pamięci Narodowej; IPN), legte 1997 einen seltsamen Bericht vor, in dem sie zu dem Ergebnis kam, polnische Sicherheitskräfte, deren Angehörige mehrheitlich Juden gewesen wären, hätten zu dem Pogrom angestiftet. Über die Verantwortlichen für den Pogrom kursieren die unterschiedlichsten Theorien. War es nur eine aufgebrachte Menge, die durch Fehlinformationen und Gerüchte ihre antisemitischen Ressentiments ausleben und die Juden vertreiben wollte, um sich zur Wahrung des illegal angeeigneten Besitzes vor Rückgabeforderungen zu schützen oder waren die Ausschreitungen von den sowjetischen Besatzern in Szene gesetzt wor-
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den, die später behaupteten, der Pogrom sei von polnischen Untergrundaktivisten initiiert worden, die mit der polnischen Exilregierung in Verbindung standen. Auf dem Prüfstand steht auch die Rolle der Katholischen Kirche, die den Pogrom nicht explizit verurteilte und gar die These vertrat, die Juden seien selbst schuld an den Ausschreitungen, weil sie den Kommunismus unterstützt hätten. In Kielce war durch das Wiederaufleben des jahrhundertealten Ritualmordvorwurfs ein Massaker ausgelöst worden, wie man es nach dem Holocaust nicht mehr für möglich gehalten hatte. Die Mehrheit der überlebenden polnischen Juden reagierte sofort und verließ das Land. Den meisten gelang es, mit Hilfe der 1944 in Polen gegründeten jüdischen Fluchthilfeorganisation Brichah (hebr. Flucht) nach Deutschland und Österreich in die dortigen Lager für jüdische Displaced Persons zu fliehen. Die Massenflucht aus Polen hatte dazu geführt, dass die Westzonen Deutschlands zur Durchgangsstation für etwa 150.000 jüdische Flüchtlinge aus Polen wurden, bis sie nach der Gründung des Staates Israel und der Lockerung der Einwanderungsbestimmungen der USA Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre Europa endgültig verließen. Eine Debatte über den polnischen Nachkriegsantisemitismus und insbesondere die Verantwortung für den Pogrom von Kielce hat, wie schon im Fall von „Jedwabne“, ein Buch des in den USA lebenden polnischen Soziologen Jan Tomasz Gross ausgelöst. Unter dem Titel „Fear: Anti-Semitism in Poland After Auschwitz“ in den USA 2006 erschienen, kam die polnische Ausgabe nicht nur mit einem leicht veränderten Titel (Angst. Antisemitismus in Polen nach dem Krieg. Geschichte eines moralischen Niedergangs), sondern auch inhaltlich stärker auf das polnische Publikum fokussiert 2008 auf den Markt. Kurz nachdem die englische Ausgabe vorlag, hatte das polnische Parlament ein Gesetz verabschiedet („Lex Gross“), das jene mit einer Freiheitsstrafe bedroht, die öffentlich die polnische Teilnahme oder Verantwortung für kommunistische und nationalsozialistische Verbrechen konstatieren. Ähnlich wie das Gesetz hat auch die Debatte deutlich apologetische Züge. Eine Reihe von Historikern, aber auch Journalisten und führende katholische Würdenträger versuchen die Ereignisse von Kielce herunterzuspielen. Der antisemitische katholische Radiosender „Radio Maryja“ behauptete gar, einige Särge der Opfer von Kielce seien nur mit Sand gefüllt gewesen. Noch immer kursiert die These von der „jüdischen Verantwortung“ für den Pogrom. Gross‘ Buch hat allerdings dazu geführt, dass die Untersuchungskommission Instytut Pamięci Narodowej weitere Dokumente über die Vorgänge in Kielce herausgab, die zeigen, dass es sich um einen spontanen Ausbruch tief verwurzelter antisemitischer Vorurteile handelte. Zum 50. Jahrestag des Pogroms 1996 drehte der deutsche Filmproduzent Artur Brauner den Spielfilm „Von Hölle zu Hölle“, eine deutsch-weißrussische Koproduktion, der den Opfern von Kielce, die im Abspann namentlich genannt werden, gewidmet ist. In den Kinos war der Film allerdings erst vier Jahre später zu sehen. Am 4. Juli 2006, zum 60. Jahrestag des Pogroms, wurde in Kielce ein Denkmal für die Opfer eingeweiht, das der amerikanische Künstler Jack Sal geschaffen hat. Zum 64. Jahrestag des Pogroms, im Juli 2010, wurde im Jüdischen Friedhof von Kielce ein Gedenkstein an die dort beigesetzten Pogrom-Opfer des in Kielce geborenen israelischen Künstlers Marek Cecula feierlich der Öffentlichkeit übergeben.
Juliane Wetzel
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Pogrom in Kischinew (1903)
Literatur
Jan T. Gross, Fear. Anti-Semitism in Poland after Auschwitz. An Essay in Historical Interpretation, Princeton/Oxford 2006. Angelika Königseder, Juliane Wetzel, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, aktualisierte Neuausgabe Frankfurt am Main 2004. Carla Tonini, The Jews in Poland after the Second World War. Most Recent contributions of Polish Historiography, in: Quest. Issues in Contemporary Jewish History 1 (1020) – online. Von Hölle zu Hölle, Spielfilm, Deutschland/Weißrussland 1996, von Dmitri Astrachan, mit Anja Kling, Gennadi Svir, Alla Shafer-Kliouka.
Pogrom in Kischinew (1903) An den Ostertagen des Jahres 1903, am 6. und 7. April, ereignete sich in Kischinew (heute Chişinău), der Hauptstadt des russischen Gouvernements Bessarabien (heute Moldawien), der bislang schlimmste Pogrom in einer Serie von Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung im russischen Ansiedlungsrayon. Die zivilisatorische Katastrophe war durch antisemitische Artikel in der Zeitung „Bessarabetz“ angekündigt, Flugblätter und Plakate waren in der Stadt verbreitet worden, sie suggerierten den Nichtjuden – das waren etwas mehr als die Hälfte der 109.000 Einwohner der Stadt – es gebe einen Ukas des Zaren, der es den Christen während der drei heiligen Ostertage erlaube, „mit den Juden ein blutiges Gericht zu halten“. Intellektueller Urheber und Organisator war der Journalist Pawel Kruschewan, der die Zeitung „Bessarabetz“ Ende der 1890er Jahre gegründet und zum Forum der Hetze gegen die Juden gemacht hatte. Jahrelang schrieb das Blatt gegen die „Blutsauger, Betrüger, Parasiten und Ausbeuter der christlichen Bevölkerung“ und unterfütterte schließlich die Vorwürfe gegen die Juden im März 1903 mit einer Ritualmordlegende, die sich im benachbarten Dubossary ereignet habe. Dass Exzesse gegen die Juden bevorstanden, war Stadtgespräch in Kischinew, aber der Gouverneur und der Polizeichef, ebenso der Bischof, von den Juden um Schutz angegangen, wiegelten ab und verbargen ihre eigenen Antipathien nicht. Am Ostersonntag, der zugleich Pessach war, nahm der Pogrom seinen Lauf: Ab Mittag begann eine Bande zehn- bis fünfzehnjähriger christlicher Jungen mit Überfällen auf Juden und jüdische Geschäfte zu attackieren. Die Polizei verjagte die Buben, verhaftete jedoch niemanden. Derartige Reaktionen der Ordnungshüter waren überall Bestandteil des inszenierten Pogromgeschehens. Die Beiläufigkeit des Handelns, das Nichteinschreiten gegen Exzesstäter oder die vorübergehende Abwesenheit charakterisieren die Situation. Das Verhalten der Polizei ermutigte die Täter. Gegen drei Uhr nachmittags erschien auf dem Platz Nowyi-Bazar ein Haufen von Männern, in roten Hemden gekleidet, die Festtracht der russischen Arbeiter. Die Leute brüllten: „Tod den Juden! Schlagt die Juden!“ Die Männer, einige hundert, teilten sich in 24 Abteilungen zu etwa 10 bis 15 Mann und zerstörten und plünderten systematisch und gleichzeitig in allen Teilen der Stadt die jüdischen Häuser und Läden. Die Juden wurden ihrer Wertsachen und des Geldes
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beraubt. Im Stadtgarten musizierten Kapellen, in die Klänge der Musik mischten sich das Gebrüll der Exzedenten und das Geräusch der Zerstörung. Die elegante Welt fuhr in Wagen vorüber, um sich an dem Schauspiel zu weiden. Andere standen in den Türen ihrer Häuser und sahen der Arbeit der Pogromstschiki zu, halfen auch, wenn es Not tat. Am Spätnachmittag wurde ein Jude aus einer Trambahn geworfen und auf der Straße erschlagen. Das Signal, dass die Pogromtäter nichts zu befürchten hatten, ging vom Polizeichef aus. Er war unterwegs, um Visiten zu machen. Sein Wagen wurde umringt, und man fragte ihn, ob man die Juden erschlagen dürfe. Dass er darauf nichts erwiderte, wurde als Zeichen des Einverständnisses genommen. Auch der orthodoxe Bischof erweckte den Eindruck, als billige er das Geschehen: Er fuhr im Wagen und gab den Randalierern den Segen – ob gewohnheitsmäßig oder bewusst, die Geste ließ sich als Einverständnis interpretieren. Der Pogrom, zu dem am Abend des ersten Tages auswärtige Fanatiker stießen, junge Großrussen, die bewaffnet und in einheitliche Tracht, wie sie die Arbeiter trugen, gekleidet wurden, ging am folgenden Tag weiter. Inzwischen waren jüdische Wohnungen und Geschäfte markiert und die Stadt in Aktionsfelder eingeteilt worden. Während der Gouverneur am Morgen erklärte, er müsse Befehle aus St. Petersburg abwarten, vorher könne er nichts tun, schlugen die Pogromisten wieder zu. Zur Bilanz des zweitägigen Wütens gehören 49 getötete Juden und Hunderte Verletzte. 800 Häuser und Läden waren geplündert und demoliert und viele weitere Gebäude beschädigt, der materielle Schaden wurde mit zwei Millionen Rubel beziffert. Die Ereignisse von Kischinew, die andernorts vielfach Nachahmungstäter ermunterten, hatten ein Jahr später ein gerichtliches Nachspiel. Der Prozess fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, denn angeklagt war die Obrigkeit, die es immerhin vermocht hatte, mit militärischem Einsatz den Pogrom schlagartig zu beenden. Im Prozess kamen die Details der Vorbereitung und Durchführung zur Sprache. Beweise wurden angeführt, etwa die Flugblätter, in denen es hieß: „Für die Juden gibt es kein Gesetz, man kann mit ihnen machen, was man will“, oder ein Aufruf mit der Forderung: „Es ist sogar notwendig, die Juden zu schlagen, denn die Juden sind Revolutionäre und Feinde der Regierung und als solche dem Tode preisgegeben“. Angeklagt waren der Generalgouverneur, der Vizegouverneur und die Spitzen der Polizei wegen Tatenlosigkeit. Sieben jüdische Bürger beanspruchten Schadensersatz, ihre Klagen begründeten die Advokaten Winawer und Slinberg in ausführlichen Plädoyers. Die Verhandlung fand am 13. Mai 1904 statt. Nach einstündiger Beratung sprach das Gericht die Angeklagten frei mit der Begründung: „Es war ein Ereignis, das durch die kulturhistorische Judenverfolgung verursacht wurde. Die Angeklagten haben zur Abwehr der Unruhen keine andern Mittel anwenden können, als solche, die sie zur Anwendung gebracht haben.“ Die Forderung der Kläger auf Schadensersatz wurde abgelehnt, dagegen wurden ihnen sämtliche Verfahrenskosten auferlegt. Am 13. Dezember 2009 fand im Zentralpark in Chişinău eine antisemitische Demonstration statt. Eine Gruppe von 100–200 orthodoxen Christen unter Leitung des Erzpriesters Anatol Cibric entfernte den Chanukka-Leuchter, den die Jüdische Gemeinde mit ausdrücklicher Genehmigung des Bürgermeisteramtes zwei Tage vorher zur Feier des Chanukka-Festes aufgestellt hatte. Die Orthodoxen behaupteten, so der Erzpriester Cibric, damit einen „Angriff des jüdischen Volkes“ abzuwehren. Es sei eine Provo-
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Pogrome in Lemberg (1918 und 1941)
kation, in der Nähe des Denkmals des Nationalheiligen Stefan cel Mare [Stefan der Große] ein jüdisches Symbol zu zeigen. Anstelle des Leuchters errichteten die Gläubigen ein orthodoxes Kreuz. Die Polizei griff nicht ein, die moldawisch-orthodoxe Kirche gab keine Stellungnahme ab. Die Regierung verurteilte den Vorfall, die kommunistische Opposition erinnerte an den Pogrom von 1903.
Literatur
Wolfgang Benz
Die Judenpogrome in Rußland, hrsg. im Auftrage des Zionistischen Hilfsfonds in London von der zur Erforschung der Pogrome eingesetzten Kommission, 2 Bände, Köln und Leipzig 1910. L. Judavics-Paneth, Pogrom-Prozesse. Der Pogrom in Kischinew, Berlin 1911. Edward H. Judge, Ostern in Kischinjow. Anatomie eines Pogroms, Mainz 1995.
Pogrome in Lemberg (1918 und 1941) In den Pogromen von Lemberg (Lwów, L’viv) in den Jahren 1918 und 1941 war die allgemeine Situation von Paradigmenwechseln und Transformationen gekennzeichnet. Der Pogrom 1918 brach aus, nachdem die polnischen Truppen nach einem drei Wochen dauernden Kampf mit ukrainischen Einheiten die Stadt am 22. November erobert hatten. Soldaten der polnischen Legionen, aber auch polnische Zivilisten misshandelten, beraubten und erniedrigten zwei Tage lang jüdische Frauen, Männer und Kinder. Nach zwei Tagen ließ das polnische Armeeoberkommando das Standrecht ausrufen, wodurch die Gewalt gestoppt wurde. Der Pogrom forderte 72 Tote, allerdings gab es noch Wochen nach dem Pogrom gewaltsame Übergriffe polnischer Legionisten auf die jüdische Zivilbevölkerung. Der Pogrom 1941 fand mit dem Einmarsch deutscher Truppen am 30. Juni statt, nachdem die Rote Armee aus der Stadt abgezogen war. Auslöser war die Entdeckung verstümmelter Leichen von tausenden polnischen, ukrainischen und jüdischen NKWD-Kriegsgefangenen in den örtlichen Gefängnissen. Darauf beraubten, demütigten und erschlugen ukrainische Milizen der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten), aber auch Zivilisten Juden auf den Straßen, aufgehetzt von Wehrmacht und Einsatzgruppe C. Die Zahl der Todesopfer – zwischen 4.000 und 7.000 – war ungleich höher als 1918, da der Pogrom vom 30. Juni 1941 in eine Massenerschießungsaktion mündete, die von der SS und der Einsatzgruppe C durchgeführt wurde. Gewiss trugen die jeweiligen vorangegangenen Besatzungsherrschaften und die Kriegserfahrungen dazu bei, die ethnischen Antagonismen in einer multikulturellen Stadt wie Lemberg zu verstärken, in der Polen, Ukrainer und Juden seit Jahrhunderten lebten. Allerdings trifft dies beim Pogrom 1941 weniger zu als 1918: Der Pogrom 1941 war weniger die Folge intensivierter ethnischer Konflikte, sondern geschah in Regie der deutschen Besatzungsherrschaft, deren Ausmaß im wissenschaftlichen Diskurs unterschiedlich beurteilt wird. Es ist zu bedenken, dass NS-Deutschland 1941 die Weichen für die Vernichtung der europäischen Juden gestellt hatte. Dennoch verschlechterten sich die interethnischen Beziehungen in der Stadt auch unter der Sowjetherrschaft von 1939–1941 und unter den wechselnden Besatzungsmächten des → Ersten Weltkrieges. In beiden Fällen wurden Juden als Repräsentanten der alten Ordnung bzw.
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Fremdherrschaft wahrgenommen. Man warf ihnen vor, stets mit den jeweiligen Machthabern kooperiert und von ihnen profitiert zu haben. Unmittelbarer Auslöser für die Pogromgewalt waren in beiden Fällen Gerüchte über Gewalttaten von Juden gegenüber der christlichen Bevölkerung sowie über die Kooperation mit dem militärischen und politischen Gegner. Im Fall von 1918 warf die polnische Armee den Juden vor, trotz Neutralitätsbekundungen mit ukrainischen Einheiten zusammengearbeitet und polnische Soldaten aktiv bekämpft zu haben. Gerüchte gingen in der Stadt um, Mitglieder der jüdischen Miliz, deren Aufgabe es war, jüdische Geschäfte und Häuser vor Plünderungen zu schützen, hätten gemeinsam mit Ukrainern polnische Legionisten brutal gefoltert und ermordet. Dass es 1918 zu punktuellen Militärkooperationen zwischen ukrainischen und jüdischen Einheiten kam, ist aufgrund des ständig wechselnden Frontverlaufes durch die Stadt wahrscheinlich und wird auch von einem jüdischen Milizionär erwähnt. Die jüdische Miliz geriet immer wieder in Scharmützel mit polnischen Legionisten, die Juden in ihren Wohnungen überfielen oder jüdische Geschäfte ausraubten. Diese jüdische Selbstverteidigung und Gegenwehr einiger weniger wurde als Verrat der gesamten jüdischen Gesellschaft an der polnischen Nation interpretiert. Im Fall von 1941 wurden die Massaker, die der sowjetische Geheimdienst in seinem überstürzten Abzug an den Gefangenen in den NKWD-Gefängnissen verübte, als vermeintliche Kollaboration der jüdischen Bevölkerung mit der Sowjetherrschaft interpretiert. So fand das Bild vom „jüdischen Bolschewismus“ eine scheinbare Bestätigung. Zweifellos bot das sowjetische System bei Loyalität Juden viele Möglichkeiten, Beschäftigung in Fabriken, Bildungseinrichtungen und im Staatsdienst anzunehmen. Orthodoxe Juden, Zionisten und Geschäftsleute wurden hingegen wie polnische und ukrainische Intelligenz erbarmungslos verfolgt. Beim Pogrom 1918 waren polnische Legionisten und Freiwillige als Täter wesentlich. Gerade diese Gruppe, die für die Wiedererlangung eines souveränen polnischen Staates kämpfte, war sehr patriotisch und oft gut ausgebildet, was auch aus Aussagen von Pogromopfern hervorgeht. Diese jungen Männer waren im Ersten Weltkrieg und seiner ethnischen Kategorisierung sozialisiert worden und sahen Gewalt als probates Mittel zur Konfliktlösung an. Zudem hatte die polnische Armeeführung in Lemberg zahlreiche Kriminelle in ihre Reihen aufgenommen, die nun die Gunst der Stunde nutzten, um zu rauben. Ein Teil der Legionisten, die Lemberg eroberten, stammte aus Westgalizien, aber auch viele Stadtbewohner nahmen am Pogrom teil. Letztere beteiligten sich vor allem am Rauben und Plündern, weniger an der Gewalt. Zeugen erinnerten sich an Magistratsbeamte, die ihre Familien zum Raub mitnahmen, und Dienstboten, die die geraubte Ware für ihre Herrschaften tragen mussten. Sie berichteten aber auch über einfache Arbeiter, Eisenbahner oder Prostituierte als Täter. Manche Opfer erkannten Lehrer, Mitschüler oder Kundschaft unter den Pogromisten. Häufiger Vorwand, die Bewohner zu berauben und zu misshandeln, war die Suche nach Waffen. Die geraubten Waren jüdischer Geschäftsleute requirierte entweder die Armee oder verteilte sie an Passanten, die vor den Häusern warteten. Häuser wurden in Brand gesteckt und die Flüchtenden beschossen. Beim Pogrom 1941 war die Tätergruppe vom nationalen Standpunkt her komplexer: Die Täter stammten überwiegend aus der ukrainischen Bevölkerung, aber auch polni-
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sche Zivilisten wurden erwähnt. Jedoch arbeiteten die deutschen Autoritäten mit der ukrainischen Miliz, die sich unmittelbar nach dem Abzug der Sowjets gebildet hatte, beim Pogrom eng zusammen. Die deutschen Einheiten heizten die Pogromstimmung an, indem sie Plakate mit antisemitischen Hetzparolen ausstellten und Fotos angeblich von Juden ermordeter Kriegsgefangener in Schaufenstern zeigten. Sie filmten das Pogromgeschehen, gaben den ukrainischen Einheiten Befehle und beteiligten sich stellenweise an der Gewalt. Der Großteil der deutschen Soldaten blieb jedoch Zuschauer. Ukrainische Miliz und Wehrmacht trieben Juden zusammen und ließen sie die Leichen der von der NKWD Ermordeten in den Gefängnissen bergen und misshandelten sie währenddessen brutal. Vor den Gefängnissen bildeten Passanten und Milizionäre Spaliere und schlugen mit Eisenstangen und Knüppeln auf die Juden ein oder erstachen sie mit Bajonetten. Die Wehrmacht griff nicht ein. Ausgehend von der Tatsache, dass sowohl 1918 wie 1941 die jeweiligen Machtgebilde, mit denen man die Juden in Verbindung brachte, zusammenbrachen, haftet beiden Pogromen eine fast rituell anmutende Konnotation einer nationalen Selbstreinigung von verhasster Fremdherrschaft und ihrer Vertreter an, zum Wohle der eigenen polnischen oder ukrainischen Nation. Der Bezug zu einer jeweiligen erwünschten polnischen bzw. ukrainischen Eigenstaatlichkeit war bei beiden Pogromen gegeben, was mit den vorangegangenen Paradigmenwechseln einhergeht. Beim Pogrom 1918 waren Polen die Haupttäter, 1941 die Ukrainer. Radikale Ukrainische Nationalisten hofften 1941 auf einen eigenen Staat ohne Polen, Juden und Russen unter der Mithilfe NSDeutschlands. Der Mord an den Juden erschien als probates Mittel, diese Eigenstaatlichkeit zu erlangen. Auch 1918 hatte der Pogrom starken Bezug zu einem erwünschten Staat, in diesem Fall aber einem polnischen Staat, der kaum gegründet, bereits in seinen Grenzen durch ukrainische Unabhängigkeitsbestrebungen bedroht war. Lemberg war im November 1918 der Ort des ersten polnischen militärischen Triumphes nach den Teilungen, wodurch die Stadt selbst zum Symbol eines unabhängigen polnischen Staates wurde. Dies war für die nationalbewussten Soldaten der polnischen Legionen, die den Wunsch nach polnischer Eigenstaatlichkeit verkörperten, von großer Bedeutung. Die Täter, polnische Soldaten und Zivilisten, demonstrierten beim Pogrom ihre wiedergewonnene Stärke und nahmen Rache an der in ihren Augen verräterischen jüdischen Bevölkerung. Dies kommt auch stark im Pogromverlauf zum Ausdruck, bei dem Gewaltakte von einer Feierstimmung und Harmonikaspiel begleitet wurden und betrunkene Soldaten die polnische Hymne sangen, während sie Juden misshandelten und beraubten. In beiden Fällen ging die Gewalt von militärischen bzw. paramilitärischen Einheiten aus, nicht von Zivilisten. Diese beteiligten sich erst in der Folge an Raub und Misshandlungen, teilweise auch am Mord. Angesichts der Opferzahlen ist zu konstatieren, dass der Pogrom von 1941 weitaus zielgerichteter auf die Ermordung der Juden vor Ort aus war, da er in Massenerschießungen mündete. Hier kann man sehr gut den Übergang vom Pogrom zum Typ des Massakers beobachten. Der Pogrom 1918 hingegen hatte karnevalesk anmutende Demütigungs-und Tötungsszenen, war aber weitaus mehr auf Bestrafung und Raub aus. Gemeinsam ist beiden Fällen das Pogrommotiv, die vermeintliche jüdische Kollaboration mit feindlicher Fremdherrschaft sowie die Aggression der Juden gegen die jeweils eigene Nation. Diese Motive lassen die Täter als Vertei-
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diger der eigenen Gemeinschaft, als Helden erscheinen und dienen zur Rechtfertigung antisemitischer Gewalt.
Literatur
Eva Reder
Frank Golczewski, Die Kollaboration in der Ukraine, in: Babette Quinkert, Christoph Dieckmann, Tatjana Tönsmeyer (Hrsg.), Kooperation und Verbrechen. Formen der Kollaboration im östlichen Europa 1939–1945, Göttingen 2003, S. 151–182. Hannes Heer, Lemberg 1941. Die Instrumentalisierung der NKWD-Verbrechen für den Judenmord, in: Wolfram Wette (Hrsg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S. 165–177. Thomas Held, Vom Pogrom zum Massenmord. Die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Lembergs im Zweiten Weltkrieg, in: Peter Fäßler (Hrsg.), Lemberg – Lwów – Lviv. Eine Stadt im Schnittpunkt europäischer Kulturen, Köln, Wien 1995, S. 113–166. Leszek Kania, W cieniu orląt lwowskich. Polskie sądy wojskowe, kontrwywiad i służby policyne w bitwie o Lwów 1918–1919 [Im Schatten der Lemberger Adlerjungen. Die polnischen Militärgerichte, Gegenspionage und Polizeidienste in der Schlacht um Lemberg 1918–1919], Zielona Góra 2008. Bogdan Musiał, „Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen“. Die Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges im Sommer 1941, Berlin 2000. Dieter Pohl, Ukrainische Hilfskräfte beim Mord an den Juden, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoa. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002, S. 205–236. Thomas Sandkühler, „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiative von Berthold Beitz 1941–1944, Bonn 1996. Frank M. Schuster, Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkrieges (1914–1919), Köln, Wien 2004. Phillip Ther, War versus Peace. Interethnic relations in Lviv during the first half of the century, in: John Czaplicka, Lviv. A City in the Crosscurrents of Culture, Cambridge 2005, S. 251–284.
Pogrom in Neustettin (1881) Am 18. Februar 1881 brannte im hinterpommerschen Kreisstädtchen Neustettin (heute Szczecinek) die Synagoge vollständig nieder. Ende 1880 hatte der Ort 8.604 Einwohner, davon 239 Katholiken und 455 Juden. Obwohl die Ursache des Brandes völlig im Dunkeln lag, bezichtigten Antisemiten die jüdischen Mitbürger, ihre eigene Synagoge angezündet zu haben; aufgebrachte Juden wiederum beschuldigten die Antisemiten der Brandstiftung an dem Gotteshaus. Der Synagogenbrand fiel in eine Zeit der Hochblüte des Antisemitismus. Judenfeindliche Parteien verbreiteten fast ungehindert ihre Hetzparolen, die insbesondere in den deutschen Ostgebieten auf fruchtbaren Boden fielen. Erst wenige Tage vor dem Brand, am 13. Februar 1881, und dann erneut Ende Juni hatte der bekannte Berliner Radauantisemit Ernst Henrici in Neustettin und Umgebung unter Anwesenheit der Lokalprominenz mehrere seiner berüchtigten Hetzreden gegen die Juden gehalten und sich sogar selbst kokettierend als Brandstifter bezeichnet. Eine Neustettiner Lokalzeitung, die „Norddeutsche Presse“, ließ keine Gelegenheit aus, judenfeindliche Agitation zu betreiben. In Neustettin war infolgedessen zwischen der
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mehrheitlich antisemitischen Bevölkerung und den jüdischen Einwohnern die Stimmung zum Zerreißen gespannt. Juden konnten sich nicht auf die Straße wagen, ohne beleidigt zu werden, und ihre Geschäfte wurden boykottiert. Der Zwist kulminierte, nachdem es am 17. Juli 1881 zwischen den jüdischen Redakteuren des Lokalblatts „Neustettiner Zeitung“ (den Gebrüdern Cohn) und dem antisemitischen Bauunternehmer Luttosch zu einer Schlägerei wegen Luttosch-kritischen Zeitungsartikeln gekommen war. Luttosch wurde verletzt. Er rief daraufhin eine große Menschenmenge zusammen, um, wie er die Leute anfeuerte, alle Juden totzuschlagen. Nach der Verhaftung Luttoschs wurden Polizei und Bürgermeister von der lärmenden und drohenden Menge mit Steinen beworfen. Gegen Mitternacht forderte eine auf fast tausend Personen angewachsene Masse unter Skandierung antisemitischer Parolen Luttoschs Freilassung, zog durch die Straßen und demolierte durch Steinwürfe Fenster und Türen jüdischer Geschäfte und Häuser, wobei auch geplündert wurde. Ferner wurden die Redaktionsräume der „Neustettiner Zeitung“ verwüstet. Die zu schwache Polizei konnte des Aufruhrs nicht Herr werden. Am nächsten Abend setzten sich trotz hinzugezogener Verstärkung die Ausschreitungen fort. Zur Besänftigung der Menge ließ der Bürgermeister die Stadtkapelle patriotische Lieder spielen, wobei der alkoholisierte Mob unter „Hepp-Hepp!“-Rufen im Takt der Marschmusik erneut mit Salven von Steinwürfen jüdische Häuser demolierte. Nach der Rede eines Randalierers intonierte die Kapelle das damals populäre Lied „Schmeißt ihn raus den Juden Itzig“. Laut Augenzeugenberichten sahen die Straßen wie ein Schlachtfeld aus, Scherben aller Art und Steine bedeckten den Boden. Der Vertreter des Regierungspräsidenten machte sich vor Ort ein Bild der Lage und die Staatsanwaltschaft ermittelte. Die Neustettiner Tumulte griffen auf ganz Hinterpommern über und von dort aus auf Westpreußen und Posen. Die teils massiven Ausschreitungen nach Neustettiner Vorbild hielten mehrere Wochen lang an. Um den Aufruhr zu beenden, setzte die preußische Regierung schließlich das Militär ein, wobei es auch zu Verletzten kam. Die Berliner liberale Presse schrieb vom „Bürgerkrieg in Hinterpommern und Westpreußen“. Etliche Randalierer wurden später angeklagt und teilweise zu Gefängnisstrafen verurteilt. Nachdem die behördlichen Ermittlungen zunächst keinen Hinweis auf den Täter einer Brandstiftung der Synagoge erbracht hatten, setzte die antisemitische Bevölkerung Neustettins durch Verbreitung vager Verdächtigungen und Gerüchte alles daran, den Juden selbst die Brandstiftung ihrer eigenen Synagoge nachzuweisen, wobei auch Landrat von Bonin tätigen Anteil nahm. Im Oktober 1883 fand schließlich vor dem Landgericht Köslin ein Strafprozess gegen fünf Mitglieder der Neustettiner jüdischen Gemeinde statt. Diese wurden in einer von Vorurteilen und realitätswidrigen Zeugenaussagen geprägten Verhandlung zu Haftstrafen verurteilt. In einem neuen Prozess vor dem Landgericht Konitz wurden dann am 7. März 1884 alle Angeklagten frei gesprochen, nachdem sich die Unglaubwürdigkeit unter anderem des Hauptbelastungszeugen herausgestellt hatte. Die antisemitische Bevölkerung Neustettins wollte dieses Urteil jedoch nicht akzeptieren. Als die freigesprochenen Angeklagten und andere Juden am 8. März 1884 abends nach Neustettin zurückkehrten, wurden sie von einer erregten wartenden Menge unter „Juden raus!“-Rufen und wütenden Drohungen massiv angegriffen und zum
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Teil verprügelt. Wieder flogen Steine auf jüdische Häuser, Fenster wurden eingeworfen, in einige Gebäude drangen Aufrührer ein. Die Polizei konnte den Tumult gegen Mitternacht nur mit blankem Säbel auflösen. Nach dem Krawall erfolgte eine Verstärkung der örtlichen Polizei und die Verlegung von Militär in die Stadt. Die Lage blieb aber noch längere Zeit gespannt. Im Preußischen Abgeordnetenhaus wurden die Vorfälle ausführlich debattiert.
Literatur
Gerd Hoffmann
Barnet Hartston, Sensationalizing the Jewish question. Anti-Semitic trials and the press in the early German Empire, Leiden 2005 (Kapitel: Arson in Neustettin. The limits of antiJewish violence in the New Reich, S. 105–127). Christhard Hoffmann, Political culture and violence against minorities. The antisemitic riots in Pommerania and West Prussia, in: Christhard Hoffmann u.a. (Hrsg.), Exclusionary violence. Antisemitic riots in modern German history, Ann Arbor 2002, S. 67–92. Gerd Hoffmann, Der Prozeß um den Brand der Synagoge in Neustettin, Schifferstadt 1998. Stephen C. J. Nicholls, The burning of the synagogue in Neustettin. Ideological arson in the 1880s, Brighton 1999. Bernhard Vogt, Antisemitismus und Justiz im Kaiserreich. Der Synagogenbrand in Neustettin, in: Margret Heitmann, „Halte fern dem ganzen Lande jedes Verderben …“ Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, Hildesheim 1995, S. 379–399.
Pogrome in Odessa Die heute in der Ukraine liegende Hafenstadt Odessa wurde 1794 auf Befehl der russischen Zarin Katharina II. an der Stelle der 1789 von Russland eroberten tatarischen Siedlung Hacı Bey [Hadschi Bey] und der osmanischen Festung Yeni Dünya gegründet. Die aufblühende und boomende Hafenstadt, über die ein großer Teil des russischen Außenhandels geleitet wurde, zog aktive Menschen an. Katharina hatte sich darum bemüht, hier Griechen anzusiedeln, weil man hoffte, von deren Handelserfahrungen zu profitieren. Außerdem zog Odessa schon bald Juden an, die nicht nur aus Russland, sondern auch aus Galizien und sogar aus Deutschland in die Hafenstadt strömten. Juden machten einen erheblichen Anteil der Bevölkerung aus: Bei der Volkszählung von 1897 waren von den inzwischen über 400.000 Einwohnern etwa 124.000, also ca. 31 Prozent Juden. Dabei haben sich die Juden Odessas rasch modernisiert und assimiliert. Sie bildeten in der „unrussischen“ Stadt ein russifizierendes Element, das sich auch in der Gründung von modernen Lehranstalten und Kulturstätten äußerte. Eine Konfliktlinie verlief auf der Ebene der Konkurrenz, und hier waren es bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus die Griechen, mit denen die jüdischen Händler und Handwerker erfolgreich konkurrierten. Danach traten neben dem Mob national-russische Gruppen gegen die Juden auf. Zwischen Griechen und Juden entbrannten 1821 die Konflikte. Der Anlass des ersten Ereignisses dieser Art war die Ermordung des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel Gregor V. (1745–1821) am Osterfest, nachdem er zuvor auf Befehl des Sultans festgenommen und gefoltert worden war, weil man ihm die Unterstützung der griechischen Unabhängigkeitsbewegung unterstellte. Dabei wurde Juden der Vorwurf
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gemacht, mit den Osmanen zusammenzuarbeiten und daher für den Tod des Patriarchen mitverantwortlich zu sein. So wie die jüdischen Gemeinden von Mistras, Tripolis/ Peloponnes und Patras in Mitleidenschaft gezogen wurden bzw. ganz zu existieren aufhörten, richtete sich der griechische Hass auf die Türken auch in Odessa gegen die Juden. Die Unruhen hatten 14 Tote zur Folge, und sie dürften auch schon ein Ausdruck der Handelskonkurrenz der beiden Gruppen gewesen sein. In der vormodernen Phase waren es meist religiöse Anlässe, die zu Unruhen führten. Am 22. August 1849 motivierten die Aufforderungen, vor einer Prozession die Kopfbedeckungen abzunehmen und die Weigerung der wohl religiösen Juden, gegen sie vorzugehen und bei dieser Gelegenheit auch das umliegende Viertel zu plündern. Die Osterfeiertage waren in christlichen Gegenden oft ein Anlass für Judenpogrome, da man die Juden mit dem Christusmord in Verbindung brachte und daneben den Vorwurf kultivierte, Juden bräuchten für geheime Rituale das Blut von Christenkindern. In Odessa fürchtete man alljährlich Unruhen, die manchmal auch ausbrachen. Der Pogrom von 1859 folgte dem üblichen Muster auch westeuropäischer Aktivitäten. Griechische Seeleute machten den Juden den Ritualmordvorwurf. Der Pogrom begann am Tag des orthodoxen Osterfestes (12. April 1859) und dauerte bis zum Donnerstag (16. April) an. Ein weiterer, weitaus schlimmerer Pogrom folgte 1871 – immer noch ein Jahrzehnt bevor anderswo in Russland Pogrome ausbrachen. Wieder ging der Streit am orthodoxen Ostersonntag (28. März 1871) von Griechen aus, die sich im wirtschaftlichen Niedergang befanden, und dafür die Juden, die den bis dahin von Griechen dominierten Getreidehandel übernommen hatten, verantwortlich machten. Ihnen schlossen sich aber nun auch Russen und Ukrainer an, die partiell religiös, partiell ökonomisch motiviert waren und die Gelegenheit zu Raubzügen nutzten. Der Generalgouverneur von NeuRussland und Bessarabien, Paul Kotzebue (Pawel E. Kozebu, 1801–1884) hatte zunächst berichtet, es habe sich um die üblichen Osterstreitigkeiten gehandelt. Der Pogrom dauerte bis zum 1. April. Als er ein größeres Ausmaß annahm, zitierte der Generalgouverneur in seinem Bericht die Vorwürfe der russischen Pogromtäter, die Juden „beleidigten Christus, würden reich und saugten unser Blut“. Die Polizei griff ein, aber den Pogromtätern, von denen immerhin 1.159 festgenommen worden sein sollen, geschah wenig; sie wurden bald wieder freigelassen. Es hatte sechs Tote gegeben, acht Menschen hatten sich an geraubtem Alkohol zu Tode getrunken, 401 Läden und 335 Wohnungen wurden geplündert. Um die Reaktion des Staates entbrannte in diesem Kontext zum ersten Male ein heftiger Streit – wobei die liberale Presse den Behörden vorwarf, mit zu großer Gewalt gegen die Täter vorgegangen zu sein. Das führende liberale Blatt „Sanktpeterburgskije wedomosti“ wies die religiöse Begründung der Behörden zurück und warf nun seinerseits den Juden Ausbeutung vor, was in liberalen jüdischen Kreisen heftig enttäuschte. Nicht erst 1881, schon im Zusammenhang mit diesen Ereignissen setzte die jüdische Diskussion darüber ein, was die angemessene Reaktion auf die Judenfeindschaft sei – und damit beschritt man den Weg in den jüdischen Nationalismus und Zionismus. Nachdem die früheren Unruhen als lokale Streitigkeiten abgetan worden waren, wurde im Kontext der Ereignisse von 1871 und dann wieder 1881 von „jüdischer Ausbeutung“ als Grund für den Pogrom gesprochen. Hierbei tat sich die Zeitung „Nowo-
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rossijskij telegraf“ hervor, eines der meistgelesenen Blätter in Odessa. Die Zeitung beharrte auf der Betonung des Wirtschaftskampfes gegen die Juden, lehnte aber jede Berechtigung für Pogrome verbal klar ab. Dies hinderte sie jedoch nicht daran, gegen die Juden zu hetzen. Dass 1881 und 1882 in Odessa Pogrome stattfanden, ist angesichts der Pogromwelle, die nach der Ermordung von Alexander II. die Ukraine durchlief, nicht weiter verwunderlich. Allerdings war man hier durch die Ereignisse von 1871 vorgewarnt, sodass am 3. Mai 1881, als es zu Unruhen kam, sofort energische Maßnahmen dagegen ergriffen werden konnten, unter anderem die Bildung einer jüdischen Selbstverteidigungsmiliz, die die Unruhen weitgehend im Keime ersticken konnte. Die Miliz bestand zum größten Teil aus Universitätsstudenten, 150 jüdische Studenten wurden später verhaftet. Diese Milizbildung ist von großer Bedeutung, sie erwies sich später nämlich tatsächlich als ein wirksames Pogromverhinderungsinstrument. Nach Robert Weinberg bildete die Ablösung der griechischen durch russische und ukrainische Pogromtäter den sinkenden Einfluss der Griechen in der Stadt ab. Gleichzeitig stieg die Bedeutung der jüdischen Bewohner – nicht nur im kulturellen Leben der Stadt, sondern vor allem im wichtigen Getreidehandel, der 1910 fast zu 90 Prozent von jüdischen Firmen abgewickelt wurde. Neben einer Schicht wohlhabender Juden waren 80.000 von den damals ca. 130.000 jüdischen Einwohnern arm. Die Pogromwelle von 1881 und der Widerstand dagegen in Odessa bewirkten, dass die Stadt in den folgenden Jahren zum Zentrum des russischen Protozionismus wurde. Die in Charkiw gegründete Bilu-Gruppe machte Odessa zu ihrem Zentrum. Sie und Leo Pinskers Bewegung „Hibbat Zion“ (Liebe zu Zion) organisierten die ersten modernen zionistischen Auswanderer in das osmanische Palästina. Ostern 1905 drohte in Odessa ein neuerlicher Pogrom, als Gerüchte die Runde machten, Juden würden die Versorgung der Russen im Russisch-Japanischen Krieg sabotieren. Maßnahmen der jüdischen Selbstverteidigung verhinderten einen Ausbruch von Gewalt. Auch im Juni 1905, als der Panzerkreuzer Potemkin mit den meuternden Seeleuten in die Stadt kam, gab es vergebliche Versuche, Maßnahmen gegen Juden zu provozieren. Dies gelang erst im Oktober 1905, als Auseinandersetzungen um das Oktober-Manifest des Zaren ausbrachen. Während Bundisten rote Fahnen hissten, wandten sich zarentreue Gruppen gegen sie, und die Auseinandersetzungen verwandelten sich bald in einen Pogrom, der vom 18. bis zum 22. Oktober andauerte. Wieder stellt sich die Frage nach den Verantwortlichen. Während die herrschenden Kreise sicher gegen einen Pogrom waren, sind die pogromunterstützenden Aktionen unterer Chargen wie Polizisten etc. erkennbar. Auch dürfte sich ein Eingreifen der Ordnungskräfte schon deswegen hinausgezögert haben, weil sich für sie die zarentreuen Pogromtäter (wohl meist von den „Schwarzen Hundertschaften“ und unteren Polizeirängen mobilisierte Tagelöhner, die mit Alkohol und Geld „motiviert“ wurden) als die schützenswerte Gruppe darstellten, während die sozialistischen Juden als Staatsfeinde gelten mochten. Weinberg belegt anschaulich, dass hier auf beiden Seiten ähnliche Angehörige der Arbeiterschichten gegeneinander standen und der Pogrom damit wesentlich dazu beitrug, die gemeinsame Vertretung der Interessen von Juden und Nicht-Juden zu verhindern.
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Pogrome in der Pestzeit (1348–1350)
Während in Odessa die meisten Pogrome in der ukrainischen Geschichte stattgefunden hatten, blieb es während der schlimmsten Pogromwelle, die zwischen 1917 und 1920 über die Ukraine hinwegging (→ Pogrome in der Ukraine), in der Stadt selber ruhig, während das Umland Odessas von zahlreichen Pogromen heimgesucht wurde. Dies wird der inzwischen ausgebauten jüdischen Selbstverteidigungsmiliz, partiell bestehend aus ehemaligen Soldaten der russischen Armee, zugeschrieben, die angesichts des hohen jüdischen Bevölkerungsanteils militante Aktionen gegen Juden nicht angeraten erscheinen ließ, obwohl sich die Stadt zeitweise in der Hand des berüchtigten Otamans Grigorew befand. Es kann aber auch sein, dass anfangs die Anwesenheit alliierter Repräsentanten Pogrome verhinderte. Das Ende der Juden Odessas kam im Herbst 1941. Zuvor waren Juden noch aus dem autoritären und antisemitischen Rumänien nach Odessa geflohen, nun ermordeten die Deutschen der Einsatzgruppe D im Verbund mit „Volksdeutschen“ und der rumänischen Armee die Juden der Stadt in mehreren Etappen. Nach der Eroberung Odessas am 16. Oktober 1941 durch die deutsche Wehrmacht wurden sofort etwa 8.000 Juden erschossen. Weitere Tausende wurden in der Stadt und in Panzergräben außerhalb ermordet, nachdem von den Sowjets zurückgelassene Sprengladungen hochgegangen waren. 5.000 wurden in Lager deportiert, und in der Stadt wurden für die verbliebenen 30.000 Juden zwei Ghettobezirke eingerichtet. Zwischen dem 12. Januar und dem 23. Februar 1942 wurden dann die Ghettos liquidiert und die Juden in Arbeitslager nach Transnistrien und Rumänien verschleppt, wobei auf den Transporten ein nicht geringer Prozentsatz starb. Odessa wurde für „judenrein“ erklärt und der jüdische Besitz formell im Sommer 1942 den „Volksdeutschen“ übergeben.
Literatur
Frank Golczewski
Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941–1943, Hamburg 2003. John Doyle Klier, Shlomo Lambroza (Hrsg.), Pogroms. Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge 1992. Michail Poliščuk, Evrei Odessy i Novorossii 1881–1904 [Die Juden Odessas und Neurusslands] , Moskva, Jerusalem 2002. Robert Weinberg, The Revolution of 1905 in Odessa. Blood on the Steps, Bloomington 1993. Robert Weinberg, „Visualizing Pogroms in Russian History“, in: Jewish History 12 (1998), 2, S. 71–92. Steven Zipperstein, The Jews of Odessa, 1794–1881, Stanford 1985.
Pogrome in der Pestzeit (1348–1350) Ab 1347 griff die Pest vom Mittelmeer nach Norden bis nach Großbritannien, Nordund Osteuropa aus; bis 1353 starb ca. ein Drittel der europäischen Bevölkerung. Die Seuche wurde von Geißlerzügen und einer Pogromwelle in Nordspanien, Frankreich und im Reich begleitet. Die Pogrome der Pestzeit markieren den „tiefgreifendsten Einschnitt“ in der Geschichte des Judentums im Mittelalter (Haverkamp).
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Der erste Pogrom fand 1348 in Toulon statt; die Welle der Gewalt lief durch Frankreich nach Norden, erreichte im November 1348 die Schweiz, den Oberrhein, Schwaben, Bayern, die Pfalz und Franken, 1349 Österreich, Hessen, den Mittel- und Niederrhein, Thüringen, Norddeutschland und Schlesien; die letzten Pogrome wurden 1351 in Brandenburg verübt. Mindestens 85 der ca. 350 jüdischen Stadtgemeinden im Reich wurden ausgelöscht; aus ca. 100 weiteren Städten wurden die Juden vertrieben oder flohen, sodass die Hälfte der jüdischen Stadtgemeinden vor 1348 zerstört wurde. Die Pogrome waren meist keine spontane Reaktion auf die Pest, sondern setzten ältere Muster der Gewalt fort. In Toulon begann die Gewalt am Palmsonntag nach dem Gottesdienst mit der Verlesung der Passion Christi. In Savoyen griff man 1348 auf die zuerst 1321 gegen Juden erhobene Anklage der Brunnenvergiftung zurück, nun zur Pestursache erklärt; unter Folter gestanden Juden das angebliche Verbrechen. Papst Clemens VI. (1342–1352) dagegen verurteilte im pestverseuchten Avignon die Pogrome mit dem Argument, dass die Pest auch dort auftrat, wo keine Juden lebten und ihr auch Juden zum Opfer fielen. Doch wurden die erpressten Geständnisse gezielt den Schweizer und von dort den deutschen Städten zur Kenntnis gebracht; die Pogrome dort fanden meist vor Ausbruch der Seuche statt. Obwohl zunächst auch andere Außenseiter, Fremde, Aussätzige und Bettler, der Verursachung der Pest beschuldigt wurden, richtete sich die Gewalt fast nur gegen Juden. Grund hierfür, so schon zeitnahe Chroniken, war der Wunsch, sich ihren Besitz anzueignen. Zwar übten oft städtische Unterschichten die Gewalt aus, doch entstammten die Anführer Zünften, Patriziat und Adel, darunter viele Schuldner. Stadtregierungen handelten unterschiedlich; sie traten den Pogromen entgegen, duldeten oder betrieben sie, manche gar nach Korrespondenz und in Absprache mit anderen Städten. In Offenburg wurde ein angeblich vergifteter Brunnen untersucht und die Anklage zurückgewiesen. In Basel gab der Rat die Juden erst angesichts der Gefahr preis, seine Macht zu verlieren. In Straßburg trat der Rat der Verfolgung entgegen, ließ dann aber einige Juden foltern, die aber nicht gestanden. Als der Rat kurz darauf stürzte, ließ die neue Stadtregierung die Juden sofort töten. Der Kölner Rat lehnte Volksaufstände zwar prinzipiell ab, verhhinderte den Pogrom aber nicht. In Erfurt drangen Patrizier auf die Vernichtung der Juden. Der Rat von Nürnberg erwirkte am 2. Oktober 1349 beim Kaiser Straffreiheit für ein Vorgehen gegen die Juden; am 16. November nahm man jüdische Häuser und eine Synagoge zur Anlage eines Marktes und einer Kirche weg; der Pogrom folgte am 5. Dezember. In den meisten Städten wurden die Schulden bei Juden gestrichen und „das Judenerbe“, die Beute, verteilt, wobei es oft zu neuen Konflikten kam. Einige Städte forderten gar die Zahlung der Schuldscheine an die Stadtkasse. Als einzige große Reichsstadt erfüllte Regensburg seine Pflicht, die jüdischen Einwohner zu schützen, wahrscheinlich aus finanziellen Interessen. Obwohl zu ihrem Schutz verpflichtet, gab Kaiser Karl IV. (1347–1378), geschwächt von Thronstreitigkeiten, die Juden außerhalb seiner Lande aus machtpolitischen Erwägungen oder Schwäche preis. Den Tätern gewährte er meist Straffreiheit; von einigen Städten forderte er einen Anteil an der Beute. Während die meisten Reichsfürsten die Lage zur Ausplünderung, Vertreibung und Tötung der Juden nutzten, duldeten der Erzbischof von Magdeburg und der Pfalzgraf bei Rhein die Juden aus Furcht vor ökonomischen Schäden.
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Pogrome in Polen (1918–1921)
Das Verhalten der jüdischen Gemeinden variierte. Wenige Juden ließen sich zwangstaufen, fielen dann aber oft späterer Gewalt zum Opfer; andere flohen. Um nicht in die Hände der Verfolger zu fallen, verbrannten sich Juden an verschiedenen Orten in ihren Häusern. Die 6.000 Köpfe starke Wormser Gemeinde, die größte im Reich, verteidigte sich einen Tag mit Waffengewalt, dann verbrannte auch sie sich selbst. Nach den Pogromen von 1348–1349 erreichte die jüdische Ansiedlung im westlichen Reich erst 500 Jahre später wieder ihren alten Stand und nie mehr ihre alte Selbstverständlichkeit.
Literatur
Ralf Schäfer
František Graus, Pest – Geißler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen 1988². Alfred Haverkamp, Die Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte, in: Alfred Haverkamp (Hrsg.), Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981, S. 27–93.
Pogrome in Polen (1918–1921) Als Auslöser der Pogrome in den ersten Jahren der Zweiten Polnischen Republik (1918–1939) dienten meist Gerüchte, Juden hätten auf polnische Soldaten geschossen oder mit den militärischen Gegnern Polens, Bolschewiken und Ukrainern, zusammengearbeitet. Die Pogrome standen in engem Zusammenhang mit dem → Ersten Weltkrieg, der eine Brutalisierung des Alltagslebens sowie die Betonung ethno-religiöser Gegensätze mit sich brachte. Die Pogrome waren symptomatisch für den politischen Paradigmenwechsel sowie die Grenzkriege, die die junge polnische Republik mit Ukrainern (1918–1919) und Sowjetrussland (1919–1921) führte. Der kurz zuvor gegründete polnische Nationalstaat war in seinen Grenzen bedroht und diese Bedrohung von außen förderte antisemitische Feindbilder. Es ergeben sich mehrere zeitliche und räumliche Unterteilungen: Die erste Pogromwelle fand noch vor dem Ende des Ersten Weltkrieges, im Frühjahr und Sommer 1918 in Westgalizien, statt. Diese Pogrome sind vergleichsweise wenig dokumentiert. Die zweite Pogromwelle traf mit der Gründung des unabhängigen polnischen Staates im November 1918 zusammen. In Kielce etwa forderte am 11. November 1918, dem Tag der Erlangung der polnischen Unabhängigkeit, ein Pogrom vier Menschenleben sowie hunderte Verletzte. Der Pogrom war ausgebrochen, nachdem sich jüdische Gruppen im Stadttheater versammelt hatten, um ihre Loyalität zum polnischen Staat zu bekunden. Zu jenem Zeitpunkt kursierten in der Stadt jedoch Gerüchte über Solidaritätsbekundungen der Juden für die Russische Revolution. Der unmittelbare Auslöser für die Gewalt war der Vorwurf, die Juden hätten aus dem Theater auf Polen geschossen. In Dutzenden weiteren Ortschaften Polens verübten Soldaten der polnischen Legionen zusammen mit der lokalen Zivilbevölkerung im November 1918 Pogrome an Juden. Weitere Pogrome waren unmittelbare Folge der Kämpfe zwischen Polen und Ukrainern um Ostgalizien. Am 22. November 1918 brach in Lemberg (Lwów) ein zweitägiger Pogrom aus (→ Pogrome in Lemberg) bei dem 72 Menschen starben, hunderte verletzt wurden und zahlreiche Häuser in Flammen aufgingen. Der Pogrom war von Legionisten und Bewohnern der Stadt begangen worden, nachdem polnische Truppen die
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Stadt nach dreiwöchiger ukrainischer Kontrolle zurückerobert hatten. Auch hier waren im Vorfeld Gerüchte in der Stadt kursiert, Juden hätten polnische Einheiten beschossen sowie gemeinsam mit Ukrainern polnische Soldaten gefoltert und ermordet. Weitere brutale Übergriffe polnischer Soldaten auf die jüdische Zivilbevölkerung erfolgten in Przemyśł, Nisko, Sanok und Jarosław. Allerdings begangen auch die Truppen der westukrainischen Volksrepublik Pogrome, etwa in Tarnopol, Sniatyn, Zytomir oder Podhajce. Die Pogrome wurden in Westeuropa und den USA schockiert aufgenommen, erzeugten ein großes mediales Echo und minderten die Sympathien für einen unabhängigen polnischen Staat im Ausland. Vor allem die Wielkopolska-Armee, die Mitte März an der galizischen Front ankam, aber auch polnische Legionisten unter General Haller gingen brutal gegen Juden vor. Diese Soldaten waren auch eine wesentliche Tätergruppe bei den Pogromen, die während des polnisch-sowjetischen Krieges in den umkämpften östlichen Grenzgebieten (poln. kresy) verübt wurden. Meist brach hier die Gewalt nach der Eroberung einer Stadt durch die polnischen Truppen aus. In Pinsk, Lida und Wilna forderten die Pogrome im Frühjahr 1919 jeweils dutzende Todesopfer. Weitere antisemitische Exzesse folgten in Brest, Wołkowysk, Minsk, Kiew sowie Gorodeja, wobei letztere drei Städte nicht Teil des polnischen Staates wurden. Ein wichtiges Pogrommotiv war der Vorwurf, Juden hätten mit den Bolschewiken zusammengearbeitet. Die Idee der „żydokommuna“ [Judenkommune] war nicht nur in polnischen Armeekreisen, sondern auch im rechtskonservativen politischen Lager weit verbreitet. Die Täter unterschieden nicht zwischen Assimilierten, Zionisten und orthodoxen Juden. Obwohl der Vorwurf besonders auf die angeblich jüdische Unterstützung für Sowjetrussland abzielte, gingen die Legionisten gezielt gegen orthodoxe Juden vor, die man rational gesehen am allerwenigsten kommunistischen Gedankenguts bezichtigen konnte, und schnitten ihnen Bärte oder Schläfenlocken ab. Die Wiedererstehung des polnischen Staates war ein starker Bezugspunkt für diese Pogrome. Dies kommt sowohl in den Äußerungen der Täter zum Ausdruck, die in vielen Fällen die Pogrome als Strafexpeditionen an den Juden sahen, ist aber auch den Berichten jüdischer Sejmabgeordneter zu entnehmen, die sich gegen das Bild vom Juden als Feind im Inneren, der Polen unterwandert, verwahrten. Die Pogromisten wähnten die neu entstandene Zentralmacht auf ihrer Seite – was dazu führte, dass es bei den Pogromen zu einem souveränen Bewusstsein von Gestaltungsmacht und einer Atmosphäre der Straflosigkeit kam. Eine völlig andere Grundlage hatten die Pogrome in der Region Rzeszów im Frühjahr 1919. Diese Ausschreitungen waren verbunden mit einer bolschewistisch ausgerichteten Bauernrevolution und mit der daraus hervorgehenden kurzlebigen Republik von Tarnobrzeg, die von der polnischen Armee Anfang 1919 aufgelöst worden war. Die Täter waren meist Bauern aus der Umgebung. Bei diesen antisemitisch konnotierten Angriffen, die sich zugleich gegen Grundbesitzer und die Staatsführung richteten und stark ökonomisch motiviert waren, wurden auch Polizei und Armee von der Menge attackiert, wie in Kolbuszowa Anfang Mai 1919. Unmittelbarer Auslöser für die Pogrome war die Ritualmordlegende, konkret das Gerücht, Juden hätten in Strzyżów vor dem Pessachfest ein Mädchen im Keller gefangen gehalten. Dies ist bemerkenswert, da in den hier untersuchten Jahren die Ritual-
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Pogrome im Russischen Bürgerkrieg (1917–1921)
mordlegende als direkter Pogromauslöser ansonsten wenig auftauchte. Die Pogrome waren in den ersten Jahren der Zweiten Polnischen Republik heterogene Ereignisse. In allen Fällen jedoch ist das Motiv der jüdischen Aggression gegen Polen – ob real oder imaginär – ein Mittel, die Pogrome als nationale Selbstverteidigung zu rechtfertigen.
Literatur
Eva Reder
Werner Bergmann, Pogrome. Eine spezifische Form kollektiver Gewalt, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1998), 4, S. 644–665. Alina Cała, Wizerunek Żyda w polskiej kulturze ludowej [Das Bild des Juden in der polnischen Volkskultur], Warszawa 1992. Leon Chasanowitsch, Die polnischen Judenpogrome im November und Dezember 1918. Tatsachen und Dokumente, Stockholm 1919. Frank Golczewski, Polnisch-Jüdische Beziehungen 1881–1922. Studie zur Geschichte des Antisemitismus in Europa, Stuttgart 1981. Leszek Kania, W cieniu orląt lwowskich. Polskie sądy wojskowe, kontrwywiad i służby policyne w bitwie o Lwów 1918–1919 [Im Schatten der Lemberger Adlerjungen. Polnische Militärgerichte, Gegenspionage und Polizeidienste in der Schlacht um Lemberg 1918– 1919], Zielona Góra 2008. Joanna Michlic, Poland’s threatening other. The image of the Jew from 1880 to the present, Lincoln/Nebraska 2006. L.V. Miljakova (Hrsg.), Kniga pogromov. Pogromy na Ukraine, v Belorussii i evropejskoj tschasti Rossii v period Graschdanskoj vojny 1918–1922 gg. Sbornik dokumentov [Das Buch der Pogrome. Pogrome in der Ukraine, in Weißrussland und den europäischen Teilen Russland während des Bürgerkrieges 1918–1922. Dokumentensammlung], Moskva 2007. Narodowy Klub Zydowski Posłów Sejmowych przy tymczasowej Radzie narodowej. Inwazja bolszewicka a żydzi. Zbiór dokumentów [Nationaler Klub jüdischer Sejm-Abgeordneter beim provisorischen Nationalrat. Die bolschewistische Invasion und die Juden. Dokumentensammlung], Warszawa 1921. Witold Sienkiewicz, Atlas historii Żydow polskich [Geschichtsatlas der polnischen Juden], Warszawa 2010.
Pogrome im Russischen Bürgerkrieg (1917–1921) Zwischen 1918 und 1920 wurden bei über 1.000 Pogromen in den Territorien des ehemaligen Russischen Reiches, vor allem aber in der Ukraine (→ Pogrome in der Ukraine), zwischen 50.000 und 200.000 Juden ermordet. Die Angaben zu den Opfern bleiben in der Literatur widersprüchlich. Der Bürgerkrieg führte damit zu der bis zu diesem Zeitpunkt größten jüdischen Katastrophe in der an Gewalt reichen Geschichte der russländischen Juden. Oleg Budnickij sprach angesichts des noch ungenügend erforschten Massenmordes von Pogromen „im Schatten des Holocaust“. Die Pogrome waren von einem exterminatorischen Charakter geprägt, der nichts mehr mit Raub oder Plünderung zu tun hatte. Die Ermordung von Juden wurde dabei von einigen Gruppen als nationale Mission begriffen, die mit der Identifizierung der Juden als Feinde der jeweiligen Anliegen legitimiert wurde. Der Bürgerkrieg ist nicht vom Erlebnis des → Ersten Weltkrieges zu trennen. Beide Konflikte wurden im Russischen Reich und in der Sowjetunion als einzige große Krise
Pogrome im Russischen Bürgerkrieg (1917–1921)
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begriffen, ohne dass klare Trennlinien gezogen werden könnten. Dieser Befund gilt auch für die eskalierende antijüdische Gewalt. Bereits im Verlauf des Ersten Weltkriegs waren antisemitische Propaganda von Seiten der Armee und gewaltsame Übergriffe gegen die jüdische Bevölkerung üblich. Die Kriegsfront verlief durch den Ansiedlungsrayon, und weil die zarische Obrigkeit die Juden kollektiv der Illoyalität und der Spionage für die Kriegsgegner verdächtigte, wurden diese brutal aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertrieben und nach Zentralrussland deportiert, wo allerdings kaum Infrastruktur für die Aufnahme von Flüchtlingen zur Verfügung stand. Während der Besetzung der Ukraine durch deutsche und österreichische Truppen im Jahr 1918 wurden ebenfalls anti-jüdische Ressentiments geschürt, indem Juden kollektiv für Schwarzhandel, Spekulationsgeschäfte sowie anti-deutsche Agitation verantwortlich gemacht wurden. Dennoch kam es zunächst nicht zu Gewaltausbrüchen. Erst als die ukrainischen Nationalisten unter Symon Petljura das Kommando übernahmen und rasch von den Bolschewiki zurückgedrängt wurden, ereigneten sich im Januar 1919 die ersten Massenmorde an den ukrainischen Juden. Petljura vermochte es nicht, seine Truppen zu disziplinieren. Im Gegenteil nutzte er die Pogrome zur Mobilisierung der ukrainischen Bevölkerung. Erst im August 1919 verurteilte Petljura die Pogrome, die unter seiner Führung und in seinem Namen stattfanden, wohl auch, um seine Verbündeten in Westeuropa nicht zu brüskieren. Neben Petljura versuchten noch weitere lokale Führer (sogenannte Atamane), die ukrainische Landbevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Der bekannteste unter ihnen war der Anarchist Nestor Machno, der zwar jüdische Mitkämpfer in seinen Reihen hatte, aber es ebenfalls versäumte, seine Truppen zu disziplinieren und Pogromen entgegenzuwirken. Andere Atamane waren bekennende Antisemiten und organisierten den Massenmord an den Juden in den von ihnen beherrschten Territorien. Die meisten Pogrome verübte die Freiwilligenarmee der Weißen Bewegung, die sich vor allem aus dem Offizierskorps der zarischen Armee und den Kosaken rekrutierte. Hier wurden antijüdische Ressentiments aus der Zarenzeit in den Kampf gegen die Bolschewiki überführt. Im Sommer 1919 eroberten die Weißen die Ukraine, dabei überfielen die Kosaken jüdische Siedlungen. Im August und September wurde das Plündern und Morden in den jüdischen Siedlungen zum Massenphänomen. Während der Rückeroberung der Ukraine durch die Rote Armee im November und Dezember 1919 nahm die geschlagene Freiwilligenarmee Rache an der jüdischen Bevölkerung. Augenzeugen berichten von unvorstellbaren Grausamkeiten. Juden wurden nicht nur erschossen und erstochen, sondern auch verbrannt, ertränkt, lebendig begraben, gefoltert und vergewaltigt. Dabei war es nicht entscheidend, ob die Juden mit den Roten oder mit den Weißen sympathisiert hatten. Auch unter dem Kommando der Roten Armee ereigneten sich vereinzelte Pogrome. Die Bolschewiki waren aber die einzigen unter den Kombattanten, die Pogrome durch die Truppen scharf verurteilten und effektiv bekämpften. Während zu Beginn des Bürgerkrieges viele Juden die Machtübernahme durch die Bolschewiki abgelehnt hatten, entwickelte sich die kommunistische Herrschaft während des Bürgerkrieges zur einzigen Autorität, die den Juden Sicherheit gewähren konnte. Zudem verstieß die Weiße Armee in zunehmendem Maße anti-kommunistische Juden aus ihren Reihen. Dadurch
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Pogrome im Russischen Reich (1903–1906)
wurde die stereotype Gleichsetzung von Juden und Bolschewiki durch die Weißen im Laufe des Bürgerkriegs zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.
Literatur
Anke Hilbrenner
Oleg V. Budnickij, Rossijskie evrei meždu krasnymi i belymi, 1917–1920 [Russländische Juden zwischen Roten und Weißen, 1917–1920], Moskva 2006. Peter Kenez, Pogroms and White Ideology in the Russian Civil War, in: John D. Klier, Schlomo Lambroza, Pogroms. Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge 1992, S. 293–313.
Pogrome im Russischen Reich (1903–1906) Die Pogrome, die sich zwischen April 1903 ( → Pogrom von Kischinew, heute Chişinău/Moldova) bis September 1906 (Pogrom von Sedlitz/Polen) im Russischen Reich ereigneten, gelten als eine zusammenhängende Phase in der Geschichte der antijüdischen Ausschreitungen der russländischen Moderne. Sie unterscheiden sich von den Pogromen der Jahre 1881 bis 1884, die ebenfalls als eine Pogromepoche zusammengefasst werden, durch ihre Brutalität und die große Zahl der Opfer. So starben in den Pogromen 1903–1906 über 3.100 Juden, über 15.000 wurden verwundet und etwa 1.500 jüdische Kinder wurden Vollwaisen. Im Gegensatz dazu waren in den Jahren 1881 bis 1884 weit weniger Opfer zu beklagen und zwischen 1884 und April 1903 ereigneten sich gar keine Pogrome, obwohl es zu gesetzlichen Diskriminierungen und kollektiven Vertreibungen durch die Obrigkeit kam. Doch die weit über 600 Pogrome zwischen 1903 und 1906, obwohl als Einheit wahrgenommen, unterscheiden sich untereinander beträchtlich durch ihre Intensität, ihre Ursachen und ihre Akteure. Den Auftakt der antijüdischen Gewalt im frühen 20. Jahrhundert markiert der Pogrom von Kischinew, der sich 1903 im Gouvernement Bessarabien ereignete. Obwohl auf diesen Auftakt noch zahlreiche weitere und weit brutalere Ausschreitungen folgen sollten, nimmt er eine zentrale Rolle in der jüdischen Erinnerung an die Pogrome der Zarenzeit und in der Historiographie ein. Ein direktes Ergebnis der schrecklichen Erfahrung von Kischinew war die Formierung jüdischer Selbstwehr-Gruppen, die in der Folge in fast allen Pogromen eine entscheidende Rolle spielen sollten. Der zweite Pogrom des Jahres 1903 ereignete sich im September in Gomel (heute Homel/Weißrussland), im Gouvernement Mogilew. Im Gegensatz zu Kischinew war die Gewalt nicht einseitig, sondern die jüdische Selbstwehr trug ihren Teil zu den Ausschreitungen bei. Im Jahr 1904 ereigneten sich 43 Pogrome. Mindestens 24 davon stehen in direktem Zusammenhang mit dem Russisch-Japanischen Krieg. Die Obrigkeit verfolgte eine aggressive Aushebungspolitik, die zu großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung führte. Zusätzlich hetzte die antisemitische Presse gegen die Juden, die angeblich die Japaner im Krieg unterstützten und die kriegerischen Anstrengungen der Russen hintertrieben. Während über 30.000 Juden in den zarischen Armeen in der Mandschurei kämpften, wurden ihre Familien im Westen des Zarenreichs ermordet und geschändet sowie ihr Besitz zerstört. In den Jahren 1903 und 1904 starben insgesamt 106 Personen in den Pogromen, 4.200 wurden verletzt.
Pogrom im Scheunenviertel (1923)
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Im Revolutionsjahr 1905 eskalierte die Gewalt in zuvor ungekanntem Ausmaß. Im Laufe des Jahres sah sich die zarische Obrigkeit immer weniger in der Lage, den revolutionären Unruhen zu begegnen und Recht und Gesetz durchzusetzen. Die gewaltsame Unterdrückung der revolutionären Gewalt, die nicht staatliche konterrevolutionäre Bewegung und der revolutionäre Kampf gegen die ungeliebte Obrigkeit erzeugte eine Situation der Normalisierung der Gewalt. Juden wurden sowohl von der Obrigkeit als auch von der antisemitischen Presse und der zarentreuen Bevölkerung als revolutionäre Unruhestifter par excellence wahrgenommen, auch wenn nur eine Minderheit unter den russländischen Juden der revolutionären Bewegung angehörte. Streiks, Demonstrationen, Straßenkämpfe und Terroranschläge führten zu gewaltsamen Konflikten zwischen Obrigkeit und Bevölkerung. Pogrome wurden in diesem Kontext vor allem als konterrevolutionäre Ausschreitungen durch nichtstaatliche Akteure, wie die sogenannten Schwarzhunderter, wahrgenommen. Vor allem nach dem „Oktobermanifest“, in dem der Zar Bürgerrechte und Mitbestimmung versprach, um die revolutionäre Krise einzudämmen, eskalierte die Gewalt. Die Zusammenstöße zwischen der revolutionären Bewegung, die das Manifest feierte, den lokalen Behörden, die diesen Kundgebungen entgegentraten, und den „Schwarzhundertern“, die der revolutionären Bewegung gewaltsam Einhalt gebieten wollten, eskalierten in Blutvergießen. Die Forschung geht von über 600 „Oktoberpogromen“ aus, die in Folge des Manifestes etwa 3.000 Juden das Leben kosteten. Allein in Odessa (→ Pogrome in Odessa) wurden im Oktober 1905 800 Juden ermordet und 5.000 verwundet. Die Ausschreitungen zogen sich bis in das Jahr 1906 hinein. Die zeitgenössischen Berichte über die Pogrome von 1903–1906 gingen davon aus, dass diese von der zarischen Regierung auf höchster staatlicher Ebene inszeniert worden waren. Diese Ansicht wurde auch von der Geschichtsschreibung vertreten, bis in den 1970er Jahren eine Revision dieser Lesart erfolgte. In der aktuellen Geschichtsschreibung über die Pogrome wird die Annahme stark gemacht, dass die Zentralmacht kein Interesse an der unkontrollierten Gewalteskalation an den Peripherien des Reiches haben konnte. Stattdessen muss in jedem Einzelfall die Verantwortung der lokalen Verantwortlichen, das Scheitern von Polizei und Militär, die Rolle der rechten Kräfte und ihre Unterstützung durch die örtlichen Behörden untersucht werden.
Literatur
Anke Hilbrenner
Schlomo Lambroza, The pogroms of 1903–1906, in: John D. Klier, Schlomo Lambroza, Pogroms. Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge 1992, S. 195–247.
Pogrom im Scheunenviertel (1923) Am 5./6. November 1923, in einer Phase gekennzeichnet von politischer Instabilität und wirtschaftlicher Not, kam es im Zentrum Berlins zu schweren antijüdischen Ausschreitungen. Die Reichshauptstadt Berlin hatte nach den russischen Pogromen von 1881/82 und im besonderen Maße nach Ausbruch der Oktoberrevolution einen verstärkten Zuzug jüdischer Flüchtlinge aus Osteuropa erlebt. Viele von ihnen ließen sich im Scheunen-
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Pogrom in Sevilla
viertel nieder, in einem Stadtteil des östlichen Berlins, welcher seit Mitte des 18. Jahrhunderts von jüdischem Leben geprägt war. Gegen Vormittag des 5. November 1923 versammelten sich Zehntausende Erwerbslose vor einem unweit des Scheunenviertels gelegenen Arbeitsamt, um Unterstützungsgelder in Empfang zu nehmen. Als sich die Nachricht verbreitete, dass kein Geld vorhanden sei, erfasste die Wartenden Erregung und Wut. Nachdem einzelne Personen, vermutlich Angehörige der völkischen Bewegung, das Gerücht gestreut hatten, dass Juden für das Ausbleiben der Zahlungen verantwortlich seien, formierte sich ein Protestzug, der sich in Richtung des Scheunenviertels in Bewegung setzte. Dort attackierte die aufgebrachte Menschenmenge, der sich inzwischen weitere Gewaltbereite angeschlossen hatten, alles ihr jüdisch Erscheinende. Von Agitatoren angetriebene Schläger, viele von ihnen Halbwüchsige, stürmten mit dem Ruf „Schlagt die Juden tot!“ durch die Straßen des Viertels, plünderten und randalierten. Die Zerstörungswut richtete sich gegen Geschäfte, Lokale und Wohnungen. Menschen wurden aus Häusern gezerrt und misshandelt. Bemerkenswert ist, dass, laut zeitgenössischen Berichten jene Hetzer, die zu den Gewalttaten gegen Juden aufriefen, nicht nur aus dem deutschvölkischen, sondern vereinzelt auch aus dem kommunistischen Lager stammten. Zudem wurde die Vermutung geäußert, dass es sich bei den Ausschreitungen um von staatsfeindlichen Kräften zum Zweck der weiteren Destabilisierung der Weimarer Republik vorbereitete Aktionen handelte. Als am Abend des 5. November sich die Ausschreitungen auf weitere Berliner Stadtteile auszuweiten drohten, verstärkte die Polizei ihre Bemühungen, Herr der Lage zu werden. Nun stellten sich Hundertschaften von Beamten dem Heer von Randalierern und Plünderern entgegen. Vorwürfe, die Beamten hätten zu Beginn der Ausschreitungen nicht entschlossen genug durchgegriffen, wurden von der Polizeiführung zurückgewiesen. Im Verlauf des zweitägigen Pogroms kam es zu zahlreichen Verletzten, einer der Gewalttäter wurde von der Polizei erschossen. Um die Lage zu beruhigen, verbot der Berliner Polizeipräsident für die folgenden Tage sämtliche antisemitischen Kundgebungen in der Stadt. Vertreter der völkischen Bewegung erklärten die Vorfälle zu verständlichen Ausbrüchen des Volkszorns. Der Berliner Judenpogrom rief jedoch auch Protest hervor. So verurteilte die katholische Kirche den Hass gegen „unsere israelitischen Mitbürger“, und die Führung der SPD bezeichnete den Pogrom als eine Schmach für das deutsche Volk.
Literatur
Phillip Wegehaupt
Gennady Estraikh, Mikhail Krutikov (Hrsg.), Yiddisch in Weimar Berlin. At the Crossroads of Diaspora Politics and Culture, Oxford 2010.
Pogrom in Sevilla → Pogrom in Spanien (1391)
Pogrome in der Slowakei (1945–1946)
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Pogrome in der Slowakei (1945–1946) Das Ende des Zweiten Weltkriegs besiegelte das Schicksal der eng mit NS-Deutschland verflochtenen Slowakischen Republik (1939–1945). Das autoritäre Regime der katholisch-nationalistischen „Hlinkova Slovenská ľudová strana“ [Hlinkas Slowakische Volkspartei, HSĽS] wurde gestürzt, und die Slowakei wurde wieder Bestandteil der neu gegründeten Tschechoslowakischen Republik. Die desolaten politischen und sozialen Verhältnisse im Land konnten allerdings nicht so schnell geändert werden. Dies gilt nicht zuletzt für den Antisemitismus, eines der charakteristischen Merkmale des HSĽS-Regimes und der slowakischen Gesellschaft vor 1945. In der Slowakei überlebten etwa 30.000 Juden den Zweiten Weltkrieg. Gleich in den ersten Wochen und Monaten nach Kriegsende wurden die Überlebenden des Holocaust mit feindlichen Haltungen von Teilen der slowakischen Bevölkerung konfrontiert. Bereits im September 1945 wurden jüdische Rückkehrer Opfer eines Pogroms in der westslowakischen Stadt Topoľčany. Einige Dutzend nichtjüdische Frauen warfen dem jüdischen Arzt Karol Berger vor, ihren Kindern „Gift“ eingeimpft zu haben. Der Arzt wurde schwer misshandelt. In der ganzen Stadt schlossen sich Gruppen nichtjüdischer Einwohner zusammen, überfielen ihre jüdischen Nachbarn und plünderten deren Eigentum. An den Ausschreitungen beteiligten sich sogar Mitglieder der herbeigerufenen Militäreinheit. Die verhafteten Unruhestifter wurden bald wieder entlassen. Die Ereignisse riefen Diskussionen über die „Judenfrage“ hervor, die den lokalen Rahmen überschritten. Der Pogrom von Topoľčany und die Reaktionen darauf deuteten an, dass die slowakische Politik und Gesellschaft nach wie vor stark antisemitisch geprägt waren. Die in den Jahren 1945 und 1946 wiederbelebte antijüdische Propaganda blieb keineswegs auf die „Reaktionäre“ oder „Arisierer“ aus dem Umfeld der ehemaligen HSĽS beschränkt. Die bereits vom HSĽS-Regime bedienten Stereotype der sozialen „Ausbeutung“ und nationalen „Unzuverlässigkeit“, mit denen die jüdischen Rückkehrer pauschal stigmatisiert wurden, fanden ein Echo nicht nur in den breiten Bevölkerungsschichten, sondern ebenfalls bei slowakischen Spitzenpolitikern. Am deutlichsten äußerte sich der antisemitische Konsens im Unwillen, den Überlebenden ihr Eigentum zurückzuerstatten. Die slowakischen Behörden zögerten, das im Mai 1946 von der tschechoslowakischen Zentralregierung verabschiedete Restitutionsgesetz umzusetzen. Im Sommer 1946 erreichte die antisemitische Stimmung in einer Gewaltwelle ihren Höhepunkt, die mehrere slowakische Regionen ergriff. Als Vorwand für die Ausschreitungen diente der Anfang August nach Bratislava einberufene „Erste Partisanen-Kongress“. Parallel dazu pöbelten alkoholisierte „Partisanen“, aus deren Reihen sich „Verwalter“ der ehemals jüdischen Besitztümer rekrutierten, jüdische Einwohner Bratislavas auf den Straßen an und überfielen sie in ihren Wohnungen. Die antisemitischen Demonstrationen in Bratislava dauerten mehrere Tage, ohne dass die Polizei ihnen wirksam entgegengetreten wäre. Sie forderten unter der jüdischen Bevölkerung mehrere, zum Teil schwere Verletzungen und Sachschaden an ihrem Eigentum. Keiner der Betroffenen erhielt irgendwelche Entschädigung, und die Täter wurden nie bestraft. Im Gegenteil, die slowakischen Regierungsbehörden nahmen sie zum Anlass, die Restitutionen des ehemaligen jüdischen Eigentums ganz einzustellen. Der dadurch abermals
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Pogrom in Spanien (1391)
bekräftigte antisemitische Konsens in der slowakischen Gesellschaft und Politik beschleunigte die Entscheidung vieler jüdischer Rückkehrer auszuwandern.
Miloslav Szabó
Literatur
Ivica Bumová, Protižidovské výtržnosti v Bratislave v historickom kontexte (august 1946) [Die antijüdischen Ausschreitungen in Bratislava im historischen Kontext (August 1946)], in: Pamäť národa [Gedächtnis der Nation] 4 (2007), 3, S. 14–29. Ivan Kamenec, Protižidovský pogrom v Topoľčanoch v septembri 1945 [Der antijüdische Pogrom in Topoľčany vom September 1945], in: Studia historica Nitriensia 8 (2000), S. 85–99.
Pogrom in Spanien (1391) Nach dreihundert Jahren relativer Prosperität für die spanischen Juden brachen im 14. Jahrhundert – eine von Hungersnöten, Pest, sozialen Konflikten und Bürgerkriegen geprägte Zeit – mehrere Gewaltwellen über sie herein, die 1391 ihren Höhepunkt erreichten. Kirche und städtisches Bürgertum verlangten von den Königen strenge Maßnahmen gegen ihre Schutzbefohlenen, die Juden. Die Volksverhetzung jedoch war das Werk von Predigern wie Ferrán Martínez, dem Erzdiakon von Écija, der in der Diözese von Sevilla die Menschen zur Verfolgung der Juden und zur Zerstörung ihrer Synagogen (die er „Häuser des Teufels“ nannte) antrieb. Den Tod des Erzbischofs und die Minderjährigkeit Heinrichs III. ausnutzend verstärkte Martínez seine Kampagne, die zum Sturm der Massen auf das Judenviertel von Sevilla am 6. Juni 1391 führte. In den darauf folgenden Wochen griff die Gewaltwelle auf fast alle Reiche der Kronen von Kastilien und Aragón über. Lediglich in der nördlichen Hochebene fiel die Gewalt geringer aus, kaum spürbar war sie in den Königreichen Murcia und Aragón (dort herrschte König Johann I.). Bei den Gewalttätigkeiten tat sich überall die breite Masse hervor, die gelegentlich auch Muslime und sogar die Reichen angriff. Im Allgemeinen versuchten die Ordnungskräfte die Unruhen zu bremsen, doch vereinzelt schlossen sie sich den Gewalttätigen an, wie etwa in Cuenca. Die Folge war die Plünderung der Judenviertel, der Tod von mehreren tausend, die Flucht vieler von ihnen nach Portugal, Granada oder in kleinere Städte, vor allem aber die massive Taufe der Juden, um so dem Tod zu entgehen. Viele Judenviertel, wie die von Sevilla und Barcelona, verschwanden fast vollständig. Eine neue antijüdische Kampagne und neue, von dem Mönch Vicente Ferrer vorangetriebene, extrem restriktive Gesetze bewirkten wenige Jahre später eine weitere Taufwelle. Als die Schutzpolitik der Monarchen um 1416 wieder aufgenommen wurde, betrug die Anzahl der jüdischen Bevölkerung weit weniger als die Hälfte von der des Jahres 1390. Die große Anzahl von Conversos [Konvertiten] erzeugte bald einen neuen Hass, der sich bei der → Vertreibung der Juden aus Spanien (1492) entscheidend auswirken sollte.
Gonzalo Álvarez Chillida Übersetzt aus dem Spanischen von Hans Huber Abendroth
Pogrome in der Ukraine
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Literatur
Emilio Mitre Fernández, Los judíos de Castilla en tiempos de Enrique III. El pogrom de 1391 [Die kastilischen Juden zur Zeit Heinrichs III. Das Pogrom von 1391], Valladolid 1994. Philippe Wolff, The 1391 pogrom in Spain. Social crisis or not? in: Past & Present 50 (1971), S. 4–18.
Pogrom in Topol’čany → Pogrome in der Slowakei (1945–1946)
Pogrome in der Ukraine Der Begriff Pogrom (russisch gromit – zerschlagen, zerstören) tauchte erstmals im Kontext der im Russländischen Imperium gegen Juden gerichteten Ausschreitungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf. Dass sich diese Handlungen in der Ukraine konzentrierten, hing nicht zuletzt damit zusammen, dass dort ein großer Teil der mit den Teilungen Polens (1772, 1793, 1795) zu Russland gekommenen Gebiete lag, in denen Juden lebten und durch die Einrichtung des Ansiedlungsrayons mit wenigen Ausnahmen bis zum Ende des Zarenreiches (auch wenn das System im → Ersten Weltkrieg aufgeweicht wurde) auch bleiben mussten. Die Pogrome des 19. Jahrhunderts verführten zur Annahme einer historischen Kontinuität des Phänomens (daher auch die Begriffsbildung) und richteten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Vertreibung der Juden aus Kiew durch den Fürsten Vladimir Monomach (1113), die Judenmassaker im Zuge des Kosaken- und Bauernaufstands unter Bogdan Chmielnicki [Khmelnytsky] (1648) und die Judenverfolgungen der „hajdamaky“ (1734, 1750, Massaker in Uman im Juni 1768). Mit dieser Basis und mit dem Wissen um die ukrainischen Helfer der Deutschen in der Shoah verbreitete sich der bis heute bestehende Eindruck, Judenverfolgungen seien in der Ukraine endemisch. Nach den anders gelagerten → Pogromen von Odessa (1821, 1859 und 1871), deren Täter primär Griechen waren, folgte dem Attentat auf den russischen Zaren Alexander II. vom 1.[13.] März 1881 eine Welle von Ausschreitungen gegen Juden, die die ganze Ukraine erfasste. Nach dem Osterfest, das von der russischen Orthodoxie am 12. April begangen wurde und mit seinen antijüdischen Aspekten seit dem Mittelalter häufig als Auslöser antijüdischer Unruhen diente, kam es zu einem ersten Pogrom in Jelisawetgrad (heute Kirowohrad) am 15. April. Danach registrierte man bis zum Jahresende 1881 über 200 weitere Pogrome, die bis auf zwei (Kischinew, Warschau) alle auf dem Gebiet der heutigen Ukraine stattfanden. Auch 1882 setzte sich die Welle in Podolien und in Taurien fort; Ostern 1882 tobte ein großer Pogrom in Balta im Gebiet Odessa. Lange Zeit hielt sich in der Historiographie die u.a. von Simon Dubnow vertretene These, der reaktionäre russische Staat habe die Pogrome ausgelöst, um die um sich greifende revolutionäre Unruhe auf einen anderen Gegner zu lenken und damit den Staat zu schützen. Seit den 1980er Jahren haben Historiker (Rogger, Aronson) zunehmend diese These verworfen, da der Staat kaum an Unruhen interessiert war, die potentiell seiner Steuerung entgleiten konnten. Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass neben der unablässigen antijüdischen Hetze rechter Publizisten und Gruppierungen sowie unter Mitwirkung lokaler Judenfeinde in Presse, Verwaltung und Öffentlichkeit eine
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Pogrome in der Ukraine
spezifische sozio-ökonomische Lage die Pogrome ausgelöst habe. So durchlebte der Südwesten Russlands (damals als Kleinrussland bezeichnet, heute als Ukraine) nach Jahren des Booms 1881 eine Krise, die die Erwerbsmöglichkeiten von Einheimischen und Zuwanderern drastisch verschlechterte. Bei manchen Juden waren zur selben Zeit erste Erfolge der Aufklärung und eines beginnenden protozionistischen Selbstbewusstseins erkennbar, welche die antijüdische Hetze, Juden seien Ausbeuter und hätten mit der Mehrheitsbevölkerung nichts im Sinn, zu bestätigen schien. Aronson sah vor allem Wanderarbeiter aus dem Norden und Menschen, die ihre Arbeitsmöglichkeiten verloren hatten und in der Gegend umherzogen, als Pogromauslöser, denen sich dann die lokalen Unterschichten und die Bauern der umliegenden Dörfer anschlossen. Ungeachtet der großen Zahl von Ausschreitungen gab es 1881/82 nur ca. 50 Todesopfer, davon etwa die Hälfte auf Seiten der Pogromtäter durch das Einschreiten von Polizei und Militär. Der neue, von dem reaktionären Oberprokuror des Heiligen Synods Konstantin Pobedonoszew (1827–1907) eingestimmte Zar Alexander III. erließ am 3.[15.] Mai 1882 die sogenannten → Maigesetze, die gegen die Juden gerichtet waren. Davon ausgehend, dass es einen berechtigten Grund gegeben haben müsste, warum die Judenpogrome stattgefunden hatten, verfügte man, dass sich Juden nicht mehr außerhalb von Städten niederlassen durften – eines der Motive von Scholem Alejchems (1859–1916) Stück „Tewje, der Milchmann“. Die massenhaften Ausschreitungen, die außerhalb Russlands mit Entsetzen wahrgenommen wurden, popularisierten den Pogrom-Begriff und führten zur ersten großen Auswanderungswelle von russischen Juden. In den nachfolgenden Jahren waren Pogrome in der Ukraine zunächst keine Massenerscheinung mehr, sie kamen jedoch immer wieder mit einer gewissen Regelmäßigkeit vor. Nicht zuletzt ging der Rückgang auf den neuen Innenminister Graf Dimitri Tolstoi (1823–1889) zurück, der den Gouverneuren ausdrücklich aufgab, Pogrome zu verhindern. Ungeachtet dessen kam es 1883 in Jekaterinoslaw (heute Dnipropetrowsk), Krywij Rih und Rostow am Don (Russland) zu Ausschreitungen, gegen die aber etwa in Rostow sofort Kosaken einschritten. Die weiteren verstreuten Pogrome in der Ukraine waren primär das Werk von Händlern, die die jüdische Konkurrenz beseitigen oder schädigen wollten. Im September 1891 ging es in Starodub (Gouvernement Černihiw), im Februar 1897 in Schpola (Gouvernement Kiew), im April 1897 in Kantakusenka (Gouvernement Cherson) gegen die Juden. Zu Ostern 1899 wütete der Mob in Nikolajew drei Tage lang gegen die Juden, und eine neue große Pogromwelle in der Ukraine initiierte der Osterpogrom 1903 im bessarabischen Kischinew (heute Chişinău), der fast 50 Tote forderte ( → Pogrom in Kischinew). Unter dem Eindruck des Protests der russischen Intelligenzija, aber auch bestärkt durch den anwachsenden jüdischen Nationalismus (Zionismus) entstanden in vielen Orten der Ukraine jüdische Milizen, die sich den Pogromtätern entgegenstellten. Die 1903/04 veranstalteten Pogrome gingen recht nahtlos in die Welle von 1905–1907 über, die im Zusammenhang mit dem Russisch-Japanischen Krieg (man beschuldigte die Juden, sich vor dem Militärdienst zu drücken) und der Revolution zu sehen sind. Gerüchte, Juden hätten Ikonen geschändet oder auf das Zarenbild geschossen, führten zu blutigen Ausschreitungen in Melitopol, Simferopol und Schytomyr (April 1905). In
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Kertsch kam es am 31. Juli 1905 zu einem regelrechten Gefecht zwischen vom Bürgermeister geführten plündernden „Patrioten“ und jüdischen Selbstverteidigungsabteilungen. Zu weiteren Pogromen kam es in Brest, Minsk und Białystok außerhalb der Ukraine. Die Pogrome von 1905 gingen u.a. auf das Konto der „Union des Russischen Volkes“ (Sojuz Russkogo Naroda), einer antisemitischen Organisation, die mit ihrer nur formal prozarischen Haltung als protofaschistisch bezeichnet werden kann. Gestützt von einem Teil der orthodoxen Kirche und unter Berufung auf den Widerstand von 1612 gegen die polnische Invasion agitierte sie und andere als „Schwarze Hundertschaften“ (Tschornyje sotni) zusammengefasste Gruppen gegen Juden. Man verbreitete auch erstmals die notorischen → „Protokolle der Weisen von Zion“ als „Beweis“ einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung. Diese wurden 1903 erstmals durch den judenfeindlichen Journalisten Pawel Kruschewan in Petersburg herausgegeben, der 1905 die bessarabische Sektion der „Union des Russischen Volkes“ leitete. Mit dem Jahr 1907 lief die Pogromwelle zunächst aus, um im Zuge des Verfalls der Staatsmacht nach der Februarrevolution 1917 wieder aufzuleben. Diese neuen Pogrome hatten insofern eine andere Qualität, als es zunächst vor allem von der Front zurückströmende desertierende Soldaten waren, die in Podolien und Wolhynien dort lebende Juden ausraubten. Dazu gehörte, dass die russische Armeeführung stets verbreitet hatte, Juden seien national unzuverlässig und sie aus den Frontregionen auch systematisch ins Landesinnere deportiert hatte. Auch die deutschen und österreichischen Truppen, die 1918 die Ukraine besetzten, trugen zum Judenhass bei, indem sie in ihren Verlautbarungen die Juden für den Schwarzhandel und damit für die ökonomische Misere verantwortlich machten. Als dann Ende 1917 der Russische Bürgerkrieg entbrannte, gehörten Pogrome zum Alltag. Es gibt eine Reihe voneinander abweichender Zählungen von Ereignissen, man kann jedoch als gesichert feststellen, dass allein in der Ukraine viele hundert Pogrome zwischen 1917 und 1920 stattgefunden haben. Die geschätzten Opferzahlen schwanken zwischen 30.000 und 100.000, wobei man aber wohl von ca. 60.000 Opfern ausgehen kann. Diese Pogrome waren nicht nur weitaus blutiger als alles, was sich im 19. Jahrhundert ereignet hatte, sie wurden auch wegen der Wirren der Bürgerkriegszeit zu einem großen Teil auf eine Weise dokumentiert (geflohene Zeitzeugen), die wenig Vertrauen in konkrete Daten weckt. In dem Maße, in dem die Ukraine eines der Hauptschlachtfelder des Bürgerkriegs war – wobei wir hier die als „ukrainische Revolution“ bezeichneten Kämpfe um die ukrainische Unabhängigkeit ebenso dazurechnen wie die polnische Besetzung des Jahres 1920, an der die Ukrainische Volksrepublik (UNR) mit Symon Petljura auf polnischer Seite teilnahm – entfällt auf sie auch wegen des hohen jüdischen Einwohneranteils ein Großteil der Pogrome. Der Höhepunkt war die Zeit zwischen Frühjahr und Herbst 1919. Die Täter gehörten allen beteiligten Gruppen an: Sowohl die zu einem Teil von autonomen Atamanen geführten Truppen der UNR als auch die zarentreuen „weißen“ Verbände unter Denikin und Wrangel plünderten und mordeten in den jüdischen Vierteln der Städte. Pogrome fanden jedoch auch seitens der verschiedenen „grünen“ Bauernarmeen statt, zu deren bekanntesten die meist als „Anarchisten“ bezeichneten Verbände Nestor Machnos aus Huljaj Pole gehörten. Sogar die Milizen und Soldaten der Bolschewiki verübten Pogrome – neben der allgemeinen Brutalisierung
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spielten dabei tief verwurzelte bäuerliche Vorstellungen und das falsche Bild der „reichen“ und „bürgerlichen“ Juden eine Rolle. Im Frühjahr 1918 geschah dies in Nowgorod Sewerski und in Seredyna-Buda, 1919 dann in Rossawa im Gebiet Kiew und in Uman. Da man sich den Bürgerkrieg nicht als ein logisch konsequentes Geschehen vorstellen darf, führten sehr unterschiedliche Motivationen zu Pogromen. So gab es für die Judenfeinde (auch aufgrund der „Protokolle“) keinen Widerspruch zwischen dem Hass der Bolschewiki auf die „besitzenden“ Juden und den seitdem nicht mehr endenden Anschuldigungen, der Bolschewismus sei ein jüdisches Phänomen und die Juden seien die Hauptakteure des „Roten Terrors“, mit dem die „Außerordentliche Kommission“ (Tscheka) des Nicht-Juden Feliks Dserschinski (Dzierżyński) das Land überzog. Tscherikower betonte, dass für die „weiße“ Armee die „Roten“ mit der Person Lew Trotzkis (des Begründers der Roten Armee) verknüpft wurden und damit die Zielrichtung der Gewalt deutlich wurde. Der berüchtigtste Ataman war Nikofor Grigorew, dessen Verband in den Gebieten Jelisaeetgrad (Kirowohrad), Tscherkasy und Cherson im Frühjahr 1919 ca. 6.000 Pogromtote angelastet werden. Grigorew war nacheinander mit der UNR, den „Weißen“, den Bolschewiki und mit Machno verbunden, der ihn dann aber wegen einer Meinungsverschiedenheit am 27. Juli 1919 erschoss oder erschießen ließ. Die Banden der Atamane fanden bei diesen Wechseln in dem Hass auf die Juden eine willkommene Konstante ihrer Aktivitäten. Außerdem mussten sie – anders als Petljura selber und Denikin – nicht auf die Meinung des Auslands achten. Da die kriegführenden politischen Parteien auf diese Hilfstruppen angesichts des Wegschmelzens eigener verlässlicher Soldaten angewiesen waren, konnten und wollten sie den antijüdischen Mord- und Raubtaten auch keinen wirksamen Widerstand entgegensetzen. Um diese Frage kreist eine bis heute ungelöste Debatte: Sowohl Petljura im Namen der UNR als auch Denikin haben Erlasse und Aufrufe verfasst, in denen sie Pogrome ausdrücklich untersagten. Denikin, den Vertreter der jüdischen Gemeinden im Juli 1919 baten, etwas gegen die Pogrome zu unternehmen, weigerte sich zunächst dies zu tun: Er behauptete, ein solcher Aufruf würde ihn in den Verdacht bringen, mit den Juden zu paktieren. Im Oktober 1919 verbot er zwar Ausschreitungen gegen Juden in Kiew, was seine Truppen aber nicht daran hinderte, dort und in der Umgebung Pogrome durchzuführen. Vermutlich war das Ziel Denikins auch eher die Erhaltung des Wohlwollens der Entente-Mächte. Bei Petljura ist die Sachlage komplizierter. Auch Tscherikower streitet nicht ab, dass die UNR Petljuras mehrere Erlasse gegen Pogrome ausgegeben hat und 1927 einen fast 300-seitigen Dokumentationsband darüber publizierte. Als die Ukraine im November 1917 ihre Selbständigkeit und damit die Lösung von Russland, aber noch nicht die Unabhängigkeit proklamierte, rächten sich russische Verbände mittels eines Pogroms in Uman. Die ukrainische Einheit, die im Januar 1919 in Berdytschiw ein Pogrom ausgeführt hat, wurde aufgelöst, und ihre Anführer wurden wie die Pogromanführer in Schytomyr erschossen. Aber auch der blutigste Pogrom von Proskuriw (heute: Chmelnytzkyj) vom 15. Februar 1919 geht auf das Konto der Petljuristen: Das 3. HajdamakenRegiment, das der UNR unterstand, ermordete unter dem Befehl des Atamans Semosenko als Antwort auf einen bolschewistischen Aufstand innerhalb weniger Stunden
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1.600 Juden und anschließend weitere 400 im nahen Felschtyn (heute Gwardijske). Vertreter des „Bund“ und anderer jüdischer Parteien bestätigten mehrfach, dass Petljura erbitterter Gegner der Pogrome war. Aber er war auch auf die Freischärler angewiesen und konnte sich ihnen gegenüber nicht durchsetzen. Daher galt er entgegen den Fakten als Pogromtäter, und sein von den Sowjets 1926 entsandter Mörder konnte seinen Freispruch vor einem französischen Gericht damit erreichen, er habe die Pogrome, in denen seine Verwandten umgekommen seien, rächen wollen. Zum Komplex der Pogrome in der Ukraine gehört auch ein Pogrom, der nichts mit Russen und Ukrainern zu tun hat. Nachdem am 1. November 1918 der (West-)Ukrainische Nationalrat einen großen Teil von Lemberg (Lwiw, Lwów) in seinen Besitz gebracht hatte, gab es einen etwa dreiwöchigen Bürgerkrieg zwischen polnischen Hilfstruppen und den Soldaten der gerade ausgerufenen Westukrainischen Volksrepublik. In dieser Auseinandersetzung um den Besitz von Lemberg erklärten sich die dortigen Juden für neutral, was die beiden anderen Parteien auch akzeptierten. Nachdem polnische Truppen dann aber Lemberg am 22. November 1918 entsetzt hatten, begannen die Soldaten, von den örtlichen Unterschichten unterstützt, einen Judenpogrom (→ Pogrome in Lemberg), der über 70 Todesopfer forderte. Eine Untersuchungskommission unter Henry Morgenthau Sr. beschrieb die Unruhen, vermied aber den Begriff Pogrom wegen angeblich fehlender Definition dieses Wortes („No fixed definition is generally understood“). Für polnische Nationalisten war dies Grund genug, einen Pogrom abzustreiten oder ihn für gerechtfertigt zu halten, da sich die „polenfreundlichen Juden“ plötzlich mit den Feinden der Polen zusammengeschlossen hätten. Die Pogromwelle in der Ukraine ebbte nach dem Ende der militärischen Auseinandersetzungen ab – dann war bis auf kleinere Zusammenstöße zwischen jüdischen und ukrainischen sowie polnischen Jugendlichen und Studenten im polnischen Galizien bis zum Zweiten Weltkrieg Ruhe. Im Zweiten Weltkrieg waren die ersten Wochen nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR von Pogromen geprägt. Zu ersten Aktivitäten kam es am 30. Juni 1941, nachdem im Anschluss an den deutschen Einmarsch im Gefängnis in Lemberg die Leichen ukrainischer Nationalisten und anderer Häftlinge gefunden worden waren, die die sowjetischen Bewacher vor ihrem Abzug ermordet hatten. Da die Juden sowohl von Polen als auch von Nationalukrainern beschuldigt wurden, mit den Sowjets verbunden gewesen zu sein, richtete sich die Volkswut gegen die Lemberger Juden. An der Hetzjagd auf Juden, der bis zu 4.000 Menschen zum Opfer gefallen sein sollen (die Zahl ist aber höchst umstritten), beteiligten sich auch die Deutschen und wahrscheinlich auch die Milizen der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Ein ähnlicher Pogrom fand am 4. Juli 1941 auch in Ternopil statt, und in einer Vielzahl westukrainischer Orte wandten sich vor allem ukrainische Bewohner im „Interregnum“ zwischen dem Abzug der Sowjets und der Ankunft der Deutschen gegen die Juden. Die Erforschung dieser Handlungen ist schwierig: SD-Chef Reinhard Heydrich hatte am 29. Juni 1941 die Einsatzgruppenchefs an seine „bereits am 17. VI. in Berlin gemachten mündlichen Ausführungen“ erinnert: „Den Selbstreinigungsbestrebungen antikommunistischer oder antijüdischer Kreise in den neu zu besetzenden Gebieten ist kein Hindernis zu bereiten. Sie sind im Gegenteil, allerdings spurenlos auszulösen, zu intensivieren wenn erforderlich und in die richtigen Bahnen zu lenken, ohne dass sich
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diese örtlichen ,Selbstschutzkreise‘ später auf Anordnungen oder auf gegebene politische Zusicherungen berufen können.“ Die darauf fußenden Versuche zu belegen, es seien die Deutschen gewesen, die erst die Ukrainer zu antijüdischen Pogromen motiviert hätten, sind allerdings mindestens in den Fällen zu falsifizieren, in denen nicht deutsches, sondern ungarisches Militär Orte besetzte, in denen Judenpogrome der Einheimischen im Gange waren und deren Fortsetzung unterband (etwa in Kolomea und Obertyn). Mit deutscher Billigung und Unterstützung organisierte die OUN Ende Juli 1941 in Lemberg die sogenannten Petljura-Tage. Im Gedenken an den 1926 ermordeten UNRFührer und in Anlehnung an dessen vorgeblich antijüdische Haltung griffen ukrainische Milizen unter Beteiligung von Einwohnern und Bauern aus der Umgebung in Lemberg Juden auf und ermordeten eine größere Zahl (die kaum überprüfbaren Angaben reichen von 2.000 bis zu 5.000 Toten). Nach diesen ersten Wochen kam es jedoch nicht mehr zu spontanen Handlungen, wenn man nicht als solche wertet, dass sich die Einheimischen an der Ghettoisierung und Ermordung der Juden in der Ukraine (wie anderswo) bereicherten. Auch nach dem Ende der deutschen Okkupation kam es in der Ukraine (anders als in Polen) trotz verbreiteter Feindseligkeit gegenüber den zurückkehrenden Juden weder zur Sowjetzeit noch danach zu Pogromhandlungen gegen die jüdischen Bewohner.
Literatur
Frank Golczewski
Henry Abramson, A prayer for the Government. Ukrainians and Jews in Revolutionary Times, 1917–1920, Cambridge 1999. Irwin Michael Aronson, Troubled waters. The Origins of the 1881 anti-Jewish pogroms in Russia, Pittsburgh 1990. Ulrich Herbeck, Das Feindbild vom ‚jüdischen Bolschewiken‘, Berlin 2009. John Doyle Klier, Shlomo Lambroza (Hrsg.), Pogroms. Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge 1992. Lidija B. Miljakova (Hrsg.), Kniga pogromov. Pogromy na Ukraine, v Belorussii i evropejskoj časti Rossii v period Graždanskoj vojny 1918–1922 gg. Sbornik dokumentov [Das Buch der Pogrome. Pogrome in der Ukraine, in Weißrussland und im europäischen Teil Russlands während des Bürgerkriegs 1918–1922. Sammelband von Dokumenten], Moskva 2007. Alexander Victor Prusin, Nationalizing a Borderland. War, ethnicity, and anti-Jewish Violence in East Galicia 1914–1920, Tuscaloosa 2005. Hans Rogger, Jewish Policies and Right-Wing Politics in Imperial Russia, London 1986. Elias Tscherikower, Semen Dubnow, Antisemitismus und Pogrome in der Ukraine 1917– 1918, Berlin 1923.
Pogrome in der Ukraine (1648–1649) → Chmielnicki-Pogrome (1648– 1649)
Pogrome in Ungarn (1946) Die Rückkehr von Überlebenden des Holocausts löste antisemitische Ausschreitungen in Ungarn aus. Zwischen Februar und Dezember 1945 sind 65.000 ungarische Juden,
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die die nationalsozialistischen Konzentrationslager und Todesmärsche überlebt hatten, in ihre Heimatorte zurückgekehrt. Mit dem Vorrücken der Roten Armee sind weitere 15.000 Juden aus dem militärischen Zwangsarbeitsdienst (munkaszolgálat) befreit worden. Die Rückkehr der Überlebenden stieß in Provinzstädten und Dörfern auf Ablehnung und verstärkte in einer krisenhaft angespannten Situation die antijüdischen Ressentiments, die sich im Jahr 1946 in Pogromen (Kunmadaras, Miskolc-Diósgyör), judenfeindlichen Predigten (Dunapentele) und Agitationen (Csárdáspuszta, Tiszaladány, Kiszombor, Debrecen) sowie im Synagogenbrand von Makó niederschlugen. Zu den konstruierten Auslösern zählten Vorwürfe des Ritualmords, der Schwarzmarktspekulation und des Judeo-Bolschewismus. Die Ursachen bzw. Hintergründe der antisemitischen Anfeindung waren komplex: (1) Eine Rolle spielten Neid und Frustration hinsichtlich der berechtigten Ansprüche der Rückkehrer auf ihr gestohlenes und unrechtmäßig verteiltes Eigentum. (2) Viele wehrten sich gegen die Erinnerung, dass sie der Deportation ihrer jüdischen Nachbarn tatenlos zugeschaut hatten; die wenigsten waren bereit ihre Schuldgefühle einzugestehen. (3) Die zeitgleich stattfindenden Kriegsverbrecherprozesse wertete die örtliche Elite (Lehrer, Pfarrer, Ärzte) als „ungerecht“ und als „Rachefeldzug der Juden“. In vielen Fällen stachelten ehemalige Pfeilkreuzler vor Prozessbeginn die Dorfbevölkerung gegen die Juden auf, um im Gegenzug Sympathieträger für die eigene Sache zu mobilisieren: Mit der Losung „die Juden sind für euer Elend schuld“ und „uns wollen sie vor Gericht zerren“ boten sie den verarmten Massen ein Ventil für soziale Unzufriedenheit. (4) Zwischenparteiliche Machtkämpfe (z.B. Kommunistische Partei versus Partei der Kleinlandwirte) instrumentalisierten wiederum die antijüdischen Ressentiments für ihre eigenen Ziele, u.a. um ihre Anhängerschaft zu stärken. (5) Nicht zuletzt bot die wirtschaftliche Krise des Jahres 1946 (enorme Inflation) einen Nährboden für die eskalierenden Anfeindungen, in deren Verlauf die Juden als Sündenböcke für die Missstände herhalten mussten. Die Täter kamen meist aus den unteren gesellschaftlichen Schichten, die eigentlichen Urheber als agents provocateurs waren örtliche Notabeln (Lehrer, Pfarrer, Bürgermeister, Parteivorsitzende, etc.), oft ehemalige Pfeilkreuzler, die die Aufhebung ihrer Verurteilung erreichen wollten und sich hierzu des Antisemitismus bedienten. Die Ordnungskräfte erwiesen sich in vielen Fällen als unwillig, die sich anbahnende Eskalation zu verhindern bzw. die tatsächlich Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen.
Kunmadaras-Pogrom Mit drei Toten und achtzehn Verletzten, zahlreichen verwüsteten und geplünderten jüdischen Wohnungen und Läden, dem äußerst brutalen Vorgehen von fast 800 Gemeindebewohnern zählt der Pogrom in Kunmadaras (20.-21. Mai 1946) zu denjenigen Ausschreitungen, die anhand eines Ritualmordvorwurfs angezettelt und entfacht worden sind. Kunmadaras liegt nordöstlich im Komitat Jász-Nagykun-Szolnok, an der Grenze zum Nationalpark Hortobágy und zählt knapp 6.000 Einwohner. Der Großteil der 300 ortsansässigen Juden ist im Mai 1944 nach Auschwitz deportiert worden. Im Frühjahr/ Sommer 1945 kehrten 73 Überlebende zurück und versuchten, ihren Lebensalltag wieder aufzunehmen und in ihren früheren Berufen Fuß zu fassen. Unmut und Spannungen entstanden in der Gemeinde, als die Rückkehrer ihr entwendetes Hab und Gut
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(Möbel, Kleidung, Haushaltsgegenstände) von denjenigen wieder zurückforderten, die sich diese unrechtmäßig angeeignet hatten. Einer der Drahtzieher der Ausschreitungen in Kunmadaras war der Lehrer János Nagy, ein Antisemit, der im Juni 1945 vom Volksgericht in Karcag zu viereinhalb Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war. Das Gericht hatte allerdings die Vollstreckung des Urteils aufgehoben und ein Revisionsverfahren für den 20. Mai 1946 angesetzt. János Nagy kam frei und nutzte die Zeit, um die Bevölkerung und die führenden lokalen Parteifunktionäre der Kleinlandwirtepartei und der Bauernpartei für seine Sache zu mobilisieren: Er agitierte gegen die angeblich kommunistisch und jüdisch beeinflussten Volksgerichte und erreichte, dass fast alle lokalen Honoratioren eine Petition zur Urteilsaufhebung unterschrieben. Mehrere hundert Personen übernahmen die Aufgabe, dieses Memorandum am 20. Mai 1946 dem Richter zu überreichen, doch die Polizei verwehrte ihnen den Zugang zum Gericht. Die Verhandlung wurde erneut vertagt, der Beschuldigte János Nagy wieder freigelassen. Bei der Rückkehr ins Dorf versuchte die „Delegation“, den örtlichen Parteifunktionär der Kommunistischen Partei einzuschüchtern und beschimpfte ihn als „Judenknecht“. In der darauffolgenden Auseinandersetzung wurde auf ihn eingeredet, er solle die Anzeige gegen Nagy zurückziehen. Da er sich dagegen vehement wehrte, zog die Masse zum Juden Ferenc Wurczel, dem Vertreter der sozialdemokratischen Partei. Nachdem Wurczel aus seiner Wohnung gelockt worden war, forderte die aufgebrachte Menge, er solle die Unschuld des Lehrers Nagy bekräftigen. Als er dies ablehnte, stürzte sich der Mob auf ihn, schlug ihn blutig und ließ ihn bewusstlos auf der Straße liegen. Die inzwischen aufgeladene antijüdische Stimmung ausnutzend, schürte János Nagy weiter den Hass und bekräftigte das im Umlauf befindliche Gerücht, die Juden würden „Christenkinder rauben“ und aus ihnen Kolbász [Salami] herstellen. Obwohl im Ort kein einziges Kind verschwunden oder als vermisst gemeldet war, verbreitete sich die „Kinder-Kolbász-Legende“ wie ein Lauffeuer. Die antijüdischen Ausschreitungen brachen am Morgen des 21. Mai auf dem lokalen Markt aus, ihr erstes Opfer war der Händler Ferenc Kuti. Mehrere Frauen umringten dessen Stand, beschimpften ihn als „Preistreiber“, zertraten seine Ware und schlugen auf ihn los. Als der Händler floh, nahmen mehrere Hundert Menschen die Verfolgung auf. Die lokalen Polizeikräfte versuchten die Menge zu beruhigen, doch als der Polizeichef „den Gebrauch von Schusswaffen“ verboten hatte, brachen die aufgebrachten Menschen in Kutis Haus ein und erschlugen ihn mit einer Eisenstange. Anschließend brachen sie prügelnd und plündernd in weitere jüdische Häuser und Läden ein. Dabei gaben sie vor, nach „verschwundenen Kindern“ zu suchen. József Rosinger, Mitglied der sozialdemokratischen Partei, wollte nach Karcag fahren, als er von mehreren Eisenbahnarbeitern umringt und zu Tode geprügelt wurde. Im Laufe der Ausschreitungen am 21. Mai sind 18 Personen schwer verletzt worden, Ferenc Neuländer erlag wenig später seinen Verletzungen. Die Losungen des Pogroms lauteten „Es reicht mit dem Volksgericht der Juden, jetzt verkünden wir die Urteile“, „Es reicht mit den Juden“, „Es reicht mit den Kommunisten“, „Lasst uns gegen die Juden zusammenhalten“, „Wir lassen unsere Kinder nicht von Juden rauben“. An den Ausschreitungen haben etwa 800 Personen teilgenommen, die Behörden nahmen 120 Personen fest, 80 von ihnen kamen in Gewahrsam. Nach
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langwierigen Verhandlungen standen drei Hauptschuldige fest, das Urteil sah eine lebenslängliche Haftstrafe vor, eine zweieinhalbjährige Gefängnisstrafe und einen Freispruch für den Lehrer János Nagy. Im Verlauf der Gerichtsprozesse äußerten viele Zeitungsreporter Verständnis für die aufgebrachte Menge, die als „arm, hungrig und barfüßig“ beschrieben wurde und die aus einer aussichtslosen Lage heraus agiert habe; manche beschuldigten die Juden der Provokation. Öffentliche Appelle an Kardinal József Mindszenty, um die katholische Kirche aufzufordern, sich in ihren Predigten gegen den Ritualmordvorwurf auszusprechen, blieben erfolglos. János Pelle, der in den 1990er Jahren einen Dokumentarfilm über Kunmadaras drehte, stellte fest, dass sich die Dorfbewohner an nichts anderes als an die Verhaftungen und Verhöre nach dem Pogrom erinnerten. Pelle zufolge zeigt sich darin, dass „das kollektive Bewusstsein der Ortsansässigen die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ nach wie vor abwehrt. Im Ort erinnert ein Denkmal an den Pogrom von 1946.
Miskolc-Diósgyör-Pogrom Die Übergangsjahre – vom Zusammenbruch des alten Systems 1945 bis zur Etablierung der kommunistischen Regierung 1948 – waren durch politische Instabilität, gesellschaftliche Desorientierung und wirtschaftlichem Notstand gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund boten sich die Juden geradezu idealtypisch als „Sündenböcke“ an. Die Vorwürfe des Schwarzmarkthandels und des Preiswuchers erregten nicht nur den Unmut der Bevölkerung, sondern ließen sich politisch instrumentalisieren, wie der Fall in Miskolc-Diósgyör (30. Juli – 1. August 1946) zeigt, wo zwei Lynchopfer und ein Schwerverletzter zu beklagen waren. Miskolc war mit 180.000 Bewohnern die drittgrößte Stadt im Nordosten Ungarns und zählte zum Zentrum der Schwerindustrie. Im Außenbezirk Diósgyör befand sich das Stahlwerk, in dem etwa 10.000 Arbeiter tätig waren. Bereits zu Jahresbeginn 1946 hatte die Inflation zur Entwertung der Löhne geführt, in deren Folge die Arbeiter zusehends in Existenznöte gerieten. Die kommunistischen Funktionäre lenkten die Aufmerksamkeit der Werkarbeiter auf die als „Schwarzmarkthaie“ bezeichneten Juden, die Kapitalisten, die „bürgerlichen Elemente“ sowie die Sozialdemokraten, die an den Versorgungsengpässen und dem Elend der Arbeiter schuld seien und ein unbeschwertes Leben führen würden. Die anschließenden Ereignisse folgten einer festgelegten Dramaturgie aus Provokation und Manipulation. Eine kommunistische Plakataktion gegen das „Parasitentum“ und die „Gewinnsucht aus der inflationären Not“ heizte die Stimmung auf. Die Karikaturen und Plakate zeigten „Spekulanten“ und auch ohne dass diese ausdrücklich als Juden bezeichnet wurden, war die Zuordnung eindeutig. Die unterschwellige Botschaft war, dass sich die Juden am Elend der Ungarn bereichern würden. Eine Kampagne gegen den jüdischen Mühlenbesitzer Sándor Rejtő, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, und dessen Kompagnon Ernő Jungreisz ergänzte das Szenario. Sie wurden wegen Spekulation angezeigt, am 28. Juli 1946 verhört und festgenommen. Die Zeitungen berichteten über einen „Schlag gegen die Spekulanten“ und präsentierten die Festgenommenen als bereits
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überführt und für schuldig befunden. Dadurch hatten die Massen ihr Objekt, an dem sie ihre Unzufriedenheit entladen konnten. Die Ausschreitungen begannen am 30. Juli 1946, als eine Kommission der Kommunistischen Partei zur Demonstration gegen die wirtschaftlichen Nöte der Arbeiter und zur Protestveranstaltung gegen „Spekulanten“ und „Kapitalisten“ aufrief, denen mehrere tausend Demonstranten folgten. Als die Demonstration im vollen Gang war, ließ die Polizei die zwei Mühlenbesitzer in einer Straßenbahn zum Internierungslager bringen, wohl wissend, dass die Straßenbahnführung mitten durch den Demonstrationszug verlief. Wie erwartet, stürzten auf dem Hauptplatz einige Demonstranten in die Straßenbahn, brüllten „Hier sind die Spekulanten!“ und zerrten sie unter Schlägen aus dem Wagen. Die passive Haltung der Ordnungskräfte vermittelte den Eindruck, dass sie die in Selbstjustiz ausartende Agitation befürworte bzw. dieser nichts entgegensetzen würde. Die judenfeindliche Stimmung eskalierte, die Hysterie brach durch provokative Schreie und Parolen aus: „Sie müssen getötet werden!“, „Unsere Kinder hungern!“, „Wir werden sie aufhängen!“ Einer der Demonstranten band dem bereits halbtot geprügelten Jungreisz einen Hosengürtel um den Hals und befestigte diesen auf einen vorbeifahrenden Rollwagen; Jungreisz wurde mehrere Meter durch die Straße geschleift und qualvoll ermordet. Als die Massen den Leichnam weiter durch die Stadt ziehen wollten, griffen die etwa 80 bislang tatenlos zuschauenden Polizisten ein und brachten ihn zum Polizeiquartier. Der bewusstlos geschlagene Rejtő wurde von einem Zivilfahnder gerettet, der ihn ins Krankenhaus brachte. Die lokale politische Polizei hat 16 Verdächtige festgenommen und verhört, einige bald darauf wieder frei gelassen. Die Freigelassenen verbreiteten die Nachricht, dass die Verhöre unter Folter von einem jüdischen Kommissar durchgeführt würden. Diese Meldung schürte die antijüdischen Ressentiments und stachelte die Arbeiter erneut auf, die am 1. August 1946 das Polizeiquartier stürmten und dabei den stellvertretenden Leiter gelyncht, ihre „Kumpel“ und weitere Gefangene befreit und die Dienststelle demoliert haben. Die zehntausend Randalierer konnten erst mit dem Einschreiten einer sowjetischen Patrouille auseinandergetrieben werden. Die des Mordes und Aufruhrs Beschuldigten waren zwar einige Monate in Haft gewesen, aber es fand kein Gerichtsverfahren statt; im Januar 1947 sind auf Anweisung des Budapester Volksgerichts alle Festgenommenen freigelassen worden. Zwischen 1945 und 1946 haben 4.000 Juden Ungarn verlassen, weitere 10.000 sind 1948–1949 nach Israel emigriert, zum Teil auch wegen der vorherrschenden antisemitischen Anfeindungen.
Literatur
Brigitte Mihok
Jelentés a kunmadarasi pogromról, 20.-21. Mai 1946 [Mitteilungen über den Pogrom in Kunmadaras], in: A magyar zsidóság 1945 után. Dokumentumok a Budapesti Zsidó Múzeum levéltárából [Das ungarische Judentum nach 1945. Dokumente aus dem Archiv des Budapester Jüdischen Museums], Kapitel VI (online). János Pelle, Az utolsó vérvádak. Az etnikai gyűlölet és a politikai manipuláció kelet-európai történetéből [Die letzten Ritualmordvorwürfe. Der ethnische Hass und die politische Manipulation in der osteuropäischen Geschichte], Budapest 1996.
Prangerumzüge im Nationalsozialismus
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Sári Reuven, After the Holocaust: National Attitudes to Jews. Antisemitism in Hungary 1945–1946, in: Holocaust and Genocide Studies 4 (1989), 1, S. 41–62.
Polenaktion → Ausweisung polnischer Juden (1938)
Prangerumzüge im Nationalsozialismus Der Pranger ist in Mitteleuropa als Strafmaßnahme gegen Angehörige der unteren Stände, die keine Geldbußen aufbringen konnten, seit dem 12. Jahrhundert bekannt. Die Prangerstrafe kam vor allem bei Vergehen gegen die sexuellen Normen einer Gemeinschaft zur Anwendung. Dazu gehörten auch Frauen, denen Ehebruch vorgeworfen wurde: Mit geschorenen Haaren wurden sie am Prangerpfahl der öffentlichen Schmach preisgegeben. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Prangerstrafe aus den bürgerlichen Gesetzbüchern der meisten deutschen Staaten gestrichen. Sie blieb jedoch weiterhin inoffizielles Mittel zur Maßregelung von Normverstößen innerhalb einer Gemeinschaft. Im Nationalsozialismus wurden Prangeraktionen benutzt, um Juden und deren nichtjüdische deutsche Frauen oder Freundinnen wegen ihrer (oft mutmaßlichen) Liebesbeziehungen als „Rasseschänder“ zu verfolgen. Dahinter stand die Vorstellung, ein Jude könne eine „deutschblütige“ Frau bereits durch einmaligen sexuellen Kontakt für immer „besudeln“, sodass sie auch mit anderen Partnern keine „arischen“ Kinder mehr zeugen könnte. Nur wenige Fälle sind bekannt, bei denen die Beziehung zwischen einer Jüdin und einem nichtjüdischen Deutschen durch Prangeraktionen verfolgt wurde. Schon seit 1930 wurde von den Nationalsozialisten gefordert, „Rassenverrat“, worunter man sich die Vermischung „deutschen Blutes“ mit dem von Juden oder Afrikanern beim Geschlechtsverkehr vorstellte, durch Gefängnis und den Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft zu bestrafen. Prangerumzüge, bei denen Frauen und Männer öffentlich der „Rassenschande“ bezichtigt, durch die Straßen getrieben, beleidigt und misshandelt wurden, sind ab 1933 dokumentiert. So wurde z.B. im Sommer 1933 ein jüdischer Weinhändler in Kassel nach einem Nachbarschaftsstreit wegen „Rassenschande“ bei der NSDAP angezeigt. SS-Männer holten ihn aus seiner Wohnung und trieben ihn durch die Straßen. Er musste ein Schild tragen, das ihn als „Rasseschänder“ denunzierte. In Nürnberg wurde ein jüdischer Kaufmann mit seiner nichtjüdischen Freundin bei einem Ausflug aufgegriffen und von SS-Männern stundenlang durch verschiedene Nürnberger Gaststätten getrieben, um von der alkoholisierten Menschenmenge beleidigt und bespuckt zu werden. Aus der anschließenden polizeilichen Haft wurde der Mann in das KZ Dachau eingewiesen. Ähnliche Aktionen sind auch für das Jahr 1934 bekannt. Im Sommer 1935 avancierten die Prangeraktionen zu einer zentralen Tätigkeit der lokalen NS-Gruppen in ganz Deutschland. Ein sowohl in der Literatur als auch in Ausstellungen und Dokumentationen oft zitierter Fall ereignete sich in der ostfriesischen Stadt Norden. Im Juli 1935 zeigte die örtliche SA-Führung die Verlobten Christine Neemann und Julius Wolff wegen „Rasseschändung“ bei der Polizei an. Als diese das Paar nicht in Schutzhaft nahm, wurden die beiden von SA-Männern zu Hause abgeholt und mit erniedrigenden Plakaten um den Hals durch die Stadt geführt. Die Fotografien,
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die von einem SA-Mitglied von dem Umzug gemacht wurden, zeigen die Bevölkerung, die teilweise sichtlich amüsiert den Umzug begleitete. Am selben Tag wurden noch weitere Nordener Bürger Opfer von Prangerumzügen. Polizeiliche Schutzhaft setzte dem Treiben schließlich ein Ende. Die Frauen und Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt. Die prozessionsartigen Prangerumzüge wurden auch in Städten, aber auffallend häufig vor allem in Landgemeinden abgehalten und wiesen einen ähnlichen Hergang auf. In einigen Fällen mussten die Opfer Musikinstrumente spielen, tanzen, eine Narrenkappe tragen oder sie wurden auf Karren zur Schau gestellt. Im Gegensatz zu den Frauen, die durch die öffentliche Haarschur und die umgehängten Plakate als Objekte der allgemeinen Verachtung und Abscheu inszeniert wurden, galt den jüdischen Männern Hohn und Spott. Den Umzügen gingen üblicherweise Hetzartikel in der radikalen lokalen Presse und nationalsozialistischen Blättern voraus: Sie verbreiteten das Bild vom lüsternen jüdischen „Rasseschänder“ und der „artvergessenen“ deutschen Frau, gern als „Judenliebchen“ bezeichnet, die, verführt und moralisch verfallen, Verrat an der Rasse begangen hatte und folglich aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen werden müsse. Die Opfer dieser Verleumdungen wurden namentlich und mit Adresse genannt. Die Haltung der Bevölkerung zu den Prangerumzügen ist schwer rekonstruierbar. Da sie am helllichten Tag und auf öffentlichen Plätzen stattfanden, zählten ihre Initiatoren dabei anscheinend auf die Zustimmung oder immerhin das Nichteinschreiten der Bevölkerung. Andererseits belegen Briefe an die lokalen Behörden den Protest zumindest einzelner Bürger, denen die Brutalität und exzessive Gewalt im Zuge der Prangerumzüge zu weit gingen. Nach Verabschiedung der → „Nürnberger Gesetze“ im Herbst 1935 wurden geschlechtliche Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden strafrechtlich verfolgt. Die Prangerumzüge gegen „Rasseschänder“ wurden von den „Rasseschandeprozessen“ der Justiz abgelöst. Mit Kriegsbeginn wurden Beziehungen zwischen ausländischen Zwangsarbeitern und deutschen Frauen mit Prangeraktionen verfolgt. Dabei galt – wie zuvor gegenüber den Juden – schon der freundschaftliche Umgang mit Ausländern als „Rassenschande“. Prangerumzüge, bei denen Frauen das Haar geschoren und sie der Öffentlichkeit als ehrlos vorgeführt und erniedrigt wurden, fanden an vielen Orten Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs statt. Ihre Opfer waren Frauen, denen vorgeworfen wurde, sich mit deutschen Soldaten eingelassen zu haben.
Literatur
Monika Flores Martínez
Birthe Kundrus, Verbotener Umgang. Liebesbeziehungen zwischen Ausländern und Deutschen 1939–1945, in: Katharina Hoffmann, Andreas Lembeck (Hrsg.), Nationalsozialismus und Zwangsarbeit in der Region Oldenburg, Oldenburg 1999, S. 149–170. Alexandra Przyrembel, „Rassenschande“. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003. Franco Ruault, „Neuschöpfer des deutschen Volkes“. Julius Streicher im Kampf gegen „Rassenschande“, Frankfurt am Main 2006.
Preußische General-Juden-Reglements (1730 und 1750)
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Eginhard Scharf, Die Verfolgung pfälzischer Frauen wegen „verbotenen Umgangs“ mit Ausländern, in: Hans-Georg Meyer, Hans Berkessel (Hrsg.), Unser Ziel – die Ewigkeit Deutschlands, Mainz 2001, S. 79–88. Herbert Schmidt, „Rassenschande“ vor Düsseldorfer Gerichten 1935 bis 1944. Eine Dokumentation, Essen 2003. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007.
Preußische General-Juden-Reglements (1730 und 1750) Das General-Juden-Reglement (GJR) vom 29. September 1730 war das erste Edikt, das für alle Juden in der gesamten preußischen Monarchie erlassen wurde. Zuvor hatte es Verordnungen in den einzelnen Landesteilen gegeben, in denen Juden geduldet waren (Cleve, Minden, Halberstadt, Mark Brandenburg, Herzogtum Crossen). Am 17. April 1750 wurde das zweite General-Juden-Reglement erlassen, das weit umfangreicher und detaillierter Rechte und Beschränkungen ausführte, ohne aber dabei die Generallinie der ersten Verordnung zu verlassen. Die Reglements von 1730 und 1750 unterscheiden sich nicht wesentlich von den neuzeitlichen → Judenordnungen, die es in den meisten Ländern des Reichs gab. Wie in anderen Ländern auch wurden die preußischen Juden als eine Gruppe der ständischen Gesellschaft behandelt, deren Rechte und Pflichten – im Gegensatz zu anderen Ständen – nicht durch altes Recht gesichert, sondern ausschließlich von fiskalischen und wirtschaftspolitischen Interessen des Staates definiert waren. Die preußischen Ordnungen waren weder vom Geist der Aufklärung noch von einer außergewöhnlichen Feindseligkeit gegen die Juden geprägt, sondern ebenso eigennützig und erbarmungslos wie die Ordnungen anderer Staaten auch. Schon zwei Jahre nach der Vertreibung der Juden aus der Mark Brandenburg im Jahre 1573 war den polnischen Juden durch ein Privileg gestattet worden, in der Mark Handel zu treiben. Dabei galt dasselbe Prinzip, das König Friedrich II. fast 180 Jahre später, im „Politischen Testament“ von 1752, nannte: „Wir haben dieses Volk nötig, um bestimmten Handel mit Polen zu treiben.“ Zur Zeit Friedrichs war die Bedeutung der jüdischen Unternehmer allerdings schon weit über die Vermittlung des Handels nur mit Osteuropa hinausgewachsen. Die Einleitung des General-Juden-Regelements von 1730 nennt als Motiv für die neue Verordnung, dass die Juden „den ihnen nur auf gewisse Maasse concedirten Handel und Gewerbe zum großen Präjudiz der Christen-Kaufleute allzuweit extendiret“. Ein zweiter Grund wird genannt, dass „unvergleitete Juden wider Unsere allergnädigste Intention sich mit eingeschlichen haben“. Die jetzt eingeführte gesetzliche Bestimmung, dass anstelle ordentlicher Schutzbriefe auch auf Lebenszeit beschränkte Duldungspatente ausgestellt werden konnten, bestätigte eine seit langer Zeit übliche Praxis. Das Edikt des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm vom 21. Mai 1671 hatte 50 jüdischen Familien aus Österreich gestattet, sich in Brandenburg und im Herzogtum Crossen (auf beiden Seiten der Oder) niederzulassen. Der Schutz galt auf 20 Jahre. Sie durften Häuser oder Wohnungen kaufen, in offenen Kramläden und Buden auf den
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Jahrmärkten „Tücher und dergleichen Waren“, alte und neue Kleider verkaufen. Der Bau einer Synagoge wurde verboten, der Gottesdienst sollte nur in häuslichen Betstuben gestattet sein. Auf zahlreiche Eingaben von christlichen Gewerbetreibenden und schließlich selbst des märkischen Landtages, die Juden wieder zu vertreiben, antwortete der Kurfürst, „dass die Juden mit ihren Handlungen Uns und dem Lande nicht schädlich, sondern vielmehr nutzbar erscheinen“. Dabei blieb es in Zukunft. 1730 wurden die Gewerberechte genauer umschrieben als 1671, vor allem um christlichen gegenüber jüdischen Kaufleuten und Handwerkern Vorteile zu verschaffen. Die jüdischen Familien wurden in drei Gruppen eingeteilt: Den sichersten Status hatten die Schutzjuden, die Schutzbriefe hatten und bis zu zwei Nachkommen „ansetzen“ durften. Jeweils zwei Söhne oder Töchter erwarben ebenfalls den Status privilegierter Schutzjuden. Die Bedingung dafür war jedoch, dass das erste Kind ein Vermögen von 1000, das zweite von 2000 Reichstalern nachweisen konnte. 1750 wurden diese Bestimmungen verschärft: Nur noch ein Kind sollte mit Schutzbrief bleiben dürfen. Weitere Nachkommen wurden wie fremde Juden behandelt und konnten einen Schutzbrief nur noch erwerben, wenn sie ein Vermögen von 10.000 Reichstalern nachweisen konnten. Da ein Jahreseinkommen von 100 Reichstalern einer Lehrer- oder Pfarrerfamilie ein bescheidenes Leben möglich machte, bedeuteten 10.000 Taler ein sehr bedeutendes Vermögen. Die zweite Gruppe bestand aus den nur auf Lebenszeit geduldeten Familien. Deren Nachkommen hatten überhaupt keine Gewissheit, im Land bleiben zu können. Die dritte Gruppe bestand aus denjenigen, die ohne Aufenthaltserlaubnis im Lande waren. Sie wurden gewöhnlich über die polnische Grenze abgeschoben. Eine zusätzliche Möglichkeit der Duldung bot die Beschäftigung unter den „publiquen Bedienten“, zu denen 1750 in Berlin nicht weniger als 55 Personen, zum Teil mit Familien, zählten. Zu ihnen gehörten der Rabbiner, Ober- und Unterkantor, Bassisten und Discantisten, Synagogendiener, Totengräber, Schächter, Bäcker, Krankenwärter, hebräische Buchdrucker, Schulmeister und andere. Die privilegierten Familienväter durften außerdem jeweils drei unverheiratete Knechte oder Mägde beschäftigen. Die Zahl der jüdischen Familien war 1730, 60 Jahre nach dem Edikt von 1671, allein in Berlin und Potsdam auf fast 120 angestiegen. Trotz der Erlaubnis, zwei Kinder anzusetzen, sollte jetzt die Zahl der Familien auf 100 beschränkt werden. Für die jungen Juden kam es in erster Linie darauf an, das für einen Schutzbrief nachzuweisende Vermögen zu erwerben. Das gelang so vielen von ihnen, dass in Berlin 1750 schon mehr als 200 Familien mit Schutzbriefen lebten. Die unübersehbaren Vorteile der Wirtschaftstätigkeit der Juden setzten sich offensichtlich gegen die vorurteilsgeleiteten Absichten durch, die Zahl der ansässigen Familien zu beschränken oder zu reduzieren. Grundsätzlich folgten die Edikte von 1730 und 1750 dem Prinzip, dass die Juden nur in denjenigen Geschäftszweigen tätig sein durften, für die Christen kein Interesse oder keine Kompetenz hatten. Bei allen Beschränkungen blieben genügend Erwerbsfelder, insbesondere im Fernhandel und überhaupt dort, wo mit hohem Risiko gehandelt wurde. 1730 wurde Juden ausdrücklich der Handel mit „Materialwaren“ verboten, mit allen Rohmaterialien also, die von Handwerkern weiter verarbeitet wurden. Mit dieser Bestimmung waren bereits die meisten Rohstoffe der Handelstätigkeit der Juden entzogen.
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Untersagt wurde 1730 auch der Handel mit Gewürzen und „Specereyen“ oder „Apothekerwaren“, mit rohen Rind- und Pferdehäuten, mit Bier und Branntwein. 1750 wurde der Verkauf von Gewürzen und Spezereien an Juden erlaubt, weil Rosinen, Mandeln, Reis, Kümmel, Anis, Senf und dergleichen den Reinheitsvorschriften genügen mussten. Der Handel mit Höckerwaren (Hering, Stockfisch, Butter, Käse, Eier, Salz, Hülsenfrüchte, Obst etc.) war mit besonderen Konzessionen erlaubt. Grundsätzlich erlaubt war 1730 der Handel mit Juwelen, Silber und allen besonders reich verarbeiteten Stoffen (Tressen, Drap d‘or, Drap d‘argent, brabantischen und sächsischen Kanten, gestickten Kleidern und Schabracken), mit Federn, gegerbtem Leder, Fellen, Perückenhaar, Kamel- und Pferdehaar, mit Baumwolle, Pferden, Vieh aus dem Ausland, Tee, Kaffee, Schokolade und mit allen ausländischen Waren, deren Einfuhr nicht ausdrücklich verboten war. Diese Bestimmungen wurden im Wesentlichen 1750 wiederholt, jetzt mit dem Zusatz: „Erlaubt ist der Handel mit allem, was in den vorstehenden Artikeln nicht ausdrücklich verboten ist.“ Zugestanden wurde auch der Handel mit Wechseln und das Geldwechseln. Die Annahme und Weitergabe von Wechseln war in hohem Maße von der Vertrauenswürdigkeit der Partner abhängig, von einem Netzwerk, in dem sich die Beteiligten an die Regeln hielten. Besonders in den überregionalen Handelsbeziehungen genossen die Juden größeres Vertrauen als christliche Kaufleute. Im Handel mit Osteuropa wurde überhaupt nur ihnen zugetraut, die Geschäftsverbindungen aufrecht halten zu können. Die Annahme und Weitergabe der zahlreichen Münzsorten setzte ebenfalls ein System voraus, in dem die notwendigen Informationen zuverlässig ausgetauscht wurden. Über 300 Silbermünzsorten waren im Umlauf. Diese große Menge kam zustande, weil der Münzfuß (immer bezogen auf die Kölnische Mark mit dem Silbergewicht von 233,855 Gramm) in regelmäßigen Abständen angepasst – das hieß immer: verschlechtert – wurde: Da die alten Münzen weiter im Umlauf blieben, stieg die Zahl unterschiedlicher Münzen und Münzgewichte ständig an. Die ganzen Gulden oder Taler und deren zahlreiche Scheidemünzen mussten bekannt sein, und nicht weniger die zahllosen Fälschungen und Abweichungen vom Münzfuß, die von den Kommissionen der Reichskreise regelmäßig bekannt gemacht und „verrufen“ wurden. Wer daher die zahllosen Münzen akzeptierte, musste täglich über die nötigen Informationen verfügen. Die erlaubten Zinsen bezogen sich in den meisten Fällen nicht auf das Ausleihen von barem Geld, sondern auf Warenlieferungen und Zahlungsverpflichtungen mit langfristigen Terminen. Es handelte sich um frühe Bankgeschäfte und um ein mit Fristen verbundenes Verrechnungswesen, ohne das der Warenverkehr im großen Umfang und über weite Distanzen nicht möglich gewesen wäre. Einen erheblich geringeren Umfang hatten Geldleihen gegen Pfänder, bei denen kleinere Beträge von Bargeld ausgeliehen wurden. Unter den Pfändern wurde nicht selten Hehlerware vermutet. In beide Edikte wurden dazu besondere Bestimmungen dazu aufgenommen. Nicht eingelöste Pfänder konnten nach Jahr und Tag vom Gläubiger unter Aufsicht der Gerichte verkauft werden. Der Zinssatz wurde ab 500 Reichstalern auf 8 Prozent, darunter auf 12 Prozent festgeschrieben. Zinseszins und die Hinzurechnung der Zinsschuld zum Kreditbetrag waren grundsätzlich ausgeschlossen. Bei einem Betrag unter 10 Reichstalern musste wö-
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chentlich 1 Pfennig je Taler gereicht werden. Der Taler entsprach 288 Pfennigen; daraus lässt sich ein jährlicher Zins von 18 Prozent errechnen. Im Vergleich mit anderen deutschen Territorien war der preußische Zinssatz hoch. In Hessen-Kassel etwa betrug er bei Beträgen unter 20 Talern 8 Prozent, darüber 6 Prozent. Bürgerliche Handwerke wurden den Juden in beiden Reglements verboten. Erlaubt waren das „Ausnähen weißer Waren“, Gold- und Silbersticken, 1730 auch noch das Gold- und Silberscheiden, das 1750 der königlichen Münze vorbehalten wurde. Jüdische Unternehmer wie Itzig oder Ephraim konnten dann zwar die königliche Münze pachten, die Verarbeitung des Edelmetalls und das Prägen der Münzen wurden aber unter behördlicher Aufsicht durchgeführt. Nur das mühsame „Krätz-Waschen“, das Auswaschen von Gold- und Silberresten aus der Schmelzasche, durfte weiterhin frei betrieben werden. Einige weitere geduldete Handwerke, für die es keine zünftischen Beschränkungen gab, kamen hinzu, etwa das Glasschleifen, Brillenmachen, die Diamanten- und Steinschleiferei. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzte die preußische Verwaltung die Handwerkstätigkeit von Juden an manchen Orten auch gegen die Zünfte durch, indem sie von den Kriegs- und Domänenkammern auf mittlerer Regierungsebene „Freimeister“-Briefe ausstellen ließ. Erlaubt blieb den Juden in beiden Reglements außerdem das Petschierstechen. Die Betreiber dieses Handwerks mussten besonders vertrauenswürdig sein und einen speziellen Eid ablegen. Denn zu deren Aufgaben gehörte es, Münz- und Siegelstempel für Zoll und Akzise (Verbrauchssteuer) herzustellen. Bald kamen amtliche Formulare und Zahlungsanweisungen oder Banknoten hinzu, für die von den Petschierstechern die Kupfer- und Stahlplatten gestochen wurden. Die jüdischen Petschierstecher wurden damit die ersten Banknoten- und Ausweisdrucker. Den Jüdischen Gemeinden wurden in beiden General-Juden-Reglements die Freiheit der Religionsausübung und der Schutz vor Übergriffen garantiert. Rabbiner und Älteste wurden von den Gemeinden nach einem Drei-Klassen-System gewählt. In Zeremonialangelegenheiten durften Rabbiner und Älteste der Gemeinden entscheiden. Dazu gehörten auch Eheschließungen und Eheverträge, Bestellung der Vormünder, Entscheidungen in Erbangelegenheiten. Im Reglement von 1750 gab es nur in zwei Fällen die Androhung von „Leib- und Lebensstrafe“: Bei unerlaubtem Schmelzen von Gold und Silber und bei „Mißbrauch des Jüdischen Gebets so sich anfängt Alehnu“, dem sogar die Vertreibung aller Juden aus dem Land folgen sollte. Das Gebet Alenu am Versöhnungstag (Jom Kippur) soll, so argwöhnten besonders protestantische Theologen, Beschimpfungen der christlichen Religion enthalten haben. Ein preußisches Edikt hatte 1703 verboten, am Versöhnungstage Ungebührliches über das Christentum und den Heiland auszusprechen. An der Absicht der Behörden und der Könige, den Juden einen wirksamen Schutz vor Übergriffen zu bieten, besteht kein Zweifel. Abgesehen von der obrigkeitlichen Aversion gegenüber Tumulten jeder Art waren die regelmäßigen finanziellen Leistungen der jüdischen Kaufleute Grund genug, sie und ihre Familien zu schützen. Sie bezahlten nicht nur sämtliche Abgaben, die auch von christlichen Einwohnern geleistet wurden, sondern dazu auch noch die hohen Schutzgelder, Chargen-, Servis-, Kalenderund Mons-Pietatis-Gelder. Die Abgaben mussten von den Judenschaften „in solidum“ geleistet werden. Wenn ein Mitglied der Gemeinde zahlungsunfähig wurde, mussten
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die übrigen Mitglieder dessen Verpflichtungen übernehmen. Zu den Voraussetzungen der Zahlungsfähigkeit der Gemeinden gehörte es, dass alle Juden den Jüdischen Gemeinden angehörten, dass sie ihren Geschäften ungestört nachgehen konnten und nicht ruiniert wurden. Neben der Zahl der privilegierten Schutzjuden wuchs auch diejenige der nur auf Lebenszeit Geduldeten und selbst der „unvergleiteten“ Juden. Sie waren völlig der Willkür der Behörden ausgeliefert und wurden oft genug ohne Verfahren über die Grenze nach Polen abgeschoben. Als Polen dann nach der dritten Teilung 1795 zerstört war, wurden zwar Abschiebungen nach Russland und Österreich versucht, nach energischen diplomatischen Reaktionen beider Staaten aber schließlich eingestellt. Die Gesetzgebung 1812 (→ Preußisches Emanzipationsedikt) beendete schließlich die Unterscheidung und erklärte alle im Lande ansässigen Juden zu „Inwohnern und Staatsbürgern“. Die Beschränkung der Zahl der jüdischen Familien war in allen Edikten seit 1671 sicher ernst gemeint, mit den fiskalischen und wirtschaftspolitischen Interessen des Staates jedoch nicht vereinbar. Die Vorschriften sind deshalb weder unter dem Großen Kurfürsten noch unter seinen Nachfolgern jemals eingehalten worden. Die „Beschränkung der Zahl der Juden“ blieb bis zur Gesetzgebung 1847 eine stereotyp wiederholte Maßgabe preußischer demographischer Politik. In dem Maße, in dem die Parole den tatsächlichen Interessen der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates widersprach, wurde sie zu einem ideologischen Relikt frühneuzeitlicher „Judenpolitik“. Die antisemitischen Ideologen konnten das Schlagwort umso mehr wiederholen und den Anschein erwecken, alten Grundsätzen zu folgen.
Literatur
Manfred Jehle
Mordechai Breuer, Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne, in: Michael A. Meyer, Michael Brenner (Hrsg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Band I, München 1996. Ismar Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Juden in Preußen, 2 Bände, Berlin 1912. Selma Stern, Der preußische Staat und die Juden. Dritter Teil: Die Zeit Friedrichs des Großen, 3 Bände, Tübingen 1971.
Preußisches Emanzipationsedikt (1812) Als König Friedrich Wilhelm III. am 11. März 1812 das „Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ unterzeichnete, fand ein jahrzehntelanges Ringen um die staatsbürgerliche Anerkennung der in Preußen lebenden Juden sein vorläufiges Ende. Nachdem bereits mit der preußischen Städteordnung (1808) und der Gewerbeordnung (1811) erste Erleichterungen eingetreten waren, gelang es den preußischen Regierungen unter Stein und Dohna/Altenstein nicht, eine abschließende Klärung über den Rechtsstatus der Juden herbeizuführen. Ein erster Entwurf für ein preußisches „Judenreglement“, der bereits Ende 1808 durch Friedrich Leopold von Schrötter ausgearbeitet worden war, wurde einem langwierigen Begutachtungsprozess unterzogen und dadurch hinausgezögert.
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Auch unter der Regierung des Staatskanzlers Karl August von Hardenberg, der als Fürsprecher der Juden galt, sollte es noch einmal fast zwei Jahre dauern, bis über den genauen Wortlaut des sogenannten Judenedikts abschließend entschieden war. Schon aus § 1 des Edikts wurde deutlich, dass die staatsbürgerliche Gleichstellung nicht für alle in Preußen lebenden Juden Geltung haben würde: „Die in unserem Staat jetzt wohnhaften, mit General-Privilegien, Naturalisations-Patenten, Schutzbriefen und Konzessionen versehenen Juden und deren Familien sind für Einländer und Preußische Staatsbürger zu achten.“ Obwohl sie nun mit allen staatsbürgerlichen Pflichten, zum Beispiel der Heranziehung zum Militärdienst, versehen waren, wurden den Juden insbesondere in den §§ 9 und 16 des Edikts weiterhin maßgebliche Rechte verwehrt. Ihnen blieb der Zugang zu Beamtenstellen im öffentlichen Dienst und zu Staatsämtern verschlossen, sodass Juden z.B. nicht die Möglichkeit hatten, den Beruf eines Richters, Staatsrates oder Universitätsprofessors auszuüben. Gleiches galt für den Bereich des Militärs, wo ihnen die Offiziersgrade verwehrt blieben. Viele Juden entschieden sich daher für die Taufe, konvertierten also zum Christentum, weil sie nur auf diesem Wege ein staatliches Amt erlangen oder zum Offizier befördert werden konnten. Dieser Konversionsdruck war seitens der preußischen Staatsverwaltung bei der Ausarbeitung des Emanzipationsedikts von Anfang an intendiert. Selbst Wilhelm von Humboldt, dessen Schrift „Über den Entwurf einer neuen Konstitution für die Juden“ (1809) zu den progressivsten Stellungnahmen unter den preußischen Staatsräten zählte, ging davon aus, dass die Integration der Juden durch „Verschmelzung, Zertrümmerung ihrer kirchlichen Form und Ansiedlung“ erfolgen sollte. Eine wirkliche staatsbürgerliche Gleichstellung eines Juden war also nur unter Preisgabe seiner jüdischen Identität und Kultur möglich. Integration bedeutete Assimilation mittels Taufe. Vergleicht man vor diesem Hintergrund das Preußische Emanzipationsedikt mit den beiden bereits 1808 in Baden und Westfalen erlassenen Gleichstellungsdekreten, so ist für den Bereich Preußens nur von einer „eingeschränkten Juden-Emanzipation“ (Walter Demel/Uwe Puschner) zu sprechen. Trotz der genannten Einschränkungen wurde die Verabschiedung des Emanzipationsedikts von den jüdischen Gemeinden in Preußen einhellig begrüßt, was sich u.a. an der zahlreichen Beteiligung jüdischer Bürger an den Befreiungskriegen ab 1813 zeigte. Nach dem Sieg über Napoleon und mit Einsetzen der Restauration ab 1815 wurden die staatsbürgerlichen Rechte der Juden in Preußen wieder zunehmend beschnitten. Antisemitische Hetzschriften, wie die des Berliner Professors Friedrich Rühs mit dem Titel „Über die Ansprüche der Juden auf das deutsche Bürgerrecht“ (1815) gewannen an Einfluss und schürten in der Bevölkerung judenfeindliche Einstellungen, die sich u. a. in den → „Hepp-Hepp-Krawallen“ des Jahres 1819, von denen auch zahlreiche preußische Städte betroffen waren, auswirkten.
Literatur
Werner Treß
Annegret Brammer, Judenpolitik und Judengesetzgebung in Preußen 1812–1847 mit einem Ausblick auf das Gleichberechtigungsgesetz des Norddeutschen Bundes von 1869 (Diss.), Berlin-West 1987.
Protokolle der Weisen von Zion
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Albert A. Bruer, Geschichte der Juden in Preussen (1750–1820), Frankfurt am Main 1991, S. 257–305. Walter Demel, Uwe Puschner (Hrsg.), Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongress 1789–1815, Stuttgart 1995, S. 207–216. Jürgen Rohlfes, Judenemanzipation in Preußen. Das „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ vom 11. März 1812, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51 (2000), 5/6, S. 333–348.
Protokolle der Weisen von Zion Unter dem Titel „Protokolle der Weisen von Zion“ (seltener „Geheimnisse der Weisen von Zion“ oder „Zionistische Protokolle“) ist eine anonyme Schrift bekannt, die von Antisemiten in aller Welt zur Diffamierung der Juden benutzt wird, indem diese bezichtigt werden, auf konspirativ-subversive Weise nach der Weltherrschaft zu streben. Die Schrift entstand wahrscheinlich um die Wende zum 20. Jahrhundert. Möglicherweise wurde sie von antisemitischen Publizisten in Russland fabriziert, um die zionistische Bewegung und Theodor Herzls Vision vom „Judenstaat“ zu diskreditieren, doch könnte sie auch von Angehörigen der zarischen Geheimpolizei in Paris verfasst worden sein mit dem Ziel, die Modernisierungs- und Industrialisierungspolitik des russischen Finanzministers Sergej Witte zu bekämpfen. Bis heute sind die genauen Umstände ihrer Entstehung ungeklärt. Vor allem die Fragen, wer an der Abfassung beteiligt war und welche Absichten dabei verfolgt wurden, sind noch immer offen – und gerade deshalb Gegenstand weitreichender Spekulationen und einer ständig wachsenden Literatur. Die „Protokolle“ geben vor, eine Rede zu dokumentieren, die ein anonymer jüdischer Führer vor Glaubensgenossen an einem ungenannten Ort zu einem ungenannten Zeitpunkt gehalten hat. In dieser Rede wird – gleichsam als ungeschütztes Selbstbekenntnis – detailliert die Strategie erläutert, mit der das international verbündete Judentum angeblich seit Jahrhunderten sein Unterminierungs- und Zerstörungswerk betreibt, um es mit Hilfe der Freimaurer in naher Zukunft zu vollenden. Mit zynischer Offenheit wird dargelegt, wie die Nationen durch Parteienhader und Klassenkämpfe, Kriege und Revolutionen zermürbt, durch den Einsatz des Goldes wirtschaftlich ruiniert und durch Rationalismus, Materialismus und Atheismus (genannt werden Darwin, Marx und Nietzsche) demoralisiert werden. Auf den Trümmern der alten Ordnung werde die jüdische Weltregierung sodann unter dem Schein der Legalität eine zentralistische und patriarchalische Diktatur errichten mit einem König aus dem Hause David an der Spitze. Dieser Weltherrscher wird als eine charismatische Gestalt beschrieben, ein Muster an Tugend, Selbstbeherrschung und Verstand. Als wohltätiger Despot, vom Volk verehrt und vergöttert, werde der jüdische König über eine befriedete, geeinte und hierarchisch geordnete Welt herrschen. Das Ziel der jüdischen Verschwörung ist eine totalitäre Fürsorgediktatur mit sozialistischen Zügen. Es ist ein Reich, in dem die blinde, willenlose Masse der Menschen zwar vollständig manipuliert, dafür aber ohne die Zumutung der Freiheit saturiert in dumpfem Glück und Frieden lebt. Erstmals erwähnt wurden die „Protokolle“ im April 1902 in einem Artikel des Petersburger Journalisten Michail Menschikow, eines bekannten Antisemiten, der sie je-
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doch als plumpe Fälschung abtat. Die erste gedruckte Fassung erschien in Fortsetzungen im August und September 1903 in der obskuren rechtsextremen Petersburger Zeitung „Das Banner“ (Znamja) unter dem Titel „Programm der Eroberung der Welt durch die Juden“ (Programa zavoevan’ja mira evrejami). Weitere Ausgaben erschienen im Revolutionsjahr 1905 und in den folgenden Jahren in Moskau, Petersburg und in der russischen Provinz, wobei nicht nur die Zahl der Abschnitte oder „Protokolle“ (zwischen 22 und 27) und ihr Inhalt, sondern auch die Angaben zu Alter und Herkunft erheblich divergierten. Mal wurde eine Verbindung zum Zionismus behauptet, mal wurde sie bestritten. Die Fassung, die schließlich weltbekannt werden sollte (sie umfasst 24 „Protokolle“), erschien erstmals im Dezember 1905 in einem Erbauungsbuch des religiösen Schriftstellers Sergej Nilus, der den Text im Rahmen seines apokalyptischen Weltbildes als Vorzeichen der Herrschaft des Antichrist und seiner jüdischen Verbündeten interpretierte. Im vorrevolutionären Russland fanden die „Protokolle“ nur geringe Resonanz, und es gibt keine Hinweise, dass sie unmittelbar zur Anstachelung antisemitischer Gewalt benutzt wurden. Erst die Erschütterungen des Weltkriegs, der Zusammenbruch der Monarchien, der Umsturz der Bolschewiki, die die „Weltrevolution“ verkündeten, die Wirtschaftskrisen und sozialen Unruhen weckten das Bedürfnis nach einfachen Erklärungen und Schuldzuweisungen, das die „Protokolle“ auf geradezu ideale Weise bedienen. Nachdem sie von russischen Emigranten 1918/19 nach Westeuropa und in die USA gebracht worden waren, um vor der „jüdisch-bolschewistischen Gefahr“ zu warnen, lagen die „Protokolle“ bereits am Ende des Jahres 1920 in England, Frankreich, Deutschland, Polen, Schweden, Finnland und in den USA in Übersetzung vor. Sie „entlarvten“ die Juden als die heimlichen Herren der Welt und „enthüllten“ ihre verborgenen Motive und Machinationen. Das Streben der Juden nach globaler Herrschaft schien der Schlüssel zum Verständnis des Weltgeschehens zu sein. Das Erklärungsmuster der „Protokolle“ löste selbst Gegensätze wie Bolschewismus und internationale Hochfinanz, die beide als Bundesgenossen der jüdischen Verschwörung figurierten. Für den Glauben an die Verschwörung war die Frage, ob es sich bei den „Protokollen“ um ein authentisches Dokument handele, letztlich belanglos. Entscheidend war allein, dass der Gang der Geschichte in Übereinstimmung mit ihren angeblichen Vorhersagen verlief. Dadurch galt ihre „innere Wahrheit“ als erwiesen, mochten sie auch eine Erfindung sein. Einen starken Eindruck machten die „Protokolle“ in England, wo zunächst sogar ein Teil der bürgerlichen Presse – darunter die „Times“ – geneigt war, ihre Echtheit anzuerkennen. In den USA ließ Henry Ford sie 1920 in seiner auflagenstarken Zeitung „The Dearborn Independent“ in einer adaptierten Version veröffentlichen. Unter dem Titel „The International Jew“ erschien die Artikelserie auch als Buch, das in 16 Sprachen übersetzt zu einem internationalen Bestseller wurde. In Deutschland waren es völkische und nationalsozialistische Kreise – darunter Ludwig Müller (Pseudonym Gottfried zur Beek), Theodor Fritsch und Alfred Rosenberg –, die sich der Kommentierung und Verbreitung der „Protokolle“ annahmen. Hitler erwähnte die „Weisen von Zion“ in den frühen 1920er Jahren gelegentlich in seinen Reden, und 1924 machte er eine längere Bemerkung zu den „Protokollen“ in „Mein
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Kampf“. Auch später bediente er sich des Mythos der jüdischen Weltverschwörung als Propagandawaffe, doch bezog er sich dabei nur selten ausdrücklich auf die „Protokolle“. Dies gilt auch für andere Mitglieder der nationalsozialistischen Führungsspitze. Während Goebbels bis zuletzt den Kampf gegen die jüdische Weltherrschaft predigte und auch das Bild vom Juden als dem „Antichrist der Weltgeschichte“ gebrauchte, erwähnte er in seinen umfangreichen Tagebüchern die „Protokolle“ nur ein einziges Mal (13. Mai 1943), wobei er offen ließ, ob sie echt oder „von einem genialen Zeitkritiker erfunden worden“ seien. Nach 1939 wurden die „Protokolle“ in Deutschland nicht mehr aufgelegt. Der Grund ist unbekannt. Vielleicht, so haben schon Zeitgenossen vermutet, fürchteten die Machthaber den Vergleich ihrer eigenen Herrschaftsmethoden und -ziele mit denen der angeblichen Weltverschwörer. Bereits 1934 hatte Walter Mehring auf die „Verwandtschaft der in den ‚Protokollen’ niedergelegten Beschlüsse mit den Maßnahmen des Dritten Reiches“ hingewiesen, und 1936 nannte Alexander Stein (Rubinstein) Hitler einen „Schüler der Weisen von Zion“. Später wies Hannah Arendt auf die „eigentümlich modernen Elemente“ der „Protokolle“ hin und bemerkte scharfsinnig: „Die Nazis begannen mit der ideologischen Fiktion einer Weltverschwörung und organisierten sich mehr oder weniger bewußt nach dem Modell der fiktiven Geheimgesellschaft der Weisen von Zion.“ Bereits Anfang der 1920er Jahre war der Nachweis erbracht worden, dass es sich bei den „Protokollen“ in weiten Teilen um eine Kompilation literarischer und publizistischer Texte handelt. Als Hauptquelle diente den unbekannten Plagiatoren das von dem französischen Anwalt Maurice Joly verfasste und 1864 anonym in Brüssel veröffentlichte Werk „Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquieu, ou la politique de Machiavel au XIXe siècle“, eine geistreiche politische Streitschrift gegen das autoritäre Regime Napoleons III., die keinerlei Anspielungen auf Juden enthält. Eine weitere Quelle bildete die antisemitische „Rede des Rabbiners“, die auf ein Kapitel in Herrmann Goedsches Sensationsroman „Biarritz“ (1868) zurückgeht. Spätere Forschung hat zudem Anleihen aus Werken der französischen und russischen Trivialliteratur sowie aus Romanen Fjodor Dostojewskis nachgewiesen. Die Frage der „Echtheit“ der „Protokolle“ war Gegenstand des weltweit beachteten → Berner Prozesses in den Jahren 1933 bis 1935 und 1937. Mit Hilfe zahlreicher Zeugen und Beweismittel suchten die jüdischen Kläger die Herkunft des Textes zu erhellen und den Nachweis der Fälschung zu bekräftigen. Im erstinstanzlichen Urteil wurden die „Protokolle“ denn auch als Plagiat und Fälschung bezeichnet und ihre Verbreiter verurteilt, doch konnten weder Gerichtsurteile noch die Aufdeckung der literarischen Quellen ihre öffentliche Karriere beenden. Gegenwärtig werden die „Protokolle“ in einem bislang ungekannten Maße weltweit in immer neuen Ausgaben verbreitet und von den unterschiedlichsten Gruppen in jeweils adaptierter Form zur judenfeindlichen Hetze benutzt: von den amerikanischen „Christian Patriots“, „White Aryans“ und „Jew-Watchers“, den Extremisten der „Nation of Islam“ und der „Islamischen Widerstandsbewegung Hamas“, von Holocaustleugnern, heidnischen Neonazis und esoterischen Anhängern des „New Age“, von orthodoxen Fundamentalisten, die vor dem Antichrist warnen, und von Kommunisten, die den „Klassenfeind“ durch die „zionistischen Weltverschwörer“ ersetzt haben, sowie nicht
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Protokolle der Weisen von Zion
zuletzt von der rapide wachsenden Zahl der Konspirologen, Apokalyptiker und Endzeitpropheten im World Wide Web. Die „Protokolle“ erweisen sich als vielfältig verwendbar und eignen sich nicht nur zur Diffamierung der Juden. Wiederholt wurden sie den Illuminaten, den Rosenkreuzern oder den Theosophen zugeschrieben. Auch die Verfasser des 1982 erschienenen internationalen Bestsellers „The Holy Blood and the Holy Grail“ [dt. „Der Heilige Gral und seine Erben“], einer Vorlage für Dan Browns Erfolgsbuch „The Da Vinci Code“ [dt. „Sakrileg“], behaupten, die „Protokolle“ hätten nichts mit einer jüdischen Verschwörung zu tun, vielmehr entstammten sie dem 1099 gegründeten französischen Geheimorden der „Prieuré de Sion“, dessen prominente Mitglieder auf konspirative Weise versuchten, die Dynastie der Merowinger – Nachkommen von Jesus und Maria Magdalena – wieder an die Macht zu bringen. Die ungebrochene Attraktivität der „Protokolle“ dürfte nicht zuletzt in ihrer apokalyptischen Qualität begründet sein, geben sie doch vor, den geheimen Plan zu enthüllen, nach dem die weltweit agierenden Verschwörer die Geschichte auf ihr Endziel hinlenken. Die Einheit des historischen Prozesses beruht in der jüdisch-christlichen Vorstellung auf dem Plan Gottes („Vorsehung“), der den Gläubigen in seinem Anfang und Ende sowie den wesentlichen Etappen geoffenbart worden ist. Der Marxismus kennt den Stufenplan der Geschichte, deren „innre verborgne Gesetze“ und „treibende Mächte“ (Friedrich Engels) sich erst dem fortschrittlichen Bewusstsein erschließen. Ob im kosmischen Kampf zwischen Gott und Satan oder im menschheitsgeschichtlichen „letzten Gefecht“ zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern – stets geht es um Erlösung und Heilung der Welt durch Benennung und Überwindung der Agenten des Verderbens. Wie andere „große Erzählungen“ (Jean-François Lyotard) befriedigt auch der Mythos der Verschwörung das Bedürfnis nach allumfassender Welterklärung und Orientierung. Die undurchschaubaren Verhältnisse und anonymen Strukturen werden personifiziert zu anschaulichen, greifbaren Subjekten des Heils und des Verderbens: Der „Feind“ – das sind die satanischen Agenten einer weltumspannenden Verschwörung, die gut getarnten und verführerischen Mächte des Bösen, die es zu entlarven und zu überwinden gilt. Gemein ist allen dualistisch konstruierten universalen Heils- und Erlösungslehren, dass sie die unendliche und verwirrende Wirklichkeit radikal vereinfachen, indem sie sie auf ein eindeutiges, endliches und damit überschaubares Schema reduzieren. Gerade dadurch aber erweisen sie sich als Fiktion.
Literatur
Michael Hagemeister
Wolfgang Benz, Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung, München 2007. Norman Cohn, „Die Protokolle der Weisen von Zion.“ Der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung, Baden-Baden, Zürich 1998. Michael Hagemeister, The „Protocols of the Elders of Zion”: Between History and Fiction, in: New German Critique 35 (2008), S. 83–95. Michael Hagemeister, Die „Protokolle der Weisen von Zion“ und der Basler Zionistenkongress von 1897, in: Heiko Haumann (Hrsg.), Der Traum von Israel. Die Ursprünge des modernen Zionismus, Weinheim 1998, S. 250–273.
Rajk-Schauprozess
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Michael Hagemeister, Der Mythos der „Protokolle der Weisen von Zion“, in: Ute Caumanns, Mathias Niendorf (Hrsg.), Verschwörungstheorien: Anthropologische Konstanten – historische Varianten, Osnabrück 2001, S. 89–101. Cesare G. De Michelis, The Non-Existent Manuscript: A Study of the „Protocols of the Sages of Zion”, Lincoln, London 2004. Jeffrey L. Sammons (Hrsg.), Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar, Göttingen 20074. Vadim L. Skuratovskij, Problema avtorstva „Protokolov sionskich mudrecov“, Kiev 2001. Pierre-André Taguieff, Les „Protocoles des Sages de Sion“. Faux et usages d’un faux, Paris 2004.
La Rafle du Vélodrome d’Hiver → Vélodrome d’Hiver-Razzia (1942)
Rajk-Schauprozess Der ungarische Kommunist László Rajk (1909–1949) wurde nach einem Schauprozess hingerichtet. Rajk wurde im siebenbürgischen Székelyudvarhely geboren, das seit 1920 zu Rumänien gehörte. 1927 verließ er Rumänien und ging nach Ungarn, wo bereits mehrere seiner Brüder lebten. Er schloss sich dort der illegalen Kommunistischen Partei an. Nach 1937 beteiligte er sich als Mitglied der Internationalen Brigaden am Spanischen Bürgerkrieg. 1939 floh er nach Frankreich, wo man ihn internierte. Ende 1941 kehrte er nach Budapest zurück, wurde jedoch bald verhaftet und bis September 1944 inhaftiert. Nach Kriegsende stieg er zum Mitglied des Zentralkomitees der Ungarischen Kommunistischen Partei, der Provisorischen Nationalversammlung sowie zum Abgeordneten auf. Rajk bekleidete zwischen dem 20. März 1946 und 5. August 1948 das Amt des Innenministers. In dieser Funktion gründete er die politische Polizei (Magyar Államrendőrség Államvédelmi Osztálya / ÁVO) zur Verfolgung „faschistischer und reaktionärer Gruppierungen“. Er ließ auch zahlreiche religiöse und demokratische Institutionen verbieten. Als Innenminister setzte er die Entlassung von kommunistischen Wahlfälschern aus den Gefängnissen durch und ordnete die ersten Schauprozesse an. Zwischen August 1948 und 20. Mai 1949 war Rajk Außenminister. Im Zuge der Auseinandersetzung Stalins mit dem jugoslawischen Staatschef Tito befahl Moskau auch dem ungarischen Diktator Mátyás Rákosi die Durchführung von Schauprozessen zur Entlarvung von „Titoisten“ und „imperialistischen Spionen“. Wie in anderen Ostblockländern sollten in Ungarn vorrangig Juden abgeurteilt werden. Rákosi entledigte sich aber eines potentiellen Rivalen, als er entschied, dass neben mehreren jüdischen Personen Rajk der Hauptangeklagte sein sollte. Obwohl Rajks Vorfahren deutschstämmig und nicht jüdisch gewesen waren, erfüllte er zwei Kriterien, die in kommunistischen Schauprozessen wichtig waren: er hatte in Spanien gekämpft und war nicht im Moskauer Exil gewesen. Am 30. Mai 1949 wurde Rajk verhaftet. In der Haft weigerte sich Rajk lange Zeit, die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen zu gestehen. Er widerstand sowohl der psychischen und physischen Folter als auch der Überredung seiner ehemaligen Ministerkollegen (u.a. der spätere Ministerpräsident János Kádár), sich der Spionage schuldig zu bekennen. Erst als er davon überzeugt werden konnte, dass die Sowjetunion der ungarischen Unterstützung im Kampf gegen den
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Titoismus bedürfe und das Urteil nicht vollstreckt würde, legte er ein „Geständnis“ ab. Das Gericht sprach am 24. September für drei der acht Angeklagten, darunter Rajk, das Todesurteil aus. Rajk wurde am 15. Oktober 1949 gehängt. Im Zuge der Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen wurde Rajk 1956 rehabilitiert und sein Todesurteil für unrechtmäßig erklärt. Im Rajk-Prozess bildeten die jüdische Herkunft von drei der acht Angeklagten sowie ihre vermeintlichen Verbindungen zum Zionismus nur einen Nebenaspekt. Erst nach dem → Slánský-Prozess in der Tschechoslowakei (1952) begann auch in Ungarn eine umfassende antisemitische Hetzkampagne und 1953 die Vorbereitung eines „Zionistenprozesses“. Nach Stalins Tod wurde dieser Prozess zu einem allgemeinen Prozess wegen Wirtschaftsverbrechen umfunktioniert. Doch waren elf von achtzehn Ende 1953 Verurteilten jüdischer Herkunft gewesen.
Literatur
Franz Sz. Horváth
Tibor Hajdú, A Rajk-per háttere és fázisai [Der Hintergrund und die Phasen des Rajk-Prozesses], in: Társadalmi Szemle 11 (1992), S. 17–36. Duncan Shiels, Die Brüder Rajk. Ein europäisches Familiendrama, Wien 2008. Róbert Győri Szabó, A kommunizmus és a zsidóság Magyarországon 1945 után [Der Kommunismus und das Judentum in Ungarn nach 1945], Budapest 2009.
Räterevolution → Revolution und Konterrevolution (1918–1923)
Raubgold-Debatte in der Schweiz Im Zuge ihrer Entschädigungsverhandlungen mit postkommunistischen osteuropäischen Regierungen stießen die „Jewish Agency“ und der „World Jewish Congress“ nach 1989 auf das Problem der „nachrichtenlosen Vermögen“ von Holocaust-Opfern auf Schweizer Banken. Diese waren die Frage nach dem Krieg nie aktiv angegangen, weil sie das Bankgeheimnis integral bewahren wollten, womit sie unzureichend dokumentierten Erbansprechern den Zugang zu Konten erschwerten oder verunmöglichten. Ebenfalls ungenügend war 1962–1974 ein schweizerischer Bundesbeschluss mit Meldepflicht für solche nachrichtenlose Vermögen umgesetzt worden. Auch erste diskrete und direkte Kontakte der jüdischen Organisationen zu Schweizer Politikern und zur „Schweizerischen Bankiervereinigung“ fruchteten zwischen 1989 und 1995 wenig, weil die Bankiers keine auswärtige Kontrolle über ihre internen Abklärungen akzeptierten, die in einer ersten Umfrage 38,7 Millionen Franken aus der Kriegszeit erbrachten. Zu deren Vermittlung wurde Anfang 1996 eine „Zentrale Anlaufstelle“ beim Bankenombudsmann geschaffen. Die jüdischen Organisationen empfanden dieses Vorgehen als eigenmächtig und intransparent und begannen über die Medien Druck aufzubauen, wozu der World Jewish Congress einschlägige Dokumente vor allem in den National Archives in Washington ausfindig machte. Der Vorsitzende des Bankenausschusses im US-Senat, Alfonse D’Amato, und bundesstaatliche Organe namentlich in New York veranstalteten 1996/97 Hearings in dieser Sache. Im Anschluss an das erste Senatshearing unterzeichneten Bankiervereinigung, World Jewish Congress und Jewish Agency am 2. Mai 1996 ein
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„Memorandum of Understanding“. Danach überwachte ein von beiden Seiten besetztes „Unabhängiges Komitee angesehener Persönlichkeiten“ unter der Leitung des früheren Federal Reserve (Notenbank)-Vorsitzenden Paul Volcker ein von der Bankiervereinigung finanziertes Revisionsverfahren zu bewegungslosen Konten, die vor, während und gleich nach dem Krieg auf Schweizer Banken eröffnet worden waren. Im September 1996 veröffentlichte zudem das britische Außenministerium nach einer Anfrage des Abgeordneten und World Jewish Congress-Vizepräsidenten Greville Janner ein Memorandum zum Gold im Wert von 1,2 Milliarden Franken, welches das Dritte Reich vor allem den niederländischen und belgischen Zentralbanken geraubt und dann der Schweizerischen Nationalbank gegen konvertible Franken verkauft hatte. Den Direktoren der Nationalbank war die Herkunft des Goldes spätestens 1942 bekannt gewesen, nicht aber die erst 1997/98 erwiesene Tatsache, dass die Reichsbank auch Opfergold aus Konzentrationslagern in Höhe einer halben Million Franken in die gelieferten Barren eingeschmolzen hatte. Die Thematik verstärkte die internationale Kritik und Isolation der Schweiz, obwohl sie juristisch und historiographisch aufgearbeitet war: Im Washingtoner Abkommen vom 25. Mai 1946 hatten die Westmächte auf weitere Ansprüche an die Schweiz verzichtet, die dafür 250 Millionen Franken in Gold für den Wiederaufbau in Europa entrichtete. Im Oktober 1996 erhoben außerdem Erbansprecher unabhängig vom World Jewish Congress bei amerikanischen Gerichten Sammelklagen auf Milliardenentschädigungen gegen die drei schweizerischen Großbanken Schweizerischer Bankverein und Schweizerische Bankgesellschaft (ab 1997 fusioniert als UBS) sowie Credit Suisse. Erst angesichts der heftigen Kritik wurde die Schweizer Regierung aktiv, die den Fall lange als privatrechtliche Angelegenheit angesehen hatte. Sie setzte eine diplomatische Task Force ein und ernannt eine „Unabhängige Expertenkommission“ unter der Leitung von Jean-François Bergier zur historischen und juristischen Abklärung über „die infolge der nationalsozialistischen Herrschaft in die Schweiz gelangten Vermögenswerte“. Die Untersuchung betraf aber auch die damalige Flüchtlingspolitik und die gesamte wirtschaftliche Kooperation mit dem Dritten Reich, die inzwischen in den Medien neu diskutiert wurden. Kritische Betrachtung fand zudem die „kriegsverlängernde“ Neutralität, vor allem in einem historischen Bericht, für den der amerikanische Unterstaatssekretär Stuart Eizenstat verantwortlich zeichnete. Zum Jahresende 1996 sprach der scheidende Bundespräsident Jean-Pascal Delamuraz in einem Interview mit antisemitischem Unterton von „gewissen Kreisen“, die den Finanzplatz mit „Lösegelderpressung“ zerstören wollten. Kurz darauf entdeckte der Wachmann Christoph Meili, dass bei der Schweizerischen Bankgesellschaft Akten aus der NS-Zeit vernichtet wurden, was gegen die neuen Aufbewahrungsvorschriften verstieß; die Bank erklärte das als Fehler des Konzernarchivars und entließ Meili, weil er gegen das Bankgeheimnis verstoßen habe. Ende Januar 1997 gelangte ein Memorandum des schweizerischen Botschafters in Washington, Carlo Jagmetti, in die Medien, der die Auseinandersetzung als „Krieg“ bezeichnete, worauf er zurücktreten musste. Die Fälle Delamuraz, Meili und Jagmetti erschütterten die Position der Schweiz. Vor diesem Hintergrund sollte ein Sonderfonds in Höhe von 300 Millionen Franken (von privaten Banken, Nationalbank und Industrie) bedürftige Menschen unterstützen, die von den Nationalsozialisten verfolgt worden waren. Eine finanziell wie auch hinsicht-
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lich der Begünstigten viel umfassendere „Solidaritätsstiftung“ aus Nationalbank-Mitteln scheiterte hingegen am nationalkonservativen Widerstand, der sich mit Nationalrat Christoph Blocher an der Spitze für die nationale Ehre und die Leistungen der „Aktivdienstgeneration“ stark machte, die durch den Grenzschutz im Krieg die Unabhängigkeit des Landes gerettet habe. Eine weitere Folge der Skandale war eine Welle von Antisemitismus. Ein rechtsextremer Nationalrat zielte zuletzt mit einem Boykottaufruf gegen die „amerikanischen und jüdischen Waren, Restaurants und Ferienangebote“. Es erfolgten auch Verbalattacken – bis hin zu anonymen Morddrohungen – gegen prominente schweizerische Juden, die als „fünfte Kolonne“ angegriffen wurden. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund fand aber auch Rückhalt, als er die Devise seines Präsidenten Rolf Bloch „Gerechtigkeit für die Juden, Fairness für die Schweiz“ verfolgte. In der Landesregierung wirkte Ruth Dreifuss vermittelnd, mit der die jüdische Minderheit seit 1993 erstmals im Bundesrat vertreten war. Im Kern drehte sich der eskalierende Konflikt in den Jahren 1997/98 darum, dass die innenpolitisch zusehends blockierte Schweiz sich nicht zu den anderswo üblichen Entschuldigungsgesten für eine Kriegspolitik bereit sah, die als insgesamt ehrenvoll und erfolgreich galt. Diese Perspektive war wiederum für die Kritiker inakzeptabel, da die neutrale Schweiz vielen Juden nicht geholfen, ja sie den NS-Verfolgern ausgeliefert und nach dem Krieg nicht an Wiedergutmachung gedacht hatte. Da die Großbanken in eben diesen Jahren in das lukrative Amerikageschäft einstiegen, suchten sie nach einem juristisch vertretbaren Ausweg für eine substanzielle Zahlung, welche die Amerikaner besänftigen, die Schweizer aber nicht verstimmen sollte. Dafür genügten weder veröffentlichte Listen von selbst eruierten nachrichtenlosen Konten noch der sehr teure, aber lang anhaltende Revisionsprozess der Volcker-Kommission. Ungeduldige Finanzbehörden amerikanischer Bundesstaaten drohten im Winterhalbjahr 1997/98 immer stärker mit Boykottmaßnahmen gegen schweizerische Finanzinstitute. Einen Ausweg boten schließlich die Verhandlungen mit den Sammelklägern, die von Eizenstat und dann dem zuständigen Richter Edward Korman moderiert wurden. Am 12. August 1998 wurde in Brooklyn ein „Global settlement“ mit den Sammelklägern und jüdischen Organisationen unterzeichnet, in das die Großbanken für 1,25 Milliarden US-Dollar auch die Schweizer Nationalbank und die übrige schweizerische Wirtschaft (ohne die von einer anderen Sammelklage betroffenen Versicherungen) einschlossen. Die Ende 1999 veröffentlichten Resultate der Volcker-Revision dienten als Grundlage für die Verteilung der Settlementgelder durch ein Claims Resolution Tribunal, die Anfang 2011 noch nicht ganz abgeschlossen ist. Entgegen den Erwartungen von Richter Korman waren die Ergebnisse zu vage, um das Settlement weitgehend der juristisch wichtigsten Begünstigtenklasse zuzusprechen: Für unterschiedlich gut dokumentierte Ansprüche auf nachrichtenlose Vermögen waren Anfang 2011 bloß gut 580 Millionen US-Dollar ausbezahlt worden. An frühere Zwangsarbeiter gingen 288 Millionen USDollar, für Raubgut 205 Millionen US-Dollar an bedürftige Holocaust-Überlebende sowie 12 Millionen US-Dollar an abgewiesene oder misshandelte Flüchtlinge.
Thomas Maissen
Reichskulturkammergesetz
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Literatur
Thomas Maissen, Verweigerte Erinnerung. Nachrichtenlose Vermögen und die Schweizer Weltkriegsdebatte 1989–2004, Zürich 2005. Leonard Orland, A Final Accounting. Holocaust Survivors and Swiss Banks, Durham 2010.
Reichsbürgergesetz → Nürnberger Gesetze Reichskristallnacht → Novemberpogrome 1938
Reichskulturkammergesetz Mit dem am 22. September 1933 vom Reichskabinett verabschiedeten „Reichskulturkammergesetz“ schloss Goebbels den Prozess der institutionellen „Gleichschaltung“ des kulturellen Lebens ab, der mit der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 eingeleitet worden war. Gleichzeitig sicherte sich der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, der in Personalunion nun auch Präsident der Reichskulturkammer wurde, die Zuständigkeit für nahezu sämtliche Kulturberufe. Denn mit der offiziellen Gründung der Reichskulturkammer am 15. November wurden die mehr als 100.000 Mitglieder, die sukzessive über die Fachverbände in die Reichsschrifttums-, Reichspresse-, Reichsrundfunk-, Reichstheater-, Reichsfilm-, Reichsmusikkammer sowie in die Reichskammer der bildenden Künste gelangten, dem Zugriff der „Deutschen Arbeitsfront“ entzogen. Die „Erste Verordnung zur Durchführung des Reichskulturkammergesetzes“ vom 1. November 1933 schrieb die Pflicht zur Mitgliedschaft in den sieben Einzelkammern für all diejenigen vor, die „bei der Erzeugung, der Wiedergabe, der geistigen oder technischen Verarbeitung, der Verbreitung, der Erhaltung, dem Absatz oder der Vermittlung des Absatzes von Kulturgut“ mitwirkten. Wer dieser Pflicht nicht nachkam, stellte sich „außerhalb seiner berufsständischen Vertretung“ und verlor damit „die Voraussetzung zur weiteren Berufsausübung“. Über die Aufnahme, die „Befreiung“ wegen Geringfügigkeit der Betätigung oder den Ausschluss entschieden die jeweiligen Kammer-Präsidenten unter dem Gesichtspunkt der „Zuverlässigkeit und Eignung“. Es war dieses Instrument der politisch-fachlichen Kontrolle über die Berufszulassung oder das Berufsverbot, mit dem die zunächst noch aus außenpolitischen Gründen in Kauf genommene Lücke eines fehlenden „Arierparagraphen“ in der Reichskulturkammergesetzgebung geschlossen wurde. In einer Rede vor den Präsidenten und Präsidialräten der Reichskulturkammer über den „ständischen Aufbau der Kulturberufe“ stellte Goebbels Anfang Februar 1934 „mit Befremden“ fest, „dass die aus anderen Berufen nach und nach hinausgedrängten Juden mangels eines Arierparagraphen im Kulturleben eine neue Betätigungsmöglichkeit suchen“. Zwar sah auch der Propagandaminister „keine unmittelbare gesetzliche Möglichkeit“, einen entsprechenden Paragraphen einzuführen. Doch empfahl er den Kammern die restriktive Anwendung des § 10 der Ersten Durchführungsverordnung: „Wenn jemand aus bestimmten Gründen als unzuverlässig oder ungeeignet angesehen werden muss, kann man ihm die Mitgliedschaft in den Verbänden verweigern, und nach meiner Ansicht und Erfahrung ist ein jüdischer Zeitgenosse im allgemeinen ungeeignet, Deutschlands Kulturgut zu verwalten!“ Diesem Diktat folgte bereits ein Rechts-
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Reichskulturkammergesetz
kommentar aus dem Jahr 1934, der für „Fremdstämmige“ „besonders strenge Anforderungen“ an die Überprüfung von „Zuverlässigkeit und Eignung“ forderte, „denn sie sind allgemein nicht als geeignete Träger und Verwalter deutschen Kulturgutes zu betrachten“. Allerdings wurden zu diesem Zeitpunkt noch die „Ausnahmevorschriften der Beamtengesetzgebung“ vom 7. April 1933 sinngemäß angewandt, die beim Nachweis des Frontkampfes im Ersten Weltkrieg eine Berufszulassung ermöglichten. Unabhängig von der „Frontkämpfereigenschaft“, der Reputation, der sozialen Lage oder vom Alter erhielt dann jedoch das Gros der „Nichtarier“ aus den sieben Einzelkammern bis zum Herbst 1935 ein Berufsverbot. Davon waren allein in der Reichsschrifttumskammer 1.232 „nichtarische“ Schriftsteller betroffen, die entweder ausgeschlossen oder deren Aufnahme in die Kammer verweigert worden waren. Aufschiebende Wirkung im Hinblick auf den Kammerausschluss hatten nur noch rein wirtschaftliche Erwägungen: der Erhalt von Arbeitsplätzen für „Arier“ in einem jüdischen Unternehmen, der mögliche Verlust größerer Steuereinnahmen im Inland, der Gewinn von Devisen durch den Export. Sie wurden vom Reichswirtschaftsministerium als taktische Argumente gegen einen radikalen Schnitt geltend gemacht und auch von dem 1935 im Propagandaministerium eingerichteten „Sonderreferat zur Überwachung und Beaufsichtigung der Betätigung aller im deutschen Reichsgebiet lebenden nichtarischen Staatsangehörigen auf künstlerischem und geistigem Gebiet“ unter der Leitung von Hans Hinkel beachtet. An der grundsätzlich antisemitischen Anwendung des Reichskulturkammergesetzes änderte dies jedoch nichts. Denn bis 1938/39 wurden nahezu alle jüdischen Kulturunternehmen durch Einzelfallentscheidungen „arisiert“, ghettoisiert oder liquidiert. Die vollständige „Entjudung der Kammern“ konnte allerdings selbst Goebbels bis zum Ende des NS-Regimes nicht durchsetzen. Denn durch die Einführung der → Nürnberger Gesetze im September 1935 wurde auch die Reichskulturkammer gezwungen, die absurde Arithmetik der „Voll-, Dreiviertel-, Halb- und Vierteljuden“ sowie der mit „Voll-, Dreiviertel-, Halb- und Vierteljuden Versippten“ nachzuvollziehen. Und mit der Einführung der Reichskulturkammergesetzgebung im annektierten Österreich im Juni 1938 stellte sich auch die Lösung der „Nichtarierfrage“ wieder neu. Beide Modifikationen führten in der bürokratischen Praxis aus außen-, wirtschafts- und kulturpolitischen Erwägungen zu einer Vielzahl von „Sondergenehmigungen“, die sich der Propagandaminister und Präsident der Reichskulturkammer in jedem Einzelfall persönlich vorbehielt und die „jederzeit widerruflich“ waren. Die Konsequenz für die betroffenen Künstler und ihre Familien war ein permanenter seelischer Druck, dem sich nicht wenige durch den Freitod entzogen.
Literatur
Jan-Pieter Barbian
Jan-Pieter Barbian, Literaturpolitik im NS-Staat. Von der „Gleichschaltung“ bis zum Ruin, Frankfurt am Main 2010. Volker Dahm, Anfänge und Ideologie der Reichskulturkammer. Die „Berufsgemeinschaft“ als Instrument kulturpolitischer Steuerung und sozialer Reglementierung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34 (1986), S. 53–84.
Revolution 1848
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Uwe Julius Faustmann, Die Reichskulturkammer. Aufbau, Funktion und rechtliche Grundlagen einer Körperschaft des öffentlichen Rechts im nationalsozialistischen Regime, Aachen 1995. Das Recht der Reichskulturkammer. Sammlung der für den Kulturstand geltenden Gesetze und Verordnungen, der amtlichen Anordnungen und Bekanntmachungen der Reichskulturkammer und ihrer Einzelkammern. Unter Mitarbeit der Kammern. Hrsg. von Karl-Friedrich Schrieber, 5 Bände, Berlin 1935–1937. Hans Schmidt-Leonhardt, Die Reichskulturkammer, in: Grundlagen, Aufbau und Wirtschaftsordnung des nationalsozialistischen Staates, hrsg. von Hans Heinrich Lammers und Hans Pfundtner, Band I/Gruppe 2/Beitrag 20, Berlin 1936. Bärbel Schrader, „Jederzeit widerruflich“. Die Reichskulturkammer und die Sondergenehmigungen in Theater und Film des NS-Staates, Berlin 2008. Karl-Friedrich Schrieber, Die Reichskulturkammer. Organisation und Ziele der deutschen Kulturpolitik, Berlin 1934. Alan E. Steinweis, Art, Ideology & Economics in Nazi Germany. The Reich Chambers of Music, Theater and the Visual Arts, Chapel Hill/London 1993.
Restitution → Wiedergutmachung
Revolution 1848 Im Frühjahr 1848 breitete sich, ausgehend von Paris, eine revolutionäre Bewegung aus, die nach Frankreich auf die Staaten des Deutschen Bundes einschließlich der Habsburgermonarchie und ihrer nichtdeutschen Länder sowie auf Kongresspolen, Dänemark, Schweden, Rumänien und Italien übergriff. Die politischen Umwälzungen hatten nicht überall die gleichen Ursachen, und die revolutionären Bewegungen unterschieden sich in ihren Formen. In allen Ländern aber, in denen es zu Revolutionen kam, ging es um die Durchsetzung politischer Freiheit und bürgerlicher Grundrechte, die Verabschiedung von Verfassungen, in denen die Rechte und Pflichten der Bürger definiert sind, und die Einführung von unabhängigen und frei gewählten Parlamenten. Da diese Forderungen die bürgerliche und rechtliche Gleichstellung der Juden einschloss, nahmen auch zahlreiche Juden an der revolutionären Bewegung teil. Sie engagierten sich in den neuen politischen Organisationen, kämpften in den Straßen und auf den Barrikaden und nutzten die neue Bedeutung von Zeitungen und Zeitschriften im Kampf um die öffentliche Meinung. In einigen Ländern waren die politischen Forderungen verknüpft mit der Frage der nationalen Einheit. In diesen Ländern hatten sich die Juden diese Ideen zu eigen gemacht und stellten in den militärischen Konflikten, die aus den nationalen Forderungen erwuchsen – zwischen den italienischen Staaten und Österreich etwa, in dem vom Deutschen Bund gegen Dänemark geführten Krieg oder im ungarischen Unabhängigkeitskrieg – ihren Patriotismus nachdrücklich unter Beweis. Träger der revolutionären Bewegung war das liberale oder demokratische Bürgertum, zugleich wurde die politische Entwicklung in den Zentren der Revolution auch von sozialrevolutionären Protesten der Unterschichten beeinflusst. Das neue politische Engagement der jüdischen Bevölkerung führte zu einem grundlegenden Wandel im Selbstverständnis der europäischen Juden, da sie nunmehr als selbständige Subjekte in das politische Geschehen eingriffen, in die Parlamente ge-
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Revolution 1848
wählt wurden und hohe politische Ämter übernahmen. In Frankreich etwa waren Adolphe Crémieux und Michel Goudchaux und in Venedig Isaac Pesaro Maurogonato und Leone Pincherle Minister in den Revolutionsregierungen. In Deutschland wurden Juden als Abgeordnete in die Deutsche Nationalversammlung delegiert, und einer der engagiertesten Vertreter der Interessen der Juden, der Hamburger Jurist Gabriel Riesser, wurde zu dessen Vizepräsident gewählt. In der Frankfurter Paulskirche verabschiedeten die Abgeordneten die Grundrechte, und das Prinzip der rechtlichen Gleichstellung der Juden wurde in den Verfassungsentwurf aufgenommen. Aufgrund dieser Erfahrungen begrüßten zahlreiche jüdische Zeitgenossen die Revolution mit geradezu messianischer Emphase, und im historischen Gedächtnis der europäischen Juden wurde 1848 zu einem erhabenen Moment. Dennoch war die Entwicklung der Revolution nicht frei von Widersprüchen und Ambivalenzen. Eine große Zahl von Flugschriften und Traktaten trat der Forderung nach Emanzipation der Juden entgegen und in Karikaturen wurden Juden vielfach verspottet. Neben dem Broschürenkampf begann das gegenrevolutionäre Lager in eigenen Zeitungen gegen die gesellschaftliche und politische Integration der Juden zu agitieren, in Berlin etwa die „Neue Preußische Zeitung“. Auch war die Emanzipation der Juden in den Verfassungen der meisten Staaten keineswegs garantiert oder gesichert. In den Staaten des Deutschen Bundes war sie lediglich in einigen kleinen Fürstentümern verkündet, und in Preußen und in Österreich wurde sie paradoxerweise erst nach der Niederschlagung der Revolution in den oktroyierten Verfassungen gewährt. Nahezu alle europäischen Staaten haben die Emanzipation der Juden nach der Niederschlagung der Revolution wieder aufgehoben. Eine Ausnahme stellte das Königreich Piemont-Sardinien dar, in dem die Verfassung einschließlich der rechtlichen Gleichstellung der Juden in Kraft blieb. Problematisch war die Situation der Juden darüber hinaus vor allem in jenen Regionen, in denen sich verschiedene Minderheiten und unterschiedliche nationale Kulturen überlagerten, sodass die Juden zwischen die Fronten der gegeneinander kämpfenden Nationalbewegungen gerieten. In Posen etwa wurden sie zwischen den deutschen und polnischen Aufständischen aufgerieben, und in Böhmen und Mähren wurden sie verdächtigt, auf der Seite der Deutschen zu stehen. Was aber das Jahr 1848 für die jüdische Bevölkerung vor allem zwiespältig machte, waren die antijüdischen Ausschreitungen und gewalttätigen Anfeindungen. Schon in den sozialrevolutionären Unruhen der vorausgegangenen Jahre wurden Juden an zahlreichen Orten des Deutschen Bundes Opfer von Gewalt. Im Zuge der sozialen Proteste gegen die Umwälzung der ländlichen Verhältnisse von der Subsistenzökonomie zur Marktwirtschaft wurde den Juden die Schuld an den sozialen Problemen zugeschrieben und ihnen Wucher und Profitorientierung vorgeworfen. Ausgebrochen war diese Welle von Gewalt gegen Juden im Elsass. Juden wurden tätlich angegriffen, ihre Häuser demoliert und Geschäfte geplündert. In einigen Orten wurden auch Synagogen und Einrichtungen der jüdischen Gemeinden verwüstet, einzelne Landstriche des Elsass gar von judenfeindlichen Banden unsicher gemacht. Die Gewalt griff unmittelbar auf Baden, Württemberg, Hessen, Westfalen, Franken und Oberschlesien über, erstreckte sich bis nach Böhmen und Ungarn. In diesen Regionen kam es zu zahlreichen Akten von kollektiver Gewalt gegen Juden, wobei sich
Revolution 1848
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diese in erster Linie auf ländliche Gegenden konzentrierten. Für die Juden in den badischen Landgemeinden wurde die Revolution zu einer Zeit der Furcht und des Schreckens. Wie in der vorrevolutionären Zeit hingen diese Ausschreitungen nicht nur mit Missernten und Hungersnöten zusammen, sondern mit der immer stärker werdenden Abhängigkeit der bäuerlichen Bevölkerung vom Geld und von Krediten, mithin der sich verstärkenden Kommerzialisierung der ländlichen Lebens- und Agrarverhältnisse. Zu antijüdischen Unruhen kam es gleichzeitig in einigen Städten, wobei die Gewalt hier vor allem von Handwerkern getragen wurde, die unter der Einführung der Gewerbefreiheit litten und den Juden die Schuld an der neuen Konkurrenz zuschrieben. In Florenz etwa sind antisemitische Parolen wie „Tod den Juden“ an die Hauswände geschrieben worden, und in dem kleinen piemontesischen Ort Aqui wurden Juden Opfer von Gewalt. In Leipzig oder in Wien wiederum protestierten Handwerksmeister gegen die Emanzipation der Juden, die ihnen als eine Bedrohung der traditionellen Zunftordnung und alten stadtbürgerlichen Hauswirtschaft erschien. Selbst in italienischen Städten kam es zu Gewalt gegen Juden, und auch in Stockholm sind Häuser von Juden mit Steinen beworfen worden. Die Gewalttätigkeiten richteten sich immer wieder dezidiert gegen die Emanzipation der Juden. In den ländlichen Regionen und kleineren Landstädten zeigte sich ein deutliches Unbehagen gegenüber dem sich abzeichnenden sozialen Aufstieg der Juden und gegen deren Partizipation am öffentlichen Leben. Die Welle von Gewalt gegen Juden blieb aber auf die ersten Monate der revolutionären Entwicklung beschränkt, in den folgenden sozialen und politischen Kämpfen der Revolution fanden keine antijüdischen Übergriffe oder Akte von physischer Gewalt gegen Juden statt.
Literatur
Ulrich Wyrwa
Manfred Gailus, Anti-Jewish Emotion and Violence in the 1848 Crisis of German Society, in: Christhard Hoffmann, Werner Bergmann, Helmut Walser Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History, Ann Arbor 2002, S. 43–65. Daniel Gerson, Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsass 1778 bis 1848, Essen 2006. Werner E. Mosse, Arnold Paucker, Reinhard Rürup (Hrsg.), Revolution and Evolution. 1848 in German-Jewish History, Tübingen 1981. Stefan Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815–1848/49), Frankfurt am Main, New York 1993. Reinhard Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen. Die Revolution von 1848 und die europäischen Juden, in: Dieter Dowe, Heinz-Gerhard Haupt, Dieter Langewiesche (Hrsg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 985–1005. Jacob Toury, Die Revolution von 1848 als innerjüdischer Wendepunkt, in: Hans Liebeschütz, Arnold Paucker (Hrsg.), Das Judentum in der Deutschen Umwelt 1800–1850, Tübingen 1977, S. 359–376.
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Revolution und Konterrevolution (1918–1923)
Revolution und Konterrevolution (1918–1923) Der → Erste Weltkrieg löste politische Erschütterungen aus, die zum Sturz des russischen Zaren, zum Zerfall der Habsburgermonarchie und zur Entstehung neuer Nationalstaaten in Ostmitteleuropa sowie zur Absetzung sämtlicher Königshäuser in Deutschland und zur Gründung der ersten deutschen Republik führten. Diese revolutionären Ereignisse wiederum hatten in Mitteleuropa die Entstehung konterrevolutionärer Bewegungen zur Folge, in denen ein extremer Antisemitismus zum Kern der politischen Überzeugungen gehörte. Neben dem überlieferten Arsenal antisemitischer Rhetorik zeichnete sich der schon im Krieg radikalisierte Antisemitismus durch drei neue Motive aus. Nach dem Staatsstreich Lenins vom Oktober 1917 und vor allem nach dem Beginn des Bürgerkrieges in Russland verbreitete sich in allen europäischen Ländern das Motiv des jüdischen Bolschewisten bzw. des kommunistischen Juden, das wiederum durch die revolutionären Entwicklungen in Mitteleuropa 1918/19 zusätzliche Schubkraft erhielt. Die Kriegsniederlage der Mittelmächte führte zweitens zur Entstehung der Dolchstoßlegende, der Unterstellung, dass ein hinterhältiger, heimtückischer Anschlag von inneren Feinden und Sabotageakte in der Heimat für die Niederlage Deutschlands und der Habsburgermonarchie verantwortlich gewesen seien. Ausgeführt hätten diesen Dolchstoß in den Rücken der im Feld unbesiegten deutschen und österreichischen Soldaten vornehmlich Juden und Sozialisten. Schließlich verbanden sich diese beiden Motive mit dem überlieferten Vorwurf, dass die Juden die Weltherrschaft anstreben würden und zu diesem Zweck eine geheime internationale Verschwörung angestiftet hätten. In diesem Kontext erfuhren die in viele Sprachen übersetzten → „Protokolle der Weisen von Zion“ ihre europäische Verbreitung. Antisemitische Organisationen entfalteten mit diesem Arsenal an Unterstellungen und Verunglimpfungen seit 1919 eine bisher beispiellose Agitation, und der Antisemitismus erfuhr in nahezu allen europäischen Ländern eine weitere Radikalisierung. Wie zu Beginn des Ersten Weltkrieges schien sich in Deutschland sowie in Österreich-Ungarn im ersten Moment nach der militärischen Niederlage eine ganz andere Entwicklung anzubahnen, eine Demokratisierung der mitteleuropäischen Gesellschaften, die den Juden neue politische Partizipationsmöglichkeiten zu eröffnen und die letzten Hindernisse ihrer Benachteiligungen aufzuheben versprach. Diese Entwicklung hatte sich bereits in den letzten Kriegsmonaten in den politischen Protestbewegungen einerseits und den Versuchen einer vorsichtigen Neuorientierung der Regierungen andererseits angedeutet, und kam mit der Revolution vom November 1918 zum Durchbruch. Nachdem der Habsburger Vielvölkerstaat auseinandergebrochen war und auch das deutsche Kaiserreich seine Niederlage hatte eingestehen müssen, brachen in Österreich, Ungarn und Deutschland revolutionäre Erhebungen aus, in deren Zuge zumeist spontan entstandene Arbeiter- und Soldatenräte die politische Macht übernahmen und Übergangsregierungen stellten. Die revolutionären Rätebewegungen experimentierten mit neuen Formen demokratischer Teilhabe, in denen auch jüdische Politiker aktiv waren. In München etwa war die Präsenz von Juden in den verschiedenen Phasen der revolutionären Entwicklung so groß, dass selbst unbeteiligte jüdische Zeitgenossen darüber besorgt waren.
Revolution und Konterrevolution (1918–1923)
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Während ein kleinerer Teil der Rätebewegung in Deutschland für eine staatliche Institutionalisierung der Räte und für den Ausbau von Rätedemokratien eintrat, sah die Mehrheit der in der revolutionären Bewegung tätigen Delegierten in den Räten eher eine Übergangserscheinung auf dem Weg zu einer repräsentativen, parlamentarischen Demokratie. In Österreich blieben die Institutionen der Räte weitgehend von der Sozialdemokratie bestimmt, die den Räten auch hier nur eine transitorische Rolle zuerkannten. In Ungarn hingegen zeichnete sich die von dem jüdischen Politiker Béla Kun geleitete Räteregierung (März-August 1919) durch eine Mischung bolschewistisch-sozialrevolutionärer und nationalistischer Motive aus. Diese revolutionären Entwicklungen riefen in Deutschland, Österreich und Ungarn zugleich gegenrevolutionäre Bewegungen hervor, die sich durch fanatischen Judenhass auszeichneten. Die völkisch-nationalistischen Bünde und paramilitärischen Verbände entfalteten eine breite Medienkampagne und reagierten auf die Forderungen nach mehr Freiheit und Demokratie mit der Propagierung autoritärer und antidemokratischer Herrschaftsformen. Gewalt gegen Juden galt ihnen als legitimes Mittel der Politik, und der gezielte Mord an jüdischen Politikern gehörte zum Repertoire ihres politischen Handelns. Zu den Opfern gehörte die am 15. Januar 1919 ermordete Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands, Rosa Luxemburg, die von der antisemitischen Presse als polnische Jüdin diffamiert worden war. Am 21. Februar 1919 wurde der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner Opfer eines Mordanschlages, wobei es den antisemitischen Agitatoren nicht reichte, dass Eisner Jude war, es wurde ihm auch eine Herkunft aus Galizien angedichtet. Ermordet wurde am 2. Mai 1919 der Sozialist Gustav Landauer, Beauftragter für Volksaufklärung in der Münchner Räterepublik, der nach der Niederschlagung der Räteregierung von Freikorps festgenommen und von Wehrmachtsangehörigen getötet wurde. Während in Deutschland dem Judenhass der konterrevolutionären Bewegung eher einzelne Repräsentanten zum Opfer fielen, traten in Ungarn die von Offizieren gebildeten paramilitärischen Verbände mit massiver physischer Gewalt und brutalen Morden hervor. Dieser „weiße Terror“ traf nicht nur einzelne politisch aktive Juden, sondern auch eine große Zahl unbeteiligter jüdischer Bürger. Die antisemitischen Aktionen wurden zudem von der nationalistischen Presse bejubelt. Im Unterschied zu Deutschland und Österreich kamen in Ungarn die konterrevolutionären Kräfte an die Regierung, die die antisemitischen Ausschreitungen zunächst duldete. Nachdem sich in Deutschland die Konflikte zwischen Verfechtern der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie und den Vertretern von räterepublikanischen Modellen immer mehr zugespitzt hatten und letztere begannen, diesen Kampf mit dem Mittel der politischen Gewalt auszutragen, entschied sich die von der Sozialdemokratie getragene Regierung auf die militärische Gewalt des alten Heeres zu bauen und die revolutionären Entwicklungen mit dessen Hilfe zu beenden. Die zur Sicherung der parlamentarischen Demokratie gerufenen Formationen rekrutierten sich jedoch zu einem erheblichen Teil aus antidemokratischen, konterrevolutionären und von fanatischem Antisemitismus geprägten Militärs. Der Versuch, die parlamentarische Demokratie mit diesen Kräften zu retten, wurde zum Einfallstor für die völkisch antisemitische Bewegung. Wie sehr diese Entwicklung den Antisemitismus radikalisierte, kam insbesondere in
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der Gründung zahlreicher neuer völkisch-antisemitischer Organisationen zum Ausdruck. Im europäischen Kontext brachen Revolutionen zwar nur in denjenigen Ländern aus, die im Weltkrieg eine Niederlage hatten hinnehmen müssen, doch auch in Italien, wo die nationalistische Presse das Ergebnis des Krieges als „verstümmelten Sieg“ bezeichnete, kam es zu revolutionären wie auch konterrevolutionären Entwicklungen. Die revolutionären Unruhen traten im Kontext von Fabrikbesetzungen und der Bildung von Arbeiterräten in Erscheinung. Als Gegenreaktion formierte sich in Italien der Faschismus als antidemokratische und autoritäre Bewegung. Auch wenn diese nicht antisemitisch geprägt war, wurde der Antisemitismus in Italien ebenfalls zu einem Faktor der Politik. So erschien 1921 eine italienische Übersetzung der „Protokolle der Weisen von Zion“. In Ostmitteleuropa stellte sich nach dem Krieg das schwierige Problem der Konstituierung neuer Nationalstaaten in einem Gebiet, in dem klare nationale Grenzziehungen kaum möglich waren und das zudem einen großen jüdischen Bevölkerungsanteil hatte. Nationale Konflikte überlagerten sich mit sozialen Problemen, und die Auflösung der einstigen wirtschaftlichen Verflechtungen im Rahmen der Habsburgermonarchie hatte zusätzliche Instabilitäten zur Folge. Im neuen Staat Polen führte diese Situation zu einer ungeahnten Brutalisierung und Verrohung der sozialen Beziehungen und politischen Kultur sowie zu einer Radikalisierung des Antisemitismus. Juden wurden beschuldigt, für den Mangel an Nahrungsmitteln und die steigende Inflation verantwortlich zu sein, darüber hinaus wurden sie entweder als Bolschewiken oder Deutsche diffamiert. Im einstigen habsburgischen Galizien, das noch bis 1921 zwischen der Sowjetunion und Polen umstritten war, wurden Juden nicht nur Opfer bäuerlicher Ausschreitungen, sondern auch militärischer Aktionen. Wie sehr sich die antisemitischen Verschwörungstheorien im neuen Polen verbreiteten, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass 1920 auch hier eine polnische Ausgabe der „Protokolle der Weisen von Zion“ erschien. Die antisemitischen Beschuldigungen führten zu weiteren gewalttätigen Ausschreitungen und Pogromen, an denen zum Teil auch polnisches Militär beteiligt war. Besonders gewalttätig war die Situation in der nach dem Sturz des russischen Zaren die Unabhängigkeit anstrebenden Ukraine, wo die Juden in unmittelbarer Folge Opfer von Pogromen durch national-ukrainische Verbände und der russischen Konterrevolutionäre, der sogenannten Weißen, wurden. Ebenso prekär war die Lage der Juden nach dem Ende der russischen Herrschaft im Baltikum, insbesondere in Lettland und Estland, wo nicht nur deutsche Freikorps mit extremer physischer Gewalt einen gnadenlosen Bürgerkrieg führten. Zu den Gewinnern des Ersten Weltkrieges gehörte Rumänien, dem Siebenbürgen, die Bukowina und Bessarabien zugeschlagen wurden und das damit sein Territorium verdoppeln konnte. Es waren Gebiete, die einen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil hatten, was wiederum die in Rumänien schon vor dem Krieg starke antisemitische Stimmung verschärfte. Dies führte nicht nur zur Bildung neuer antisemitischer Ligen, sondern auch zu Pogromen in der Bukowina und in Bessarabien. In Großbritannien und Frankreich, den Siegermächten des Ersten Weltkrieges, brachen keine Revolutionen aus, dennoch verstärkten sich auch hier antiparlamentarische autoritäre Bewegungen, die sich ganz in den Dienst ihrer antisemitischen Mission stell-
Rintfleisch-Verfolgungen
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ten. Schon 1918 hatten britische Antisemiten eine englische Übersetzung der „Protokolle“ herausgegeben und damit die neue Kampagne gegen Juden entfacht, und in Frankreich forcierten Charles Maurras und die „Action Française“ ihre während des Krieges nur zurückgestellte antisemitische Agitation. Auch wenn Revolutionen allein in denjenigen Ländern ausbrachen, die eine militärische Niederlage im Ersten Weltkrieg erlitten hatten, verstärkte sich in den 1920er Jahren in anderen europäischen Ländern ebenfalls autoritäre und antidemokratische Bewegungen. Der Antisemitismus in Europa nahm extreme Formen an.
Literatur
Ulrich Wyrwa
Boris Barth, Dolchstoßlegende und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, 1914–1933, Düsseldorf 2003. Francis L. Carsten, Revolution in Mitteleuropa 1918–1919, Köln 1973. Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner (Hrsg.), Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen. Juden, Politik und Antisemitismus in Ost- und Südosteuropa 1918–1945, Paderborn u.a. 2007. Alexander Gallus (Hrsg.), Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010. Robert Gerwarth, The Central European Counter-revolution: Paramilitary Violence in Germany, Austria and Hungary after the Great War, in: Past and Present 57 (2008), 200, S. 175–209. Gerd Krumeich, Die Dolchstoß-Legende, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, Band 1, München 2000, S. 585–599. Werner E. Mosse, Arnold Paucker (Hrsg.), Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916–1923, Tübingen 1971. Jeffrey L. Sammons (Hrsg.), Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus. Eine Fälschung. Text und Kommentar, Göttingen 1998. Joachim Schröder, Der Erste Weltkrieg und der ‚jüdische Bolschewismus’, in: Gerd Krumeich (Hrsg.), Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, Essen 2010, S. 77–96.
Rintfleisch-Pogrom → Rintfleisch-Verfolgungen
Rintfleisch-Verfolgungen Im Jahr 1298 wurden die Juden des Marktfleckens Röttingen (heute Landkreis Würzburg) beschuldigt, am Gründonnerstag eine Hostie aus der nahe gelegenen Weikersheimer Kirche entwendet und auf dem Altar geschändet zu haben, bis sie zu bluten begann. Als die Röttinger Christen davon erfuhren, ergriffen sie alle Juden des Ortes, und der Pfarrer ließ sie auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Der Hergang dieses „Hostienfrevels“ wird in einer Volkslegende indes dramatischer dargestellt. Nach dieser Überlieferung kauften die Juden Röttingens die Hostie von einem Kirchendiener und trugen sie in ein jüdisches Haus, um sie dort in frevlerischer Absicht zu durchstoßen. Als die Reliquie daraufhin zu bluten begann, gerieten die Täter in große Angst, ergriffen die blutige Hostie und warfen sie in den Fluss Tauber. Zur gleichen Zeit hatten die Nonnen des Frauenklosters Schäftersheim die Vision, eine von Juden geschändete Hostie treibe im Fluss entlang, und sie seien aufgerufen, die Hostie zu bergen. Als die Nonnen an die Tauber kamen, fanden sie die geschändete Hostie begleitet von zwei brennenden
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Lichtern. Sie knieten am Ufer des Flusses nieder und beteten so lange, bis sich die Reliquie den Frauen näherte und sie diese aus dem Wasser holen konnten und ins Kloster brachten. Am folgenden Tag erstatteten die Nonnen beim Pfarrer Anzeige und die Gemeinde beschloss, die Hostie mit einer feierlichen Prozession in die Kirche zurückzubringen. Als am Abend die heilige Prozession im Ort ankam, loderten aus dem Dachstuhl eines jüdischen Hauses Flammen. Die christlichen Bewohner Röttingens sahen hierin ein Zeichen Gottes, der Rache nehmen wollte, und die Menschen erstürmten das Haus des Juden, zerstörten es und vertrieben alle Juden aus dem Ort. Diese Legende wurde auf einem Gemälde festgehalten, das diese sechs Episoden illustriert, und als Mahnung und Erinnerung in der Pfarrkirche St. Kilian in Röttingen angebracht. Erst 1988 wurde das Gemälde aus der Röttinger Kirche auf Initiative der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Unterfranken entfernt. Die angebliche Hostienschändung in Röttingen 1298 rief eine Volksbewegung hervor, zu deren Anführer sich ein sogenannter Ritter mit Namen Rintfleisch machte. Anderen Quellen zu Folge habe es sich bei Rintfleisch um einen Metzger oder Scharfrichter gehandelt. Schon wenige Tage nach dem angeblichen Hostienfrevel rückte er mit einem Tross Gleichgesinnter nach Röttingen ein und tötete 21 Juden des Ortes. Schon während kurzer Zeit hatten sich Gerüchte verbreitet, dass es auch in anderen Orten zu Hostienschändungen seitens der Juden gekommen sei, und Rintfleisch rief im Namen des Christentums zur Rache an allen Juden auf. Da die Morde an den Juden – mit Ausnahme von Augsburg und Regensburg – von keinem der Landesherren verhindert wurden, ermunterten die marodierenden Horden Rintfleischs auch viele andere Christen, die angeblichen Hostienschändungen zu vergelten. Eine Welle von Verfolgungen und Ermordungen von Juden, Plünderungen und Brandschatzungen ihrer Häuser setzte in etwa 130 bis 146 Orten in Franken und den angrenzenden Gebieten ein. Etwa 4.000 bis 5.000 Juden fielen bis zum Spätsommer 1298 dieser Mordgier zum Opfer, darunter etwa 900 in Würzburg und mehr als 700 in Nürnberg. Erst nach der Inthronisierung König Albrechts von Nassau im Juli 1298 endete das Massaker an den Juden. Über das Schicksal von Rintfleisch liegen keine gesicherten Angaben vor, vermutlich wurde er von König Albrecht von Nassau mit Verbannung bestraft.
Literatur
Marion Neiss
Friedrich Lotter, Die Judenverfolgung des „König Rintfleisch“ in Franken um 1298. Die endgültige Wende in den christlich-jüdischen Beziehungen im Deutschen Reich des Mittelalters, in: Zeitschrift für historische Forschung 15 (1988), S. 385–422.
Ritualmordlegenden im postsowjetischen Russland Zu den judenfeindlichen Narrativen, die im postsowjetischen Russland in die öffentliche Diskussion zurückgekehrt sind, gehört auch die Legende vom jüdischen Ritualmord. Die Behauptung, dass die jüdische Religion die rituelle Tötung von Christen und den Gebrauch ihres Blutes zu religiösen und magischen Zwecken vorschreibe, hat in Russland eine fast zweihundertjährige Tradition.
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Seit Beginn der 1990er Jahre werden die Schriften der „Klassiker“ der Blutbeschuldigung (Mönch Neofit, Ippolit Ljutostanski, Justinas Pranaitis, Alexej Schmakow, Georgi Samyslowski u.a.) sowie die dem bekannten Lexikographen Wladimir Dal zugeschriebene „Nachforschung über die Tötung von Christenkindern durch die Juden und den Gebrauch ihres Blutes“ (1844) von russischen „National-Patrioten“ und orthodoxen Traditionalisten in z.T. massenhaften Auflagen nachgedruckt oder neu herausgegeben. 1998 wurde auch das Skandalbuch des Schriftstellers Wassili Rosanow „Über die Geruchs- und Tastbeziehung der Juden zum Blut“ (1914) im Rahmen einer Werkausgabe ohne kritische Kommentierung wieder zugänglich gemacht und die Beteiligung des berühmten Priesters, Theologen und Universalgelehrten Pawel Florenski an diesem wohl raffiniertesten Machwerk zur Bekräftigung der Blutbeschuldigung nachgewiesen. Als prominenteste Opfer eines jüdischen Ritualmords gelten Nikolaus II. und seine Familie, eine Legende, die auf die antibolschewistische Propaganda der 1920er Jahre zurückgeht. Heutige Rechtsextremisten sehen im Regizid des Jahres 1918 ein „apokalyptisches Verbrechen“, geplant und auf blutig-rituelle Weise ausgeführt von den Agenten des Antichrist, den Juden. Für diese, so der Historiker Michail Nasarow, sei der gottgesalbte Herrscher des „Heiligen Russlands“ als „Aufhalter“ (Katechon) des Antichrist, des falschen Messias der Juden, der größte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat „von höchster mystisch-religiöser Bedeutung“. Extremistische Kreise forderten deshalb, Nikolaus II. und seine Familie als „von Jidden Gemarterte“ (ot židov umučennye) heiligzusprechen. Im Vorfeld der Kanonisierung der Zarenfamilie hat der Heilige Synod diese Frage untersuchen lassen. Eine Expertengruppe der Moskauer Geistlichen Akademie gelangte nach eingehender Prüfung im Oktober 1996 zu dem Ergebnis, dass – so die gewundene Formulierung – die Umstände der Ermordung der Zarenfamilie wenig gemein gehabt hätten mit typischen Ritualmorden, wie sie von jenen Autoren beschrieben worden seien, die von ihrer Existenz ausgingen. Außerdem sei nichts über die Religiosität derjenigen Zarenmörder bekannt, die jüdischer Abstammung waren. Besondere Verehrung als Opfer angeblich jüdischer Ritualmorde genießen unter russisch-orthodoxen Gläubigen seit jeher Gawriil Gawdel (1684–1690), dessen Reliquien im polnischen Białystok aufbewahrt werden, sowie Andrej Juschtschinski (1898– 1911), dessen Tod durch den Prozess gegen Mendel Beilis 1913 zum weltweit beachteten Politikum wurde ( → Beilis-Affäre). Sein Grab in Kiew, an dem sich als Zeichen der Heiligkeit Wunder ereignen sollen, steht unter der Obhut der „Interregionalen Akademie für Personalführung“ (MAUP), einer privaten Hochschule, die als wichtigster Produzent antisemitischer Literatur (darunter Ritualmordpropaganda) in der Ukraine gilt. Bis in die jüngste Zeit rufen spektakuläre Verbrechen an Kindern oder Geistlichen Ritualmordbeschuldigungen hervor. Als in der Osternacht des Jahres 1993 drei Mönche im Kloster Optina Pustyn ermordet wurden, deuteten nationalistische und kommunistische Blätter die Tat als Ritualmord einer fundamentalistischen Sekte innerhalb des Judentums und nannten die Ljubawitscher Chasidim. Im selben Jahr wurde von rechtsextremen Kreisen das Gerücht verbreitet, „Patrioten“, die das russische Parlament verteidigt hatten, seien nach dessen Erstürmung von Rabbinern rituell hingerichtet worden. Die 2004 von tschetschenischen Terroristen in der Schule von Beslan getöteten
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Kinder gelten orthodoxen Fundamentalisten als Opfer eines Ritualmordes, ausgeführt von „Hagariten“ (Muslime) im Auftrag des jüdischen Kahals. Und 2005 löste in Krasnojarsk ein Mord an fünf Kindern in der Woche vor dem Pessachfest eine Ritualmordkampagne gegen die örtliche jüdische Gemeinde aus. Judenfeindliche Kreise, wie die prominenten Unterzeichner des „Briefes der 500“ (2005), darunter 20 Abgeordnete der Staatsduma, fordern denn auch, den Tatbestand des Ritualmordes ins Strafgesetzbuch aufzunehmen und „extremistische“ jüdische Vereinigungen zu verbieten, da diese den „rituellen Genozid“ am russischen Volk betrieben.
Michael Hagemeister
Ritualmordprozess in Blois (1171) Seit 1144 im englischen Norwich (→ Ritualmordvorwurd in Norwich) erstmals der Vorwurf erhoben wurde, dass die ortsansässigen Juden ein christliches Kind zu rituellen Zwecken grausam gemartert und ermordet hätten, verbreitete sich die Ritualmordlegende mit einer für das Hochmittelalter atemberaubenden Geschwindigkeit. Thomas of Monmouth schuf um 1150 die Ursprungslegende um den kleinen William of Norwich, die bereits alle wesentlichen Merkmale künftiger Ritualmordbeschuldigungen enthielt: ein unschuldiges Kind, gekauft oder entführt von ortsansässigen Juden, die mit Bezug auf das jährliche Pessach-Fest ein Blutopfer (hier in Form einer nachgestellten Kreuzigung Jesu) darbrächten, wobei die Schuld der Juden durch Wunder, die von der Leiche des vermeintlich Geopferten ausgingen, bewiesen sei. Zunächst war der „Ritualmord“ an Kindern ein englisches Phänomen, breitete sich aber auch bald auf dem europäischen Kontinent aus. Wo immer ein toter Knabe – erst ab etwa 1179 kamen auch Mädchen hinzu – gefunden wurde, schob man die Schuld jüdischen „Ritualmördern“ zu. 1171 ereignete sich in Blois, einer Stadt an der Loire zwischen Orléans und Tours und dem Sitz der im Mittelalter mächtigen Grafen von Blois, etwas ganz Neues: Ein Stallbursche wollte einen Juden gesehen haben, der eine Kinderleiche in den Fluss warf. Obwohl keine Leiche gefunden und auch kein einziges Kind vermisst wurde, ließ Graf Theobald V. von Blois (genannt „der Gute“) 34 jüdische Männer und 17 jüdische Frauen – aus einer Gemeinde von etwa 130 Juden – in Ketten legen und in das Gefängnis werfen. Die Anklage lautete auf Ritualmord. Da das Pessach-Fest kurz bevorstand und als die Zeit galt, in der Ritualmorde begangen würden, zweifelte niemand an der Tat der Juden, für die nicht nur jeglicher Beweis, sondern auch jegliches Verdachtsmoment fehlte. Aus Angst vor der Entscheidung des Grafen Theobald und vor dem Erstarken des Bildes vom „mörderischen Juden“ suchten führende Juden Nordfrankreichs den Kontakt zu einflussreichen Politikern, um den immer weiter verbreiteten antijüdischen Anschuldigungen Einhalt zu gebieten. Sie trafen sich sogar mit König Ludwig VII. (der außerdem Theobalds Schwiegervater war), wobei der König versprach, dass selbst wenn eine Leiche gefunden werden würde, dies noch kein Beweis für die Schuld der Juden sei. Rabbi Ephraim ben Jaakow, der Zeuge von Massakern wurde, die christliche Kreuzzügler unter Juden angerichtet hatten, bemerkte in seinem Bericht über die „Märtyrer
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von Blois“, dass Graf Theobald aufgrund der mehr als zweifelhaften Verdachts- und Beweislage bereit gewesen sei, die inhaftierten Juden gegen Zahlung eines sehr hohen Lösegelds freizulassen. Zwecks dessen, so Ephraim ben Jaakow weiter, hätte Theobald einen Juden in die umliegenden Gemeinden geschickt, der herausfinden sollte, was die Juden für die Inhaftierten von Blois zu zahlen bereit gewesen seien. Nach seiner Erzählung waren es die Juden von Blois selbst, die sagten, dass für sie nichts bezahlt werden solle, da sie fürchteten, die Christen könnten es fortan zu einem profitablen Geschäft machen, Juden zu inhaftieren und Lösegeld zu erpressen. Doch zu Verhandlungen kam es gar nicht mehr: Als der Bischof in Blois eintraf, befahl er, die Juden hinzurichten, sobald ihre Schuld erwiesen wäre. Hier stellte sich freilich das Problem, dass die „Schuld“ der Juden in allen vorhergehenden Fällen von Ritualmordbeschuldigungen durch angebliche Wunder „erwiesen“ wurde, die von der Leiche des toten Kindes ausgegangen seien. So hatte beispielsweise die Leiche des William of Norwich einen Marienpreis gesungen, während sie im Fluss trieb, sodass die Mutter des Kindes die Juden als Mörder ausmachen konnte. Diese Schuldkonstruktionen dienten sehr oft lediglich wirtschaftlichen Interessen, da Christen immer wieder Geld bei ortsansässigen Juden geliehen und damit hohe Schulden hatten. Doch wie ungeheuerlich diese Schuldkonstruktionen auch immer waren – in Blois gab es nicht einmal eine Leiche. Der Bischof griff daher zu einem anderen Mittel: Der Stallbursche, der den Mörder beobachtet haben wollte, sollte in einen Wassertank geworfen werden. Ginge er unter, so hätte er gelogen und die Juden wären frei, würde er aber schwimmen, wäre dies das „Wunder“, das die Juden ihres Verbrechens überführte. Dieses „Wunder“ war freilich so arrangiert – nach Ephraim ben Jaakow vom Bischof persönlich –, dass der Stallbursche nicht untergehen konnte. Der Graf ließ daraufhin die Juden in ein Holzhaus sperren und ordnete an, jedem Straffreiheit zu gewähren, der bereit wäre, zum Christentum zu konvertieren. Die Eingeschlossenen weigerten sich jedoch, da die Annahme des christlichen Glaubens das an ihnen verübte Unrecht nicht ungeschehen machen könnte. Ohne weiteres Abwarten befahl Graf Theobald, das Haus anzuzünden. Am 26. Mai 1171 (20. Siwan des Jahres 4931) verbrannten je nach Quelle über 30 bis 50 Frauen und Männer. Der 20. Siwan wurde fortan in den jüdischen Gemeinden Englands, Frankreichs und des Rheinlandes als Trauer- und Fasttag begangen. Der Ritualmordprozess von Blois war auf das bloße Gerücht gestützt. Ohne „corpus delicti“, d.h. aufgrund jeglichen Fehlens vom begründeten Verdacht bis hin zum Beweis, war er nicht nur seinerzeit aufsehenerregend: Noch heute findet man in rechtsradikalen und antisemitischen Publikationen immer wieder Rechtfertigungen, welche die „Schuld“ der Juden von Blois belegen sollen und die schon nach damaligem Rechtsempfinden höchst ungerechtfertigte Verurteilung noch über 800 Jahre später zu legitimieren versuchen.
Literatur
Bjoern Weigel
Robert Chazan, The Blois Incident of 1171: A Study in Jewish Intercommunal Organization, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research 36 (1968), S. 13–31.
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Ritualmordprozess in Vraca (1891–1893)
Yves Denis, Histoire de Blois et de sa région, Toulouse 1988. Rainer Erb (Hrsg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigungen gegen Juden, Berlin 1993.
Ritualmordprozess in Vraca (1891–1893) In der nordwestbulgarischen Stadt Vraca waren Juden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ansässig. Unmittelbar nach dem Russisch-Osmanischen Krieg (1877–1878) und der Gründung des bulgarischen Staates (1878) lebten in der Stadt 2.434 bulgarische, 153 türkische, 38 Roma und 22 jüdische Familien. Obwohl der Anteil der Juden gering war, war die Beziehung zwischen den religiösen Gruppen im wirtschaftlichen Sektor, hauptsächlich im Handelswesen, wegen der Konkurrenzsituation oft angespannt. Alte antijüdische Vorurteile waren virulent, und es bedurfte nur eines Anlasses, damit die Abneigung in offenen Konflikt umschlug. Die Rolle eines solchen Katalysators spielte am 5. Juli 1891 das Verschwinden eines christlichen Mädchens namens Mica Georgieva. Als das Kind am Abend nicht nach Hause kam und seine Mutter erfolglos nach ihm suchte, übernahmen örtliche Polizeibehörden die Durchsuchung jüdischer Häuser, ohne dabei etwas zu finden. Erst drei Wochen später, am 10. August, wurde Micas Leiche in einem Gebiet namens Zimenica in der Nähe der Stadt Vraca entdeckt. Die Gerichtsmediziner berichteten über einen gewaltsamen Tod und schilderten den möglichen Tathergang – das Kind sei zuerst festgebunden, danach mehrmals mit einer Ahle durchstochen worden. Unter den Stadtbewohnern verbreitete sich schnell das Gerücht, Mica sei von den Juden entführt und ermordet worden, um ihr Blut zu religiösen Zwecken zu verwenden. Diese Verdächtigung wurde von einigen Zeugenaussagen „dienstbereiter“ Bürger bestätigt. Ein Mann behauptete, ein Gespräch zwischen den Juden Baro Levi und Haim Levi gehört zu haben, als sie über „unsere Tat“ sprachen. Die christliche Medizinstudentin Elena Vultschova sagte aus, Johanam und Saruga Benbasa hätten ihr das schwer gequälte Kind für drei Tage gegeben, um es zu heilen. Infolgedessen wurden acht Juden aus Vraca verhaftet, gegen drei von ihnen – Johanam Benbasa, Saruga Benbasa und Haim Levi – wurde Anklage wegen Mordes erhoben. Dank der Unterstützung der jüdischen Gemeinde der Hauptstadt Sofia und der Bemühungen ihres Vorsitzenden Avram Levi übernahm der Rechtsanwalt und spätere Ministerpräsident Bulgariens Konstantin Stoilow die Verteidigung der angeklagten Juden. Während der Gerichtsverhandlungen brachen antijüdische Unruhen aus. In einem Bericht an die Regierung vom 30. August 1891 beschrieb der Gouverneur von Vraca die schwierige Lage, in der sich die Juden befanden: Ihre Häuser und Läden seien von der christlichen Menge angegriffen, sie selbst beleidigt und bedroht sowie der Zugang der jüdischen Kinder zur Schule versperrt worden. Um die Ausschreitungen zu beenden, wandte sich der Gouverneur an den Ministerpräsidenten und gleichzeitigen Innenminister Stefan Stambolow um Hilfe. Stambolow schritt energisch ein, er entließ die an den Unruhen beteiligten Beamten und ordnete die Verstärkung der Gendarmerie an. Der Prozess wurde an den Gerichtshof in Rahovo (heutige Stadt Oriahovo) verlegt.
Ritualmordvorwurf in Konitz (1900)
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Das Gerichtsverfahren dauerte zwei Jahre und endete aufgrund der Verhandlungsführung des Anwalts Stoilow mit Freisprüchen für die drei angeklagten Juden.
Veselina Kulenska
Literatur
Benjamin Arditti, Vidni evrei v Balgarija [Angesehene Juden Bulgariens], Band 2, Tel Aviv 1971. Jordan Popgeorgiev, Grad Vraca: Prinos kum istorijata mu, in: Sbornik za narodni umotvorenija, nauka i kniznina [Die Stadt Vraca: Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, in: Sammelband für nationale Kultur und Volkskunde], Band 20, Sofia 1904, S. 1–75. Stefan Troebst, Antisemitismus im „Land ohne Antisemitismus“. Staat, Titularnation und jüdische Minderheit in Bulgarien 1878–1993, in: Südosteuropa Mitteilungen 34 (1994), 3, S. 187–201.
Ritualmordvorwurf in Amasya (1530) In der christlichen Bevölkerung des Osmanischen Reichs herrschten tradierte Auffassungen fort, nach denen die Juden Feinde der Griechen und der Christen seien und die osmanischen Eroberer bei der Errichtung ihrer Herrschaft unterstützt hätten. So kam es, insbesondere zu den Oster- und Pessachfeiertagen, anlässlich des Verschwindens christlicher Kinder, zu Ritualmordvorwürfen und Ausschreitungen, an denen sich teilweise auch Muslime beteiligten. Der erste bekannte Fall ereignete sich um 1530 im nordanatolischen Amasya. Die armenischen Notabeln erreichten bei den örtlichen Behörden die Hinrichtung des Rabbiners und mehrerer jüdischer Würdenträger, denen der Ritualmord angelastet wurde. Die armenischen Anzeiger wurden jedoch ihrerseits bestraft, als das verlorene Kind nach den Hinrichtungen aufgefunden wurde. Als es im benachbarten Tokat zu Ostern zu einer ähnlichen Empörung unter Griechen kam, erließ Süleyman I. (der Prächtige, 1520–1566) auf Drängen der jüdischen Gemeinde eine Verordnung, die die Gerichtsbarkeit bei Ritualmord den lokalen Gerichten entzog und dem Reichsrat unmittelbar unterstellte.
Literatur
Malte Fuhrmann, Florian Riedler
Stanford J. Shaw, The Jews of the Ottoman Empire and the Turkish Republic, New York 1991, S. 84–92.
Ritualmordvorwurf in Damaskus → Damaskus-Affäre (1840) Ritualmordvorwurf in Kielce → Pogrom in Kielce (1946)
Ritualmordvorwurf in Konitz (1900) Am 13. März 1900 wurde der Rumpf des 18-jährigen Ernst Winter im Mönchsee am Rande der westpreußischen Kreisstadt Konitz (Chojnice) gefunden, nachdem der Gymnasiast einen Tag zuvor als vermisst gemeldet worden war. Durch den Zustand des Leichnams – der Kopf und die Extremitäten waren vom Körper separiert, die Wirbelsäule vermutlich mit einer Säge durchtrennt – war rasch klar, dass es sich um einen
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Ritualmordvorwurf in Konitz (1900)
gewaltsamen Tod des Knaben handelte, und die Ermittlungen der „Mordsache Winter“ wurden eingeleitet. Die Zerstückelung des Körpers ließ auf Fachkenntnisse schließen, und der Staatsanwalt ordnete bereits einen Tag später die Hausdurchsuchung der nahe gelegenen Fleischerei Hoffmann an, da Ernst Winter der Tochter des Hauses Avancen gemacht hatte, die der Vater jedoch mit Drohungen unterband. Die Hausdurchsuchung blieb ergebnislos. Am 15. März fand man den rechten Arm des Ermordeten, wenige Tage später den linken und im April wurde der Schädel des Knaben geborgen. Schon beim Auffinden der Leichenteile mutmaßte die Konitzer Bevölkerung, der jüdische Metzger Adolph Lewy, dessen Haus sich in der Nähe der Fundorte der Leichenteile befand, sei in diese Mordsache verwickelt; dies wurde durch den Obduktionsbefund, in dem auf eine äußerst geringe Blutmenge der Leichenteile hingewiesen wurde, verdichtet, und bereits vier Tage später wurde der von der Bevölkerung offen geäußerte Verdacht eines jüdischen Ritualmordes von der antisemitischen „Staatsbürger-Zeitung“ aufgegriffen, dem sich regionale und überregionale Zeitungen anschlossen. Der ermittelnde Staatsanwalt ließ sich die Akten vorangegangener „Ritualmordfälle“ (Skurz /Reg.-Bezirk Danzig 1884 und Xanten/Niederrhein 1891) kommen und ordnete die Durchsuchung der Konitzer Synagoge und des jüdischen Schlachthauses an. Die Untersuchung des Gotteshauses wie auch die Blutproben, die aus dem Schlachthaus entnommen wurden, blieben ergebnislos. Hingegen verstärkte gerade diese polizeiliche Inspektion der jüdischen Gebäude den Verdacht bei der Bevölkerung, dass der Mord an Winter nur von Juden der Stadt begangen worden sein könne. Da der ermittelnde Staatsanwalt den Ritualmordverdacht weder bestätigte noch dementierte, ihn jedoch als mögliches Tatmotiv auch nicht ausschloss, manifestierte sich diese Annahme bei der Bevölkerung und wurde von der antisemitischen Presse geschürt. Neben den Lokalblättern „Konitzer Tageblatt“ und „Danziger Neueste Nachrichten“ war es vor allem die „Staatsbürger-Zeitung“, die das Motiv eines jüdischen Ritualmordes favorisierte. Auch fanden sich nun vermehrt Zeugen, deren Aussagen nicht nur den jüdischen Metzger Adolph Lewy, sondern auch andere Juden des Ortes belasteten. Darüber hinaus wurden der Polizeibehörde nun nicht nur ausschließlich Angaben zum vermeintlichen Geschehen gemacht, sondern die Zeugen zielten auf eine gemeinschaftliche Verschwörung der ansässigen Juden. Die Atmosphäre in Konitz lud sich innerhalb weniger Tage dramatisch auf, bis es zu antisemitischen Ausschreitungen gegen die Juden kam und am 24. März auswärtige Polizeikräfte in Konitz stationiert wurden. Das preußische Innenministerium in Berlin stellte nun der Konitzer Polizeibehörde Kriminalbeamte zur Seite, die weitergehende Ermittlungen übernahmen und die erneute Sektion der Leichenteile anordneten, um die Todesursache eindeutig festzustellen, da man der Ansicht war, die Untersuchung des Staatsanwaltes habe bisher einseitig zu Lasten der Juden stattgefunden. Die nochmalige Autopsie des Opfers ergab, dass Winter bei lebendigem Leib der Hals durchgeschnitten wurde, was die Konitzer Bevölkerung als eindeutigen Beleg eines jüdischen Ritualmordes betrachtete. Da die Ermittlungsbehörden weder den beschuldigten Adolph Lewy noch andere vermeintlich verdächtige Juden festnahm, richtete sich nun das Misstrauen gegen die Behörden, denen man Einseitigkeit vorwarf. Aufgrund dessen hatte sich eine „NebenuntersuchungsKommission“ gebildet, die aus Konitzer Bürgern und auswärtigen antisemitischen Agi-
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tatoren – darunter auch der Verleger der „Staatsbürger-Zeitung“ Wilhelm Bruhn – bestand und eigene Ermittlungen vornahm. Wilhelm Bruhn gab die vermeintlichen Zeugenaussagen unmittelbar an sein Blatt und an die Justizbehörden weiter. Innerhalb der Bevölkerung schien man dieser Kommission erheblich mehr Kompetenz zuzutrauen als der staatlichen Behörde, da der „Kriminalkommissar Bruhn“ wohl den Zeugen mehr Glauben schenkte als dies die Kriminalisten aus der Hauptstadt taten. Als der abgetrennte Kopf des Ernst Winter am 15. April gefunden wurde, ergab die Obduktion, dass es sich zum einen nicht um einen Einzeltäter gehandelt habe könne, sondern mehrere Personen an der Ermordung beteiligt waren und zum anderen die Separation der Extremitäten eine identische Vorgehensweise zum Mord an dem 14-jährigen Onophrius Cybulla in Skurz 1884 aufwies, dessen Täter zwar nie gestellt wurden, sich aber weiter das Gerücht eines jüdischen Ritualmordes hielt. Nun wurde in Konitz erneut ein – durch falsche Zeugenaussagen – verdächtiger und durch Unschuldsbeweis freigesprochener Jude zum Mordfall Winter vernommen, dessen Unschuld jedoch wiederum rasch belegt wurde. Indes führten Zeugenaussagen zur Verhaftung des jüdischen Lumpenhändlers Israelski, der der Mittäterschaft an der Ermordung Winters verdächtigt wurde. Daraufhin setzten am 17. April die ersten pogromartigen Ausschreitungen in Konitz und nahe gelegenen Orten ein. Die Juden wurden angepöbelt und tätlich angegriffen, die Fensterscheiben ihrer Häuser und der Synagoge zertrümmert, ihre Geschäfte geplündert. Soweit die Pogromisten identifiziert werden konnten, entgingen sie zwar nicht ihrer Bestrafung, doch die Konitzer Juden sahen sich nun in ihrer Existenz bedroht. Die Zeugenvernehmungen sowohl der jüdischen wie auch christlicher Bewohner von Konitz führten zu keinerlei neuen Erkenntnissen, jedoch mehrten sich Zeugenaussagen, die den inhaftierten Israelski weiter belasteten. Eine Zeugin glaubte sich plötzlich zu erinnern, man habe ihr erzählt, dass in der Mordnacht drei Männer das Haus Lewy mit einem Bündel verlassen hätten und in Richtung Mönchsee geeilt seien. Sie selbst habe – als Angestellte bei den Lewys – mit Blut befleckte Wäsche dort vorgefunden nebst einem Taschentuch mit den Initialen E.W. Andere Zeugen beteuerten, ein Bild des Ermordeten und eine Uhrenkette, identisch der des Winters, im Hause Lewy gesehen zu haben. Auch häuften sich nun Mutmaßungen der Mittäterschaft anderer ansässiger Juden, was wohl im Zusammenhang mit der ausgesetzten Belohnung von 20.000 RM zur Ergreifung des Täters zu sehen ist. Auch der noch immer tätigen „Nebenuntersuchungs-Kommission“ wurden Beobachtungen mitgeteilt, die den bereits verdächtigen Adolph Lewy immer mehr belasteten. Da die staatlichen Behörden die Aussagen der Zeugen in Zweifel zogen, warf die Presse – allen voran die „Staatsbürger-Zeitung“ – der Justiz vor, die Aufklärung des Mordes zugunsten der Juden zu unterdrücken. Schlagworte wie „Judenknechte“ und „judenfreundliche“ Justiz schürten die Stimmung und führten schließlich zu einer erneuten Hausdurchsuchung des Juden Lewy sowie zu Nachforschungen bei etwa siebzig jüdischen Familien sowie Schächtern und Kultusbeamten Westpreußens. Diese intensivierten Ermittlungen, die zwar allesamt ergebnislos blieben, führten nun wiederum zu Presseberichten, die einen jüdischen Ritualmord an Winter suggerierten. Als die Leiche des Ernst Winter freigegeben und am 27. Mai bestattet wurde, nahmen einige tausend Menschen am Leichenzug teil. Um etwaigen Ausschreitungen in
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Konitz Einhalt zu gebieten, waren aus dem nahe gelegenen Bromberg zwei InfanterieRegimenter abkommandiert worden. Anlässlich der Beerdigung waren Ansichtskarten gedruckt worden, die das Bild des Winter zeigten mit dem Hinweis einer Belohnung, die zur Ermittlung der oder des Täters führten. Durch den Kauf einer anderen Karte mit dem Text „Den Mördern zur Warnung, den Christen zur Wahrung ihrer teuersten Güter“ sollte das abgebildete Grabmal für Ernst Winter finanziert werden. Der staatsanwaltliche Ermittlungsbericht ergab keinerlei Anhaltspunkte für eine Täterschaft von jüdischer Seite, sondern führte zu einem dringenden Tatverdacht gegen den christlichen Metzger Hoffmann, der zusammen mit seiner Tochter vernommen wurde. Die christliche Bevölkerung versammelte sich daraufhin vor dem Rathaus, und die „Nebenuntersuchungs-Kommission“ drängte den Arbeiter Bernhard Masloff, seine bereits früher gemachten, Adolph Lewy belasteten Aussagen, zu wiederholen. Trotzdem Hoffmann und seine Tochter noch am gleichen Tag freigelassen wurden, versammelten sich mehr als 1.000 Konitzer und zerstörten unter „Hep-Hep“ Rufen die Fensterscheiben der jüdischen Häuser und der Synagoge. Nur mit Hilfe des Militärs, das erst am 5. Juni wieder abgezogen wurde, konnte der Aufruhr niedergeschlagen werden. Der Einsatz des Militärs sowie die festgefahrenen Untersuchungen leisteten der Vermutung Vorschub, der Staat sei von Juden gelenkt. Dies wurde von der „Staatsbürger-Zeitung“ deutlich formuliert, dem sich auch das „Deutsche Volksblatt“ und die Tageszeitung „Germania“, das Hauptorgan des katholischen Zentrums, anschlossen. Anfang Juni verdichteten sich die Beweise, dass die christlichen Zeugenaussagen völlig haltlos waren, und erneut wurde der Metzger Hoffmann vernommen. Daraufhin kam es, unterstützt durch die Presseberichte der „Staatsbürger-Zeitung“, am 10. Juni zu pogromartigen Ausschreitungen gegen die Konitzer Juden. Diese wurden tätlich angegriffen, das Haus des Adolph Lewy wurde demoliert, jüdische Gebäude wurden niedergebrannt und die Synagoge samt Inventar zerstört. Erst die Stationierung von Militär konnte den Ausschreitungen Einhalt gebieten. Als Ende Juni das Verfahren gegen Hoffmann mangels Beweisen eingestellt wurde, sahen sich die Antisemiten in ihrem Verdacht eines jüdischen Ritualmordes wiederum bestätigt. Im September wurde der noch immer in Untersuchungshaft sitzende Israelski aus Mangel an Beweisen entlassen, und Ende Oktober fand in Konitz der Prozess gegen vier Angeklagte statt, die sich mit ihren die Juden belasteten Aussagen des Meineids schuldig gemacht hatten. Zwei der vier Angeklagten wurden schließlich freigesprochen, die beiden anderen erhielten Gefängnisstrafen von einem bzw. zwei Jahren. Als im Oktober 1900 gegen den 17-jährigen Richard Rückwald ein Meineidsprozess stattfand, während dessen Adolph Lewy aussagte, er habe das Opfer Ernst Winter nicht gekannt, wurde diese Behauptung als Falschaussage nachgewiesen. Dies führte zur sofortigen Verhaftung des Adolph Lewy und Anklage wegen Meineids; Rückwald hingegen wurde freigesprochen. Das Schwurgericht Konitz verurteilte Lewy wegen Meineids zu vier Jahren Haft, zu weiteren vier Jahren Ehrverlust und dauernder Aberkennung seiner Eidesfähigkeit. Der Mörder des Ernst Winter war indes noch nicht gefunden. Im November 1900 stellte der Vater des Getöteten Strafantrag gegen Adolph Lewy und dessen Sohn Moritz sowie gegen die jüdischen Metzger Hamburger und Eisenstädt. Die noch immer agierende „Nebenkläger-Kommission“, zahlreiche Antisemiten und die katholischen und evangelischen Pfarrer von Konitz unterzeichneten während
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der Verhandlungen ein in großer Auflage veröffentlichtes Flugblatt, in dem eine jüdische Tatbeteiligung an Ernst Winter suggeriert und um Geldspenden zu Gunsten des Vaters Winter aufgerufen wurde. Während des Verfahrens gegen die Angeklagten legten Sachverständige wiederum neue Obduktionsergebnisse vor, die Ähnlichkeiten von Schächtschnitten am Körper des Ermordeten aufwiesen. Als im Januar 1901 die Kleidungsstücke Ernst Winters nahe des Tatortes gefunden wurden, wiesen die Kriminaltechniker nach, dass sie erst kurz vor dem Auffinden dort abgelegt worden waren. Im Mai lagen alle kriminaltechnischen Ergebnisse vor, die einen Ritualmord eindeutig von der Hand wiesen. Aufgrund dessen erwog man, alle Beschuldigungen der angeklagten Juden fallen zu lassen. Dies allerdings widersprach der politischen Stimmung, und das Justizministerium verlangte ein neues Sachverständigengutachten über den Zeitpunkt des Todeseintrittes und über die Möglichkeit eines Nachweises jüdischer Schächtschnitte am Opfer. Im September 1901 lag dieses Gutachten vor, das besagte, dass als Todesursache nur das Ersticken oder Ausbluten in Betracht komme; hingegen sei eine Erstickung wahrscheinlicher, ein Ausbluten eher zweifelhaft. Die Halsabtrennung sei nicht in Form eines Schächtschnittes erfolgt, sondern zeige eher eine ungenaue Schnittführung. Hiermit war nun die Annahme eines Ritualmordes erheblich in Zweifel gezogen. Doch um ganz sicher zu gehen, wurden die Ärzte Rudolf Virchow und Ernst von Bergmann beauftragt, alle Ergebnisse zu überprüfen. Beide bestätigten im Januar 1902 den Erstickungstod, stellten darüber hinaus fest, dass das Ausbluten des Körpers erst nach Eintritt des Todes stattgefunden habe. Winters Anklage gegen Lewy als Täter war nun haltlos geworden. Gegen den Herausgeber der „Staatsbürger-Zeitung“ Wilhelm Bruhn und den verantwortlichen Redakteur Paul Bötticher war bereits im Mai 1900 Strafantrag wegen Beleidigung und Verleumdung gestellt worden. Das Verfahren gegen beide endete erst im Oktober 1902. Bötticher wurde zu zwölf und Bruhn zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. In der Urteilsbegründung wurde kein Bezug auf die inkriminierte Berichterstattung der Ritualmordbeschuldigung genommen, sondern sie basierte auf Beamtenbeleidigung.
Literatur
Marion Neiss
Johannes T. Groß, Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im deutschen Kaiserreich (1871–1914), Berlin 2002.
Ritualmordvorwurf auf Korfu (1891) In der Nacht vom 1./2. April 1891 wurde das achtjährige jüdische Mädchen Rubina Sarda in der Stadt Korfu ermordet aufgefunden. Da es während der Osterzeit war, verbreitete sich schnell das Gerücht, dass es sich um ein christliches Kind handele, das von Juden für zeremonielle Zwecke getötet worden sei. Ritualmordbeschuldigungen waren bis spät ins 20. Jahrhundert hinein ein verbreitetes Phänomen unter der griechisch-orthodoxen Bevölkerung. Der Ritualmordvorwurf von Korfu hat – neben der Ermordung von ca. 20 Juden, mehreren Verletzten, Plünderungen und Zerstörungen ihres Hab und Gutes – dazu geführt, dass etwa 1.500 Juden auswanderten.
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Ritualmordvorwurf auf Korfu (1891)
Nachdem der Vater des ermordeten Mädchens die Leiche nach Hause getragen hatte, wurde der Mord sofort den Juden zugeschrieben. Die Polizei hetzte die Bevölkerung gegen die Juden der Insel auf, indem sie verbreitete, dass die Staatsanwaltschaft wie auch das griechische Militär auf der Seite der Juden stünden und sie schützen würden. Das ärztliche Gutachten, wonach es „in Rubinas Körper keinen Tropfen Blut gebe“, bestätigte die Erzählung der Polizei und der Bevölkerung, sodass diese Mär auch nicht abgeschwächt wurde, als ein zweites ärztliches Gutachten dem ersten widersprach. Der Fall von Korfu verbreitete sich schnell über die Grenzen der kleinen Insel hinaus. Reaktionen folgten hauptsächlich auf den Inseln Zante, Lefkas, in Trikala, Patras und Chalkis. Begleitet wurden sie von einer Debatte in der lokalen und nationalen Presse, häufig in Form widersprüchlicher Kommentare. Auch internationale Reaktionen gegen Griechenland blieben nicht aus. Mit der Absicht, die internationale Meinung wieder für Griechenland gewinnen zu können, veröffentlichte der griechische Botschafter in London, Georgios Gennadios, in der englischen Tageszeitung „Daily News“ am 13. Mai 1891 einen Artikel, in dem er das Benehmen der Korfioten verurteilte. Letztere, die erst 1864 von Griechenland annektiert worden waren, fühlten sich beleidigt. Der Korfiot Iakovos Polylas, der damals einzige griechische antisemitische Politiker, verteidigte die ionische Bevölkerung und begann eine starke antisemitische Propaganda, die durch seine Zeitung „Rigas Feraios“ Verbreitung fand. Den Juden auf Korfu, die überwiegend verarmt waren, wurde vorgeworfen, sie seien keine Griechen, denn „sie sprechen nicht unsere Sprache, sie besuchen nicht unsere Schulen, sie betrachten Griechenland nicht als ihr Vaterland, sie vermeiden es, Felder zu besitzen, das Geld, das sie von uns verdienen, transferieren sie nach draußen, sie legen es auf fremde Banken“. Hervorgehoben wurde dabei die religiöse und kulturelle Andersartigkeit der Juden, sodass sich die „Ritualmordbeschuldigung“ noch mehr in der griechischen kollektiven Phantasie einprägte. Daran änderte auch die offizielle Stellungnahme der griechisch-orthodoxen Kirche nicht viel, die kurz nach dem Fall von Korfu eine Verurteilung der „Ritualmordbeschuldigung“ veröffentlichte, denn sie traf außer der Verlautbarung keine zusätzlichen drastischen Maßnahmen. Der niedere Klerus wiederum äußerte sich stark antijüdisch und unterstützte weiterhin antijüdische Volkstraditionen (wie die Verbrennung des Judabildes am Gründonnerstag als symbolische Zerstörung des Bösen).
Literatur
Maria Margaroni
Dafnis Konstantinos, Oi Israilites tis Kerkyras. Chroniko epta aionon [Die Israeliten von Korfu. Chronik von sieben Jahrhunderten], Korfu 1978, S. 17–29. Liata Eutuchia, I Kerkyra kai i Zakynthos ston kyklona tou antisimitismou. I “sykofantia gia to aima” tou 1891 [Korfu and Zante im Sturm des Antisemitismus. Die „Blutbeschuldigung” von 1891], Athen 2006, S. 9–152. Bernard Pierron, Juifs et Chrétiens de la Grèce Moderne. Histoire des relations intercommunautaires de 1821 à 1945, Paris 1996, S. 35–39. Pearl Preschel, The Jews of Corfu (unveröffentlichte Dissertation), New York 1984, S. 87– 115.
Ritualmordvorwurf in Neuenhoven (1834)
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Ritualmordvorwurf in Marchegg → Ritualmordvorwurf in Pösing und Marchegg (1529)
Ritualmordvorwurf in Neuenhoven (1834) Fälle von Blutbeschuldigungen waren in der Rheinprovinz im frühen 19. Jahrhundert nicht unbekannt (Köln 1808, Dormagen 1819). Sie wurden in Heiligenkalendern durch die Lebensbeschreibungen der angeblichen Ritualmordopfer, wie des „guten Werner“ von Oberwesel (1286) oder Simons von Trient (1475) (→ Ritualmordvorwurf in Trient) tradiert. Die Überlieferung war in den frühen 1830er Jahren durch die Veröffentlichung des 1831 von dem bekannten Pfarrer und Kirchenhistoriker Anton Joseph Binterim herausgegebenen Buches mit Lebensbeschreibungen von Heiligen, darunter Simon von Trient, wieder aktualisiert worden. Da die Darstellung Simons als Bestätigung des Ritualmords dienen konnte, verfasste der Autor auf Drängen einer jüdischen Abordnung eine Flugschrift „Über den Gebrauch des christlichen Blutes bei den Juden“, die in hoher Auflage unter dem Landvolk verkauft wurde, um der Ritualmordlegende entgegenzuwirken. Die Wirkung war jedoch eine völlig entgegengesetzte, da Binterim der Legende nicht entschieden widersprochen, sondern jüdische Fanatiker und Sektierer als mögliche Täter hingestellt hatte. Der Mord an einem sechsjährigen Jungen aus Neuenhoven, dessen Leiche man am 15. Juli 1834 in einem Roggenfeld nahe des Ortes auffand, erregte großes Aufsehen und Erbitterung, und es kamen Ritualmordgerüchte auf. Diese leuchteten vielen ein, denn die Obduktionsbefunde, die ein Sexualverbrechen festgestellt hatten, wurden zunächst unter Verschluss gehalten. Die Bekanntmachung des Sexualdelikts kam am 27. Juli zu spät, um die Stimmung noch zu wenden, zumal der wahre Täter nie gefasst wurde. Bereits in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli rotteten sich in Neuenhoven, das damals ca. 235 Einwohner zählte, vier- bis fünfhundert Personen aus der Umgebung zusammen und begannen, die Häuser und Läden zweier jüdischer Familien zu stürmen, die Möbel zu zertrümmern, Waren zu plündern und die Hausbewohner zu misshandeln. Erst die zu Hilfe gerufenen Husaren stellten die Ruhe wieder her. Allerdings zog ein Teil der Menge ins benachbarte Bedburdyck und erstürmte die dortige Synagoge, zertrümmerte die meisten Gegenstände und nahm die Thorarolle heraus, um sie zu verbrennen. Diese „leicht entzündliche Aufregung wider die Juden“, wie es der Regierungspräsident in seinem Bericht an den preußischen Innenminister formulierte, verbreitete sich rasch in der gesamten Gegend, und am Abend des 21. Juli kam es zu Hepp-Hepp-Rufen und Steinwürfen gegen jüdische Häuser in Gladbach, Glehn und anderen kleinen Orten des Kreises Grevenbroich. Sie sollten sich in den kommenden Wochen am Niederrhein bis in die Kreise Neuss, Geldern (Xanten), Gladbach, Jülich und Düren sowie nach Düsseldorf ausbreiten. Die preußischen Behörden stationierten ein Husarenregiment „inmitten der besagten Ortschaften“ und richteten ein Patrouillen-System ein. Am Abend des 22. Juli 1834 mussten die Truppen in Grevenbroich eine größere mit Gewehren und Heugabeln bewaffnete Menge zerstreuen, die die Juden bedrohte und die Gendarmen mit Steinwürfen attackierte. Am folgenden Abend kam es in Wevelingshoven zu bürgerkriegsartigen Zusammenstößen zwischen der Bürgerwache und
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der militärischen Besatzung des Ortes. Das Patrouillen-System und die militärische Einquartierung in mehreren Gemeinden beruhigten die Lage, doch bis Mitte August hörte man Spottlieder und Hepp-Hepp-Rufe, und es kam zu Schmierereien an jüdischen Häusern und „Neckereien“, um die Juden einzuschüchtern. Als die tätlichen Übergriffe Mitte August wieder aufflammten, wurde in den betroffenen Orten eine starke militärische Besatzung einquartiert. Da dies die Gemeinden finanziell stark belastete und viel Militär band, hielt der Regierungspräsident die Bürgermeister des Kreises Grevenbroich an, in ihren Gemeinden alle Bürger zu verpflichten, Ruhestörer anzuzeigen und selbst für die Sicherheit ihrer jüdischen Mitbürger zu sorgen. Nach Hans Georg Kirchhoff war „die Wirkung dieser Selbstverpflichtung […] verblüffend“, denn als am 7. September in Bedburdyck und Hemmerden wiederum Juden tätlich angegriffen wurden, kam es erstmals zu einer Verhaftung der Täter seitens der Ortsbewohner. Diese Praxis machte den Unruhen schließlich ein Ende. Bei der Strafverfolgung gingen die Behörden und Gerichte „scharf und korrekt“ vor. Zwei Hauptunruhestifter wurden zur Höchststrafe für schwere Sachbeschädigung, Nötigung und Landfriedensbruch von je sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Das geringe Strafverfolgungsinteresse seitens der örtlichen Autoritäten ließ viele Täter allerdings straffrei ausgehen, und Juden zogen aus Angst vor Repressionen ihre Anzeigen gegen namentlich bekannte Einwohner später wieder zurück. Die beiden zuerst in Neuenhoven attackierten Juden verließen den Ort kurz darauf, um sich im nahe gelegenen Odenkirchen niederzulassen. Die Exzesse von 1834 kann man sozial-ökonomisch zu den vorindustriellen Agrarrevolten rechnen, die von den wirtschaftlich marginalen und sozial frustrierten Unterschichten (junge Handwerksgesellen, Lohnarbeiter, Tagelöhner, Lehrlinge) getragen wurden, sekundiert von der ländlichen Bevölkerung und geduldet bzw. unterstützt von dorfbürgerlichen Personen, die die Juden als Konkurrenz empfanden und die den Aktionen mit einer gewissen Sympathie gegenüberstanden. War der Kindesmord der Auslöser der antijüdischen Unruhen, so lag aber die Ursache nicht nur in dem religiösen Gegensatz und im dumpfen Volksaberglauben, vielmehr bestanden auf dem Lande nach wie vor antagonistische Gruppenbeziehungen, die sich aus der starken wirtschaftlichen Position der Juden im Landhandel als Kleinhändler, Kleinkreditgeber und Viehund Produktenhändler ergaben. Die untersuchenden preußischen Beamten schrieben von „im allgemeinen verhassten Juden“. Die Rede von „wucherischer Bedrückung“ und „scharfsinnigen Schacherkünsten“ zum Nachteil der christlichen Landbewohner findet sich in den zeitgenössischen Berichten von Beamten und Zeitungen und wird als eine Ursache für die Exzesse angeführt. Der noch aus der voremanzipatorischen Zeit stammende strukturelle Grundkonflikt wurde durch die landwirtschaftliche Grundkrise, die Krise des Handwerks durch die liberalisierte Marktwirtschaft und den steilen Bevölkerungsanstieg in dieser Zeit noch verschärft. Damit gerieten die Juden als Kleinkreditgeber der nur marginal kapitalisierten Bauern als vermeintliche Verursacher in die Kritik, wenn diese ihre Schulden nicht mehr begleichen konnten. Hingegen erwies sich die Vermutung des Düsseldorfer Regierungspräsidenten, die Unruhen könnten politische Ursachen haben, als falsch, wenn auch „eine im Rheinland weit verbreitete Einstellung gegen den preußischen Staat und
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seine Beamten“ hinzuzurechnen ist, sodass die Juden auch als „Schützlinge der Behörden attackiert“ wurden. Am Niederrhein kam es in den 1830er Jahren zu weiteren Fällen von Ritualmordbeschuldigungen (Willich bei Krefeld, Düsseldorf, Jülich) und der Fall Buschhoff in Xanten ( → Ritualmordvorwurf in Xanten) bildete noch 1892 einen „späten Nachhall“.
Literatur
Werner Bergmann
Hans Georg Kirchhoff, Der Kindesmord in Neuenhoven und das Judenpogrom von 1834, in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Grevenbroich, Band 6, hrsg. vom Geschichtsverein für Grevenbroich und Umgebung e.V., 1985, S. 45–78. Der Rheinische Provinziallandtag und die Emanzipation der Juden im Rheinland 1825– 1845. Eine Dokumentation, 2 Bände, bearbeitet von Dieter Kastner, Köln 1989. Stefan Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815–1848/49), Frankfurt am Main 1993. Herbert A. Strauss, Die preußische Bürokratie und die anti-jüdischen Unruhen im Jahre 1834, in: Gegenwart im Rückblick. Festgabe für die Jüdische Gemeinde zu Berlin 25 Jahre nach dem Neubeginn, hrsg. von Herbert A. Strauss und Kurt R. Grossmann, Heidelberg 1970, S. 27–55.
Ritualmordvorwurf in Norwich (1144) Der Ritualmordvorwurf in Norwich ist der erste historisch belegte Fall einer solchen Anschuldigung gegen Juden im Mittelalter. 1144 wurde in Norwich der 12-jährige William tot aufgefunden. Die Familie des Opfers beschuldigte daraufhin die Juden Norwichs der Tat, obwohl keine Beweise hierfür erbracht werden konnten. Ab 1150 beschäftigte sich der Cambridger Benediktinermönch Thomas von Monmouth, der erst später nach Norwich kam und kein Augenzeuge des Geschehens war, mit dem Fall. Sein Werk über das „Leben und Leiden des William von Norwich“ inszeniert einen Untersuchungsbericht, in dem angebliche Zeugen zu Wort kommen. In Folge dieser Untersuchung wird William zum Opfer eines jüdischen Ritualmords erklärt. In diesem Text sind nahezu alle Elemente des später auch in anderen europäischen Ländern erhobenen Vorwurfs enthalten: William von Norwich wurde durch einen christlichen Helfershelfer im Auftrag der Juden von seiner Familie weggelockt und anlässlich des Pessachfestes von ihnen ermordet. Die ausführlich und brutal beschriebenen Folterszenen des Buches imitieren die Passion Christi. Nach langem Leiden durch die als bösartig und hinterhältig dargestellten Juden stirbt William durch Kreuzigung. Der Leichnam wird von den Juden an Karfreitag im nahe gelegenen Wald versteckt, es geschehen aber Wunder, sodass er entdeckt, identifiziert und schließlich auf dem Friedhof des Klosters von Norwich begraben wird. Thomas von Monmouth liefert auch unter Berufung auf einen jüdischen Konvertiten ein Motiv für den Mord. Nach dessen Zeugnis müssten Juden jährlich rituell das Blut eines Christen vergießen, um ihren Glauben ausüben zu können. Die Juden würden jährlich auf einem Treffen in Narbonne darüber abstimmen, an welchem Ort dieses Opfer vollzogen werde. Auch wenn es Thomas von Monmouth hier primär um eine kol-
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Ritualmordvorwurf in Norwich (1144)
lektive und unbedingte Gegnerschaft der Juden ging, so enthält die Schilderung doch Elemente einer Verschwörungstheorie. Trotz der von Thomas von Monmouth erneut erhobenen Anschuldigungen sind keine Ausschreitungen in Norwich bekannt geworden. Die Bedeutung des erhobenen Vorwurfs liegt darin, die Folie für eine bis ins 20. Jahrhundert reichende Serie von Ritualmordverleumdungen zu bilden, durch die in weiten Teilen Europas viele Juden verfolgt und ermordet wurden. Thomas von Monmouth ging es primär um die Etablierung eines Märtyrerkultes in Norwich. Dies zeigt sich daran, dass die Kriterien für die Heiligenverehrung (Wundertätigkeit, Martyrium, Unschuld und Jungfräulichkeit des Heiligen) von ihm deutlich hervorgehoben wurden. Für sein Werk nutzte er eine vorhandene judenfeindliche Haltung im Ort aus, um eine Heiligenvita zu verfassen, die sich antijüdischer Polemik mit besonderer Heftigkeit bediente. Bestimmte theologische Kategorien wie die Liturgie der Passionszeit und die Leidensmystik (hier als Imitatio Christi) dienen dazu, den Juden die Verhöhnung des Kreuzestodes Jesu und des christlichen Glaubens insgesamt vorzuwerfen und gleichzeitig das jüdische Glaubensleben (Pessach-Fest) zu pervertieren. Neuere Studien gehen davon aus, dass auch die politische Situation Englands nach dem erfolglosen Zweiten Kreuzzug und inmitten der Unruhen des Bürgerkrieges (1135–1154) eine zentrale Rolle spielte. Ein neueres Erklärungsmodell (Yuval) sieht im Ritualmordvorwurf eine christliche Missinterpretation jüdischer Märtyrer, die sich und ihre Kinder während der Verfolgungen des Ersten Kreuzzugs (1096) töteten (Tod als Kiddusch Haschem).
Literatur
Markus Thurau
Jeffrey J. Cohen, The Flow of Blood in Medieval Norwich, in: Speculum 79 (2004), S. 26– 65. Denise L. Despres, Adolescence and Sanctity: The Life and Passion of William of Norwich, in: Journal of Religion 90 (2010), S. 33–62. Montague R. James, Augustus Jessopp (Hrsg.), Thomas of Monmouth: The Life and Miracles of St. William of Norwich (De vita et passione Sancti Willelmi martyris Norwicensis), Cambridge 1896. Gavin I. Langmuir, Toward a Definition of Antisemitism, Berkeley, Los Angeles, Oxford 1990. Vivian D. Lipman, The Jews of Medieval Norwich, London 1967. Friedrich Lotter, Innocens virgo et martyr. Thomas von Monmouth und die Verbreitung der Ritualmordlegende im Hochmittelalter, in: Rainer Erb (Hrsg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, Berlin 1993, S. 25–72. John M. McCulloch, Jewish Ritual Murder: William of Norwich, Thomas of Monmouth, and the Early Dissemination of the Myth, in: Speculum 72 (1997), S. 698–740. Israel Yuval, Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen, Göttingen 2007.
Ritualmordvorwurf in Petrovo selo (1928)
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Ritualmordvorwurf in Petrovo selo (1928) Anfang September 1928 berichteten mehrere serbische Tageszeitungen über Ritualmordgerüchte, die in dem nordserbischen Ort Petrovo selo, nördlich von Novi Sad gelegen, kursierten. Die Gerüchte kamen auf, nachdem das 15-jährige Mädchen Margita Takač verschwunden war. Nach Meinung zahlreicher Menschen vor Ort war sie einem jüdischen Ritualmord zum Opfer gefallen. Margita verschwand am 27. August 1928. An dem Tag hatte sie ihr Arbeitgeber, der jüdische Händler Maks Pollak, zum benachbarten Händler Adler geschickt, damit sie einige Besorgungen erledigte. Bereits am Abend des 27. kamen ihre Eltern zu Pollak, um nach der Tochter zu suchen. Am folgenden Tag meldeten sie sich erneut bei ihm, da das Mädchen immer noch nicht nach Hause gekommen war und gingen schließlich zur Polizei, um es als vermisst zu melden. Nach Angaben der jugoslawischen zionistischen Zeitschrift „Židov“ war es Margitas Großvater, der am Tag nach ihrem Verschwinden das Gerücht streute, Juden hätten seine Enkelin getötet. Dieses Gerücht verbreitete sich im Ort wie ein Lauffeuer. Die Menschen erzählten sich, Juden hätten Margita geschlachtet, da sie ihr Blut für eine sich im Bau befindliche Synagoge in der nahe gelegenen Stadt Senta brauchten. In den folgenden Tagen herrschte im Ort eine höchst angespannte Atmosphäre. Aufgebrachte Gruppen versammelten sich vor jüdischen Geschäften. Am 30. August bedrohten einige hundert mit Äxten bewaffnete Bauern die Familie von Maks Pollak. Trotz der Drohungen kam es zunächst zu keinen gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden in Petrovo selo. Am 5. September 1928 wurde Margita im benachbarten Ort Stari Bečaj von einem Polizisten gefunden und am folgenden Tag nach Hause gebracht. Ihre Haare waren kurz geschnitten, sie trug einen Herrenanzug, sie weinte fortdauernd und machte einen erschöpften und ausgehungerten Eindruck. Obwohl sie sofort medizinisch untersucht wurde und die Ärzte feststellten, dass sie gesund war, verstummten die Ritualmordgerüchte nicht. Nach der neuen Version hätten die Juden Margita zwar nicht getötet, sondern ihr das Blut durch die Nase ausgesaugt, weshalb sie jetzt so schwach und blass sei. Die Aufregung der Dorfbewohner entflammte erneut und am Samstag, den 8. September war überall zu hören, dass es zu einer Abrechnung mit Juden kommen werde. Aus den umliegenden Ortschaften eilten Polizei und Gendarmerie heran, denen es zunächst gelang, für Ruhe zu sorgen. Am späten Samstagabend versammelte sich dann aber eine Gruppe von etwa fünfzig Menschen, hauptsächlich Jugendliche, die Häuser der Familie Pollak und anderer Juden angriff und Fenster zertrümmerte. Nach einem neuerlichen Einsatz der Gendarmerie löste sich die Menge auf. Am darauffolgenden Montag wurden 18 junge Männer, die an den Angriffen beteiligt waren, verhaftet. Ebenfalls am Montag machte auch Margita ihre Aussage vor der Untersuchungskommission. Über den Inhalt der Aussage brachte die Presse widersprüchliche Angaben. Nach einer Version hätte Margita Waagengewichte verloren. Da sie nicht das Geld hatte, um diese zu ersetzen, habe sie Angst bekommen, einen Herrenanzug geklaut und sei geflüchtet. Nach einer zweiten Version habe sie von Pollack zehn Dinar erhalten und sei geschickt worden, neue Gewichte zu kaufen. Sie hätte aber beschlossen, das Geld und einen Anzug von Pollack zu stehlen und eine neue Arbeit zu suchen. Margita habe zudem berichtet, dass sie viel gelaufen sei, wenig gegessen
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Ritualmordvorwurf in Pösing und Marchegg (1529)
habe, dass niemand sie angerührt habe und dass sie nicht wisse, was mit ihren Haaren passiert sei. Die Juden von Petrovo selo wandten sich an den Belgrader Oberrabbiner Isak Alkalaj, der wiederum beim jugoslawischen Ministerpräsidenten Anton Korošec intervenierte und umfassenden Schutz für Juden forderte. Die Regierung reagierte sofort und stellte mit hohem Polizeiaufgebot Ruhe und Ordnung wieder her. Die Gerüchte verstummten bald, die Beziehungen zwischen Juden und Christen in Petrovo selo blieben aber nachhaltig gestört. Die Zionisten Jugoslawiens sahen in dem Fall von Petrovo selo und der problemlosen Aktivierung des „mittelalterlichen Märchens vom Ritualmord“ einmal mehr die Notwendigkeit ihrer politischen Arbeit bestätigt. In ihrem Organ „Židov“ nahmen das Thema und die Diskussion darüber einen großen Platz ein. In einigen serbischen Tageszeitungen, wo die Vorwürfe ebenfalls als eine „phantastische Geschichte“ aus dem Mittelalter bezeichnet wurden, blieben die Ereignisse von Petrovo selo nur eine einmalige Meldung.
Marija Vulesica
Ritualmordvorwurf in Polná (1899) → Hilsner-Affäre
Ritualmordvorwurf in Pösing und Marchegg (1529) 1529 wurde in der westungarischen Kleinstadt Pösing (heute Pezinok/Slowakei, nordwestwestlich von Bratislava) eine Ritualmordbeschuldigung erhoben, die nach wenigen Tagen zur Hinrichtung von 30 Juden durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen führte. Der lokale Feudalherr hatte, um sich seiner jüdischen Gläubiger zu entledigen, das Verschwinden eines Kindes dazu benutzt, um die jüdische Gemeinschaft der Ortschaft des Ritualmordes zu bezichtigen. In aller Eile wurden unter Folter Geständnisse erpresst und ein Großteil der lokalen jüdischen Gemeinschaft zum Tode durch Verbrennen verurteilt. Selbst für zeitgenössische Verhältnisse widersprach der Prozess jeglicher Rechtsnorm. Als von gleicher Seite ebenfalls mit dem Ritualmordvorwurf gegen die Juden in der benachbarten Gemeinde Marchegg vorgegangen wurde und diesen nach ihrer Verhaftung das gleiche Schicksal drohte, gelang es in diesem Fall den Prozess anzuhalten. Das für ermordet erklärte Kind tauchte im Falle von Marchegg lebendig wieder auf und brachte die Anklage in arge Verlegenheit. Diese unerwartete Wende ermöglichte es von jüdischer Seite, den Widerstand gegen den Ritualmordvorwurf und die drohende Hinrichtung zu mobilisieren. Vertreter der lokalen Judenheit gelangten an Josel von Rosheim, der 1528 durch eine Intervention bei König Ferdinand I., dem Bruder Kaiser V., die Rücknahme eines Vertreibungsediktes bezüglich der elsässischen Juden erreicht hatte und deshalb als erfolgreicher Fürsprecher an höchster Stelle für die jüdische Gemeinschaft galt. Die Intervention des Josel von Rosheim am Hof der Habsburger in Prag zeitigte rasch positive Wirkung und führte zur Freilassung der verhafteten Juden von Marchegg. Die Ereignisse um die Ritualmordbeschuldigungen von Pösing und Marchegg stehen für einen Wendepunkt in der Geschichte der Juden im Heiligen Römischen Reich
Ritualmordvorwurf in Tiszaeszlár (1882)
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Deutscher Nation. Hatte Josel von Rosheim 1528 die seit dem 14. Jahrhundert in Deutschland herrschende Tendenz einer schrittweisen Vertreibung der Juden aufhalten können, erreichte er kurz darauf, dass auch der religiös verbrämte Ritualmordvorwurf von Seiten der Landesfürsten als unhaltbar betrachtet wurde. Mit der Ernennung Josel von Rosheims im Kontext seiner diplomatischen Erfolge als „Vorgänger und Befehlshaber der Juden des Reiches“ zeichnete sich eine Trendwende im Umgang mit der jüdischen Minderheit ab, die ihr Überleben in der frühen Neuzeit im Reich ermöglichen sollte. Die einsetzende Reformation sollte bei aller Ambivalenz gegenüber den Juden zusätzlich eine kritische Auseinandersetzung mit den tradierten Glaubenswelten und Vorurteilen bewirken. Der im Gegensatz zu Martin Luther Zeit seines Lebens judenfreundlich argumentierende Reformator Andreas Osiander wandte sich in seinen Schriften vehement gegen den Ritualmordvorwurf und zog dabei die Verfolgung und Ermordung der Juden von Pösing als Beispiel für eine gefährliche, abergläubische und überkommene Form des Judenhasses heran. In Pösing war durch eine rasche und besonders skrupellose Vorgehensweise der Obrigkeit die Vernichtung der lokalen jüdischen Gemeinschaft auf Grund einer Ritualmordbeschuldigung noch durchführbar gewesen. Gelangten die Anstifter der Verfolgung jedoch nicht sofort zum gewünschten Ergebnis mit der Beseitigung der jüdischen Opfer, konnten die Ritualmordvorwürfe kaum noch aufrechterhalten werden. Die Ritualmordbeschuldigungen von 1529 sollten in keiner Weise das definitive Ende dieser Form der Judenverfolgung bedeuten. Die Vorstellung lebte bis in die Neuzeit weiter. Noch im „Geographisch-Historischen und Produkten Lexikon von Ungarn“, verfasst von Johann Matthias Korabinsky und veröffentlicht in Pressburg/Bratislava im Jahre 1786, wurde der Ritualmord von Pösing als Tatsache festgehalten. Kinder unter zehn Jahren seien verschont geblieben und der Taufe zugeführt worden. Der Ort der Hinrichtung sei seitdem als „Judenbergel“ bezeichnet worden, heißt es dort.
Literatur
Daniel Gerson
Susanna Buttaroni, Stanislaw Musial, Ritualmord, Wien 2002. Rainer Erb (Hrsg.), Die Legende vom Ritualmord, Berlin 1993. Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek 1991.
Ritualmordvorwurf in Rinn (1475) → Anderl-von-Rinn-Kult
Ritualmordvorwurf in Tiszaeszlár (1882) In den Jahren 1882–1883 fand in Ungarn ein Prozess um einen Ritualmordvorwurf statt, der als einer der letzten seiner Art in ganz Europa für Aufsehen sorgte. Im nordostungarischen Dorf Tiszaeszlár verschwand am 1. April 1882 die elfjährige Magd Eszter Solymosi. Im Dorf entstanden sogleich Gerüchte, dass Juden sie umgebracht hätten, weil sie ihr Blut für ihre bevorstehenden Pessachrituale bräuchten. Die Söhne des jüdischen Tempeldieners (jeweils fünf und vierzehn Jahre alt) sagten unter Folter aus, sie hätten gesehen, wie (teils ortsfremde) Erwachsene das Blut des Mädchens ge-
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Ritualmordvorwurf in Trient (1475)
nommen und in Töpfen aufgefangen hätten. Der antisemitisch eingestellte Untersuchungsrichter, den weite Teile der unteren Administration unterstützten, nahm daraufhin die Mehrheit der jüdischen Dorfbewohner in Untersuchungshaft. Die Leiche von Eszter Solymosi wurde am 18. Juni aus dem Fluß Theiß geborgen. Sie wies keine Stichverletzungen oder Wunden auf und wurde von einer Freundin identifiziert, jedoch nicht von ihrer Mutter. Mittlerweile wurde das ganze Land von einer antisemitischen Welle erfasst, die von Abgeordneten wie Győző Istóczy und Géza Ónody ausging. Sie warnten in Reden vor einer angeblichen „Verjudung“ Ungarns im Zuge der aus Russland erfolgten Einwanderung. In dieser Atmosphäre erklärten die lokalen Behörden, die Juden hätten eine andere Leiche in die Kleider von Eszter Solymosi gesteckt. Der Strafverteidiger der angeklagten Juden, der liberale Politiker Károly Eötvös, holte allerdings medizinische Expertisen aus Budapest, Prag, Berlin und Paris ein. Aus diesen ging eindeutig hervor, dass die aufgefundene Leiche seit geraumer Zeit im Wasser lag und die eines jungen Mädchens war. Die jüdischen Angeklagten wurden am 3. August 1883 freigesprochen. Die Bedeutung des Ritualmordvorwurfs von Tiszaeszlár liegt darin, dass er als Auslöser des modernen ungarischen Antisemitismus gelten kann. Istóczy und Ónody nahmen dabei nicht nur Argumente vorweg, die später von Karl Lueger und Georg von Schönerer vertreten wurden. Als Mitglieder des von der wirtschaftlichen Modernisierung besonders betroffenen niederen Adels engagierten sie sich fortan in einer „Antisemitenpartei“, die in den 1880er Jahren kurzzeitig einige Wahlerfolge erzielen konnte. Der „Fall von Tiszaeszlár“ sollte später vor allem in den 1930er und 1940er Jahren einen Bezugspunkt für die ungarische Rechte bilden. In den 1880er Jahren gelang aber dem inklusiven ungarischen Nationalismus noch die Abwehr der antisemitischen Kräfte, die bereits die Ausgrenzung der Juden und die Rücknahme der Judenemanzipation forderten.
Literatur
Franz Sz. Horváth
Rolf Fischer, Entwicklungsstufen des Antisemitismus in Ungarn 1867–1939. Die Zerstörung der magyarisch-jüdischen Symbiose, München 1988. Andrew Handler, An Early Blueprint for Zionism. Győző Istóczy’s Political Anti-Semitism, Boulder 1989. Jakob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700–1933, München 1990. Edith Stern, The glorious victory of truth: The Tiszaeszlar Blood Libel Trial, 1882–1883. A historical-legal-medical research, Jerusalem 1998.
Ritualmordvorwurf in Trient (1475) An Gründonnerstag, dem 23. März 1475, verschwand der zwei Jahre alte Simon Unferdorben aus seinem Zuhause in Trient. Der Junge wurde entlang der Kanäle von der Etsch bis in die Stadt gesucht. Der Erfolg blieb bis Ostersonntag aus, als eine jüdische Familie seinen toten Körper in ihrer Zisterne im Keller fand, die mit einem außenliegenden Graben verbunden war. Die jüdische Gemeinschaft in Trient bestand aus drei Haushalten. Drei Tage vorher hatten sie zusammen den Beginn des Pessachfestes ge-
Ritualmordvorwurf in Trient (1475)
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feiert, am Tag, an dem Simon verschwunden war. Das Oberhaupt der Gemeinschaft, Samuel, der seinen Lebensunterhalt als Geldverleiher bestritt, hatte seit Längerem einen Disput mit einem Christen aus dem Dorf, der als der Schweizer bekannt war. Die Juden hatten den Verdacht, dass er oder jemand anderes die Leiche in ihr Haus gelegt hatte. Obwohl sie fürchteten, des Mordes bezichtigt zu werden, brachten sie den Leichnam trotzdem zu den städtischen Obrigkeiten, dem Bischof von Trient, Johannes Hinderbach, und den Repräsentanten des Erzherzogs Sigismund von Tirol. Kurz darauf wurden die Juden verhaftet. Während der vorausgehenden Befragungen machte eine Christin die Aussage, dass sie am Karfreitag die Schreie eines Jungen aus Samuels Haus gehört habe. Eine Andere sagte, dass ihr Sohn vor 14 Jahren an Ostern als vermisst galt und lebend in Samuels Keller aufgefunden wurde. Darüber hinaus behauptete ein in Trient lebender jüdischer Konvertit, dass Juden in ihren Ritualen christliches Blut verwenden würden. Solche Erzählungen waren zu dieser Zeit nicht unüblich in Trient. Zudem hatte der franziskanische Prediger Bernardino da Feltre kurz vor Ostern die Christen davor gewarnt, jüdische Wucherer aufzusuchen. Offensichtlich waren diese Zeugnisse hinreichend, um Bischof Hinderbach von der Schuld der Juden zu überzeugen. Als er eine Untersuchung unter Gebrauch gerichtlicher Folter anordnete, war seine Absicht keineswegs, die Schuld der Juden zu überprüfen, sondern vielmehr Belege für die Einzelheiten der vermeintlich rituellen Ermordung zu sammeln. Während der Befragungen initiierte Hinderbach einen Kult um den kleinen Simon. Zwischen März 1475 und Juni 1476 wurden dem angeblichen Märtyrer 129 Wunder zugeschrieben. Im Juni 1475 wurden acht der inhaftierten Juden hingerichtet, ein anderer hatte bereits Selbstmord verübt. Indessen, unterstützt von einem von Papst Innozenz III. 1247 ausgegebenen Dekret, das Ritualmordprozesse verbot, bewogen italienisch-jüdische Gemeinden Papst Sixtus IV. dazu, Ermittlungen in dem Prozess zu starten. Der Päpstliche Kommissar Baptista Dei Giudici, Bischof von Ventimiglia, meldete aus Trient, dass die vermeintlichen Wunder, die auf Simon projiziert wurden, „auf lügnerische, betrügerische und täuschende Weise beschrieben wurden“. Als er heimkehrte, sagte er, dass er nun dorthin zurückgekommen sei, „wo keine Unschuldigen getötet werden, wo die Christen keine Juden ausplündern, wie es in Trient geschieht“. Später rief er einen christlichen Einwohner aus Trient zu sich, der unter gerichtlicher Folter den Schweizer anklagte, Samuel getötet zu haben. Im Oktober 1475 drängten Dei Giudici und Sixtus IV. Hinderbach, die restlichen Juden zu befreien. Stattdessen führte der Bischof mit Unterstützung des Erzherzogs Sigismund von Tirol die Vernehmungen fort, und im Januar 1476 wurden weitere fünf Juden hingerichtet, während ein anderer bereits in der Zelle gestorben war. Die weiblichen Mitglieder der jüdischen Familien wurden später unter einer milderen Form der Folter vernommen. Eine von ihnen starb im Gefängnis, die anderen wurden getauft. In der Zwischenzeit hatte Sixtus IV. eine Kardinalkommission einberufen, um das Gerichtsverfahren zu überprüfen. Die Kommission resultierte in einer Päpstlichen Bulle, ausgegeben am 20. Juni 1478. Die Bulle deklarierte das Verfahren auf der einen Seite als rechtsgültig, während es auf der anderen Seite die Gültigkeit des Decretums von Innozenz IV. bekräftigte, das Ritualmordprozesse ebenso wie die Verfolgung von Juden verbot. Das Resultat könnte demnach sowohl zugunsten der
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Ritualmordvorwurf in Xanten (1891)
Unterstützer als auch zugunsten der Gegner des Kultes um Simon verwendet werden. Tatsächlich war es ein Sieg für die Ersten und ein Zeugnis für die Macht von Sigismund von Tirol und für die Schwierigkeit, den schnell wachsenden Kult zu unterdrücken, der vorangetrieben wurde von Sixtus’ eigenem Orden, den Franziskanern. Der Prozess von Trient nimmt einen wichtigen Platz in der Geschichte des Antisemitismus ein, da es die Absicht des Prozesses war, eine Ritualmordgeschichte zu bestätigen. Daher versuchte man, jüdische Rituale hinsichtlich der Verwendung christlichen Blutes und die Bedeutung hebräischer Flüche gegen Christen zu erklären sowie vergangene Kindestötungen als Beweis für eine Historie des Ritualmordes heraufzubeschwören. Der Prozess war ein zentrales Glied in einer Kette von einem Dutzend Prozessen im deutschen Alpengebiet im 15. Jahrhundert. Nach dem Prozess breiteten sich vergleichbare Ereignisse in Richtung Norditalien aus, während der Kult um Simon sich weit verbreitete, unterstützt von Sigismund von Tirol und seinem Nachfolger Maximilian. Der Kult und die Geschichte des jüdischen Ritualmordes in Trient wurden unter anderem von Benedetto Bonelli (1747), der jesuitischen Zeitschrift „La Civiltà Cattolica“ (1880er) und Giuseppe Divina (1902) vorangetrieben. Auf der anderen Seite wurde dem Kult durch Josef Scherer (1901) und Willehad Paul Eckert (1964) entgegengewirkt, und schließlich wurde er 1965, dem → Zweiten Vatikanischen Konzil folgend, durch ein päpstliches Dekret aufgehoben.
Literatur
David L. Dahl
Ronnie Po-chia Hsia, Trient 1475: Geschichte eines Ritualmordprozesses, Frankfurt am Main 1997.
Ritualmordvorwurf in Xanten (1891) Am frühen Abend des 29. Juni 1891 wurde in Xanten die Leiche des fünfjährigen Johann Hegmann von Nachbarn, ausgeschickt von der besorgten Mutter, in der Scheune des Gastwirtes und Stadtverordneten Wilhelm Küppers gefunden. Der Hals wies eine klaffende, von „gewandter Hand“, wie man meinte, ausgeführte Schnittwunde auf, und der Arzt Dr. Steiner, der die Leiche am Fundort untersucht hatte, fand dort wenig Blut, sodass man annahm, Fund- und Tatort seien nicht identisch – was sich später als falsch herausstellte. Aufgrund dieser Indizien und Verdachtsmomente kam im Ort schnell das Gerücht auf, Juden hätten den Jungen zu rituellen Zwecken ermordet, zumal Ritualmordbeschuldigungen seit den 1880er Jahren von antisemitischen Agitatoren verbreitet wurden. Der Verdacht fiel auf den früheren Schächter der jüdischen Gemeinde, den Schlachter Adolf Buschhoff, der unweit des Fundortes wohnte. Um die Todesursache zu klären, ordnete der Amtsrichter die Obduktion der Leiche an, wobei die beiden Kreisärzte Tod durch Verbluten und „außerordentliche Blutleere“ der inneren Organe feststellten, aber die Frage des Tatorts offen ließen, während ein weiteres Gutachten des Kreisphysikus Dr. Bauer (15. Juli) Fundort und Tatort als identisch nachwies. Da auch Vernehmungen keine Anhaltspunkte boten, sah der Amtsrichter keinen Grund, Buschhoff zu verhaften oder sein Haus durchsuchen zu lassen, wie es von der Xantener Bevölkerung gefordert wurde. Nach und nach meldeten sich immer mehr
Ritualmordvorwurf in Xanten (1891)
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Zeugen, die indirekt etwas gesehen haben wollten und von denen einige Buschhoff schwer belasteten. Daraus entwickelte sich ein Pogromklima, das sich am 12. Juli sowie am 7. und 8. August in Ausschreitungen gegen Wohnungen und Läden sowie in der Misshandlung einheimischer Juden entlud. Als am 24. Juli das Haus Buschhoffs demoliert und mit dem Wort „Mörderhaus“ bemalt wurde, suchte dieser um seine Verhaftung nach. Als dies von den Behörden abgelehnt wurde, flüchtete er mit seiner Familie nach Köln, was man in Xanten als Schuldeingeständnis wertete. Der Vorstand der jüdischen Gemeinde bat das preußische Innenministerium – auf eigene Kosten – um die Entsendung eines qualifizierten Polizeibeamten zur Aufklärung des Falles. Der aus Berlin entsandte Kriminalkommissar Wolff, der seine Recherchen Ende September 1891 aufnahm, kam aufgrund von Zeugenaussagen zu dem Schluss, Buschhoff habe das Kind, das zuvor Grabsteine, die Buschhoff für die Gemeinde herstellte, beschädigt, in Anwesenheit seiner Gattin Sibilla und seiner Tochter Hermine geschlagen und später das bewusstlose Kind aus Angst vor Entdeckung in der Küpperschen Scheune getötet. Daraufhin wurde am 14. Oktober die Familie Buschhoff verhaftet. Nach Prüfung der Zeugenaussagen entließ sie der Untersuchungsrichter Brixius jedoch aus Mangel an Beweisen nach zwei Monaten wieder aus der Haft. Gegen die Freilassung erhob sich ein „Sturm der Entrüstung“ in der antisemitischen und christlich-konservativen Presse, für die Buschhoff als Täter feststand und die eine antisemitische Kampagne entfachte, in der sie insinuierte, die preußische Justiz würde auf jüdischen Druck hin nicht gegen Buschhoff vorgehen und behandele das Judentum zu nachsichtig. Das Preußische Justizministerium ordnete unter diesem Druck die Fortführung der Ermittlungen an, und der entsandte Geheime Justizrat Blietsch versuchte Mitte Januar 1892 den skeptischen Untersuchungsrichter Brixius auszuschalten, indem er ihm Befangenheit vorwarf, da sein Schwiegersohn einer der Verteidiger Buschhoffs war. Das Gericht verneinte zwar eine Befangenheit, aber Brixius, zu einer „freiwilligen“ Versetzung gedrängt, ging in den Ruhestand. Ein weiteres ärztliches Gutachten durch Dr. Bauer kam zu dem Ergebnis, nur ein großes Schächtermesser, wie man es bei Buschhoff gefunden hatte, könne die Tatwaffe sein. Obwohl der Tatverdacht nicht hinreichte, wollte man seitens der Justiz die Vorwürfe der Antisemiten entkräften, der Tatverdächtige würde als Jude begünstigt. Deshalb ordnete der preußische Justizminister am 8. Februar 1892 die erneute Verhaftung Buschhoffs und die Fortführung des Verfahrens an. Einen Tag später kam es im Preußischen Abgeordnetenhaus zu einer hitzigen Debatte, in der der linksliberale Abgeordnete Heinrich Rickert den öffentlichen antisemitischen Druck verurteilte, die Konservative Partei attackierte, weil sie das „Märchen vom Ritualmord“ auftische, und die Unabhängigkeit der Gerichte verteidigte. Der antisemitische Politiker Adolf Stoecker, der sich zwar dem Ritualmordvorwurf nicht direkt anschloss, allerdings das Abschlachten von Christenkindern durch jüdische Fanatiker nicht ausschließen wollte, kritisierte vor allem, dass bei Prozessen „wegen jüdischer Morde“ Beschuldigte stets freigesprochen oder Täter nie gefunden würden. Seine konkreten Vorwürfe von Ermittlungsmängeln konnte Justizminister von Schelling klar widerlegen, der keinen Grund zur „Beunruhigung des öffentlichen Rechtsbewusstseins“ sah.
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Ritualmordvorwurf in Xanten (1891)
Das Abgeordnetenhaus war in zwei Lager gespalten: Während die Linksliberalen der Ritualmordlegende und den antisemitischen Angriffen scharf widersprachen und die Nationalliberalen sowie die Regierung sich darauf beschränkten, die Korrektheit des Verfahrens zu betonen, unterstützten die konservativen Parteien und einige Zentrumsabgeordnete die Ritualmordthese und kritisierten die preußischen Justizbehörden als parteiisch und von jüdischer Seite beeinflusst. Auch außerhalb des Parlaments schürten konservative, antisemitische und katholische Zeitungen mit einer ausführlichen Berichterstattung über den „Fall Buschhoff“ den Verdacht des Ritualmordes und monierten die Nachlässigkeit der Behörden und die dahinter vermutete „Macht der Juden“. Begleitet wurde diese Presseberichterstattung von einer Flut antisemitischer Broschüren, in denen der „Xantener Knabenmord“ abgehandelt wurde, gegen die aufklärerische Gegenschriften schwer ankamen. Beim Landgericht Kleve erhob am 20. April 1892 der Staatsanwalt gegen Buschhoff Anklage wegen Mordes, dessen Frau und Tochter wurden der Beihilfe angeklagt. Die Staatsanwaltschaft stützte sich dabei vor allem auf die schwammigen Aussagen dubioser Zeugen, wie eines neunjährigen Jungen und eines Trinkers. Vom 4. bis 14. Juli fand dann die in der deutschen Öffentlichkeit mit Spannung erwartete Hauptverhandlung statt, in der 160 Zeugen vernommen und unüblicherweise immer neue, z.T. in anonymen Briefen aufgestellte Behauptungen als Beweismittel zugelassen wurden, was den enormen Druck auf die Justiz belegt. Da Adolf Buschhoff (gegen Frau und Tochter wurde kein Verfahren eröffnet) jedoch ein lückenloses, bezeugtes Alibi für den Mordtag besaß, das Gericht die Unglaubwürdigkeit vieler Zeugen aufdecken konnte und ein Ortstermin auch die Aussagen der Hauptbelastungszeugen als zweifelhaft erwies, wurde er von den Geschworenen freigesprochen, nachdem sogar der Staatsanwalt diese gebeten hatte, auf „nicht schuldig“ zu erkennen. Auch der im Fall mitverhandelte Ritualmordvorwurf musste nach entsprechenden Gutachten der Ärzte und dem Vortrag des Sachverständigen, des Orientalisten Professor Theodor Nöldecke, fallen gelassen werden. Der Freispruch führte in der deutschen Öffentlichkeit zu erhitzten Diskussionen, in denen der Verdacht laut wurde, die Geschworenen seien von jüdischer Seite bestochen worden, und in der offen Urteilsschelte geübt und Buschhoff weiterhin als Täter beschuldigt wurde. Der Prozess hatte deshalb auch ein gerichtliches Nachspiel. Zwei Publizisten, der Redakteur der antisemitischen Wochenschrift „Rheinische Wacht“ ten Winkel, und der Verleger (und wohl auch Autor) der 1892 anonym veröffentlichten Schrift „Der Fall Buschhoff. Die Untersuchung über den Xantener Knabenmord. Von einem Eingeweihten“, Heinrich Oberwinder, wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter vorgeworfen hatten, diese hätten nicht ordnungsgemäß gearbeitet. Dies belegt den politischen Charakter des Prozesses, da es aufgrund der Beweislage eigentlich nicht zum Hauptverfahren hätte kommen dürfen, das man nur durchführte, um Vorwürfe der Antisemiten gegen die Justiz zu entkräften und Rechtsstaatlichkeit zu demonstrieren. Auch der Staatsanwalt monierte in seinem Plädoyer, „das Verfahren sei zu einem Kampf- und Hetzmittel sozialer und politischer Parteien“ geworden.
Rosenberg-Prozess (USA 1951)
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Die Enttäuschung über den Ausgang des Verfahrens entlud sich im Rheinland zudem in antisemitischen Ausschreitungen. Da die Familie Buschhof ihre Existenzgrundlage in Xanten verloren hatte, siedelte sie nach Neuss über. Der „Fall Buschhoff“ war ein Ereignis, das in den Schriften der Antisemiten, etwa im Aufgreifen der Ritualmordlegende in den berühmten antisemitischen Bilderbogen (1894) oder in sogenannten Gutachten, z. B. Max Bewers zur „Ritual- und Blutmordfrage“ 1901, kanonisiert wurde.
Literatur
Werner Bergmann
Hugo Friedländer, Der Knabenmord in Xanten vor dem Schwurgericht zu Cleve vom 4. bis 14. Juli 1892. Ausführlicher Bericht, Cleve 1892. Johannes T. Groß, Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im deutschen Kaiserreich (1871–1914), Berlin 2002. Paul Nathan, Xanten-Cleve. Betrachtungen zum Prozeß Buschhoff, Berlin 1992. Julius H. Schoeps, Ritualmordbeschuldigung und Blutaberglaube. Die Affäre Buschhoff im niederrheinischen Xanten, in: Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, hrsg. von Jutta Bohnke-Kollwitz u.a., Köln 1984, S. 286–299.
Rosenberg-Prozess (USA 1951) Der Prozess gegen Julius und Ethel Rosenberg wegen Atomspionage fand während der Frühphase des Kalten Krieges in Amerika statt. Die „Rote Angst“ (Red Scare) war voll im Gang, Joseph McCarthy auf der Jagd nach Kommunisten, die Sowjetunion hatte jüngst eine Atombombe gezündet, und China war im Jahr zuvor an das „Kommunistische Lager“ verloren gegangen. Wenn es je eine perfekte Umgebung für den Ausbruch von Antisemitismus gegeben hätte, dies wäre eine gewesen. Stattdessen liegt die Bedeutung des Rosenberg-Prozesses darin, was nicht geschehen ist. Dieses Fehlen von Reaktion enthüllte vielleicht eine der bedeutendsten Entwicklungen im Nachkriegsamerika, nämlich den beachtlichen Rückgang des Antisemitismus vom Krisenniveau der 1930er und frühen 1940er Jahre bis zu den Jahrzehnten, die dem Zweiten Weltkrieg folgten. Am 17. Juli 1950 verhaftete das „Federal Bureau of Investigation“ (FBI) Julius Rosenberg, ehemaliger Zivilangestellter des „US Army Signal Corps“ und anschließend Ingenieur bei der „Emerson Radio Corporation“, und beschuldigte ihn der Verabredung zur Spionage. Dreieinhalb Wochen später verhaftete das FBI seine Frau Ethel und klagte sie des gleichen Verbrechens an. Der Prozess begann am 5. März 1951. Die Geschworenen sprachen die Rosenbergs nach zwei Tagen schuldig. Danach verurteilte der Richter sie zum Tode, nachdem er ihr Verbrechen „schlimmer als Mord“ bezeichnete und erklärte, dass sie für den koreanischen Krieg und die Millionen potentieller Opfer eines sowjetischen Angriffs verantwortlich seien. Die Todesstrafe wurde am 19. Juni 1953 im Gefängnis Sing Sing im Staat New York vollzogen. Aufgrund der scheinbaren Verbindung von Juden und Kommunismus artikulierte sich eine große Furcht unter amerikanischen Juden, dass der Prozess eine Zunahme von Antisemitismus hervorrufen könnte. Deshalb haben prominente amerikanische Juden eine PR-Kampagne gestartet, um die Öffentlichkeit zu überzeugen, dass es keine
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Rotter-Skandal
Verbindung zwischen Juden und Kommunismus gebe und dass die Sowjetunion feindlich gegen alles Jüdische sei. Die „Anti-Defamation League“ der „B’nai B’rith“, das „American Jewish Committee“ und die „Jewish War Veterans“ arbeiteten mit dem „House Un-American Activities Committee“ (HUAC) zusammen. Es gab auch eine starke Bemühung der jüdischen Führerschaft, sich von der jüdischen Linken zu distanzieren. Die Mehrheit der jüdischen Organisationen verweigerte den Rosenbergs Hilfe. Sie leugneten, dass dieser Fall eine amerikanische → Dreyfus-Affäre sei. Das „American Jewish Committee“ war von der Schuld der Rosenbergs überzeugt und unterstützte die Todesstrafe. Sogar die jüdischen Zeitungen, die gegen das Todesurteil waren, protestierten nicht gegen die Schuldsprüche. Im weiteren Verlauf erwies sich die Sorge der amerikanischen Juden über eine potentielle antisemitische Kampagne als grundlos. Das galt nicht nur für den Prozess selbst, sondern auch für die „Rote Angst“. In diesem Fall und der Kommunistenjagd von Joseph McCarthy waren nicht Juden die häufigsten Angriffsziele, sondern angelsächsische protestantische Eliten. Einer der führenden Antisemiten, Gerald L. K. Smith, kritisierte sogar McCarthy dafür, dass er die Verbindung zwischen Juden und Kommunismus nicht explizit äußerte. Es scheint, als hätten auch in den USA selbst immer weniger Amerikaner eine solche Verbindung angenommen. Umfragen von November 1950, Juli 1953 und November 1954 zeigten, dass der Anteil der Bevölkerung, der Juden als „kinds of people in the United States who were more likely than others to be Communists“ genannt hat, von vier Prozent auf ein Prozent in diesem Zeitraum zurückging. Das stand im Gegensatz zur Vorkriegstendenz, als ein Viertel bis zur Hälfte aller Befragten annahm, dass die Juden als „natürlicherweise radikaler“ als andere Amerikaner anzusehen seien. Die Entwicklung der 1950er Jahre offenbarte in der amerikanischen Politik und Gesellschaft den Rückgang antisemitischer Tendenzen. In den Nachkriegsjahren wurde der Numerus Clausus an den Universitäten allmählich aufgehoben, Arbeitgeber, die keine Juden einstellten wurden weniger, und die Diskriminierung wurde in vielen Bundesstaaten verboten. Die einflussreichsten Veteranenverbände missbilligten Judenfeindschaft, und immer mehr Geistliche sprachen sich gegen Antisemitismus aus. Obwohl es einige Zeit gebraucht hat, bis die amerikanischen Juden diese Tendenz verinnerlichten und obwohl dies nicht bedeutet, dass nicht eine neue Welle von Antisemitismus in der Zukunft möglich ist, so hat der Rosenberg-Prozess deutlich gemacht, dass eines der wichtigsten Merkmale amerikanischer Intoleranz im zwanzigsten Jahrhundert deutlich an Einfluss verloren hat.
Literatur
Richard E. Frankel
Ronald Radosh and Joyce Milton, The Rosenberg File, New Haven 1997. Edward S. Shapiro, A Time for Healing: American Jewry since World War II, Baltimore 1992.
Rotter-Skandal → Sklarek-Skandal (1929)
Şăineanu-Fall
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Şăineanu-Fall Mit dem Artikel 7 der ersten rumänischen Verfassung von 1866, wonach „nur Fremde christlicher Religionszugehörigkeit rumänische Staatsbürger werden können“ (Numai străinii de rit creştin pot dobândi calitatea de român), wurde der Großteil der seit Jahrhunderten in Rumänien lebenden Juden zu Staatenlosen deklariert; 130.000 indigene Juden galten nunmehr als „Fremde“. 1879 wurde der Verfassungsartikel 7 geändert und sah die Einbürgerung von Juden „von Fall zu Fall“ (individuelle Einbürgerung) und nach Zustimmung beider Kammern des Parlaments vor. Das komplizierte Verfahren führte dazu, dass nur wenige Personen die Staatsbürgerschaft erlangen konnten; die meisten Einbürgerungsanträge wurden, wie der Şăineanu-Fall verdeutlicht, aufgrund zunehmend nationalistischer Hetze abgelehnt. Der Philologe und Kulturhistoriker Lazăr Şăineanu hatte zwölf Jahre lang (1889 bis 1900) um seine Einbürgerung ersucht, die zweimal im Parlament besprochen und letztendlich abgelehnt wurde. Zwischen 1879 und 1918 hatten auf dem Weg der individuellen Einbürgerung nur knapp 500 Juden die rumänische Staatsbürgerschaft erhalten. Elizier Schein, der 1859 in Ploieşti geboren wurde, studierte 1881–1887 an der Bukarester Universität Sprachwissenschaften. In dieser Zeit ließ er seinen Namen offiziell in Lazăr Şăineanu rumänisieren. Nach seinem Lizenziat 1887 führte er dank eines Preisgeldes seine Studien in Paris und Leipzig fort und kehrte 1889 nach Bukarest zurück. In der Folgezeit wurde er mehrfach ausgezeichnet und publizierte wegweisende Werke; zu den wichtigsten Publikationen zählen die „Märchen der Rumänen“ (Basmele românilor, 1894), die „Geschichte der rumänischen Philologie“ (Istoria filiologiei române, 1895), das „Universalwörterbuch der rumänischen Sprache“ (Dicţionar universal al limbei române, 1896) und das dreibändige Werk „Der orientalische Einfluss auf die rumänische Sprache und Kultur“ (Influenţa orientală asupra limbei şi culturii române, 1900). Auf wissenschaftlichem Feld hatte Şăineanu den von der Einbürgerungskommission erforderten Nachweis über den „Nutzen für das Land“ erbracht. Doch wie sich zeigte, hatten Intrigen und antijüdische Kampagnen einen viel stärkeren Einfluss auf die Einbürgerungsentscheidung als reale Verdienste. Dass für eine wissenschaftliche Laufbahn die Erlangung der Staatsbürgerschaft unerlässlich war, stellte Şăineanu 1889 fest, als er von seiner Professur auf Druck erbitterter Pressekampagnen zurücktreten musste. Die von seinem Fachkollegen Vasile Alexandrescu Urechiă lancierte Kampagne bezeichnete die Ernennung als „unpatriotische“ Handlung, da Şăineanu „kein Heimatrecht“ besitze; die Professorenschaft knickte ein und legte Şăineanu den Rücktritt nahe. Um weiterhin wissenschaftlich tätig sein zu können, reichte Şăineanu im Herbst 1889 sein Einbürgerungsgesuch ein. Während der Senatsverhandlung hetzte Urechiă, nun in der Position als Senator der National-Liberalen-Partei, und behauptete, dass Şăineanus Werke kaum von wissenschaftlichem Talent zeugen würden. Das Gesuch wurde am 19. Dezember 1891 im Senat (mit 79 Gegen- und 2 Pro-Stimmen) verworfen. 1893 gelangte sein Ersuchen, das nun auch die Befürwortung von König Karl I. hatte, in die Abgeordnetenkammer. Die Kammer hatte sich, mit 79 Pro- und 20 GegenStimmen, für die Verleihung der Staatsbürgerschaft entschieden. Der Antrag musste aber auch vom Senat bewilligt werden, der im April 1895 darüber debattierte. Şăineanu legte seiner Akte die Befürwortung weiterer Persönlichkeiten bei, ein Gutachten vom
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Schach
Bukarester Bürgermeister „über gutes Verhalten in der Gesellschaft“, den kürzlich erhaltenen wissenschaftlichen Preis der Rumänischen Akademie sowie das Empfehlungsschreiben des renommierten Schriftstellers und Philologieprofessors Haşdeu, der Şăineanu als einen der „wertvollsten Repräsentanten der rumänischen Gesellschaft“ bezeichnete. Während der Senatsdebatte meldete sich Urechiă zu Wort, hielt eine beschwörende Rede und ermahnte die Senatoren, keinen Fehler zu begehen, indem sie „einen Fremden – ja ein trojanisches Pferd – in die rumänische Festung“ einlassen würden. Er klagte die „politische Passivität“ des Antragstellers an, der die „verfolgten Rumänen in Siebenbürgen“ nicht verteidigt bzw. sich nicht für deren Anliegen eingesetzt hätte. Obwohl alle wussten, dass den Staatenlosen politische Aktivitäten untersagt waren und sie bei Zuwiderhandlung jederzeit ausgewiesen werden konnten, kam der Vorwurf an. Urechiă kehrte auch die wissenschaftlichen Auszeichnungen Şăineanus ins Negative, da er damit „Vorteile und Nutzen aus staatlichen Geldern“ erheischt hätte. Mit seiner Rede, die viel Applaus und Zustimmung erntete, erreichte Urechiă die Ablehnung des Einbürgerungsantrages mit 61 Gegen- und 12 Pro-Stimmen. Trotz dieser Niederlage und weiterer Anfeindungen (u.a. von Seiten des Historikers Nicolae Iorga) konvertierte Şăineanu 1899 zur rumänisch-orthodoxen Religion und unternahm einen letzten Versuch zur Einbürgerung. Im Dezember 1899 kam sein Gesuch zur Senatsverhandlung und wurde mit zwei Gegenstimmen angenommen. Anhand dieser Entscheidung hätte Şăineanu seine Einbürgerungsurkunde erhalten müssen, doch der Justizminister hatte sein Gesuch vom Senat an die Abgeordnetenkammer zurückgeleitet, unter dem Vorwand, dass es nicht in beiden Kammern in ein und derselben Sitzungsperiode angenommen worden sei. Die Abgeordnetenkammer setzte die Verhandlung auf den letzten Tag der Sitzungsperiode, den 3. April 1900, fest und vertagte sie auf die neue Sitzungsperiode im Dezember 1900. Die am 14./15. Dezember 1900 stattfindende Debatte war von antisemitischen Hetzartikeln begleitet worden, allen voran in der Zeitschrift „Apărarea naţională“ [Die nationale Verteidigung]; um das Parlamentsgebäude skandierten aufgebrachte Menschenmassen. Unter dem Einfluss dieser Agitationen lehnte die Abgeordnetenkammer das Einbürgerungsgesuch (dem sie vier Jahre zuvor zugestimmt hatte) mit 48 Gegen- und 45 Pro-Stimmen ab. Die Ausweglosigkeit erkennend und akzeptierend, entschied sich Şăineanu 1901 zur Emigration nach Paris; seinen Namen ließ er in Lazare Sainéan ändern.
Literatur
Brigitte Mihok
Georg Brandes, Das Heimatrecht in Rumänien, in: Ost und West 5 (1901), Sp. 342–346. Mariana Hausleitner, Intervention und Gleichstellung – Rumäniens Juden und die Großmächte 1866–1923, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 1 (2002), S. 475–531. George Voicu, Radiografia unei expatrieri: cazul Lazăr Şăineanu [Die Radiographie einer Ausbürgerung: Der Fall Lazăr Şăineanu], in: Caietele Institutului Naţional pentru Studierea Holocaustului din România „Elie Wiesel“ 3 (2008), 1, S. 7–83.
Schach Das Konstrukt eines „Arischen Schachs“, das vor der Negativfolie eines wie auch immer gearteten „Jüdischen Schachs“ umso heller scheinen sollte, gehörte zu den kurio-
Schach
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sen Nebenerscheinungen des Antisemitismus wie etwa das „Deutsche Boxen“ oder die „Deutsche Physik“. In allen Fällen wurden Theorie und Empirie als Verwerfungen der Moderne betrachtet und abgelehnt. Die Verfechter des „arischen Schachs“ sahen ihr Ideal eher in der Mystik des ritterlichen Kampfes, bei dem vom ersten Zug an unter Zuhilfenahme von intuitiven Opfern der gegnerische König mattgesetzt werden sollte. Es liegt auf der Hand, dass dieser wenig subtilen Strategie – welche die Fortschritte in der Erforschung des Brettspiels im 19. und 20. Jahrhundert schlichtweg ignoriert – im Turnierschach nicht viel Erfolg beschieden war. Auch der selbsterkorene Vorkämpfer des „arischen Schachs“, der Wiener Franz Gutmayer, erreichte seine kleine aber treue Anhängerschaft nicht so sehr aufgrund außergewöhnlicher Leistungen am Brett, als vielmehr aufgrund einiger antisemitischer Pamphlete, die ihn in der österreichischen Metropole wenige Jahre nach dem Ende der Ära Karl Luegers zu einer Lokalgröße machten. Die Titel seiner Schachbücher waren Programm: „Das unbedingte Torpedo im Schachkrieg“ (1916), „Die große Offensive am Schachbrett“ (1916) und „Optik im Schach oder: Der militärische Blick“ (1917). Voller Neid auf die Großen der Zunft (wie die jüdischen Weltklassespieler Emanuel Lasker, Wilhelm Steinitz und Siegbert Tarrasch, die als „Schweine“, „Blattläuse“ usw. tituliert wurden) und mit einer neurotischen Fixierung auf Schmutz und Sauberkeit wimmelte es nur so von antisemitischen Stereotypen: „Es sind lauter Judasse, die für ein paar Bauern diese verraten, verkaufen, ausliefern.“ In derben Worten glaubte Gutmayer einen Gegensatz zweier Spielstile ausfindig gemacht zu haben: „Der erste: Wille zur Macht und Übermacht mit der Tendenz, das feindliche Spiel zu zerschlagen. Der andere: Wille zum koscheren Geschäft mit der Tendenz, jedenfalls sicherzugehen. Kein Risiko, lieber zehnmal ein ekelhaft feiges Remis. Daher nur machen, was man genau sieht. Horizont: die eigene krumme Nase. Perspektive: ein fettes Honorar.“ Schon den Zeitgenossen war deutlich, dass diese hanebüchenen Gedanken jeder Grundlage entbehrten, und Gutmayer wäre gewiss der Vergessenheit anheim gefallen, wäre nicht unter seinen Rezipienten ein Name, der in der Schachwelt von weit größerer Bedeutung ist: Der damals amtierende Schachweltmeister Alexander Aljechin veröffentlichte 1941 in der deutschsprachigen „Pariser Zeitung“ eine berühmt-berüchtigte Aufsatzserie mit dem Titel: „Jüdisches und arisches Schach. Eine psychologische Studie, die – gegründet auf die Erfahrungen am schwarz-weißen Brett – den jüdischen Mangel an Mut und Gestaltungskraft nachweist.“ Die Schrift wurde in englischen und deutschen Schachmagazinen nachgedruckt. Inhaltlich wurden zunächst die langjährigen jüdischen Welt- und Großmeisterkollegen Aljechins verspottet und beleidigt. Zum Tod seines Vor-Vorgängers auf dem Weltmeisterthron, Emanuel Lasker, fiel Aljechin nur folgendes ein: „Darf man hoffen, dass mit Laskers Tode – dem Tode des zweiten und recht wahrscheinlich letzten jüdischen Schachweltmeisters – das durch den jüdischen Verteidigungsgedanken auf Abwegen arische Schach seinen Weg zum Weltschach findet?“ Die Antwort fiel für Aljechin, Doktor der Jurisprudenz und sich damals in Frankreich aufhaltenden russischen Exilanten, durchaus positiv aus, schließlich kam er zur Conclusio: „Das Judenschach ist ausgeschaltet“. „Jüdisches Schach“ wurde von Aljechin mit der „Hypermodernen Schule“ gleichgesetzt und war für ihn gekennzeichnet durch: „1. materieller Gewinn um jeden Preise 2. Opportunismus – ein bis zum äu-
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ßersten getriebener Opportunismus, der jeden Schatten einer möglichen Gefahr beseitigen will.“ Es war im besten Falle Opportunismus auf Seiten des Weltmeisters, sollten diese und andere Sätze wirklich aus seiner Feder stammen haben. Was Aljechin, der 1946 in Portugal starb, wirklich antrieb, die kruden Ideen zu Papier zu bringen, ist bis heute umstritten. Aljechin selbst stritt später seine Autorenschaft vehement ab und sprach von einer Fälschung. Interviews des Champions im Jahre 1941 lassen jedoch einen anderen Schluss zu. Die Sowjetunion, die allzeit dem Kulturgut Schach ein hohes Prestige einräumte, meinte es gut mit dem Exilanten Aljechin und machte sich seine Sprachregelung über das Elaborat zu eigen. Das Lebenswerk Alexander Aljechins wurde in den Lehrkanon der „Sowjetischen Schachschule“ aufgenommen, eine derart unappetitliche Schrift konnte bei diesem Prozess nur störend sein. Die Prophezeiung Aljechins, dass Emanuel Lasker der wohl letzte jüdische Schachweltmeister sein würde, sollte sich indes – trotz des Holocaust – nicht bewahrheiten. Schon Aljechins Nachfolger als Schachweltmeister, sein Landsmann Michail Botwinnik war Jude, und auch unter dessen Nachfolgern finden sich mit Michail Tal und Garry Kasparow für die Schachgeschichte herausragende jüdische Persönlichkeiten, mit dem amerikanischen Genie Bobby Fischer war sogar ein waschechter jüdischer Antisemit dabei.
Literatur
Clemens Escher
Alexander Aljechin, Jüdisches und arisches Schach, in: Pariser Zeitung, 18. März 1941–23. März 1941. Edmund Bruns, Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Hamburg 2003. Franz Gutmayer, Die große Offensive am Schachbrett, Innsbruck-Mühlau 1916. Garry Kasparov, On My Great Predecessors. Part 1: Steinitz, Lasker, Capablanca, Alekhine, London 2003.
Schächtverbot-Debatte in Norwegen (1929) Am 12. und 18. Juni 1929 ratifizierte das norwegische Parlament (Stortinget) mit 88 gegen 21 Stimmen ein Gesetz, das das Schächten verbot. Es trat am 1. Januar 1930 in Kraft und gilt in seinen Grundzügen bis zum heutigen Tag, wenngleich die Importbestimmungen etwas liberalisiert wurden. Norwegen war damit nach der Schweiz (→ Schächtverbot-Debattan in der Schweiz) das zweite europäische Land, das ein derartiges Gesetz verabschiedete. Die ersten Initiativen, das Schächten zu verbieten, wurden von Tierschutzvereinen in den 1890er Jahren unternommen, führten aber zu keinem Resultat, nachdem der Leiter des staatlichen Veterinärdirektorates u.a. erklärt hatte, dass es sich hier um eine religiöse Gewissensfrage handelte. Als 1910 in Verbindung mit der Eröffnung eines neuen Schlachthauses in Kristiania (Oslo) ein neuer Vorstoß erfolgte, warnte er vor der antisemitischen Agenda der Tierschützer. 1913 verweigerte das Stadtparlament den Juden, das Schlachthaus zu benutzen. In Trondheim, der zweiten Stadt mit einer jüdischen Ge-
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meinde, wurde 1924 mit knapper Mehrheit ein entsprechender Beschluss gefasst, nachdem es bereits 1912 in Verbindung mit einem neuen Schlachthaus auch dort zu einer lebhaften öffentlichen Debatte gekommen war. Als das Landwirtschaftsministerium im Dezember 1925 nach mehrjähriger interner Vorarbeit und ohne Anhörung der jüdischen Gemeinden ein gesetzliches Verbot vorschlug, trat die Entwicklung in ein neues Stadium. Das Verbot konnte zwar zunächst verhindert werden, doch wurden von nun an bis 1929 Gutachten eingeholt, Studienreisen in Schlachthäuser durchgeführt, Resolutionen verfasst und vor allem die Schlachtmethode selbst kontrovers in den Medien (besonders in der Presse der Bauernpartei) und im Parlament, das die Entscheidung mehrfach vertagte, diskutiert. Nach Ansicht des liberalen Landwirtschaftsministers Five (1926) kollidierte das Schächten mit dem norwegischen „Moralverständnis“ und der in der Bevölkerung herrschenden Auffassung, welche Verpflichtungen Menschen gegenüber Tieren haben. Five konnte sich im Regierungskollegium jedoch nicht durchsetzen. Die Diskussionen der Jahre 1927 bis 1929 handelten scheinbar von technisch-medizinischen Fragen, doch gab es unter den Verbotsgegnern auch Stimmen, die betonten, dass ein Verbot einen Übergriff auf norwegische Bürger darstellen würde, die nach den Gesetzen ihrer Religion lebten. Ein Abgeordneter der Arbeiterpartei kritisierte die Manipulation der öffentlichen Meinung durch die Presse, betonte, dass andere Tiere weit inhumaner geschlachtet würden und sprach von der „Piesackerei einer nationalen Minorität“. Dominiert wurde die öffentliche Debatte jedoch von einer antisemitischen Stimmung, der sich die Regierung beugte. Eine große Tageszeitung meinte, dass es dermaßen im Volke gäre, dass eine neuerliche Entscheidungsvertagung zu „fürchterlichen Zuständen im Lande“ führen könnte. Auf jüdischer Seite gab es Stimmen, die von einem „Schächtungskrieg“ und einer Massenpsychose sprachen. Als der Gesetzentwurf im Juni 1929 dem Parlament vorgelegt wurde, stimmte die Bauernpartei geschlossen für ein Verbot, während es in der Fraktion der Liberalen ein leichtes Übergewicht gegen ein Verbot gab (13 Abgeordnete). Von den Abgeordneten der Arbeiterpartei stimmten nur sechs, von den Konservativen lediglich zwei Abgeordnete gegen ein Verbot. Seitens der Anhänger eines Verbotes wurden folgende Argumente angeführt: Aussagen von Experten, die lange und ausgiebige Behandlung der Frage, Tierliebe, der Schmerz der Tiere, das norwegische Rechtsbewusstsein, die zahlreichen Resolutionen und generell die „Volksmeinung“ sowie die Tatsache, dass nur eine Minderheit unter den Juden gegen ein Verbot sei und koscheres Fleisch importiert werden könne. Eindeutiger antisemitisch wurde damit argumentiert, dass das Schächten nicht den norwegischen Sitten entspräche und eine Kränkung „unserer“ Liebe zu „unseren“ Haustieren sei sowie dass Juden intolerant gegenüber „norwegischen Einwohnern“ seien. Während drei Abgeordnete der Bauernpartei die Bedeutung der eigenen Religion als Argument für ein Verbot ins Feld führten, erklärte ein Vertreter der Arbeiterpartei, der ebenfalls für ein Verbot eintrat, dass religiöse Gefühle nicht als Argument benutzt werden könnten. Die prominentesten Vertreter der Bauernpartei hielten sich am wenigsten in der sich radikalisierenden Parlamentsdebatte zurück. So erklärte Jens Hundseid, der wenige Jahre später Ministerpräsident wurde, dass die Juden Fremde seien, „die wir nicht eingeladen haben“ und dass „wir“ nicht verpflichtet seien, norwegische Tiere „den Grausamkeiten der Juden“ für ihre „religiösen Orgien“ auszulie-
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fern. Hundseids späterer Finanzminister, Jon Sundby, schwor drohende Repressalien der von Juden mobilisierten internationalen Finanzwelt hervor und sprach den Juden jegliche Integrität ab, da sie selbst ihren Sabbat nicht heilig hielten. Diese Argumentation und das sehr klare Abstimmungsresultat verdeutlichten, dass die kleine jüdische Bevölkerung als Fremde in Norwegen angesehen wurde.
Literatur
Einhart Lorenz
D[avid] Abrahamsen, Jeg er jøde [Ich bin Jude], Oslo 1935. Oskar Mendelsohn, Jødenes historie i Norge gjennom 300 år [Geschichte der Juden in Norwegen durch 300 Jahre], Oslo 1969. Stortingstidende inneholdende otteogsyttiende ordentlige Stortings forhandlinger 1929 I Forhandliger i Odelstinget [Stenographische Protokolle der Parlamentsdebatten], Oslo 1929.
Schächtverbot-Debatten in der Schweiz 1893 nahmen die Schweizer Stimmbürger eine Initiative der Deutschschweizer Tierschutzvereine an, in der Bundesverfassung zu verankern, dass das Schlachten ohne vorherige Betäubung „bei jeder Schlachtart und Viehgattung ausnahmslos untersagt“ werden solle. Was sich wie ein Erfolg der Tierschutzbewegung liest, die sich ab den 1840er Jahren als Ergebnis einer veränderten Haltung gegenüber den Schlachttieren entwickelte, zeigt auf den zweiten Blick einen Antisemitismus-Diskurs, der sich bis in das 21. Jahrhundert auswirken sollte. Gegründet von Mitgliedern der bürgerlichen Oberschicht gelang es den Tierschutzvereinen zunächst, kantonale Gesetze gegen Tierquälerei durchzusetzen, um sich dann einer „Humanisierung der Schlachtmethoden“ zu widmen. Die Tierschutzgesetze verboten „ungewöhnlich schmerzhafte“ Tötungsarten, womit christliche Metzger und Schlachthäuser, aber auch das rituelle Schächten in den Blick der Tierschützer gerieten. Unter Schächten (hebräisch schachat) wird der Halsschnitt ohne vorherige Betäubung verstanden. Den jüdischen Speisegesetzen (hebräisch kaschrut) folgend, dürfen Juden nur geschächtetes Fleisch verzehren. Die Frage, welche Schlachtart „ungewöhnlich schmerzhaft“ sei, wurde heftig diskutiert, konnte aber aus veterinär-medizinischer Sicht nie eindeutig beantwortet werden. Man ließ Gutachten und Gegengutachten in großer Zahl erstellen, die aber eher zeigten, dass man sich in einer Grauzone bewegte. Auf die Ebene einer „Schweizer Judenfrage“ wurde diese Debatte durch die Revision der Bundesverfassung 1874 gehoben, die die „freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung“ garantierte. Dieser eigentlich als Schutz der Religionsfreiheit gedachte Passus ebnete den antisemitischen Argumenten den Weg. Schon die von den Tierschützern aufgestellte Behauptung, das Schächten sei nicht genuiner Teil des jüdischen Kultus, gab der Tierschutzdebatte eine andere Richtung, die aber bewusst gesucht wurde. Daraufhin warfen nichtjüdische Politiker den Tierschützern unverhohlenen Antisemitismus vor. Nationalrat Carl Hilty fragte 1892, was wohl die Katholiken sagen würden, wenn ihnen die Protestanten erklärten, die Beichte sei nicht teil des Kultus.
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Während bei der Frage nach dem Schmerzempfinden Unklarheit herrschte, verlagerten die Tierschützer ihre Argumente stärker auf die Frage, ob denn das Schächten der Sittlichkeit entspräche, mehr noch, ob sich die Juden mit dem Schächten nicht bewusst gegen die Sittlichkeit stellten und damit außerhalb der öffentlichen Ordnung. Diese Debatte trug bereits alle Züge des für das 20. Jahrhundert in dieser Beziehung die Schweiz prägenden Überfremdungsdiskurses. Bezeichnend dazu die Aussage aus der Zeitschrift „Thierfreund“ 1892, es sei nur „trotziger Eigensinn“, der die Juden am Schächten festhalten ließe, daher sei der Kampf gegen das Schächten viel mehr, nämlich das sich Wehren gegen die Juden, die ihre Gastgeber herausforderten, um zu sehen, wie weit diese wohl Herr im eigenen Hause seien. Die Tierschützer verlangten nun vehement die Aufnahme ihrer Forderung in die Bundesverfassung, was die Regierung entschieden ablehnte. Mediations- und Lösungsversuche wurden von den Tierschützern zurückgewiesen, sie entschieden sich 1892, zum ersten Mal das neu eingeführte Volksrecht der „Initiative“ zu ergreifen, wofür schließlich 80.000 Unterschriften zusammenkamen. Schon von Beginn der Debatte Mitte der 1850er Jahre an hatten sich Rabbiner und die jüdischen Gemeinden dagegen gewehrt, dass das Schächten besonders grausam sei und sie damit außerhalb der sittlichen Ordnung stünden. Wiederholt wurden bei Kantonsparlamenten und dem Nationalrat Eingaben gemacht, die deutlich Position bezogen. Die Regierung stellte sich schließlich explizit gegen das Ansinnen der Tierschützer, konnte aber nicht verhindern, dass die Initiative aufgrund einer genügenden Anzahl von Unterschriften 1893 zur Abstimmung gebracht werden musste. Im nun folgenden Abstimmungskampf ließen die Tierschützer jede Hemmung fallen. Angeführt vom Präsidenten des aargauischen Tierschutzvereins Andreas KellerJäggi und dem Berner Politiker und Journalisten Ulrich Dürrenmatt wurde aus der Schächtfrage unverhohlen eine Judenfrage konstruiert. Von der Xenophobie über den Vorwurf der Grausamkeit bis hin zu einer Modernisierungskritik mit den Juden als den Schuldigen waren alle Aspekte des Antisemitismus vertreten. Nirgends wurde dies so deutlich wie in einem Gedicht Ulrich Dürrenmatts: „(…) Langsam, grausam geht das Schächten/Langsam, grausam geht der Schacher/Schmeichelnd nahet seinem Opfer/ Und mit List der Widersacher. Rinder fesselt er mit Seilen:/Komme nur, mein liebes Thierchen!/Menschen bindet er mit Wechseln:/Unterschreib mir das Papierchen! (…) Israel hat kein Erbarmen/Treibt es alle Tage dreister/Wenn wir ihm nicht Meister werden/Wird der Jude unser Meister.“ Der Eindruck, dass die Tierschutzvereine in diesem Moment in der Schweiz prägende und führende Akteure des Antisemitismus wurden, täuscht nicht. Damit eine Initiative angenommen wird, benötigt man nach Schweizer Recht das Mehr der Stimmen, aber auch das Mehr der Kantone. Das Stimmenmehr wurde leicht erreicht, das Mehr der Kantone nur äußerst knapp (11 ½ zu 10 ½; es gibt sechs sogenannte Halbkantone in der Schweiz). Die Tierschützer hatten gesiegt, gaben sich damit aber nicht zufrieden. Tierschutz und Antisemitismus waren eine unheilige Allianz eingegangen, die weiter bestand. Die Tierschutzvereine versuchten mit weiteren Eingaben bei den Bundesbehörden, den Import von Koscherfleisch zu verhindern. Juden sahen sich schließlich derart unter Druck, dass 1904 der „Schweizerische Israelitische Gemeindebund“ gegründet wurde, eine politische Vertretung der jüdischen Gemeinden,
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dessen erste Ziele es waren, die Versorgung mit Koscherfleisch sicherzustellen und den Antisemitismus zu bekämpfen. Die Debatte um das Schächten zeigt sehr deutlich, dass juristische Argumente keine Rolle spielten. Ob das Schächtverbot die freie Religionsausübung behindert, war für die Debatte um die Lage der Juden in der Schweiz letztlich nicht entscheidend, sondern der Eindruck, den die Debatte hinterließ, nämlich die sich manifestierende Wahrnehmung der Juden als „Fremdlinge aus dem Osten“. Es ging nicht um Kultusfreiheit oder Schutz der Religionsausübung, es ging darum, ob Juden Teil der Schweizer Gesellschaft sein können. Wie stark dies tradiert wurde, zeigte die Diskussion 2001/2, als es einen Vorstoß der Regierung gab, das Schächtverbot zu lockern. Das Argument dagegen, der Halsschnitt würde dem Tier unnötige Schmerzen zufügen, unterschied sich nicht von dem 1892/ 93. Aber auch 2001 konnte niemand mit Gewissheit sagen, wie stark das Schmerzempfinden der Tiere beim Schächten, beim Betäuben mit der Elektrozange oder mit Kohlendioxid und beim Bolzenschussgerät ist. Die öffentliche Debatte allerdings gab den Blick frei auf längst überwunden geglaubte Stereotype, beispielsweise war von einem „Rückschritt in die Barbarei“ die Rede, Sätze wie „Das Schächten, das immer mal wieder auch an Menschen praktizierte Halsdurchschneiden (…)“ heizten die Debatte an, dazu scheute man sich auch nicht, „die rassistische Politik Israels“ mit dem Schächten in einer Argumentationslinie zu nennen. Wieder wurden Juden mit Grausamkeit, Fremdheit und Störung der Ordnung gleichgesetzt, wieder wurde aus einer Debatte über das Schächten die Frage, ob Juden Teil der Schweizer Gesellschaft seien. Die Schweizer Regierung verzichtete schließlich im März 2002 auf ihren Vorstoß, das Schächtverbot zu lockern.
Literatur
Erik Petry
Sibylle Horanyi, Das Schächtverbot zwischen Tierschutz und Religionsfreiheit. Eine Güterabwägung und interdisziplinäre Darstellung von Lösungsansätzen, Basel 2004. Pascal Krauthammer, Das Schächtverbot in der Schweiz 1854–2000. Die Schächtfrage zwischen Tierschutz, Politik und Fremdenfeindlichkeit, Zürich 2000. Patrick Kury, Über Fremde reden. Überfremdungsdiskurs und Ausgrenzung in der Schweiz 1900–1945, Zürich 2003. Beatrix Mesmer, Das Schächtverbot von 1893, in: Aram Mattioli (Hrsg.), Antisemitismus in der Schweiz 1848–1960, Zürich 1998, S. 215–239.
Scheunenviertel-Pogrom → Pogrom im Scheunenviertel (1923)
Schmidt-Begin-Konflikt (1981) Ab Mitte 1980 kam es wegen der israelischen Siedlungspolitik, der Nahost-Erklärung der Europäischen Gemeinschaft (EG) und der Diskussion um deutsche Waffenlieferungen an Saudi-Arabien zu Verstimmungen zwischen der Bundesrepublik und Israel. Im Juni 1980 bedauerte der israelische Botschafter in Bonn, dass sich die Bundesrepublik der EG-Erklärung angeschlossen habe, da sie „in unserer Erwartung eine besondere
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Beziehung zu Israel pflegen sollte“. Der Konflikt zwischen dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem israelischen Premierminister Menachem Begin war sowohl Ausdruck des politischen Dissenses zwischen Israel und den EG-Staaten einschließlich der Bundesrepublik als auch ein Zusammenprall realpolitischer deutscher Interessen mit geschichtspolitischen Ansprüchen Israels. Dort nahm man dem Kanzler zudem übel, dass er Jitzak Rabins Staatsbesuch von 1975 nicht erwiderte. Sein Ausspruch, er wolle nicht als „wandelnde Aktion Sühnezeichen“ nach Israel gehen, war 1979 durch die deutsche Öffentlichkeit gegangen. Die Vorwürfe israelischer Politiker konzentrierten sich auf Bundeskanzler Schmidt, der aufgrund seiner dramatischen Warnung vor neuen militärischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten und einem Ölembargo sowie seiner bekannt kritischen Einstellung zum rechtsnationalistischen israelischen Premierminister persönlich angegriffen wurde. Anfang 1981 häuften sich angesichts der geplanten Reise Schmidts nach Saudi-Arabien Warnungen israelischer, aber auch deutscher Politiker vor Waffenlieferungen an arabische Länder. Nach der Rückkehr des Kanzlers aus Abu Dhabi und Saudi-Arabien, dem er keine Waffenlieferungen zugesagt hatte, kam es im Mai 1981 zu einem heftigen Angriff Begins auf den Bundeskanzler, in dem es um die Frage der deutschen Schuld gegenüber den Juden und den daraus abzuleitenden politischen Verpflichtungen gegenüber Israel ging. Auslöser war Schmidts Äußerung in einer Fernsehdiskussion, die PLO habe einen moralischen Anspruch auf Selbstbestimmung, und die Deutschen hätten eine moralische Verpflichtung auch gegenüber den Arabern, ohne dabei die moralische Verpflichtung der Bundesrepublik gegenüber Israel zu erwähnen. Dies bewog den Premierminister zu einer in dieser Schärfe einmaligen Kritik am Bundeskanzler. Laut „Frankfurter Rundschau“ soll Begin in seiner Rede vor der Likud-Fraktion gesagt haben: „Es ist die nackte Arroganz und Frechheit, meiner Generation – der Generation des Holocaust und der jüdischen Wiedergeburt – zu sagen, dass Deutschland eine Schuld gegenüber den Arabern hat. Solche Worte wurden nicht vernommen, seit die Welt gegen Ende des Zweiten Weltkriegs sah, was uns in den Krematorien angetan worden ist.“ Der Konflikt gewann noch an Schärfe, als Begin einen Tag später trotz scharfer Reaktionen in Deutschland seine Angriffe erneuerte und gar andeutete, „dass Schmidt während des Zweiten Weltkrieges indirekt an der Ermordung von Juden beteiligt gewesen sein könnte“. Dies wurde in der deutschen Presse als „wahrheitswidrig“ und „niederträchtig“ zurückgewiesen. Auch Staatspräsident Navon und Außenminister Schamir warfen Schmidt vor, „er habe die Verantwortung Deutschlands gegenüber dem jüdischen Volk missachtet“. Vorwürfe und Gegenreaktionen führten auf beiden Seiten zu dem Eindruck, die deutsch-israelischen Beziehungen seien auf einem „Tiefpunkt“ angekommen, und man fragte besorgt, „ob die Versöhnung zwischen Deutschen und Juden gescheitert sei“. Die Erklärungen Begins stießen in den Regierungsparteien SPD und FDP und der CDU/CSU-Opposition sowie bei vielen Presse-, Fernseh- und Rundfunkjournalisten und in großen Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung, nur vereinzelt gab es auch Kritik an der Haltung Schmidts. Die Regierung wies durch ihren Sprecher am 4. Mai die „abwegigen und beleidigenden Behauptungen“ des israelischen Premiers zurück, ver-
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zichtete aber auf eine öffentliche Zurückweisung der Beschuldigungen, um nicht zu einer „Eskalation in Worten“ beizutragen. Einhellig wurde von Presse und Politikern eine Kollektivschuld der Deutschen, wie sie durch Begins Attacken nahe gelegt wurde, zurückgewiesen. Die Formulierungen Begins bestätigten für viele den Eindruck, die Israelis würden versuchen, „einem Volk und einem Staat in alle Ewigkeit Verantwortung aufzubürden für die Sünden der Väter“. Die Politiker aller Parteien betonten das Recht der Deutschen auf eine eigenständige Außenpolitik auf der Basis der Lehren aus der deutschen Geschichte. Während die Bundesregierung zu den immer neuen Vorwürfen aus Israel nicht mehr Stellung nahm, verschärfte sich nun in den Medien der Ton. Dort waren, auch wenn man häufig das besondere Verhältnis zu Israel betonte und Verständnis für die israelische Empfindlichkeit äußerte, im Vergleich zur Politik ein harscher Ton, eine aufrechnende Kritik an Israel und sogar Warnungen und Drohungen zu finden, etwa Hinweise auf ein Anwachsen einer israelkritischen, ja antisemitischen Haltung in Deutschland. Die Äußerungen Begins wurden als „maßlose Polemik, persönliche Verunglimpfungen, ja Hasstiraden“ zurückgewiesen. Insbesondere der „Stern“ („Der Verleumder“, 14.5.1981) und „Der Spiegel“ beantworteten die Angriffe Begins mit scharfen Gegenangriffen und Aufrechnungen, in denen die Araber als Opfer der Israelis und die Deutschen als Opfer einer „moralischen Erpressung“ hingestellt wurden. Israel warf man Folter und rassistische Verbrechen vor. Es bestand eine gewisse Tendenz, Begin zu isolieren, seine Kritik einerseits verständnisvoll auf sein persönliches Familienschicksal zuzurechnen, sie andererseits auf persönliche Eigenschaften zurückzuführen und ihn mit typischen antijüdischen Stereotypen als „sehr nachtragend“, „verbohrt“ und als „Eiferer“ mit „alttestamentarischen Verdammungsgrundsätzen“ zu charakterisieren. Andere verwiesen aufrechnend auf Begins terroristische Vergangenheit als Kommandant der Untergrundbewegung Irgun, die „auch Unschuldige massenhaft umgebracht hat“, wie es im „Spiegel“ hieß (20/1981). Vor allem die rechtsextreme „Deutsche Nationalzeitung“ konzentrierte sich auf „Begins Verbrechen“. Es gab aber auch die gegenläufige Tendenz, nämlich den Konsens der Israelis mit Begin zu behaupten. Der Konflikt changierte zwischen einem deutsch-israelischen und deutsch-jüdischen Konflikt. Entsprechend riefen in Deutschland vermittelnde Institutionen wie der „Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ (DKR) und der Zentralrat der Juden zur Besonnenheit auf und warnten vor einer Gefährdung der deutsch-israelischen Freundschaft (Resolution des Koordinierungsrates vom 7. Mai 1981). Nachum Goldmann, der Ehrenpräsident des Jüdischen Weltkongresses, bedauerte in einem Interview des Deutschlandfunks die Angriffe Begins. Die außenpolitische Krise wurde von beiden Seiten weniger interessenpolitisch definiert als in Begriffen der Geschichtspolitik. Der aus dem Amt scheidende israelische Botschafter Yohanan Meroz verteidigte in einer Feierstunde der Deutsch-Israelischen Gesellschaft nicht nur die „harten Worte aus Jerusalem“, sondern hob hervor, dass es in der Diskussion „nicht in erster Linie um eine Krise zwischen Staaten oder um zwei Personen, sondern vielmehr um eine Auseinandersetzung über den Charakter der Aussöhnung und Versöhnung zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk“ gehe, dessen Anwalt der Staat Israel sei. Dort fand die Kritik Begins ihrer Substanz nach breite Zustimmung, auch wenn es in Israel und von jüdischer Seite mäßigende und kri-
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tische Stimmen gab, und zwar desto mehr, je öfter Begin Anschuldigungen nachlegte, da man befürchtete, seine Beleidigungen würden alle Kreise in Deutschland gegen Israel vereinigen. Diese Bemühungen um Deeskalation wurden allerdings durch weitere Angriffe Begins konterkariert. In der deutschen Bevölkerung hatte der Konflikt antijüdische Stimmungen geweckt. Die große Zahl antisemitischer Briefe sowie Meinungsumfragen belegen als Folge des Streits einen Einstellungsknick gegenüber Israel und Juden. Seit dem Juni-Krieg von 1967 hatten die Sympathien der Westdeutschen mehrheitlich bei Israel gelegen. Die Umfrage des Instituts für Demoskopie, auf dem Höhepunkt des Schmidt-Begin-Konflikts durchgeführt, zeigte einen starken Rückgang der Sympathien für Israel (von 44 Prozent auf 21 Prozent) und ein komplementäres Anwachsen für die arabische Seite (von 7 Prozent auf 24 Prozent), umgekehrt wuchs der Anteil der Befürworter einer Panzerlieferung an Saudi-Arabien von 27 Prozent im Februar auf 52 Prozent im Mai an. Die Verstimmung über Begin und Israel übertrug sich auf die Juden generell. Auf die Frage, ob man glaube, dass nach den Angriffen Begins die Vorurteile gegenüber den Juden in der BRD wieder zunehmen würden, bejahten dies 41 Prozent (40 Prozent verneinten). Nach dem positiven Effekt der TV-Serie Holocaust bedeutete der Schmidt-Begin-Konflikt zweifellos einen Rückschlag, der zu einer Aufwallung antijüdischer Ressentiments führte. Der Konflikt war nach seinem Höhepunkt im Mai/Juni 1981 noch nicht beendet, sondern flackerte bis Mitte 1982 immer wieder auf, wenn auch die politische und öffentliche Resonanz geringer war. Trotz der Verstimmungen reiste Außenminister Genscher Anfang Juni 1982 nach Israel, und kurz zuvor hatte sich der israelische Außenminister Schamir befriedigt über den Stand der Beziehungen geäußert, sie als in der täglichen Praxis „normal“ und „vielleicht besser als früher“ eingestuft. Damit war nach fast einem Jahr der Schmidt-Begin-Konflikt ad acta gelegt worden, ohne dass es zu einer formellen Klärung in Form von Entschuldigungen gekommen wäre. Das im Vergleich zu anderen deutschen Bundeskanzlern negative Image Schmidts lebt in Israels kollektiver Erinnerung fort.
Literatur
Werner Bergmann
Werner Bergmann, Tagespolitik versus Geschichtspolitik. Der Schmidt-Begin-Konflikt von 1981, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 7 (1998), S. 266–287. Amnon Neustadt, Die deutsch-israelischen Beziehungen im Schatten der EG-Nahostpolitik, Frankfurt am Main 1983. Shlomo Shafir, Helmut Schmidt: Seine Beziehungen zu Israel und den Juden, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 17 (2008), S. 297–321.
Schmierwelle (1959–1960) Am Heiligabend des Jahres 1959 übermalten zwei junge Männer auf dem Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus am Hansaring in Köln den zweiten Satz der Inschrift „Dieses Mahnmal erinnert an Deutschlands schandvollste Zeit 1933–1945“ und beschmierten wenige Stunden später die Synagoge in der Roonstraße mit Hakenkreuzen und der Parole „Deutsche fordern: Juden raus“. Diese Tat löste eine landes- und
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weltweite antisemitische Schmierwelle mit Hunderten von Nachahmungstaten aus. Die beiden Täter, Arnold Strunk und Paul Schönen, beide Mitglieder der rechtsradikalen „Deutschen Reichspartei“ (DRP), wurden bereits am Tag nach der Tat festgenommen. Strunk, ein überzeugter Antisemit, begründete seine Tat im ersten Vernehmungsprotokoll so: „Ich wollte dagegen protestieren, dass artfremde Einflüsse in der Bundesrepublik die Oberhand gewinnen. Die Juden sollen nicht alle führenden Stellen in der Politik und Wirtschaft besetzen.“ Bei späteren Vernehmungen, in denen noch weitere Schmierereien in Lokalen und an öffentlichen Gebäuden ans Tageslicht kamen, forderte er sogar die Ausweisung der Juden aus Deutschland. Das Kölner Ereignis fand in Deutschland und im Ausland in doppelter Weise große Resonanz: Es gab eine Welle der Empörung unter Politikern, in den Medien und in der Bevölkerung. Bereits am 25. Dezember entschuldigte sich der Kölner Oberstadtdirektor Max Adenauer bei der Jüdischen Gemeinde, und Bürgermeister Ernst Schwering besuchte einen Tag später ebenso wie der Landtagspräsident Johnen die Jüdische Gemeinde. Die Anteilnahme der Kölner Bevölkerung war groß: fünfhundert entsprechende Briefe sind im Archiv der Jüdischen Gemeinde erhalten. Bundeskanzler Konrad Adenauer und Bundespräsident Heinrich Lübke gaben in Telegrammen ihrer Bestürzung und ihrem Abscheu Ausdruck. Auch die Tatsache, dass die Stadt Köln und das Land Nordrhein-Westfalen hohe Belohnungen aussetzten und zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung eingingen, unterstreicht, wie schwerwiegend man die Tat einschätzte. Der Strafprozess gegen die beiden Kölner Schmierer, Strunk und Schönen, begann erst am 5. Februar 1960 (in anderen Fällen waren Täter von Schnellgerichten innerhalb von 48 Stunden verurteilt worden), gerade weil die politisch-organisatorischen Hintergründe der Tat sorgfältig geprüft werden sollten. Die Erste Große Strafkammer verhandelte nur einen Tag (6. Februar 1960) und verurteilte die beiden Täter u.a. wegen Beschädigung zweier öffentlicher Sachen (einmal in staatsgefährdender Absicht und in Tateinheit mit dem Vergehen gegen das Versammlungsgesetz) und Beleidigung zu 14, seinen Komplizen u.a. wegen Beschädigung öffentlicher Sachen zu zehn Monaten Gefängnis und zwei Jahren Ehrverlust. Der Staatsanwalt hatte zwei Jahre und drei Monate bzw. ein Jahr und neun Monate gefordert. Das Gericht hatte bei der Strafzumessung den „Geisteszustand“ (psychopathische Veranlagung) der Angeklagten ebenso berücksichtigt wie die Tatsache, dass die beiden Vergehen die staatliche Ordnung „noch nicht“ ernsthaft bedroht hätten. Obwohl die eingesetzte Sonderkommission die DRP als geistigen Anstifter der Tat ermittelt hatte, fand dies im Verfahren keine nähere Berücksichtigung, da der Vorsitzende Richter keine Beweise dafür sehen wollte, „dass hinter den Angeklagten eine antisemitische Organisation stehe“. Über das Strafmaß entbrannte eine erregte Diskussion, und die Staatsanwaltschaft legte einen Revisionsantrag beim Bundesgerichtshof vor, den sie aber Anfang Mai wieder zurückzog. In der Bundesrepublik wurden bis zum 18. Februar 1960 833 antisemitische und nazistische Vorfälle gezählt, davon allein 272 in Nordrhein-Westfalen. Die große internationale Resonanz brachte die Bundesrepublik in außenpolitische Schwierigkeiten und erzwang innenpolitisch eine Auseinandersetzung mit dem Fortwirken der NS-Vergangenheit. Diese besondere Resonanz muss im Kontext der politischen Situation Ende 1959 gesehen werden.
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Das Kölner Ereignis stand in einer seit 1958 anhaltenden Kette antisemitischer Skandale (die Fälle Zind, Nieland, Eisele), die im In- und Ausland Befürchtungen über ein Wiederaufleben oder Neuentstehen nazistischer Gesinnung weckten. Diese Kumulation der Fälle erzeugte eine hochgradige Sensibilität für Antisemitismus. Die Schmierwelle konnte auch mit dem aktuellen Konflikt über ehemalige Nationalsozialisten in hohen politischen Ämtern, in Justiz und Verwaltung verknüpft werden. Neben den Fällen Hans Globke (Staatssekretär im Bundeskanzleramt, einst Kommentator der → „Nürnberger Gesetze“ von 1935) und – eher am Rande – Bundesinnenminister Gerhard Schröder (SA-Mann seit 1933, NSDAP-Mitglied seit 1937) hatte vor allem der „Fall Oberländer“, Vertriebenenminister in der Regierung Adenauer, dem Beteiligung an Kriegsverbrechen vorgeworfen wurde, seinen Platz in den Schlagzeilen. Hinzu kam die von der DDR zu dieser Zeit geführte Kampagne gegen „belastete Juristen“ in der Bundesrepublik. Die Schmierwelle konnte so von vielen Gruppen für ihre Interessen genutzt werden. Die früh bekannte Verbindung der beiden Kölner Täter mit der rechtsradikalen „Deutschen Reichspartei“ (gegründet 1950, ca. 16.000 Mitglieder) und gerüchteweise auch mit der SED eröffnete Sanktions- und Kontrollchancen für die staatlichen Organe. Zunächst verhaftete man weitere DRP-Mitglieder, die gesprächsweise von dem Vorhaben gewusst hatten. Der neonazistische Hintergrund führte auch zu Einmischungen ausländischer Regierungen, Organisationen und Massenmedien in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik, vor allem von Seiten der ehemaligen Besatzungsmächte, jüdischer Organisationen, Israels und der Länder des Ostblocks. Schließlich hat die Wahl einer Synagoge kombiniert mit der Tatzeit am Heiligen Abend für die große Resonanz und Empörung gesorgt. Verstärkend wirkte neben der Erinnerung an die Zerstörungen in den → Novemberpogromen von 1938, dass die Synagoge erst wenige Monate zuvor im Beisein von Bundeskanzler Adenauer eingeweiht worden war, sodass die Schmiererei sowohl als Angriff auf die jüdische Gemeinde als auch auf die projüdische Haltung des westdeutschen Staates gesehen werden konnte. Die große innen- wie außenpolitische Wirkung der Schmierwelle stand in auffälligem Kontrast zum Fehlen eines ernsthaften politischen Gegners. Die beiden Kölner Täter, wie auch die meisten der Folgetäter, erwiesen sich als „politische Wirrköpfe“ oder waren häufig Kinder und Jugendliche: Von den 833 Vorfällen zwischen dem 25. Dezember und dem 18. Februar 1960 galten 256 als Kinderkritzeleien. Laut Weißbuch der Bundesregierung hatten von den 234 bis Ende Januar ermittelten Tätern (nach deren Selbstaussagen) nur 17 aus rechts- oder linksextremistischer Gesinnung, weitere 56 aus „unterschwellig wirksamen politischen oder antisemitischen Gesinnungen“ heraus gehandelt, während die restlichen 113 keine politischen Gründe gehabt, sondern aus Geltungssucht gehandelt hätten. Die Regierung bemühte sich, die politische Dimension der Vorfälle so wenig wie möglich in Erscheinung treten zu lassen. Redner in der abschließenden Bundestagsdebatte konnten deshalb darauf hinweisen, dass der Antisemitismus politisch kein Problem und die Zahl der Antisemiten gering sei. Eine Meinungsumfrage des Instituts für Sozialforschung ermittelte in Frankfurt eine Gruppe von 16 Prozent mit „Sympathie für antisemitische Einstellungen“. Es fehlte an einem offenen politisch-ideologischen Antisemitismus, gegen den man staatlicherseits einschreiten
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konnte. Im Gegenteil gab es eine bis dahin nicht gekannte Mobilisierung der Kirchen, Verbände und gesellschaftlichen Gruppen gegen Antisemitismus, die sich in einer Vielzahl von Aktionsformen, wie Demonstrationen, Spendensammlungen für Israel, Denkschriften und „Sühnewallfahrten“ manifestierte. Auf Grund der DRP-Mitgliedschaft der beiden Täter und ihren Kontakten zur Ludendorff-Bewegung gerieten diese beiden Organisationen bei der Suche nach den „Hintermännern“ und „moralischen Urhebern“ als Erste ins Visier. Die DRP wiederum versuchte von Anfang an, sich „aus der Schusslinie“ zu bringen. Trotz der Verbotsforderungen seitens der Parteien, der Gewerkschaften und anderer Organisationen des Inund Auslandes sowie Hintergrundberichten der Presse zu rechtsradikalen Organisationen wurde schnell erkennbar, dass ein bundesweites Verbot der DRP „noch in weiter Ferne“ lag. In einigen Bundesländern wurde allerdings mit Verboten gegen die Partei und andere rechtsradikale Organisationen vorgegangen. Da beim Auftreten von Neonazismus immer auch der geistige und personelle Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus in Frage stand, wurde das Thema „Altnazis“ von Beginn an vor allem von jüdischen Organisationen und von Seiten des Ostblocks in den Vordergrund gerückt. Hier bot sich die Möglichkeit der Kooptation eines bereits laufenden Konflikts, da über belastete Personen in Regierung, Justiz und Verwaltung schon seit Jahren öffentlich gestritten wurde. Jüdische Organisationen im Inund Ausland schlossen in ihre Forderungskataloge stets die Überprüfung bzw. Entfernung belasteter Personen aus Politik, Justiz, Pädagogik und Wirtschaft ein. Gegen diese weitreichenden Forderungen gab es in Regierungskreisen starke Bedenken, vor allem wurde eine neue Entnazifizierung von allen Parteien abgelehnt. Doch auch innenpolitisch wurde vor allem durch die SPD-Opposition, die Gewerkschaften und Teile der Medien das Thema „belastete Personen“ zum Teil in explizitem Anschluss an die ausländische Kritik weiterverfolgt. Im Zentrum stand dabei der „Fall Oberländer“. Auch wenn die Regierung konkrete Maßnahmen gegen einzelne Belastete ablehnte und stattdessen die „unbewältigte Vergangenheit“ aller Deutschen in den Vordergrund rückte, musste Theodor Oberländer im Mai 1960 zurücktreten. Der Hinweis auf eine mögliche kommunistische Beeinflussung oder gar Lenkung der Schmierwelle tauchte bereits im Fall der Kölner Täter auf, die zweimal in die DDR gefahren waren und dort auch Kontakte zu SED-Mitgliedern hatten. Die DRP brachte zu ihrer Entlastung die These auf, die beiden Täter seien in Wahrheit Provokateure aus dem Osten. Diese bestritten aber diese „Anstiftungstheorie“, und auch die Presse blieb ihr gegenüber misstrauisch. Stattdessen wurde sie von der Bundesregierung aufgegriffen, die in der Kabinettssitzung vom 3. Januar 1960 diesen Gedanken verklausuliert formulierte und an die Presse weitergab. Diese Drahtzieher-Theorie blieb jedoch innenpolitisch umstritten. Im Innenausschuss des Bundestages konnte in der Bewertung des kommunistischen Einflusses zwischen der CDU/CSU und der SPD keine Einigkeit erzielt werden. Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß konnte sich im Kabinett mit seiner Version durchsetzen, und der Regierungssprecher sprach von kommunistischen Aktivitäten auf drei Gebieten: als Anstifter, als Täter und als propagandistische Nutzer dieser Ereignisse. Im Weißbuch der Bundesregierung wurde jedoch eingeräumt, dass es keinen Beweis für die Lenkung der Vorfälle durch rechts- oder linksextremistische
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Organisationen gab, dennoch wurden den Fällen von kommunistischen Tätern mehr Seiten des Weißbuches gewidmet als von rechtsradikalen. Nachdem man rechtliche und politische Möglichkeiten ausgeschöpft hatte, geriet die Erziehung der Jugend in Elternhaus, Schule und Kirche ins Visier. Jüdische Organisationen forderten bereits Anfang Januar die Entfernung antidemokratischer Gedanken aus der Erziehung und die Überprüfung des Lernprogramms an Schulen und Universitäten. Die Presse widmete der Behandlung der Zeitgeschichte im Unterricht kritische Kommentare und brachte Analysen von Geschichtsbüchern. Die öffentliche Diskussion entbehrte nicht einer gewissen Hysterie, und in- und ausländische Medien übten überzogene Kritik, indem sie generalisierend und pauschalisierend der Schule, insbesondere den Kultusverwaltungen und den Lehrern, ein fast völliges Versagen in der politischen Erziehung vorwarfen. Der Erziehungsgedanke gewann gegen Ende der Schmierwelle bei den Gerichten, in der Öffentlichkeit und bei Politikern das Übergewicht gegenüber dem Straf- und Verbotsgedanken. Das Sechste Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. Juni 1960 brachte dann die lang angestrebte Neufassung des §130 StGB (Volksverhetzung) und zusätzlich auch noch eine von der SPD angeregte Neufassung des Verbots der öffentlichen Verwendung von NS-Kennzeichen (§ 96a) sowie einen besseren Schutz des Andenkens Verstorbener. Weit weniger erfolgreich waren die politischen Versuche, rechtsradikale Organisationen und Verlage zu verbieten. Es kam schließlich nicht zu einem Verbot der DRP auf Bundesebene, doch hatte deren Verwicklung in die Schmierwelle das von ihr angestrebte Bündnis mit den Resten der „Deutschen Partei“ und des „Gesamtdeutschen Blocks“/BHE und damit die Etablierung eines „dritten Weges“ in der Parteienlandschaft der Bundesrepublik vollends unmöglich gemacht. Die DRP erlitt bei der Bundestagswahl 1961 eine empfindliche Niederlage (0,8 Prozent der Stimmen). Mit dem Abklingen der Schmieraktionen, dem Prozess gegen die Kölner Täter und der nachlassenden Beobachtung seitens des Auslandes ließ auch der politische Handlungsdruck nach und der Schwerpunkt der Überlegungen verschob sich auf längerfristige und weiter ausgreifende Bekämpfungsmaßnahmen. Die Vorlage des Weißbuches und die anschließende Bundestagsdebatte schlossen die politische Behandlung der Schmierwelle am 18. Februar innenpolitisch ab. Die politischen Reaktionen blieben nicht auf Deutschland begrenzt. Die internationale Verbreitung der Schmieraktionen führte dazu, dass auch die UNO das Thema Bekämpfung von Rassenhass auf die Tagesordnung des Unterausschusses zur Verhinderung von Diskriminierungen und Minderheitenschutz setzte. Die UN-Menschenrechtskommission billigte eine Resolution, in der die antisemitischen Vorfälle als „Bedrohung der Menschenrechte“ scharf verurteilt und die Mitgliedsstaaten dringend ersucht wurden, alle Maßnahmen zur Verhinderung solcher Vorfälle zu treffen.
Literatur
Werner Bergmann
Werner Bergmann, Antisemitismus als politisches Ereignis. Die antisemitische Schmierwelle im Winter 1959/60, in: Werner Bergmann, Rainer Erb (Hrsg.), Antisemitismus in der politischen Kultur seit 1945, Opladen 1990, S. 253–275. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 1, 1960.
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Schriftleitergesetz
Bundesregierung (Hrsg.), Die antisemitischen und nazistischen Vorfälle. Weißbuch und Erklärung der Bundesregierung, Bonn 1960. Peter Schönbach, Reaktionen auf die antisemitische Welle im Winter 1959/1960, Frankfurt am Main 1961. Juliane Schwibbert, Die Kölner Synagogenschmierereien Weihnachten 1959 und die Reaktionen in Politik und Öffentlichkeit, in: Geschichte in Köln 33 (1993), S. 73–96.
Schriftleitergesetz Es war nur eine der zahlreichen Propagandalügen, wenn die Nationalsozialisten vor wie nach 1933 behaupteten, dass die Presse der Weimarer Republik „jüdisch dominiert“ gewesen sei. Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Maximal fünf Prozent der Tageszeitungen der Jahre 1918 bis 1933 können mit dem per se fragwürdigen Attribut „jüdisch“ versehen werden, während mehr als 35 Prozent dem nationalkonservativen und nationalsozialistischen Parteienspektrum zuzuordnen sind. Unter den 85 größten deutschen Tageszeitungen lassen sich nicht einmal 10 finden, deren Chefredakteure Juden waren. Das „Statistische Jahrbuch“ für das Jahr 1932 wies 41 von 740 „Redakteuren“ im Sinne von „Eigentümern und Direktoren“ als Juden aus (5,54 Prozent) und 192 von 3475 „Redakteuren“ im Sinne von „Angestellten und Beamten“ (5,52 Prozent). Da mit der nationalsozialistischen Machtübernahme auch ein Medienwechsel verbunden war, griff der NS-Staat sofort massiv in die von der Weimarer Reichsverfassung garantierte Freiheit der Presse ein. Mit dem Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 wurde eine neue „Magna Charta“ des Berufsstands geschaffen, wie es Hans Schmidt-Leonhardt als Leiter der für die Ausformulierung des Gesetzes zuständigen Rechtsabteilung im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda interpretierte. Während das am 22. September 1933 vom Reichskabinett beschlossene → Reichskulturkammergesetz die auf dem Kulturgebiet tätigen Berufsgruppen im Geist des nationalsozialistischen Staatsgedankens „nur organisieren“ wollte, so weiter Schmidt-Leonhardt, wirkte das Schriftleitergesetz „inhaltlich regelnd“ unmittelbar in die Berufsausübung hinein. Und im Gegensatz zur ursprünglichen Handhabung des Reichskulturkammergesetzes erhielt das Schriftleitergesetz von Anfang an eine explizit antisemitische Stoßrichtung. Wie in so vielen anderen Fällen war allerdings auch das vom NS-Staat erlassene Schriftleitergesetz wenig originell. Es kombinierte die vom Reichsverband der Deutschen Presse 1924 eingebrachte, jedoch nicht durchgesetzte Initiative zu einem „Gesetz betreffend die Rechtsverhältnisse der Redakteure“ (Journalistengesetz) mit den Gesetzen und Verordnungen, mit denen das faschistische Italien in den Jahren 1923 bis 1928 Redakteure und Journalisten einem korporativen Kontrollsystem untergeordnet hatte. Genauso typisch für die Herrschaftspraxis im NS-Staat waren auch die Macht- und Interessenkämpfe um das Schriftleitergesetz, auf das Max Amann als neuer Medienmogul, Otto Dietrich als Reichspressechef der NSDAP und Vorsitzender des Reichsverbandes der Deutschen Presse (RDP) sowie Joseph Goebbels als Reichspropagandaminister Einfluss zu nehmen versuchten. Einig waren sich die drei Akteure jedoch mit Sicherheit in dem Ziel, die Juden aus dem deutschen Pressewesen vollständig auszuschalten. § 5, Absatz 3 des Gesetzes definierte, dass „Schriftleiter“ nur derjenige sein
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kann, der „arischer Abstammung ist und nicht mit einer Person von nichtarischer Abstammung verheiratet ist“. Allerdings sollte, wie es § 6 und die am 19. Dezember 1933 erlassene „Verordnung über das Inkrafttreten und die Durchführung des Schriftleitergesetzes“ regelten, eine „Befreiung von dem Erfordernis der arischen Abstammung“ gelten für Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs, Väter oder Söhne von im Weltkrieg Gefallenen, Schriftleiter an jüdischen Zeitungen sowie für „Personen, die zum Zeitpunkt der Verkündung des Gesetzes bereits mit einer Person nichtarischer Abstammung verheiratet waren“. Die „Zulassung zum Schriftleiterberuf“ erfolgte „auf Antrag durch Eintragung in die Berufsliste“. Da das Gesetz durch die Festlegung der „Ausübung des Schriftleiterberufs“ die deutsche Presse zur „Trägerin einer öffentlichen Aufgabe“ im Sinne des NS-Staats machte und den Primat des Politischen über das Wirtschaftliche vorgab, wurden nicht nur die Journalisten, sondern auch die Verleger der Zeitungen und Zeitschriften ihrer bisherigen Autonomie beraubt. Den Widerspruch zwischen den antisemitischen Bestimmungen des zum 1. Januar 1934 in Kraft getretenen Schriftleitergesetzes, das in das Recht der im November 1933 gegründeten Reichspressekammer übernommen wurde, und dem Reichskulturkammerrecht hob Goebbels im Februar 1934 mit einer Anweisung an die Präsidenten und Präsidialräte der Reichskulturkammer auf, wonach die Frage der Zulassung zu allen Kulturberufen gegenüber „Nichtariern“ restriktiv auszulegen war. Jüdische Journalisten wurden seither im Rahmen der Reichspressekammer in einer gesonderten Berufsliste geführt und durften auch nur noch für die „jüdische Presse“ arbeiten. Die damit eingeleitete Ghettoisierung wurde in den Folgejahren konsequent und mit einer im Vergleich zu anderen Kultursparten besonderen Härte vorangetrieben. Im Juni 1934 schrieb eine von der Reichspressekammer erlassene Anordnung vor, dass selbst jüdische Gemeindeblätter nicht mehr kostenlos vertrieben werden durften. Aufgrund einer weiteren Anordnung Amanns vom 6. September 1935 konnten jüdische Zeitungen und Zeitschriften nicht einmal mehr öffentlich angeboten und verkauft werden. Ab dem 15. April 1936 hatte jedes Mitglied der Reichspressekammer den „Großen Abstammungsnachweis“ zu erbringen, der die „arische Abstammung“ bis zum Jahre 1800 unter Einschluss des Ehepartners mit Urkunden belegen musste. Mit einem Rundschreiben vom 15. Juli 1937 erteilte Hans Hinkel als Sonderbeauftragter für die „Überwachung und Beaufsichtigung der Betätigung aller im deutschen Reichsgebiet lebenden nichtarischen Staatsangehörigen auf künstlerischem und geistigem Gebiet“ die Anweisung, dass jüdische Zeitungen und Zeitschriften nur noch an Juden verkauft werden durften. Ebenso wie die jüdischen Presseorgane verloren auch deren Mitarbeiter ihre staatliche Anerkennung im Rahmen des Schriftleitergesetzes. Sie wurden aus den Listen der Reichspressekammer vollständig gestrichen und in „eine Art jüdischer Reichspressekammer“ (Diehl) überführt. Immerhin existierten bis 1938 noch 146 jüdische Zeitungen und Zeitschriften (einschließlich der Gemeindeblätter), von denen die Hälfte in Berlin erschienen. Ihre Ghettoisierung wurde durch inhaltliche Vorgaben ergänzt. Die Behandlung bestimmter Themen war ebenso untersagt wie die Verwendung bestimmter Worte oder die Zitierung der nichtjüdischen Presse. Amtliche Mitteilungen und Anordnungen mussten kommentarlos veröffentlicht werden, auch antisemitische. Die → Novemberpogrome leiteten das Ende für nahezu alle jüdischen Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland ein,
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darunter auch die traditionsreiche „Jüdische Rundschau“, die „C.V.-Zeitung“ und das „Israelitische Familienblatt“. Als zentrales, vom NS-Staat kontrolliertes Organ blieb nur noch das „Jüdische Nachrichtenblatt“, das von November 1938 bis Juni 1943 zunächst mit acht, ab 1941 nur noch mit vier Ausgaben im Monat herausgegeben wurde. Zum damaligen Zeitpunkt hatten die wenigen noch in Deutschland verbliebenen jüdischen Journalisten die meisten ihrer Leser bereits verloren: durch Emigration, Freitod, Deportation oder Ermordung.
Literatur
Jan-Pieter Barbian
Katrin Diehl, Die jüdische Presse im Dritten Reich. Zwischen Selbstbehauptung und Fremdbestimmung, Tübingen 1997. Oron J. Hale, Presse in der Zwangsjacke 1933–1945, Düsseldorf 1965. Gerhard Menz, Der Aufbau des Kulturstandes. Die Reichskulturkammergesetzgebung, ihre Grundlagen und ihre Erfolge, München, Berlin 1938. Ildephons Richter, Das neue Presserecht, in: Deutsches Kulturrecht, hrsg. vom Deutschen Fichtebund e.V., Hamburg 1936, S. 63–74. Hans Schmidt-Leonhardt, Einheit von nationaler Staatsführung und nationaler Geistesführung, in: Deutsche Presse 25 (1935), S. 654–655. Hans Schmidt-Leonhardt, Peter Gast, Das Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 nebst den einschlägigen Bestimmungen, Berlin 1938.
Schutzjuden → Preußische General-Juden-Reglements (1730 und 1750)
Semana tragica (1919) Die Bezeichnung „La semana tragica“ bezieht sich auf die Gewalt und Repression gegenüber der Arbeiterbewegung und der jüdischen Bevölkerung in Buenos Aires zwischen dem 9. und 16. Januar 1919. Um die Jahrhundertwende erlebte Argentinien eine Phase der Prosperität und der ökonomischen Entwicklung, die in Folge der starken Einwanderung sowohl zum Bevölkerungswachstum als auch zur zunehmenden Urbanisierung führte. Zeitgleich formierte sich die Arbeiterbewegung, in der zahlreiche Einwanderer aktiv waren. Ihre Mobilisierung und sozialen Forderungen wurden indes von der argentinischen Elite als Bedrohung wahrgenommen: In ihrer Vorstellung beabsichtigten die „ausländischen Agitatoren“, die sich sozialistischem Ideengut verschrieben hätten, das nationale Fundament zu zerstören. In die xenophoben Diskurse mischten sich auch antisemitisch gefärbte Parolen. Die Immigranten wurden schlechthin mit Sozialisten, Russen und Juden assoziiert, weil viele ursprünglich aus Osteuropa kamen. Als die Bolschewisten in Russland im Jahr 1917 die Macht ergriffen, wuchs die Angst vor einer möglichen, durch russische Juden „eingeschleppten“ Revolution. Der argentinische Historiker Daniel Lvovich sieht in dieser Angst den Auslöser der Gewaltakte der „Tragischen Woche“. Im Dezember 1918 war in der Metallindustrie Vasenas in Buenos Aires ein Streik ausgerufen worden. Am 7. Januar 1919 bildete sich am Eingang der Fabrik ein Streikposten, der die Materialtransporte verhindern wollte. Als es zu einer Schlägerei zwi-
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schen Streikenden und Streikbrechern kam, eröffnete die Polizei das Feuer, vier Arbeiter wurden getötet und 30 weitere verletzt. Als Zeichen des Protestes riefen zwei zentrale Gewerkschaften sowie andere autonome Gruppierungen für den 9. Januar einen Generalstreik aus. An diesem Tag bildete sich zur Beerdigung der ermordeten Arbeiter ein großer Trauermarsch, der zum Friedhof Chacarita führte. Als der Trauermarsch das Fabrikgebäude Vasena passierte, schoss die Polizei auf die Arbeiter. Diese reagierten darauf, indem sie die Lagerräume der Fabrik in Brand setzten und das nahe liegende Waffenarsenal überfielen. Die Konfrontation dauerte Stunden und kostete viele Menschenleben. Weitere Übergriffe richteten sich gegen eine katholische Kirche und ein Pflegeheim, wofür die katholische Kirche die „Saujuden“ verantwortlich machte. Das Gerücht von einer angeblichen bolschewistischen Revolution verbreitete sich in der ganzen Stadt. Auf dem Friedhof, während die Trauerrede gehalten wurde, schoss die Polizei auf die versammelten Arbeiter und verursachte ein erneutes Blutbad. Präsident Hipólito Yrigoyen stellte die Stadt unter den Befehl des Obersten Luis Dellepiano und seiner „Zivilpolizei“ (Polícia Civil). Zwischen dem 10. und 11. Januar fand die sogenannte Menschenjagd (caza del hombre) bzw. Russenjagd statt, d.h. der gezielte Angriff auf die Arbeiterviertel und Gewerkschaftslokale, der zahlreiche Opfer unter Männern, Frauen und Kindern forderte. Am 12. Januar wurde Pedro Wald, der als Vorsitzender der „Sowjets“ galt, festgenommen, bald darauf aber wieder freigelassen. Indes griffen patriotische Banden die jüdischen Viertel Once und Villa Crespo an und steckten die Synagogen und Bibliotheken von Avangard und Poalei Zión in Brand. Juan E. Carulla, ein Augenzeuge, berichtete: „Ich habe gehört, dass die jüdischen Viertel in Brand gesteckt wurden und bin direkt dahin gegangen. Dort angekommen, wurde ich Zeuge von dem, was man den ersten Pogrom Argentiniens nennen könnte. In der Mitte der Straßen brannten Bücher und altes Gerümpel […]. Der Lärm der Möbel und Schubladen, die mit Gewalt auf die Straße geworfen wurden, mischten sich mit den Schreien ‚Tod den Juden!’“ Am 14. Januar endete der Generalstreik, zwei Tagen später kehrte die Armee in die Kaserne zurück. Die Anzahl der Opfer ist bis heute unbekannt. Schätzungen zufolge gab es über 1.356 Opfer, 5.000 Verletzte und zwischen 5.000 und 45.000 Festgenommene. Die jüdische Gemeinde, die etwa 70.000 bis 100.000 Personen zählte, beklagte einen Toten, 71 Verletzte und 560 Festgenommene.
Literatur
María Ximena Alvarez
Eduardo J. Bilsky, La semana trágica, Buenos Aires 1984. Juan E. Carulla, Al filo del medio siglo, Paraná 1951. Daniel Lvovich, Nacionalismo y Antisemitismo en la Argentina, Buenos Aires 2003. David Rock, Sandra McGee Deutsch u.a., La derecha argentina, Buenos Aires 2001.
Sklarek-Skandal (1929) Der Sklarek-Skandal gilt neben dem → Barmat-Skandal (1925) und dem Rotter-Skandal (1932/33) als einer der wichtigsten politischen Skandale der Weimarer Republik. Alle größeren Parteien mit Ausnahme der NSDAP waren darin verwickelt, sodass die
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NSDAP die Korruptionsaffäre um drei jüdische Unternehmer zu hemmungsloser antisemitischer Hetze benutzte und hierüber einen ersten Wahlerfolg in Berlin errang. Die drei Brüder Leo, Max und Willy Sklarek waren als Eigentümer einer Textilfirma und eines erfolgreichen Pferderennstalls zu Millionären aufgestiegen. 1925 hatten sie die hoch verschuldete „Berliner Kleiderverwertungs-Gesellschaft“ (KVG) erworben und im Jahr darauf begonnen, einen groß angelegten Betrug zu Lasten der Stadt Berlin aufzuziehen: Waren, die weder bestellt noch geliefert wurden, stellten sie städtischen Instanzen zu ihren Gunsten in Rechnung. Im April 1929 schlossen sie einen Monopolvertrag mit Berlin ab, der sämtliche städtischen Dienststellen, inklusive Krankenhäuser und Obdachlosenhilfe, verpflichtete, ihren Kleidungsbedarf über die KVG zu decken. Der Monopolvertrag wiederum wurde von der „Berliner Stadtbank“ als Sicherheit für neue Kredite akzeptiert, obwohl die KVG überhaupt nicht in der Lage gewesen wäre, alle Berliner Dienststellen mit Kleidung zu versorgen. Der Betrug mit gefälschten Rechnungen kam ans Licht, als einem Revisor eine Bestellung des Wohlfahrtsamts Berlin-Spandau über 69.000 Mark auffiel. Das hätte für mehr als 7.000 Anzüge gereicht, wobei Spandau weder soviel Geld, noch so viele Bedürftige hatte. Als die Sklarek-Brüder am 26. September 1929 verhaftet wurden und das Ausmaß der Affäre ans Licht kam, sahen viele darin eine Neuauflage des Barmat-Skandals. Denn genau wie im Fall Barmat waren es auch hier vor allem die persönlichen Beziehungen der Brüder zu prominenten Vertretern der Demokratie, die es den immer zahlreicher werdenden republikfeindlichen Kräften leicht machten, den Fall zum Skandal zu machen, obwohl sich der wirtschaftliche Schaden in Grenzen hielt: Die KVG schuldete der Berliner Stadtbank 10 Millionen Mark. Die Sklareks hatten teure Kleidungsstücke anfertigen lassen und sie weit unter Wert an einflussreiche Bekannte verkauft oder auch die Rechnung ganz „vergessen“. Die Gattin des Berliner Bürgermeisters Gustav Böß war Empfängerin eines erstklassigen Pelzmantels gewesen, worüber Böß – mit den Vorwürfen konfrontiert – ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst zur Aufklärung beantragte. Am 7. November 1929 musste er zurücktreten, da er als Demokrat sofort der Korruption bezichtigt wurde und in einer hasserfüllten Pressekampagne Front gegen ihn gemacht wurde. Als Symbol der vermeintlich korrupten, von Juden beherrschten Republik passte der Sklarek-Skandal auf so manches Vorurteil und wurde nun zum „Beweis“ herangezogen: Leo und Willy Sklarek waren seit 1928 SPD-Mitglieder, Max war in der DDP, Spenden der KVG waren sowohl der „Roten Hilfe“ (in Form von Kleidung) als auch der DNVP (in Form von Geld) überwiesen worden, daneben wurden auch SPD und DDP bedacht, zwei KPD-Stadträte und mehrere DNVP-Mitglieder waren bestochen worden, „Aufmerksamkeiten“ wie Pelzmäntel, Zigarren und Weine, Einladungen zu Gesellschaften oder auf die Pferderennbahn, Reisen nach Paris oder Italien, Aktiengeschenke und direkte Bestechungsgelder waren nahezu allen einflussreichen Persönlichkeiten Berlins zugute gekommen – kurzum: außer der NSDAP hatten sich alle Parteien kompromittiert. Dass es vor allem steil aufgestiegene Arbeiter wie der BVG-Direktor Fritz Brolat (SPD) waren, die tief in die Sklarek-Affäre verstrickt waren (er hatte Aktien und eine Italien-Reise erhalten), generierte zusätzlich Hass und Häme quer durch alle politischen Lager. Die einen sahen vor allem die moralischen Ansprüche einer SPD oder KPD stark in Misskredit gebracht, die Konservativen legten den Akzent eher darauf,
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dass „jüdische Emporkömmlinge“ und „arrivierte Proleten“ (der SPD und KPD) den Platz der traditionellen Eliten eingenommen hätten und nun Schindluder mit Deutschland (in Form der „korrupten“ Demokratie) trieben. Nicht die Korruption als solche stand im Mittelpunkt des Interesses, sondern ihre Organisation durch in Amt und Würden aufgerückte Sozialdemokraten und Juden. Dies machte auch ein von der DNVP initiierter parlamentarischer Ausschuss klar, der sich ab Oktober 1929 mit der Klärung der Misswirtschaft in der Berliner Stadtverwaltung beschäftigte. Wie die Barmat-Brüder waren auch die Sklareks jüdischen Glaubens, sodass die antisemitische Presse – vor allem die aufstrebende NS-Presse – erneut das Stereotyp vom „betrügerischen Ostjuden“ bemühte: Der „Völkische Beobachter“ nannte die Sklareks hämisch „Edelleute aus Galizien“, was zwar nicht stimmte – sie waren alle gebürtige Berliner, deren Vater, ein Herrenkleiderfabrikant, 1877 aus Russland nach Deutschland eingewandert war –, doch angesichts des Falles gern geglaubt wurde. Die NSDAP nutzte die aufgeheizte Stimmung, um bei den Berliner Kommunalwahlen (November 1929) als einzige nicht in die Affäre verstrickte Partei mit einem moralischen Impetus aufzutreten, der versprach, mit der Korruption und den „verjudeten“ Parteien des „Barmatblocks“ (gemeint war die Weimarer Koalition) in „Sklarek-Stadt“ (Berlin) aufzuräumen. Das gleichsam antisemitische und antidemokratische Gebaren zahlte sich aus: Die NSDAP holte 5,8 Prozent der Stimmen und zog erstmals mit einer Fraktion ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Der Prozess gegen Leo und Willy Sklarek – Max war nicht angeklagt worden, da er schwer krank war und mit seinem baldigen Tod gerechnet wurde – begann am 13. Oktober 1931. Er endete am 23. Juni 1932 mit ihrer Verurteilung zu je vier Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust wegen Betrugs in Tateinheit mit schwerer Urkundenfälschung und aktiver Bestechung. Zehn ehemalige Beamte der Berliner Stadtverwaltung wurden wegen passiver Bestechung verurteilt, der ehemalige BVG-Direktor Brolat bekam wegen Meineides im Februar 1933 ein Jahr Gefängnis. Der älteste der Brüder, Leo Sklarek (*1884), wurde zur NS-Zeit erneut vom Volksgerichtshof angeklagt und am 24. Mai 1942 im KZ Sachsenhausen erschossen. Sein ein Jahr jüngerer, schwer herzkranker Bruder Willy wurde bereits im Mai 1930 gegen Kaution aus der Untersuchungshaft entlassen, musste seine Haftstrafe 1932 aber dennoch antreten. Er starb am 18. März 1938 in Prag. Der 1894 geborene Max Sklarek wurde im September 1944 in Auschwitz ermordet. Obwohl andere Skandale der Weimarer Republik – vor allem das Milliardengrab Osthilfe – wirtschaftliche und finanzpolitische Schäden in einer Dimension anrichteten, gegen die die Sklarek-Affäre, Barmat, Sklarz oder Kutisker geradezu harmlos erscheinen, waren es gerade diese Fälle, die sich politisch am besten instrumentalisieren ließen. Dass einer der wesentlichen Gründe dafür der auf breiter gesellschaftlicher Basis vorhandene Antisemitismus war, wird klar, wenn man den sogenannten Rotter-Skandal von 1932/33 (den Zusammenbruch des Imperiums der Berliner Theaterleiter Alfred und Fritz Rotter) einbezieht: Da die Brüder Juden waren, führte die Presse den Bankrott sofort auf ihre umstrittenen Geschäftspraktiken zurück und bemühte sämtliche Stereotype vom „Geschäftsjuden“. Den Mangel an gesicherten Fakten ersetzte sie durch wilde, antisemitisch motivierte Spekulationen. Die vermeintlichen Fakten zur Unterfüt-
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Sklavenhandel
terung hatten ja – so die weitverbreitete zeitgenössische Wahrnehmung – schon die Fälle Barmat und Sklarek geliefert.
Literatur
Bjoern Weigel
Stephan Malinowski, Politische Skandale als Zerrspiegel der Demokratie. Die Fälle Barmat und Sklarek im Kalkül der Weimarer Rechten, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5 (1996), S. 46–65. Dagmar Reese, Skandal und Ressentiment: Das Beispiel des Berliner Sklarek-Skandals von 1929, in: Rolf Ebbighausen, Sighard Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 1989, S. 374–395.
Sklavenhandel Die Versklavung des Menschen durch den Menschen existiert seit Beginn der Menschheitsgeschichte. In Mesopotamien wurde sie im babylonischen Code Hammurabi (18. Jahrhundert v.d.Z.) geregelt. Im antiken Griechenland (Homer) wie dem imperialen Rom ist die Sklaverei vielfältig dokumentiert. Und auch in der Thora wird der Umgang mit Sklavinnen und Sklaven eingehend behandelt (2. Buch Mose, Exodus 21:2–4; 3. Buch Mose, Leviticus 25:44–46, 55; 5. Buch Mose, Deuteronomium 15:12–15). Sie unterscheidet zwischen Juden, die in einer Schuldknechtschaft standen – „Sechs Jahre soll ein Sklave bei dir arbeiten und im siebenten Jahr soll er freigelassen werden“ – und Unfreien nichtjüdischer Herkunft. Und so wie Juden ihresgleichen und andere unterjochten, waren sie zu früheren Zeiten selbst zur Zwangsarbeit gezwungen. Bekannt ist die Geschichte von Mose, der das „Volk Israel“ nach Jahrhunderten des Sklavendaseins aus Ägypten herausführte (2. Buch Mose, Exodus). Nach dem Auszug aus Ägypten spielten Juden bis zur Eroberung Amerikas im Sklavenhandel – so weit bekannt – keine wesentliche Rolle mehr. Arabische Händler durchstreiften mit ihren Karawanen den nördlichen Teil Afrikas auf der Suche nach Opfern, die sie verschleppten. Mit der Ausweitung des islamischen Reiches auf die Iberische Halbinsel expandierte der Sklavenhandel auch in westliche Richtung. Besonders die großen Zuckerplantagen in Südspanien, Madeira und auf den Kanarischen Inseln benötigten Sklaven aus Afrika. Nach der Reconquista, bei der die Mauren von der Iberischen Halbinsel vertrieben wurden, blieb die Plantagenwirtschaft bestehen. Die Erfahrungen im Einsatz von Sklaven führten zu einem gigantischen Menschenhandel, nachdem im Auftrag der spanischen „Katholischen Könige“ die „Neue Welt“ im Westen von Christoph Kolumbus erobert worden war (1492). Die Reconquista und die Vertreibung der Juden aus dem Sefarad stehen inhaltlich und zeitlich in diesem direkten Zusammenhang. Die zwangsweise Konvertierten suchten in der „Neuen Welt“ genau jene Freiheit, die ihnen in Europa nicht mehr gewährt wurde. Geschickt nutzten sie den Kampf zwischen den imperialen Königshäusern um die politische und wirtschaftliche Vorherrschaft in der Karibik, Süd-, Mittel- und Nordamerika, indem sie sich unter den Schutz jener Herrscher begaben, die ihnen religiöse und ökonomische Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten boten.
Sklavenhandel
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Sehr schnell etablierten sich Juden überall dort auf den Großen und Kleinen Antillen, wo Spanier und Portugiesen nicht die Macht innehatten, gründeten Handelshäuser und Schiffsreedereien, konnten Gemeindezentren und Synagogen eröffnen. Aber nur auf den Niederländischen Antillen waren sie vor politischen Konjunkturen sicher. Obwohl freie Bürger, genossen sie nicht die gleichen Rechte wie andere christliche Inselbewohner. Generell waren sie jedoch auf allen Inseln vom Sklavenhandel ausgeschlossen. Die „West Indian Company“ (WIC) hatte sich das Monopol auf diesen ertragreichen Wirtschaftssektor reserviert, wenn es auch eine Ausnahme gab: 1692 gewährte das „Netherland Board of Admiralty“ Philipe Henriquez, einem sefardischen Juden, „die Konzession Sklaven in Afrika abzuholen und sie zu transportieren“. In Fragen des Besitzes von Sklaven waren die jüdischen Inselbewohner Restriktionen ausgesetzt. Zeitweise war ihnen im Gegensatz zu Christen generell verboten, Sklaven zu halten oder der Besitz limitiert, in Barbados zum Beispiel auf zwei, in Jamaika einen Sklaven. Lediglich Juden, die Zuckerrohrplantagen betrieben, durften beliebig viele Sklaven besitzen. Ingesamt wurden im Zeitraum 1440 bis 1870 zwischen elf und 13 Millionen Menschen verschleppt, etwa sechs Millionen davon auf Plantagen eingesetzt. Juden waren namhafte und einflussreiche Schiffsreeder in der Karibik. Zum Beispiel gehörten im Jahre 1734 in Curaçao 39 der 44 versicherten Schiffe jüdischen Eigentümern. Die Tatsache, dass Juden Handel trieben – und eines der profitablen Handelsgüter waren verschleppte Menschen aus Afrika – nehmen vor allem antisemitische Kräfte und radikalislamische Organisationen der Afroamerikaner in der Karibik und in den USA seit Anfang der 1990er Jahre zum Anlass, Juden für die Versklavung der afrikanischen Völker und deren Verschleppung verantwortlich zu machen. 1993 erregte der aus Trinidad stammende US-Historiker Toni Martin Aufsehen – und erntete regen Zuspruch in der islamisch orientierten „black community“, aber auch scharfen Widerspruch in Wissenschaftskreisen –, als er in einem Buch behauptete, Juden hätten eine dominante Rolle im transatlantischen Sklavenhandel gespielt. Jüdische Sklavenhalter, schreibt dagegen Arbell, seien „isolierte Fälle“ gewesen, da die Juden generell eine limitierte Rolle im Sklavenhandel gespielt hätten. Allerdings betont er auch, dass während des Zeitraums, in dem Juden Zuckerrohrplantagen besessen oder verwaltet hätten, sie „definitiv Sklavenhalter“ gewesen seien – eine Minderheit neben den weißen, katholischen und protestantischen Kolonialisten, die sich in der Karibik und von da aus in ganz Amerika breitmachten.
Literatur
Hans-Ulrich Dillmann
Mordechai Arbell, The Jewish Nation of the Caribbean. The Spanish-Portuguese Jewish Settlements in the Caribbean and the Guianas, Jerusalem, New York 2002/5762. Carlos Estban Deive, Tangomangos. Contrabando y Piratería en Santo Domingo 1522– 1606, Fundación Cultural Dominicana, Santo Domingo 1996. Christian Delacampagne, Die Geschichte der Sklaverei, Düsseldorf, Zürich 2004. Egon Flaig, Weltgeschichte der Sklaverei, München 2009. Toni Martin, The Jewish Onslaught: Dispatches from the Wellesley Battlefront, Dover 1993.
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Slánský-Prozess
Slánský-Prozess Der „Prozess gegen die Führung des staatsfeindlichen Verschwörungszentrums mit Rudolf Slánský an der Spitze“, so die offizielle Bezeichnung des Hauptprozesses gegen 14 hochrangige Funktionäre der kommunistischen Partei und des Staatsapparates der Tschechoslowakischen Republik (ČSR), stellte nicht nur einen Höhepunkt der Schauprozesse gegen führende kommunistische Funktionäre in Osteuropa nach 1945 dar, sondern trug auch einen spezifisch antisemitischen Charakter. Die Hauptvorwürfe gegen die 14 Angeklagten beschränkten sich daher nicht allein auf den „Aufbau eines konkurrierenden Machtzentrums“ innerhalb der Partei und eine „fehlerhafte Kaderpolitik“, wie sie in den übrigen Schauprozessen gängig waren. Hinzu kam der zentrale Vorwurf des „Zionismus“, „jüdisch-bürgerlichen Nationalismus“ respektive „jüdischen Imperialismus“. Diese auf dem marxistisch-leninistischen Antizionismus beruhende Anschuldigung schlug sich auch in der Zusammensetzung der Angeklagten nieder: Bei elf von 14 Angeklagten, darunter bei dem Hauptangeklagten Rudolf Slánský (1901–1952), dem im September 1951 entmachteten Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ), hob die Staatsanwaltschaft deren „jüdische Abstammung“ hervor. Die drei weiteren Angeklagten, die nichtjüdischer Herkunft waren, bezeichnete sie hingegen als „Tschechen“ oder „Slowaken“. Wenngleich während des Prozesses das Wort „Jude“ kein einziges Mal fiel, wurde dieses durch Begriffe wie „Zionist“ und „Kosmopolit“ ersetzt. Die mehrfachen Anspielungen seitens der Verhörenden und Ankläger auf die Namenswechsel und die Mehrsprachigkeit bzw. die „mangelnden“ tschechischen Sprachkenntnisse einiger Angeklagter – wie etwa im Fall des ehemaligen stellvertretenden Verteidigungsministers Bedřich Reicin (Friedrich Reinzinger, 1911–1952) oder des hochrangigen Funktionärs des Zentralkomitees der KSČ Bedřich Geminder (Friedrich Geminder, 1901–1952), die aus deutschsprachigen Familien stammten – dienten ebenfalls zur Markierung ihrer jüdischen Herkunft. Unter schwerer Folterung gestanden alle Angeklagten im Vorfeld ihre vermeintliche Schuld ein. In enger Zusammenarbeit mit der kommunistischen Führung in Moskau konstruierte daraufhin das ZK der KSČ die Anklage, in deren Ergebnis drei der Angeklagten (Artur London, Evžen Loebl, Vavro Hajdů) lebenslange Haftstrafen erhielten. Die elf weiteren Angeklagten (Slánský, Reicin, Geminder sowie Vladimír Clementis, Otto Fischl, Josef Frank, Ludvík Frejka, Rudolf Margolius, Otto Katz alias André Simone, Otto Šling und Karel Šváb) wurden zum Tode verurteilt und nach Ablehnung ihrer Gnadengesuche durch den Präsidenten und Parteivorsitzenden Klement Gottwald wenige Tage nach der Urteilsverkündung hingerichtet. Die Gründe für die antisemitische Ausrichtung des Slánský-Prozesses waren vielfältig und sind sowohl in der außenpolitischen Lage der Sowjetunion und der ČSR wie auch in der tschechoslowakischen Nachkriegsgesellschaft selbst zu suchen. Nach der Errichtung des israelischen Staates, die die tschechoslowakische Regierung massiv unterstützt hatte, wurde rasch klar, dass Israel nicht den erhofften prosowjetischen Kurs einschlug. Der Prozess galt somit zum einen als ein von Stalin und seinen Gefolgsleuten öffentlich inszenierter Bruch mit dem jungen Staat Israel. Zum anderen war er eine Folge der Neuordnung der tschechoslowakischen Gesellschaft, die seit 1945 auf eine nationale und soziale Homogenisierung zustrebte. Vor diesem Hintergrund avancierten „die Juden“ – die von einem Teil der politischen Elite und der breiteren Gesellschaft
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mit „den Deutschen“ und „den Kapitalisten“ gleichgesetzt wurden – als doppelte Fremde. Die Hauptverhandlung um Rudolf Slánský zog weitere Folgeprozesse gegen Vertreter der politischen und intellektuellen Elite der ČSR nach sich, in denen auch Angeklagte jüdischer Herkunft, wie beispielsweise der Germanist und erste tschechoslowakische Botschafter in Israel Eduard Goldstücker (1913–2000), verurteilt wurden. Zugleich bot der Slánský-Prozess Anlass für antijüdische Hetzkampagnen in anderen osteuropäischen Ländern, insbesondere in der Sowjetunion, und lieferte die Vorlage für einen weiteren Schauprozess in der DDR, bei dem der ehemalige ranghohe Staatsfunktionär Paul Merker als „zionistischer Agent“ zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde ( → Paul Merker-Fall). Die Opfer der stalinistischen Schauprozesse in der ČSR wurden während der politischen und kulturellen Liberalisierung in den 1960er Jahren rehabilitiert. Im Zuge des Sechstagekrieges und der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ kam es jedoch Ende der 1960er Jahre in den Reihen der KSČ zu einer partiellen Wiederbelebung des marxistisch-leninistischen Antizionismus.
Literatur
Ines Koeltzsch
Klaus Holz, Marxistisch-leninistischer Antizionismus (Slánský-Prozess), in: Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, S. 431–482. Karel Kaplan, Die politischen Prozesse in der Tschechoslowakei, München 1986. Kevin McDermont, A ‚Polyphony of Voices‘? Czech Popular Opinion and the Slánský Affair, in: Slavic Review 67 (2008), 4, S. 840–865.
Slowakische Rassengesetze (1939–1941) Nach dem „Münchener Abkommen“ vom 30. September 1938, das zum Verlust großer Teile der tschechoslowakischen Grenzgebiete zugunsten NS-Deutschlands geführt hatte, erhielt die Slowakei einen autonomen Status. Die Machtübernahme durch die katholisch-nationalistische „Hlinkova Slovenská ľudová strana“ [Hlinkas Slowakische Volkspartei, HSĽS] wurde von Judenkrawallen und ersten staatlich gelenkten antijüdischen Maßnahmen begleitet. Gleichzeitig entstand bei der slowakischen Autonomieregierung ein Komitee, das sich der Ausarbeitung der Gesetzesvorlagen für die „Lösung der Judenfrage“ widmen sollte. Damit deutete das autoritäre HSĽS-Regime unmissverständlich an, dass diese zu seinen wichtigsten politischen Zielsetzungen gehörte. Am 14. März 1939 proklamierte das slowakische Parlament die Unabhängigkeit des Landes und erklärte seine enge Anbindung an das Dritte Reich. In der territorial verkleinerten Slowakei verblieben etwa 89.000 Juden. Die Gesetzgeber gingen nun dazu über, deren gesellschaftliche Stellung und Eigentumsverhältnisse neu zu bestimmen: Gleich im April 1939 wurde festgelegt, wer als „Jude“ zu gelten hatte, wobei schon hier konfessionelle mit „rassischen“ Kriterien – so vor allem in Bezug auf die Mischehen – kombiniert wurden. Dieselbe Verordnung führte einen Numerus clausus für jüdische Rechtsanwälte ein und diskriminierte weitere jüdische Freiberufler. Es folgte der Ausschluss der Juden aus dem Staatsdienst, und im Juli 1939 wurde der Numerus
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clausus auf die jüdischen Ärzte und Apotheker ausgedehnt. Die jüdischen Wehrpflichtigen wurden von nun an statt zur Armee zum Arbeitsdienst einberufen. In den Jahren 1939 und 1940 versuchte die slowakische Regierung, insbesondere die wirtschaftlichen Positionen der jüdischen Bevölkerung zu schwächen, indem sie jüdische Gewerbetreibende der Kontrolle durch nichtjüdische „Verwalter“ unterstellte. Seit Februar 1940 wurden die jüdischen Grundbesitzer und Pächter unter dem Vorwand einer „Bodenreform“ in ihren Rechten eingeschränkt, und im Juli 1940 wurde ein erstes „Arisierungsgesetz“ verabschiedet. Wie die gesellschaftliche Diskriminierung war jedoch auch die wirtschaftliche nur selten effektiv, da es an nichtjüdischen Fachkräften sowie an Kapital mangelte. In dieser Situation wurden größere jüdische Unternehmen von reichsdeutschen Firmen beherrscht. Im August 1940 kam es zu slowakisch-deutschen Verhandlungen in Salzburg, die zur Stärkung des prodeutschen HSĽS-Flügels und der einheimischen deutschen Radikalen führten. Unter den reichsdeutschen „Beratern“, die das Auswärtige Amt in die Slowakei schickte, befand sich auch der für die „Judenfrage“ zuständige Dieter Wisliceny. Dieser regte die Gründung einer zentralen Einrichtung an, des sogenannten Zentralwirtschaftsamtes, das die „Arisierung“ effektiver handhaben sollte. In diesem Zusammenhang setzte Wisliceny durch, dass die Regierung vom slowakischen Parlament mit entsprechenden Vollmachten ausgestattet wurde. Im Einklang mit den Repräsentanten des Auswärtigen Amtes und den slowakischen Radikalen war Wisliceny gleichzeitig bestrebt, die antijüdische Gesetzgebung in der Slowakei auf die rassistische Grundlage nach dem Vorbild der → Nürnberger Gesetze zu stellen. Dies wurde in der Regierungsverordnung Nr. 198 vom September 1941, dem berüchtigten „Juden-Kodex“ (Židovský kódex), umgesetzt. Als „Juden“ galten nun alle, die mindestens drei jüdische Großeltern hatten, aber genauso bekennende Juden mit zwei bzw. einem jüdischen Großelternteil. Die Juden durften keine Ehen mit Nichtjuden eingehen, und auch keine außerehelichen Sexualkontakte pflegen. Diese wurden als Vergehen der „Rassenschande“ geahndet. Die ökonomisch-rechtlichen Bestimmungen, die den größten Teil der insgesamt 270 Paragraphen des „Juden-Kodex“ ausmachten und die antijüdischen Verordnungen des vergangenen Jahres kodifizierten, sollten hiermit rassistisch legitimiert werden. Seit September 1940 beraubte die slowakische Regierung, vertreten durch das „Zentralwirtschaftsamt“, die jüdischen Bürger systematisch ihrer Rechte, ihres Eigentums und ihrer Menschenwürde. Ab September 1941 mussten sie einen gelben „Judenstern“ tragen. Das sich aus diesem Prozess zwangsweise ergebende soziale Problem – die Existenz verarmter und entrechteter jüdischer Bürger – wollten die Verantwortlichen durch Errichtung von Ghettos und Arbeitslagern bewältigen. Dies wurde nur teilweise realisiert. Die slowakischen Politiker nahmen im Oktober 1941 das Angebot der deutschen Seite an, die slowakischen Juden nach Polen zu deportieren. Zwischen März und Oktober 1942 wurden aus der Slowakei 57.627 Juden deportiert, die zum größten Teil in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet wurden. Die verbliebenen jüdischen Bürger wurden von einem ähnlichen Schicksal nur vorübergehend verschont. Nach der Niederschlagung des slowakischen Aufstandes und der darauffolgenden deutschen Okkupation der Slowakei im Herbst 1944 wurden
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die Deportationen wieder aufgenommen. Nur etwa 10.000 slowakische Juden überlebten den Zweiten Weltkrieg.
Literatur
Miloslav Szabó
Ivan Kamenec, Po stopách tragédie [Auf den Spuren der Tragödie], Bratislava 1991. Ladislav Lipscher, Die Juden im slowakischen Staat 1939–1945, München, Wien 1980. Tatjana Tönsmeyer, Das Dritte Reich und die Slowakei 1939–1945. Politischer Alltag zwischen Kooperation und Eigensinn, Paderborn u. a. 2003.
South Wales-Ausschreitungen (1911) Antisemitische Ausschreitungen waren in der britischen Geschichte seltene Vorkommnisse und spielten sich überwiegend in London ab, wo 1911 fast zwei Drittel der britischen Juden lebten. Die beträchtliche osteuropäische Zuwanderung ließ die antisemitische Agitation seit den 1880er Jahren aufleben, und 1905 wurde schließlich der „Aliens Act“ erlassen, der vor allem gegen die ostjüdischen Zuwanderer gerichtet war. Nach Meinung der Zeitschrift „Ost und West“ hätten politische Beobachter schon vor „längerer Zeit den langsamen, aber sicheren Einzug des Antisemitismus in England […] festgestellt“. Seit 1850 wuchsen die jüdischen Gemeinden auch außerhalb Londons an, insbesondere auch in Wales, wo sich osteuropäische Juden niederließen. Diese jüdischen Gemeinden blieben zahlenmäßig sehr klein, und Juden machten in den Orten Brynmawr, Tredegar, Abertillery oder Newport mit jeweils 100 bis 200 Personen gerade einmal zwischen 0,25–2 Prozent der örtlichen Bevölkerung aus. Im August des Jahres 1911 brachen an mehreren Orten in den Western Valleys of Monmoutshire schwere antijüdische Unruhen aus. In Tredegar zerstörte und plünderte in der Nacht zum Samstag, dem 19. August, eine Menge von zweihundert jungen Männern unter dem Absingen walisischer Lieder jüdische Läden. Die lokale Polizei, hoffnungslos in der Minderzahl, stand dieser Gewalt hilflos gegenüber, und am Sonntagnachmittag bat der örtliche Magistrat um militärische Unterstützung, die gerade rechtzeitig eintraf, um erneute Unruhen in der Stadt niederzuschlagen. Es verbreitete sich das Gerücht, die Unruhestifter würden Juden auch an anderen Orten attackieren, und in den kommenden Nächten wurden tatsächlich jüdische Geschäfte in Orten der Umgebung (Ebbw Vale, Rhymney, Victoria, Cwm, Brynmawr u.a.) angegriffen und geplündert. Obwohl nun überall Truppen stationiert wurden, gingen die Übergriffe an anderen Orten bis zum Samstagmorgen (26. August) weiter, und größere Gruppen lieferten sich sogar Kämpfe mit Polizei und Militär. Danach ebbte die Gewalt plötzlich wieder ab. Die jüdische Presse und jüdische Politiker bestritten ebenso wie die walisischen Zeitungen den antijüdischen Charakter dieser Unruhen (es waren vereinzelt auch Läden von Nicht-Juden angegriffen worden) und sprachen von Hooliganismus. Auch ein Zusammenhang mit dem nationalen Eisenbahn-Streik, der in den walisischen Kohlegruben zu Entlassungen und Kurzarbeit geführt hatte, wurde schnell als unzutreffend beiseite geschoben. Tatsächlich jedoch hatten die Unruhen sehr wohl auch ökonomische Gründe, denn – wie so oft – wurden Juden auch hier zu Sündenböcken in einer wirtschaftlichen Krisensituation. Die randalierende Menge warf den jüdischen Hausbesit-
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zern Mietwucher vor, und es wurde behauptet, jüdische Ladeninhaber würden die Lebensmittel künstlich verteuern, besonders harsch mit ihren Schuldnern umgehen und Wuchergeschäfte machen. Entsprechende Gerüchte über unehrliche Finanzpraktiken waren in der Gegend weit verbreitet. Untersuchungen konnten diese Vorwürfe nicht bestätigen, doch waren die Ausschreitungen durch einen „rich-Jew anti-semitism“ gekennzeichnet, wie er einige Jahre zuvor von einigen britischen Sozialisten öffentlich vertreten worden war. Die Gewalt richtete sich aber keineswegs nur gegen die wohlhabenden, besitzenden Juden, insofern reicht eine ökonomische Erklärung nicht aus. Wie die späteren Gerichtsverhandlungen erwiesen, waren die 46 in Tredegar angeklagten Personen keine Hooligans, sondern ehrenwerte Mitbürger, zumeist Minenarbeiter und ihre Frauen. Dies traf ebenso für die anderen Orte zu. Auch die Tatsache, dass deren Verurteilung lokale Proteste hervorrief, spricht dafür, dass es sich bei ihnen nicht um Hooligans, sondern um geachtete Ortsansässige handelte. Geistliche versuchten in Gottesdiensten auf ihre Gemeinden mäßigend zu wirken, und es gab Protestveranstaltungen, in denen die Ausschreitungen verurteilt wurden. Vertreter aller politischen Parteien beteiligten sich an diesen Protesten, und die lokalen Behörden erklärten sich bereit, den Juden einen Teil ihres Schadens zu ersetzen. Dennoch blieb die antijüdische Stimmung in der Gegend weiterhin so stark, dass die Jüdische Gemeinde ihre Feiern zum Jüdischen Neujahrsfest absagte. In der Presse gab es mehrere Berichte, die den spontanen Charakter der Ausschreitungen bezweifelten, indem sie darauf verwiesen, dass es schon seit Monaten offene Drohungen gegen Juden gegeben habe und dass einige jüdische Einwohner kurz vorher vor Übergriffen auf ihre Läden gewarnt worden seien. Die wirtschaftliche Krise im August 1911 ist also eher als Auslöser der Ausschreitungen anzusehen, denn als die eigentliche Ursache, die in einem „general feeling of contempt for things alien, especially the Jewish alien“ zu suchen sei, wie der „Jewish Chronicle“ im September 1911 vermutete. Hintergrund war das schnelle industrielle Wachstum durch die Kohlegruben, das seit Ende des 19. Jahrhunderts Tausende von Migranten, zunächst aus den benachbarten Bezirken, dann aus Südwestengland und von noch weiter her in die Gegend gebracht hatte. Der tiefere Grund für die Unruhen war wohl eine ausgeprägte Abwehrhaltung gegen Zuwanderer generell. So hatte es bereits 1882 Übergriffe auf irische Zuwanderer gegeben, und im Juli 1911 waren Chinesen in Cardiff das Ziel von Angriffen gewesen. Spielte hier die Konkurrenz um Arbeitsplätze eine gewisse Rolle, so ist im Fall der jüdischen Zuwanderer eher anzunehmen, dass sie ihre osteuropäische Herkunft, ihre geringe gesellschaftliche Einbindung (sie sprachen wenig oder kein Englisch, hielten sich eher abseits) und ihr schneller wirtschaftlicher Aufstieg vom Hausierer zu Kreditgebern und Hauseigentümern bzw. -vermietern (cottage landlords) zur Zielscheibe von Übergriffen machten, da sie für die Waliser eine kleine Gruppe von Fremden und Eindringlingen blieben. Die Ausschreitungen in Wales wurden auch im übrigen Europa registriert. In der Zeitschrift „Ost und West“ bezeichnete der Londoner Mitarbeiter der Zeitung die Tatsache, dass „in England ein Pogrom stattgefunden hat“ als das „größte Unglück, das die Juden im zwanzigsten Jahrhundert treffen konnte“, da sich die Ausschreitungen in einem Land ereignet hätten, in dem die Emanzipation ganz durchgeführt war. Der Ein-
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schätzung, dass es sich um „Pogrome“ gehandelt habe, widersprach Carl Stettauer, ein Vertreter der „Londoner Judenheit“, im folgenden Heft der Zeitung, der damit der eher abwiegelnden Linie der britischen Juden folgte. Die Unruhen seien zwar beträchtlich gewesen, doch sei die Bezeichnung Pogrom eine „starke Übertreibung und völlige Verdrehung der Tatsachen“. Er deutete die Angriffe auf die Juden in South Wales als Teil der allgemeinen Unruhestiftungen, die sich im Zuge der großen industriellen Krise mit ihren Streiks und Aussperrungen ereignet hätten. Er bestritt zudem die Existenz von antisemitischen Haltungen in der Bevölkerung, und es blieb für ihn rätselhaft, wieso „die rüpelhaften Helden von Wales gerade die jüdische Bevölkerung für ihre Übeltaten ausgewählt haben“. In seiner „Erwiderung“ weist der Londoner Korrespondent diese berichtigende Darstellung jedoch klar zurück und verweist auf die auch von Stettauer eingeräumte Schwere der Ausschreitungen.
Literatur
Werner Bergmann
Geoffrey Alderman, The Anti-Jewish Riots of August 1911 in South Wales, in: Herbert A. Strauss (ed.), Hostages of Modernization. Studies in Modern Antisemitism 1870–1933/39: Band 3, 1: Germany – Great Britain – France, Berlin 1992, S. 365–375. Die Pogrome in Süd-Wales. Ihre Ursachen und Wirkungen, in: Ost und West, 1911, Heft 10, Sp. 861–870. Carl Stettauer, Kein „Pogrom“ in Süd-Wales, in: Ost und West, 1911, Heft 12, Sp. 1055– 1068.
Speyrer Judenprivileg vom 4. April 1544 Das Speyrer Judenprivileg (auch als „Carolinum“ bezeichnet) ist eines der bedeutendsten kaiserlichen Dokumente für die Juden des frühneuzeitlichen Alten Reiches gewesen. Es hatte seinen konkreten Entstehungshintergrund offenbar in einer Ritualmordbeschuldigung im oberfränkischen Dorf Oberhaid. Dort wurde 1543 ein christliches Kind in einem Brunnen tot aufgefunden. Mehrere Juden, davon wenigstens zwei Frauen, unter ihnen eine noch im jugendlichen Alter, wurden durch den Vater des toten Knaben, Pankratz Engelein, beim Zentgericht des Mordes angeklagt und über 30 Wochen inhaftiert und gefoltert, ohne dass sie jedoch die ihnen gemachten Vorwürfe zugaben. Während der Haft wurde ihnen der Kontakt zu ihren Familien verwehrt, ebenso die Versorgung mit rituell reiner Nahrung. Die Hintergründe der antijüdischen Vorwürfe und nähere Informationen über die Beschuldigten sind bislang unbekannt. Zum Jahresende 1543 schaltete sich der einflussreiche Fürsprecher der Juden im Reich, Joseph von Rosheim (1476–1554), ein und intervenierte beim Würzburger Bischof Konrad III. (1490–1544) und bei Kaiser Karl V. (1500–1558) gegen die Vorwürfe und die Haftbedingungen überhaupt. Weitere Juden versuchten durch Fürsprache bei ihren Landesherren, wie etwa dem Grafen Wilhelm IV. von Henneberg-Schleusingen (1478–1559), die Freilassung der Inhaftierten zu erreichen. Aufgrund der Bemühungen des Joseph von Rosheim intervenierte Kaiser Karl V. beim Würzburger Bischof Konrad III. gegen die unmäßige Haft und Folter. Dadurch wurde den Inhaftierten schließlich Kontakt zu anderen Juden, möglicherweise zu Joseph selbst, gewährt. Die Angelegenheit wurde sogar beim Reichshofrat in Wien ange-
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sprochen. Die Verhafteten wurden schließlich im Mai 1544 freigelassen, da ihnen keine Schuld nachgewiesen werden konnte. Die Freilassung wie auch die Erteilung des Privilegs scheinen nur durch Zahlung von Geldern möglich geworden zu sein. Karl V. benötigte zu jener Zeit dringend Finanzen für seinen Krieg gegen Frankreich, und aus diesem Grund wurden die Juden des Reiches mit einer einmaligen Sondersteuer von 3.000 rheinischen Gulden belegt. Diese wurden dem Kaiser auf dem Wormser Reichstag von 1545 übergeben, während Karl V. bei dieser Gelegenheit die Ausfertigung des Privilegs an Joseph von Rosheim aushändigen ließ. Beide Vorgänge werden in einer Quelle aus Straßburg in direktem Zusammenhang dargestellt. Zum Zeitpunkt der Freilassung der Beschuldigten im Mai 1544 war das Speyrer Privileg schon seit einem Monat in Kraft und es liegt nahe, dass das Einlenken der Behörden auch auf seinen Erlass zurückgeht. Die Formulierungen im Privileg, wonach untersagt wird, Juden ohne genügende gerichtliche Erkenntnis zu inhaftieren, zu foltern oder gar hinzurichten, wie auch sie des unbewiesenen Gebrauchs von Christenblut zu beschuldigen, scheinen direkt auf die Ereignisse in Franken Bezug zu nehmen. Das Dokument steht in inhaltlichem Zusammenhang zum mittelalterlichen Privileg Kaiser Friedrichs II. von 1236, worin ebenfalls der Vorwurf des Ritualmordes ohne klare Beweise und glaubwürdige Zeugen untersagt wird, es bezieht sich sogar auf dieses. Jedoch ist beiden gemein, dass Ritualmordprozesse an sich nicht verboten wurden, sondern eindeutige Beweise zur Bedingung gemacht werden. Das Speyrer Privileg bezieht sich weiter auf frühere päpstliche und kaiserliche Erkenntnisse, wonach es keine Notwendigkeit zum Gebrauch von Christenblut bei Juden gebe. Für das 16. Jahrhundert war das Privileg ein beachtlicher Fortschritt, da damit eventuellen späteren Beschuldigungen eine gesetzliche Barriere vorgeschoben wurde, die durch ihre kaiserliche Provenienz höchste Geltung besaß. Somit ist dieser Prozess als Ausdruck der zunehmenden Verrechtlichung in jener Zeit zu werten, auch in Fragen der Stellung der Juden innerhalb der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Durch das Privileg wurden Juden den Christen verfahrensrechtlich nahezu gleichgestellt. Die Wichtigkeit des Privilegs, das zu seiner Entstehungszeit trotz der stets nachlassenden kaiserlichen Zentralgewalt im Reich einige Wirkung erzielen konnte, wurde von den Juden auch in nachfolgenden Generationen sehr hoch geschätzt, nicht zuletzt, weil Ritualmordbeschuldigungen immer wieder vereinzelt vorkamen. Nur so ist es zu verstehen, dass es nicht nur schon vier Jahre nach seinem Erlass noch einmal von Karl V. bestätigt wurde, sondern auch durch Ferdinand I. 1562, Maximilian II. 1566, Rudolf II. 1577, Matthias 1612, Ferdinand II. 1630, Leopold I. 1663 und Karl VI. 1714.
Literatur
Stefan Litt
J. Friedrich Battenberg, Die Ritualmordprozesse gegen Juden im Spätmittelalter und Frühneuzeit – Verfahren und Rechtsschutz, in: Rainer Erb (Hrsg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, Berlin 1993, S. 95–132, dort auch Teilabdruck (S. 95). J. Friedrich Battenberg, Die Privilegierung von Juden und der Judenschaft im Bereich des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, in: Barbara Dölemeyer, Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Band 1, Frankfurt am Main 1997, S. 139–190.
Stalinistische Kampagnen
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Chava Fraenkel-Goldschmidt, The Historical Writings of Joseph of Rosheim, Leader of Jewry in Early Modern Germany, Leiden, Boston 2006, S. 256–265. Stefan Litt, Juden in Thüringen in der Frühen Neuzeit (1520–1650), Köln, Weimar 2003.
Stalinistische Kampagnen gegen „Kosmopolitismus“ und „jüdischen Nationalismus“ In den Nachkriegsjahren verfolgte die sowjetische Diktatur „wurzellose Kosmopoliten“ und „bürgerliche Nationalisten“. Beiden Abweichungen wurde eine antirussische, prowestliche Haltung und Illoyalität bis zum Verrat vorgeworfen. Dies betraf nicht nur die Juden, doch diese – auch ohne offene pauschale Verdammung – in besonderer Weise. Das Feindbild „Kosmopolit“ – westorientierter Intellektueller, der alles „Russische“ verachtet – bezog sich besonders auf assimilierte Juden, die in der Bildungselite stark vertreten waren. Schon im August 1942 verfasste der Agitprop-Chef Georgi Alexandrow Verzeichnisse von Juden in Kulturinstitutionen und klagte, dass diesen „die russische Kunst fremd“ sei. Die Forderung nach „Erneuerung der Kader” wurde unsystematisch umgesetzt. Nach Kriegsende wurde die patriotische Propaganda verstärkt. Bewunderung für den Westen und Geringschätzung russischer Leistungen standen – zunehmend als „Kosmopolitismus“ gebrandmarkt – in der ersten Reihe der Abweichungen, mit deren Bekämpfung ab 1946 Andrej Shdanow beauftragt war. Dieser griff zunächst prominente nichtjüdische Schriftsteller an. Dass „Antikosmopolitismus“ anfänglich nicht identisch mit Antisemitismus war, wird auch daran deutlich, dass 1947 selbst Alexandrow – wegen mangelnder Kritik an der europäischen Philosophie – seinen Posten verlor. Wichtiger Faktor bei der allmählichen Verknüpfung der Themen „Kosmopoliten“ und „Dominanz der Juden“ waren Rivalitäten in der Kulturbürokratie (dahinter Machtkämpfe im inneren Kreis um Stalin). In einer Auseinandersetzung über die Qualität von Theaterstücken ergriff im November 1948 Stalin Partei gegen die organisierten Theaterkritiker. Ende Januar 1949 erschien ein Prawda-Artikel gegen eine „antipatriotische Gruppe“, in dem – wie in zahlreichen Artikeln in den Folgewochen – bevorzugt jüdische Literaten als „wurzellose Kosmopoliten“ angegriffen wurden. Bei Personen, die unter Pseudonymen publizierten, wurden jüdisch klingende Namen offengelegt. Es wurde das Bild vermittelt, dass die russische Kultur von Juden unterwandert sei, die keine echten Russen seien – schon durch ihre Abstammung, wie das biologistische Vokabular andeutete. In Versammlungen in Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen (abgesehen von den Instituten der Atomphysik) wurden Mitarbeiter als „Kosmopoliten“ verurteilt. Damit waren Entlassungen und Parteiausschlüsse verbunden, aber keine Verhaftungen. Im April 1949 endete die Pressekampagne. Die bis dahin öffentlich Angegriffenen waren zu etwa 70 Prozent Juden. Mehrfach kritisierte Stalin vor Schriftstellern die Namensenthüllungen. Dies bedeutet nicht, dass diese gegen seinen Willen geschehen waren, belegt aber, dass das Zurückdrängen der jüdischen Intelligenzija nicht völlig als Freigabe antisemitischer Versatzstücke gelten sollte. Aus einer Verordnung über die Überprüfung von Kadern ließ Stalin die Erwähnung des jüdischen Anteils streichen; eine Berichterstattung an das ZK über die nationale Zusammensetzung in den Appara-
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ten wurde 1950 jedoch eingeführt. Anfang 1952 war der Anteil von Juden in Behörden und Medien auf 39 Prozent des Anteils aus dem Jahre 1945 reduziert. Es blieb dabei tabu, Juden offen als solche zu entlassen. Wo Kosmopolitismus oder Nationalismus nicht Grund waren, erfolgte die Entlassung wegen Begünstigung von Verwandten, familiären Kontakten ins Ausland oder anderem. „Bürgerlicher Nationalismus“ – kaum mehr als die Umschreibung für die Ablehnung der Russifizierung der sowjetischen Kultur – wurde seit 1944 verschärft bekämpft. Bei den Juden kam hinzu, dass schon die Idee einer jüdischen Nation seit Lenins und Stalins Definitionen eine Häresie war. Aus pragmatischen Gründen war sie nach 1917 toleriert worden. Das weiteste Zugeständnis war die Gründung des „Jüdischen Antifaschistischen Komitees“ (JAK), das ab 1942 an die jüdische Weltgemeinschaft appellierte. Die Westkontakte erweckten den Argwohn der Behörden, zumal das JAK als Interessenvertreter der Juden auftrat und über wachsenden Antisemitismus im sowjetischen Hinterland oder das Verschweigen von militärischen Leistungen jüdischer Rotarmisten in der Presse klagte. Vertreter des JAK machten 1944 Vorschläge zur Schaffung einer jüdischen Sowjetrepublik auf der Krim, worüber es auch Gespräche zwischen JAK und der US-Hilfsorganisation „Joint“ über Fördermittel gab. In jenem Jahr wurde erstmals intern der „Nationalismus“ des JAK kritisiert, 1946 in einem Gutachten seine Auflösung gefordert, die Stalin aber zurückwies. Zwischen dem JAK und dem „Sowjetischen Informationsbüro“ (SIB) bestanden enge Beziehungen, auch über dessen Leiter Solomon Losowski. 1946 stellte Alexandrow eine „unzulässige Konzentration von Juden“ im SIB fest, das 1947 aufgelöst wurde. Im selben Jahr wurde die Veröffentlichung des „Schwarzbuchs“ über den Holocaust unterbunden – ein von JAK und SIB vermitteltes sowjetisch-amerikanisches Gemeinschaftsprojekt, das nun den Vorwurf des Geheimnisverrats auf sich zog. Im Januar 1948 ließ Stalin mit dem Schauspieler Solomon Michoels den bedeutendsten Vertreter des JAK in einem fingierten Autounfall liquidieren. Wichtiges Motiv war, eine vermeintliche Sicherheitslücke zu schließen: Details aus dem Familienleben Stalins waren in der US-Presse berichtet worden, und die Sicherheitsorgane suchten die Quelle im Umkreis von Stalins jüdischem Schwiegersohn. Von einigen Verhafteten ließen sich Beschuldigungen gegen das JAK und Michoels erzwingen. Dass Michoels – der ein Staatsbegräbnis erhielt – ohne publizistische Kampagne beseitigt wurde, lag vor allem daran, dass es für Stalin außenpolitische Gründe gab, „jüdischen Nationalismus“ nicht offen zu bekämpfen. Als Andrej Gromyko 1947 vor der UNO für einen jüdischen Staat plädierte, rief er die Leiden des jüdischen Volkes im Holocaust in Erinnerung und verwendete damit Argumente, die im innersowjetischen Diskurs nicht geduldet wurden. Doch die Unterstützung der Gründung Israels war ein wichtiges Instrument, das britische Empire zu schwächen und Widersprüche zwischen den USA und Großbritannien zu vertiefen. Die Sowjetunion ließ zu, dass tschechische Waffen an Israel, nicht aber an Araber verkauft wurden. Die Emigration osteuropäischer Juden nach Israel wurde ermöglicht, vor allem aus Polen und Rumänien, zu keiner Zeit aber aus der Sowjetunion. Spontane jüdische Demonstrationen beim Besuch Golda Meirs in Moskau oder Briefe an das JAK zeigten, dass die Identifizierung mit dem Judentum keineswegs verschwunden war und dass es starke Sympathien für Israel gab. Im September 1948 er-
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schien ein erster Artikel gegen den Zionismus in der Prawda. Zwei Monate später wurde das JAK als „nationalistisches Zentrum“ mit angeblichen Kontakten zu ausländischen Geheimdiensten aufgelöst. Im Januar 1949 (parallel zur Kosmopoliten-Kampagne) wurde die Führung des JAK – darunter die bedeutendsten jiddischen Schriftsteller des Landes – verhaftet, ebenso Loswoski und die jüdische Ehefrau Molotows. Sie wurde zu Haft verurteilt; aus den übrigen Verhafteten versuchten die Ermittler SpionageGeständnisse zu erzwingen, wobei die Frage einer jüdischen Krim-Republik im Mittelpunkt stand. Zeitgleich wurden jiddische Kultureinrichtungen geschlossen, vor allem Theater unter dem Vorwand finanzieller Gründe. Im ganzen Land wurden jüdische Kulturschaffende verhaftet. „Zionistische“ Verschwörerzellen wurden unter Mitarbeitern des „Stalin-Automobilwerks“ und selbst im Sicherheitsministerium enttarnt. Im August 1952 fand mit der Hinrichtung der Angeklagten des JAK die ohne propagandistische Begleitung verlaufene Bekämpfung des „jüdischen Nationalismus“ einen vorläufigen Höhepunkt, bevor sie 1953 mit der → „Verschwörung der Kremlärzte“ um eine aggressive Pressekampagne erweitert wurde. Parallel fand ein „Export“ der antisemitischen Verschwörungslehren statt, die in der Tschechoslowakei zum → SlánskýProzess und in der DDR zum → Paul Merker-Fall führten. Die antijüdischen Maßnahmen waren Teil umfassender „Säuberungen“, denen z.B. auch Angehörige der Leningrader Parteiorganisation oder der mingrelischen Minderheit in Georgien zum Opfer fielen. Etwa 6.000 Juden wurden 1948 bis 1953 aus politischen Gründen verhaftet (ca. 1.000 offiziell als „Nationalisten“, unter 100 mit Todesfolge), sie stellten bei einem Bevölkerungsanteil von 1,1 Prozent etwa 3,3 Prozent der Repressionsopfer jener Jahre. Dass ihre Verfolgung auf Stalins nach 1945 verstärkten Antisemitismus zurückgeht, ist eine verbreitete Erklärung. Tatsächlich war Stalin treibende Kraft, doch wie sich seine subjektive Haltung entwickelte, ist schwer festzustellen. Aber selbst ohne ausgeprägtes Vorurteil gegen Juden mussten diese nach 1945 ins Schema der stalinistischen Feinderklärung fallen: Sie waren zu einer Minderheit mit Verbindungen zu einem feindlichen „Mutterland“ (Israel mit den USA im Rücken) geworden. Dies machte sie den sowjetischen Polen, Deutschen oder Letten ähnlich, die vor 1939 in einer vergleichbaren Konstellation als „fünfte Kolonne“ verfolgt wurden. Allerdings kamen jene blutigen „Nationalen Operationen“ der Vorkriegszeit, aber auch die übrigen „Säuberungen“ nach 1945 weitgehend ohne Propagierung ethnischer Ressentiments aus. Keine Parallele hatte der Vorwurf gegen Vertreter der Juden, in der obersten Machtsphäre konspirativ als „Schädlinge“ zu agieren bzw. mit ihrem übergroßen Einfluss die russische Kultur zu verderben. Diese Konstrukte überdauerten den Stalinismus.
Literatur
Matthias Vetter
Evrei i evrejskij narod 1948–1953. Sbornik materialov iz sovetskoj pečati [Juden und jüdisches Volk. Materialsammlung aus der Sowjetpresse], zusammengestellt von Benjamin Pinkus, Jerusalem 1973. Gosudarstvennyj antisemitizm v SSSR. Ot načala do kul’minacii 1938–1953 [Staatlicher Antisemitismus in der UdSSR. Vom Beginn bis zur Kulmination], zusammengestellt von Gennadij Kostyrčenko, Moskva 2005.
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Frank Grüner, Patrioten und Kosmopoliten. Juden im Sowjetstaat 1941–1953, Köln, Weimar, Berlin 2008. Gennadij Kostyrčenko, Stalin protiv „kosmopolitov“. Vlast’i evrejskaja intelligencija v SSSR [Stalin gegen die „Kosmopoliten“. Die Macht und die jüdische Intelligenz in der UdSSR], Moskva 2009. Arno Lustiger, Rotbuch: Stalin und die Juden. Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und der sowjetischen Juden, Berlin 1998. Laurent Rucker, Staline, Israël et les Juifs, Paris 2001. Stalin’s Secret Pogrom. The Postwar Inquisition of the Jewish Anti-Fascist Committee, hrsg. von Joshua Rubenstein, New Haven 2001. Stalin i kosmopolitizm. Dokumenty Agitpropa CK KPSS. 1945–1953 [Stalin und der Kosmopolitismus. Dokumente des Agitprop des ZK der KPdSU], zusammengestellt von Džanangin Nadžafov, Moskva 2005. Matthias Vetter, Die letzte „fünfte Kolonne“. Antisemitismus und stalinistische Minderheitenpolitik, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 19 (2010), S. 234–268.
Statut des Juifs Die antijüdische Gesetzgebung des Vichy-Regimes hatte die schrittweise und systematische legislative Entrechtung der Juden Frankreichs und in späterer Anwendung der Juden der unter der Vichy-Verwaltung stehenden Länder Nordafrikas, der Kolonien, Protektoratsgebiete sowie der Länder ohne Mandat zur Folge. Die legalen Beschränkungen, die den Juden auferlegt wurden, zielten darauf, sie aus politischen und öffentlichen Positionen zu entfernen und bildeten die ersten Schritte zu einem umfangreichen Enteignungsprogramm. Der legislative und rassistische Angriff auf staatsbürgerliche Grundrechte der jüdischen Bevölkerung Frankreichs sowie aller ausländischen auf französischem Boden lebenden Personen jüdischer Herkunft vollzog sich auf mehreren Ebenen: rassische Definition und Enteignung der Opfer, drastische Einschränkungen in zahlreichen professionellen Bereichen sowie in staatlichen bzw. öffentlichen Positionen. Nahezu alle Schritte zur Entrechtung der Juden wurden in weit kürzeren Zeiträumen als in Deutschland durchgeführt. Die Entziehung der staatsbürgerlichen Rechte, die bereits am 16. Juli 1940 in Gang gesetzt worden war, nahm insgesamt einen Monat in Anspruch. Die Ausschlusskriterien für Juden aus leitenden gesellschaftlichen Positionen (kommerzielle und industrielle Stellungen generell, Vorstandspositionen bei Unternehmen und Verbote, Unternehmen zu verkaufen oder zu vermieten, Entzug des Kassationsrechts, Ausschluss aus der Ehrenlegion, aus dem Rechtswesen, dem Gesundheitswesen, dem Versicherungswesen, der Presse sowie aus Bildungs- und Kunstinstitutionen, aus staatlichen Positionen und diplomatischen Vertretungen, aus der Armee etc.) wurden innerhalb von 3 bis 14 Monaten durchgesetzt. Die radikale Einschränkung war für die Juden ein rechtlich legitimiertes Berufsverbot, dann kam der Entzug des Verfügungsrechtes über ihr bewegliches und unbewegliches Eigentum. Vorbereitungen zu den einzelnen Schritten des „Statut des Juifs“ hatten bereits vor dem Oktober 1940 begonnen. Die staatsbürgerlichen Rechte von Juden waren seit einer Gesetzgebung vom 22. Juli 1940 einer ersten einschränkenden Revision unterzogen worden. Eine Kommission untersuchte die Papiere von nach dem Jahr 1927 einge-
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bürgerten Personen und hatte das Recht, „unerwünschten Personen“ die französische Staatsbürgerschaft zu entziehen, eine Maßnahme, die etwa 6.000 Juden betraf. Ein Gesetz vom 17. Juli 1940 hatte bereits die Zutrittsbestimmungen für den öffentlichen Dienst auf Personen beschränkt, deren Vater französischer Staatsbürgerschaft und nichtjüdischer Herkunft war. Die Ärzteschaft führte ab dem 16. August analoge Beschränkungen ein. Obgleich in diesen vorbereitenden Gesetzestexten das Wort „Juden“ selten Erwähnung fand, bezogen sich diese Maßnahmen in erster Linie dennoch auf die jüdische Bevölkerung Frankreichs. Das „Statut des Juifs“ wurde in zwei grundlegenden Schritten durchgesetzt. Die erste Fassung, datiert vom 3. Oktober 1940, entstand auf Initiative von Marschall Henri Philippe Pétain; Verfasser war der im Jahr 1940 amtierende Justizminister Raphaél Alibert. Die in Artikel 1 formulierten Definitionskriterien zur rassischen Bestimmung von Juden waren strenger angelegt als im Deutschen Reich: Jede Person galt als „Volljude“, wenn sie drei Großeltern jüdischer Abstammung hatte oder zwei jüdische Großeltern und mit einem Juden verheiratet war. Die Juden Algeriens verloren nach der Bekanntmachung des „Statut des Juifs“, am 7. Oktober 1940, ihre mit dem „Décret de Crémieux“ ( → Crémieux-Dekret) im Jahr 1870 garantierten staatsbürgerlichen Privilegien. Die den Juden auferlegten Berufsverbote betrafen zunächst Positionen in der Landesregierung, in den Verwaltungen der Kolonien und der Polizei, in den öffentlichen Ämtern (Artikel 2), die freien Berufe und juristische Professionen (Artikel 4) sowie Positionen in den Medien, in Film und Theater, Radio (Artikel 5). Ausgenommen von den Beschränkungen waren Personen, die nachweislich zwischen den Jahren 1914 und 1918 sowie 1939–1940 in der Armee gedient hatten oder entsprechend ausgezeichnet worden oder Mitglieder der Ehrenlegion waren (Artikel 3). Einen Tag nach Inkrafttreten des ersten „Statut des Juifs“ erhielten Polizeipräfekte gemäß Artikel 1 die Autorität, alle ausländischen Juden ihrer Polizeibezirke zu internieren, in überwachte Wohngebiete oder zur Zwangsarbeit einzuweisen. Am 25. Oktober 1940 verloren nicht nur jüdische Offiziere der französischen Armee ihre Positionen, sondern auch sämtliche Armeeangehörige jüdischer Abstammung nach der Definition des Statuts, was den Bestimmungen des Artikels 3 desselben Gesetzestextes direkt zuwiderlief und damit die Willkür der Maßnahme verdeutlicht. Die zweite erweiterte Fassung des „Statut des Juifs“ folgte am 2. Juni 1941, diesmal unter der Leitung von Xavier Vallat, dem ersten Generalkommissar für Judenfragen; der Unterzeichner war wiederum Pétain. Die Bestimmungen zur rassischen Definition der Juden waren nun erweiternd spezifiziert. Als Jude galt, wer drei Großeltern jüdischer Abstammung hatte oder zwei jüdische Großeltern sowie einen Ehepartner, der ebenfalls zwei jüdische Großeltern hatte. Die in Artikel 2 dieses Statuts benannten professionellen, wirtschaftlichen und öffentlichen Bereiche, aus denen Juden ausgeschlossen wurden, stellten nur in einigen Fällen eine Wiederholung der im ersten Statut festgelegten und bereits ratifizierten Bedingungen dar. Einige Positionen wurden neu definiert, wobei es nun die offizielle Möglichkeit für die Betroffenen gab, frühere Verdienste von Familienangehörigen im französischen öffentlichen Dienst anzuführen. Diese Option blieb jedoch in den meisten Fällen theoretischer Natur, da neue diskriminierende Bestimmungen den Weg zu deren Nutzung versperrten. So wurde in der zweiten Fassung des Statuts festgelegt, dass sich nun die französische Polizeigewalt hinsicht-
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lich Internierungen und Einteilung zur Zwangsarbeit nicht mehr nur auf ausländische Juden bezog, sondern ebenso auf die französischen Juden. Als Ergebnis dieses Zusatzes sandten ca. 140.000 Juden schriftliche Erklärungen hinsichtlich ihrer Identität, Ausbildung und Berufe sowie ihres Eigentums an die zuständigen Polizeipräfekten, um sich gegen diese Behandlung zu wehren. Die Liste verbotener Berufe wurde erheblich und entscheidend erweitert. Die in Artikel 5 aufgelisteten Positionen und Professionen, die Juden nicht mehr einnehmen durften, betrafen nun konkret den Finanz- und Wirtschaftssektor: Bankdirektoren und angestellte, Börsenmakler, Finanziers im weitesten Sinn, Immobilienmakler, Grundstücks-, Land- und Fabrikbesitzer wurden mit Berufsverboten belegt und somit einem immensen Enteignungsprozess ausgesetzt. Juden durften nun auch nicht mehr als Herausgeber tätig sein, ebenso wie jüdische Schriftsteller nicht mehr veröffentlichen durften. Jüdischen Künstlern wurde das Recht entzogen, ihre Arbeiten im „Salon d’automne“ auszustellen. Am 21. Juni 1941 wurde ein numerus clausus von 3 Prozent für Juden an den Universitäten eingeführt. Am 16. Juli 1941 folgte eine prozentuale Beschränkung für jüdische Anwälte; die Zahl der Zulassung lag bei 2 Prozent. Jüdische Ärzte traf am 11. August 1941 ein ähnliches Verbot; lediglich 200 jüdische Ärzte praktizierten weiterhin in Paris. So wurden die ohnehin drastischen Beschränkungen für Juden des ersten „Statut des Juifs“ stark intensiviert. Bei Nichteinhaltung der Gesetzesvorlage drohten Internierung in Sonderlagern und/oder hohe Geldstrafen (Artikel 9). In Artikel 8 wurden wiederum die Personengruppen aufgelistet, die von den Regelungen befreit waren. Die darin geforderten „außerordentlichen Verdienste“ in Verbindung mit der Einbindung in die soziale Elite des Landes seit fünf Generationen waren Bedingungen, die die meisten Betroffenen nicht vorweisen konnten. Die in Artikel 7 festgelegten Regeln zur finanziellen Entschädigung der Opfer waren an so komplizierte Kriterien gebunden, dass sie für die meisten Juden gegenstandslos waren. In beiden Fassungen des „Statut des Juifs“ wurden die Juden Frankreichs und ausländische Juden, die sich in Frankreich aufhielten, schrittweise ihrer staatsbürgerlichen Rechte und der Gewährleistung ihrer Lebensgrundlagen beraubt. Die Berufsverbote und der dadurch in die Wege geleitete massive Enteignungsprozess bedeutete für viele Opfer nicht nur den materiellen und gesellschaftlichen Ruin, sondern verhinderten oft auch die Option einer Flucht ins Ausland. Beide Fassungen des „Statut des Juifs“ bereiteten die spätere Internierung der Juden im Zwischenlager Drancy und ihre Deportation in verschiedene Konzentrations- und Vernichtungslager vor. Die Entrechtung der Juden durch die Vichy Regierung geschah ohne direkte deutsche Einwirkung und basierte auf autonomen Entscheidungen des französischen Kollaborationsregimes. Beide Fassungen des „Statut des Juifs“ fanden Anwendung gleichermaßen in der „Zone Occupée“ und in der „Zone Libre“ der französischen Republik. Ebenfalls in den unter französischer Kolonialherrschaft stehenden Ländern des nordafrikanischen Maghreb – Marokko, Tunesien und Algerien – fanden die antijüdischen Gesetze Anwendung, sowohl auf die einheimischen als auch auf die ausländischen dort lebenden Juden, wobei das Vichy Regime in Tunesien und Algerien mehr Zurückhaltung als in Algerien wahrte und die im „Statut des Juifs“ formulierten rassistischen Komponenten zur Definition der Juden durch religiöse Kriterien ersetzte, was allerdings lediglich für die einheimischen Juden galt. Ebenso wurden die Verwaltungen der französischen Ko-
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lonien, des Protektorats und der Länder ohne Mandat in Madagaskar, Vietnam, Französisch-Guinea, im Senegal, der Elfenbeinküste etc. von der Vichy Regierung aufgefordert, das „Statut des Juifs“ auf die dortigen Juden anzuwenden.
Literatur
Katrin Reichelt
Michael Curtis, Verdict on Vichy. Power and Prejudice in the Vichy France Regime, New York 20003.Michael Robert Marrus, Robert O. Paxton, Vichy France and the Jews, Stanford 1981. Henry Rousso, Vichy: Frankreich unter deutscher Besatzung 1940–1944, München 2009. Richard H. Weisberg, Vichy Law and the Holocaust in France, Amsterdam 1996. Susan Zuccotti, The Holocaust, the French and the Jews, New York 1999.
Streckfuß-Debatten Am 1. Juni 1833 wurde für die preußische Provinz Posen eine Verordnung erlassen, nach der die jüdische Bevölkerung in zwei Klassen eingeteilt wurde. Wer ein großes Vermögen besaß oder ein bürgerliches Gewerbe in „Wissenschaft, Kunst und Handwerk“ nachweisen konnte, sollte die „Naturalisation“ erhalten und mit ihr eingeschränkte bürgerliche Rechte. Die übrige jüdische Bevölkerung erhielt keine bürgerlichen Rechte und galt lediglich als im Lande geduldet. In Anlehnung an die revidierte Städteordnung von 1831 wurden die Posener Juden in Korporationen zusammengefasst, in denen die naturalisierten Juden die religiösen, finanziellen und administrativen Angelegenheiten der Gemeinden regelten. Einen Anteil an den städtischen Verwaltungen und Vertretungskörperschaften hatten sie nicht. Die Korporationen der Juden bestanden nicht innerhalb, sondern neben den bürgerlichen Kommunen. Im selben Jahr 1833 erschien in Halle die Schrift „Ueber das Verhältniß der Juden zu den christlichen Staaten“ von Karl Streckfuß, Geheimer Oberregierungsrat im preußischen Innenministerium. Er schlug vor, die Posener Einteilung der Juden in „Naturalisierte“ und „Geduldete“ in der ganzen hohenzollerischen Monarchie einzuführen. Die Übertragung des Posener Korporationsmodells auf die gesamte Monarchie lehnte Streckfuß damals jedoch noch ab. Die Schrift war nicht originell; es hatte in den Jahren zuvor immer wieder Pamphlete gegeben, in denen die Einschränkung der Rechte der Juden verlangt wurde. Schon die begrenzten bürgerlichen Rechte in den preußischen Kernprovinzen nach dem Edikt vom 11. März 1812 oder in der Rheinprovinz entsprechend der französischen Gesetzgebung stießen auf Widerstand. Streckfuß war jedoch im preußischen Innenministerium der Referent für die Angelegenheiten der Juden. Deshalb stand zu befürchten, dass seine Vorschläge die öffentliche Meinung auf eine gesamtstaatliche Regelung nach Posener Vorbild, also auf eine drastische Verschlechterung der Lage in den alten Provinzen, vorbereiten sollte. Das war der Grund, aus dem die Broschüre des Oberregierungsrats sogleich viel Aufmerksamkeit fand. Ein zweiter Umstand kam hinzu. In den 1830er Jahren riefen die Liberalen in allen deutschen Staaten nach Grundrechten, nach Rechtseinheit und Rechtsgleichheit, ohne jedoch für die Juden dieselben Rechte wie für die Christen zu verlangen. In der Einleitung seiner Entgegnung auf Streckfuß wies Johann Jacoby darauf hin: „Die Liberalen richten den Blick auf die fernste Perspektive der Zukunft und
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gewahren nicht, wie man ihnen die Gegenwart und den Boden nimmt, auf dem ihre Idee wurzelt. Sie – die Liberalen – tödten ihre Mutter, vernichten ihre Wiege, geben sich der nacktesten Blöße hin, wenn sie in ihren Deputirtenkammern den Juden vom vollendeten Bürgerthum ausschließen. Diese traurige Thatsache ist vielleicht der wundeste Fleck für den deutschen Liberalismus.“ (Ueber das Verhältniß der Juden zum Staate. Gegenschrift wider Herrn Geheim-Rath Streckfuß, Merseburg, Halle 1833) Jacobys Mitstreiter im liberalen Geiste war Gabriel Riesser, den er schon 1833 „den Vorfechter der Juden in unseren Tagen“ nannte. Riesser, schrieb Jacoby, bitte nicht um Gnade, sondern beharre auf dem Recht, „er setzt auseinander, er verlangt und fordert“. Im liberalen Geist, in der Forderung nach gleichen Rechten aller Bürger im Staat, heben sich Jacoby und Riesser deutlich ab gegenüber Isaak Marcus Jost, der in seiner Schrift „Offenes Sendschreiben an Herrn Geh. Ober-Regierungs-Rath K. Streckfuß zur Verständigung über einige Punkte in den Verhältnissen der Juden“ (Berlin 1833) keine Forderungen stellte, sondern dem Oberregierungsrat „Berichtigungen“ im Interesse der „fortwährenden Verbesserung der Verwaltung und Justiz“ anbot. Ebenso wie Riesser und Jacoby verfolgte auch Jost die völlige Gleichberechtigung der Juden im Staat. Jost wollte aber nicht die Liberalen unter den Deputierten der Ständekammern überzeugen, sondern den Vertreter der Staatsregierung. Die „allgemeinen Grundsätze“ sah Jost in der Staatsrechtstradition Hegels und Hardenbergs, beim Monarchen und seiner Staatsverwaltung gut aufgehoben. Die fortgesetzte Unterwerfung der Juden unter Sonderrechte verwarf er nicht aus bürgerrechtlicher Perspektive, sondern wegen des Verstoßes gegen eine rationale, pragmatische Staatsverwaltung. Unerwartete Hilfe bei ihren rechtsstaatlichen Forderungen bekamen Jacoby und Riesser von Heinrich Christian von Ulmenstein, Regierungsrat bei der preußischen Regierung zu Düsseldorf. Er legte seine Schrift „Gegenbemerkungen zu der Schrift des Herrn Geheimen Ober-Regierungsrathes Streckfuß ueber das Verhältniß der Juden zu den christlichen Staaten“ (Dresden 1833) vor, in der er darauf verweist, dass die Religionsausübung seiner Staatsbürger den Staat letztlich gar nichts angehe. Das Konzept des „christlichen Staates“, von dem sich Streckfuß leiten ließ, verlor für die Beamten der preußischen Staatsverwaltung immer mehr an Attraktivität – und zwar gegen die Intentionen König Friedrich Wilhelms III. und seines seit 1840 regierenden Sohnes Friedrich Wilhelm IV., der immer daran festhielt. Zunehmend setzte sich der Pragmatismus durch, an den schon Jost appelliert hatte. Im Laufe der Jahre ließ sich auch Streckfuß in seiner Berliner Innenbehörde davon beeinflussen – zumindest insofern, als er den Übertritt zum Christentum nicht mehr zur Voraussetzung für die Erwerbung des Bürgerrechts machte. Ein schriftliches Votum des Innenministers Gustav Adolf Rochus von Rochow im Jahre 1840 ging bereits dahin, den Juden gleiche Rechte zuzugestehen, noch bevor sie ihr Judentum aufgegeben hätten; der Emanzipation werde die Konversion der Juden früher oder später folgen. Verfasser dieses Votums war Streckfuß. Die Einrichtung politischer Korporationen für die Juden griff König Friedrich Wilhelm IV. in einer Kabinettsordre am 13. Dezember 1841 auf. Demnach sollte das bürgerliche Leben der Juden von dem der Christen völlig getrennt werden: Die Christen sollten nach wie vor in den bürgerlichen Kommunen, die Juden jedoch nur in den jüdischen Korporationen zusammengefasst und der staatlichen Obrigkeit unterworfen wer-
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den. Der groteske Plan wurde durch eine Indiskretion der Berliner Verwaltung schnell bekannt und durch die Presse in ganz Deutschland verbreitet. Die Aufregung, die jetzt folgte, gehört womöglich auch zur Streckfuß-Debatte. Der König hatte Streckfuß am 27. April 1841 in einer Privataudienz empfangen und mit ihm über die „Regulierung der Verhältnisse der Juden“ gesprochen. In einem außergewöhnlich emotionalen Brief an den König versicherte Streckfuß am Tag darauf, dass er selbst es gewesen sei, der als erster diesen separatistischen Korporationsplan entwickelt habe. Anscheinend hatte Streckfuß seine frühere Meinung geändert und favorisierte für kurze Zeit die Isolierung der Juden in eigenen politischen Verbänden. Der König hielt dann zäh an diesen Plänen fest, bis sie 1847 auf dem Ersten Vereinigten Landtag endgültig verworfen wurden. Streckfuß distanzierte sich im Frühjahr 1842 schon wieder von den politischen Korporationen für die Judenschaft. Als er 1843 eine zweite Schrift unter dem Titel „Ueber das Verhältniß der Juden zu den christlichen Staaten“ (Berlin) vorlegte, spielte die Korporation keine Rolle mehr. Hier wiederholte der inzwischen pensionierte Oberregierungsrat den Vorschlag des Jahres 1840, allen Juden sofort die bürgerlichen Rechte zu verleihen. Die Abkehr vom Judentum, 1833 noch die Voraussetzung der Emanzipation, fehlte aber nicht etwa in diesem neuen Konzept. Sie sollte vielmehr die Konsequenz der Emanzipation sein. Streckfuß gab wieder, was viele preußische Verwaltungsbeamte zu dieser Zeit dachten. Einer der wenigen Exponenten der alten Judenfeindschaft war der 1775 geborene Geheime Oberfinanzrat Philipp Ludwig Wolfart, ehemals Regierungspräsident im westfälischen Arnsberg, der 1844 in seiner Broschüre „Über die Emancipation der Juden“ (Potsdam) Streckfuß heftig attackierte. Wenn Wolfart auch noch immer für einen großen Teil der deutschen Akademiker und Verwaltungselite sprach, so kündigte sich inzwischen doch eine ganz neue Tendenz an: Nicht die Rechtlosigkeit der rechtgläubigen Juden, sondern das Verschwinden des Judentums war das neue Ziel. Gabriel Riesser nutzte die Gelegenheit und bekräftigte in seinen „Bemerkungen über die zweite Schrift des Hrn. Geheimen Ober-Regierungsraths Streckfuß über das Verhältniß der Juden zu den christlichen Staaten“ (Berlin 1844), dass die Juden nicht um eine staatliche Wohltat baten, sondern ihr Recht einforderten. Die zweite Schrift des Oberregierungsrates Streckfuß schien auf den ersten Blick von einem neuen Wohlwollen gegenüber den Juden und ihrem Anspruch auf gleiche bürgerliche Rechte geprägt. Dabei ließ Streckfuß aber keinen Zweifel daran, dass er dasselbe Ziel vor Augen hatte, das ihn schon 1833 zur Niederschrift seiner ersten Broschüre angetrieben hatte: „das gänzliche Verschwinden derselben“, oder, noch drastischer „das Judenthum gänzlich zu vernichten“. Das Judentum war für Streckfuß der Ausdruck eines Partikularismus, der in einem Staate nicht geduldet werden könne. Die Existenz des Judentums sei in der Vergangenheit durch dessen Unterdrückung befestigt worden. Wenn nun dieser Druck genommen werde, müsse es notwendig absterben. Die Überzeugung der Juden, dass auch nach der rechtlichen Gleichstellung das Judentum neben dem Christentum fortbestehen werde, wies Streckfuß als Ausdruck von „aristokratischem Stolze“ zurück: „Aber hiermit hoffen sie, was nicht zu vereinigen ist, Vereinigung und Absonderung.“ Für den Fall, dass die Juden trotz ihrer Emanzipation an ihrem Judentum festhalten sollten, fügte er eine deutliche Warnung hinzu: „Denn
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wenn die weitere Entwickelung ungestört ihrem natürlichen Gange überlassen wird, würde wirklich die innere Natur des Judenthums selbst die Schuld tragen, wenn jene innigere Verschmelzung nicht erfolgen und die Gesammtheit der Bekenner der mosaischen Religion noch als eine abgesonderte Kaste in der Gesellschaft fortbestehen sollte.“ Gegen diese Anmaßung des pensionierten Oberregierungsrats beharrte Riesser darauf, dass es gar nicht um die Stellung von Religionsgemeinschaften im Staat gehe, sondern um die unveräußerlichen Grundrechte, die für alle Bürger unabhängig von religiösen Überzeugungen gelten: „Hiebei von ‚Absonderung‘ zu reden, hat der Verfasser jedenfalls in hohem Grade Unrecht.“ Die Treue zu religiösen Überzeugungen betreffe nicht die Stellung eines Bürgers im Staate, sondern sei Teil der bürgerlichen Freiheit und Ehre.
Literatur
Manfred Jehle
Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975. Ulrich Wyrwa, Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg i.Pr., London, Tübingen 2003.
Strousberg-Affäre Der Eisenbahnunternehmer Bethel Henry Strousberg (Neidburg/Ostpreußen, 20.11.1823 – Berlin, 31.5.1884) gab mit dem Konkurs seines Konzerns einer Affäre den Namen, die am Beginn der Großen Depression der 1870er Jahre stand. Strousberg kam als Kind jüdischer Eltern zur Welt und hieß anfangs Baruch Hirsch Strausberg, der Name wurde dann in Bartel Heinrich Strausberg umgewandelt. Nach dem frühen Tod seines Vaters im Jahre 1835 kam er in die Obhut seines in London lebenden Onkels. Dort anglisierte er seinen Namen zu Bethel Henry Strousberg und konvertierte später auch zur anglikanischen Kirche. Im Handelshaus seines Onkels absolvierte Strousberg eine Kaufmannslehre, profilierte sich später als Wirtschaftsfachmann und gab mehrere Wirtschaftsmagazine heraus. Nach seiner Rückkehr nach Preußen kam er mit britischen Eisenbahninvestoren in Kontakt und begann sich für den Eisenbahnbau in Ostpreußen zu interessieren. 1862 bemühte er sich erfolgreich um eine Konzession zum Bau der Ostpreußischen Südbahn von Tilsit nach Tschernjachowsk Insterburg. In den nächsten Jahren folgten weitere Strecken wie die Eisenbahn von Berlin nach Görlitz und von Hannover nach Altenbeken. Aufsehen erregte seine Methode, mit der er die Auflagen des preußische Eisenbahngesetzes umging. Die vom Gesetz vorgeschriebene staatliche Aufsicht verursachte damals hohe Planungs- und Baukosten. Zudem verpflichtete das Gesetz die Aktionäre zur Einzahlung des vollen Kaufbetrages der Aktien und verbot ihren Verkauf unter dem Nominalwert. Diese Auflage unterlief Strousberg, indem er den Aktien statt Geld Sachleistungen gegenüberstellte und indem er eine Besonderheit des englischen Eisenbahnbaus, den „Contractor“ oder „Generalunternehmer“, einführte. Demnach beauftragte die Eisenbahngesellschaft nach dem Erwerb einer Konzession einen Generalunternehmer, der den gesamten Bau und die von staatlicher Seite geforderte Qualität zu
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verantworten hatte. Dieser wurde in Aktien von eins zu eins des Nennwerts bezahlt. Er selbst konnte zum Bezahlen seiner Leistungen und Aufwendungen die Aktien jedoch unter Wert weiterverkaufen. Sein Geschick musste es somit sein, den Bau billiger als in den Planungen vorgesehen herzustellen, ohne in der Qualität Einbußen vorzunehmen. Diese Lösung – das sogenannte System Strousberg – genügte dem Gesetz nur noch formal, fand jedoch die ausdrückliche Zustimmung des preußischen Handelsministeriums. Aus seinen Gewinnen aus dem Eisenbahnbau baute Strousberg in kurzer Zeit einen gewaltigen Konzern auf, der Lokomotivenfabriken, Eisenhüttenwerke, Walzwerke, Kohleminen, eine Zeitung und andere Unternehmen umfasste, die im Zusammenhang mit der Vermarktung seiner Eisenbahnlinien standen. Auf dieser Basis kamen wichtige Verbindungen des deutschen Eisenbahnnetzes unter seine Kontrolle. Sein Expansionsdrang ließ ihn auch Eisenbahnprojekte in Russland und Rumänien übernehmen. Der rasch expandierende Konzern wurde allerdings auf einer schmalen Kapitalbasis errichtet. Die Einnahmen aus den fertiggestellten Strecken sollten gleich wieder noch größere Projekte mit finanzieren. Doch Verzögerungen im Bau blieben nicht aus und Strousberg kam in Zahlungsschwierigkeiten. Die entscheidende Hemmung kam mit dem Krieg 1870/71. Er traf Strousberg mitten in laufenden Projekten im Gesamtumfang von 140 Millionen Talern, führte zum Stopp zahlreicher Baumaßnahmen, der Rückfluss von Kapital aus fertigen Bahnen verzögerte sich, während die Zinsverpflichtungen weiterliefen. Am 1. Januar 1871 erklärte Strousberg gegenüber den Obligationsinhabern der rumänischen Bahnen erstmals seine Zahlungsunfähigkeit. Damit wurde sein größtes Kapital, der Glaube an sein wirtschaftliches Geschick, den er sich in seinem zehnjährigen Aufstieg erworben hatte, schwer erschüttert. Noch schlimmer, Strousberg musste sich auf der Suche nach Überbrückungskrediten in die Hände seiner Konkurrenten begeben. Das waren die etablierten Banken, allen voran die Disconto-Gesellschaft und das Bankhaus von Gerson Bleichröder. Beide verkauften ihm teure Kredite und zwangen ihn zum Verkauf des größten Teils seines Konzerns. Das Kriegsende und der Beginn der Gründerzeit trugen zwar zu einer gewissen Erholung bei, aber weitere Rückschläge führten schließlich zum vollständigen Zusammenbruch der Unternehmungen Strousbergs. Dazu gehörte der Angriff des nationalliberalen Abgeordneten Eduard Lasker im preußischen Abgeordnetenhaus auf die Konzessionspraktiken der preußischen Verwaltung und auf das „System Strousberg“ am 7. Februar 1873. Lasker nannte Strousberg den Prototyp eines Gründers, der Anleger um ihr Geld gebracht und sich bereichert habe, dazu habe er falsche Kalkulationen vorgelegt, Gesetze verletzt, Steuern hinterzogen, den Bahnbau verteuert und obendrein schlecht ausgeführt und allgemein korrumpiert. Lasker bezeichnete Strousberg als einen „unsoliden Spekulanten“ und „Eisenbahnwucherer“ und erklärte: „Ich stelle ‚ehrlich‘ in Gegensatz zu diesem System.“ Lasker war es in seiner Rede vor allem um die Diskreditierung der konservativen Führungsschicht des Landes gegangen. Doch er bediente sich dabei antijüdischer Vorurteile und Klischees, die Strousbergs Glaubwürdigkeit vollends untergruben. In der Gesellschaft war das Bild vom „unehrlichen jüdischen Geldhändler“, auf das Lasker in seiner Rede ausdrücklich angespielt hatte, weit verbreitet. Auch war es in der
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Strousberg-Affäre
Literatur des 19. Jahrhunderts in vielen Romanen präsent. Werner E. Mosse nennt Thomas Manns „Buddenbrooks“, Theodor Fontanes „Jenny Treibel“ und „Stechlin“, Heinrich Manns „Schlaraffenland“ und „Der Untertan“ sowie Spielhagens „Sturmflut“. Vor allem fanden derartige Charakterisierungen über Gustav Freytags 1855 erschienenem Bildungsroman „Soll und Haben“ weite Verbreitung. Handlung und Personenkonstellation dieses Romans weisen zahlreiche Parallelen zum Szenario des Laskerschen Angriffs und dem gesellschaftlichen Aufstieg von Strousberg im Milieu der mit Aktien spekulierenden ostelbischen Aristokratie auf. Ein Aufstieg über die Grenzen der ständischen Ordnung und des konfessionellen Milieus hinweg kann bei Freytag nur mit den Mitteln des Betrugs gelingen. Diese Bilder vom Aufstieg jüdischer Wirtschaftsbürger waren in der Öffentlichkeit höchst lebendig. Strousberg setzte sich gerade gegen diese Behauptungen Laskers zur Wehr: „Ich habe Eisenbahnen gebaut, Fabriken geschaffen oder erweitert, nützliche Anlagen, wie den Viehhof, aus eignen Mitteln hergestellt, verwahrloste Güter melioriert, Bergwerke ausgebaut etc.; ich habe aber nie an der Börse speculirt und nichts gekauft, um es zu verkaufen, nichts unternommen, weil es momentanen Verdienst versprach.“ Seine Verteidigung nützte ihm nichts. Laskers Rede erregte in der Öffentlichkeit ungeheures Aufsehen, führte bereits am darauffolgenden Tag zur Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses und wenig später zum Rücktritt Wageners und des Handelsministers Graf Itzenplitz. Im Verlauf des Skandals stellte die Börse in Berlin nach großen Kursverlusten am 10. Mai 1873 ihre Geschäfte ein, und in den folgenden Monaten kühlte sich die Konjunktur merklich ab. Historisch wird die darauf folgende Periode als die „Große Depression“ bezeichnet. Strousberg büßte als Folge der Rede vollends seinen persönlichen Kredit ein und erlitt 1875 mit seinem Restimperium Konkurs.
Literatur
Ralf Roth
Joachim Borchart, Der europäische Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg, München 1991. Eduard Lasker, Lasker’s Rede gegen Wagener und über das Eisenbahnkonzessionswesen in Preußen, gehalten im Abgeordneten-Hause am 7. Februar 1873, Berlin 1873. Werner E. Mosse, Die Juden in Wirtschaft und Gesellschaft, in: Werner E. Mosse (Hrsg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914, Tübingen 1976, S. 57–113. Manfred Ohlsen, Der Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg. Eine preußische Gründerkarriere, Berlin 1987². Karl Ottmann, Bethel Henry Strousberg. Eisenbahnkönig der Privatbahnzeit, in: Archiv für Eisenbahnwesen 70 (1960), S. 167–199. Fritz Redlich, Two Nineteenth-Century Financiers and Autobiographers. A Comparative Study in Creative Destructiveness and Business Failure, in: Economy and History 10 (1967), S. 37–128. Ralf Roth, Der Sturz des Eisenbahnkönigs Bethel Henry Strousberg. Ein jüdischer Wirtschaftsbürger in den Turbulenzen der Reichsgründung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10 (2001), S. 86–112. Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1978.
Stuttgarter Schuldbekenntnis
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Bethel Henry Strousberg, Dr. Strousberg und sein Wirken von ihm selbst geschildert, Berlin 1876.
Stuttgarter Schuldbekenntnis Die „Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland“, am 19. Oktober 1945 verabschiedet, steht am Beginn sowohl der Auseinandersetzung der protestantischen Kirchen mit dem Nationalsozialismus als auch ihrer Einigung. Die 28 evangelischen Landeskirchen hatten sich in der NS-Zeit in zwei Richtungen, die in Opposition zum Nationalsozialismus stehende „Bekennende Kirche“ und die anpassungswilligen „Deutschen Christen“, gespalten. Aus den Bruderräten der „Bekennenden Kirche“ war der Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands hervorgegangen, der am Anfang der Einigung der Protestanten der Nachkriegszeit stand. Anders als in der katholischen Kirche fehlte eine zentrale Organisation, außerdem bildete die theologische Teilung in die drei Bekenntnisse lutherisch, reformiert und uniert ein Hindernis der Verständigung. Die theologischen Nachwirkungen des Kirchenkampfes, bei dem Karl Barths reformierte Haltung gegenüber lutherischen Positionen zentrale Bedeutung gehabt hatte, bildete eine weitere Schwierigkeit im deutschen Protestantismus bei der Suche nach Neuanfängen. Die Kirchenführer-Konferenz in Treysa Ende August 1945, auf Einladung des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm zustande gekommen, war der Beginn des evangelischen Einigungswerkes. Unmittelbar davor hatten sich in Frankfurt am Main auf Initiative Martin Niemöllers die Mitglieder des Reichsbruderrates der „Bekennenden Kirche“ getroffen, und ebenfalls fast zeitgleich hatten die Lutheraner unter Führung des bayerischen Landesbischofs Hans Meiser in Treysa getagt. Der Kompromiss wurde in der Organisation einer gemeinsamen Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) als Dach aller Landeskirchen und aller evangelischen Bekenntnisse gefunden, deren Grundordnung am 13. Juli 1948 in Eisenach von der Kirchenversammlung angenommen wurde. Der Weg dahin war von Widersprüchen und Kompromissen gezeichnet, die die theologischen Differenzen auf der einen, die politischen auf der anderen Seite spiegeln. Am 18. und 19. Oktober 1945 fand in Stuttgart die zweite Ratstagung der EKD statt. Auf Betreiben von Pastor Niemöller sollte, nicht zuletzt an die Adresse der Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen als Repräsentanten der internationalen Christenheit ein Eingeständnis von Schuld abgegeben werden. Autoren des Bekenntnisses waren Otto Dibelius und Martin Niemöller. Die Stuttgarter Erklärung, der das → Darmstädter Wort 1947 und die → EKD-Erklärung zur Judenfrage 1950 folgten, erwähnte den Judenmord nicht, lediglich in allgemeinen Formulierungen („durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“) wird eine „Solidarität der Schuld“ der protestantischen Kirche konstatiert und Selbstanklage geübt, „daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“. Innerhalb der Kirche war die Erklärung heftig umstritten, die Gemeinden machten sich das Bekenntnis nicht zu eigen, und zwar nicht wegen der
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Talmudhetze
Nichterwähnung des Holocaust, sondern weil weithin die Notwendigkeit zu einer derartigen Geste nicht gesehen wurde.
Literatur
Wolfgang Benz
Georg Denzler, Volker Fabricius, Die Kirchen im Dritten Reich. Christen und Nazis Hand in Hand?, 2 Bände, Frankfurt am Main 1984. Martin Greschat (Hrsg.), Die Schuld der Kirche, München 1982. Siegfried Hermle, Evangelische Kirche und Judentum. Stationen nach 1945, Göttingen 1990. Hans Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen. Die Schuld der Kirche unterm Hakenkreuz, Köln 1987.
Sühneabgaben → Novemberpogrome 1938 Sühneleistung → Novemberpogrome 1938 Sykes-Picot-Abkommen → Balfour-Erklärung
Talmudhetze Die von Papst Gregor IX. 1242 in Paris veranlasste Talmudverbrennung begleitete eine intensive theologische Debatte über die Gefährlichkeit des Judentums. Der Talmud wurde dabei als ein Buch gesehen, in dem sich das dem Christentum feindliche Wesen der Juden widerspiegelte. Wollte man nicht selbst Schaden nehmen, war es aus christlicher Sicht dringend geboten, seiner Verbreitung Einhalt zu gebieten. Das dem Pariser Autodafé eingeschriebene Schema des Antitalmudismus kennzeichnete auch in der Folgezeit die Auseinandersetzung mit dem normativen Schrifttum des Judentums, und selbst Antisemiten der Gegenwart berufen sich auf eine im Talmud angeblich kodifizierte Feindseligkeit der Juden den Nichtjuden gegenüber, um ihr Handeln zu legitimieren. Aufgrund der besonderen Gelehrsamkeit seines Verfassers wurde das 1711 erschienene Werk des Heidelberger Orientalisten Johann Andreas Eisenmenger „Entdecktes Judenthum“ zu einem Meilenstein in der langen Geschichte antitalmudischer Judengegnerschaft. Weil es ihm gelang, seiner über 2000 Seiten umfassenden Kompilation einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben, erzielte Eisenmengers „Aufklärung“ über die geheimen Pläne des Judentums eine enorme Wirkung. Als einer der maßgeblichen antisemitischen Grundlagentexte wurde Eisenmengers Buch zur Quelle und Inspiration für alle, die sich die Mühe machten, nach „Beweisen“ für ihre judenfeindliche Einstellung zu suchen. Ein Problem bestand allerdings darin, dass es den wissenschaftlich nicht vorgebildeten Laien überforderte und deswegen als rasch verfügbares Referenzwerk ungeeignet war. Um eine größere Breitenwirkung zu entfalten, bedurfte es der popularisierenden Zusammenfassung in der Form kommentierter Talmudauszüge, auf die auch der Nichtfachmann bequem zurückgreifen konnte. Diesen Zweck verfolgte die an Eisenmenger angelehnte Schrift des katholischen Theologen August Rohling mit dem einprägsamen Titel „Der Talmudjude“. Die erste von insgesamt 22 Auflagen erschien 1871 als Reaktion auf die von Bismarck für den Norddeutschen Bund erlassenen Emanzipationsgesetze, die im Kaiserreich allgemeine Gültigkeit erlangten. Von der sechsten Auflage des Jahres 1877 ließ der westfälische
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Bonifatius-Verein 38.000 Exemplare kostenlos verteilen, um seinen Teil zur Aufklärung über „die jüdische Gefahr“ zu leisten. Einen überwiegend katholischen Wirkungsbereich rasch hinter sich lassend, wurde Rohlings „Talmudjude“ zu einer der wichtigsten antisemitischen Hetzschriften der neueren deutschen Literatur. Noch im Jahr 2003 brachte der rechtsgerichtete Lühe-Verlag einen Faksimiledruck auf den Markt. Obwohl Rohling von einer betont christlichen Warte aus argumentierte, stießen seine Thesen auch in der völkischen Bewegung auf große Resonanz. Alfred Rosenbergs Buch „Unmoral im Talmud“, das 1920 erstmals erschien und 1943 in einer Auflagenhöhe von 45.000 Exemplaren nachgedruckt wurde, bestand fast nur aus kommentierten Talmudzitaten im Stile Rohlings. Angesichts derart schlimmer Charaktereigenschaften der Juden könne kein redlicher Mensch neutral bleiben, schrieb Rosenberg im Vorwort. Und wie Rohling lobte auch Rosenberg ein Preisgeld für denjenigen aus, der in der Lage wäre, ihm auch nur ein falsches Zitat nachzuweisen. Auffallend ist bei Rosenbergs Talmudinterpretation besonders die positive Bezugnahme auf ein antisemitisch verstandenes Christentum, das nicht umsonst den Hass der Juden auf sich ziehen würde. Auch im „Stürmer“ finden sich zahlreiche Variationen einer talmudischen Christentumsfeindschaft und die mit dem Schicksal Deutschlands parallelisierte Verfolgung Jesu durch die Juden. Daran zeigt sich das Vermögen des Antitalmudismus, religiöse und nichtreligiöse Formen der Judenfeindschaft zu einer schlagkräftigen ideologischen Einheit zusammenzuführen. In dem von Rosenberg im März 1941 in Frankfurt eröffneten „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ übernahm der frühere katholische Theologe Johannes Pohl die Rolle des Talmudspezialisten. Pohl, der mit einer Vielzahl antitalmudischer Publikationen in Erscheinung trat, nahm als Experte für Hebraica auch an den Raubzügen des „Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg“ teil. Allerdings ließ die wissenschaftliche Qualifikation des 1927 zum Priester geweihten und 1929 an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn promovierten Pohl zu wünschen übrig. Sein im Sommer 1939 unternommener Versuch, sich mit einer Arbeit über die Talmudzensur der katholischen Kirche an der Universität Berlin zu habilitieren, stieß auf einhellige Ablehnung. Pohl fehle es selbst an den grundlegenden sprachlichen Voraussetzungen, urteilte Gerhard Kittel als einer der Hauptgutachter. Die Stellungnahme des renommierten evangelischen Neutestamentlers wog umso schwerer, weil Kittel betont antisemitisch argumentierte und weil er Pohl vorwarf, den Ansprüchen einer nationalsozialistischen „Judenwissenschaft“ nicht zu genügen. Kittel sprach als führender Vertreter der NS-Judenforschung, die dem politischen Antisemitismus des „Dritten Reiches“ eine theoretische Legitimation zu verschaffen suchte und die dabei in starkem Maße auf den Talmud Bezug nahm. In einem für das Propagandaministerium geschriebenen Gutachten über Herschel Grynszpan kam Kittel zu dem Ergebnis, dass der eigentlich nicht mehr als religiös zu bezeichnende Grynszpan den deutschen Gesandten Ernst vom Rath gleichwohl aus einer talmudischen Gesinnung heraus erschossen habe. Der im Mai 1939 in Wien eröffneten Propagandaausstellung „Das körperliche und seelische Erscheinungsbild der Juden“ stellte Kittel geeignete Talmudzitate zur Verfügung. Zum eigentlichen Talmudexperten des „Dritten Reiches“ avancierte indes Kittels Schüler Karl Georg Kuhn, der mehrfach für eine antisemitische Professur zum Studium der „Judenfrage“ vorgeschlagen und im September 1942 schließlich an der Universität
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Tübingen zum außerplanmäßigen Professor für dieses Lehrgebiet ernannt wurde. Kuhn besaß nicht nur herausragende Kenntnisse der rabbinischen Literatur, sondern auch die Fähigkeit, einem nichtwissenschaftlichen Publikum die komplizierten Zusammenhänge der jüdischen Religionsgeschichte zu veranschaulichen. Seine Analyse des Talmud stützte sich auf eine Mischung aus religiösen und rassischen Argumenten. Zum einen ließ sich im Rekurs auf traditionell religiöse Denkschemata an tief eingewurzelte und allgemein verbreitete Vorurteile appellieren. Zum andern machte eine „rassenwissenschaftliche“ Erklärung des „Judenproblems“ die Notwendigkeit einer Lösung gerade solchen Menschen plausibel, die sich schon mehr oder weniger weit vom Christentum entfernt hatten und die eine Verfolgung der Juden nur wegen ihres falschen Glaubens als Anachronismus abgelehnt hätten. Ein zugleich rassen- und religionswissenschaftlicher Erklärungsansatz war imstande, uralten religiösen Stereotypen neue Bindekraft zu verleihen. Zudem wurde es mit Hilfe des Rassegedankens möglich, auch den assimilierten und nicht mehr religiösen Juden ein talmudisches Wesen zuschreiben zu können. Die besondere Stärke des Antitalmudismus beruht auf seinem Projektionsmechanismus, der in der Lage ist, antisemitische Vorurteile im Medium des Talmud zu reflektieren. Aufgrund seiner Struktur als Rede und Gegenrede kann man im Talmud für so gut wie alle menschlichen Verhaltensweisen ‚Belege’ finden, wenn man einzelne Aussagen eines diskursiven Prozesses herausgreift und zu einem typischen Ausdruck talmudischen Wesens verallgemeinert. Auch von der NS-Judenforschung wurden die angeblichen Verbrechen der Juden an den Nichtjuden mit Hilfe der einschlägigen Talmudzitate durchdekliniert, um entsprechende Abwehrmaßnahmen als geboten erscheinen zu lassen. Die Judenverfolgung als Putativnotwehr kann deshalb als das zentrale Anliegen des Antitalmudismus bezeichnet werden.
Literatur
Horst Junginger
Hermann Greive, Der ‚umgekehrte Talmud’ des völkischen Nationalismus, in: Judaica 23 (1967), S. 1–27. Hermann Greive, Der Talmud. Zielscheibe und Ausgangspunkt antisemitischer Polemik, in: Günther B. Ginzel (Hrsg.), Antisemitismus, Bielefeld 1991, S. 304–310. Horst Junginger, Antisemitismus in Theorie und Praxis. Tübingen als Zentrum der nationalsozialistischen Judenforschung, in: Urban Wiesing u.a. (Hrsg.), Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2010, S. 483–558. Hannelore Noack, Unbelehrbar? Antijüdische Agitation mit entstellten Talmudzitaten. Antisemitische Aufwiegelung durch Verteufelung der Juden, Paderborn 2001. Alexander Patschovsky, Judenverfolgung im Mittelalter, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 41 (1990), S. 1–15. Alexander Patschovsky, Der „Talmudjude“. Vom mittelalterlichen Ursprung eines neuzeitlichen Themas, in: Alfred Haverkamp, Fritz Werner, Das Judentumsbild der Spätjudentumsforschung im Dritten Reich, in: Kairos. Zeitschrift für Religionswissenschaft und Theologie 12 (1971), S. 161–194. Franz-Josef Ziwes (Hrsg.), Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, Berlin 1992, S. 13–27.
Toleranzpatente (Österreich-Ungarn 1781–1788)
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Talmudverbrennungen → Bücherverbrennungen (Mittelalter und frühe Neuzeit)
Toleranzpatente (Österreich-Ungarn 1781–1788) Als Toleranzpatente werden jene Edikte bezeichnet, die Kaiser Joseph II. (1780–1790) hinsichtlich der Duldung nichtkatholischer Religionsgemeinschaften erließ. Die Patente waren Teil eines großen, im Zeichen des aufgeklärten Absolutismus stehenden Reformprogramms, durch das Joseph II. wesentlich zur gesellschaftlichen Modernisierung des Habsburgerreiches beitrug. Josephs Toleranz anderen Konfessionen gegenüber entsprang nicht rein humanitären Erwägungen; es ging ihm darum, die nichtkatholischen Gruppen in einem verstärkten Ausmaß dem Staate kommerziell dienstbar zu machen. Durch das erste, am 13. Oktober 1781 erlassene Toleranzpatent wurde Protestanten wie auch den orthodoxen Christen bürgerliche Gleichheit mit der katholischen Bevölkerungsmehrheit sowie freie Religionsausübung gewährt. Die Protestanten erhielten alle Bürger- und Meisterrechte und Zugang zu akademischen Studien und zu öffentlichen Ämtern. Gemeinden ab einer Größe von 100 Mitgliedern (in Entfernung von einer Gehstunde) erhielten das Recht, eine eigene Kirche und eigene Schulen zu bauen. Um die Dominanz der katholischen Konfession sicherzustellen, durften die Gebetshäuser nicht von der Straße aus begehbar sein und über keinen Kirchturm verfügen. Die Protestanten erhielten nach ihrer Tolerierung großen Zulauf. 1782 wurden außerhalb Ungarns 74.000 Protestanten verzeichnet, drei Jahre später waren es bereits 107.000. Um den Zuwachs einzudämmen, wurde 1783 eine Neuregelung der Übertrittsbestimmung eingeführt. So sollte beispielsweise die mehrwöchige Instruktion durch einen katholischen Pfarrer ein Hemmnis darstellen. Die erste Verfügung für Juden wurde am 19. Oktober 1781 veröffentlicht und betraf die jüdische Bevölkerung Böhmens. Christian Wilhelm Dohms Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ hatte die Grundlage für eine entsprechende Diskussion in der Habsburgermonarchie gebildet. Es folgten weitere Erlasse, die sich, hinsichtlich der durch sie gewährten Freiheiten, stark voneinander unterschieden: für Triest am 6. Dezember 1781, für Österreich-Schlesien am 15. Dezember 1781, für Wien und Niederösterreich am 2. Januar 1782, für Mähren am 13. Februar 1782, für Ungarn am 31. März 1783 (1787 auf Siebenbürgen ausgedehnt), für Galizien und die Bukowina am 30. September 1789. Durch das am 2. Januar 1782 erlassene Toleranzpatent für Wien und Niederösterreich wurden zahlreiche Gewerbe- und Handelsbeschränkungen für Juden aufgehoben. Sie erhielten das Recht, Normalschulen einzurichten und Universitäten sowie Kunstakademien zu besuchen. Die Niederlassungsbeschränkungen für Juden in Wien und den Vorstädten wurden abgeschafft, ebenso das Verbot, an Sonn- und Feiertagen vor zwölf Uhr auszugehen und öffentliche Belustigungsorte zu besuchen. Sie mussten keine diskriminierenden Abzeichen mehr tragen, und fremde Juden wurden von der bisher zu bezahlenden Leibmaut befreit. Im Jahr 1788 mussten Juden im öffentlichen Leben den Gebrauch des Jiddischen und Hebräischen aufgeben und deutsche Familiennamen annehmen. Noch im selben
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Ungarische Judengesetze (1938–1942)
Jahr forderte Joseph II. von ihnen die Leistung des Militärdienstes und machte damit Österreich zu einem der ersten Länder Europas, das jüdische Soldaten hatte. Josephs Toleranz den Juden gegenüber war keine allumfassende. Obwohl sie deren Lage verbesserte, machte sie die Juden nicht zu gleichberechtigten Bürgern. Das Bürger- und Meisterrecht blieb Wiener Juden weiter verwehrt. Sie durften keine eigenen Gemeinden bilden, keinen öffentlichen Gottesdienst abhalten und auch keine öffentliche Synagoge haben. Der Besitz von Grund und Boden blieb ihnen untersagt. In Niederösterreich durften sie sich nur dann niederlassen, wenn sie eine Fabrik gründeten bzw. ein nützliches Gewerbe ausübten. Viele der in den Toleranzpatenten festgelegten Erleichterungen wurden nach 1792 unter der Regierung Franz II. (I.) abgeschwächt bzw. wieder abgeschafft.
Literatur
Philipp Rohrbach
Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, München, Wien 2001. Eveline Brugger, Martha Keil, Albert Lichtblau, Christoph Lind, Barbara Staudinger, Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006. Bruce F. Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993. Kurt Schubert, Die Geschichte des österreichischen Judentums, Köln, Wien 2008. Karl Vocelka, Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat, Wien 2001.
Tribunal do Santo Offício → Inquisition in Portugal Türkische Vermögenssteuer → Varlik Vergisi
Ungarische Judengesetze (1938–1942) Die Deportation der ungarischen Juden stellt eine der letzten und grausamsten Vernichtungsaktionen des Dritten Reiches dar. Wie Randolph L. Braham zeigt, ist diese Deportation zwar erst durch die deutsche Besetzung Ungarns ermöglicht worden, doch ohne die aktive Beteiligung des ungarischen Staates samt seiner wirtschaftlichen, politischen und administrativen Elite wäre sie nicht durchführbar gewesen. Hinzu kommt, dass bereits im Vorfeld weitreichende Maßnahmen zur Exklusion, Enteignung und Verfolgung der ungarischen Juden stattgefunden haben. Zwischen 1938 und 1942 verabschiedete die ungarische Regierung mehrere anti-jüdische Gesetze. Das erste Gesetz (1938) beschränkte den Beschäftigungsanteil der jüdischen Bevölkerung im Presse- und Theaterbereich, im Rechtswesen und in der Medizin auf maximal 20 Prozent und betraf etwa 50.000 Personen. Das zweite Gesetz (1939) basierte auf einer rassistischen Definition der Juden, die auch 62.000 zum Christentum konvertierte Juden einbezog. Sie verbot den Juden, die ungarische Staatsbürgerschaft durch Einbürgerung oder durch Heirat zu erlangen und schränkte ihre gesellschaftlichen und politischen Rechte enorm ein. 1940/41 führte die Kontrollbehörde für fremde Staatsbürger (KEOKH) die Erfassung staatenloser Juden durch und war im Sommer 1941 maßgeblich an der Ausweisung von 23.600 Juden nach Galizien beteiligt. Die ungarische Gendarmerie, die
Ungarische Judengesetze (1938–1942)
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Grenzpolizei und die lokalen Verwaltungen waren mit der Durchführung betraut. Im August 1941 ist der Großteil der Deportierten bei Kameniez-Podolsk (Körösmezö) von SS-Einheiten, ungarischen Soldaten und ungarischen Miliz ermordet worden. In den Jahren 1941 und 1942 hat der ungarische Staat zehntausende jüdische Männer zum militärischen Arbeitsdienst (munkaszolgálat) eingezogen: Sie begleiteten die regulären Militäreinheiten bis an die Front und mussten Militärdienst ohne Waffen leisten. Ein Teil der militärischen Arbeitsdienstleistenden ist 1943/44 in die Ukraine und nach Serbien verschleppt worden. Nur wenige Menschen überlebten diese Einsätze. Das 1941 verabschiedete dritte anti-jüdische Gesetz entsprach in vielen Punkten den → Nürnberger Gesetzen, das vierte Gesetz (1942) regelte die Enteignung des jüdischen Land- und Pachtbesitzes. Gegen die jüdische Bevölkerung im Sinne der von den Nationalsozialisten geforderten „Endlösung“ vorzugehen, weigerte sich die Regierung unter Miklós Kállay (9. März 1942–19. März 1944) allerdings. Erst nachdem Ungarn am 19. März 1944 von deutschen Truppen besetzt und drei Tage später die Kollaborationsregierung unter Döme Sztójai eingesetzt worden war, begannen die Vorbereitungen zur Deportation ungarischer Juden nach Auschwitz. Unter der Führung von Eichmanns Sondereinsatzkommando leiteten ungarische Polizei, Gendarmerie und Verwaltung die nötigen Schritte ein, die für die Deportationen erforderlich waren: Errichtung von Sammellagern, Ghettoisierung, Enteignung, Ausplünderung und Abtransport. Innerhalb von zwei Monaten, vom 15. Mai bis 9. Juli 1944, wurden etwa 435.000 ungarische Juden – überwiegend aus den ländlichen Regionen – nach Auschwitz deportiert. Der Großteil der Deportierten ist unmittelbar nach ihrer Ankunft in Auschwitz als nicht arbeitsfähig selektiert und in den Gaskammern ermordet worden. Etwa 110.000 Menschen wurden zur Zwangsarbeit in verschiedene Außen- und Nebenlager verschickt. Erst Anfang Juli 1944 – als bereits der Großteil der Juden aus den ungarischen Provinzen deportiert war – verfügte Reichsverweser Miklós Horthy die Einstellung der Deportationen. Nachdem Ferenc Szálasi, der Führer der faschistischen Pfeilkreuzler-Partei, am 15. Oktober 1944 von den Nationalsozialisten als Regierungschef eingesetzt worden war, kam es in Budapest erneut zu zahlreichen anti-jüdischen Aktionen, denen tausende Menschen zum Opfer fielen. Im Herbst 1944 veranlassten die ungarischen Behörden die Deportation von etwa 50.000 Budapester Juden, die größtenteils zu Fuß in Richtung österreichische Grenze erfolgte. Im November 1944 wurden die zwei Pester Ghettos errichtet. Interventionen internationaler Organisationen, neutraler Gesandtschaften und zionistischer Verbände ermöglichten das Überleben der dort festgehaltenen Juden. Weitere zehntausend Juden konnten in Budapest durch Untertauchen mit gefälschten Papieren sowie durch Unterbringung in Gebäuden, die unter diplomatischer Immunität standen, überleben. 1941 lebten in Ungarn etwa 825.000 Juden, den Holocaust überlebten nur 260.500 Menschen.
Literatur
Brigitte Mihok
Randolph L. Braham, The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary, vol. 1 – 2, New York 1981.
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Varlık Vergisi (1942)
Randolph L. Braham (Hrsg.), The Tragedy of Hungarian Jews. Essays, Documents, Depositions, New York 1986. Brigitte Mihok (Hrsg.), Ungarn und der Holocaust, Berlin 2004.
Varlık Vergisi (1942) Die frühe Türkische Republik (1923–1945) strebte danach, die Rolle der nichtmuslimischen Minderheiten in der Wirtschaft zugunsten der Mehrheitsbevölkerung zurückzudrängen. Die minderheitenfeindliche öffentliche Meinung richtete sich insbesondere gegen griechische und armenische Christen, wendete sich aber unter dem Einfluss der deutschen antisemitischen Propaganda ab den 1930er Jahren auch zunehmend gegen Juden. Auf das Näherrücken des Kriegsgeschehens durch die deutsche Besetzung Jugoslawiens und Griechenlands 1941 reagierte die Türkei mit weiteren Einschränkungen. Die als potentiell illoyal geltenden wehrfähigen Männer der Minderheitenbevölkerung wurden zum Arbeitsdienst ins anatolische Hinterland geschickt. Als Reaktion auf die sich verschlechternde Versorgungslage, ausgelöst durch den immensen Finanzierungsbedarf des Verteidigungszustandes, kam es im Sommer 1942 zu einer beispiellosen minderheitenfeindlichen Kampagne in der Presse. Im November 1942 wurde durch die Regierung von Ministerpräsident Şükrü Saraçoğlu eine sogenannte Vermögenssteuer (Varlık Vergisi) eingeführt. Während der offizielle Zweck auf Finanzierung gestiegener Militärausgaben durch die Abschöpfung von Spekulationsgewinnen lautete und im Gesetzestext auf alle Unternehmer und Selbständige zielte, scheint die eigentliche Zielrichtung die Verdrängung der nichtmuslimischen Staatsbürger aus der Wirtschaft gewesen zu sein. So waren 87 Prozent der Besteuerten Nichtmuslime, obwohl ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nur 2 Prozent betrug. Die Steuerbescheide für die einmalige Zahlung wurden bereits fünf Wochen nach der Parlamentsentscheidung per Aushang bekannt gegeben, sodass sie aufgrund einer unzureichenden Faktenbasis von den Behörden willkürlich festgesetzt werden mussten. Sie trieb vor allem jüdische Importeure, aber auch kleinere Kaufleute und Handwerker, die zu einer Zahlung in der Höhe eines Jahresgehaltes von 624 Lira veranlagt wurden, in den Konkurs. Zahlreiche Personen wurden zur Veräußerung ihres Vermögens genötigt, das angesichts des Zeitdrucks nur unter Preis zu verkaufen war. Waren oder persönliches Hab und Gut säumiger Schuldner wurden versteigert. Allein aus Istanbul wurden ab Anfang 1943 ca. 1.200 Personen unter inhumanen Bedingungen in Arbeitslager in Ostanatolien verschickt, wo viele gesundheitliche Schäden erlitten und es zu einzelnen Todesfällen kam. Erst ein Jahr später unter dem Eindruck der Annäherung der Türkei an die Alliierten wurden die Internierten freigelassen und Restschulden erlassen. Die Varlık Vergisi und der finanzielle Ruin, den sie für viele Juden bedeutete, war ein wesentliches Motiv für die massive Auswanderung der türkischen Juden nach dem Weltkrieg. So verließ in den Jahren nach der Gründung Israels gut die Hälfte der 85.000 unmittelbar vor dem Krieg in der Türkei ansässigen Juden das Land.
Literatur
Malte Fuhrmann, Florian Riedler
Ayhan Aktar, Varlık Vergisi ve „Türkleştirme“ Politikaları, Istanbul 2000. Rıfat Bali, The Varlık Vergisi Affair, Istanbul 2005.
Vélodrome d’Hiver-Razzia (1942)
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Corry Guttstadt, Die Türkei, die Juden und der Holocaust, Berlin 2008, S. 199–210. Hüseyin Perviz Pur, Varlık Vergisi ve Azınlıklar, Istanbul 2007.
Vélodrome d’Hiver-Razzia (1942) Die Vélodrome d’Hiver-Razzia („la rafle du Vélodrome d’Hiver“, kurz „la rafle du Vel’ d’Hiv“ bzw. „le jeudi noir“) war die umfassendste Massenverhaftung von Juden in Frankreich während der deutschen Besatzungszeit. Sie fand am 16. und 17. Juli 1942 statt. Etwa 13.000 Personen aller Altersstufen wurden verhaftet und kurze Zeit später nach Auschwitz deportiert, wo fast alle von ihnen ermordet wurden. Die Razzia bekam ihren Namen, weil über 8.000 Inhaftierte vorher tagelang eingepfercht im Pariser Vélodrome d’Hiver (Winter-Radrennbahn) ausharren mussten. Nach der deutschen Besetzung Frankreichs erließ die Vichy-Regierung – teils in vorauseilendem Gehorsam, teils auf Geheiß der Okkupanten – zahlreiche antisemitische Gesetze. Dazu gehörte u.a., dass im laizistischen Frankreich gar nicht bekannt war, wie viele Bürger jüdischen Glaubens eigentlich im Land lebten, und die VichyRegierung auf eigene Initiative ein Judenstatut erließ (3. Oktober 1940, wesentlich verschärft am 2. Juni 1941) und Karteien erstellte, um dies herauszufinden. Im März 1941 ernannte die Vichy-Regierung Xavier Vallat (1891–1972) zum „Generalkommissar für Judenfragen“ (commissaire général aux Questions juives). Vallat führte am 14. Mai, 20.–23. August und 12. Dezember erste Razzien gegen ausländische Juden in Frankreich durch. Mit der Ernennung von Louis Darquier de Pellepoix zu Vallats Nachfolger am 6. Mai 1942 verschärfte sich die Situation der Juden in Frankreich weiter. Ab 7. Juni mussten sie den gelben Stern auf ihrer Kleidung tragen. Als Teil der „Operation Frühlingswind“, die sich gegen die westeuropäischen Juden richtete, begannen zur gleichen Zeit die Planungen für eine Razzia, deren Ziel es war, alle in Frankreich nicht heimatberechtigten Juden aus Paris und Umgebung zu deportieren. Der endgültige Plan sah vor, bis zu 28.000 ausländische und staatenlose Juden zwischen 16 und 60 Jahren von der Pariser Polizei verhaften zu lassen. Die Operation war gemeinsam von der SS, Vertretern der französischen Polizei und „Spezialisten“ für Judenfragen geplant. Bei den zahlreichen Treffen und Besprechungen im Juni und Juli 1942 waren für die SS vor allem Helmut Knochen, 1942–1944 Befehlshaber der Sicherheitspolizei für Frankreich, und somit einer der maßgeblichen Köpfe der Deportation von Juden aus Frankreich und der Ermordung französischer Widerstandskämpfer, sowie Theodor Dannecker, 1940–1942 Leiter der SD-Dienststelle in Paris, enger Mitarbeiter Adolf Eichmanns und einer der wesentlichen Planer der Deportation von Juden aus Frankreich in deutsche Vernichtungslager, beteiligt. Die französische Polizei vertraten federführend: Jean François, Chef der Pariser Polizeipräfektur und administrativer Leiter der Lager Drancy, Pithiviers und Beaune-la-Rolande, Émile Hennequin, Direktor der städtischen Pariser Polizei, der schließlich die genauen Instruktionen an alle beteiligten Polizisten ausgab, sowie der Generalsekretär der von Vichy kontrollierten „Police nationale“ und sein Stellvertreter, René Bousquet und Jean Leguay. Die „Spezialisten“ für Judenfragen schließlich waren der Generalkommissar Louis Darquier de Pellepoix und André Tulard, der Judenbeauftragte der Pariser Poli-
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Vélodrome d’Hiver-Razzia (1942)
zeipräfektur. Bei einigen Besprechungen waren auch Vertreter der französischen Staatsbahn SNCF zugegen. Die Zahl der zu Verhaftenden (27.361 Juden, die überwiegend aus Deutschland, Österreich, Polen, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion geflohen waren, sowie Staatenlose) stützte sich auf eine Kartei, die Tulard im Januar 1941 aufgebaut hatte. Als Ort zur Unterbringung der Gefangenen wurden das Lager Drancy nördlich von Paris und der Vélodrome d’Hiver in unmittelbarer Nähe zum Eiffelturm ausgewählt. Im „Vel’ d’Hiv“ fanden seit 1909 (Rad-) Sportveranstaltungen statt; bereits 1941 hatte die Arena als provisorisches Gefängnis nach den Massenverhaftungen gedient. Die Vel’ d’Hiv-Razzia begann am 16. Juli 1942 gegen vier Uhr morgens und war im Wesentlichen am nächsten Tag abgeschlossen: 12.884 Juden (4.051 Kinder, 5.802 Frauen und 3.031 Männer), so das „Abschlussergebnis“ eines SS-Berichts vom 18. Juli, wurden von mindestens 7.000 französischen Polizisten und anderen Staatsdienern verhaftet. Die Polizeipräfektur korrigierte die Zahl der Verhafteten am 20. Juli auf 13.152 Personen nach oben (64 Kinder, 117 Frauen und 87 Männer kamen hinzu). Die Verhafteten durften nicht mehr als einige Sachen zum Anziehen, eine Decke sowie ein Paar Schuhe mitnehmen. Zu ihrem Transport waren 60 Busse (davon 50 öffentliche Nahverkehrsbusse) requiriert worden. Während rund 5.000 Personen – Alleinstehende und Paare ohne Kinder – gleich in das Lager Drancy verschleppt wurden, pferchte die Polizei im „Vel’ d’Hiv“ mehr als 8.000 Menschen zusammen, die tagelang ohne ausreichende Nahrung, ohne sanitäre Anlagen, mit nur wenig Wasser und bei unerträglicher Hitze unter dem Glasdach des Gebäudes ausharren mussten. Fünf Gefangene nahmen sich das Leben, eine unbekannte Zahl von Häftlingen wurde bei Fluchtversuchen erschossen. Alle anderen Eingesperrten – inklusive der Kinder, die allerdings getrennt von ihren Eltern nach Drancy kamen – wurden zwischen dem 19. und 22. Juli in die Lager Drancy, Beaune-la-Rolande und Pithiviers überstellt, von wo aus sie nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden. Ursprünglich sollte sich die auf Veranlassung Danneckers gegründete „Union Générale des Israélites de France“ (UGIF) um die Kinder unter 16 Jahren kümmern. Bis zum Befehl aus Berlin am 30. Juli, auch die Kinder nach Auschwitz zu deportieren, hatte die UGIF jedoch erst 150 Kinder in ihrer Obhut, die bei der Verhaftung ihrer Eltern zurückgelassen worden waren. Um die Deportation von Kindern aus der unbesetzten Zone hatte Vichy-Regierungschef Pierre Laval explizit gebeten, das Schicksal der anderen Kinder „interessiert ihn nicht“, wie Dannecker an Eichmann schrieb. Während am 19. Juli die ersten Züge aus Drancy in das Vernichtungslager Auschwitz fuhren, fanden weitere Razzien in Paris und Umgebung, aber auch in der unbesetzten Zone Frankreichs statt. Allein während der Vélodrome d’Hiver-Razzia wurde fast ein Drittel der 42.000 Juden verhaftet, die 1942 von Frankreich nach Auschwitz deportiert wurden – von ihnen überlebten etwa 800. Dennoch hatten mehr als 10.000 Juden, die von einzelnen Polizisten bzw. der UGIF vor der Razzia gewarnt worden waren, rechtzeitig die Flucht ergreifen können. Bis 1959, als er teilweise ausbrannte, wurde der Vélodrome d’Hiver wieder für Sportveranstaltungen genutzt. Nach dem Brand wurde er abgerissen. Die Auseinandersetzung mit den Ereignissen von 1942 begann erst relativ spät:
Vélodrome d’Hiver-Razzia (1942)
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Von den beteiligten deutschen Tätern wurden drei Mitorganisatoren 1980 zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Hauptverantwortlichen kamen ungeschoren davon: Dannecker hatte im Dezember 1945 in US-amerikanischer Haft Selbstmord begangen. Knochen war zwar 1946 von den Engländern und 1954 in Paris zum Tode verurteilt worden, jedoch saß er letztendlich nur bis 1962 in einem französischen Gefängnis. Die Vel’ d’Hiv-Razzia war nie Gegenstand einer Anklage gegen ihn. Er starb 2003. In Frankreich war die maßgebliche Beteiligung französischer Stellen lange Zeit gar kein Thema: Émile Hennequin wurde 1947 zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt, jedoch kam seine Beteiligung an der Vel’ d’Hiv-Razzia nicht zur Sprache. Jean François trat 1950 als Direktor der Polizei in den Ruhestand und wurde 1954 gar zum „Ehrendirektor“ ernannt. André Tulard wurde ebenfalls niemals angeklagt und blieb bis zu seinem Tod 1967 „Ritter der Ehrenlegion“. 1979 war Jean Leguay der erste Franzose, der wegen seiner Beteiligung an der Razzia angeklagt wurde. Er starb unverurteilt 1989. Louis Darquier de Pellepoix war nach der Befreiung Frankreichs nach Spanien geflohen und in Frankreich 1947 in absentia zum Tode verurteilt worden, lebte jedoch bis zu seinem Tod 1980 unbehelligt in Spanien. In einem aufsehenerregenden Interview, das er 1978 der Zeitschrift „L’Express“ gab ( → Darquier-Affäre), behauptete Darquier, René Bousquet habe die Razzia „von A bis Z“ organisiert und sei somit für „alles“ verantwortlich. Bousquet wurde schließlich 1991 nach massivem Druck (vor allem von Serge Klarsfeld) wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt, jedoch Anfang Juni 1993 ermordet. 1993 beschloss Präsident François Mitterrand den Bau eines Mahnmals am historischen Ort des Vel’ d’Hiv, der inzwischen allerdings weitgehend bebaut war. Das Mahnmal wurde 1995 eingeweiht, wobei Mitterrands Nachfolger Jacques Chirac als erster französischer Präsident öffentlich die französische Kollaboration thematisierte. Im Juli 2008 wurde eine Erinnerungstafel mit einem mehrsprachigen Text über die Razzia und ihre Opfer in der nahegelegenen Métro-Station Bir Hakeim angebracht. Die Vel’ d’Hiv-Razzia war auch Gegenstand des Spielfilms „Monsieur Klein“ (1976, Regie Joseph Losey) sowie einiger (späterer) Dokumentarfilme (u.a. „La rafle du Vel’ d’Hiv, 16 et 17 juillet 1942“ von Gilles Nadeau, 2002). Seit Ende der 1980er Jahre erschienen vermehrt Erinnerungen von Überlebenden der Razzia.
Literatur
Bjoern Weigel
Laurent Joly, Vichy dans la „Solution finale“. Histoire du commissariat général aux Questions juives, 1941–1944, Paris 2006. Michel Laffitte, The Vélodrome d’Hiver Round-up: July 16 and 17, 1942, in: The Online Encyclopedia of Mass Violence, hrsg. von Jacques Semelin, Paris 2008 (im Internet abrufbar). Claude Lévy, Paul Tillard, La grande raffle du Vel d’Hiv (16 juillet 1942), Paris 1967 (dt.: Der schwarze Donnerstag. Kollaboration und Endlösung in Frankreich, Olten 1968). Maurice Rajsfus, Jeudi noir. 16 juillet 1942 – l’honneur perdu de la France profonde, Paris 1988. Maurice Rajsfus, La rafle du Vel’ d’Hiv, Paris 2002.
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Verschwörung der Kremlärzte
Verbrennung undeutschen Schrifttums → Bücherverbrennungen 1933 Verfluchungsthese → Zweites Vatikanisches Konzil
Verschwörung der Kremlärzte Am 13. Januar 1953 enthüllte die sowjetische Agentur TASS ein Mordkomplott: „Schädlings-Ärzte“ hätten zwei hohe Parteiführer ermordet und weitere Verbrechen vorbereitet. Über sechs der neun Genannten hieß es, sie seien mit der „internationalen jüdischen bürgerlich-nationalistischen“ Organisation Joint verbunden. Der „Ärztefall“ (russ. „Delo Wratschej“) führte zwei spätstalinistische Kampagnen zusammen: antijüdische Propaganda (bisher gegen „Kosmopoliten“) und die bis dahin heimliche Verfolgung von „Zionisten“ und anderen Feinden. Die Vorgeschichte hatte nicht nur mit Antisemitismus zu tun: 1948 meldete die Ärztin Lidija Timaschuk der Staatssicherheit die unangemessene Behandlung des Politbüromitglieds Andrej Shdanow, wobei keiner der dafür Verantwortlichen Jude war. Die medizinisch nicht unbegründete Anzeige wurde weitergereicht, von Stalin aber ins Archiv gegeben. Doch 1950 wurde der jüdische Arzt Jakow Etinger verhaftet, dem seine Klagen über den staatlichen Antisemitismus und Verbindungen zum „Jüdischen Antifaschistischen Komitee“ (JAK) vorgeworfen wurden. Er starb in Haft, nachdem der Ermittler Michail Rjumin versucht hatte, ihm Aussagen über eine Fehlbehandlung des 1945 gestorbenen Propagandachefs Alexander Schtscherbakow abzupressen. Im Juli 1951 denunzierte Rjumin den Staatssicherheitsminister Wiktor Abakumow, der Ermittlungsergebnisse gegen Etinger unterdrückt habe. Diese Intrige ereignete sich, während die sowjetischen Berater in der Tschechoslowakei und der DDR verstärkt auf Ermittlungen gegen „Zionisten“ drängten. Sie war wohl auch Teil des Machtkampfs von Stalins Favoriten Georgi Malenkow gegen Abakumow, dem auch Nachlässigkeit bei der Verfolgung einer angeblichen Terrororganisation jüdischer Jugendlicher vorgeworfen wurde. Er wurde verhaftet und über eine „zionistische Verschwörung“ im Ministerium verhört, zu der die meisten der verbliebenen jüdischen, aber auch einige notorisch antisemitische Ermittler gehören sollten. Rjumin betrieb nun die Verhaftungen seiner Kollegen, aber auch den unter Abakumow stockenden Fall des JAK, der im August 1952 mit Hinrichtungen der Angeklagten endete. Festnahmen von über 200 Vertretern der assimilierten jüdischen Kulturprominenz, deren Namen Rjumin aus den JAK-Verhören zusammenstellte, genehmigte Stalin nicht. Der gesundheitlich angeschlagene Diktator entwickelte 1952 das finale Konzept der aufzudeckenden Verschwörung, in deren Mittelpunkt der medizinische Apparat stand – über „Zionisten“ oder über Leningrader „Verräter“ durch den amerikanischen bzw. britischen Geheimdienst gesteuert. Die Aussage Timaschuks wurde aus dem Archiv geholt, somit nicht nur die „jüdische“ Spur verfolgt: Angeblich war auch ein Vertreter der Leningrader Parteiführung für das Ignorieren der Anzeige verantwortlich. Bis November 1952 wurden zunächst vier nichtjüdische Ärzte festgenommen. Dann wurde nach der Verhaftung von Miron Wowsi, Cousin des JAK-Vertreters Solomon Michoels, die antijüdische Komponente forciert und so die Erreichung des Hauptziels – die Präsentation einer internationalen Verschwörung – erleichtert. Insgesamt wurden 13 jüdische und 15 nichtjüdische Ärzte verhaftet.
Verschwörung der Kremlärzte
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Ende 1952 forderte Stalin mit massiven Drohungen gegen die Sicherheitsleute die Entlarvung der „Schädlinge“ und ihrer Hintermänner. Er erklärte dem ZK-Präsidium, alle jüdischen Nationalisten – von denen es viele unter den Ärzten gebe – seien USAgenten. Sie fühlten sich den USA verpflichtet, da sie glaubten, dort habe ein Jude ungehindert Erfolg. Parallel ging es Stalin darum, den vermeintlich teils verweichlichten und selbstzufriedenen, teils von Verschwörern unterwanderten Sicherheitsapparat zu säubern. Dazu war ein Geheimverfahren vorgesehen, während der „Ärztefall“ plakativ in den Vordergrund gerückt wurde – das erste Mal, dass in der Nachkriegszeit eine angebliche Verschwörung publik gemacht wurde. Die der TASS-Meldung folgenden, von antisemitischen Klischees durchsetzten Presseartikel wurden in der Bevölkerung als Ankündigung staatlichen Terrors wie 1937/38 wahrgenommen, aber auch als offene Wendung gegen die Juden. Antisemitische Flugblätter kursierten, Gerüchte breiteten sich aus: Es werde einen Prozess mit öffentlicher Hinrichtung der Ärzte geben, die empörte Öffentlichkeit werde Rache an den Juden nehmen – worauf diese zu ihrem Schutz nach Sibirien deportiert würden. Angeblich waren Schriften zur Rechtfertigung dieser Maßnahme gedruckt, allerdings ist bis heute kein Exemplar hiervon gefunden worden, ebenso fehlen Akten über Prozess- oder Deportationsvorbereitungen. Lager, die im Februar 1953 errichtet werden sollten, waren nicht für „jüdische Nationalisten“, sondern für Ausländer vorgesehen. Vereinzelte Zeugenaussagen über Deportationspläne sind nicht sehr glaubwürdig; in den Memoiren hoher sowjetischer Politiker finden sich keine überzeugenden Hinweise. Es ist keine abwegige Idee, dass eine Deportation geplant worden sein könnte: Derartige Straf- oder Präventivaktionen gegen als illoyal eingestufte Nationalitäten hatte es mehrfach gegeben. In Verhören machte Rjumin entsprechende Drohungen; er könnte von Diskussionen im Sicherheitsapparat oder Anweisungen Stalins inspiriert gewesen sein – allerdings verlor auch er im November 1952 das Vertrauen des Diktators, da er keine Geständnisse lieferte. Als Beleg galt lange Zeit ein Brief, den jüdische Prominente im Februar 1953 unterschreiben sollten, in dem um die Deportation als „Schutzmaßnahme“ gebeten worden sein soll. Tatsächlich gab es mehrere Briefentwürfe, aber in keinem der in den Archiven erhaltenen Texte geht es um eine Deportation. Unterschriftsverweigerungen und eine Eingabe Ilja Ehrenburgs scheinen Stalin überzeugt zu haben, dass der Text wie das Haftbarmachen aller Juden klang. Stalin war für das Argument der Wirkung vor der Öffentlichkeit im Westen empfänglich. Dass Ehrenburg Ende Januar 1953 der Stalin-Friedenspreis überreicht wurde, war kein Zufall. So ließ Stalin eine zweite Fassung des Briefs aufsetzen, in der zwischen „imperialistischen Zionisten“ und friedlichen jüdischen Werktätigen deutlicher unterschieden wurde. Auch wenn die geplante Massendeportation wohl ein Mythos ist: Terrormaßnahmen mit antijüdischer Tendenz wären bei Stalins Weiterleben sicher erfolgt, hätten sich aber nicht gegen alle Juden und auch nicht nur gegen Juden gerichtet. Beides hätte dem totalitären Postulat der Wachsamkeit gegen eine allumfassende Verschwörung widersprochen. Während im Februar 1953 Verhöre und Verhaftungen fortgesetzt wurden, verstummte die Pressekampagne weitgehend. Dies hat zur Deutung geführt, Stalin habe dies als Signal zur Eindämmung des offenen Antisemitismus veranlasst. Weniger plausibel ist die These einer tatsächlichen Verschwörung – von Politikern, die sich durch die massiven Vorwürfe gegen den Apparat oder wegen ihrer privaten Verbindungen
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Vertreibung der Juden aus England (1290)
mit Juden bedroht sahen. Einen Monat nach Stalins Tod (5. März 1953) wurden die Ärzte rehabilitiert, viele an ihrer Verfolgung Beteiligte wurden verhaftet und hingerichtet. Da die bei ihren Verhören entstandenen Protokolle um alles bereinigt sein dürften, was Stalins Nachfolger wie etwa Malenkow belastete, bleiben Zweifel, ob die Vorgänge jemals vollständig zu rekonstruieren sind.
Literatur
Matthias Vetter
Jonathan Brent, Vladimir Naumov, Stalin’s Last Crime: The Plot Against the Jewish Doctors 1948–1953, New York 2003. Gennadij Kostyrčenko, Stalin protiv „kosmopolitov“. Vlast’ i evrejskaja intelligencija v SSSR [Stalin gegen die „Kosmopoliten“. Die Macht und die jüdische Intelligenz in der UdSSR], Moskva 2009. Leonid Luks (Hrsg.), Der Spätstalinismus und die „Jüdische Frage“, Köln, Weimar, Berlin 1998. Samson Madievski, 1953: La déportation des juifs soviétiques était-elle programmée? in: Cahiers du monde russe 41 (2000), S. 561–568. Žores Medvedv, Stalin i evrejskaja problema. Novyj analiz [Stalin und das jüdische Problem. Neue Analyse], Moskau 2003.
Vertreibung der Juden aus England (1290) England unter Eduard I. (1272–1307) war der erste Staat in Europa, der alle Juden vertrieb; betroffen waren ca. 16.000 Personen. Die Juden kamen mit der normannischen Eroberung 1066 nach England und fungierten als Kapitalbeschaffer für Krone und Adel. Daher standen sie unter dem Schutz der Könige und wurden von ihnen privilegiert. Ihre Gemeinden besaßen innere Autonomie und eigene Rechtsprechung, Juden konnten ihren Wohnort frei wählen. Auch war ihnen der Geldverleih gegen Zinsen erlaubt, der christlichen Engländern verboten war; an den Gewinnen partizipierte die Krone durch Steuern und Sonderabgaben. Damit hatten die meist wohlhabenden Juden in der christlichen Feudalgesellschaft einen zwar festen, doch isolierten Platz. Die englische Gesellschaft war äußerst judenfeindlich. Die Juden kamen im Gefolge der Eroberer und sprachen französisch, ihre Privilegien und ihr relativer Wohlstand erregten Anstoß, dazu kamen Konflikte mit Schuldnern. Auf religiösem Gebiet manifestierte sich die Judenfeindschaft in Schmähungen des Talmud ( → Talmudhetze). 1144, 1168, 1181, 1192, 1232, 1235, 1244, 1255, 1257, 1276 und 1279 wurden Ritualmordbeschuldigungen erhoben; zahlreiche Juden fielen Prozessen und Gewaltaktionen zum Opfer. Zu Beginn der Herrschaft Richards I. kam es 1189 bis 1191 zu Pogromen und Vertreibungen. Die Lage der Juden verschlechterte sich im 13. Jahrhundert, als die Verbreitung des italienischen Bankwesens ihre Bedeutung als Kapitalgeber minderte. Nun wurden ihnen häufig Sondersteuern auferlegt; mit der Schmälerung ihres Wohlstands verloren sie für die Krone weiter an Wichtigkeit. Der Neubau von Synagogen wurde 1253 untersagt, Juden durften nur noch dort siedeln, wo es schon jüdische Gemeinden gab. Ihnen wurde verboten, Kirchen zu betreten und christliche Bedienstete zu halten, sexuelle Kontakte mit Christen wurden unter Strafe gestellt. Dazu kamen weitere Übergriffe
Vertreibung der Juden aus England (1290)
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und lokale Vertreibungen; 1264 plünderte Simon de Montfort mit Londoner Bürgern im Kampf gegen den König die dortige Gemeinde. Edward I., der als Jugendlicher 1255 den Ritualmordprozess von Lincoln verfolgt hatte, pflegte ein prekäres Verhältnis zu den Juden. 1272 schenkte er die Londoner Synagoge einem Kloster. 1275 erlaubte er der Königinmutter Eleonore, die Juden von ihren Ländereien zu vertreiben; andere lokale Vertreibungen wurden gleichfalls geduldet. 1275 erließ er ein Judenstatut, das den Juden befahl, den Geldverleih innerhalb von 15 Jahren zugunsten von Handel, Handwerk oder Landwirtschaft aufzugeben. Anscheinend gelang es vielen Juden danach, sich im Woll- und Getreidehandel zu etablieren; jedoch blieb ihre Ablehnung bestehen. Als die Dominikaner nach der spektakulären Konversion ihres Bruders Robert von Reading zum Judentum 1275 die Juden der Münzbeschneidung beschuldigten, wurden 1278/79 neben vier Christen 267 Juden hingerichtet. 1286 befahl der König nach einer päpstlichen Bulle den Juden, gelbe Abzeichen zu tragen; ihre Familienoberhäupter wurden verhaftet, einige sogar hingerichtet. 1287 vertrieb Edward die Juden aus der von ihm beherrschten französischen Gascogne; den englischen Juden erlegte er eine Sondersteuer von 12.000 Pfund Sterling auf. Obwohl durch Massenverhaftungen unter Druck gesetzt, konnten die Juden nur 4.023 Pfund aufbringen. Darauf überschrieb Edward einen Teil der Schulden seiner christlichen Untertanen bei den Juden auf sich, wobei er auf Zinsen verzichtete. Am 18. Juli 1290 befahl Edward, die Juden hätten bei Androhung der Todesstrafe unter freiem Geleit bei Mitnahme ihres beweglichen Besitzes England bis zum 1. November zu verlassen, da sie entgegen dem Statut von 1275 weiter Wucher betrieben hätten. Immobilien und Schuldscheine aus jüdischem Besitz zog der König an sich, zugleich erhob das Parlament eine neue Sondersteuer von den Juden. Ein kleiner Teil der Juden fiel Übergriffen von Bevölkerung und Kaufmannschaft zum Opfer; die Täter wurden verurteilt. Zeitgenössische Chroniken nennen verschiedene Gründe für die Vertreibung: Gesetzesbrüche wie Wucher und verbotene Sexualbeziehungen, Vergehen gegen den christlichen Glauben, die in allen Ständen bis zur Königinmutter die Ressentiments verstärkten, den Konkurrenzneid englischer Kaufleute, die Feindschaft hochadeliger Schuldner. Bemerkt wurde auch die Rechtsförmigkeit der Vertreibung, die den Juden einen Rest an königlichem Schutz ließ. Moderne Deutungen sehen die Vertreibung im Zusammenhang mit Herrschaftskonflikten, in denen die Krone unter Druck geriet. Eine Option der Könige war es, sich auf Kosten der Juden politisch zu profilieren und finanziell zu sanieren; so ließ der hoch verschuldete Edward die Juden im Zuge von Reformen zur Stärkung der Krone schließlich fallen und erhielt für die Vertreibung Zahlungen von Adel und Klerus. 1303 variierte er das traditionelle Muster der Wirtschaftspolitik, indem er christlichen Kaufleuten aus dem Ausland Privilegien verlieh und die Zölle erhöhte, um der Krone neue Einnahmen zu sichern. Anders als die Juden mussten die christlichen Kaufleute nie um Gut und Blut fürchten. Die Ansiedlung von Juden in England wurde offiziell erst wieder 1656 unter Cromwell gestattet.
Ralf Schäfer
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Vertreibung der Juden aus Frankreich (14. Jahrhundert)
Literatur
Gerd Mentgen, Die Vertreibung der Juden aus England und Frankreich im Mittelalter, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 7 (1997), 1, S. 11–54. Robin R. Mundill, Medieval Anglo-Jewry: Expulsion an Exodus, in: Friedhelm Burgard (Hrsg.), Judenvertreibungen in Mittelalter und früher Neuzeit, Hannover 1999, S. 75–95. Cecil Roth, A History of the Jews in England, Oxford 1964.
Vertreibung der Juden aus Frankreich (14. Jahrhundert) Bereits 1306 verbannte Philipp IV. (der Schöne) die Juden Frankreichs. Ihm ging es um die Konsolidierung der nach dem Hundertjährigen Krieg zerrütteten Staatsfinanzen, und er glaubte – ganz dem Stereotyp des „reichen Juden“ folgend –, sich mit ihrer Vertreibung an ihrer Habe bereichern zu können. Mit der Verhaftung aller Juden am 22. Juli 1306 wurde ihnen das Urteil ihrer Verbannung verkündet. Die Juden hatten Frankreich binnen eines Monats nur mit ihren Kleidern und höchstens 12 Sous pro Kopf zu verlassen. Sämtliches sonstiges Eigentum war konfisziert und wurde später versteigert. Philipp nutzte die Vorurteile gegen die Minderheit primär um seine Kassen aufzufüllen und nicht aufgrund stark antijüdischer Einstellungen. Dies belegt auch die Tatsache, dass er sich selbst zum Schuldeneintreiber erklärte und die Christen zwang, ihre Schulden bei Juden unbedingt zurückzuzahlen, damit er auch an dieses Geld kommen konnte. Die kostbarsten Schätze, die man in den jüdischen Häusern fand, standen dem König zu. Jedem Christen, der (verstecktes) jüdisches Eigentum fand, gewährte er ein Fünftel des Wertes als „Finderlohn“. Die Vertreibung der Juden erwies sich jedoch als wirtschaftlich ruinös, wie der Historiker Siméon Luce in der „Revue des études juives“ feststellte: „Mit seinem Schlag gegen die Juden trocknete Philipp der Schöne [...] eine der fruchtbarsten Quellen der finanziellen, wirtschaftlichen und industriellen Prosperität seines Königreiches aus.“ Wie viele Juden das Herrschaftsgebiet Philipps verlassen mussten, ist nicht nachweisbar. Die Einsicht in wirtschaftliche Notwendigkeiten, vor allem aber die Aussicht darauf, durch hohe Juden-Steuern mehr Geld in die Staatskasse zu bekommen, veranlassten Philipps Sohn und Nachfolger Ludwig X. (der Zänker) dazu, die Juden zurückzuholen: Schon 1315 konnten sie – zunächst für zwölf Jahre – an die Orte zurückkehren, aus denen sie vertrieben worden waren. Aber nur wenige folgten diesem zweifelhaften Angebot. 1320, im sogenannten Hirtenkreuzzug, richteten Christen furchtbare Massaker unter den Juden Südwestfrankreichs an. Verantwortlich dafür wurden freilich die Juden selbst gemacht, denn ihre bloße Gegenwart hätte die Massaker provoziert. 1323 wurden sie erneut vertrieben. Viele Juden flohen (erneut) in das Elsass (und nach Lothringen), wo 1337 in Colmar erste Judenverfolgungen begannen, die ihren Höhepunkt in den Pogromen von Straßburg 1349 fanden. Die Juden, die in die Dauphiné (Südwestfrankreich) geflohen waren, hatten mehr Glück: Sie wurden auch nach 1349 nicht vertrieben, als das Gebiet an die französische Krone fiel. Ab 1360 durften Juden wieder offiziell unter dem Schutz des Königs in Frankreich leben. Am 17. September 1394 ordnete König Karl VI. die erneute Vertreibung aller Juden aus Frankreich an. Zur Begründung nannte er vermeintliche Exzesse und Übergriffe
Vertreibung der Juden aus Spanien (1492)
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von Juden auf Christen, deren Ausmaß nicht länger toleriert werden könne. Es sollte die endgültige Vertreibung der Juden aus Frankreich werden. Der König, dessen Wahnsinn 1392 offenbar geworden war und der unter dem beherrschenden Einfluss seiner Gattin stand, erreichte jedoch nur noch einige Hundert Juden, da die jüdische Gemeinde Frankreichs durch die das ganze 14. Jahrhundert dauernden Verfolgungen und Vertreibungen nur noch sehr klein war. Schon aufgrund dieser Tatsache war die Begründung für ihre Vertreibung absurd. Tatsächlich ging es nur noch um ein Ausleben antijüdischer Hassgefühle. Immerhin durften die Juden ihr Eigentum verkaufen und hatten bis Dezember 1395 Zeit, das Land zu verlassen.
Literatur
Bjoern Weigel
Esther Benbassa, Histoire des Juifs de France, 2. aktualisierte Auflage, Paris 2000. Roger Kohn, L’expulsion des Juifs de France en 1394: les chemins de l’exil et les refuges, in: Archives juives 28 (1995), 1, S. 76–77.
Vertreibung der Juden aus Spanien (1492) Ab 1416 nahmen die Monarchen von Kastilien und Aragón die Schutzpolitik gegenüber den jüdischen Gemeinden wieder auf; diese waren aus der letzten Verfolgungswelle ziemlich dezimiert hervorgegangen. Die antijüdische Gewalt ließ nach, doch wurden die Conversos [Konvertiten, Neuchristen] neuen Verfolgungen ausgesetzt, bei denen vor allem die Oligarchien und die einfache städtische Bevölkerung sowie der niedere Klerus die Hauptrolle spielten. Sie forderten die Diskriminierung der Neuchristen (durch die „limpieza de sangre“ → Blutreinheitsgesetze) und ihre Verfolgung durch die Inquisition, weil sie beschuldigt wurden, insgeheim dem jüdischen Glauben anzuhängen. Als die Katholischen Könige Ferdinand und Isabella den Thron bestiegen, behielten sie die traditionelle Schutzpolitik gegenüber den Juden bei, doch billigten sie 1480 deren vollständige Einschließung in den jüdischen Vierteln sowie andere diskriminierende Maßnahmen. Im gleichen Jahr riefen sie das Inquisitionstribunal ins Leben, das ihrer direkten Kontrolle unterstand und die blutige Verfolgung von Konvertiten einleitete, die der Ketzerei bezichtigt wurden. Die Inquisition war es dann, die Druck auf die Monarchen ausübte, damit sie die Juden vertrieben, diese beschuldigend, dass sie die Konvertiten dazu ermunterten, insgeheim den jüdischen Glauben zu praktizieren. Aus diesem Grunde ordneten die Könige 1483 die Vertreibung der Juden aus Andalusien an. Im Jahre 1491 verdoppelte die Inquisition ihren Druck, als sie gegen eine Gruppe von Juden und Konvertiten vorging und sie hinrichtete; durch Folter erpresst, hatten sie gestanden, einen rituellen Opfermord an einem christlichen Kind begangen zu haben. Das Urteil wurde in allen Reichen verkündet. Wenig später, nach der Wiedereroberung des maurischen Königreichs von Granada, verfügten die Könige am 31. März 1492 auf Ersuchen des Großinquisitors Torquemada die Vertreibung aller Juden aus ihren Reichen. Das Generaledikt rechtfertigte die Vertreibung durch die Notwendigkeit der „Ausrottung“ der Ketzerei der Konvertiten. Das von König Ferdinand für die Krone von Aragón unterzeichnete Edikt führte zusätzlich mehrere der mittelalterlichen Vorwürfe gegen die Juden auf. Darin wurden sie
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als „ansteckende Lepra“ bezeichnet. Ferner behauptete diese Fassung, sie seien wegen des Gottesmords „ewiger selbstverschuldeter Knechtschaft unterworfen“, sie ruinierten die Christen mit „unerträglichen Wucherzinsen“ und betrieben im Bund mit dem Teufel eine „diabolische und perfide Verleitung“ der Konvertiten. Die Juden sahen sich gezwungen, ihren Besitz zu verschleudern, sie durften weder Gold, Silber noch Edelsteine mit sich nehmen. Ihr gemeinschaftliches Vermögen ging auf die Krone über. Die Könige hatten einen massenhaften Übertritt zum Christentum erwartet, der sich so nicht ergab. Viele wurden während des Exodus versklavt, ermordet oder fielen Hunger und Epidemien zum Opfer. In den darauf folgenden Jahren kehrten mehrere tausend zurück und versuchte, ihren zurückgelassenen Besitz mithilfe der Krone wiederzubekommen. Die Zahl der Vertriebenen schwankte zwischen 70.000 und 100.000, von denen die Mehrheit im Exil verblieb; sie bildeten die sephardischen Gemeinden entlang des ganzen Mittelmeeres. Mit ihrem Edikt schlossen sich die Katholischen Könige früheren (England, Frankreich) und zeitgenössischen (Parma, Mailand, Provence) Vertreibungen an, auch wenn keine von ihnen so folgenschwer und dauerhaft war wie die Vertreibung aus Spanien. Auch die Zwangskonversion der portugiesischen Juden (1497) und die Vertreibung der Juden aus Navarra (1498) sind auf den Druck von Ferdinand und Isabella zurückzuführen. Ihre Entscheidung wurde durch den Umstand beeinflusst, dass die jüdischen Gemeinden nicht mehr die wirtschaftliche und steuerliche Bedeutung früherer Jahrhunderte hatten. Mit der religiösen Homogenität wünschten die Monarchen, die Macht der Krone zu stärken. So erklärt sich, dass sie das jahrhundertelange Zusammenleben von Christen, Juden und Muslimen zunichte machten.
Gonzalo Álvarez Chillida
Literatur
Übersetzt aus dem Spanischen von Hans Huber Abendroth
Ángel Alcalá (Hrsg.), Judíos, sefarditas y conversos. La expulsión de 1492 y sus consecuencias, Valladolid 1995. Miguel Ángel Motis Dolader, La expulsión de los judíos del Reino de Aragón, 2 Bände, Zaragoza 1990. Joseph Pérez, Historia de una tragedia. La expulsión de los judíos de España, Barcelona 1993. Luis Suárez Fernández, La expulsión de los judíos de España, Madrid 1991.
Vertreibung der Juden aus Thrakien (1934) Ende Juni 1934 erfolgten in Edirne und anderen Städten der Provinz Thrakien im europäischen Teil der Türkei sowie in Çanakkale Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Mitglieder der jüdischen Minderheit wurden misshandelt, Häuser und Geschäfte geplündert. Vereinzelt wurde zu einem allgemeinen Boykott des Gewerbes in jüdischer Hand aufgerufen, der auch nach den unmittelbaren Unruhen anhielt. Bereits wenige Tage später war ein bedeutender Teil der jüdischen Bevölkerung Thrakiens – laut Regierungsangaben 3.000 der 13.000 Personen, inoffizielle Quellen lassen den Anteil deutlich höher erscheinen – nach Istanbul geflohen. Die meisten von ihnen hatten ihren gesamten Besitz verloren oder ihn unter Wert verkaufen müssen. Wegen der
Volkspredigten im Mittelalter
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anhaltenden antijüdischen Stimmung in der Region kehrten nur wenige der Flüchtlinge zurück. Viele thrakische Juden emigrierten. In den Monaten vor diesen Ereignissen waren in zwei nationalistischen Zeitungen mehrere antisemitische Artikel veröffentlicht worden. Im Rahmen der allgemeinen Kampagne zur Türkifizierung der Wirtschaft und des Kulturlebens hatte besonders der Autor Nihal Atsız, inspiriert vom italienischen und deutschen Faschismus, das Augenmerk auf die jüdische Minderheit gerichtet, der er und andere Kolumnisten mangelnden Patriotismus und die Dominanz des Wirtschaftslebens vorwarfen. Neben diesem antisemitischen Gedankengut, das sich in den Organisationen der extremen nationalistischen Rechten verbreitet hatte, muss auch dem Staat Mitverantwortung zugeschrieben werden. Polizeischutz wurde den Juden in manchen Städten gar nicht oder nur unzureichend gewährt, andernorts mit der Aufforderung verbunden, die Stadt zu verlassen. In Kırklareli wurden die Polizeichefs der persönlichen Bereicherung durch Plündergut überführt. Wahrscheinlich kamen die Aktionen gegen die jüdische Minderheit in Thrakien einer Umsiedlungskampagne zuvor (oder waren ein außer Kontrolle geratener Teil dieser Kampagne), die die strategische Grenzregion von einer Bevölkerung, deren Loyalität in Zweifel gezogen wurde, befreien sollte. Eine gesetzliche Grundlage hierfür wurde durch das Ansiedlungsgesetz vom 21. Juni 1934 geschaffen. Am selben Tag als das Gesetz, das gleichzeitig auch gegen die Kurden im Südosten des Landes gerichtet war, im Gesetzblatt verkündet wurde, begannen die Übergriffe in Çanakkale. Der für die Umsiedlung zuständige Generalinspektor für Thrakien İbrahim Tali Öngören hatte sich zuvor für das Zurückdrängen der jüdischen Präsenz in der Region ausgesprochen. Nach der Vertreibung verurteilte Ministerpräsident İsmet İnönü die Vorfälle und ordnete eine Untersuchung an. Es kam vereinzelt zu straf- und disziplinarrechtlichen Konsequenzen.
Literatur
Malte Fuhrmann, Florian Riedler
Rıfat Bali, 1934 Trakya Olayları, Istanbul 2008. Corry Guttstadt, Die Türkei, die Juden und der Holocaust, Berlin 2008, S. 186–93. Hatice Bayraktar, The Anti-Jewish Pogrom in Eastern Thrace in 1934: New Evidence for the Responsibility of the Turkish government‘, in: Patterns of Prejudice 40 (2006), 2, S. 95– 111.
Verwerfungstheorie → Zweites Vatikanisches Konzil Viertes Laterankonzil (1215) → Laterankonzil 1215
Volkspredigten im Mittelalter Die Volkspredigt als „erstes meinungsbildendes Massenmedium der mittelalterlichen Öffentlichkeit“ (Schulze) war in besonderem Maße geeignet, Judenfeindschaft zu verbreiten und zu intensivieren. Die Berücksichtigung des kulturellen Milieus legitimierte eine antijüdische Agitation zur Erreichung des Zieles (Auslegung und Verkündigung des Wortes Gottes; Unterweisung in zentralen christlichen Lehren). Die volksnahe Erklärung der Bibel ermöglichte eine illustrative Ausgestaltung antijüdischer Topoi (Juden töteten die Propheten, verfolgten die Apostel und seien auch Schuld am Tod Jesu;
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Blutruf in Mt 27,25; Verstocktheit gegenüber Gottes Willen). Zunehmend ging es in den Predigten darum, das Judentum als die Opposition zum Christentum darzustellen. Thematisch handelten die Predigten daher nicht nur von den angeblich schlechten Eigenschaften der Juden, wie etwa Geiz, Wucher, Unsittlichkeit oder Verstocktheit bezüglich der Heilsgeschichte und der Messianität Jesu, sondern sie nahmen auch extreme judenfeindliche Verleumdungen wie etwa Brunnenvergiftung, Ritualmordbeschuldigung, Hostien- und Bilderfrevel auf. Mit den rhetorischen Möglichkeiten konnten diese Legenden als Fakten geschildert und Juden so als gefährliche, menschenfeindliche Personen dargestellt werden. Der häufige Vorwurf des Hostienfrevels als angebliche jüdische Verhöhnung und Marter des Leibes Christi konnte als Mittel der Glaubensunterweisung ein neues Eucharistieverständnis bei Christen fördern, verstärkte aber zugleich das Motiv der christenfeindlichen Juden als Feindschaft gegen Christus selbst. Prediger wie etwa Giordano da Pisa (1260–1311) bedienten damit bewusst die Volksfrömmigkeit ihrer Zeit, um ein feindliches bis dämonisches Bild des Judentums zu prägen. Die Exempla-Literatur des Mittelalters kann die Inhalte der Volkspredigten veranschaulichen. Exempla sind erbauliche und belehrende Wundererzählungen, die auch antijüdische Legenden aufgenommen haben. Sie sind in Sammlungen, wie etwa dem „Dialogus miraculorum“ des Caesarius von Heisterbach (ca. 1180–1240) oder den „Historiae memorabiles“ des Rudolf von Schlettstadt, tradiert worden. Durch die Verwendung der Exempla in Predigten wurden antijüdische Motive narrativ aufbereitet und den jeweiligen Gegebenheiten angepasst. Durch ihre immer wiederkehrenden Themen und Motive hatten die Volksprediger großen Anteil an der Ausbildung und Verfestigung von antijüdischen Stereotypen (blind, verstockt, hartherzig, gottlos, blasphemisch, grausam, verdorben, hochmütig, heuchlerisch, falsch). Durch die Massenerregung, die diese Predigten verursachen konnten, waren sie in vielen Fällen für die Gewaltausbrüche gegen Juden verantwortlich. Sowohl spontane Pogrome einzelner christlicher Gruppen als auch gezielte obrigkeitliche Aktionen konnten die Folge der Predigten sein, wobei im Einzelfall zu untersuchen ist, ob hier nicht von vornherein die antijüdischen Hetzreden diesem Ziel dienten. Neben der Pest haben vor allem die Kreuzzüge Volksprediger hervorgebracht, die zu aggressivem Judenhass anstifteten. So sah sich etwa Bernhard von Clairvaux (1090– 1153), der selbst antijüdische Predigten hielt, genötigt, gegen seinen Mitbruder Radulf vorzugehen, der im Zuge des Zweiten Kreuzzuges zum Mord an Juden in Frankreich und Deutschland aufgerufen hatte. Eine eigene Form dieser Predigten liegt vor, wenn sie sich auch bzw. ausschließlich als Bekehrungspredigten an jüdische Zuhörer richteten. Besondere Bedeutung kommt dabei den Zwangspredigten zu, nach denen in Zusammenarbeit von geistlicher und weltlicher Obrigkeit Juden unter Androhung von Strafe gezwungen wurden, christliche Predigten anzuhören. Den Predigern wurde in mehreren Fällen die Erlaubnis erteilt, diese Predigten am Sabbat in der Synagoge abzuhalten. Es kam dabei vor, dass die Juden verpflichtet wurden, diese Predigten schweigend anzuhören. Als Instrument der Judenmission stehen sie in einem Zusammenhang mit den praktizierten Zwangstaufen.
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In Spanien waren die Zwangspredigten am frühesten und weitesten verbreitet. Jakob I. von Aragón (1208–1276) befahl Juden 1242, die Predigten anzuhören. Unterstützte bereits Innozenz IV. (1243–1254) diese Maßnahme, wurde 1278 den Bettelorden von Nikolaus III. (1277–1280) in seinem Breve „Vineam Sorec“ offiziell die Judenpredigt und Judenmission übertragen. Der Gegenpapst Benedikt XIII. machte sich während seiner Amtszeit (1394–1423) die Durchsetzung der Zwangspredigten zur Aufgabe. 1415 gab er in seiner Bulle „Etsi doctoris“ erstmals genaue Anweisungen, wie diese Predigten aussehen sollten. Sie hatten die Messianität Jesu und die Irrtümer des Judentums nachzuweisen und sollten festhalten, dass die Zerstörung des Tempels von Jesus vorausgesagt worden und dass die Diaspora eine ewige göttliche Strafe sei. Sein Beichtvater, der dominikanische Bußund Wanderprediger Vinzenz Ferrer (1350–1419), arbeitete mit der weltlichen Macht zusammen, um durch sie die Juden zu zwingen, seine Predigten anzuhören. Das Baseler Konzil folgte der Linie Benedikts und erneuerte 1434 das Gebot der Zwangspredigten, mahnte allerdings zur Milde bei der Durchführung. Dass die Zwangspredigten Gewalt erzeugten, zeigt sich daran, dass trotz prinzipieller Zustimmung sowohl weltliche Herrscher als auch die Päpste seit dem 14. Jahrhundert die Predigten mehrfach verboten, da sie zur Ermordung von Juden und zur Zerstörung ihres Eigentums führten. Allerdings verordnete noch Gregor XIII. (1572–1585) 1584 in seiner Bulle „Sancta mater ecclesia“ für die Juden des gesamten Kirchenstaats den Besuch von Zwangspredigten am Sabbat. Christen, die Juden an der Teilnahme hinderten, verfielen der Exkommunikation. Die Bulle wünschte kluge Prediger, die nach Möglichkeit Hebräisch konnten und überzeugende Beweise für die christliche Wahrheit fanden. Zwar kam die Bulle nur selten außerhalb Roms zur Anwendung, sie blieb aber bis ins 19. Jahrhundert hinein in Kraft. Dass die Bekehrungspredigten auf jüdische Voraussetzungen eingehen konnten, zeigt sich etwa an Peter Schwarz (1435–1483), der seine Hebräischkenntnisse nutzte, indem er in seinen Judenpredigten den hebräischen Text der Bibel auslegte und an dem jüdischen Konvertiten Paulus Christiani (13. Jahrhundert), der seine Kenntnis rabbinischer Literatur nutzte. Auch wenn es antijüdische Predigten außerhalb der Bettelorden gegeben hat (z.B. Nikolaus von Dinkelsbühl, Johann Geiler von Kaysersberg), so finden sie sich innerhalb dieser Orden in signifikantem Maß. Hier mischten sich apokalyptische Vorstellungen und eine vertiefte Bußfrömmigkeit mit dem Ideal einer einheitlichen christlichen Gesellschaft, die sich durch Taufe bzw. Ausgrenzung und Verfolgung nichtchristlicher Gruppen realisieren sollte. Für den bedeutenden franziskanischen Prediger Berthold von Regensburg (1210–1272) etwa sind Juden Ungläubige, so wie Heiden und Ketzer, man habe sich vor ihnen zu schützen wie vor Dieben und Mördern. Der Talmud sei Gotteslästerung. Finden sich bei ihm auch gemäßigte Aussagen, so trug seine Popularität doch viel zur Dämonisierung der Juden bei. Durch die außergewöhnliche rhetorische Begabung von Bernhardin von Siena (1380–1444) erlebte die Predigt im Franziskanerorden eine Blütezeit. Hatte er bereits den Umgang mit Juden als Todsünde deklariert, so führte sein Schüler Johannes von Capestrano (1386–1456) in seinen Predigten die kompromisslose, ausgrenzende Agitation gegen Juden fort. Seine aggressiven Predigten führten an verschiedenen Orten zu Unruhen, Verfolgungen und Morden. An den
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Waldheim-Affäre
in dieser Predigttradition stehenden Ordensbrüdern Bernhardin von Feltre (1439– 1494) und Bernhardin von Busti (1450–1513) wird der soziale Aspekt dieser Predigten deutlich. Beide waren erbarmungslose Gegner des Geldverleihs und polemisierten heftig gegen jüdische Zinsgeschäfte (Wuchervorwurf). Wie sehr das soziale Engagement antijüdisch motiviert war, zeigt sich bei Feltre daran, dass seine Predigten zum Trienter Ritualmordprozess führten ( → Ritualmordvorwurf in Trient).
Literatur
Markus Thurau
Peter Browe, Die Judenmission im Mittelalter und die Päpste, Rom 19732. Jeremy Cohen, The Friars and the Jews. The Evolution of Medieval Anti-judaism, Ithaca, London 1982. Johannes Grabmayer, Rudolf von Schlettstadt und das aschkenasische Judentum um 1300, in: Aschkenas 4 (1994), S. 301–336. Hans-Martin Kirn, Contemptus mundi – contemptus Judaei? Nachfolgeideale und Antijudaismus in der spätmittelalterlichen Predigtliteratur, in: Berndt Hamm, Thomas Lentes (Hrsg.), Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis, Tübingen 2001, S. 147–178. Hans-Martin Kirn, Antijudaismus und spätmittelalterliche Bußfrömmigkeit: Die Predigten des Franziskaners Bernhardin von Busti (um 1450–1513), in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 108 (1997), S. 147–175. Friedrich Lotter, Die Predigt des Giordano da Pisa am Fest der „Passio imaginis Salvatoris“ 1304 in Florenz, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 6 (1996), S. 55–86. Friedrich Lotter, The Position of the Jews in Early Cistercian Exegesis and Preaching, in: Jeremy Cohen (Hrsg.), From Witness to Witchcraft. Jews and Judaism in Medieval Christian Thought, Wiesbaden 1996, S. 163–185. Miri Rubin, Gentile Tales: The Narrative Assault on Late Medieval Jews, New Haven 1999. Ursula Schulze, wan ir unheil... daz ist iwer hail. Predigten zur Judenfrage vom 12. bis 16. Jahrhundert, in: Ursula Schulze (Hrsg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen, Tübingen 2002, S. 109–133.
Waldheim-Affäre Am 4. Mai 1986 fand in Österreich die Wahl zum Amt des Bundespräsidenten statt. Die „Österreichische Volkspartei“ (ÖVP) nominierte den ehemaligen Außenminister (1968–1970) und früheren UN-Generalsekretär (1972–1981) Kurt Waldheim. Bereits am 3. Oktober 1985 fragte ein deutscher Journalist anlässlich einer Pressekonferenz nach Waldheims NS-Vergangenheit und bemerkte, dieser sei Mitglied des NS-Studentenbundes gewesen. Die erste Veröffentlichung zu Waldheims Vergangenheit erschien am 3. März 1986 im österreichischen Wochenmagazin „Profil“. In dem Artikel wurde aus Waldheims Wehrstammkarte zitiert, laut der er Mitglied der SA und des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB) war. Weiter zeigte sich, dass Waldheim nicht, wie behauptet, 1941 nach einer Verletzung an der Ostfront nach Österreich zurückgekehrt war, sondern im März 1942 zum Armeeoberkommando (später Heeresgruppe E) nach Saloniki versetzt worden war. Hier unterstand er General Alexander Löhr, der für Kriegsverbrechen verantwortlich war.
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Bereits am 4. März 1986 setzte mit einem Artikel in der „New York Times“, der sich auf Unterlagen des „World Jewish Congress“ (WJC) stützte, die internationale Berichterstattung über Waldheim ein. In einer Presseaussendung des WJC wurde betont, dass Löhr und die ihm Unterstellten von März bis Mai 1943 die Deportation von Juden beaufsichtigt hatten. Am 25. März wurden neue Dokumente vorgelegt, nach denen Waldheim Berichte unterzeichnet hatte, in denen u.a. auch von „Säuberungen“ die Rede war. Die Reaktionen auf die Veröffentlichungen in Österreich waren heftig, sie hatten auch antisemitische Untertöne. Die ÖVP sprach von einer „Verleumdungskampagne“ und einer „Schmutzkübelkampagne“ durch die SPÖ. Im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen durch den WJC wurden die „Täter“ jedoch auch in den USA ausgemacht. Dabei wurden Begriffe wie „jüdische Weltverschwörung“, „Ostküste“ und „Ostküstenmedien“ verwendet. Ein Kommentator einer Boulevardzeitung, in der auch zahlreiche antisemitische Leserbriefe publiziert wurden, verglich den WJC mit Kannibalen und griff damit auf Ritualmordklischees zurück. Auch die angebliche Unversöhnlichkeit der Juden gegenüber den Christen wurde thematisiert, diese zeige sich gerade in den Vorwürfen gegenüber Waldheim, so ein Journalist. Der damalige ÖVP-Generalsekretär Michael Graff meinte, solange es nicht bewiesen wäre, dass Waldheim mindestens sechs Juden eigenhändig erwürgt hätte, sei er jedenfalls unschuldig. Er musste daraufhin von seinem Amt zurücktreten. Waldheim selbst bestritt vehement seine Mitgliedschaft in der SA und im NSDStB und besonders jene Vorwürfe, die ihn in Verbindung mit Kriegsverbrechen brachten. Er betonte stets, er habe davon nichts gewusst. Vor allem seine Aussage „Ich habe im Krieg nichts anderes getan als hunderttausende Österreicher auch, nämlich meine Pflicht als Soldat erfüllt“ brachte das Selbstbild vieler Österreicher auf den Punkt. Waldheim erreichte in der Stichwahl am 8. Juni 1986 53,9 Prozent der Stimmen. Die direkte politische Folge war der Rücktritt des damaligen Bundeskanzlers Fred Sinowatz (SPÖ). Die neue österreichische Bundesregierung setzte eine Historikerkommission zur Untersuchung der gegen Waldheim erhobenen Vorwürfe ein. International war Waldheim weitgehend isoliert, in den Vereinigten Staaten hatte er Einreiseverbot, da er seit 27. April 1986 auf der „watch list“ des US-Justizministeriums stand. Die Waldheim-Affäre gilt in der österreichischen Geschichtsrezeption als Zäsu, wobei erwähnt sei, dass bereits die → Borodajkewycz-Affäre (1965), die Kreisky-Wiesenthal-Affäre (1975) und der Fall Frischenschlager/Reder (1985) heftige Diskussionen um das österreichische Geschichtsverständnis ausgelöst hatten. Im Zuge der Waldheim-Affäre setzte jedoch eine breite Beschäftigung mit dem Opfermythos („Österreich als erstes Opfer Hitlers“) ein. Damit stellte sich die Frage nach der Mittäterschaft von Österreichern im NS-Regime und der Rolle, die dabei Angehörige der Wehrmacht spielten (eine breite Diskussion darüber setzte allerdings erst anlässlich der sogenannten Wehrmachtsausstellung 1995 ein). In weiterer Folge wurde immer wieder vom Durchbrechen der unbewältigten Vergangenheit gesprochen; „Vergangenheitsbewältigung“ wurde zum gängigen Stichwort. Die österreichische Bevölkerung war 1986 stark polarisiert. Davon profitierte nicht zuletzt Jörg Haider, der 1986 zum Obmann der „Freiheitlichen Partei Österreichs“ (FPÖ) gewählt wurde, die seitdem zahlreiche Wahl-
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erfolge verbuchen konnte. Dies nicht zuletzt, weil Haider beanspruchte, für die „Kriegsgeneration“ zu sprechen. Erst 1991 gestand der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) die Mitschuld Österreichs an NS-Verbrechen ein und bat dafür 1993 anlässlich eines IsraelBesuchs um Verzeihung. Die Historikerkommission kam zu dem Schluss, dass Waldheims Darstellungen seiner militärischen Vergangenheit in vielen Punkten nicht im Einklang mit den Ergebnissen der Kommissionsarbeit stünden und er bemüht war, diese zu verharmlosen. Waldheim konnten keine direkten Beteiligungen an Kriegsverbrechen nachgewiesen werden, jedoch liegt die Vermutung nahe, dass er über solche informiert war.
Literatur
Christian Pape
Michael Gehler, Die Affäre Waldheim. Eine Fallstudie zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in den späten achtziger Jahren, in: Rolf Steininger, Michael Gehler (Hrsg.), Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden. Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Wien, Köln, Weimar 1997, S. 395–410. Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005, Wien 2005. Emmerich Tálos, Ernst Hanisch, Wolfgang Neugebauer, Reinhard Sieder (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000. Ruth Wodak, Peter Nowak, Johanna Pelikan, Helmut Gruber, Rudolf de Cillia, Richard Mitten (Hrsg.), „Wir sind alle unschuldige Täter!“ Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus, Frankfurt am Main 1990.
Walser-Bubis-Debatte Die Walser-Bubis-Debatte war eine in sämtlichen überregionalen deutschen Medien von Herbst 1998 bis Frühjahr 1999 geführte Auseinandersetzung um den normierenden Charakter der öffentlichen Erinnerung an die NS-Zeit. Ihr Auslöser war die Dankesrede Martin Walsers anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche. Walser beklagte darin die „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“, Auschwitz sei zur omnipräsenten „Moralkeule“ verkommen. Gegen die „Ritualisierung“ des öffentlichen Gedenkens plädierte er für die Verlagerung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in das individuelle Gewissen und damit einhergehend für „Gewissensfreiheit“. Die vom Fernsehen übertragene Rede erfuhr durch die 1.200 Festgäste, aber auch in der breiten Öffentlichkeit große Zustimmung. Gelobt wurde in zahlreichen Leserbriefen und Schreiben an den Autor vor allem ihre „befreiende Wirkung“: Was man vorher nur hinter vorgehaltener Hand habe äußern dürfen, sei nun öffentlich sagbar geworden. Diese von Walser vorformulierte „Kultur des Wegschauens“ forderte den Widerspruch des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, heraus, der zwei Tage darauf seine Rede zum 60. Jahrestag des 9. November als kritische Replik ankündigte. Walser sei ein „geistiger Brandstifter“, der den bislang latent gehaltenen Wunsch der Deutschen nach einem Schlussstrich gesellschaftsfähig gemacht habe.
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Indem Walser das Wegschauen propagiere, öffne er den politischen Diskurs für rechtsradikales Gedankengut. Die direkt nach Bubis’ Ankündigung einsetzende Kontroverse kreiste zunächst um die Zulässigkeit inkriminierter Begrifflichkeiten: Walsers „Moralkeule“ Auschwitz sei nichts anderes als die „Auschwitzkeule“ der rechtsradikalen Presse; der Autor versuche anspielungsreich und durch Begriffsverschiebungen wie der von „Schuld“ zu „Schande“, Stammtischparolen hoffähig zu machen. Die Verteidiger Walsers wiesen dagegen vor allem den Vorwurf des „latenten Antisemitismus“ kategorisch zurück, da er einen Autor treffe, der sich zeitlebens in seinen Texten mit der deutschen Schuld befasst habe; zudem spreche ein Schriftsteller mit einer anderen Sprache als ein Politiker, die Rede sei ein mehrstimmiger, literarischer Text. Zwar wurde am Rande auch darüber diskutiert, inwieweit Walsers Konzept der Innerlichkeit in Bezug auf Auschwitz angemessen sei, im Gegensatz zur Debatte um das Holocaustmahnmal in Berlin jedoch kaum über konkrete Möglichkeiten des Gedenkens. Stattdessen dominierte die in Walsers Rede behauptete „unerbittliche Entgegengesetztheit von Tätern und Opfern“ die Diskussion. Dieser Zug der Debatte wurde insbesondere durch Klaus von Dohnanyi verstärkt. Der Sohn eines deutschen Widerständlers sprach Bubis ab, als Jude verstehen zu können, worum es Walser und seinem Publikum gehe. Eine revisionistische Note erhielt von Dohnanyis Einlassung durch den Nachsatz, es „müßten sich natürlich auch die jüdischen Bürger in Deutschland fragen, ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 ‚nur‘ die Behinderten, die Homosexuellen und die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären“. Bubis warf daraufhin von Dohnanyi vor, mit dieser „bösartigen“ Frage noch expliziter geworden zu sein als Walser; über beide mutmaßte er, „‚es‘ denkt in ihnen“ antisemitisch. Trotz dieser Eskalation in der Auseinandersetzung zwischen nichtjüdischen Deutschen und Juden wurde Walsers Rede in der großen Mehrheit ihrer Besprechungen nicht als antisemitisch gewertet. Die Antisemitismusforschung ist jedoch relativ zeitnah zu anderen Ergebnissen gekommen. So erkennt Klaus Holz in der FriedenspreisRede ein eingeführtes rhetorisches Muster der Täter-Opfer-Umkehr, indem die in Walsers Rede implizit aufgeworfene Frage nach denjenigen, welche die Deutschen durch die „Vorhaltung unserer Schande“ maßregeln, nicht allen möglichen Antworten offen sei, sondern auf die Beschuldigung der Opfergruppe hinauslaufe. In eben diesem Sinne verengte Walser den Gehalt seiner Rede bei einem von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ organisierten Treffen mit Bubis, das als Höhepunkt der Debatte angesehen werden kann: Nunmehr erhob er den Vorwurf der Instrumentalisierung von Auschwitz, der „Dauerpräsentation unserer Schande“ und eines „grausamen Erinnerungsdienst[es]“ nicht mehr gegen ungenannte intellektuelle „Meinungssoldaten“ und „die Medien“, sondern gegen die Opfergruppe selbst. Zu den skandalträchtigsten Äußerungen Walsers in diesem Gespräch vom 12. Dezember 1998 gehörte zweifellos seine Selbstinszenierung als Vorreiter bundesrepublikanischer Aufarbeitung, der dem ehemaligen Lagerhäftling und später als Immobilienkaufmann in den Frankfurter Häuserkampf involvierten Bubis vorwarf: „[Ich] war in diesem Feld beschäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt.“ Auch in Bezug auf gesellschaftliches Engagement sprach Walser dem jüdischen Gegenüber jegliche Zuständigkeit ab. Wenn Bubis sich
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anlässlich rechtsradikaler Übergriffe in den Medien äußere, sei dies ohne sachliche Rechtfertigung „sofort zurückgebunden an 1933“. Damit wurde der jüdischen Minderheit nahe gelegt, sich öffentlich zurückzuhalten, wenn es um nationale Belange geht. Diese Haltung korrespondiert mit der strikten Abgrenzung eines nationalen „Wir“ in Walsers Rede, das sich über die Täterschaft des Kollektivs definiert. Jüdische Deutsche und ihre Opfererfahrung werden von diesem Konzept nationaler Identität ausgeschlossen. Das als Geste der Versöhnung geplante Treffen musste somit scheitern, obgleich Bubis den Vorwurf der geistigen Brandstiftung zurücknahm. Nach Bubis’ Tod im Sommer 1999 verebbte die ungewöhnlich stark personalisierte Walser-Bubis-Debatte. Sie war eine der heftigsten Debatten um den Umgang mit der NS-Vergangenheit mit breiter Beteiligung der Bevölkerung. Obschon die Debatte kein greifbares Ergebnis erbracht hat, hat sie zu einer Verschiebung der Toleranzen geführt. In der Hochphase der Debatte zwischen Bubis’ Rede und seinem Aufeinandertreffen mit Walser fanden vorher weitgehend kommunikationslatente antijüdische Ressentiments Eingang in die Qualitätspresse, so u.a. durch Horst Mahler im „Focus“ und Rudolf Augstein im „Spiegel“. Damit hat sich Bubis’ Sorge, Walser trage als Gewährsmann eines gemäßigten Bildungsbürgertums extremistisches Gedankengut in die gesellschaftliche Mitte, zumindest zeitweise bewahrheitet.
Literatur
Matthias N. Lorenz
Klaus Holz, Ist Walsers Rede antisemitisch? in: Kultursoziologie 8 (1999), 2, S. 189–193. Wulf D. Hund, Auf dem Unsäglichkeitsberg. Martin Walser, Ignatz Bubis und die tausend Briefe, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 44 (1999), 10, S. 1245–1254. Matthias N. Lorenz, „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser, Stuttgart, Weimar 2005. Frank Schirrmacher (Hrsg.), Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1999. Martin Walser, Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, Frankfurt am Main 1998.
Wannsee-Konferenz Die Wannsee-Konferenz bezeichnet die Staatssekretärsbesprechung zur „Endlösung der Judenfrage“ am 20. Januar 1942 im Gästehaus des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Am Großen Wannsee. Systematische Massenerschießungen im östlichen Europa durch SS- und Polizeikräfte ( → „Einsatzgruppen“) seit dem Überfall auf die Sowjetunion, die Wiederaufnahme der → Deportationen aus dem Reichsgebiet und vorbereitende Arbeiten zu Mordaktionen durch Giftgas sind Elemente einer Radikalisierung der nationalsozialistischen „Judenpolitik“ im Sommer und Herbst 1941, als deren Ziel sich immer klarer die Ermordung sämtlicher europäischer Juden abzeichnete. Mit Hinweis auf seine Beauftragung durch Hermann Göring beanspruchte Reinhard Heydrich die Federführung in der „Judenpolitik“ für das von ihm geleitete Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Zur Klärung der Kompetenzen und anderer strittiger Fragen, zur Koordination zentraler Maßnahmen und „im Interesse der Erreichung einer gleichen Auffassung bei den in Betracht kommenden Zentralinstanzen“ lud Heydrich Ende November 1941 zu einer
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Besprechung der höchstrangigen zuständigen Ministerialbeamten (zumeist Staatssekretäre) am 9. Dezember 1941 ein. Wegen der Kriegserklärung an die USA verschoben, fand die Sitzung schließlich am 20. Januar 1942 in Berlin-Wannsee statt. Dass bei dieser Gelegenheit die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen worden sei, wird zwar häufig kolportiert, entspricht aber nicht den Tatsachen. Fünfzehn Männer nahmen an der Konferenz teil. Sechs waren in ihrer Eigenschaft als SS-Führer vor Ort: Heydrich, Gestapo-Chef Heinrich Müller und der Judenreferent im Reichssicherheitshauptamt Adolf Eichmann sowie, mit Eberhard Schöngarth und Rudolf Lange, zwei SS-Führer, die in den besetzten Gebieten aktiv am Judenmord beteiligt waren, außerdem der Chef des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes Otto Hofmann. Alfred Meyer und Georg Leibbrandt vertraten das Ostministerium, Josef Bühler das „Generalgouvernement“ (besetztes polnisches Territorium). Das Auswärtige Amt wurde durch Martin Luther, das Innenministerium durch Wilhelm Stuckart, das Justizministerium durch Roland Freisler, die Vierjahresplan-Behörde durch Erich Neumann und die Reichskanzlei durch Wilhelm Kritzinger vertreten; die Partei-Kanzlei repräsentierte Gerhard Klopfer. Heydrich berichtete über die Entwicklung der Judenpolitik, welche bis Kriegsbeginn in forcierter Vertreibung bestanden hatte, und skizzierte neue Maßnahmen, die auf eine „Endlösung der Judenfrage“ in Europa zuführten. Wie das Besprechungsprotokoll erkennen lässt, machte er deutlich, dass darunter die Vernichtung aller europäischen Juden zu verstehen war – insgesamt, so Heydrich, über elf Millionen Menschen. Während gegen diesen gigantischen Massenmord von den Teilnehmern keine prinzipiellen Einwände vorgebracht wurden, gab es Abweichungen in Einzelfragen. So forderte die Vierjahresplan-Behörde, jüdische Zwangsarbeiter kriegswichtiger Betriebe nicht sofort zu deportieren. Das Auswärtige Amt schlug u.a. vor, die Deportationen aus den nordischen Staaten vorerst zurückzustellen. Bühler bat, dass mit der „Endlösung“ im Generalgouvernement begonnen werde. Größeren Raum nahmen die Beratungen über das Schicksal der „jüdischen Mischlinge“ und der „privilegierten Mischehen“ ein. Seit einigen Monaten hatten u.a. Parteikanzlei, SS, Vierjahresplan-Behörde und Ostministerium auf eine Schlechterstellung bzw. auf eine Radikalisierung des Judenbegriffs gedrängt. Demgegenüber hielt das Innenministerium an den ausgrenzenden Definitionen der → Nürnberger Rassegesetze von 1935 fest; auf der Konferenz regte Stuckart dann Sterilisierungen und Zwangsscheidungen in großem Umfange an. Die Frage wurde in Folgebesprechungen auf Referentenebene erörtert und blieb bis Kriegsende ungeklärt. Heydrichs Position, SS und RSHA seien federführend zuständig, bestätigten die Teilnehmer. Laut Protokoll seien abschließend die „verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten“ besprochen worden; Eichmann erklärte im Prozess in Jerusalem 1961, es sei „in sehr unverblümten Worten“ von „Töten und Eliminieren und Vernichten gesprochen“ worden. Die Besprechung dürfte höchstens zwei Stunden gedauert haben, anschließend war laut Einladung ein „Frühstück“ vorgesehen. Nach Eichmanns Bericht wurden auch alkoholische Getränke gereicht.
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Warenhausfrage
Obgleich auf der Konferenz keine Entscheidungen getroffen wurden, trug sie doch zur Beschleunigung und Ausdehnung der Vernichtungspolitik auf fast ganz Europa bei, die unter der unbestrittenen Federführung der SS vorangetrieben wurde. Im März 1947 wurde in Aktenbeständen des Auswärtigen Amts das Protokoll der Konferenz aufgefunden, das in Verbindung mit anderen Dokumenten für die Erforschung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wichtige Aufschlüsse gibt. Es spielte auch in verschiedenen Gerichtsverfahren eine Rolle. Nach längeren Kontroversen wurde 1992 am historischen Ort eine Gedenk- und Bildungsstätte eingerichtet. In der relativistischen und negationistischen Literatur wird die Wannsee-Konferenz regelmäßig erwähnt. Holocaustleugner machen sich Eigenheiten des Protokolls zunutze und versuchen, es als „Jahrhundertfälschung“ darzustellen. Die seriöse historische Forschung hat diese Behauptungen seit langem widerlegt.
Literatur
Gideon Botsch
Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz (Hrsg.), Die Wannsee-Konferenz und der Völkermord an den europäischen Juden. Katalog der ständigen Ausstellung, Berlin 2006. Christian Mentel, Zwischen „Jahrhundertfälschung“ und nationalsozialistischer Vision eines „Jewish revival“ – Das Protokoll der Wannsee-Konferenz in der revisionistischen Publizistik, in: Gideon Botsch, Christoph Kopke, Lars Rensmann, Julius H. Schoeps (Hrsg.), Politik des Hasses. Studien zum Antisemitismus und zur extremen Rechten, Hildesheim 2010, S. 195–210. Kurt Pätzold, Erika Schwarz, Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der Endlösung, Berlin 1992. Mark Roseman, Die Wannsee-Konferenz. Wie die Bürokratie den Holocaust organisierte, München, Berlin 2002.
Warenhausfrage Die in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geführten Debatten über Warenhäuser – die „Warenhausfrage“ – waren von Beginn an mit Antisemitismus verbunden, wobei ein Ursprung dieser Diskussionen in der Hetze gegen jüdische Hausierer zu Beginn des 19. Jahrhunderts lag. Auch wenn Warenhäuser keine „jüdische Erfindung“ darstellten, war Adolf Stoecker schließlich mit seiner ersten „Antisemiten-Rede: Unsere Forderungen an das moderne Judentum“ im September 1879 ein entscheidender Wegbereiter der „Warenhausfrage“. So erschienen ihm die Warenhäuser, von denen zwischen 1890 und 1901 etwa 200 unter größten antisemitischen Anfeindungen gegründet wurden, als ein Problem der Parteipolitik. Partiell zumindest ursprünglich wirtschaftspolitisch bedingte Forderungen gegen die Warenhäuser traten in der Folge zugunsten ausschließlich antisemitischer Agitationen gegen die teilweise jüdischen Inhaber von Warenhäusern zurück. Zahlreiche Antisemiten warnten vor einem Einkauf in einem jüdischen Warenhaus und appellierten dabei an die Moral. Die Berufung auf die Moral bildete ein Motto der Warenhausfeinde, die eine angebliche Zerstörung der Wirtschaftsmoral anprangerten.
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Bei der antisemitischen Kritik an Warenhäusern kamen am Ende des 19. Jahrhunderts religiöse, wirtschaftliche und politische Vorbehalte gegen Juden zusammen. Es wurden antikapitalistische Affekte mit dem Stereotyp des „Jüdischen“ verbunden. Die Konservativen nahmen auf Reichsebene 1892 in ihr Parteiprogramm die Forderung „Kampf dem Warenhaus“ auf und agierten gegen das Warenhaus als Inbegriff des modernen Konsums, wodurch das Warenhaus im Zentrum einer Modernisierungsdebatte stand. Im Rahmen dieser Diskussion wuchs das Bewusstsein einer Kluft zwischen jüdischer Minderheit und nichtjüdischer Mehrheit. Überhaupt war die gesamte „Warenhausfrage“ ein Element symbolischen und rituellen Handelns. Der „Zentralverband deutscher Kaufleute und Gewerbetreibender“ forderte am Ende des 19. Jahrhunderts ein Verbot des Warenhauses oder eine diese Häuser erdrosselnde Steuer. Der Verband gab den Warenhäusern die Verantwortung für die Probleme kleiner Einzelhandelsgeschäfte. Es wurden schließlich ausgehend von Bayern seit 1899/ 1900 in fast allen Ländern des Reichs besondere Steuern gegen Warenhäuser eingeführt. Diese Steuer besaß eine stark antisemitische Ausrichtung, und es zeigte sich auf parteipolitischer Ebene deutlich, dass auch das Zentrum eine treibende Kraft des Antisemitismus war. Vor dem Hintergrund, dass für Antisemiten das Wort „Warenhaus“ zu einem Synonym für „Jude“ war, stellten diese Steuern auch Ausnahmegesetze gegen jüdische Inhaber von Warenhäusern dar. Besonders scharf wurden Diskussionen über die Warenhäuser in der Weimarer Zeit geführt. Der Kampf gegen das Warenhaus bildete einen Punkt des Parteiprogramms der NSDAP von 1920. Die Nationalsozialisten riefen aus rassenantisemitischen Motiven in der Weimarer Republik zum Boykott jüdischer Warenhäuser auf. Die nationalsozialistische Presse hetzte gegen jüdische Warenhäuser und der „Stürmer“ schrieb im Oktober 1927: „Ramsch bleibt Ramsch, ob ihn Tietz, der eine oder der andere Jude anbietet.“ Die Warenhäuser galten als Ergebnis „unersättlicher jüdischer Machtgier“, „jüdischer Herrschaft“ und des „jüdischen Kapitals“, wobei die Nationalsozialisten immer wieder auf jahrzehntealte Stereotypen bei ihrer Kritik zurückgriffen. Schließlich wurde die 1919 im Rahmen der Erzbergerschen Finanzreform zunächst abgeschaffte Warenhaussteuer im Jahre 1930 im gesamten Deutschen Reich wieder eingeführt. Zu Beginn des Jahres 1932 kam es zu gewalttätigen Anschlägen auf Warenhäuser durch die Nationalsozialisten. Nach der Ernennung Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 erfolgten im März und April 1933 nationalsozialistische Boykottmaßnahmen gegen Warenhäuser. Voller Hass triumphierte daraufhin der „Völkische Beobachter“: „Eine Reihe großer jüdischer Warenhäuser ist geschlossen.“ Zum Boykott in München schrieb der „Völkische Beobachter“ am 1. April 1933: „Das Rosental, wo sich die beiden großen Ramschgeschäfte Epa und Uhlfelder befinden, war von einer dichten Menschenmenge belagert. Fast ausnahmslos verzichteten Volksgenossen, nachdem sie von den SA-Posten in höflichster Weise über die Gefährlichkeit und Niedertracht des Juden aufgeklärt wurden, auf einen Einkauf in diesen Warenhäusern.“ Ende 1934 stürmten SA-Leute das Warenhaus von Siegmund Ruschkewitz in Würzburg, das sich das SA- und NSDAP- Mitglied und der nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland prominente Unternehmer Josef Neckermann im Rahmen der „Arisierung“ 1935 aneignete. Zwischen 1933 und 1938 erfolgten die vollständige Liquidation jüdischer Warenhäuser und die Veräußerung. Die Erwer-
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ber – häufig ortsansässige Konkurrenten – erwarben die unter Zwang veräußerten Häuser in der absoluten Mehrheit der Fälle unter dem Marktwert. Eine Rückerstattung der im Nationalsozialismus entzogenen Vermögenswerte hinsichtlich der Warenhäuser erfolgte nach 1945 trotz der „Wiedergutmachung“ überwiegend nicht.
Literatur
Hannes Ludyga
Detlef Briesen, Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral. Zur Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main, New York 2001. Gudrun M. König, Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien, Köln, Weimar 2009. Hannes Ludyga, Die Rechtsstellung der Juden in Bayern zwischen 1819 und 1918. Studie im Spiegel der Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags, Berlin 2007. Uwe Spiekermann, Warenhaussteuer in Deutschland. Mittelstandsbewegung, Kapitalismus und Rechtsstaat im späten Kaiserreich, Frankfurt am Main 1994. Georg Tietz, Hermann Tietz. Geschichte einer Familie und ihrer Warenhäuser, Stuttgart 1965.
Wartburgfest Aus Anlass des vierten Jahrestages der Völkerschlacht bei Leipzig von 1813 und der Dreihundertjahrfeier des Reformationsbeginns von 1517 fand am 18. und 19. Oktober 1817 auf der Wartburg bei Eisenach das danach benannte politische Ereignis statt. Etwa 500 Studenten – was einem Achtel der damals an deutschen Universitäten Studierenden entsprach – folgten einer Einladung der Jenaer Burschenschaft „an sämtliche protestantische Universitäten Deutschlands“, um im Rahmen eines Programms aus Gottesdiensten, politischen Reden und Fackelzügen gegen die nach dem → Wiener Kongress von 1815 einsetzende Restauration in den Staaten des Deutschen Bundes und für die Bildung eines deutschen Nationalstaates mit einer einheitlichen Verfassung zu protestieren. Maßgeblich für die antisemitische Dimension des Wartburgfestes ist, was am Abend des 18. Oktober 1817 auf dem neben der Wartburg gelegenen Wartenberg geschah: die Bücherverbrennung während des „Wartenbergsfeuers“. Der Verbrennung ging ein Fackelzug voraus, der sich am frühen Abend auf dem „Markte zu Eisenach“ formierte. Der Jenaer Professor Dietrich Georg Kieser berichtete ein Jahr später: „Nachdem alles geordnet, begann der Zug […] unter Musikbegleitung, und die Anführer an der Spitze. Jeder der Burschen eine Fackel tragend und zu zwei und drei geordnet, bildete sich eine unabsehbare Reihe, welche von der Lehne des Berges sich in Schlangenlinien nach der Richtung des Weges hinaufziehend, von der Stadt aus den Anblick eines feurigen, vom Berge herabwogenden Stromes gab. Auf der Ebene des Berges angelangt […] schloss die Burschenversammlung einen großen Kreis um den hochauflodernden Flammenberg.“ Die als „Zugabe des Festes“ arrangierte Bücherverbrennung auf dem Wartenberg richtete sich vor allem gegen Autoren, die sich kritisch über die nationalistische Turnerbewegung um Friedrich Ludwig Jahn geäußert hatten oder als der Restauration nahe
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stehend angesehen wurden. Jahn selbst und einige seiner Schüler, darunter der Dichter und spätere Germanistik-Professor Hans Ferdinand Maßmann, sollen die Bücherverbrennung angeregt haben, bei der neben einem Perückenzopf, einem Korporalstock und einem Schnürleib als Symbolen der Restauration insgesamt 28 Bücher und Schriften – nicht die Originale, sondern eigens angefertigte Attrappen – unter Schmährufen den Flammen übergeben wurden. Das bekannteste unter den betroffenen Büchern war der Titel „Geschichte des deutschen Reiches, von dessen Ursprung bis zu dessen Untergange“ von Friedrich August von Kotzebue. Mit am Scheiterhaufen stand auch der junge Student Karl Ludwig Sand, der Kotzebue 1819 mit einem Dolch ermordete. Die Verbrennung des Buches „Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde“, das 1815 vom deutsch-jüdischen Schriftsteller und Publizisten Saul Ascher (1767–1822) veröffentlicht worden war, erfolgte dann unter Ausruf eines antisemitischen Feuerspruchs. Dem Bericht von Hans Ferdinand Maßmann zufolge soll der Schmähruf gegen Ascher wie folgt gelautet haben: „Wehe über die Juden, so da festhalten an ihrem Judenthum und wollen unser Volksthum und Deutschthum spotten und schmähen!“ Anhand des Begriffs „Germanomanie“ hatte Ascher in seinem Buch die sich in der deutsch-patriotischen Bewegung radikalisierenden Ressentiments gegen Juden, Franzosen und Engländer problematisiert und als geistige Wegbereiter dieser Feindbilder u. a. Friedrich Ludwig Jahn, Ernst Moritz Arndt und den Berliner Historiker Friedrich Christian Rühs kritisiert. Heinrich Heine schrieb später über das Wartburgfest: „Hier aber auf der Wartburg, krächzte die Vergangenheit ihren obskuren Rabengesang, und bei Fackellicht wurden Dummheiten gesagt und getan, die des blödsinnigsten Mittelalters würdig waren! […] Auf der Wartburg herrschte jener beschränkte Teutomanismus, der viel von Liebe und Glaube greinte, dessen Liebe aber nichts anderes war als Haß des Fremden und dessen Glaube nur in der Unvernunft bestand, und der in seiner Unwissenheit nichts Besseres zu erfinden wußte als Bücher zu verbrennen!“
Literatur
Werner Treß
Ernst Jung, Wartburgfest 1817. Aufbruch zur deutschen Einheit, Stuttgart 1991. Klaus Malettke (Hrsg.), 175 Jahre Wartburgfest. 18. Oktober 1817–18. Oktober 1992. Studien zur politischen Bedeutung und zum Zeithintergrund der Wartburgfeier, Heidelberg 1992. Theodor Verveyen, Bücherverbrennungen, Heidelberg 2000.
Wiedergutmachung Unter dem nach 1945 geprägten Sammelbegriff „Wiedergutmachung“ werden materielle Leistungen für Verfolgte des Nationalsozialismus verstanden. Dazu zählen im engeren Sinn die Rückerstattung von entzogenen Vermögensgegenständen und die Entschädigung von Schäden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit oder Vermögen. Hinzu kommen bilaterale „Globalabkommen“ mit einzelnen Nationen und andere gesetzliche und außergesetzliche Vereinbarungen. Wiedergutmachungsregelungen sind nicht Ausdruck eines linear geschaffenen Entschädigungsrechts, sondern Ergebnis von insbesondere Anfang der 1950er und in den 1990er Jahren geführten Auseinandersetzun-
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gen. Diese gehen maßgeblich auf die Initiative der Vereinigten Staaten, Israels und anderer Länder, von Nichtregierungsorganisationen und ehemaligen NS-Verfolgten zurück. Erste Entschädigungsforderungen wurden von politisch Verfolgten, von deutsch-jüdischen Emigranten und von Angehörigen des deutschen Widerstandes erhoben. Rückerstattungen durch private Besitzer standen im Vordergrund der ersten von den Westalliierten zwischen 1947 und 1949 getroffenen Wiedergutmachungsregelungen. Rückgaben staatlicher Rechtsträger wie des Deutschen Reiches oder der NSDAP wurden in Westdeutschland erst 1957 mit dem Bundesrückerstattungsgesetz geregelt. Anfang der 1950er Jahre entstanden als alliierte Vorbedingung für die politische Souveränität der Bundesrepublik verschiedene Wiedergutmachungsabkommen: Die Übernahme alliierter Nachkriegsregelungen im Überleitungsvertrag, das Bundesergänzungsgesetz und das mit Israel und der als Dachverband von 52 jüdischen Organisationen gegründeten „Conference on Jewish Material Claims against Germany“ (Claims Conference) geschlossene → Luxemburger Abkommen von 1952. Das Londoner Schuldenabkommen (1953) bezog sich auf die Tilgung der deutschen Vor- und Nachkriegsschulden. Forderungen aus dem Zweiten Weltkrieg wurden bis zum Abschluss eines Friedensvertrages vertagt, darunter auch eine Entschädigung von ausländischen Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen. In der DDR wurde – ideologisch begründet – keine Rückerstattung von jüdischem Eigentum durchgeführt. Erst Ende der 1980er Jahre zog die DDR-Staatsführung entsprechende Regelungen in Erwägung, weil sie sich davon wirtschaftliche Vorteile im Außenhandel und eine internationale politische Anerkennung versprach. Entschädigungen hatten zunächst die Form von Hilfs- und Fürsorgemaßnahmen. Ein erster Hilfsfonds für staatenlose NS-Verfolgte wurde von der Pariser Reparationskonferenz 1946 aufgelegt. 1949 trat in den Ländern der amerikanischen Zone mit dem „Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ das erste Personenschäden regelnde Entschädigungsgesetz in Kraft. Auf amerikanischen Druck beschloss das Bundeskabinett 1951 einen Entschädigungsfonds für Opfer von Menschenversuchen. Ein Drittel der Mittel ging als Einmalbeihilfe an Einzelpersonen, der Rest (erst seit 1960) als Pauschalzahlung an Jugoslawien und die ČSSR, Ungarn und insbesondere Polen. 1953 wurde das „Bundesergänzungsgesetz“ als bundeseinheitliches Entschädigungsgesetz verabschiedet, das 1956 grundlegend novelliert und dann als Bundesentschädigungsgesetz (BEG) bezeichnet wurde. Es sah Kapitalentschädigungen oder Rentenleistungen für NS-Verfolgte mit deutscher Staatsangehörigkeit oder früherem deutschen Wohnsitz vor. Ausländer konnten keine Ansprüche geltend machen. Die Kritik der westeuropäischen Staaten an dem Ausschluss von NS-Verfolgten aus ihren Ländern führte zu zwölf bilateralen „Globalabkommen“ in unterschiedlicher Höhe, die zwischen 1959 und 1964 zwischen der Bundesrepublik und Luxemburg, Norwegen und Dänemark, Griechenland, Niederlande, Frankreich und Belgien, Italien, Schweiz und Österreich sowie Großbritannien und Schweden getroffen wurden. Wiedergutmachung betraf naturgemäß vor allem Juden und politisch Verfolgte. Opfergruppen wie Zwangssterilisierte konnten erst 1980, „Asoziale“, Homosexuelle, Euthanasiegeschädigte, Justizopfer und verfolgte Straftäter erst 1988 im Rahmen des
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„Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes“ (AKG) nach Härtefallregelungen Anträge auf einmalige Beihilfen stellen. Die Opfer der NS-Militärjustiz erhielten erst 1997 die Möglichkeit, nach dem AKG Beihilfen zu beantragen. 1980 und 1981 wurden außerdem Härtefallregelungen über einmalige Beihilfen für jüdische und nicht-jüdische NSVerfolgte eingeführt, die keinerlei Zuwendungen nach den bestehenden Entschädigungsgesetzen erhalten hatten. In der DDR erhielten NS-Verfolgte zusätzliche Fürsorgeleistungen und ab 1973 eine bevorzugte medizinische Betreuung, sofern sie DDR-Bürger waren. Die in den 1960er Jahren eingerichtete „Ehrenpension“ für NS-Verfolgte enthielt unterschiedlich hohe Summen für „Opfer des Faschismus“ und die politisch bevorzugten „Kämpfer gegen den Faschismus“. Nach 1989 setzte eine zweite große Phase der Wiedergutmachung ein, die 2010 noch nicht abgeschlossen war. Das 1990 in Kraft gesetzte „Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen“ sah die Rückübertragung von während der NS-Zeit entzogenen Vermögenswerten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR vor. 1992 wurden die DDREhrenpensionen als Opferrente in Bundesrecht umgewandelt. In der DDR ausgegrenzte NS-Verfolgte konnten eine Rente beantragen, wenn sie sechs Monate in einem KZ oder zwölf Monate in einer anderen Form inhaftiert waren. Zwischen 1991 und 1998 wurden bilaterale Globalabkommen mit Polen, Weißrussland, der Russischen Förderation und der Ukraine sowie Ungarn, Rumänien, Bulgarien, der Slowakei, Albanien und den Staaten des ehemaligen Jugoslawien geschlossen. Mit den baltischen Staaten wurden „zukunftsorientierte Sachleistungen“ vereinbart, mit der Claims Conference ein Fonds für Holocaust-Überlebende in Osteuropa. Ein deutsch-tschechischer „Zukunftsfonds“ war zu dreiviertel für NS-Verfolgte bestimmt. Historisch neu waren international geführte Wiedergutmachungs-Konflikte über jüdische Bankguthaben, Raubgold und Versicherungspolicen in der Schweiz und Österreich, die durch Rechtsklagen von Holocaust-Überlebenden ausgelöst wurden. Nach der Befreiung hatten ehemalige jüdische und nicht-jüdische NS-Zwangsarbeiter versucht, in der Bundesrepublik eine Entschädigung einzuklagen. Zwischen Ende der 1940er und Ende der 1980er Jahre wurden etwa 80 zivilrechtliche Entschädigungsklagen gegen Privatfirmen angestrengt. Industrie und Bund wehrten die Klagen u.a. durch Verweis auf das Londoner Schuldenabkommen ab. Die Klage des ehemaligen Auschwitz-Häftlings Norbert Wollheim gegen die IG Farben ( → Wollheim-Prozess) führte jedoch dazu, dass zwischen 1958 und 1966 außergerichtliche Abkommen mit einzelnen Großunternehmen für jüdische NS-Zwangsarbeiter getroffen wurden. Weitere Abkommen folgten zwischen 1986 und 1998. Sammelklagen ehemaliger jüdischer NS-Zwangsarbeiter gegen in den USA expandierende deutsche Großunternehmen lösten Ende der 1990er Jahre eine Debatte aus über die Entschädigung aller NS-Zwangsarbeiter. Eine von Wirtschaft und Staat gegründete Stiftung stellte 2001 zehn Milliarden DM für ausländische NS-Zwangsarbeiter und Opfer von durch Unternehmen verursachte Vermögensschäden zur Verfügung. Öffnungsklauseln sahen auch Gelder für die ausgeschlossene große Gruppe von Zwangsarbeitern in der Landwirtschaft in Härtefällen vor. Italienische Militärinternierte erhielten nur Mittel, wenn sie in einem KZ inhaftiert waren. Sowjetische Kriegsgefan-
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gene gingen leer aus, da sie völkerrechtlich einen anderen Status als zivile Zwangsarbeiter hatten. 1998 verpflichteten sich Deutschland und andere Länder in der Washingtoner Erklärung, Rückerstattungen von als Raubgut eingestuften Kunstwerken zu prüfen. 2009 erweiterte das Bundessozialgericht die Kriterien zur Anerkennung von Rentenansprüchen aus einer Ghetto-Beschäftigung. Zuvor hatten die deutschen Rentenversicherungsträger etwa 95 Prozent der Anträge abgelehnt, die nach der Verabschiedung des sogenannten Ghettorenten-Gesetzes 2002 gestellt worden waren. In den Reaktionen auf pekuniäre Wiedergutmachungsforderungen werden – häufig als Element der Schuldabwehr – offen oder latent antisemitische Einstellungen deutlich. So waren 1998 knapp 40 Prozent der Deutschen einer Umfrage zufolge der Meinung, dass „die Juden“ den Holocaust „für ihre Zwecken ausbeuten“ würden. In einer anderen Umfrage im selben Jahr meinten 50 Prozent, dass „die Juden“ aus der NS-Zeit „ihren materiellen Vorteil“ ziehen würden. In der wenig später einsetzenden Auseinandersetzung um Entschädigung für Zwangsarbeit und „Arisierung“ tauchten in Beiträgen einzelner Journalisten und Politiker offen oder latente antisemitische Stereotype über jüdische Geldgier und Aggressivität auf, die auch in der Debatte um eine vermeintliche amerikanisch-jüdische „Holocaust-Industrie“ einen Niederschlag fand. Ähnliche Motive kennzeichneten auch schon Reaktionen einzelner Politiker in früheren Debatten. So erklärte 1985 ein CSU-Bundestagsabgeordneter anlässlich einer Auseinandersetzung über eine Wiedergutmachung für jüdische Zwangsarbeiterinnen des Flick-Konzerns, Entschädigungsforderungen würden den Eindruck erwecken, das Juden sich „schnell zu Wort melden, wenn irgendwo in deutschen Kassen Geld klimpert“. In rechtsradikalen Publikationen dient Wiedergutmachung bis heute als Projektionsfläche aggressiver Schuld- bzw. Erinnerungsabwehr. Das Medium der Entschädigung hat sich aber – wie im Fall von Opfern sexuellen Missbrauchs oder autoritärer Heimerziehung – als Konfliktregulativ offenbar allgemein durchgesetzt.
Literatur
Thomas Irmer
Benjamin B. Ferencz, Lohn des Grauens. Die verweigerte Entschädigung für jüdische Zwangsarbeiter, Frankfurt, New York 1981. Stuart E. Eizenstat, Unvollkommene Gerechtigkeit, Der Streit um die Entschädigung der Opfer von Zwangsarbeit und Enteignung, München 2003. Constantin Goschler, Schuld und Schulden, Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005. Hans Günter Hockerts, Claudia Moisel, Tobias Winstel (Hrsg.), Grenzen der Wiedergutmachung, Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945–2000, Göttingen 2006. Helmut Kramer, Karsten Uhl, Jens-Christian Wagner (Hrsg.), Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Rolle der Justiz. Täterschaft, Nachkriegsprozesse und die Auseinandersetzung um Entschädigungsleistungen, Nordhausen 2007.
Wiener Kongress
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Wiener Kongress Als Napoleon im April 1814 abdanken musste, beendete der in Paris zwischen Frankreich auf der einen Seite und Österreich-Ungarn, Großbritannien, Preußen und Russland auf der anderen Seite geschlossene Vertrag eine zwanzig Jahre andauernde Phase von Kriegen, in deren Verlauf die alteuropäische Ordnung zerstört und das Heilige Römische Reich deutscher Nation aufgelöst worden waren. Gleichzeitig hatte sich die rechtliche Lage der Juden in Europa durch die französische Emanzipationspolitik grundlegend verändert. Da nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft eine völkerrechtliche und politische Neuordnung Europas und Deutschlands notwendig war, kamen die in Paris versammelten Vertreter überein, im Herbst in Wien einen europäischen Kongress abzuhalten, um die für die politische Zukunft Europas entscheidenden Fragen zu klären. Unter Leitung des österreichischen Außenministers Klemens Wenzel Lothar von Metternich fand Mitte September 1814 daher zunächst ein erstes inoffizielles Treffen der vier Siegermächte statt, auf dem die folgenden europäisch diplomatischen Verhandlungen vorbereitet wurden. Zur Klärung der europäischen und deutschen Angelegenheiten wurden verschiedene Ausschüsse gebildet. Mitte Oktober fand daraufhin ein Treffen der Vertreter der fünf deutschen Staaten Österreich, Preußen, Bayern, Württemberg und Hannover statt, auf dem die für die Neuordnung Deutschlands anstehenden Fragen und die rechtlichen Grundlagen des anstelle des Heiligen Römischen Reiches zu bildenden Deutschen Bundes vorbereitet wurden. Da in den deutschen Staaten eine Vielzahl unterschiedlicher → Judenordnungen galt, wurde auch eine Klärung der künftigen bürgerlichen Stellung der Juden im künftigen Deutschen Bund notwendig. Die Frage war auch deshalb von Bedeutung, weil die Juden nicht nur in den zuvor von Frankreich neu geschaffenen oder besetzten Staaten die rechtliche Gleichstellung erlangt hatten, sondern auch in Preußen etwa mit dem Edikt von 1812 ( → Preußisches Emanzipationsedikt) die bürgerliche Gleichstellung verkündet worden war. Während der österreichische Delegierte und Vorsitzende des Kongresses, Fürst von Metternich, und die Vertreter Preußens Karl August von Hardenberg und Wilhelm von Humboldt, sich für die bürgerlichen Rechte der Juden aussprachen und dafür eintraten, diesen Grundsatz in der Bundesakte, der Verfassung des zu gründenden Deutschen Bundes, aufzunehmen, sprachen sich die Vertreter von Bayern und Württemberg dagegen aus. Am heftigsten widersetzten sich die zunächst in der Kommission nicht vertretenen freien Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg sowie die Stadt Frankfurt am Main, wobei der Widerstand gegen die Gleichberechtigung der Juden aus dem inneren der bürgerlichen Gesellschaft, zumeist von Seiten der Handwerker oder Kaufleute, kam. Eingedenk des Widerstandes von Seiten der Delegierten ihrer Stadt hatte die jüdische Gemeinde von Frankfurt am Main schon im September 1814 Vertreter nach Wien entsandt, die dem Kongress eine Bittschrift für die Gleichberechtigung der Frankfurter Juden überreichen sollte, und die jüdischen Gemeinden von Hamburg, Bremen und Lübeck schickten ihrerseits einen Delegierten nach Wien, der in einer Eingabe für die Gleichberechtigung der Juden in allen deutschen Staaten eintrat. In gleicher Weise appellierten auch die Wiener Juden an den österreichischen Kaiser, die „Israeliten allen übrigen Glaubensgenossen“ gleichzustellen.
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Wiener Kongress
Metternich, Hardenberg und Humboldt unterstützten die Vertreter der jüdischen Gemeinden und setzten sich in den Verhandlungen des Wiener Kongresses für eine einheitliche Gesetzgebung in allen deutschen Staaten ein. Im Entwurf der Bundesakte für die künftige Gestaltung der deutschen Staaten hieß es daher, dass „auf eine möglichst übereinstimmende Weise die bürgerliche Verbesserung der Bekenner des Jüdischen Glaubens in Deutschland“ zu bewirken sei. Insbesondere sollte ihnen „der Genuß der bürgerlichen Rechte gegen die Übernahme aller Bürgerpflichten in den Bundesstaaten gesichert werden“. Bis die künftige Bundesversammlung den Juden diese Rechte zubilligen werde, seien dem Entwurf zufolge alle „in den einzelnen Bundesstaaten bereits eingeräumten Rechte“ zu erhalten. Nach den Interventionen der Vertreter der Hansestädte und der Stadt Frankfurt am Main sowie den judenfeindlichen Voten der Delegierten von Württemberg und Bayern, denen sich später auch Hannover anschloss, stellte sich im Verlauf der langwierigen Verhandlungen heraus, wie schwierig es sein würde, die Gleichberechtigung der Juden aufrechtzuerhalten beziehungsweise in der Verfassung zu verankern. Hieß es noch im Entwurf der Bundesakte, dass alle den Juden „in den Bundesstaaten“ erteilten Rechte weiterhin gelten sollten, wurde diese Formulierung dahingehend geändert, dass die „von den Bundesstaaten“ erlassenen Gesetze aufrechterhalten bleiben sollten. Dieser unscheinbare Wechsel der Präposition „in“ und „von“ erlaubte es den zuvor von Frankreich besetzten Staaten, alle in der französischen Zeit erlassenen Emanzipationsedikte rückgängig zu machen. In den Staaten des Deutschen Bundes herrschten daraufhin unterschiedliche Rechtsverhältnisse. Selbst innerhalb Preußens führte dies zu der paradoxen Situation, dass die in dem Edikt von 1812 verfügte Gleichberechtigung nur in den auch zu dieser Zeit zu Preußen gehörenden Gebieten Gültigkeit hatte. In allen seither Preußen zugeschlagenen Ländern galten jeweils unterschiedliche Rechtsvorschriften für die jüdische Gemeinden. Schließlich ist auch in den „alten“ Provinzen Preußens durch die restriktive Handhabung des Ediktes von 1812 nach dem Wiener Kongress die bürgerliche Gleichstellung der Juden immer mehr unterminiert worden. Die Debatten über die Stellung der Juden auf dem Wiener Kongress blieben jedoch nicht auf die Delegierten des Deutschen Bundes beschränkt, die Vertreter aller in Wien versammelten Staaten haben dazu Stellung genommen. Insbesondere diejenigen aus England und selbst diejenigen aus Russland haben sich dabei für die Interessen der Juden eingesetzt. So ist die Frage der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der Juden ebenso wie der Widerstand dagegen auf dem Wiener Kongress zu einer europäischen Frage geworden.
Literatur
Ulrich Wyrwa
Salo Baron, Die Judenfrage auf dem Wiener Kongreß, Wien-Berlin 1920. Hans Dieter Dyroff, Der Wiener Kongress 1814/15. Die Neuordnung Europas, München 1966. Wolf D. Gruner, Der Wiener Kongress 1814/15. Schnittstelle im Transformationsprozess vom alten Europa zum Europa der Moderne, in: Winfried Eberhard (Hrsg.), Die Vielfalt Europas. Identitäten und Räume, Leipzig 2009, S. 655–679.
Wollheim-Prozess
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Wolfram Siemann, Metternich. Staatsmann zwischen Restauration und Moderne, München 2010. Hilde Spiel (Hrsg.), Der Wiener Kongreß in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1965.
Wollheim-Prozess Die Gläubiger der „I.G. Farbenindustrie AG in Auflösung“ und ihrer Nachfolgegesellschaften – von der Agfa-Photo GmbH bis zu den Zünderwerken Ernst Brün GmbH – waren am 1. August 1950 in Zeitungsanzeigen aufgefordert worden, ihre Ansprüche, die vor dem 5. Juli 1945 entstanden waren, innerhalb bestimmter Fristen anzumelden. Die Anmeldungen nahm das „Tripartite I.G. Farben Control Office“ Frankfurt entgegen, die alliierte Behörde, der die Überwachung der Liquidation des Chemiekonzerns oblag. An eine besondere Gruppe von Gläubigern und deren Ansprüche war nicht gedacht: Wie alle anderen Rüstungsfirmen in Deutschland hatte die I.G. Farben mit dem Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS Verträge geschlossen, mit denen Häftlinge aus Konzentrationslagern zur Arbeitsleistung vermietet wurden. Die Firma I.G. Farben zahlte Lohn an die SS, die Häftlinge selbst erhielten keinen Pfennig. Während Ansprüche, die aus der zwangsweisen und unrechtmäßigen Inhaftierung im KZ herrührten, mit Hilfe der Haftentschädigungsgesetze geltend gemacht werden konnten, waren die Ansprüche auf den Lohn für die erzwungene Häftlingsarbeit noch gar nicht anerkannt. Norbert Wollheim, 1913 in Berlin geboren, war im März 1943 nach Auschwitz deportiert worden. Dort verrichtete er als Schweißer beim Bau des Buna-Werkes in Monowitz Zwangsarbeit für die I.G. Farben. Nach der Befreiung widmete sich Wollheim von Lübeck aus dem Wiederaufbau jüdischer Gemeinden. Im November 1950 richtete er Überlegungen zur Geltendmachung der Ansprüche ehemaliger Häftlinge gegen die I.G. Farben an die Frankfurter Anwaltskanzlei Ormond, die auf Wiedergutmachungsfälle spezialisiert war. Ormond hatte 1933 als Jude die Entlassung aus dem Amt des Richters erfahren, war nach Großbritannien emigriert und 1945 als britischer Offizier nach Deutschland zurückgekehrt und hatte sich dann als Anwalt niedergelassen. Ende 1950 ging es zuerst um die Prüfung, wie die Ansprüche auf Lohn für Zwangsarbeit juristisch geltend gemacht werden konnten, ob die Durchsetzung dieser Ansprüche von jedem einzelnen Häftling individuell oder besser durch eine Interessengemeinschaft zu erzielen sei und ob – falls die geltenden Bestimmungen nicht ausreichen würden – gesetzliche Maßnahmen gefordert werden müssten. In Auschwitz-Monowitz waren etwa 10.000 Häftlinge im Arbeitseinsatz gewesen, bis zu 72 Stunden pro Woche im Sommer, und die Folgerung, dass der I.G. Farben Konzern sich durch Zwangsarbeit ungerechtfertigt bereichert habe, lag nahe. „Sollte es gelingen, ein obsiegendes Urteil im Sinne dieser Ansprüche gegen die I.G. Farben zu erlangen, so dürfte damit ein wichtiges Präjudiz hinsichtlich aller Ansprüche geschaffen sein, die unterbezahlte Häftlinge gegen ihre früheren Arbeitgeber geltend machen können“, fasste Wollheim am 27. November 1950 seine Überlegungen zusammen. Für die kleine, im April 1950 gegründete Kanzlei Ormond schien ein Prozess gegen den Konzern I.G. Farben und dessen Möglichkeiten ziemlich aussichtslos. Das Verfahren kam schrittweise in Gang. Anfang August 1951 wurde von der alliierten Aufsichts-
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behörde (Tripartite IG Farben Control Group) die Genehmigung zur Feststellungsklage erteilt, am 3. November 1951 wurde sie erhoben, im November 1952 begannen Zeugenvernehmungen, im Mai 1953 begründete Henry Ormond in einem ausführlichen Plädoyer vor der 3. Zivilkammer des Frankfurter Landgerichts die Klage Wollheims auf Leistung von Schadensersatz wegen missbräuchlicher Verwendung seiner Arbeitskraft in der Zeit vom 15. März 1943 bis zum 18. Januar 1945. Ormond bewies – in Entgegnung auf die öffentlich in Zeitungen vorgebrachten Argumente der Gegenseite –, dass das Begehren des Klägers ausschließlich im Bürgerlichen Gesetzbuch seine rechtliche Stütze hatte und weder auf Besatzungs- noch sonstigem Sonderrecht aufgebaut war. Das war in Anbetracht der Stimmung in Öffentlichkeit und Medien wichtig. Am 10. Juni 1953 wurde das Urteil verkündet. Es war eine juristische und moralische Sensation. Dem Kläger wurde ein Schmerzensgeld von 10.000 DM für Körper- und Gesundheitsverletzung zugesprochen, die er während der Zwangsarbeit im Bunawerk Auschwitz-Monowitz erlitten hatte. Das Gericht wertete die Tatsache der Sklavenarbeit als gesundheitsverletzenden Eingriff in das Leben des Klägers. Bemerkenswert waren auch Feststellungen in der Urteilsbegründung über die Zeugen der I.G. Farben, die alles abzustreiten versucht hatten, sich durch Nichtwissen oder Unzuständigkeit entschuldigen wollten. Die Firma I.G. Farben und deren Angestellte hatten nach Ansicht des Gerichts die gebotene Fürsorgepflicht gegenüber den Zwangsarbeitern verletzt. Gegen das Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main legten die Anwälte der I.G. Farben Berufung ein. Nachdem Wollheim und Ormond in der wenig erfolgversprechenden Sache die Kastanien aus dem Feuer geholt hatten, waren auch Organisationen, die sich bis dahin in Zurückhaltung geübt hatten, zum Engagement bereit. Die „Conference of Jewish Material Claims against Germany“, die als Dachvereinigung jüdischer Organisationen Entschädigungsund Wiedergutmachungsansprüche vertritt, beteiligte sich jetzt auch materiell an dem Rechtsstreit, der in zweiter Instanz die Möglichkeiten der Kanzlei Ormond überstieg. I. G. Farben bot prominente Anwälte auf und scheute keine Kosten, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Am 1. März 1955 begannen die Verhandlungen des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main. Am gleichen Tag warnte ein Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vor den unabsehbaren Folgen des Musterprozesses, der die Wiedergutmachungspflicht für Zwangsarbeit beweisen sollte: eine Lawine von Schadensersatzansprüchen in Milliardenhöhe würde auf die Bundesrepublik zukommen, denn die Firmen seien nicht zuständig. Diese Argumentation wurde bis in die 1990er Jahre vorgebracht, wenn es um Entschädigung für Zwangsarbeit ging. In der publizistischen Begleitung des Verfahrens waren auch Andeutungen über „Hintermänner“ und „Nebenabsichten“ des Klägers sowie ähnliche antisemitische Konnotationen an der Tagesordnung. Der Beklagten und den mit ihr sympathisierenden Wirtschaftskreisen war klar, dass es sich um einen Musterprozess mit möglicherweise erheblichen Folgen handelte. Das Oberlandesgericht regte schließlich einen Vergleich an, der die „Jewish Claims Conference“ einbezog. Nach langwierigen Verhandlungen – in diesem Zusammenhang wurde ein eigenes Bundesgesetz über den Aufruf der Gläubiger der I.G. Farben notwendig, das am 27. Mai 1957 in Kraft trat – kam der Vergleich zustande: Die „Jewish Claims Conference“ erhielt 30 Millionen DM zur eigenverantwortlichen Verteilung an
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die überlebenden Schicksalsgenossen Wollheims oder deren Hinterbliebene. Im Gegenzug musste die „Jewish Claims Conference“ zusichern, dass die I.G. Farben AG i. L. von allen Einzelansprüchen früherer Häftlinge verschont bliebe. Der Erfolg des Musterprozesses Wollheim contra I.G. Farben bestand einmal darin, dass die Entschädigungspflicht für Zwangsarbeit grundsätzlich festgestellt und eine Summe – in keineswegs überwältigender Größenordnung – bereitgestellt wurde. Zum anderen konstatierte ein deutsches Gericht die Mitverantwortung der Firma, die die Arbeitskraft der Häftlinge ausgebeutet hatte. Dadurch war der Prozess ein Meilenstein in der Geschichte der Entschädigung von Zwangsarbeitern. Die Entschädigungssumme wurde an Berechtigte in 42 Ländern, deren Ansprüche in aufwändigen Verfahren durch die Claims-Conference geprüft wurden, verteilt. Fast 5.900 Auschwitz-Überlebende, die für I.G. Farben Zwangsarbeit geleistet hatten, erhielten einmalig jeweils 5.000 bzw. 2.500 DM, wenn die Haftzeit weniger als sechs Monate betragen hatte. Aus den Zinseinkünften wurden rund 1.800 notleidende Hinterbliebene unterstützt. Ein eigenes Bundesgesetz stellte die von I.G. Farben verlangte Rechtssicherheit her, d.h. alle Ansprüche, die nicht innerhalb einer Ausschlussfrist erhoben wurden, verfielen. Norbert Wollheim war bereits vor Beginn des Verfahrens in erster Instanz nach New York ausgewandert, wo er bis zu seinem Tod 1998 als Wirtschaftsprüfer tätig war. Henry Ormond machte sich auch als Nebenkläger im Frankfurter → Auschwitz-Prozess einen Namen, er starb 1973 während eines Plädoyers im Gerichtssaal.
Literatur
Wolfgang Benz
Wolfgang Benz, Der Wollheim-Prozeß. Zwangsarbeit für I.G. Farben in Auschwitz, in: Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Ludolf Herbst und Constantin Goschler, München 1989, S. 303–326. Benjamin B. Ferencz, Lohn des Grauens. Die verweigerte Entschädigung für jüdische Zwangsarbeiter. Ein Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, Frankfurt, New York 1981. Joachim Robert Rumpf, Der Fall Wollheim gegen die I.G. Farbenindustrie AG in Liquidation. Die erste Musterklage eines ehemaligen Zwangsarbeiters in der Bundesrepublik Deutschland – Prozess, Politik und Presse, Frankfurt am Main u.a. 2010.
Xantener Ritualmordvorwurf → Ritualmordvorwurf in Xanten (1891)
Zündel-Affäre Als „Zündel-Affäre“ wird eine sich über mehrere Jahre erstreckende juristische Auseinandersetzung um den Publizisten und Verleger Ernst Zündel verstanden. In zwei großen Gerichtsverhandlungen Anfang 1985 und im Frühjahr 1988 in Kanada wurde Zündel wegen des „Verbreitens falscher Nachrichten“ in Form antisemitischer und holocaustleugnender Schriften angeklagt und verurteilt, bevor das zugrundeliegende Gesetz schließlich als verfassungswidrig aufgehoben wurde. Ende 1983 verklagte die Holocaustüberlebende Sabina Citron den seit 25 Jahren in Kanada lebenden deutschen Staatsbürger Zündel nach einem wenig bekannten Strafgesetz. Laut Staatsanwaltschaft, die die Klage übernahm, habe Zündel Aussagen veröffentlicht, von denen er wusste, „dass sie falsch sind“ und die dazu geeignet seien, „das
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Zündel-Affäre
öffentliche Interesse an gesellschaftlicher Toleranz und Toleranz zwischen den Rassen zu beschädigen“. Anlass war das von Zündel verfasste, an muslimische Adressaten gerichtete Traktat „The West, War, and Islam!“, in dem er vor einer jüdisch-zionistischen „Weltverschwörung“ warnt, sowie die von ihm verlegte und vertriebene Broschüre „Did Six Million Really Die?“, in welcher der Holocaust in Abrede gestellt wird. Der Prozess vor dem District Court of Ontario in Toronto begann am 7. Januar 1985. Neben Holocaustüberlebenden, die als Zeugen den aggressiven Verhören von Zündels Anwalt Douglas Christie ausgesetzt waren, wurde als historischer Sachverständiger Raul Hilberg in den Zeugenstand berufen. Für Zündel sagten u.a. die Holocaustleugner Udo Walendy, Thies Christophersen sowie Robert Faurisson aus, letzterer war bereits in die Vorbereitung der Verteidigung eng eingebunden. Der Prozess, von Zündel als „Great Holocaust Trial“ propagandistisch genutzt, wurde von lautstarken und tätlichen Protesten und einem großen Medienecho begleitet, Zündel und seine Anhänger traten mit Schutzhelmen und schusssicheren Westen auf. Am Tag der Urteilsverkündung, dem 25. März 1985, erschien Zündel mit einem übermanngroßen Holzkreuz und trug es medienwirksam die Stufen zum Gerichtsgebäude empor. Das Gericht sprach Zündel der wissentlichen Verbreitung falscher Nachrichten schuldig und verurteilte ihn zu 15 Monaten Haft und einer anschließenden dreijährigen Bewährungsfrist. Zündel sei eine „Gefahr“ für die kanadische Gesellschaft, ein „neonazistischer Propagandist“, der „unverhohlene rassistische Hetze“ in der propagandistischen Tradition der „Ungeheuer Adolf Hitler und Joseph Goebbels“ veröffentlicht habe. Dem Berufungsantrag Zündels wurde im Januar 1987 aufgrund von Formfehlern und Versäumnissen des Richters stattgegeben. Die neue Verhandlung, die sich statt auf den Holocaust nun auf Zündels Täuschungsabsichten konzentrieren sollte, begann am 18. Januar 1988 und fand bedeutend weniger Widerhall in den Medien. Als historischer Experte wurde nun Christopher Browning bestellt, Zündel berief neben den bereits im vorherigen Prozess Aufgetretenen zahlreiche weitere Gesinnungsgenossen als Zeugen, darunter den populären rechtsextremen Publizisten David Irving, der ursprünglich bereits 1985 aussagen sollte, und Fred A. Leuchter, der einen technisch-naturwissenschaftlich anmutenden Schriftsatz einreichte, nach dem es keine Massenmorde in → Gaskammern gegeben habe. Für seinen Text „An Engineering Report on the Alleged Execution Gas Chambers at Auschwitz, Birkenau and Majdanek, Poland“ hatte Leuchter in den Gaskammern mehrerer Lager widerrechtlich Gemäuerproben genommen und diese auf Zyklon B-Rückstände hin untersucht. Angesichts der geringen Werte und u.a. der baulichen Konstruktionen befand er schließlich, die Beweise seien „überwältigend“, dass die „vermeintlichen Gaskammern […] nicht als Hinrichtungsgaskammern verwendet werden konnten“. Leuchters hastig erstellter Text – zwischen der Erstkontaktierung Leuchters während der bereits laufenden Verhandlung und dem Abschluss des Schriftsatzes lagen nur zwei Monate – wurde vom Gericht aufgrund des Fehlens der notwendigen theoretischen und praktischen Qualifikationen und Kenntnisse Leuchters nicht als Gutachten angenommen. Nach Ende des Prozesses publizierte Zündel den Text unter dem Titel „Leuchter-Report“ und feierte ihn als endgültige Widerlegung des „Holocaust-Mythos“. Der „Leuchter-Report“, von Faurisson angeregt und für Irving Anlass zum Übertritt ins Lager der Holocaustleugner, avancierte unter diesen – ebenso wie drei
Zwangsdisputationen Paris (1240) und Barcelona (1263)
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noch folgende „Leuchter-Reports“ – umgehend zu einem Standardtext und fand mehrere Nachahmer, die nun ebenfalls technisch-naturwissenschaftliche Argumentationsweisen einsetzten. Zündel wurde am 13. Mai 1988 vom District Court of Ontario erneut schuldig gesprochen und zu neun Monaten Haft verurteilt. Das Gericht befand, er sei „ein Anhänger des Nationalsozialismus“, ein „Fanatiker, der willentlich Hass in der Gesellschaft verbreitet“. Zündel verstecke sich „hinter einem Schleier ehrlichen Glaubens an die Wahrheit“, doch „[e]s ist nicht der Holocaust, der ein Betrug ist, es ist Ernst Zündel, der ein Betrüger ist“. Sein Berufungsantrag wurde im Februar 1990 abgelehnt und Zündel trat seine Haftstrafe an, indem er in gestreifter KZ-Kleidung medienwirksam ins Gefängnis einrückte. Ein von Zündel kurz darauf gestellter Revisionsantrag vor dem Supreme Court of Canada war erfolgreich, und am 27. August 1992 wurde das Gesetz, aufgrund dessen Zündel verurteilt worden war, wegen Einschränkung der Redefreiheit als verfassungswidrig aufgehoben.
Literatur
Christian Mentel
Christopher Browning, Holocaust Denial in the Courtroom. The Historian as Expert Witness, Vortrag 2005 (online). Lawrence Douglas, The Memory of Judgment. Making Law and History in Trials of the Holocaust, New Haven, London 2001. Leonidas E. Hill, The Trial of Ernst Zündel. Revisionism and the Law in Canada, in: Simon Wiesenthal Center Annual 6 (1989), S. 165–219. Manuel Prutschi, The Zündel Affair, in: Alan Davies (Hrsg.), Antisemitism in Canada. History And Interpretation, Waterloo 1992, S. 249–277.
Zwangsdisputationen Paris (1240) und Barcelona (1263) Die Zwangsdisputationen zu Paris (1240) und Barcelona (1263) sind die ersten einer Reihe von durch christliche Herrscher angeordneten öffentlichen Disputationen zwischen christlichen und jüdischen Gelehrten, in denen dem Talmud antichristliche Blasphemie und Häresie nachgewiesen bzw. die Bekehrung der Juden forciert werden sollten. Im Hintergrund stehen sich verschärfende antijüdische kirchliche Diskurse. Die Anschuldigung des „Gottesmordes“ trat in den Vordergrund, insbesondere durch Papst Innozenz III., der daraus 1205 die Lehrmeinung von der „ewigen Knechtschaft der Juden“ ableitete. Die Duldung des Judentums im bisherigen augustinischen Sinne als indirekte Zeugen für die Wahrheit des Christentums (Fredriksen) wurde somit hinterfragt. Diese Entwicklung ist Teil intensiver Häresiediskurse, die mit der Gründung und Verbreitung der Bettelorden sowie dem Beginn der Inquisition im frühen 13. Jahrhundert einhergehen ( → Laterankonzil). Auch die inzwischen vorhandene Kenntnis rabbinischer Literatur unter christlichen Gelehrten spielt in diesem Prozess eine Rolle und rief das Bedürfnis nach Grenzziehung hervor. Die Disputation zu Paris fand im Juni 1240 am Hof Louis IX. statt. Sie war durch den jüdischen Konvertiten und Franziskaner Nicholas Donin initiiert worden, der zugleich die christliche Seite vertrat. Er war wegen Leugnung der rabbinischen Lehre
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Zwangsdisputationen Paris (1240) und Barcelona (1263)
1225 in Paris mit dem Bann belegt worden. Donin hatte den Talmud bei Papst Gregor IX. wegen Blasphemie denunziert. Die jüdische Seite wurde durch Rabbi Jechiel von Paris (gest. 1266) vertreten. Die christlicherseits vorgetragenen Anklagepunkte betrafen die Autorität des Talmud, welche die der Hebräischen Bibel übersteigen würde, die im Talmud angeblich enthaltene Feindseligkeit gegenüber den Christen, den Vorwurf der gegen Jesus und Maria gerichteten Beleidigungen sowie der Anstößigkeit mancher rabbinischer Legenden. Die Rabbiner bestritten, dass im Talmud von Jesus von Nazareth die Rede sei. Sie betonten außerdem die geringere Verbindlichkeit der narrativen Teile des Talmuds im Vergleich zu seinen religionsgesetzlichen Aussagen. Dennoch wurde der Talmud als häretisch verurteilt, und 1242 wurden in Paris riesige Handschriftenbestände öffentlich verbrannt ( → Talmudhetze). Die Disputation zu Barcelona wurde von König Jaime (Jakob) I. angeordnet und fand im Juli 1263 in Aragón statt. Die christliche Seite wurde durch den Konvertiten und Dominikaner Pablo Christiani vertreten, die jüdische durch Rabbi Moses ben Nachman/Nachmanides (1194–1270). Die christliche Argumentationsstrategie bestand nunmehr darin, zu zeigen, dass der Talmud selbst die kirchliche Christologie bestätigen würde. Es sollte in missionarischer Absicht der Beweis geführt werden, dass der Messias bereits gekommen sei. Nachmanides argumentierte, dass Generationen jüdischer Gelehrter trotz ihrer chronologischen Nähe zur Entstehung des Christentums diesen Gedanken nicht entwickelt hätten. Die Frage nach dem Messias hätte zudem im Judentum inzwischen weniger Bedeutung als die Beachtung des Religionsgesetzes unter den Bedingungen der Diaspora. Vor allem aber seien die messianischen Prophezeiungen der Bibel nicht erfüllt, indem es immer noch Kriege und gewaltsame Auseinandersetzungen gäbe. Die im Vergleich zur Pariser Disputation weniger verächtliche Atmosphäre kann auf die relativ günstige Lage der Juden unter Jaimes I. zurückgeführt werden (Mutius). Im Zusammenhang mit Anschuldigungen gegen Nachmanides wegen seines schriftlichen Berichts über die Disputation und der durch Papst Clemens IV. erhobenen Forderung seiner Bestrafung ging Nachmanides 1267 nach Palästina. Die Strategie, rabbinisches Gedankengut im Sinne der Mission einzusetzen, wurde weiter fortgeführt. So entstand in der Folge der Disputation zu Barcelona ca. 1280 der Pugio Fidei („Glaubensdolch“) des Dominikaners Raymund Martini, in dem er zum Zweck der Judenmission u.a. mit messianischen Passagen aus der rabbinischen Literatur argumentiert.
Literatur
Susanne Plietzsch
Anna Sapir Abulafia, Christen und Juden im hohen Mittelalter: Christliche Judenbilder, in: Christoph Cluse (Hrsg.), Europas Juden im Mittelalter, Trier 2004. Robert Chazan, Barcelona and Beyond. The Disputation of 1263 and its Aftermath, Oxford 1992. Jeremy Cohen, The Friars and the Jews, Ithaca N.Y. 1982. Paula Fredriksen, Divine Justice and Human Freedom. Augustine on Jews and Judaism, 392–398, in: Jeremy Cohen (Hrsg.), From Witness to Witchcraft. Jews and Judaism in Medieval Christian Thought, Wiesbaden 1996, S. 29–54. Hans-Georg von Mutius, Die christlich-jüdische Zwangsdisputation zu Barcelona. Nach dem hebräischen Protokoll des Moses Nachmanides, Frankfurt 1982.
Zwangstaufe (Portugal)
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Zwangspredigten → Volkspredigten im Mittelalter
Zwangstaufe (Portugal) Die portugiesische Zwangstaufe (conversão geral, hebr. Shmad Portugal) stellt einen der folgenreichsten Fälle politisch erzwungener Apostasie in der mittelalterlichen jüdischen Geschichte dar, mit dem im Jahr 1497 alle in Portugal lebenden Juden, etwa 60.000 Personen, auf königliche Anordnung zu „Neuchristen“ wurden. Portugal teilte die Zentralisierungstendenz, die in den Jahren 1492–1498 zur Vertreibung der religiösen Minderheiten aus den iberischen und südfranzösischen Ländern führte ( → Vertreibung der Juden aus Spanien). Doch war das Bündnis zwischen Königtum und Juden hier sehr eng und wurde durch den Übergang zur Kolonialwirtschaft noch verstärkt. Bei seinem Regierungsantritt 1495 schien König João II. als einer der letzten westeuropäischen Herrscher die Duldung von Juden beibehalten zu wollen: Er erneuerte ihre Gemeindeprivilegien mindestens bis Frühjahr 1496 und gestattete sogar Zehntausenden spanisch-jüdischer Flüchtlinge die Niederlassung, die sein Vorgänger nur als Durchreisende aufgenommen und sodann versklavt hatte. Nachdem Manuel indes zur Absicherung seiner Kolonialpolitik die spanische Infantin Isabel de Trastámara heiratete, folgte er der Forderung seiner Schwiegereltern und verwies alle Juden und Muslime mit zehnmonatiger Frist aus seinem Reich (Edikt von Muge, 4. Dezember 1496). Während er die letzteren ausreisen ließ, behinderte er die Einschiffung der zahlenmäßig und wirtschaftlich bedeutsameren jüdischen Minderheit und wirkte durch demoralisierende Maßnahmen auf ihre Konversion hin. Auf Anraten eines übergetretenen jüdischen Gelehrten, Levi ben Shemtov, ließ er Synagogen, Friedhöfe und Bücher beschlagnahmen und am Pessachfest, dem 19. März 1497, an allen Orten des Reiches den jüdischen Familien die Kinder entreißen und taufen, was in manchen Fällen kollektive Selbstmorde, in den meisten die erwartete Konversion der Eltern nach sich zog. Den Rest von 20.000 Ausreisewilligen bestimmte Manuel kurz vor Ablauf der Frist nach Lissabon, setzte diese Menschenmenge jedoch ohne Möglichkeit zur Einschiffung in dem Gebäudekomplex „Os Estaus“ fest und machte sie durch tagelangen Nahrungs- und Wasserentzug gefügig. Widerstrebende ließ er gewaltsam zur Taufe zerren, mehrere Rabbiner zu Tode foltern, die letzten fünfzig Unerschrockenen zur Zwangsarbeit nach Nordafrika deportieren. Der Mehrheit, der er ein Scheinchristentum aufzwingen konnte, verbot der König die Emigration und förderte die Mischehe, unternahm aber keine organisierte Katechisierung und setzte die Gründung einer Inquisition für vierzig Jahre aus. Portugals Bürgertum bestand nach 1497 zur großen Mehrzahl aus „Neuchristen“. Infolge der verschärften Inquisitionsverfolgung und Fluchtbewegung im 17. Jahrhundert hatte die Lissaboner Zwangstaufe auch Folgen für die koloniale Handelsgeschichte ganz Westeuropas, die Wiederansiedlung jüdischer Gemeinden und die Anfänge des modernen Judentums.
Literatur
Carsten Wilke
Meyer Kayserling, Geschichte der Juden in Portugal, Leipzig 1867 (Reprint Hildesheim 1978), S. 108–139.
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Zweites Vatikanisches Konzil
François Soyer, The persecution of the Jews and Muslims of Portugal: King Manuel and the end of religious tolerance (1496–1497), Leiden 2007, S. 182–240.
Zweites Vatikanisches Konzil Am 28. Oktober 1965 verabschiedete das Zweite Vatikanische Konzil in Rom die Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“ (NA), die einen eigenen Artikel über das Verhältnis der Kirche zum Judentum enthält. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) gilt als das bedeutendste Ereignis der Katholischen Kirche im 20. Jahrhundert. Die Beschlüsse dieses Konzils spiegeln eine Öffnung der Katholischen Kirche zur Welt und zu den Chancen und Herausforderungen der Moderne wider. Mit dem Text „Nostra aetate“ wurde eine kirchliche Erklärung vorgelegt, die die anderen Religionen und vor allem das Judentum erstmals umfassender positiv würdigt und damit einen Wendepunkt im Verhältnis der Katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen und zum Judentum darstellt. Der Titel dieser Erklärung, der durch die beiden Anfangsworte „Nostra aetate = In unserer Zeit“ gegeben ist, weist bereits auf die zeitgeschichtliche Dimension dieses Dokumentes hin. Im Frühsommer 1960 suchte der jüdische Historiker Jules Isaac, der an der 1947 in Seelisberg (Schweiz) durchgeführten internationalen Konferenz von Christen und Juden über den Antisemitismus teilgenommen hatte, Papst Johannes XXIII. zu einer Audienz auf, um ihn über die christlich-theologischen Wurzeln des Antisemitismus aufzuklären. Der davon sichtlich beeindruckte Papst übertrug am 18. September 1960 Kardinal Bea, dem Leiter des 1960 gebildeten Sekretariats für die Einheit der Christen, die Aufgabe, ein Dokument vorzubereiten, das die neue Haltung der Katholischen Kirche zum Judentum darstellen sollte. Die ursprüngliche Absicht, ein eigenes Dekret zum Judentum („Decretum de Iudaeis“) vorzulegen, wurde jedoch aufgrund zahlreicher Vorbehalte von Bischöfen aus den arabischen Ländern sowie aus Asien wieder aufgegeben. Eine demgegenüber leicht abgeschwächte Erklärung, die ebenfalls Ausführungen über andere nichtchristliche Religionen enthielt, wurde schlussendlich mit breiter Zustimmung (2221 Ja- gegen 88 Nein-Stimmen) gebilligt und am 28. Oktober 1965 feierlich verkündet. Diese nur wenige Seiten umfassende Erklärung gliedert sich in fünf Artikel. Nachdem in den ersten drei Artikeln die religiöse Erfahrung für alle Weltreligionen anerkannt wird, artikuliert Artikel Nr. 4 die neue Sicht auf das Judentum in sieben knappen Abschnitten. Der Grundtenor dieses Artikels ist davon bestimmt, dass der Beziehung zwischen Christentum und Judentum im Verhältnis zu den anderen Religionen eine ganz besondere Bedeutung zukommt. Die Konzilserklärung spricht mit den Worten des Apostels Paulus voller Hochachtung über die bleibende Erwählung des Judentums. Den Juden gebühren die „Herrlichkeit, der Bund und das Gesetz, der Gottesdienst und die Verheißungen.“ Sie sind „von Gott geliebt um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich“. Die klassische Verwerfungstheologie wird ebenso wie die Verfluchungsthese ausdrücklich zurückgewiesen, das heißt, die Juden dürfen weder als von Gott verworfen noch als verflucht dargestellt werden. Die Annahme einer Kollektivschuld des jüdischen Volkes am Tod Jesu wird ebenfalls zurückgewiesen. Im vorletzten Abschnitt „beklagt die Kirche […] alle Hassausbrüche,
Zweites Vatikanisches Konzil
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Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus“. Der Text dieses Artikels ist von einer Hermeneutik der Anerkennung und Wertschätzung bestimmt. Neben aller positiven Würdigung dieser bis dato einzigartigen Konzilsaussagen wurde jedoch auch eine Reihe von Desideraten kritisch angeführt. So wurde moniert, dass der klassische Gottesmord-Vorwurf, d.h. die Anklage der Juden wegen „Gottesmord“, nicht ausdrücklich zurückgewiesen wird. Es fehlt ferner ein klares Schuldbekenntnis der Kirche gegenüber den Juden ebenso wie eine Verzichtserklärung auf Missionierung der Juden. Dass „alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus“ nur „beklagt“ werden, statt diese eindeutiger zu verurteilen, bleibt ebenfalls kritisch anzumerken. Die Erklärung weist keinerlei Bezüge zu traditionellen kirchlichen Lehraussagen auf und betritt mit ihren Aussagen somit theologisches Neuland. Dementsprechend bleibt die theologische Bedeutung Israels ungeklärt. Die Einschätzung von Nostra aetate 4, dass Jerusalem, d.h. Israel, „die Zeit seiner Heimsuchung nicht erkannt“ hat, wird in ihrer soteriologischen Konsequenz nicht weiter kommentiert. Die implizite Frage, welche eschatologische Hoffnung die Kirche für Israel hegt, ob sie etwa von einer Bekehrung zu Jesus Christus am Ende der Zeiten ausgeht, bleibt unbeantwortet. Obwohl der Erklärung aufgrund dieser Kritikpunkte und Desiderate eine gewisse Vorläufigkeit eignet, leitete sie die epochemachende Wende der Katholischen Kirche in der Beurteilung des Judentums sowie in den Beziehungen der Katholischen Kirche zum Judentum ein und bereitete 1993 den Weg für die Anerkennung des Staates Israel durch den Vatikan und zur Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen. Aufgrund ihrer vielfachen Rezeption gehört die Konzilserklärung „Nostra aetate“ wirkungsgeschichtlich zu den bedeutendsten Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Literatur
Matthias Blum
Reinhold Bohlen, Wende und Neubeginn. Die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils zu den Juden „Nostra aetate“ Nr. 4, in: Florian Schuller, Giuseppe Veltri, Hubert Wolf (Hrsg.), Katholizismus und Judentum. Gemeinsamkeiten und Verwerfungen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Regensburg 2005, S. 297–308. Anthony J. Cernera (Hrsg.), Examining Nostra Aetate after 40 Years. Catholic-Jewish Relations in Our Time, Fairfield 2007. Hans Hermann Henrix, Wolfgang Kraus (Hrsg.), Die Kirchen und das Judentum, Band II: Dokumente von 1986 bis 2000, Paderborn, Gütersloh 2001. Neville Lamdan, Alberto Melloni (Hrsg.), Nostra Aetate. Origins, Promulgation, Impact on Jewish-Catholic Relations. Proceedings of the International Conference, Jerusalem, 30 October – 1 November 2005, Berlin 2007. Rolf Rendtorff, Hans Hermann Henrix (Hrsg.), Die Kirchen und das Judentum, Band I: Dokumente von 1945 bis 1985, Paderborn, Gütersloh 20013, S. 39–44: Nostra Aetate. Roman A. Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra Aetate, in: Peter Hünermann, Bernd Jochen Hilberath (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Band 3, Freiburg, Basel, Wien 2005, S. 591–693.
451
Autorenverzeichnis Aicher, Martina – Historikerin und Slawistin, Doktorandin am Institut für Geschichte der Universität Wien, Österreich Alvarez, María Ximena – Historikerin, Doktorandin am Lateinamerika Institut der Freien Universität Berlin Álvarez Chillida, Gonzalo – Historiker, Universidad Complutense de Madrid, Facultad de Ciencias Políticas y Sociología, Madrid, Spanien Barbian, Jan-Pieter – Historiker, Direktor der Stadtbibliothek Duisburg Behrends, Jan C. – Historiker, Wissenschaftszentrum Berlin Benz, Angelika – Historikerin, Doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin Benz, Wolfgang – Historiker, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Bergmann, Werner – Soziologe, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Bessis, Sophie – Historikerin, Institut de Relations Internationales et Stratégiques (IRIS), Paris, Frankreich Blum, Matthias – Erziehungswissenschaftler und Theologe, Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin Botsch, Gideon – Politikwissenschaftler, Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Universität Potsdam Buchen, Tim – Historiker, Doktorand am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Camus, Jean-Yves – Politikwissenschaftler, Institut de Relations Internationales et Stratégiques (IRIS) und Institut Universitaire d’études juives Elie Wiesel, Paris, Frankreich Curio, Claudia – Historikerin, Utrecht, Niederlande Cwik, Christian – Historiker, Universität zu Köln, Historisches Seminar, Abteilung für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte, Köln Dahl, David L. – Historiker, Institut for Engelsk, Germansk og Romansk, Universität Kopenhagen, Dänemark Dietmar, Carl – Historiker, Redakteur beim Kölner Stadt-Anzeiger, Köln Dillmann, Hans-Ulrich – Journalist, Berlin/Santo Domingo Elsemann, Nina – Historikerin, Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin Escher, Clemens – Historiker, Promotionsstipendiat, Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin Flores Martinez, Monika – Historikerin, Wissenschaftliche Volontärin Dauerausstellung, Jüdisches Museum Berlin Frankel, Richard E. – Historiker, University of Louisiana, Lafayette, USA
452
Autorenverzeichnis
Frankl, Michal – Historiker, Jüdisches Museum Prag, Tschechische Republik Fürtig, Henner – Islamwissenschaftler, German Institute of Global and Area Studies (GIGA), Institut für Nahoststudien, Hamburg Fuhrmann, Malte – Historiker, Orient-Institut Istanbul, Türkei Gebert, Malte – Politikwissenschaftler und Historiker, Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, Essen Gerson, Daniel – Historiker, Institut für Jüdische Studien der Universität Basel, Schweiz Golczewski, Frank – Historiker, Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften, Universität Hamburg Hagemeister, Michael – Historiker, Historisches Seminar der Ludwig-MaximiliansUniversität München Hampe, Arnon – Politikwissenschaftler, Berlin Happel, Jörn – Historiker, Historisches Seminar, Universität Basel, Schweiz Hausleitner, Mariana – Historikerin, Privatdozentin am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin Hering, Rainer – Historiker, Landesarchiv Schleswig-Holstein, Schleswig Herzig, Arno – Historiker, Hamburg Hetzer, Tanja – Historikerin, Berlin Hilbrenner, Anke – Historikerin, Institut für Geschichtswissenschaften, Abteilung für osteuropäische Geschichte, Universität Bonn Hördler, Stefan – Historiker, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin Hoffmann, Gerd – Jurist, Schifferstadt Horváth, Franz – Historiker, Ludwigslust Irmer, Thomas – Politikwissenschaftler, Berlin Jahr, Christoph – Historiker, Historisches Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Privatdozent am Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin Jehle, Manfred – Historiker, Berlin Junginger, Horst – Religionswissenschaftler, Seminar für Indologie und Vergleichende Religionswissenschaft, Eberhard Karls Universität Tübingen Kieffer, Fritz – Historiker, Mainz Kleinmann, Yvonne – Historikerin, Institut für Slavistik, Universität Leipzig Koeltzsch, Ines – Historikerin, New York University in Prag, Tschechische Republik Königseder, Angelika – Historikerin, Berlin Kopke, Christoph – Politikwissenschaftler, Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Universität Potsdam
Autorenverzeichnis
453
Kosmala, Beate – Historikerin, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin Kraus, Daniela – Historikerin, Medienhaus Wien, Österreich Krieger, Karsten – Historiker, Berlin Kulenska, Veselina – Historikerin, Doktorandin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Lange, Matthew R. – Historiker, Department of Languages and Literatures, University of Wisconsin-Whitewater, USA Leifeld, Marcus – Historiker, Kölnisches Stadtmuseum, Köln Leiska, Christoph – Historiker, Doktorand am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Lichtblau, Albert – Historiker, Universität Salzburg, Österreich Litt, Stefan – Historiker, Bar Ilan University, Ramat Gan, Israel Lorenz, Einhart – Historiker, Department of Archaeologie, Conservation and History, University of Oslo, Norwegen Lorenz, Matthias – Kulturwissenschaftler, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaften, Universität Bielefeld Ludyga, Hannes – Jurist, Juristische Fakultät, Ludwig-Maximilians-Universität München Maissen, Thomas – Historiker, Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Universität Heidelberg Margaroni, Maria – Historikerin, Brüssel Matthäus, Jürgen – Historiker, United States Holocaust Memorial Museum, Washington, USA Matut, Diana – Judaistin und Jiddistin, Orientalisches Institut, Seminar für Judaistik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Mentel, Christian – Historiker, Berlin Meyer, Beate – Historikerin, Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg Mihok, Brigitte – Politikwissenschaftlerin, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Müller, Jörg – Historiker, Arye Maimon-Institut für Geschichte der Juden, Universität Trier Neiss, Marion – Historikerin, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Nordbruch, Götz – Islamwissenschaftler, Syddansk Universitet, Odense, Dänemark Osterloh, Jörg – Historiker, Fritz Bauer Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt am Main Pape, Christian – Historiker und Politikwissenschaftler, Doktorand am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Österreich
454
Autorenverzeichnis
Petry, Erik – Historiker, Institut für Jüdische Studien, Basel, Schweiz Plietzsch, Susanne – Professorin für Judaistik, Zentrum für jüdische Kulturgeschichte Salzburg, Österreich Pollmann, Viktoria – Historikerin, Hofheim Pulzer, Peter – Historiker und Politikwissenschaftler, All Souls College, University of Oxford, Großbritannien Reder, Eva – Historikerin, Doktorandin an der Universität Wien, Österreich Reichelt, Kathrin – Historikerin, Berlin Renz, Werner – Historiker, Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main Richter, Klaus – Historiker, Doktorand am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Riedler, Florian – Historiker, Berlin Rohrbach, Philipp – Historiker, Wien, Österreich Roth, Ralf – Historiker, Historisches Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main Rudorff, Andrea – Historikerin, Berlin Saß, Anne-Christin – Osteuropa-Historikerin, Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin Schäfer, Ralf – Historiker, Berlin Schmidt, Monika – Politikwissenschaftlerin, Berlin Selig, Wolfram – Historiker, Polling Sieg, Ulrich – Historiker, Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaften der Philipps-Universität Marburg Späti, Christina – Historikerin, Departement für Historische Wissenschaften, Universität Freiburg, Schweiz Studemund-Halévy, Michael – Sprachwissenschaftler, Mitarbeiter am Institut für die Geschichte der deutschen Juden Hamburg sowie am Seminar für Romanistik der Universität Hamburg Stutz, Hans – Journalist, Luzern, Schweiz Szabó, Miloslav – Historiker, Berlin Thurau, Markus – Theologe, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Seminar für Katholische Theologie, Freie Universität Berlin Thurn, Nike – Kulturwissenschaftlerin, Universität Trier Treß, Werner – Historiker, Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Universität Potsdam Vetter, Matthias – Historiker, Frankfurt am Main Virchow, Fabian – Historiker, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Fachhochschule Düsseldorf
Autorenverzeichnis
455
Vulesica, Marija – Historikerin, Doktorandin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Wagner, Thorsten – Historiker, Danish Institute for Study Abroad, Kopenhagen, Dänemark Wegehaupt, Phillip – Historiker und Philologe, Berlin Wegehaupt, Ulrike – Historikerin und Ethnologin, Doktorandin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Weigel, Bjoern – Historiker, Doktorand am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Weiß, Hermann – Historiker, Gröbenzell Wenzel, Mario – Historiker, Doktorand am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Werner, Thomas – Historiker, Berlin Wetzel, Juliane – Historikerin, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Wildmann, Daniel – Historiker, Leo Baeck Institut, London, Großbritannien Wilke, Carsten – Historiker, History Department, Central European University, Budapest, Ungarn Wuttke, Walter – Medizinhistoriker, Ulm Wyrwa, Ulrich – Historiker, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin
457
Register der Personen A
Ascher, Saul 435
Abakumow, Wiktor 416
Atsız, Nihal
Abbé Grégoire 135
Auerbach, Philipp 18, 19, 20, 55
Abs, Hermann Josef 239
Augstein, Rudolf 430
Adenauer, Konrad 127, 237, 238, 239, 240, 374, 375
B
Adenauer, Max 374
Bär, Karl
275
Adler, Victor
Bär, Kurt
275
236
423
Ahlwardt, Hermann 11, 44, 189, 192, 193
Baer, Richard 21
Ahmadinedschad, Mahmud 118
Balfour, Arthur James
Al-Gaylanis, Rashid Ali
Bamberger, Ludwig 43
269
Bähr, Otto 193
Al-Husseini, Hajj Amin 14, 220, 221
Baptista Dei Giudici
Albrecht von Nassau 338
Barbusse, Henri 68
Aljechin, Alexander
Baretzki, Stefan 22
365, 366
13, 36 357
Alexander I. 202
Barmat, David
Alexander II.
Barmat, Herschel (Henri)
Alexander III.
216, 291, 303 243, 245, 304
37
Barmat, Julius 37, 38
Alexandrow, Georgi 393, 394
Barre, Raymond 83
Alkalaj, Isak
Barrès, Maurice 91
354
37, 39
Alibert, Raphaél 397
Barth, Karl
Almagro, Diego de 177
Bastidas, Rodrigo Galván de las
Althaus, Paul 4, 5, 103
Bauer, Elvira
Amann, Max 378, 379 Antonescu, Ion 270, 271, 276 2
Appler, Johann 274, 275 Arbell, Mordechai 385 Arendt, Hannah 94, 323 Arndt, Adolf
161
Arndt, Ernst Moritz 435 Arnim, Otto
209
Arnold von Uissigheim Asch, Schalom 68
34
190
Bauer, Fritz 20
Amara, Ibrahim 80 Anzorreguy, Hugo
81, 405
16
Bauer, Gustav 38, 39 Bauerschmidt, Ulrich
18
Baumgarten, Arthur 50 Baxa, Karel 165 Bednarek, Emil
22
Begin, Menachem 370, 371, 372, 373 Behr, Wilhelm Joseph
163
Behrendt, Uwe 232, 233 Beilis, Menachem (Mendel) 39, 40, 41, 49, 121, 339 Belmont, August 146
458
Register der Personen
Ben Gurion, David
238
Ben Zvi, Yitzhak
Boccaccio, Giovanni 69
94
Benbasa, Johanam
Böckel, Otto 9, 10, 11, 246
342
Benbasa, Saruga
Böhm, Franz
342
239
Boehlich, Walter
Benedikt XIII. 425
41
Börne, Ludwig 116
Benedikt XIV. 3
Böß, Gustav 382
Benjamin, Judah P.
146
Böttcher, Walter
117
Berger, Karol 301
Bötticher, Paul 347
Berger, Max 223
Boger, Wilhelm
Bergmann, Ernst von 347 Bergmann, Kay Uwe 233 Bernardino da Feltre
357
Bernhard, Georg 68 Bernhard von Clairvaux
424
Bernhardin von Busti
426
Bernhardin von Feltre
426
Bernhardin von Siena
425
Berro, Ibrahim Hussein 1 Berteaux, Maurice 92 Berthold von Regensburg 425 Bethmann Hollweg, Theobald von 106 Bewer, Max 361 Binterim, Anton Joseph
349
Birkmann, Franziska 232, 233 21
Bismarck, Otto von 7, 8, 44, 47, 48, 57, 58, 225, 226, 227, 406 Blaszczyk, Henryk 280 Bleibtreu, Adolf
Bonelli, Benedetto 358 Bonsels, Waldemar
68
Born, Max 67 Borodajkewycz, Taras 59, 60, 427 Boroş, Ioan 272 Botwinnik, Michail Bousquet, René
366
82, 413, 415
Boye, Johan Ludvig
157
Brack, Viktor 141 Braham, Randolph L. 410 Brătianu, Ion 99, 100 Brauer, Max 127 Braun, Heinz 242
Biez, Jacques de 7
Bischoff, Heinrich
22
53, 54, 55
Brauner, Artur
281
Brausewetter, Robert Georg 192 Bredow, Rittmeister a.D. von 6 Breidenbach, Wolf Brendel, Sebald Breßlau, Harry
232
163 43
Brolat, Fritz 382, 383
Bleichröder, Gerson von 47, 58, 189, 403
Broszat, Martin
Bloch, Arthur 194, 195
Browning, Christopher 180, 444
Bloch, Rolf
Brück, Christa Anita 68
328
Blocher, Christoph
328
Brown, Dan
168
324
Bruhn, Wilhelm
345, 347
Blok, Aleksandr 40
Brunschvig, Georges 49
Boca, Angelo Del
Bubis, Ignatz
183
123, 129, 428, 429, 430
Register der Personen
Buchholz, Friedrich 154, 157 Budde, Enno 126, 127 Budnickij, Oleg
Cohn, Oskar 262
Bühler, Josef 431
Colbert, Jean-Baptiste
19
Correia, Mendes
Burkart, Odilo 259 Buschhoff, Adolf 358, 359, 360, 361 Busdorf, Otto 242
75
109
Crémieux, Adolphe 27, 46, 47, 48, 77, 78, 98, 332, 397 Cromwell
419
Cuza, Alexandru Ioan 98
C Caesar (Cäsar)
Cybulla, Onorphrius
43
Caesarius von Heisterbach 424 Canicoba Corral, Rodolfo 2 Capesius, Victor 22 Carol II.
Clermont-Tonnere, Graf Stanislas de 135 Cohen, Hermann 43, 246
296
Bungartz, Everhard
459
D Dahlem, Franz 266, 267 Dahm, Felix 214, 215
139, 270
Daisenberger, Joseph Alois
Carter, Jimmy 15
Dal, Wladimir
Carulla, Juan E. 381
264, 265
339
Dalain, Yvan 195
Carvajal, Luis de 179 Casas, Bartolomé de las Cecula, Marek
345
34
281
Chayla, Alexandre du 49 Chessex, Jacques 195
Dannecker, Theodor 117, 413, 414, 415 Darquier de Pellepoix, Louis 82, 83, 84, 130, 131, 413, 415 Dávila, Pedrarias 34 Darwin, Charles
321
Chirac, Jacques 415
Deckert, Günter 119, 120, 174
Chmielnicki, Bogdan [Khmelnytsky] 73, 74, 303
Deckert, Joseph
Chomsky, Noam
Demel, Walter
130, 131
Christie, Douglas 444 Christophersen, Thies
174, 444
Churchill, Winston 171
3
Dellepiano, Luis 381 320
Demjanjuk, John (Iwan) 87, 88 Derschawin, Gavriil P.
202, 203
Ciano, Galeazzo 184
Diebitsch, Freiherr Karl Wilhelm von 155
Cibric, Anatol
Diebow, Hans 116
283
Citron, Sabina 443
Diehl, Katrin
379
Claß, Heinrich
Dietrich, Otto
378
Clemens IV. Clemens VIII.
105 446
Diewerge, Wolfgang 214
65
Clementis, Vladimír
386
Disraeli, Benjamin
47
Divina, Giuseppe
358
460
Register der Personen
Döblin, Alfred
Etinger, Jakow 416
68
Dönhoff, Marion Gräfin
129
Evans, Richard J. 180
Dohm, Christian Wilhelm von 153, 409 Dohnanyi, Klaus von 429 Donin, Nicholas 445, 446 Dos Passos, John 68 Dostojewski, Fjodor 323 Dreyfus, Alfred 24, 25, 26, 40, 90, 91, 92, 121, 165, 234 Droysen, Johann Gustav 8, 43 Drumont, Édouard 7, 28, 91 Dubnow, Simon
306
243, 303
Dürrenmatt, Ulrich
Falcón, Ramón Lorenzo 71 Fassbinder, Rainer Werner 129 Faure, Félix
Dregger, Alfred 52
Dserschinski, Feliks
F
369
91, 92
Faurisson, Robert 84, 130, 131, 132, 444 Fedtmilch, Vincent
133, 134
Feis, Herbert 112 Fenner, Ferdinand245, 246 Ferdinand und Isabella von Kastilien und Aragón 421, 422 Ferdinand I. 354, 392 Ferdinand II.
E Ebel, Wilhelm
392
Fest, Joachim 128
221
Field, Noel 265, 266
Ebert, Friedrich 39 Eckert, Willehad Paul 358 Edward I. 419
Fischer, Bobby 366 Fischer, Heinz 59, 60
Ehrenburg, Ilja 417
Fischer, Theodor 50
Eichmann, Adolf 413, 414, 431
Fleischhauer, Ulrich
Einstein, Albert
127, 128,
93, 94, 102, 181, 411,
Fischl, Otto 386 50
Flick, Friedrich 259
69, 116
Eisenmenger, Johann Andreas 406
Förster, Bernhard 8, 43, 217, 218
Eisner, Kurt 171, 335
Förster, Paul 8, 9, 10, 193
Elert, Werner
Forckenbeck, Max von 8, 43
4, 5, 103
Engelein, Pankratz 391
Ford, Henry 322
Engelhard, Hans
68
Forst, Willi
Engels, Friedrich
200, 324
France, Anatole 40
160
Engholm, Björn 123
François, Etienne 83
Eötvös, Károly 356
François, Jean 413, 415
Ephraim ben Jaakow 340, 341
Franck, James
Eppenstein, Georg
Frank, Hans
259
Frank, Josef
386
223
Erpel, Gustav 223 Erzbischof von Lemberg
65
Frank, Leo
67
121, 122
Register der Personen
Frank, Willy
Glagau, Otto
22
461
58
Franz II. 410
Globke, Hans 258, 375
Fredriksen, Paula 445
Gneist, Rudolf von 8
Freisler, Roland
Goebbels, Joseph 44, 61, 69, 160, 170, 181, 182, 183, 223, 228, 229, 254, 255, 256, 323, 329, 330, 378, 379, 444
19, 431
Frejka, Ludvík 386 Freud, Sigmund 68 Freyenwald, Hans Jonak von 50 Friedjung, Heinrich 236 Friedländer, David Friedman, Michel
153 250, 251
Friedmann, Werner 54, 55 Friedrich I. Friedrich II.
196
Göring, Hermann 29, 113, 116, 204, 255, 256, 259, 430 Golda Meir
394
Goldmann, Nahum 238, 240, 372 Goldstücker, Eduard
387
Gomułka, Władysław
196, 315
Friedrich Wilhelm III.
154, 319
Friedrich Wilhelm IV.
400
Fritsch, Theodor
Goedsche, Hermann 323
9, 10, 44, 105, 322
Gorki, Maxim
210
40, 68
Gortschakow, Alexander Goudchaux, Michel Graetz, Heinrich
47, 48
332
42, 43
Graff, Michael 427
G
Grant, Ulysses S.
Galeano, Juan José 2 Galinski, Heinz
123
Galm, Heinrich
124
Grattenauer, Karl Wilhelm Friedrich 153, 154, 155
Ganier-Raymond, Philippe 82, 83 Gaster, Moses 100 Gawdel, Gawriil
145
Gregor V. 289 Gregor IX. 64, 406, 446 Gregor XIII. 425
339
Grevesmöhlen, Carl August 156, 157
Gehrke, Herbert 222, 223
Grigorew, Nikofor 292, 306
Geminder, Bedřich 386
Grimm, Friedrich
Gennadios, Georgios
Grohé, Josef
348
215
222
Genscher, Hans-Dietrich 373
Gromyko, Andrej 394
Georgieva, Mica 342
Groß, Hans 189
Gerlach, Hellmut von 192
Gross, Jan T.
Ghelmegeanu, Mihail 139
Grünbaum, Fritz
Gherghely, Eduard 7
Grünberg, Karl
Ghica, Alexandru 271
Gründgens, Gustaf 160
Gide, André
Grynszpan, Herschel
31, 32, 254, 407
Guarinoni, Hippolyt
2, 3
68
Giordano da Pisa
424
Giscard d’Estaing, Valéry 83
278, 281 116 68
Güntzel, Reinhard
169, 171
462
Register der Personen
Henrici, Ernst
Gui, Bernard 66 Gustaf IV. Adolf
6, 8, 9, 43, 287
Henriquez, Philipe 385
156
Hermes, Johann Timotheus 154
Gutmayer, Franz 365
Hermes, Wilhelm
218
H
Herr, Otto Erich 126
Haas, Rudolf 242
Herrmann, Wolfgang 68, 69
Haber, Fritz 67
Herzl, Theodor 92, 321
Habermas, Jürgen 166, 167
Hess, Rudolf
Hänel, Albert
Hahn, Otto 117
Heydrich, Reinhard 32, 93, 95, 144, 151, 307, 430, 431
Haider, Jörg 157, 158, 427, 428
Hilberg, Raul 444
Hajdů, Vavro 386
Hildebrand, Klaus
8
Halle-Wolffsohn, Aaron Halleck, Henry W.
228
Hillgruber, Andreas 166
154
Hilsner, Leopold 165
145
Hananiah ben Teradion 66
Hilty, Carl 368
Hansha, Iwan 74
Himmler, Heinrich 151
Hardenberg, Karl August von 154, 320, 439, 440 Harlan, Veit
97, 159, 160, 161, 162
Haşdeu, Bogdan Petriceicu 364 Hauptmann, Gerhart 40 Hegmann, Johann 358 38, 39, 261
Heimberg, Adolf Ernst Peter Heinburg, Curt Heine, Heinrich
22, 29, 94, 95, 122,
Hindenburg, Paul von 38, 106, 147 Hinkel, Hans
330, 379
Hippler, Fritz 117 Hirsch, Joel 163 Hirschfeld, Magnus 68, 69, 115
Hausner, Gideon 93 Heilmann, Ernst
166
126
260 69, 116, 435
Hitler, Adolf 4, 22, 29, 44, 59, 61, 95, 112, 120, 123, 126, 146, 147, 167, 170, 179, 180, 204, 222, 224, 237, 250, 255, 256, 265, 271, 274, 322, 323, 329, 427, 433, 444 Hoare, Reginald 138
Heine, Wolfgang 262
Höcker, Karl
Heinemann, Gustav 97
Höfle, Anton 38, 39
Heinrich II. 75
Hörsing, Otto 242
Heinrich IV. 196
Höß, Rudolf 142
Helldorf, Wolf-Heinrich Graf von 229
Hoffmann, Karl-Heinz 232, 233
Helling, Hermann 241, 242
Hofmann, Franz 22
Hemingway, Ernest 68
Hofmann, Otto
Henneberg-Schleusingen, Wilhelm IV. von 391
Hohmann, Martin 172
Hennequin, Émile 413, 415
Holz, Klaus
21
431
429
168, 169, 170, 171,
Register der Personen
Joachim II. Hector, Kurfürst 45
Horkheimer, Max 68 Horonschitzki, Schloime
274
João II.
447
Horthy, Miklós 411
Joël, Manuel 43
Hrůzová, Anežka 165
Johann I. 302
Hull, Cordell 112
Johann Geiler von Kaysersberg
Humboldt, Wilhelm von 320, 439, 440
Johann Georg, Kurfürst 45
Hundseid, Jens 367, 368
Johann von Dorlisheim 17 Johannes XXII.
I Ignatjew, Nikolaj P. 243, 244 Innozenz III.
115, 229, 357, 445
Innozenz IV.
64, 357, 425
İnönü, İsmet 423 Iorga, Nicolae
463
425
64
Johannes XXIII.
448
Johannes Hinderbach 357 Johannes von Capestrano 425 Joly, Maurice 323 Josefthal, Giora 239
364
Irving, David 179, 180, 181, 444
Joseph (Josel) von Rosheim 354, 355, 391, 392
Isaac, Jules
Joseph II.
24, 448
Isaak ben Jakob Alfasi Isabel de Trastámara
66 447
189, 409, 410
Jost, Isaak Marcus
400
Judah ben Samuel Lerma 66
Ischy, Fernand
194
Julius III.
Istóczy, Győző
6, 7, 356
Jungfer, Carl 217, 218
Iwand, Hans Joachim 81
65
Jungreisz, Ernő 311, 312 Juschtschinski, Andrej 39, 339
J Jabès, Umberto 214, 215
K
Jacob von Hochstraten
Kádár, János 325
268
Jacobsen, Hans-Adolf 123
Kaduk, Oswald 22
Jacobsohn, Israel
Kahr, Gustav von 32, 33
232
Jacoby, Johann 399, 400
Kállay, Miklós 411
Jagiełło, Eugeniusz 62
Kaltenborn, Georg von 192
Jahn, Friedrich Ludwig 434, 435
Kantorowicz, Edmund 217, 218
Jaime (Jakob) I. 446
Kapuzinerpater Thomas 80
Jakob I. von Aragón 425
Kardinal Bea 448
Jechiel von Paris 446
Karl I. von Hohenzollern-Sigmaringen 98, 99, 100, 363
Jenninger, Philipp 122, 123, 124 Jensen, Uffa 218
Karl V.
177, 391, 392
Jesus 229, 264, 265, 324, 340, 352, 407, 423, 424, 425, 446, 448, 449
Karl Johan 156
Karl VI. 392, 420
464
Register der Personen
Karsli, Jamal 250
Kosmann, Johann Wilhelm Andreas 155
Kaskel, Cesar 145
Kotzebue, Friedrich August von 435
Kasparow, Garry 366
Kotzebue, Paul 290
Katharina II.
Krenn, Kurt
Katz, Otto
202, 289 386
Kaul, Friedrich Karl
Kruschewan, Pawel
Kazimierz, Jan 247 Keitel, Wilhelm
Keller-Jäggi, Andreas 369 Kempner, Robert M. W.
259, 260
68
Khatami, Mohammed 118, 119 Khomeini, Ayatollah 118 158
Kieser, Dietrich Georg 434 Kirchner, Néstor
282, 305
Krywonis, Maxym 74
259
Keun, Irmgard
431
Krupp von Bohlen und Halbach, Alfried 260
21
Kaus, Gina 68
Kickl, Herbert
4
Kritzinger, Wilhelm
2
Kucharzewski, Jan 62 Kühnen, Michael 108 Küster, Otto
239
Kuhn, Karl Georg 407, 408 Kun, Béla 171, 335 Kuraner, Maxim 126 Kuti, Ferenc 310 Kutisker, Iwan 37, 38, 383 Kuttner, Erich 241
Kirchweger, Ernst 60
Kwaśniewski, Aleksander
Kittel, Gerhard 407
278
Klarsfeld, Serge 415
L
Klehr, Josef
La Guardia, Fiorello Henry 222
22
Klemperer, Victor 61
Lacina, Ferdinand 59
Klibansky, Josef
Lagarde, Paul de 44, 246
19
Klopfer, Gerhard 431
Landau, Moshe
Knochen, Helmut 413, 415
Landauer, Gustav 335
Köhler, Gundolf 233
Landra, Guido 184
König, Adolf
Langbein, Hermann 20
9, 10
93
Kogălniceanu, Mihai 100
Lange, Rudolf 431
Kohl, Helmut 51, 52, 53, 129, 166, 167, 173
Langer, William
Kollontai, Alexandra
68
Lasker, Eduard 57, 403, 404
Kolumbus, Christoph
384
Lasker, Emanuel 365, 366
260
Langerhans, Paul 218
Komlóssy, Ferenc 7
Laval, Pierre 414
Konrad III.
Lazarus, Moritz
391
43, 192
Korabinsky, Johann Matthias 355
Leavitt, Moses 239
Korošec, Anton 212, 213, 354
Leber, Georg 73
Register der Personen
Longerich, Peter
Lefebvre 4 Leguay, Jean
180
Loosli, Carl Albert
413, 415
Lehmann, Paul 66
Losey, Joseph
Leibbrandt, Georg 431
Loubet, Émile 92
Lenin, Wladimir
Louis IX. 445
334, 394
49, 50
415
Lessing, Gotthold Ephraim 155, 201
Loyola y Haro, Don Juan de 178
Leo XIII.
Lucas, Franz 22
227
Leopold I.
Luce, Siméon 420
392
Leuchter, Fred A. 119, 444
Ludendorff, Erich 106
Levetzow, Magnus von 228
Ludendorff, Mathilde
Levi, Avram
Ludwig VII.
342
126
340
Levi, Baro
342
Ludwig X. 75, 420
Levi, Haim
342
Ludwig XIV. 75
Levi ben Shemtov 447
Ludwig XVI.
Levin, Shlomo
Ludwig der Bayer 232
232, 233
85
Lewin, Herbert 124, 125
Lüder, Wolfgang 123
Lewy, Adolph
Lueger, Karl
344, 345, 346, 347
356, 365
Liebermann von Sonnenberg, Max 8, 9, 10, 11, 43, 192
Lüth, Erich 160, 161, 162
Liessem, Thomas 222
Luther, Martin
Lifschitz, Boris
49
115, 190, 355, 431
Luxemburg, Rosa 59, 335
Lijo, Ariel 2
Lvovich, Daniel 380
Lincoln, Abraham 145 Lipiner, Siegfried
Lugrin, Philippe 194
Lyotard, Jean-François 324
236
Lippold ben Chluchim 45, 46
M
Lipstadt, Deborah E. 179, 181
Machno, Nestor 297, 305, 306
Ljutostanski, Ippolit 339
Mahler, Gustav 236
Loebl, Evžen 386
Mahler, Horst 430
Loenartz, Friedrich
261
Maldonado da Silva, Francisco
Löhr, Alexander 426, 427
Malenkow, Georgi 416, 418
Lösener, Bernhard 258
Mandl, Ignaz
Loewe, Isidor
Mann, Heinrich
Loewe, Ludwig
192 192
Loewenthal, Siegfried London, Artur London, Jack
386 68
178
236 67, 404
Mann, Thomas 40, 404 242
Manozca y Zamora, Juan de 178 Manuel I.
176, 248
Margolius, Rudolf 386
465
466
Register der Personen
Marquês de Pombal 176
Mickiewicz, Adam
Marshall, Louis 121
Milton, Sybil
Martin, Toni
Mindszenty, József 311
385
140, 211
30
Martínez, Ferrán 302
Mitterand, François 51
Martínez Burgos, Marcelo 2
Moczar, Mieczysław
Martini, Raymund 446
Möllemann, Jürgen 250, 251
Marx, Karl
Mommsen, Theodor 8, 41, 43, 44, 217, 218
321
Masaryk, Tomáš G. 165 Mascarenhas, João Rodrigues 249 Masloff, Bernhard 346 Maßmann, Hans Ferdinand 435 Matern, Hermann 266 Maurras, Charles 106, 337 Maximilian I. 65, 268
McCarthy, Joseph 361, 362 McCloy, John Jay 54 Mehring, Walter
214
323
Meïr von Rothenburg 64 5, 405
Meitner, Lise
117
Moroiu, Constantin
7
Mortara, Edgardo 252 Moses ben Nachman/Nachmanides 446 29, 431
Müller, Hermann 38 Müller, Josef
18, 19
Müller, Ludwig 322 Münch, Heinrich 274 21
Mulzer, Josef 19 Munk, Leo 246 Mussolini, Benito 183, 184, 185, 186 Mutius, Hans-Georg von 446
Menem, Carlos 2
Muzicant, Ariel
Menem, Munir 2 Menschikow, Michail
Morgenthau, Henry Sr. 307
Mulka, Robert
Meinzolt, Hans 97 Meiser, Hans
303
Montesquieu 176, 323
Müller, Heinrich
125
Meeteren, Wilhelm van
Monomach, Vladimir
Moya de Contreras, Pedro 179
Maximilian II. 392 Mayer, M. M.
211
321
Merker, Paul 265, 266, 267, 387, 395 Meroz, Yohanan 372 Messersmith, George S. 113 Metzger, Ludwig 160
157, 158
Muzio, Girolamo 64
N Nadeau, Gilles 415 Nagy, János 310, 311
Meyer, Alfred 431
Napoleon I. (Napoleon Bonaparte) 86, 162, 190, 199, 320, 439
Meyer, Oscar 51
Napoleon III.
Meyer, Seligmann 43
Nasarow, Michail 339
Meyer, Walter
Navon, Yitzhak 371
49
Michoels, Solomon 394, 416
252, 323
Nebe, Arthur 96, 143
85,
Register der Personen
Neckermann, Josef
433
467
Orlet, Rainer 120
Neemann, Christine 313
Ormond, Henry 21, 441, 442, 443
Neofit
Osiander, Andreas 355
339
Neubert, Gerhard 21
Ossietzky, Carl von 68, 242
Neuländer, Ferenc 310
Oxner, Andreas 3
Neumann, Erich 431 Nevermann, Paul 127
P
Newton, James R. 125
Paalzow, Christian Ludwig 153, 154
Niehoff, Karina 160
Paasch, Carl 192
Nieland, Friedrich Heinrich Wilhelm 126, 127, 375
Pablo Christiani 446
Niemöller, Martin 81, 405
Panholzer, Josef
Nierzwicki, Hans 21 Nietzsche, Friedrich
Pappenheim, Reichsmarschall von 197 Pappenheim, Salomon 154
Nikolajewski, Boris 50 Nikolaus II. 41, 339 425
Nikolaus von Dinkelsbühl 425 Nilus, Sergej 49, 322
Pattai, Robert
6
Paul I. 202 Paulus 448 14
Pelham, Henry
Nizar ben Mohammed Nawar 90 Noether, Emmy 67
Norman, Montagu Collet
Pell, Robert
187
113
Pelle, János 311 Perrot, Franz 58
166, 167, 168
Pesaro Maurogonato, Isaac
Nordmann, Moses 206 Notkin, Nota
80
Peel, Robert
114
Nisman, Alberto 1, 2
Nolte, Ernst
Pasha, Sherif
Paulus Christiani 425
Nipperdey, Thomas 227 Nippold, Otto
19
Papen, Franz von 183
321
Nikolaj I. 215
Nikolaus III.
Pahlen, Konstantin I. 245
112
202, 203
Pétain, Henri Philippe 397 Peter I. 215 Peter Schwarz 425 Petljura, Symon 297, 305, 306, 307, 308
O Öngören, İbrahim Tali
Petrovicescu, Ion
423
271
Oesterle-Schwerin, Jutta 122, 124
Pfefferkorn, Johannes
Ohlendorf, Otto
Phagan, Mary 121
Ónódy, Géza
332
96
Philipp III.
6, 356
75
Philipp IV. 34, 420
Oppenheimer, Franz 210 Oppenheimer, Joseph Süss
65, 268, 269
159
Philippson, Ludwig 43
468
Register der Personen
Picquart, Marie-Georges 91, 92
Rauff, Walther 144
Piffl-Percecic, Theodor 60
Reagan, Ronald
Pilet, Jacques 195
Régis, Max 27
Pilger, Hans
Reichert, Rüdiger von 72
214
51, 52, 53
Pincherle, Leone 332
Reicin, Bedřich 386
Piniński, Leon 139, 141
Rejtő, Sándor 311, 312
Pinkert, Alexander
Remarque, Erich Maria 68
6
Pinsker, Leo 291
Reubell, Jean-François 135
Pius IX. 226, 227
Reuchlin, Johannes 65, 268, 269
Pizarro, Francisco 177 Pobedonoszew, Konstantin 304 Poeschke, Elfriede Pohl, Johannes
232, 233
407
Poincaré, Raymond 106 Pollak, Maks 353 Polylas, Iakovos 348 Pradel, Friedrich 144 Pranaitis, Justinas 40, 339 Puschner, Uwe 320
Richter, Wilhelm
38, 39
Rickert, Heinrich
359
Riesser, Gabriel
Quaet-Faslem, Georg 261 Quidde, Ludwig 68 Quisling, Vidkum 201
201, 332, 400, 402
Ringer, Herbert 137 Rintfleisch
338
Rjumin, Michail
416, 417
Robert von Reading 419 Robinson, Nehemia 239 Rochus von Rochow, Gustav Adolf Rogger, Hans
Q
41, 303
Rohling, August 246, 406, 407 Roosevelt, Franklin D. 110, 111 Rosanow, Wassili 339 Rosenau, Max 275 Rosenberg, Alfred 189, 322, 407
R Raabe, Christian Rabin, Jitzak
Ribbentrop, Joachim von 259
21
371
Rosenberg, Ethel 361, 362 Rosenberg, Julius 361, 362
Radowitzky, Simón 71
Rosenfelder, Jakob 275
Rafsandschani, Ali Akbar Haschemi 2
Rosinger, József 310
Rajk, László 266, 325, 326
Ross, E. A. 121
Rákósi, Mátyás 325
Roth, Alfred
209, 210
Rasch, Otto 96
Roth, Joseph
68
Rath, Ernst vom 31, 254, 407
Rothenberger, Curt
Rathenau, Walther 116, 208
Rothschild, Lord Walter
Ratschkowski, Pjotr (Petr) 49
Rotter, Alfred
Ratti-Menton, Benoit 80
Rotter, Fritz
383 383
127 36
400
Register der Personen
Rublee, George Rudolf II.
Schmaus, Anton 222
112, 113
Schmeitzner, Ernst 6
132, 392
Rudolf, Germar 180
Schmid, Daniel 128
Rudolf von Schlettstadt 424
Schmidt, Helmut 173, 371, 373
Rückwald, Richard 346
Schmidt-Leonhardt, Hans
Rühle, Günther 129
Schmiede, Leo von der
Rühs, Friedrich
Schmitz, Helmut
128
Ruotger 196
Schmitz, Richard
116
Rusch, Paulus 3
Schnell, Silvio
Ruschkewitz, Siegmund 433
Schönen, Paul 374
Rust, Bernhard 67, 68
Schönerer, Georg Heinrich Ritter von 236, 237, 356
S
Schöngarth, Eberhard
Saa, Mário
469
320, 435
117
50
Scholem Alejchem
109
378
431
304
Şăineanu, Lazăr 100, 363, 364
Schröder, Gerhard 375
Sal, Jack 281
Schröder, Richard 241, 242
Salomon, Max 221
Schrötter, Friedrich Leopold von 319
Samyslowski, Georgi
Schroubek, Georg R. 3
339
Sănătescu, Constantin 272
Schtscheglowitow, Iwan 40
Saraçoglu, Şükrü 412
Schulgin, Witali
Sarda, Rubina 347
Schulze, Ursula 423
Sauder, Gerhard
Schwab, Günther 129
69
40
Sayyid Abbas al-Musawi 1
Schwartzkoppen, Max von 90
Schacht, Hjalmar
Schweitzer, Hans 182
112, 113, 228
Schäffer, Fritz 239
Schwering, Ernst 374
Schäffle, Albert
Seghers, Anna 67, 68
58
Schamir, Yitzhak
371, 373
Şerb, Teodor 272
Schaper, Hermann 278
Sergie, Constantin 273
Scharf-Katz, Raphael 137
Severing, Carl 261
Schein, Elizier
Seyffert, Rudolph 162
363
Schelling, Ludwig Hermann von 359
Seyß-Inquart, Arthur 116
Scherer, Josef
Sharett, Moshe 240
358
Schleiermacher, Friedrich
153
Sharon, Ariel 250, 251
Schlesinger, Paul 242
Shdanow, Andrej 393, 416
Schlüter, Horst
Sherman, William Tecumsah 145
114
Schmakow, Alexej 339
Shinnar, Felix E. 239
470
Register der Personen
Sigismund von Tirol
357, 358
Storm, Theodor 160
Sima, Horia 270, 271
Strauß, Franz-Josef 376
Simmons, William J. 122
Strauß, Julius
275
Simon de Montfort 419
Strauß, Simon
275
Simon von Trient
2, 349
Streckfuß, Karl
399, 400, 401
Simone, André 386
Streicher, Julius
61, 259, 274
Simonyi, Iván 6
Strunk, Arnold 374
Sinclair, Upton 68 Sinowatz, Fred 427 Sixtus IV. 357, 358 Sklarek, Leo 382, 383 Sklarek, Max 382, 383 Sklarek, Willy 382, 383 Slánský, Rudolf 266, 267, 326, 386, 387, 397 Slaton, John M. Šling, Otto
121
386
Smith, Gerald L.K. 362 Solymosi, Eszter
355, 356
Sommerer, Hans 4 Son, Aurelian
138
Soto, Hernando de 177 Stalin, Josef 211, 267, 277, 325, 326, 386, 393, 394, 395, 416, 417, 418 Stambolow, Stefan 342 Stampfer, Saul 74 Stark, Hans
204, 258, 431
Stürmer, Michael 166 Süleyman I. 343 Süskind, Wilhelm E. 54 Sundby, Jon 368 Sutro, Baruch 199 Suttner, Bertha von 68 Šváb, Karel 386 Szálasi, Ferenc 411 Szkalla, Richard 6 Szponder, Andrzej 140 Sztójai, Döme
411
T Tager, Aleksander
41, 49
Takač, Margita 353 Tal, Michail 366 Tamagnini, Eusébio 109 Tarrasch, Siegbert 365
22
Stecher, Reinhold 3 Stein, Alexander 323 Steinitz, Wilhelm
Stuckart, Wilhelm
365
Tarso, Paulo de 109 Taylor, Myron C. 111, 112 Teoharie, Gheorghe 273
Stelling, Johannes 223
Thaarup, Thomas 157, 190, 191
Stettauer, Carl 391
Theobald V. von Blois 340, 341
Stoecker, Adolf 6, 7, 9, 10, 43, 359, 432
Thielicke, Helmut 127
Stohrer, Eberhard von 214
Thomas of Monmouth
Stoilow, Konstantin 342, 343
Tichomirow, Lew 41
Stojałowski, Stanisław 141
Timaschuk, Lidija 416
Stola, Dariusz 211, 212
Tlass, Mustafa
80
340, 351, 352
Register der Personen
Toaff, Elio
185
W
Toch, Michael 149
Wald, Pedro
Toller, Ernst
Waldheim, Kurt 426, 427, 428
68
Tolstoi, Dimitri
304
Tomaczewski, Jerzy
381
Walendy, Udo 444 30
Walser, Martin 428, 429, 430
Torquemada, Tomás de 421
Walsin-Esterházy, Ferdinand
Treitschke, Heinrich von 7, 8, 41, 42, 43, 44, 217
Warburg, Max 208
Tretjakow, Sergei 68
Watson, Tom
Wassermann, Jakob
91
68
122
Trotzki, Lew (Leo) 171, 306
Wattenbach, Wilhelm
Tscheberjak, Vera 40
Weber, Max 43
Tucholsky, Kurt 67
Weck, René de
Tüngel, Richard 260
Wehler, Hans-Ulrich 44
Tulard, André 413, 414, 415
Weinberg, Robert 291
Tyrolf, Walter
Weiß, Bernhard 181, 182, 183
159, 160, 162
Weiss, Yfaat
U Ulbricht, Walter
471
138
32
Weizmann, Chaim 112, 167
266
Ulmenstein, Heinrich Christian von 400 Umbreit, Carl 222 Unferdorben, Simon
43
Weizsäcker, Ernst von 259 Weizsäcker, Richard von 53 Welles, Benjamin Sumner 110
356
Wels, Otto
38
Urechiă, Vasile Alexandrescu 363, 364
Wennerstrum, Charles F. 260
Uriel von Gemmingen 268
Wentritt, Harry 144 Wergeland, Henrik
V
Werner, Ludwig 9
Vallat, Xavier 397, 413 Vallejo-Nagera, Antonio
201
109
Valtier, Fritz von 114 Van Wagoner, Murray D. 55
Westerwelle, Guido 250 Widmann, Albert Wieser, Max
143
68
Wildt, Michael
69
Vileišis, Jonas
274
Wilhelm von Liebenstein 17
Vinzenz Ferrer
425
William of Norwich
Virchow, Rudolf
8, 43, 347
340, 341, 351
Winter, Ernst 343, 344, 345, 346, 347
Vogel, Heinrich 97
Winterton, Earl of 111, 112, 113
Voltaire
Wirth, Christian 145
135, 176
Vranitzky, Franz 428
Wisliceny, Dieter
Vultschova, Elena 342
Witte, Sergej 321
388
472
Register der Personen
Wohlthat, Helmut Wolf, Simon
113
Y
146
Yerushalmi, Yosef Hayim
Wolfart, Philipp Ludwig 401 Wolff, Joseph Sabattja
154
Wolff, Julius 313
Yrigoyen, Hipólito 381
Z Zander, Alfred 51
Wolff, Theodor 68 Wollheim, Norbert
249
437, 441, 442, 443
Wowsi, Miron 416 Wrisberg, Ernst von 209, 210 Wrobel, Lothar 108
Zeeland, Paul van
39
Zimmermann, Oswald 11 Zöllner, Friedrich Zola, Émile
43
25, 27, 91, 92
Zündel, Ernst 181, 443, 444, 445
Wüster, Walther 114
Zvi, Yitzhak Ben 94
Wurczel, Ferenc 310
Zwerenz, Gerhard 128
473
Register der Orte und Regionen A
B
Aargau 199, 369
Bacău 99
Abertillery
389
Abu Dhabi
371
Baden 164, 205, 206, 207, 208, 320, 332
Addis Abeba 183
Bagdad 269, 270
Ägypten 15, 214, 215, 384
Balkan 46, 47, 95, 200
Äthiopien 183, 184
Balta 303
Afrika
Baltikum 336
175, 183, 384, 385
Albanien 437 Alexandria Algerien
214, 215 27, 28, 77, 78, 397, 398
Algier
27, 28
Alsfeld
264
Amasya 343 Amsterdam
38, 39, 49, 152
Ancona 65, 185 Andalusien
421
Andlau 17
Bamberg 18 Bar-le-Duc 25 Barbados
35, 76, 385
Barcelona
64, 302, 445, 446
Basel 36, 51, 194, 206, 293, 425 Bauerbach 24 Bayern 17, 18, 32, 33, 55, 104, 114, 163, 231, 232, 293, 433, 439, 440 Bayonne 75, 76 Beaune-la-Rolande
Angers 25 Angola 109 Ansbach 4, 5, 231, 275
413, 414
Bedburdyck 349, 350 Belgien
29, 39, 198, 199, 227, 436
Antillen 76, 385
Belgrad 145, 354
Aragón 175, 302, 421, 425, 446
Bełżec
Argentinien 1, 71, 93, 380, 381
Bentschen (Zbaszyn)
Arnswalde-Friedeberg 192
Bergen-Belsen 52
Aruba 35
Berlin 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 32, 38, 39, 41, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 57, 68, 69, 70, 95, 97, 98, 99, 100, 102, 111, 113, 116, 117, 123, 125, 129, 144, 150, 153, 154, 155, 161, 168, 181, 182, 183, 192, 200, 217, 218, 222, 223, 228, 229, 242, 255, 267, 270, 287, 288, 299, 300, 307, 316, 320, 332, 344, 356, 359, 379, 382, 383, 400, 401, 402, 404, 407, 414, 429, 431, 435, 441
Aqui 333 Augsburg 30, 149, 338 Aurich 242 Auschwitz 18, 20, 21, 22, 82, 89, 93, 94, 107, 124, 128, 129, 130, 141, 142, 174, 180, 250, 309, 383, 411, 413, 414, 428, 429, 437, 441, 442, 443, 444 Australien
12, 153
Avignon 293
Bern
89, 142, 144 29, 31
49, 50, 51, 194, 369
474
Register der Orte und Regionen
Bessarabien 47, 48, 88, 138, 272, 282, 290, 298, 336
Brynmawr
Benelux-Staaten 12
Budapest 152, 266, 312, 325, 356, 411
Berbice
76
Buchenwald 18, 141, 255 Buenos Aires
Beuthen (Byton) 29 Białystok 152, 277, 278, 305, 339 Bidache 76 Bielefeld
389
1, 71, 72, 177, 380
Bukarest (Bucureşti) 7, 98, 99, 100, 139, 270, 271, 273, 363, 364 Bukowina 88, 106, 138, 236, 336, 409
12
Birkenau 20, 21, 124, 444
Bulgarien 47, 48, 200, 270, 271, 342, 437
Bîrlad 99
Burgund 263
Bitburg 51, 52, 53, 129, 167 Blida
C
27
Blois 340, 341
Çanakkale 422, 423
Bochum 9, 10, 11
Cannes 128
Böhmen 17, 332, 409
Canton 122
Bologna 65, 252
Cardiff
Bonaire 35
Cartagena de Indias
Bonn 127, 237, 238, 239, 240, 371, 407
Cayenne 76
Bordeaux 25, 75, 76, 86, 117 Bosnien 46, 47, 48
45, 46, 189, 293, 315
Brandenburg/Havel 141 Bratislava (Pozsony, Pressburg) 301, 354, 355 Braunschweig 68 Breslau 48, 149, 154 Bretten
73, 295, 305
3
Bromberg
65
Charkiw 291 Chełmno (Kulmhof) Chemnitz
6, 7
China 361 315
Coimbra Colmar
109, 176 17, 420
Constantine 77
24, 207
British-Guayana 112, 113 Brixen
Chambéry
Cleve
Bremen 117, 439 Brest
Celle 108 Chalon-sur-Saône 25
27
Brandenburg
Cremona 65 Crossen 315 Csárdáspuszta 309
346
Bruckberg 4
Cuenca 302
Brünn 149
Curaçao 35, 76, 385
Brüssel (Bruxelles)
34, 35, 175, 177
Chalkis 348
Botany Bay 153 Boufarik
390
39, 46, 239, 323
Częstochowa
247
89, 93, 144
Register der Orte und Regionen
D
Düsseldorf 69, 349, 350, 351, 400
Dachau 116, 141, 255, 313
Dunapentele 309
Dänemark
157, 162, 190, 200, 331, 436
Durmenach 206
Dalmatien
236
Dusetos
Damaskus
15, 80
Danzig 124, 143, 164, 219, 344 Darmstadt
81
Debrecen 309
273, 274
E Edirne 422 Eger 149
Deggendorf 17
Eisenach 405, 434
Deutsche Demokratische Republik (DDR) 20, 81, 137, 237, 241, 265, 266, 267, 375, 376, 387, 395, 416, 436, 437
Elsass 17, 85, 86, 91, 134, 135, 136, 205, 206, 207, 332, 354, 420
Deutschland 4, 5, 6, 8, 12, 14, 18, 19, 20, 23, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 37, 38, 42, 43, 44, 47, 51, 54, 55, 57, 58, 65, 68, 69, 78, 81, 88, 91, 94, 101, 102, 103, 105, 106, 107, 108, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 120, 123, 127, 129, 141, 147, 150, 151, 155, 159, 162, 164, 165, 168, 169, 170, 172, 174, 185, 186, 187, 195, 204, 207, 208, 214, 215, 219, 221, 225, 226, 227, 232, 233, 237, 238, 239, 240, 250, 251, 252, 254, 257, 259, 260, 261, 262, 266, 268, 269, 270, 278, 281, 284, 286, 289, 293, 301, 313, 322, 323, 329, 332, 334, 335, 355, 371, 372, 373, 374, 377, 379, 380, 383, 387, 396, 401, 405, 407, 414, 424, 428, 429, 432, 433, 434, 436, 438, 439, 440, 441 Dieppe 25 Djerba
89
475
Elfenbeinküste
399
England 12, 15, 47, 112, 187, 188, 199, 219, 322, 341, 352, 389, 390, 418, 419, 422, 440 Épinal 25 Erfurt 11, 50, 137, 149, 268, 293 Erlangen 103, 232 Essequibo 76 Estland
336
Europa 5, 6, 7, 12, 14, 15, 36, 46, 47, 48, 74, 80, 90, 93, 94, 95, 98, 101, 104, 110, 115, 117, 118, 119, 134, 147, 162, 163, 164, 168, 173, 199, 200, 212, 225, 226, 227, 249, 252, 254, 260, 262, 263, 281, 295, 297, 313, 314, 322, 327, 332, 334, 337, 340, 352, 355, 370, 384, 390, 410, 418, 430, 431, 432, 436, 439, 440, 447 Evian
102, 110, 111, 112
Dominica 76
F
Donauwörth 149
Felschtyn (heute Gwardijske) 307
Dormagen 349
Fernstein 231
Dorohoi 272, 273
Ferrara
Drancy 398, 413, 414
Flehingen 24
Dresden 6, 7, 10, 67, 117, 197, 400
Florenz 333
Dubossary 282
Focşani 99
Düren 349
Franken 18, 61, 274, 293, 332, 338, 392
65
476
Register der Orte und Regionen
Frankfurt am Main 20, 21, 22, 125, 129, 132, 149, 163, 164, 194, 239, 268, 405, 439, 440, 442, 443 Frankfurt/Oder 223 Frankreich 6, 7, 12, 24, 25, 26, 27, 29, 31, 32, 36, 40, 47, 57, 64, 66, 75, 76, 77, 78, 82, 83, 84, 85, 86, 90, 91, 92, 96, 98, 102, 106, 117, 121, 130, 131, 132, 134, 135, 136, 162, 194, 198, 199, 205, 206, 207, 208, 227, 254, 258, 263, 266, 292, 293, 322, 325, 331, 332, 336, 337, 340, 341, 365, 392, 396, 397, 398, 413, 414, 415, 420, 421, 422, 424, 436, 439, 440 Französisch-Guyana 91
Grevenbroich 349, 350 Griechenland 12, 271, 348, 384, 412, 436 Groß-Rosen 18, 141 Groß-Rottmersleben
Großbritannien 36, 47, 80, 100, 106, 110, 179, 187, 190, 219, 258, 292, 336, 394, 436, 439, 441 Guadeloupe 76 Guajira
35
Gunzenhausen 274, 275, 276 Gusen 142
Freiburg 73, 161
H
Friedrichshafen
Halberstadt 315
Friesenheim
108
24
Halle
Frysztak 140
149, 399, 400
Hamburg 107, 108, 126, 127, 159, 160, 161, 164, 219, 332, 439
Fulda 168
Hannover 31, 254, 402, 439, 440
G Galaţi 99, 138, 139, 272 Galizien 106, 139, 140, 199, 236, 285, 289, 294, 295, 307, 335, 336, 383, 409, 410
Hara Srira
Hacı Bey [Hadschi Bey]
Geldern 349
Heidelsheim
Georgien 395 Glehn
24 350
Herţa 272
349
Herzegowina 46, 47, 48
176
Gochsheim
238, 268
Heilbronn 149 Hemmerden
Gladbach 349
Hessen 9, 11, 125, 293, 318, 333
24
Hessen-Nassau 81
Göttingen 161 Gomel (Homel)
298
Hildesheim 149
Gorodeja 295
Hoek van Holland 219
Granada
Hortobágy 309
Graz
34, 302, 421
149
289
Hebron 220 Heidelberg
Georgia 121, 122, 146
89
Harwich 219
Gascogne 419
Goa
241
Huljaj Pole 305
Register der Orte und Regionen
I
K
Iaşi 98, 99, 276, 277
Kärnten
Iberische Halbinsel
Kairo 214, 215
175, 384
Ingolstadt 33, 255 Innsbruck 2, 3, 4 Irak 265, 270 Iran 1, 2, 15, 118
17, 157
Kalwarya Zebrzydowska 140 Kameniez-Podolsk (Kamenetsk-Podolsk/ Körösmezö) 411 Kanaan 153 Kanada 12, 100, 443
Irland 187
Kanarische Inseln
Isenburg
Kantakusenka 304
232
Israel 2, 12, 15, 16, 87, 88, 93, 94, 108, 118, 137, 161, 172, 210, 211, 212, 219, 234, 235, 237, 238, 239, 240, 241, 250, 270, 281, 312, 370, 371, 372, 373, 375, 376, 386, 387, 394, 395, 412, 428, 436, 449 Istanbul 412, 422 Italien 12, 27, 47, 65, 76, 106, 107, 175, 177, 183, 184, 185, 186, 199, 226, 227, 252, 270, 331, 333, 336, 358, 378, 382, 436
384
Karcag 310 Karibik 35, 384, 385 Karlsruhe 120, 161, 207 Kassel 9, 313, 318 Kastilien
175, 302, 421
Kentucky 145 Kertsch
305
Kiel 68 Kielce Kiew
279, 280, 281, 294 39, 41, 295, 303, 304, 306, 339
J
Kischinew (Chişinău) 282, 283, 298, 303, 304
Jamaika 34, 35, 76, 385
Kiszombor 309
Japan 270
Kitzingen 16
Jarosław
Kleinochsenfurt 16
295
Jedwabne 277, 278, 279, 281 Jekaterinoslaw (heute Dnipropetrowsk) 304 Jelisawetgrad (heute Kirowohrad) 303 Jena
434
Koblenz 17, 73, 149 Königsberg
67
Köln 124, 125, 148, 149, 221, 222, 268, 269, 293, 349, 359, 373, 374, 375, 376, 377 Köslin 288
Jerusalem 14, 83, 93, 94, 219, 220, 270, 372, 431, 449
Kolbuszowa 295
Jöhlingen 24
Konitz (Chojnice) 345, 346
Jülich 349, 351 Jugoslawien 437
212, 213, 354, 412, 436,
477
Kolomea 308 29, 288, 343, 344,
Konstantinopel 46, 47, 289 Konstanz
149
478
Register der Orte und Regionen
Kopenhagen 164, 191
Luxemburg
96, 237, 240, 241, 436
Korfu 347, 348
Lyon 25, 90, 130
Kovno (Kowno) 273, 274 Krakau 96, 140, 211, 279
M
Krasnojarsk
Madagaskar 399
340
Krefeld 351
Madeira 384
Krim 216, 394, 395
Mähren 6, 17, 141, 332, 409
Kristiania 366
Magdeburg 32, 117, 149, 241, 242, 293
Kroatien
Mailand 66, 422
96
Maindreieck 16
Krywij Rih 304 Krzemieniec (Kremjanez)
74
Mainz 196, 231, 268
Kuba 34
Majdanek 142, 444
Kunmadaras 309, 310, 311
Makó 309 Maly Trostinec 144
L La Rochelle 76 Labastide-Clairence 76 Lateinamerika Lefkas
1, 110, 175
348
Leipzig 9, 333, 363, 434 Lettland 336 Libanon 1, 2, 14, 15, 233 Lida 295
Mandschurei 298 Mannheim 119, 120 Mantua 65 Marburg
11, 103, 245, 246
Marchegg 354 Marietta
121
Marseille
25
Marokko 15, 27, 89, 398 Martinique
Ligny 25 Lima 34, 175, 177, 178 Lincoln 419 Linz 235, 236 Litauen 37, 96, 202, 216, 238, 273, 274 Łódź 117, 124, 211 Łomża 277, 278 London 25, 48, 49, 90, 92, 107, 112, 113, 116, 180, 183, 187, 188, 237, 239, 258, 348, 389, 390, 391, 402, 419, 436
76
Mauthausen 142, 143 Mecklenburg Melitopol
164, 223
304
Menzingen 24 Merseburg 400 Mesopotamien 384 Metz
75
Mexiko 266 Mexiko-Stadt 34, 175, 177, 179
Lothringen 134, 135, 136, 420
Minden 315
Lublin 73, 87, 145
Minsk 144, 295, 305
Ludwigsburg
Miskolc-Diósgyör 309, 311
20
Lübeck 439, 441
Mississippi
145
Register der Orte und Regionen
Mistras
479
Nisko 295
290
Mogilew 144, 298 Moldawien (Moldau, Moldova)
282
Montenegro 47, 48
Nordafrika 76, 91, 175, 177, 396, 398, 447 Nord-Bukowina 138, 272 Nordrhein-Westfalen 250, 374
Montpellier 63 Moskau 49, 51, 322, 325, 339, 386, 394
Norden 313, 314
Mühlbach 24
Norwegen 436
München 18, 19, 21, 33, 54, 55, 72, 87, 88, 108, 114, 116, 149, 163, 194, 253, 254, 334, 387, 433 Münster 67
Norwich
95, 190, 200, 201, 366, 368, 340, 351, 352
Nowgorod Sewerski
306
Münzesheim 24
Nürnberg 96, 149, 232, 258, 259, 260, 293, 313, 338
Murcia 179, 302
Nuevo León 179
Mustapha 27
O
N
Oberammergau 264
Nahost (Naher Osten) 1, 36, 37, 118, 235, 251, 269, 370, 371
Oberhaid 391
Nancy 25, 117
Oberschlesien 332
Nantes 25
Obertyn 308
Narbonne 351
Oberwesel
Natzweiler
Odenkirchen 350
Navarra
143
76, 422
Neapel
293
349
Odessa 289, 290, 291, 292, 299, 303
64
Österreich 3, 6, 12, 17, 30, 38, 59, 60, 95, 101, 102, 106, 110, 113, 116, 141, 157, 158, 162, 198, 199, 219, 227, 232, 236, 252, 253, 281, 293, 315, 319, 330, 331, 332, 334, 335, 365, 409, 410, 411, 414, 426, 427, 428, 436, 437, 439
Neuengamme 143 Neuenhoven 349, 350 Neuhof 168 Neuss
Oberrhein
349, 361
Neustettin (Szczecinek) 287, 288
Österreich-Ungarn 47, 48, 106
Nevis
Offenbach 69, 124, 125
76
New York 111, 146, 222, 238, 326, 361, 443 Newport
389
Niederlande 35, 37, 38, 198, 199, 263, 436 Niemirów (Nemyriw) Nikolajew
304
74
Orléans
340
Oslo 366 Osmanisches Reich 36, 46, 47, 76, 80, 88, 175, 177, 343 Osteuropa 12, 42, 105, 106, 151, 187, 261, 292, 299, 315, 317, 334, 336, 380, 386, 387, 437
480
Register der Orte und Regionen
Ostpreußen 143, 402
279, 280, 281, 294, 295, 298, 303, 307, 308, 315, 319, 322, 331, 336, 388, 394, 395, 414, 436, 437
Owinska 141
Polen-Litauen 202
P Paducah 145
Połonne 74
Palästina 13, 14, 15, 16, 18, 28, 32, 36, 37, 48, 89, 102, 111, 112, 219, 220, 221, 239, 269, 291, 446
Polná 165 Poltava
Panama 34
Pommern 143, 288
Paris 7, 25, 27, 28, 31, 32, 46, 48, 49, 64, 66, 67, 75, 85, 86, 90, 92, 101, 117, 134, 135, 192, 194, 206, 207, 222, 254, 321, 331, 356, 363, 364, 382, 398, 406, 413, 414, 415, 436, 439, 445, 446
Portugal 12, 34, 56, 65, 109, 175, 176, 177, 248, 249, 302, 366, 447
Parma 422 Passau
149, 231
Patras
290, 348
Payerne 194, 195
144
Pomeroon 76
Posen 141, 217, 288, 332, 399 Prag 59, 66, 148, 149 Preußen 57, 98, 147, 164, 182, 183, 197, 198, 199, 232, 261, 262, 288, 319, 320, 332, 345, 402, 439 Proskuriw (heute Chmelnytzkyj)
306
Provence 422
Perpignan 25
Przemyśł 295
Peru 34, 177, 178
Pulkau 17
Pesaro 65 Petersburg
283, 305, 321, 322
Petrovo selo
353, 354
R Rabka 279
Peyerhode 76
Rahovo (Oriahovo)
Pfalz
Rappenau 24
293
Philadelphia 57 Philippinen 113 Piemont 252, 332 Pinsk 295 Pithiviers 413, 414 Ploieşti
363
Podhajce 295 Podolien 74, 303, 305 Pösing (Pezinok) 354, 355 Polen 6, 18, 20, 29, 30, 31, 32, 33, 62, 63, 64, 73, 74, 83, 88, 95, 143, 150, 151, 152, 162, 190, 204, 210, 211, 212, 215, 225, 246, 247, 248, 253, 277, 278,
342
Ravenna 65 Ravensbrück 124, 141, 143 Regensburg
197, 293, 338
Reni 138 Rennes 91, 92 Réunion 76 Rheinland 66, 221, 341, 350, 361 Rhodesien 113 Rhymney 389 Rinn 2, 3, 4 Röttingen 16, 337, 338 Rom 64, 65, 177, 186, 226, 229, 252, 268, 384, 425, 448
Register der Orte und Regionen
Roman 99 Rouen 25, 75, 76 Rossawa 306 Rostock 67 Rostow am Don 304 Rothenburg ob der Tauber 149 Rouen 25, 75, 76 Rufach 17
481
Schweiz 12, 50, 51, 107, 111, 194, 195, 199, 206, 227, 233, 234, 235, 293, 326, 327, 328, 366, 368, 369, 370, 436, 437, 448 Schwerin
223
Schytomyr 304, 306 Sedlitz 298 Seelisberg
448
Selz 17
Rumänien 6, 7, 46, 47, 48, 96, 98, 99, 100, 138, 139, 200, 270, 271, 276, 292, 325, 331, 336, 394, 403, 437 Russland 6, 40, 41, 46, 47, 48, 49, 106, 107, 121, 200, 202, 215, 243, 289, 290, 294, 295, 297, 303, 304, 319, 321, 322, 334, 338, 339, 356, 380, 383, 403, 439, 440 Rzeszów 295
Senegal 399 Serbien 6, 47, 48, 200, 353, 411 Seredyna-Buda 306 Sevilla 177, 302 Shanghai 28 Sibirien 277, 417 Siebenbürgen 336, 364, 409 Simferopol 304 Skandinavien 12
S Saargebiet 102 Sachsen 6, 164, 197, 232, 242 Sachsenhausen 32, 124, 141, 142, 143, 144, 160, 255, 383 Safed 220
Skurz
344, 345
Slowakei 96, 301, 354, 387, 388, 437 Sniatyn 295 Sobibor 87, 88, 89, 142 South Wales 389, 390, 391 Southampton 219
Saint-Dié 25 Saloniki 152, 426 Salzburg 161, 388 San Stefano 47, 48 Sanok 295 Santo Domingo (Saint-Domingue) 34, 76 Sardinien 332
Sowjetunion 32, 88, 95, 96, 138, 144, 151, 152, 211, 224, 225, 235, 237, 258, 266, 267, 270, 271, 276, 280, 296, 325, 336, 361, 362, 366, 386, 387, 394, 414, 430 Spanien 12, 27, 34, 35, 56, 76, 82, 84, 109, 130, 175, 177, 178, 277, 292, 302, 307, 325, 384, 415, 421, 422, 425, 447 Speyer 196
Saudi-Arabien 15, 370, 371, 373
Stalino
Savoyen 65, 293
Stari Bečaj
Schpola 304
Starodub 304
Schwaben 293
Stary Sącz 141
Schwarzheide
Steiermark
124
144 353
17
482
Register der Orte und Regionen
Straßburg 17, 86, 293, 392, 420
Toulon 293
Straubing 231
Toulouse 64
Strzyżów 295
Tours 340
Stuttgart 20, 81, 239, 405
Transnistrien
Stutthof 143
Trawniki 87, 88
Sudetenland 113
Treblinka 87, 89, 142
Südamerika 12, 177, 218
Tredegar 389, 390
Südosteuropa 262 Sundgau 205 Suriname 76 Syrien 15, 89 Székelyudvarhely 325
T Talbotton 146 Tarnobrzeg 295 Tarnopol 295 Tauberbischofheim 17 Taubertal
16
Triest 409 Tripolis
290
Trondheim 366 Trikala 348 Tschechoslowakei 95, 102, 219, 326, 386, 395, 414, 416, 436 Tscherkasy 306 Türkei 89, 412, 422 Tultschin (Tulczyn) 74 Tunesien 27, 89, 398
Uissigheim
Teheran 118 Tel Aviv 51 Tennessee 145 91
Theresienstadt 124, 152 Thomasville 146 Thrakien 422, 423 Thüringen 137, 293 Tirol 2, 3, 357, 358 Tiszaladány 309 Tiszaeszlár
Trient 2, 349, 356, 357, 358, 426
U
Taurien 303
Teufelsinsel
88, 273, 292
5, 355, 356
Tobago 76 Tokat 343
16, 17
Ukraine 37, 59, 73, 74, 87, 100, 144, 216, 243, 289, 291, 292, 296, 297, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 336, 339, 411, 437 Uman
303
Ungarn 6, 7, 22, 96, 270, 308, 311, 312, 325, 326, 332, 334, 335, 355, 356, 409, 410, 411, 436, 437 USA (Vereinigte Staaten von Amerika) 12, 15, 36, 51, 52, 53, 100, 102, 110, 111, 112, 118, 121, 122, 145, 169, 179, 198, 212, 219, 238, 252, 258, 260, 266, 267, 281, 295, 322, 361, 362, 385, 394, 417, 427, 431, 437
Toledo 177
V
Topoľčany 301
Vaslui 99
Toronto 444
Venezuela 34, 35
Register der Orte und Regionen
Venedig 65, 332 Ventimiglia
357
Victoria
389
Vietnam
399
Vraca
Willich Winniza
Waadt
Wandsbek
24 61
Warschau 62, 142, 152, 211, 253, 254, 280, 303 Wartburg Warthegau
434, 435 143
Washington 113, 145, 326, 327 Wassenaar Waterloo
239, 240 162
Weinheim 119 Weißrussland 437
144, 202, 216, 277, 298,
Western Valleys of Monmoutshire 389 Westfalen Wetterau Wieliczka
295
74
Wołkowysk 295
98
389, 390, 391
Walldorf
351
Wolhynien 74, 305
194
Walachei
24
Wilna (Vilnius)
W
Wales
Wien 3, 46, 48, 57, 59, 60, 102, 106, 116, 157, 158, 219, 235, 333, 365, 391, 407, 409, 410, 439, 440 Wiesloch
342
483
232, 320, 332 17 140
Worms 196, 294, 392 Württemberg 440
159, 239, 332, 405, 439,
Würzburg 16, 163, 164, 196, 337, 338, 391, 433
X Xanten 344, 349, 351, 358, 359, 360, 361
Y Yeşilköy
47
Z Zante 348 Zemun (Semlin) 145 Zentralasien Zürich 51 Zytomir 295
277
485
Register der Organisationen, Institutionen und Bewegungen Berliner Kleiderverwertungs-Gesellschaft (KVG) 382
A Aargauischer Tierschutzverein 369 Action française
B`nai B`rith (auch Bnai Brith) 362
106, 337
Aktionsfront Nationaler Sozialisten (ANS) 107
Böckel-Bewegung 246 Bonifatius-Verein 407
Al-Qaida 90
Brichah 281
Alianţa universală anti-israelită 7
Bund Deutscher Kriminalbeamter 189
Alldeutscher Verband 105 Allgemeine Wirtschaftshilfe
122, 146,
18
C
Alliance anti-israelite universelle 7
CDU 52, 122, 124, 168, 169, 172, 239, 371, 376
Alliance antijuive universelle 6 Alliance israélite universelle 46, 47, 98, 99, 192, 252
CSU 18, 52, 172, 371, 376, 438
American Jewish Committee (AJC) 121, 362
Christliche Volkspartei
12,
Asociación Mutual Israelita Argentina (AMIA) 1 Ansbacher Kreis 4, 5 Anti-Defamation League (ADL) 265, 362 Antisemitenpartei
122,
9, 356
Antisemitische Partei 11 Antisemitische deutsch-soziale Partei 10, 11
Christian Patriots 323 140
Christlich-liberaler Verein 8 Christlich-soziale Partei 10, 11 Comité français de la Libération nationale 78 Comité für die rumänischen Juden
47
Council of Centers on Jewish-Christian Relations 265
D
Antisemitische Volkspartei 11
Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas (DAIA) 1
Arabisches Hochkomitee
Deutsche Antisemitische Vereinigung 9
Arabische Liga
14
15, 16, 240
Auswärtiges Amt 388, 431, 432
214, 253, 259, 260,
B Bekennende Kirche
Deutsche Arbeitsfront 329 Deutsche Christen 5, 103, 405 Deutsche Demokratische Partei (DDP) 182, 382 Deutsche Reformpartei
4, 81, 405
Berliner Bewegung 217
11
Deutsche Reichspartei (DRP) 374, 375 Deutsche Studentenschaft 68, 69
486
Register der Organisationen, Institutionen und Bewegungen
Deutscher Verein in Kairo 214 Deutsch-Israelische Gesellschaft Deutschkonservative Partei
G 372
10
Gestapo 29, 111, 113, 117, 253, 431
Deutschliberale Partei 235 Deutschnationaler Kampfring 222 Deutschnationale Reform-Partei
Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit 161, 338, 372
9
Deutschnationaler Verein 236 Deutschschweizer Tierschutzvereine 368 DNVP (Deutsch-Nationale Volkspartei) 38, 261
Główna Komisja Badania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu – Instytut Pamięci Narodowej (IPN) 278, 280
H Hagana 14 Hamas 323 Hibbat Zion 291 Hisbollah
E Eiserne Garde
2
Hitlerjugend 139, 270
Eiserne Front 70 Emnid-Institut 12 Evangelische Kirche der Altpreußischen Union 103 Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) 81, 97, 405
61, 69, 70
Hlinkova Slovenská ľudová strana (HSĽS) 301, 387 Hochschulring Tübinger Studenten (HTS) 232 House Un-American Activities Committee (HUAC) 362
I
Evangelische Kirche Hessen-Nassau 81
Illuminaten 324
F
Institut für Konflikt- und Gewaltforschung 12
FDP 19, 123, 250, 371
Institut für Sexualwissenschaft 69
Federal Bureau of Investigation (FBI) 361
Institut für Sozialforschung 375
Föderation Jüdischer Gemeinden 139
Institut zur Erforschung der Judenfrage 407
Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands 116 Fortschrittspartei
8, 44
Institut für Zeitgeschichte 21
Integralismo Lusitano 109 Internationale Brigaden 325 Internationales Auschwitz-Komitee 20
FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) 157, 158, 427
Interregionale Akademie für Personalführung (MAUP) 339
Freiwilligenarmee der Weißen Bewegung 297
Irgun 14, 372
Freizeitverein Hansa 108
Islamische Armee zur Befreiung heiliger Stätten 90
Register der Organisationen, Institutionen und Bewegungen
487
Israelitische Kultusgemeinde Bern 49
L
Israelitische Kultusgemeinde München 33
Landesverband des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten 33
Israelitische Kultusgemeinde Nürnberg 232
Leseverein der deutschen Studenten in Wien 236
Israelitische Kultusgemeinde Wien 157, 158, 219
Ligue Antisémitique Française
J
Ligue internationale contre l’antisémitisme (LICA) 214
JAK (Jüdisches Antifaschistisches Komitee) 394, 416
26
Ligue française pour la défense des droits de l’homme et du citoyen 92
Ludendorff-Bewegung 376
Jesuitenorden 178, 226, 247 Jew-Watchers
M
323
Jewish Agency 102, 111, 238, 239, 326 Jewish Claims Conference 237, 238, 239, 240, 436, 437, 442, 443 Jewish War Veterans
362
K Kaiser-Wilhelm-Institut für Erblehre, Anthropologie und Eugenik 109 Kampfbund für deutsche Kultur
69, 70
Magyar Államrendőrség Államvédelmi Osztálya (ÁVO) 325 MAPAI 239, 240 Movement for the Care of Children from Germany 219
N Narodnaja Wolja [Volkswille] Nation of Islam
41, 243
323
Kleiner Kölner Klub 221
Nationale Bewegung der Schweiz (NBS) 194
Komitee zur Verteidigung Palästinas 269
Nationale Front 49
KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) 70, 241, 261, 262, 266, 335, 382, 383
Netherland Board of Admiralty 385
KPO (Kommunistische Partei Opposition) 125 KSČ (Kommunistische Partei der Tschechoslowakei) 386, 387 Kontrollbehörde für fremde Staatsbürger (KEOKH) 410 Kriminaltechnisches Institut des RSHA 143 Ku-Klux-Klan 122
Nationalsozialistischer Evangelischer Pfarrerbund 4, 5 New Age 323 Norwegische Tierschutzvereine 366 Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen 159, 161 NPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) 108, 119, 120, 174, 232 NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) 19, 37, 38, 59, 60, 61, 69, 116, 117, 126, 147, 162, 181, 182,
488
Register der Organisationen, Institutionen und Bewegungen
214, 228, 254, 256, 258, 274, 313, 375, 378, 381, 382, 383, 433, 436 NSDAP-AO (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter Partei-Aufbau- und Auslandsorganisation) 108 NS-Studentenbund (Nationalsozialistischer deutscher Studentenbund/ NSDStB) 69, 70, 426, 427 Nyilaskeresztes Párt [Pfeilkreuzler Partei] 309, 411
Reichsvertretung der deutschen Juden 113 Reichsvertretung der Juden in Deutschland 150 Reichszentrale für jüdische Auswanderung 102 Rosenkreuzer 324 Rote Armee 52, 277, 279, 284, 297 Roter Frontkämpferbund 70
S
O Österreichischer Reformverein 6 ÖVP (Österreichische Volkspartei)
426
SA (Sturmabteilung) 4, 19, 59, 61, 69, 70, 181, 222, 223, 229, 254, 274, 275, 313, 314, 375, 426, 427, 433
Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) 284, 307, 308
Schwarze Hundertschaften (Schwarzhunderter) [Tschornyje sotni] 40, 291, 299, 305
P
Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund 49
Partito Fascista Repubblicano 186 PLO 233, 371 Portugiesische Gesellschaft für Eugenische Studien 109 Prieuré de Sion
324
SD (Sicherheitsdienst) 93, 95, 96, 117, 151, 205, 224, 225, 307, 413, 430 SED 265, 266, 267, 375, 376 Servicio de Inteligencia del Estado (SIDE) 2
Q
Sociedad Sportiva Argentina 72
Quäker 219
Sowjetisches Informationsbüro (SIB) 394
R
SPD 37, 38, 39, 70, 73, 123, 126, 161, 222, 223, 241, 261, 300, 371, 376, 377, 382, 383
Radikal-staatsrechtliche Partei (Strana radikálně-státoprávní) 165 Reformverein 6, 8, 9 Refugee Children’s Movement 219 Reichshammerbund 105 Reichskriminalamt
143
Reichssicherheitshauptamt (RSHA) 29, 93, 95, 96, 102, 143, 144, 225, 430, 431 Reichsvereinigung der deutschen Juden 113
SPÖ (Sozialdemokratische Partei Österreichs) 59, 427, 428 SS (Schutzstaffel) 20, 21, 22, 29, 51, 52, 59, 69, 70, 87, 93, 94, 95, 96, 117, 122, 137, 144, 181, 205, 259, 278, 284, 313, 413, 414, 430, 431, 432, 441 Sturm 7 233
T Turn- und Alpenverein 236
Register der Organisationen, Institutionen und Bewegungen
489
U
White Aryans 323
UNESCO 125
Wiking-Jugend (WJ)
Union Générale des Israélites de France (UGIF) 414
World Jewish Congress (WJC) 326, 327, 427
Union Jüdischer Gemeinden
World Zionist Organisation (WZO) 36, 167, 238
273
Union des Russischen Volkes (Sojuz Russkogo Naroda) 40, 305 UNO
12, 251, 377, 394
232
WSG Hoffmann 232, 233
Z
USPD 261, 262
V
Zentralrat der Juden in Deutschland 125, 127, 251, 372, 428
Verband Deutscher Studentenschaften 161
Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze 61
Verband Deutscher Volksbibliothekare 68
Zentralstelle für jüdische Auswanderung 102
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) 159, 267
Zentralstelle für jüdische Wirtschaftshilfe 147
W
Zentralverband deutscher Kaufleute und Gewerbetreibender 433
Wehrsportgruppe Schlageter West Indian Company (WIC)
233 35, 385
Zentrum 38, 58, 226, 227, 261, 346, 360, 433
123,
491
Register der Publikationen A
E
Al Hayat 90
L’Express 82, 83, 415
Allgemeine Zeitung des Judentums (Judenthums) 43
Evangelium im Dritten Reich
Der Angriff 181, 182, 183
F Flugblätter der Bekennenden Kirche 81
L’Antijuif 27
Focus 250, 430
L’Anti-Semitique 7 Apărarea naţională [Die nationale Verteidigung] 364 Archiv für Kriminalanthropologie
189
Frankfurter Allgemeine Zeitung 53, 123, 128, 166, 172, 429, 442 Frankfurter Rundschau 72, 128, 371
G
L’Aurore 25, 91
Die Gartenlaube 58
B
Gazeta Poranna – 2 Grosze [Morgenzeitung – Zwei Groschen] 62
Baltimore Sun 79 Das Banner (Znamja)
Gazeta Warszawska [Warschauer Zeitung] 62
322
Berliner Börsen-Courier 217
Germania 58, 226, 346
Berliner Tageblatt 218 Bessarabetz [Der Bessarabier]
282
H Haaretz
C La Civiltá Cattolica
239
Hamburger Echo 127
Chicago Tribune 260 C.V.-Zeitung
5
I
358
380
Israelitisches Familienblatt
380
Israelitisches Wochenblatt
227
D The Daily News 348
J
Danziger Neueste Nachrichten 344
Jewish Chronicle
The Dearborn Independent 322 Défense de l’Occident 130 Deutsche Nationalzeitung Deutsches Ärzteblatt
372
125
Das Deutsche Volksblatt 346
390
Jüdisches Nachrichtenblatt Jüdische Rundschau 380
K Karlsruher Zeitung 208 Konitzer Tageblatt
344
380
492
Register der Publikationen
Kreuzzeitung → Neue Preußische Zeitung
Rheinische Wacht 360 Rigas Feraios 348 Rote Fahne 182
L Leuchter-Report 119, 444, 445 La libre parole
91
S Sanktpeterburgskije wedomosti 290
M
Schwäbisches Tageblatt
Le Matin de Paris 130
Der Spiegel 19, 125, 127, 372, 430
Le Monde 83, 130, 131
Staatsbürger-Zeitung 192, 344, 345, 346, 347
N
Stern 372
National-Zeitung 193, 217 Neue Preußische Zeitung (auch Kreuzzeitung) 58, 332 Neustettiner Zeitung 288
Der Stürmer 433
129
42, 61, 116, 137, 190, 407,
Süddeutsche Zeitung 54, 55, 123
New York Times 79, 427
T
Norddeutsche Presse 287
The Times 116, 217, 322
Nowe Drogi 211 Noworossijskij telegraf 290, 291
Thierfreund 369
V
O Ost und West 389, 390
La Vanguardia
72
P
Völkischer Beobachter 38, 41, 115, 383, 433
Pariser Zeitung 365
Voorwarts
Prawda
Vossische Zeitung 155, 242
393, 395
Preußische Jahrbücher 42, 43, 44 Profil 426 La Protesta
72
Protokolle der Weisen von Zion 49, 50, 51, 126, 212, 220, 305, 306, 321, 322, 323, 324, 334, 336, 337
Q Quick
53
38
Vreme 213
W Welt-Dienst
50, 194
Weltbühne 242 Würzburger Generalanzeiger
Z Die Zeit 129, 166, 260
R
Židov 213, 353, 354
Revue des études juives 420
Zukunft 59
69