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German Pages 451 Year 2019
Interdisziplinäre Antisemitismusforschung Interdisciplinary Studies on Antisemitism herausgegeben von Prof. Dr. Samuel Salzborn Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Raphael Gross (Berlin) Prof. Dr. Richard S. Levy (Chicago) Prof. Dr. Monika Schwarz-Friesel (Berlin) Prof. Dr. Ekkehard W. Stegemann (Basel) Prof. Dr. Natan Sznaider (Tel Aviv) Prof. Dr. Andreas Zick (Bielefeld) Band 11
Samuel Salzborn [Hrsg.]
Antisemitismus seit 9/11 Ereignisse, Debatten, Kontroversen
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-5417-5 (Print) ISBN 978-3-8452-9585-5 (ePDF)
1. Auflage 2019 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Einleitung: Antisemitismus seit 9/11
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Samuel Salzborn
Antisemitismus und politische Mitte Alltagsprägende Erfahrung
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Daniel Poensgen/Benjamin Steinitz Affektmobilisierungen in der gesellschaftlichen Mitte. Die »Möllemann-Debatte« als Katalysator des sekundären Antisemitismus
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Samuel Salzborn/Marc Schwietring Antisemitismus in der deutschen Beschneidungskontroverse 2012
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Dana Ionescu Was gesagt werden muss: Günter Grass und der inszenierte Tabubruch
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Carla Dondera Verblümter Antisemitismus. Israelkritik als Ticketmentalität
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Sandra Rokahr Die Echo-Debatte: Antisemitismus im Rap
109
Jakob Baier Die größte antizionistische Organisation der Welt. Wie die Vereinten Nationen den jüdischen Staat dämonisieren und delegitimieren
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Florian Markl/Alex Feuerherdt
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Inhalt
Rechter Antisemitismus Antisemitisches Verschwörungsdenken im Rechtsextremismus
151
Samuel Salzborn Von den Turner Diaries über Breivik bis zum NSU: Antisemitismus und rechter Terrorismus
165
Matthias Quent/Jan Rathje Der »Bomben-Holocaust« von Dresden. Die NPD als antisemitische Partei
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Gideon Botsch Antisemitismus in der »Alternative für Deutschland«
197
Samuel Salzborn Falsche Propheten 2014. Antisemitische Agitation auf den »Montagsmahnwachen für den Frieden«
217
Niklas Lämmel Antisemitismus als identitäre Metapolitik und rechter Jihad in Ungarn
237
Magdalena Marsovszky
Islamischer Antisemitismus Je suis juif? Antisemitische Elemente des islamistischen Terrors in Europa
253
Merle Stöver »Ihr seid Juden, ihr werdet heute alle sterben.« Der Antisemitismus hinter dem islamistischen Attentat in Paris Alina Saggerer
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Inhalt
Antiamerikanismus in Deutschland. Zur Verschränkung zweier Ideologien nach 9/11
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Hanna Brögeler/Jessin Boumaza Antisemitismus in der Flüchtlingsdebatte und unter Geflüchteten
301
Günther Jikeli Von der Delegitimierung zum eliminatorischen Antizionismus. Holocaustleugnung im Iran seit 9/11, Vernichtungsdrohungen gegen Israel und die regionale Expansion des Ajatollah-Regimes
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Stephan Grigat
Linker Antisemitismus Ist Die Linke eine antisemitische Partei?
347
Martin Kloke Der Antisemitismus der anderen. Zum Verhältnis von Globalisierungskritik und Antisemitismus am Beispiel des globalisierungskritischen Akteurs Attac
367
Holger Knothe Wie inklusiv ist Intersektionalität? Neue soziale Bewegungen, Identitätspolitik und Antisemitismus
385
Karin Stögner Die Augstein-Debatte im Jahr 2013
403
Lukas Betzler/Manuel Glittenberg Roger Waters, das Schwein und BDS. Antisemitische Argumentationsmuster in der Boykottkampagne gegen Israel
427
Kirsten Dierolf Die Autor(inn)en
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Einleitung: Antisemitismus seit 9/11 Samuel Salzborn
Antisemitismus ist eine Verbindung von Weltanschauung und Leidenschaft. Er wird zugleich vom Verstand als auch von Emotionen gesteuert, das erkannte Jean-Paul Sartre schon 1945. Antisemitische Einstellungen sind geprägt von Ressentiments und Affekten, die gegen Jüdinnen und Juden gerichtet sind, die sich gegenseitig durchdringen und die vor allem gespeist werden aus Projektionen und Hass. Der Antisemit glaubt sein Weltbild nicht obwohl, sondern weil es falsch ist: Es geht um den emotionalen Mehrwert, den der antisemitische Hass für ihn bedeutet. Deshalb muss man den Blick auch auf die antisemitischen Unterstellungen richten, die immer ein Zerrbild vom Judentum entwerfen, das letztlich eben ein »Gerücht« ist, wie es schon bei Theodor W. Adorno hieß. In der Geschichte haben sich diese Gerüchte stets verändert, Antisemit(inn)en haben sich angepasst – so etwa nach 1945, als der offen rassistische NS-Vernichtungsantisemitismus politisch diskreditiert war und Antisemit(inn)en nun einen neuen »Schuldabwehrantisemitismus« entwickelten. Dieser machte nun die Opfer verantwortlich für die Störung der deutschen Nationalerinnerung: nach dem Massenmord folgte dessen Verleugnung in Form einer Täter-Opfer-Umkehr. Ein wichtiger Wendepunkt in der Geschichte antisemitischer Ressentiments waren die islamistischen Terroranschläge vom 11. September 2001, die nicht nur den USA, sondern der gesamten freien Welt und der aufgeklärten Moderne galten. Sie waren aber auch, wie Osama bin Laden stets betont hat, in zentraler Weise antisemitische Anschläge – denn Jüdinnen und Juden stehen in der islamistischen Lesart für alles, was gehasst wird. So wurde 9/11 vor allem in der arabischen Welt auch als Initialzündung für eine weltweite antisemitische Mobilisierung verstanden, die aber nicht nur auf radikalislamische Gruppierungen beschränkt blieb. Versucht man vor diesem Hintergrund den Antisemitismus seit den Anschlägen von 9/11 zu systematisieren, fallen mindestens drei Momente auf: seine Entgrenzung, seine Trivialisierung und seine Bagatellisierung. Was heißt das? Die Entgrenzung sah man exemplarisch im Sommer 2014, als unter Federführung von palästinensischen Organisationen in zahlreichen deutschen Städten Antisemit(inn)en aller Couleur gemeinsam demons-
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Samuel Salzborn
triert haben – neben islamistischen Antisemit(inn)en auch deutsche Neonazis und linke Antiimperialist(inn)en. Sind diese Antiimperialist(inn)en auch nur ein marginaler Flügel in der deutschen Linken – die Mehrheit steht nach wie vor in Opposition zum Antisemitismus – so zeigt das Beispiel eine Entgrenzung, bei der das antisemitische Weltbild so zentral geworden ist, dass alle anderen weltanschaulichen Differenzen zurücktreten. Hieran schließt sich die Trivialisierung an: die heute dominante Form richtet sich gegen Israel, nur allzu gern versuchen Antisemit(inn)en sich hinter der Formel, dass Israelkritik doch nicht Antisemitismus sei, zu verstecken und auf diese Weise Antisemitismus zu trivialisieren. Dabei ist der Unterscheid leicht zu erkennen: wenn der israelische Staat delegitimiert werden soll, seine Politik dämonisiert wird, oder wenn doppelte Standards bei der Bewertung israelischer Politik angelegt werden, handelt es sich nicht um Kritik, sondern um Antisemitismus. Wer heute als Antisemit/in behauptet, er werde nur von der Kritik zu einer/m solchen »gemacht«, trivialisiert ihn. Schließlich die Bagatellisierung: Antisemit(inn)en wenden sich nicht nur gegen Jüdinnen und Juden, sondern gegen alles, was die moderne, aufgeklärte Welt kennzeichnet: gegen Freiheit und Gleichheit, Urbanität und Rationalität, Emanzipation und Demokratie. Deshalb ist der Kampf gegen Antisemitismus stets auch ein Kampf um die Demokratie. Jüdische Kritik wird oft einfach vom Tisch gewischt, als sei nicht der Antisemitismus das Problem, sondern die, die von ihm betroffen sind. Insofern ist die antisemitische Bedrohung seit 9/11 gerade in Europa auch eine doppelte: einerseits durch den virulenten islamistischen und rechtsextremen Terrorismus, andererseits aber auch durch das oft viel zu laute Schweigen der Demokraten. Vor diesem Hintergrund rekonstruiert der vorliegende Band zahlreiche der öffentlichen Debatten, die es in den letzten 20 Jahren über Antisemitismus gegeben hat, wobei zentrale Ereignisse und Debatten in komprimierter Form vorgestellt und so einzelne Facetten von Antisemitismus in ihrer Entwicklung eingeordnet werden. Dabei wird deutlich: Gerade das Zusammenspiel von rechtem, linkem, islamistischem und Antisemitismus aus der Mitte der Gesellschaft sind ein Charakteristikum für den Antisemitismus seit 9/11.
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Antisemitismus und politische Mitte
Alltagsprägende Erfahrung Daniel Poensgen/Benjamin Steinitz
Alltäglicher Antisemitismus aus Betroffenenperspektive Antisemitismus ist für Jüdinnen_Juden in Deutschland ein Phänomen, mit dem sie in ihrem Alltag regelmäßig konfrontiert sind – seltsamerweise blieben diese leidvollen Erfahrungen mit antisemitischen Aggressionen jenseits der jüdischen Communities jedoch lange relativ unbeachtet: Wird in der Bundesrepublik Deutschland – aber auch in der deutschsprachigen Antisemitismusforschung – über aktuellen Antisemitismus gesprochen, stehen häufig eher mediale und öffentliche Debatten (Bergmann 1997, Rensmann 2004) oder aber die Einstellungen der Deutschen gegenüber Jüdinnen_Juden (Heitmeyer 2011; Decker/Brähler 2018; Ranc 2016) im Fokus. Nicht ohne Grund machte sich nach den Deutschland- und Europaweiten antisemitischen Hass- und Gewaltmanifestationen im Sommer 2014 unter Jüdinnen_Juden in einer nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft der Eindruck breit: »Wir stehen alleine da« (VDK/RIAS 2015). Dieses Problem hat zuletzt auch der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages festgehalten. Er geht von einer »Perspektivendivergenz« zwischen jüdischen Communities und nicht-jüdischer Mehrheitsgesellschaft aus: »Während Jüdinnen und Juden mit Antisemitismus konfrontiert sind, wird gleichzeitig darüber diskutiert, ob Antisemitismus in der Gegenwart überhaupt noch relevant ist. Antisemitische Positionen werden häufig bagatellisiert oder als ‚nicht so gemeint‘ entschuldigt« (Deutscher Bundestag 2017: 97). Wie Jüdinnen_Juden in Deutschland mit Antisemitismus konfrontiert sind, zeigte jüngst eine Studie der FRA. Hier gaben beispielsweise 29 Prozent der befragten in Deutschland wohnenden Jüdinnen_Juden an, in den letzten zwölf Monaten mit beleidigenden oder bedrohlichen antisemitischen Äußerungen konfrontiert worden zu sein (FRA 2018: 50). Wie sich dieser Alltagsantisemitismus in der Bundesrepublik derzeit genau äußert, zeigt seit 2015 die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin. Sie hat ein zivilgesellschaftliches Melde- und Unterstützungsnetzwerk aufgebaut: Betroffene und Zeug_innen von antisemitischen Vorfällen auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze haben so die
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Daniel Poensgen/Benjamin Steinitz
Möglichkeit, ihre Erlebnisse anonym zu melden und dokumentieren zu lassen. Auf ihren Wunsch werden sie an professionelle Beratungsstellen weitervermittelt oder bei der Stellung von Anzeigen und im Umgang mit der Polizei unterstützt. Auch können die Erfahrungen anonymisiert der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Zentrales Prinzip der Arbeit von RIAS Berlin ist der Vertrauensschutz für die Betroffenen. Im Jahr 2018 hat RIAS Berlin insgesamt 1.083 antisemitische Vorfälle registriert, darunter 46 antisemitische Angriffe, 46 antisemitische Bedrohungen und 43 gezielte Sachbeschädigungen. Damit musste die Meldestelle einen Anstieg der antisemitischen Angriffe im Vergleich zum Vorjahr 2017 um 155 Prozent feststellen, auch die Zahl der antisemitischen Bedrohungen stieg um 77 Prozent (VDK/RIAS 2019: 4). Zudem sind immer mehr Jüdinnen_Juden von solchen Vorfällen betroffen: Die Zahl der jüdischen, israelischen und als solche adressierten Betroffenen stieg 2018 im Vergleich zum Vorjahr um 79 Prozent auf 187 Personen (Ebd.: 19). Ein Vorfall aus Berlin sei hier beispielhaft skizziert, um zu zeigen, welche Erfahrungen Jüdinnen_Juden in Deutschland machen müssen: Anfang September 2018 besuchte eine junge Frau in den späten Abendstunden ein Kiosk im Stadtteil Neukölln, um sich dort ein Getränk zu kaufen. Die Frau bezeichnet sich selbst als nicht-religiös, hat aber einen jüdischen Hintergrund. Als sie beim Bezahlen ihr Portemonnaie aus der Tasche zog, war auch ihr Schlüssel zu sehen – und mit ihm ein Davidstern-Anhänger. Der Kiosk-Verkäufer schrie sie sofort an: »Verpiss Dich! Verpiss Dich!« Die Betroffene war zunächst verwirrt, auch weil sie die plötzliche Aggression nicht einordnen konnte. Doch der Verkäufer setzte nach: »Verpiss Dich, du Judenschlampe!« Er begann, die Frau mit Kronkorken und anderem Müll zu beschmeißen, den er hinter dem Tresen zu fassen bekam. Die verdutzte Betroffene konnte noch »Lies mal ein Geschichtsbuch!« entgegnen, musste dann den Kiosk aber fluchtartig verlassen, auch weil der Verkäufer hinter seinem Tresen hervorkam und begann, ihr nachzusetzen. Erst als die Frau auf der Straße vor dem Geschäft war, ließ der Verkäufer von ihr ab. Am folgenden Tag versuchte die Betroffene, den Vorfall beim Bürger_innen-Telefon der Berliner Polizei anzuzeigen. Die Beamt_innen dort versuchten zunächst, sie abzuwimmeln: Eine Aufklärung des Vorfalls sei unwahrscheinlich, daher mache eine Anzeige keinen Sinn. Die Betroffene ließ sich hiervon nicht abbringen, stellte eine Anzeige über die Internetwache der Polizei und meldete den Vorfall bei RIAS Berlin. Dort wurde in Absprache mit der Betroffenen umgehend Kontakt mit der zuständigen Abteilung des Landeskriminalamtes (LKA) hergestellt, um eine zügige und adäquate Ermittlung zu ermöglichen. Bei einer wenig später stattfindenden Befragung der Betroffenen wurde sie auf ihren Wunsch durch einen 14
Alltagsprägende Erfahrung
von RIAS Berlin zur Verfügung gestellten Anwalt begleitet. Ebenfalls auf Wunsch der Betroffenen veröffentlichte RIAS Berlin eine Beschreibung des Vorfalls auf der Facebook-Seite des Projektes. In den Jahren 2017 und 2018 bekam RIAS Berlin jeden Tag zwischen zwei und drei antisemitische Vorfälle gemeldet. Darunter waren beispielsweise 2018 46 Angriffe wie der oben beschriebene. Für die Kritik des Antisemitismus als einer »negativen Leitidee der Moderne« (Salzborn 2010) ist die Kenntnis und das Verständnis solcher Situationen von immenser Bedeutung, verweisen sie doch auf den Kern des Antisemitismus: »Der Antisemitismus ist genau das, was er zu sein vorgibt: eine tödliche Gefahr für Juden und nichts sonst«, wie Hannah Arendt (1991: 32) bereits in ihrer Studie »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« paradigmatisch festhielt. In diesem Sinne betonte jüngst auch Jan Weyand durchaus gegen den von ihm vertretenen wissenssoziologischen Ansatz: »Für den Verfolgten ist es egal, aus welchen Gründen er verfolgt wird, solange ihm nicht die Kenntnis der Gründe auch Mittel an die Hand gibt, seine Gegen- oder Fluchtmaßnahmen zu verbessern« (Weyand 2016: 78). Sind Jüdinnen_Juden in Deutschland anders als beispielsweise in Frankreich derzeit weit davon entfernt, vor alltäglichem Antisemitismus die Flucht zu ergreifen, zeigen doch Befragungen von jüdischen Akteur_innen aus mehreren Bundesländern, die das Projekt Recherche- und Informationsstelen Antisemitismus – Bundesweite Koordination (RIAS BK) in den letzten Jahren durchgeführt hat, doch stark verbreitete Erfahrungen mit antisemitischen Vorfällen innerhalb jüdischer Communities – hierauf wird im Folgenden noch einzugehen sein. Die Analyse von antisemitischen Vorfällen, wie sie RIAS Berlin in der Bundeshauptstadt systematisch erfasst, erlaubt über die Offenlegung dieser Erfahrungen von Betroffenen hinaus Einblicke in die situativen, aber auch politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen judenfeindlicher Mobilisierungsversuche (vgl. Rensmann 2004: 19). Somit ist Michael Whine vom Community Security Trust, einer britischen Wohlfahrtsorganisation, die unter anderem antisemitische Vorfälle in Großbritannien registriert, unbedingt zuzustimmen, wenn er neben der Einstellungsforschung die Zahl antisemitischer Vorfälle und Straftaten sowie die Wahrnehmung von Betroffenen als zentrale Quellen einer Einschätzung über das tatsächliche Ausmaß von Antisemitismus in einer Gesellschaft benennt (Whine 2018; vgl. Poensgen/Steinitz 2018). Die systematische Erfassung, Aufbereitung und Dokumentation verifizierter Vorfallmeldungen, wie sie seit Februar 2019 durch den Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. nun bundesweit implementiert wird, vermag neben der konkreten Unterstützung von Betroffenen also auch helfen, Aussagen 15
Daniel Poensgen/Benjamin Steinitz
über antisemitische Vorfälle auf einer Mikro- (vgl. VDK/RIAS 2018) und Meso-Ebene (am Beispiel der Partei Alternative für Deutschland (AfD): Steinitz/Poensgen 2018) treffen zu können, kurz: das Dunkelfeld antisemitischer Alltagskommunikationen und -gewalt zu erhellen.1 Diese Aussagen leisten einen Beitrag zur Klärung der Frage, ob und inwiefern sich die kürzlich von Samuel Salzborn formulierte These einer sich seit 2001 vollziehenden, globalen »antisemitischen Revolution« (Salzborn 2018: 50ff.) auch anhand konkreter antisemitischer Vorfälle in Deutschland begründen ließe. Im Folgenden soll auf Basis der Projekttätigkeit von RIAS BK dargelegt werden, dass Antisemitismus in Deutschland für Jüdinnen_Juden eine alltagsprägende Erfahrung darstellt. Hierzu wird zunächst kurz die Arbeit von RIAS Berlin genauer vorgestellt und erste Projektergebnisse präsentiert. In einem zweiten Schritt werden die Erfahrungen mit antisemitischen Artikulationen vorgestellt, die im Rahmen einer Befragung von jüdischen Multiplikator_innen aus vier Bundesländern geschildert wurden. Beratung, Erfassung, Dokumentation – Arbeit und Erkenntnisse von RIAS Berlin Das Projekt RIAS Berlin des Vereins für Demokratische Kultur Berlin e.V. (VDK) hat in den vergangenen Jahren ein umfassendes Meldenetzwerk für antisemitische Vorfälle aufgebaut. Hierfür wurde zunächst eine niedrigschwellige Meldemöglichkeit geschaffen: RIAS Berlin kann online über eine Meldeformular auf der Projektseite www.report-antisemitism.de rund um die Uhr telefonisch, per Mail und in den sozialen Netzwerke über antisemitische Vorfälle informiert werden. Damit diese Angebote von Betroffenen auch genutzt werden, arbeitet RIAS Berlin intensiv am Aufbau und der Pflege eines Meldenetzwerks: An Orten, in Institutionen und zu öffentlichen Anlässen der jüdischen Communities in Berlin ist RIAS präsent und ansprechbar. Steht im Arbeitsalltag der Meldestelle die Unterstützung und Verweisberatung der Betroffenen im Vordergrund, soll es nun um erste Ergebnisse der Erfassung und Dokumentation der gemeldeten antisemitischen Vorfälle gehen: RIAS Berlin bereitet die einzelnen Vorfälle in einer Art und Weise auf, die sowohl qualitative Einblicke als auch quantitative Analysen ermöglichen. So wurden RIAS Berlin im Jahr 2018 1083 antise-
1 Zur Hellfeld/Dunkelfeld-Problematik in Hinblick auf antisemitische Straftaten siehe Poensgen/Steinitz 2018: XX.
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Alltagsprägende Erfahrung
mitische Vorfälle bekannt – dies entspricht einem Durchschnitt von nahezu drei antisemitischen Vorfällen in Berlin Tag für Tag. Dabei ist die Qualität der registierten Vorfälle sehr unterschiedlich, sie reicht von körperlichen Angriffen, gezielten Beschädigungen jüdischen Eigentums und Bedrohungen bis hin zu verletzendem Verhalten, also beispielsweise antisemitischen Bemerkungen am Arbeitsplatz oder an Personen und Institutionen adressierten Kommentaren in den sozialen Netzwerken. Inhaltlich unterscheidet RIAS fünf Erscheinungsformen von Antisemitismus: Othering, antijudaistischer Antisemitismus, moderner Antisemitismus, Post-Schoa Antisemitismus und israelbezogener Antisemitismus. Auffällig ist, dass diese Formen in nahezu allen politischen Spektren, die RIAS Berlin aufgrund der Vorfallschilderungen den Verantwortlichen zuordnen kann, nahezu gleichermaßen auftreten: Anhand der verwendeten antisemitischen Stereotype lässt sich nur relativ selten durch die Verwendung spezifischer Terminologien oder Topoi oder aber durch eine politische Selbstverortung mit Sicherheit sagen, ob ein_e sich antisemitisch Äußernde_r einen rechtsextremen, rechtspopulistischen, links-antiimperialistischen Hintergrund hat, ob er_sie eher islamistisch oder in erster Linie verschwörungsideologisch denkt oder ob er_sie sich eher in der politischen Mitte verortet bzw. insbesondere israelfeindlich aktiv ist. Für all diese Milieus sind die nahezu gleichen antisemitischen Projektions- und Argumentationsmuster attraktiv. Antisemitische Vorfälle ereignen sich in Berlin nicht bloß über das ganze Stadtgebiet verteilt, sondern auch an den unterschiedlichsten Orten: Auf offener Straße, in der U-Bahn, in Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten, in Läden und Restaurants, am Arbeitsplatz oder im Wohnumfeld der Betroffenen, in Parks und öffentlichen Gebäuden (VDK/ RIAS 2018a). Diese ersten Ergebnisse der Arbeit der Meldestelle zeigen, dass Jüdinnen_Juden in Berlin jederzeit mit antisemitischen Aggressionen rechnen müssen: Sie ereignen sich in allen denkbaren Situationen des alltäglichen Lebens und gehen von den unterschiedlichsten Personengruppen aus. Einblick in die Dynamik antisemitischer Vorfälle bot der Dezember 2017: Nachdem Donald Trump am 6. Dezember angekündigt hatte, die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, kam es in Berlin zu zahlreichen Protesten. Im Rahmen von mehreren Demonstrationen vom 7. bis 10. Dezember gab es antisemitische Äußerungen in Redebeiträgen, es wurden antisemitische Parolen gerufen und schließlich kam es sogar zur Verbrennung eines Lakens mit aufgemaltem Davidstern sowie einer Israel-
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Daniel Poensgen/Benjamin Steinitz
fahne.2 Jene antisemitischen Stereotype und Motive, die auf den Demonstrationen verwendet wurden, wurden in den darauffolgenden Tagen auch in anderen Vorfällen aufgegriffen: Parolen der Proteste waren als Graffiti beispielsweise in der S-Bahn zu sehen, einzelne Jüdinnen_Juden wurden zum Beispiel als »Kindermörder« beschimpft. Zu diesen Vorfällen zählt der Fall eines jüdischen Schülers, der von Mitschülern angegriffen und bedroht wurde: Auch hierbei wurden von den Angreifenden antisemitische Stereotype geäußert, die zuvor noch auf den Demonstrationen zu hören waren. Insgesamt registrierte RIAS Berlin im Dezember 104 antisemitische Vorfälle in der Bundeshauptstadt, die hierbei verwendeten Stereotype können mehrheitlich dem israelbezogenen Antisemitismus zugeordnet werden. Verlagerten sich die antisemitischen Vorfälle im Laufe des Dezembers weg von den Demonstrationen, erweiterten sich auch die politischen Spektren, denen die Vorfälle zuzuordnen waren: Gingen diese zunächst vor allem von Personen und Gruppen aus, die dem israelfeindlichen Aktivismus zuzuordnen sind, wurde nach und nach die Rolle von links-antiimperialistischen und islamistischen Gruppen wichtiger.3 Für den Dezember 2017 ist somit – das zeigen die von RIAS Berlin registrierten Vorfälle – von der Entstehung einer antisemitischen Dynamik auszugehen: Antisemitische Einstellungen, die im politischen Raum einer Demonstration mit Bezug auf Israel geäußert wurden, werden zunehmend entgrenzt, finden ihren Wiederhall in anderen politischen Spektren und Milieus bis schließlich Jüdinnen_Juden direkt von ihnen betroffen sind (vgl. Poensgen/Steinitz 2018; RIAS/IIBSA 2017). Antisemitismus als alltagsprägende Erfahrung: Einblicke in die Befragung von Betroffenen Um die Übertragbarkeit der Arbeit von RIAS Berlin auf andere Bundesländer zu prüfen und vorzubereiten, führte das Projekt RIAS Bundesweite Koordination (RIAS BK) 2017 qualitative Studien in Hessen und Bayern (Poensgen et al. 2018) durch. Hierzu wurden jeweils 20 jüdische Akteur_innen zu ihrer Wahrnehmung von Antisemitismus in ihrem jeweiligen Bundesland, zu Umgangsweisen mit antisemitischen Situationen sowie zum durch die Interviewten festgestellten Handlungs- und Unterstüt-
2 Eine ausführliche Analyse der Hintergründe zu den anti-israelischen Protesten im Dezember 2017 in Berlin und Deutschland findet sich bei RIAS Berlin/IIBSA 2017. 3 Eine ausführlichere Darstellung findet sich bei Poensgen/Steinitz 2018: S. 298ff.
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Alltagsprägende Erfahrung
zungsbedarf befragt. Diese Erhebungen knüpften an eine Befragung von jüdischen Multiplikator_innen in Berlin aus dem Jahr 2015 an (VDK/RIAS 2015).4 Insgesamt wurden in Berlin, Bayern und Hessen 51 Interviews geführt. Die Interviewpartner_innen waren entweder in einer jüdischen Gemeinde oder in einem jüdischen Verein oder ähnlichem aktiv, sei es als Funktionär_innen oder als Schlüsselpersönlichkeiten. Die Befragung wurde in Anlehnung an narrative Interviewtechniken nach Rosenthal durchgeführt (vgl. Rosenthal/Loch 2002). Durch diese Erhebungsmethode werden nicht nur Argumentationen, sondern auch Erzählungen stimuliert. Dies ist beim hier vorliegenden Sample von besonderer Bedeutung, da die Interviewten nicht ausschließlich als Expert_innen, sondern auch als potentiell Betroffene befragt wurden: Sie haben in der Regel einen persönlichen und lebensgeschichtlichen Zugang zum Thema, sind aber auch beruflich immer wieder gezwungen, sich professionell mit Antisemitismus auseinanderzusetzen. Die Interviews wurden schließlich in einem mehrstufigen, an die Grounded Theory (Strübing 2004) angelegten Analyseverfahren ausgewertet. Mit einem besonderen, zivilgesellschaftlichen und praxisbezogenen Fokus, der an dieser Stelle nicht im Mittelpunkt stehen soll, knüpfen die Befragungen damit an eine Reihe von quantitativen und qualitativen Erhebungen zur jüdischen Perspektive auf gegenwärtigen Antisemitismus an (FRA 2012; FRA 2018; Deutscher Bundestag 2017; Bernstein et al. 2017). Antisemitismus aus Betroffenenperspektive: Akteure, Formen, Ereignisse Bis auf wenige Ausnahmen (B_1_2; H_6)5 schilderten alle Befragte konkrete antisemitische Vorfälle, von denen sie entweder selbst oder Personen aus dem sozialen Umfeld wie Familienangehörige oder Freund_innen betroffen waren. Antisemitismus, so die Einschätzung einer_s Befragten, begegne Jüdinnen_Juden in einer Fülle »alltäglicher trivialer Situationen« (B_27) – z.B. beim Sport, bei Behördengängen, im Gespräch mit Bekannten, im Restaurant oder auf offener Straße beim Spazierengehen. Jüdinnen_Juden, das zeigen die Schilderungen von konkreten antisemitischen Vorfällen in den Interviews, sind am Arbeitsplatz, beim Einkaufen, beim Umgang mit Kund_innen, Kommilliton_innen oder Handwerker_innen
4 2018 wurde die Studie in Brandenburg und Sachsen durchgeführt. Die Ergebnisse können im Folgenden jedoch noch nicht berücksichtigt werden. 5 Im Folgenden verweisen die Angaben in Klammern auf die zitierten Interviews.
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mit antisemitischen Äußerungen konfrontiert. Insbesondere antisemitische Vorkommnisse an Schulen sind vielen Befragten besonders präsent: Sie werden in 32 der 40 in Bayern und Hessen geführten Interviews erwähnt. Dabei fällt auf, dass die antisemitischen Vorfälle nicht nur von Mitschüler_innen, sondern auch von Lehrer_innen ausgehen. Diese Vielfalt antisemitischer Vorfälle führt dazu, dass bei den Interviewpartner_innen verständlicherweise eine insgesamt beunruhigte Grundstimmung herrscht. Antisemitismus wird von vielen als etwas, das ständig passiere, erlebt, die Befragten sprechen von einer unterschwelligen antisemitischen Atmosphäre. Antisemitismus schwinge immer mit und würde sich auch in Zukunft durch das Leben der Jüdinnen_Juden ziehen (B_27; B_23_24; B_15_22). Zu dieser negativen Einschätzung trägt auch bei, dass die Befragten den Eindruck kommunizieren, mit einer sensibilisierten Wahrnehmung von Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft alleine zu sein. So formuliert ein_e Befragte_r angesichts der mangelnden Teilnahme von nicht-jüdischen Bürger_innen an Demonstrationen gegen Antisemitismus: »Wenn es hart auf hart kommt, dann ist es doch ziemlich dünn« (H_12). In den Interviews werden unterschiedliche politische Milieus benannt, aus denen die Träger_innen von Antisemitismus kommen. Knapp die Hälfte der Befragten schildern Vorfälle mit einem rechtsextremen Tathintergrund. Stammen die Interviewpartner_innen, die vor allem rechtsextremen Antisemitismus als Problem sehen, in Bayern insbesondere aus dem ländlichen Raum oder aus Kleinstädten, lässt sich diese Unterscheidung in Hessen nicht feststellen. Die geschilderten Vorfälle reichen von Begegnungen mit Neonazis im unmittelbaren sozialen Umfeld wie bspw. in der Schule (B_15_22) über Hakenkreuz-Schmierereien und rechtsextremen Stickern bei Synagogen (B_9; B_3; B_10) bis hin zu unmittelbaren Bedrohungen: So verschickte beispielsweise ein Rechtsextremer im Namen der Mutter einer_eines Befragten zahlreiche antisemitische Briefe in der Nachbarschaft (B_11), ein_e Rabbiner_in schildert, wie sie_er über 40km von einem Neonazi mit dem Auto verfolgt wurde (B_26). Islamisch legitimierter Antisemitismus wird in mehr als der Hälfte der Interviews benannt, zum Teil auch Antisemitismus von Geflüchteten oder von Menschen mit Migrationshintergrund. Stammen die Befragten, die islamische Milieus als Träger von Antisemitismus benennen, in Bayern vor allem aus Großstädten und Metropolregionen, lässt sich ein solcher Unterschied in Hessen wiederum nicht feststellen. Auch hier werden konkrete antisemitische Vorfälle durch die Befragten geschildert: So wechseln beispielsweise jüdische Kinder nach schwerwiegenden antisemitischen Beleidigungen (H_2) oder islamisch legitimierten Vernichtungsdrohungen (B_4) durch Mitschüler_innen die Schule. Andere Spektren, wie jenes des israelfeindlichen 20
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Aktivismus oder links-antiimperialistische Akteur_innen, werden in den Gesprächen eher vereinzelt genannt. Hingegen spielt der Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft in zahlreichen Interviews eine große Rolle: Die Interviewten sind mit einer Fülle von antisemitischen Vorfällen konfrontiert, bei der die Verursacher_innen weder politisch, ökonomisch noch sozial marginalisiert sind und als typische Vertreter_innen einer (häufig als christlich charakterisierten) Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen werden. Antisemitische Vorfälle ereignen sich somit ebenso beim Grillfest in einem »guten Stadtviertel«, im Gespräch mit Nachbar_innen mit akademischem Hintergrund oder beim Bewerbungsgespräch im juristischen Bereich (H_2; H_15). Doch nicht nur, was den politischen Hintergrund der sich antisemitisch Verhaltenden betrifft, sind Jüdinnen_Juden in Deutschland mit einer großen Bandbreite politischer Milieus und Vorfallsarten konfrontiert: Auch die unterschiedlichen Ausdrucksformen von Antisemitismus, die RIAS Berlin erfasst, werden in den Gesprächen umfassend geschildert. Unabhängig von der Art des Antisemitismus ist festzuhalten, dass die Befragten sowohl im Rahmen ihrer Tätigkeit für jüdische Gemeinden und Institutionen als auch in alltäglichen Situationen des Privatlebens mit ihnen konfrontiert sind, unabhängig davon, ob es sich beispielsweise um antisemitisches Othering, Post Schoa- oder israelbezogenen Antisemitismus handelt. Als einschneidende historische Ereignisse in Bezug auf die eigene Wahrnehmung nennen Befragte in Hessen, Bayern aber auch in Berlin die Demonstrationen vor dem Hintergrund der militärischen Auseinandersetzung zwischen Israel und der islamistischen Terrororganisation Hamas im Jahr 2014: Neben Demonstrationen in zahlreichen Städten Bayerns, Hessens sowie in Berlin, auf denen sich massenhaft und offen antisemitisch geäußert wurde, nennen Befragte Vorfälle wie die Erstürmung einer Burger King Filiale im Nürnberger Hauptbahnhof (B_3; B_10; B_7), aber auch direkte Ansprachen im sozialen Umfeld, antisemitische Anrufe oder zufällige Konfrontationen mit den Demonstrationen (B_18_19_20; B_16_17; B_3; B_11). Ein_e Befragte_r in Berlin erzählte: »Es war vollkommen anders als zuvor. Alle, aber vor allem Frauen, hatten Angst, allein rauszugehen. Während des Konflikts war es wirklich schlimmer, wir waren sehr wachsam. Leute sprechen über die Demonstrationen, dass es gefährlich ist, dass wir aufpassen müssen.« (VDK/RIAS 2015: 25) Die Einschätzung der Ereignisse von 2014 als besonders Bedeutsam, als regelrechten »Wendepunkt« (H_5) für die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland insgesamt, teilen viele Befragte: Antisemitismus werde ins21
Daniel Poensgen/Benjamin Steinitz
gesamt immer offener artikuliert, so die häufig geäußerte Einschätzung, die Hemmschwelle, sich antisemitisch zu äußern, sinke. So schildert ein_e Befragte einen Arztbesuch im Jahr 2014: »Mein Zahnarzt […] sagte mir einmal: 'Es langt.' Er bezog sich auf eine Rede vom damaligen Präsidenten des Zentralrats Dieter Graumann. […] Diese Demonstration in Deutschland, der letzte Gaza Krieg. ‚Es langt, die Juden machen mit dem Holocaust eine Politik. Und es langt jetzt.‘ Da hatte ich mit ihm eine ganz heftige Diskussion. Da merkt man, wenn man früher gesagt hat, naja diese Unterbemittelten, die [eine] nicht so gute Ausbildung [haben], nicht intelligent sind. Wenn sie diese antisemitischen Vorurteile haben sei das verständlich. Aber bei der Intelligenz!« (H_15; Anm. d. Verf.) Die Situation während der Sommermonate 2014 wird von vielen Befragten auch deshalb als so einschneidend erachtet, weil Jüdinnen_Juden als Betroffene der Anfeindungen alleingelassen wurden. Ihnen sei vielfach suggeriert worden, sie seien an der antisemitischen Eskalation selbst schuld und zudem verantwortlich für das Agieren Israels (VDK/RIAS 2015: 26). Solidarisierungen hätten hingegen nicht stattgefunden, so ein_e Berliner Befragte_r: »Sie haben jetzt nicht diesen Aufschrei in Deutschland: ‚Hört damit auf!‘ Oder wir stellen uns jetzt gemeinsam vor diese Menschen, die angegriffen worden sind. Sie haben keine Lichterketten, sie haben keine Demonstrationen gegen Angriffe auf Synagogen. Sie haben keine Protestwelle in Deutschland, die sagt: ‚Warum müssen Synagogen in Deutschland durch Polizei verteidigt werden?‘ Wir stehen alleine da.« (Ebd.: 27) Zwei weitere bedeutsame Ereignisse der jüngeren Vergangenheit für die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland werden von den Befragten benannt: Die verstärkte Aufnahme von Geflüchteten im Jahr 2015 und die sogenannte »Beschneidungsdebatte« von 2012. Vereinzelt wird auch das Erstarken des Rechtspopulismus im Zuge der Wahlerfolge der Partei Alternative für Deutschland (AfD) sowie eine Zunahme des islamisch legitimierten Antisemitismus genannt. Antisemitismus als alltagsprägende Erfahrung und Strategien des Umgangs Unabhängig von einzelnen als Wendepunkten wahrgenommenen Ereignissen wird in den Interviews mit jüdischen Akteur_innen also deutlich, 22
Alltagsprägende Erfahrung
dass sich Antisemitismus in Deutschland nicht auf einzelne Ausdrucksformen, politische Milieus oder Vorfallsarten reduzieren lässt. Jüdinnen_Juden können in Deutschland jederzeit mit Antisemitismus konfrontiert werden, ein häufig erlebter »ALLTAGSantisemitismus« (H_1) lässt sich kaum klar abgrenzen. Das ebenfalls geschilderte Gefühl, sich in Deutschland bzw. im konkreten Beispiel in der Metropolregion Frankfurt am Main wohl und sicher zu fühlen, wird zugleich als »zartes Gebilde« (H_4) beschrieben. Antisemitismus ist für Jüdinnen_Juden in Deutschland, das ist eine zentrale Schlussfolgerung der Befragungen in allen drei Bundesländern, eine alltagsprägende Erfahrung. Darunter ist zu verstehen, dass Jüdinnen_Juden ihren Alltag an der potentiellen Konfrontation mit Antisemitismus ausrichten müssen – er begegnet ihnen in sozialen Interaktionen aller Art, in ihrer Medienrezeption, in pädagogischen Situationen, am Arbeitsplatz, auf täglichen Wegen und in der Freizeit. Alltagsprägend ist diese Erfahrung nicht deshalb, weil sie alltäglich, also Tag für Tag passiert, sondern weil die Betroffenen täglich dazu gezwungen sind, das Verhältnis zwischen ihren vielfältigen jüdischen Identitäten und der potentiellen und tatsächlichen Konfrontation mit antisemitischen Artikulationen auszuhandeln. Jüdinnen_Juden müssen sich permanent in Alltagssituationen zwischen Konfrontation und Verdrängung, Dialog und Resignation entscheiden. Antisemitismus »zieht sich durch« (B_15_22) das Leben der Interviewten. Ein eindrückliches Beispiel für diesen konflikthaften Aushandlungsprozess schildert ein_e Befragte_r aus Hessen. Die Person legte dem eigenen Sohn nahe, nicht mit einem Rucksack, den das Logo eines jüdischen Sportvereines zierte, in die Stadt zu fahren: »Das war so voll unterbewusst von mir. Und dann meinte er so zu mir: ‚Also, es tut mir ehrlich gesagt echt leid, aber ich stehe dazu, dass ich Jude bin und dann ist mir das [eine mögliche Gefährdung, Anm. d. Verf.] auch scheißegal!‘ Sage ich: ‚Naja, jetzt da in die Stadt und du bist 13‘, und dann hatte ich einen riesen Konflikt mit ihm, wo ich eigentlich danach dachte, er hat völlig recht. Er hat dann zu mir gesagt: ‚Wenn du das nicht möchtest, dann lass uns woanders hinziehen. Würde ich hier nicht Leben. Also wenn ich hier nicht einfach so sein darf wie ich bin, und Angst haben muss, dann will ich hier nicht sein.‘ Und das fand ich eigentlich richtig, ja!« (H_10) In zahlreichen Interviews wird geschildert, dass Jüdinnen_Juden vermeiden, als solche erkennbar zu sein, indem sie beispielsweise die Kippa, Schmuck mit religiösen Symbolen oder auch nur Schlüsselanhänger in der Öffentlichkeit abnehmen oder verstecken. Bestimmte Gebiete, die als unsi23
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cher für Jüdinnen_Juden wahrgenommen werden, werden vermieden, mitunter Gottesdienste oder Veranstaltungen der jüdischen Gemeinden nicht besucht. Jenseits solcher Strategien der Vermeidung schwanken die individuellen Umgangsweisen mit antisemitischen Erscheinungsformen zwischen Verdrängung und Resignation auf der einen sowie Konfrontation und bewusster Kommunikation auf der anderen Seite. Zu der unter den Befragten relativ weit verbreiteten Tendenz, Antisemitismus zu normalisieren und zu banalisieren sind auch die Aussagen mit Interviewpartner_innen aus einer bayerischen Kleinstadt zu rechnen. Das Interview sticht in Bezug auf Häufigkeit und Intensität der geschilderten antisemitischen Vorfälle nicht besonders aus dem Corpus heraus. Einleitend gaben die Befragten an, die antisemitischen Vorfälle in der Stadt seien »minimal« (B_15_22). Im Zuge des Interviews schildern sie jedoch folgende antisemitische Vorfälle: Ein Gemeindemitglied wurde von einem muslimischen Nachbarn angesprochen. Er hatte zuvor seine Kinder aus einer Koranschule in der Stadt abgemeldet, weil dort dazu aufgerufen wurde, Jüdinnen_Juden zu töten. Während der Synagogenführungen, die in der Gemeinde regelmäßig für Schulklassen angeboten werden, wurden mehrfach Hakenkreuze in die Bänke geritzt. Von einer_m Bekannten wurde eine_r der beiden Interviewpartner_innen gefragt, warum er_sie als Israeli denn in Deutschland wählen dürfe. In einem Sozialhilfeausschuss wurde über die Befragten in deren Beisein behauptet, sie müssten als Jüdinnen_Juden in Deutschland keine Steuern bezahlen. Dies scheint auch der Apotheker einer_eines Interviewpartners_in zu denken: Er fragte jene_n, warum er als Jüdin_Juden einen Steuerberater habe, sie müssten doch keine Steuern bezahlen. Jüdische Kontingentflüchtlinge wurden trotz Richtigstellung im Bekanntenkreis der Befragten mehrfach als »Asylanten« bezeichnet. Auf der Straße beobachteten die Interviewten, wie aus einer Schulklasse heraus beim Verlassen des Schulgebäudes »Juden sind Schweine« gerufen wurde. Auch in der Grundschulklasse des jüdischen Kindes einer Bekannten der Befragten war »Du dicker Jude« ein gebräuchliches Schimpfwort. Der Sohn einer_eines Interviewten wurde auf dem Gymnasium regelmäßig als »Israel-Spezialist« aufgerufen, obwohl er kein besonderes Interesse an dem Staat bekundete, noch nie in Israel war und auch keine familiären Beziehungen dorthin besitzt. Ein_e Befragte_r wurde zum Direktor der Schule ihres Kindes gerufen und ihr_ihm geraten, dem Kind zu sagen, er_sie solle nicht alleine auf die Schultoilette gehen, da die Schule auch von einem bekannten Rechtsextremen besucht werde. Von einem Sprachkurs für Aussiedler_innen und Kontingentflüchtlinge berichten die Befragten, dass die jüdischen Teilneh-
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Alltagsprägende Erfahrung
mer_innen von ihren Mitschüler_innen gefragt wurden: »Wir sind hier zu Hause und was macht ihr hier?« (B_15_22) Die in lediglich einem Interview geschilderten Vorfälle machen einerseits deutlich, inwiefern vom Antisemitismus als einer für Jüdinnen_Juden »alltagsprägenden Erfahrung« gesprochen werden muss. Es ist jedoch auch bemerkenswert, dass diese Vielzahl an unterschiedlichen Erlebnissen dennoch zu einer Einschätzung des Antisemitismus am Wohnort als »minimal« führt – eine Tendenz, die in den Interviews häufiger zu beobachten ist. So wird eine Vielzahl von Motiven für das Handeln der Täter_innen bzw. der sich antisemitisch Äußernden erwogen, die nahelegen, ein Vorfall sei nicht als antisemitisch zu bewerten sondern z.B. mit Dummheit, Nichtwissen, oder mit nicht-antisemitischem, stereotypem Denken zu erklären. Diese Tendenz kann als Versuch gedeutet werden, gesellschaftlichen Debatten der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft entgegenzukommen, in denen eine allgemeine Abwehr gegenüber der Kritik am Antisemitismus vorherrscht (vgl. Ranc 2016) und vermeintlich zu Unrecht erhobene Antisemitismus-»Vorwürfe« stärker problematisiert werden als Antisemitismus selbst. Eine Aussage in einem Interview legt jedoch auch eine andere Interpretation nahe. Vertreter_innen einer jüdischen Gemeinde einer bayrischen Metropolregion erklären zu den hohen Zustimmungswerten zu antisemitischen Aussagen in repräsentativen Umfragen: »Ich glaube, dass hier die Differenzierung sehr wichtig ist, weil wir müssen auch schon erkennen vor wem wir uns wirklich schützen müssen und vor wem wir auch wirklich Sorge haben müssen. Und es hilft uns nicht diese Gruppe groß zu machen, weil dann haben wir keine Angriffsfläche, oder keine Wehrhaftigkeit mehr. […] [W]enn wir sagen 40% der Gesellschaft sind antisemitisch […], dann wird das Problem irgendwann zu groß, dann bleibt wirklich nur noch die Aliyah [Auswanderung nach Israel, Anm. d. Verf.]. Ja, also das ist eine schwierige Situation und ich glaube, Differenzierung hilft.« (B_1_2) In diesem Sinne trägt eine eher trivialisierende und zurückhaltende Bewertung der alltagsprägenden Erfahrungen mit Antisemitismus dazu bei, dass Jüdinnen_Juden jenen besser in ihren Alltag integrieren und bearbeitbar machen können.
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Wendepunkt 2014: Antisemitismus als alltagsprägende Erfahrung in Deutschland Die Befragung von jüdischen Akteur_innen aus Bayern, Hessen und Berlin zu ihren Erfahrungen und Einschätzungen mit und hinsichtlich Antisemitismus hat einige der Ergebnisse der Erfassung antisemitischer Vorfälle durch RIAS Berlin bestätigt: Antisemitismus begegnet Jüdinnen_Juden in Deutschland an den unterschiedlichsten Orten, er geht von Menschen mit verschiedenen politischen Hintergründen aus, äußert sich in diversen Formen. Wegen dieser Heterogenität antisemitischer Aggressionen, die sich in Bemerkungen, Beleidigungen, aber auch Sachbeschädigungen, Bedrohungen und gewalttätigen Angriffen äußern können, lässt sich auf einer Mikro-Ebene vom Antisemitismus als einer alltagsprägenden Erfahrung für Jüdinnen_Juden in Deutschland sprechen: Sie sind gezwungen, in ihrem Alltag das Verhältnis zwischen ihren vielfältigen jüdischen Identitäten und der potentiellen und tatsächlichen Konfrontation mit antisemitischen Artikulationen permanent auszuhandeln. Als entscheidenden Wendepunkt hinsichtlich der Entwicklung des Antisemitismus in der Bundesrepublik wird in den Befragungen aus den Jahren 2015 und 2017 weniger der 11. September 2001 gesehen (wie es auf einer Meta-Ebene Salzborn 2018 festgestellt hat), als vielmehr die Proteste vor dem Hintergrund der militärischen Auseinandersetzung zwischen Israel und der islamistischen Terrororganisation Hamas im Jahr 2014. Ist dies sicherlich mit der größeren zeitlichen Nähe dieser Ereignisse zum Zeitpunkt der Befragung begründet, deuten jene Ereignisse des Sommers 2014 aus Sicht von Jüdinnen_Juden nicht lediglich wegen der Vehemenz der geäußerten antisemitischen Parolen und des erheblichen Mobilisierungspotentials antiisraelischer Proteste auf eine besondere Qualität antisemitischer Dynamiken in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik hin. Insbesondere die als zögerlich wahrgenommene Auseinandersetzung der deutschen Politik mit den Vorkommnissen und der ausgebliebene öffentliche Einspruch der nicht-jüdischen Zivilgesellschaft führte dazu, dass sich viele der Befragten bis heute nachhaltig verunsichert fühlen. Zivilgesellschaft, Politik, aber auch die Sicherheitsbehörden haben hinsichtlich des Umgangs mit Antisemitismus nach wie vor erhebliche Defizite. Um diese Abstellen zu können, ist es essentiell, dass die Stimmen und Perspektiven jüdischer Betroffener von Antisemitismus stärker berücksichtigt werden als bislang. Für die Antisemitismusforschung heißt das auch, Handlungen und Vorfälle stärker in den Blick zu nehmen und Antisemitismus nicht lediglich als »diskursives« Problem zu analysieren, sondern
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ihn so wahrzunehmen, wie es Hannah Arendt bereits treffend formulierte: Als Gefahr für Juden und nichts sonst. Literatur Arendt, Hannah (1991): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München. Bergmann, Werner (1997): Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989, Frankfurt am Main. Decker, Oliver/Brähler, Elmar (Hg.) (2018): Flucht ins Autoritäre: Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft, Gießen. Deutscher Bundestag (2017): Drucksache 18/11970 vom 07.04.2017: Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, in: http://dip21.bundestag.de/dip2 1/btd/18/119/1811970.pdf, S. 30–54 (abgerufen am 28.08.2018). European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) (2013): Erfahrungen der jüdischen Bevölkerung mit Diskriminierung und Hasskriminalität in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, in: https://fra.europa.eu/sites/default/files /fra-2013-factsheet-jewish-people-experiences-discrimination-and-hate-crime-eu_ de.pdf (abgerufen am 27.02.2019). European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) (2018): Experiences and perceptions of antisemitism. Second survey on discrimination and hate crime against Jews in the EU, in: https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra -2018-experiences-and-perceptions-of-antisemitism-survey_en.pdf (aberufen am 27.02.2019). Heitmeyer, Wilhelm (2011): Deutsche Zustände. Folge 10, Frankfurt am Main. Poensgen, Daniel/Rasumny, Alexander/Steinitz, Benjamin/Streibl, Dora (2018): Problembeschreibung: Antisemitismus in Bayern, in: https://report-antisemitis m.de/media/RIAS_BK_Problembeschreibung_Antisemitismus_in_Bayern.pdf (abgerufen am 27.02.2019). Poensgen, Daniel/Steinitz, Benjamin (2018): Dynamiken des Antisemitismus: Erkenntnisse aus dem zivilgesellschaftlichen Monitoring RIAS Berlin, in; Decker/ Brähler 2018, S. 287–306. Ranc, Julijana (2016): »Eventuell nicht gewollter Antisemitismus«. Zur Kommunikation antijüdischer Ressentiments unter deutschen Durchschnittsbürgern, Münster. Rensmann, Lars (2004): Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden.
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Affektmobilisierungen in der gesellschaftlichen Mitte. Die »Möllemann-Debatte« als Katalysator des sekundären Antisemitismus Samuel Salzborn/Marc Schwietring
Als wir im Jahr 2003 die nahezu zeitgleichen bundesdeutschen Debatten um die antisemitischen Äußerungen des seinerzeitigen stellvertretenden FDP-Parteivorsitzenden Jürgen W. Möllemann und den vor antisemitischen Ressentiments strotzenden Roman »Tod eines Kritikers« von Martin Walser analysierten, stellten wir die Frage, ob bei einem Rückblick in einigen Jahren wohl »eine der Erkenntnisse sein [könnte], dass im Frühjahr und Sommer des Jahres 2002 in Deutschland noch ein gesellschaftlicher Konsens bestand, der durch die penetranten antisemitischen Invektiven Möllemanns und Walsers gebrochen wurde: der Konsens, dass sich antisemitisch zu artikulieren, nicht mit den Grundwerten der bundesdeutschen Gesellschaft vereinbar ist.« (Salzborn/Schwietring 2003: 43) Damals waren wir uns unsicher, ob diese Prognose zutreffend sein würde oder aber »der Antisemitismus nicht, wie auch Andrei S. Markovits im Juli 2002 konstatierte, in Europa und vor allem in Deutschland inzwischen zu jener Hoffähigkeit mutiert ist, wie er sie seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr inne hatte« (Ebd.). Der amerikanische Politikwissenschaftler Markovits hatte vor dem Hintergrund der Möllemann-Debatte deutlich formuliert: »Aber in manchen einschlägigen intellektuellen Kreisen in Deutschland verspürt man so etwas wie einen Hauch der kollektiven Erlösung: Free at last, free at last – endlich sind wir die Bürde des Holocaust los. Wir sind endlich frei und stolz, unserem politisch inkorrekten Antisemitismus den gehörigen Ausdruck zu verleihen und damit in dem neualten Milieu Deutschlands (und Europas) völlig korrekt geworden zu sein.« (Markovits 2002: 368)
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Samuel Salzborn/Marc Schwietring
Die medialen Anzeichen der im Klima eines neuen deutschen Opferdiskurses (vgl. Salzborn 2002: 147ff.) stattfindenden geschichtspolitischen Auseinandersetzung um das Thema Antisemitismus wiesen schon damals darauf hin, dass sich etwas veränderte in der gesellschaftlichen Mitte der Bundesrepublik: Möllemann und Walser hatten, dass lässt sich heute bestätigen, zusammen mit anderen Akteuren wie Norman G. Finkelstein, Jamal Karsli, Martin Hohmann, Günter Grass und anderen Anfang der 2000er Jahre dafür gesorgt, dass das Tor dafür aufgestoßen wurde, den mühsam erarbeiteten, fragilen und immer wieder verteidigten anti-antisemitischen Konsens in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit zu brechen. Nicht laut, urplötzlich sichtbar und vordergründig, sondern, wie wir schrieben, »leise und zaghaft: im gesellschaftlichen Alltag« (Salzborn/Schwietring 2003: 44). Jürgen W. Möllemanns spezifischer Anteil ist dabei, dass durch die von ihm ausgelöste Debatte Antisemitismus offen artikuliert, strategisch genutzt, bagatellisiert, ignoriert und damit normalisiert wurde als Teil öffentlicher Politik in Deutschlands gesellschaftlicher Mitte. Damals wurde vor allem ein Motiv deutlich erkennbar, das infolge der selbstinszenierten Tabubrüche von Möllemann und Walser mit erheblich geringeren gesellschaftlichen Sanktionierungen verbreitet werden konnte als in den Jahrzehnten zuvor: der sekundäre Antisemitismus. Der Antisemitismus »nicht trotz, sondern wegen Auschwitz«, wie Henryk M. Broder es formuliert hatte (Broder 1986: 11), also als Element der deutschen Erinnerungspolitik, das die Juden für die Folgen der Shoah verantwortlich macht und den Holocaust als negative Störung der nationalen Erinnerungskompetenz bestimmt. Das Bedürfnis nach nationaler Identität und einer schlussstrichziehenden Normalität verortet die Verantwortung für eine durch die Holocausterinnerung gestörte deutsche Identitätsfindung nicht in der Massenvernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland, sondern bei den Opfern der deutschen Politik. Weil der Antisemitismus wegen des deutschen Massenmordes an den europäischen Juden seit mehr als einem halben Jahrhundert in einen gewissen Rechtfertigungszwang geraten ist, werden die Juden zur gesellschaftlichen Selbstentlastung in der Rolle des Täters gebraucht und nicht in der des Opfers. Getrieben von der Sehnsucht nach Normalität hatte die Auseinandersetzung über die Antisemiten Möllemann und Walser dazu geführt, dass gesellschaftlich ein »Ende der Schonzeit« eingeleitet wurde, wie Salomon Korn es treffend formulierte, bei der zwar kein neuer Antisemitismus entstand, jedoch der (unter anderem auch in Form des Antizionismus) vorhandene, zuvor latente sich nun öffentlich äußerte, wirkmächtig und zudem salonfähig wurde (vgl. Korn 2002a). 30
Affektmobilisierungen in der gesellschaftlichen Mitte
Der manifeste und offen-nazistische Antisemitismus hatte im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik kontinuierlich abgenommen, während der sekundäre, häufig nicht-öffentlich verlautbarte Antisemitismus konstant blieb und sich seit Mitte der 1990er Jahre sogar wachsender Zustimmung erfreut. Entscheidend bis zu dieser Zeit war, dass sich im öffentlich-politischen Raum (bei allem Widerstand von rechtsextremer und auch konservativer Seite) tatsächlich ein Konsens etabliert hatte, der antisemitische Ausfälle gesellschaftlich sanktionierte, sie entschieden als aus demokratischer Perspektive nicht-tolerierbare Position zurückwies und damit zeigte, dass eine Affirmation antisemitischer Ressentiments nicht als bloße »Meinung« gleichberechtigt neben anderen tolerierbar war (vgl. Habermas 2002). Micha Brumlik beschrieb 2002 daher sehr richtig: »Was Walser seit Jahren vorbereitet und mit der Beharrlichkeit des erfahrenen Autors Schritt um Schritt, Erzählung um Erzählung, Rede um Rede vorbereitet hat, setzt Jürgen Möllemann, dessen arabisch imprägnierte Judenfeindschaft eine beachtliche biographische Kontinuität aufweist, im Bereich der Politik um.« (Brumlik 2002) Sowohl Walser wie auch Möllemann inszenierten sich als Opfer, als Kämpfer für Meinungsfreiheit. Jürgen Möllemann und die FDP konnten sich insofern ein besonderes »Verdienst« zuschreiben: Sie hatten den Antisemitismus wieder zu einem offiziellen und anerkannten Faktor in der politischen Kultur der Bundesrepublik gemacht. Dabei mussten nur die altbekannten judenfeindlichen Motive bemüht und in die heutige politische Arena gebracht werden. Ausgangspunkt der Möllemann-Debatte im Jahr 2002 waren antisemitische Äußerungen des damaligen FDP-Überläufers Jamal Karsli und des seinerzeitigen Fraktionschefs im Landtag und Landesvorsitzenden in Nordrhein-Westfalen, Möllemann. Der ehemalige Grünen-Landtagsabgeordnete in NRW Karsli hatte in einem Interview mit der rechtsextremen Wochenzeitung Junge Freiheit die Existenz einer »zionistischen Lobby« behauptet, die »den größten Teil der Medienmacht in der Welt inne« habe und »jede auch noch so bedeutende Persönlichkeit,klein’ kriegen« könne. Den Deutschen werde »beim Thema Israel« mit der Erinnerung an den NS »schlicht und ergreifend Angst einzujagen versucht, damit sie den Mund nicht aufmachen« (Karsli 2002). In einer Pressemitteilung vom April 2002 hatte Karsli geäußert, der Staat Israel wende »Nazi-Methoden« an. Möllemann stellte sich damals öffentlich hinter Karsli. Nach wochenlangem Schweigen zu der Sache trotz öffentlicher Thematisierung und späteren halbherzigen Missbilligungserklärungen des damaligen FDP-Bundesvorsitzenden Guido Westerwelle, zog Karsli seinen Aufnahmeantrag an die Frei31
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demokraten zurück. Aber erst nach einem Ultimatum Westerwelles schied Karsli auch aus der Düsseldorfer Landtagsfraktion der FDP aus. Vom Zentralrat der Juden in Deutschland (ZJD) wurde die FDP wegen der antisemitischen Äußerungen und der ausbleibenden Distanzierung deutlich kritisiert. In einem Interview sagte Möllemann daraufhin: »Ich fürchte, dass kaum jemand den Antisemiten, die es in Deutschland leider gibt [...], mehr Zulauf verschafft hat als Herr Scharon und in Deutschland ein Herr Friedman mit seiner intoleranten und gehässigen Art« (Möllemann 2002, zit. n. Fried/Frigelj 2002). Damit gab er dem damaligen ZJDVizepräsidenten Michel Friedman Schuld am Antisemitismus in der Bundesrepublik – eine antisemitische Zuschreibung, nach der »die Juden« selbst schuld an Vorurteilen ihnen gegenüber und ihrer Verfolgung sind. Gesellschaftliche Reaktionen auf Möllemanns Diffamierungen fielen erschreckend verhalten aus. Es wurde beispielsweise behauptet, in der Debatte gehe es gar nicht um Antisemitismus – Möllemann sei wie Walser kein Antisemit, beide verbinde »nicht Antisemitismus, sondern ein anderes, überwölbendes Motiv: die Meinungshoheit jener zu brechen, die sie als 68er begreifen«. Sie seien nur »Kombattanten im Kleinkrieg gegen die Gesinnungspolizei der Political Correctness«, gegen deren Denk- und Sprechverbote (Jörges 2002). Von »Moral-« und »Antisemitismus-Keule« war fortan die Rede, mit der unberechtigterweise hantiert werde, von »Gedankenpolizei«, »Tabuwächtern«, »Generalverdacht«, Diffamierung, »Killerwort Antisemit« und ähnlich sich selbst entlarvenden Klassifizierungen (Matussek 2002; Westerwelle 2002; Jörges 2002; Markwort 2002). Möllemann, der »Prototyp des modernen Antisemiten« (Broder 2002), artikulierte de facto den Antisemitismus nach und »wegen« Auschwitz, der Juden als unangenehme Mahner und Erinnerer an die Verbrechen des NS personifiziert, die einer »Normalisierung« Deutschlands im Weg stünden und daher das »positive Nationalbewusstsein« stören. Auf 35.000 zustimmende Briefe, Anrufe und Email, die er im Mai und Juni 2002 erhalten habe (vgl. Neubacher u.a. 2002) – »mehr als 90 Prozent davon aus der Mitte der Gesellschaft« (Möllemann 2002, zit. n. Bornhöft 2002a) – berief sich Möllemann, wie auch Walser nach seiner Friedenpreisrede die ihm zustimmende »Volksmeinung« zur Kronzeugenschaft für die Richtigkeit seiner Invektiven anführte. Im Internet-Forum der FDP-Bundestagsfraktion konnte diese »Volksmeinung« nachgelesen werden: Möllemann wurde beispielsweise gelobt, weil er den »Judenlümmel« Friedman in die Schranken gewiesen habe. Er habe endlich ausgesprochen, »was viele schon lange in sich hineindenken« – »die Juden selbst« hielten »uns Deutsche ewig mit unserer,Schuld’ in Schach« und der ZJD entscheide »über die Politik in Deutschland« (Sper32
Affektmobilisierungen in der gesellschaftlichen Mitte
ber 2002). Die Beiträge waren zumeist mit komplettem Namen und akademischen Titeln versehen. »Zensur« wollte die Forums-Redaktion aber nicht ausüben. Es sei ihr darum gegangen, »Stimmungen im Volk« zu hören. Nur Texte, »die Dritte beleidigen« oder »unakzeptabel« beschimpften, wurden von der Seite genommen, worunter die genannten Passagen deren Meinung nach offenbar nicht fielen (vgl. ebd.). In Leserbriefen wurde auch schon der Rücktritt Friedmans von seinem Amt verlangt. Denn »die Art und Weise, wie Michel Friedman sich täglich zu Wort meldet, ist der jüdischen Sache nicht förderlich«, weiß der dieser »jüdischen Sache« offenbar bestens kundige Schreiber (vgl. Kopp 2002). Respekt zollte auch ein anderer Leserbriefautor: »Nach über einem halben Jahrhundert seit Kriegsende muss endlich über alle Tabus frei und offen geredet werdet können« (Nolywaika 2002). Mehr als 1.000 Personen traten angeblich während der Debatte im Frühsommer 2002 in die FDP ein. Bei der Partei-Basis kam Möllemanns imaginierter Tabubruch zumindest anfangs bestens an: »Das ist entwürdigend, wenn wir im eigenen Land nicht mehr sagen dürfen, was wir denken«, war in Interviews zu hören (vgl. Krause 2002). In einer FORSA-Umfrage zum zeitlichen Höhepunkt der Debatte stimmten 35 Prozent der befragten Personen der Aussage zu, Friedman verstärke durch sein Auftreten und Verhalten den Antisemitismus. Nur 24 Prozent waren der Ansicht, Möllemann verstärke ihn (vgl. Forsa 2002: 58). Nach Beginn der Debatte und nach Möllemanns Ausfällen gegen Friedman konnte die FDP in Wahlumfragen zunächst von neun auf zwölf Prozent zulegen (vgl. Pötzl 2002). »Erst als die Parteiführung beim Balanceakt zwischen dem,gemäßigten’ Westerwelle und dem,radikalen’ Möllemann ins Schlingern geriet und die Öffentlichkeit dies als zerstrittene Führung respektive Führungsschwäche auslegte, verlor die FDP bei der,Sonntagsfrage’ und fiel von 12 auf 10 % zurück« (Funke/Rensmann 2002: 827). Bei der Bundestagswahl am 22. September 2002 erhielt die FDP dann auch einen viel geringeren Stimmenanteil (7,4 Prozent) als die angestrebten »18 Prozent«. Doch in Möllemanns Bundesland Nordrhein-Westfalen erhielt sie 9,3 Prozent der Zweitstimmen, was ein Plus von 2,1 Prozentpunkten zur Bundestagswahl 1998 und zusammen mit Rheinland-Pfalz das beste Landesergebnis für die Partei bedeutete. In seinem Wahlkreis Warendorf konnte Möllemann sogar 10,6 Prozent der Zweitstimmen erreichen; 1998 waren es nur 8,4 Prozent. Damit wurde die FDP in Warendorf drittstärkste Kraft hinter CDU und SPD (vgl. o.V. 2002). Auch nach Ansicht der Wahlforscher dokumentiert das Wahlergebnis der FDP »keineswegs, dass der 33
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FDP-Vorsitzende von Nordrhein-Westfalen, Jürgen W. Möllemann, in den letzten drei Tagen vor der Wahl einen negativen Einfluss auf das Wahlergebnis ausgeübt hätte« (Hategan 2002). Diese Behauptung sei falsch. Kurz vor der damaligen Bundestagswahl hatte Möllemann mit einem Flugblatt, das als Postwurfsendung an alle Haushalte in NRW verschickt wurde, eine Neuauflage der Antisemitismus-Debatte provoziert. Auf dem Flugblatt wurden abermals Friedman und Sharon angegriffen. Doch diesmal reagierte der FDP-Bundesvorstand verärgert. Westerwelle bezeichnete die Aktion als »nicht vernünftig«, Möllemann wurde parteischädigendes Verhalten vorgeworfen, da er im Alleingang gehandelt und nicht die Parteigremien unterrichtet habe (vgl. Emundts 2002). Dies blieb jedoch auch der Hauptkritikpunkt, vom Antisemitismus war keine Rede. Nach dem enttäuschenden Wahlergebnis wurde Möllemann zuerst quasi die Alleinschuld für den Ausgang gegeben, wobei sich diese Angelegenheit schnell zu einer FDP-Finanzaffäre ausweitete. Große Teile der FDPFührung gerieten nun unter Druck. Öffentlich wurde dabei, dass der damalige »FDP-Vorsitzende den antisemitischen Kurs seines damaligen Vize (Möllemann; Anm. d. Verf.) aktiv unterstützte – und zwar monatelang« (Andresen 2002). Entlarvend war weiterhin ein Schreiben von Westerwelles damaligem Abteilungsleiter für »Strategie und Kampagnen«, Stefan Kapferer, in dem dieser klar stellte: »Im Mittelpunkt der Kritik an dem Wahlkampf-Flyer von Jürgen W. Möllemann [...] steht nicht der Inhalt. Im Mittelpunkt der Kritik steht die Tatsache, dass dieser Flyer millionenfach ohne Rücksprache [...] verteilt wurde.« (Kapferer 2002, zit. n. ebd.) So wurde über die Antisemitismus-Debatte des Frühsommers 2002, wenn überhaupt, dann öffentlich nur als »Israel-Debatte«, als Fauxpas Möllemanns oder von »Möllemann und seinen antiisraelischen Eskapaden« berichtet (vgl. Weidner 2002; Neubacher/Schmid 2002). Erneut wurde so einer Debatte im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Deutschland bescheinigt, sie sei durch ihre bloße Existenz »heilsam«, es müsse über etwas »mal ganz offen« geredet werden. Auch Möllemanns parteiinterne Kritiker waren der Ansicht, dass jener »den Bogen zwar überspannt«, aber »gleichzeitig eine offene Debatte angestoßen« habe (vgl. Kahlweit 2002). Was war bis dahin offen gewesen? Die immer wieder gestellte Frage, ob es nicht erlaubt sei, Kritik an Israel zu üben, war damals genauso scheinheilig wie sie heute ist. Kritik an Israel und israelischer Politik wurde und wird auch in der Bundesrepublik andauernd und offen geübt. Die Fragestellung allein impliziert das antisemitische Motiv von der Allmacht und 34
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Weltverschwörung der Juden, von der »Auschwitz-Keule«, die nach Lust und Laune benutzt werde. Möllemann trat als Befreier von »unterdrückten« Meinungen auf. Dabei verfuhr er wie seine Unterstützer nach dem klassischen Prinzip: Zuerst wird behauptet, es gebe ein Tabu, über etwas »offen« zu sprechen, um dann genüsslich dieses konstruierte Tabu gewaltund publikumswirksam zu brechen: »Unter dem Vorwand der Israel-Kritik, die als befreiender Tabubruch dargestellt wird, sind die Stereotypen der Judenfeindschaft in die öffentliche Auseinandersetzung zurückgekehrt« (Benz 2002b). Die deutschen Alt- und Neonazis waren von Möllemanns Kampagne begeistert. Der ehemalige Chef der Partei Die Republikaner, Franz Schönhuber, erklärte sich »hochzufrieden« über Möllemanns »Dammbruch«, den er mit vorbereitet habe (Vgl. Bornhöft 2002b). 1994 hatte Schönhuber den damaligen ZJD-Präsidenten Ignatz Bubis nach einem Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge beschimpft, durch sein Auftreten verantwortlich für die Existenz von Antisemitismus zu sein und ihn überdies der »Volksverhetzung« bezichtigt. Für Guido Westerwelle hingegen stellte die Debatte »ein Stück nachholende Entwicklung« dar (Westerwelle 2002, zit. n. pca 2002). Petra Bornhöft schlussfolgerte völlig richtig: »Mit derartigen Klischees eigene Ziele zu verfolgen, hatte lange Zeit nahezu ausschließlich zum strategischen Potenzial von Parteien am rechten Rand gehört – aber die Zeiten haben sich offenbar geändert« (Bornhöft 2002b). Oder wie Möllemann es drohend in wahnhafter Sprache ausdrückte: »Die Zeiten, in denen man uns das Denken verbieten wollte, sind vorbei« (Möllemann 2002, zit. n. Schütz 2002). Dass die antisemitische Forderung nach Aufhebung solch halluzinierter Denkverbote – die faktisch die Forderung nach Aufhebung eines zivilisatorischen Postulats beinhaltet – bereits kurz nach der Möllemann-Debatte Wirkung gezeigt hatte, belegte ein Blick auf empirische Erhebungen gleichermaßen wie die Analyse des veränderten Umgangs mit Jüdinnen und Juden im gesellschaftlichen Alltag der Bundesrepublik. Juna Grossmann hat selbst erfahren und eindrücklich beschrieben, welche Auswirkungen die Möllemann-Debatte auf ihr Leben hatte: »Die Stimmung allerdings veränderte sich anschließend im gesamten Land und auch im Jüdischen Museum [Berlin; Anm. d. Verf.], in dem ich immer noch arbeitete. ‚Das wird man ja wohl noch sagen dürfen‘ wird einer der häufigsten Sätze, die ich zu hören bekomme. Fast scheint es, als fühlten sich die Menschen befreit von einer Last.« (Grossmann 2018: 43f.) 35
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Dass Juden zu viel Einfluss in der »Geschäftswelt« hätten, empfanden einer Erhebung der Anti-Defamation League zufolge Mitte des Jahres 2002 32 Prozent der Deutschen, während 21 Prozent »den Juden« nachsagten, eher gewillt zu sein, »shady practices« zur Durchsetzung ihrer Ziele einzusetzen, als andere Menschen. Und 24 Prozent vertraten die Auffassung, Juden würden sich nicht dafür interessieren, was anderen (nichtjüdischen) Menschen geschieht. Die deutlichste Zustimmung erzielte jedoch mit 55 Prozent die Behauptung, (deutsche) Juden würden ein größeres Maß an Loyalität gegenüber Israel haben, als gegenüber Deutschland (vgl. Anti-Defamation League 2002: 6). Und während es 1999 noch eine Mehrheit von 56 Prozent aller Deutschen als unverständlich empfand, dass manchen Leuten Juden unangenehm sind (2002: 38 Prozent), so fanden im April 2002 bereits 36 Prozent der Deutschen die Äußerung verständlich gegenüber 20 Prozent im Jahre 1999 (vgl. Brähler/ Richter 2002: 2). Jeder fünfte Deutsche wies in dieser Erhebung »den Juden« die Schuld an großen Weltkonflikten zu (vgl. ebd.: 5). Somit ist auch Elmar Brähler voll zuzustimmen, wenn er damals mit Blick auf Westdeutschland einen »dramatischen Anstieg des Antisemitismus« und »eine deutliche Zunahme der Verharmlosung des Nationalsozialismus« feststellte (vgl. Langenau 2002). Nach einer repräsentativen Erhebung aus dem April 2002 vertraten 28 Prozent der Deutschen die Auffassung, der Einfluss »der Juden« sei »zu groß«, wobei die Zustimmung zu dieser These in den letzten vier Jahren vor allem in Westdeutschland gewachsen war: von 14 Prozent im Jahre 1998 auf 31 Prozent im Jahre 2002 (vgl. Niedermayer/Brähler 2002: 8ff.). 20 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, »die Juden« hätten etwas »Besonderes und Eigentümliches an sich« und würden nicht »zu uns« passen, während 23 Prozent behaupteten, Juden würden mehr »mit üblen Tricks« arbeiten, um ihre Ziele durchzusetzen, als andere Menschen (vgl. ebd.: 11f.). Dem von Möllemann goutierten ressentimentgeladenen Denken folgte ungefähr jede/r fünfte Deutsche im Sommer 2002 – so das Ergebnis des ersten Teils einer Langzeituntersuchung (GMF) durch eine Forschergruppe um den Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer: 22 Prozent der Befragten meinten, »Juden hätten in Deutschland zu viel Einfluss«, 17 Prozent behaupteten, »Juden trügen Mitschuld an ihrer Verfolgung«. Und sogar jede/r zweite Befragte (52 Prozent) dachte, dass »Juden versuchten, aus dem Holocaust Vorteile zu ziehen – und dass sie die Deutschen für die Vergangenheit zahlen ließen« (Bittner 2002). Salomon Korn hatte 2002 auf die psychosozialen Ursachen einer derartigen Manifestation des sekundären Antisemitismus hingewiesen und dabei die selbstreflexive Dynamik dieses Prozesses deutlich gemacht: 36
Affektmobilisierungen in der gesellschaftlichen Mitte
»Im Zustand der nunmehr erreichten politischen Einheit Deutschlands zeichnet sich das aus der partiell fortdauernden Latenzzeit des Schweigens bei vielen Deutschen weiterhin wirksame, der Ratio entzogene Unbehagen Juden gegenüber bei aktuellen Anlässen umso deutlicher ab. So entstand aus dem Fortdauern eines lange nicht verbalisierten Unbehagens ein sekundäres Unbehagen: ein Unbehagen am Unbehagen. Die Forderung, es müsse wieder (?) möglich sein, in Deutschland Juden (und Israel) zu kritisieren, ist daher oft nichts anderes als der (jetzt auch aus populistischem Kalkül immer häufiger unternommene) Versuch, dieses doppelte Unbehagen unter Umgehung seiner Langzeitursachen zu durchbrechen – nur um ihm erneut auf den Leim zu gehen und es damit umso subtiler zu verfestigen.« (Korn 2002b) Die Manifestationsprozesse blieben jedoch keineswegs nur auf den Bereich der privaten Meinungen beschränkt, sondern fanden ihren Niederschlag auch im öffentlichen Raum. Einen – zwar auch immer unvollständigen und lückenhaften – Indikator für die wachsende Akzeptanz von antisemitischer Gewalt unter den latenten Antisemiten stellten dabei antisemitische Übergriffe wie auch antisemitische Propagandadelikte dar. Auch hier war – nach Brandanschlägen auf die Erfurter und Düsseldorfer Synagogen im Jahr 2000 sowie zahlreichen Schändungen von NS-Gedenkstätten in den letzten Jahren – ein Zuwachs zu verzeichnen. Nach der Sammelstatistik des Bundeskriminalamtes schwankte die Zahl der gemeldeten antisemitischen Straftaten in Deutschland Ende der 1990er Jahre noch zwischen rund 800 (1999) und knapp 1.000 (1998) im Jahr. Die Schändung jüdischer Friedhöfe lag bei durchschnittlich 50 jährlich (vgl. Lt. 2000). Im zweiten Quartal des Jahres 2002 hatte die Anzahl rechtsextremer und antisemitischer Straftaten deutlich zugenommen. Im Juni 2002 wurden bundesweit 398 rechtsextreme Straftaten verübt. Dies waren mehr als doppelt so viele wie im Vergleichsmonat März 2002 (188 Straftaten). Die Zahl der antisemitischen Straftaten stieg sogar von 127 im ersten Quartal auf 319 im zweiten an (vgl. Jelpke 2002). Nach Aussage des ZJD hatte es eine solch deutliche Welle antisemitischer Straftaten in Deutschland in dieser Intensität seit 1992 nicht mehr gegeben (vgl. ce 2002). Auch der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) setzte den sprunghaften Anstieg von antisemitischen Straftaten mit der Antisemitismus-Debatte um Möllemann in Verbindung. Man müsse Zweifel daran haben, dass dies nur Zufall sei, so Thierse. In dem durch die Debatte geschaffenen Klima »meinten nicht wenige, dass nun sie sich auch antisemitisch und xenophobisch äußern konnten. Und die Rechtsradikalen durf-
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Samuel Salzborn/Marc Schwietring
ten das Gefühl genießen, plötzlich nicht mehr allein zu sein mit ihren unanständigen Parolen« (Thierse 2002). Als deutliche öffentliche Manifestierung des sekundären Antisemitismus kann ein Eklat am ersten Novemberwochenende 2002 in Berlin-Spandau angesehen werden: Bei einem Festakt aus Anlass der Rückbenennung der 1938 in Kinkelstraße umbenannten Jüdenstraße riefen mehrere Personen aus der Menge der Zuschauer/innen dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlin, Alexander Brenner, die Parolen entgegen: »Juden raus« und »Ihr Juden seid an allem schuld«, als dieser eine Rede halten wollte. Bei den skandierenden Antisemiten handelte es sich nach Aussage des FDP-Fraktionsvorsitzenden im Spandauer Bezirksparlament, Karl Heinz Bannasch, nicht um offenkundige Neonazis – »das waren Leute, die der bürgerlichen Mittelschicht zuzuordnen sind« (Vgl. Gäding 2002). Diese Spandauer Bürger/innen wollten nicht und schon gar nicht von Juden, den Nachkommen der Opfer, an die mörderische Vergangenheit in ihrem Bezirk und damit an die Verbrechen ihrer Eltern oder Großeltern erinnert werden. »Schuld« an »Allem« seien die Juden – deutlicher kann sich Erinnerungs- und Verantwortungsabwehr wohl kaum artikulieren. Nach Meinung des Historikers Wolfgang Benz, schlug damit nun der latente Antisemitismus in einen manifesten um: »Wir sind an einem Punkt angekommen, wo es kaum noch Hemmschwellen gibt. [...] Bisher spiegelte sich der latente, also tief sitzende, aber nicht nach außen hin artikulierte Antisemitismus nur in Meinungsumfragen wieder. Seit Möllemann ist das anders. Manche beschimpfen Juden und berufen sich darauf, dass es möglich sein muss, Kritik zu üben. [...] Solcher offener Antisemitismus ist neu und außerordentlich beunruhigend.« (Benz 2002a) Möllemann und Walser hatten antisemitischem Denken im kulturellen und politischen Raum eine Diskursfähigkeit verschafft, die jenseits von zivilisatorischen Motiven agierte. Da sich der Wahn der bisher schweigenden Antisemiten nun öffentlich artikulieren konnte, konnte nicht nur eine starke Tendenz zur politischen Normalisierung des sekundären Antisemitismus festgestellt werden, sondern es zeigte sich auch, dass die Brutalisierung der gesellschaftlichen Realität längst begonnen hatte. Nicht nur psychische, sondern auch physische Gewalt gegen Jüdinnen und Juden wurde in Deutschland wieder möglich, ohne öffentlich klar und deutlich und von allen gesellschaftlichen Akteuren als untolerierbar zurückgewiesen zu werden. Eine klare Benennung antisemitischer Ressentiments, eine eindeutige politische Polarisierung sowie eine definitive Ausgrenzung von antisemiti38
Affektmobilisierungen in der gesellschaftlichen Mitte
schen Positionen aus dem gesellschaftlichen Diskurs wären dagegen notwendig gewesen – sie sind es noch immer. Nicht nur, um antisemitische Gewalttaten und Propagandadelikte zu minimieren und zu verhindern, sondern auch, es muss stetig wiederholt werden, im allgemeinen zivilisatorischen Interesse. Denn der »Antisemitismus ist kein Problem der Juden, keine Einstellung, die sich aus der jüdischen Geschichte, aus der jüdischen Religion erklären ließe; der Antisemitismus ist ein Problem der Antisemiten« (Schoeps/Schlör o. J.: 9). Derer, die wie Möllemann Juden und Jüdinnen Schuld am Antisemitismus geben, um sich derjenigen ihrer Familienangehörigen und Nation zu entledigen; und derer, die wie der unbekannte Besucher des Jüdischen Museums Berlin sagen: »Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Es muss ja einen Grund gegeben haben, sonst passiert das alles nicht« (Grossmann 2018: 44). Gerade heute gilt es, bewusst zu halten, wer das Feuer der Vernichtung entfacht hatte – und die Flammen weiterhin entfacht: Spruch Dom. Tempel. Kirche. Und die Welt in Flammen. Reim es zusammen. Es reimt sich nicht. (Ilse Blumenthal-Weiss) Literatur Andresen, Karen u.a. (2002): Projekt Größenwahn, in: Der Spiegel v. 4.11.2002. Anti-Defamation League (2002): European Attitudes Toward Jews, Israel and the Palestinian-Israeli Conflict, Washington. Benz, Wolfgang (2002a): »Es gibt kaum noch Hemmschwellen«, Interview in: Berliner Zeitung v. 2.11.2002. Benz, Wolfgang (2002b): Antisemitismus ohne Antisemiten?, in: Jüdische Allgemeine v. 4.7.2002. Bittner, Jochen (2002): Deutschland: Wo jeder sich vor jedem fürchtet, in: Die Zeit v. 7.11.2002. Blumenthal-Weiss, Ilse (1984): Ohnesarg. Gedichte und ein dokumentarischer Bericht, Hannover. Bornhöft, Petra u.a. (2002a): Die Probebohrung, in: Der Spiegel v. 27.5.2002. Bornhöft, Petra u.a. (2002b): Inszenierter Tabubruch, in: Der Spiegel v. 3.6.2002.
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Antisemitismus in der deutschen Beschneidungskontroverse 2012 Dana Ionescu
»Wollt ihr uns Juden noch?« lautete der Titel eines Gastbeitrages von Charlotte Knobloch, der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, in der Süddeutschen Zeitung vom 25. September 2012. Knobloch selbst hatte sich in den Jahren nach der Shoah dafür entschieden, jüdisches Leben in Deutschland aktiv mitzugestalten. Doch nun hegte sie, ausgelöst durch die Kontroverse um kulturell-religiöse Vorhautbeschneidungen, Zweifel. Sie fragte, ob sich diejenigen, die die Vorhautbeschneidung ablehnen, beziehungsweise die »unzähligen Besserwisser aus Medizin, Rechtswissenschaft, Psychologie oder Politik überhaupt darüber im Klaren sind, dass sie […] die ohnedies verschwindend kleine jüdische Existenz in Deutschland infrage stellen« (Knobloch 2012). In ihrem Beitrag offenbarte Knobloch, dass die jüdische Religionsgemeinschaft in Deutschland gegenwärtig und alltäglich nicht nur zahlreiche Anschuldigungen, Ressentiments und gewalttätige Übergriffe erträgt, sondern sich auch in den vergangenen Jahrzehnten gegenüber FreundInnen und Familien dafür rechtfertigen müsse, im Post-Shoah Deutschland zu leben. Diese »Last« habe sie »immer gerne getragen«, doch nun gerieten die »Grundfesten ins Wanken« (ebd.) und sie spüre erstmals Resignation in sich. Ihr ging es nicht allein so. Zahlreiche Jüdinnen und Juden teilten die Wahrnehmung, dass BeschneidungsgegnerInnen in der Kontroverse den »Kern der jüdischen Identität« zur Disposition stellten (ebd.). Der Gastbeitrag Knoblochs in der SZ zeigt neben vielen anderen öffentlichen Stellungnahmen von Jüdinnen und Juden sowie jüdischen Organisationen, dass das Urteil des Kölner Landgerichts eine bedrohliche Wirkung nicht nur auf viele jüdische Deutsche entfaltete, sondern auch international breit wahrgenommen und kritisiert wurde (vgl. Zentralrat der Juden 2012; Allgemeine Rabbinerkonferenz 2012; Union progressiver Juden in Deutschland 2012; Evans 2012; Aderet 2012; O. A. 2012d; Beckhardt 2012). In der Online-Umfrage der European Union Agency for Fundamental Rights (FRA), die zwischen September und Oktober 2012 in acht EU-Mitgliedsstaaten – darunter Deutschland – durchgeführt wurde, verdeutlicht die Mehrheit der insgesamt 5.847 befragten Jüdinnen und Juden, dass die 43
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Vorhautbeschneidung für ihr religiöses Selbstverständnis bedeutsam sei (vgl. FRA 2014: 69). Je religiöser sich die Befragten einordnen, desto stärker stellt ein Verbot der Praxis ein Problem für sie dar (vgl. ebd.: 69f.).1 Im Kölner Landgerichtsurteil vom 7. Mai 2012, dessen Bekanntgabe den Auslöser für die Kontroverse darstellte, wurde eigentlich die Vorhautbeschneidung eines muslimischen Jungen verhandelt. Das Landgericht erklärte die kulturell-religiöse Vorhautbeschneidung zur strafbaren Körperverletzung, die »gegen das Kindeswohl« verstoße und fortan nicht mehr durch die Religionsfreiheit und das Sorgerecht der Eltern begründet werden könne (Landgericht Köln 2012: 2). Die Praxis sei eine »unangemessen[e]« Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, eine dauerhafte und irreparable Veränderung und laufe »dem Interesse des Kindes […] zuwider« (ebd.: 3).2 Nachdem die Urteilsbegründung im Juni 2012 über Tageszeitungen veröffentlicht wurde, war klar, dass sie Auswirkungen auf Muslimas und Muslime und Jüdinnen und Juden hat, da kulturell-religiöse Vorhautbeschneidungen in vielen muslimischen und jüdischen Kontexten stattfinden. Infolge des Landgerichtsurteils entspann sich eine mehrmonatige öffentliche und emotional geführte Kontroverse, in der sich diverse antisemitische Ressentiments finden. Dieser Antisemitismus, so meine These, drückt sich durch verschiedene charakteristische Motive aus, die sich wiederholt in zahlreichen Argumentationen vieler BeschneidungsgegnerInnen finden (vgl. Ionescu 2018: 145ff.). Die Motive sind durch Beschreibungen und Argumentationen von BeschneidungsgegnerInnen hergestellte Leitbilder respektive Grundgedanken, die sich wie rote Fäden durch die Kontroverse ziehen, weil unterschiedliche AkteurInnen sie immer wieder aufnehmen. Es handelt sich um »Metapher[n] gesellschaftlichen Charakters« (Diner 1988: 31). Die antisemitischen Motive beziehungsweise Bilder gegen das »blutige, perverse Ritual« – wie es in der taz in einem Online1 In der Folgestudie des FRAU von 2018 wurden deutlich mehr Jüdinnen und Juden (16.395) in zwölf Mitgliedsstaaten der EU zur Praxis der Vorhautbeschneidung befragt. Insgesamt 82 Prozent der Befragten sagen, dass ein Verbot der Vorhautbeschneidung für sie ein Problem ist (vgl. FRAU 2018: 71). 2 Das Amtsgericht Köln, das am 21. September 2011 über den Fall geurteilt hatte, entschied genau gegenteilig. In der Urteilsbegründung hieß es, die Vorhautbeschneidung sei durch die wirksame Einwilligung der Eltern des Kindes gerechtfertigt und richte sich an dem »Wohl ihres Kindes« aus (Amtsgericht Köln 2011). Sie bekunde die kulturelle und religiöse »Zugehörigkeit zur muslimischen Lebensgemeinschaft«, sie wirke »einer drohenden Stigmatisierung des Kindes« als nichtbeschnitten entgegen und stelle eine präventive medizinische Maßnahme gegen spezifische Erkrankungen dar (ebd.).
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Kommentar heißt (Remmler 2012) – sind nicht nur eine bloße Abbildung oder Widerspiegelung von antisemitischem Denken und Fühlen, sondern sie besitzen vielmehr die Kraft, dieses mit hervorzubringen und zu festigen (vgl. A.G. Gender-Killer 2005: 59). Die Motive haben daher eine performative Dimension und können durch Wiederholung »zur Etablierung von Antisemitismus« beitragen (ebd.). Es existiert eine wechselseitige Beziehung zwischen einem Rückgriff auf teils jahrhundertealte Stereotype und deren Reformulierung, mit der auch Möglichkeiten der argumentativen Neugestaltung verbunden sind.3 Das Motiv der »Lektion aus der Nazizeit« und Bezugnahmen auf die Shoah In der Beschneidungskontroverse sprechen sowohl BeschneidungsgegnerInnen als auch diejenigen, die eine Vorhautbeschneidung tolerieren, implizit und explizit über den Nationalsozialismus und die Shoah. Die impliziten wie expliziten Bezüge tauchen vermehrt während der politischen Bemühungen auf, eine gesetzliche Regelung zu Vorhautbeschneidungen zu schaffen. GegnerInnen der kulturell-religiösen Vorhautbeschneidung werfen einerseits den Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung, andererseits besonders Juden4 und jüdischen Organisationen vor, die Shoah zu instrumentalisieren, um ein gesetzlich verankertes Verbot von kulturell-religiösen Vorhautbeschneidungen zu verhindern. Auf diese Weise wird deutschen Juden (im Gegensatz zu deutschen Muslimen) eine Sonderstellung zugesprochen, die sich aus der Shoah ergebe. Am 21. Juli 2012 erschien auf FAZ.net ein offener Brief mit dem Titel Religionsfreiheit kann kein Freibrief für Gewalt sein, den der Psychoanalytiker
3 In der Kontroverse finden sich nicht nur antisemitische, sondern auch rassistische Facetten, die aber an dieser Stelle nicht analysiert werden. Zum Rassismus in der Kontroverse siehe: Çetin/Voß/Wolter 2012; Engel 2013; Amir-Moazami 2016. Der Umstand, dass sich antisemitische und rassistische Ressentiments verbinden, ist nicht verwunderlich. Wenngleich es sich um »unterschiedliche Phänomene mit jeweils eigener Geschichte« und »eigenen Ausdrucksweisen« handelt, zeigen etwa die Studien zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zwischen 2002 und 2016 signifikante Zusammenhänge zwischen antisemitischen und rassistischen Ressentiments auf (Zick/Krause/Berghan/Küpper 2016: 34). 4 Juden und jüdisch wird kursiv geschrieben, sofern die (antisemitisch) Sprechenden und Schreibenden mit diesen Bezeichnungen jeweils eine stereotype Konzeptualisierung zum Ausdruck bringen. Die kursive Schreibweise verdeutlicht, dass Juden als »Gegenentwurf zur eigenen Existenzform« erklärt werden (Schwarz-Friesel/ Reinharz 2013: 48).
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und Facharzt für psychosomatische Medizin Matthias Franz initiiert hatte. Er wurde von mehr als 740 Personen unterschrieben, weswegen er als Akt der politischen Mobilisierung verstanden werden kann, mit der auf den Gesetzgebungsprozess des Deutschen Bundestages Einfluss genommen werden sollte. Da der offene Brief medial breit rezipiert wurde und sich BeschneidungsgegnerInnen selbst immer wieder positiv auf ihn beziehen, handelt es sich um einen Schlüsseltext der öffentlichen Kontroverse. In einer Textpassage des Briefes kritisieren Franz und die Mitunterzeichnenden: »Der schwerwiegende Vorwurf jedoch – unter assoziativem Verweis auf den Holocaust –, durch ein Verbot der rituellen Jungenbeschneidung würde ‚jüdisches Leben in Deutschland‘ unmöglich werden, ist für Vertreter des Kinderschutzgedankens nicht hinnehmbar« (Franz 2012, Herv. D. I.). Die Anführungszeichen um jüdisches Leben in Deutschland wirken irritierend, da unklar ist, inwiefern es sich um ein unvollständig wiedergegebenes und nicht gekennzeichnetes Zitat handelt. Dadurch, dass Franz nicht darlegt, welche konkrete Stellungnahme oder welche Äußerung er mit seiner Kritik eigentlich meint, ist auch unklar, ob in dieser überhaupt vom Holocaust gesprochen wurde oder ob Franz diese Bezugnahme selbst herstellt. Die Suche nach dem Urheber des indirekten Zitats führt zum damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann. Er sagte am 27. Juni 2012 in den Tagesthemen, dass »dieses Urteil zu Ende gedacht […] doch bedeuten [würde], dass jüdisches Leben in Deutschland faktisch unmöglich gemacht wird« (Graumann 2012a). Eine ähnliche Formulierung verwendete Graumann in einem Interview mit der Rheinischen Post (vgl. Graumann 2012b). In beiden Äußerungen Graumanns ist jedoch vom Holocaust nicht die Rede. Möglicherweise könnte sich Franz mit dem indirekten Zitat auch auf Äußerungen des Vorsitzenden der Europäischen Rabbinerkonferenz, Rabbiner Pinchas Goldschmidt, beziehen. Er hatte bei einem Zusammentreffen von Rabbinern in Berlin Mitte Juli 2012 mehreren Tageszeitungen zufolge gesagt, das Beschneidungsverbot sei »perhaps the most serious attack on Jewish life in Europe since the Holocaust« (zit. n. Evans 2012). Deutschsprachige Tageszeitungen wie die Frankfurter Rundschau, die Süddeutsche Zeitung oder die Berliner Zeitung zitierten anschließend lediglich die Worte »Schwerster Angriff auf jüdisches Leben seit Holocaust« (Heide 2012a; O. A. 2012e; Heide 2012b) und ließen das »vielleicht« vielfach unberücksichtigt.
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Unabhängig davon legt die Formulierung Franz‘ nahe, den selbst ernannten »Vertretern des Kinderschutzgedankens« stünden besonders die »Bedürfnisse, Befürchtungen und Traditionen der beteiligten religiösen Gruppen« entgegen, die nicht »auf wissenschaftlicher und rechtlicher Grundlage« argumentieren würden (Franz 2012). Mit seiner Kritik gestehen Franz und die Unterzeichnenden des offenen Briefes Juden, die mit dem Verweis auf die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden das Beschneidungsverbot kritisieren, in vager Formulierung kein legitimes Interesse zu. Sie suggerieren vielmehr, Juden hätten sich als Dialogpartner selbst disqualifiziert. Expliziter ausformuliert ist diese Perspektive in einer späteren Veröffentlichung von 2014, in der Franz den jüdischen Deutschen Michael Wolffsohn als positives Beispiel bestätigend heranzieht und sich für dessen rationale und wissenschaftliche Perspektive auf Vorhautbeschneidungen bedankt (vgl. Franz 2014: 10). Wolffsohn habe, so paraphrasiert es Franz, »dankenswerterweise« kritisiert, dass »jüdische und rabbinische Repräsentanten den Bogen zum Holocaust schlugen«, was »substanzund taktlos« gewesen sei (Franz 2014: 10f.).5 Der Artikel Ist das Beschneidungsgesetz gut? des Journalisten und Autors Matthias Lohre aus der taz steht deutlicher für eine Kritik, die skandalisiert, dass die Regierungskoalition ihre Meinung zu Vorhautbeschneidungen mutmaßlich geändert habe. Lohre kritisiert den Entwurf des Bundeskabinetts vom Oktober 2012 für das Beschneidungsgesetz nachdrücklich. Zustande gekommen war der Gesetzentwurf, weil die Bundesregierung unter anderem auf einer Pressekonferenz im Juli 2012 erklärte, Rechtssicherheit schaffen zu wollen (vgl. Seibert 2012).6 Bis zum Herbst sollte eine rechtliche Regelung für die Beschneidung bei minderjährigen Jungen geschaffen und ein Gesetzentwurf vorgelegt werden (vgl. Deutscher Bundestag 2012a: 1f.). In der Begründung des Entschließungsantrages von CDU/ CSU, SPD und FDP heißt es, die »rechtliche Einordnung der Beschneidung« müsse »so schnell und so gründlich wie möglich geklärt werden« 5 Zur als wirkungsvoll beurteilten Rechtfertigungsstrategie gebildeter AkteurInnen, Juden und/oder jüdische Autoritäten und damit einen Vertreter der kritisierten Gruppe zu zitieren, um so die eigene Perspektive zu legitimieren, siehe SchwarzFriesel/Reinharz 2013: 376ff. 6 Da der Richter und die beiden Schöffen des Kölner Landgerichts den angeklagten Allgemeinmediziner von der Körperverletzung freisprachen, konnte die Verteidigung keine Revision einlegen, um die Frage der Strafbarkeit einer kulturell-religiösen Vorhautbeschneidung auf der nächsthöheren gerichtlichen Instanz klären zu lassen. Dies wäre nur nach einer rechtskräftigen Verurteilung des Arztes möglich gewesen, der die Vorhautbeschneidung durchgeführt hatte (vgl. Widmann 2012: 219).
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(ebd: 2). Der Deutsche Bundestag halte eine »gesetzliche Klarstellung für geboten, die insbesondere unseren jüdischen und muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ermöglicht, ihren Glauben frei auszuüben« (ebd.). Lohre macht in seinem Artikel nun PolitikerInnen und Juden einen direkten Vorwurf, wenn er andeutend schreibt, wie es dazu gekommen sei, dass die Bundesregierung den Gesetzesvorschlag entwickelte: »Die Debatte über die Frage, ob Beschneidungen Körperverletzungen sind oder zu schützende religiöse Tradition, verlief hysterisch. Grotesk waren Äußerungen wie die des niedersächsischen Verbandsvorsitzenden des Zentralrats der Juden: ‚Selbst im Dritten Reich gab es kein Verbot der Beschneidung.‘ Aus Furcht vor religiös begründeter Hysterie sind Union und FDP eingeknickt. Schmallippig freuen sie sich über die durch ‚Beseitigung rechtlicher Unsicherheit‘ geschaffene ‚Klarheit‘. Das ist kein Lob für den Inhalt eines Gesetzes, sondern für seine Funktion. Bloß weg mit der Debatte.« (Lohre 2012, Herv. D. I.) Die Textpassage verdeutlicht die negative Bewertung, die Regierungskoalition bestehend aus CDU/CSU und FDP habe in Reaktion auf Kritik von Juden ihren bisher vertretenen politischen Standpunkt aufgegeben. Zwar nennt der Autor als Grund nur unbestimmt und sehr implizit eine »Furcht vor religiös begründeter Hysterie« und schreibt nicht, weil Juden auf den Nationalsozialismus verwiesen, seien die Abgeordneten »eingeknickt«. Zugleich lässt er aber keinen Zweifel daran aufkommen, wer diese Hysterie erzeugt und verbreitet habe. Denn zwischen dem Wort »hysterisch« und der »Furcht vor Hysterie« nennt Lohre die Äußerung des Landesverbandsvorsitzenden der Jüdischen Gemeinden Niedersachsen, Michael Fürst, allerdings ohne dessen Namen zu nennen. Dennoch ist durch die Anspielung klar, dass Fürst stellvertretend für die Juden steht und Lohre die Äußerungen Fürsts durch die Bezugnahme auf das »Dritte Reich« als absurd und hysterisch einordnet. Damit sagt der Autor, ähnlich wie Franz, nur sehr viel expliziter, dass die Art und Weise nicht legitim sei, wie Juden im Kontext der Beschneidungskontroverse für ihre Interessen eintreten. Exemplarisch für den Vorwurf gegenüber Juden und PolitikerInnen, sich in unzulässiger Weise auf die Shoah zu beziehen, sind darüber hinausgehend die Äußerungen der SPD-Abgeordneten Marlene Rupprecht. Sie hatte die Aussage Graumanns, ohne Rechtssicherheit sei jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich, einem Focus-Zeitungsartikel zufolge als »Totschlagargument« gewertet (Wendt 2012). Man dürfe nicht sagen, »[w]ir hatten den Holocaust, also haben wir jahrhundertelang nichts zu kritisieren« (Rupprecht zit. n. Wendt 2012). Vielmehr müsse die »Lektion aus der Nazizeit« doch sein, sich gegen kulturell-religiöse Vorhautbeschnei48
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dungen und für den »Respekt vor dem Leben« auszusprechen (Rupprecht zit. n. Jens 2013: 29, Herv. i. Orig.), wie der Journalist und Autor Tilman Jens in seiner Monografie Der Sündenfall des Rechtsstaats schreibt. Auf diese Weise dient die Shoah GegnerInnen der Vorhautbeschneidung als Legitimation, warum sie das »gewalttätige Zwangsritual« ablehnen und sich für ein Verbot der Praxis einsetzen (Jens 2013: 29). In einem anderen Kommentar in der taz mit dem Titel Verbrechen gegen die Mitmenschlichkeit! heißt es: »Diese klar verfassungs- und menschenrechtswidrige Erlaubnis zur Misshandlung (= absichtliche Körperverletzung) wehrloser kleiner Jungen ist für mich höchst skandalös: Gerade wegen der extrem inhumanen Nazizeit wäre ein sehr striktes Verbot jeglicher Misshandlung [der Vorhautbeschneidung, D. I.] äußerst notwendig!« (Moysich 2012) Die Shoah wird hier zum Vehikel. Von einer »Indienstnahme von Auschwitz« hatte auch die Soziologin Julijana Ranc in ihrer Studie zu antisemitischen Kommunikationen unter »deutschen Durchschnittsbürgern« gesprochen. Das »Sprechen über Juden« sei zeitgenössisch »unweigerlich ein Sprechen über Juden mit Auschwitz« (Ranc 2016: 71, Herv. i. Orig.). Diese Analyse trifft auch auf die Beschneidungskontroverse zu. Die beschriebenen Vorwürfe gegenüber Juden und PolitikerInnen verweisen auf eine Sprechweise, die im Antisemitismus nach Auschwitz zentral geworden ist. Sie wird in der deutschsprachigen Antisemitismusforschung als Schuldabwehr-Antisemitismus bezeichnet und entstand historisch betrachtet nach 1945 (vgl. Salzborn 2014: 11ff.; Kistenmacher 2012: 51; Benz 2004: 19f.). Juden werden in dieser Erscheinungsform des Antisemitismus so dargestellt, als wollten sie einen illegitimen Nutzen aus der Shoah ziehen und »jede Kritik« an sich unterdrücken (Holz 2005: 66). In dem Vorwurf, immer wieder an die Shoah zu erinnern, »obwohl ein Schlußstrich unter die Vergangenheit längst angemessen« sei, werden sie zu Profiteuren (ebd.). Nichtjüdische Deutsche hingegen seien Opfer einer fortdauernden Thematisierung der Shoah, die als ein »jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel«, als »Drohroutine« und als »Moralkeule« wahrgenommen wird (ebd.: 66f.; vgl. Salzborn 2010: 199ff.; Frindte 2006: 10). Die Linguistin Monika Schwarz-Friesel bezeichnet dieses Argumentationsmuster als Stereotyp der Holocaustausbeutung (vgl. 2018: 21). Seit den 1950er und 1960er Jahren widmen sich Forschende aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen den Ausprägungen des schuldabwehrenden Antisemitismus und seiner Verbreitung in allen politischen Spektren der deutschen Gesellschaft (vgl. Salzborn 2014: 16; Frindte/Wammetsberger 2008: 265f.). Untersucht wurden insbesondere einzelne 49
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geschichtspolitische Auseinandersetzungen und Konflikte über die NSVergangenheit und die Shoah sowie der Umgang mit der NS-Vergangenheit (vgl. Bergmann 2011: 261; Ahlheim/Heger 2002: 54). Basierend auf diesen Analysen und Reflexionen lassen sich die (instrumentellen) Bezüge auf die Shoah in der Beschneidungskontroverse einordnen. Mit dem Nachwirken der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Beschneidungskontroverse setzen sich die Psychoanalytiker Yigal Blumenberg und Wolfgang Hegener auseinander. Sie formulieren die These, dass sich in ihr eine unzureichende Reflexion des Zivilisationsbruches zwischen 1933 und 1945 ausdrückt: In unbedachter Weise kehren »ungebrochen gewalttätige alte christliche Vorurteile« gegen Juden (Blumenberg/Hegener 2013: 8) wieder und richten sich gegen die jüdische Tradition der Beschneidung. Das Motiv eines »massiven Drucks« und einer »jüdischen Erpressung« Während der Kontroverse kritisieren BeschneidungsgegnerInnen, auf politischer Ebene sei nicht genügend über Risiken und Gefahren der kulturellreligiösen Vorhautbeschneidung diskutiert worden. Sie prangern die Bundestagsabgeordneten und die Bundesregierung dafür an, unbedacht und übereilt eine politische Entscheidung zu treffen. Im schon erwähnten offenen Brief in der FAZ warnen die Unterzeichnenden vor »politische[n] Schnellschüsse[n]« (Franz 2012) und einem Gesetz ohne gründliche Vorbereitung. Auch in anderen Zeitungsartikeln in der FAZ, der SZ und der taz kritisieren BeschneidungsgegnerInnen die politischen Bemühungen um eine gesetzliche Regelung. Die Journalistin Heide Oestreich (2012) schreibt in der taz in dem Artikel Männer kennen keinen Schmerz, eine »Mehrheit des Bundestages« beeile sich, »eine Körperverletzung an Kindern zu legalisieren«. Sie fordert, die Debatte dürfe nicht mit einem »Schnellschussgesetz« abgewürgt werden (Oestreich 2012). In dem SZ-Artikel Beschneidungsrecht wie bestellt vom Redakteur und Autor Markus C. Schulte von Drach argumentiert dieser, mit der Gesetzesvorlage zu Vorhautbeschneidungen würde »das heikle Thema« »mit einem Trick [verschwinden]« (Schulte von Drach 2012). Von Anfang der Kontroverse an sei es darum gegangen, das religiöse Ritual zu legalisieren. Aus einer Körperverletzung werde eine per Gesetz erlaubte Handlung, den Gläubigen würden »Sonderrechte« eingeräumt. Wenn Gläubige »womöglich gegen Grundrechte verstoßen«, müsste ihnen »in unserer aufgeklärten modernen Gesellschaft« zuzumuten sein, »ihre Rituale kritisch [zu] hinterfrag[en]« (ebd.).
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Während es in diesem Artikel um beide religiösen Kontexte respektive um muslimische und jüdische Gläubige allgemeiner geht, schreibt der Journalist Christoph Zimmermann in einem taz Artikel deutlich expliziter über Juden: »So schnell werden Gesetze selten auf den Weg gebracht. Vier Monate nach dem Urteil des Landgerichts lag der Entwurf vor. Das Motiv: Jeder Konflikt mit der jüdischen Gemeinde sollte vermieden werden.« (Zimmermann 2012) Hervorzuheben ist, dass muslimische AkteurInnen und deren Interessen in Zimmermanns Artikel nicht vorkommen. Sie scheinen in der Kontroverse kein beachtenswerter Akteur zu sein, der für seine Interessen oder in Repräsentation für die Interessen von Muslimas und Muslimen eintritt. Auch in Online-Kommentaren von BeschneidungsgegnerInnen findet sich das Motiv, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und die Bundesregierung stünden unter einem »besonderen Druck«, wodurch Juden eine Sonderstellung zugeschrieben wird. Um ihre Interessen durchzusetzen, übten allein sie (im Gegensatz zu Muslimen) einen enormen oder illegitimen Druck aus. Bereits im Juli 2012, lange bevor das Beschneidungsgesetz geschaffen wurde, kommentiert ein Leser unter der Überschrift Demokratie in Deutschland: Die Meinung der Mehrheit wird ignoriert; Lobbys diktieren Gesetze auf FAZ.net das Verhalten der Bundesregierung und der rot-grünen Opposition. Deren Verhalten sei »einfach nur skandalös«, da sich »religiöse Interessensvertreter über den Willen der breiten Bevölkerungsmehrheit erhoben« und Gesetze »anbefohlen« hätten. »Zentralräte und ultraorthodoxe Rabbiner ‚bestellen‘ sich Gesetze«, welche die Bundesregierung liefere (Atalan 2012). Schon zu diesem frühen Zeitpunkt deutet sich eine Rhetorik der Verschwörung an, die besonders Juden kritisiert und als mächtig und Gesetze vorschreibend charakterisiert. Als der Deutsche Bundestag am 12. Dezember 2012 den Paragraf 1631d BGB verabschiedete, der Vorhautbeschneidungen unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, findet sich dieses Motiv nun besonders häufig. In einem Online-Kommentar auf FAZ.net kommentiert unter dem Titel armes deutschland ein Leser: »bloss weil wieder einmal der vorsitzende des jüdischen zentralrats mit erhobenem zeigefinger auftritt und uns deutsche beschimpft, wird es nun gesetz kleine jungen zu quälen!!! prima – mittelalter lässt grüssen« (Nelles 2012, Schreibweise i. Orig.). Hier wird der Zentralrat der Juden als eine übermäßige Macht beschrieben, der die deutsche Politik leite. Diese Sichtweise spiegelt sich auch in einem weiteren Kommentar wider, in dem es heißt, »[i]m übrigen ist die Beschneidung nicht erlaubt. Punkt. Der Paragraph 1631d BGB ist verfassungswidrig. Der Bundestag hat 51
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sich auf Druck des Zentralrats der Juden zum Verfassungsbruch erpressen lassen« (Bosau 2013). Durch einen Vergleich mit den tatsächlichen Wortmeldungen des Zentralrats der Juden und verschiedener muslimischer Verbände wird deutlich, dass die Argumentationen zahlreicher BeschneidungsgegnerInnen verschwörungsideologisch sind. Denn die unterschiedlichen Akteure äußern sich nach dem Urteil des Kölner Landgerichts nahezu wortgleich. So bezeichnet der Zentralrat der Juden in Deutschland das Kölner Landgerichtsurteil als »beispiellosen und dramatischen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften« (Zentralrat der Juden in Deutschland 2012), der Koordinationsrat der Muslime als »massive[n] Eingriff in die Religionsfreiheit« (zit. n. Verband der Islamischen Kulturzentren 2012) und der Zentralrat der Muslime bewertete das Urteil fast wortgleich als »eklatanten und unzulässigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften und in das Elternrecht« (Zentralrat der Muslime in Deutschland 2012). Nicht nur der Zentralrat der Juden forderte in seiner Stellungnahme »den Deutschen Bundestag als Gesetzgeber auf, Rechtssicherheit zu schaffen und so die Religionsfreiheit vor Angriffen zu schützen« (Zentralrat der Juden in Deutschland 2012). Auch muslimische Zusammenschlüsse, wie der Koordinationsrat der Muslime in Deutschland und DİTİB forderten in Presseerklärungen den Gesetzgeber zum Handeln auf und begrüßten das angekündigte Gesetz zu Vorhautbeschneidungen (vgl. DİTİB 2012). Ferner leugnen viele BeschneidungsgegnerInnen, dass sich die Abgeordneten des Bundestages und die Bundesregierung aus unterschiedlichen Erwägungen heraus für die Straflosigkeit von Vorhautbeschneidungen einsetzen, etwa weil sie die Vorhautbeschneidung als Teil des Elternrechts oder der Religionsausübungsfreiheit ansehen. Hervorzuheben ist, dass die Grünen-Politikerin Renate Künast in ihrer Rede im Deutschen Bundestag sogar erklärt, ihre Entscheidung für das Beschneidungsgesetz (den § 1631d BGB) nicht vom Holocaust und der Historie »abhängig [zu] machen« (Künast im Deutschen Bundestag 2012c: 26080). Gemeinsam ist den Argumentationen vieler BeschneidungsgegnerInnen die Unterstellung, Juden hätten in einer unzulässigen und undemokratischen Art und Weise Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess, der zum Paragraf 1631d BGB führte, genommen. Dass alle formalen Ab-
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läufe während des Gesetzgebungsprozesses eingehalten wurden,7 einschließlich der drei Lesungen im Plenum des Deutschen Bundestages, klammern viele BeschneidungsgegnerInnen ebenso aus wie den Umstand, dass im Deutschen Bundestag sowie in der Öffentlichkeit ausgiebig über kulturell-religiöse Vorhautbeschneidungen gestritten wurde. Dies wundert nicht, zeigen doch mehrere repräsentative Meinungsumfragen, dass das Stereotyp der jüdischen Macht in der bundesrepublikanischen Bevölkerung weit verbreitet ist. So stimmten nicht nur 2018, sondern auch in den vergangenen Jahren grob betrachtet circa 10 Prozent der Bevölkerung der Aussage (voll und ganz und überwiegend) zu, »[a]uch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß« (Decker/Kiess/Schuler et al. 2018: 73, 78), wobei diese Zustimmungswerte im Vergleich zu denen der Jahre zwischen 2002 und 2011/2012 deutlich niedriger sind (vgl. Bergmann/Münch 2012: 328; Decker/Kiess/Brähler 2018: 193). Formulierungen dieser Art können als eine antisemitische »paranoide Konstruktion einer jüdischen Übermacht« (Stögner 2005: 49) und als antisemitische »Stereotyp[e] […] einer jüdischen Dominanz« (Salzborn 2014: 18) eingeordnet werden. In der Antisemitismusforschung sind antisemitische Verschwörungsfantasien beziehungsweise das antisemitische »Wahnbild einer allumfassenden Verschwörung« (Wyrwa 2010: 213) ausgiebig beforscht worden. Die Verschwörungsfantasien existieren seit der Vormoderne und dienen »der christlichen Welterklärung« (Piper 1995: 127; vgl. Heil 2006: 16ff., 205ff., 527ff.; Benz 2007: 9ff.; Poliakov 1988: 127ff.). Sie bieten eine einfache und monokausale Erklärung »für komplizierte Sachverhalte und Ereignisse«, wobei es sich »um imaginierte Modelle [handelt], die Zusammenhänge beschreiben, deren Wahrheitsgehalt gering bzw. gänzlich konstruiert ist« (Wetzel 2010: 334). Das »verschwörungstheoretische Konzept einer jüdischen Einflussnahme« wird besonders dann genutzt, wenn »Juden angeblich im deutschen Kommunikationsraum aufgrund ihres Sonderstatus« (Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 151) eine bestimmte Meinung oktroyieren oder bestimmte Entscheidungen vorgeben wollen (vgl. Salzborn 2010: 322). Es wird dann relevant, wenn sich AntisemitInnen vorstellen, »[u]nter dem Deckmantel der Religion, für die man Toleranz fordert, genießen die Juden zu Unrecht größere politische Privile7 Yvonne Christina Schmid zeigt in ihrer 2017 erschienenen Veröffentlichung Die elterliche Einwilligung in eine Zirkumzision – eine unzulässige Beschneidung kindlicher Rechte? Rechtliche Analyse des § 1631d BGB unter Bezugnahme des deutschen Verfassungsrechts und des internationalen Rechts, dass es keine formellen Fehler im Gesetzgebungsverfahren gab, weswegen der Paragraf 1631d BGB im Einklang mit dem Grundgesetz steht (vgl. Schmid 2017: 84).
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gien als jeder andere politische Verband« (Bein 1958: 348). Bei antisemitischen Verschwörungsfantasien wird das »behauptete jüdische Streben nach Dominanz über andere […] nicht als emotionale Unterstellung wahrgenommen, sondern als sich selbst beweisende Tatsache« (Benz 2007: 111) angesehen. Aus diesem Grund entziehen sich die verschwörungsideologischen Argumentationen auch der rationalen Ebene. Die VerbreiterInnen des verschwörungsideologischen Gedankengebäudes sind nicht an Glaubwürdigkeit, Plausibilität und dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit interessiert, da sie eine »Bereitschaft auf der Konsumentenseite« haben, an Verschwörungsideologien zu glauben (ebd.: 12). Verschwörungsideologien erfüllen das »Bedürfnis nach einer einfachen Welterklärung mit klaren Schuld- und Verantwortungszuschreibungen« (Scherr/Schäuble 2007: 15) und üben eine »spezifische Faszination« (ebd.: 54) aus. Fazit Nicht nur durch die beiden diskutierten Motive, sondern auch durch weitere lassen sich die antisemitischen Facetten in der Kontroverse um kulturell-religiöse Vorhautbeschneidungen in ihren Grundzügen fassen, beschreiben und historisch kontextualisieren (vgl. Ionescu 2018: 397).8 In der 2018 veröffentlichten Langzeitstudie Antisemitismus im www analysiert Schwarz-Friesel neben zahlreichen antisemitischen Kommentaren zu unterschiedlichen Anlässen auch 1.119 Online-Kommentare, die im Zuge der Beschneidungskontroverse gepostet wurden. Sie betont, die »Antisemitismen weisen eine exorbitante Dominanz klassischer Stereotype auf« (Schwarz-Friesel 2018: 20), die etwa darin bestehen, Juden Kindesmisshandlung, Rückständigkeit, Fremd- und Andersheit, Skrupellosigkeit und Holocaustausbeutung vorzuwerfen (vgl. ebd.: 21). In Zahlen bedeutet dies, dass 72,77% klassische Stereotype, 24,34% Post-Holocaust- und 2,89% israelbezogen antisemitische Stereotype in Online-Kommentaren der Kontroverse vorkommen. Insgesamt fielen 23,35% der untersuchten Kommentare aus der Beschneidungskontroverse, Schwarz-Friesel zufolge, antisemitisch aus (vgl. ebd.: 32). 8 In der Dissertation Judenbilder in der deutschen Beschneidungskontroverse geht es nicht nur um den Antisemitismus in der Kontroverse, sondern darum, auf welche Art und Weise die unterschiedlichen nicht-jüdischen AkteurInnen über Juden, das Judentum und das Jüdische sprechen. Gegenstand ist, welche Judenbilder in den Äußerungen zu kulturell-religiösen Vorhautbeschneidungen zum Ausdruck kommen und wie sich diese Bilder zu antisemitischen Ressentiments verhalten.
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Im 2017 veröffentlichten Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus kommt die »emotional stark aufgeladene Debatte um die Beschneidung jüdischer und muslimischer Jungen« ausdrücklich vor (Unabhängiger Expertenkreis 2017: 245). Neben der »Augstein-Debatte« und »Antisemitismus im Fußball« hat sie sogar ein eigenes Unterkapitel. Dort heißt es, anhand der Debatte zeige sich, »wie schnell antisemitische Stereotype und Vorurteilsstrukturen, je nach Tagesgeschehen, abrufbar bleiben und genutzt werden« (ebd.: 246) und dass »verschiedene Erscheinungsformen des Antisemitismus« vorkommen (ebd.: 245). In der Analyse unterscheidet der Expertenkreis grob zwischen den »meisten Artikel[n]« aus Tageszeitungen, die »vordergründig keine antisemitischen Konnotationen« enthalten (ebd.: 247) sowie den LeserInnen-Kommentaren in Online-Foren von Zeitungen, Facebook-Gruppen und E-Mails an jüdische Organisationen, die häufig antisemitisch und islamfeindlich sind (vgl. ebd.: 248). Diese grobe Vereinseitigung dahingehend, dass besonders die OnlineKommentare von BeschneidungsgegnerInnen ein Problem darstellen, greift jedoch zu kurz. Die Dynamik der Kontroverse bestand genau darin, dass auch Artikel und Gastkommentare namhafter WissenschaftlerInnen in überregionalen Tageszeitungen wie der FAZ und der taz antisemitische Stereotype befeuerten und teilweise sogar als antisemitisch gedeutet werden können. Eine wechselseitige Verstärkung antisemitischer Stereotype macht daher die Dynamik der Kontroverse aus. Wenngleich die Beschneidungskontroverse im Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus vorkommt, erfährt sie als solche in der deutschsprachigen Antisemitismusforschung bis heute wenig Aufmerksamkeit. Insofern ist auch der Kritik des Politikwissenschaftlers Matthias Küntzel (2015: Minute 37:12–38:18) zuzustimmen, der im Juli 2015 selbstkritisch und harsch konstatierte, dass die deutschsprachige Antisemitismusforschung während der Beschneidungskontroverse 2012 keine substanziellen Stellungnahmen und Expertisen formuliert und veröffentlicht habe. Sie habe es versäumt, so Küntzel weiter, Äußerungen gegen kulturell-religiöse Vorhautbeschneidungen in einen historischen Kontext zu setzen und auf Momente des traditionellen Antijudaismus beziehungsweise alte antisemitische Chiffren hinzuweisen (ebd.). Küntzel äußerte diese Kritik auf der Strategiekonferenz des Netzwerks zur Bekämpfung und Erforschung des Antisemitismus (NEBA) in Berlin. Seine Einschätzung ist leider bis in die Gegenwart insofern zutreffend, als dass die Debatte in wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu gegenwärtigem Antisemitismus oftmals eine Leerstelle darstellt. Nach wie vor sind nur wenige Analysen erschienen, die den Antisemitismus in der Kontroverse ins Zentrum rücken. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die antisemitischen Res55
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sentiments schwer zu erfassen sind, da sie sich mit (nicht antisemitischer) Kritik an kulturell-religiösen Vorhautbeschneidungen an Säuglingen und Jungen vermischen. Lediglich ein knappes Dutzend wissenschaftliche Aufsätze und Essays, die auch den Antisemitismus in dieser Debatte thematisieren, erschienen im Verlauf der letzten Jahre: So fokussieren Alfred Bodenheimer (2012) und Kerem Öktem (2013) beispielsweise auf die ausgrenzende und diskriminierende Wirkung des Beschneidungsdiskurses auf Jüdinnen und Juden,9 während Heiner Bielefeldt (2012) sich damit auseinandersetzt, wie ausgeprägt Religionskritik und populistische Religionsbeschimpfung in der Kontroverse waren. Vanessa Rau (2014) beleuchtet hingegen das Verhältnis von Säkularismus und Antisemitismus in den Äußerungen von BeschneidungsgegnerInnen. Gemeinsam ist den Veröffentlichungen, lediglich vereinzelte und ausgewählte Texte und Argumentationsweisen von BeschneidungsgegnerInnen zu analysieren und vorwiegend die erste Zeit nach dem Kölner Landgerichtsurteil darzustellen (vgl. Çetin/Voß/Wolter 2012; Heil/Kramer 2012; Küntzel 2012; Wetzel 2012; Blumenberg/Hegener 2013). Analysen der diversen Ausdrucksformen des Antisemitismus in der Beschneidungskontroverse sind notwendig, weil die Antisemitismusforschung auch Kontinuitäten und Veränderungen antisemitischer Ausdrucksformen analysieren sollte. Dies ist am Beispiel der Beschneidungskontroverse besonders gut möglich, da es sich um einen neuen Anlass handelt. Die Kontroverse zeigt, dass sich mit der kulturell-religiösen Praktik der Vorhautbeschneidung gewissermaßen ein neuer Anlass für »antisemitische Fragmente« (Scherr/Schäuble 2007: 13) und für antisemitisches Denken und Fühlen etablieren konnte. Damit rückt die jüdische Kultur und Religion wieder in den Fokus von antisemitischem Denken. Die mediale Berichterstattung über das Urteil des Kölner Landgerichts und über die Vorhautbeschneidung war ein Auslöser für diese Kommunikation und eine diskursive Gelegenheit zugleich. Zwar werden antisemitische Äußerungen auch ohne konkrete Gelegenheiten geäußert, oftmals kristallisieren sie sich jedoch um die mediale Berichterstattung über den Nahost-Konflikt und seine kriegerischen Auseinandersetzungen oder Reden von in der Öffentlichkeit stehenden Personen wie beispielsweise PolitikerInnen (vgl. Rensmann 2005: 21; Salzborn 2010: 221; Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 14ff.). Zu betonen ist, dass die empirische Wirklichkeit (im konkreten Fall,
9 Öktem (2013: 19ff.) analysiert auch die diskriminierende Wirkung auf Muslimas und Muslime.
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dass Jüdinnen und Juden ihre Söhne beschneiden lassen) nur »das auslösende Moment« (Salzborn 2010: 320, Herv. i. Orig.) und nicht die Ursache für den Antisemitismus ist. Obwohl die deutsche Beschneidungskontroverse antisemitische Facetten hat, leugnen zahlreiche BeschneidungsgegnerInnen dieses Problem und weisen es weit von sich. Die Forderung nach einem Beschneidungsverbot habe, so behaupten sie ohne jegliche Einschränkung, »ganz klipp und klar […] überhaupt nichts mit Antisemitismus zu tun« (V. A. zit. n. Ionescu 2018: 259).10 Eine zweite Version dieser Argumentation lautet – wie anhand eines Online-Kommentars sichtbar wird –, »die bekannten Hetzer« würden zu Unrecht »wieder einmal versuchen Kritiker an der Beschneidung in eine antisemitische Ecke zu drängen«, obwohl viele Äußerungen »überwiegend sachlich« seien (hgeiss 2017). Diese Sichtweise verharmlost Antisemitismus und dessen reale Konsequenzen für deutsche Jüdinnen und Juden. Doch so falsch es ist zu behaupten, die Ablehnung der kulturell-religiösen Vorhautbeschneidung habe »nichts mit Antisemitismus zu tun«, so unzureichend ist es auch, die Kontroverse als Ganzes vereinseitigend und vereindeutigend als »antisemitische und rassistische Beschneidungsdebatte« zu bewerten (Voß 2017: 1f.). Solche pauschalen Bewertungen sind meines Erachtens Ausdruck einer fehlenden detailgetreuen und differenzierten Analyse und Kontextualisierung der Äußerungen von BeschneidungsgegnerInnen. Beide Perspektiven sind verkürzt und eine kritikwürdige Polarisierung. Weder hat die Kontroverse nichts mit Antisemitismus zu tun, noch ist sie in Gänze antisemitisch, sondern in zahlreichen Facetten. Gerade weil die vielen antisemitischen Ausformulierungen der Ablehnung von Vorhautbeschneidungen mit sachlicher Kritik an kulturell-religiösen Vorhautbeschneidungen vermischt sind, ist die Beschneidungskontroverse eine analytische Herausforderung. Es ist also notwendig, dass die BeobachterInnen der Kontroverse, die antisemitischen Ressentiments kritisieren, genauer explizieren und kontextualisieren, worin diese bestehen. Hier gibt es weiteren Erklärungs- und Kontextualisierungsbedarf, um die Komplexität der Kontroverse ausreichend zu erfassen.
10 Das narrative themenzentrierte Interview mit dem Urologen und Beschneidungsgegner V. A. führte ich am 28.05.2014 (vgl. Ionescu 2018: 476, 47ff.).
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Was gesagt werden muss: Günter Grass und der inszenierte Tabubruch Carla Dondera
»Grass ist der Prototyp des gebildeten Antisemiten, der es mit den Juden gut meint.« (Henryk M. Broder über Günter Grass, 2012) »Keine Kritik an Israel ist das Schlimmste, was man Israel antun kann.« (Günter Grass, 2012) Tabu erscheint in zeitgenössischen Debatten über den Antisemitismus als ebenso virulenter wie ambivalenter Begriff. Zum einen wird sowohl im wissenschaftlichen als auch im öffentlichen Diskurs von einem Antisemitismustabu zur Bezeichnung der offiziellen Ächtung des nazistischen Antisemitismus nach 1945 gesprochen. Dem entgegengesetzt, aber im identischen Wortsinn, beklagen Wissenschaftler_innen seit nunmehr zwei Jahrzehnten eine zunehmende Enttabuisierung judenfeindlicher Aversion, wo es um die Erosion der Kommunikationslatenz antisemitischer Ressentiments geht (vgl. Bergmann/Heitmeyer 2005). Eine weitere Verwendung des Begriffs Tabu ist mit dieser Problematik eng verknüpft, denn als agitatorische Instrumentalisierung des Wortes hat sie die Enttabuisierung gerade zum Ziel. Dafür wendet sie das Tabu zunächst als Vorwurf, um es im selben Atemzug publikumswirksam »brechen« zu können. Einen Prototyp dieses inszenierten Tabubruchs lieferte Günter Grass im Jahr 2012 mit seinem Gedicht »Was gesagt werden muss«, das im vorliegenden Beitrag diskutiert werden soll. Antisemitismus als Tabu? Versuch einer Begriffsbestimmung Zunächst jedoch bedarf es der begrifflichen Klärung des Wortes Tabu, scheint es doch als »Chiffre« (Rensmann 2015: 93ff.) aktueller Judenfeindschaft einen zentralen Stellenwert einzunehmen. Dafür lohnt, wie so oft, ein Blick auf die psychoanalytischen Erkenntnisse Sigmund Freuds. »Tabuverbote entbehren jeder Begründung; sie sind unbekannter Herkunft; für 65
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uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft leben« (Freud 1948: 26), heißt es in Freuds grundlegender Schrift Totem und Tabu (1912/1913), auf die die spätere wissenschaftliche Rezeption und Verbreitung des Tabu-Begriffs maßgeblich zurückgeht. Als Kulturprinzip »primitiver Völker« bezeichne Tabu ursprünglich eine Reihe kultischer Einschränkungen, deren Wirkmächtigkeit aus einer eigentümliche Zauberkraft (»Mana«) rühre (Freud 1948: 27). Letztere, so Freuds Deutung, entspringe der tabueigenen Fähigkeit, »den Menschen an seine verbotenen Wünsche zu erinnern, und die scheinbar bedeutsamere, ihn zur Übertretung des Verbotes um Dienste dieser Wünsche zu verleiten.« (Freud 1948: 45) Freuds psychoanalytische Konzeption des Tabus ist die einer unaufgelösten Ambivalenz zwischen Verbot und Trieblust. Zwar unterliege das Lustprinzip den äußeren Verboten, doch bestünden die verpönten Regungen im Unbewussten fort und drängten danach, befriedigt zu werden: »Die Trieblust verschiebt sich beständig, um der Absperrung, in der sie sich befindet, zu entgehen, und sucht Surrogate – Ersatzobjekte und Ersatzhandlungen – zu gewinnen. Darum wandert auch das Verbot und dehnt sich auf die neuen Ziele der verpönten Regung aus.« (Freud 1948: 40) Freud zeigt, dass die Tabuverbote, die als universell, nicht aber rational rechtfertigbar gelten, auf unterdrückte und verschobene Libido verweisen (Kimmich 2017: 116). In dieser Verdrängung der Lust, so seine Vermutung, liege schließlich auch der psychologische Ursprung heute geltender Sitten- und Moralverbote, insofern sie als Zwang, nicht aber durch bewusste Motivierung wirken wollten (Freud 1948: 4, 32).1 Jürgen Habermas erinnerte im Zuge der Möllemann-Debatte an diesen ursprünglichen Wortsinn und folgerte daraus, dass die Anwendung des Tabu-Begriffs auf den Antisemitismus irreführend sei. Die Diskreditierung des Antisemitismus sei ein mühsam durchgesetzter Standard gewesen und habe nichts mit Verdrängung, Ausklammerung oder Verschleierung zu tun (Mildenberger/Schröder 2012: 47). Die heute verbreitete Verurteilung des Antisemitismus sei deshalb »kein Ausdruck einer blinden, affektstabilisierten Abwehrhaltung, sondern das Ergebnis von kollektiven Lernprozessen« (Habermas 2002, zit. n. Mildenberger/Schröder 2012: 47). Zwar lässt Habermas außer Acht, dass es in der Nachkriegszeit in der Tat viel Verdrängung und affektstabilisierende Abwehrhaltungen gab, die oberflächlich zur Verbannung des nazistischen Antisemitismus beitrugen,
1 Als Beispiel für ein solches »zwanghaftes« Moralverbot nennt Freud den kategorischen Imperativ Immanuel Kants (Freud 1948: 4).
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nicht aber zur emphatischen Auseinandersetzung mit dem einstweilig latenten Judenhass. Das ändert jedoch nichts an der prinzipiellen Wahrheit, dass die Bekämpfung des Antisemitismus eine Sache des »hellen Bewusstseins« (Adorno 2015: 10) ist und als solche überhaupt nur aus aufgeklärter Mündigkeit und demokratischer Überzeugung erwachsen kann (vgl. Salzborn 2018: 21). Dass der Ausdruck Antisemitismustabu dennoch auch in der Antisemitismusforschung weit verbreitet ist, ist womöglich der Tatsache geschuldet, dass bei der Verwendung des Tabubegriffs heutzutage weniger auf die Freud’sche Bestimmung rekurriert wird als auf ein alltagssprachliches Verständnis. Dieses bestimmt Tabu sehr allgemein als »ungeschriebenes Gesetz, das aufgrund bestimmter Anschauungen innerhalb einer Gesellschaft verbietet, bestimmte Dinge zu tun« (Duden o.J.b). Tabus bezeichnen dann vor allem Normen und Kommunikationsregeln, deren Verletzung gesellschaftlich sanktioniert werden kann (vgl. Kraft 2015: 11ff.). Die Freud’sche Semantik schwingt allerdings dort mit, wo Tabu als Mittel der Anklage fungiert und so den Zweck des Tabubruchs heiligt. Diese zweite Verwendungsart ist mindestens seit Heinrich von Treitschke ein zentraler Topos antisemitischer Argumentation (Bergmann/Heitmeyer 2005: 230) und als solcher bereits in der frühen Antisemitismusforschung der Kritischen Theorie ausgewiesen (vgl. Adorno 1971; Löwenthal 2017). Wenngleich die Kombination aus Tabuvorwurf und Tabubruch prinzipiell für verschiedenste Kommunikationsebenen tauglich scheint, hat sie sich in den letzten zwei Jahrzehnten auf der Ebene öffentlich-intellektueller Debatten als besonders wirkmächtig erwiesen. So waren es seit Ende der 1990er Jahre häufig prominente Persönlichkeiten des intellektuellen Spektrums, die das Imago eines »Kritiktabus« aufgriffen, um es im nächsten Moment publikumswirksam zu »brechen«. Was sie dann letztlich doch aussprachen, wollten sie allerdings partout nicht als antisemitisch verstanden wissen. Stattdessen inszenierten sie den Tabubruch stets im Namen der Meinungsfreiheit, des Friedens und nicht zuletzt der Juden, mit denen es die Tabubrecher seit 1945 stets nur gut meinten. Analog zu den mannigfaltigen »Codes« antisemitischer Umwegkommunikation wandeln sich auch die Gegenstände des Tabuvorwurfs abhängig von gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen und thematischen Konjunkturen (vgl. Rensmann 2015). So bezogen sich vermeintliche Tabubrüche etwa bis zur Jahrtausendwende vorwiegend auf das Verhältnis der Deutschen zum Nationalsozialismus sowie die Frage, wie und woran
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(nicht) erinnert werden soll2 (Grimm/Kahmann 2018b: 5f.). Mit der zunehmenden Durchsetzung der deutschen Selbstwahrnehmung, der Vergangenheit durch erinnerungskulturelle Leistungen entwachsen zu sein (Schwarz-Friesel 2015b: 13), veränderte sich auch das Sujet der Tabubehauptung: Seit einigen Jahren scheint es opportuner, die Tabuisierung vermeintlicher »Israelkritik« zu beklagen3. Nun waren weder die Schlussstrich-Forderung noch die Kritik an Israel jemals – im Freud’schen oder alltagssprachlichen Sinne – tabuisiert (vgl. Salzborn 2018: 184). Dass dies dennoch behauptet und zur Legitimation antisemitischer Aussagen genutzt wird, legt die Vermutung nahe, dass der agitatorisch genutzte Tabubegriff auf etwas verweisen soll, was der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs innewohnt. Das ist zum einen die Suggestion, die vermeintliche Tabuisierung sei nicht bewusst motiviert und wirke zwangsartig. Zum anderen erscheint das behauptete Tabu innerhalb der Inszenierung als Hemmung, während der erstrebte Tabubruch erlaubt, affektgeladenen Regungen und Meinungen Ausdruck zu verleihen. So schwingt in der Suggestion des Tabubruchs von vornherein das Versprechen vom Lustgewinn mit, welches freilich auch die antisemitische Enthemmung zu geben vermag. »Was gesagt werden muss« Vor dem Hintergrund dieser Vermutung soll im Folgenden der Zusammenhang zwischen dem Topos des inszenierten Tabubruchs sowie zeitgenössischem Verbal-Antisemitismus geworfen werden, wie er sich eindrücklich in Günter Grass’ Prosagedicht »Was gesagt werden muss« zeigt. Dieses wurde auf Zusendung Grass’ am 4. April 2012 zeitgleich in der Süddeutschen Zeitung, La Repubblica und El País veröffentlicht und unterstellt Israel die Planung eines atomaren Vernichtungskriegs gegen den Iran sowie, damit einhergehend, die Bedrohung des Weltfriedens. Das tatsächliche Leitmotiv des Gedichts ist allerdings das Schweigen, welches Grass als poetischen Platzhalter für das Wort Tabu einsetzt. So fragt Grass in sein 9-strophiges Gedicht einleitend: »Warum schweige ich, verschweige zu lange, /
2 So etwa Martin Walsers Paulskirchenrede (1998) oder Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang (2002). 3 Vertreter des antizionistischen Tabubruchs waren in der jüngeren Vergangenheit u.a. Jürgen Möllemann, Günter Grass und Jakob Augstein.
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was offensichtlich ist« (Grass 2013a: 12)4, und kündigt damit dreierlei an. Erstens: Es gibt etwas, was »gesagt werden muss«. Zweitens: Obwohl es offensichtlich ist, wird das, »was gesagt werden muss«, verschwiegen. Drittens: Grass wird dieses Schweigen brechen und damit das, »was gesagt werden muss«, schließlich auch sagen. Es zeichnen sich hier bereits drei für den inszenierten Tabubruch konstitutive Elemente ab. Während erstens den Inhalt des Tabus antizipiert – etwas, dessen Benennung normativ geboten ist – bezieht sich zweitens auf die Tabuisierung – das Schweigen unterliegt offenbar Gründen, die nicht nur trivialer Natur sind, sondern erforderlich machen, sie in Gedichtform an die Öffentlichkeit zu bringen. Zusammen bilden erstens und zweitens die Behauptung des Tabus, welche schließlich in drittens, dem Tabubruch mündet. Im Folgenden soll dieser Struktur nachgegangen werden. Erstens: Das Tabu Zur Ergründung des inszenierten Tabubruchs gilt es zunächst festzustellen, was der Gegenstand der Grass’schen Tabubehauptung ist. Zentral ist hier zweifelsohne jene Melange aus friedensbewegter Moral und antizionistischem Verschwörungsglauben, die sich in der Phrase »Die Atommacht Israel gefährdet / den ohnehin brüchigen Weltfrieden« (Grass 2013a: 13) verdichtet. Sie ist dabei ebenso ideologisch wie unoriginell – war schon in der antisemitischen Fälschung der Protokolle der Weisen von Zion von »Bändigung des Widerstandes der Nichtjuden durch Kriege und den allgemeinen Weltkrieg« (Sammons 1998: 53) die Rede. Dass sich hinter der Phrase freilich mehr verbirgt als eine schlichte Übertreibung mit Hang zu judenfeindlicher Stereotypie – nämlich die Klimax einer wohlüberlegten Inszenierung – offenbart sich vor allem in dem, was ihr vorausgeht. So folgt auf das einleitende »Warum schweige ich, verschweige zu lange, was offensichtlich ist« einige Verse später: »und in Planspielen geübt wurde, an deren Ende als Überlebende wir allenfalls Fußnoten sind« (Grass 2013a: 12). Wie Frank Schirrmacher in der FAZ bemerkte, spielt Grass hier fast wörtlich auf eine Rede Charlotte Knoblochs an, die 2008 als Vorsitzende des Zentralrats der Juden bei einer Gedenkveranstaltung zur
4 Günter Grass’ Gedicht Was gesagt werden muss und die darauffolgenden Reaktionen sind in dem 2013 von Heinrich Detering und Per Øhrgaard herausgegebenen Band Was gesagt wurde. Eine Dokumentation über Günter Grass’ »Was gesagt werden muss« und die deutsche Debatte abgedruckt.
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Reichspogromnacht davor warnte, dass die Opfer des Holocaust zu »Fußnoten der Geschichte« werden könnten (Schirrmacher 2013: 51). So offenbart sich die Grass’ Tabubehauptung gleich zu Anfang als revisionistischer Rollentausch mit eindeutiger Implikation: Israel wolle mit Deutschen das machen, was Deutsche einst mit Juden taten – und das mit »allesvernichtende[n] Sprengköpfe[n]« (Grass 2013a: 13), deren Einsatz durch die deutsche U-Bootlieferung erst ermöglich werde. Die Täter-Opfer-Umkehr setzt sich in Strophe zwei fort, diesmal in Bezug auf den Iran: »Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, / der das von einem Maulhelden unterjochte / und zum organisierten Jubel gelenkte / iranische Volk auslöschen könnte, / weil in dessen Machtbereich der Bau/ einer Atombombe vermutet wird.« (Grass 2013a: 12) Grass unterstellt Israel die Planung eines Vernichtungskriegs am iranischen Volk (vgl. Schirrmacher 2013) und präsentiert diese ideologische Verkehrung als tabuisierte, wohl aber offenkundige Tatsache. Diese Grundlage wird es ihm später ermöglichen, für die Notwendigkeit einer Intervention zu argumentieren. Dass die Faktenlage umgekehrt ist, da nicht Israel, sondern der Iran seit der Islamischen Revolution 1979 Israel mit der Vernichtung droht, verschweigt Grass. Als der Journalist Tom Buhrow ihm dies im Interview für die ARD-Tagesthemen vorhält, rekurriert Grass auf die Tabubehauptung und wendet sie zum Vorwurf: »Der Blödsinn, und die Lügen, die der Chef dort im Iran von sich gibt – deswegen nenne ich ihn einen Maulhelden – von der Leugnung des Holocaust bis zu der Drohung des Auslöschens von Israel, ist bekannt. Ich rede über Dinge, über die nicht gesprochen oder zu wenig gesprochen wird.« (Grass 2013a: 99) Grass ist sich seiner Ignoranz also bewusst und begründet sie mit dem vermeintlichen Tabu, welches in seinen Augen lediglich die Kritik am Staat Israel betreffe. Die sich hier niederschlagende relativistische Haltung geht mit der Bagatellisierung der realen Bedrohung Israels Hand in Hand – eine Verquickung, die bei Grass Kontinuität hat. So hatte der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk Grass schon Anfang der 1990er Jahre eine »selektive Moral« (Kaniuk 2012) attestiert, als es in einer gemeinsamen Debatte um die existentielle Bedrohung Israels im Irak-Krieg ging. Kaniuk hatte damals seinen deutschen Kollegen gefragt, »warum er und andere Linke nicht vor den Toren der deutschen Firmen demonstrierten, mit deren Hilfe der Irak damals Gaswaffen produzierte« (Kaniuk 2013: 231). Grass, so Kaniuk im Interview, »wurde damals sehr ausfallend und gab irgendeine Antwort mit ‚kein Blut für Öl’. Die Gaswaffen hielt er für eine Erfindung, dabei gab es 70
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doch schon Jahre zuvor die Angriffe Saddam Husseins auf die Kurden« (ebd.). Zwei Jahrzehnte später manifestiert sich in Grass‘ Aussagen nicht nur die gleiche selektive Moral, die den Jüdinnen und Juden angesichts konkreter Bedrohung Empathie und Mitgefühl verwehrt, sondern auch die Tendenz zur Leugnung empirischer Fakten. Schon Freud lehrte entsprechend, dass der pathologische Realitätsverlust des Ichs auf dem »selbstherrlichen Weg durch Schöpfung einer neuen Realität« (Freud 2011: 164) repariert werden müsse. Es wundert daher nicht, dass der Viktimisierung Irans in folgendem Zitat die unvermittelte Dämonisierung Israels folgt: »Um das zu tun [den Weltfrieden zu bedrohen, Anm. C.D] hat der Iran nicht die Macht. Es ist ein regelrechtes Maulheldentum. Wie im Übrigen auch bei anderen arabischen Potentaten, die sind immer sehr stark in einer gewissen demagogischen Rhetorik. (…) Israel hingegen, als Atommacht, hat dieses Potential. Und es kommt noch eins hinzu, was ich in dem Gedicht völlig ausgelassen habe: Die illegale und UNO-Resolutionen missachtende Siedlungspolitik im Westjordanland. Israel ist nicht nur eine Atommacht, sondern hat sich auch zu einer Besatzungsmacht entwickelt. (...) Mehr und mehr tritt dieser Machtcharakter, auch das Handeln einer Besatzungsmacht, in den Vordergrund.« (Grass 2013b: 102) Ebenso zwanghaft wie der Sprung zum Thema »Siedlungspolitik«5 wirkt an dieser Stelle die wiederholte Verwendung des Wortes »Macht« (»Atommacht«, »Besatzungsmacht«, »Machtcharakter«) zur Wesensbestimmung Israels. Hier scheint das alte Klischee des kriegslüsternen, machtgierigen Juden auf, der sich über geltendes Recht hinwegsetzt sowie Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen gegenüber resistent zeigt. Schon Leo Löwenthal beschrieb dieses Narrativ in seiner Analyse faschistischer Agitation als »Licht der Gesetzlosigkeit und Straflosigkeit«, welches dem Publikum suggeriere »daß weder Gesetze noch Institutionen mit ihnen [den Juden, Anm. C.D.] fertig werden können und außergewöhnliche Maßnahmen erforderlich sind« (Löwenthal 2017: 41). Grass erzielt eine ähnliche Wirkung dort, wo seine Wutrede in der Behauptung mündet, Israel strebe durch den Bau jüdischer Siedlungen ein ethnisch-homogenes »Erez Israel« an: »Was noch hinzukommt, ist dass der Staat Israel von der Verfassung her kein rein jüdischer Staat ist. Es gibt die starke arabische Minder5 Das Thema Siedlungspolitik ist in allen mit Grass geführten Interviews über »Was gesagt werden muss« nicht nur sehr präsent, sondern wird von Grass vor allem auch stets unaufgefordert eingebracht.
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heit, und es gibt die kleine Minderheit der Drusen. Das wird mehr und mehr missachtet. Es wird von einem Erez Israel, einem Groß-Israel geträumt, und aus diesem Erez Israel bezieht man das Recht, dort Siedlungen in immer größeren Ausmaßen anzulegen. Das ist schrecklich und illegal und darf nicht nur kritisiert werden, es muss kritisiert werden, wenn man es gut meint mit Israel. Und das tue ich.« (Grass 2013b: 102f.)6 Dass die Schaffung eines Großisraels über das Gebiet zwischen Euphrat und Nil Ziel des Zionismus und israelische Staatsdoktrin sei, ist insbesondere in arabischen Ländern eine weit verbreitete Verschwörungsideologie. Grass übernimmt sie affirmativ und inszeniert moralische Betroffenheit. Es bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Textexegese um zu erkennen, dass das Sujet des von Grass proklamierten Tabus kein empirischer Sachverhalt ist, der vernünftige Kritik rechtfertigen könnte, sondern sich aus Irrationalität und Empathielosigkeit speisendes antisemitisches Ressentiment. Dieses manifestiert sich in einer breiten Palette antisemitischer Motive und judenfeindlicher Rationalisierungen, von denen die Täter-OpferUmkehr zweifelsohne die dominanteste ist7. Enttabuisiert werden soll letztlich also, wie sich in drittens noch deutlicher zeigen wird, das antisemitische Gerücht, welches unter der Oberfläche gesellschaftlich anerkannter Diskurse brodelt. Wäre dies nicht der Fall, sprich: würde der Dichter den judenfeindlichen Charakter seiner Verse nicht zumindest unbewusst erahnen, dann bräuchte es kein Gedicht, dessen zentrales Motiv des Dichters quälendes Schweigen ist (vgl. Ranc 2016: 13; Salzborn 2018: 144).8
6 In der von Detering und Øhrgaard dokumentierten Transkription des Interviews (Grass 2013b) kommt der Begriff »Erez Israel« nicht vor, obwohl Grass ihn zweifach nennt. Er wurde daher der Vollständigkeit halber von mir ergänzt. 7 Eine sozialpsychologische Deutung unter dem Gesichtspunkt der Schuldabwehr liegt nicht zuletzt aufgrund Grass eigener Vergangenheit nahe und wird vor allem unter drittens vorgenommen. 8 Juiljana Ranc weist in einer aktuellen Studie zur Kommunikation antijüdischer Ressentiments unter deutschen Durchschnittsbürgern (2016) darauf hin, dass die Produzent_innen antisemitischer Äußerungen »wohl wissen oder zumindest sehr wohl ahnen, was sie tun, und keineswegs ahnungslos an einem Tabu, dem Antisemitismus-Tabu, in der Tat rühren. Wüssten oder ahnten sie es nicht, würden sie sich kaum all der Camouflage und Mimikry, all der rhetorischen und strategischen Maskeraden, Manöver und Rechtfertigungen befleißigen, um es zu unterlaufen« (Ranc 2016: 13).
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Zweitens: Die Tabuisierung Der Vorwurf der Tabuisierung verhält sich zum antisemitischen Inhalt der Tabubehauptung komplementär. Während erstens das Tabu als solches beschreibt, verweist zweitens auf den Akt der Tabuisierung als vermeintlich unrechtmäßigen Sachverhalt. Die Legitimität des Tabubruchs leitet sich maßgeblich aus dieser Illegitimität her. Grass widmet dem Tabuisierungsnarrativ daher eine ganze Strophe: »Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes, / dem sich mein Schweigen untergeordnet hat, / empfinde ich als belastende Lüge / und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt, / sobald er mißachtet wird; / das Verdikt ‚Antisemitismus’ ist geläufig.« (Grass 2013a: 12) Tabus können in einer Gesellschaft wichtige Funktionen erfüllen – so garantieren etwa universelle Moralverbote weite Teile des sozialen Zusammenlebens. Grass’ Wortwahl schließt eine solche positive Funktion unmissverständlich aus: Die Tabuisierung des »Tatbestandes« dient der »Lüge«, das heißt der ganz bewussten – und daher moralisch verwerflichen – Verbreitung von Unwahrheit. Letztere umfasse auch das »Verdikt ‚Antisemitismus’«, das als Verdammungsurteil denjenigen drohe, die sich dem auferlegten »Zwang« widersetzten. Was Grass hier zu skandalisieren bezweckt, ist eine vermeintliche Beschneidung des Rechts auf freie Meinungsäußerung: Erstens durch Manipulation (»Lüge«), zweitens durch Stigmatisierung und Sanktion (»Zwang, der Strafe in Aussicht stellt«). Die Tabuisierung stellt als solche dann nicht nur eine Einschränkung der Grundrechte dar, sondern hat auch die Verfolgung der »mutigen Kritiker« des Rechtsbruchs zur Folge. Im Manöver der Selbstviktimisierung identifizierte Adorno schon in den 1960er Jahren einen der »wesentlichen Tricks der Antisemiten heute: sich als Verfolgte darzustellen; sich zu gebärden, als wäre durch die öffentliche Meinung, die Äußerungen des Antisemitismus heute unmöglich macht, der Antisemit eigentlich der, gegen den der Stachel der Gesellschaft sich richtet, während im Allgemeinen die Antisemiten doch die sind, die den Stachel der Gesellschaft am grausamsten und am erfolgreichsten handhaben.« (Adorno 1971: 109) Der Gestus der verfolgten Unschuld, der den eigenen Wunsch andere auszugrenzen auf die imaginierte Gegnerschaft projiziert, ist demnach ein weiterer Schachzug antisemitischer Täter-Opfer-Umkehr (vgl. Rensmann 2015: 101f.). Während Grass in höchster moralischer Besorgnis vor dem 73
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Niedergang der Demokratie warnt, wohnt seiner populistischen Argumentation selbst ein zutiefst antidemokratisches Moment inne: Dem des Gegensatzes zwischen einem vermeintlichen Volkswillen und dem imaginierten Feindbild. Dieser scheint im Besonderen dort auf, wo Grass vorgibt, im Kampf gegen das aufoktroyierte Tabu die Interessen einer größeren Gruppe zu vertreten. So zum Beispiel in der bereits zitierten ersten Strophe des Gedichts, in der Grass sich selbst und sein Publikum zu potentiell »Überlebende[n]« (Grass 2013a: 12) im Angesicht israelischer Aggression stilisiert. Eine ähnliche Kontrastierung mit allerdings weniger eindeutigem Feindbild findet sich in folgender Aussage nach Veröffentlichung des Gedichts: »Na, es war schon damit zu rechnen, dass es zu einer Debatte kommt. Das hatte ich sogar gehofft, denn es muss endlich mal zur Sprache kommen. Aber was ich dann erlebe, ist eine fast wie gleichgeschaltete Presse, es kommen keine Gegenstimmen vor. Ich bekomme haufenweise E-Mails von Menschen, die mir zustimmen. Das dringt aber nicht an die Öffentlichkeit.« (Grass 2013b: 95f.) Wer oder was hierfür Verantwortung tragen soll, verbleibt als vage Andeutung. Das wiederum ist kein Zufall – sondern, wie Adorno ausführt, als Merkmal antisemitischer Kommunikation zweifach begründet. Zum einen fungiere die Andeutung als »indirekte Methode« zur Kommunikation ansonsten tabuisierter und rechtlich verbotener Ansichten (Adorno 1993: 158f.). Zum anderen, und das scheint hier entscheidend, werde sie »als eine Befriedigung per se eingesetzt und genossen« (ebd.). Während Adorno diese Art des Lustgewinns vor allem aus der integrierenden Wirkung des geteilten Wissens über das Angedeutete ableitet, sieht Julijana Ranc eine starke Analogie zu dem, was bei Freud »Witz mit feindseliger Tendenz« heißt (Ranc 2016: 200). Sowohl die Andeutung des Ressentiments als auch der Witz laufen Ranc zufolge auf eine »anstößige ‚Pointe’« (ebd.: 201) hinaus, die ein spezifisches Vorwissen der Adressat_innen voraussetzt. Im Falle des antisemitischen Ressentiments besteht dieses Wissen in kulturell tradierten Topoi und Stereotypen, die in ihrer historischen Überlieferung stets mit dem Judentum assoziiert wurden. Eines dieser Stereotype ist die Vorstellung des jüdischen Strippenziehers, dessen unsichtbare Fäden nicht nur die Politik lenken, sondern auch durch Manipulation der Medien die öffentliche Meinung beeinflussen. All dies schwingt mit, wenn Grass im Nachgang zum Gedicht in Naziterminologie von der
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»fast wie gleichgeschalteten Presse« (Grass 2013b: 96) oder einem »Hordenjournalismus« (Grass 2013c: 188) spricht.9 Anhand der Witz-Analogie lassen sich hier zudem Aussagen zur triebökonomischen Funktion des Tabuisierungs-Topos treffen. Denn Rancs Freud-Interpretation zufolge bereite das Verstehen der Pointe, d.h. die Decodierung der judenfeindlichen Stereotypie, »Lust am Wiederfinden des Bekannten« (Freud 2008: 137, zit. nach Ranc 2016: 202). Gleichsam erscheint die antisemitische Chiffre als Spielart der Ressentiment-Kommunikation wie ein Ersatzobjekt für die vom Tabuverbot unterdrückte Libido (vgl. Freud 1948: 40).10 Die im Tabuisierungsnarrativ enthaltende versteckte Andeutung dient dem Lustgewinn demnach in doppelter Hinsicht: Sie verleiht einerseits dem Ressentiment und somit der antisemitischen Aggression des Agitators Ausdruck; andererseits beschert sie seinem Publikum im Moment des Erkennens ein Gefühl von Mitwisserschaft und libidinöser Befriedigung. Ähnlich verhält es sich mit dem Konzept »Verdikt ‚Antisemitismus’« (Grass 2013a: 12), welches Grass an dieser Stelle seinem langjährigen Freund und Schriftstellerkollegen Martin Walser entleiht. Dieser hatte 1998 in seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche von einer »Moralkeule« Auschwitz gesprochen sowie die »Instrumentalisierung« und »Dauerpräsentation unserer Schande« beklagt (vgl. Rensmann 2004). Walser erschuf damit einen Prototyp des Tabuisierungsvorwurfs, der als »Auschwitzkeule« bis heute erschreckend virulent ist. Ob Keule oder Verdikt – in beiden Fällen wird der Antisemitismusvorwurf als Sanktionsinstrument der Verschworenen ausgemalt. Meist gut begründete Verweise auf den antisemitischen Gehalt »israelkritischer« Äußerungen werden so von vornherein bagatellisiert, Kritik am Antisemitismus im Modus des Antisemitismus abgewehrt: »Ein besonders hintersinniges Argument ist: ‚Man darf ja gegen Juden heute nichts sagen.‘ Es wird sozusagen gerade aus dem öffentlichen Tabu über dem Antisemitismus ein Argument für den Antisemitismus gemacht: wenn man nichts gegen die Juden sagen darf, dann – so die assoziative Logik weiter – sei an dem, was man gegen sie sagen könnte, auch schon etwas daran. Wirksam ist hier ein Projektionsmechanis-
9 Grass’ Aversion gegen die Presse zeigte sich schon in früheren Debatten. So sprach Grass auf der Leipziger Buchmesse 2007 von einer »Entartung des deutschen Journalismus« (https://www.faz.net/-gr0-u6od, Abrufdatum 20.01.2019). 10 Dies trifft selbstverständlich nicht nur auf die auf die Chiffre »jüdische Medienmacht« zu, sondern ebenso auf die in erstens identifizierten Stereotype.
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mus: dass die, welche die Verfolger waren und es potentiell auch heute noch sind, sich aufspielen, als wären sie die Verfolgten.« (Adorno 1971: 115f.) Zur Projektionsleistung gehört gleichwohl auch, dass das sich als verfolgt wähnende Individuum seine antisemitischen Einstellungen vor anderen, aber auch vor sich selbst, leugnen muss. Bereitschaft und Fähigkeit zur (Selbst)reflexion antisemitischer Motive sind dabei umso geringer, je mehr sich das Individuum selbst in der Opferrolle wähnt (Rensmann 2015: 101).11 Auch hierin mag ein Grund für die frappierende Faktenresistenz des Dichters hinsichtlich der realen Bedrohungslage Israels im Nahen Osten liegen, denn »wenn Juden die mächtigen, verschworenen Verfolger sein sollen, müssen deren gesellschaftlich immer noch prekäre Situation und die Diskriminierungspraxis gegen Juden unreflektiert bleiben, abgespalten oder selbst rationalisiert werden« (ebd.). Eine häufige Form der Rationalisierung, die mit der Antisemitismusleugnung Hand in Hand geht, ist auch die konzeptuelle Umdeutung des Phänomens Antisemitismus (vgl. Schwarz-Friesel 2015c). Ein reichlich absurdes Exempel für eine solche liefert wiederum Grass: Nicht sein Gedicht, sondern »[d]ie verweigerte Kritik, so eine kritiklose, quasi philosemitische Haltung« sei für ihn »eine neue Form von Antisemitismus!« (NDR 2012). Letztendlich mündet das Tabuisierungsnarrativ, in seiner von zeitgenössischen Antisemit_innen verwendeten Form, immer auch in der Abwehr der Antisemitismuskritik, die auf einen illegitimen Vorwurf reduziert wird (Rensmann 2015: 101). Es dient damit sowohl der präventiven Verteidigung antisemitischer Aussagen vor bzw. während des Tabubruchs, als auch der Bestätigung des Vorurteils nach dem Tabubruch, wenn also die prophezeite Anklage tatsächlich erhoben wird. Wie der erste Teil des Abschnitts zeigen konnte, ist der Tabuisierungsvorwurf jedoch nicht nur Strategie, die zum Tabubruch überleitet, sondern substantiell verschwörungsideologisches Ressentiment. Aus diesem erwächst der Tabubruch als zwingende Konsequenz. 11 Rensmann weist in diesem Zusammenhang noch auf einen weiteren wichtigen Aspekt hin, nämlich den gesellschaftlichen Status des sprechenden Subjekts (Rensmann 2015: 101). Dieser beeinflusst nicht nur die Eigenwahrnehmung des Abwehrenden, sondern insbesondere auch die Fremdwahrnehmung, d.i. die soziale Akzeptanz der Äußerungen. So scheint die Antisemitismusleugnung umso plausibler, wenn sich, wie im Falle Grass, der Sprecher nicht in die gemeinhin mit Antisemit_innen assoziierten Kategorien »rechts«, »extremistisch« oder »ungebildet« einordnen lässt, sondern als »kritischer« Linksintellektueller wahrgenommen wird (vgl. Schwarz-Friesel 2015b).
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Drittens: Der Tabubruch Die inszenierte Tabubehauptung mündet drittens in der Klimax des Tabubruchs. Es lohnt sich, das Vorgehen des Dichters an dieser Stelle chronologisch zu betrachten. Es beginnt mit der Ankündigung des Tabubruchs in Strophe 5: »Jetzt aber, weil aus meinem Land, / das von ureigenen Verbrechen, / die ohne Vergleich sind, / Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird, / wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch / mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert, / ein weiteres U-Boot nach Israel / geliefert werden soll, dessen Spezialität / darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe / dorthin lenken zu können, wo die Existenz / einer einzigen Atombombe unbewiesen ist, / doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will / sage ich, was gesagt werden muß.« (Grass 2013a: 12f.) Nachdem Grass in den Strophen zuvor die Gründe für sein Schweigen dargelegt hat, beschreibt er nun, warum er dieses zu brechen gedenkt. Ausschlagend sei eine U-Boot-Lieferung der deutschen Bundesregierung an Israel gewesen. Eine Bagatelle, könnte man meinen; Israel besaß schon drei, nun kam noch eines hinzu, nichts an der Lieferung war geheim. Worum geht es also? Grass’ Problem mit der Lieferung, so wirkt es, ist nicht faktischer, sondern identitärer Natur. Nicht umsonst läutet der Dichter den Bruch damit ein, dass er die »ureigenen Verbrechen« seines Landes in Erinnerung ruft – um sie wenige Verse später mit der U-Boot-Lieferung auf eine Stufe zu stellen. Relativierende Vergleiche dieser Art ziehen sich kontinuierlich durch die nächsten Strophen. Zunächst aber kehrt Grass noch einmal zu den Gründen seines Schweigens zurück. Da heißt es: »Warum aber schwieg ich bislang? / Weil ich meinte, meine Herkunft, / die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, / verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit / dem Land Israel, dem ich verbunden bin/und bleiben will, zuzumuten.« (ebd.) Grass »meinte« – und meint nun nicht mehr. Warum? Wo es keine Erklärung zu geben scheint, besticht einmal mehr die Wortwahl: »Herkunft« als »Makel«. Die Ursache für Grass’ bisheriges Schweigen, so steht es hier, ist seine Identität als Deutscher, womöglich sogar seine eigene Geschichte, dessen »Makel« ihn Mal für Mal einholt. Letzterer bedeutet freilich etwas Anderes, als der im deutschen Kontext so naheliegende Begriff der Schuld, den man hier vergeblich sucht. Stattdessen bezeichnet das von Grass präferierte Wort Makel per Duden »etwas, was für jemanden, in seinen eigenen 77
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Augen oder im Urteil anderer, als Schmach, als herabsetzend gilt« (Duden o.J.a). Die deutschen Verbrechen als Schmach, die Mal um Mal zur Rede stellend Wahrheit verbietet – oder wie Henryk M. Broder einmal den israelischen Psychoanalytiker Zvi Rex zitierte: »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen« (Broder 1986: 125). Schließlich heißt der Makel bei Grass auch Zwang: Zwang des Verschweigens, Zwang zur Lüge. Hier schließt sich der Kreis zur Tabubehauptung. Grass kann den Makel freilich nicht einfach so tilgen, ohne offen Geschichtsrevisionismus zu betreiben – wohl aber dessen Haftung an seiner Herkunft. Und zwar indem er als Deutscher den Völkermord dieses Mal verhindert: »Warum sage ich jetzt erst, / gealtert und mit letzter Tinte: / Die Atommacht Israel gefährdet / den ohnehin brüchigen Weltfrieden? / Weil gesagt werden muß, / was schon morgen zu spät sein könnte; / auch weil wir – als Deutsche belastet genug – / Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,/ das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld / durch keine der üblichen Ausreden / zu tilgen wäre.« (Grass 2013a: 13) Dass der erste Teil bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einem Auszug aus den Protokollen der Weisen von Zion aufweist, wurde bereits im ersten Teil der Analyse dargelegt. Die Prophezeiung der drohenden Katastrophe wird noch durch das pathetische Bild der »letzte[n] Tinte« bestärkt, einem Symbolbild für den aufopferungsvollen Akt des friedensbewegten Dichters im Angesicht der nahenden Apokalypse. Doch auch, wo sich Grass’ Narzissmus geradezu aufdrängt, geht es augenscheinlich um mehr: Um den Makel der Deutschen. Juden bedrohen den Weltfrieden – das müsse endlich gesagt werden, weil Grass und sein Publikum »als Deutsche belastet genug« seien. Die Last der Geschichte fungiert so abermals als nationaler Kitt. Erstaunlicherweise taucht nun auch das Wort Schuld auf – nicht jedoch in Bezug auf deutsche Verbrechen, sondern als »Mitschuld« dort, wo es um Beihilfe zu den beschworenen Verbrechen Israels geht. Wirkliche, untilgbare Schuld, so die Assoziation, trügen die Deutschen, wenn sie diesen – von Juden geplanten – Völkermord nicht durch Wort und Tat zu verhindern wüssten. Micha Brumlik, der die Anspielung als einer der ersten zu deuten wusste, resümierte entsprechend: »Das Verhindern der künftig möglichen Schuld erlöst vom Druck der wirklichen Schuld« (Brumlik 2013: 73). Grass geht jedoch noch einen Schritt weiter und warnt, vermeintlich kritisch antizipierend, vor nachträglichen »Ausreden«. Im Interview führt er diesen Gedanken weiter aus:
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»Und diese Überschrift des Textes, dieses Gedichtes ‚Was gesagt werden muss’, geht ja auf das zurück, was meine Generation erfahren hat. Das man immer wieder hörte: ‚Ja, wenn wir das gewusst hätten!’ Bis in die 50er, 60er hat man ja so getan, als seien alle Deutschen ahnungslos überfallen worden, als Opfer des Nationalsozialismus dargestellt, was nicht stimmte. Deswegen bin ich der Meinung und glaube auch schon, dass es mit zu den Verpflichtungen eines Intellektuellen, unter anderem auch denen eines Schriftstellers gehört, als Bürger von seinem Recht Gebrauch zu machen und diese Dinge dann auch anzusprechen.« (Grass 2013b: 96) Die Gleichsetzung des deutschen Holocaust mit der Wahnvorstellung eines israelischen Atomangriffs führt hier so weit, dass Grass, vorgeblich Lehren aus der Geschichte ziehend, vor Schuldentlastung im Falle des eintretenden Unheils warnt. Die nachkriegstypische Opferdarstellung vollzieht er dabei, noch während er sie kritisiert, an seiner eigenen Generation. Dabei zeigt gerade seine eigene Biographie12 noch am besten, wie sich große Teile der sogenannten Flakhelfergeneration an nationalsozialistischen Verbrechen beteiligten und später in Schweigen hüllten. Grass sieht offenbar keinen Widerspruch, verspürt aber einmal mehr die Pflicht, endlich zu sagen, dass die Ursache des drohenden Unheils Israel ist. Sich vom Schweigen zu befreien ist schließlich auch sein finaler Appell an die Leserschaft: »Und zugegeben: ich schweige nicht mehr, / weil ich der Heuchelei des Westens/ überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen, / es mögen sich viele vom Schweigen befreien, / den Verursacher der erkennbaren Gefahr / zum Verzicht auf Gewalt auffordern und/ gleichfalls darauf bestehen, / daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle / des israelischen atomaren Potentials/ und der iranischen Atomanlagen / durch eine internationale Instanz / von den Regierungen beider Länder zugelassen wird. / Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, / mehr noch, allen Menschen, die in dieser / vom Wahn okkupierten Region / dicht bei dicht verfeindet leben / und letztlich auch uns zu helfen.« (Grass 2013a: 13f.) Nur so ist uns zu helfen: Im Ende des Gedichts liegt seine Essenz. Aufgrund des bisher Analysierten darf angenommen werden, dass Hilfe hier nicht 12 Der 1927 geborene Günter Grass war von November 1944 bis Kriegsende bei der Waffen-SS, verschwieg dies jedoch bis zur Veröffentlichung seiner autobiographischen Erzählung »Beim Häuten der Zwiebel« im Jahr 2006.
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nur meint, von der »erkennbaren Gefahr« physisch verschont zu bleiben. Sozialpsychologisch betrachtet verdichtet sich vielmehr der Eindruck, dass es in Wirklichkeit um Schuldentlastung geht. Die absolute Notwendigkeit des Tabubruchs ergäbe sich dann aus dem nationalen Bedürfnis nach Exkulpation, dessen Fundament bis heute die schwere Schädigung des kollektiven Narzissmus nach Zusammenbruch des Nationalsozialismus ist (vgl. Adorno 2015: 19). Adorno, der den Schuldentlastungsantisemitismus der Deutschen als einer der ersten überhaupt erforschte (vgl. Adorno 1975), formulierte in seinem Aufsatz Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit diesbezüglich die Annahme, »daß der beschädigte kollektive Narzißmus darauf lauert, repariert zu werden, und nach allem greift, was zunächst im Bewußtsein die Vergangenheit in Übereinstimmung mit den narzißtischen Wünschen bringt, dann aber womöglich auch noch die Realität so modelt, daß jene Schädigung ungeschehen gemacht wird« (Adorno 2015: 19f). Grass’ Hirngespinste sind in der Tat bar jeder Realität, erfüllen jedoch ihre Funktion als Gewissensentlastung insbesondere dort, wo Jüdinnen und Juden, die in der Post-Holocaust-Gesellschaft stets die Erinnerung an die Shoah repräsentieren, im antisemitischen Fiebertraum selbst zu Täter_innen werden (vgl. Rensmann 2001: 254). Israel als jüdischer Staat eignet sich daher heute besonders gut als Projektionsfläche für die aus Schuldgefühlen resultierenden abwehraggressive Neigungen (vgl. Becker 2015). Die erwähnten antisemitischen Rationalisierungen sind laut Adorno außerdem in dem Sinne strategisch rational, als dass sie sich an gesellschaftliche Tendenzen anlehnen und somit den Zeitgeist bedienen (Adorno 2015: 14). Um gesellschaftlich überhaupt anschlussfähig zu sein, muss der Tabubruch demnach auf gesellschaftlich verbreitete Meinungen und Vorurteilsstrukturen zurückgreifen. Dass Grass dies in der Tat gelang, verdeutlicht u.a. eine Erhebung der Bertelsmannstiftung. Im Jahr 2007 waren dieser zufolge 30 Prozent der Befragten der Ansicht, die »Politik Israels gegenüber den Palästinensern [sei] im Prinzip das Gleiche wie das, was die Nazis den Juden im Dritten Reich angetan haben« (Hagemann/Nathanson 2015: 40). 2013, ein Jahr nach der Debatte um »Was gesagt werden muss«, stimmten dieser Aussage 41 Prozent der Befragten zu. Zwar lässt dies freilich noch keine Rückschlüsse auf etwaige Kausalitäten zu. Es ist jedoch auch abgesehen von statistischen Zahlen evident, dass der öffentlich inszenierte Tabubruch wie kaum eine andere Kommunikationsstrategie in der Lage ist, das Ressentiment aus seiner Latenz an die Oberfläche des gesellschaftlichen Diskurses zu befördern. Schließlich agieren die medial exponierten Tabubrecher nicht nur als Stellvertreter für 80
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ihre sprachlosen Zuhörer (Adorno 1993: 154), sondern auch als Vorbilder, die mit der »triebökonomischen ‚Verlockungsprämie’« (Ranc 2016: 202) des falschen Tabubruchs kokettieren und zur Nachahmung anregen. Wirkung Wie verlockend war diese Prämie jedoch wirklich im vorliegenden Fall Günter Grass? Positiv bemerkt werden kann zunächst, dass sich Grass‘ demagogische Prophezeiung tatsächlich erfüllte: Gedicht und Dichter wurden von einer überwiegenden Mehrheit der Rezensent_innen in wünschenswerter Klarheit des Antisemitismus bezichtigt. Es war wohl diese Tatsache, die Lars Rensmann zu der Schlussfolgerung veranlasste, die Debatte um Grass‘ Gedicht habe gezeigt, »dass politisch-kulturelle Grenzziehungen und öffentliche Sensibilisierungen gegenüber Antisemitismus in Deutschland durchaus mithin intakt« (Rensmann 2015: 102) seien. Die »weitverbreitete Kritik in Feuilletons und Politik« habe »das Ventil, das der Nobelpreisträger hätte öffnen können, bis auf die ‚Grass hat Recht’Demonstrationen einiger Wutbürger, weitgehend erstickt« (ebd.: 103). Gegen dieses milde Urteil zur Wirkung des Poems spricht allerdings zweierlei. Erstens ist es der Verlauf des Jahres 2012, das mit der Beschneidungsdebatte sowie der Augstein-Debatte zwei weitere Exempel antisemitisch geprägter Kontroversen hervorbrachte. Es mag dies ein schwaches Indiz für die Wirkmächtigkeit des Gedichts sein, lässt sich auch hier kein direkter Zusammenhang zwischen den drei Debatten nachweisen. Dennoch ist zumindest auffallend, dass sich innerhalb weniger Monate eine Erosion poltisch-diskursiver Grenzen ereignete, bei der sich auch der Diskussionsgegenstand zunehmend zu der irreführenden Frage verschob, ob ein Antisemitismusvorwurf gerechtfertigt sei (vgl. ebd.). Zweitens spricht eine überwältigende Anzahl Grass-solidarischer Kommentare in den Online-Kommentarspalten verschiedenster Artikel dafür, dass sich von der Positionierung eines bestimmten publizistisch-intellektuellen Kreises nicht ohne weiteres auf die Einstellungen einer breiteren Öffentlichkeit schließen lässt. Wie die stichprobenartige Analyse einiger Kommentare ergeben hat, werden die von Grass gelieferten Narrative von den Kommentierenden nicht nur dankbar aufgegriffen und reproduziert; der Grad der inhaltlich-emotionalen wie auch rhetorischen Enthemmung
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geht oftmals sogar noch deutlich über die Grass’schen Äußerungen hinaus.13 Mit besonderer Vehemenz sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht wird dabei der Tabuisierungsvorwurf wiederholt. So in dem Kommentar eines FAZ-Lesers mit dem Titel »Vielen Dank Herr Grass«: »Sie sprechen das aus, was ich und viele meiner Freunde denken. Wie schon zu erwarten war, wird von unserer Medien- und Politkerkaste reflexartig die Antisemtismuskeule für jegliche Israel kritik geschwungen, ohne sich wirklich mit dem Inhalt des Textes in irgendeiner Form auseinander zu setzen.« (FAZ online 04.04.2012, Kommentar 24; Fehler im Original) Während das Ressentiment hier noch in der abstrakten Chiffre einer Establishment-Verschwörung verbleibt, werden die Juden als Urheber des vermeintlichen Tabus in folgendem Facebook-Kommentar unter einem Post der Süddeutschen Zeitung klar benannt: »Schon wieder wird dieses ewige Antisemitismus-Argument rausgeholt wenn jemand öffentlich Israel kritisiert. Bei kaum einem anderen Staat wird man bei öffentlicher Kritik so zerissen wie bei Israel. Dabei waren Juden nicht das einzige Opfervolk im zweiten Weltkrieg. Russland z.B. hatte noch weitaus mehr Menschen verloren, aber wer schreckt heute davor zurück Russland oder dessen Regierung zu kritisieren? Ich will damit keinesfalls den Holocaust relativieren, aber es kann doch nicht sein, dass heute, 70 Jahre später, jegliche Kritik an einem Staat bzw. dessen Regierung und teilweise fragwürdiger Politik immer noch tabu ist.... Ich habe absolut kein Problem mit Juden, dem Staat Israel an sich und ich bin auch kein Antisemit, ganz im Gegenteil – aber den-
13 Das Stereotyp »Wutbürger« (Rensmann 2015: 103) erfüllen die Kommentierenden dabei wohlgemerkt nur auf Aussagenebene – ihr Profil und Wortschatz weisen sie oft als überdurchschnittlich gebildete Personen aus. Dass sich weder Bildungsgrad noch politische Orientierung signifikant auf die Solidarisierungsbereitschaft mit den antizionistischen Haltungen Grass’ auswirken, bezeugt auch eine kürzlich erschienene Studie Michael Höttemanns zur Abwehr der Antisemitismuskritik (2018): »Insgesamt ist bemerkenswert, dass die Solidarisierung mit antisemitischen Darstellungen Israels in Gruppen weitestgehend reibungslos erfolgt. Die Abwehr anti-antisemitischer Interventionen wirkt hierbei auf die nicht-jüdischen deutschen Teilnehmer_innen – seien sie politisch orientiert oder desorientiert, nationalistisch eingestellt oder nicht, links, liberal oder konservativ – in hohem Maße integrierend.« (vgl. Höttemann 2017).
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noch kritisiere ich die Politik dieses Staates« (SZ Facebook 05.04.2012, Kommentar 13; Fehler im Original) Was sich indes in nahezu allen Kommentarspalten offenbart, ist eine Art kollektive Enthemmung, in der sich die Kommentierenden gegenseitig bestätigen und zu neuen Tabubrüchen verleiten. Die Dynamik innerhalb der Internetforen entspricht damit dem, was Julijana Ranc als Wesenszug gemeinschaftlicher Ressentiment-Kommunikation festhielt: Kritische Einwände gegen den Tabubruch werden von den Ressentimentgeleiteten vehement abgewehrt, vor allem aber wird aus der Nachahmung des Tabubruchs Lust bezogen (Ranc 2016: 198ff.). Dieser Lustcharakter schlägt sich nicht nur in der kommunikativen Getriebenheit der Kommentierenden nieder, sondern auch in ihrer offenkundigen Erregung (vgl. ebd.). Mit Ranc lässt sich entsprechend resümieren, dass je eher es gelingt, Hemmschwellen kollektiv zu korrumpieren, »desto leiser die Einsprüche des Realitätsprinzips und der inneren Zensur und höher der Lustgewinn« (Ranc 2016: 204). Der spezifische Reiz des antisemitischen Tabubruchs liegt in dem Versprechen, dass es gelingt. Resümee Die zuletzt zitierten Umfrageergebnisse, Folgedebatten und Resonanzen im Kommunikationsraum Internet geben zwar letztlich keine endgültige Auskunft über die Wirkung von »Was gesagt werden muss«. Dennoch plausibilisieren sie, was die Analyse der der Komponenten Tabu, Tabuisierung und Tabubruch ergeben hat: Sowohl inhaltlich (erstens) als auch strukturell (zweitens) zielt die Rede vom Tabu auf die Enttabuisierung des antisemitischen Ressentiments (drittens), indem es doppelten Lustgewinn verspricht: Einerseits durch die Überwindung des hemmenden »Verbots«, andererseits durch antisemitische Projektion, die im Beispiel Grass’ der Schuldentlastung dient. Die mediale Inszenierung hebt jenes Versprechen auf die öffentliche Bühne, wo es gemeinschaftlich eingelöst werden kann. Wie der Antisemit die selbsterwählte Leidenschaft des Judenhasses liebt (Sartre 1948: 15), so liebt er schließlich auch den Zustand kollektiver Enthemmung, der jener Leidenschaft Ausdruck verleiht. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Möglichkeiten zur Bekämpfung der objektiv entspringenden antisemitischen Weltanschauung und Leidenschaft (ebd.) zwar notwendigerweise begrenzt bleiben. »Doch ist die ungeteilte Ressentimentlust nur halbe Lust« (Ranc 2016: 204) – was dezidierten Widerspruch, öffentliche Sanktionen und nicht zuletzt Aufklärung 83
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über die Ursprünge und Erscheinungsformen des modernisierten Antisemitismus als Mittel gegen die »Enttabuisierung« unabdingbar macht. Schließlich gilt es, den Protagonist_innen des antisemitischen Tabubruchs öffentliche Plattformen konsequent zu verweigern und sie nachhaltig zu isolieren – auch, wenn sie Günter Grass heißen. Literatur Adorno, Theodor W. (1971): Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, in: Adorno, Theodor W.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt am Main, S. 105–133. Adorno, Theodor W. (1975): Schuld und Abwehr, in: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften Bd. 9.2, Soziologische Schriften II, Zweite Hälfte, S. 121–324. Adorno, Theodor W. (1993): Antisemitismus und faschistische Propagangda, in: Simmel, Ernst (Hg.): Antisemitismus, Frankfurt am Main, S. 148–162. Adorno, Theodor W. (2015): Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?, in: Adorno Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, Frankfurt am Main, S. 10–28. Becker, Matthias Jakob (2015): Entlastungsantisemitismus linksliberaler Couleur. Israel-Hass in den Kommentarspalten von The Guardian und Die Zeit, in: Schwarz-Friesel, Monika (Hg.): Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für die Zivilgesellschaft, Baden-Baden, S. 117–134. Bergmann, Werner/Heitmeyer, Wilhelm (2005): Antisemitismus. Verliert die Vorurteilsrepression ihre Wirkung?, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände, Folge 3. Frankfurt am Main, S. 224–238. Broder, Henryk M. (1986): Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls, Frankfurt am Main. Broder, Henryk M. (2013): Nicht ganz dicht, aber ein Dichter, in: Detering, Heinrich/Øhrgaard, Per (Hg.): Was gesagt wurde. Eine Dokumentation über Günter Grass’ »Was gesagt werden muss« und die deutsche Debatte, Göttingen, S. 15– 18. Brumlik, Micha (2013): Der an seiner Schuld würgt, in: Detering, Heinrich/Øhrgaard, Per (Hg.): Was gesagt wurde. Eine Dokumentation über Günter Grass’ »Was gesagt werden muss« und die deutsche Debatte, Göttingen, S. 71–74. Detering, Heinrich/ Øhrgaard, Per (Hg.) (2013): Was gesagt wurde. Eine Dokumentation über Günter Grass’ »Was gesagt werden muss« und die deutsche Debatte, Göttingen. Dudenredaktion o. J.a: »Makel« auf Duden online, https://www.duden.de/node/64 6651/revisions/1846574/view (Abrufdatum: 20.01.2019). Dudenredaktion o. J.b: »Tabu« auf Duden online, https://www.duden.de/node/713 429/revisions/1380643/view (Abrufdatum: 20.01.2019).
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Was gesagt werden muss: Günter Grass und der inszenierte Tabubruch Freud, Sigmund (1948): Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Gesammelte Werke 9, Frankfurt am Main/ Hamburg. Freud, Sigmund (2008): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. In: Freud, Sigmund: Gesammelte Werke 1987–2012, 19 Bde., Bd. 6, Frankfurt am Main. Freud, Sigmund (2011): Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose. In: Nitzschke, Bernd (Hg.): Die Psychoanalyse Sigmund Freuds. Konzepte und Begriffe, Wiesbaden, S. 163 – 167. Grimm, Marc/Kahmann, Bodo (Hg.) (2018a): Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror, Berlin/ Boston. Grimm, Marc/Kahmann, Bodo (2018b): Perspektiven und Kontroversen der Antisemitismusforschung im 21. Jahrhundert, in: Grimm, Marc/Kahmann, Bodo (Hg.): Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror, Berlin/Boston, S. 1–24. Habermas, Jürgen (2002): Tabuschranken, in: Süddeutsche Zeitung vom 7.6.2002. Hagemann, Steffen/Nathanson, Roby (2015): Deutschland und Israel heute. Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?, Gütersloh. Höttemann, Michael (2018): Die Abwehr der Antisemitismuskritik, in: Grimm, Marc/Kahmann, Bodo (Hg.): Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror, Berlin/Boston, S. 227– 244. Kaniuk, Yoram (2012): »Grass hat ein Problem mit Juden«. Yoram Kaniuk im Gespräch über Antisemitismus in Deutschland, in: Jungle World 2012/15, online, https://jungle.world/artikel/2012/15/grass-hat-ein-problem-mit-juden (Abrufdatum: 20.01.2019). Kaniuk, Yoram (2013): »Es lebt sich schwer mit dem Holocaust«, Interview geführt von Norbert Jessen, in: Detering, Heinrich/Øhrgaard, Per (Hg.): Was gesagt wurde. Eine Dokumentation über Günter Grass’ »Was gesagt werden muss« und die deutsche Debatte, Göttingen, S. 230–232. Kimmich, Dorothee (2017): II.5. Kulturtheorie, in: Berndt, Frauke/Eckart Goebel (Hg.): Handbuch Literatur & Psychoanalyse, Berlin/Boston, S. 110–126. Kraft, Hartmut (2015): Die Lust am TABUbruch, Göttingen/Bristol. Löwenthal, Leo (2017): Falsche Propheten. Studien zum Autoritarismus. Schriften 3, Frankfurt am Main. Ranc, Julijana (2016): "Eventuell Nichtgewollter Antisemitismus". Zur Kommunikation antijüdischer Ressentiments unter deutschen Durchschnittsbürgern, Münster. Rensmann, Lars (2001): Kritische Theorie über den Antisemitismus. Studien zu Struktur, Erklärungspotential und Aktualität, Berlin. Rensmann, Lars (2004): Demokratie und Judenbild Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden.
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Was gesagt werden muss: Günter Grass und der inszenierte Tabubruch Grass, Günter (2012): Was gesagt werden muss. Das Gedicht von Günter Grass, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/das-israel-gedicht-von-grass/das-g edicht-von-guenter-grass-was-gesagt-werden-muss-11707985.html (Abrufdatum 20.01.2019). Quelle 2: Süddeutsche Zeitung (Facebook) v. 05.04.2012. Steinfeld, Thomas (2012): Dichten und Meinen, https://www.facebook.com/ihre.sz /posts/282772195135454?__tn__=-R (Abrufdatum 20.01.2019).
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Verblümter Antisemitismus. Israelkritik als Ticketmentalität Sandra Rokahr
»Ist jeder, der Israel kritisiert, ein Antisemit?« (zit. n. Rokahr 2018: 123), fragt Sandra Maischberger anlässlich der Debatte um den Film »Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa«. An diesem Punkt haben die Gäste der Talkshow bereits die Hälfte der Sendezeit bestritten und Maischberger unternimmt den Versuch, die Ausführungen von Rolf Verleger und Norbert Blüm erneut zu fokussieren. Die Frage, die sich leicht mit einem klaren Nein beantworten ließe, wie Michael Wolffsohn es tut, lädt die anderen Gäste jedoch abermals dazu ein, die Problematisierung von Antisemitismus an eine Diskussion um Israel zu koppeln. Hingegen wäre zu fragen, wer dies eigentlich immer noch behauptet. Dass nicht jede Kritik an Israel antisemitisch ist, Kritik an der Politik des israelischen Staates geübt werden darf und im hohen Maße geübt wird, könnte eigentlich als abgehandelt betrachtet werden (vgl. Heyder et. al. 2005: 149; Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 196; Rensmann 2015: 101; Salzborn 2018: 144f.). Die Wortschöpfung »israelkritisch« wurde mittlerweile sogar in den Duden aufgenommen und damit formal legitimiert (vgl. Killy 2017). Warum die Frage vermehrt als vermeintlich kritischer Aufhänger fungiert, ist über ihren Suggestiv-Charakter zu erklären. Sie impliziert die Phantasie von einem Kritiktabu und verfügt damit über einen non-konformen, rebellisch anmutenden Charakter. An der Unterstellung eines solchen Tabus wäre unter anderem die Implikatur eines »jüdischen Meinungsdiktats« (Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 167) aufzudecken und sie somit als »antisemitische Schimäre« (Rensmann 2007: 171) zu dechiffrieren. Maischberger ist sich der Problematik der Frage wahrscheinlich nicht bewusst. Fast zeitgleich fällt ihr zudem Blüm ins Wort, der kleinlaut und provozierend bekundet: »Aber ich bin doch Antisemit« (zit. n. Rokahr 2018: 123) und damit unmerklich die Grenze des momentan Sagbaren überschreitet. Der folgende Beitrag entschlüsselt, welche weiteren Problematiken sich in der Diskussion zur Fragestellung: »Gibt es einen neuen Antisemitismus?« ergeben und entzerrt die zu Tage tretenden Argumentationsstrategi-
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Sandra Rokahr
en.1 Zunächst werden hierzu die Streithöhe- und antisemitischen Tiefpunkte des Medienskandals zur besagten Doku in Erinnerung gerufen, um daran anschließend die Argumentationslogik antisemitischer Israelkritik anhand einer Auswahl von Redebeiträgen des ehemaligen CDU-Politikers Norbert Blüms aufzuhellen. Es werden sowohl klassische judenfeindliche Stereotype in Umweg-Projektionen als auch Motive einer deutschen Schuld- beziehungsweise Entlastungsabwehr herausgearbeitet. Daran anschließend wird auf den rebellischen Trotz des »Ja, aber-Antisemitismus« (Claussen 2005) eingegangen und mit den vorliegenden Erkenntnissen weitergedacht. Denn dieser nimmt Israel mittlerweile nicht nur zur Projektionsfläche, sondern auch als Grundlage scheinhafter Argumentationen. Die Analyse der hier im öffentlich-rechtlichen Fernsehen vorgebrachten Israelkritik wird zeigen, dass diese in der Tradition des altbekannten antisemitischen Ticketdenkens verhaftet ist und sie damit der Verbreitung des antizionistischen Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft dient. Die Angst vor dem A-Wort oder Flucht in die Grauzone Als »WDR-Rechtfertigungsabend« bezeichnete die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) die Premiere der besagten Dokumentation in der ARD samt anschließender Talkshow. Mit diesem ebbte im Sommer 2017 nicht nur ein bislang einmaliger Medienskandal ab, sondern fand auch eine weitere Diskussion über »neuen« Antisemitismus ihr klangloses Ende. Im Mittelpunkt der medialen Besprechung standen vor allem Ausflüchte und ein Ringen um Entlastung. Folgerichtig wurde Arte und WDR Voreingenommenheit im Umgang mit Antisemitismus, im Speziellen in seiner Erscheinung als Israelkritik, attestiert. Die Vorurteile gegenüber dem Film speisten sich unter anderem aus doppelten Standards und einer Abwehrhaltung gegenüber dem Thema der Dokumentation. Wie der Filmemacher Joachim Schroeder wiedergibt, seien ihm die Bedingungen gestellt worden, der Film müsse »ergebnisoffen« sein und Verständnis aufbringen, »dass [dies] gerade für ARTE in Frankreich eine sensible Sache sei, weil man dort zwischen islamischer und jüdischer Lobby eingezwängt sei« (zit. n. Feuerherdt 2017). Alles in allem do1 Dieser Artikel basiert auf einer tiefenhermeneutischen Kulturanalyse der Talkshow Maischberger anlässlich des Films »Auserwählt und ausgegrenzt«, die eine Transkription der Sendung mit folgenden Abkürzungen beinhaltet: (…) für Redepausen; / für abgebrochene Wörter & Sätze; // für Überschneidungen; (unv.) für unverständlich (vgl. Rokahr 2018: 95).
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minierte die Forderung nach einer ausgewogeneren Darstellung, die sich in Pressestimmen und ebenfalls der beispiellosen Maßregelung in Form eines Faktenchecks mit 25 Mängeln ausdrückte. Dieser sollte dem WDRProgrammdirektor Jörg Schönenborn zufolge: die Fakten »offen und fair« darlegen und »widerstreitende Positionen« darstellen, damit »der Zuschauer am Ende sich selbst ein Urteil bilden kann« (zit. n. Rokahr 2018: 105). Der häufigste Einwand gegenüber dem Film, er sei »einseitig«, den ZuschauerInnen müsse ermöglicht werden, sich ein »eigenes Bild« (Funk 2017) vom Antisemitismus zu machen, spricht nicht nur den im Film mit Statements zu Wort kommenden ForscherInnen ihre Qualifikation ab, sondern marginalisiert und relativiert das Problem des Antisemitismus. Über das Engagement anhand des Faktenchecks und dem Einschwören auf die Einseitigkeit offenbart sich, worum es eigentlich geht: »Die Angst vor dem A-Wort« (Bahners 2017), wie die FAZ in Abwehrhaltung titelte. Als AntisemitIn bezeichnet zu werden, schade der Meinungsfreiheit: AmtsträgerInnen würden nichts so sehr fürchten (vgl. ebd.). Maischberger setzt schließlich um, was Schönenborn fordert: widerstreitenden Positionen zum Thema Antisemitismus eine Bühne zu geben. Mit der früheren Nahostkorrespondentin Gemma Pörzgen, Norbert Blüm und Rolf Verleger, ehemaliges Mitglied im Zentralrat der Juden, wurden drei VerfechterInnen »legitimer« Israelkritik gegenüber zwei Verteidigern des »pro-jüdischen Films« (Posener 2017), dem Historiker Michael Wolffsohn und dem Psychologen Ahmad Mansour, platziert (vgl. Rokahr 2018: 101). Dass es mehr zu Streit als zu einem empathisch- offenen Austausch unterschiedlicher Positionen auf Grundlage der Bekämpfung des Antisemitismus kam, liegt nicht nur darin begründet, dass die Gäste allesamt routinierte TalkerInnen sind.2 Auffällig ist der ständige Rekurs auf Israel, der mit einer gewissen Widersprüchlichkeit einhergeht: zum einen mit dem wiederholten Leidklagen über Einseitigkeit, der Vermischung von Themen und dem Wunsch
2 Allgemein ist bei Talkshowgästen der Unterhaltungswert bedeutender als ihre Sachkompetenz. Primär sollen sie hartnäckig sein, anstatt die eigene Position zu reflektieren. Außerdem ist es fragwürdig, Gäste einzuladen, die für problematische Positionen bekannt sind. Blüm wurde bereits mit der NS-Verbrechen relativierenden sowie Täter-Opfer umkehrenden Aussage bekannt, Israel führe einen Vernichtungskrieg (vgl. Joffe 2018). Verleger ist als »kritischer Jude vom Dienst« (Wuliger 2014) vorbezeichnet, der sich gerne als legitimer, weil jüdischer, Israelkritiker inszeniert, aufbauend auf einer kollektiven Gleichsetzung von Jüdinnen und Juden und Israelis. Pörzgen wirbt mitunter für ein differenziertes Bild gegenüber der Terrororganisation Hamas (vgl. Pörzgen 2006).
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nach Differenzierung, wenn es um die Trennung von Antisemitismus und Antizionismus geht. Zum anderen finden sich eine immense Zahl an Forderungen, die problematische Korrelationen herstellen, wie etwa den sogenannten Nahostkonflikt verhandeln zu wollen, sobald das Problem des Antisemitismus diskutiert wird. So wird penetrant verlangt, die »Verfehlungen« (ebd.: 112) beider Seiten zu thematisieren, wie beispielsweise die »Kontrolle« (ebd.: 130) Israels über Gaza, den »palästinensischen Terror« als auch den »Terror der Israelis« (ebd.: 111). Die folgende Aussage Pörzgens illustriert diese Widersprüchlichkeit eindrücklich: »Antisemitismus ist aus meiner Sicht eine grundsätzliche Haltung gegenüber Juden, die rassistisch ist und eben menschenverachtend. Es gibt auf der anderen Seite, gibt es eben Antizionismus. Für Sie gehört das alles zusammen (zu Wolffsohn), aus meiner Sicht ist das ganz anders. [...] Und aus meiner Sicht ist das Dritte, worüber wir (unv.) reden: Israelkritik. Und ich finde, die kann man nicht weglassen und man kann auch nicht weglassen, was der Film nämlich tut, er spricht nicht über die Besatzung.« (Pörzgen zit. n. Rokahr 2018: 118) Die Appelle gipfeln schließlich darin, Israelkritik und Antizionismus genuin von Antisemitismus frei zu sprechen und in falscher Schlussfolgerung sogar die Kritik am Antisemitismus an die Problematisierung von Israel zu binden. Festzuhalten ist hingegen, dass Forderungen nach Offenheit gegenüber Meinungen zu Israelkritik, die der »Ausgewogenheit« dienen soll, und den Grenzen des Antisemitismus eine Relativierung von Antisemitismus begünstigen. Mittels Generalisierungen und der Annahme einer vermeintlichen Äquidistanz von palästinensischem Terror und staatsmilitärischen Aktionen wird antisemitische Gewalt marginalisiert und die Verteidigung Israels dämonisiert (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 233f.). Fragen, wie die nach der Einordnung antisemitischer Demonstrationen als »Meinungsfreiheit« (Maischberger zit. n. Rokahr 2018: 133), laden ein, Antisemitismus als Ansichtssache zu verharmlosen. Indem Antisemitismus nicht klar benannt und verurteilt wird, sondern zur Diskussion steht, wird die Idee einer »Grauzone«, wie sie stellenweise sogar in die aktuelle Antisemitismusforschung Eingang findet, gestützt (vgl. KB 2017: 27f.). Uneindeutigkeiten wie diese stellen die klare Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Israelkritik und Antisemitismus in Frage. Antisemitismus wird in Form von Israelkritik marginalisiert und als »Position« verhandelbar gemacht.
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Der verblümte Antisemitismus Insbesondere die Diskussionsbeiträge Norbert Blüms zeigen Argumentationsmuster auf, wie sie für den israelbezogenen Antisemitismus der politischen Mitte beispielhaft sind. Einerseits bedient sich die/der ArgumentiererIn klassischen judenfeindlichen Stereotypen, andererseits spricht sie/er sich selbst unbeirrt vom Antisemitismus frei und begünstigt damit wiederrum die Legitimierung eines antizionistischen Antisemitismus. Die folgenden exemplarischen Auszüge sollen dies illustrieren. »Logik der Rache« – Umweg-Projektion »klassischer« antisemitischer Stereotype Bereits in seinem Eingangsstatment in der Sendung bei Maischberger verstrickt sich der ehemalige Arbeitsminister in wilden Bezichtigungen gegenüber der Dokumentation. Explizit und hoch emotional resümiert er: »Der [Film; Anm. d. Verf.] folgt der Logik der Rache. Er dreht an der Spirale des Hasses und er dient deshalb nicht dem Frieden« (zit. n. Rokahr 2018: 111). Hier handelt es sich um ein implizites und über Umwege formuliertes antisemitisches Ressentiment, das sich nicht an Jüdinnen und Juden als Personen, sondern die Haltung einer Sache, in diesem Fall an einem »projüdischen« Film artikuliert. Die an das klassische Repertoire des christlichen Antijudaismus erinnernden Chiffren der Rache oder Rachsucht dienen im antisemitischen Gebrauch dazu, das Bild einer jüdischen Mentalität zu erzeugen, welches unter anderem auf den von Martin Luther umgewandelten Bibelvers »Auge um Auge, Zahn und Zahn« (2. Buch Mose 21: 24) zurückgeführt werden kann. Das jüdische Rechtsverständnis sei demnach nicht auf Gerechtigkeit, sondern auf Vergeltung begründet. Dieser Vorwurf ist gegenwärtig auch vermehrt im Kontext einer vermeintlichen Kritik an Israel zu finden und dient der simplifizierenden Erklärung und Instrumentalisierung politischer Sachverhalte (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 152). Jakob Augstein beispielsweise wurde unter anderem wegen seines Artikels »Gesetz der Rache«, der sich auf die israelische Politik gegenüber der Hamas bezog, auf die Liste der Top Ten der antisemitischen und antiisraelischen Beschimpfungen des Simon Wiesenthal Centers nominiert (vgl. Augstein 2012; Onken 2013). Eine Besonderheit darüber hinaus ist, dass Blüm das antisemitische Ressentiment hier nicht auf Jüdinnen und Juden, sondern implizit auf den »pro-jüdischen Film« überträgt. In diesem Fall kann von einer doppelt falschen Projektion gesprochen werden. Das antisemitische Ressentiment, 93
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hier die Rache, wird auf Umweg auf den Träger einer »pro-jüdischen« Haltung projiziert. Weiter wird das Motiv »Rachsucht« noch mit der verschwörerisch anmutenden »Spirale des Hasses« verstärkt. Die Behauptung, der Film »dien[e] […] nicht dem Frieden«, unterstellt schließlich den gegenteiligen, also tendenziell kriegstreiberischen Zweck und bestätigt damit die dämonisierende Sichtweise des Sprechers. Eine weitere implizite, klassische Stereotypisierung, die Identifizierung von Jüdinnen und Juden mit Geld, deutet sich innerhalb eines AbwehrMonologs an: »Und ich bin auch kein Antisemit, wenn ich den Finanzkapitalismus kritisiere, bin ich auch nicht« (Blüm zit. n. Rokahr 2018: 122). Warum sich der Redner in diese Verteidigungshaltung begibt und wie die Gedankensprünge von Verteidigungsrede und Assoziation zum Finanzwesen in Verbindung stehen, soll folglich durch die Analyse des zusammenhängenden Monologs erschlossen werden. Abwehr-, Relativierungs- und Rechtfertigungsstrategien In einer Argumentationskette, wie sie bizarrer kaum sein könnte, legt Blüm seine Motive einer vermeintlichen Notwendigkeit der Kritik an Israel offen. Den Impuls hierzu gibt die zuvor gestellte Frage Maischbergers nach der möglichen Weitergabe christlichen Judenhasses in der katholischen Erziehung des ehemaligen Politikers. Die folgenden drei Zitate sind mit Ausnahme von kurzen Nachfragen und Einwürfen der anderen DiskussionsteilnehmerInnen eine zusammenhängende Erzählung, die in Abschnitten analysiert wird. »Jesus is'n Semit« – Vermeidung und Abwehr über Scheinargumente »Also (...) den Gott, an den das Christentum glaubt, ist Mensch geworden als Semit, Jesus is'n Semit, insofern […] das Christentum schwere (...) Sünden, schwere Verbrechen an den Juden begangen hat. D/ dem Christentum ist Antisemitismus nicht in die Wiege gelegt. […] Aber ich sach' nochmal, diese Verfehlungen gibt es, das gehört zu den dunklen Seiten des Christentums. Nur wehr' ich mich mit/ […]«. (Blüm zit. n. Rokahr 2018: 121) Zur Vermeidung der Frage nach einer christlichen Tradition von Judenfeindschaft bemüht Blüm das Scheinargument »Jesus is'n Semit« und führt dies aus, vermutlich ohne sich des Kontextes bewusst zu sein. Der Begriff 94
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Semit bezeichnete ursprünglich die semitische Sprachfamilie und wurde bereits im 19. Jahrhundert ethnisch-rassistisch gewendet. Die rassenideologische Etablierung des Begriffs diente als völkisches Gegenstück zum »Arier« und dem »arische[n] Mythos« (vgl. Poliakov 1977: 14f.). Er ist in seinem historischen Kontext also letztlich rassistische Grundlage des nationalsozialistischen Volksmythos. Auch wenn Blüm den christlichen Antisemitismus als »dunkle Seite« der Religion vermeintlich anerkennt, dabei aber bagatellisiert, weicht er über den Exkurs einer klaren Positionierung aus. Er bestreitet sogar kurz darauf die geschichtliche Verankerung, Antisemitismus sei dem Christentum »in die Wiege gelegt«. Gegenteiliges ist der Fall: Judenhass ist tief in den »Identitätsproblemen des jungen Christentums« verwurzelt (Benz 2004: 36). Dies drückt sich beispielsweise im Vorwurf des Christusmordes sowie der Darstellung von Jüdinnen und Juden als KetzerInnen aus (vgl. Benz 2004: 36). Die Vermeidung und Ignoranz der Problematik des Antisemitismus bestätigen sich auch in den folgenden Abwehrreden. »Das verbiet' ich mir […] mit dieser Keule« – Unfähigkeit zur Reflexion Blüm kann die Frage nach einer christlichen Judenfeindschaft nicht auf sich beruhen lassen und schließt mit einer ausführlichen Verteidigungsrede an. Diese gipfelt im Ausspruch des Verbots des Antisemitismusvorwurfs, das er sogar mit einer maßregelnden Fingergeste unterstützt: »Den Satz sach' ich noch. Ich wehre mich also mit aller Entschiedenheit, ich bin selten entschieden, aber da schon. […] Ja, aber da, aber da ganz besonders, wenn ich Israel und israelische Politik kritisiere, bin ich kein Antisemit, das verbiet' ich mir. Und ich bin auch kein Antisemit, wenn ich den Finanzkapitalismus kritisiere, bin ich auch nicht. Und so leicht, wie mit dieser Keule/ Ich weiß, wovon ich spreche, ich bin ja vom Zentralrat der Juden (zu Mansour) als Antisemit/ […] beschimpft wurde u/ […] Ja, ich (...) habe gesagt, ich würde gern mit dem Zentralrat diskutieren, die Diskussion ist mir verweigert worden. Aber das sind mehr private/ Ich will nur mal grundsätzlich feststellen. Ich verteidige das Existenzrecht des israelischen Staates. Ich finde eines der größten Verbrechen unserer Geschichte ist Auschwitz. Wer heute noch Antisemit is' hat Gedächtnisschwund in Deutschland. Aber ich lasse mir nicht nehmen, Israel zu kritis/.« (Blüm zit. n. Rokahr 2018: 121f.)
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Diese besonders explizite, geradezu drohende Abwehrrede ist durch ihre Vehemenz sowie die irreführende Logik, ein besonders gutes Beispiel für die Rebellion gegen das von Blüm imaginierten »Kritiktabu«. Vor allem diese Form der Abwehr reagiert sich an einer psychischen Phantasie von Wirklichkeit ab (vgl. Salzborn 2018: 144). Dass Blüm hier unter erhobenem Zeigefinger mit einem Verbot droht, bezeugt einerseits seinen Wahn, sich vom Antisemitismusvorwurf verfolgt zu fühlen; zum anderen zeigt sich, wie er es mit Kritik an seiner Person und mit Kritik am Antisemitismus hält, »das verbiet' ich mir«. Letztlich wird offenbar, dass der Sprecher an einer argumentationsbasierten Diskussion nicht interessiert ist und wie es um seine Fähigkeit zur Selbstreflexion steht. Hier lässt sich mit Samuel Salzborn anschließen, der hervorhebt, dass antisemitisches Denken Selbstreflexion und damit Kritikfähigkeit grundsätzlich ausschließt: »Antisemitisches Denken suspendiert Kritik und hebt jede Form von Selbstreflexion und damit Kritikfähigkeit, die sich zu allererst dadurch auszeichnet, auch das Potenzial zur Selbstkritik zu umfassen, grundsätzlich auf. In den Begriff der Kritik ist eine normative Distanzierungsfähigkeit zum Ressentiment eingelassen, das sich dadurch auszeichnet, dass in ihm die emotionale Affektivität gegenüber der rationalen Faktizität dominiert.« (Salzborn 2018: 203) Die Unfähigkeit der Selbstkritik und der Argumentation des Gegenübers nicht offen begegnen zu können, zeigt sich hier eindrücklich. Über die präventive Abwehr des vermeintlichen Tabus, »wie mit dieser Keule« (Blüm zit. n. Rokahr 2018: 122), wird Antisemitismus schließlich marginalisiert. Blüms vorauseilende Verneinung offenbart hier auch sein Wissen um die Problematik seiner Aussagen. Nach Sigmund Freud treten in Affekten, wie der Verneinung, mehr die unbewussten Motive als die Inhalte einer Aussage hervor (vgl. Salzborn 2018: 144f.). Kritik fällt hinter das Ressentiment zurück, wie anhand des Ticketdenkens noch aufgezeigt wird. Blüm lässt auch offen, wer ihm das Recht auf Kritik angeblich bestreitet. Die Inszenierung als Opfer des Vorwurfs, gegen den er sich zu wehren hat, ist eine projektive Strategie der Täter-Opfer-Umkehr. Theodor W. Adorno stellte schon in »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute« heraus: »Wirksam ist hier ein Projektionsmechanismus: daß die, welche die Verfolger waren und es potenziell heute noch sind, sich aufspielen, als wären sie die Verfolgten« (Adorno 1973: 116). Diese Form eines projektiven Verfolgungswahns, in der sich AntisemitInnen beim Vorwurf des Antisemitismus selbst als die Verfolgten darstellen, erschwert die Kritik am Antisemitismus erheblich. 96
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»Finanzkapitalismus« – Identifizierung von Jüdinnen und Juden mit Geld Kritik am Finanzkapitalismus hat für sich genommen keineswegs eine genuin antisemitische Implikatur. Befremdlich ist jedoch der Kontext, in dem die Äußerung gefällt wird. Kurz zuvor verweist Wolffsohn auf die dämonisierende Absicht hinter der antisemitischen Phantasie eines »Finanzjudentums«, woraufhin Blüm auf sein Recht an einer Kritik am Finanzkapitalkapitalismus beharrt und sagt, er hätte dabei mit Schelte durch die »Keule« zu rechnen. Damit stellt er die Kontextualisierung zum antisemitischen Stereotyp selbst her (vgl. Rokahr 2018: 116). Zudem tritt hier erneut die präventive Verneinung in Erscheinung. In vorrauseilender Weise weist Blüm von sich Antisemit zu sein, wenn er den Finanzkapitalismus kritisiert und setzt damit implizit den Finanzkapitalismus mit dem »Finanzjudentum« gleich. Auch wenn der Begriff des Judentums hier nicht von Blüm verwendet wird, besteht einerseits eine indirekte Analogie zum Stereotyp des Jüdinnen und Juden als »Geldmensch«, andererseits ist eine verschwörungsideologischen Semantik naheliegend (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 144). Mit dem Historiker Moishe Postone kann weiterführend an die hintergründige »Logik des Antisemitismus« gedacht werden, in der Jüdinnen und Juden mit der Abstraktheit des Kapitalismus identifiziert werden (vgl. Postone 1988: 251f.). Hier wäre mit einer ausführlicheren Betrachtung des ideologischen Gehalts des antisemitischen Denkens anzuschließen. Denn diesem liegt ein »falsches Bewusstsein« zugrunde, das mit einem als de-realisierenden Denken oder »wahnhaften Charakter« des Antisemitismus korreliert.3 »Dieses große Versagen« – Entlastungslogik Befremdlich ist die Weiterführung des Monologs, in dem der Redner sein politisches Engagement begründet. Nachdem er von Maischberger gefragt wird, warum er als Antisemit »beschimpft« wurde, führt Blüm eine Geschichte aus seiner Kindheit an, die sein Interesse begründen soll. »Und wissen Sie (zu Maischberger oder Wolffsohn) warum? Ich kann unsere Vergangenheit nicht bewältigen, indem ich nur darüber rede. 3 Das falsche Bewusstsein gründet im Sinne des Marxschen Fetischbegriffs in der Differenz zwischen dem Wesen der kapitalistischen Verhältnisse und ihren Erscheinungsformen, zwischen »dem, was ist, und was zu sein scheint« (Postone 2005: 182).
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Ich habe als Kind miterlebt, wie unsere Nachbarin Frau Lang, Jüdin, abgeholt wurde. Wenn die Deutschen sagen, sie hätten's nicht gewusst, ich als Siebenjähriger habe es gewusst. Wie kann ich das wettmachen, dieses große Versagen? Indem ich an einer Welt mitarbeite, in der nie mehr Menschen gequält werden, in der nie mehr Menschen verfolgt werden und das gilt dann auch, wenn ich feststelle, dass in Israel Menschen gequält, gedemütigt werden, ihnen der Respekt versagt wird.« (Blüm zit. n. Rokahr 2018: 122) Irritierend an dieser Passage sind die unzähligen und schwer nachvollziehbaren Sprünge, die irrational erscheinen. Es bleibt beispielsweise offen, warum er in seiner Erzählung in die »Vergangenheit« springt, mit der er die Logik der Täter-Opfer-Umkehr einleitet. »Bewältigen« ist vorrangig im Kontext der »Vergangenheitsbewältigung« in Bezug auf die Verbrechen der NationalsozialistInnen geläufig. Es liegt nahe, das Handeln Blüms als eine Art Wiedergutmachung zu deuten; er selbst erläutert, es handele sich um ein »großes Versagen« (ebd.). Ob sich das Versagen auf das Verhalten der angeblich unwissenden Deutschen oder sein eigenes Nicht-Handeln bezieht, für das ein Kind selbstverständlich keine Schuld trägt, bleibt jedoch unklar. Nicht nur die deportierte Nachbarin ist Leidtragende der Geschichte, auch er stilisiert sich über die konkrete Erfahrung in gewisser Hinsicht zum Opfer, aufgrund dessen er sich zum Handeln gezwungen sieht. Während es ihm als Kind im Nationalsozialismus nicht möglich war, in die Situation einzugreifen, setzt er sich heute vermeintlich entschädigend gegen Qual und Verfolgung in Israel ein, um »unsere Vergangenheit [zu] bewältigen«. Eine Forderung nach fortlaufenden oder erhöhten Entschädigungszahlungen an jüdische Opfer, worin sich Verantwortung eher ausdrücken könnte, äußert er jedoch nicht. Die Umkehr von Opfern zu Tätern bezeugt nicht nur seinen Wunsch nach Entlastung der (eigenen) schamvollen Vergangenheit, sondern relativiert über das Leidklagen des Versagens das Leid der deportierten und ermordeten Jüdinnen und Juden. Gelesen als Antwort auf die Frage Maischbergers, kann die Geschichte als Rechtfertigung für seine vergangenen antisemitistischen Äußerungen verstanden werden, vorrangig aber legitimiert er über die Verbrechen des Nationalsozialismus seine sogenannte Israelkritik. Über diese Form der Argumentation schrieb der Publizist Hendryk M. Broder bereits 1986: »In jedem Satz, der mit ‚Gerade wir als Deutsche…‘ anfängt, steckt eine Ambivalenz, die ihn bis zur Absurdität entwertet. Der ständige Entlastungswunsch, die endlose Nachfrage nach dem ‚schuldigen Juden‘ als Ausgleich zu den beklagten ‚unschuldigen Opfern‘ […], ‚das 98
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entsetzliche Bedürfnis, die Verbrechen der israelischen Regierung für die Annullierung der historischen Schuld der Deutschen mißbrauchen zu wollen‘ (Claussen), all das führt geradewegs ins Zentrum des ‚deutschen Problems‘ […].« (Broder 1986: 130f.) Die Art von Wiedergutmachung, von der Blüm spricht – »Wie kann ich das wettmachen […]?« (Blüm zit. n. Rokahr 2018: 122) –, könnte hier als Wunsch nach »Wiedergutwerdung der Deutschen« (Geisel 1984: 9) verstanden werden. Über die Geschichte der deportierten Nachbarin wird in der Talkshow nicht mehr gesprochen, sie verbleibt als Instrumentalisierung zur Legitimierung und Rechtfertigung gegen den jüdischen Staat. »Aber ich bin doch Antisemit.« – Überschreitung des Sagbarkeitsfelds Das deutlichste Zeugnis von Antisemitismus stellt sich der ehemalige CDU-Politiker jedoch selbst aus, wenn er aus heiterem Himmel, etwas trotzig und kleinlaut erklärt: »Aber ich bin doch Antisemit.« (Blüm zit. n. Rokahr 2018: 123). Der Ausspruch erfolgt kurz nach seiner Beteuerung, für das Existenzrecht Israels einzustehen, er sich aber nicht verbieten lasse, Israel zu kritisieren. Auch behauptet er nur kurz zuvor, wer heute noch AntisemitIn sei, litte unter »Gedächtnisschwund« (Blüm zit. n. Rokahr 2018: 122). Blüms Selbstoffenbarung, die die Grenzen des Sagbaren überschreitet, geht im hitzigen Stimmenabschlag der Diskussion unter, wird nicht wahrgenommen oder absichtlich ignoriert. Schon in ihrer sozialwissenschaftlichen Analyse des medialen Diskurses des Falls Jakob Augstein wiesen Lukas Betzler und Manuel Glittenberg (2015) auf diese Form der Überschreitung durch die Journalisten Stephan Reinecke und Harald Martenstein hin. Beide hatten sich in provokativer Absicht und mit einem ironischen Unterton selbst als Antisemiten bezeichnet: Reinecke in der Kommentar-Überschrift »Wir Antisemiten«, Martenstein in seinem Artikel im Tagesspiegel »Ich will auch auf die Antisemiten-Liste!« (zit. n. Betzler/Glittenberg 2015: 207). Diese Form der Selbstpositionierung ist ein qualitativ neues Phänomen im medialen Diskurs, sie geht über die gängige Umkehr-Strategie hinaus, denn die Sprecher verstehen sich, trotz ihres Bekenntnisses, als Gegner des Antisemitismus. Wo hingegen die beiden Autoren Solidarität mit Augstein nach der Logik »Ist Augstein Antisemit, bin ich es auch!« (ebd.: 208) äußern, fehlt eine derartige Erklärung bei Blüm. Dieser wehrt den Vorwurf des Antisemitismus ab, fordert sogar für sich ein Verbot des Vorwurfs, bedient sich aber 99
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dennoch salopp-ironisch der Selbstbezeichnung. Auch wenn selbstverständlich ein Unterschied zwischen (selbst-)ironischem und offenem Bekenntnis zum Antisemitismus liegt, sind derartige Aussagen äußert problematisch. Denn hier wird der Begriff des Antisemitismus selbst provokant als Mittel zur Abwehr des Antisemitismusvorwurfs genutzt und der Problematik damit ihre Ernsthaftigkeit entzogen. Leidenschaftlicher Humanist und konformistischer Rebell Die vorgestellten Beispiele sollen nun im Sinne einer »Wendung aufs Subjekt« (Adorno 1971: 90) mittels sozialpsychologischer Erklärungen kontextualisiert und erörtert werden. Summa summarum findet sich hier das Phänomen der »Judenfeindschaft als Missionarsdrang« sowie die Strategie des »Humanisten« wieder. Beide zielen darauf ab, sich durch die Darstellung von guten Taten zu erhöhen und die eigenen Argumente zu legitimieren, indem sie diese unter anderem durch Emotionalisierung als besonders moralisch und menschlich hervorheben (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 323; 327).4 Diese Legitimierungsstrategien finden sich in Blüms Bekundungen »natürlich helfe ich denen [den Menschen in Gaza; Anm. d. Verf.]« (zit. n. Rokahr 2018: 130) und der Erklärung, »an einer Welt mit[zu]arbeite[n], in der nie mehr Menschen gequält werden« (ebd.: 122). Insbesondere ist hier an das Beispiel zu denken, in dem Blüm sein leidenschaftliches Engagement für Menschenrechte über die Geschichte des Nationalsozialismus begründet. Wie dargestellt, zeugt dieses von einem spezifisch deutschen Entlastungsantisemitismus, in dem im besonderen Maße auch Gefühle – das »große Versagen« (Blüm zit. n. Rokahr 2018: 122) – eine wesentliche Rolle spielen. Ein ähnliches Muster zeigt sich auch in dem folgenden Auszug aus einem Reisebericht in die palästinensischen Gebiete, den Blüm gleich zu Beginn als Beleg seiner Expertise vorträgt:
4 Diese zeigen sich auch bei Verleger, der die Meinung einer Mitarbeiterin von Brot für die Welt affirmiert, die im Film interviewt wird: eine »ganz große Belastung« und ein »moralische[s] Problem« für die Deutschen sei die Ambivalenz zwischen der Verantwortung für die Verbrechen der NationalsozialistInnen und dem Handeln der »Israelis«, die nun angeblich »Ähnliches« (Verleger zit. n. Rokahr 2018: 109f.) täten.
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»Ich bin […] im Krankenwagen durch Palästina. Wie dieser Krankenwagen behandelt wurde. Mit Terrorismusbekämpfung hat das überhaupt nichts zu tun. Es war reine Demütigung der Palästinenser, Kontrollen, bisschen vor, bisschen zurück. Ein israelischer Soldat sagt mir: ‚Herr Blüm, was machen Sie hier?‘ Ich sage: ‚Was machen Sie hier?‘ Das war ein junger Mann aus Stuttgart, der seinen Wehrdienst da machte. Ich sach': ‚Komm mal mit mir hinter ‘n Wagen.‘ Ich sach': ‚Schämst du dich nich'?‘ Doch sagt er, ich schäm' mich.« (Blüm zit. n. ebd.: 122) Blüms Beiträge erlangen besondere Intensität, indem er Bilder und Gefühlswelten heraufbeschwört, in denen es um vermeintliches Fehlverhalten gegenüber PalästinenserInnen durch israelische SoldatInnen geht. Die Betonung von Leid oder Ohnmacht kann als Anhaltspunkt für die eigene innere Erregung des Sprechers und seine Abwehr eigener Schuld- und Schamgefühle angesehen werden (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 269f.). Diese werden kollektiv auf israelische SoldatInnen projiziert und ihr Verhalten in ein schlechtes Licht gerückt. Dies kommt einer Dämonisierung gleich, denn suggeriert wird ein schandhaftes Verhalten des jüdischen Staates, für das sich der Soldat gegenüber Blüm verantworten soll. Thomas Haury beschreibt ein ähnliches Phänomen mit Blick auf linken Antizionismus: »In der Konsequenz solcher Projektionen liegt nicht nur die Entlastung der Deutschen durch Belastung der Juden: Erklärt man die Juden/Israelis zu den Nazis von heute und die Palästinenser zu den ‚Juden der Juden‘, ist dies eine Aufforderung, mit bestem linkem Gewissen […] gegen den Staat der Juden die deutsche Vergangenheit zu bekämpfen.« (Haury 2004: 156) Bemerkenswert ist auch die mitunter implizite Häufung von religiösen Bezügen in Blüms Beiträgen. So kann etwa die Frage »Schämst du dich nicht?« die Assoziation an einen Priester hervorrufen, der Buße einfordert. Dieses Bild wird auch mit folgender Aussage gestützt: »Ich spreche doch die Palästinenser nicht heilig, natürlich gibt es Terrorismus, aber […].« (zit. n. Rokahr 2018: 112f.) Gemeinhin wird Religion eine besondere moralische Qualität zugebilligt, ob diese nun bestehen mag oder nicht. Blüms religiöse Bezüge fügen sich mit seinen Vorwürfen und moralischen Appellen daher gut an das Phänomen des »Missionarsdrangs« sowie die Strategie des »Humanisten«. Eine weitere Auffälligkeit ist die Ambivalenz der Abwehr, die sich zwischen defensiver Verteidigung –»Ich wehre mich« – und offensiver Recht101
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fertigung –»das verbiet' ich mir […] mit dieser Keule« (Blüm zit. n. Rokahr 2018: 122) – bewegt. Die emotionale Wehrhaftigkeit gegenüber des Antisemitismus-Vorwurfs, der Sprung von Themen und die gleichzeitige Offenbarung von ironischen Bekenntnissen (»Aber ich bin doch Antisemit.«), zeugen von einer irrationalen Denkweise, die dem Antisemitismus eigen ist. Wie der Soziologe Detlev Claussen aufzeigt, besteht eine der ambivalenten Freuden antisemitisch Argumentierender genau in diesem Absurdum, nämlich als AntisemitIn »beschimpft« werden zu wollen (vgl. Claussen 2005: XIV). Dieser implizite Wunsch beinhaltet eine ersehnte Sanktionsdrohung, die nur im Zusammenhang mit der Phantasie eines »Kritiktabus« verständlich wird. Die Lust am Tabubruch, im Sinne einer Auflehnung gegen die Norm, ist schließlich auch zurückzuführen auf ein Motiv des »altbekannten Antisemitismus« (ebd.), der von den »Freuden einer konformistischen Rebellion« (ebd.) lebt. Die Freude, beziehungsweise der Lustgewinn, am Überschreiten anerkannt-normativer Grenzen ist von dem Psychoanalytiker Otto Fenichel als ein wesentlicher »Zweck« des Antisemitismus hervorgehoben worden. Dieser stellte heraus, dass sich gerade im Antisemitismus die Lust zur Aufruhr gegen die Obrigkeit sowie nach einer gegen sich selbst gerichteten Bestrafung zeigt: »Der Antisemitismus ist in der Tat eine Verdichtung der widersprüchlichsten Bestrebungen: eines Aufruhrs der Triebe gegen die Obrigkeit sowie einer gegen das eigene Selbst gerichteten, grausamen Unterdrückung und Bestrafung für diese Rebellion. Im Unbewussten der Antisemiten verkörpern die Juden gleichzeitig das, wogegen sie gern rebellieren möchten, und die rebellische Tendenz in ihnen selbst.« (Fenichel 1993: 45) Mit seinen »ja, aber«-Argumentationen zeigt sich Blüm als konformer Aufrührer, zum Beispiel wenn er trotzig erklärt »Ja, aber […] wenn ich Israel kritisiere« (Blüm zit. n. Rokahr 2018: 122). Auch die Instrumentalisierung der Deportationsgeschichte, über die er das Engagement für Menschenrechte in Israel zu seiner Pflicht erklärt, zeugt davon. Einerseits inszeniert er sich als Leidtragender des Vorwurfs, andererseits als Rebell, der sich als legitimer »Kritiker« gegen das Leid auf der Welt einzusetzen hat (vgl. Claussen 2005: XIV; Fenichel 1993: 38).
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Israelkritik als Ticketmentalität Sowohl die Theorie als auch die vorliegende empirische Analyse – insbesondere die Beispiele des von Blüm eingeforderten Verbots eines Antisemitismus-Vorwurfes sowie der zwanghafte Rekurs auf Israel oder den Nahen Osten – bestätigen eines der elementaren Probleme einer Kritik an antisemitischen SprecherInnen: die Unfähigkeit zur Reflexion. Kritik baut auf Lernfähigkeit auf, für die Selbstreflexion der eigenen Position und objektive Distanz grundlegend sind. Antisemitisches Denken folgt jedoch keiner Rationalität und ist nicht kritikfähig. Es schließt die Erfahrung des Einzelnen aus und richtet sich maßgeblich nach seinem Interesse, durch »falsche Projektion« das antisemitische Ressentiment verbalisieren zu können (vgl. Salzborn 2018: 198ff.). Die Übertragung der eigenen, verdrängten Boshaftigkeit auf andere gehört bei AntisemitInnen zur Normalität. Grundlegend für diese Denkweise ist ein manichäisches Weltbild, die simple Einteilung in Gut und Böse. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Realität wird umgangen (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 114). Wie die vorgestellte Analyse aufzeigt, handelt es sich bei bei antisemitischer »Israelkritik« daher keineswegs um einen »neuen Antisemitismus«, sondern »lediglich« um eine Transformation. Die »[a]ntijüdische Aggression« wird zu einer »scheinbar individuellen Meinung, über die sich demokratisch diskutieren läßt«, ob etwas antisemitisch ist oder nicht (vgl. Claussen 2005: IX). Der bereits institutionalisierte Tabubruch der Israelkritik kann letztlich als »triviales Erbe der Aufklärung« (Claussen 2005: XI) verstanden werden. Claussen erinnert dazu an den Berliner Antisemitismusstreit von 1879, der nicht durch die Erfindung einer neuen Sache, sondern der eines Wortes charakterisiert war. Er trug maßgeblich dazu bei, die so genannte Judenfrage wieder in die Öffentlichkeit zu tragen. Antisemitismus wurde zur »apologetischen Selbstcharakteristik«, mit der sich die Aggression gegen Jüdinnen und Juden als »tabubrechende freie Meinungsäußerung« (ebd.) vermeintlich wissenschaftlich rechtfertigen ließ. Diese Entwicklung lässt Parallelen zur Etablierung des Begriffs der Israelkritik erkennen. Sogenannte Israelkritik verfolgt zumeist keine wahrhafte Kritik an Israel, sondern wird maßgeblich als Verbalisierungsstrategie zur Relativierung oder Ausübung von Antisemitismus genutzt und kann somit als Ticket beschrieben werde. Auch in der hier untersuchten Diskussion findet sich die der kulturindustriellen Ticket-Mentalität charakteristische Halbbildung wieder, die durch unscharfe und diffuse Phrasen gekennzeichnet ist (vgl. Salzborn 2010: 119). Besonders die Monologe und auszugsweise wiedergegebenen Abenteuergeschichten zeugen davon. Sie zeichnet sich entgegen 103
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rationaler Darstellungen einerseits durch Faktenresistenz, andererseits durch ihren selbst als positiv befundenen »Meinungscharakter« (ebd.) aus. Als verdinglichte Wahrnehmung richtet sich letzterer an »Austauschbarkeit, Beliebigkeit und Willkür« (ebd.) aus und ist unfähig, sich dem Gegenüber mit Interesse und Empathie zu widmen (vgl. ebd.). Dem subjektiven Interesse nach wird Israel Zielfläche der Umweg-Projektion und Israelkritik im Sinn der Ticketmentalität Mittel zum »Zweck« der Judenfeindschaft (vgl. Adorno 2001: 243ff). Resümee In den Rechtfertigungsversuchen sowohl von Blüm als auch von Verleger und Pörzgen, zeigt sich, was die Antisemitismusforschung bestätigt: Dass gegenwärtig über Israelkritik beziehungsweise Antizionismus mittels scheinrationaler Argumente judenfeindliche Stereotype auf Israel projiziert, mit sozial akzeptierten Werten verbalisiert und verbreitet werden (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 219). Die Botschaft am Ende der Talkshow von Maischberger – »man muss sich begegnen« (zit. n. Rokahr 2018: 143) – zeugt letztlich von einer Ignoranz gegenüber der Problematik des (israelbezogenen) Antisemitismus. In der Annahme, man müsse Jüdinnen und Juden nur kennenlernen, um Antisemitismus abzubauen, wird die Phantasie bestätigt, der Grund für Antisemitismus läge eigentlich bei diesen. Dem ist mit den dargestellten Ausführungen zu der Funktion von Projektion und Wahn zu widersprechen. Bereits Jean-Paul Sartre zeigte auf: »[E]xistierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden« (Sartre 1994: 12). Eine eindeutige Absage an den in der Sendung vorgetragen Verbal-Antisemitismus und die antisemitische Israelkritik bleibt unter anderem aufgrund des falschen Selbstbildes und fehlender Selbstreflexion aus. Auf das Schärfste zu widersprechen ist außerdem der Forderung nach »widerstreitenden Positionen« (Schönenborn zit. n. Rokahr 2018: 105) in Bezug auf israelbezogenen Antisemitismus. Denn für dessen Verbreitung spielt es keine Rolle, ob eine konkrete Motivation zugrunde liegt. Auch »KritikerInnen« Israels, die sich von Antisemitismus abgrenzen und dennoch antisemitische Stereotype und Chiffren bedienen, gilt es ihren Antisemitismus vorzuhalten. Anstatt sich der Illusion hinzugeben, dem Antisemitismus durch Gegenargumente oder der Forderung nach Toleranz beikommen zu können, muss der Ausgangspunkt bei der Thematisierung von Antisemitismus dessen Kritik und Bekämpfung sein.
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Die Echo-Debatte: Antisemitismus im Rap Jakob Baier
»Antisemitische Provokationen haben keine Preise verdient«, erklärte Bundesaußenminister Heiko Maas am 13. April 2018 via Twitter und kritisierte damit die am Vorabend stattgefundene Verleihung des Musikpreises ECHO 2018 an die Gangsta-Rapper Kollegah und Farid Bang. Stein des Anstoßes war die Textzeile »Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen« von Farid Bang aus dem gemeinsamen Lied »0815«, einer Single ihres Albums »Jung, brutal, gutaussehend 3«, des erfolgreichsten deutschsprachigen Rap-Albums des Jahres 2018 (vgl. Gesellschaft für Konsumforschung 2018). Bereits im Vorfeld der Preisverleihung hatte sich eine breite öffentliche Debatte über die Frage entsponnen, ob eine Auszeichnung der beiden Künstler angesichts jener Textzeile überhaupt legitim sei; selbst internationale Medien berichteten über den Skandal (vgl. Curry/Eddy 2018). Die Verantwortlichen des Musikpreises verliehen Kollegah und Farid Bang zwar zunächst den ECHO, schafften diesen aber bereits wenige Tage später in Gänze ab. Zu groß war der Imageschaden des Preises, nachdem selbst der als Ethikkommission fungierende ECHO-Beirat die Würdigung zweier Gangsta-Rapper nicht hatte verhindern wollen, die in ihren musikalischen Gewaltfantasien die Opfer der Shoah verächtlich machen. Aus der vielstimmigen ECHO-Debatte, in der sich neben zahlreichen Kulturschaffenden auch hochrangige Politiker_innen zu Wort meldeten, lassen sich zwei grundlegende Aussagen über den deutschsprachigen Rap der Gegenwart ableiten. Zum einen spiegeln Ausmaß und Reichweite der Debatte den gegenwärtig hohen Stellenwert des deutschsprachigen Rap in Populärkultur und Massenmedien wider: Mit dem Einzug dieses Genres in den Mainstream sind zuvor lediglich subkulturell verhandelte Themen ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt (vgl. Dietrich 2016: 14). Zum anderen sensibilisierte die ECHO-Debatte zuvor desinteressierte oder uninformierte Teile der Bevölkerung für ein Phänomen, das sich nicht erst seit dem April 2018, sondern bereits seit einigen Jahren auf vielfältige Weise im deutschsprachigen Rap artikuliert: Antisemitismus. Waren es in den Jahren zuvor vor allem Künstler wie Haftbefehl, Celo&Abdi oder Bushido, deren Textzeilen, Musikvideos oder öffentliche Stellungnahmen zu Berichten über Antisemitismus im Rap führten (vgl.
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Harbaum 2012, vgl. Das Gupta 2013), rückte 2017 erstmals auch Kollegah in den Fokus der Debatte, nachdem jüdische Organisationen erfolgreich gegen seinen geplanten Auftritt beim Hessentag protestiert hatten (vgl. Neumann 2017). In ihrer Kritik bezogen sich die Kommentator_innen dabei unter anderem auf seinen Dokumentarfilm »Kollegah in Palästina« (2016), dem sie eine zumindest stark antiisraelische, wenn nicht gar antisemitische Stoßrichtung attestierten (vgl. Nowotny 2017). Andere Musikvideos von Kollegah, die in unterschiedlicher Deutlichkeit antisemitische Verschwörungserzählungen bedienen, fanden in der kritischen Berichterstattung indes kaum Beachtung. Gefragt werden muss daher, warum erst die ECHO-Debatte ein so grelles Schlaglicht auf ein Phänomen warf, das schon seit etwa zehn Jahren in der größten und bedeutsamsten Jugendkultur virulent ist (vgl. Gossmann 2016: 115). Warum geriet die bereits seit Jahren fortschreitende antisemitische Selbstinszenierung von Kollegah in der ECHO-Debatte nur punktuell und oberflächlich in den Blick? Was verrät die sowohl inhaltliche, als auch zeitliche Begrenztheit der Debatte über den Umgang mit dem Antisemitismus in der Populärkultur im Allgemeinen und im deutschsprachigen Rap im Besonderen? Zur Beantwortung dieser Fragen lohnt nicht nur ein Blick auf die Vorgeschichte der ECHODebatte, sondern auch auf die verschiedenen Facetten der Selbstinszenierung, an der Kollegah seit mehreren Jahren mittels verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen und medialer Kanäle arbeitet. Am Beispiel seiner Lieder, Musikvideos und öffentlichen Stellungnahmen lässt sich besonders eindrücklich aufzeigen, mit welchen Mitteln antisemitische Ideologiefragmente in die genretypischen Erzählfiguren des zeitgenössischen GangstaRap eingewoben werden. Antisemitismus im deutschsprachigen Rap – eine historische Einordnung Als Teil der Hip-Hop-Kultur entstand Rap Mitte der 1970er Jahre in den USA (vgl. Wolbring 2015: 17), wo vorwiegend sozial benachteiligte und ausgegrenzte Jugendliche in amerikanischen Großstädten neben neuen Kulturpraktiken wie dem Graffiti-Writing, Breakdancing und DJ-ing auch das Rappen als kreative Ausdrucksform entwickelten (vgl. Grossmann/ Seeliger 2013). Heute, etwa vierzig Jahre später, lässt sich Rap, der als zentrale Kulturpraxis in die Hip-Hop-Kultur eingebunden ist,1 längst nicht
1 Zur Verwendung der Termini Rap und Hip-Hop in den Hip-Hop-Studies vgl. Wolbring 2015: 27.
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mehr allein unter dem Begriff Subkultur fassen.2 Seit den neunziger Jahren ist er auch in Deutschland zu einem bedeutenden und omnipräsenten Teil der Pop- und Jugendkultur avanciert und gliedert sich heute in verschiedenen Subgengres, von denen der Gangsta-Rap das dominanteste ist (vgl. Straub 2012: 11). Nachdem vor allem Wortspiele, Spaßtexte oder Plädoyers für gesellschaftliche Toleranz den kommerziell erfolgreichen Rap der 1990er Jahre gekennzeichnet hatten, bildete sich Ende der 1990er Jahre eine subkulturelle Gegenbewegung heraus, die sich vor allem an Battle-Rap-Semantiken ihrer amerikanischen Vorbilder orientierte und bald durch auffallend sexistische und gewaltglorifizierende Inhalte szeneübergreifende Aufmerksamkeit erlangte (vgl. Wollbring 2015: 22f.). In der für den Battle-Rap charakteristischen kompetitiven Selbstprofilierung durch Abwertung eines realen oder imaginierten Gegners bedienten sich Battle-Rapper bereits Ende der 1990er Jahre vereinzelt Metaphern, die u. a. historische Bezüge zum Nationalsozialismus beinhalteten (vgl. Loh/Güngor 2002: 296f.). So bezeichnete sich der damals noch wenig bekannte Berliner Battle-Rapper Kool Savas in verschiedenen Liedern metaphorisch als Nachkomme Adolf Hitlers (vgl. Westberlin Maskulin 1997; vgl. Fumanshu, Contra, Fuat, Kool Savas & SMC 1998).3 Über die Battle-Rap-Topoi hinaus thematisierten Rapper wie Charnell, Azad, Kool Savas und kurze Zeit später auch Rapper wie Sido oder Bushido in ihren Liedern soziale Brennpunkte in Großstädten als eigene Lebenswelt, übernahmen dabei die aus dem amerikanischen Gangsta-Rap kommende Ghettoästhetik und wirkten so nachhaltig an der Entstehung des deutschsprachigen Straßen- bzw. Gangsta-Rap mit (vgl. Wollbring 2015: 24; vgl. Lütten/Seeliger 2017: 91–92). Die Genreübergänge zwischen Battle-Rap, in dem sich die Akteure mittels einer mitunter aggressiven und abwertenden Rhetorik duellieren, und Straßen- oder Gangsta-Rap, dessen zentrales Inszenierungsnarrativ der eigene Selbstbehauptungskampf als Gangster in einer feindlich gesinnten Umgebung bildet (vgl. Dietrich/ Seeliger 2012: 23), verlaufen oftmals fließend. So zeigen sich auch heute in verschiedenen Gangsta-Rap-Liedern Erzählfiguren, Stilmittel und Topoi,
2 Zur sozial- und kulturwissenschaftlichen Einordnung von Rap als (Sub-)Kultur vgl. Dietrich 2016: 9 ff. 3 Anspielungen auf Hitler finden sich nicht nur im deutschsprachigen Battle-Rap, sondern tauchen zur selben Zeit auch in Liedern des US-Battle-Rap auf, wie beispielsweise im Lied »God made Dirt« von AG feat. Ghetto Dwellas: »Lyrically I’m Black Hitler / Known to squeeze gats quicker« (AG/Ghetto Dwellas 2001).
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die allen drei Subgenres zugeordnet werden können (vgl. Wolbring 2015: 25). Seit etwa zehn Jahren finden sich im Gangsta-Rap, dessen Entstehungsund Entwicklungsgeschichte mit globalpolitischen Veränderungen seit dem 11. September 2001 korreliert, immer häufiger Bezugnahmen auf Verschwörungserzählungen (vgl. Noisey 2016). Der genrespezifischen Verhandlung von gesellschaftlichen Umbruchs- und Krisenerscheinungen liegt dabei häufig ein manichäisches Weltbild zugrunde, das eine irreversible Entgegensetzung von Gut und Böse impliziert. Dabei deuten einige der bekanntesten Vertreter des Gangsta-Rap in ihren Liedern, Musikvideos und Statements komplexe gesellschaftliche Prozesse und Herrschaftsverhältnisse antisemitisch. So findet sich in verschiedenen Liedern, Musikvideos und Statements der Rekurs auf den historisch tradierten antisemitischen Rothschild-Mythos, der als Projektionsfläche für eine angebliche jüdische Allmacht im internationalen Finanzhandel fungiert (vgl. Celo/ Abdi/B-Lash 2014; vgl. Haftbefehl/Olexesh 2015; vgl. Kollegah 2016b; Ufo361 2018). Darüber hinaus firmieren in der simplifizierenden und auf einem dichotomen Gut-Böse-Schema basierenden Weltdeutung häufig der jüdische Staat Israel, seine realen oder imaginierten Vertreter_innen als feindselige Akteure.4 Indem sich einige der bekanntesten deutschsprachigen Gangsta-Rapper in ihrer israelfeindlichen Inszenierung und öffentlichkeitswirksamen Parteinahme für die palästinensische Sache entweder offen antisemitisch positionieren, beispielsweise durch die Glorifizierung des Terrorismus gegen Israel (vgl. Haftbefehl 2015; vgl. Sinan-G/Massiv 2015; vgl. Fard/Snaga 2014), oder eine kontrafaktische Darstellung einer komplexen Konflikthistorie propagieren (vgl. Ali Bumaye 2016), tragen sie zur Mobilisierung antiisraelisch-antisemitischer Affekte bei. Dabei sticht Kollegah mit seiner verschwörungsideologisch-antisemitischen Inszenierung deutlich hervor.
4 So suggerierte der Gangsta-Rapper Massiv in einer Stellungnahme auf Facebook, Israel sei in die Anschläge des 11. Septembers 2001 involviert (vgl. Noisey 2016). Die Rapper Bushido und Shindy zeigen in ihrem Musikvideo »CLA$$IC« (2015) Videoaufnahmen des brennenden World Trade Center sowie von den Attentätern der Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris, gefolgt von einer Bilderreihe, die neben dem israelischen Ministerpräsidenten Benyamin Netanyahu auch Adolf Hitler und den Auschwitz-Arzt Joseph Mengele zeigt (vgl. Bushido/ Shindy 2015). Durch die ikonographische Einbindung Netanyahus als Repräsentanten weltlichen Unheils erfolgt eine visuelle Parallelisierung des israelischen Politikers mit Figuren und Ereignissen, die in unterschiedlichen (zeit)historischen Kontexten mit antisemitischen Vernichtungsaggressionen assoziiert werden.
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Kollegahs Antisemitismus als genrespezifische Inszenierung In Liedtexten, Musikvideos und Interviews von Kollegah lassen sich zahlreiche Referenzen auf religiöse und verschwörungsideologische Mythen finden, welche die Frage nach seiner weltanschaulichen Sozialisation aufwerfen. Nach eigener Aussage kam Felix Blume alias Kollegah als Jugendlicher durch seinen algerischen Stiefvater erstmals mit dem Islam in Kontakt, konvertierte im Alter von 15 Jahren und bezeichnet sich heute als praktizierenden Muslim (vgl. Kollegah 2014a). Blume, der neben seiner Rap-Karriere zeitweise Jura studierte, fungierte nach Aussage des islamistischen Autors Harun Yahya alias Adnan Oktar als Übersetzer von dessen Buch Tod – Auferstehung – Hölle aus dem Englischen ins Deutsche (vgl. Yahya 2013). Über Yahya berichtete der Verfassungsschutz des Landes BadenWürttemberg im Jahr 2003 u. a. aufgrund seines offen propagierten Antisemitismus.5 Yahyas politisch-religiöse Agenda wird darüber hinaus von den Autor_innen des Verfassungsschutzberichtes als antisäkular, antiaufklärerisch, verschwörungsideologisch und kreationistisch beschrieben (vgl. Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2003: 76). Insbesondere die von Yahya propagierte verschwörungsideologische Bezugnahme auf mächtige Geheimgesellschaften (vgl. Kollegah 2013), die Kritik an der Erosion gesellschaftlicher Moralvorstellungen durch den Materialismus (vgl. Kollegah 2014), die buchstabengetreue Auslegung des Koran (vgl. Kollegah 2014a) und der Glaube an kreationistische Ideen (vgl. Kollegah 2014b) finden sich in öffentlichen Aussagen Kollegahs wieder. Zwar nutzt Kollegah seit Beginn seiner Karriere hauptsächlich die genretypischen Semantiken des Gangsta-Rap – die überzeichnete Darstellung der Lebenswelt eines Gangsters, eine körperbetonte maskuline Selbstinszenierung und das Zeigen von Luxus-Insignien als Ausweis ökonomischen Erfolgs (vgl. Schröer 2012: 68) –, seit 2013 artikuliert er in seinen Liedern, Musikvideos, Interviews und Statements in den sozialen Medien (vgl. Kollegah 2013; vgl. ebd. 2016b; ebd. 2019a; vgl. ebd. 2019b) aber verstärkt auch eine spezifische Lesart globaler Herrschaftsverhältnisse, die vermeintlich der Kontrolle einer kleinen, aber umso einflussreicheren Gruppe unterstehen. In seiner verschwörungsideologischen Interpretation globaler 5 In seinem Text »Die Holocaust-Lüge« (Veröffentlichungsjahr unklar, laut Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg bis Oktober 2000 online verfügbar) leugnete Yahya die Ermordung von Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus und bezeichnete die Shoah als erfundenen zionistischen Komplott zur jüdischen Besiedlung Palästinas (vgl. Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2003: 76–77).
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Machtverhältnisse stellt Kollegah einer »mächtigen Minderheit« (ebd. 2013) eine vage definierte Solidargemeinschaft gegenüber, die kulturell kontaminiert und in ihrem sozialen Gefüge systematisch unterwandert werde. Nach dieser verschwörungsideologischen Prämisse erfolgt die Durchsetzung des politischen Projekts einer einflussreichen Kleingruppe stets zum Nachteil beziehungsweise zum Schaden der darunter leidenden Großgruppe (vgl. Heil 2006: 22). In den letzten Jahren ist jene fragmentarische Bezugnahme auf antisemitische Erzählungen und Mythen zu einem wiederkehrenden Motiv in Kollegahs Musik und in seinen öffentlichen Stellungnahmen geworden. Seine zuvor bereits martialische, misogyne, sexistische und homophobe Gesamtinszenierung (vgl. Salzborn 2018a) wurde somit zunehmend um antisemitische Positionierungen erweitert. Am deutlichsten wurde dies Ende 2016, als Kollegah wenige Wochen vor Erscheinen seines Albums »Imperator« (2016) mehrere Musikvideos veröffentlichte, die antisemitische Deutungsangebote liefern. Das Musikvideo »Apokalypse« (2016) sticht durch die darin vermittelten antisemitischen Codes, Mythen und Interpretationsangebote besonders hervor. Die religiös-mythologisch aufgeladene Darstellung einer jüdischen Weltverschwörung mündet am Ende des fast 14-minütigen Videos in eine antisemitische Erlösungsfantasie: Erst nachdem eine dunkle und destruktive Macht besiegt und vernichtet wird, die in »Apokalpyse« sowohl implizit als auch explizit mit dem Jüdischen verknüpft wird, kann gesellschaftlicher Frieden und Harmonie hergestellt werden (vgl. Kollegah 2016b). Nur einen Tag nach »Apokalypse« veröffentlichte Kollegah das Musikvideo »TelVision« (2016), in dem er gemeinsam mit KC Rebell, PA Sports und Kianush das verschwörungsideologische Phantasma einer angeblichen jüdischen Einflussmacht im Informations- und Mediensektor bedient (vgl. KC Rebell/PA Sports/Kollegah/Kianush 2016; vgl. Baier 2018); eine Woche später erschien sein Musikvideo »Hardcore« (2016), das Kollegah als selbsternannten »Diktator« (Kollegah 2016c) und Herrscher über Arbeitssklaven in einem Steinbruch präsentiert (vgl. ebd.). »Hardcore« erweist sich in Kollegahs Oeuvre als erste visuelle Umsetzung einer auf den Nationalsozialismus rekurrierenden Ästhetik und Metaphorik, die sich vereinzelt bereits in früheren seiner Liedtexte findet (vgl. Kollegah 2009) und auch in später veröffentlichten Liedern zum Ausdruck kommt (vgl. PA Sports/Kollegah 2017). Insbesondere die Gestaltung der übergroßen Banner und der Lederuniformen der Sklavenpeiniger_innen sowie die »Heil«-Rufe und -Gesten der Sklaven in Richtung des Diktators Kollegah rufen eindeutige Assoziationen zur faschistischen Symbolik und Ästhetik des Nationalsozialismus hervor (vgl. Kollegah 2016c). Im Rekurs auf die nazistische Symbolik er114
Die Echo-Debatte: Antisemitismus im Rap
folgt indes keinerlei ironische Brechung, aus der sich eine Distanzierung Kollegahs von der faschistoiden Ästhetik ableiten ließe. Vielmehr fügt sich das Kokettieren mit faschistischen Repräsentationen in die narzisstische Gesamtinszenierung Kollegahs ein.6 Nachdem Kollegah den Nahen Osten in seinem Video »Apokalypse« bereits zur überzeitlichen Kampfzone zwischen Gut und Böse stilisiert hatte, veröffentlichte er wenige Wochen später die Dokumentation »Kollegah in Palästina« (2016), die ihn auf eine Reise nach Ramallah im Westjordanland begleitet (vgl. Kollegah 2016). Darin präsentiert er den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern in einer undifferenzierten und tendenziösen Freund-Feind-Konstruktion: Kollegah zeigt vorwiegend die besonders schwachen Teile der palästinensischen Zivilbevölkerung, darunter Menschen mit Behinderungen, Alte und vor allem Kinder (vgl. Kollegah 2016: ab 0:35:08h, ab 0:31:00h, ab 0:58:50h), die sich einer »paranoiden« (Kollegah 2016a) israelisch-militärischen Aggression (vgl. Kollegah 2016: ab 0:03:10h, ab 0:43:43h) ausgesetzt sehen. Inmitten der hochkomplexen Konfliktsituation im Nahen Osten verzichtet Kollegah auf jegliche Kontextualisierung des Gezeigten. Indem die Gewalt gegen die palästinensische Zivilbevölkerung als dominantes Handlungsmerkmal des Staates Israel erscheint, dem palästinensische Zivilisten ausnehmend als dessen Opfer gegenübergestellt werden,7 erfolgt eine Dämonisierung Israels. Kollegah spricht sich im Film indes selbst vom Vorwurf des Antisemitismus frei und beklagt darüber hinaus ein vermeintliches Kritikverbot in Bezug auf Israel, das die deutsche Medienlandschaft kennzeichne (vgl. Kollegah 2016: ab 1:15:00 h).8 6 Zur Persistenz nazistischer Symbolik und Ästhetik in der Musik vgl. Jazo 2017: 63ff. 7 Besonders deutlich wird die Kontrastierung der absoluten Unschuld von Schwachen mit der dargestellten hochtechnologisierten, israelischen Grausamkeit (vgl. Kollegah 2016: 0:29:13h) in einer Szene, in der Kollegah vor einem Checkpoint auf einen minderjährigen Jugendlichen trifft, der ihm Raketenballons verkauft (ab 0:47:05h), beim Gespräch mit einem Beduinenjungen (ab 0:30:07h), beim Besuch einer Behinderteneinrichtung (ab 0:35:05h) oder beim Interview mit einem blinden palästinensischen Mann (vgl. Kollegah 2016: 0:59:30h). 8 Laut Benz (2002) sind unter dem »Vorwand der Israelkritik, die als befreiender Tabubruch dargestellt wird, [...] die Stereotypen der Judenfeindschaft in die öffentliche Auseinandersetzung zurückgekehrt« (Benz nach Salzborn 2014: 60). So wird vordergründig ein Recht eingefordert, welches zum einen niemals bestritten wurde und zum anderen durch die durchaus existierende kritische mediale Berichterstattung über Israel widerlegt wird. Damit trägt die Annahme, eine Kritik an Israel werde tabuisiert und könne daher nicht ohne weiteres offen geäußert werden, »Züge einer Wahnvorstellung im Angesicht der durchaus breiten Kritiken, Diskussio-
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Im Musikvideo »Fokus« (2016), das wiederum wenige Tage nach Erscheinen der Palästina-Dokumentation veröffentlicht wurde, knüpft Kollegah erneut an seine konspirationistische Selbstinszenierung an: Aufnahmen aus jener Dokumentation werden in »Fokus« mit verschwörungsideologischen Textzeilen unterlegt. Kollegah beschreibt darin einen im Hintergrund agierenden Machtzirkel, der die Verantwortung für alles Unheil in der Welt trage und von ihm vage als »sie« (Kollegah 2016d) oder mittels verschwörungsideologischer Codes wie »CFR«, »Bilderberger«, »New World Order« (ebd.) angedeutet wird.9 Durch eine visuelle Kontrastierung der Verschwörungserzählungen im Liedtext mit der Darstellung israelischer Grenzanlagen und einer leidenden palästinensischen Zivilbevölkerung liefert Kollegah Deutungsangebote, nach denen der jüdische Staat Israel mit jenen global agierenden destruktiven Kräften im Bunde steht (vgl. ebd). Nach der öffentlichen Kritik an »Kollegah in Palästina« sah sich der Künstler in seiner Annahme bestätigt, die deutsche Medienlandschaft wolle ihn aufgrund seines humanitären Einsatzes für die Menschen in Palästina »mundtot« (Kollegah 2017) machen. Auch die Proteste jüdischer Organisationen gegen sein letztlich abgesagtes Konzert auf dem Hessentag 2017 wertete Kollegah als Teil einer Kampagne gegen ihn, die er wiederum als unmittelbare Folge der Veröffentlichung seines Palästina-Films deutete (vgl. Kollegah 2017b). In einem vom Fernsehmoderator Jan Böhmermann initiierten Gespräch mit den jüdischen Publizist_innen Kat Kaufmann und Shahak Shapira präsentierte sich Kollegah als Opfer falscher Anschuldigungen (vgl. Kollegah 2017a: ab 22:20 min, ab 26:00 min) und bediente in seiner Argumentation zugleich antisemitische Ressentiments (vgl. ebd. ab 16:15 min), indem er Jüdinnen und Juden als Mitglieder eines homogenen identitären Kollektivs ausmachte und ihnen eine selbst zu verantwortende und überzogene Opferrolle als besonderes Wesensmerkmal zuwies (vgl. ebd). Nur zwei Tage später bezeichnete er das Treffen mit Kaufman und Shapira beiden auf seinem eigenen Youtube-Kanal abfällig als Gespräch »mit den paar Juden da« (Kollegah 2017). Die Bezugnahme auf die Shoah in seinem gemeinsam mit Farid Bang veröffentlichten Album »Jung, Brutal, Gutaussehend III«, die schließlich Auslöset für die ECHO-Debatte
nen, Karikaturen und teils antisemitisch grundierten Angriffe gegen Israel« (Rensmann 2004: 447). 9 Zur Rolle der Begrifflichkeiten CFR, Bilderberger und New World Order in verschwörungsideologischen Diskursen vgl. Kuzmick 2003: 123f.
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Die Echo-Debatte: Antisemitismus im Rap
war, bilden somit nur eine Facette der antisemitischen Gesamtinszenierung von Kollegah ab. Die Echo-Debatte Als Ausrichter der ECHO-Verleihung beauftragte der Vorstand des Bundesverbandes Musikindustrie e.V. (BVMI) Ende März 2018 den ECHO-Beirat,10 die Nominierung des Albums »JBG 3« von Kollegah und Farid Bang zu prüfen. Gemäß seiner Geschäfts- und Verfahrensordnung sollte der Beirat ermitteln, ob die Inhalte des Albums unter anderem »Menschen, die sterben oder schweren körperlichen oder seelischen Leiden ausgesetzt sind oder waren, in einer Menschenwürde verletzenden Weise verunglimpfen« (Bundesverband Musikindustrie e.V. 2013: 3), und ob somit »Anhaltspunkte für eine Unvereinbarkeit einer Nominierung und/oder Zuerkennung von Preisvergaben im Rahmen des Echo – Deutscher Musikpreis vorliegen können« (ebd.). Am 27. März 2018 berichtete Bild.de erstmals über den bevorstehenden Prüfvorgang und diskutierte darüber hinaus die Rolle des Antisemitismus im deutschsprachigen Rap (vgl. Ahlig 2018). Nach weiteren kritischen BILD-Artikeln (vgl. Ahlig/Berning 2018; vgl. Cremer 2018) griffen zunehmend auch andere Medienportale die ECHO-Nominierung von Kollegah und Farid Bang auf (vgl. Peşmen 2018; vgl. Libuda 2018; vgl. Spiegel Online 2018b).11 In die Debatte flossen dabei auch Inhalte der wenige Wochen zuvor veröffentlichten WDR-Fernsehdokumentation »Die dunkle Seite des deutschen Rap« (vgl. Funk 2018) ein, in der insbesondere der Antisemitismus in Kollegahs »Apokalypse« aus dem Jahr 2016 thematisiert wurde (vgl. Keßel 2018; vgl. Balzer/Lechler 2018; vgl. Weisbrod 2018, vgl. Buß 2018). Nachdem sich Farid Bang zunächst bei der Musikerin und AuschwitzÜberlebenden Esther Bejarano für das Auschwitz-Zitat entschuldigt und 10 Der ECHO-Beirat bestand zu diesem Zeitpunkt aus sieben Personen: zwei Vertretern des öffentlichen Lebens, einem Vertreter des Kulturrats, des Musikrats, der Lehrerschaft sowie jeweils einer_m Vertreter_in der katholischen und evangelischen Kirche (vgl. Bundesverband Musikindustrie e.V. 2018). 11 Die Nominierung erfolgt in den jeweiligen Kategorien nach Verkaufs- und Streamingzahlen. Davon ausgehend werden die fünf kommerziell erfolgreichsten Künstler_innen oder Bands des Jahres von der Gesellschaft für Konsumforschung (GFK) ermittelt. Über den Sieger entscheidet laut den Richtlinien des Echos zu 50 Prozent eine Fachjury, die aus Mitgliedern des Bundesverbands der Musikindustrie (BVMI), ehemaligen Preisträgern und Nominierten sowie weiteren Vertreter_innen der Branche besteht (vgl. Bundesverband Musikindustrie e.V. 2018a: 3).
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ihr eine Zusammenarbeit angeboten hatte (vgl. Farid Bang 2018), bezeichnete er die mediale Kritik einen Tag später jedoch als »Hetze« (Farid Bang 2018a), die darauf abziele, die »Massen zu manipulieren« (ebd.). Kollegah kommentierte die Absage Bejaranos bezüglich einer Zusammenarbeit mit Farid Bang wie folgt: »Schade für die KZ-Hinterbliebenen, Frau Bejarano! Wäre gut was an Spendengeldern für ihre [sic] Schicksalsgenossen zusammengekommen!« (Kollegah 2018d). Darüber hinaus präsentierte sich Kollegah in seinen eigenen Social-Media-Kanälen ebenfalls als Opfer einer Medienkampagne gegen ihn und Farid Bang, die er als Folge seiner PalästinaDokumentation bezeichnete.12 Insbesondere in seinen Videobotschaften auf YouTube und Instagram bediente er sich einer martialisch-militärischen Rhetorik (vgl. 2018e) und folgte konspirationistischen Diskursmustern, wonach allen voran Bild-Zeitung mittels einer unwahren Berichterstattung versuche, ein erfundenes Antisemitismusproblem in die »schöne Multikulti-Hiphop-Kultur« (Kollegah 2018c) hereinzutragen. Die Darstellung der drohenden Kontaminierung einer organischen und harmonischen Gemeinschaft von außen sowie die dabei verwendete militärische Metaphorik gilt laut Butter (2017) als ein Charakteristikum konspirationistischer Rhetorik: »Die Metaphorik für das Fortschreiten der Verschwörung ist über die Jahrhunderte hinweg ebenfalls konstant geblieben. Handelt es sich um eine Verschwörung von außen, dominiert zumeist militärische Sprache: Das Komplott wird als Invasion beschrieben.« (Butter 2017: 95) Seine Mobilisierungskampagne gegen BILD und RTL stilisierte Kollegah zum universellen Freiheitskampf der Erleuchteten (»Volk«) gegen die Verschwörer (»die Medien«) und verbreitete in diesem Zuge weitere Verschwörungserzählungen (vgl. Kollegah 2018d) sowie eine antisemitisch konnotierte Karikatur (vgl. Cremer 2018).13
12 Kollegah in einem Statement an seine Fans: »Ihr müsst eins und eins zusammenzählen: Wir haben unsere jüdischen Freunde eingeladen auf Lebenszeit auf Konzerte, wir haben uns dafür entschuldigt, falls es etwas verletzend rüberkam. Wir haben wirklich alles getan. Problem war nur: Ich war einmal in Palästina.« (ebd.). 13 So verbreitete er unter anderem folgenden Aufruf: »Volk erhebe die Stimme! […] Die Medien wollen uns zerstören und jeder einzelne von Euch wird indirekt als stumpfer Trottel dargestellt. Lassen wir uns das gefallen? NIEMALS! Erhebt eure Stimme und sagt eure Meinung auf den INSTAGRAM UNDFACEBOOKSEITEN (sic) von RTL und BILD (@rtlde @bild) mit dem Hashtag #jesuisjbg3!!! Schluss mit dem Brainwashing und der Hetze der heuchlerischen Medien! Die Volksverdummung betreibt IHR!« (Kollegah 2018b).
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Die Echo-Debatte: Antisemitismus im Rap
Am 6. März 2018 veröffentliche der BVMI eine Stellungnahme des ECHO-Beirats, in der dieser seine Beweggründe für die Zulassung zur Preisverleihung erläuterte. In Bezug auf die kritisierten Inhalte des Albums »JBG3« brachte Beiratssprecher Wolfgang Börnsen eine »deutliche Missbilligung gegenüber der Sprache und den getroffenen Aussagen« (Börnsen 2018) sowie die Sorge des Gremiums angesichts einer Zunahme von »Hass und Gewalt im gesamten medialen Umfeld« (ebd.) zum Ausdruck. Gleichwohl erklärte er, dass der ECHO-Beirat sich mehrheitlich gegen einen Ausschluss des Albums »JBG3« ausgesprochen habe und stattdessen eine gesamtgesellschaftliche Debatte über die Grenzen der Kunstfreiheit fordere (vgl. ebd.). Nachdem die Nominierung von Kollegah und Farid von den ECHO-Verantwortlichen somit bestätigt worden war, erhielten die beiden Künstler unter Berücksichtigung des Votums einer Fachjury eine Auszeichnung für ihr Album »JBG3« in der Kategorie »Hip-Hop/Urban National«.14 Die von großer öffentlicher Aufmerksamkeit begleitete Entgegennahme des Preises nutzten Kollegah und Farid Bang dazu, den Sänger Campino zu verspotten: Kurz vor dem Auftritt der beiden Rapper hatte der Sänger der Toten Hosen auf der ECHO-Bühne die misogynen, homophoben und antisemitischen Inhalte der Musik von Kollegah und Farid Bang und mithin auch die Preisvergabe an sie kritisiert (vgl. Feuerbach 2018). Zum Ende der Veranstaltung boten die ECHO-Verantwortlichen den beiden Künstlern ein weiteres Mal eine Bühne zu einer martialisch-männerbündischen Live-Darbietung ihres Lieds »All Eyez on us« (vgl. ebd.; vgl. Balzer/ Hahn 2018). Nachdem vereinzelte Musiker die Nominierung von Kollegah und Farid Bang bereits im Vorfeld der Preisverleihung kritisiert hatten (vgl. Heidemanns 2018), schlossen sich andere prominente Künstler dieser Kritik auch in der Folge des ECHO an (vgl. Tagesschau 2018). Die Reaktionen von Protagonisten der deutschsprachigen Rap-Szene waren hingegen gespalten: Während sich bekannte Vertreter des deutschsprachigen Gangsta-
14 Laut den Vergaberichtlinien des ECHO-Musikpreises bestehen die Fachjurys aus »den Mitgliedern des BVMI und ehemaligen nationalen Preisträgern und Nominierten des ECHO Pop sowie Vertretern aus verschiedenen Bereichen der Musikbranche – darunter beispielsweise Händler, Verleger, Veranstalter oder Mitarbeiter der Musikindustrie und der Medienbranche« (Bundesverband Musikindustrie e.V. 2018a: 2). Die Auszeichnung erfolgt nach einer Verrechnung des von der GfK bewerteten Erfolges der Nominierten sowie der Stimmen einer Fachjury (vgl. ebd. 3). Da das Endergebnis zu je 50% aus der GfK-Bewertung und dem Votum der Fachjury ermittelt wird, hätte die Fachjury eine Auszeichnung von Kollegah und Farid Bang theoretisch verhindern können.
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Rap wie Massiv, PA Sports, Summer Cem oder Bushido öffentlich mit Kollegah und Farid Bang solidarisierten (vgl. Bushido 2018; vgl. Massiv 2018; vgl. PA Sports 2018; vgl. Summer Cem 2018), formulierten nur wenige Akteure aus der Rap-Szene – sämtlich keine Vertreter des Gangsta-Rap – Kritik an Kollegahs antisemitisch-verschwörungsideologischer Gesamtinszenierung. So kritisierte die Antilopen Gang in einer öffentlichen Stellungnahme, dass Kollegahs israelfeindliche und verschwörungsideologische Positionierungen in der Debatte aus dem Blick gerieten (vgl. Antilopen Gang 2018). Die Rapperin Sookee, die Kollegah und Farid Bang bereits zu früheren Zeitpunkten für ihre misogyne Selbstinszenierung kritisiert (vgl. Sookee 2017) und schon vor der ECHO-Debatte öffentlich auf antisemitische Tendenzen im deutschsprachigen Rap hingewiesen hatte (vgl. Sookee 2017a), solidarisierte sich im Anschluss an die Preisverleihung mit Campino (vgl. Sookee 2018). Unter Verweis auf seine eigenen Erfahrungen als Journalist kritisierte der Rapper Juse Ju insbesondere Kollegahs verschwörungsideologische Darstellung journalistischer Arbeit und des Mediensystems (vgl. Juse Ju 2018). Der Kölner Rapper Retrogott stellte in seiner öffentlichen Stellungnahme unter anderem die »[h]irnlose Verteidigungshaltung« (Retrogott 2018) gegenüber Kollegah und Farid Bang innerhalb der deutschsprachigen Rap-Szene in den Mittelpunkt seiner Kritik. Zudem begreife er Kollegahs und Farid Bangs verächtliche Darstellung von Opfern der Shoah als Symptom eines offensichtlich zunehmenden Bedürfnisses der deutschen Gesellschaft nach einem »unbeschwerten Patriotismus« (Retrogott 2018a). In der Auschwitz-Zeile und der apologetischen Berichterstattung auf Hip-Hop-Portalen drücke sich ein geschichtsrevisionistisches Bedürfnis aus, das eine schuldabwehrende Haltung zur Geschichte des Nationalsozialismus impliziere: »Das Leid der Shoah der Lächerlichkeit preis zu geben, ist auch eine neue Strategie, langsam mit der Vergangenheit abzuschließen« (ebd.). Wie Außenminister Heiko Maas bewertete eine Vielzahl der Kommentator_innen die antisemitischen Inhalte im deutschsprachigen Rap in erster Linie als Mittel der Provokation (vgl. Hamburger Abendblatt 2018). Zwar ist es für die Wirkmächtigkeit antisemitischer Agitation zunächst unerheblich, ob diese instrumentell – also allein zum Zweck der Provokation – eingesetzt wird oder Ausdruck einer tatsächlichen antisemitischen Überzeugung ist. Dennoch muss gefragt werden, ob der Antisemitismus im deutschsprachigen Rap und somit in einem bedeutenden Teil der gegenwärtigen Populärkultur (vgl. Dietrich 2016: 8f.) trivialisiert wird, wenn er vornehmlich als intendiertes Mittel der Provokation und somit lediglich zum Produkt einer Aufmerksamkeitsökonomie erklärt wird. Die verbreitete Annahme, wonach Gangsta-Rapper wie Kollegah und Farid Bang ein aus120
Die Echo-Debatte: Antisemitismus im Rap
schließlich instrumentelles Verhältnis zu antisemitischen Inhalten in ihrer Musik pflegten, erklärt, weshalb sie trotz der breiten öffentlichen Kritik in der Debatte über Antisemitismus im Rap zunächst weiter als Diskursteilnehmer akzeptiert wurden. So plädierte Dennis Sand in einem Kommentar auf welt.de gar dafür, Kollegah als Bündnispartner im Kampf gegen Antisemitismus zu gewinnen (vgl. Sand 2018). Der Journalist rief dazu auf, in einen Dialog mit Kollegah zu treten, sei dieser doch abgesehen von seinem verschwörungsideologischen Weltbild, seinen antisemitischen Provokationen und seinen Respektlosigkeiten gegenüber Opfern der Shoah »für die Jugend ein besseres Sprachrohr für Toleranz und Nächstenliebe, als jeder Historiker es je sein könnte« (Sand 2018). Anfang Mai schaltete sich auch das Internationale Auschwitz-Komitee in die Debatte ein und appellierte an Kollegah und Farid Bang, »sich ehrlich zu machen und die Gedenkstätte zu besuchen« (Heubner 2018) – und dies auch, um ein Signal an ihre Fans zu senden (vgl. ebd.). Jenes erhoffte Signal blieb jedoch aus. Zwar berichteten einige Medienportale Anfang Juni 2018 in einer kurzen DPA-Meldung über die Kranzniederlegung der beiden Rapper in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau (vgl. Focus Online; vgl. Spiegel Online 2018a; vgl. Zeit Online 2018), auf den Social-Media-Kanälen der beiden Rapper, die sie sonst täglich für Werbung in eigener Sache und sonstige Lageberichte nutzen, fand der Besuch jedoch keinerlei Erwähnung. Erst im Oktober, kurz nach Erscheinen von Kollegahs Buch »Das ist Alpha! Die 10 Bossgebote« (2018), äußerte er sich erstmals öffentlich zu seinem Besuch des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers, gab sich dabei geläutert und erklärte, in zukünftigen Liedtexten nicht mehr auf die Shoah rekurrieren zu wollen (vgl. Roß/Siemens 2018). Seine Aussagen im Interview mit dem Magazin Stern vermochten indes nur einen Teil der deutschsprachigen Hiphop-Fans zu erreichen. Um sie gezielt zu adressieren, gab Kollegah zwei großen Hiphop-Portalen jeweils ein längeres Videointerview. Sein Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau habe ihm vergegenwärtigt, so Kollegah, dass in Palästina »das gleiche passiert, was bei uns mal passiert ist, in Deutschland, nämlich während des Holocaust« (Kollegah 2018a, vgl. Kollegah 2018). Dieser Aussage mit dem Ziel einer Täter-Opfer-Umkehr – einem klassischen Merkmal des israelbezogenen Antisemitismus (vgl. Salzborn 2014: 109) –, fügte er hinzu, dass Kritiker_innen sein Musikvideo »Apokalypse« bewusst falsch interpretierten, um ihn zu diskreditieren (vgl. Kollegah 2018). Dass die beiden Interviewer Kollegahs Aussagen unhinterfragt ließen, erscheint symptomatisch für den Umgang mit Antisemitismus im deutschsprachigen Hiphop-Journalismus (vgl. Damsch 2018), aber auch anderer Medien. 121
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Resümee In der ECHO-Debatte mitsamt ihrer hier analysierten Vor- und Nachgeschichte ließ sich beobachten, dass die große Mehrzahl der Kommentator_innen aus der Wissenschaft (vgl. Wußmann 2016), der Presse (vgl. Stenzel 2017; vgl. Sand 2018; vgl. Roß/Jochen 2018), dem Hip-Hop-Journalismus (vgl. Barbian 2018; vgl. Kollegah 2018; vgl. ebd. 2018a; vgl. ebd. 2019; vgl. ebd. 2019a) sowie der Unterhaltungsindustrie (vgl. Böhmermann 2017) zu unterschiedlichen Zeitpunkten den antisemitischen Kern in Kollegahs Heroisierungs- und Martialitätsvorstellungen entweder nicht als solchen erkannten, ihn ignorierten oder banalisierten. Dabei wurde nur selten eine Gesamtbetrachtung von Kollegahs Selbstinszenierung vorgenommen, in der der metaphorische Rekurs auf die Shoah zwar als ein wiederkehrendes Motiv erscheint, jedoch nur eine von vielen Facetten abbildet. In seinen Liedern, Musikvideos und öffentlichen Stellungnahmen erweist sich die sowohl offen als auch strukturell antisemitische Interpretation globaler Herrschaftsverhältnisse als metaideologische Konstante, die überdies mit israelfeindlichen Positionierungen verwoben wird. Erst in Reaktion auf die verächtliche Bezugnahme auf Opfer der Shoah im Lied »0815« formierte sich eine breite öffentliche Kritik an Kollegah und Farid Bang. Dass allein die Auschwitz-Textzeile von Farid Bang schließlich den Anstoß zu einer öffentlichen Debatte über Antisemitismus in Kollegahs Musik im Speziellen und im deutschsprachigen Rap im Allgemeinen gab, lässt auf ein weit verbreitetes und verkürztes Verständnis von Antisemitismus schließen. Demnach wird eine antisemitische Kommunikation vornehmlich dann als solche definiert oder erkannt, wenn darin auf den Nationalsozialismus rekurriert wird. Folgt man diesem oberflächlichen und eindimensionalen Verständnis von Antisemitismus, geraten seine gegenwärtig dominantesten und virulentesten Erscheinungsformen aus dem Blick – wenn Antisemitismus nämlich in der verschwörungsideologischen Interpretation globaler Herrschaftsverhältnisse Ausdruck findet oder sich in antiisraelischen Positionierungen artikuliert. Wenn der moderne Antisemitismus die »Unfähigkeit und Unwilligkeit ist, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen« (Salzborn 2018: 23), dann können musikalische Inhalte, in der Opfer der Shoah verspottet werden, eine konkrete Empathieverweigerung auf Rezipient_innenseite begünstigen. Sofern in der Folge eine emphatische Auseinandersetzung mit Opfern antisemitischer Vernichtungsaggression vermieden oder durch deren verächtliche Darstellung ein konkretes (Mit-)Fühlen konterkariert wird, kann dies als Rationalisierungsmechanismus mit dem Ziel der Schuldabwehr fungieren. Am Beispiel von Kollegah wird indes deutlich, dass sich der An122
Die Echo-Debatte: Antisemitismus im Rap
tisemitismus im deutschsprachigen Gangsta-Rap vor allem in der verschwörungsideologischen Interpretation abstrakter gesellschaftlicher Prozesse ausdrückt – also im Unwillen und der Unfähigkeit diese als abstrakt zu begreifen –, um israelfeindliche Positionierungen erweitert und zudem in zentrale Erzählfiguren des deutschsprachigen Gangsta-Rap integriert wird. Zwar sticht Kollegah in seiner antisemitischen Agitation deutlich hervor, neben ihm erklären sich jedoch auch andere Genre-Vertreter in ihrer narzisstischen Selbstinszenierung und konspirationistischen Weltdeutung zu Leitfiguren und legitimen Sprechern einer Vielzahl von prekarisierten und verunsicherten (vorwiegend männlichen) Jugendlichen. Das von ihnen propagierte manichäische und verschwörungsideologisch-antisemitische Welterklärungsmodell kann für Jugendliche und junge Erwachsene in ihrer Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt in zweierlei Hinsicht attraktiv erscheinen. Zum einen verspricht ihnen die manichäische Perspektive auf die Gesellschaft eine individuelle Aufwertung, indem sie sich in Abgrenzung zu den bösen gesellschaftlichen Kräften auf der Seite der Guten verorten und sich in der verschwörungsideologischen Wahrnehmung als Teil einer erleuchteten Schicksalsgemeinschaft wähnen können (vgl. Butter 2017: 111). Zum anderen bietet ihnen das konspirativ-antisemitische Weltbild, in dem abstrakte gesellschaftliche Prozesse auf Jüd_innen projiziert und somit personalisiert werden, auf kognitiver Ebene eine unmittelbare und allumfassende Scheinerklärung für unverstandene und negative Phänomene der modernen Gesellschaft (vgl. Salzborn 2018: 198f.). Darüber hinaus geht mit der Verinnerlichung eines antisemitischen Weltbilds die Illusion von Handlungsfähigkeit einher, die in eliminatorischer Konsequenz auf die Vernichtung der vermeintlich Schuldigen des weltlichen Unheils – und somit auf Gewalt gegen Jüdinnen und Juden – abzielt. Am Beispiel der ECHO-Debatte wird deutlich, dass sich das Phänomen Antisemitismus im deutschsprachigen Rap mittels einer isolierten Betrachtung und Kritik einzelner Lieder (vgl. Stenzel 2017) oder gar Textzeilen (vgl. Bloching/Landschoff 2018: 22ff.) nicht ausreichend beschreiben oder gar erklären lässt. Wie der Fall Kollegah zeigt, müssen einzelne Textzeilen im Kontext einer Gesamtinszenierung betrachtet werden, in der unterschiedliche antisemitische Artikulationsformen transportiert werden und in der sich der Antisemitismus als weltanschauliche Konstante offenbart. Dies setzt zum einen ein komplexeres Verständnis des modernen Antisemitismus voraus, der sich heute wandlungsfähig zeigt und in seiner Artikulation an die jeweiligen gesellschaftlichen Kommunikationsbedingungen anpasst (vgl. Salzborn 2010: 204f.). Zum anderen ließe sich auf diese Weise die Integration offener und codierter antisemitischer Agitation in 123
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subkulturelle Inszenierungspraktiken offenlegen und deren Ausbreitung innerhalb der größten und bedeutsamsten Jugendkultur entgegenwirken. Literatur Ahlig, Enrico (2018): Wirft der ECHO Farid Band und Kollegah raus?, in: Bild.de, online erschienen am 27.03., https://www.bild.de/unterhaltung/musik/kollegah/ und-farid-bang-droht-echo-ausschluss-55211190.bild.html (abgerufen am 15.02.2019). Ahlig, Enrico/Berning, Sebastian (2018): Mit dem Sprengstoffgürtel in die Menschenmenge, in: Bild.de, online erschienen am 28.03., https://www.bild.de/unte rhaltung/musik/farid-bang/echo-nominierung-trotz-hass-zeilen-55238930.bild.ht ml (abgerufen am 15.02.2019). Baier, Jakob (2018): Wie sind die denn drauf?, in: fluter. Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung, online erschienen am 20.04., https://www.fluter.de/ antisemitismus-im-rap-kollegah-farid-bang (abgerufen am 15.02.2019). Balzer, Jens/Lechler, Bernd (2018): Antisemitismus und Rap. »Kollegah ist ein sehr zynischer Mensch«, in: Deutschlandfunk, online erschienen am 07.04., https://w ww.deutschlandfunk.de/antisemitismus-und-rap-kollegah-ist-ein-sehr-zynischer. 807.de.html?dram:article_id=415029 (abgerufen am 15.02.2019). Balzer, Jens/Hahn, Achim (2018): »Die Entscheidung ist richtig, sie war auch absolut alternativlos«, in: Deutschlandfunk, online erschienen am 25.04., https://ww w.deutschlandfunk.de/jurymitglied-zum-ende-des-echo-die-entscheidung-ist-rich tig.807.de.html?dram:article_id=416502 (abgerufen am 15.02.2019). Barbian, Alexander (2018): Staiger & D-Bo: Kollegah, Antisemitismus, Flizzy, Medieninteressen, Musikvideos [REALTALK #3], in: Rap.de, online erschienen am 17.04.2018, https://rap.de/rap-de-tv/128146-staiger-d-bo-kollegah-antisemitismusflizzy-medieninteressen-musikvideos-realtalk-3/ (abgerufen am 15.02.2019). Bloching, Sven/Landschoff, Jöran (2018): Diffamierung, Humor und Männlichkeitskonstruktion. Eine linguistische Perspektive auf Farid Bangs und Kollegahs Album JBG3, in: Institut für deutsche Sprache Mannheim (Hg.): Sprachreport. Heft 4/2018, 34. Jahrgang, online: https://pub.ids-mannheim.de/laufend/sprachr eport/pdf/sr18-4.pdf (abgerufen am 20.02.2019), S. 14–27. Böhmermann, Jan (2017): Neo Magazin Royale mit Jan Böhmermann vom 2. Februar 2017, online erschienen am 02.02.2017, https://www.zdf.de/comedy/neomagazin-mit-jan-boehmermann/videos/nmr-folge-sechsundsechzig-100.html (abgerufen am 26.02.2017). Börnsen, Wolfgang (2018): Zur Diskussion um das Album »JBG3« von Kollegah & Farid Bang sowie zum Beschluss des ECHO-Beirats, online erschienen am 06.04., http://www.echopop.de/en/pop-presse-detailansicht/controller/News/acti on/detail/news/zur-diskussion-um-das-album-jbg3-von-kollegah-farid-bang-sowie -zum-beschluss-des-echo-beirat/ (abgerufen am 15.02.2019).
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Die Echo-Debatte: Antisemitismus im Rap
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Musikvideos Ali Bumaye (2016): Palestine, online erschienen am 07.06., https://www.youtube.c om/watch?v=OTdK7htQES0 (abgerufen am 18.02.2019). Bushido feat. Shindy (2015): CLA$$IC. Album: CLA$$IC. Ersguterjunge, Sonny Music, Musikvideo online erschienen am 04.11., https://www.youtube.com/watc h?v=5-S1k9SM8DY (abgerufen am 18.02.2019). Haftbefehl (2010): Halt die Fresse 03 Nr. 78 Official HD Version Aggro TV, online erschienen am 21.10., https://www.youtube.com/watch?v=dTbjV92hHFQ (abgerufen am 18.02.2019). KC Rebell feat. PA Sports, Kianush und Kollegah (2016): TelVision. Album: Abstand. Musiklabel: Banger Musik, Musikvideo online erschienen am 10.11., https://www.youtube.com/watch?v=OROd42ry9VU (abgerufen am 04.04.2017). Kollegah (2016b): Apokalypse. Album: Hoodtape Vol. 2. Musiklabel: Alpha Music Empire GmbH, Musikvideo online erschienen am 09.11., https://www.youtube. com/watch?v=QZXCqTe5__A (abgerufen am 04.04.2017). Kollegah (2016c): Hardcore. Album: Imperator. Musiklabel: Alpha Music Empire GmbH, Musikvideo online erschienen am 17.11., https://www.youtube.com/wat ch?v=VLmJv 4ElNRE (abgerufen am 04.02.2019).
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Jakob Baier Kollegah (2016d): Fokus. Album: Imperator. Musiklabel: Alpha Music Empire GmbH, Musikvideo online erschienen am 01.12., https://www.youtube.com/wat ch?v=kLHAxNDA2ck (abgerufen am 04.02.2019). PA Sports feat. Kollegah (2017): HS.HC. Album: Verloren im Paradies. Life is Pain, Musikvideo online erschienen am 04.05., https://www.youtube.com/watch?v=K LCUb5fXUkk (abgerufen am 04.02.2019).
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Die größte antizionistische Organisation der Welt. Wie die Vereinten Nationen den jüdischen Staat dämonisieren und delegitimieren Florian Markl/Alex Feuerherdt
Als Pedro A. Sanjuan in den frühen 1980ern für die Vereinigten Staaten im UN-Hauptquartier in New York zu arbeiten begann, erwähnte er in einem Gespräch mit dem damaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, Javier Pérez de Cuellar, dass seine Familie von spanischen Juden abstammt, die im fünfzehnten Jahrhundert zum Christentum konvertiert waren. Schon bald darauf machte das offenbar vom Generalsekretariat ausgegangene Gerücht die Runde, die Amerikaner hätten einen »versteckten Juden« geschickt. »Für mich war das der Beginn einer zehn Jahre lang dauernden antisemitischen Reise«, schreibt Sanjuan im Rückblick auf seine Zeit bei den Vereinten Nationen, »die nie aufgehört hat, mich zu erstaunen, insbesondere nachdem mir klar wurde, dass Antisemitismus ein fester Bestandteil des UN-Lebensstils war. Es ging nicht um die politische Einstellung zu Israel. Antisemitismus war eine Geisteshaltung […], die die ‚Kultur‘ der Vereinten Nationen prägte.« (Sanjuan 2005: 8) Für William F. Buckley, der 1973 einige Monate der US-Delegation in New York angehörte, war die UN-Generalversammlung »mit Sicherheit die konzentrierteste Ansammlung von Antisemitismus seit Hitlers Deutschland« (Buckley 1974: 12). Dass Judenhass in der UNO weit verbreitet sein sollte, mag sich überraschend anhören. Zum einen wurden die Vereinten Nationen von jenen Staaten ins Leben gerufen, die sich zu einem Kriegsbündnis gegen die Achsenmächte zusammengefunden und dem Nationalsozialismus – mitsamt seiner antisemitischen Vernichtungspolitik – ein Ende bereitet hatten. Zum anderen wurde bereits in Artikel 1 der UN-Charta, in der die grundsätzlichen Ziele der Organisation definiert werden, die »Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion« (Vereinte Nationen 1945: 366) festgeschrieben. Dem Kampf gegen Rassismus wurde von den Vereinten Nationen »höchste Priorität« (Gareis/Varwick 2014: 193) einge133
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räumt. Ausdruck dessen war etwa das 1965 verabschiedete »Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung« (Vereinte Nationen 1965), zu dessen Umsetzung eigens der »Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung« gegründet wurde (vgl. Gareis/ Varwick 2014: 210). Der Kampf gegen den Antisemitismus wurde allerdings nicht nur nie in die antirassistischen Aktivitäten der Vereinten Nationen inkludiert, sondern diese wurden im Laufe der Jahrzehnte zunehmend zum bevorzugten Mittel für die Propagierung insbesondere der israelbezogenen Variante des Judenhasses, wie sich nicht zuletzt bei der »Weltkonferenz gegen Rassismus« 2001 im südafrikanischen Durban und dem berüchtigten, parallel dazu abgehaltenen Forum von Nichtregierungsorganisationen zeigte. Ohne Übertreibung lässt sich konstatieren: Bei den Vereinten Nationen setzte sich bereits in den 1970er-Jahren durch, was erst Jahrzehnte später unter der Bezeichnung »neuer Antisemitismus« (vgl. Rabinovici/Speck/Snaider 2004) ins Blickfeld öffentlicher Debatten rücken sollte. Klassischer Antisemitismus Obwohl Antisemitismus klar gegen die in der UN-Charta festgeschriebenen Grundsätze verstößt, begleiteten judenfeindliche Äußerungen im Grunde vom Anfang an die Geschichte der Vereinten Nationen. Dafür sorgten vor allem etliche Vertreter arabischer und islamischer Länder, die sich in ihren Wortmeldungen in verschiedenen UN-Gremien oftmals antisemitischer Argumentationsmuster bedienten. Berüchtigt war etwa der langjährige saudi-arabische UN-Botschafter Jamil Baroody, der in seinen Reden die Juden u.a. für beide Weltkriege und für alle Übel des Nahen Ostens verantwortlich machte, gestützt auf Neonazibücher das Tagebuch der Anne Frank zu einer Fälschung erklärte und behauptete, der Holocaust habe nie stattgefunden (vgl. Schoenberg 1989: 293f.). Buckley attestierte Baroody schlicht eine »antisemitische Sicht der Weltgeschichte«, die »Antisemiten verzückt« (Buckley 1974: 12). Im Rahmen eines von den Vereinten Nationen veranstalteten Seminars – passenderweise zum Thema religiöse Toleranz – leugnete ein saudi-arabischer Teilnehmer im Gegensatz zu Baroody den Holocaust zwar nicht, erging sich stattdessen aber in einer rund dreiviertelstündigen Hassrede, in der er u.a. erklärte, Hitler haben die Juden vernichten wollen, weil sie sich für das auserwählte Volk hielten. Auf Basis ausführlicher Studien glaubte er belegen zu können, dass der Talmud von den Juden verlange, jedes Jahr nicht-jüdische Jungen zu entführen, zu ermorden und deren Blut zu trin134
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ken. »Der Talmud sagt: ‚Wenn ein Jude nicht jedes Jahr das Blut eines Nicht-Juden trinkt, ist er für alle Ewigkeit verdammt.‘« (zit. nach Carey/ Carey 1988: 32). Oftmals wurden antisemitische Theorien im Zuge von Debatten über Israel zum Besten gegeben, wobei die Ersetzung des Wortes »Juden« durch »Israel« oder »Zionisten« den antisemischen Charakter der Aussagen nur notdürftig zu kaschieren vermochte. Im UN-Sicherheitsrat fragte der jordanische Botschafter Hazem Nusseibeh: »Stehen die Israelis über dem Gesetz? Ist die Welt zweigeteilt in eine allmächtige Rasse und unterwürfige Nicht-Juden, die in die Welt hineingeboren werden, um den Zielen der ‚Herrenrasse‘ zu dienen?« (United Nations Security Council 1979: 6) Jeden Tag, so erklärte er dem wichtigsten Gremium der Vereinten Nationen, komme in London ein verschwörerischer Klüngel unter der Führung eines »Mr. Rothschild« zusammen, um im Interesse seiner »finanziellen Manipulationen« Befehle über die Höhe des Goldpreises in alle Welt auszugeben. Wie könnten »Milliarden sich abmühender menschlicher Wesen […] mit solch furchteinflößenden Mächten« konkurrieren (ebd.)? In Debatten über Israel wurde der jüdische Staat immer wieder in einer Art und Weise an den Pranger gestellt, die mit Kritik an israelischer Politik nichts zu tun hatte, sondern aus grotesken Diffamierungen und wilden Verschwörungstheorien bestand. Ein Vertreter Kuwaits beschuldigte Israel beispielsweise, einen »unstillbaren Durst nach arabischem Blut« (zit. nach Wistrich 2010: 479) zu haben. Gleichsetzungen Israels mit dem Nationalsozialismus standen zeitweise praktisch auf der Tagesordnung, wobei die Nazis gelegentlich sogar besser abschnitten als der angeblich die Vernichtung der Palästinenser praktizierende jüdische Staat. Ein Vertreter Syriens erklärte vor der Generalversammlung, die Leiden der Menschheit seien auf »Verschwörungen des Weltzionismus zurückzuführen«, der in »Palästina ein rassistisches Imperium« aufbauen wolle. Ein syrischer Kollege warnte, die Zionisten seien »Feinde der Menschheit«, ein Iraker war überzeugt, der Zionismus basiere auf der »Reinheit der jüdischen Rasse«. Andere Vertreter arabischer Staaten warfen den »zionistischen Neonazis« vor, eine NaziPolitik der »rassischen Überlegenheit« zu betreiben, die auf »Massentötungen« beruhe, und beklagten die »absolute jüdische Dominanz des Finanzwesens, der Medien und anderer Bereiche der öffentlichen Meinung«. Die »einflussreiche jüdische Lobby« in den USA habe darüber hinaus das Weiße Haus, den Kongress, das Außenministerium usw. in der Hand. Und ein Vertreter der PLO konzentrierte sich in einer Rede auf die Rolle der Juden in den Bereichen Kriminalität, Prostitution und Drogenhandel (vgl. ebd.: 135
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482f.). In einer Debatte nach der israelischen Geiselbefreiungsaktion im ugandischen Entebbe hetzte ein Sprecher Libyens, »dass Auschwitz, Dachau und Buchenwald nicht Dinge der Vergangenheit, sondern noch am Leben sind«, doch seien die Rollen vertauscht: »Diejenigen, die einmal die Opfer gewesen sind – oder vorgeben, Opfer gewesen zu sein«, seien jetzt die Täter. Die Israelis seien »exzellente Schüler der Nazis«, ja sogar »besser als ihre Nazi-Lehrmeister«, weil sie »deren Techniken verbessert und zur Perfektion in Theorie und Praxis getrieben haben« (United Nations Security Council 1976: 2). Auch wenn es vor allem Vertreter arabischer und islamischer Staaten waren, die für den Großteil der antisemitischen Wortmeldungen verantwortlich zeichneten, waren sie keineswegs die einzigen. Unterstützung erhielten sie von Vertretern verschiedener Ostblockländer sowie aus afrikanischen und südamerikanischen Staaten. Dem Beispiel arabischer Delegierter folgend erklärte ein Vertreter Bulgariens, die Juden seien selbst schuld am Holocaust, weil sie sich als das »auserwählte Volk« begriffen (vgl. Schoenberg 1989: 65). Die in antisemitischem Sinne umgedeutete Redewendung vom auserwählten Volk trieb 1971 auch den sowjetischen UN-Botschafter Jakow A. Malik um, der daraus ein rassistisches Konzept machte: »Das von Gott auserwählte Volk. Wo sonst in der Welt«, fragte er unter Bezugnahme auf Israel, »hat man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört, dass jemand diese kriminelle und absurde Theorie von der Überlegenheit einer Rasse und eines Volkes über andere propagiert« (zit. nach ebd.: 290)? Während des Jom-Kippur-Krieges 1973, der mit dem koordinierten Angriff Ägyptens und Syriens auf Israel begonnen hatte, wetterte Malik, Israel benehme sich wie »wilde, barbarische Stämme« und sei getrieben von »irrer Zerstörungswut«; die »barbarischen Zionisten« würden gesamte Zivilisationen verwüsten (zit. nach ebd.: 291). Der »kollektive Jude der Nationen« Zu diesem Zeitpunkt hatten die Vereinten Nationen bereits einen guten Teil jener scharf anti-israelischen Wende zurückgelegt, die das Ergebnis dreier parallel verlaufender Entwicklungen seit den späten 1960er-Jahren war. Erstens führte der Prozess der Entkolonialisierung zur Entstehung einer Vielzahl neuer Staaten, die eine Änderung der Mehrheitsverhältnisse bei den Vereinten Nationen zur Folge hatte. Die sich etablierende Koalition, bestehend aus ehemaligen Kolonien, arabischen und islamischen Staaten sowie dem Ostblock, führte zur Herausbildung jener quasi automati136
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schen Mehrheit, auf die jede auch noch so absurde und abwegige Resolutionen gegen Israel zählen kann. Zweitens bewirkte der Einsatz der ÖlWaffe durch die arabischen erdölexportierenden Staaten während des JomKippur-Krieges eine merkliche Veränderung der Positionierung etlicher westlicher Staaten in der Nahostpolitik: Lieferkürzungen bzw. Boykotte wurden vielfach mit Appeasement gegenüber den arabischen Staaten beantwortet, was sich u.a. in Distanzierungen von Israel und einem veränderten Abstimmungsverhalten bei den Vereinten Nationen niederschlug. Der Aufstieg der PLO führe drittens dazu, dass der blutige Terror palästinensischer Gruppen gegen Israel als »Kampf gegen Fremdherrschaft« legitimiert wurde, die UNO sich in wesentlichen Punkten das auf die Vernichtung des jüdischen Staats abzielende Programm der PLO zu eigen machte und im Rahmen der Vereinten Nationen eine personell wie finanziell bestens ausgestattete und bis heute aktive Infrastruktur des Israel-Hasses entstand (vgl. Feuerherdt/Markl 2018: 129–192). Im Zuge dieser drei Entwicklungen veränderte der althergebrachte Antisemitismus sein Erscheinungsbild und wurde ideologisch in neue Gewänder gehüllt. »Der alte Mythos der judeo-marxistischen internationalen Verschwörung«, bemerkte der israelische Historiker Jacob L. Talmon, »wurde ersetzt durch den Mythos der internationalen zionistisch-amerikanisch-imperialistischen Verschwörung« (Talmon 1976: 21) in deren Zentrum Israel stand. Der Tiefpunkt dieser Entwicklungen wurde am 10. November 1975 erreicht, als die UN-Generalversammlung mit 72 Ja- zu 35 Nein-Stimmen bei 32 Enthaltungen Resolution 3379 verabschiedete, in der unter dem Schlagwort des Kampfes gegen Rassismus erklärt wurde, dass »Zionismus eine From des Rassismus und der rassischen Diskriminierung« sei. (UN General Assembly 1975). Richterin Hadassa Ben-Itto, die damals der israelischen UN-Delegation angehörte, erinnerte sich: »Nachdem die Resolution angenommen worden war, umarmten sich die Menschen, als hätten sie den größten Sieg ihres Lebens errungen« (zit. nach Manor 1996: 23). Mit Resolution 3379 wurde als einzige nationale Befreiungsbewegung der Welt diejenige der Juden als grundlegend rassistisch an den Pranger gestellt und dem jüdischen Staat, UN-Mitglied seit 1949, als rassistisches Unterfangen jegliche Legitimität abgesprochen. Israel ist, in den Worten Jakob Talmons, »zum alten jüdischen Geächteten geworden, zum Außenseiter, zum kollektiven Juden der Nationen. Ein Paria-Volk hat gewissermaßen einen Paria-Staat gegründet« (Talmon 1976: 21). Es bedurfte des Zusammenbruchs des Ostblocks und der damit einhergehenden Veränderung der Mehrheiten in der Generalversammlung, bis die infame Zionismus-ist-Rassismus-Resolution im Dezember 1991 als zweite Resolution 137
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überhaupt in der Geschichte der Vereinten Nationen von der Generalversammlung aufgehoben wurde (vgl. United Nations General Assembly 1991). Seit einigen Jahren wird über die Existenz eines »neuen Antisemitismus« diskutiert. Im Zentrum stehen dabei die Fragen, wo »legitime Kritik israelischer Politik aufhört und eine antisemitisch motivierte Ablehnung der Existenz Israels« beginne, ob die linke Ablehnung Israels in Form des Antizionismus »antisemitisch grundiert« sei und wie weitverbreitet Antisemitismus in der islamischen Welt ist (Rabinovici/Speck/Snaider 2004: 9f.). Träger des »neuen Antisemitismus« seien vor allem »islamistische Kräfte« und »Teile der weltweiten Linken« (ebd.: 8). Auf globaler Ebene waren es lange zuvor schon die antiwestlich ausgerichteten Staaten der so genannten Dritten Welt, der Ostblock und die arabischen und islamischen Länder, die Israel unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Imperialismus, für nationale Befreiung und gegen Rassismus die Lebensberechtigung absprachen und den jüdischen Staat auf der Bühne der Vereinten Nationen frontal angriffen. Der »neue Antisemitismus«, über den heute diskutiert wird, erweist sich damit als alles andere als neu – bei den Vereinten Nationen bestimmt er spätestens seit Mitte der 1970er Jahre das Geschehen. Einer, der das bereits früh auf den Punkt gebracht hat, war Jakob Talmon. Nicht zufällig trug die Analyse, die er ein Jahr nach Verabschiedung der Zionismus-ist-Rassismus-Resolution schrieb und in der er Israel den »kollektiven Juden der Nation« nannte und als »ausgestoßene Nation« bezeichnete, den Titel: »Der neue Antisemitismus« (Talmon 1976). UNESCO: Antisemitismus als Weltkulturerbe Dieser Antisemitismus äußert sich spätestens seit der erwähnten Konferenz von Durban im Jahr 2001, auf der Israel als Ausgeburt des Rassismus und des Kolonialismus an den Pranger gestellt wurde, auch in einer regelrechten Flut von Verurteilungen des jüdischen Staates durch die UNO und ihre Gremien in Resolutionen, in Berichten und auf Konferenzen. Schon die schiere Zahl dieser Verurteilungen stellt eine Dämonisierung und Delegitimierung des jüdischen Staates dar, wenn man bedenkt, dass keinem anderen Land der Welt auch nur annähernd so häufig Verstöße gegen die Menschenrechte und das Völkerrecht sowie Kriegsverbrechen vorgeworfen werden. Endes des Jahres 2018 beispielsweise verabschiedete die UN-Generalversammlung insgesamt 26 Resolutionen, die sich gegen ein einzelnes Land richteten. 21 Mal hieß dieses Land Israel. Auf den Iran, Syrien und 138
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Nordkorea entfiel lediglich je eine Verurteilung, Staaten wie beispielsweise China, Saudi-Arabien und die Türkei blieben gänzlich unbehelligt. In den Jahren davor sahen die Zahlen ähnlich aus. In vielen Unterorganisationen und Gremien der UNO geht es ähnlich zu. Die UNESCO beispielsweise verurteilte im Zeitraum zwischen 2009 und 2014 insgesamt 47 Mal ein Land wegen vermeintlicher Verstöße gegen ihre Grundsätze. Sage und schreibe 46 Mal war dabei Israel das Land, das an den Pranger gestellt wurde (vgl. UN Watch 2014). Zu den Prinzipien der UNESCO gehören laut ihrer Verfassung eigentlich »die Vielfalt der Kulturen« und »eine ausgewogene geografische Verteilung« bei der Wahl der Mitglieder des Exekutivrates (UNESCO 1945/2001). Doch wann immer es um den jüdischen Staat geht, haben Vielfalt und Ausgewogenheit seit jeher rasch ein Ende. Schon 1974 schloss die Organisation Israel auf arabischen Druck aus, erst vier Jahre später wurde die Ächtung wieder aufgehoben. In den 1990er Jahren boykottierte der seinerzeitige UNESCOChef Federico Mayor sämtliche internationalen Konferenzen in Jerusalem und verweigerte alle Treffen mit israelischen Offiziellen (vgl. Meotti 2011). Anfang 2014 sagte die UNESCO ihre geplante Ausstellung »Das Volk, das Buch, das Land: die 3.500-jährige Beziehung zwischen Juden und Israel« in Paris ab, nachdem arabische Staaten, die diese Beziehung rundweg leugnen, vehement protestiert hatten (vgl. Peymann Engel 2014). Im April 2016 verabschiedete der Exekutivrat einen Beschluss, in dem Israel allen Ernstes für das angebliche »Platzieren gefälschter jüdischer Gräber« auf muslimischen Friedhöfen verurteilt wurde (vgl. Keinon 2016). Immer wieder erklärt die UNESCO unumstößliche, unleugbare historische Tatsachen einfach per Mehrheitsbeschluss für nichtig und ersetzt sie durch Propaganda. So ist die antisemitische Mär, der zufolge der jüdische Staat versucht, sich den Tempelberg anzueignen, die Muslime von dort zu vertreiben und die Al-Aksa-Moschee zu zerstören, zur mehrheitsfähigen Position innerhalb der Weltkulturorganisation geworden. Wollte man es zugespitzt formulieren, dann könnte man sagen, dass die Einrichtung den Antisemitismus als Weltkulturerbe adelt. Dazu passt es, dass 2017 mit Hamad Bin Abdulaziz Al-Kawari ein Mann für den Posten des Generaldirektors der Organisation kandidierte, der sich zuvor mehrfach mit antisemitischen Äußerungen und Aktivitäten hervorgetan hatte. So hatte der frühere katarische Kulturminister hatte in den Jahren 2014 bis 2016 die Ausstellung antijüdischer Literatur auf der Buchmesse in Doha genehmigt, zudem hatte er im Jahr 2013 zu einem Buch seines Ministeriums das Vorwort beigesteuert, in dem es unter anderem hieß: »Die Juden kontrollieren die Medien, Zeitungen und Verlage in den Vereinigten Staaten und im Westen« (zit. nach Cohen 2017b). Al-Kawari schaffte es bei der UNESCO bis in 139
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die Stichwahl, erst dort unterlag er denkbar knapp der Französin Audrey Azoulay (vgl. Herbermann 2017). Menschenrechtsrat: Hass auf Israel als Tagesordnungspunkt Auch im UN-Menschenrechtsrat steht die Verurteilung des jüdischen Staates buchstäblich an der Tagesordnung, wie schon eine Statistik vom August 2015 zeigt, die die Organisation UN Watch auf ihrer Website veröffentlicht hat (UN Watch 2015). Diese zeigt, welche Länder der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen seit seiner Gründung im Jahr 2006 in seinen Resolutionen wie oft wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Verstöße gegen seine Grundsätze verurteilt hat. Das Ergebnis: 62 Resolutionen richteten sich gegen Israel, auf 55 Verurteilungen kamen alle anderen Staaten dieser Welt zusammen. Das heißt: Der jüdische Staat begeht nach Auffassung einer Mehrheit der Mitglieder dieser UN-Einrichtung mehr und gravierendere Menschenrechtsverletzungen als der Rest der Welt insgesamt, darunter sämtliche Autokratien, Despotien und Diktaturen. Eine absurde Bilanz. Die Mitglieder des Menschenrechtsrates müssen theoretisch die »höchsten Standards« bei den Menschenrechten erfüllen und können bei schweren Verstößen von einer Zweidrittelmehrheit der Generalversammlung abgewählt werden. Die Praxis sieht allerdings gänzlich anders aus. Ausschlüsse (wie jener von Libyen im März 2011, vgl. Handelsblatt 2011) oder die Nichtberufung eines Landes (wie im Falle Russlands im Oktober 2016, vgl. Zeit Online 2016) sind die absolute Ausnahme. Die islamischen und die sogenannten blockfreien Staaten stimmen in der Regel gemeinsam ab und haben, entscheidend begünstigt durch die geografisch bestimmte Sitzverteilung im Rat, zusammen mit verschiedenen autoritären Staaten eine quasi-automatische Mehrheit. Das hat vor allem zwei Folgen: Zum einen decken diese Mitglieder ihre Menschenrechtsverletzungen (oder die Verstöße verbündeter Staaten, die gerade nicht im Menschenrechtsrat vertreten sind) oft gegenseitig und sorgen so dafür, dass möglichst keine Resolutionen verabschiedet werden, in denen eines dieser Länder verurteilt wird. Zum anderen sind sie sich regelmäßig einig in den Verurteilungen des jüdischen Staates. Wesentlich erleichtert wird dies durch die feste Tagesordnung der Ratsversammlungen: Deren Punkt 7 sieht verpflichtend die Beschäftigung mit der »menschenrechtlichen Situation in Palästina und anderen besetzten arabischen Territorien« vor (vgl. Cohen 2017a), wobei diese Formulierung missverständlich und irreführend ist. Denn es geht nie um Menschen140
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rechtsverstöße der Hamas im Gazastreifen oder der Fatah im Westjordanland, sondern immer ausschließlich um den jüdischen Staat und dessen vermeintliche Verbrechen in den »besetzten Gebieten«. Israel ist damit das einzige Land, das der UN-Menschenrechtsrat regelmäßig gesondert behandelt. Wie es auf einer Ratssitzung zugeht, wenn der Tagesordnungspunkt 7 aufgerufen wird, zeigt exemplarisch die Versammlung vom 25. September 2017 (UN Web TV 2017). »Die Besatzungsmacht Israel setzt ihre koloniale Politik und ihre täglichen Menschenrechtsverletzungen fort«, sagte beispielsweise ein Vertreter der Palästinenser. Der jüdische Staat betreibe ethnische Säuberungen und verhafte willkürlich Menschen, außerdem stehle er Land, natürliche Ressourcen und Geld, behauptete er weiter. Ein syrischer Delegierter warf Israel eine »Judaisierung Jerusalems, Häuserzerstörung, Landraub und die Vergiftung natürlicher Ressourcen« vor. Katar unterstellte Israel »rassistische Übergriffe«, Pakistan bezichtigte das Land der »Kolonisation« und der »Apartheid«. Venezuela beschuldigte Israel, »Grausamkeiten« gegen Palästinenser zu begehen und für »massive Zerstörungen« verantwortlich zu sein. Der Repräsentant des Iran hielt dem jüdischen Staat »Kriegsverbrechen«, »ethnische Säuberungen« und »Staatsterrorismus« vor. Länder, in denen Menschenrechtsverletzungen alltäglich sind, überbieten sich förmlich bei der Dämonisierung und Delegitimierung Israels. Diese Dämonisierung und Delegitimierung findet jedoch nicht nur bei den Versammlungen des Menschenrechtsrates statt, sondern auch auf Konferenzen, die er veranstaltet. Zu nennen wäre hier beispielsweise die Durban Review Conference vom April 2009, die Nachfolgetagung jener zu trauriger Berühmtheit gelangten Antirassismuskonferenz von 2001. Im Entwurf für die Abschlusserklärung, die auf der Konferenz verabschiedet werden sollte, fanden sich diverse Verurteilungen Israels, das zudem als einziges Land explizit erwähnt wurde. Dem jüdischen Staat wurden unter anderem die »rassistische Diskriminierung des palästinensischen Volkes«, »Folter«, »Apartheid« und »Verbrechen gegen die Menschheit« vorgeworfen (vgl. UN Watch 2008). Da abzusehen war, dass die Konferenz erneut in ein Tribunal gegen Israel verwandelt werden würde, kündigten neben Israel selbst auch Kanada, die USA und Italien frühzeitig an, der Zusammenkunft fernzubleiben (vgl. Medick 2009). Kurz vor dem Beginn der Konferenz folgten weitere Staaten, darunter Deutschland, die Niederlande und Australien. Eine nicht unerhebliche Rolle spielte dabei, dass der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad eine Ansprache hielt. Jener Mann, der Israel mit der Vernichtung gedroht, Karikaturen-Wettbewerbe zum Thema Holocaust veranstaltet und Zweifel an der Shoa geäußert hatte, die einer 141
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Leugnung der massenhaften Vernichtung der Juden mindestens sehr nahekamen, trat nun also bei einer Antirassismuskonferenz des UN-Menschenrechtsrates auf. In seiner Rede sagte Ahmadinedschad unter anderem, dass Einwanderer aus Europa, den USA und weiteren Ländern im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg nach Palästina gekommen seien und dort »eine total rassistische Regierung« installiert hätten, das »grausamste und repressivste rassistische Regime« überhaupt. Dieses »Regime« habe unter dem Vorwand, »die Juden zu schützen, durch seine militärische Aggression eine ganze Nation heimatlos gemacht«. Der »globale Zionismus«, so Ahmadinedschad weiter, sei »das Symbol für Rassismus schlechthin« (BBC 2009). In den Untersuchungsberichten des Menschenrechtsrates setzen sich die Dämonisierung und die Delegitimierung Israels fort. So etwa im Bericht der Goldstone-Kommission (vgl. United Nations Human Rights Council 2009b: 21), der im Januar 2009 vom Rat in Auftrag gegeben und im September des gleichen Jahres vorgelegt wurde. Die »Fact Finding Mission« unter der Leitung von Richard Goldstone, südafrikanischer Jurist sowie Chefankläger des UNO-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda, sollte »sämtliche möglicherweise begangenen Menschenrechtsverletzungen im Kontext der Militäroperationen in Gaza« (vgl. United Nations Human Rights Council 2009a) Ende 2008, Anfang 2009 erforschen. Heraus kam ein Dokument, das eine regelrechte Anklageschrift darstellte. Während dem jüdischen Staat im Goldstone-Bericht ein ums andere Mal »institutionalisierter Rassismus«, »Kriegsverbrechen« und sogar »Verbrechen gegen die Menschheit« vorgeworfen werden, findet der Raketenterror der Hamas lediglich beiläufig Erwähnung. Wenig überraschend wurde der Goldstone-Bericht von einer Mehrheit des Menschenrechtsrates im Oktober 2009 in einer Resolution ausdrücklich gebilligt (vgl. Spiegel Online 2009). In diesem Beschluss blieb der Raketenbeschuss der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung sogar gänzlich unerwähnt. Eineinhalb Jahre nach der Veröffentlichung des Goldstone-Berichts distanzierte sich der Kommissionsvorsitzende schließlich von dem Dokument, für das er mit seinem Namen stand. In einem Gastbeitrag für die amerikanische Tageszeitung Washington Post, der am 1. April 2011 erschien, schrieb Richard Goldstone gleich im ersten Absatz: »Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, wäre der Goldstone-Bericht ein anderes Dokument geworden«. Er nahm nicht nur die Behauptung zurück, die israelische Armee habe absichtlich Zivilisten getötet, sondern revidierte auch die Aussage, dass nur eine Minderheit der getöteten Palästinenser zu den Kombattanten gezählt habe. Vielmehr entspreche es der Wahrheit, dass hauptsächlich Mitglieder der Hamas und anderer terroristischer Orga142
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nisationen getötet wurden. Zudem bestätigte Goldstone, dass der jüdische Staat von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch gemacht habe. »Israel hat wie jeder andere souveräne Staat das Recht und die Pflicht, sich und seine Bürger gegen Angriffe von außen und innen zu schützen«, schrieb er (Goldstone 2011). Eine Einsicht, die allerdings reichlich spät kam. Die UNO als größte antizionistische Organisation der Welt Es gab in der Geschichte der Vereinten Nationen schon immer Beschlüsse gegen Israel, aber in den vergangenen Jahren hat sich die Verurteilerei zu einem völligen Irrsinn entwickelt. Das hängt wesentlich mit der Entwicklung der UNO zusammen: Während die Gründungsmitglieder in ihrer Mehrzahl bürgerliche Demokratien waren, änderten sich die Kräfteverhältnisse im Zuge der Dekolonisierung. Eine Vielzahl neu gegründeter oder unabhängig gewordener Staaten strömte in den 1960er und 1970er Jahren in die UNO, von denen sich viele bald als Despotien entpuppten und die Gründungsideale der UN häufig als »Neokolonialismus« verunglimpften, um damit auch die Menschenrechtsverletzungen an ihren Bürgern zu überdecken. Gleichzeitig blieben die grundsätzliche Struktur der Vereinten Nationen und ihr Modus Operandi bestehen. Weiterhin gilt: ein Staat – eine Stimme. Die Qualität der internationalen Menschenrechtspolitik wird dementsprechend zu einer Frage der Mehrheit, und diese Mehrheit stellt mittlerweile in fast allen UN-Gremien das informelle Bündnis aus arabischen bzw. islamischen Ländern und deren internationalen Partnern. So verfügen allein die Mitglieder der »Organisation für islamische Zusammenarbeit« im UN-Menschenrechtsrat über rund ein Drittel der Stimmen und bilden gemeinsam mit vielen ‚blockfreien‘ Ländern – sowie immer wieder mit Russland und China – die Mehrheit. Innerhalb dieser Mehrheit unterstützt man sich gegenseitig, wählt sich in verschiedene Gremien und sorgt dafür, dass Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land nicht zur Sprache gebracht werden. Gleichzeitig erwidern die Autokratien, Despotien und Diktaturen in der UNO seit dem Sechstagekrieg von 1967 die westliche Kritik an ihren Menschenrechtsverstößen immer wieder mit lautstarken Angriffen auf Israel – um auf diese Weise ein eigenes Engagement in Menschenrechtsfragen zu simulieren. So erklärt sich die exorbitant große Zahl an Resolutionen, in denen der jüdische Staat verurteilt wird. Deshalb sagen diese Verurteilungen wenig bis nichts über den jüdischen Staat aus, dafür aber eine ganze Menge über die elende Gegenwart der Vereinten Nationen. Schon Abba Eban, der frühere israelische Außen143
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minister und erste Vertreter Israels bei der UNO, wusste das, als er einmal sagte: »Wenn Algerien in einem Resolutionsentwurf erklären würde, dass die Erde eine Scheibe ist und Israel sie dazu gemacht hat, dann würde diese Resolution mit 164 zu 13 Stimmen bei 26 Enthaltungen angenommen werden.« (zit. nach Shalom 2004) Die Grundlage für diese institutionelle Diskriminierung, die weit mehr ist als die Summe israelfeindlicher Resolutionen einer Mehrheit von UN-Mitgliedern, ist ein anti-israelisch drapierter Antisemitismus, der auch von den Europäern oft genug mitgetragen oder zumindest geduldet wird – sei um des Appeasements gegenüber Israels Feinden willen, sei es aus originär antizionistischem Antrieb, sei es aus ökonomischem Interesse, sei es aus anderen Gründen. Israel ist in der Tat der »kollektive Jude der Nationen«, wie Jacob Talmon schrieb, ja, eigentlich ist es sogar noch schlimmer: Die Juden waren unter den Menschen die angefeindeten Anderen, bis sie nicht einmal mehr als Menschen galten und vernichtet wurden. Analog dazu war Israel lange Zeit unter den Staaten der angefeindete Andere, doch längst wird es in großer Einhelligkeit als souveräner jüdischer Staat überhaupt in Frage gestellt. Talmons Erkenntnis bleibt damit wahr und wird doch zunehmend falsch: wahr, weil sich mit Israel individuelle jüdische Geschichte und Tragödie auf Nationalstaatsebene zu wiederholen droht; falsch, weil Israel eben nicht mehr unter den Staaten als solcher wenigstens noch akzeptiert wird, sondern weil es ausgesondert wird. Die UNO, als ideeller Gesamtstaat und in Anlehnung an Franz L. Neumann als globaler Unstaat verstanden,1 macht Israel zum jüdischen Gegenstaat und kündigt ihm im Falle des ungehinderten Fortgangs der Geschichte sein Ende an. Eine UN-Entscheidung wie der Teilungsbeschluss von 1947, der die Grundlage für die spätere Ausrufung des Staates Israel war, wäre heute jedenfalls nicht mehr denkbar. Heute wird die UNO vor allem dazu beansprucht, den jüdischen Staat zu dämonisieren und zu delegitimieren, seine Selbstverteidigung zu kriminalisieren und ihn politisch zu isolieren. Lawfare heißt das Stichwort, Kriegsführung mit den Mitteln des Rechts, während parallel dazu immer wieder auch terroristische Mittel eingesetzt wer1 Franz L. Neumann verstand den Nationalsozialismus als Unstaat, das heißt als »ein Chaos, eine Herrschaft der Gesetzlosigkeit und Anarchie, welche die Rechte wie die Würde des Menschen ‚verschlungen‘ hat und dabei ist, die Welt durch die Obergewalt über riesige Landmassen in ein Chaos zu verwandeln« (Neumann 1984: 16). Der Vergleich mit den real existierenden Vereinten Nationen drängt sich geradezu auf.
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den, um Israel in die Knie zu zwingen. Es handelt sich also um eine Doppelstrategie. An dieser sind die Vereinten Nationen entscheidend beteiligt, zumal sie ihren guten Namen dafür geben. Damit haben sie sich inzwischen in das Gegenteil dessen verkehrt, wofür sie einmal angetreten waren. Dank den USA fasst der Sicherheitsrat zwar normalerweise keine rechtsverbindlichen Beschlüsse gegen die Interessen des jüdischen Staates, aber in vielen anderen Gremien sorgen die permanenten, absurden Verurteilungen dafür, dass Israel zum Paria wird. Und deshalb ist es, auch wenn es drastisch klingen mag, keineswegs abwegig, die Vereinten Nationen mit all ihren Unter- und Nebenorganisationen als größte antizionistische Organisation der Welt zu bezeichnen. Literatur BBC (2009): Ahmadinejad speech: full text, 21.04., online unter: http://news.bbc.co .uk/2/hi/middle_east/8010747.stm. Buckley, William F. (1974): Buckley as UN Delegate, Transcript of »Firing Line«, 08.09., online unter: https://digitalcollections.hoover.org/images/Collections/80 040/80040_s0151_trans.pdf. Carey, John/Henry F. Carey (1988): Hostility in the United Nations Bodies to Judaism, the Jewish People and Jews as such, in: Israel Yearbook on Human Rights, Volume 17 (1987), Dordrecht, S. 29–40. Cohen, Ben (2017a): World’s Democracies Snub Annual Israel-Bashing ‘Item 7’ Debate at UN Human Rights Council Geneva Gathering, in: The Algemeiner, 19.06., https://www.algemeiner.com/2017/06/19/worlds-democracies-snub-annu al-israel-bashing-item-7-debate-at-un-human-rights-council-geneva-gathering. Cohen, Ben (2017b): Ex-Qatari Minister, Who Wrote Preface to Antisemitic Book, Among Leading Candidates in Election Contest for New UNESCO Chief, in: The Algemeiner, 09.10., https://www.algemeiner.com/2017/10/09/ex-qatari-mini ster-who-wrote-preface-to-antisemitic-book-among-leading-candidates-in-electio n-contest-for-new-unesco-chief. Feuerherdt, Alex/Florian Markl (2018): Vereinte Nationen gegen Israel. Wie die UNO den jüdischen Staat delegitimiert, Berlin. Gareis, Sven Bernhard/Johannes Varwick (2014): Die Vereinten Nationen. Aufgaben, Instrumente und Reformen, Opladen/Toronto. Goldstone, Richard (2011): Reconsidering the Goldstone Report on Israel and war crimes, in: Washington Post, 01.04., https://www.washingtonpost.com/opinions /reconsidering-the-goldstone-report-on-israel-and-war-crimes/2011/04/01/AFg111 JC_story.html?utm_term=.4f01442f77fb. Handelsblatt (2011): UN-Menschenrechtsrat: Westerwelle begrüßt Ausschluss Libyens, 02.03., http://www.handelsblatt.com/politik/international/un-menschenrec htsrat-westerwelle-begruesst-ausschluss-libyens-/3899142.html.
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Rechter Antisemitismus
Antisemitisches Verschwörungsdenken im Rechtsextremismus Samuel Salzborn
Rechtsextreme Artikulationen folgen, wie Richard Stöss (2010) gezeigt hat, über längere Zeiträume, teilweise Dekaden zentralen Paradigmen der konzeptionellen Integration. Dabei wäre es falsch, anzunehmen, dass dies intentional erfolgen würde, das Gegenteil ist richtig: weil die rechtsextreme Szene, die weltanschaulich ein weites Spektrum unterschiedlicher Akteure umfasst und von der »Neuen Rechten« über parteipolitische Akteure, rechte Medien und Musikgruppen bis zum militanten Neonazismus reicht, in ihren weltanschaulichen Glaubenssystemen verbunden ist und aufgrund gelegenheitsstruktureller Einwirkungen ihre hegemonialen Weltdeutungsmuster, die in realitätsverleugnender Verarbeitung auf gesellschaftliche Realitäten reagieren, sukzessive anpassen, hegemoniale Themen- und Debattenfelder generiert, die für rechtsextreme Propaganda aufgegriffen werden und ihrerseits analytisch – mit Stöss – als Kampagnenthemen identifiziert werden können. Seit 9/11 ist das, sich in der Vorgeschichte bereits längerfristig anbahnende, aber seither markante, wenngleich auch nicht einzige, Motiv rechtsextremer Artikulation ein, unterschiedlich konkretisierter und in unterschiedlicher Radikalität vorgetragener, Verschwörungsglaube, den es im vorliegenden Beitrag zu skizzieren gilt.1 Die Verschwörungskampagne Diese Verschwörungskampagne zielt darauf, politische und gesellschaftliche Entwicklungen rationalen Betrachtungen zu entziehen und stattdessen die Emotionalität und Affekthaftigkeit des Politischen zu steigern, wenn hinter diesen Entwicklungen (unbekannte, unfassbare, omnipotente) Mächte
1 Der Beitrag greift auf Überlegungen zurück, die in dem Aufsatz »Vom rechten Wahn. ‚Lügenpresse‘, ‚USrael‘, ‚Die da oben‘ und ‚Überfremdung‘«, erschienen in Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung (H. 6/2016) entwickelt wurden. Der Autor dankt der Redaktion für die Genehmigung zum überarbeiteten Wiederabdruck.
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Samuel Salzborn
vermutet werden, die im Sinne einer Verschwörung agieren und die tatsächlichen politischen Agenden steuern würden. Das Motiv der Verschwörung ist historisch wie systematisch generell ein antisemitisches, gleichwohl kann diese Verschwörungsphantasie im gegenwärtigen Rechtsextremismus zahlreiche Ausprägungen annehmen, neben den nach wie vor prägnanten und dominanten des Antisemitismus und des Antiamerikanismus (vgl. Jaecker 2004, 2014) auch solche, die vor den Gefahren einer angeblichen Islamisierung Europas warnen. Das Schlagwort der Islamisierung ist im völkischen Denken dabei ein Element von geopolitischer Bevölkerungspolitik, weil es nicht primär auf den Islam (als Religion) oder die Muslime (als Subjekte) orientiert, sondern auf eine Verbindung von völkischen und raumordnerischen Aspekten abhebt: es geht um eine Ablehnung und Furcht vor dem Aufenthalt bzw. Zuzug von Muslimen nach Deutschland bzw. Europa. Der Glaube, es würde zu einer bevölkerungspolitischen Islamisierung Europas kommen, der oft auch mit dem seit Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (1918/22) kulturpessimistisch und apokalyptisch aufgeladenen Begriff des »Abendlandes« verbunden wird, ist Teil einer umfassenderen Verschwörungsphantasie. So heißt es beispielsweise in der Quartalszeitschrift Deutschland in Geschichte und Gegenwart, die sich vor allem an ein geschichtsrevisionistisches Spektrum orientiert, dass »die Duldung der Islamisierung das Abendland zerstören« (Jebens 2015: 3) würde. Die Verschwörungsphantasie zielt im Sinne der extremen Rechten darauf, die ethno- und geopolitischen Grundlagen des »deutschen Volkes« bzw. der »deutschen Rasse« (je nachdem, ob eine kulturalistische oder eine rassistische Position vertreten wird) als gefährdet anzusehen – durch Zuwanderung und »Überfremdung«, durch Medien- oder Finanzdominanz, durch Parlamentarismus und Parteiendemokratie, durch Aufklärung und Rationalität. Diese völkische Angst vor einer Islamisierung Europas, die suggestiv an die reale Gefahr der Bedrohung durch islamistischen Terrorismus anschließen kann und gerade durch diese Vermischung von Fiktion und Realität intuitive Wirkmächtigkeit entfaltet, ist im bundesdeutschen Rechtsextremismus aber eben durch eine Ambivalenz der Haltung gegenüber dem Islam geprägt – und in dieser Frage einer Spaltung der rechten Szene: in einen Flügel, der wie die NPD sogar mit radikalislamischen Gruppierungen wie der mittlerweile verbotenen Hisb ut-Tahrir kooperiert, der gemeinsam mit Islamisten unter palästinensischer Federführung bei antisemitischen Demonstrationen gegen Israel marschiert (wie im Sommer 2014; vgl. Salzborn 2014) und insofern vor allem durch einen glühenden Antisemitismus, aber auch durch antifeministische, homophobe und zu152
Antisemitisches Verschwörungsdenken im Rechtsextremismus
gleich homoerotische Vorstellungen miteinander verbunden ist und einen Flügel, der wie Pro-NRW, Pegida oder der Internetblog »Political Incorrect« den eigenen fremdenfeindlichen Rassismus hinter plumpen antiislamischen Vorurteilen versteckt. Damit findet sich neben einer antimuslimischen Agitation, die antiislamisch formuliert, was rassistisch gemeint ist, gleichermaßen eine proislamische Grundhaltung im Rechtsextremismus, die die weltanschaulichen Gemeinsamkeiten von völkischem Denken und radikalem Islamismus betont und den Islam für seine gemeinschaftliche Homogenitätsvorstellungen in Verbindung mit Antisemitismus und Antifeminismus bewundert. Zwischen diesen beiden Flügeln steht die neurechte Zeitschrift Sezession, anhand derer sich die Widersprüchlichkeiten anschaulich illustrieren lassen: Auf der einen Seite begreifen die Sezession-Autor(inn)en, dass vom politischen Islam für Deutschland und Europa aufgrund dessen politischen Herrschafts- und religiösen Monopolanspruchs eine Gefahr ausgeht, auf der anderen Seite bewundert man aber die Rigorosität und Beharrlichkeit im Islam, an seinem antimodernen Weltbild trotz aller Widersprüche und Konflikte festzuhalten: »Der Orient ist für Europa seit jeher beides gewesen: Faszination – und Schreckbild« (Seubert 2011: 15). Zwei Textbeispiele helfen, diese argumentative Spannung zu verdeutlichen (vgl. ausführlich Salzborn 2015b). In einem Beitrag mit dem Titel »Der Islam und die Rechte« setzt sich Karlheinz Weißmann (2005) in der Sezession mit dem französischen Kopf der Nouvelle Droite, Alain de Benoist, auseinander, der die Verschleierung muslimischer Frauen in Frankreich für unproblematisch hält und – in den mit dem Begriff »Tracht« freilich stark völkisch überwölbten Worten von Weißmann – »gegen eine solche Tracht nichts einzuwenden« habe. Weißmann erklärt die Haltung von Benoist damit, dass dieser in der Verschleierung die »mehr oder weniger legitime Bemühungen« sehe, sich »gegen einen Universalismus zu wappnen, der keine gewachsenen Überlieferungen und Lebensformen« anerkenne und zugleich durch sie »jene ‚Ganzheit‘« verbürgt sei, die zu den »wesentlichen Merkmalen von de Benoists Kulturbegriff« gehöre (ebd.: 50). Weißmann kritisiert an einer allzu positiven Bezugnahme auf den Islam die »Fixierung auf das normative Selbstverständnis bestimmter Religionen und Kulturen« (ebd.: 51), was genau jene Spannung zwischen Faszination für den abstrakten Antiuniversalismus und Furcht vor dessen konkreter Substanz integriert. Ähnlich denkt auch Ellen Kositza (2011) – mit Blick auf die ambivalente Haltung gegenüber dem Islam, an dem seine Rigorosität und Essentialität bewundert, seine Konkurrenz zu den eigenen Hegemonieansprüchen aber gefürchtet wird. Kositza befasst sich in der Sezession mit dem Kopf153
Samuel Salzborn
tuch und betont, dieses sei »dem christlichen Abendland nicht fremd« und auch für die Germanen sei von »Frauenhaar eine magische Kraft« ausgegangen (ebd.: 24). Kositza wendet sich nachhaltig gegen den Feminismus und jede Emanzipation der Frau und unterstellt einen »grundlegenden Unterschied zwischen Mann und Frau« (ebd.: 26), wobei es um ein Weltbild der »rigorosen Trennung eines weiblichen und männlichen Lebensprinzips« (ebd.) gehe. Gegen feministische Überlegungen wendet sie ein, dass man gegen diese das »Kopftuch auf Rezept« zur »Wiedererlangung von Würde, Geborgenheit und Seinsgewißheit« verordnen sollte, würde es möglich sein (ebd.), wobei auch in Kositzas Überlegungen der eigentlich instrumentelle Bezug auf den Islam ebenfalls deutlich wird, der im Kern nur aus ethnopluralistischen, d.h. völkischen Gründen kritisiert wird – und nicht aufgrund all der Momente, die eine liberale, aufgeklärte, feministische oder soziale Islamkritik formulieren würde, im Gegenteil: »Die schwarzäugige Kopftuchträgerin an der Supermarktkasse befremdet mich weniger als ihre wildgefärbte, kaugummikauende Kollegin mit all den Ringlein in Lippe und Augenbrauen. Ebenso wähnte ich meine Kinder bei einer Ferestha Ludin als Englischlehrerin besser betreut als bei einem franseligen Sozialkundepädagogen, der zugleich für Die Linke im Kreistag sitzt und in seinen Klassenarbeiten Aufgaben stellt, deren Musterlösungen hanebüchen sind.« (Kositza 2011: 25) Weltanschaulich bemerkenswert ist hier auch die überhebliche Arroganz, mit der das Argument auch in sozialdarwinistischer Perspektive vorgetragen wird, vor dem historischen Hintergrund der oft als positives Gegenbild heroisierten Germanen, die – wie der Historiker Uwe Walter (2014) betont – doch vor allem als »zerstritten, faul und barbarisch« beschrieben werden müssen, so dass hier offenbar ein klassischer Fall von Projektion vorliegt, bei dem Kositza gerade das Zerrbild einer Frau ablehnt, das unbewusst ihrem eigenen Idealbild sozialtypologisch (und über die historischen Entwicklungen hinweg übersetzt) doch recht nahe kommt. Stellt man in Rechnung, dass es im gegenwärtigen Rechtsextremismus gleichermaßen eine antiislamische wie eine proislamische Fraktion gibt, die sich bevölkerungspolitisch in ihrer verschwörungsphantastischen Angst von einer Islamisierung Europas treffen, zeigt dies, dass das Argument von Stöss, nach dem der Rechtsextremismus generell durch eine Antiislamkampagne geprägt sei, einerseits den proislamischen Flügel und damit die Widersprüche in der rechten Szene nicht hinreichend genug berücksichtigt, andererseits aber eben die rechte Agitation gegen eine Islamisierung Europas nur Teil einer größeren, nämlich einer Verschwörungskampagne ist. 154
Antisemitisches Verschwörungsdenken im Rechtsextremismus
Sichtbar wurde die Dominanz von Verschwörungsphantasien in der rechten Szene besonders im Jahr 2014, als auf die gemeinsamen antisemitischen Demonstrationen von Islamisten, (linken) Antiimperialisten und Neonazis im Sommer (vgl. Salzborn 2014), die Proteste von Pegida (»Patriotische Europäer Gegen die Islamisierung des Abendlandes«) in Dresden sowie von ihren lokalen Ablegern, aber auch die prorussischen und antiamerikanischen »Montagsdemonstrationen« folgten (vgl. Salzborn 2015c; siehe auch den Beitrag von Niklas Lämmel in diesem Band). Verbunden waren diese Proteste durch das Moment des Verschwörungsglaubens: Die einen glauben an eine Verschwörung internationaler Mächte mit dem Ziel der Errichtung einer »neuen Weltordnung« (bevorzugt unter amerikanischer und/oder israelischer Führung), die anderen an die einer multikulturellen Gesellschaft, beide phantasieren geheime Aktivitäten von Politik und Medien, die angeblich den Protest »des Volkes« begrenze oder unterdrücke. Während demokratische Medien dabei als »Lügenpresse« verunglimpft werden, nur weil sie die rassistischen Partikularinteressen eben auch als solche benennen, werden Propagandamedien wie dubiose Internetblogs oder das russische Fernsehen glorifiziert – weil sie den eigenen Wahn zur Wahrheit erklären. Die konkreten Verschwörungsmythen werden dabei fast so schnell produziert, wie die Ereignisse stattfinden, die den Anlass für ihre Formulierung bilden – was mit der Logik der Verschwörung selbst zu tun hat: Sie bedarf keiner Fakten, keiner Realität, keiner Wirklichkeit außer ihrer selbst, um zu funktionieren. Es bedarf eben nur eines Anlasses, nicht einer Ursache, damit Verschwörungsphantasien formuliert werden – egal, ob die Agitation der rechten Szene sich im Einzelfall gegen eine unterstellte amerikanische oder israelische (Geheim-)Dominanz in der Weltpolitik, eine angebliche Islamisierung Europas, die globalen und als unkontrollierbar empfundenen Finanzmärkte, die als »Lügenpresse« verunglimpften demokratischen Medien, die in antidemokratischer Absicht im NS-Jargon als »Alt-« oder »Systemparteien« titulierten Repräsentationsinstitutionen der Demokratie oder einfach gegen die in verachtender und entpersonalierender Weise begrifflich entmenschlichten »Die-da-Oben« wendet. Eine der kuriosesten Erscheinungen, die den genuin demokratiefeindlichen Gehalt der Verschwörungsideologie zeigt, ist der Einsatz von Wahlbeobachtern – allerdings nicht in autokratischen Regimen, sondern in Deutschland: so lancierte die rechtsextreme Monatszeitschrift Zuerst! beispielweise ein Kurzinterview mit einem »Wahlbeobachter«, der aus dem separatistischen und international nicht anerkannten Gebiet »Bergkarabach« die Landtagswahl in Baden-Württemberg im März 2016 »beobachtet« hat und dabei – getreu des Weltbildes – ins Raunen über »Übergriffe gegen AfD-Wahl155
Samuel Salzborn
kämpfer« geriet, wobei er selbst einräumte, auf Einladung der AfD zur »Wahlbeobachtung« nach Deutschland gekommen zu sein, nachdem wiederum AfD-Politiker zuvor in der südkaukasischen Schattenrepublik »Wahlbeobachter« gespielt hatten (vgl. Poghosyan 2016). Die jeweils eigene hermetische Wahnwelt rechtsextremen Denkens funktioniert in ihrer Struktur ganz unabhängig von der Wirklichkeit, da sie nicht an empirische oder historische Fakten gebunden ist, sondern lediglich mit einem Phantasieweltbild korrespondiert, das jederzeit reformulierbar, jederzeit reproduzierbar und damit auch jederzeit in Variationen abrufbar ist – letztlich basieren weite Teile des rechtsextremen Geschichtsbildes genau auf diesem Muster des phantastischen Verschwörungsdenkens. Kaum ein politisches Ereignis bleibt frei von entsprechenden Verschwörungsmythen – mögen es so offensichtlich verrückte Ideen wie der Einfluss von außerirdischen Lebensformen auf die Weltpolitik sein oder auch die zahlreichen, bis ins minutiöse Detail ausphantasierten Wahnvorstellungen über die amerikanische Politik, insbesondere im Kontext mit dem internationalen Terrorismus (Beyer 2014, Jaecker 2014). Selbst nach den islamistischen Terroranschlägen in Paris im Januar und November 2015 dauerte es jeweils nur Stunden, bis dubiose Internetblogs voll waren mit antiamerikanischen und antisemitischen Verschwörungsmythen rund um die Anschläge (siehe auch die Beiträge von Alina Saggerer und Merle Stöver und in diesem Band). Aber auch der Glaube an eine »Islamisierung des Abendlandes« gehört zu diesen Mythen, denn sind die Migrationsprozesse in Deutschland jüngst zwar wieder deutlich wahrnehmbarer, aber doch sowohl im Vergleich mit den 1990er Jahren, wie auch mit der Aufnahme von Flüchtlingen durch andere, besonders außereuropäische Staaten als vergleichsweise gering zu bewerten – noch zumal den 21,3 Millionen Menschen, die (überwiegend aus anderen europäischen Staaten) zwischen 1991 und 2013 nach Deutschland eingewandert sind, auch 15,9 Millionen Menschen stehen, die seither (wieder) aus Deutschland ausgewandert sind (vgl. Busse 2015). Die rassistische Abwehr von Flucht, Migration und Zuwanderung als völkische Angst vor einer angeblichen »Überfremdung« bildet dabei ein wichtiges Element der Verschwörungskampagne. So erklärt etwa Arne Schimmer die Kölner Übergriffe in der Silvesternacht 2015/16 in der NPDZeitung Deutsche Stimme zum »Fukushima der Willkommenskultur« (Schimmer 2016: 6), an selber Stelle wird die rhetorische Frage aufgeworfen: »Soll Europa mit der Migrationswaffe vernichtet werden?« (Thomsen 2016: 8), wobei hinter der »Migrationswaffe gegen Europa« ein amerikanischer Investor als »treibende Kraft hinter der Massenzuwanderungs-Propaganda« vermutet wird (Thomsen 2015: 8), während man über die »Profi156
Antisemitisches Verschwörungsdenken im Rechtsextremismus
teure der Massenzuwanderung« sinniert (Babic 2015: 6). Die Huttenbriefe erklären die Europäische Union gleich zur »Diktatur«, in der »die Völker durch Fremdeinwanderung und erzwungenen Genozid zu Grunde gehen« (Schröcke 2014: 13). In den Burschenschaftlichen Blättern wird mit Blick auf die Flüchtlingssituation in Deutschland und Österreich von einem »Ausnahmezustand« und einem »Prozeß der Zersetzung« gesprochen (Marburger Burschenschaft Germania 2015: 175) und die Existenz einer »inzestuösen ‚Systempresse‘« phantasiert, die »wesentlich gefährlicher« sei, als »jedes staatlich gelenkte Pressemonopol, weil sie die Zensur verschleiert.« Dieses »Systempresse« sei geprägt von einem »Klüngel« eines »Milieus der Meinungsmacher«, das in »seinem Aufbau der politischen Kaste der Parteienoligarchie nicht unähnlich« sei (Poensgen 2015: 8ff.). Auch die neurechte Sezession spricht vom »permanenten Ausnahmezustand«, in dem Merkel während der Flüchtlingskrise die »linksliberale Gutmenschenideologie der bundesrepublikanischen Elite« retten wollte, wobei die Medien »die politische Klasse« nicht kontrollieren würden, sondern »Teil des Establishments« seien (Menzel 2016: 2). Und in der auflagenstarken Wochenzeitung Junge Freiheit ist die Rede vom »anschwellende Strom« von Flüchtlingen, der sich »ins Sehnsuchtsland Deutschland Bahn« breche, als »Produkt von politischen Fehlentscheidungen und Interessen«, bei denen »Flüchtlinge als Waffe« fungieren würden (Stein 2015: 1). An den Universitäten herrsche, mit Blick auf die Initiierung von Zivilklauseln, eine »Gesinnungsdiktatur«, es existierten »zeitgeistige Denkverbote«, man befinde sich »unter geistiger Besatzung« (Schumacher 2015: 2), die Wahlerfolge der AfD seien Folge eines »stickigen Zwangskonsenses«, bei dem »eine abgehobene politisch-mediale Klasse« das »Publikum mit dem Dämmschaum politischer Korrektheit« umschlossen habe: »Die Bürger haben den von oben verordneten Konsens satt und begehren dagegen auf« (Stein 2016: 1). Auch die rechtsextreme Musikszene ist durchsetzt mit apokalyptischen Verschwörungsphantasien. In dem Song »Von Ost nach West …« textet etwa die Band »Volksgemeinschaft statt Individualismus« (Album: »Akzeptanz und Menschlichkeit«, 2010): »Ihr Plan eiskalt und teuflisch, seit Jahrhunderten manifestiert [...] die auserwählte Hochfinanz zwingt Europa in die Knie [...] Das Ergebnis ihres Plans ein großer Völkerbrei [...] Jagt den Weltfeind aus jedem Land! Gegen Ausbeutung und Zinssklaverei.« Und bei der in der rechten Szene ausgesprochen populären Band »Die Lunikoff Verschwörung« heißt es in dem Song »Schattenregierung« (Album: »L-Kaida«, 2011): 157
Samuel Salzborn
»Kabbalistische Banker hinter den Kulissen. Schwarzmagische Eliten mit geheimem Wissen. Bald jedes Volks und jedes Land regiert die unsichtbare Hand. Refrain: Das ist die Schattenregierung, die geheime Weltmacht. Über den Erdball senkt sich die Nacht. Die Schattenregierung ohne Pardon. Die Wahnsinnigen vom Berge Zion.« Noch expliziter wird die antisemitische Ausformulierung der Verschwörungsphantasie bei »In Tyrannos«, wenn sie in ihrem Song »Die Protokolle« (Album: »Die Maske Fällt«, 2007) texten: »Entdeckt hat man sie vor über hundert Jahren / Von ‚Gelehrten‘ abgefasst / Alte Geheimnisse wollte man bewahren / Ihr Ziel Die Weltherrschaft // Die Pläne sollten nie nach außen dringen / Richtlinien voller Haß / Die ganze Menschheit unters Joch zu zwingen / Doch sie bestreiten das // […] // Unsichtbare Feindgewalten halten über dich Gericht / Die zwar Walten, für dich schalten, doch nur sehen kannst du sie nicht // Lug, Betrug, Schachzug, Pest, Pein und Plage / Schwur, Aufruhr, Tortur für alle Tage / Lug, Betrug, Schachzug, Pest, Pein und Plage / Schwur, Blutspur, Zensur für alle Tage // Lies die Protokolle, Werk der herrschsüchtigen ‚Weisen‘ / Die heutige Realität reicht völlig an Beweisen.« Verschwörungsmythen werden geglaubt, nicht obwohl, sondern weil sie erfunden sind und weil sie im Widerspruch zu allen Erkenntnissen stehen, die mit der Realität korrespondieren. Deshalb ist es auch nicht möglich, dem Anhänger einer Verschwörungsphantasie diese individuell zu widerlegen: Er glaubt sie, weil sie irrational ist – und jeder Beleg dieser Irrationalität wird wieder in das Wahnweltbild des großen Verschwörungsglaubens integriert. Insofern sind Verschwörungsphantasien auch keine Theorien, weil sie Wirklichkeit nicht erklären oder verstehen wollen, sondern jene lediglich an ihre psychische Devianz anpassen möchten. Ihr Anspruch ist nicht theoretisch, sondern praktisch. Der Markt aber, der sich daraus für rechte Verschwörungsliteratur und andere Merchandising-Produkte ergibt, ist gigantisch. Es ist ein Markt des Wahnsinns, auf dem weltanschaulich alles feilgeboten wird, was nur die Bedingung erfüllt, keiner Realitätsprüfung standzuhalten. Es sind die Phantasien von einer regredierten Welt, der Traum von einem harmonischen und widerspruchsfreien (völkischen) Selbst, in dem alles nur einer Logik gehorcht, nämlich der eigenen – keine Widersprüche, keine Ambivalenzen, nur (gemeinschaftliche) Identität. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud (1900: 625) hat diese Differenzierung begrifflich in der Unterscheidung von »materieller Realität« und »psychischer Realität« gefasst – die Verschwörungsphantasien als psychi158
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sche Realität sind dabei nahezu hermetisch von der materiellen Realität abgekoppelt: sie folgen einer identitären und widerspruchsfreien Logik, die nur in der Logik der jeweils eigenen Psyche funktioniert – oder in der Kollektivphantasie der völkischen Gemeinschaft. Alles kreist um das überhöhte Selbst, das sich dem egoistischen Größenwahn hemmungslos hingibt, aus sich selbst heraus die Welt zu deuten (Salzborn 2010: 317ff.). Nur, und das macht den aggressiven Zorn vieler Verschwörungsphantasien aus, dass die Welt sich fortwährend nicht so verhält, wie es die Verschwörungsanhänger/innen gerne hätten. Am deutlichsten trifft man dieses Motiv in Erklärungen der so genannten Reichsbürger – obskuren Vereinigungen, die auf einer Kontinuität des Deutschen Reiches beharren, sich selbst »Reichsbürgerausweise« ausstellen (und amtliche Papiere nicht anerkennen) und immer wieder, auch durch Einführung eigener Währungen, ihr Wahnweltbild in die Wirklichkeit transformieren wollen, wenn beispielsweise private Grundstücke zu »freiem Reichsgebiet« erklärt werden (vgl. Rathje 2014, 2015). Und auch die Entwicklungen im Bereich der »völkischen Siedler« können so gedeutet werden: In vorsätzlicher Abkehr – freilich in faktischer Umsetzung des NPD-Konzepts einer lokalen Hegemonie als »national befreite Zone« (vgl. NHB 1991: 4f.) – von der bürgerlichen Welt in pseudo-vormodernen Strukturen auf dem Land zu leben und dort das, was man für völkische Lebensweisen hält, aktiv im Alltag zu praktizieren, regressiven Naturglauben zu verbinden mit einer Glorifizierung vorindustrieller Handwerkstätigkeit und einer »artgerechten« Landwirtschaft (vgl. Schmidt 2014). Die Verschwörungsphantasie, nach der beispielsweise Erkenntnisse der modernen Medizin für einen »germanischen« Lebensstil nicht angemessen seien, führte auch dazu, dass ein rechtsextremes Elternpaar sein Kind – in Ablehnung moderner Medizin und bei Orientierung an dem mythischen Hokuspokus einer »neuen germanische Medizin« – hat qualvoll sterben lassen (vgl. Röpke 2015). Ebenfalls im Umfeld der selbst ernannten Reichsbürger, aber weit über dieses Spektrum hinaus verbreitet sind Verschwörungsmythen, die sich an den so genannten Chemtrails orientieren – bei denen die Verschwörungsideologen der Auffassung sind, dass die Kondensstreifen am Himmel in Wirklichkeit vorsätzlich platziertes Gift seien, mit dem das Wetter oder das Bewusstsein der Menschen beeinflusst werde (vgl. Hirter 2014). Verschwörungsmythen sind dabei, das sollte nicht vergessen werden, ihrer Struktur nach Phantasien, infantile, regressive Phantasien, die – politisch gewendet und damit alles andere als ungefährlich – vor allem etwas über die Person sagen, die sie vertritt. Dass, was den Kern von Verschwörungsmythen ausmacht, sind die zumeist unbewussten und verdrängten, 159
Samuel Salzborn
bisweilen aber auch bewussten Wünsche und Sehnsüchte, die man freilich nicht in einem individualpsychologischen Sinn konkretisieren könnte, die aber sozialpsychologisch Ausdruck eigener Wünsche nach Teilhaben und Teilwerden mit einer omnipotent phantasierten Macht sind. Die antisemitische Phantasie einer jüdischen Weltverschwörung ist vielleicht der deutlichste Ausdruck eines solchen Wahnweltbildes, von dem der Nationalsozialismus in barbarischer Weise gezeigt hat, dass es dem völkischen Ideal der Weltbeherrschung durch Vernichtung entsprang. Dass, was den Anderen im Verschwörungsmythos vorgeworfen und vorgehalten wird, ist das Eigene – die verdrängten und verleugneten Anteile des Selbst, die eigenen Wünsche, die zugleich als so monströs erfasst (aber eben dabei nicht begriffen) werden, dass sie – zunächst – nur in ihrer projektiven Form formuliert werden. In den unzähligen Verschwörungsmythen können also die Wünsche und Phantasien derer gelesen werden, die an sie glauben. Die Verschwörungskampagne der rechten Szene schließt dabei unmittelbar an die von Stöss so benannte Antiglobalisierungskampagne an, radikalisiert und erweitert diese um zahlreiche Varianten und Variationen, die nicht nur konzeptionell und medial diskutiert werden, sondern eben auch ihren Niederschlag in Form – wenngleich auch kleinräumiger – Bewegungsartikulation im Rechtsextremismus finden. So werden, wie Pegida exemplarisch gezeigt hat, mittlerweile auch Demonstrationen unter einem verschwörungsphantastischen Paradigma durchgeführt, die zu einer über die Szene hinausweisenden Verbreitung beitragen und zugleich auch Anhänger/innen mobilisieren, die zuvor noch nicht in der rechten Szene integriert waren (siehe zur Langzeitperspektive rechter Demonstrationspolitik: Virchow 2007). Das Motiv der Verschwörung ist dabei die integrative Klammer, die die rechtsextreme Szene spätestens seit 9/11 prägt und, gerade mit dem Ziel der Erhöhung der (aggressiven) Affekthaftigkeit und damit der weiteren Beschleunigung von Politik, zunehmend mehr Themengebiete und Agitationsstrategien verbindet. Resümee und Perspektiven Jede sozialwissenschaftliche Generalisierung birgt die Gefahr, die empirische Realität in einem tendenziell idealtypisierenden Sinn zu verformen und damit ein analytisches Instrumentarium über die in der sozialen und politischen Wirklichkeit bestehenden Widersprüche und Ambivalenzen zu legen (vgl. Salzborn 2013). In diesem Sin kann gegen die hier formulierte These, nach der zentrale Momente des gegenwärtigen Rechtsextremismus von einer leitbildgebenden Verschwörungskampagne geprägt sind, auf der 160
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empirischen Ebene eingewandt werden, dass es auch zahlreiches Material im rechtsextremen Milieu gibt, das nicht diesem Analyseansatz entspricht – was aber noch kein Gegenbeleg wäre. Denn wenn der Grundgedanke, nachdem die unterschiedlichen Milieus im rechten Spektrum einerseits von ihrer prinzipiell antiuniversalistischen, antiaufklärerischen und völkisch-kollektiven Grundhaltung in ihrer Ideologie der Ungleichheit verbunden sind, sich diese Verbundenheit aber über die einzelnen Spektren im Rechtsextremismus auch handlungspraktisch anhand von zentralen Kampagnenthemen zeigt, die die gesamte rechte Szene verbinden, zutreffend ist, sind rechte Artikulationen, die auf verschwörungsphantastische Elemente verzichten, eben kein Gegenbeleg gegen die These, sondern zeigen vielmehr, dass der Grundgedanke von Stöss, nach dem die Kampagnenmotive sich eben auch überlagern, andererseits aber eben vor allem integrierende und vernetzende Wirkung haben, gerade in seiner Differenziertheit überzeugt. Dass sich Verschwörungsglauben in der Gegenwart auch außerhalb des organisierten Rechtsextremismus findet, zeigt dabei einerseits die auch gerade in Einstellungsuntersuchungen seit mehreren Jahren umfangreich belegte Erosionen hin zu einer »fragilen Mitte« (Zick/Klein 2014) bei der eben »Themen der Rechten« zunehmend zu »Themen der Mitte« werden (vgl. Butterwegge et al. 2002) – ohne, dass sich dabei etwas an ihrer grundsätzlich antiaufklärerischen oder völkischen Dimension ändern würde, was zugleich auch heißt, dass sich Teile der vormalig als gesellschaftliche Mitte verstandenen Personen oder Organisationen faktisch nach Rechtsaußen bewegen. Denn der Glaube an antiaufklärerische Weltverschwörungen wird nicht allein dadurch rechtsextrem, das er von rechtsextremen Organisationen vertreten wird, sondern er ist es wie gezeigt wurde seiner Struktur nach und kann eben nicht dadurch demokratisiert werden, dass er von (vormaligen) Demokrat(inn)en vertreten wird, sondern ganz im Gegenteil radikalisieren sich diejenigen, die rechtsextreme Positionen übernehmen, ihrerseits nach Rechts. Literatur Babic, Safet (2015): Profiteure der Massenzuwanderung, in: Deutsche Stimme, Heft 3, S. 6 Beyer, Heiko (2014): Soziologie des Antiamerikanismus. Zur Theorie und Wirkmächtigkeit spätmodernen Unbehagens, Frankfurt/New York Busse, Nikolaus (2015): Ein gemischtes Bild. Einwanderung in Zahlen: Viele Europäer, Probleme beim Asyl, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.02.
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Von den Turner Diaries über Breivik bis zum NSU: Antisemitismus und rechter Terrorismus Matthias Quent/Jan Rathje
Antisemitismus kommt im (deutschen) Rechtsterrorismus in unterschiedlichen Graden zum Vorschein (Gräfe 2017: 228), wird in der Analyse und Berichterstattung aber nur unzureichend beachtet. 1980 tötete der Rechtsterrorist Uwe Behrendt in Erlangen den Rabbiner Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frieda Poeschke. Behrendt war Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann. Nach der Tat floh er mithilfe der palästinensischen Fatah in den Libanon und beging dort Suizid. Behrendt gilt trotz Hinweisen auf die Tatbeteiligung weiterer radikal Rechter als Einzeltäter. Aufgeklärt ist die Tat auch fast 40 Jahre später noch nicht vollständig, u.a. weil das Bundesamt für Verfassungsschutz die Freigabe von Akten verweigert: Die Einsichtnahme in die Unterlagen gefährde »das Wohl der Bundesrepublik Deutschland« (Saure 2017). Nicht nur Verschleierungen durch den Inlandsgeheimdienst, sondern auch ideologische Komponenten des Antisemitismus haben im deutschen Rechtsterrorismus Kontinuität. Erschwerend kommt bei der Aufklärung und Einordnung antisemitischer Anschläge ein großes Spektrum mutmaßlicher Täter_innen hinzu. Im November 2017 stellte die Bundesanwaltschaft ergebnislos die 2013 wieder aufgenommenen Ermittlungen wegen eines Brandanschlags mit sieben jüdischen Todesopfern auf das damalige Zentrum der israelitischen Kultusgemeinde in München vom 13. Februar 1970 ein. Im Fokus der Ermittlungen standen Mitglieder »der früheren linksextremistischen Gruppierung ‚Tupamaros München‘« (Generalbundesanwalt 2017). Auch radikal rechte Motive seien laut Bundesanwaltschaft bei den Ermittlungen berücksichtigt worden. Die Tat ist nach dem Münchner Olympia-Attentat von 1972, bei dem palästinensische Täter sowohl mit deutschen radikalen Rechten und radikalen Linken paktierten, der wohl schwerwiegendste antisemitische Anschlag in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Hintergründe sind weiterhin unaufgeklärt. Am 27. Juli 2000 detonierte an einem Zugang zum Bahnhof Wehrhahn in Düsseldorf eine Rohrbombe. Zehn Menschen aus Einwandererfamilien wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Sechs Opfer hatten einen jüdischen Hintergrund. Das ungeborene Kind einer im fünften Monat 165
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schwangeren Frau starb. Erst im Januar 2017 wurde ein tatverdächtiger Neonazi festgenommen und wegen versuchten Mordes »aus Fremdenhass« angeklagt (Der Tagesspiegel 2018). Mitte 2018 endete das Verfahren vor dem Landgericht Düsseldorf mit einem Freispruch, da die Schuld des Tatverdächtigen aus Sicht der Richter_innen nicht nachgewiesen werden konnte. Die Staatsanwaltschaft legte gegen das Urteil Revision ein. Wenige Monate nach dem Wehrhahn-Anschlag ereignete sich in Düsseldorf ein weiterer Brandanschlag: auf die Synagoge. Zunächst wurde ebenfalls ein rechtes Motiv vermutet, dann jedoch ein palästinensischer Aktivist und ein marokkanischer Mittäter ermittelt und verurteilt. Die Täter behaupteten, ihr Motiv für den antisemitischen Anschlag auf das jüdische Gebäude sei »Wut gegen israelische Gewalt im Nahen Osten« gewesen. Diese Fälle zeigen beispielhaft am Kulminationspunkt Terrorismus, wie sich im Antisemitismus rechte, linke und islamistische Terrorist_innen treffen können. Mit Peter Waldmann (2011: Pos. 126) sind unter Terrorismus »planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge aus dem Untergrund gegen eine politische Ordnung zu verstehen. Sie sollen vor allem Unsicherheit und Schrecken verbreiten, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen.« (Waldmann 2011; Quent 2016, 2019) Wir beschränken die folgenden Analysen zum Rechtsterrorismus in westlichen Gesellschaften auf Fälle vigilantistischen Terrorismus – d.h. auf Rechtsterrorismus, der aus einer tatsächlichen oder wahrgenommenen starken nationalen Machtposition »im Namen des Volkes« gesellschaftliche Minderheiten oder politische Gegner_innen angreift (ebd.). Diverse Studien weisen darauf hin, dass judenfeindliche Stereotype in besorgniserregendem Ausmaß aus der ‚Mitte‘ der Gesellschaft (re-)produziert werden (u.a. Schwarz-Friesel, Friesel und Reinharz 2010). Wie verbreitet gruppenbezogene Gewalttaten gegen Jüdinnen und Juden ohne explizite politische Tatmotivation sind, ist mangels polizeilicher Erfassungsmethoden und spezifischer Dunkelfeldstudien unklar (Habermann/ Singelnstein 2018). Die konventionellen Einordnungen entlang polizeilicher Kategorien linker, rechter und ‚ausländischer’ Motive werden der Gewalt und dem Terrorismus von Antisemit_innen oft nicht gerecht, da es sich beim Antisemitismus um ein eigenständiges Phänomen handelt, das nicht an politische oder religiöse Spektren gebunden ist (Salzborn 2018: 59). Vielmehr stellt der Antisemitismus in seinen gewaltförmigen Erscheinungsformen häufig eine phänomenübergreifende Form der Vorurteilsbzw. Hasskriminalität dar.
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Im Folgenden werden die oftmals unerkannten Dimensionen von Antisemitismus im Rechtsterrorismus untersucht – ausgehend von Befunden und Fallstudien einiger hervorstechender Fälle aus Nordamerika, Deutschland und Norwegen. Robert Bowers gegen die »ZOG« Am 27. Oktober 2018 stürmte ein Mann mit einem Gewehr und drei Pistolen während eines Schabbat-Gottesdienstes die Tree of Life-Synagoge in Pittsburgh, tötete elf Jüdinnen und Juden und verletzte mehrere zum Teil schwer. Bei diesem Terroranschlag handelt es sich um den bisher größten, explizit gegen Jüdinnen und Juden gerichteten Anschlag in der Geschichte der USA. Der am Tatort festgenommene mutmaßliche1 Attentäter Robert Bowers vertrat seine ideologischen Überzeugungen im rechten Radikalisierungsnetzwerk Gab, dort postete und teilte er radikal rechte und antisemitische Inhalte (Bowers 2018). Bereits als Selbstbeschreibung hatte Bowers ein neutestamentliches Bibelzitat gewählt (Johannes 8:44), in dem er Juden als »Kinder Satans« beschrieb. Das Titelbild seines Accounts zierte ein technisches Gerät, dessen Digitalanzeige den in radikal rechten Kreisen geläufigen Zahlencode 14882 zur Schau stellte. Er verbreitete seinen Antisemitismus offen und unter Nutzung der gängigen Codes des radikal rechten (Online-)Milieus. Der mutmaßliche Attentäter wähnte sich in einer Welt gefangen, in der sich bösartige Juden gegen ihn und alle Weißen verschworen hätten. Unkommentiert teilte er Postings anderer Accounts, die ihn in seinem antisemitischen Weltbild bestärkten. Getreu dem verschwörungsideologischen und antisemitischen Plagiat der »Protokolle der Weisen von Zion« (Sammons 1998: 48) und radikal rechter Ideologie (vgl. Insko 2003) hielt er die Demokratie für das Werkzeug einer jüdische Spaltungsstrategie, um die nicht-jüdische Bevölkerung einer »ZOG« (Zionist Occupied/ Occupation Government, von Zionisten besetzte Regierung; ausführlich s.u.) zu unterwerfen. Als Motiv für den Anschlag muss auch der Glaube an das in aktuellen radikal rechten Verschwörungskampagnen (vgl. Salzborn 1 Zum Redaktionsschluss lag noch kein rechtskräftiges Urteil gegen Bowers vor. 2 Der Code verweist zum einen auf den Handlungsauftrag der sogenannten »14 words« des amerikanischen Rechtsradikalen David Lane (»We must secure the existence of our people and a future for White children.«; vgl. Grumke (2001: 50), zum anderen durch den doppelten Bezug auf den achten Buchstaben des Alphabets (und damit auf die strafrechtlich verbotene Grußformel »Heil Hitler«) (Heller und Maegerle 2001: 17).
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2015: 82–88) populäre Ideologem des »Großen Austauschs« in seiner amerikanischen Variante des »white genocide« (Anglin 2016) in Betracht gezogen werden, zu welchem Bowers auf Gab Inhalte postete und teilte. Demzufolge würden Juden planen, die weiße Bevölkerung Europas und Amerikas durch eine nicht-weiße zu ersetzen.3 The Turner Diaries, The Order und das Oklahoma City-Attentat Die apokalyptische Vorstellung Bowers von einem Genozid an der weißen Bevölkerung hat in den USA eine rechtsterroristische Tradition. Der dystopisch-antisemitische Roman »The Tuner Diaries« des Antisemiten und Neonazis William L. Pierce gilt als ein zentrales Werk für den US-amerikanischen und europäischen Rechtsterrorismus (vgl. Grumke 2001: 60f.; Michael 2003: 90–96; Botsch 2012: 109; Ward 2017: 11). In ihm verknüpft Pierce die Vorstellungen von der Auslöschung der weißen »Rasse« mit denen des Mythos der »jüdischen Weltverschwörung«. Der Roman handelt von einem Amerika der Zukunft, in dem die weiße Bevölkerung die Minderheit bildet und von Nicht-Weißen terrorisiert, vergewaltigt und ermordet wird. Christliche weiße Patrioten führen deshalb einen terroristischen Guerillakrieg gegen die Regierung, deren Politik, von Juden gesteuert, auf die Auslöschung der Weißen ausgerichtet ist. Pierce wird die geistige Urheberschaft des Codes »ZOG« wie auch ein prägender Einfluss auf die Konzeptualisierung der rechtsterroristischen Variante des »leaderless resistance«4 zugeschrieben (vgl. Insko 2003; Kaplan 1997: 85). In den folgenden Jahrzehnten bezogen sich mehrere Akteure des Rechtsterrorismus auf die »Turner Diaries«. Anfang der 1980er entnahm die amerikanische Gruppe The Order (1983/84) ihren Namen unmittelbar aus dem Roman und fokussierte ihren Kampf explizit gegen die »ZOG« (vgl. Michael 2003: 90, 95). Ein Jahrzehnt später, am 19. April 1995, verübten Timothy McVeigh und Terry Nichols einen Sprengstoffanschlag auf ein Regierungsgebäude in Oklahoma City, bei dem 168 Menschen starben und 684 verletzt wurden. Der Veteran des ersten Irakkriegs, McVeigh, galt als eifriger Leser der »Turner Diaries«, er empfahl das Buch seinen Kameraden und verkaufte Exemplare auf Waffenmessen (vgl. Stern 1997: 188f.; 3 Darauf zielten auch die antisemitischen Rufe »Jews will not replace us!« im Umfeld der rechtsradikalen »Unite the Right«-Demonstration in Charlottesville/Virginia am 11. August 2017 (vgl. Rosenberg 2017). 4 Für den Rechtsterrorismus prägte Louis R. Beam den Ausdruck in einem gleichnamigen, 1983 geschriebenen und 1992 veröffentlichten Aufsatz (Beam 1992).
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Michael 2003: 99). Er hatte sich zuvor im Umfeld des paramilitärischen, radikal rechten Militia Movements aufgehalten. Innerhalb dessen werden explizit und implizit antisemitische Weltverschwörungserzählungen von der »New World Order« (NWO) und »Die Protokolle der Weisen von Zion« geteilt, Antisemiten nehmen Führungspositionen ein (vgl. Stern 1997: 247; Spark 2003: 537). Der Anschlag sollte als Vergeltungsaktion gegen den gestiegenen Repressionsdruck vonseiten der US-Regierung – verstanden als »NWO«/»ZOG« – gegen christliche Endzeitsekten und das Militia Movement sowie die damit verbundenen tödlichen Stand-Offs in Ruby Ridge 1992 und Waco 1993 dienen (vgl. Mulloy 2003: 553). Auch im deutschen Rechtsterrorismus wirken antisemitische Verschwörungsmythen identitäts- und ideologiestiftend. NSU und Bürgerwehr Freital Die rechtsterroristischen Ereignisse in Deutschland, die seit 2001 am meisten Aufmerksamkeit hervorgerufen haben, richteten sich in der Tatausführung nicht primär gegen jüdisches Leben, sondern gegen Menschen aus Einwandererfamilien ohne jüdischen Hintergrund. Die folgenden Fallstudien zeigen, dass Antisemitismus dennoch für Rechtsterrorist_innen einen zentralen ideologischen Deutungsrahmen bietet. Die Berliner Synagoge in der Rykestraße gehört zu den jüdischen Einrichtungen in Deutschland, die unter dem Schutz von Polizei und Wachdiensten stehen. Das potenzielle Risiko manifestierte sich im Komplex des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU): Medienberichten zufolge wurden die gesuchten Rechtsterrorist_innen Beate Zschäpe und Uwe Mundlos in Begleitung weiterer Personen dabei beobachtet, wie sie im Jahr 2000 die Synagoge ausspionierten (Jansen 2016). Auf einer Liste des NSU mit potentiellen Anschlagszielen sind neben dieser Synagoge weitere 232 jüdische Einrichtungen in ganz Deutschland aufgeführt (Ramm 2017). Antisemitische Aktionen verübte die Kerngruppe des NSU bereits, bevor sie im Januar 1998 in die Klandestinität abtauchte. Aktionen und Drohungen richteten sich unter anderem gegen Ignatz Bubis, den damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland. In der Gedenkstätte Buchenwald marschierten die Neonazis in SA-ähnlichen Uniformen auf. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, verkauften sie das in Eigenproduktion entstandene Brettspiel »Pogromly«, welches offen den Nationalsozialismus und die Schoah verherrlichte. Im Spiel sollten unter anderem Städte »judenfrei« gemacht werden, die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald, Dachau und Ravensbrück wurden glorifiziert. Der erstin169
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stanzlich vom Oberlandesgericht München verurteilte NSU-Unterstützer André Eminger hat seinen Bauch großflächig mit dem Schriftzug »DIE JEW DIE« (Stirb Jude stirb) tätowieren lassen. Dass hinter diesen Aktionen und Äußerungen, die einen eliminatorischen Antisemitismus affirmieren, ein ausdifferenziertes antisemitisches Weltbild steht, zeigen Artikel, die der Rechtsterrorist Mundlos in einer Szenezeitschrift veröffentlichte. Unterschrieben sind die Artikel mit dem Pseudonym »Uwe UngeZOGen«. Mundlos greift mit der Hervorhebung von »ZOG« (»Zionist Occupation Government«) durch Großschreibung den verbreiteten Verschwörungsmythos des internationalen Antisemitismus auf, wonach Regierungen jüdisch beherrscht seien (vgl. auch Salzborn 2018: 67). Der Mythos wurde unter anderem in den »Turner Diaries« ausbuchstabiert, die auch dem NSU als ideologische und strategische Orientierung dienten (s.o.). Im Artikel »Die Farbe des Rassismus« schreibt Mundlos: »Natürlich gibt es noch eine Gruppe, welche Multikultur und Vermischung fordert, dies aber von der eigenen Gruppe fernhält. Ich nenn diese Gruppe nicht, um nicht rassistisch zu sein. Sie kennt ja sowieso jeder.« Mundlos meint Juden, die in der antisemitischen Agitation der radikal Rechten häufig als verborgene, unanständige und zerstörerische Macht agieren und die Politik eigentlich steuern würden (Quent 2019: 257). So ist das paranoid konstruierte Jüdische der abstrakte Hauptfeind, der im Hintergrund die Fäden für den diagnostizierten »Volkstod« durch Migration zieht, der aber aus strategischen Erwägungen nicht mehr bzw. noch nicht wieder offen angegriffen werden könne. Im Kontext der Migrationsbewegungen, die für radikal rechte Akteure einen »Volkstod« oder »großen Austausch« bzw. eine »Umvolkung« darstellen, verursacht von jüdischen Personen, um das deutsche Volk oder die europäischen »Völker« zu zerstören, wachsen der wahrgenommene Handlungsdruck und der offen artikulierte Antisemitismus. Auch die rechtsterroristische Bürgerwehr Freital unterstellte Juden die Steuerung der Staatsgewalt. Im März 2018 wurden neun Mitglieder der Gruppe in erster Instanz zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Rechtsradikalen verübten u.a. Sprengstoffanschläge gegen Asylsuchende, Flüchtlingshelfer_innen und Linke. In der Anklage argumentierte die Generalbundesanwaltschaft: Die Taten waren geeignet, ein Klima der Angst zu verbreiten, das Sicherheitsgefühl der ausländischen Bevölkerung zu beeinträchtigen und damit die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu schädigen. Das Oberlandesgericht Dresden folgte dieser Argumentation (Quent 2019: 375f.). Die während des Gerichtsverfahrens verlesenen Hinweise auf die antisemitische Ideologie der Angeklagten spielte in der öffentlichen Berichterstattung keine Rolle, obwohl bei den Rechtsterrorist_innen explizit antisemitische Materialien gefunden wurden, etwa Ab170
Antisemitismus und rechter Terrorismus
bildungen von Adolf Hitler vor einem Schornstein samt Schriftzug »Je größer der Jude – desto wärmer die Bude«.5 Ein Angeklagter bezeichnete in einer Chatgruppe Polizist_innen als »Rabbiner«, »Juden« bzw. »Judenbullen«. Die radikale Rechte steht zu staatlichen Autoritäten in einem ambivalenten Verhältnis, da sie einerseits den Nationalstaat verherrlichen, andererseits jedoch in ideologischem Widerspruch zu den Verfahren und Werten des demokratischen Verfassungsstaates stehen. Dieser Widerspruch wird über die Verschwörungserzählung einer »antideutschen«, jüdischen Fremdbestimmung des Staates aufgelöst. Antisemitismus bei Anders Breivik und dem OEZ-Attentäter David Sonboly Am 22. Juli 2011 tötete der norwegische Rechtsterrorist Anders Breivik 77 Menschen, überwiegend junge Teilnehmer_innen eines sozialdemokratischen Zeltlagers. Breiviks Anschlag richtete sich gegen die in seinem »Manifest« (Breivik 2011) als »Kulturmarxisten« bezeichneten Jungsozialist_innen, die er für den »Massenimport« von Muslim_innen nach Norwegen verantwortlich machte. Sein Hass auf Multikulturalismus und den Islam steht an der Seite eines selten thematisierten, janusköpfigen Antisemitismus. Breiviks bezieht einerseits eine pro-jüdische Position, um die islamistische Bedrohung für Jüdinnen und Juden als Rechtfertigung für antimuslimischen Rassismus und den Hass auf die Diversität postmoderner Gesellschaft zu instrumentalisieren. Andererseits gibt er in seinem Manifest jüdischen Intellektuellen – der antisemitischen Verschwörungserzählung des »Kulturmarxismus« folgend etwa der Frankfurter Schule um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno – die Schuld am verhassten Multikulturalismus (Breivik 2011: 1166). Zwar ruft Breivik dazu auf, einen Juden nicht für dessen Judesein anzugreifen, doch zugleich reproduziert er das antisemitische Zerrbild des »nation-wrecking multiculturalist Jew« (Breivik 2011: 1166), der im Gegensatz zum »conservative Jew« ein legitimes Ziel für Angriffe sei. Breivik zufolge habe Westeuropa kein »jewish problem (with the exception of the UK and France) as we only have 1 million in Western Europe, whereas 800 000 out of these 1 million live in France and the UK. The US on the other hand, with more than 6 million Jews (600% more than Europe) actually has a considerable Jewish problem« (Breivik 2011: 1166). Es gibt in Breiviks Weltanschauung in Westeuropa nur des-
5 Trotz derartig expliziter Äußerungen wurde die Mitglieder der rechten Terrorgruppe in Freital u.a. als »Lausbuben« verharmlost (Bongen et al. 2017)..
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halb kein »jüdisches Problem«, weil der Vernichtungsantisemitismus des Nationalsozialismus dies bereits ‚gelöst‘ habe. Am fünften Jahrestag von Breiviks Anschlägen, am 22. Juli 2016, erschoss David Sonboly am Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) neun Menschen aus Einwanderer- und Sintifamilien. Sonboly bewunderte Breivik, von dem er – wie Zeug_innen aussagten – »total fasziniert« gewesen sei. Er sah ihn »anscheinend als Vorbild« an und nutzte u.a. sein Bild sowie seinen Namen im eigenen WhatsApp-Profil. Zudem soll Sonboly auf der Computerspiele- und Vernetzungsplattform Steam in einer Gruppe mit »lauter Breivik-Anhängern« gewesen sein (Quent 2017a: 31). Ein Freund von Sonboly gab an, der spätere Mörder sei »sehr antisemitisch« gewesen und habe »oft über Israel geschimpft und Juden beleidigt«. Das bestätigen Primärquellen aus der Hand von Sonboly: In einem Chat schrieb er »Fuck Israel« und Israel sei ein »krankes Land«. In seinen Schriften konstruierte Sonboly ein zerstörerisches »Virus«, welches München allgemein und einige Stadtteile besonders schwer befallen habe und das deutsche Volk bedrohe, sodass »man diese Leute vernichten« müsse. Auch die Nationalsozialist_innen nutzten rassistisch-biologisierende Metaphern, etwa die Gleichsetzung vor allem von Jüdinnen und Juden mit Viren, Parasiten, Bazillen, Ungeziefer, Ratten u.ä., um die Vernichtung der auf die Weise Entmenschlichten zu rechtfertigen (Quent 2017: 28). In diversen gewaltverherrlichenden Chatgruppen in sozialen Netzwerken, in denen der Täter aktiv war, sind antisemitische Vernichtungsfantasien stark präsent. Hierin finden strukturell antisemitische Momente im Sinne einer psychischen Entsublimierung ihren Ausdruck, also in einer Haltung »gegen Menschen im Allgemeinen« (Sartre), die Ressentiment und Aggression im konkreten Handeln freien Lauf lassen, und zwar gegen das abstrakt als bedrohlich Stigmatisierte (Salzborn 2018: 20f.). Bundeswehrsoldat Franco Albrecht gegen die ‚jüdische Subversion‘ Die Bundesanwaltschaft wirft dem rechtsradikalen Bundeswehrsoldaten Franco Albrecht die Vorbereitung von rechten Terroranschlägen vor. Zwei weitere Männer wurden im Zusammenhang mit den Terrorismusermittlungen festgenommen – einer davon ist Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten der AfD (Biermann, Geisler und Steffen, 2018). Bei Durchsuchungen im Jahr 2017 wurden Waffen, Munitionen sowie Notizen und Namenslisten von potenziellen Zielen gefunden. Beispielsweise soll Albrecht die Räumlichkeiten der Amadeu Antonio Stiftung in Berlin und insbesondere die (jüdische) Vorsitzende der Stiftung in Vorbereitung 172
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eines Anschlags ausgekundschaftet haben. Auch Politiker wie Heiko Maas und Organisationen wie der Zentralrat der Juden in Deutschland soll A. auf der Liste geführt haben. Darüber hinaus fanden Ermittlungsbehörden Hinweise für eine Befreiungsaktion für die Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck-Wetzel (Quent 2019: 379). 2013 reichte Albrecht an der französischen Militärakademie Saint-Cyr eine Masterarbeit zum Thema »Politischer Wandel und Subversionsstrategie« ein (Albrecht 2013) – zentraler Inhalt ist ein antisemitischer Verschwörungsmythos. Die französischen Gutachter der Offiziersschule bescheinigten ihm eine rechtsradikale, antidemokratische Gesinnung und empfahlen seine Entlassung. Doch die deutschen Verantwortlichen ließen ihn die Arbeit neu schreiben und seine Militärkarriere fortsetzen. Albrecht will mit dem Text den Beweis antreten, dass die historische Entwicklung der westlichen Welt spätestens seit 1945 von einer kleinen Gruppe von »Anführern der Subversion« durch eine gezielte »Subversionsstrategie« manipuliert wird. Mit »Subversion« greift Albrecht einen bei »neurechten« Intellektuellen (u.a. De Benoist) sowie radikal rechten Politikern (Viktor Orban) verbreiteten Begriff auf, der eine verschleierte Untergrabung der nationalen Gesellschaften und »Völker« zu deren Nachteil behauptet. »Das Ziel der Drahtzieher der Subversion«, so der Autor, sei »die Vermischung verschiedener Rassen«. Eine kleine Gruppe von Juden – hier als »Anführer der Subversion« bezeichnet – dominiere durch »subversive« Methoden alle Bereiche des öffentlichen Lebens mit dem Ziel, die (weißen) Völker durch »Austausch« und »Durchmischung« zu zerstören. Klassisch antisemitischen Stereotypen folgend werden den »Drahtziehern«, demnach reich an Geld und Macht, besonders hintertriebene, unanständige und zerstörerische Fähigkeiten, Absichten und Handlungen unterstellt, durch die das öffentliche Leben gesteuert und »das Volk« unterdrückt werde. Individualismus, Liberalismus, Kapitalismus und Menschenrechte stellt Albrecht als Instrumente der »Subversion« zur Zerstörung rassistisch definierter Völker dar. Auf diese Weise wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts im antisemitischen Plagiat »Die Protokolle der Weisen von Zion« (1903) argumentiert. Für den Autor Albrecht haben die ideologischen Überzeugungen hohe praktische Relevanz. Er schreibt: »Ohne schnelle Gegenmaßnahmen ist die Vernichtung des Volkes nur eine Frage der Zeit«. Er nennt angebliche Urheber der Subversion: »Es sind immer die Gleichen, die an der Wurzel der Ursache und an der Wurzel der Reaktion sind«. Er nennt einige Namen, darunter den aus einer jüdischen Familie stammenden Investor George Soros sowie die Unternehmenskette »Kraft Foods«, die von einer »amerikanischen Jüdin deutscher Herkunft« geleitet werde. Für den mutmaßlichen Rechtsterroristen ist es eine Tatsache, dass das »Judesein eine 173
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Frage der Gene ist«. Die Erhaltung des Volkes definiert der Autor nicht nur rassistisch, sondern rassentheoretisch. Heterogenität und »Vermischung« werden als zerstörerisch darstellt (Quent 2017b). Die Ähnlichkeit der ‚Argumentation‘ von Franco Albrecht mit den »Protokollen der Weisen von Zion« ist frappierend und zeigt die Kontinuität des Leitbilds Antisemitismus in der radikalen Rechten. Resümee Die Fallbeispiele zeigen wie im Brennglas Kontinuitäten antisemitischer Ideologie in der radikalen Rechten: Ideentheoretisch begründet Antisemitismus als »negative Leitidee der Moderne« (Salzborn 2010) das irrationale Gedankenkonstrukt der grundsätzlich antiaufklärerischen Ideologie im Rechtsradikalismus. Diese geht von einer essenzialistischen, nach völkischen Dogmen vorherbestimmten sozialen Ordnung aus und negiert soziale Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Prozesse als intendiert entfremdet und manipuliert. Als politische Weltverschwörungsideologie befördert der Antisemitismus die Auslöschung von Dissonanzen der individuellen und ideologischen Position in der Gesellschaft und der inneren Widersprüche von Demokratie unter den Bedingungen einer kapitalistischen Produktionsweise. Die politischen Verschwörungsideologien sind Ausdruck und Produkt der kognitiven Struktur des Antisemitismus, die die überschaubare Unterscheidung zwischen »wir« (bspw. »Deutsche«) und den »anderen« (bspw. Geflüchtete/Muslim_innen) um das dämonische, zerstörerische und kaum fassbare Dritte – die Juden – ergänzt (Holz 2005). Der Mythos einer geheimen, bösen jüdischen Macht, die sich gegen das eigene »Volk« verschworen habe und im Geheimen für alle Übel der Welt verantwortlich ist, zeigt sich in allen Fallbeispielen. Auf einer theoretischen Ebene lässt sich zunächst feststellen: Antisemitismus ist eine Konstante rechtsradikaler Ideologien (vgl. u. a. Weitzman 2006), er bildet die »Kehrseite des völkischen Weltbildes« (Salzborn 2015: 26). Die »jüdische Weltverschwörung« ordnet die abstrakten Herrschaftsverhältnisse sich modernisierender Gesellschaften zu einem System, indem Juden mit diesen identifiziert werden (vgl. Postone 1988). In rechtsradikalen Milieus wurde die »jüdische Weltverschwörung« zunehmend mit Globalisierungsprozessen gleichgesetzt, die spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Bedrohung für die Nation aufgefasst wurden (vgl. Stauber 2003: 52). Alle Übel der Welt lassen sich von Rechtsradikalen als Teil des jüdischen Plans zur Vernichtung der Weißen in den USA und Europa integrieren (Bjørgo 1995: 197). 174
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Die Ideologie der radikalen Rechten ist mit Weltuntergangsfantasien verbunden. Psychoanalytisch betrachtet wird in ihr an den »unbewusste[n] Wunsch nach Unheil« appelliert, der objektiv mit Krisen kapitalistischer Vergesellschaftung verbunden ist (Adorno 1967: 18:49-19:30). Die Unfähigkeit, die abstrakten Prozesse der Krisenbildung zu begreifen, wie auch der Wunsch, die identitäre Eigengruppe zu schützen, zielen auf den Untergang des Ganzen ab (Adorno 1967). Im Rechtsterrorismus richtet sich Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, da ihre Vernichtung als Erlösung der Welt vom Bösen begriffen wird. Je weiter sich das manichäische Verständnis der Welt radikalisiert und je stärker die eigene Opferidentität (über-)betont wird, desto legitimer erscheint eine als gerecht und aus Notwehr verklärte Gewalt. Die an keine Regeln gebundene Grausamkeit der Täter_innen/Verschwörer_innen bedarf einer ebenfalls an keine Regeln gebundenen Widerstandshandlung. Der vermeintliche Selbstverteidigungsakt erhebt Terrorist_innen in die Position von Erlöser_innen (vgl. Strozier 2012: 39).6 Wenn der »Volkstod«/»Große Austausch« droht, ist Terror demnach nicht nur legitim, sondern notwendiges Mittel gegen die nahezu vollständige Allmacht der Verschwörer_innen. Besonders besorgniserregend ist in diesem Zusammenhang der wachsende politische Einfluss populistischer und radikal rechter Parteien. Sie machen den Mythos der »jüdischen Weltverschwörung« über die Dämonisierung von prominenten Jüdinnen und Juden, etwa George Soros (vgl. u. a. Bearak 2017; Ayyadi 2018) oder den Code der »NWO« (vgl. u. a. Das Gupta 2018; Bednarz 2018), weiter salonfähig. Literatur Adorno, Theodor W. (1967): Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, Wien, 6. April, https://www.mediathek.at/atom/014EEA8D-336-0005D-00000D5C-014 E5066 (abgerufen am 2. Juni 2018). Albrecht, Franco (2013): Politischer Wandel und Subversionsstrategie. Masterarbeit, Militärakademie Saint-Cyr.
6 Strozier beschreibt diesen Prozess aus psychoanalytischer Perspektive für diagnostizierte Paranoide. An dieser Stelle soll jedoch nicht der Bezug zu Psychopathologien hergestellt werden, sondern auf den nicht klinisch begriffenen »paranoid style« als Geisteshaltung der radikalen Rechten verwiesen werden, wie ihn Richard Hofstadter für die USA herausgearbeitet hat (Hofstadter 1996) und auf den sich auch Strozier in seiner Analyse bezieht.
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Der »Bomben-Holocaust« von Dresden. Die NPD als antisemitische Partei Gideon Botsch
In der Plenarsitzung des Dresdner Landtags am 21. Januar 2005 bittet der Abgeordnete Johannes Gerlach ums Wort: »Herr Präsident! Ich möchte hier lediglich im Namen der vielen Freunde, die ich in Israel und auf der ganzen Welt habe, eine Richtigstellung machen […]. Nur das: Das Wort Holocaust ist ein für allemal für diesen einmaligen und mit nichts vergleichbaren barbarischen Akt der Vernichtung von Menschen durch die Nazis belegt. Ich verwahre mich als Mitglied dieses Landtages davor, dass dieses Wort – von wem auch immer – mit irgendwelchen anderen Begriffen vermischt oder verwoben wird.« Das Protokoll verzeichnet »Beifall bei der SPD, der CDU, der PDS, der FDP, den GRÜNEN und der Staatsregierung«. Was war geschehen, dass sich der SPD-Mann, einstmals Angehöriger der demokratischen Opposition in der DDR, Mitbegründer des Neuen Forums und Teilnehmer am Runden Tisch im Bezirk Karl-Marx-Stadt, zu einer solchen Stellungnahme genötigt sah? Minuten vorher hatte Holger Apfel, der Vorsitzende der Fraktion der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) gesagt: »Warum diese paranoiden Versuche, den Bomben-Holocaust herunterzurechnen? Warum dieser erbärmliche Nationalmasochismus?« Volker Külow von der Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) rief daraufhin: »Unerträglich! Hören Sie endlich auf!«. Aber Apfel machte weiter, beschimpfte die Staatsregierung und die demokratischen Parteien und reklamierte für die NPD, sie sei »heute das Sprachrohr all jener, die wollen, dass in Deutschland wieder Demokratie herrschen wird, Demokratie im Sinne von wirklicher, wahrer Volksherrschaft«.1 Zwei Monate vorher war die NPD auf Grund ihrer Erfolge bei den Wahlen im September 2004 – sie hatte über 9 Prozent der Stimmen erreicht – mit zwölf Abgeordneten in Fraktionsstärke in den Landtag einge1 Alle Zitate aus der Landtagssitzung nach: Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll 4/8.
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Gideon Botsch
zogen. Zum ersten Mal seit über 30 Jahren war die älteste rechtsextreme Partei in Deutschland wieder parlamentarisch repräsentiert (Steglich 2006; Brech 2007; Pfahl-Traughber 2008). Am 21. Januar 2005 probte die NPD den Eklat und trat als fundamentaloppositionelle Fraktion mit einer gezielten Provokation in Erscheinung. Angesichts des bevorstehenden Holocaust-Gedenktages, der 1996 in Deutschland offiziell eingeführt worden war und in diesem Jahr, am 60. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Sowjetischen Truppen, zum ersten Mal als International Holocaust Remembrance Day der UN begangen wurde, hatte Uwe Leichsenring für die NPD einen Antrag auf Änderung der Tagesordnung gestellt. Er wollte ein Gedenken ausschließlich der Opfer des am 13. Februar anstehenden 60. Jahrestags der alliierten Luftangriffe auf Dresden erreichen. Durch eine Schweigeminute, zu der Parlamentspräsident Erich Iltgen die Anwesenden aufforderte, um »in würdiger Weise der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu gedenken, gleichviel durch welche Willkür und Gewaltmaßnahmen sie zu Schaden gekommen sind«, war der NPD zunächst der Wind aus den Segeln genommen. Ihre Abgeordneten konnten nur noch den Saal verlassen und den Opfern des Nationalsozialismus das Andenken verweigern. Aber bald kam die Stunde der NPD: Sie hatte beantragt, eine Debatte zum »Verhalten der Sächsischen Staatsregierung und des Landtages zu Erinnerungs- und Gedenkveranstaltungen zum 60. Jahrestag der angloamerikanischen Terrorangriffe auf die sächsische Landeshauptstadt Dresden« zu führen. Holger Apfel begann die Aussprache, indem er die demokratischen Parteien als »Blockparteien« beschimpfte. Schon nach wenigen Sätzen regte sich Protest, zunächst bei der PDS, bald darauf auch bei der SPD. Apfel sprach bezüglich der öffentlich diskutierten 25.000 bis 35.000 Opfer der Luftangriffe auf Dresden im Februar und März 1945 von »Propagandazahlen«:2 »Nur bei anderen Opfergruppen sind Sie nicht so pingelig, wenn einmal eine Null fehlt. Sind Ihnen deutsche Opfer weniger wert als ande2 Die deutschen Behörden hatten bereits kurz nach den Luftangriffen Opferzahlen in dieser Größenordnung ermittelt, die indes von Propagandaagenturen des Regimes verzehnfacht wurden. Der britische Autor David Irving (1963) war einem derart gefälschten Dokument aufgesessen, hatte seinen Fehler allerdings bereits einige Jahre später eingestehen müssen. Gewissenhafte Forschungen machten in den folgenden Jahrzehnten Opferzahlen zwischen 25.000 und 40.000 Menschen plausibel. Angesichts heftiger Kontroversen innerhalb der Stadtgesellschaft hatte die Stadt im November 2004 die Einsetzung einer unabhängigen Historikerkommission beschlossen, die erst 2010 Ergebnisse vorlegen konnte: Die Höchstzahl von 25.000 kann inzwischen als gesichertes historisches Wissen gelten (Historikerkommission Dresden 2010). Der gewaltsame Tod so vieler Menschen innerhalb weni-
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Der »Bomben-Holocaust« von Dresden. Die NPD als antisemitische Partei
re?« Es sei »absurd, dass ausgerechnet jene an Zahlen herummanipulieren, die sonst bei jeder Gelegenheit Menschen vor Strafgerichte des BRD-Gesinnungsstaates zerren, weil sie jüdische Opferzahlen in Frage stellen«. Apfel kündigte an, die Partei wolle die Einrichtung einer Staatsstiftung als zentrale Gedenkstätte für die zivilen Opfer des Bombardements beantragen. Er redete sich immer weiter in Rage, bis ihm nach Ablaufen der Redezeit das Mikrofon abgestellt wurde. Als anschließend der Alterspräsident des Landtags, der SPD-Fraktionsvorsitzende Cornelius Weiss, ans Mikrophon trat, soll ein Anhänger der NPD auf der Tribüne ihn als »Alter Jude« tituliert haben.3 Weiss distanzierte sich von Apfels »mit Schaum vor dem Munde in Goebbels’scher Manier vorgetragenen Hasstiraden«, lobte die Dresdner Erinnerungskultur bezüglich der Bombardierung der Stadt und sprach dann in deutlichen Worten darüber, »wie es dazu kam«: »Am Ende […] kehrte das Feuer in das Land der Brandstifter zurück«. Nach starkem, langanhaltendem Beifall aller Fraktionen außer der NPD erhielt ein weiterer ihrer Abgeordneten, Jürgen Gansel, das Wort. Nach den ersten Beschimpfungen verließen umgehend die Abgeordneten der PDS, Grünen und einige Abgeordnete der SPD und CDU den Saal. In deutlich antisemitischer Diktion warf Gansel Weiss vor, im Falle »einer auserwählten Opfergruppe« könnten ihm »die Totenzahlen gar nicht hoch genug sein«. Dann folgte jener Satz, mit dem Gansel sich in die Geschichte des deutschen Nachkriegs-Antisemitismus einschrieb: »Der Bomben-Holocaust von Dresden steht ursächlich weder im Zusammenhang mit dem 1. September 1939 noch mit dem 30. Januar 1933«. Pläne »zur Vernichtung des Deutschen Reiches« hätten vielmehr schon lange zuvor bestanden. Zum Beleg seiner Behauptung verwies er in Anknüpfung an nationalsozialistische und post-nationalsozialistische Propaganda-Motive auf einen britischen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1896. Winston Churchill warf er – absichtsvoll die Diktion des amerikanischen Shoa-Forschers Daniel Goldhagen verdrehend – einen »eliminatorischen Antigermanismus« vor. Am Ende der Rede stand ein Ordnungsruf, den Jürgen Gansel mit einer neuerlichen Attacke quittierte: Die NPD werde ihre Position nutzen, »um auch hier im Sächsischen Landtag mächtige Schneisen in das Dickicht antideutscher Geschichtslügen zu schlagen. Mit dem heutigen Tag haben wir auch in diesem Parlament den politischen ger Tage an einem Ort und im Rahmen eines einzelnen Kriegsereignisses ist zweifellos für sich genommen eine grauenhafte Tatsache. 3 Spiegel Online v. 21.01.2005, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/skandal-i m-saechsischen-landtag-npd-mann-spricht-von-dresdnerbomben-holocaust-a-33789 4.html (zuletzt: 22.1.2019).
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Kampf gegen die Schuldknechtschaft des deutschen Volkes und für die historische Wahrhaftigkeit aufgenommen«. Empörte Zwischenrufe kamen angesichts des Auszugs vieler Abgeordneter inzwischen von den Sitzen der CDU-Fraktion und von Seiten eines fassungslosen Landtagspräsidenten. Aber die NPD hatte noch nicht genug, Holger Apfel ergriff erneut das Wort und kündigte an, die NPD werde dafür eintreten, dass »bei uns in Deutschland keine neuen Gedenkstätten zur Anklage gegen das deutsche Volk gebaut werden.« Er berief sich dann auf den britischen Holocaust-Leugner David Irving, der in Deutschland Einreiseverbot habe. Mit einem Paukenschlag hatte sich die NPD zurückgemeldet und als Kraft des aggressiven Antisemitismus in nationalsozialistischer Tradition zu erkennen gegeben. Die 2000er Jahre stehen als Jahrzehnt für einen Aufschwung des Antisemitismus – weltweit, und auch in Deutschland (Rabinovici/Speck/Sznaider 2004). Die – zumindest teilweise antisemitisch begründeten – Anschläge vom 11. September 2001 in den USA, die zugleich ihrerseits in den Mittelpunkt verschiedener antisemitischer Verschwörungsmythen gerückt wurden, sind ein Ausdruck dieser Tendenzen; noch stärker fand der »neue Antisemitismus« Nahrung in den Konflikten im Nahen Osten, wo ein Jahr vor »9/11« die so genannte Al Aqsa Intifada begonnen hatte. Im Unterschied zum »Aufstand der Steine« der ersten Intifada, deren Schwerpunkt zumindest in den Anfangsjahren in den besetzten Gebieten lag und die sich zunächst überwiegend gegen die militärische Besatzung und gegen israelische Siedlungen richtete, zielten die Bombenanschläge der zweiten Intifada sofort auf israelische Zivilistinnen und Zivilisten. Im Windschatten der Ereignisse in Israel und den Palästinensischen Autonomiegebieten kam es weltweit, auch in Deutschland, zu einer Vielzahl von judenfeindlichen Äußerungen, die eindeutig nicht mehr als menschenrechtsorientierte Kritik an konkreten militärisch-politischen Vorgehensweisen der israelischen Regierung gewertet werden können, sondern die Konturen eines »neuen Antisemitismus« erkennen lassen. Dazu gehörten auch Gewalttaten. Nicht zuletzt waren es Kräfte, die sich politisch links verorteten, welche zunehmend eine Schlagseite für solche Art von »Israelkritik« aufwiesen. Der »neue Antisemitismus« der 2000er Jahre wird daher in der öffentlichen Wahrnehmung nicht auf den klassischen nationalistischen und rechtsextremen Antisemitismus bezogen. Tatsächlich findet in dem selben Zeitraum gerade im rechtsextremen Lager eine deutliche Radikalisierung statt, die auch einen neuen, aggressiven Antisemitismus mit sich bringt. Die spezifisch »neuen« Elemente im Post-Shoa-Antisemitismus – die Phänomene des »israelbezogenen« wie des »sekundären« Antisemitismus – hatten rechtsextreme Weltbilder in der 182
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Bundesrepublik bereits von Anfang an mit geprägt, während umgekehrt die rechtsextremen Bewegungen für die Herausbildung und Ausformulierung dieser Dimensionen des Antisemitismus eine zentrale Rolle gespielt haben (Botsch/Kopke 2016). In den 2000er Jahren präsentierte sich vor allem die NPD als eine der radikalsten antisemitischen Kräfte in Deutschland. Will man diese Entwicklung verstehen, muss man einerseits die antisemitischen Grundlagen des »rechtsextremen Denkens« (Schwagerl 1993) zur Kenntnis nehmen, darf andererseits aber nicht vergessen, dass die NPD über längere Phasen ihrer Geschichte antisemitische Mobilisierungen eher vermeiden wollte. Denn als sie im November 1964 durch Aktivisten der Deutschen Reichspartei (DRP) und verschiedener anderer nationalistischer Gruppierungen gegründet wurde, stand im Vordergrund der Wunsch, die hoffnungslose Isolation der radikalnationalistischen Rechten in der politischen Landschaft der frühen Bundesrepublik zu durchbrechen.4 Nachdem die anfänglich recht erfolgreiche Sozialistischen Reichspartei (SRP) 1952 – nicht zuletzt mit Hinweis auf ihren Antisemitismus – verboten worden war, kam der DRP im rechtsextremen Lager die Vorherrschaft zu. Sie war allerdings innerhalb des politischen Systems völlig bedeutungslos und konnte bei Wahlen keine relevanten Stimmenanteile auf sich vereinen. Ihr wurde vorgeworfen, als Vertreterin eines »Nationalneutralismus« die Westbindung zu hintertreiben und die Politik des Ostblocks zu begünstigen. Darüber hinaus galt sie als Partei des »Reichnationalismus«, Sammelbecken früherer Nationalsozialisten und der »ewig Gestrigen«, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt hatten. Sie verweigerte sich damit der bundesrepublikanischen »Vergangenheitspolitik«, die das Prinzip einer »weitgefaßten Integration« praktizierte und jene – aber auch nur jene – ausgrenzte, welche »sich dem anti-nationalsozialistischen Komment explizit verweigerten und damit nicht zuletzt das allgemeine Ruhebedürfnis störten« (Frei 1996: 405). In den 1960er Jahren verlor Adenauers »Kanzlerdemokratie« ihre Bindekraft; die CDU, die noch 1957 die absolute Mehrheit hatte, setzte 1961 in erheblichem Umfang Stimmen frei. Aber es war zunächst nicht die »nationale Rechte«, die von diesen Wählerwanderungen profitieren konnte. Unter anderem durch ihre Verbindung zum Antisemitismus hatte die DRP ihrem Ansehen erheblich geschadet, was sich vor allem an einem Ereignis festmachen lässt: Am Weihnachtsabend 1959 hatten zwei junge Männer in
4 Zur historischen Entwicklung der NPD, ihrer Vorläuferparteien und ihres rechtsextremen Umfelds vgl. im Folgenden, soweit nicht anders angegeben, Hoffmann 1999; Botsch 2011 (mit ausführlicher Nennung der Sekundärliteratur), 2012, 2016.
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Köln die neu eröffnete Synagoge mit Hakenkreuzen und antisemitischen Parolen bemalt und damit eine längere Zeit andauernde »Schmierwelle« ausgelöst, die der bundesdeutschen Bevölkerung und der internationalen Öffentlichkeit verdeutlichte, in welchem Ausmaß Antisemitismus noch verbreitet und zu welchen Taten er in der Lage war (Bergmann 1997; Buschke 2003; Kiani 2008). Die bald ermittelten Schmierer der Initialtat von Köln erwiesen sich als Anhänger der DRP. Ein Verbot der Partei wurde diskutiert, aber dann nicht auf den Weg gebracht. Stattdessen wurden einige ihr nahestehende Jugendorganisationen, vor allem der Bund nationaler Studenten (BNS), verboten oder anderweitig mit repressiven Maßnahmen konfrontiert (Dudek/Jaschke 1984; Botsch 2017). Die DRP war als »Marke« nicht mehr zu retten: sie war die Partei der ewig-gestrigen Hakenkreuzschmierer. Überhaupt war das radikalnationalistische Spektrum mit einer veränderten Lage konfrontiert. Frühere nationalsozialistische Propagandisten registrierten aufmerksam die wachsende kritische Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Erbe, die ersten NS-Prozesse, neue zeitgeschichtliche Dokumentationen und künstlerische Verarbeitungen. Diese der DRP und später der NPD nahe stehenden Kreise gründeten 1960 eine »Gesellschaft für freie Publizistik«, die dem neuen Zeitgeist entgegen treten wollte. Eine ähnliche Tendenz hatte die Deutsche National- und Soldatenzeitung, besser bekannt als National-Zeitung, die seit 1960 von dem rechtsextremen Münchner Verleger Gerhard Frey zu einem auflagestarken Blatt ausgebaut wurde. Die NPD war zwar in mancher Hinsicht eine Nachfolgeorganisation der DRP, sie war allerdings auch eine Sammlungspartei am rechten Rand und ein inhaltlicher Versuch für einen Neustart. An die Stelle des »Reichsnationalismus« trat das Wort »nationaldemokratisch«, das eine Akzeptanz der demokratischen Verfassungsordnung und der – bis zur Wiedervereinigung vorläufigen – Geltung des Grundgesetzes suggerierte. Antisemitismus sollte in den Bereich der Kommunikationslatenz verwiesen werden. Das gelang nur unzureichend. Die programmatisch zunächst zurückhaltende Sammlungspartei bot ihren Beobachtern in den ersten Jahren kaum Ansatzpunkte, um ihre Absichten und die sie prägenden Ideologien zu verstehen. Daher erfuhr die Parteitagsrede des früheren nationalsozialistischen Professors Ernst Anrich 1966 einige Aufmerksamkeit; sie galt als erste aufschlussreiche programmatische Aussage der NPD, zumal Anrichs Nähe zum Spiritus Rector und – seit Ende 1967 – Parteivorsitzenden Adolf von Thadden bekannt war. Aber gerade Anrichs völkischer Fundamentalismus rückte die NPD wieder in die nationalsozialistische und damit antisemitische Tradition. Mit steigender Intensität ihrer Wahlkämpfe – deren 184
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Höhepunkte 1968 der Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg und 1969 der Bundestagswahlkampf waren – kamen neben den ausländerfeindlich-rassistischen Motiven ihrer Wählerinnen und Wähler auch deren antisemitische Einstellungen zum Vorschein. Die Redner und die – wenigen – Rednerinnen der NPD erlebten am meisten Zustimmung bei der Thematisierung fremdenfeindlicher Aspekte, besonders der Entwicklungshilfe und der »Gastarbeiterfrage«, sowie bei der Thematisierung von Wiedergutmachungsleistungen, insbesondere an Israel, wie überhaupt bei der Bewertung des jüdischen Staates und des Verhältnisses der Bundesrepublik zu diesem. Hermann Bott analysierte diese Positionen, die in der NPD und ihrem publizistisch-propagandistischen wie kulturellen Umfeld gepflegt wurden, und bezeichnete sie treffend als »Volksfeind-Ideologie« (Bott 1969). Judenfeindschaft war ein verbindendes Glied, sie trat als klassischer Antisemitismus, aber eben auch bereits als »sekundärer« Antisemitismus der Schuldabwehr und als israelbezogener Antisemitismus auf. Die der NPD eng verbundenen publizistisch-kulturellen Netzwerke um Zeitschriften wie Nation Europa, Verlage wie Druffel, kulturpolitische Vereinigungen wie das Deutsche Kulturwerk Europäischen Geistes (DKEG) und die GfP sowie »heimatverbundene« Jugendvereine arbeiteten stetig auf dem Feld der Vergangenheitspolitik weiter. Neben der Abwehr von Schuld, insbesondere im Zusammenhang mit der Shoa, ging es regelmäßig um die Bewertung des Zweiten Weltkriegs. Für die GfP stand phasenweise zwar die »Kriegsschuldfrage« 1939 im Mittelpunkt ihres Wirkens, aber auch vermeintliche Verbrechen gegen Deutsche, namentlich in der Kriegsendphase, nahmen einen breiten Raum ein. Hierzu zählten die Legenden um den »alliierten Bombenkrieg«, das »strategic bombing« deutscher Großstädte durch die Royal Airforce und die U.S. Airforce. Verbreitete nationalsozialistische Propagandamotive und populäre Mythen wurden aufgegriffen und systematisch fortgeschrieben, was neben den strategischen Zielsetzungen der Alliierten auch das tatsächliche Ausmaß der Zerstörung und die Zahl der Opfer betraf. Nach der für die NPD enttäuschenden Bundestagswahl 1969, bei der sie einen Einzug in den Bundestag knapp verfehlte, und einer für sie eher schädlichen, von Gewalttaten begleiteten Straßenkampagne gegen die neue Ostpolitik (»Aktion Widerstand«) rutschte sie in eine tiefe Krise. Als Auffangbecken, aber auch Konkurrenz, gründete der Verleger Frey 1971 den Verein Deutsche Volksunion. Gleichzeitig entstanden neue, von der NPD unabhängige Aktionsgruppen und Kleinstparteien, die unmittelbar an Formen und Inhalten der historischen NSDAP anknüpften und als »Neonazis« bezeichnet wurden. Ebenfalls in den 1970ern begann eine systematische internationale Agitation gegen die historiographische Erfor185
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schung und erinnerungskulturelle Aneignung der Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus. Ihre Vertreter erhoben den Anspruch, eine »Revision« der Geschichtsschreibung herbeiführen zu können und nannten sich selbst »Geschichtsrevisionisten«. Die Neonazi-Gruppen teilten das Anliegen der Holocaust-Leugner. Stätten der Erinnerung wurden jetzt gezielt attackiert, was bis zu Brand- und Sprengstoffanschlägen führen konnte. Die jugendlich geprägte Hamburger Neonazi-Truppe um Michael Kühnen und Christian Worch schuf mit wachem Sinn für den Wert ikonographischer Inszenierungen pressewirksam Bilder: Provozierend marschierten ihre Anhänger 1978 schwarz uniformiert durch Hamburg und trugen Eselsmasken und Schilder um den Hals, auf denen zu lesen war: »Ich Esel glaube noch, daß in deutschen KZs Juden ‚vergast‘ wurden« (Virchow 2011). Die NPD hatte in den 1970ern und frühen 1980ern ein ungeklärtes Verhältnis zu den Neonazis. Ihre Jugendorganisation, die Jungen Nationaldemokraten (JN), standen im Ruf, »Durchlauferhitzer« für Radikalisierungsprozesse zu sein. Als 1979 Sendemasten gesprengt wurden, um die Ausstrahlung der US-Fernsehserie »Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiß« im deutschen Fernsehen zu verhindern, stellte sich heraus, dass der Haupttäter, Peter Naumann, ein Funktionär der NPD, der JN und des Nationaldemokratischen Hochschulbundes war. Die Sendung wurde bekanntlich trotzdem ausgestrahlt, löste in der deutschen Nachkriegsgesellschaft bedeutsame Prozesse der Hinwendung zur NS-Verbrechensgeschichte aus und führte nicht zuletzt dazu, dass die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nunmehr als »Holocaust« bezeichnet wurde. Seither steht der diffuse Begriff aber zugleich hauptsächlich für dieses Verbrechen; wer ihn anderweitig verwendet, beabsichtigt damit in der Regel eine besonders dramatische Wirkung und läuft Gefahr, an einer Relativierung und Bagatellisierung des Mordes an den europäischen Juden mitzuwirken. Zu Beginn der 1980er suchte die NPD dann erneut Distanz zum Neonazismus. Durch die Entdeckung der Sprengkraft des »Ausländer«-Themas, das seit 1980 stärker in den Fokus der Bemühungen der Partei rückte, erhoffte man sich neuen Zuspruch bei den Wählerinnen und Wählern und konnte bei einigen untergeordneten Wahlereignissen auch Achtungserfolge erzielen. Da aber mit der Umwandlung der Deutschen Volksunion (DVU) zu einer Wahlliste und der Entstehung der neuen Partei Die Republikaner als Abspaltung aus den Unionsparteien zwei konkurrierende xenophobe und rassistische Wahlalternativen auftraten, gelang der NPD ihre erhoffte Regeneration zunächst nicht. Gegen den seiner Meinung nach zu angepassten Kurs der Partei unter ihrem seit 1971 amtierenden Vorsitzenden Martin Mußgnug opponierte beharrlich Günter Deckert, der zunächst den Jungen Nationaldemokraten verbunden war und auch später den 186
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Kontakt zur radikaleren Jugendorganisation und ihrem aktivistischen, nicht selten offen neonazistischen Umfeld hielt. Der Parteivorsitzende Martin Mußgnug, Adolf von Thadden und einige andere Gesinnungsgenossen, die bereits 1964 den erfolgreichen Neustart NPD miterlebt und teilweise mit initiiert hatten, wollten im Umfeld der deutschen Vereinigung abermals einen Neuanfang wagen. Zu diesem Zweck beabsichtigten sie, die NPD aufzulösen, was durch Vertreter des Parteiapparats verhindert wurde. Nun war die Stunde von Deckert gekommen. Dem neuen Parteivorsitzenden dürfte klar gewesen sein, dass eine Konkurrenz mit den rechtspopulistischen Mitbewerberinnen für die NPD nicht durchzuhalten war. Die NPD zehrte maßgeblich vom Engagement und Aktivismus ihrer Mitglieder, die allerdings langsam alterten, während sie unter Mußgnug für jüngere und radikalere Rechtsextremisten unattraktiv geworden war. Auf derartigen Aktivismus war die DVU nicht angewiesen, da sie eine vom Verleger Gerhard Frey durchfinanzierte Wahlliste war. Ressentimentgeladene Milieus, die ihrer »rohen Bürgerlichkeit« (Heitmeyer 2018) freien Lauf ließen, aber einen besseren Medienzugang und eine höhere Medienkompetenz bewiesen, als die NPD-Anhänger, orientierten sich zu diesem Zeitpunkt noch an den Republikanern. Dagegen versprach das Potential des Neonazismus eine Erneuerung und Verjüngung: Schon seit Mitte der 1980er hatten in beiden deutschen Gesellschaften jugendliche Subkulturen mit pro-nationalsozialistischer Orientierung einigen Zulauf; nach der Vereinigung explodierten diese Szenen in Ost und West. Schon einige Jahre zuvor hatte sich der britische Autor David Irving, der sich 1963 mit einer quellengesättigten Darstellung über die Bombenangriffe als Historiker des Zweiten Weltkriegs einen Namen gemacht hatte, an die DVU angenähert. Bereits seit den 1970er Jahren äußerte er sich zunehmend radikaler zur Vernichtungspolitik gegenüber den Juden, schließlich begann er um die Wende zu den 1990ern herum, auch selbst die Shoa zu leugnen. In der ersten Jahreshälfte 1990 reiste er nach Deutschland, wo er mehrere Veranstaltungen durchführte. Die erste fand am 13. Februar 1990 in Dresden statt. Er begrüßte die anwesenden Gäste, darunter viele Neonazis, als »Überlebende und Nachfahren des Holocaust von Dresden«, welcher tatsächlich stattgefunden habe, während derjenige in den Gaskammern von Auschwitz eine Erfindung sei (van Pelt 2002: 93). Im April 1990 sprach Irving in München bei dem großen Holocaust-Leugner-Kongress »Wahrheit macht frei«, für den die Truppe um Michael Kühnen einen Saalschutz bereitstellte (während an der Organisation der Veranstaltung auch ein späterer Funktionär des Landesverbands Schleswig-Hol187
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stein der Alternative für Deutschland mitwirkte) (ID-Archiv 1992; Schmidt 1993). Während die neonazistischen Mobilisierungen der frühen 1990er in der Regel vor allem mit den rassistischen Ausschreitungen, Brand- und Mordanschlägen und gelegentlich noch mit Übergriffen auf alternative Jugendkulturen in Verbindung gebracht werden, gerät die antisemitische und holocaustleugnende Dimension dieser Kampagnen in den Hintergrund. Neben Kühnens Truppe griff Anfang der 1990er Jahre beispielsweise auch die Nationalistische Front (NF) die antisemitische Holocaust-Leugnung auf. Die NF war Mitte der 1980er aus einer früheren Gliederung der Jungen Nationaldemokraten, welche im Zusammenhang mit den Unvereinbarkeitsbeschlüssen die Partei verlassen hatte, und aus verschiedenen neonazistischen Kleingruppen entstanden. Sie hatte sich zu einer straffen, außerordentlich gefährlichen Kadertruppe entwickelt und rasch Anhang unter gewaltorientierten ostdeutschen Neonazis gefunden. Im Juni 1991 plante sie einen »geschichtsrevisionistischen« Kongress im bayerischen Roding, der allerdings von der Polizei unterbunden wurde. Die von ihr betriebene, zynische Kampagne »Sühneklappspaten« richtete sich unmittelbar gegen KZ-Gedenkorte in Brandenburg. Der Brandanschlag auf zwei Baracken der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen – die so genannten »jüdischen Baracken« – im Sommer 1992 muss als unmittelbares Ergebnis dieser Kampagne der NF gewertet werden (Botsch 2014). Nach dieser erschütternden Tat wurde die Organisation verboten, bald folgten die wichtigeren anderen NeonaziVereinigungen. Hier boten sich Chancen für die NPD. Deckert dürfte voll hinter den radikalen Inhalten gestanden haben, auf die er seine Partei nun ausrichtete, sie waren aber zweifellos auch ein Mittel, für die NPD ein Alleinstellungsmerkmal im rechtsextremen Bereich zu schaffen und die verstreuten Anhänger des Neonazi-Spektrums in die NPD zu überführen. Am 10. November 1991 – sicherlich nicht zufällig im Umfeld des Gedenktages zum Novemberpogrom, der gleichzeitig als Jahrestag des Hitler-Putsches von 1923 ein wichtiges Datum im rechtsextremen Festkalender ist – geriet Günter Deckert während eines NPD-Kongresses in seiner Heimatstadt Weinheim auf Grund von Aussagen, die den Holocaust bestritten, mit dem Gesetz in Konflikt. Er musste schließlich 1995 eine Haftstrafe antreten, was seine Position in der NPD zweifellos geschwächt hat (Mentel 2011). Nach dem Bekanntwerden finanzieller Unregelmäßigkeiten war er für die NPD nicht mehr haltbar. Den Parteivorsitz übernahm 1996 sein bisheriger Gefolgsmann Udo Voigt, der das Spektrum der NPD in vielerlei Hinsicht, und auch mit Blick auf ihre Politikinhalte und Kampagnenthe-
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men, erweiterte, gleichwohl an der Öffnung für den Neonazismus festhielt. Allerdings vermied es Voigt, sich strafbar zu machen. An der Wende zum neuen Jahrzehnt war die Radikalisierung der NPD, einschließlich eines unverhohlenen Antisemitismus, so offensichtlich, dass die Verfassungsorgane Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung einen Antrag auf Verbot der Partei beim Karlsruher Bundesverfassungsgericht stellten. Es scheiterte 2003 nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern weil eine qualifizierte Minderheit der Richter es abgelehnt hatte, das Verfahren zu eröffnen: Zu viele Verbindungspersonen der Verfassungsschutzbehörden saßen in Führungspositionen. Jetzt öffnete Voigt die NPD für eine weitreichende Nazifizierung auf allen Ebenen. Seine geschickte Bündnisstrategie ermöglichte es, dass ein erheblicher Teil des Neonazi-Spektrums seine Skepsis gegenüber der Partei aufgab. 2004 traten mehrere prominente Neonazis in einem öffentlichkeitswirksamen Schritt der NPD bei. Voigts behutsamer Nazifizierungskurs hatte der Partei »street-credibility« verschafft. Aber er blieb dabei nicht stehen: Eine »Drei-Säulen-Strategie« sollte die desintegrierten Strömungen des nationalen Lagers wieder zusammenführen, wobei die NPD nicht als einzige, aber als hegemoniale Kraft, quasi als »Flaggschiff« fungierte (Botsch/Kopke 2009; Schulze 2009). Mit der DVU wurde ein Deutschland-Pakt vereinbart, bei dem jeweils die Partei mit den geringeren Erfolgsaussichten auf Kandidaturen verzichten sollte. Auch andere Kräfte versuchte Voigt, mit wechselndem Erfolg, für den Pakt zu gewinnen, so insbesondere die Restbestände der Republikaner, die sich indes zumeist verweigerten. Bereits 1999 war es gelungen, die Junge Landsmannschaft Ostpreußen (JLO) ins Fahrwasser der NPD zu bringen, so dass die Landsmannschaft Ostpreußen sich später von ihrem bisherigen Jugendverband trennte und dessen Umbenennung in Junge Landsmannschaft Ostdeutschland erzwang. Im Februar 2000 trat die JLO erstmals als Organisatorin eines »Trauermarschs« in Dresden auf. Das Gedenken an die Bombennächte hat in der sächsischen Landeshauptstadt eine komplexe Bedeutung; für einen Teil ihrer Bürgerschaft ist es identitätsstiftend; das Gedenken kann dabei die Form eines Selbstbilds als ständiges Opfer fremder und feindseliger Machenschaften annehmen. Rechtsextremisten hatten sich schon zuvor mit anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Gedenkens vermischt. Im Januar 1998 fand eine Demonstration gegen die Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht« des Hamburger Instituts für Sozialforschung statt. Bei dieser Gelegenheit wurden die wenige Tage später abgetauchten Angehörigen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« fotografiert. Sie trugen ein Transparent mit der Parole »Nationalismus – eine Idee sucht Handelnde«, die in den 1980ern von der NPD-Jugendorganisation JN geprägt und von 189
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der Nationalistischen Front verbreitet worden war. Wenige Wochen später führten Neonazis dann erstmals eine eigenständige Aktion zum 13. Februar durch. Doch erst als sich die JLO in den 2000ern der Sache annahm gelang es, Aufmärsche mit Tausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu organisieren. Sie verbreiteten eine doppelte Botschaft: Der Holocaust an den Juden hat nicht stattgefunden oder sein Ausmaß wird übertrieben; die eigentlichen Verbrechen wurden durch die Alliierten gegenüber dem deutschen Volk begangen. Diese Aussagen kulminierten in dem Wort vom »Bomben-Holocaust«. Die Kampagne stieß auf ein günstiges gesellschaftliches Klima. So machte sich die öffentlich als eher gemäßigt-nationalkonservativ wahrgenommen Junge Freiheit zum Teil der Kampagne, die indes nur gelingen konnte, weil respektabel wirkende Gewährspersonen in eine ähnliche Richtung argumentierten. Besonders bedeutsam war das Buch »Der Brand« von Jörg Friedrich (2002). Kritikern fiel rasch die offenkundig gewollte Parallelisierung der strategischen Luftkriegsführung mit der NS-Vernichtungspolitik auf. Der Politikwissenschaftler Lothar Fritze vom Dresdner HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung, der bereits 2005 einen Sammelband zum Thema herausgegeben hatte, nahm in seiner Monografie aus dem Jahr 2007 den Begriff »Bombenterror« sogar ohne Anführungsstriche in den Titel auf (Fritze/Widera 2005; Fritze 2007). Zu diesem Zeitpunkt war die NPD schon in den Landtag eingezogen. Die sächsischen Republikaner hatten auf eine Kandidatur verzichtet, die DVU hielt sich an den Deutschlandpakt. Ausschlaggebend war das feste Bündnis mit dem NS-orientierten Spektrum der »freien Kameradschaften« und anderen Segmenten der Neonazi-Subkultur (Steglich 2006; Brech 2007; Pfahl-Traughber 2008). Mit Holger Apfel führte ein jüngerer Mann die Partei, der aus der radikalen JN kam und Anfang der 1990er maßgeblich an der Öffnung für Neonazis mitgewirkt und gemeinsame Aktionen organisiert hatte. Jürgen Gansel, der ein Studium der Geschichte in Gießen abgeschlossen hatte, war von 1995 bis 1997 bei der JLO aktiv und radikalisierte sich in diesem Zeitraum immer mehr, bis er schließlich 1998 der NPD beitrat. Von 2001 bis zu seinem Einzug in den Landtag arbeitete Gansel in Dresden als Schriftleiter der Parteizeitung Deutsche Stimme, in der er wiederholt offen antisemitische Artikel publizierte. Die NPD nutzte ihre parlamentarische Repräsentanz, um eine aggressive, provokative Politik zu erproben. Durch den Auftritt im Januar 2005 inszenierte sie zu einem frühen Zeitpunkt den Eklat. Sie stellte sich damit als neonazistische Kraft vor. Die mediale Aufmerksamkeit der Provokation war maximal, die Vertreter der demokratischen Parteien wurden vorgeführt und lächerlich gemacht. Der Auftritt dürfte darüber hinaus werbend 190
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gewirkt haben: Mit geschätzten 6.500 Teilnehmer erzielte die JLO am 13. Februar 2005 einen Rekord. Auf Jahre hinaus blieb der Dresdner Aufmarsch eine der größten Neonazi-Aktionen in Deutschland und Europa. Erst beharrliche antifaschistische Gegenwehr entzog den Aufmärschen schließlich Anfang der 2010er Jahre den Boden, aber bereits ab Ende 2014 folgen Tausende von Menschen, darunter zahlreiche Angehörige des Neonazi-Spektrums, den Aufrufen der »Pegida«-Bewegung zu wöchentlichen Protestmärschen in der Dresdner Innenstadt. Hat die Aufmarsch-Kampagne der JLO diesen Demonstrationen das Feld bereitet? 2009 konnte die NPD, trotz deutlicher Stimmenverluste, noch einmal in den Landtag einziehen. Bei den Wahlen 2014 verlor sie ihre parlamentarische Repräsentanz und musste den Platz ganz rechts außen im Plenarsaal an die neu gegründete Alternative für Deutschland abgeben, die in Sachsen mehr als Zehntausend Stimmen früherer NPD-Wählerinnen und Wähler gewonnen hatte. Die Aktivitäten der AfD und der mit ihr verbundenen flüchtlingsfeindlichen Protestbewegung seit 2013 können nicht länger als unabhängig von den Wirkungen der rechtsextremen Mobilisierungen in den 2000ern gesehen werden. Denn nicht nur die Erfahrungen mit Aufmärschen, auch die parlamentarische Obstruktionsarbeit fundamentaloppositioneller Rechtsaußenfraktionen dürfte durch die neuen politischen Akteure ausgewertet worden sein. Weit davon entfernt, eine bedeutungslose Partei zu sein, hat die NPD in vielerlei Hinsicht nicht nur die AfD-Wahlerfolge, namentlich in den ostdeutschen Ländern, mit vorbereitet, sondern auch die antiparlamentarische Radaupolitik der AfD-Parlamentsfraktionen. Offenkundig hatte ein Teil des hart rechtsextremen und antisemitischen Spektrums innerhalb der AfD – das in den ostdeutschen Landesvorständen heute das Führungspersonal stellt und auch in den westdeutschen Landesverbänden und der Bundestagsfraktion großen Einfluss hat – in den 1990er und 2000er Jahren zum politisch-kulturellen Umfeld der NPD gehört oder war zumindest von dessen Aktivitäten erfasst worden. So schrieb der spätere brandenburgische AfD-Landesvorsitzende Andreas Kalbitz im Jahr 2003 einen Namensbeitrag unter dem Titel »Remembrance« für Fritz. Junge Zeitung für Deutschland, das Mitteilungsblatt der JLO. Unter anderem behauptete er einen »Bewußtseinsethnozid in den Köpfen der bundesdeutschen Jugend«; bezüglich der Erinnerungspolitik sprach er von einer »Verständnisimplantation von 12 Jahren als 99% deutscher Geschichte« (Kalbitz
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2003).5 Seinen heutigen thüringischen Amtskollegen Björn Höcke zeigen Filmaufnahmen aus dem Jahr 2010 als aggressiv-kämpferisch auftretenden Teilnehmer des JLO-Trauermarsches in Dresden. Sieben Jahre später hielt Höcke hier seine berüchtigte »Dresdner Rede«, in der er bezüglich des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden, des so genannten HolocaustMahnmals, von einem »Denkmal der Schande« sprach. Zu dieser Aussage leitete er in einer für rechtsextreme Argumentationsstränge typischen Weise hin, indem er die Bombardierung Dresdens thematisierte. Das Wort »Bomben-Holocaust« verwendete er nicht, aber seine Formulierungen sind denjenigen von Holger Apfel und Jürgen Gansel sehr ähnlich: »Die Bombardierung Dresdens war ein Kriegsverbrechen. Sie ist vergleichbar mit den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki. Mit der Bombardierung Dresdens und der anderen deutschen Städte wollte man nichts Anderes als uns unsere kollektive Identität rauben. Man wollte uns mit Stumpf und Stiel vernichten, man wollte unsere Wurzeln roden. Und zusammen mit der dann nach 1945 begonnenen systematischen Umerziehung hat man das auch fast geschafft. Deutsche Opfer gab es nicht mehr, sondern es gab nur noch deutsche Täter« (Höcke 2017). Strategien öffentlicher Provokation hat die NPD ebenfalls zuerst erprobt. Udo Voigt ließ im Berliner Wahlkampf 2011 ein Plakat herstellen, auf dem er am Steuer seines Motorrads zu sehen ist. »Gas geben«, lautete die Parole, und zahlreiche Exemplare davon wurden absichtlich vor dem Jüdischen Museum Berlin platziert. Dadurch wurden Gewöhnungseffekte erzielt, Grenzen der Normalität weit nach rechts verschoben und eine Verrohung der politischen Kultur vorangetrieben, von der die AfD heute profitiert. NPD-Parolen und -Schlagworte finden immer öfter Eingang in den Sprachgebrauch der AfD und ihres Milieus – ob es sich um die »Lügenpresse« handelt oder die »Überfremdung«, die Begriffe »völkisch« und »Volksgemeinschaft«, die Selbstbezeichnung als »soziale Heimatpartei« (beispielsweise durch Andreas Kalbitz) oder Postulate wie »Umweltschutz ist Heimatschutz« (beispielsweise in der Selbstbeschreibung einer aussichtsreichen Kandidatin auf der Liste der brandenburgischen AfD zur Landtagswahl 2019). Besonders die rassistischen Beleidigungen, die bei der AfD und ihren Bündnispartnern fest zum Repertoire gehören, entsprechen dem Sprachduktus der NPD und ihres Milieus.
5 Vgl. hierzu und zu weiteren Aktivitäten von Kalbitz in den 2000ern: https://inforio t.de/voelkisches-vom-afd-abgeordneten-andreas-kalbitz/ (zuletzt besucht: 25.1.2019).
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Der »Bomben-Holocaust« von Dresden. Die NPD als antisemitische Partei
Während die NPD sich spätestens in den 2000er Jahren zu einer nationalsozialistischen Partei entwickelt hatte, die aus ihrem programmatischen Antisemitismus keinen Hehl mehr macht, mobilisiert die AfD offenen Antisemitismus selten. Mitunter schmückt sich die Partei sogar mit einem plakativen, aber instrumentellen »Anti-Antisemitismus« – im Wissen darum, dass das Stigma des »muslimischen Antisemitismus« sich auf Flüchtlinge aus dem Nahen Osten gut anwenden lässt. Gleichwohl lässt sich an vielen Beispielen zeigen, dass die AfD von Judenfeindschaft mit geprägt wird.6 Besonders deutlich wird dies dort, wo ihre Repräsentanten eine veränderte Erinnerungs- und Geschichtspolitik einfordern, die eine heroische Geschichtsverklärung auf Kosten der Erinnerung an die Shoa bewirken soll. Anfang 2019 knüpfte sie dann unmittelbar an die Radaupolitik der NPD an: Als die Shoa-Überlebende Charlotte Knobloch, Präsidentin der Jüdischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, anlässlich der Gedenkstunde im Bayerischen Landtag am 23. Januar 2019 die AfD für ihre geschichtspolitischen Positionen kritisierte, verließen 18 von 22 Abgeordneten demonstrativ den Saal. Und während sie im Bundestag eine entsprechende Feierstunde störungsfrei vorüber ziehen ließ, legte sie zum 13. Februar 2019 in Dresden einen Kranz nieder, auf dessen Schleife zu lesen war: »Den zivilen Opfern des Alliierten Bombenterrors. In stillem Gedenken – AfD Bundestagsfraktion«.7 Die Alliierte Kriegführung war ebenso wenig ein »Bomben-Holocaust«, wie die Zeit des Nationalsozialismus, mit ihrem Kernelement, der Vernichtung der europäischen Juden, ein »Vogelschiss« war. Literatur Bergmann, Werner (1997): Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989, Frankfurt a. M. Botsch, Gideon (2011): Parteipolitische Kontinuitäten der »Nationalen Opposition«. Von der Deutschen Reichspartei zur Nationaldemokratischen Partei Deutschlands, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 59, S. 113 – 137.
6 Dies gilt schon für die Zeit vor der Spaltung (Botsch/Kopke 2015); vgl. insges. Salzborn 2018. 7 Zit. n.: Gedenken in Dresden: AfD-Fraktion verteidigt »Bombenterror«-Äußerung, in: Die ZEIT online v. 14.2.2019, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-02/ gedenken-dresden-afd-rechtspopulismus-13-februar (abgerufen am 19.2.2019).
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Antisemitismus in der »Alternative für Deutschland« Samuel Salzborn
Die Diskussion über die noch junge Partei »Alternative für Deutschland« (AfD) und ihr Verhältnis zum Rechtsextremismus wird intensiv in der politik- und sozialwissenschaftlichen Forschung geführt. Während sich ein Zweig der Literatur vor allem auf strategische Aspekte wie populistische Rhetorik oder die Nutzung sozialer Medien durch die AfD orientiert, wird in einem zweiten Zweig vor allem das Weltbild der AfD und ihr zunehmender Radikalisierungsprozess von einer rechtskonservativen zu einer rechtsextremen Partei thematisiert: »In der Anfangszeit bemühte sich die AfD-Führung um eine deutliche Abgrenzung zum verfassungsfeindlichen Rechtsextremismus. Dies hat sich inzwischen geändert. Momentan, so der Gesamteindruck, steht die AfD auf der Schwelle zur ‚Nationalen Opposition‘. Es hat den Anschein, dass ein Großteil der Partei darauf drängt, einen Schritt weiter zu gehen.« (Kopke/Lorenz 2016, S. 24) Dabei ist es mittlerweile unstreitbar, dass die AfD weite Teile eines rechtsextremen Weltbildes vertritt: vom Rassismus über den völkischen Nationalismus als wichtige Grundlagen einer Ideologie der Ungleichheit, ein Nationalprotektionismus in Verbindung mit einer antieuropäischen Wirtschaftspolitik, eine massive Ablehnung des Parlamentarismus und der repräsentativen Demokratie und als eines der zentralen Dauerthemen: der Antifeminismus und die Abwehr von Geschlechtergerechtigkeit. Eher selten wird hingegen der Umgang mit der NS-Vergangenheit durch die AfD und ihr Verhältnis zum Antisemitismus thematisiert. Ein Grund dafür dürfte sein, dass die Partei sich formal nicht antiisraelisch äußert und bisweilen Israel sogar als strategischen Partner für ihren antimuslimischen Rassismus mit dem Ziel der Abwehr von Zuwanderung nach Europa zu sehen scheint. Jenseits einer breiten Öffentlichkeit gibt es aber eine Reihe von antisemitischen Positionierungen in der AfD, die Gegenstand dieses Aufsatzes sein sollen. Dabei geht es darum zu zeigen, wie sich langsam der Antisemitismus in der AfD Bahn bricht und offenkundig werden lässt, dass sich die AfD auf dem Weg von einer Partei für Antisemiten zu einer antisemitischen Partei befindet. Dieser Weg wird immer noch
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punktuell durchkreuzt, es finden sich aber viele Indizien, die vor dem Hintergrund der Geschichte des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik die Annahme nahelegen, dass diese Entwicklung nicht mit der Frage nach dem »Ob?« gestellt werden muss, sondern nur mit der nach dem »Wann?«. Die Grundlage des Antisemitismus: Die Ideologie der Volksgemeinschaft Einen wesentlichen Ansatzpunkt für die Formulierung von antisemitischen Positionen in der AfD bildet ihr Gesellschaftsverständnis, das stark geprägt ist von der Ideologie der »Neuen Rechten« und insofern an die Vordenker des Nationalsozialismus aus der Weimarer Republik anschließt, auf die sich wiederum die »Neue Rechte« in der Bundesrepublik bezieht (vgl. Salzborn 2016). Kernanliegen ist es, völkische Terminologie so erscheinen zu lassen, als sei sie nicht genuin antidemokratisch. Denn wenn es gelingt, den Nationalsozialismus zu verharmlosen, dann eröffnet sich damit die Möglichkeit, mit ihm verbundene Konzepte wie das der völkisch-repressiven »Volksgemeinschaft« zunächst wieder verbal zu reanimieren, um es dann auch umsetzen zu können: als totalitäres Zwangs- und Unterdrückungsinstrument. Die hierfür charakteristische, fraglos inszenierte Naivität zeigte sich an zwei Versuchen der AfD, NS-Terminologie – die Begriffe »Volksgemeinschaft« und »völkisch« – zu rehabilitieren und sie aus ihrem antidemokratischen Kontext herauszulösen. Am 24. Dezember 2015 hatte die AfD Sachsen-Anhalt auf ihrer Facebook-Präsenz ein »besinnliches, friedvolles Weihnachten« gewünscht und dieses mit dem Appell verbunden, sich Gedanken »über gemeinsame Werte, Verantwortung für die Volksgemeinschaft« zu machen (zit. n. Gensing 2015). Auf einen kritischen Einwand bezüglich der Wortwahl antwortete der AfD-Landesvorsitzende im Bundesland Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, dass offenbar »einige völlig unproblematische und sogar äußerst positive Begriffe nicht benutzt werden« sollten (zit. n. ebd.). Und die damalige AfD-Parteichefin Frauke Petry sekundierte mit mehreren Monaten Verspätung, als sie im September 2016 den Begriff »völkisch« rehabilitieren wollte und betonte, dass nun dieser NS-Terminus wieder positiv aufgeladen werden müsse (vgl. Balzli/Kamann 2016). Diese Bemühungen der AfD zeigen, dass man faktisch ignorieren möchte, dass der Begriff »Volksgemeinschaft« historisch eindeutig durch den Nationalsozialismus belegt ist (vgl. Brunner u.a. 2011; Reeken/Thießen 2013; Schmiechen-Ackermann 2012; Schyga 2015; Wildt 2012). Aber selbst wenn man sich auf den Standpunkt historischer Naivität zurückziehen würde, ist der Begriff in einer Demokratie unhaltbar: in Verbindung von 198
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»Volk« und »Gemeinschaft« liegt ein doppelter Ausschluss, der nur ethnisch, aber nie demokratisch gedacht werden kann (vgl. Salzborn 2005a). Das »Volk« als Gegenbegriff zur westlichen »Nation« wird nicht durch rationale, demokratische Kriterien wie beispielsweise den subjektiven Willen (dazugehören zu wollen – oder auch nicht) bestimmt, sondern durch vorpolitische Dimensionen wie die Phantasie einer gemeinsamen Abstammung als Kollektiv. Und die »Gemeinschaft« steht, wird sie so verwandt, in Gegnerschaft zur »Gesellschaft«: der offenen und pluralen, widersprüchlichen und letztlich freiwilligen Form des Zusammenschlusses (vgl. Salzborn 2012a). In der »Volksgemeinschaft« geht es hingegen nur um Zwang, der nach innen wie außen repressiv und totalitär ist. Deshalb ist die Idee einer Volksgemeinschaft auch generell nicht mit den Vorstellungen von Demokratie vereinbar. Dass das Konzept der »Volksgemeinschaft« nicht nur aus politischen und historischen Gründen genuin antidemokratisch ist, sondern auch demokratiefeindlich im Sinne einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit mit der bundesdeutschen Verfassung, hat auch das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht, Anfang 2017 bestätigt: »Dieses politische Konzept missachtet die Menschenwürde aller, die der ethnischen Volksgemeinschaft nicht angehören, und ist mit dem grundgesetzlichen Demokratieprinzip unvereinbar.« (BVerfG 2017) Wird jetzt von der AfD der Begriff »Volksgemeinschaft« ins Zentrum gerückt, dann korrespondiert das unmittelbar mit völkischem Denken (vgl. Puschner/Großmann 2009) – nicht zufällig hat Petry ja auch diesen im Zentrum rechtsextremen Denkens lokalisierten Begriff zu rehabilitieren versucht: völkisch. Das völkische Volk ist der Gegenentwurf zur demokratischen Nation, während in der demokratischen Nation alle Bürger ungeachtet ihrer kulturellen, religiösen oder ethnischen Selbstzuschreibungen politische Subjekte sind, fordert das Konzept des völkischen Volkes den Ausschuss aller Menschen, die nach vor-politischen Kriterien – also solchen, die rein zufällig und ohne bewusste Entscheidung des Menschen von Dritten als relevant unterstellt werden – nicht zu einem ethnisch homogen phantasierten Kollektiv gehören. Das Subjekt der demokratischen Nation ist der demos, während das völkische Volk den ethnos als Grundlage seines Politikverständnisses erklärt. Dabei soll der realexistierende und tatsächlich vorhandene demos gemäß des Primats der Ethnopolitik zum ethnos umgewandelt werden, wobei die Verstetigung des Glaubens an eine völkischen Kollektividentität durch Einleitung eines Ethnisierungsprozesses erfolgt, »in dessen Verlauf zunächst konstitutiv belanglose Momente schrittweise in konstitutiv relevante Eigenschaften transformiert werden, um
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eine gesonderte soziale Gruppe zu erzeugen« (Bukow 1990: 423, Herv. i. Orig.). In diesem Ethnisierungsprozess will das völkische Denken dann die Gesellschaft zur Gemeinschaft transformieren, den Pluralismus der Interessen zum Monismus der Identität, das Denken zum Handeln, den Konflikt zum Schicksal, den Gegner zum Feind und den Streit zum Kampf. Die begriffliche Annäherung an die Volksgemeinschaft und das völkische Denken geht somit einher mit einer Ablehnung des modernen (westlichen) Nationenbegriffs, der nicht vom politischen Prinzip des ethnos geleitet ist, sondern von dem des demos (vgl. Smith 1991: 8ff. Siehe zum Überblick über den Forschungsstand Salzborn 2011a; Wehler 2001). Die AfD und der Antisemitismus Seit Jahrzehnten zeigen empirische Einstellungsuntersuchungen, dass es in Deutschland einen konstanten Anteil von etwa einem Fünftel Antisemiten und einem Viertel Rassisten in der Gesamtbevölkerung gibt (vgl. Heitmeyer 2001ff.; Salzborn 2014). Hier und da ändern sich die Werte kurzfristig, der antiaufklärerische Bodensatz ist aber stabil. Nicht jeder davon ist ein organisierter Neonazi: Manche dieser Menschen sind zwar in rechtsextremen Organisationen zusammengeschlossen, andere wiederum sympathisieren mit rechten Parteien, die meisten fallen im Alltag durch ihre politischen Aktivitäten aber zunächst einmal nicht weiter auf – weil sie sich selbst nicht als Rechtsextreme sehen und dieses Etikett weit von sich weisen würden. Heute nennt sich diese Gruppe in Deutschland gern selbst »besorgte Bürger«, ihre Einstellungen sind rassistisch und völkisch-nationalistisch, die Aufklärung und rationales Denken sind ihnen genauso verhasst, wie die Gleichberechtigung. Bemerkenswert an diesem Teil von besorgten Rassisten ist, dass sie zwar ein ganzes Ensemble an rechtsextremen Positionen vertreten, allerdings in keinem Fall als Rechtsextremist bezeichnet werden möchten. Es geht um sozial durchaus gut integrierte Menschen, meist aus der unteren und mittleren Mittelschicht, oft mit akademischer Bildung, nicht selten männlich und mit solidem Einkommen, aber eben erheblichen irrationalen Ängsten. Ihre Einstellungen sind stramm rechts, das wollen sie sich aber nicht eingestehen und erfinden deshalb Etiketten, die es ihnen ermöglichen, im Selbstbild möglichst weit von der analytischen Fremdbeschreibung »Rechtsextremist« entfernt zu sein. Für diese Klientel war es in Zeiten vor der AfD schwierig, eine politische Heimat zu finden. Auf der Angebotsseite des politischen Systems fan200
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den sich entweder offen neonazistische Parteien wie die »Nationaldemokratische Partei Deutschlands« (NPD) oder die »Deutsche Volksunion« (DVU) – oder eben konservative Parteien, die sich, ganz gleich, ob aus inhaltlichen oder instrumentellen Gründen, um Abgrenzung nach Rechtsaußen bemühten. Es fehlte an einer Partei, die das gesamte antiaufklärerische Ressentiment in sich vereinigte, aber zugleich fortwährend bestritt, rechtsextrem zu sein. Dann kam die AfD – und ihre prominenten Funktionäre Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel dienten einige Zeit dazu, den Glauben an den glänzenden Lack über dem von Anfang an tief erodierten Rost der AfD aufrecht erhalten zu können (vgl. zur Frühgeschichte der AfD: Bebnowski 2015; Friedrich 2015; Häusler/Roeser 2015; Kemper 2013). Seit der Spaltung der Partei im Sommer 2015 sind die Fragmente des konservativen Lacks der AfD längst abgeblättert, noch hält sich aber nicht zuletzt durch den samtweichen Umgang der Medien mit der AfD das Image einer zumindest nicht vollwertig als rechtsextrem zu klassifizierenden Partei (vgl. Salzborn 2016). Insofern ist die AfD auch eine Erscheinung im politischen System der Bundesrepublik, die nur bedingt mit den populistisch agierenden Bewegungen am rechten Rand im Rest von Europa zu vergleichen ist (vgl. Salzborn 2015; siehe auch Decker u.a. 2015; Melzer/Serafin 2013) – vielleicht am ehesten noch mit der österreichischen »Freiheitlichen Partei Österreichs« (FPÖ), einer rechtsextremen Partei mit betont populistischem Image, die sich schon lange als Kraft der Antidemokraten im demokratischen System Österreichs etabliert hat (vgl. Pelinka 2002; Schiedel 2007). Der deutsche Wunsch, Nazi-Positionen formulieren zu können, ohne dabei als Rechtsextremist identifiziert zu werden, ist in einem Land besonders ausgeprägt, in dem die Frage nach der Täterschaft der eigenen Großeltern bis heute fast nie gestellt wird (vgl. Brunner u.a. 2011; Lohl 2010; Peisker 2005). Und das ist auch das Spezifische an der AfD und ihrem Erfolg in einem Segment der Gesellschaft, das ökonomisch und sozial Teil der Mitte ist, weltanschaulich aber am rechten Rand steht: den eigenen, immer als zu klein empfundenen Wohlstand, um jeden Preis verteidigen zu wollen. Dabei scheint der heute rassistisch agierende Teil der Mittelschicht unbewusst zu ahnen, dass die Ursache für den eigenen Wohlstand nicht die unter dem Terminus »Wirtschaftswunder« herbeiphantasierten Leistungen der eigenen Großeltern waren. Der Ursprung für die eigenen Privilegien, die die AfD stellvertretend mit völkischen und rassistischen Parolen zu verteidigen vorgibt, war historisch die schier unfassbar große Bereitschaft der Alliierten, den Deutschen nach Nationalsozialismus und Massenvernichtung der europäischen Juden nochmal eine Chance zu geben. In einem noch 201
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viel tieferen Sinn, als dies die Migrationsforschung (vgl. Bade/Oltmer 2004) betont, wenn sie darauf hinweist, dass das »deutsche Wirtschaftswunder [...] ohne Gastarbeiter gar nicht möglich gewesen« wäre (Bauer 2010), liegt der Ursprung des deutschen Wohlstandes also im Ausland. Sich dies einzugestehen, würde nicht nur eigene Unfähigkeiten sichtbar werden lassen, sondern auch durch die Hintertür die Frage nach der NSTäterschaft in der jeweils eigenen Familiengeschichte wieder auf die Agenda setzen. Mit der AfD verbunden ist nun das gefühlte Versprechen, beides vermeiden zu können und für beides Projektionsflächen angeboten zu bekommen. Weil dies sozialpsychologisch nicht funktionieren kann, wird das radikalisierte Milieu, für das die AfD als Partei und Pegida als Bewegung auf der Straße stehen (vgl. Arzheimer 2015; Vorländer u.a. 2016), immer aggressiver und gewaltbereiter: denn das, was abgewehrt wird, ist die Last der eigenen Vergangenheit und der eigenen sozioökonomischen Unfähigkeit, die man projiziert und dabei zugleich verleugnet und umso brutaler bei den anderen sucht und verfolgen muss. Die Abwehr der NS-Vergangenheit und der Wunsch nach kollektiver Unschuld Die Abwehr der NS-Vergangenheit ist sozialpsychologisch insofern nicht zu trennen von heutigen völkischen und rassistischen Positionierungen im rechten Diskurs. Der Umgang mit der NS-Geschichte kann das im Detail zeigen, exemplarisch anhand eines langen Interviews, das der AfD-Spitzenfunktionär Alexander Gauland im April 2016 mit der Wochenzeitung Die Zeit geführt hat. In diesem Gespräch fragte die Zeit Gauland nach der Bedeutung der von ihm an anderer Stelle verwandten Formulierung »Sittengesetz eines Volkes«, das verteidigt werden müsse. Darauf antwortet Gauland: »Das ist das, woraus sich ein Volk entwickelt hat, aus Geschichte, Tradition, aus Umbrüchen. Sie können die Formulierung auch durch das Wort ‚Identität‘ ersetzen, und diese Identität verteidigen andere Völker sehr viel stärker. Das hat natürlich mit Auschwitz zu tun. Ich war kürzlich das erste Mal in Auschwitz, wobei ich festgestellt habe, dass es mich nicht mehr ergriffen hat, anders als bei meinem Besuch in Buchenwald. Es ist wie gefrorener Schrecken. Wenn man die vielen Haare und Pinsel und Koffer sieht, hat man plötzlich das Gefühl, das ist versteinert, das spricht nicht mehr. Ich glaube, dass Auschwitz, auch als Symbol, viel in uns zerstört hat.« (Gauland 2016a)
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Antisemitismus in der »Alternative für Deutschland«
Die sich aufdrängende und naheliegende Rückfrage, ob es nicht die Deutschen waren, »die da etwas zerstört haben«, scheint auch die erste Assoziation der Zeit-Journalisten Bernd Ulrich und Matthias Geis gewesen zu sein, die das Gespräch mit Gauland geführt haben, so dass sie direkt nachfassen, worauf Gauland wiederum entgegnet: »Richtig, aber es ist dabei sehr viel mehr kaputtgegangen. Die Nazis haben viele Dinge berührt, die durch diese Berührung plötzlich nicht mehr sagbar wurden. Der Nationalstolz, den jeder Engländer, jeder Franzose empfindet, ist doch bei uns enorm hinterfragt, nach dem Motto: Dürfen wir das eigentlich noch sagen?« (Gauland 2016a) Auch hier folgt der assoziativ und intuitiv nahe liegende Einwand der Interviewer, dass es eben »außerhalb der deutschen Geschichte [..] kein Verbrechen wie Auschwitz gegeben« hat, was Gauland, der insgesamt in dem Interview obsessiv fixiert ist auf den Nationalsozialismus, auch an Stellen, an denen er eigentlich nicht Thema sein müsste (bereits die Frage nach den »Sittengesetzen« hat Gauland ja selbst und ohne argumentative Not auf den Nationalsozialismus und Auschwitz bezogen), kontert mit: »Ja. Hitler hat sehr viel mehr zerstört als die Städte und die Menschen, er hat den Deutschen das Rückgrat gebrochen, weitgehend« (Gauland 2016a). Das Interview ist ausgesprochen aufschlussreich für das Selbstverständnis der AfD mit Blick auf den Nationalsozialismus, nicht nur bezüglich der vorsätzlich formulierten Positionierungen, sondern gerade mit Blick auf das Unbewusste, das hier auch aus Gauland spricht – und unredigiert sichtbar macht, dass die AfD ein geradezu besessenes Verhältnis zum Nationalsozialismus hat, das nur lange Zeit in seiner geschichtsrevisionistischen Implikation besser kaschiert wurde, als beispielsweise bei der offen neonazistischen NPD. Die geschichtspolitisch in Gaulands Versuchen zur Entlastung der eigenen Schuld zum Ausdruck kommende verleugnete deutsche Täterschaft im Nationalsozialismus verbindet sich mit dem Wunsch nach eigener (kollektiver) Unschuld, dem Phantasma des eigenen Opferstatus. Nicht die Deutschen haben etwas getan, sondern den Deutschen wurde etwas angetan, durch die rhetorische Separierung von Hitler – als personalisierter Inbegriff des Bösen und des NS – und seinem Volk wird Schuld gleichermaßen exterritorialisiert, wie verleugnet. Es scheint im Weltbild von Gauland keine Täter/innen mehr zu geben, außer Hitler und vielleicht noch ein paar führende Nazis. Das ignoriert – ob vorsätzlich oder unbewusst ist gleichgültig –, dass das NS-Regime eine große Zustimmung in der deutschen Bevölkerung hatte, und dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen an der Massenver203
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nichtung der europäischen Jüdinnen und Juden aktiven und passiven Anteil hatte: Sei es durch aktives Handeln bei Enteignungen, Plünderungen, Denunziationen, Erschießungen, Deportationen usw., sei es durch Beschweigen und Unterlassen von Widerstand, sei es durch die Verbreitung von antisemitischen und rassistischen Ressentiments, sei es durch das Verschweigen der Verbrechen oder das Profitieren aus Zwangsarbeit und »Arisierung«. Und es ignoriert, dass die völkische Volkstums- und antisemitische Vernichtungspolitik deshalb in einer derart barbarischen Weise umgesetzt werden konnte, weil es einen sehr weitreichenden Konsens zwischen NS-Führung und deutscher Bevölkerung gab. Grundlage für Gaulands Geschichtsbild ist eine positive Identifizierung mit der deutschen Nation, das heißt, »deutsch-sein« wird weder in Frage gestellt, noch findet eine Auseinandersetzung mit den negativen Seiten deutscher Geschichte statt. Somit kann man sagen, dass keine (oder nur eine stark eingeschränkte) Ambivalenzwahrnehmung existiert, sondern lediglich der Versuch der Betonung und Überhöhung dessen, was als positiv wahrgenommen wird. Das hat auch die Landtagsfraktion der AfD in Baden-Württemberg gezeigt, als sie Anfang 2017 die Streichung von Landesmitteln für eine KZ-Gedenkstätte forderte und dies damit zu begründen versuchte, dass es eine »ausgewogene Erinnerungskultur« geben müsse, wobei eine »einseitige Betonung der dunklen Geschichtskapitel bei gleichzeitiger Verdrängung unserer historischen Leistungen« abgelehnt werde. Ziel, so die AfD, sei eine »positive Identifikation mit Deutsch und unserer Geschichte« (AfD BW 2017). Man wolle darüber hinaus, wie es in einem anderen Antrag hieß, Zuschüsse für Fahrten zu »Gedenkstätten nationalsozialistischen Unrechts« umwidmen für Fahrten zu »bedeutsamen Stätten der deutschen Geschichte« (zit. n. Muschel 2017). Und im aktuellen Parteiprogramm der AfD auf Bundesebene wird die objektive historische Verantwortung der Deutschen für den Nationalsozialismus und die Shoa auch explizit kleingeredet, so dass die geschichtsrevisionistische Grundintention sogar offizieller Bestandteil des Bundesparteiprogramms ist: »Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst.« (AfD 2016: 48) Diese Identifizierung mit der deutschen Nation ist das Zentrum des Denkens. Ziel der geschichtspolitischen Intervention von Gauland ist es insofern auch, Deutsche generell als Opfer des Nationalsozialismus zu unterstellen. Bemerkenswert an dieser Projektion ist der indirekt artikulierte 204
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Wunsch, da der Status des Opfers in geschichtspolitischen Debatten oftmals wie ein Adelstitel wirkt – und das, obgleich jedes Opfer von Gewalt sich wünschen würde, diese nie erlitten zu haben, da der Opferstatus real alles andere als wünschenswert ist. Der projektive Neid drückt sich in Bezug auf den Nationalsozialismus dann wiederum in der in zahlreichen empirischen Studien als Einstellung nachgewiesenen Auffassung aus, Juden würden versuchen, Profit aus der NS-Vergangenheit zu ziehen (vgl. Salzborn 2014b). Es geht damit um die Abwehr von (so empfundener) Minderwertigkeit und von Schuld: das eigene Schlechte wird dabei ebenso auf die Juden projiziert, wie der Neid auf vermeintliche oder reale Fähigkeiten und Erfolge – wie auch die scheinbar bewundernden Ausführungen von Kubitschek zeigen, deren »Bewunderung« aber eben an antisemitische Weltverschwörungsphantasien anschließt. Hierbei werden die Wege einer offenen Bezugnahme auf zentrale Elemente der NS-Ideologie in der AfD bisher nicht nur, aber vor allem über den Umweg der historischen Entlastung des Nationalsozialismus beschritten. An das geschichtsrevisionistische Geschichtsbild von Gauland schloss im Januar 2017 aber auch noch Björn Höcke, AfD-Fraktionsvorsitzender im Thüringer Landtag, an und verband den deutschen Opfermythos von Gauland und die Versuche der historischen Entlastung nun mit einer antisemitischen Positionierung, die zugleich eine massive Gewaltandrohung gegen die Bundesrepublik Deutschland enthielt. Höcke hatte in einer Rede bei einer Veranstaltung der »Jungen Alternative«, der AfD-Jugendorganisation, in Dresden erklärt, die »Bombardierung Dresdens« sei ein »Kriegsverbrechen« gewesen und man sei »bis heute« nicht in der Lage, »unsere eigenen Opfer zu betrauern« (was angesichts der flächendeckenden Kriegerdenkmäler in Deutschland einschließlich der umfangreich in der offiziellen Erinnerungskultur verankerten wie durch unzählige Gedenkorte manifestierten Erinnerung an das Thema Flucht und Vertreibung der Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schlichtweg eine unverfrorene und schamlose Lüge ist), um eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad« zu fordern, die »großartigen Leistungen der Altvorderen« in den Mittelpunkt zu rücken und das HolocaustMahnmal in Berlin als »Denkmal der Schande« zu bezeichnen, dass man sich »in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt« habe (Höcke 2017). Höcke verband dies mit der offenen Gewaltandrohung: »Die AfD ist die letzte revolutionäre, sie ist die letzte friedliche Chance für unser Vaterland.« (ebd.; Herv. nicht im Orig.) Diese Rede von Höcke zeigte die eigentliche Substanz der Aussagen, wie sie auch von Gauland formuliert wurden – und machte deutlich, dass 205
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sich ein geschichtsrevisionistischer Antisemitismus verbindet mit einem ahistorischen und wahrheitswidrigen Glauben an eine deutsche Opferidentität. Die gegenwärtig noch hegemoniale Form dieser damit geschaffenen historischen Tarn- oder Deckidentität (vgl. Brainin u.a. 1993: 64) besteht somit in der Stiftung des Mythos kollektiver Unschuld: Dabei will man über »deutsche Opfer« reden, ohne tatsächlich über den Nationalsozialismus zu sprechen. Der historische Kontext soll verschwinden, die ursächlichen Zusammenhänge von deutscher Volkstums- und Vernichtungspolitik auf der einen und Umsiedlung der Deutschen und Bombardierung deutscher Städte als Konsequenz dieser Politik auf der anderen Seite sollen aus dem Gedächtnis herausredigiert werden, ohne dass sie jemals ernsthaft im gesellschaftlichen Diskurs reflektiert worden wären. Dem stets halluzinierten Vorwurf einer deutschen Kollektivschuld, den es tatsächlich von alliierter und assoziierter Seite als politische Handlungsmaxime nicht gegeben hat (vgl. Frei 1997: 621ff.; Salzborn 2003: 17ff.), wird mit einer Geschichtsinterpretation begegnet, die geradewegs auf die Schaffung eines Mythos deutscher Kollektivunschuld zusteuert. Das zeigte auch sehr deutlich eine im September 2017 von Gauland gehaltene Rede, in der er für eine vollständige Umdrehung des Täter-OpferVerhältnisses eintrat und eine der zentralen Institutionen des antisemitischen Vernichtungskrieges, die deutsche Wehrmacht, mit den Alliierten Armeen gleichsetze, die im Unterschied zu den Deutschen keinen Vernichtungskrieg geführt haben, sondern die deutsche Wehrmacht davon abgehalten haben, noch mehr Menschen zu ermorden. Gauland sprach wörtlich davon, dass wenn Franzosen und Briten stolz auf ihre Armeen des Zweiten Weltkrieges seine, »haben wir das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen« zu sein. Und ebenfalls wörtlich: »Man muss uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr. Deshalb haben wir auch das Recht, uns nicht nur unser Land, sondern auch unsere Vergangenheit zurückzuholen.« (Gauland, zit. n. o.V. 2017a) Die Tatsache, mit dem Nationalsozialismus einer Lehre gefolgt zu sein, die den Deutschen besondere Privilegien in der Welt versprach, und das Faktum, während des Nationalsozialismus seine eigenen Aggressionen auf Mitmenschen projiziert zu haben, die im Akt der Projektion in Untermenschen verwandelt worden waren, führte bei der überwältigenden Mehrheit der Deutschen dabei nicht etwa zu Scham, sondern provozierte die kindliche Ausrede, man sei »nur« dem Führer gefolgt. Das erklärt, wie schon Alexander und Margarete Mitscherlich betont haben, die
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»Neigung vieler Deutscher, nach dem Kriegsende die Rolle des unschuldigen Opfers einzunehmen. Jeder einzelne erlebt die Enttäuschung seiner Wünsche nach Schutz und Führung; er ist mißleitet, verführt, im Stich gelassen und schließlich vertrieben und verachtet worden, und dabei war er doch nur folgsam, wie die erste Bürgerpflicht es befahl.« (Mitscherlich/Mitscherlich 1980: 53f.) Diese infantile Haltung »vergisst« nicht nur die historischen Fakten, sondern sie dreht das Opfer-Täter-Verhältnis zu den eigenen Gunsten um, da zwar ein Akt der Zerstörung und Vernichtung bedauert wird – jedoch der an der eigenen Substanz und der der eigenen Wünsche. Gauland bringt das in dem zitierten Interview in wenigen Sätzen auf den Punkt, Höcke sagt in der zitierten Rede dasselbe, formuliert aber noch deutlicher als Gauland und verbindet seine geschichtsrevisionistische Position mit einer expliziten Gewaltandrohung. Die bereits in der Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu attestierende Schuldabwehr und Vergangenheitsverleugnung ging somit einher mit einer geradezu rituellen Kultivierung der eigenen Unschuld und des eigenen Opferstatus. Wenn nun dieser deutsche Mythos kollektiver Unschuld heute von der AfD wieder reaktiviert wird, dann hat das nicht nur geschichtspolitische Implikationen. Denn wem es gelingt, den Nationalsozialismus zu entsorgen oder ihn zu bagatellisieren, sein in Begriffen geronnenes Weltbild zu verharmlosen, seine raum- und volkspolitischen Konzepte aus dem NS-Kontext zu lösen, der eröffnet sich damit die Möglichkeit, Konzepte wie das der völkisch-repressiven »Volksgemeinschaft« dann auch wieder umsetzen zu können. Und genau hierin liegt der tiefe Sinn der Instrumentalisierung der deutschen Geschichte durch die AfD: Wer den Nationalsozialismus aus der Erinnerung entsorgt, kann NS-Konzepte umsetzen, ohne als Nazi oder Rechtsextremist zu gelten. Exakt deshalb gab es in der AfD auch so viele Stimmen, die den völlig eindeutigen, offen und direkt artikulierten und insofern unmissverständlichen Antisemitismus von Wolfgang Gedeon nicht als solchen erkennen wollten: weil eben diese Einsicht in das Offensichtliche die Realblockade für die gesamte Politik der AfD bedeutet hätte. Die Spitze vieler Eisberge: der Fall Gedeon und der tiefsitzende Antisemitismus Und dieser Fall Gedeon ist im Kern schnell erzählt: Gedeon wurde für die AfD im Frühjahr 2016 Mitglied des Landtages von Baden-Württemberg und hat sich in seinen Schriften umfangreich, unmissverständlich und ein207
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deutig antisemitisch geäußert. Das ist, für ein Mitglied eines deutschen Parlamentes, für sich genommen bereits ein Skandal. Der noch größere Skandal war aber das Verhalten der AfD, mit dem Fall Gedeon umzugehen – und an diesem Verhalten der Partei kann man mehr über den Antisemitismus in der AfD erfahren, als schon aus dem, was Gedeon von sich gibt. Denn der Umgang zeigt, wie tief verwurzelt antisemitisches Denken in der AfD ist und warum die AfD zwar programmatisch betrachtet bisher keine explizit antisemitische Partei ist, aber fraglos eine Partei für Antisemiten. Was hatte Gedeon geschrieben? In einem Buch hat er geschichtsrevisionistische Neo-Nazis wie Horst Mahler, Ernst Zündel und David Irving als »Dissidenten« bezeichnet und die Auffassung vertreten, dass sich in der Rechtsprechung »der zionistische Einfluss in einer Einschränkung der Meinungsfreiheit« äußere (zit. n. Saure/Maegerle 2016). Für Gedeon arbeiten Juden an der »Versklavung der Menschheit im messianischen Reich der Juden«, mit dem Ziel der Durchsetzung einer »Judaisierung der christlichen Religion und Zionisierung der westlichen Politik« (zit. n. Bender/Soldt 2016). Gedeon im Wortlaut: »Wie der Islam der äußere Feind, so waren die talmudischen GhettoJuden der innere Feind des christlichen Abendlandes […] Als sich im 20. Jahrhundert das politische Machtzentrum von Europa in die USA verlagerte, wurde der Judaismus in seiner säkular-zionistischen Form sogar zu einem entscheidenden Wirk- und Machtfaktor westlicher Politik. [...] Der vormals innere geistige Feind des Abendlandes stellt jetzt im Westen einen dominierenden Machtfaktor dar, und der vormals äußere Feind des Abendlandes, der Islam, hat via Massenzuwanderung die trennenden Grenzen überrannt, ist weit in die westlichen Gesellschaften eingedrungen und gestaltet diese in vielfacher Weise um.« (Gedeon, zit. n. Bender/Soldt 2016) So weit, so offensichtlich – aber bevor es im Juli 2016 zur rein kosmetischen Spaltung der AfD-Fraktion im Stuttgarter Landtag kam, war die Partei und ihr Führungspersonal händeringend darum bemüht, Experten zu finden, die etwas statt ihrer zu Gedeon hätten sagen sollen. Die Frage, die Parteichefin Petry und Co. vordergründig umtrieb: Ist das Antisemitismus, was Gedeon vertreten hat? Man kann diese verzweifelte Suche nach Gutachter (vgl. Krauss 2016), die statt der Partei diese Frage beantworten sollten, als rhetorische Strategie abtun. Viel naheliegender ist es aber, sie ernst zu nehmen und die Partei dafür in Verantwortung zu nehmen, was sie getan hat. Dann sieht man: Gedeon hat sich in aller Deutlichkeit und Unmissverständlichkeit antisemitisch geäußert und in zahlreichen Facetten 208
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antisemitisches Gedankengut von sich gegeben. Dass man nun in der AfD ernsthaft fragte, ob das von Gedeon geäußerte denn überhaupt antisemitisch sei, zeigt, dass man in der Partei offensichtlich den Inhalt der Aussagen selbst nicht für problematisch hielt, sondern sich einen GesinnungsTÜV wünschte, der diese Bewertung übernehmen sollte – weil man offenbar, eine andere plausible Erklärung gibt es nicht, selbst mindestens Teile des Weltbildes von Gedeon für unproblematisch hält. Dieser Umgang zeigt zweierlei: Zum einen, dass die AfD selbst jede Verantwortung für ihr eigenes Handeln externalisieren wollte, nur um keinen der eigenen Kameraden verschrecken zu müssen – im Zweifel hätte eben irgendein (sowieso von der AfD und ihren Anhängern mehr oder weniger verhasster) Wissenschaftler gesagt, Gedeon sei Antisemit, aber nicht man selbst; zum anderen, dass der Antisemitismus in der Partei tief verankert ist und die AfD Antisemiten anzieht wie ein Magnet, denn wenn man selbst bei Gedeon nicht zu sehen in der Lage ist, dass seine Äußerungen antisemitisch sind, wo beginnt denn dann für die AfD Antisemitismus? Beim umgesetzten Massenmord? Dass man in der AfD Antisemitismus nicht als solchen erkennt, entweder, weil man nicht einräumen möchte, dass man selbst antisemitische Positionen teilt, oder weil man Antisemiten nicht für das in Haftung nimmt, was sie sagen, zeigen zahlreiche andere Fälle – bei denen von der AfD nie offiziell und unmissverständlich gesagt wurde, dass es sich um Antisemitismus handelt. Man hat stattdessen inhaltliche Distanzierungen unterlassen, weshalb Gedeon auch nur eine Spitze der antisemitischen Eisberge ist, die immer umfangreicher sichtbar werden. Die antisemitischen Fälle in der AfD sind so umfangreich, dass die meist übliche rechte Strategie, diese als Einzelfälle zu verniedlichen, substanzlos geworden ist. Bereits 2015 hatte der AfD-Lokalpolitiker Gunnar Baumgart aus Bad Münder die nazistischen Geschichtsrevisionisten und Holocaust-Leugner Ernst Zündel, Germar Rudolf und Fred Leuchter verteidigt und auf Facebook einen Artikel verlinkt, der behauptete, dass »kein einziger Jude« durch »Zyklon B oder die Gaskammern umgekommen« sei. Baumgart, der betonte, dass hätte er Kinder, diese »den Geschichtsunterricht in Deutschland nicht besuchen« dürften, erklärte nach mehreren Strafanzeigen, die gegen ihn gestellt wurden, aus der AfD austreten zu wollen, »um Schaden von der Partei abzuwenden« (zit. n. Rathmann/ Thimm 2015). Aber auch andere Funktionseliten der AfD haben sich antisemitisch geäußert (vgl. auch Riebe 2016), wie etwa deren hessischer Schatzmeister Peter Ziemann, der 2013 über »satanische Elemente in der Finanz-Oligopole« und »freimaurerisch organisierte Tarnorganisationen« phantasiert hatte. 209
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(zit. n. Pfahl-Traughber 2016) Oder deren brandenburgischer Politiker JanUlrich Weiß, der dem britischen Investmentbanker Jacob Rothschild in den Mund gelegt hatte, »wir« würden Medien und Regierungen steuern (zit. n. ebd.). Oder der nordhessische AfD-Kreistagsabgeordnete Gottfried Klasen, der dem Zentralrat der Juden die »politische Meinungsbildungshoheit sowie die politische Kontrolle über Deutschland« unterstellte (zit. n. Meyer/Tornau 2016). Und Ende Oktober 2016 verteidigte der AfD-Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag Björn Höcke bei einer AfD-Kundgebung in Gera die kurz zuvor zum wiederholten Male wegen HolocaustLeugnung verurteilte nazistische Multifunktionärin Ursula Haverbeck (vgl. Krohn 2016). Mit Wilhelm von Gottberg, seines Zeichens langjähriger Funktionär der Landmannschaft Ostpreußen, zog bei der Bundestagswahl im September 2017 ein Politiker für die AfD in den Deutschen Bundestag ein, der sich weigerte, sich eindeutig von einem den Holocaust relativierenden Kommentar zu distanzieren, den er 2001 in einem Leitartikel des Rechtsaußenblattes Ostpreußenblatt geschrieben hatte. Darin hatte Gottberg zustimmend einen italienischen Neofaschisten zitiert mit den Worten, dass die »Propaganda-Dampfwalze« mit den Jahren nicht etwa schwächer werde, sondern stärker und so der »Holocaust ein Mythos bleiben« müsse, »ein Dogma, das jeder freien Geschichtsforschung entzogen bleibt«. (zit. n. o.V. 2017b) Gottberg hatte bereits 2003 den damaligen CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann verteidigt, der wegen einer antisemitischen Rede aus der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion und dann auch aus der Partei CDU ausgeschlossen worden war. In der Rede hatte Hohmann versucht, die deutsche NS-Täterschaft klein zu reden und zugleich Juden »Täterschaft« mit Blick auf sowjetische Politik unterstellt. Hohmann sitzt inzwischen auch für die AfD im Deutschen Bundestag. Im Berliner Wahlkampf 2016 exponierte sich der stellvertretende AfDLandesvorsitzende Hugh Bronson mit einem die Shoah relativierenden Auschwitz-Vergleich, als er twitterte: »Extreme sind urdeutsch, wie Menschen in Zügen: Entweder Auschwitz oder Refugees Welcome. Beides falsch!« (zit. n. Bombosch 2016). Kay Nerstheimer, der für die AfD im Wahlkreis Lichtenberg 1 bei der Berliner Landtagswahl das Direktmandat gewonnen hat, vermutet hinter dem Ersten und Zweiten Weltkrieg »Kräfte«, die nun auch einen dritten Weltkrieg verursachen wollen würden und phantasiert die Bundesrepublik zu einer »BRD Treuhandgesellschaft mit Sitz in Frankfurt am Main«, glaubt also an eine Finanzverschwörung (zit. n. Gupta 2016). Dass Nerstheimer bei deren Konstituierung nicht zur AfDFraktion im Berliner Abgeordnetenhaus gehörte, ist die gleiche verlogene Kosmetik wie bei der Spaltung der Stuttgarter Landtagsfraktion, die medi210
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enwirksam inszeniert die Kritik am Antisemitismus der Partei abwürgte, Ende 2016 aber schon wieder rückgängig gemacht wurde. Wolfgang Gedeon selbst hat, offenbar von jeder Erkenntnis völlig unberührt, nach der öffentlichen Diskussion über ihn noch nachgelegt und einen Kritiker, der seine antisemitischen Äußerungen in der Zeit analysiert hatte und Mitarbeiter beim Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin ist (vgl. Funck 2016), gefragt, »von welchen nichtstaatlichen Stellen« dessen Arbeit finanziert werde, das würde, so Gedeon (2016), »sicher manchen Leser interessieren« – dass Gedeon hier die Frage nur antisemitisch stellte, ohne sie selbst zu beantworten, baut auf das antisemitische Suggestivpotenzial, bei dem sich Antisemiten ihren Wahn nur zuraunen müssen, ohne ihn explizit zu machen. Und in der AfD-Landtagsfraktion von Baden-Württemberg finden sich auch nach deren inzwischen vollzogenen Wiedervereinigung weiterhin Abgeordnete, die Gedeons Aussagen nicht für antisemitisch halten und ihn, der inzwischen fraktionslos ist, weiter unterstützen (vgl. Soldt 2016a). Dass der antisemitische Wahn immer öfter und immer deutlicher auch als offener Antisemitismus artikuliert wird, zeigen die bisherigen Beispiele. In ihrem Umgang mit dem Fall Höcke ist die AfD nach dem Fall Gedeon nun aber im Januar 2017 noch einen Schritt weitergegangen: Seitdem die Parteiführung Höcke nach seiner geschichtsrevisionistischen und antisemitischen Rede dadurch den Rücken gestärkt hat, dass man einen Rauswurf aus der AfD ausschloss, hat sie, wie der Spiegel schreibt, jede »demokratische Satisfaktionsfähigkeit« verloren: »Sie ist zu einer Partei für Nazis und deren Mitläufer geworden. Und wer sie wählt, muss wissen: Er gehört dazu« (Kuzmany 2017). Diese Einschätzung teilen laut einer Forsa-Umfrage 62 Prozent aller Bundesbürger, also fast zwei Drittel (vgl. o.V. 2017c). Resümee Es ist lediglich eine Frage der Zeit, wann aus der Partei für Antisemiten auch eine dezidiert antisemitische Partei werden wird. Den Weg dahin zeigt die obsessive Bemühung der AfD, NS-Begriffe wie »Volksgemeinschaft« und »völkisch« wieder positiv besetzen zu wollen – denn das schließt die völkische und antisemitische Vernichtungspolitik der deutschen Volksgemeinschaft nicht nur ein, sondern diese Vernichtung ist die historische Wahrheit der Begriffe. Das völkische Weltbild ist die zentrale Grundlage für Antisemitismus – und auch die zentrale Grundlage für die antisemitische NS-Vernichtungspolitik.
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Zudem zeigen die Veränderungsprozesse der AfD, dass es seit Parteigründung stets eine (Rechts-)Radikalisierung gegeben hat, konservative oder gar liberale Positionen gibt es heute in der AfD überhaupt nicht mehr und beim Blick auf aktuelle »Flügelkämpfe« zeigt sich deutlich, dass es bei ihnen um persönliche Macht, aber nicht um inhaltliche Differenzen geht. Bis heute findet sich in der AfD niemand von Rang und Einfluss, der öffentlich eindeutig und unmissverständlich benannt hätte, dass z.B. Gedeon oder Höcke sich eindeutig antisemitisch geäußert hätten. Differenzen in der Partei kreisen ausschließlich um die Frage, ob es sich um parteischädigendes Verhalten handelt oder nicht – sind also rein strategischer Natur. Gleichermaßen verhält es sich mit Lippenbekenntnissen aus der Partei zu Israel. Hier geht es nicht darum, Antisemitismus zu kritisieren – dieser wird mit Blick auf die NS-Vergangenheit und die Täter-Opfer-Umkehr sowie die Verherrlichung von verbrecherischen Institutionen wie der Wehrmacht deutlich propagiert. Es geht der AfD mit Blick auf Israel nur rein instrumentell darum, einerseits Kritik am eigenen Antisemitismus getreu des Mottos, wer pro-israelisch sei, könne ja nicht antisemitisch sein, abzuwehren und mit Israel in der Hoffnung auf strategische Allianzen im Kampf gegen muslimische Zuwanderung zu verbünden. Aber auch die pro-israelische Haltung der AfD ist weitgehend ein Mythos, der sich vor allem auf Politiker gründet, die mittlerweile aus der AfD ausgetreten sind. Mehr noch: Beim Bundesparteitag 2017 in Köln scheiterte der Antrag, über einen Abschnitt mit dem Titel »Deutsch-Israelische Freundschaft stärken« im Bundestagswahlprogramm abzustimmen; in einer Rede gegen die Behandlung des Antrages war argumentiert worden, dass es ein Problem mit israelischen »Kriegsverbrechern« geben würde (vgl. Steinitz/Poensgen 2017). Und der AfD-Spitzenfunktionär Gauland stellte wenig später sogar offen in Frage, dass der bundesdeutsche Konsens, sich für das Existenzrecht Israels einzusetzen, tatsächlich zur »Staatsräson« gehöre (vgl. o.V. 2017d). Wer den Antisemitismus als festes Element im Weltbild der AfD übersieht, verkennt den Charakter der Partei und ihrer Entwicklung hin in den Rechtsextremismus. Dass die AfD selbst ihren bei zahlreichen Mitgliedern und Funktionären manifesten Antisemitismus gern bagatellisieren möchte, ist offenkundig: denn mit dem Antisemitismus fällt der letzte Grund, die AfD nicht als Neuauflage zahlreicher rechtsextremer Parteien in der Geschichte der Bundesrepublik zu begreifen – mit dem einzigen Unterschied, dass die AfD aus einem kurzweiligen bürgerlichen Image Profit für sich ziehen konnte und so erstmals bei der Bundestagswahl 2017 eine rechtsextreme Partei in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte mit
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einem zweistelligen Ergebnis in den Deutschen Bundestag einziehen konnte. Für die Entwicklung der AfD ist das Ergebnis einer repräsentativen Meinungsumfrage besonders aufschlussreich. Das Institut für Demoskopie Allensbach hat im Juni 2018 gezeigt, wie verbreitet Antisemitismus bei Anhänger/innen der AfD ist: 55 Prozent der Anhänger/innen der AfD stimmen der Aussage zu: »Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss« (vgl. Petersen 2018). Im Vergleich zu den anderen Parteien beträgt die Zustimmung in jeder anderen Partei maximal 20 Prozent. Die Ergebnisse zeigen, dass Antisemitismus nicht nur die Funktionseliten der Partei, sondern auch ihre Anhänger/innen vereint. Literatur Alternative für Deutschland (2016): Programm für Deutschland. Das Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland, Stuttgart. Alternative für Deutschland Landtagsfraktion Baden-Württemberg (2017): Pressemitteilung »Gedenkstätte Gurs«, 23. Januar. Arzheimer, Kai (2015): The AfD: Finally a Successful Right-Wing Populist Eurosceptic Party for Germany?, in: West European Politics 38, H. 3, S. 535–556. Bade, Klaus J./Jochen Oltmer (2004): Normalfall Migration. Deutschland im 20. und frühen 21. Jahrhundert, Bonn. Balzli, Beat/Matthias Kamann (2016): Petry will den Begriff ‘völkisch’ positiv besetzen, in: Die Welt Online, 11. September. Bauer, Thomas K. (2010): Einwanderung ist kein Minusgeschäft (Interview), in: Die Zeit Online, 21. Oktober. Bebnowski, David (2015): Die Alternative für Deutschland: Aufstieg und gesellschaftliche Repräsentanz einer rechten populistischen Partei, Wiesbaden. Bender, Justus/Rüdiger Soldt (2016): Im Eiferer-Modus gegen Juden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Juni. Bombosch, Frederik (2016): Auschwitz-Vergleich: Berliner AfD-Vize Hugh Bronson relativiert Shoah, in: Berliner Zeitung, 16. September. Brainin, Elisabeth/Ligeti, Vera/Teicher, Samy (1993): Vom Gedanken zur Tat. Zur Psychoanalyse des Antisemitismus, Frankfurt. Brunner, Markus/Lohl, Jan/Pohl, Rolf/Winter, Sebastian (Hg.) (2011): Volks-gemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus: Beiträge zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Nationalsozialismus und seiner Nachwirkungen, Gießen. Bukow, Wolf-Dietrich (1990): Soziogenese ethnischer Minoritäten, in: Das Argument, H. 181, S. 422–426.
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Falsche Propheten 2014. Antisemitische Agitation auf den »Montagsmahnwachen für den Frieden« Niklas Lämmel
»Wir verstehen die Montagsmahnwache in Wien einfach nicht« (Przybyla 2014), titelte das Online-Magazin VICE am 14. Mai 2014. In ihrem Artikel beschrieb die Journalistin Eva Przybyla die Kundgebung als eine »große Selbsthilfegruppe« und berichtete, dass ihr Versuch die inhaltlich diffuse Veranstaltung zusammenzufassen »kläglich gescheitert« (ebd.) sei. Przybyla war mit ihrer Ratlosigkeit nicht alleine. Auch wenn früh vor antisemitischen Tendenzen auf den Veranstaltungen gewarnt wurde, fiel es der Öffentlichkeit schwer, die »Montagsmahnwachen für den Frieden« einzuordnen.1 Nachdem die erste Veranstaltung am 17. März 2014 in Berlin stattgefunden hatte, breitete sich die Bewegung schnell im deutschsprachigen Raum aus. Die Mahnwachen entstanden in Reaktion auf die Zuspitzung des Konflikts in der Ukraine zwischen der pro-westlichen Regierung und separatistischen Kräften. Neben dem Vorwurf, die westlichen Mächte betrieben eine aggressive Kriegspolitik gegen Russland, wurden jedoch auch zahlreiche weitere Themen auf den Kundgebungen verhandelt. So bildeten Ausführungen zu spirituellen Fragen, Ressentiments gegen Politik und Medien sowie handfeste Verschwörungsideologien einen verwirrenden »Themenmix« (Hammel 2018: 385), der für Außenstehende kaum nachvollziehbar war. Hinzukam, dass die Veranstaltungen von einer »bunten Mischung aus rechten und linken Demonstranten« (Amjahid et al.: 2014) besucht wurde. Auf die Mahnwachen scheint damit zuzutreffen, was Leo Löwenthal bereits 1948 im Hinblick auf die Agitation Falscher Propheten in den Vereinigten Staaten beschrieben hatte: Von außen wirkten deren Veranstaltungen unsinnig, wie eine »Manie« oder die Predigt eines »bloße[n] Lügengewebe[s]« (Löwenthal 1990: 151). Verschiedene wissenschaftliche Beiträge haben dementsprechend versucht, die Hintergründe der Mahnwachen zu beleuchten und ihren an1 Es ist besonders Blogs wie Friedensdemo-watch oder Kentrails zu verdanken, dass die antisemitische Ausrichtung der Mahnwachen und Verbindungen nach Rechts früh dokumentiert und skandalisiert wurden.
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fänglichen Erfolg zu erklären. Während Daphi et al. (2014) die Teilnehmerstruktur der Veranstaltungen untersuchten, nahmen Lege et. al (2016), Hammel (2018) und Lege/Munnes (2018) die inhaltliche Ausrichtung der Bewegung in den Blick. Auch wenn ihre Beiträge den antisemitischen Gehalt der Mahnwachen eindrücklich belegen konnten, lässt sich mit Löwenthal nach den Grenzen einer solchen Herangehensweise fragen. Er weist darauf hin, dass sich der Erfolg diffuser politischer Bewegungen nicht durch »die üblichen Interpretationsmethoden standardisierter Inhaltsanalyse« (Löwenthal 1990: 151) erschließen lasse. Die Reden eines Agitators enthielten vielmehr eine verborgene Bedeutungsebene, die aufgedeckt werden müsse. Nicht der manifeste Inhalt der Agitation sollte deswegen im Mittelpunkt der Analyse stehen, sondern ihre psychologische Wirkung auf das Publikum (vgl. ebd.). Ziel sei es, den »psychologischen Code« zu entschlüsseln, »der vom Agitator signalisiert und von seinen Zuhörern aufgegriffen wird« (ebd.). In diesem Sinne sollen im Folgenden die Auftritte Ken Jebsens auf den Mahnwachen untersucht werden, der als wichtigster Redner der Bewegung gelten kann. Ausgehend von Löwenthal soll herausgearbeitet werden, dass für den Erfolg der Mahnwachen ein bestimmtes Muster von entscheidender Bedeutung war, das als »umgekehrte Psychoanalyse« (Dubiel 1986: 42) verstanden werden kann. Grundlage der Agitation sind vage negative Emotionen der Zuhörer, die Jebsen aufgreift und zu einem kohärenten Bild radikalisiert: Die einfache Bevölkerung sei feindlichen Mächten und ihren Verschwörungen gnadenlos ausgeliefert. Er suggeriert, dass es nur einen Ausweg aus dieser Situation gebe. Das Publikum müsse sich der Bewegung der Mahnwachen anschließen, die er selbst als »grosser kleiner Mann« (Löwenthal 1990: 128) anführt. Die Agitation erreicht schließlich ihren Höhepunkt in der Entladung der angestauten Emotionen: Die Vorstellung kollektiv gegen den konstruierten Feind zur Tat zu schreiten, verschafft den Teilnehmern der Mahnwachen einen kurzfristigen Lustgewinn. Abschließend kann gezeigt werden, dass Jebens Agitation damit bereits in ihrer Funktionsweise mit der Struktur der Antisemitismus verwandt ist und folglich immer wieder in offene Judenfeindschaft umschlägt.2
2 Die Publizistin Jutta Ditfurth hatte am 31.3.2015 Elsässer und Jebsen in einem Facebook-Post als »Falsche Propheten« im Sinne Löwenthals bezeichnet und dessen Studie zur Lektüre empfohlen: »Ihr werdet überrascht sein, wie viele Flashs in die Gegenwart Euch anregen werden« (Ditfurth 2015). Der vorliegende Beitrag kann als Bestätigung von Ditfurths Einschätzung verstanden werden.
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Die Entstehung der Mahnwachen: Kein Anfang Im Frühling 2014 entstanden innerhalb weniger Wochen Mahnwachen in zahlreichen deutschen Städten. In der Hochphase der Bewegung gab es Kundgebungen an 154 Orten, wobei die Teilnehmerzahlen stark variierten: Während sich teilweise nur einige Dutzend Besucher zusammenfanden, beteiligten sich an der ersten bundesweiten Mahnwache am 19. Juli 2014 in Berlin knapp 3000 Menschen (vgl. Hammel 2018: 369). Die inhaltliche Ausrichtung der Bewegung wurde bereits durch den Aufruf zur ersten Mahnwache deutlich, die am 17. März 2014 in Berlin stattfand: »AUFRUF ZUM FRIEDLICHEN WIDERSTAND! FÜR FRIEDEN! AUF DER WELT! FÜR EINE EHRLICHE PRESSE! & GEGEN DIE TÖDLICHE POLITIK DER FEDERAL RESERVE (einer privaten Bank)!« (zit. n. Dalphi et al. 2014: 6)3 Neben der Angst vor einer militärischen Eskalation des Ukraine-Konflikts, spielten auf den Mahnwachen also bereits zu Beginn eine vermeintliche Verschwörung der US-Notenbank Federal Reserve (FED) sowie das Motiv der »Lügenpresse« eine zentrale Rolle. Die Publizistin Jutta Ditfurth bezeichnete die Bewegung deswegen in einem Interview mit der Sendung 3Sat Kulturzeit am 14. April 2014 als neurechts und warnte vor der Verbreitung antisemitischer Verschwörungstheorien und dem Versuch rechter Kräfte eine Querfront aufzubauen (vgl. 3Sat Kulturzeit 2014).4 Auf das Interview folgte eine breite öffentliche Debatte über den Charakter der Mahnwachen, die Wissenschaftler des Zentrums Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin zum Anlass nahmen, die Teilnehmerstruktur der Veranstaltungen empirisch zu untersuchen. Ihre Studie ließ erste Rückschlüsse auf den soziodemografischen Hintergrund und die politischen Einstellungen des Mahnwachenpublikums zu. Die Befragten waren zu einem großen Teil männlich (70 Prozent), zwischen 25 und 39 Jahren alt (50 Prozent) und verfügten über ein »relativ hohes Bildungsniveau« (Daphi et al. 2014: 11). Bemerkenswert ist, dass sich 38 Prozent als politisch »(eher) links« einordneten, jedoch gleichzeitig zwei Drittel der Personen eine solche Unterscheidung in politische Lager als über3 Orthographie so im Original. 4 Es ist fraglich, ob die Spezifika der Mahnwachen mit dem Begriff »neurechts« adäquat erfasst werden können. Fest steht jedoch, dass die Verwendung der Bezeichnung durch Ditfurth zu einer öffentlichen Auseinandersetzung mit der Bewegung anregte.
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holt ansahen (vgl. ebd. 2014: 20). Eine Haltung, die auf den Veranstaltungen immer wieder propagiert wurde und durchaus dem Befund entspricht, die Mahnwachen seien eine Querfront-Bewegung. Ein ähnlich ambivalentes Bild ergab die Untersuchung rechtsextremer Einstellungen unter den Teilnehmern der Mahnwachen. Einerseits stellen die Autoren fest, dass die Zustimmung zu klassisch rechtsextremen Aussagen bei den Befragten geringer ausfiel als im Durchschnitt der deutschen Gesamtbevölkerung (vgl. ebd.: 22). Gleichzeitig zeigt sich jedoch eine starke Verbreitung von verschwörungsideologischen Vorstellungen. So stimmten über 50 Prozent der Befragten der Aussage zu, Amerika sei »nur Knüppel der FED«, während gut 27 Prozent der Meinung waren, dass »Zionisten […] Politik, Börse und auch die Medien nach ihrer Pfeife tanzen« ließen (ebd.: 23). Außerdem ist ein weiterer Wert bemerkenswert hoch: 34 Prozent der Befragten waren der Ansicht, dass Deutschland einen »Führer« brauche, »der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert« (ebd.: 22).5 Möglicherweise spiegelt dieses Ergebnis die hohe Anerkennung wider, die Führungspersonen wie Jebsen oder Jürgen Elsässer auf den Mahnwachen genossen. Außerdem zeigt die Untersuchung, dass die Mobilisierung zu den Veranstaltungen fast ausschließlich über das Internet erfolgte: »Bei den Montagsmahnwachen drängten […] diejenigen auf die Straße, die im Internet angesprochen wurden und bis dato vorrangig dort aktiv waren« (ebd.: 15). Der Schlussfolgerung, dass sich der Protest »spontan über soziale Netzwerke im Internet« (ebd.: 14) organisiert habe, ist allerdings nur bedingt zuzustimmen. Vielmehr scheinen Daphi et al. an dieser Stelle unkritisch die Selbstdarstellung der Mahnwachen zu übernehmen, der zufolge sich die Bewegung wie von selbst ausbreitete, nachdem der Organisator Lars Mährholz die erste Veranstaltung auf Facebook angekündigt hatte (vgl. Lauer 2014a). Gegen diese Darstellung spricht, dass sich drei der wichtigsten Mahnwachenprotagonisten bereits vor 2014 kannten und ihr Netzwerk zur Mobilisierung nutzten. Sowohl Jebsen als auch der »Zinskritiker« Andreas Popp hatten 2013 an Konferenzen des rechtspopulistischen Magazins Compact teilgenommen, das von Elsässer herausgegeben wird. Alle drei traten spätestens auf der Mahnwache am 21. April 2014 in Berlin auf. Auch Mährholz, Anmelder der Berliner Kundgebungen, war politisch keinesfalls so unerfahren, wie er sich gab: In seiner Jugend war er nicht nur Mitglied von CDU und FDP, sondern zwischen 2001 und 2007 auch als Beisitzer im rechtsnationalen Verband Junger Journalisten (VJJ) um Torsten Witt aktiv gewesen (vgl. Hammel 2018: 368f.).
5 Jeweils Addition der Werte von „Stimme ganz zu“ und „Stimme überwiegend zu“.
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Die Mahnwachen konnten damit zur Mobilisierung auf ein »publizistisch-politisches Netzwerk« (Storz 2015: 6) zurückgreifen, das Wolfgang Storz für die Otto-Brenner-Stiftung analysiert hat. In den letzten Jahren hätten Akteure wie Ken Jebsen, der Compact- und der Kopp-Verlag im Internet eine »Gegen-Öffentlichkeit« (ebd.: 7) aufgebaut, die ihrem »ständig wachsenden Publikum« (ebd.: 4) eine eigene Weltsicht anbiete. Fernab der öffentlichen Medien stelle das Milieu seinen Angehörigen eine »kommunikative Vollversorgung« (ebd.) bereit, die sich aus einem vielfältigen Online-Angebot, Magazinen, Büchern, Konferenzen und schließlich auch den Mahnwachen als eigener Protestform zusammensetze (vgl. ebd). Die Bedeutung dieses Umfelds für die Mahnwachen ist bisher in wissenschaftlichen Untersuchungen nur unzureichend beachtet worden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Beiträge auf einschlägigen Internetseiten erheblich zum Erfolg der Bewegung beigetragen haben. Die Kommunikation in dem Milieu verläuft dabei nicht nur vertikal, sondern auch horizontal: Durch die Nutzung immer gleicher Schlagworte und Motive bestärken sich die Nutzer in ihren Ansichten gegenseitig (vgl. Schwarz-Friesel 2018: 44f.). In diesem Sinne wurde die Gemeinschaft der Mahnwachen bereits im Netz präformiert, bevor sie vermeintlich spontan an die Öffentlichkeit trat. Zentrale Momente von Jebsens Agitation gehörten zum Grundkonsens des beschriebenen Milieus: Es gebe eine Eliten-Verschwörung gegen die einfachen Bürger, die sich endlich gemeinsam zur Wehr setzten sollten. Konkret zeigte sich das in einem Shitstorm im April 2014, bei dem die Anhänger der Mahnwachen die Kommentarspalten etablierter Medien mit dem immer gleichen Satz fluteten: »Wacht auf und fangt an, für das deutsche Volk einzustehen und es vor Manipulation zu schützen! Warum berichtet ihr nicht über die Montagsdemonstrationen?« (zit. n. Kopietz 2014).6 Ken Jebsen als falscher Prophet Agitation als »umgekehrte Psychoanalyse« Ken Jebsen gilt als einer der wichtigsten Akteure des beschriebenen Milieus. Er betreibt das Internet-Portal KenFM, auf dem verschwörungsideo-
6 Aufgerufen zu dem »digitalen Guerilla-Krieg« (zit n. Hammel 2016: 11) hatte ursprünglich die antisemitische Facebook-Seite Anonymus.Kollektiv, die von Beginn an die Mahnwachen unterstützte (vgl. ebd.: 9).
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logische und antizionistische Inhalte verbreitet werden. In Formaten wie NachdenKEN oder Me, myself and Media inszeniert er sich als unabhängiger und widerständiger Journalist, der keine Themen »in den Giftschrank« (KenFM 2018) packe. Bevor er seinen Arbeitsschwerpunkt in das Internet verlegte, war Jebsen als Journalist für etablierte Medien tätig gewesen. 2011 wurde er als Radiomoderator beim Jugendsender Fritz entlassen, weil er laut Aussage seines Arbeitgebers RBB in zahlreichen Beiträgen gegen die »journalistischen Standards« (zit. n. SPON 2011) des Senders verstoßen hatte. Zuvor hatte Henryk M. Broder eine geleakte E-Mail veröffentlicht, in der Jebsen behauptet hatte, er wisse, »wer den Holocaust als PR erfunden« (zit. n. Broder 2011) habe und weitere Verschwörungsideologien verbreitet hatte: So hätte der amerikanische Unternehmer Rockefeller das nationalsozialistische Deutschland mit Bombersprit versorgt (vgl. ebd.). Vom Beginn der Mahnwachen bis zur ersten bundesweiten Veranstaltung im Juli 2014 trat Jebsen auf mindestens elf Kundgebungen in Berlin, Wien, Leipzig und Essen auf. Grundlage der folgenden Untersuchung sind Mitschnitte von fünf Reden aus diesem Zeitraum, die auf Youtube abrufbar sind.7 Die Videos wurden bis zu 180.000 mal aufgerufen und hundertfach kommentiert. Die kleinteilige Analyse von Jebsens Reden steht dabei exemplarisch für eine größeres Umfeld. Wie bereits angedeutet wirken ähnliche Muster im beschriebenen Online-Milieu und vermutlich auch in den Reden von Elsässer, Popp und anderen Agitatoren. Was Ullrich in Bezug auf die Mahnwachen feststellt, scheint auch auf Jebsen zuzutreffen: Seine Reden wirken wie eine Art »Jahrmarkt des Bizarren« (Ullrich 2014b). Er spricht mit der gleichen Inbrunst über gesunde Ernährung und individuelles Konsumverhalten wie über den Krieg in der Ukraine oder das »Geldsystem«. Die konkreten Ausführungen sind dabei ebenso emotional wie inhaltlich substanzlos. Anstatt Probleme und Ereignisse auf »deutlich definierbare Ursachen« und damit auf »die herrschende Sozialstruktur« (Löwenthal 1990: 20f.) zurückzuführen, präsentiert er immer wieder unterschiedliche Schuldige. Jebsen darf jedoch keinesfalls mit einem »harmlosen Verrückten« verwechselt werden, »dessen Anziehungskraft und Ziele weder etwas mit wirtschaftlichen und politischen Zuständen noch mit der Haltung der Bevölkerung zu tun habe« (ebd.: 11). Grundlage seines Erfolgs ist nicht ein geniales Manipulationstalent, mit dem er willkürlich Gefühle im Publikums erzeugen kann, sondern ein reelles Unbehagen, das er aufgreifen
7 Auf der Mahnwache in Wien am 26.5.2014 hielt Jebsen nicht nur eine Rede, sondern wurde zusätzlich interviewt (vgl. Jebsen 2014d).
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und radikalisieren kann – die »gesellschaftliche Malaise« (ebd.: 25). Dieser sozialpsychologische Begriff Löwenthals ist keineswegs überholt. Ganz im Gegenteil: Die »strukturelle Belastung« (ebd.: 30) des Einzelnen in der gesellschaftlichen Totalität hat sich in den letzten Jahren noch verschärft. Die Formation »gigantischer Konzernbürokratien« (ebd.) hat sich im Prozess der Globalisierung ebenso fortgesetzt, wie die Auflösung traditioneller Bindungen und Familienstrukturen. Die zunehmende Mechanisierung der Welt und der Aufstieg der Massenkultur zeigen sich heute in der fortschreitenden Digitalisierung von Arbeit und Freizeit (vgl. ebd.). Diese reelle Übermacht der objektiven Welt spiegelt sich in den subjektiven Gefühlen des Einzelnen wider: »Mißtrauen, Abhängigkeit, Ausgeschlossensein und Enttäuschung vermischen sich« in der modernen Welt zu einem »chronischen Leiden« (ebd.). Der moderne Mensch fühlt sich in dieser »gesellschaftlichen Malaise« isoliert und verwirft angesichts »scheinbar unpersönlicher Mächte und Kräfte, als deren hilfloses Opfer er sich erlebt« (ebd.: 29) zunehmend bisher verinnerlichte Werte. Genau dieses unspezifische und scheinbar individuelle Gefühl bildet die Grundlage Jebsens Agitation. Im Gegensatz zu einem »Revolutionär« oder »Reformer« (ebd.: 21), mit denen Löwenthal den Prototyp des Agitators kontrastiert, geht es ihm jedoch nicht darum, die Zuhörer aufzuklären und rationale Lösungen für Probleme anzubieten (vgl. ebd.: 22). Der Agitator trachtet im Gegenteil danach, »die irrationalen Elemente der ursprünglichen Anklage zu übertreiben und zu intensivieren« (ebd.). Das Unwohlsein des Publikums wird nicht aufgelöst, sondern radikalisiert. Nicht die Inhalte stehen dementsprechend im Mittelpunkt der Agitation, sondern ihre Funktion für eine emotionale Beeinflussung des Publikums: »Sie konstituieren eine psychologische Geheimsprache« (ebd.: 151), die es zu entschlüsseln gilt. Diese Grundstruktur der Agitation kann als eine »umgekehrte Psychoanalyse« verstanden werden: »Der rechtspopulistische Agitator nähert sich seinem Publikum mit genau der gegenteiligen Intention, mit der der Analytiker auf den Analysanden zugeht. Die neurotischen Ängste, die kognitiven Verunsicherungen und Regressionsneigungen werden aufgegriffen und mit dem Zweck systematisch verstärkt, den Patienten nicht mündig werden zu lassen« (Dubiel 1986: 42). Die diffusen Gefühle des Publikums werden zu einem bedrohlichen Gesamtbild radikalisiert: eine feindliche Welt, in welcher der Einzelne fortlaufend »Opfer einer ‚all-umfassenden und sorgfältig geplanten politischen Verschwörung‘« (Löwenthal 1990: 39) ist. Die konkreten Inhalte der Agitation können grundsätzlich variieren, solange sie dem Zweck der Agitation 223
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dienen. Trotzdem ist es bemerkenswert, dass sich nicht nur die Grundstimmung, die Löwenthal bei den amerikanischen Agitatoren ausgemacht hatte, bei Jebsen wiederfindet, sondern auch zentrale Inhalte sich kaum verändert haben: Das Bild der »ewig Betrogenen« (ebd.: 35) zeichnet Jebsen durch Ausführungen zu einem drohenden Krieg (vgl. ebd.: 36), Angriffe auf die parlamentarische Demokratie (vgl. ebd.: 44) und besonders durch den immer wiederkehrenden Verweis auf die Lügen der Medien (vgl. ebd.: 36).8 Die feindliche Welt: »Die nächste Verarschung kommt!« Als Auslöser der Mahnwachen-Bewegung gilt der Konflikt in der Ukraine. Dementsprechend greift Jebsen immer wieder diffuse Ängste des Publikums vor einer militärischen Eskalation auf und radikalisiert sie zu dem Bild einer drohenden Apokalypse. Den Konflikt stellt er dabei nicht als Ausdruck einer komplizierten politischen Situation dar, sondern als Resultat einer geheimen Verschwörung: Amerikanische »Special-Forces« agierten im Osten der Ukraine, »um dort einen Bürgerkrieg zu generieren, damit endlich die Nato zuschlagen« (Jebsen 2014b: 13:52) könne. Ziel sei es, ganz Europa in einen Krieg zu stürzen, damit der »militärische Komplex« am folgenden Wiederaufbau verdienen könne und das unter »dem selben Geldsystem mit Zins- und Zinseszins« (Jebsen 2014a: 16:30). Leidtragende des kommenden Krieges sei die einfache Bevölkerung – die Teilnehmer der Mahnwachen: »Die Bomben werden hier fallen!« (ebd.: 16:00). Vom politischen System der Bundesrepublik dürften sie sich indes keine Hilfe erhoffen. Auch für Jebsen ist die bürgerliche Demokratie nur »ein leeres Schlagwort« (Löwenthal 1990: 44), ein »korrupte[s] System der Scheingelddemokratie« (Jebsen 2014a: 31:01). Er behauptet, Volksparteien würden nicht das Volk, sondern »jemand anderen« (Jebsen 2014b: 9:33) vertreten, während Angela Merkel nichts als »eine Marionette« (ebd.: 23:46) sei. Jebsen greift an dieser Stelle auf vorhandene anti-demokratische Ressentiments der Zuhörer zurück und integriert sie in seine Gesamterzählung: Wahlen seien nur ein Trick, um die Bevölkerung ruhig zu halten (vgl. Jebsen 2014a: 9:40). 8 Die Frage, inwiefern Jebsen die beschriebenen Agitationsstrategien bewusst einsetzt, kann hier nicht beantwortet werden, ist für eine Untersuchung ihrer Wirksamkeit jedoch auch zweitranging (vgl. Löwenthal 1990: 151). Auffällig ist aber, dass Jebsen mehrfach das Buch »Psychologie der Massen« von Gustave Le Bon (1982) zur Lektüre empfiehlt (vgl. Jebsen 2014a 20:30/Jebsen 2014b: 54:21).
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Den größten Raum nimmt allerdings ein anderes Thema ein: die Agitation gegen die Medien als vermeintliche »Mittel der Massenbeherrschung« (Löwenthal 1990: 92). Die Mahnwachen bereiteten damit nicht nur einen der wichtigsten rechten Diskurse der folgenden Jahre vor, sondern knüpften auch an eine historische Tradition an. Bereits im 19. Jahrhundert nutzten reaktionäre Kreise den Ausdruck der »Lügenpresse« zur Diffamierung liberaler Zeitungen (vgl. van Raden 2016: 163f.), bevor er später zum nationalsozialistischen Propagandabegriff der »jüdisch-marxistischen Lügenpresse« radikalisiert wurde (Gedale 2015). Jebsen lässt keinen Zweifel daran, dass die etablierten Medien lügen und betrügen: Es gebe keine »innere Pressefreiheit«, da in den großen Medienkonzernen »Nato- und US-affine Kreise« (Jebsen 2014a: 5:43) die Themen vorgeben würden. Letztendlich sei es auch hier das Ziel, Europa in einen neuen Krieg zu stürzen: »Denn sie betrügen Dich […] und am Ende dieser Lüge steht ein Krieg!« (Jebsen 2014b: 17:18). Munnes et al. kommen in ihrer Analyse der Reden der ersten bundesweiten Mahnwache zu einem ähnlichen Ergebnis. Grundsätzlich seien alle Beiträge von einem »moralisierenden Dualismus geprägt, nach der die eigene, bedrohte Gruppe unversöhnlich einer äußeren Macht gegenüberstehen würde« (Munnes et al. 2016: 228). Allerdings verharren Munnes et al. auf der inhaltlichen Ebene und beschreiben nicht die dahinter wirkenden psychologischen Muster. Jebsen zeichnet nämlich nicht nur eine Welt, in der das »schlichte, gewöhnliche, redliche Herdenvolk« (Löwenthal 1990: 36) auf ewig betrogen wird, sondern er wiederholt die Demütigung sogar, die der Zuschauer in der Welt erfährt: »Ihr sollt möglichst blöd sein, wie Marionetten, die man rumschubsen kann, die von allem immer nur eine Ahnung haben, nie das vollständige Bild, damit ihr immer sagt: ‚Was kommt denn als nächstes?‘ Die nächste Verarschung kommt als nächstes!« (Jebsen 2014a: 20:44) Dem Mahnwachenbesucher werden seine Naivität und Passivität zum Vorwurf gemacht. Er sei sein Leben lang lang »einfältig genug [gewesen], sich sowohl von seinen akzeptierten Werten als auch von denen, die sie predigen, an der Nase herumführen zu lassen« (Löwenthal 1990: 37). Schuld an der Einrichtung der Welt seien deswegen nicht nur geheime böse Mächte, sondern auch die Zuhörer selbst: »Wir sind schuld! Weil wir haben das machen lassen, wir haben das zugelassen!« (Jebsen 2014b: 33:26). Die verbale Demütigung des Publikums hat einen einfachen Zweck. Je stärker Fremdbestimmung und das eigene Unvermögen empfunden werden, desto verzweifelter suchen die Zuhörer nach einem Ausweg – und 225
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finden ihn in der Person des Agitators. Die ausführlichen Beschreibungen der feindlichen Welt und die Demütigung des Publikums sind also die entscheidenden psychologischen Mittel, um das Publikum an die Mahnwachen und an Jebsen als Anführer zu binden. Der Anführer: »Ich spreche schneller, als die meisten denken können« Jebsen ist ein Anführer, der vorgibt kein Anführer sein zu wollen. Er kündigt an, dass er in Zukunft nicht mehr auf Bühnen stehen und Anweisungen erteilen werde (vgl. Jebsen 2014e: 0:39), um dann fortlaufend beides zu tun. Grundsätzlich inszeniert er sich dabei als ‘großer kleiner Mann‘: Er betont ein ganz normaler Bürger sein und verweist gleichzeitig auf seine besonderen Fähigkeiten, die ihn vom Publikum unterscheiden (vgl. Löwenthal 1990: 129). Als »kleiner Mann« erzählt er davon, welche Süßigkeiten er gerne isst, wie er seine Kinder erzieht und was er in seiner Freizeit macht. Genau wie das Publikum sei er trotz des Zustands der Welt viel zu lange passiv geblieben: »Ich bin oft auf mich selber zornig, weil ich so lange gewartet habe« (Jebsen 2014b: 12:19). Zusätzlich zeigt sich eine gewisse Arbeitsteilung zwischen den wichtigsten Protagonisten der Mahnwachen. Während Jebsen, Popp und Elsässer bereits im Milieu bekannt waren, inszenierte sich besonders Mährholz als einfacher und sogar leicht naiver Bürger. Auch Jebsen greift dieses Bild immer wieder auf, um den »kleinen Mann« zu loben: Es gehe um »ganz normale Leute wie Lars Mährholz und Lars Mährholz ist einer von Euch, Euch gehört der Applaus!« (ebd.: 22:28). Während Jebsen jedoch einerseits versichert, dass er sich »durch nichts von der breiten Bevölkerungsmasse unterscheide« (Löwenthal 1990: 129), stellt er sich immer wieder als einen außerordentlich talentierten Mann dar (vgl. ebd.: 133). Mitunter kann sich dieser Wandel vom »kleinen« zum »großen Mann« innerhalb eines Satzes vollziehen: Er sei »ja nicht fehlerfrei«, aber versuche »am Ball zu bleiben und 20 Stunden am Tag wach zu bleiben« (Jebsen 2014d: 4:32). Darüber hinaus rühmt er sich selbst als einen begabten Denker und Redner, der im Gegensatz zu anderen Journalisten und Politikern seine Vorträge spontan und ohne Hilfsmittel halten könne (vgl. Jebsen 2014b: 22:45/2014d: 24:08). Er lässt keinen Zweifel daran, dass er damit sowohl politischen Gegnern als auch seinen Zuhörern weit überlegen ist: »Ich spreche schneller, als die meisten denken können. Aber das ist deren Defizit« (Jebsen 2014c: 2:56). Genauso beeindruckend wie sein Redetalent scheinen seine Kontakte zu sein. Jebsen macht den Zuhörern Hoffnung, die Bewegung könne durch seine einflussreichen Bekannten wachsen: »Ich bekomme in den letzten Tagen und Wochen wirk226
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lich viele Anrufe […], wo sich etablierte Journalisten aus der ganzen Welt bei mir melden und sagen: ‚Wir würden gerne zusammenarbeiten‘« (Jebsen 2014b: 8:15). Außerdem suggeriert er, über Informationen zu verfügen, zu denen das einfache Publikum keinen Zugang hat. Berichte über den Konflikt in der Ukraine erhalte er direkt von Soldaten und Journalisten vor Ort (vgl. Jebsen 2014d: 18:40). Darüber hinaus sei auch er selbst schon »in der Kampfzone« gewesen und habe sterbende Menschen gesehen, obwohl er doch eigentlich ein »friedlicher Mensch« (ebd.: 11:0) sei. Als »sanfte Seele« (vgl. Löwenthal 1990: 129) scheint es ihn außerdem tief zu verletzen, dass er und die Bewegung der Mahnwachen immer wieder von außen angegriffen werden: Sei es von »der Antifa« (»Denn sie wissen nicht, was sie tun« (Jebsen 2014c: 7:35)), Henryk M. Broder (»H.M. Breivik« (Jebsen 2014d: 9:43)), Jutta Ditfurth (»Halbintellektuelle aus Frankfurt«) (Jebsen 2014b: 43:43)) oder den Medien. Weil er »der Wahrheit zu nahe« komme, gebe es gegen ihn eine »Diffamierungskampagne«, um ihn »aus dem Feld« (Jebsen 2014d: 10:12) zu schießen. Jede Berichterstattung, die nicht seiner Wahrnehmung entspricht, stellt er als »Verleumdung« oder »Einschüchterung« (Löwenthal 1990: 137) dar. Zugleich betont Jebsen aber auch, dass ihm die Angriffe nichts anhaben könnten. Als ein »Märtyrer mit kugelsicherer Weste« (ebd.: 132) bleibt er standhaft: »Mich kann man damit überhaupt nicht einschüchtern, im Gegenteil, man lockt mich aus der Reserve. Ich gebe nie auf!« (Jebsen 2014d: 10:39) Die Ausführungen über seine besonderen Kräfte und Fähigkeiten dienen einem Ziel: Jebsen präsentiert sich selbst als perfekter Anführer der Bewegung. Unterschwellig inszeniert er sich »als unersetzbare[r] Führer in einer konfusen Welt«, als »Zentrum, um das sich die Gläubigen sammeln und in dem sie Sicherheit finden können« (Löwenthal 1990: 145). Es ist in diesem Zusammenhang kein Zufall, dass er mehrfach das Motiv der »Familie« verwendet, um die Beziehung des einfachen Bürgers zur Macht zu illustrieren: »Regierungen sind so ein bisschen wie Eltern, die legen Euch immer die Klamotten raus« (Jebsen 2014d: 33:20). Genau wie Mutter und Vater bestimmten die Mächtigen über alles und seien überall (vgl. Jebsen 2014a: 6:19). Und nicht nur die Bürger, sondern der ganze Staat werde von einer fremden Autorität beherrscht: »Unsere Eltern sind die US-Eliten« (ebd.: 6:26). Der Hinweis auf das Elternhaus ist paradigmatisch für die Grundstruktur von Jebsens Agitation: Im Einzelnen tief verankerte Aggressionen gegen die Autorität der Eltern und das Über-Ich werden zu einem Angriff auf »die Eliten« radikalisiert. Die anschließende Aufforderung, »aus dieser Bevormundung« (ebd.: 23:14) auszuziehen, ist jedoch nur oberflächlich anti-autoritär. Die Revolte strebt lediglich danach das elterliche Über-Ich durch eine andere Autorität zu ersetzen: Der ‚ge227
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sunde Menschenverstand‘, der von der Bewegung und Jebsen selbst verkörpert wird. Jebsen ist damit »Vater-Imagerie« (Adorno 2017: 129) und »älterer Bruder« (Löwenthal 1990: 124) in einer Person. Er animiert die Geschwister zur aufregenden Rebellion gegen die Eltern und setzt sich sogleich selbst an deren Stelle. In seiner Position ist er seinen jüngeren Geschwistern intellektuell überlegen, leidet aber wie sie an den überkommenen elterlichen Regeln, gegen die man gemeinsam aufbegehrt (vgl. König: 2016: 137). In der Bindung des Publikums an den großen kleinen Mann auf der Bühne liegt ein entscheidendes Erfolgsmoment der Mahnwachen. Den Zuhörern verschafft es eine emotionale Befriedigung den Reden Jebsens zu lauschen. Mit dem normalen Bürger aus dem Volk können sie sich identifizieren und sehen einen Teil ihrer Selbst auf der Bühne stehen. Gleichzeitig zeigt ihnen der »große Mann« an, wie sie gerne wären, aber nie sein werden: Mutig, begabt und von anderen bewundert. Während sie ihr eigenes Leben als fremdbestimmt wahrnehmen, erscheint der Agitator als ein starkes, autonomes Individuum. Sie selbst müssen Enttäuschungen herunterschlucken und still bleiben, der Agitator auf der Bühne darf laut schimpfen und seinen Emotionen freien Lauf lassen (vgl. Horkheimer/ Adorno 1988: 194). Als Zuhörer können sie an dieser unerreichbaren Position zumindest passiv teilhaben, Jebsen wird so zum »Projektionsobjekt der unterdrückten Individualitäten seiner Anhänger« (vgl. Löwenthal 1990: 132). Auch seine Tiraden über die Kritiker der Mahnwachen nutzt er, um seine Identität mit dem Publikum zu beschwören: »Wenn man mich anschießt, schießt man Euch an […]. Ihr seid im Fokus, also seid Ihr wichtig, Ihr seid auf dem richtigen Kurs!« (Jebsen 2014b:19:03). Durch Jebsen haben seine Anhänger die »Aussicht auf Teilnahme am Außergewöhnlichen« (Löwenthal 1990: 144), er wird ihnen zu einer externen Ersatzindividualität: »Sie leben durch ihn« (ebd.: 145). Die Bewegung: »Ein kollektives Erwachen« In seinen Reden setzt Jebsen immer wieder zu einem »Lob der Bewegung als solcher« (Adorno 2017: 135) an. Er dankt den Zuhörern für ihr Kommen und fordert sie auf, sich selbst einen Applaus zu geben (vgl. Jebsen 2014b: 1:26). Entfremdungsgefühle werden so durch ein »Zugehörigkeitserlebnis« (Löwenthal 1990: 105) gemildert: »Ihr müsst keine Angst haben,
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Ihr seid nämlich gar nicht allein« (Jebsen 2014b: 4:53).9 Verstärkt wurde das Gefühl der Zusammengehörigkeit durch den »Eventcharakter« (Lege et al. 2016: 225) der Veranstaltungen, auf denen einschlägige Bands wie Die Bandbreite auftraten. Jebsen propagiert eine scheinbar paradoxe Gleichzeitigkeit von Besonderheit und Normalität seines Publikums. Als Personen, die angefangen hätten, sich von der Macht der Medien und der Politik zu befreien, gehörten sie einer »Elite« an, die aber gleichzeitig die »überwältigende Mehrheit der Bevölkerung« (Löwenthal 1990: 115) vertrete. Nicht die Nato sei der wahre Repräsentant der deutschen Bevölkerung, sondern die Mahnwachen: »Eigentlich müssten hier ja 80 Millionen stehen« (Jebsen 2014b: 15:58). Das Paradox löst sich auf: Die Besonderheit des Einzelnen besteht gerade in seiner Normalität. Als einfache Bürger sind sie Teil eines »kollektiven Erwachen[s]« (Jebsen 2014d: 39:20) und sollen sich dabei auf ihre – freilich vom Agitator geschürten – Gefühle verlassen. Ein Mensch ohne Vorwissen sei einem »Halbintellektuelle[n] mit Vorurteilen« allein durch sein »gesunde[s] Bauchgefühl« (ebd.: 27:02) überlegen. Auch im Umgang mit den Medien müsse sich das Publikum auf seinen einfachen Menschenverstand verlassen. CIA-finanzierte Internetseiten könne man nicht enttarnen, indem man seinem Kopf vertraue: »Ihr müsst auf Euren Bauch und Euer Herz hören« (Jebsen 2014a: 26:17). In bekannter Manier greift Jebsen hier vage anti-intellektuelle Einstellungen des Publikums auf und radikalisiert sie zu einem anti-aufklärerischen Ressentiment (vgl. Löwenthal 1990: 117). Indem Jebsen Vernunft durch Spiritualität ersetzt, wird die Schlichtheit der Betrogenen zu einer vermeintlichen Stärke verklärt, durch die sie sich vom Gegner unterscheiden würden. Die Debatte um die Friedensbewegung erscheint dann als Konflikt zwischen »schlichten Gemütern und raffinierten Jungs, besonnenen Realisten und verrückten Intellektuellen« (ebd.: 116f.). Der Zusammenhalt der Mahnwachen als »In-Group« wird von Jebsen außerdem durch Pseudo-Umfragen verstärkt, die Konflikte auf die simple Formel »Entweder-Oder« (ebd.: 100) reduzieren: Wir oder die, Krieg oder Frieden. Durch »Handheben« oder »wütendes Fäusteschütteln« (ebd.: 103) sollen seine Zuhörer anzeigen, ob sie noch einen Fernseher besitzen (vgl. 9 Lege/Munnes weisen darauf hin, dass sich die spätere Spaltung der Mahnwachen in einen universalistischen und einen nationalistischen Flügel besonders an der Definition der Eigengruppe zeigt (vgl. Lege/Munnes 2018: 161ff.). Jebsens »Meine Zielgruppe ist der Mensch« steht Elsässers Parole »Meine Zielgruppe ist das Volk« entgegen. Eine vergleichende Analyse hätte zu untersuchen, inwiefern dieser Unterschied die psychologische Funktion der Agitation beeinflusst.
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Jebsen 2014d: 29:28), eine bundesweite Mahnwache befürworten (vgl. Jebsen 2014e: 18:17) und tatsächlich auch, ob sie für oder gegen Frieden sind: »Wer will denn das eigentlich? Die Hände hoch! Wer will das nicht? Die Fäuste hoch!« (Jebsen 2014a: 15:37). Im kriegerischen Johlen, das der Friedensabstimmung folgt, kommt die Mahnwache zu sich selbst. Das gemeinsame Recken der Faust verrät den letzten Zweck der Agitation: Die geschürten Emotionen werden dann und wann zu einer verbalen Entladung geführt, die den Zuhörern einen Lustgewinn verschafft. An anderer Stelle malt sich Jebsen aus, wie man »das Böse mit Zorn attackiert« (Jebsen 2014b: 12:14) und bläst zum Angriff auf das bestehende System: »Militant bedeutet präsent zu sein, viel mehr zu werden, vor die Justizgebäude, vor die Bundestagsgebäude« (ebd.: 10:20) zu gehen. Folgerichtig rief er später online – in bemerkenswerter Diktion – zum »Marsch auf Berlin« (zit. n. Lauer 2014b) auf.10 Jebsen gönnt seinem Publikum ebenso selten eine Pause wie seiner stets aufgeregten Stimme. Nur in wenigen Momenten darf sich der Zustand ständig »geschürter Erregung« (Löwenthal 1990: 124) entladen. Die Mahnwachen verharren jedoch auf einer verbalen Ebene, die in Aussicht gestellte Revolution bleibt genauso aus, wie die Jagd auf die Feinde der Mahnwachen. Einzig im imaginierten Zur-Tat-Schreiten finden die angestauten Emotionen eine oberflächliche Entladung. Die »umgekehrte Psychoanalyse« ist damit auch in ihrem Ergebnis negativ. Die geschürten Emotionen kommen zu ihrem falschen Recht. Anstatt auf ihren eigentlichen Grund zurückgeführt zu werden, werden sie kanalisiert und in der gemeinsamen verbalen Phantasie ausgelebt. Der Zuhörer ist erneut der Betrogene: »Zum Schluß wird der Anhänger wieder zum ‚unschuldigen Zuschauer‘ […] Er bleibt der enttäuschte, mißbrauchte Unterlegene, dem der Agitator nichts anderes zu bieten hat als die nutzlose Mobilisierung seiner Aggressionsimpulse gegen den Feind (ebd.: 124f.).
10 In Anlehnung an Benito Mussolinis »Marsch auf Rom« hatte Adolf Hitler am 8./9. November 1923 einen »Marsch auf Berlin« geplant, um die Reichsregierung zu stürzen. Der Putschversuch scheiterte jedoch bereits in München (vgl. Schieder 2017: 25).
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Agitation und Antisemitismus: »Nennen wir sie Tumorzellen« Es deutet sich bereits an, dass Jebsens Agitation mit der Funktionsweise des Antisemitismus verwandt ist. Die »umgekehrte Psychoanalyse« hat ihr Modell an der antisemitischen Ideologie, die Ausdruck umgeleiteter unterdrückter Triebe ist. Genau wie die Agitation greift der Antisemitismus vage Gefühle auf, kanalisiert und radikalisiert sie zu einem Zustand der ständigen Erregung, der nach einer Abfuhr im vorgestellten oder reellen Pogrom sucht. In einer paradoxen Gleichzeitigkeit können am Juden nicht nur die eigenen unterdrückten Triebe attackiert werden, sondern im Angriff eben diese Triebe kurzzeitig kollektiv ausgelebt werden (vgl. Horkheimer/Adorno 1988: 193). Aufgrund dieser strukturellen Verwandtschaft tendiert Jebsens Agitation von vornherein dazu mit antisemitischen Inhalten gefüllt zu werden. Es überrascht deswegen nicht, dass in seinen Reden und im Umfeld der Mahnwachen immer wieder antisemitische Codes Verwendung fanden. Besonders populär war dabei die Vorstellung von der Allmacht der amerikanischen Federal Reserve Bank, die laut Mährholz für »alle Kriege in der Geschichte in den letzten hundert Jahren« (zit. n. Hammel 2018: 378) verantwortlich ist. Laura Luise Hammel hat in ihrer Studie über die Mahnwachen auf ein Moment dieser Verschwörungsideologie hingewiesen, das in der öffentlichen Diskussion wenig Beachtung fand. Neben der »gesellschaftlichen Malaise« haben die Mahnwachen nämlich einen weiteren – spezifisch deutschen – Hintergrund. Die Imagination von der Allmacht der FED entpuppt sich als eine spezifische Form der Schuldabwehr: »Wäre die FED tatsächlich verantwortlich für alle Kriege der letzten hundert Jahre[,] würde dies auch eine Entlastung der deutschen von der Schuld an den beiden Weltkriegen bedeuten« (ebd.: 382). Für eine weitere Analyse des Antisemitismus im Umfeld der Mahnwachen müssten insbesondere einschlägige Facebook-Gruppen und Kommentarspalten systematisch analysiert werden, in denen immer wieder antisemitische Bilder geteilt und der Holocaust relativiert und geleugnet wurde. Monika Schwarz-Friesel hat in ihrer Studie Judenhass 2.0 eindrücklich gezeigt, wie omnipräsent Antisemitismus im Netz ist. Die Mahnwachen sind ein Beispiel par excellence für ihre Erkenntnisse: Bereits mit »einem Klick« (Schwarz-Friesel 2018: 40) gelangte man von einer harmlosen Seite zu offen antisemitischen Inhalten. So behauptete Mährholz auf seiner Homepage nicht nur, dass fast alle Zentralbanken der Welt – und damit auch die FED – der jüdischen Familie Rothschild gehörten, sondern verbreitete auch eine antisemitische Karikatur, die den jüdischen Bankier
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Jacob Rothschild mit langer Hakennase und gierigem Blick zeigte (vgl. Deutschlandfunk 2014). Und auch Jebsen greift in seinen Reden auf antisemitisches Vokabular zurück: »Wenn wir uns das global anschauen: Es sind ja im Grunde nur eine Handvoll Menschen, die ein wenig verstrahlt sind: Nennen wir sie mal Tumorzellen« (Jebsen 2014e: 6:46). Eine weitere Konkretisierung bleibt an dieser Stelle aus. Jebsen hatte jedoch bereits 2012 in seinem Video »Zionistischer Rassismus« mitgeteilt, um wen es sich bei dieser »Handvoll Menschen« handle: »Nun kommen die 2–3 Prozent der US-Bürger mit jüdischen Roots ins Spiel, [...] die nicht nur die öffentliche Meinung manipulieren, sondern Politik- und Lobbypositionen besetzen, Präsidenten machen, beraten und sich deren Reden an die Nation vorlegen lassen« (zit. n. FriedensdemoWatch 2014). Mit dem Begriff der »Tumorzelle« führt Jebsen die »umgekehrte Psychoanalyse« zu ihrem Höhepunkt. Die Verschwörungsideologie drängt nicht nur auf der logischen Ebene zur Vernichtung des Gegners, sie wird auch psychologisch eingefordert. Die geschürten Emotionen suchen ihre Entladung in der vorgestellten kollektiven Tat: Der Krebs muss beseitigt werden. Ausblick: Kein Ende Der Erfolg der Mahnwachen auf der Straße währte nur kurz: Nach dem Höhepunkt im Sommer 2014 nahm die Beteiligung an den Veranstaltungen kontinuierlich ab. Auch das Projekt »Friedenswinter« 2014/2015, mit dem die Mahnwachen den Zusammenschluss mit Teilen der alten Friedensbewegung anstrebten, führte nicht zu dem erhofften Aufschwung (vgl. Steinitz/Tell 2015: 75f.). Die Nachwirkungen der Bewegung sind trotzdem nicht zu unterschätzen. In ihrer Feindschaft zur parlamentarischen Demokratie und dem Hang zu Verschwörungsideologien können die Mahnwachen als ein Vorläufer von PEGIDA verstanden werden (vgl. Hammel 2018: 384). In der öffentlichen Diskussion wird selten beachtet, dass für rechte Milieus nicht nur rassistische, sondern auch antisemitische Denkmuster konstitutiv sind. Dazu gehören neben dem Schlagwort der »Lügenpresse« auch Verschwörungsideologien über die vermeintliche Macht der FED, von George Soros
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oder der Familie Rothschild, die bereits auf den Mahnwachen verbreitet wurden.11 Darüber hinaus gibt es zahlreiche Beispiele für personelle Übergänge von den Mahnwachen in rechte Milieus: Jürgen Elsässer trat später bei PEGIDA auf, andere Akteure sind heute in der AfD aktiv oder haben sich lokalen rassistischen Bewegungen angeschlossen. In dem vorliegenden Beitrag konnte gezeigt werden, welche Bedeutung Agitation als »umgekehrte Psychoanalyse« für den Erfolg der Mahnwachen hatte. Indem Jebsen unterschwellige Ressentiments des Publikums radikalisierte und kanalisierte, gelang es ihm die Zuhörer an die Bewegung binden, die er als ‘großer kleiner Mann‘ anführte. Löwenthals Ansatz aus den 1940er Jahren zeigte dabei eine erstaunliche Aktualität, die an weiteren Gegenständen zu messen wäre. So könnte untersucht werden, inwiefern sich ähnliche psychologische Muster, sowohl in der Agitation der AfD, als auch im Umfeld anderer regressiver Kräfte wie islamistischen Predigen nachweisen lassen. Dabei sollte ein besonderes Augenmerk darauf gerichtet werden, dass die Struktur des Internets die Dynamik der klassischen frontalen Agitation verstärkt. Auch hier gibt es unterschiedliche Milieus, deren Agitationsstrukturen sich womöglich ähneln: Von völkischen Verschwörungsideologen über esoterische Friedensfreunde bis zu konservativislamischen Jugendlichen. Solange die »gesellschaftliche Malaise« fortbesteht, ist die Frage nicht ob, sondern wann und wie diese Gruppen erneut Ausdrucksformen außerhalb der digitalen Welt finden werden. Literatur Adorno, Theodor W. (2017): Antisemitismus und faschistische Propaganda, in: Simmel, Ernst (Hg.): Antisemitismus, Münster, S. 128 – 139. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1988): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.
11 Mitunter lässt sich die inhaltliche Kontinuität von den Mahnwachen zu rechtsextremen Bewegungen direkt nachverfolgen. Friedensdemo-Watch weist daraufhin, dass Hartmut Issmer in einer Rede über die Macht der FED auf einer BÄRGIDAKundgebung im November 2018 auf Motive zurückgriff, die auf den Mahnwachen popularisiert worden waren (vgl. Friedensdemo-Watch 2018). Jebsen ging bereits 2014 auf den US-amerikanischen Investor George Soros ein, der heute Hassobjekt antisemitischer Milieus weltweit ist (vgl. Jebsen 2014b: 16:34).
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Antisemitismus als identitäre Metapolitik und rechter Jihad in Ungarn Magdalena Marsovszky
Grundlage meiner Analyse über den Antisemitismus in Ungarn bilden die »Elemente des Antisemitismus«, die in der »Dialektik der Aufklärung« formuliert wurden (Horkheimer/Adorno [1947] 2004). Demnach ist der Antisemitismus eine Weltanschauung in entfremdeten Gesellschaften, in der aus den falschen und pathischen Projektionen der Völkischen ein paranoides System von Wahnvorstellungen entsteht. Das Wahnsystem beruht auf Fiktionen und pseudowissenschaftlichen Behauptungen ohne konkreten Halt in der Erfahrungswelt. In ihm wird permanent Verfolgung halluziniert, wobei im Opfer der Verfolger gesehen und der Angriff gegen ihn als angebliche Notwehr aufgefasst wird. Im Hintergrund des Wahnsystems steht die Suche nach einer verloren geglaubten Urharmonie, die als ewiges Heil beschrieben wird. Die Suche ist zwar religiös motiviert, kennt aber das den universalistischen Konfessionen innewohnende Motiv der Gnade und der Nächstenliebe nicht und degradiert die Religion zu einer neuvergeistigten Götzenverehrung, die in das Kulturgut eingegliedert wird. Man beruft sich auf die Eigentümlichkeiten der vorgestellten Volksgemeinschaft, die man immer in der Herkunft und in der biologischen, urgeschichtlichen Abstammung zu entdecken meint. Die Mystifizierung der Volksgemeinschaft als verschworene Blutsgemeinschaft wird als Massenkultur insitutionalisiert, so kann sich der Einzene durchs Kollektiv bestätigt fühlen. Die vermeintlichen Verteidiger erscheinen wie die Wagnerschen Gralshüter als Elitegarden objektiviert mit einem Erneuerer der Erde an der Spitze, durch die der Volksgenosse mit der Sanktionierung seiner Wut rechnen kann. Die vorgestellte völkische Harmonie ist von Verfolgung nicht zu trennen, weil ihre Gleichheitsidee der Feindbilder bedarf. Diejenigen, die sich als Verteidiger der vermeintlichen Wahrheit vorkommen, meinen, auch den letzten Winkel nach dieser Wahrheit umgestalten zu müssen. Deshalb führt der Antisemitismus zur Totalität. Soweit die Gedanken Horkheimers und Adornos. Die grundsätzliche Fragestellung, der ich im Folgenden nachgehe, besteht darin, wie sich der Antisemitismus in Ungarn seit 2001 entwickelte. 237
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Bei dieser Untersuchung können die vom islamistischen Terrornetzwerk al-Qaida verübten Terroranschläge in den USA nicht außer Acht gelassen werden. Sie gaben dem Antisemitismus in Ungarn in dem Sinne einen entscheidenden Impuls, indem durch die internationale Stimmung danach bereits vorhandene Vorurteilsstrukturen bestätigt und verfestigt wurden. Ich beschreibe das antisemitische Umfeld in Ungarn im Jahr der Terroranschläge, im nächsten Teil die Entwicklung nach 2002, dem Jahr, in dem die erste Fidesz-Regierung (Fidesz steht für Fidesz-Bürgerunion) unter Ministerpräsidenten Viktor Orbán (1998–2002) die Parlamentswahlen verlor, in einem weiteren Teil den ersten Umsturzversuch 2006, danach die Situation nach 2010, dem Jahr, in dem die Fidesz unter Ministerpräsidenten Viktor Orbán erneut die Parlamentswahlen gewann und schließlich die gegenwärtig dominierende Ideologie im Land. Antisemitismus in Ungarn 2001 Zur Zeit des Terroranschlags war in Ungarn gerade eine Fidesz-Regierung an der Macht (1998–2002). Dies war die erste Amtszeit Viktor Orbáns, der 2010 erneut zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Etwa elf Jahre nach der Wende 1989/90 und damit im zwölften Jahr der Unabhängigkeit Ungarns war das rechte Narrativ bereits stark antikapitalistisch, wobei der Kapitalismus assoziativ mit dem faschistischen Terror gleichgesetzt wurde. Die im Realsozialismus verinnerlichte Dimitroff-Formel (1935), die den Faschismus aus der terroristischen Diktatur des imperialistischen Finanzkapitals ableitet (Pufelska 2011), prägt bis heute die Herangehensweise von Krisenerscheinungen – freilich meistens ohne über den Ursprung der These zu reflektieren. So verbreitete sich nach der Wende die Meinung, dass im Gegensatz zur vormaligen Diktatur durch die Sowjetunion die größte Gefahr nach der Wende vom westlichen, »alles vom Tisch fegenden Terrors aus der Kraft des Kapitals« ausgehe und diese nicht weniger gefährlich sei, als die Macht von Stalin (Marsovszky 1999). Es hätte kein richtiger Systemwechsel stattgefunden, und alle wichtigen Positionen hielten noch immer die »Postkommunisten« besetzt, die ja nach dieser Auffassung den ‚jüdischen Geist’ verkörperten. So seien noch immer die Kommunisten aus der Zeit vor der Wende an der Macht, die volksverräterischen »Kapitalisten im roten Gewand«, die – dem Terror des Hitlerregimes ähnlich – statt den Interessen der Nation, denen des globalen Kapitals folgten (Marsovszky 2010/a: 78).
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Die europäische Idee wurde ad absurdum geführt und mutierte zu einer neuen imperialen Herrschaftsideologie. Auch die Integration wurde vielfach als »Anschluss«, als »Kolonisierung« oder als einfacher Wechsel von der »Ost-EU« (Sowjetunion) in die »West-EU« (Europäische Union) erlebt (Marsovszky: 2006), und dieses Narrativ hält sich bis heute (Löwenstein 2019). Der Hass richtete sich auch schon damals gegen den gebürtigen Ungarn und Begründer der in autoritären Gesellschaften tätigen Open Society Foundations, George Soros, sowie gegen die Liberalen im Land quasi als Vasallen der offenen Gesellschaft, in der die Gefahr der Zersetzung der Nation gesehen wurde. So schrieb der Journalist, András Bencsik in einer regierungsnahen Wochenzeitung: »Soros finanziert unter dem Vorwand der ‚offenen Gesellschaft’ ein Programm in Ungarn, dessen Ziel es ist, alles zu zerstören [...], was im klassischen Sinne als wertvoll angesehen werden kann. [...] Wenn sie [die Sozialliberalen; Anm. d. Verf.] erneut die Macht ergreifen könnten, dann besteht die Gefahr, dass die Stasi und der KGB wieder erstarken und alle abtransportieren, die anders sind« (Élet és Irodalom 2001).1 Auch der Geschichtsrevisionismus und die Holocaustrelativierung waren bereits ausgeprägt. Die Leiterin des 2001 eröffneten Haus des Terrors, die Historikerin Maria Schmidt, damals – wie heute – Beraterin von Fidesz, ist eine führende Revisionistin. Ihre bis heute gültige These lautet: »Im Zweiten Weltkrieg ging es nicht um das Judentum und den Völkermord. [...] Der Holocaust, die Ausrottung oder Rettung des Judentums war ein nebensächlicher, sozusagen marginaler Gesichtspunkt, der bei keinem der Gegner das Kriegsziel war. [...] Die Alliierten hatten Nazi-Deutschland mitnichten deshalb den Krieg erklärt, um die geplante völkermörderische Politik gegen die Juden zu verhindern. Sie hatten weder vor, die Vertriebenen aufzunehmen, noch sie zu schützen. Daher ist für sie nichts Außergewöhnliches, [...] Unikates, passiert. In unserem Jahrhundert [...] ist ja eine ganze Reihe von Massenmorden und Genoziden passiert, wobei diese von der Außenwelt [...] bewusst wahrgenommen wurden. Ebenso wusste die Welt [...], was seit der bolschewistischen Revolution in der die Neue Welt verheißenden [...] Sowjetunion passierte. Es waren die kommunistischen Re-
1 Übersetzungen aus dem Ungarischen durch die Verfasserin.
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gime, die im Interesse der Festigung ihrer Herrschaft die Massenmorde zur wirklichen Regierungsmethode erhoben«. (Schmidt 1999) Nicht zuletzt waren schon damals Züge einer neuen Esoterik bemerkbar, von der noch die Rede sein wird, so vor allem der Bezug zum Mythos der »Hl. Krone«: Orbán hatte zum Millennium 2000 – quasi als Gründungsmythos der Nation – die »Hl. Krone«, das heißt, das Diadem aus dem 11. Jahrhundert, aus dem Nationalmuseum ins Parlament feierlich überführt und damit resakralisiert. Anlässlich des ersten, 2001 eingeführten »Gedenktages der kommunistischen Opfer« – eine weitere Etappe des Revisionismus – sagte die damalige und heutige Grande Dame von Fidesz, die 1956er Revolutionärin, Maria Wittner im Parlament, sie erkläre die »roten Kapitalisten, Nachfolger der ehemaligen Henker im Namen der Hl. Ungarischen Krone und der magyarischen Nation zu moralischen Leichen« (Marsovszky 2010/a: 78). Der antisemitisch konnotierte Terroranschlag fiel somit in Ungarn auf fruchtbaren Boden, so dass durch die so genannte »antisemitische Brücke« (Holz 2010) eine sympathisierende Annäherung zu den arabischen Ländern und zum Iran zu beobachten war. So lobte schon kurz nach dem Attentat der bekannte Journalist und Mitglied von Fidesz, Zsolt Bayer in einer Fernsehrunde des öffentlich-rechtlichen Senders Duna-TV den Anführer der Terrorgruppe al-Qaida, Osama bin Laden, als »unglaublich charismatische Figur«. Nach der Bemerkung einer Journalistin, dass die Selbstmordattentäter Freiheitskämpfer seien, fügte er hinzu, er könne sich keinen »größeren Heroismus vorstellen, als sein Leben für die Freiheit zu opfern« (Élet és Irodalom 2001). Wenn man sich fragt, was für eine Freiheit hier gemeint gewesen sein kann, so war es im damaligen Narrativ eindeutig, dass es im Verfolgungswahn als Notwehr um die »Befreiung vom zionistischen Geist des Euromafia« (Nagy 2003/a, Nagy 2003/b) ging. Strategie antimoderner Gegenkultur 2002, nach den verlorenen Parlamentswahlen, begann die Fidesz eine bewusste Strategie der konservativ-kulturellen Revolution (rückwirkend auch als solche deklariert) als kulturelle Hegemonisierung nach Gramsci, nur mit einem völkischen Vorzeichen, durchzuführen. Diese Wortwahl entspricht auch Orbáns Begrifflichkeit, zumal er 1987 in seiner Diplomarbeit als Staatsrechtler Gramscis Hegemonisierungsthese an der polnischen Solidarnosc-Bewegung geprüft hatte (Orbán 1987). 240
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Nach einer Idee, bewusst durch die Gründung einer »radikaleren Partei rechts von sich« ins Zentrum zu gelangen (Buják 2009), wurde auf Fidesz’ Wunsch und mit ihrer Unterstützung 2003 die rechtsradikale Partei Jobbik gegründet, die seitdem vielfach auf politischer Koalitionsebene, aber immer auf ideologischer Basis mit Fidesz zusammenarbeitet (Marsovszky 2013). Orbán gründete auch – damals als Oppositionsführer – so genannte Bürgerkreise, die er als außerparlamentarische Bewegung deklarierte. Im von Orbán geleiteten Bürgerkreis war der damalige Chef von Jobbik, Gábor Vona ebenfalls Mitglied. Die revolutionäre Bürgerkreis-Rhetorik ähnelte bewusst der – später von Orbán als »gegenrevolutionär« deklarierten (Orbán 2007) – APO-Bewegung während der 68er-Kulturrevolution in Westeuropa, war jedoch deklariert eine anti-68-er Bewegung, zugleich als ziviler Demokratisierungsprozess beschrieben. Die clevere Top-Down-Politik wurde mit Bottum-Up-Elementen vermischt. Konkret heißt das, dass an der Spitze ein so genanntes »Haus der Bürger«, ein Ort von kulturellen Programmen und Vortragsreihen (in Budapest) eingerichtet wurde, während auf der Basisebene unzählige Grassroots-Aktivist_innen zur Mitarbeit motiviert wurden. Zusammengehalten wurden die zwei Ebenen durch eine mittlere Kommunikationsebene, in der die in diesen Jahren entstandenen privaten, von der damals oppositionellen Fidesz finanzierten »national gesinnten« Medien und deren rechtsradikalen Varianten platziert wurden. Die Sprache letzterer wurde von ersteren zwar als etwas deftig aber bewusst wohlwollend als alternativ bezeichnet. Diese Medien heizten die rechten Gewaltgruppen an, bzw. übertrugen die permanente Hetze von Fidesz. Gehetzt wurde weiterhin vor allem gegen die Sozialliberalen, die »gigantischen, bolschewisierenden, satanischen Kräfte« und gegen den Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány (2004–2009), der »mal als Bolschewik, mal als Liberaler erscheinende, echte Antichrist« (Marsovszky 2010/b) dämonisiert wurde. Das gnostische, im politischen Gegner das Böse suchende Element zeigte sich in der dualistischen Rhetorik, in der sich die Völkischen (speziell auch Orbán) als Licht und Ordnung, aber die sozialliberalen politischen Gegner als Dunkelheit und Chaos beschrieben. 2006 – Erster bewaffneter Umsturzversuch Eine erste Beweisprobe dieser Zusammenarbeit war 2006 der Angriff auf das Gebäude des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, stellvertretend für die »Lügenpresse der linksliberalen Oligarchenregierung«, die im völkischen 241
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Narrativ für das »Genozid am Magyarentum« (Papp 2007) verantwortlich gemacht wurde. Schon 2005 war die Reinkarnation des Volksauftandes 1956 zum fünfzigsten Jahrestag 2006 gegen das Joch der linken Volksverräter vorausgesagt, als Orban die nationale Wende visionierte, zu der die Linke »genetisch wenig Chancen« (Orbán 2005) hätte. Der Hinweis auf die Revolution von 1956 war damals auch in den Reden Orbáns von strategischer Bedeutung. So sagte er ein Jahr vor den Krawallen: »Nach einer Weile, wenn das Zeichen kommt, schauen wir uns gegenseitig an, treten mit anderen in Blickkontakt … krempeln kollektiv die Ärmel hoch, und hauen rein. … Das Zeichen ist da. … Haltet Euch für den Wechsel bereit!« (Marsovszky 2010/a: 76) Wikileaks-Enthüllungen zeigen, dass die Krawallen 2006, bei denen das Gebäude des öffentlich-rechtlichen Fernsehens brannte, von Fidesz angestiftet war. Die Ausführenden waren Jobbik nahe Zivile, die für die »gojische Einheit« (Marsovszky 2010/a: 77) kämpften. Das kommunizierende Medium war das Fidesz nahe Hir-TV, das den Angriff mit Molotowcocktails als heldenhafte Revolution pries. Zur Ermordung des damaligen Ministerpräsidenten wurde von einer Fidesz-Abgeordneten auch direkt angestachelt: »Wenn Sie radikal genug wären, würden Sie diesen verdammten Gyurcsány abknallen« (Stadler 2011). Auch die Gründung der paramilitärischen Organisation von Jobbik (2007), der Ungarischen Garde, deren Mitgliederzahl in nur zweieinhalb Jahren auf etwa dreieinhalb Tausend wuchs, dürfte Teil dieser konservativrevolutionären Fidesz-Strategie gewesen sein, zumal der damalige, von Fidesz präferierte Staatspräsident, László Sólyom, vor dessen Fenstern die Gründungszeremonie stattfand, stumm blieb. Es war offensichtlich, dass die damalige linksliberale Regierung dem massiven Rechts-Druck machtlos gegenüberstand. Die strategisch bewussten außerinstitutionellen Schulungen in diesen Jahren, an denen das Haus des Terrors, das neu belebte und explizit völkische Volkshochschulnetz, die unzähligen völkischen Organisationen und Teile der christlichen Kirche aktiv beteiligt waren, formten mit ihrem permanent gegenmodernen, geschichtsverdrehenden, den Holocaust leugnenden, gegen Minderheiten und den politischen Gegner hetzenden Narrativ langsam die Gesellschaft um. Die Mobilisierungskraft, die von historischen Mythen ausgeht und deren Kommunikationsmittel die symbolische Politik ist, wurde bei den damaligen Regierungen völlig unterschätzt, ja sie teilten sogar die völkische Symbolsprache, oder zumindest konnten sie diese nicht dekodieren.
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In diesen Jahren war auch eine intensive Hinwendung zum Osten, genauer zur arabischen Welt, explizit zum Iran und zu Revisionisten zu beobachten, sodass die Frage auch international aufgeworfen wurde, ob Jobbik etwa vom Iran finanziert werde (Pusztaranger 2009). Zeitgleich wurden Vereine in Ungarn mit Namen wie »Hamasz, Al kaida, Fatah und Dzsihad« (sic!) gegründet (Marsovszky 2008). 2008 rief der inzwischen verstorbene reformierte Bischof, Loránt Hegedüs bei der feierlichen Einweihung von sechshundert neuen Mitglieder der paramilitärischen Ungarischen Garde zur sakralen Vermehrung ihrer Mitglieder auf, um den »Tod der Nation« aufhalten und die magyarische Hegemonie im Karpatenbecken aufrechterhalten zu können (Marsovszky 2015/a). Die Kirche des Bischofs, namens Heimkehr in der Innenstadt von Budapest, war übrigens ein Schulungsort der 2007 gegründeten »KönigAtilla-Akademie für Geisteswissenschaft und Nationalstrategie« von Jobbik, deren Begründer, der Philosoph, Tibor I. Baranyi (*1967) Vorträge über die ariosophisch-identitäre Metapolitik hielt. Die völkische Wende Bis 2010 entstand eine gegenkulturelle Massenbewegung, die die diskursive Deutungshoheit erlangte und mit einer glatten zwei Drittel Mehrheit die Parlamentswahlen gewann. Innerhalb von nur zwei Jahren verabschiedete die neue Regierung unter Ministerpräsident Orbán – nunmehr durch die breite Mehrheit gesichert – die wichtigsten Gesetzte um den Volksstaat auch juristisch auszubauen (Marsovszky 2015/b, Salzborn 2015). In Eiltempo wurde zunächst über das neue Staatsbürgerschaftsgesetz nach dem Ius-Sanguinis-Prinzip abgestimmt, das die demokratische Opposition ebenfalls beinahe einstimmig bewilligte. Nach der konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments wurde neben der ethnischen Nationalhymne auch die revanchistische so genannte Szekler-Hymne (Transsylvanische Hymne) beinahe von allen mitgesungen. Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz integriert die so genannten Diasporamagyaren (so der ethnonationale Jargon) in die Volksgemeinschaft, selbst, wenn sie nicht in Ungarn leben. Einer, der beispielsweise in den USA lebt und kaum ungarisch spricht, darf auch zur Blutsgemeinschaft des Magyarentums gehören, wenn er bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft einen Eid auf das »nationale Glaubensbekenntnis« – so der Titel des neuen Grundgesetzes – ablegt (GGU 2012). Inzwischen wurde über einer Million Menschen die ungarische Staatsbürgerschaft verliehen, mit dem erklärten Ziel, das universelle Magyaren243
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tum zusammen zu halten und seine Hilfe beim Ausbau der Regierungsideologie in Anspruch nehmen zu können. Dann wurde das neue Mediengesetz verabschiedet, dessen Präambel die Mehrheit (d.h. die Volksgemeinschaft) als schützenswert deklariert. In diesem Sinne wurden Redakteure mit extremen Ansichten in Spitzenpositionen gesetzt. Das Gesetz unterwirft alle Medien, einschließlich InternetBlogs, der zentralen staatlichen Kontrolle durch eine neu geschaffene Medienbehörde. Inzwischen sind die Medien fast vollkommen gleichgeschaltet. Für ihre Finanzierung sorgt eine 2018 gegründete gigantische Medienholding-Stiftung. Das neue Grundgesetz trat 2012 in kraft, in dessen Präambel die Selbstbeschreibung als Republik gestrichen wurde. Der »wichtigste Rahmen unseres Zusammenlebens sind Familie und Nation« (GGU 2012), heißt es, wobei unter Familie ausschließlich die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau und unter Nation die ethnisch-völkische Kulturnation verstanden wird. Später fällt zwar die Bezeichnung Republik, doch sämtliche republikanische Gedanken sind von völkischen Bekenntnissen verdrängt, alles unterliegt dem »Nationalen Glaubensbekenntnis« und dem einleitenden Satz: »Gott, segne den Magyaren!« (GGU 2012). Das zeigt: Fortan steht der Schutz der Mehrheit und der Nation über dem des Individuums und über die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Erschaffung eines Neuen Menschen und rechter Jihad Im Unterschied zum bundesdeutschen Verständnis bekam das Grundgesetz deshalb diese Bezeichnung, weil es in Ungarn bereits eine so genannte historische Verfassung, bekannt auch als »Lehre der Hl. Ungarischen Krone« gegeben hatte. Im »Nationalen Glaubensbekenntnis« heißt es deshalb: »Wir halten die Errungenschaften unserer historischen Verfassung und die Heilige Krone in Ehren, die die verfassungsmäßige staatliche Kontinuität Ungarns und die Einheit der Nation verkörpern« (GGU 2012). Der Kronenmythos – wie die »Kronenlehre« mit wissenschaftlichem Abstand genannt werden muss – bildet die Grundlage der spirituellen Staatsideologie Ungarns. Kulturgeschichtlich vergleichbar ist er mit dem Gralsmythos, das heißt, mit der Bedeutung des »Hl. Gral« im Nationalsozialismus (Marsovszky 2018). Auch heute fällt die Staatsideologie der Regierung mit der von Jobbik zusammen. Grundlage ist der Blut-und-Boden-Mythos. Danach sei das Magyarentum eine kulturelle und blutmäßige Abstammungsgemeinschaft,
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zusammengehalten durch die »Religion des Blutes«. So sagte Orbán 2012 anlässlich einer Denkmalseinweihung: »Der Turul (ein mythischer Greif; Anm. d. Verf.) ist [...] das Urbild der Magyaren. Wir werden in es hineingeboren, so wie wir in unsere Sprache und Geschichte hineingeboren werden. Das Urbild gehört zum Blut und zum Heimatboden. Von dem Augenblick an, in dem wir als Magyaren auf die Welt kommen, schließen unsere sieben Stämme den Blutbund, gründet unser heiliger Stephan den Staat, [...] der Turul aber ist das Symbol der nationalen Identität der jetzt lebenden, der schon gestorbenen und der erst noch auf die Welt kommenden Magyaren. [...] Die magya-rische ist eine Weltnation, denn die Grenzen des Landes und die Grenzen der magyarischen Nation fallen nicht zusammen […]. Dieses Denkmal will uns sagen, dass es nur ein einziges Vaterland gibt, und zwar jenes, welches dazu fähig ist, alle Ma-gyaren diesseits und jenseits der Trianon-Grenzen in einer einzigen Gemeinschaft zu vereinigen. […] Wer die Zeichen der Zeit zu lesen vermag, der kann sie lesen. Eine Welt neuer Gesetze kommt auf den europäischen Kontinent zu. Das erste Gebot dieser im Entstehen begriffenen neuen Welt lautet: Die Starken vereinigen sich, die Schwachen zerfallen, das heißt, die Angehörigen starker Nationen halten zusammen, die der schwachen Nationen laufen auseinander. Ich wünsche jedem Ma-gyaren, dass er Ohren haben möge zu hören und dass er die Zeichen lesen möge«. (Orbán 2012) Die geglaubte geographische Abstammung beflügelt den Anspruch auf »Lebensraum« (Orbán 2002) und damit Revanchismus-Bestrebungen nach dem Status Quo vor dem Vertrag von Trianon (1920), als zu Großungarn auch Gebiete von Nachbarländern gehörten. In diesem Sinne und nach Kriterien, die den Holocaust relativieren, werden seit 2010 die Geschichte umgeschrieben, die gesamte Kultur- und Bildungslandschaft, die Gesamterscheinung des öffentlichen Raumes umgestaltet und Straßennamen umbenannt. Auch der im zitierten Text erscheinende Sozialdarwinismus wird wortwörtlich verstanden. Die Sozialgesetze wurden so geändert, dass diejenigen aus dem sozialen Netz fallen, die die halluzinierte Homogenität der Volksgemeinschaft vermeintlich gefährden. Zudem ist in den letzten Jahren die Zahl der Kinder, die aus ihren Familien »herausgehoben« wurden, um sie umzuerziehen, drastisch gestiegen (Marsovszky 2015/c, Prókai 2018). Der Hass der Volksgenossen richtet sich gegen diejenigen, die sich vermeintlich nicht um das ewige Heil sorgen und der kollektiven Suche im Wege stehen. So sagte Parlamentspräsident Kövér Januar 2019: »In der un245
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garischen Geschichte ging es schon immer um den Kampf zwischen Erbauern auf der einen und Zerstörern auf der anderen Seite« (Kövér 2019). Bezeichnend für das System ist weiterhin die Wissenschafts- und Intellektuellenfeindlichkeit. Die moderne Wissenschaft und Bildung der Nachaufklärungszeit werden für die Entspiritualisierung der Menschheit verantwortlich gemacht und die liberalen Intellektuellen als materialistische Manipulanten begriffen. Dies steht im Hintergrund der Schikanen gegen die Central European University und die Ungarische Akademie der Wissenschaften, MTA (Riedl 2018, Droste 2019). Gefördert wird dagegen eine Pseudowissenschaft im Dienste der Suche nach der verloren geglaubten spirituellen Urtradition, deren Spuren man im näheren und ferneren Osten zu finden meint. Die seit 2010 immer intensivere »Hinwendung zum Osten« auch von Seiten der Regierung hat mit dieser Suche zu tun. 2019 wurde ein Institut für Ahnenforschung eingerichtet, in dem der biologische und kulturelle Ursprung des Magyarentums erforscht werden soll (Kásler 2019). Hierbei geht es bereits um mehr, als um nationale Eigenheiten. Diese werden in einen größeren Bezug gesetzt. Rezipiert werden diesbezüglich auch in Ungarn Autoren, wie der Berater Mussolinis und Anhänger Himmlers und der SS, der Italiener, Julius Evola (1898–1974), der heute sowohl beim Alt-Right der USA als auch dem New-Right Europas beliebt ist. Der wichtigste Autor auf Evolas Spuren in Ungarn ist Béla Hamvas (1897–1968), dessen Ideologie nicht nur die Philosophie der Regierung und die von Jobbik maßgeblich beeinflusst, sondern auch allgemein äußerst beliebt ist. Ausgehend aus der kulturpessimistischen Perspektive Oswald Spenglers (1880–1936) und anderer konservativer Revolutionäre über den Untergang der abendländischen Kultur und Zivilisation entwickelte Hamvas seine Vision einer indoarischen Gesellschaftsordnung, in die er das »Magyarentum« integrierte. Als Symbol für das Lebensrad, Sinnbild für den Untergang und Wiederauferstehung im gereinigten Urzustand des Neuen Menschen bestimmte auch Hamvas die Swastika (Hamvas 2000: 268). In diesem Sinne wird von der Regierung, von Jobbik und von anderen völkischen Gruppen die »reine« Kultur mit ethnisch-rassisch-nationalen Eigenheiten und Verhaltensweisen, also ein »nationales und weißes Erwachen« angestrebt, und »als historische Mission« die »Vermehrung des Magyarentums« angeregt (Orbán 2019). All dies wird zwar christlich und demokratisch genannt, doch wir haben es hier mit einer säkularisierten Tradition zu tun, die keinen himmlischen Gott, sondern eine irdische Gottheit als Abbild des abstrakten Begriffs der Transzendenz kennt. Sie ist weder durch den christlichen noch durch den menschenrechtlichen Universalismus begründet. Vielmehr 246
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kann man hier über eine »identitär-universalistische Position« (Salzborn 2017: 115) sprechen, die im Gegensatz zum aufgeklärt-egalitären Ansatz steht und das Gegenteil des universalistischen Verständnisses des Menschen als Basis jeder Diskussion über Potenziale und Wege von Emanzipation bedeutet (Salzborn 2016: 31). So hoffen Regierung und Jobbik auch die EU umgestalten zu können. Im Sinne ihrer Vision eines »Europas der Nationen« betreiben sie eine kohärent antimoderne, demokratiefeindliche Politik und wollen statt der als Chaos begriffenen kritisch-emanzipatorisch-menschenrechtlichen Wertegrundlage eine konservativrevolutionäre, männlich-hierarchisch aufgebaute neue Ordnung schaffen. Der erwähnte Philosoph, Tibor I. Baranyi nennt dies – wie Evola – Jihad, Heiligen Krieg: »Der Heilige Krieg wird geführt, um den Urzustand wiederherzustellen. Deshalb ist dieser Krieg nicht gegen das Gesetz. Der Urzustand bedeutet die Vollkommenheit der Harmonie, die der Frieden selbst ist. Das ist kein Schein-Friede, sondern die wahre Ordnung und die wahre Harmonie. Deshalb ist dieser Krieg legitim. Der Jihad, der Heilige Krieg bedeutet die Wiederherstellung des Goldenen Zeitalters und des Urzustandes«. (Marsovszky 2018) Literatur Buják, Attila (2009): Honismereti csoport. A Magyar Gárda visszatér, mint a Terminátor (Truppe für Heimatkunde. Die Ungarische Garde kehrt zurück wieder Terminator), in: 168 óra/ liberale Wochenzeitung, 31.01. Droste, Wilhelm (2019): Im Gespräch mit Vladimir Balzer. Umbau der Ungarischen Akademie der WissenschaftenAngriff auf die Freiheit der Wissenschaft?, online erschienen am 25.02., https://www.deutschlandfunkkultur.de/umbau-der -ungarischen-akademie-der-wissenschaften-angriff.1013.de.html?dram:article_id =442043 (aufgerufen am: 11.03.2019). Élet és Irodalom (2001): (Leben und Literatur/ liberale Wochenzeitschrift für Literatur und Politik), online erschienen am 23.11.2001, https://webcache.googleuse rcontent.com/search?q=cache:amG9sQTJdrgJ:https://www.es.hu/old/0147/publi. htm+&cd=11&hl=de&ct=clnk&gl=de (abgerufen am 11.03.2019). GGU (2012): Grundgesetz Ungarns, online, http://www.verfassungen.eu/hu/verf11.htm#FREIHEIT_UND_VERANTWORTU NG_ (abgerufen am 11.03.2019). An entscheidenden Stellen falsch ins Deutsche übersetzt; Anm. d. Verf. Hamvas, Béla (2000): Scientia sacra. Az öskori emberiség szellemi hagyománya (Scientia Sacra. Die geistige Tradition des Altertums [1943–44]), 2 Bde., Szentendre.
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Islamischer Antisemitismus
Je suis juif? Antisemitische Elemente des islamistischen Terrors in Europa Merle Stöver
»Toujour pas d’attentats en France – Attendez! On a jusqu’à la fin janvier pour presenter ses voeux«1 – aus der letzten Zeichnung des ermordeten Stéphane Charbonnier (Charbonnier 2015: 7) Welcher Tätigkeit sie in den Morgenstunden2 des 11. September 2001 nachging und wie sie von den grausamen Anschlägen auf die Zwillingstürme des World Trade Center erfuhr, weiß nahezu jede Person zu berichten, die zumindest alt genug war, zu diesem Zeitpunkt bereits im Sandkasten zu spielen. Die meisten wüssten die Motive der Attentäter zumindest noch mit dem Schlagwort ‚Islamismus‘ zu benennen. Dass Mohammed Atta allerdings in New York »das Zentrum des Weltjudentums« (Der Spiegel 36/2002, zit. nach Scheit, 2004: 577) sah und deswegen dort die Errichtung des Gottesstaates durch den Djihad beginnen wollte, wäre kaum als erwähnenswert erschienen. Im Gegensatz zum kollektiven Gedächtnis der Anschläge vom 11. September 2001 scheinen später ausgeführte Attentate – im Falle dieses Textes: in Europa – in der konkreten Erinnerung zu verblassen. Gemein ist jedoch nahezu allen islamistischen Anschlägen eines – antisemitische Elemente werden zumeist nur in zwei Fällen thematisiert: Entweder liegen antisemitische Motive auf der Hand, wie etwa im Falle der Schüsse im Jüdischen Museum Brüssel 2014 (und selbst in diesem Fall wurde dieses zu Beginn angezweifelt) oder Attentate werden aber zu einer vermeintlichen »Folge des israelisch-palästinensischen Konflikts« (Marz 2014: 13) relativiert, als sei Antisemitismus das Produkt von Verzweiflung und letztlich »hausgemachtes« Problem der israelischen Politik. Dass Antisemitismus nicht nur Teil islamischer Ideologie, sondern sogar als zentrale Säule dessen ist, wurde bereits ausreichend dargelegt (Küntzel
1 »Immer noch keine Attentate in Frankreich!« – »Warte! Man hat Zeit bis Ende Januar, um seine Neujahrsgrüße auszurichten!«. 2 GMT-4, Ortszeit New York, USA.
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2007; Marz 2014; Scheit 2004) und soll an dieser Stelle durch Betrachtungen islamistischen Terrors in Europa fortgeführt werden. Dieser wird in der Global Terrorism Database (GTD) der University of Maryland in »muslim extremism« und »jihadi-inspired extremism« unterteilt und enthält zusätzlich die Kategorie »anti-semitic extremism«, die jedoch zumeist genutzt wird, wenn die Täter*innen unbekannt sind, die Tat aber, wie etwa die Schändung eines jüdischen Friedhofs, eindeutig auf antisemitische Motive zurückgeführt werden kann. Sind die Täter*innen als muslimisch bekannt, so werden die Kategorien des »muslim/jihadi-inspired extremism« angegeben.3 Die Tatsache, dass das Bataclan im November 2015 als Ort nicht zufällig gewählt wurde und der freie Abzug der Mörder, die wenige Monate zuvor in der Charlie Hebdo-Redaktion ein Blutbad anrichteten, tags darauf nicht grundlos durch eine Geiselnahme in einem koscheren Hyper-Cacher erpresst werden sollte, vermag die konstituierende Bedeutung des Antisemitismus besonders hervorzustellen, attestiert jedoch Anschlägen wie etwa in Berlin oder Nizza keinen minderen antisemitischen Charakter. Dieser Beitrag soll nicht nur das Offensichtliche niederschreiben, sondern auch exemplarisch in der Ideologie der Attentäter in Paris und Nizza die Verbindung von Djihad und Antisemitismus aufzeigen und den eliminatorischen Judenhass somit als Kernelement des Islamismus einordnen: Die Juden »werden vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt. So sind sie in der Tat das auserwählte Volk« (Horkheimer/Adorno 2017: 177). Von 9/11 bis heute Seit den Anschlägen auf die Zwillingstürme, das Pentagon und dem versuchten Anschlag auf das Weiße Haus 2001 werden über 20 islamistisch motivierte Anschläge in Europa mit terroristischer Absicht verzeichnet. Für diese können einige Annahmen getroffen werden, die sowohl die Entwicklung, gleichermaßen aber auch die Gemeinsamkeiten der Taten und der Täter herausstellen. So fällt recht schnell ins Auge, dass die Mobilmachung islamistischer Organisationen besonders in den Jahren 2014 bis 2017 angestiegen ist und seitdem in den Metropolen Europas in nahezu regelmäßigen Abständen Menschen aus dem Leben gerissen wurden. Zuvor nutzten Islamisten – in beiden Fällen mutmaßlich al-Qaida – öffentliche Verkehrsmittel als Schauplatz ihrer Taten und ermordeten 2004 in einem Serienanschlag mit zehn Detonationen in Madrider Zügen 191 3 Die in diesem Text verwendeten Daten basieren auf den Darstellungen der GTD.
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Menschen. 2005 sprengten sich drei Selbstmordattentäter im Londoner Nahverkehr in die Luft und rissen 56 Menschen mit sich in den Tod. So wurde folglich jede Person zum potentiellen Ziel des Terrors, die sich im öffentlichen Raum – zumeist morgens auf dem Weg zur Arbeit – befand und die Form der (Selbst-)Sprengung verweist gleichermaßen auf das Ziel: »möglichst viele Menschen zu vernichten – nicht irgendwelche, obwohl es auf den einzelnen nicht ankommt« (Scheit 2004: 427) Weiter, so Scheit, werden Menschen zu Todeskandidaten, die »auf einen bestimmten Punkt bezogen werden« (ebd.) können, der bereits 2011 und 2012 zu einem konkreteren wird: Im März 2011 bestieg Arid Uka am Frankfurter Flughafen einen Bus der US Air Force, erschoss drei der Soldaten und verletzte weitere schwer. In Burgas, Bulgarien, sprengte sich 2012 ein Angehöriger der Terrororganisation Hizbollah in einem Reisebus in die Luft. Das konkret auserwählte Ziel war die israelische Reisegruppe, sechs der Tourist*innen überlebten den Anschlag nicht. Dieser Anpassung der ausgemachten und konkreter werdenden Anschlagsziele folgte eine Anpassung der Waffen: der Griff zur Schusswaffe nimmt das auserwählte Opfer ins Fadenkreuz und lässt keinen Zweifel, dass es tatsächlich gemeint ist. Mit Schusswaffen tötete auch ein Attentäter 2012 in Toulouse erst drei Militärangehörige und anschließend vier Personen in einem jüdischen Collège. Als Anschlagsziel wählte ein Attentäter 2014 das Jüdische Museum in Brüssel und erschoss dort vier Personen. 2015 wurden zunächst 12 Menschen in der Charlie Hebdo-Redaktion in Paris erschossen, zwei Tage später wählte ein weiterer Attentäter den koscheren Hyper-Cacher, um den freien Abzug seiner Mittäter zu fordern und ermordete hier vier weitere Personen. Bei einer Diskussionsveranstaltung über Blasphemie und Meinungsfreiheit in Kopenhagen wurde zunächst eine Person erschossen. Der gleiche Täter erschoss noch in der Folgenacht einen Wachmann vor einer Synagoge. Die Anschläge in Paris im November 2015 zeigten zudem deutlich, dass der Angriff auf das Direkte und Indirekte genauso wenig einen Widerspruch darstellt, wie die Verknüpfung lang geplanter Anschläge mit der spontanen Wahl der Todeskandidat*innen vor Ort. Beides hängt sogar zusammen: Die Angriffe beinhalteten mehrere Selbstmordattentate vor dem Fußballländerspiel, ein mit Kalaschnikows angerichtetes Blutbad in Cafés und Bars und das Massaker im Bataclan. Insgesamt wurden 130 Menschen getötet. Im März 2016 sprengten sich Selbstmordattentäter sowohl am Flughafen als auch in einem U-Bahnhof in Brüssel in die Luft und rissen insgesamt 32 Menschen mit in den Tod. Diesen Anschlägen, die wie bereits in Madrid und London keinen Zweifel daran lassen, dass jeder einzelne Mensch gemeint ist, ohne dass es auf ihn konkret ankommt, folgten in 255
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den Jahren 2016/2017 binnen kurzer Zeit sechs vehicle-rammings, die eben jene Annahme präzisieren: Auf den Tod des einzelnen Menschen am Tatort kommt es nicht an, auf das einzelne Überleben jedoch ebenso wenig. Im Juli 2016 wurden 85 Menschen auf der Strandpromenade Nizzas auf diese Art ermordet, auf dem Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember desselben Jahres 12 weitere. 2017 wurden in London im März 6 und im Juni 8 Menschen, in Stockholm im April 5 Menschen und in Barcelona im August 14 Menschen durch vehicle-rammings und teils folgenden Messer- und Schusswaffenangriffen getötet. In Turku, Finnland, machte ein Islamist Jagd auf Frauen, tötete zwei und verletzte weitere acht. Im Foyer eines Konzertsaals in Manchester, in dem die Sängerin Ariana Grande auftrat, sprengte sich ein Selbstmordattentäter in die Luft und riss 23 – darunter einige Kinder und Jugendliche – Menschen mit sich in den Tod. Der IS schrieb kurze Zeit später, dass ein »Kalifatssoldat« diese »Versammlung von Kreuzfahrern« angegriffen habe (Malsin/Samuelson 2017: online) Und tatsächlich macht der Islamismus aus jedem Täter einen Soldaten, einen unter vielen im antimodernen und antisemitischen Racket, die für ein übergeordnetes Ziel in ihre heilige Schlacht ziehen. Viele der Djihadisten in Europa sind untereinander vernetzt, so habe es laut der französischen Police nationale kurz vor dem Mord im Jüdischen Museum in Brüssel ein Telefonat zwischen dem Attentäter Mehdi Nemmouche und einem der Täter vom 13. November 2015, Abdelhamid Abaaoud, gegeben. (vgl. Callimachi 2016: online) Außerdem sind nahezu alle, die an Planung und Durchführung von Attentaten beteiligt waren, in europäischen Ländern aufgewachsen, wobei »die antisemitische Aufhetzung muslimischer Jugendlicher, die sich in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien noch radikaler als in Deutschland vollzieht, […] nur die sichtbare Spitze eines Eisberges [darstellt].« (Küntzel 2007: 2) Viele der Terroristen hatten zuvor Haftstrafen abgesessen und waren in den Haftanstalten radikalisiert worden (vgl. Kepel 2016: 154). Frankreich stellt einen besonderen Schwerpunkt der Anschläge dar: In den letzten drei Jahren wurden mehr als 240 Menschen allein in Frankreich durch islamistische Anschläge getötet. Mehr als 30 Anschläge konnten vereitelt werden oder endeten glimpflich.
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»Especially the spiteful and filthy French« Ein Sprecher des IS, Abu Muhammad al-Adnani, ließ in einer Ansprache im September 2014 verlauten, dass Muslime angehalten seien, Europäer*innen zu töten und setzte nach, dass dies »especially [for, Anm. d. Verf.] the spiteful and filthy French« gelte (Callimachi 2016: online). Den brachialen und unbedingten Willen zur Elimination setzten muslimische Täter in Frankreich immer wieder in die Tat um. Erst im März 2018 wurde die Shoa-Überlebende Mireille Knoll von ihrem muslimischen Nachbarn erst mit Messerstichen getötet und anschließend in Brand gesetzt. Das antisemitische Sentiment ist untrennbar verknüpft mit der Tat, das Jüdische zu überwältigen, zu entstellen und schließlich auszulöschen, was in der Vergangenheit bereits die Folterungen, Entstellungen und Ermordungen Ilan Halimis 2006 und Sarah Halimis 2017 auf grausame Art zeigten. Bereits seit 2005 war die antisemitische Gewalt in Frankreich gestiegen, die Akteur*innen, die maßgeblich an den Unruhen im Herbst 2005 beteiligt waren, bezogen sich auf den Protest gegen den AlgerienKrieg und auf die Auseinandersetzungen mit den Mohammed-Karikaturen in Dänemark (vgl. Kepel: 46). Über die Verfassung der Antisemit*innen sei an dieser Stelle gesagt, dass stets »der blind Mordlustige im Opfer den Verfolger gesehen [hat, Anm. d. Verf.], von dem er verzweifelt sich zur Notwehr treiben ließ« (Horkheimer/Adorno 2017: 196). Haben sie erst einmal im Juden das Böse gefunden, so sind »nicht nur alle Jüd*innen böse, sondern alles Böse ist jüdisch« (Küntzel 2003: 84). Aus dem Wahn des Hinterherjagens wird Ideologie. Das antisemitische Racket »will keine Entspannung dulden, weil [es, Anm. d. Verf.] keine Erfüllung kennt (Horkheimer/Adorno 2017: 180). In der Dialektik der Aufklärung heißt es weiter: »So ist es in der Tat eine Art dynamischer Idealismus, der die organisierten Raubmörder beseelt. Sie ziehen aus, um zu plündern, und machen eine großartige Ideologie dazu, faseln von der Rettung der Familie, des Vaterlandes, der Menschheit. Da sie aber die Geprellten bleiben, was sie freilich insgeheim schon ahnten, fällt schließlich ihr erbärmliches rationales Motiv, der Raub, dem die Rationalisierung dienen sollte, ganz fort und diese wird ehrlich wider Willen.« (ebd.) Nicht nur jegliches militärische Eingreifen in islamischen Ländern wie Mali wird zu einem konkreten Angriff Frankreichs auf die Umma, sondern auch sein Bekenntnis zum Säkularismus. Denn dieser »gilt als Teil der westlichen Verschwörung, um die islamische Umma zu spalten« (Conzen, 2005: 243) Vom säkular verfassten Frankreich, das mit der Trennung 257
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von Religion und Staat die dort lebende muslimische Gemeinschaft zersetze und Zweifel sähe, fühlen sich die Antisemit*innen verfolgt. Es überrascht nicht weiter, dass eben jene Zweifel schon von Sayyid Qutb auf die Juden zurückgeführt wurden. Diese hätten »through their wickedness and double-dealing« (Qutb zit. nach Nettler, 1987: 72) immer versucht, die Umma vom Koran wegzuführen. Weiter, so Qutb, wären die Jüd*innen nicht »satisfied until this Religion (that is, Islam) has been destroyed« (ebd.: 85) Die Rolle von Frankreich ist an dieser Stelle auch zweifellos in Bezugnahme auf Qutb zu beschreiben: »Anyone who leads this Community away from its Religion and its Qur’an can only be a Jewish agend – whether he does this wittingly or unwittingly, willingly or unwillingly« (ebd.: 72). So wird schon im Pamphlet Qutbs der Jude zur Opposition der islamischen Gemeinschaft, der durch Lug und Betrug die Umma zersetzen will, Zweifel säht und seine Agent*innen aussendet. Fortan wird alles zum Jüdischen und damit der Vernichtung preisgegeben. Bereits zu Zeiten des Gaza-Krieges 2014 wurde die Annahme des Juden als Strippenziehers und des Franzosen als Agent auf Schilder gepinselt. Am 13. Juli 2014 demonstrierte eine antisemitische Querfront aus Linken, Rechten und Muslimen unter dem Motto »Israel Mörder, Hollande Komplize« (Kepel 2016: 223). Je suis Charlie! Je suis Juif? Am 7. Januar 2015 drangen die Brüder Saïd und Chérif Kouachi in das Gebäude der Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo ein, die schon zuvor mehrfach zum Ziel von Angriffen, Brandanschlägen und Morddrohungen gegen die Mitarbeiter*innen geworden war. In dem Gebäude töteten sie einen Techniker und zwangen die Cartoonistin Corinne »Coco« Rey, ihnen Zugang zu den Redaktionsräumen zu verschaffen. Innerhalb von fünf Minuten identifizierten sie die dort Anwesenden und töteten durch gezielte Schüsse zehn Personen, riefen »Allahu Akbar« und stürmten mit dem Ausruf »On a vengé le prophète!« auf die Straße. Auf ihrer Flucht töteten sie einen Polizisten durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe. Zwei Tage später verschanzten sie sich in einer Druckerei, von wo sie den Fernsehsender BFM TV darüber informierten, im Namen von alQaida im Jemen zu handeln (vgl. Biermann et al., 2015: online). Am 8. Januar, erschoss ein weiterer Djihadist, Amedy Coulibaly, den Chérif Kouachi in Haft kennengelernt hatte (vgl. Kepel 2016: 236), erst eine Polizistin, verletzte eine weitere Person schwer und überfiel anschließend einen koscheren Hyper Cacher an der Porte de Vincennes. Im Super258
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markt nahm er Geiseln, forderte freien Abzug für die Kouachi-Brüder und bekannte sich zum IS. Vor der Erstürmung durch die Polizei tötete er vier Juden. Amedy Coulibaly wurde bei der Erstürmung durch die Polizei getötet, Saïd und Chérif Kouachi wurden ebenfalls getötet, als Sonderkommandos die Druckerei stürmten. Die Unterteilung in Jüd*innen und Nicht-Jüd*innen wird bei den miteinander verbundenen Anschlägen zu einer Selektion über das SterbenMüssen und Leben-Lassen, das sowohl in den geschlossenen Redaktionsräumen als auch während der Geiselnahme im Hyper-Cacher einzig in der Hand der Attentäter liegt. Die Kouachi-Brüder entschieden mit vorgehaltener Kalaschnikow unter Berufung auf den Koran, dass man Frauen nicht töten dürfe und daher sowohl Corinne Rey als auch Sigolène Vinson in der Redaktion zu verschonen, identifizierten jedoch im selben Moment die jüdische Psychoanalytikerin und Kolumnistin Elsa Cayat und richten sie hin. Das erklärte göttliche Verbot des Korans, keine Frauen zu töten, verliert seine Wirkung in dem Moment, in dem sie einer Jüdin gegenüberstehen, und während andere des Unglaubens und der Blasphemie Bezichtigte leben dürfen, muss Elsa Cayat sterben. Die Karikaturen der Charlie Hebdo-Redaktion sind für die Islamisten logische Weiterführung der vermeintlichen ständigen Bedrohung und Verfolgung, die durch die säkulare Gesellschaft, die Ungläubigen und vor allem Jüd*innen gegen die islamische Umma ausgeübt werden. Bereits 2011 hatten Islamisten einen Brandanschlag auf die Redaktion des Satiremagazins verübt, nachdem diese eine Mohammed-Karikatur veröffentlicht hatten. Auch nach dem zehnfachen Mord im Januar 2015 hatte es mehrere Morddrohungen gegen die Redaktion gegeben. Eine Entspannung der Situation kann es folglich für die Antisemiten nicht geben, solange Charlie Hebdo publiziert. Sie, die Redaktion des Satiremagazins, sind qua Existenz der Stachel im Fleisch des wahren Islams. Dass Coulibaly in den Osten von Paris fährt, um dort ausgerechnet im Hyper Cacher Geiseln zu nehmen, ist die Selektion an sich. Er tötet Jüd*innen nicht, weil sie da sind, sondern weil es Jüd*innen treffen soll. Jüd*innen sind laut des für den islamischen Antisemitismus richtungweisenden Pamphlets, das Sayyid Qutb 1950 publizierte, »the worst enemies of this Community (Islam) […] who lead it away from its creed of belief, dissuading it from taking Allah’s way and path and deceiving it about the reality of its enemies and their ultimate goals« (Qutb, zit. nach Nettler, 1987: 74). Coulibaly fährt an den Ort, an dem er das abstrakte Gefühl von Vereinzelung und Bedrohung einem konkreten Feind zuschieben kann, den er personalisiert antreffen, einschüchtern und vernichten kann. Ausnahmslos 259
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jeder Mord, den er im Hyper Cacher begeht, steht im Licht der Sehnsucht nach dem Sterben als Märtyrer und der damit erreichbaren Vereinigung mit dem Kollektiv der Umma. So sei nur beispielhaft an dieser Stelle an Amel Amastaibou erinnert, der nach dem Mord an seinem jüdischen früheren Schulfreund Sebastian Sellam jubelte: »Ich habe einen Juden getötet! Ich komme ins Paradies!« (Becker 2016: online) Der Antisemitismus der Islamisten ergibt eine geschlossene Erklärung, die so »konsistent und gefestigt [ist, Anm. d. Verf.], dass ihnen ihr Terror und Vernichtungswillen als Notwehrmaßnahmen zur Rückeroberung der islamischen Gebiete und dem Überleben der Muslime, der gesamten Menschheit schlechthin erscheinen«. (Marz, 2014: 270) Ihn unterscheidet jedoch von anderen, dass er Forderungen stellt: Er kommt nicht ausschließlich zum Töten, sondern hat ein konkretes Anliegen, für das die Drohung mit dem Töten der Weg ist. Es lassen sich nur Vermutungen anstellen, warum er für eine Erpressung einen jüdischen Supermarkt wählt – wie etwa, dass er sich Gehör erhofft, weil er von einer verschwörerischen Komplizenschaft zwischen der französischen Regierung und den Jüd*innen ausgeht. 13. November 2015: Erneut Paris Am 13. November desselben Jahres wurde Paris erneut von einer Anschlagsserie erschüttert. Zehn Attentäter, von denen acht in Frankreich und Belgien geboren waren, teilten sich in drei Teams auf und nahmen drei unterschiedliche Ziele ins Visier. Drei von ihnen, der Franzose Bilal Hadfi und zwei weitere Unbekannte,4 versuchten am Abend kurz nach Beginn des Freundschaftsspieles zwischen der französischen und deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer in das Stade de France einzudringen. Zu dieser Zeit befanden sich etwa 80.000 Zuschauer*innen im Stadion, sowie der Staatspräsident François Hollande und der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Die drei Attentäter waren mit baugleichen Sprengstoffwesten ausgestattet und versuchten einzeln ins Stadion zu gelangen. Mit zeitlichem Abstand sprengen sich zwei der Männer im Ein-
4 Die Klarnamen der beiden Attentäter, die gemeinsam mit Bilal Hadfi versuchten, ins Stade de France einzudringen, sind unklar. Bekannt sind die beiden Iraker unter den Kampfnamen Ali al-Iraqi und Ukashah al-Iraqi.
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gangsbereich des Stadions in die Luft, der dritte zündet seinen Sprengstoffgürtel in einer McDonalds Filiale unweit des Stade de France. Nahezu zur selben Zeit fuhr die zweite Gruppe der Attentäter, bestehend aus Abdelhamid Abaaoud, Salah Abdeslam und Chakib Akrouh, auf einer Kreuzung im 10. Arrondissement vor. Mit Kalaschnikows feuerten die drei Attentäter erst auf Personen im Außenbereich der Bar Le Carillon und dann auf die Besucher*innen des Restaurants Le Petite Cambodge. Im Anschluss fuhren sie 400 Meter weiter und schossen in gleicher Form auf das Café Bonne Bière, auf einen Waschsalon und auf das Restaurant La Casa Nostra. Die Attentäter schossen teils in die Menge und führten aber ebenso gezielte Exekutionen durch. Auf dem Weg zu ihrem nächsten Anschlagsziel, der Bar La Belle Équipe, feuerten sie Schüsse aus dem fahrenden Wagen ab. In der Bar La Belle Équipe töteten Abaaoud, Abdeslam und Akrouh 19 Personen. Wenige Minuten später sprengte sich Ibrahim Abdeslam, der einzeln unterwegs war, im Café Comptoir Voltaire in die Luft, wodurch jedoch niemand weiteres getötet wurde. Zeitgleich mit dem Sprengstoffanschlag im Café Comptoir Voltaire stürmen Ismaël Omar Mostefaï, Samy Amimour und Fouad Mohamed Aggad die Konzerthalle Bataclan. Dort fand an diesem Abend ein Konzert der USBand Eagles of Death Metal vor etwa 1500 Besucher*innen statt. Die drei Attentäter schossen von einer Empore wahllos in die Menge und warfen Handgranaten in den Saal. Aggad konnte von zwei Polizisten erschossen werden, Mostefaï und Amimour verbarrikadierten sich mit mehreren Geiseln. Beim Zugriff durch die Polizei sprengten sich die beiden Attentäter mit den gleichen Sprengstoffgürteln wie ihre Mittäter zuvor am Stade de France und im Café Comptoir Voltaire. Bei den Anschlägen starben insgesamt 130 Menschen, 683 wurden verletzt (vgl. ZEIT online, 2015: online). Der IS veröffentliche tags darauf ein Bekennerschreiben. In der Anschlagsserie vom 13. November 2015 vereinen sich nicht nur drei unterschiedliche Anschläge zu einer komplexen und koordinierten Strategie, sondern ebenso die Feindbilder des Islamismus, für die in ihrer Unterschiedlichkeit dennoch nur eines vorgesehen ist: die Vernichtung. Ihr eigenes Sterben ist im Stade de France ist nicht nur symbolisch, sondern eine Waffe, denn sie »übertragen den Selbstmord […] in den Bereich des öffentlichen Raumes und führen so dessen Bezeichnung ad absurdum; denn der Selbstmord ist genuin privaten Ursprungs« (Marz 2014: 279). In das Stadion, in dem sich zu diesem Zeitpunkt 80.000 Zuschauer*innen, Regierungsmitglieder zweier Länder und Fußballer, die den französischen Traum verwirklicht haben, es aus den Banlieues in die Stadien dieser Welt zu schaffen, schaffen sie es einzudringen und damit ihrem Feind sei261
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ne Verwundbarkeit nicht nur zu zeigen, sondern deren Demonstration förmlich in sein Innerstes zu sprengen. Für ihren zweiten mordenden Streifzug wählen sie nicht zufällig Cafés, Restaurants und Bars: Sie wählen die Orte, an denen Menschen an einem Freitagabend Freiheit, Selbstbestimmung und Genuss feiern. Teils schießen die Attentäter in die Menge, teils exekutieren sie Einzelne – sie wenden sich sowohl gegen den zum Kollektiv gemachten Westen als auch gegen das Individuum, welches sie diesem zuordnen. Die Anwesenheit an einem Ort des Lasters, der Ungläubigen und des Konsums macht alle zu Mitschuldigen. Die Terroristen treten als Richtende auf, sie richten in der »Dichotomie von Gläubigen und Ungläubigen« (ebd.: 48) und in der Unterteilung »in die Figuren des ‚Hauses des Islam‘ und das ‚Haus des Krieges« (ebd.). Im Bekennerschreiben im Namen des IS wurde das Bataclan, der dritte Anschlagsort des Abends als Ort beschrieben »ou étaient rassemblés des centaines d’idolatres dans une fête de perversité«5 (IS, zit. nach Web Archive, 2015: online). So sehr dies in islamistischer Logik vermutlich auf viele Orte in Paris zuträfe, so waren weder das Bataclan als Ort noch der 13. November 2015 als Zeitpunkt zufällig gewählt. Die ehemaligen Eigentümer*innen des Bataclans, Pascal und Joel Laloux, wurden über Jahre antisemitisch bedroht, weil sie Jüd*innen waren und eine jährliche Gala der jüdischen Organisation Migdal ausrichteten. Gegen die Band Eagles of Death Metal wurden wenige Monate zuvor wegen eines Konzertes in Tel Aviv Boykottaufrufe laut, denen der Frontsänger Jesse Hughes mehrfach dezidiert proisraelisch entgegnete. Im Falle des Massakers im Konzertsaal verbindet sich der brachiale Antisemitismus gegen den Ort und die Band mit dem Feindbild der Ungläubigen, Perversen und Feiernden, sie werden allesamt als feindlich identifiziert und sollen an diesem Abend sterben. Daran lassen die Täter, in die Menge schießend und Granaten werfend, keinen Zweifel. Nach Scheit sind die an diesem Abend Anwesenden nicht nur als feindlich markiert, sondern werden zum absoluten Feind: und zum absoluten Feind wird der Feind dann, »wenn er als Kollaborateur der Juden und ihrer unmittelbaren Verbündeten identifiziert ist« (Scheit 2004: 427) Die Konzertbesucher*innen werden zu Kollaborateur*innen mit Pascal und Joel Laloux und den unmittelbar Verbündeten Eagles of Death Metal, weshalb für sie das Schicksal vorgesehen ist, das sonst nur Jüd*innen zuteilwird: die Vernichtung.
5 »Wo hunderte Götzenanbeter zu einem Fest der Perversion versammelt waren«.
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Gemeint ist Frankreich Am 14. Juli 2016, also kein Jahr nach dem dreifachen Anschlag in Paris, schlägt Mohamed Samlene Lahouaiei Bouhlel in Nizza zu. Etwa 30.000 Menschen haben sich auf der Strandpromenade Promenade des Anglais versammelt, um das Feuerwerk zum französischen Nationalfeiertag anzuschauen. Um 22.45 Uhr fährt Bouhlel mit einem gemieteten LKW auf die für Autos gesperrte Promenade. Er raste mit dem LKW etwa zwei Kilometer durch die Menschenmenge und überfuhr mehrere hundert Menschen. Schließlich begann er, auf Polizisten zu schießen, die das Feuer erwiderten, ihn erschossen und so 300 Meter weiter zum Stehen bringen konnten. 86 Menschen überlebten das Attentat nicht, mehr als 400 wurden verletzt. Bouhlel hatte den Angriff dem Suchverlauf seines Handys zufolge über Monate geplant. Geboren in Tunesien, kam er 2005 nach Frankreich und lebte in Nizza. Auch er hatte bereits vor der Tat eine Haftstrafe abgesessen. Nach der Tat bekannte sich der IS zu dem Anschlag. In Bezug auf das Attentat Bouhlels lassen sich zumindest zwei Aussagen treffen. Wird ein solches Attentat am Nationalfeiertag Frankreichs am Ort der Feierlichkeiten ausgeführt, so wird Frankreich nicht nur angegriffen, sondern ist auch explizit gemeint. Weitergehend scheint für Bouhlel schuldig zu sein, wer sich mit Frankreich gemein macht, seine Existenz nicht nur annimmt, sondern als positives Ereignis festhält. Dieses positive Ereignis soll umgekehrt werden, die Kollaborateur*innen werden an diesem Abend von dem weißen LKW erfasst und sollen dem Erdboden gleichgemacht werden. Die Logik, auf dieser Promenade alle Anwesenden erst als Kollaborateur*innen zu markieren und schließlich zu Todeskandidat*innen zu erklären, kann »als Fortsetzung des Pogroms mit anderen Mitteln, im ganzen als Privatisierung staatlicher Vernichtungsaktionen betrachtet werden« (Scheit 2004: 427). Die Menschen, die sich auf der Promenade befinden und zum Ziel des Anschlags werden, sind nicht individuell gemeint, doch werden qua Anwesenheit zur Personifizierung des Feindlichen. Der Körper als Waffe Sind islamistische Attentate nicht darüber konzipiert, den Körper des Attentäters zur Waffe werden zu lassen, so wird der Tod während oder infolge des Anschlages zumindest mutwillig in Kauf genommen. Ausgearbeitete Fluchtpläne liegen in den seltensten Fällen vor. Im Fall des Anschlags in Paris am 13. November ist der Tod mehr als nur die wahrscheinliche Fol263
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ge: Er ist in Form von baugleichen Sprengstoffgürteln an den Körpern der Attentäter befestigt und macht im Moment der Zündung das Leben der Täter zur letzten und endgültigen Waffe. Al-Banna, Gründer der Muslimbruderschaft, interpretierte den Islam »aktivistisch, als eine immer wieder neu herzustellende Verbindung mit Gott, die sich in der Anstrengung gegen Gottes Feinde vollzieht« (zit. nach Dormal 2009: 106) und nicht als einmaliges Bekenntnis oder das Praktizieren von Ritualen. Intensivste Form dieser Aufopferung, so Küntzel, ist das Martyrium, der aktivistisch vollzogene Tod (vgl. Küntzel 2003: 23). Das Selbstmordattentat setzt die »Negation des Individuums« (Marz 2014: 272) voraus, »der einzelne Mensch [wird, Anm. d. Verf.] durchgestrichen« (Dormal 2009: 153) und ist »zurückgesetzt als Funktionsbestandteil im Kollektiv« (Marz 2014: 272). Der Tod des Attentäters soll sein individuelles Schicksal mit dem kollektiven Schicksal der Umma zusammenführen (vgl. Dormal 2009. 150). Zugleich sind der Islamismus und die Ausführung des terroristischen Akts als »aktivistisch reaktionäre Form der Widerspruchsverarbeitung unter Modernisierungsprozessen« (Marz 2014: 87) zu verstehen, durch die versucht wird, »die abstrakten Ordnungen der Moderne und kapitalistischer Vergesellschaftung einem konkreten Feind zuzuschieben und damit zu personifizieren« (ebd.). Die Selbsttötung mit dem Ziel, »möglichst viele Menschen zu vernichten« (Scheit 2004: 427) scheint so erstrebenswert, dass der IS nach den Anschlägen vom 13. November 2015 die Leser*innen ihrer Stellungnahme mit den Worten beschwört: »Ou’Allah les accepte parmi les martyrs et nous permettent de les rejoindre« (IS, zit. nach Web Archive, 2015: online).6 Die Aufopferung des eigenen Lebens ist die quasi sichere Eintrittskarte für das Paradies. Mehr als dies ist das Selbstopfer jedoch Zeugnis »einer bestimmten Haltung zum Physischen, zur Naturhaftigkeit – zum quälbaren Leib wie zum lustgerichteten Trieb« (Scheit 2004: 438): Der eigene Körper wird als Kollaborateur der Moderne, des Perversen, der Triebe und nicht zuletzt als vom Juden durchzogen erkannt und soll davon gereinigt werden. Wenn der Zünder ausgelöst wird, wartet nicht nur der Tod, es ist die Transzendenz, die Abspaltung des Schädlichen und der erhoffte Aufstieg zu einem Ort, der besser eingerichtet ist als die vermeintlich jüdisch-infiltrierte Welt: das versprochene Paradies Allahs.
6 »Dass Allah sie unter den Märtyrern annehme und uns erlaube, uns ihnen anzuschließen«.
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Das unveränderte Sentiment Jeder der beschriebenen Angriffe richtet sich letztlich gegen die Moderne: Zu Todeskandidat*innen und zur Zielscheibe werden die Konsumierenden, die Feiernden, die Perversen und die Ungläubigen. Doch sie werden nicht nur getötet, weil sie von der islamischen Gemeinschaft abweichen, sondern weil sie bedrohlich sind: Sie gelten als Angriff auf die Umma, mit ihrer Art zu leben und mit ihrer Existenz an sich gelten sie als Verfolger*innen. Und obwohl der Djihadismus all diese Gruppen als feindlich ausmacht und jedes diesen Gruppen zugeordnete Individuum so wie in Nizza auf der Strandpromenade vom antisemitischen Racket als Teil seiner Mission dem Erdboden gleichgemacht werden kann, steht den Jüd*innen eine besondere Position zu. Sie sind nicht feindlich, sie sind der Feind. Sie sind nicht lasterhaft, sie sind das Laster. Sie sind nicht Teil der Moderne, sie haben die Moderne geschaffen: Sie sind »die Kolonisatoren des Fortschritts« (Horkheimer/Adorno 2017: 184). Die Menschen auf der Strandpromenade in Nizza, in der Charlie Hebdo-Redaktion, in den Cafés und im Bataclan müssen nicht jüdisch sein, um aus antisemitischen Motiven ermordet zu werden. Geht es nach Sayyid Qutb, steht hinter allem Schädlichen ein Jude: »Behind the doctrine of atheistic materialism was a ‘Jew’; behind the doctrine of animalistic sexuality was a Jew; and behind the destruction of the family and the shattering of sacred relationships in society, […] was a Jew.« (Qutb: 83) Der Djihadismus bringt das Denken in zwei Polen zur Vollendung: Wer das Jüdische, also das, was dem Djihadisten der Jude ist, unterstützt, verkörpert oder wer es sogar ist, ist Kollaborateur*in und Agent*in der Jüd*innen und damit der Vernichtung preisgegeben. Es gilt ihnen, die Welt zu unterwerfen und in archaische Urformen zurückzuwerfen. Das antisemitische Racket des Djihadismus will die Welt unmittelbar beherrschen, das nichtkonforme Verhalten sanktionieren und eine weltumspannende Umma erschaffen. Doch während einer Überlebenden in der Charlie Hebdo-Redaktion das Versprechen abgepresst wurde, dass sie fortan den Koran läse und daher – fürs Erste – verschont bliebe, wird in Elsa Cayat das vermeintlich Abstrakte und Bedrohliche ausgelöscht: Für sie gibt es keine Besserung, kein Überleben. Der antisemitische Terror, der seit 9/11 in Europa wütet, ganze Konzertsäle und U-Bahnen vernichten möchte, der einzelne Menschen exekutiert und andere beiläufig in den Tod reißt, der die Straßen in aller 265
Merle Stöver
Welt zum Beben bringen und der das Individuum dem Erdboden gleichmachen will und sich mit selbstgebauten Sprengsätzen selbst vom Jüdischen befreien möchte und die Lust am Morden gleich einer Propagandashow mit Kameras festhält, offenbart es einmal mehr: Der Antisemitismus ist die Schicksalsfrage der Menschheit. Literatur Becker, Ulrich Jakov (2016): »Im 21. Jahrhundert wurden alle antisemitischen Morde in Europa von Moslems begangen« – Eine Analyse des israelischen Antisemitismus-Forscher Manfred Gerstenfeld, in: Jüdische Rundschau, http://juedische r undschau.de/im-21-jahrhundert-wurden-alle-antisemitischen-morde-in-europa-d urch-moslems-begangen-135910655/ (abgerufen am 17.09.18). Biermann, Kai/Faigle, Philip et al. (2015): Drei Tage Terror in Paris. Was geschah genau zwischen dem 7. und 9. Januar 2015? Der Versuch einer ersten Rekonstruktion, in: ZEIT online, https://www.zeit.de/feature/attentat-charlie-hebdo-re konstruktion (abgerufen am 17.09.18). Callimachi, Rukmini (2016): How ISIS Built the Machinery of Terror Under Europe’s Gaze, in: New York Times, https://www.nytimes.com/2016/03/29/world/eur ope/isis-attacks-paris-brussels.html (abgerufen am 17.09.18). Charbonnier, Stéphane (2015): Toujours pas d‘attentats en France, in: Charlie Hebdo, Nr. 1177, erschienen am 07.01.15. Conzen, Peter (2005): Fanatismus. Psychoanalyse eines unheimlichen Phänomens, Stuttgart. Dormal, Michel (2009): Terror und Politik. Eine politische Analyse des Islamismus aus Sicht einer Kritischen Theorie von Antisemitismus und totaler Herrschaft, Berlin. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1947): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Querido Verlag, Amsterdam. Kepel, Gilles (2016): Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa, München. Küntzel, Matthias (2003): Djihad und Judenhaß. Über den neuen antijüdischen Krieg, Freiburg. Küntzel, Matthias (2007): Islamischer Antisemitismus und deutsche Politik, Berlin. Malsin, Jared/Samuelson, Kate (2017): ISIS Claims Responsibility for Manchester Concert Terrorist Attack, in: Time, http://time.com/4790201/isis-manchester-co ncert-terrorist-attack/ (abgerufen am 17.09.18). Marz, Ulrike (2014): Kritik des islamischen Antisemitismus. Zur gesellschaftlichen Genese und Semantik des Antisemitismus in der Islamischen Republik Iran, Berlin.
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»Ihr seid Juden, ihr werdet heute alle sterben.« Der Antisemitismus hinter dem islamistischen Attentat in Paris Alina Saggerer
Am 9. Januar 2015 Am Mittag des 9. Januar 2015 verübte der Djihadist Amédy Coulibaly im koscheren Supermarkt Hyper Cacher in Paris an der Porte de Vincennes ein Attentat. Er stürmte den Supermarkt mit den Worten »Ihr wisst, wer ich bin« und »Ihr seid Juden, ihr werdet heute alle sterben« (Balmer 2015), erschoss vier jüdische Männer und nahm mehrere Personen als Geiseln. Am Morgen zuvor hatte er bereits eine Polizistin nahe einer jüdischen Schule in Montrouge im Süden von Paris erschossen. Der Attentäter starb noch am Tatort an einer Schussverletzung während eines Spezialeinsatzes der Polizei. Die Analyse dieses Attentats ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Es lässt sich als Teil einer Anschlagserie sehen, zu der ebenfalls der Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo am 7. Januar 2015, ausgeführt durch die Brüder Saïd und Chérif Kouachi und Coulibalys Erschießung der Polizistin am 8. Januar 2015 zählen. Ebenso reiht sich diese Serie hinter die islamistischen Anschläge vom 11. bis 19. März 2012, ausgeführt durch Mohamed Merah, die mit einem Anschlag auf eine jüdische Schule endeten sowie den Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel am 24. Mai 2014 verübt durch Mehdi Nemmouche, ein. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern in Betrachtnahme des Attentäters, seiner Entwicklung und des Attentats selbst die islamistische Radikalisierung erfolgen konnte und welche Rolle der Antisemitismus im Islamismus im Allgemeinen und in dem Attentat auf den Hyper Cacher im Besonderen spielt. Abschließend werden Überlegungen zur Bekämpfung und zum Umgang mit Islamismus und Antisemitismus angestellt.
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Der Täter Amédy Coulibaly, zum Zeitpunkt des Attentats 32 Jahre alt, wurde in Juvisy-sur-Orge geboren und wuchs als einziger Sohn unter zehn Kindern in einer Familie aus Mali in Grigny bei Paris auf. Seine Familie war muslimischen Glaubens, praktizierte diesen allerdings nicht streng (Kepel 2016: 239). Amédy wurde jedoch schon in seiner Jugend durch Raubüberfälle, Drogenhandel und seine Neigung zu Gewalt auffällig. Mit 18 Jahren verbüßte er wegen Diebstahl seine erste Haftstrafe, 2002 seine zweite wegen schweren Raubs und Hehlerei. Seine islamistische Radikalisierung begann allerdings erst später, als er in der Strafvollzugsanstalt Fleury-Mérogis, laut dem Soziologen Gilles Kepel eine »dschihadistischen Brutstätte« (Kepel 2016: 236), seine Haft für einen Banküberfall und weitere Raubüberfälle absaß. Im Januar 2005 lernte er hier Chérif Kouachi, den jüngeren Bruder der späteren Charlie-Hebdo-Attentäter und auch Djamel Beghal, einen alQaida Terroristen aus Algerien, kennen. Diese Kontakte, die er im Gefängnis knüpfte, waren der Auslöser für Coulibalys islamistische Radikalisierung. Nach seiner Entlassung brach er 2009 mit seiner Familie, mit der Begründung, sie seien ungläubig und gottlos. Gläubig waren für Coulibaly nur noch diejenigen, die ihren Glauben als radikal und fundamentalistisch verstanden, seine Familie zählte für ihn folglich nicht dazu. Etwa zur gleichen Zeit heiratete er Hayat Boumedienne, eine Kassiererin algerischer Herkunft. Boumedienne gilt als seine Komplizin. Sie floh noch vor dem Anschlag, nach ihr wird heute 2018, immer noch gefahndet. Kurze Zeit nach seinem Aufenthalt in der Haft von Fleury-Mérogis arbeitete Coulibaly für Coca-Cola und nahm am 15. Juli 2009 an einer Veranstaltung im Elysée Palast mit dem damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy teil, in der ehemalige Häftlinge für ihre gute Wiedereingliederung geehrt wurden. Er traf sich weiterhin mit Kouachi, Beghal und anderen Djihadisten und wurde 2013 abermals verhaftet und musste ins Gefängnis, da sie zusammen die Befreiung eines anderen Terroristen geplant hatten. 2014 wurde er jedoch frühzeitig entlassen und konnte sich ungehindert auf sein Attentat vorbereiten (Kepel 2016: 231ff.). Das Attentat Coulibalys mörderische Taten im Namen des Islamischen Staats begannen am Morgen des 8. Januar 2015 um zirka 8 Uhr mit der Erschießung einer Polizistin in Montrouge nahe einer jüdischen Schule. Clarissa Jean-Philippe war 26 Jahre alt, Stadtpolizistin, stammte von den französischen Antil270
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len und war zu diesem Zeitpunkt nicht bewaffnet. Nach ihrer Erschießung floh Coulibaly mit einem gestohlenen Auto. Außerdem brachte er einen Sprengsatz am Tank eines Autos an, das an diesem Tag in der Nähe des ersten Tatorts, in Villejuif explodierte. Bei dieser Explosion wurde niemand getötet. Den folgenreichsten Anschlag verübte er am Tag darauf, am 9. Januar als er gegen 13.30 Uhr den koscheren Supermarkt Hyper Cacher in Paris an der Porte de Vincennes stürmte. Ausgestattet mit Militärkleidung, zwei Kalaschnikow-Gewehren, zwei Handgranaten und einer Kamera, die am Bauch befestigt war, um die Tat zu filmen, betrat er das Geschäft und verkündete, dass heute alle sterben würden, weil sie Juden seien (Balmer 2015). 17 Personen waren zu diesem Zeitpunkt im Supermarkt, die er alle als Geiseln nahm und einzeln zwang, in die Kamera zu schauen und den Islamischen Staat zu grüßen. Als der 23-Jährige Mitarbeiter Yohan Cohen versuchte ihm das Gewehr abzunehmen, tötete er diesen mit einem Kopfschuss. Im weiteren Verlauf der Tat schoss er noch auf vier weitere Männer, drei davon starben. Während des Attentates gelang es allerdings auch einigen der Geiseln sich zu verstecken. Lassana Bathily, ein gläubiger Muslim mit malischen Wurzeln wie der Attentäter, arbeitete zum Zeitpunkt des Attentats seit vier Jahren im Hyper Cacher als Lagerist. Als der Attentäter den Laden stürmte, führte er gerade sein Mittagsgebet im Untergeschoss aus. Fünf Erwachsene und ein Kind konnten aus dem Laden ins Untergeschoss fliehen und wurden von Bathily, nachdem die Kühlung und das Licht ausgeschaltet wurden, in einem Kühlraum des Supermarktes versteckt. Gegen 15 Uhr rief Amédy Coulibaly den Fernsehsender BFMTV1 an und forderte Abzug für die Brüder Kouachi, die nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo geflüchtet waren und zur gleichen Zeit in einer Druckerei von einem Sondereinsatzkommando der Polizei umstellt waren, sonst würde er seine Geiseln töten. Während dieses Gesprächs gestand Amédy, Coulibaly Chérif und Saïd Kouachi zu kennen und sich in Bezug auf das Attentate mit ihnen abgestimmt zu haben. Er bestätigte seine Zugehörigkeit zum Islamischen Staat, und dass er den Hy-
1 Bei BFMTV handelt es sich um einen privaten 24h-Nachrichtensender, der dafür bekannt ist, mit seinen Echtzeitberichten Grenzen zu überschreiten. Oft wird ihm vorgeworfen mit der überdurchschnittlichen Berichterstattung über den Front National den Rechten indirekt in die Hände zu spielen. Der Sender sei laut der Wissenschaftlerin Valerie Robert »eine Art französische 'Bild'-Zeitung in bewegten Bildern« (Hurst 2016). Während der Flucht der Kouachis rief der Sender direkt in der Druckerei an und telefonierte mit Chérif Kouachi. Die Redaktion entschied sich beide Gespräche den Ermittlungen allein zu überlassen und veröffentlichten sie erst in Teilen nach dem Tod der Terroristen.
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per Cacher bewusst für einen Anschlag ausgewählt hätte. Außerdem erwähnte der Journalist von BFMTV während des Gesprächs, dass sich weitere Kund*innen versteckt hielten. Daraufhin beauftragte Coulibaly eine Supermarktangestellte unter Todesdrohung diese zu finden und zu ihm zu bringen.2 Einige der Versteckten gingen daraufhin mit in den Verkaufsraum, aber Bathily und weitere Kund*innen blieben im Kühlraum. Bathily wollte sich und die übrigen Personen aus dem Supermarkt retten, mit einem Lastenaufzug ließ er sich bis zum Notausgang hochfahren. Aber er floh letztendlich allein, weil die anderen Angst hatten, der Attentäter könnte das Geräusch des Aufzugs hören. Nachdem Bathily alleine durch den Notausgang entkommen war, wurde er von der Polizei verdächtigt, selbst der Attentäter zu sein, eineinhalb Stunden musste er in Handschellen ausharren, bis ein Kollege sich ebenfalls aus dem Supermarkt retten und ihn identifizieren konnte. Mit Hilfe der beiden Angestellten konnte das Sondereinsatzkommando der Polizei ihr weiteres Vorgehen und letztendlich die Beendung der Geiselnahme planen (Gasteiger 2015). Die Polizei bereitete sich bereits mit einer Eliteeinheit auf einen Spezialeinsatz zur Stürmung des Geschäfts vor. Die Polizei konnte, dadurch dass Coulibaly nach dem Gespräch mit BFMTV den Hörer nicht richtig auflegte, ab einem bestimmten Punkt das Attentat durch eine Tonaufnahme mitverfolgen. Nach fünf Stunden griff die Polizei ein, stürmte den Supermarkt und tötete Coulibaly. Die am 9. Januar getöteten Opfer waren ausschließlich jüdische Männer. Yohan Cohen (23 Jahre), ein Mitarbeiter wurde in Enghien-les-Bains geboren und seine Eltern stammten aus Tunesien und Algerien. Yoav Hattab (21 Jahre) war Elektriker und Sohn eines Rabbiners in Tunis, wo auch seine Familie lebte. Er lebte alleine in Paris und studierte Marketing. Der Mediziner Francios-Michel Saada (55 Jahre) war in Tunis geboren, Philip Braham (45 Jahre) arbeitete in einem IT-Beratungsunternehmen, seine Kinder gingen auf die jüdische Schule in Montrouge, nahe dem Attentat am Tag zuvor. Auch der Ladenbesitzer wurde angeschossen, überlebte aber seine Schussverletzungen (Balmer 2015).
2 Sechs der befreiten Geiseln verklagten den Sender nach dem Anschlag, da der Sender ihre Leben gefährdet hatte. Die Klage endete mit einer außergerichtlichen Einigung über Entschädigungszahlungen (Hurst 2016).
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Netzwerke und Entwicklung Gilles Kepel beschreibt in seinem Buch Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa drei Phasen des Djihadismus. Die erste Phase nennt er die des »nahen Feindes«. Diese Phase des Terrors in den 1990ern geht von den arabischen Gebieten, vor allem in Algerien und Ägypten aus. Doch als eine Machtübernahme der Islamisten dort scheiterte, beginnt eine neue Phase, in der die Djihadisten den »fernen Feind« zu bekämpfen versuchen. Der »ferne Feind« ist der Westen, die Moderne und deren Ideale und Wertevorstellungen. Es ist die Zeit von al-Qaida, die große und gut geplante Attentate in westlichen Ländern verüben und mit Osama bin Laden als führende Persönlichkeit eine pan-islamische Strategie verfolgen: alle Muslim*innen gegen »Juden und Kreuzzügler« (Schmidinger 2016: 73). Einen tragischen Höhepunkt der zweiten Phase zeigt der Anschlag am 11. September 2001 auf unter anderem das World Trade Center in New York City. Doch die Djihadisten verändern weiter ihre Strategie, da es unmöglich ist einen so viel größeren Feind, der über gute Abwehr- und Sicherheitsstrategien verfügt, zu bezwingen. Die dritte und bis heute währende Phase, die des »Lumpenterrorismus« (Kepel 2016: 234), ist internationaler Terrorismus von unten und international in dem Sinne, dass jede*r, egal wo wohnhaft sich beteiligen kann. Die pyramidale Organisiation tanzim, die al-Qaida verfolgte, ist gescheitert – das neue System nizam setzt auf eine netzartige Struktur und Dezentralisierung (vgl. ebd.). »Ziel des dschihadistischen Terrorismus ist die Implosion der französischen Gesellschaft, indem im Anschluss an die dschihadistischen Aktivisten die radikalisierten Nachkommen der retrokolonialen Einwanderung aus der muslimischen Welt mobilisiert werden. Zu ihnen sollten dann alle Unzufriedenen stoßen, die ein System hassten, das sie ausschloss.« (Kepel 2016 S. 231) In der dritten Phase spielt besonders die Frage eine Rolle, ob zuerst der nahe oder der ferne Feind bekämpft werden soll. Der Islamische Staat ist charakteristisch für diese dritte Phase, da er sich erst 2013 sowohl ideologisch als auch strategisch von al-Qaida abgrenzte. Im Gegensatz zu al-Qaida, prägend für die zweite Phase, setzt der IS darauf möglichst schnell ein möglichst großes Gebiet unter ihre Herrschaft zu bringen. Der »innere Feind« wurde also wieder stärker in den Fokus gerückt. Solange Ungläubige noch in Gebieten leben, die nicht vom IS kontrolliert werden, haben sie allerdings die Möglichkeit zu konvertieren und sich dem Djihadismus anzuschließen, sobald der IS aber über ein Gebiet herrscht, betreibt er »tafkik zum Exzess« (Schmidinger 2016: 73) und töten alle Ungläubigen auf die273
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sem Gebiet, auch Schiit*innen werden zu Nichtmuslim*innen erklärt und sind damit des Todes (vgl. ebd.: 74). Der Islamische Staat weist durch Endzeitverweise eine deutlich apokalyptische Weltanschauung auf. Ihre Propaganda preist nicht nur den Märtyrertod, sondern zeigt auf die Möglichkeit auf, durch den Kampf fürs Kalifat selbst zum verlängerten Arm Gottes zu werden und die Apokalypse schneller herbeizuführen. Die Gewaltdarstellung in ihrer Propaganda ist enorm, neben dem eigenen al-Hayat Media Center gibt es noch andere Kanäle, über die Filme und andere Medien in kurzer Zeit auf der ganzen Welt online verbreitet werden (vgl. ebd.: 75). »Während al-Qaida nur den Märtyrertod und das Paradies versprach, stellt der IS bereits davor Action, Spaß, Sex und den Status eines Actionhelden in Aussicht, der durch den anstehenden Märtyrertod ohnehin von seinen Sünden reingewaschen wird.« (ebd.: 76) Die Ansicht, dass durch den Märtyrertod alle anderen Sünden vergeben werden, weshalb seinen Spaß auszuleben Teil des djihadistischen Lebens ist, transportiert der IS in seiner Propaganda. Sie verbinden den Mechanismus der Ästhetik der westlichen Kulturindustrie mit ihrer Gewalt und Ideologie. Damit fällt sie besonders bei der jungen Generation und bei westlichen Djihadist*innen auf fruchtbaren Boden (vgl. ebd.). In der dritten Generation werden viele Muslim*innen in den Moscheen radikalisiert, wie auch die Kouachi Brüder in der al-Da‘ wa Moschee durch den Salafisten Farid Benyettou (Kepel 2016: 232f.). Mit dem Blick auf den Verbindungen zwischen den Phasen und Organisationen lassen sich auch die Entwicklung von Coulibaly, der als bekennender IS-Terrorist handelte, sowie Saïd und Chérif Kouachi, die im Auftrag von al-Qaida ihre Tat begingen, analysieren. Der Tatverlauf Coulibalys erinnert an das Vorgehen von Mohamed Merah, der in Toulouse und Montauban am 11. und 15. März 2012 erst Soldaten mit Migrationshintergrund tötete, bevor er am 19. März in die jüdische Schule in Toulouse stürmte, um hier fünf Menschen, darunter drei Kinder zu erschießen und einen 17-Jährigen schwer zu verletzen. Coulibalys erster Anschlag auf die Polizistin am 8. Januar ereignete sich in Montrouge in der Nähe einer jüdischen Schule. Es wird spekuliert, dass Coulibalys eigentliches Ziel damals die Schule war, doch dieser Plan nicht aufging und deswegen seine Wahl stattdessen auf den koscheren Supermarkt fiel (Balmer 2015). Außerdem verband er seine Tat mit einer erfolgreichen Öffentlichkeitsarbeit. Das Bekennervideo, das er vor dem Anschlag bei sich zuhause aufzeichnete, wurde postum bearbeitet und online gestellt und erinnert an die Videos von Omar Omsen, einem französischen Djihadistenanwerber. Seine Kompliz*innen nutzten es, um ihn als Märtyrer zu verherrlichen und das Video 274
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als Propaganda ins Internet zu stellen. Der IS selbst ehrte Coulibaly nach seinem Tod mit einem Nachruf im Internetmagazin Dabiq und in einer Ausgabe von Dar al-Islam (Kepel 2016: 235). Amédy Coulibaly wurde schon früh kriminell und sein Hass auf die Gesellschaft und den Staat setzte ein, als ein Polizist seinen Komplizen erschoss, als dieser versuchte einen Polizisten auf der Flucht zu überfahren. Später im Gefängnis lernte er vermutlich, dass ihm auch jenseits von Raub und Drogenhandel, nämlich im fundamentalistischen und militanten Islam eine sakrale Erlösung eröffnet werden könnte (Kepel 2016: 239). Hier wurde er durch Djamel Beghal, der von al-Qaida in der zweiten Phase nach Frankreich geschickt worden war, um dort Attentate zu verüben, radikalisiert. Beghal wurde von Geheimdiensten abgehört und verhaftet. Obwohl Beghal ein Stockwerk über Chérif Kouachi und Coulibaly in Isolationshaft saß, war es ihm möglich mit ihnen zu kommunizieren und sie so von den islamistischen Ideen weiter zu überzeugen und ihren Glauben zu radikalisieren. Er leitete im Gefängnis von Fleury-Mérogis, das was »seine Architektur und seine Insassen angeht, einer Banlieue mit Gittern vor den Fenstern« (ebd.: 237) gleicht, den Übergang in die dritte Generation ein. Während seines Gefängnisaufenthalts drehte Coulibaly heimlich eine Dokumentation über die Haftbedingungen, auf ihr basierend wurde das Buch Reality Taule – au-delà des barreaux (Die Realität im Gefängnis – Jenseits der Gitter) veröffentlicht. Durch die Veröffentlichung dieses Buches und seiner Tätigkeit bei Coca-Cola, machte es den Anschein, als sei er wieder in die Gesellschaft eingegliedert. Doch die Ehrung Coulibalys zeigt, wie die politischen Institutionen in der Bekämpfung des Djihadismus der dritten Generation scheiterten (ebd.: 241). Seine radikalisierte Ideologie ist ebenfalls Grund für den Bruch mit seiner Familie nach der Entlassung. Obwohl diese gläubig waren, wurden sie für ihn zu Ungläubigen und Feinden. Nach seiner Verbindung und Heirat kurz darauf mit Hayat Boumedienne, begannen sie gemeinsam terroristische Projekte zu planen und ein immer breiteres Verbindungsnetz aufzubauen. Kouachi, Coulibaly und Hayat Boumedienne besuchten auch nach der Entlassung noch regelmäßig den unter Hausarrest lebenden Beghal und planten zusammen die Flucht von Smaïn Aït Ali Belkacem, einem Djihadisten der ersten Generation. 2010 flog ihre Planung auf und sie wurden erneut verhaftet. Die Verbindung zwischen den Kouachis, Coulibaly, Beghal und Belkacem zeigt, dass die Phasen und deren Repräsentanten nicht strikt getrennt zu betrachten sind, sondern dass sie in Austausch miteinander standen und die Kämpfer der jüngeren Generation viel von den Älteren lernten.
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Antisemitismus Judenhass ist seit der Entstehungszeit im Islam zu finden. Im Koran werden die Krisen und der Untergang der islamischen Welt auf die Abkehr der Gesellschaft, der Individuen und der Politik von den wahren Werten der Religion zurückgeführt. Hierfür werden Jüd*innen verantwortlich gemacht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten den Bund mit Allah und den Muslim*innen gebrochen, das Wort Gottes entstellt und verdreht, allgemein seien sie betrügerisch und untreu. Bereits Mohammed hatte Konflikte mit jüdischen Stämmen, da seine Bekehrungsarbeit keine Früchte trug. Er bezeichnete Jüd*innen daraufhin als minderwertig und unbelehrbar und rechtfertigte so seine Angriffe auf ihre Stämme. In der Geschichte des Islam finden sich Diffamierungen von und Massaker an Jüd*innen, die durch religiöse Ressentiments und gesellschaftliche Neidgefühle ausgelöst wurden. Der Ursprung des frühen Judenhasses ist auf die Annahme der Inferiorität der Muslime zurückzuführen, allerdings sind nicht alle antisemitischen Narrationen von Muslim*innen heute auch muslimischen Ursprungs (Kiefer 2017).3 Islamismus existiert seit der Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten 1928 und nahm durch großflächige Anwerbung und Propaganda in den 1930er Jahren, sowie durch die Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten, zu. Antisemitismus ist allerdings nicht nur ein Problem der politischen Bewegung des Islamismus. Zum islamischen Antisemitismus heute gehören auch Theorien einer jüdischen Weltverschwörung und Bezüge auf u.a. die antisemitische Fälschung Protokolle der Weisen von Zion. Diese Narrationen haben ihren Ursprung im europäischen Antisemitismus und christlichen Antijudaismus, die während der Zeit der Kolonisierung in die islamisch geprägten Länder exportiert wurden und durch die bereits vorhandenen Vorurteile auf fruchtbaren Boden fielen (vgl. Pfahl-Traughber 2011: 112ff.). Der heutige Antisemitismus im Islam benutzt flexible Argumentationsmuster. Er verbindet eine Vielzahl von Ideologiefragmenten und religiösen Erzählungen (vgl. Kiefer 2017). »Behauptungen aus dem Propagandaarsenal des europäischen Antisemitismus wurden auf die gesellschaftliche und politische Situation in
3 Susanne Schröter hat sich weitergehend mit der Vertiefung der Frage beschäftigt, wie sich der Islamismus in den muslimischen Gemeinden in Europa darstellt und organisiert (Schröter 2018). Samuel Salzborn geht ebenfalls in seinem Buch Globaler Antisemitismus in einem Kapitel auf den islamischen Antisemitismus und seine Geschichte und Entwicklung bis heute ein (Salzborn 2018).
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der arabischen Welt übertragen. Anlass hierfür boten die Abwehrbestrebungen gegen die jüdische Einwanderung.« (Pfahl-Traughber 2011: 121) Diese Übertragung markiert einen wichtigen Punkt für die Entstehung des islamischen Antisemitismus und letztendlich auch des Islamismus und hierfür war maßgeblich die Zusammenarbeit des Muftis von Jerusalem, Amin el-Husseini mit den Nationalsozialisten in Deutschland verantwortlich. Die Nationalsozialisten haben damals versucht Verbündete gegen den Peel-Plan von Großbritannien, der eine Zwei-Staaten-Lösung mit jüdischem Teilstaat vorsah, zu finden. Hierfür verbreiteten die Nazis das 31-seitige Pamphlet Islam – Judentum. Aufruf des Großmuftis an die islamische Welt im Jahre 1937, das als das erste wichtige Dokument des islamischen Antisemitismus gilt (vgl. Küntzel 2018: online). Der Antisemitismus gehört nicht nur zu der Geschichte des Islam, sondern bildet auch einen festen und begründenden Bestandteil des Islamismus: »Die radikalislamische Bewegung beweist heute praktisch, was ihren Programmen schon immer zu entnehmen war: Dass sie antisemitisch ausgerichtet ist und Menschen allein deshalb tötet, weil sie Juden sind.« (Küntzel 2007: 36) Der Djihadismus formuliert seine Kampfansage allerdings nicht allein gegen »die Juden«, sondern auch gegen die Aufklärung, Freiheit, die Moderne und die westlichen Gesellschaften. Aber dennoch »erscheint [in der islamistischen Ideologie, A.S.] der zionistische Staat als Konkretisierung der gottlosen und amoralischen Moderne« (Kiefer 2002: 124). Antisemitismus wird so zu einem Kampf gegen die Moderne, alles Moderne wird als schlecht und somit jüdisch begriffen und zum Hauptgegner erklärt. Der Islamismus fordert den Islam als verbindliche Leitlinie für das individuelle, gesellschaftliche Leben, die Scharia als geltendes Gesetz und lehnt westliche politische Systeme, sowie westliche Normen und Wertevorstellungen wie Demokratie, Individualisierung, Menschenrechte, Pluralismus und Säkularisierung in Gänze ab. Es lässt sich jedoch keine klare Grenze zwischen Islamismus als politischer Bewegung und dem Islam als spezifische Religion in dieser Hinsicht ziehen, da die politische Auslegung des Islam sowie die Verknüpfung von religiösen und politischen Elementen schon seit seiner Entstehungszeit Teil des Islam gewesen ist (vgl. Pfahl-Traughber 2011: 115). Doch nicht immer war der Judenhass so präsent wie in seiner heutigen Form des islamischen Antisemitismus. Dieser entstand aus den bereits vorhandenen Vorurteilen und dem modernen europäischen Antisemitismus und »wäre ohne eine ökonomische Entwicklung, die einen An277
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tikapitalismus hervorbrachte, der ohne die marxsche Wert- und Kapitalismuskritik notwendig zu einem verkürzten Antikapitalismus wurde, nicht denkbar« (Schmidinger 2008: 117). Der antisemitische Gehalt der Tat, die hier behandelt wird, die antisemitische Motivation und die antisemitische Weltanschauung Coulibalys offenbaren sich auf den ersten Blick. Nicht nur die Auswahl eines koscheren Geschäfts, auch seine Anmerkungen und verbalen Äußerungen während des Attentats machen es deutlich: sein Hass auf die Gesellschaft und den Staat wurde durch seine islamistische Radikalisierung auf »die Juden« projiziert; die wollte er töten. »Ihr seid Juden, ihr werdet heute alle sterben.«, war einer seiner ersten Sätze nachdem er das Geschäft gestürmt hatte. Er rief bei BFMTV an um mit der Polizei in Kontakt zu treten, die Journalist*innen stellten noch weitere Fragen u.a. zu seinen Beweggründen: BFMTV: Haben Sie das Geschäft aus einem bestimmten Grund ausgesucht? Coulibaly: Ja. Die Juden. Wegen der Unterdrückung, vor allem des Islamischen Staats, aber überall. Es ist für alle Gegenden, wo Muslime unterdrückt werden. Palästina gehört dazu. (o.A. 2015: Telefonat von Coulibaly mit TV-Sender. Die Motive der Terroristen. online) Diese Projektion ist ein eindeutiges Merkmal des Antisemitismus; der Antisemit begreift »die Juden« als »das absolut Böse«, als »negatives Prinzip als solches«, so werden sie zum »auserwählten[n] Volk« erklärt, von dessen Ausrottung das Glück der Welt abhängen soll (Horkheimer/Adorno 1997: 177). Das warenvermittelte Herrschaftsverhältnis löste in der kapitalistischen Moderne das personale Herrschaftsverhältnis ab, so kommt es auf der Suche nach einer Erklärung zu dem hallzuinierten Feindbild (Schmidinger 2008: 117). »Während es der Herrschaft ökonomisch nicht mehr bedürfte, werden die Juden als deren absolutes Objekt bestimmt, mit dem bloß noch verfahren werden soll« (Horkheimer/Adorno 1997: 177). Coulibaly war deswegen der Auffassung, dass »die Juden« an aller Unterdrückung, allem Schlechten Schuld sind, ihm fehlte die Fähigkeit zu reflektieren: »So kann er nichts projizieren als das eigenen Unglück, von dessen ihm selbst einwohnenden Grund er […] abgeschnitten ist« (ebd.: 201). Anstelle der fehlenden Reflexion tritt eine pathische Projektion, die seinen gesamten Hass kanalisiert. »Die Antisemiten sind dabei, ihr negativ Absolutes aus eigener Macht zu verwirklichen, sie verwandeln die Welt in die Hölle, als welche sie sie schon immer sahen« (ebd.: 209). Armin Pfahl-Traughber beschreibt vier Funktionen des Antisemitismus im islamistischen Diskurs: Identitäts-, Erkenntnis-, Legitimations- und Manipulationsfunktion. Die pathische Projektion wird als Identitätsfunktion 278
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definiert, die sich dadurch zeigt, dass versucht wird sich von Jüd*innen abzugrenzen, indem man sich als Opfer empfindet und dafür einen Schuldigen sucht. Antisemit*innen fühlen sich in diesem Fall in ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung als Verlierer*innen gegenüber Israel und den westlichen Gesellschaften. Sie projizieren ihre Feindbilder auf »die Juden«, um sich selbst moralisch, politisch und religiös aufzuwerten (Pfahl-Traughber 2011: 132). Desweiteren entsteht Coulibalys Hass auf die französische Gesellschaft und den Staat durch seine Erfahrungen mit der Polizei entstand (Kepel 2016: 239). Er wurde durch die islamistische Radikalisierung zu einer Selbstwahrnehmung als Opfer und zu der vermeintlichen Erkenntnis, dem Verschwörungsdenken, dass an der westlichen Gesellschafts- und Staatsordnung, sowie an den Krisen in den islamisch geprägten Regionen nur »die Juden« Schuld sein können (Erkenntnisfunktion). »Statt einer komplexen und selbstkritischen Erklärung dienen Konspirationsvorstellungen auch über den antisemitischen Diskurs hinaus zur ideologisch verzerrten Interpretation der Wirklichkeit« (Pfahl-Traughber 2011 S. 132f.). Daraus folgt die Legitimation antisemitischer Handlungen (Legitimationsfunktion). Coulibaly rechtfertigt das Attentat durch die vermeintliche Unterdrückung der muslimischen Welt durch »die Juden«. »Ziel der Anschlagsreihe war die Unterminierung der Grundlagen des Gesellschafts- und Politikvertrags, durch die sich die französische Gesellschaft definiert, und über Frankreich hinaus die Unterminierung der europäischen und westlichen Gesellschaften allgemein.« (Kepel 2016: 231) Die Manipulationsfunktion wird genutzt, um von internen politischen Ursachen, die eigentlich für die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen in islamischen Ländern verantwortlich sind, abzulenken (vgl. Pfahl-Traughber 2011 S. 132f.). Die Funktion wird von den politischen Machthabern innerhalb radikal-islamischer Strukturen genutzt. Resümee Das militärische Eingreifen der USA nach 9/11 hat die Infrastruktur der Djihadisten überwiegend zerstört und die Akteure von al-Qaida in die Schranken gewiesen, all das konnte jedoch trotzdem den weiteren Vormarsch des Djihadismus nicht verhindern. In Frankreich wandern immer mehr Jüd*innen u.a. nach Israel aus, weil sie sich nicht mehr wohl und sicher fühlen und dies nicht allein wegen der Zunahme des islamistischen Terrors, sowohl große Attentate als auch Verbrechen an jüdischen Indivi279
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duen, sondern ebenfalls durch vermehrte antisemitische Anfeindungen und Angriffe im Alltag (vgl. Balmer 2015). Antisemitismus, besonders der islamische Antisemitismus wurde seit 9/11 nicht weitergehend in der Öffentlichkeit problematisiert und kritisiert, der Kampf gegen Antisemitismus wird im Kampf gegen den Djihadismus viel zu wenig mitgedacht. Ohne ein flächendeckendes Vorgehen gegen jeden Antisemitismus, wird der Djihadismus nicht zu besiegen sein (vgl. Küntzel 2007: 145). Den Islam gegen jede Form von Kritik zu immunisieren, verhindert die Bekämpfung des Antisemitismus. Es muss also zwischen berechtigter und notwendiger Kritik an anti-muslimischen Ressentiments und gegen Muslim*innen gerichtetem Rassismus und Kritik an der islamistischen Intention Freiheit und Aufklärung abzuwehren, unterschieden werden. Besonders radikal-islamische Organisationen inszenieren sich selbst als Opfer, um eben diese Grenze zu verwischen (Salzborn 2018: 133ff.). »Wer Judenhass zum Bestandteil einer 'antirassistisch geschützten Zone' erklärt, anstatt innerhalb muslimischer Gemeinschaften zwischen Antisemiten und Nicht-Antisemiten zu differenzieren, befördert den Antisemitismus und Rassismus zugleich.« (Küntzel 2007: 37) Für den Islam ist es notwendig auf den weltlichen Herrschaftsanspruch zu verzichten und zu begreifen, dass die heiligen Schriften von Menschen und nicht von einer Gottheit persönlich geschrieben wurden (vgl. Salzborn 2018: 121f.). Eine eklektizistische und literalistische Lesart der Islamisten, aber auch der Islamkritiker*innen muss unterbunden werden und eine Lehre gefördert werden, die antijüdischen Stellen verwirft und ebenfalls kritisiert (vgl. Kiefer 2017). Wenn über den Antisemitismus im Islamismus berichtet wird, sollte nicht ausgelassen werden, dass auch weit über die radikal-islamischen und djihadistischen Lager hinaus Antisemitismus ein Problem eines großen Teils der islamischen Communities darstellt und der islamische Antisemitismus Muslim*innen schneller empfänglich macht für Gewalt und Islamismus: »Die besondere Gefährlichkeit des islamistischen Diskurses hinsichtlich der möglichen Wirkung ergibt sich dadurch, dass die Judenfeindschaft zum einen an weit verbreitete antisemitische Stereotype in der arabischen Öffentlichkeit anknüpfen kann und zum anderen die Frühgeschichte des Islam als theologische Grundlage der Religion solche Anknüpfungspunkte enthält. Damit bietet sich dem islamistischen Diskurs gegenüber dem gläubigen Muslim eine Basis zur Kommunikation.« (Pfahl-Traughber 2011 S. 134) 280
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Die Erklärung des islamischen Antisemitismus sollte allerdings auch nicht allein aus der Religionszugehörigkeit abgeleitet werden, sondern auch Sozialisation im Herkunftsland, Bildungshintergrund, Medienkonsum sollten einbezogen werden. Die Religion ist ein wichtiger Faktor, der auch die anderen Faktoren beeinflussen kann, erklärt aber nicht grundsätzlich den Antisemitismus (vgl. Kiefer 2017). Es verlangt also nach einer Berichterstattung, die einerseits den Antisemitismus im Islamismus eindeutig thematisiert, also Attentate wie das auf den Hyper Cacher auch als antisemitisch benennt und vor allem genauer darüber berichtet, warum sich der Attentäter in diesem Fall z.B. ein koscheres Geschäft ausgesucht hat. Es bedarf politischer Handlungen, die Radikalisierung vorbeugen, sowohl in den Gefängnissen, Schulen und Gemeinden, als auch durch bessere und gerechtere Bedingungen in den Banlieues und anderen Gebieten, in denen viele muslimische Migrant*innen leben. Die Radikalisierung erfolgt auch aus einer Entfremdungserfahrung durch Ausgrenzung und Diskriminierung, denn diese macht ebenfalls empfänglich für die islamistische Propaganda (vgl. Schmidinger 2016: 126). Muslimische Gemeinden müssen außerdem vor Hasspredigern und Salafisten besser geschützt werden, die eine »Pädagogik der Unterwerfung« anwenden um ihre Identität eindeutig von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen (vgl. Ceylan et al. 2017). Der Antisemitismus unter Migrant*innen aus islamisch geprägten Ländern kann einerseits Anschluss an antisemitische Gruppierungen in Europa finden, sowohl bei Rechtsextremen, als auch bei linken anti-imperialistischen Gruppen (vgl. Schmidinger 2008: 139). Es sollte verhindert werden, dass erstens der alte europäische Antisemitismus in seiner islamisierten Form nicht weiter in die Gesellschaft eindringen kann und zweitens, dass es in Europa nicht zu neuen politischen Konstellationen kommt, die sich in ihrem Antisemitismus verbinden (vgl. ebd.). Literatur Balmer, Rudolph (2015): In der Heimat nicht mehr sicher, in: TAZ, 12.01., S. 2. Ceylan, Rauf et al. (2017): Europas Radikalisierer, in: DIE ZEIT, 14/2017, S. 54. Charbonnier, Stéphane (2015): Toujours pas d‘attentats en France, in: Charlie Hebdo, Nr. 1177 vom 07.01.15, S. 7. Gasteiger, Carolin (2015): Held aus dem Supermarkt-Keller, in: Süddeutsche Zeitung (Deutschland), 12.01., S. 5.
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Alina Saggerer Gensing, Patrick (2016): Ursachen für den Terror in Frankreich. Von Antisemitismus bis Banlieues, online erschienen, https://www.tagesschau.de/ausland/frankr eich-terror-ursachen-101.html (abgerufen am 05.07.2018). Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1997): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt. Hurst, Fabienne (2016): Was immer geschieht, sie sind live dabei, in: FAZ, 05.08., Nr. 181, S. 16. Kepel, Gilles (2016): Terror in Frankreich: Der neue Dschihad in Europa, München. Klasen, Oliver (2015): Wer War Amedy Coulibaly?, online erschienen, http://www. sueddeutsche.de/panorama/geiselnehmer-im-supermarkt-in-paris-wer-war-amedy -coulibaly-1.2298322 (abgerufen am 05.07.2018). Kiefer, Michael (2002): Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften. Der Palästina-Konflikt und der Transfer eines Feindbildes, Düsseldorf. Kiefer, Michael (2017): Islam und Antisemitismus. Der Islam ist nicht pauschal antisemitisch, in: Frankfurter Rundschau, 20.12., S. 33. Küntzel, Matthias (2003): Djihad und Judenhass. Über den neuen antijüdischen Krieg, Freiburg. Küntzel, Matthias (2007): Islamischer Antisemitismus und deutsche Politik: »Heimliches Einverständnis«?, Münster. Küntzel, Matthias (2018): Islamischer Antisemitismus – was ihn ausmacht und wie er entstand, online erschienen, http://www.matthiaskuentzel.de/contents/islamis cher-antisemitismus%20was%20ihn%20ausmacht%20und%20wie%20er%20ents tand (abgerufen am 11.12.2018). Markl, Florian (2016): Wie eine Polizistin unwissentlich ein Massaker in einer jüdischen Schule verhinderte und dafür mit ihrem Leben bezahlte, online erschienen, https://www.mena-watch.com/mena-analysen-beitraege/wie-eine-polizistinunwissentlich-ein-massaker-in-einer-juedischen-schule-verhinderte-und-dafuer-m it-ihrem-leben-bezahlte/ (abgerufen am 11.12.2018). Pfahl-Traughber, Armin (2011): Antisemitismus im Islamismus. Ideengeschichtliche Bedingungsfaktoren und agitatorische Erscheinungsformen, in: Helmut Fünfsinn/Armin Pfahl-Traughber (Hg.): Extremismus und Terrorismus als Herausforderung für Gesellschaft und Justiz. Antisemitismus im Extremismus, Brühl, S. 112–134. Polke-Majewski, Karsten et al. (2015): Drei Tage Terror in Paris, online erschienen, https://www.zeit.de/feature/attentat-charlie-hebdo-rekonstruktion (abgerufen am 11.12.2018). o.A. (2015): Telefonat von Coulibaly mit TV-Sender. Die Motive der Terroristen, online erschienen, https://www.tagesschau.de/ausland/coulibaly-telefonat-101.ht ml (abgerufen am 05.07.2018). o.A. (2018): PARIS TERROR – Die Geiseln vom Hyper Cacher, online erschienen, https://www1.wdr.de/fernsehen/hier-und-heute-reportage/projekte/vr-paris-terro r-100.html (abgerufen am 05.07.2018).
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Der Antisemitismus hinter dem islamistischen Attentat in Paris Salzborn, Samuel (2018): Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne, Berlin. Schmidinger, Thomas (2008): Zur Islamisierung des Antisemitismus, in: Andreas Peham/Christine Schindler/Karin Stögner (Hg.): Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Jahrbuch 2008. Schwerpunkt Antisemitismus, Wien, S. 103–139. Schmidinger, Thomas (2016): Jihadismus. Ideologie, Prävention und Deradikalisierung, Wien. Schröter, Susanne (2018): Islamischer Fundamentalismus, in: Zentralrat der Juden in Deutschland (Hg.): Jüdische Bildungslandschaften. Berlin, S. 331–353.
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Antiamerikanismus in Deutschland. Zur Verschränkung zweier Ideologien nach 9/11 Hanna Brögeler/Jessin Boumaza
Brian O’Conner beschreibt in »The rise of Antiamericanism« die aktuelle Phase von gewaltsamem Antiamerikanismus, symbolisiert durch die Anschläge von 9/11 und erkennt in der Einkehr des antiamerikanischen Terrors eine signifikante Veränderung der Qualität von Antiamerikanismus (O’Conner 2005: 18). Er beobachtet, dass die explizit religiösen Motive der Anschläge meist ausgeblendet werden um zu scheinbar tiefgängigeren Erklärungen, wie der Schuld der Amerikaner durchzudringen. Gewaltsamer Antiamerikanismus bedeutet, dass Antiamerikanismus empirisch das Element der Vernichtung beinhaltet. So wird mit den Anschlägen vom 11. September als größtem antiamerikanischen Anschlag deutlich, dass es sich beim Antiamerikanismus scheinbar um eine Ideologie handelt, die in Konsequenz ausgeführt Menschenleben fordert. Einen weiteren Hinweis auf die impliziten Vernichtungsphantasien geben die Beschreibungen Dan Diners der weltweiten Freudenbekundungen zum 11. September (Diner 2002: 180). In Fällen von Trauer und Mitleidsbekundungen beschreibt er ein schnelles Umschlagen zu Freude, was erahnen lässt, wie stark das latente Ressentiment gegenüber den USA bereits vorhanden war. In der Freude und den unterschiedlichen Apologien antiamerikanischen Terrors, lässt sich in den Reaktionen zu 9/11 nachträglich das Moment eines (ehemaligen) Vernichtungswunsches feststellen, der durch die Anschläge bereits verwirklicht wurde. Vernichtung muss als Konsequenz antiamerikanischer Ressentiments angenommen werden. In der Affirmation des Terrors, wurden die Vernichtungsphantasien retrospektiv gewissermaßen schon erfüllt. Indem die ideologische Erklärung diesen affirmiert, werden die Terroranschläge entschuldigt. Dabei ist auch eine implizite Islamismus-Apologie zu konstatieren. Denn es wird, wie Postone beschreibt »weder das Weltbild hinterfragt, das diese Gewalt motiviert, noch eine kritische Analyse der Politik geleistet, die sich in der gezielten Gewalt gegen Zivilisten ausdrückt.« (Postone 2005: 2) Aus explizit formulierten religiösen Gründen wird ein Anschlag verübt, in den deutschen Medien wird Islamismus aber nicht weiter thematisiert,
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Hanna Brögeler/Jessin Boumaza
analysiert oder verantwortlich gemacht. Linke Gruppen haben sich auf unterschiedliche Weise apologetisch bis positiv auf die Terroristen bezogen, da sie in ihnen einen Widerstand gegen den Kapitalismus auszumachen meinen. Gesellschaftlich betrachtet wurde nicht deutlich, dass diese Form von scheinbaren Kausalitäten einen Terroranschlag affirmierte. Trotzdem gelang es, die meist unbewussten Vernichtungswünsche durch eine Distanz zu den Terroristen zu verschleiern. Denn so schlimm wie die Terroristen war man definitiv nicht, man wurde ja selbst nicht tätlich gegenüber AmerikanerInnen. Antiamerikanismus in Deutschland Die in der deutschen Öffentlichkeit zirkulierenden Vorstellungen von den USA sind zumeist verzerrt, von Ambivalenz und verallgemeinernden Urteilen geprägt. Vielfach sind zudem manifeste antiamerikanischen Ressentiments auszumachen (vgl. Knappertsbusch 2016). Diese Ressentiments wurde in Deutschland über Jahrhunderte hinweg tradiert und es scheint notwendig die »Vorgänge[n] des eigenen Landes zu erklären und die tendenziösen Hintergrundfaktoren anti-amerikanischer Äußerungen zu analysieren« (Moltmann 1976: 85). Seit der Entdeckung, Kolonisierung und Beherrschung des nordamerikanischen Kontinents durch EuropäerInnen war das Bild Nordamerikas, der Neuen Welt, tendenziell positiv besetzt und Projektionsfläche von Hoffnungen und Utopien (vgl. Diner 2002: 13–16).1 Mit der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der damit verbundenen Autonomie gegenüber dem Alten Europa setzte ein Wandel in der Wahrnehmung der USA ein und beförderte eine antiamerikanische Geistesströmung in Europa. In dieser kulturpessimistischen Denkform wurden und werden die USA – sowohl als Staatsgebilde als auch als Gesellschaftsform – vermehrt als Antagonist zur europäischen Kulturgeschichte bestimmt (vgl. Diner 2003: 16f.; Fraenkel 1959: 11f.). Dieser anti-moderne und reaktionäre Kulturpessimismus, der den Verlust tradierter Hierarchien – des Klerus, der Aristokratie und des frühen Bürgertum – beklagte, verstand die USA als kultur- und geschichtslose Nation, als das Land eines traditionslosen Volkes, als Sphäre der Gleichmacherei und Überindividualisierung;
1 Als früher demokratischer Staat war Amerika schon immer eine Art Sehnsuchtsort der Freiheit für Teile der deutschen Bevölkerung, was zu großen Auswanderungswellen im 19. Jahrhundert führte (bspw. 1848er).
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Antiamerikanismus in Deutschland. Zur Verschränkung zweier Ideologien nach 9/11
kurz als gesellschaftlichen Atavismus, als »das Ende wahren Menschentums« (Schwaabe 2003: 25). In diesem Weltbild wurde die amerikanische Bevölkerung als Antagonist verstanden werden, waren doch die vornehmlich aus Europa kommenden MigrantInnen – die in ihren Herkunftsländern politischen, ökonomischen und religiösen Repression ausgesetzt waren – auf der Suche nach politischer, persönlicher und sozialer Freiheit. Dass die USA – losgelöst vom Mutterland – zu einem Hegemon in einer neuen globalen Ordnung aufstiegen und Europa nicht mehr der Mittelpunkt der Welt- und Kulturgeschichte war, bestärkte und förderte die Ressentiments. Dieser kulturpessimistische Grundkonsens des antiamerikanischen Ressentiments entwickelte je nationalem Kollektiv, historisch und ideengeschichtlich bedingte Eigenarten. So sind die Ressentiments gegenüber den USA im deutschsprachigen Raum vielfach durch eine Abgrenzung gegenüber dem westlichen Europa (vgl. Schwaabe 2003: 23) doch besonders gegenüber dem angelsächsischen Kulturraum geprägt. In der Hochphase des europäischen Imperialismus und der globalen Herrschaft des Britischen Imperiums galt der industrielle wie technologische Fortschritt und die geopolitische Vormachtstellung des Britischen Imperiums den reaktionären Denkern im Deutschen Kaiserreich als vorbildhaft. Advers wurden die liberalen und parlamentarischen Elemente und das Unternehmertum des Britischen Imperiums mit Misstrauen und Missachtung begegnet.2 Den bürgerlich konservativen und reaktionären Strömungen im Deutschen Kaiserreich galt das Britische Imperium als Vorbote einer kapitalistischen, maschinisierten und global agierenden Gesellschaft. Zusehends wurde die Kritik an der Moderne mit der an den Engländern in eins gesetzt. Die antiwestliche (anti-moderne) Ideologie, die heute unter dem Begriff Konservative Revolution3 gefasst wird – und ihr in Teilen auch die Nationalsozialisten folgten – tradierten den Gedanken des Gegensatzes einer germanischen und einer angelsächsischen Welt. Exemplarisch hierfür steht etwa das Buch »Händler und Helden: patriotische Besinnungen« (1915) des – ehe-
2 In der Borussischen Schule der deutschsprachigen teleologisch ausgerichteten Geschichtsschreibung (Heinrich von Treitschke, Gustav Droysen, Heinrich von Sybel, u. A.) war dies ein gängiges Motiv und wurde vielfach mit der Mahnung an den Zerfall der deutschen Kultur verbunden. 3 Der Historiker Volker Weiß beschrieb in seinen Büchern »Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes« (2017) und »Moderne Antimoderne. Arthur Moeller van den Bruck und der Wandel des Konservatismus.« (2012) detailliert die Ideologie dieser Konservativen Revolution und ihren Einfluss auf die als Neue Rechte bezeichneten politischen Strömungen.
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dem renommierten und später mit den Nationalsozialisten kollaborierenden – Soziologen und Volkswirt Werner Sombart. In dieser von Idealismus und Heroismus geprägten Polemik werden die Engländer als Träger des Händlertums identifiziert, die Helden sind freilich die Deutschen. Bereits in seinem Werk »Die Juden und das Wirtschaftsleben« (1911) verknüpft Sombart seine kulturpessimistischen Ansichten mit anti-kapitalistischen Motiven, die ein rassisches und antisemitisches Weltbild offenbaren. Besonders an diesen Feindbildern war (und ist), dass sie in ihrer vermeintlichen Identität wandelbar sind, jedoch stets Ausdruck eines Ressentiments und Grolls gegenüber den als negativ wahrgenommen und/oder tatsächliche negativen Phänomen der Moderne. Die Kontinuität ist die Identifizierung einer negativen Moderne mit einem konkreten Staat – der britischen und später der amerikanischen Hegemonie – und eine daran anknüpfende Personalisierung mit den Juden: »Der antiwestliche Grundzug der deutschen Zivilisationskritik […] hat wenig Mühe, ein und die selben Wesenszüge bald den Engländern, bald den Amerikanern, und zunehmend auch den Juden zuzuschreiben.« (Schwaabe 2003: 24). Dieses personalisierte Feindbild, das sich gegen die Moderne richtet, wurde auch unverhohlen unter dem Eintrag Amerikanismus im Historischen Schlagwörterbuch von Otto Ladendorf aus dem Jahr 1906 festgehalten: »[d]er ideallose amerikanische Mensch […] wird auch im alten Europa der Mensch der Zukunft sein; heute kann man schon im gewissen Sinne den Juden als den Vertreter des Amerikanismus bei uns bezeichnen. Verjudung heißt eigentlich Amerikanisierung.« (Ladendorf 1906: 5) Spätestens mit dem Schwinden der hegemonialen Stellung des Britischen Imperiums wurde die Position zu den USA positiv gewendet, zumindest wenn es den realpolitischen Interessen der Deutschen einen zu erwartenden Vorteil brachte (Fraenkel 1959: 22–39). Die Wendung hin zu den USA ist etwa bei Arthur Moeller van den Bruck4 zu finden. Mit seiner Schrift »Das Recht der jungen Völker« versucht er eine positive Verbindung zwischen den »jungen Völkern« Russland, den USA und der Weimarer Republik zu
4 Arthur Moeller van den Bruck war ein deutscher Kulturhistoriker, Staatstheoretiker und völkisch-nationalistischer Publizist. Er ist einer der bedeutendsten Vertreter der so genannten Konservativen Revolution. Sein Denken hat bis heute Einfluss auf die Neue Rechte.
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konstruieren und ihr Recht sich außen wie innenpolitisches gegen die »alten Völker« wie Frankreich, Großbritannien zu behaupten. Die partiell positive Einstellung zu den USA hielt jedoch nur solange an, wie die USA noch als Antagonist zum Britischen Imperium wahrgenommen wurden und die USA eine Politik der Nicht-Intervention (Monroe-Doktrin) verfolgten. Mit dem Kriegseintritt der USA in den Ersten Weltkrieg und der Niederlage des Deutschen Kaiserreiches änderten sich die realpolitischen Verhältnisse endgültig. Für Arthur Moeller van den Bruck bedeutete der Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg eine Aufgabe des Nationalismus zu Gunsten imperialer Bestrebungen (vgl. Moeller van den Bruck 1919: 40). Der fortschreitende technologische und industrielle Fortschritt der USA führte zu einer politischen und ökonomischen Vormachtstellung und verstärkte das Zerrbild der USA. In den Jahren der Weimarer Republik war der Diskurs über eine vermeintliche Amerikanisierung weit verbreitet jedoch nicht zwangsläufig negativ konnotiert. Auf der einen Seite stand die Begeisterung für die neue Kultur, für neue Technologie und Konsumismus, auf der anderen Seite eine ablehnende Haltung gegenüber liberaleren Werten und neuern, modernen und sozialeren Ordnungen. In diesem Spannungsfeld der Moderne entwickelten sich in bürgerlich intellektuellen Kreisen neue Ideologien, wie etwa die Lebensreform und jene Geistesströmung die der Historiker Jeffrey Herf als »reaktionären Modernismus« (1986) bezeichnet. Herf fasst hierunter Ideologeme zusammen, die postulierten, dass Deutschland technische Modernität auch ohne die Werte und Institutionen der Moderne, nämlich der Aufklärung erlangen könnte. Eben jener anti-moderne vom Idealismus wie vom Fatalismus geprägte Einfluss beförderte antiamerikanische Ressentiments; so divers diese Ressentiments in seiner Manifestation waren, so ist es als »Element einer ambivalenten, vornehmlich aber feindseligen, durch Angst bestimmten Reaktion auf die Moderne" (Diner 2002: 9) zu verstehen. Dass diese Ideologien Nährboden fanden, ist unter anderem auf weitreichende Entfremdungsprozesse (die strukturelle Kopplung von Mensch und Maschine am Arbeitsplatz, die steigende Anonymität in den Großstädten, die Auflösung stabiler sozialer Rollen und die Erosion tradierter Familienmodelle) in Zeiten der Industrialisierung zurückzuführen. Doch auch das Gefühl der Selbstentfremdung durch Vereinzelung, Abgegrenztheit und die zunehmend als fremdbestimmt empfundenen Lebensumstände sind als Faktoren auszumachen. Der rasante und tiefgreifende Umbruch der gesellschaftlichen Verhältnisse führte zu einem gesellschaftlichen Spannungszustand und beförderte das Unbehagen gegenüber der Moderne in der Weimarer Republik, 289
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»das Problem der Entfremdung, die Schwierigkeit, mit der Vielfalt und dem Wechsel der Rollen fertig zu werden, unser Verhalten ohne dauernde Reflexion verläßlich zu regeln, Stabilität und Identität im Wandel zu behaupten, persönliche Beziehungen und Zugehörigkeiten in einer spezialisierten und abstrakten Welt zu erfahren, Glück und Sinn, kurz: sich in der Welt zu Hause zu fühlen. Diese Krise war in Deutschland besonders stark.« (Nipperdey 1979: 300) Im Nationalsozialismus gehörte der – offen mit antisemitischem Wahn aufgeladene – Antiamerikanismus in der Praxis zum Staatsverständnis (vgl. Diner 2002: 90ff.). Freilich wurde hierbei auch auf die Vordenker aus dem Deutschen Kaiserreich respektive der Weimarer Republik Bezug genommen. In der BRD nach 1945 ist das öffentliche und politische Verhältnis zu den USA, zumindest an der Oberfläche, ein positives5. Einerseits durch eine – durch die USA gewährleistete – rechtsstaatliche Sicherheit, andererseits durch Konsumismus und Arbeit6. Spätestens ab 1967 zeigt sich in Folge des Vietnamkrieges, das antiamerikanische Ressentiment wieder in der Öffentlichkeit – diesmal von der politischen Linken. Mit der geschichtsklitternden wie infamen Parole »USA – SA – SS« skandierten politisch links gerichtete Studierenden gegen die amerikanischen Intervention. Die USA wurden von einem Großteil der westdeutschen StudentInnenbewegung7 der 1960er Jahre als Weltfeind, als Inbegriff des Imperialismus und Kapitalismus gebrandmarkt. Die Strömung, die sich als Neue Rechte formierte fand in dieser Zeit kaum Öffentlichkeit Beachtung, hielt jedoch in weiten Teilen an den tradierten antiamerikanischen Ressentiments fest. Bis zur Auflösung der Sowjetunion wurden antiamerikanische Ressentiments 5 Für die DDR lässt sich feststellen, dass bestimmte Formen des Antiamerikanismus zur Staatsidentität gehörten und weitreichend Propagiert wurden. Dennoch ist davon auszugehen, dass das antiamerikanische Ressentiment weitgehend homogen im deutschsprachigen Raum anzutreffen ist. 6 Es ließe sich fragen, ob eine Form der doppelten Schuld im kollektiven Gedächtnis der Deutschen vorhanden ist. Einerseits die Schuld der Menschheitsverbrechen während des Zweiten Weltkrieges andererseits die doch milde Bestrafung Deutschlands seitens der USA die es ermöglichte nur wenige Jahre nach dem Krieg ein Leben in Prosperität zu führen. 7 Darunter Personen wie Horst Mahler, Bernd Rabehl, Rainer Langhans, Reinhold Oberlercher, Klaus Rainer Röhl, Günter Maschke. Allesamt vollzogen sie spätestens seit den 1990er Jahren eine rechtsgerichtete Kehrtwende. Antiamerikanismus und Antisemitismus blieben jedoch eine ideologische Konstante. Das erklärt auch eine politische Kehrtwende ohne signifikanten Verlust des eigenen Selbstbildes möglich ist.
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in der Regel von als politisch Links bestimmten Kollektiven wie etwa verschiedenen Friedens- und Ökologiebewegungen vertreten. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurden die USA zur letzten global agierenden Hegemonialmacht. Zugleich erfuhr das Subjekt in der postindustriellen Gesellschaft durch die Digitalisierung, der fortschreitenden Globalisierung und der Durchdringung des Kapitalismus in alle Lebensbereiche eine neue Qualität der Entfremdung. Der empfundene Ordnungsverlust und das Fehlen notwendiger Stabilität und Identität in der Welt befördert den Wunsch nach Ordnung, Vereinfachung und Eindeutigkeit. Es sollte also davon ausgegangen werden, dass die gesellschaftliche Verfasstheit Ideologien wie den Antiamerikanismus ständig (re)produziert. Der Vernichtungswunsch im Antiamerikanismus Der Vernichtungswille gilt als Kernelement von Antisemitismus und in seiner Totalität als Unterscheidungsmerkmal zu rassistischen Formen von Ressentiments. »Die Juden sind diejenigen, die den Vernichtungswillen auf sich ziehen« (Horkheimer/Adorno 1969: 177). Der Vernichtungswille ergibt sich beim Subjekt durch die Zivilisation, die es zum Triebverzicht zwingt und die falsche ökonomische Ordnung, in der es sein Sosein einrichtet. Der Antisemitismus bietet dem Subjekt eine Triebabfuhr. So kann konsequenterweise in Parallelität zum Antisemitismus beim Antiamerikanismus, in seiner Struktur von einer Ideologie ausgegangen werden, die auf ähnliche pathisch-projektive Mechanismen rückführbar ist, wie im Antisemitismus. Des Weiteren soll eine Gefühlsbesetzung und der dem Ereignis zugesprochene Schicksalscharakter deutlich gemacht werden. Diner bezieht sich auf die Soziologin Sibylle Tönnies, die in 9/11 einen Wandel zu einem Weltstaat unter der Führung der USA prognostiziert. »Sibylle Tönnies gibt jene Seligkeit preis, als sie lustvoll beschreibt, wie ‚die Flugzeuge in das wirtschaftliche Machtzentrum des Westens rasten, wie die Flammen aus den Türmen schlugen, wie die Betonmassen niederrieselten, bis nur noch ein schmauchender Stumpf übrigblieb – dieses Bild erzeugt ein majestätisches Gefühl« (Diner 2002: 170). Dan Diner weist auf die lustvolle Art der Beschreibung hin. Es ist auch ersichtlich, dass die Beschreibung des Ereignisses einen schicksalhaften Charakter erhält, da in ihr kein Akteur auszumachen ist. Etwas passierte lediglich. Die USA gelten sozusagen als vom Schicksal getroffen. Die tatsächlich Verantwortlichen, die Terroristen werden unsichtbar gemacht. Der An291
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schlag sollte demnach passieren, und wird normativ als logische und natürliche Konsequenz empfunden und dargestellt. So ergibt sich die Legitimation des längst gehegten Ressentiments, die USA als sündhaft zu markieren. Im angeführten Beispiel weist die Bezeichnung des »majestätischen Gefühls« erneut auf eine lustvolle Besetzung des Ereignisses aus der Perspektive der Betrachterin hin. Dan Diner ordnet dies einer empfundenen »Seligkeit« zu. (s.o.) Zudem wird eine libidinöse Besetzung offenbar, indem das Verhalten – hier das Ausweisen von Schuld – eine dementsprechend affektuelle Erleichterung verschafft. Die implizit- und zuweilen explizit behauptete Schuld erschließt sich aus der Entartung, dem Zügellosen und Wertbefreiten, den unmoralischen Projektionen, die als die USA identifiziert werden. Die libidinöse Komponente des Ressentiments zeigt eine weitere Ähnlichkeit zum Antisemitischen -nämlich in seiner Funktion. Auf diese soll später noch eingegangen werden. Nachfolgend soll der Vorgang, der im Subjekt wirkt genauer Betrachtung finden. Es ist davon auszugehen, dass bereits ein starker, gesellschaftlicher Druck auf dem Individuum, das antiamerikanische Ressentiments hegt, lastete. Das Ressentiment war zusätzlich durch ein Tabu mit starken Emotionen besetzt. Dieser Druck konnten nicht abgelassen werden, da es gesellschaftlich nicht gerechtfertigt schien und ebenso wenig akzeptiert war, die USA zu hassen. Anhand historischer Tatsachen lässt sich dieses psychologisch als Neid entschlüsseln, der gegenüber der Neuen Welt gehegt wurde, die dann tatsächlich als mächtigeres nationales Kollektiv in Erscheinung traten, die sich mehr und mehr in einer Abneigung gegen die Moderne wandelte. Die gesellschaftlichen Konstellationen ließen den Umschlag ins Irrationale in Bezug auf die kollektive Beziehung zu den USA noch nicht zu. Das Individuum jedoch, bereits Hassgefühle projizierend, konnte diese (noch) nicht äußern — die Erklärungsversuche zu den Anschlägen boten nun ein Ventil. Der gesellschaftliche und individuell empfundene Schock macht es möglich sich schließlich über das bisher bestehende Tabu hinweg zu setzen, so wurde Antiamerikanismus mainstreamfähig. Damit geht einher, dass 9/11 auf diskursiver Ebene als Öffner fungiert (vgl. Knappertsbusch 2016). Die Ereignisse von 9/11 stellten sowohl für das Individuum als auch gesamtgesellschaftlich ein stark emotional belastendes Ereignis dar. Thomas Jäger beschreibt dieses als »disruptives Ereignis« (2011: 33) bei dem nachweislich ein »Großteil der Überlebenden und HelferInnen« (2011: 33) von diesem Vorfall traumatisiert wurden – »die Betroffenen machten die Erfahrung existentieller Bedrohung« (ebd.). Nicht nur direkt Betroffene, sondern auch die deutschsprachige mediale Reaktion zeugte von Betroffenheit und Angst. In der urplötzlich zu erkennenden Verwundbarkeit der USA, als der westlichen Führungsmacht war 292
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auch Europa getroffen. Zunächst war in den Reaktionen eine klare Anteilnahme auszumachen, nur wenige Zeit später schlug die Stimmung um. Das bisher vorherrschende Gefühl von Unverwundbarkeit und Übermacht des Westens war getroffen. Auf die Identifikation mit der Supermacht folgte eine abrupte Distanzierung. Um aus der Opferposition heraus zu kommen, und so die Angst vor weiteren Anschlägen im eigenen Bereich/Ort entkommen zu können wurde den AmerikanerInnen eine Eigenschuld zugeschrieben. Diese markiert eine klare Linie zwischen Schuldigen und Unschuldigen, und damit auch der Potentialität des Opfer-Werdens. So kam es zu einem Erstarken von Antiamerikanismus, in dem nun lautstark die AmerikanerInnen aus dem Westen zu Schuldigen erklärt wurden. Hier scheint eine Dichotomie in der Konstruktion von sich gegenübergestellten Schuldigen und Nicht-Schuldigen auf. Laut Josef Braml setzt sich die Psychologie mit der durch terroristische Anschläge induzierten Angst auseinander, weil diese als existentiell wahrgenommen wird (vgl. 2011: 34). Im deutschen Diskurs in der Reaktion auf 9/11 finden sich unterschiedliche Themen wie Angst, Vergeltungslust aber gemeinhin eine Panik, die sich auf die eigene Existenz bezieht und auch gerade, weil die USA als Weltmacht getroffen werden konnte. So lässt sich nun die festgestellte Diskursänderung erklären. Es war ein solch schwerwiegendes Ereignis für das Individuum notwendig, um sich über das bisher geltende Tabu und die soziale Erwünschtheit hinwegsetzen zu können. Nur eines, von dieser Tragweite konnte in diesem Moment den Umschlag hervorrufen. Dies bestätigend geht Braml davon aus, dass »Schocks und Traumata (zu jenen) seltenen Ereignissen in der Geschichte (gehören), die auch ein großes Veränderungspotenzial bergen« (Braml 2011: 33): »Sowohl das traumatisierte Individuum als auch das Kollektiv, dessen identitäre Schutzhülle durchschlagen wurde, benötigen Traumatheorien zufolge Rückversicherung und (neue) Routinen [...]«. (Ebd.) Braml sieht hier politischen Handlungsbedarf, und schlägt daher beispielsweise eine strafrechtliche Verfolgung der TäterInnen und eine stärkere Sicherheitspolitik vor. Im Gefühl der Angst und des Bedroht-Werdens entsteht für das Individuum ein Moment, das erklärungsbedürftig ist, es will von der Angst erlöst werden. Oftmals kann dies durch die Gesellschaft oder empirisches Verständnis erfüllt werden. Der durch die Anschläge ausgelöste Schock und das Unverständnis über das Geschehen war enorm groß und verbunden mit einer totalen persönlichen Ohnmacht, die einhergeht mit eine großen Erklärungsnotwendigkeit. Ohnmacht auszuhalten ist für das Individuum beinahe unmöglich. Das Individuum steht unter großer Spannung. Diese konnte durch das Erklärungsmodell des antiamerika293
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nischen Ressentiments aufgelöst werden. So wurde die Spannung abgelöst durch die Erleichterung Amerika endlich hassen zu dürfen. Offensichtlich kommt dabei das von Horkheimer und Adorno in den »Elementen des Antisemitismus« eingeführte Konzept der Mimikry zu tragen. Das Individuum steht zunächst vor der Herausforderung den Abgrund zwischen dem Gegenstand und dem Sinnesdatum zu überbrücken (vgl. Horkheimer/Adorno 1969: 169). Dabei passt es die äußere Welt dem inneren affektiven Weltbild an. Ein reflexives Moment des Vorgangs und der Eigen- und Fremdanteile bleibt aus. Das Subjekt erlangt Kohärenz: »Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich. Wird für jene das Außen zum Modell, dem das Innen sich anschmiegt, das Fremde zum 'Vertrauten, so versetzt diese das sprungbereite Innen ins Äußere und prägt noch das Vertrauteste als Feind. Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: dem prospektiven Opfer«. (Horkheimer/Adorno 1969: 167) Hier soll darauf hingewiesen sein, dass es sich keineswegs um einen notwendigen oder biologisch determinierten Prozess handelt, den Individuen in vergleichbaren Situationen durchleben. Eine persönliche Ohnmacht in Bezug auf tatsächlich Geschehenes kann festgestellt und ausgehalten werden, es kann getrauert werden. Zudem gibt es die Möglichkeit zur Reflexion auf dargebotene Welterklärungsmodelle. Durch den Bedarf an solchen Modellen, lassen sich auch die fließenden Übergänge zu den vielfältigen, wie abstrusen Formen der Verschwörungsphantasien rund um die Terroranschläge vom 11. September 2001 erklären. Da sich die eigene, zumindest situationsbezogene Ohnmacht nicht eingestanden wird, sondern Affekte rationalisiert werden müssen, um das, was als Bedrohung empfunden wird, zu erklären, wird auf vorhandene Ressentiments aufbauend eine hermetische Weltanschauung gesponnenen. Realpolitischen Ereignisse schaffen einen flüchtigen Eindruck politischer Kohärenz und dienen dem Antiamerikanismus als Beweismittel, als Stabilisator des dichotomen Weltbildes, so werden sie als Zeichen der Wahrheit und des Triumphs empfunden. Anhand von Verschwörungstheorien exemplifiziert sich überdeutlich die falsche Projektion (vgl. Horkheimer/Adorno 1969), die der Umwelt sich angleicht, anstatt das Wahrnehmen und Erkennen des Subjekts der Umwelt. Besonders deutlich zeigt sich anhand von Verschwörungstheorien der Unterschied von falscher pathischer Projektion und verdrängter Mimesis, die als solche Grundlage für projektives Wahrnehmen ist. Alles Wahrnehmen ist zunächst unbewusstes 294
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(verdrängtes) Projizieren. Der/die AntisemitIn, der/die VerschwörungstheoretikerIn und wie dargelegt auch der/die AntiamerikanistIn verwehren sich der Reflexion. Je größer der psychotische Anteil desto weniger ist Reflexion möglich. »Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin« (Horkheimer/Adorno 1996: 170). Elemente von Antisemitismus und Antiamerikanismus Weiterhin soll hier auf die Ursprünge der Zusammenhänge von Antisemitismus und Antiamerikanismus eingegangen werden. Es wurde deutlich, dass Antiamerikanismus und Antisemitismus die Funktion eines emotionalen Mehrwerts erfüllen und dem Individuum sowie Kollektiven Stabilisierung verschaffen. Christine Kirchhoff bezeichnet dieses Konzept als: »Erleichterung durch Spaltung: Wie jede Abwehr wirkt eine Spaltung insofern entlastend, dass eben sonst nicht Erträgliches so erträglich gemacht wird – wenn auch zu einem mitunter sehr hohen Preis.« (Vortrag im Forschungskolloquium am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, 23. Januar 2019). Das Individuum kann Ambivalenz nicht aushalten und spaltet ab. Der Vorgang der pathischen Projektion erwirkt auf zwei Seiten die Konstruktion eines identitären und homogenen Kollektivs. So gehen wir ursächlich vom Mechanismus der pathischen Projektion aus, den Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung beschreiben: »Die psychoanalytische Theorie der pathischen Projektion hat als deren Substanz die Übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen des Subjekts auf das Objekt erkannt. Unter dem Druck des Über-Ichs projiziert das Ich die vom Es ausgehenden, durch ihre Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Außenwelt und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äußere loszuwerden, sei es in der Phantasie durch Identifikation mit dem angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche Notwehr.« (Horkheimer/Adorno 1969: 172) In Bezug auf 9/11 erhält die Gesellschaft und das Subjekt die Bestätigung für die projizierten, gefährlichen Aggressionsgelüste, da das Schicksal – die Terroristen – Vergeltung bezweckte. Die Anschläge seien somit ein Beweis für die »Schuld«, die die USA auf sich geladen hätten. Diese Schlussfolgerung erscheint in bemerkenswerter struktureller Nähe zur antisemitischen Behauptung: Die Shoah würde beweisen, dass die Juden schuldig gewesen seien. 295
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Die vernichtungsideologischen Elemente im Antiamerikanismus lassen sich auf abgespaltene Triebregungen und dem Wunsch diese im Objekt zu vernichten, zurückführen. Es ist nicht davon auszugehen, dass jeder Mensch, der antiamerikanisch oder antisemitisch argumentiert, tätlich dem Vernichtungsdrang frönen will, jedoch aber, dass die Argumentation und die Ideologie der sie folgt, in der Konsequenz mindestens beinhaltet, dass ohne die Juden die Welt eine besser wäre. Zur »Wahl« von antiamerikanischen und antisemitischen Erklärungsmodellen tragen fehlendes Verständnis politischen Machthandelns, der Funktionsweise kapitalistischer Bedingungen, Fehlkonzeption, anachronistische Rezeptionen und mangelnde Interpretationsfähigkeit politischer Systeme, bei. Diese sind jedoch nicht ursächlich. Die von Postone dargelegte dichotome Aufteilung von konkreter und abstrakter Ware weist auf einen weiteren Punkt der Intersektionalität zwischen Antiamerikanismus und Antisemitismus hin. Amerika wird als Wirtschaftsmacht mit der abstrakten Seite, damit der verhassten, mächtigen und jüdisch imaginierten Seite assoziiert. Die Assoziation der USA als Wirtschafts- und Finanzmacht mit der imaginierten Anderen Seite ist naheliegend, nicht aber ausreichend für eine Erklärung von Antiamerikanismus und seiner Nähe zum Antisemitismus. Zu konstatieren ist aber, dass sich bei der Einordnung für das pathisch projizierende Subjekt dabei keinerlei Widersprüche ergeben. Ob Amerika, der Jude oder Israel im Objekt steht, kann als Ziel der Projektion nicht mehr auseinandergehalten werden. Querfront In zunehmendem Maß ist eine antiamerikanische und zugleich anti-emanzipatorische Querfront zu beobachten die sich – je nach politischem Anlass – zu unterschiedlichen Protestbewegungen8 zusammenschließen. Das Gemenge aus VerschwörungsideologInnen, NationalistInnen, regressiven AntikapitalistInnen, AntiimperialistInnen und religiösen FundamentalistInnen vereint keine gemeinsame gesellschaftliche Utopie, doch sind sich 8 Zu nennen sind die Mahnwachen für den Frieden (die so genannten Montagsmahnwachen), aber auch Verbindungen wie »Engagierte Demokraten gegen die Amerikanisierung Europas« (EnDgAmE), »Patriotische Europäer Gegen die Amerikanisierung des Abendlandes« (PEGADA), Demonstrationen gegen die Bilderberger-Konferenz, die »Unteilbar-Demo« oder auch der »al-Quds-Tag«. Je nach Anlass sind verschiedene Konstellationen von AkteurInnen zu beobachten.
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die AkteurInnen in ihrem Ressentiment gegenüber den USA einig. Problematisch erscheinen die oberflächlichen Analysen der verschiedenen Protestbewegungen bezüglich deren Motivation(en). Die Reduktion der Gruppen auf ein religiöses und/oder politisches Spektrum lässt außer Acht, was die Subjekte eint. Nämlich, dass deren Ideologie das Andere stetig als Antagonist und Korrelat benötigt, von dem aus sich das Selbst als das Gute, das Richtige stilisiert kann und das Ausleben innerer Konflikte und verdrängter Emotionen ermöglicht. Die Geisteshaltung dieser anti-emanzipatorischen Querfront setzt die USA mit Kapitalismus, Imperialismus und der Entgrenzung der Moderne gleich. So wird das innen- wie außenpolitisch Verhalten der USA und die Gesellschaftsform der USA als exzeptionell wahrgenommen und alle moralischen Ansprüche auf die USA projiziert. Realpolitische Handlungen amerikanischer Politik werden als Beweismittel und Legitimation des Antiamerikanismus angeführt, doch dienen sie allein als Stabilisator des eigenen Weltbildes. Dass amerikanische Politik interessengerichtete Machtpolitik ist und in der kapitalistischen Ordnung zwangsläufig nicht widerspruchsfrei mit gesetzten Idealen existiert, steht außer Zweifel – jedoch ist das Streben eines Staates nach Macht und Hegemonie kein den USA solitäres Merkmal: »Die imperialistische Politik ist nicht das Werk irgendeines oder einiger Staaten, sie ist das Produkt eines bestimmten Reifegrads in der Weltentwicklung des Kapitals, eine von Hause aus internationale Erscheinung, ein unteilbares Ganzes, das nur in allen seinen Wechselbeziehungen erkennbar ist und dem sich kein einzelner Staat zu entziehen vermag.« (Luxemburg 1916: 79) Auffällig (jedoch nicht zufällig) ist, dass in diese Querfront die USA und Israel häufig zusammen gedacht werden. So zeigt sich ein – als Kritik an der Politik Israels gerierender und bisweilen antizionistisch gebender – Antiisraelismus. Dabei wird Israel entweder als militärischer/politischer Brückenkopf der USA in den Nahen Osten aufgefasst oder die USA als von Israel kontrolliert gedacht. Ebenso wie beim Antiamerikanismus werden realpolitische Handlungen Israels als Legitimationsmittel ausschließlich diffamierender Kritik genutzt – also nie mit dem Wunsch nach Konsens oder der Aufdeckung politischer Missstände. So muss der Antiamerikanismus nicht allein als eine regressive bis verschwörungsideologische Kritik der gesellschaftlichen Verfasstheit verstanden werden, sondern als eine Form antisemitischer Umwegkommunikation und Projektionsver-
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schiebung.9 So veräußert sich latenter Antisemitismus manifest an den USA. Schlussbetrachtung Widersprüche lassen sich nicht in Gänze auflösen. So wird unterschiedlich ein homogenes Kollektiv Amerika oder ein homogenes Kollektiv Israel gedacht. Es findet sich sowohl das Motiv der Amerikanisierung als auch der Judaisierung der Welt. Diese Widersprüche können in der Skizzierung von Ideologien bestehen bleiben, da wir weder in einer widerspruchsfreien Welt leben, noch widerspruchsfrei projizieren. Genau diese Unstimmigkeiten können jedoch Ansatzpunkte für die Kenntlichmachung von Ideologien sein und nutzbar gemacht werden für Ideologiekritik. Bei der intersektionalen Betrachtung von Ideologien lassen sich Grundstrukturen von Ideologie erklärbar und sichtbar machen. Es gibt nicht die eine Ideologie, sondern unterschiedliche Ausprägungen, da jedes Individuum unterschiedlich wertet und sich immer unterschiedliche Gruppen/Massen-Konstellationen ergeben. So sollte sich nach 9/11 das in Erscheinung-Treten eines ideologischen Denkens bewusst gemacht werden, das divergierende soziale Kollektive in ihrem Weltbild vereint und als ein autoritäres, antiemanzipatorisches soziales Gefüge verstanden werden sollte. Es lässt sich eine erhöhte Bereitschaft des Sich-Anpassens und ein Hang zur Autorität mit einer weiten Ablehnung des Pluralismus feststellen. Sie ist bestimmt durch die Einschränkung der individuellen Selbstbestimmung und dem Wunsch nach einem homogenen Kollektiv. Die anti-emanzipatorische Einstellung erleichtert das Zusammenfinden in unterschiedlichen Ideologien, auch den Vielfältigen Ausformungen von Antisemitismus oder Antiamerikanismus. Die konstituierte Gemeinschaft wird größer, das Verbundenheitsgefühl geht über Grenzen von Weltanschauungen, Religionen und anderen Widersprüchen hinweg – diese werden in Anbetracht des Kampfes gegen das Böse unwichtig. Das gemeinsame Feindbild des Bösen kann – in einer vollständigen Abwendung von sich selbst – aggressiver bekämpft werden. Dieses dichotome Weltbild verdrängt Ambivalenzen und Widersprüche der gesellschaftlichen Verfasstheit. Dennoch lassen sich Antiamerikanismus als auch Antisemitismus als Ergebnisse einer sowohl gesellschaftlichen aber auch individuellen pathischen Projektion begreifen. Wir
9 Das Kommunikationstabu eines antisemitischen Weltbildes drängt zur Kommunikation vgl. Bergmann/Erb 1986.
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gehen davon aus, dass beide Phänomene – Antiamerikanismus und Antisemitismus – als Affekt gegenüber der Moderne und bedingt durch die gegenwärtige gesellschaftliche Verfasstheit zu verstehen sind. Aus dem Gegenstand lässt sich kein simples Modell von Antiamerikanismus oder eindeutigen klaren Verflechtungen mit Antisemitismus ableiten. Trotzdem können so Ideologien in ihren Funktionen und Ursachen, anhand eines Abbilds besser verständlich gemacht werden. Abschließend lässt sich feststellen, dass der Antiamerikanismus entsprechend zum Antisemitismus eine Ideologie ist, die nicht den Menschen hilft, sondern ihrem Drang nach Vernichtung, der aus der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung heraus produziert wird. (Vgl. Horkheimer/ Adorno: 1969). Literatur Bergmann, Werner, und Erb, Rainer (1986): Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung. Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38, S. 223–246. Braml, Josef (2011): Checks and Imbalances – Machtverschiebungen im institutionellen Gefüge der USA. In: Thomas Jäger (Hg.), Die Welt nach 9/11. Auswirkungen des Terrorismus auf Staatenwelt und Gesellschaft, Wiesbaden, S. 17–31. Diner, Dan (2002): Feindbild Amerika: Über die Beständigkeit eines Ressentiments, Berlin. Fraenkel, Ernst (1959): Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens, Wiesbaden. Herf, Jeffrey (1986): Reactionary modernism: Technology, culture, and politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge. Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W. (1969): Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente, Frankfurt. Kirchhoff, Christine (2019): Methodische Potenziale und Grenzen psychoanalytischer Antisemitismusforschung. Vortrag im Forschungskolloquium am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, 23. Januar 2019. Knappertsbusch, Felix (2016): Antiamerikanismus in Deutschland: Über die Funktion von Amerikabildern in nationalistischer und ethnozentrischer Rhetorik, Bielefeld. Ladendorf, Otto (1968): Amerikanismus, in Historisches Schlagwörterbuch (1906). Neuauflage, Hildesheim. Luxemburg, Rosa (1919): Die Krise der Sozialdemokratie, München. Moltmann, Günter (1976): Deutscher Anti-Amerikanismus heute und früher, in: Otmar Franz (Hg.), Vom Sinn der Geschichte, Stuttgart.
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Hanna Brögeler/Jessin Boumaza Moeller van den Bruck, Arthur (1919): Das Recht der Jungen Völker, München. Nipperdey, Thomas (1979): Probleme der Modernisierung in Deutschland, in: Saeculum, 30(2–3), S. 292–303. O’Conner, Brandon/Griffiths, Martin (2007): The rise of Anti-Americanism. Postone, Moishe (2005): Geschichte und Ohnmacht, online unter: http://www.krisi s.org/2005/geschichte-und-ohnmacht/ (abgerufen am 10.01.2019). Schwaabe, Christian (2003): Antiamerikanismus: Wandlungen eines Feindbildes, München.
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Antisemitismus in der Flüchtlingsdebatte und unter Geflüchteten1 Günther Jikeli
In Debatten um Antisemitismus unter Geflüchteten geht es, wie so oft beim Thema Antisemitismus, meist weniger um die Sache als um politische Standorte. Fördert es den eigenen politischen Standpunkt, so werden "die Flüchtlinge" pauschal des Antisemitismus beschuldigt, fördert es ihn nicht, so wird er verschwiegen oder kleingeredet. Werden Migrant_innen generell als Bedrohung wahrgenommen, so wird das Bild von antisemitischen Flüchtlingen unterstrichen. Will man betonen, dass die Deutschen aus der Vergangenheit gelernt hätten, kann das in beide Richtungen gehen. Antisemitische Migrant_innen können mit angeblich Antisemitismus-freien Deutschen kontrastiert werden oder es werden ahistorische Parallelen zwischen Geflüchteten heute und den von Nazi-Deutschland verfolgten Juden gezogen. Da stört dann der Gedanke, dass viele der Geflüchteten Antisemiten und eine Gefahr für heute hier lebende Jüdinnen und Juden sein könnten. Antisemitismus unter Geflüchteten passt ebenfalls nicht ins Konzept, wenn suggeriert werden soll, dass es in der heutigen defacto Einwanderungsgesellschaft keine Probleme mit und zwischen verschiedenen Gruppen von Eingewanderten gäbe. Diese Art von Argumentationsmuster lassen sich in der Politik, Wissenschaft, in Medien und auch im Privaten finden. Ein Beispiel für Anstrengungen in der Wissenschaft, Antisemitismus unter den in jüngster Zeit
1 Der vorliegende Artikel basiert auf Interviews mit 150 Geflüchteten aus Syrien und dem Irak. Die Interviews wurden in zwei Teilprojekten im Dezember 2016 beziehungsweise im Sommer 2017 durchgeführt. Das erste Teilprojekt wurde ermöglicht durch die großzügige Unterstützung des »Bennett Fund« und des »Meyer Fund«. Dessen Ergebnisse wurden online vom American Jewish Committee (AJC) Berlin, Ramer Institute for German-Jewish Relations veröffentlicht, https://ajcberli n.org/sites/default/files/ajc_studie_gefluechtete_und_antisemitismus_2017.pdf, eingesehen 1.6.2018. Das zweite Teilprojekt wurde maßgeblich von der Indiana University in den USA finanziert mit Unterstützung des Moses Mendelssohn Zentrums der Universität Potsdam, der Amadeu Antonio Stiftung, des American Jewish Committee Berlin und des Internationalen Institut für Bildungs-, Sozial- und Antisemitismusforschung.
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Günther Jikeli
Eingewanderten klein zu reden, ist die von der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ) initiierte und finanzierten Studie »Antisemitismus und Immigration im heutigen Westeuropa. Gibt es einen Zusammenhang?«2 Die 5-Länder Studie basiert im Wesentlichen auf einer Auswertung von Meinungsumfragen zum Antisemitismus, die sie ins Verhältnis setzt zu Zuwanderungszahlen und Statistiken antisemitischer Vorfälle. Darüber hinaus wurden in kleinem Umfang »Experteninterviews« gemacht. Von den ausgesuchten Ländern gab es in dem Zeitraum aber lediglich in Deutschland einen signifikanten Anstieg der Einwanderungszahlen. In den Schlussfolgerungen heißt es: »Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass MENA-Migranten auf gesellschaftlicher Ebene bedeutend zum Antisemitismus beitragen« (Feldman 2018 31). Dies ist jedoch falsch für Deutschland und irreführend in Bezug auf die anderen untersuchten Länder, denn es lässt sich anhand der gewählten Methoden gar nicht beurteilen. Den Anstieg der Migrantenzahlen seit 2011 aus der MENA-Region in Korrelation zu repräsentativen Umfragen zu stellen ist unsinnig, denn selbst wenn 100 Prozent der befragten neuen Migrant_innen antisemitische Antworten gäben, wäre das in für die Gesamtbevölkerung repräsentativen Umfragen aufgrund des üblichen Fehlerbereichs von drei bis fünf Prozent nicht messbar.3 Das zweite Argument der Studie, der angeblich nicht vorhandene Anstieg der Anzahl der antisemitischen Vorfälle und mangelnde Hinweise auf eine gestiegene Täterschaft neuer Migrant_innen ist ebenfalls anzuzweifeln, da Polizeistatistiken verwendet werden, die nur sehr begrenzt Hinweise auf die Täter_innen geben. Zurecht kritisiert wird beispielsweise, dass viele antisemitische Straftaten wie Hakenkreuzschmierereien an jüdischen Einrichtungen automatisch dem Rechtsextremismus zugeordnet werden oder dass viele antisemitische Straftaten, wenn sie einen Bezug zu Israel haben, von der Polizei nicht als Antisemitismus, sondern als Straftat mit Bezug zum Nahostkonflikt gewertet werden. Aufgrund dieser und anderer Mängel fordert auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregie-
2 Veröffentlicht auf http://www.pearsinstitute.bbk.ac.uk/research/publications/antise mitism-and-immigration-in-western-europe-today-is-there-a-connection/ (abgerufen am 01.66.2018). 3 Der Bericht spricht von einem Anstieg von »etwa einer halben Millionen« Migrant_innen aus der MENA-Region von 2011 bis 2015. Selbst wenn man annimmt, dass die Zahl deutlich höher ist, liegt der Prozentsatz der neuen MENA Migranten an der Gesamtbevölkerung in Deutschland mit 83 Millionen Menschen unter einem Prozent und damit deutlich unter dem in den Umfragen verwendeten statistischen Fehlerbereich von drei bis fünf Prozent.
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Antisemitismus in der Flüchtlingsdebatte und unter Geflüchteten
rung eine bundesweite und verbesserte Erfassung der antisemitischen Vorfälle.4 Die Schlussfolgerungen der Studie sind demensprechend eher als politische Meinungsäußerung zu werten denn das Ergebnis fundierter Forschung. Hinweise, dass ein nicht unerheblicher Anteil des Antisemitismus in Deutschland von Migrant_innen (aus der MENA-Region) ausgeht und möglicherweise auch von in jüngster Zeit zugewanderten, werden zumindest in den Schlussfolgerungen schlicht ignoriert. Der deutlichste Hinweis sind Befragungen von Betroffenen. Eine Befragung von Jüdinnen und Juden im Sommer 2016 zu antisemitischen Erfahrungen ergab, dass »Muslime« am Häufigsten als Tätergruppe genannt wurden, weit vor »Linksextremen«, »Rechtsextremen« und Christen (Zick et al. 2017: 21). Dieses Ergebnis wurde jüngst von einer Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte bestätigt. Die Befragung fand im Sommer 2018 statt. In Deutschland gaben 41 Prozent der Befragten und von Antisemitismus Betroffenen an, dass sie die Täter_innen des schwerwiegendsten Vorfalls der letzten Jahre als extremistische Muslime einordnen, 20 Prozent als politisch rechts, 16 Prozent als politisch links und 5 Prozent als extremistische Christen (European Union Agency for Fundamental Rights 2018: 54). Auch wenn beide Umfragen nicht repräsentativ sind, basieren sie mit 553 beziehungsweise 1.233 Befragten in Deutschland auf einer großen Anzahl von Betroffenen und sind Ergebnis solider Forschungsmethoden.5 Sie sollten zumindest Anlass sein, die Tätergruppe Muslime als relevante Tätergruppe ernst zu nehmen. Hinzu kommen eine ganze Reihe von Umfragen, die alle belegen, dass Antisemitismus in verschiedenen europäischen Ländern unter Muslimen wesentlich weiterverbreitet ist als unter NichtMuslimen (Jikeli 2015). Dennoch, viele der Geflüchteten sind keine Muslime und die Mehrheit der Muslime in Deutschland sind keine Geflüchteten, sondern Einwanderer der zweiten und dritten Generation. Um Pauschalisierungen zu vermeiden, ist es hilfreich, sich einmal genauer anzuschauen, wer denn »die Geflüchteten« sind und was sie denn selbst zu dem Thema zu sagen haben.
4 Die Zeit Online, 26. April 2018, »Antisemitismusbeauftragter will Vorfälle zentral erfassen«, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-04/felix-klein-registri erung-antisemitismus-vorfaelle. 5 An der ersten Umfrage nahmen 553 Personen teil, wovon knapp zwei Drittel von antisemitischen Erfahrungen berichteten. An der zweiten Umfrage nahmen in Deutschland 1.233 Personen teil. 52 Prozent darunter berichteten von antisemitischen Erfahrungen (Zick et. al 2017 und European Union Agency for Fundamental Rights 2018).
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Günther Jikeli
Von 2014 bis 2017 stellten etwa 1,5 Millionen Menschen einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland. Die meisten davon kamen zwischen Mitte 2014 und Mitte 2015, deutlich mehr als in den Jahren davor und danach. Polemisch wird oft von einer Flüchtlingswelle gesprochen, die eine »Flut« von Migranten suggeriert, bei der die höchst unterschiedlichen individuellen Beweg- und Hintergründe der Geflüchteten verschwimmen. Die mit Abstand meisten Anträge stellten Menschen aus Syrien (34 Prozent), Afghanistan (zwölf Prozent) und dem Irak (zehn Prozent). Aber auch Staatsangehörige aus Ländern der Balkan-Region, aus Eritrea, dem Iran und der Russischen Föderation bildeten zahlenmäßig starke Gruppen.6 Innerhalb dieser Gruppen von Herkunftsländern gibt es wiederum ethnische und religiöse Unterschiede, von soziokulturellen und ökonomischen Unterschieden und politischen Differenzen ganz zu schweigen. Von den syrischen Geflüchteten beispielsweise flohen einige vor dem syrischen Regime und andere vor ISIS oder anderen islamistischen Gruppen, die das syrische Regime bekämpfen. Das heißt, viele der Syrer_innen in Deutschland standen sich in Syrien als Feinde gegenüber. Unter den syrischen Geflüchteten finden sich außerdem etwa ein Drittel Kurden – eine in Syrien vom Staat jahrzehntelang unterdrückte Minderheit. Insgesamt sind mehr als zwei Drittel der von 2014 bis 2017 nach Deutschland Geflüchteten Muslime (überwiegend Sunniten), andere verstehen sich als Christen, Jesiden, Hindus oder Atheisten. »Die Flüchtlinge« sind also alles andere als eine einheitliche Gruppe. Dennoch werden sie langfristig die Zusammensetzung der Bevölkerung verändern, denn viele, wenn nicht die meisten, werden in Deutschland bleiben, selbst wenn Einwanderungsbedingungen restriktiver werden. Schon heute stellen Syrer_innen in Deutschland nach Türk_innen und Pol_innen die drittgrößte Bevölkerungsgruppe mit ausländischem Pass (Statistisches Bundesamt 2018). Es ist also durchaus sinnvoll, sich die Frage zu stellen, welche Werte und Einstellungen die neu Zugezogenen haben, auch in Bezug auf Antisemitismus. Unstrittig ist, dass antisemitische Vorstellungen in Syrien, Irak, und anderen Ländern des Nahen Ostens sowie Nordafrika (MENA) weit verbreitet sind. Umfragen zeigen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung antisemitischen Statements zustimmt. In vielen dieser Länder geben über 90
6 Addierte Zahlen von Januar 2014 bis Juli 2017 aus (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2017a, 2017b, 2016, 2015). Von den Personen, die in diesem Zeitraum einen Antrag stellten, befinden sich jedoch viele aufgrund von Rück- und Weiterwanderungen nicht mehr in Deutschland (Brücker/Rother/Schupp 2016: 18–19).
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Prozent an, eine negative Meinung über Juden zu haben.7 Anti-israelische Einstellungen sind nicht weniger verbreitet, wie öffentliche Aufrufe zur Zerstörung Israels und Mobilisierungen gegen eine Normalisierung der Beziehungen mit Israel zeigen. Dies und die Tatsache, dass Antisemitismus, einschließlich Holocaustleugnung, von Regierungsvertretern, islamischen Würdenträgern, regierungstreuen Medien meist unwidersprochen verbreitet wird8 und dass er in Schulbüchern zu finden ist (Heugel 2013; Groiss 2001; Landis 2003; Asquith 2003), lässt auf eine antisemitische Norm in diesen Ländern schließen. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle aus diesen Ländern stammenden Menschen Antisemiten sind oder dass dies gar eine angeborene Eigenschaft wäre, aber diejenigen, die Antisemitismus öffentlich kritisieren, sind in diesen Ländern die Ausnahme. Es ist also naheliegend, dass Menschen, die in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, in der Antisemitismus zur Normalität gehört, diesen zumindest zum Teil auch in einer neuen Umgebung weitertragen. Erste Studien zu Einstellungen unter Geflüchteten und speziell unter Geflüchteten aus der MENA Region geben Hinweise, dass Antisemitismus zwar stark verbreitet ist, dass es aber deutliche Unterschiede bei den unterschiedlichen Gruppen gibt. Bei einer Umfrage aus Bayern unter 779 Geflüchteten aus Syrien, dem Irak, Eritrea und Afghanistan stimmten 52 Prozent der syrischen und 54 Prozent der irakischen Befragten der Aussage »Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss« zu. Unter Afghanen waren dies 57 Prozent und unter Eritreern 5 Prozent. In der deutschen Bevölkerung schwanken die Zustimmungsraten zu dieser oder ähnlichen Aussagen in den letzten Jahren zwischen 15 und 25 Prozent (Bundesministerium des Inneren 2011, 63; Anti-
7 Eine Mitte 2013 durchgeführte Umfrage ergab, dass 92 Prozent der Befragten im Irak mindestens sechs von elf abgefragten antisemitischen Aussagen zustimmten. 75 Prozent hielten die Aussage für wahrscheinlich wahr, dass Juden für die meisten Kriege in der Welt verantwortlich seien. 84 Prozent meinten, Juden besäßen zu viel Macht in der Geschäftswelt (Anti-Defamation League 2014). In vielen anderen arabischen Ländern sind die Zahlen laut der ADL Studie ähnlich. In dem Bericht der im Frühjahr 2009 von PEW erhobenen Umfrage heißt es: »In Arab nations, attitudes toward Jews remain extremely negative. More than 90% of Egyptians, Jordanians, Lebanese and Palestinians express unfavorable views toward Jews. Only 35% of Israeli Arabs, however, express a negative opinion« (Pew Global Attitudes Project 2010: 5). 8 Zahlreiche Beispiele, die ins Englische übersetzt wurden, können auf der Webseite des Middle East Media Research Institutes eingesehen werden: https://www.memri .org/subjects/antisemitism-documentation-project, abgerufen am 01.06.2018.
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Defamation League 2015). Das Ausmaß der Zustimmung ist in der Umfrage unter Geflüchteten nicht abhängig von Variablen wie Alter, Familienstand, Bildungsniveau, der bisherigen Aufenthaltsdauer in Deutschland oder dem Grad der Religiosität, wohl aber von der Religionszugehörigkeit. Muslime stimmten der Aussage mit über fünfzig Prozent deutlich häufiger zu als Christen mit 22 Prozent (Haug et al. 2017: 66–69). In einer anderen qualitativen Studie, in der 25 Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und dem Irak nach ihren Einstellungen zu Juden befragt wurden, stellen die Autorinnen einen »Alltags-Antizionismus« fest, »der Israel für alle negativen Entwicklungen in der Region verantwortlich macht«, sowie negative Einstellungen gegenüber Juden, die als selbstverständlich erachtet werden (Arnold und König 2016: 29). In unseren Interviews, die ebenfalls nicht repräsentativ ist, konnten wir eine Reihe von Bildern über Jüdinnen und Juden feststellen, die mit antisemitischen Stereotypen durchsetzt sind. Methoden der Studie und Sample Im Dezember 2016 und im Sommer 2017 wurden insgesamt 152 Geflüchtete aus Syrien und dem Irak in (qualitativen) Gruppen- und Einzelinterviews befragt. Vier Wissenschaftler der Indiana University (USA), Asaad Alsaleh, Günther Jikeli, Haidar Khezri und Alvin Rosenfeld leiteten jeweils die Gespräche. Im Fall von Jikeli und Rosenfeld wurden Übersetzer_innen hinzugezogen. Die Gespräche fanden in Berlin, Greifswald, Köln, beziehungsweise per Videokonferenz (15 Interviews) auf Arabisch, Kurdisch oder Englisch statt. Teile der Gespräche wurden zudem auf Deutsch geführt. Die Interviews dauerten durchschnittlich etwa neunzig Minuten in den Gruppeninterviews und 30 bis 60 Minuten in den Einzelinterviews. Die Interviewten wurden zum einen über Beschäftigte in der Flüchtlingsarbeit gewonnen und zum anderen über private Kontakte der fünf Übersetzer_innen beziehungsweise ueber andere private Kontakte zu Geflüchteten. Um nicht nur idealistisch motivierte Personen zu befragen, wurde mit einer Aufwandsentschädigung von zwanzig Euro ein zusätzlicher Anreiz für die Teilnahme geschaffen. Laut der vermittelnden Sozialarbeiter_innen gehört ein Großteil der Befragten zu den eher »aufgeschlossenen und toleranten« Geflüchteten, die sich besonders um Integration und Kontakt mit der deutschen Bevölkerung bemühen. Hinzu kommt, dass eine vom Staat unabhängige Forschung in den diktatorischen Regimen der Herkunftsländer unüblich ist 306
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und die Interviewten im Asylverfahren, das ebenfalls ein »Interview« beinhaltet, stark abhängig vom deutschen Staat sind. Dies mag dazu geführt haben, dass Personen, die vermuten, dass sie sozial unerwünschte Einstellungen haben, wie beispielsweise islamistische oder offen anti-jüdische Einstellungen, im Sample unterrepräsentiert sind. Einige der angesprochenen Themen wie islamistischer Terrorismus, Geschlechtergerechtigkeit, der Nahhostkonflikt oder Juden und Israel gelten als sensibel und stießen teilweise auf Zurückhaltung, Ablehnung und Misstrauen gegenüber dem Interviewer und den Übersetzern sowie der Übersetzerin. Die zu Beginn des Interviews offengelegte Verbindung der Interviewer zu einer amerikanischen Universität mag darüber hinaus bei antiamerikanisch eingestellten Personen zu Zurückhaltung geführt haben. Möglicherweise wurden eventuell vorhandene antidemokratische und speziell antisemitische und antiamerikanische Einstellungen nicht offen im Interview geäußert. Zwei Gruppen wussten vor dem Interview, dass ein zentrales Thema Einstellungen zu Juden ist und offen anti-jüdische Einstellungen wurden in diesen Interviews nicht geäußert. Die übrigen wussten, dass die Interviews Teil einer wissenschaftlichen Befragung zu Einstellungen unter Geflüchteten in Deutschland waren. Die Interviews wurden in ruhigen Cafés, Restaurants oder in verschiedenen Gemeinschaftsunterkünften, in Seminarräumen oder in den Zimmern der Befragten, durchgeführt. Im Anschluss an die Interviews wurden die Befragten gebeten, einen kurzen Fragebogen zu biografischen Daten auszufüllen (Alter, Beruf, Bildungsstand, Geburtsort, Religion, ethnischer Hintergrund, Sprachkenntnisse, derzeitige Beschäftigung, Aufenthaltsdauer in Deutschland). Die Interviews wurden aufgezeichnet und vollständig oder in Teilen übersetzt und transkribiert. Die Auswertung erfolgte in Zusammenarbeit mit Lars Breuer und Matthias J. Becker anhand einer induktiven und deduktiven Kodierung der Interviews mithilfe der Auswertungssoftware MAXQDA in einem iterativen Prozess der Kategorienbildung. Alle Interviewten erreichten Deutschland im Jahr 2014 oder danach, die meisten kamen im Verlauf des Jahres 2015. 110 Geflüchtete identifizierten sich als Araber_innen und 41 als Kurd_innen.9 Die überwiegende Mehrheit (122) ist muslimischen Glaubens, 11 machten keine Angaben, acht bezeichneten sich als atheistisch (eine davon mit christlichem Hintergrund), fünf als christlich, drei als Jesiden und jeweils eine Person gab als religiösen Hintergrund Druse, Alewit oder Muslim-Ismaeli an. Das Bildungsniveau und die Religiosität variierten erheblich. Die Befragten stammten aus
9 Einer der drei Jesiden identifizierte sich weder als Kurde noch als Araber.
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kleineren und größeren Städten wie Aleppo, Bagdad, Damaskus, Hama, Homs, Idlib, Qamlishi und Raqqa oder deren Umgebung. Integration, Islamismus und arabischer Nationalismus Insgesamt hatten die Befragten ein positives Bild von der deutschen Bevölkerung. Ein Gefühl des Willkommenseins, zumindest am Anfang, war bei vielen verbreitet. Dies entspricht dem Empfinden einer Mehrheit der Geflüchteten in Deutschland, wie eine repräsentative Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zeigt (Brücker, Rother, and Schupp 2016, 32–36). Viele berichteten jedoch auch von Problemen, etwa der Sorge um den Aufenthaltstitel, Schwierigkeiten bei der Familienzusammenführung, der Suche nach einer Wohnung, dem Erlernen der deutschen Sprache, der Anerkennung von Papieren, diversen Behördengängen oder der Suche nach Arbeit bzw. geeigneten Qualifizierungsmaßnahmen. Auch die Sorge um Familienangehörige im Herkunftsland spielten bei vielen Befragten eine große Rolle. Insbesondere die als undurchsichtig erlebte Bürokratie der Sozialämter und Ausländerbehörden sowie die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften führen häufig zu Frustrationen. Auch dies entspricht der oben genannt repräsentativen Studie (Brücker/Rother/Schupp 2016: 32–33). Die allermeisten Geflüchteten strebten eine Integration im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe, Arbeitsaufnahme und Respektierung der Gesetze an. Unter den Jüngeren galt als selbstverständlich, dass dazu auch das Erlernen der deutschen Sprache gehört, auch wenn den allermeisten die Beibehaltung ihrer ethnischen Identität sowie ihrer Werte in Bezug auf Familie und Religion sehr wichtig war. Keiner der Interviewten zeigte offen Sympathien für islamistische oder terroristisch-islamistische Gruppen. »Extremismus« und »Terrorismus« wurden weit von sich gewiesen und meist auch vom Islam an sich. Eine Trennung von Islam und Islamismus machten jedoch nur wenige. Islamistisch-terroristische Gruppen wie der »Islamische Staat« (IS, ISIS oder die im Arabischen gebräuchliche Abkürzung Daesh) und al-Qaida wurden kurzerhand als unislamisch definiert. Zugespitzt kann dies zu Verschwörungsfantasien führen, so etwa bei Sayyid:10 »Daesch hat in keiner Weise etwas mit dem Islam zu tun […]. Amerika hat Daesch geschaffen« (Sayyid, 21, arabisch-muslimischer Mann aus Raqqa/Syrien). Andere unterstellten Israel mit dem Assad Regime zusammenzuarbeiten und verantwortlich zu 10 Bei den angegebenen Namen handelt es sich um Pseudonyme.
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sein nicht nur für ISIS sondern auch für den Krieg in Syrien. Es gab aber auch deutliche Stimmen, die von »islamischen Extremisten« sprachen und diese durchaus als eigenständige, gefährliche Akteure sehen, die es zu bekämpfen gilt. Arabische Interviewte waren oft stolz auf ihre arabische Identität und verorteten den Ursprung der menschlichen Zivilisation in Syrien und im Irak. Im Extremfall kamen dabei rassistische Gefühle der Überlegenheit und Abwertung von anderen zum Ausdruck. Diese Überlegenheitsgefühle eines arabischen Nationalstolzes werten nicht nur andere Menschen ab, sondern dienten paradoxerweise als Erklärung für das derzeitige Scheitern der arabischen Nationalstaaten Syrien und Irak. Die eigene Nation wurde als ganz besonders potent imaginiert, weshalb sie Ziel von Angriffen und Verschwörungen sei. Bilder von Jüdinnen und Juden: Von »Eine Religion wie unsere« bis zu Weltverschwörern In den Interviews fand sich eine große Bandbreite von Einstellungen gegenüber Jüdinnen und Juden. Diese reichte von pro-jüdischen und pro-israelischen Einstellungen über Toleranz, Desinteresse, vereinzelten antisemitischen Stereotypen (wie jenem vom reichen Juden) bis hin zu antisemitischen Weltverschwörungsfantasien und genozidalen Einstellungen, die sich unter anderem in der Rechtfertigung der Schoah ausdrückten. Auffallend war dabei die Diskrepanz zwischen Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung im jeweiligen Herkunftsland und den Angehörigen der jeweiligen ethnischen und religiösen Minderheiten. Insbesondere einige der interviewten syrischen Kurd_innen zeigten deutlich pro-jüdische und pro-israelische Einstellungen. Teilweise sind diese philosemitisch durchsetzt, das heißt Juden werden bewundert für ihre angebliche Macht und Cleverness. Einige der Interviewten mit syrisch-palästinensischem Hintergrund zeigten sich hingegen besonders antisemitisch – und zwar nicht nur in Bezug auf Israel, sondern auch auf Verschwörungsfantasien. Positiv zu vermerken sind vereinzelte Aussagen, die ein Aufbrechen des Feindbildes Israel zeigen: Einige Befragte sahen Israel im Vergleich zum IS oder zum syrischen Regime als deutlich humaner. Dies war freilich nur dann der Fall, wenn diese Personen nicht davon ausgingen, dass Israel für die Kriege im Irak und in Syrien verantwortlich ist. Jüdinnen und Juden wurden als religiöse Gemeinschaft wahrgenommen. Die Tatsache, dass Jüdinnen und Juden auch ein Volk darstellen, wird ausgeblendet oder explizit geleugnet. Dies ist eng verbunden mit der 309
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Ablehnung des Staates Israel als jüdischer Staat. Vor allem aber zeigten die Interviews, dass die allermeisten Befragten trotz verbreiteter verschwörungstheoretisch-antisemitischer Denkweisen zur Zeit des Interviews mit anderen Dingen beschäftigt waren, sodass Jüdinnen und Juden keinen zentralen Platz in ihren Gedanken einnahmen. Antisemitische Vorstellungen kamen meist nur bei bestimmten Themen zum Vorschein, wie beispielsweise der Diskussion um Ursachen für Kriege im Nahen Osten, islamistische terroristische Angriffe wie am 11. September 2001, Freimaurer, Bilder von Israel, die Shoah oder die Rolle von Juden vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Spontan wurden judenfeindliche Bilder im Zusammenhang mit der Erwähnung von Freimaurern, der Familie Rothschild, Zionismus sowie Banken und Finanzmärkten genannt. In Diskussionen zu traditionellen Beziehungen zwischen Juden und Muslimen fiel ein ambivalentes Verhältnis auf, in dem zum einen ein angebliches harmonisches Miteinander und religiöse Toleranz betont und zum anderen eine tiefgehende immerwährende Feindschaft zwischen Juden und Muslimen suggeriert wurde. Die »reichen und intelligenten Juden« und Verschwörungsfantasien als Welterklärung Das weltweit wohl verbreitetste antisemitische Stereotyp vom ‚reichen Juden‘ kam auch in den Interviews sehr viel häufiger vor als andere Stereotype. Viele Interviewte nahmen wie selbstverständlich an, dass Juden reich seien. Diese vermeintliche Tatsache bewerteten sie aber nicht unbedingt negativ. »Die Idee, dass Juden viel Geld haben, ist wirklich normal in unserer Gesellschaft. Und wo ist das Problem, wenn sie viel Geld haben? Syrischen Händlern wurde von jüdischen beigebracht, wie sie ihre Gewerbe managen.« (Qadir, 31, arabisch-christlicher Mann aus Damaskus/ Syrien) Einige Befragte formulierten bewusst vorsichtig und zeigten damit ihre Unsicherheit: »Wir Araber denken, dass Juden die reichsten Leute der Welt sind, aber das mag falsch sein« (Maen, 23, arabisch-muslimischer Mann aus Khirbet Ghazaleh/Syrien). Positiv können auch angeblicher Einfluss und Intelligenz gesehen werden: viele wollen einen jüdischen Anwalt, um ihre Chancen im Asylverfahren zu verbessern. Andere hingegen führten vermeintliche Belege von einer angeblichen Dominanz von Juden in Banken oder der Geschäftswelt an. Das Bild von 310
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den reichen Juden wurde auch auf Israel oder »Zionisten« übertragen, eingebettet in Verschwörungsfantasien, in denen Israel und die Juden insgesamt die Welt mit Geld beherrschen. »Der jüdische Einfluss oder der zionistische Einfluss ist in den meisten Teilen der Welt verbreitet. Sie haben die Finanzkraft, mit der sie [selbst] einige Länder bewegen verändern können […]. Ich kann mir vorstellen, dass sie in den USA, dem ersten Land der Welt, großen Einfluss haben.« (Mahmoud, etwa 35, arabisch-muslimischer Mann aus Deir ez-Zor, Syrien) In unterschiedlichsten Kontexten sahen Interviewte geheime Machenschaften fremder Mächte am Werk. Meist vermuten sie dabei Juden als Drahtzieher, ob bei der angeblichen Kontrolle der Wasserressource durch die Freimaurer oder angebliche Fremdbestimmung von Präsidenten der verschiedenen Länder. »Die Juden kontrollieren alles. Ich glaube das. […] Die Medien and die Geschäftswelt und alles« (Houmam, 32, arabisch-muslimischer Mann aus Damaskus, Syrien). Verschwörungsfantasien sind zirkulär. Die Kontrolle der Medien gilt als Beweis für die Kontrolle der Welt. Sie zeigten sich auch bei der Frage nach Erklärungen für die Kriege in den Herkunftsländern der Befragten. Neben (realistischen) Einschätzungen, dass Länder wie Russland und die USA, aber auch der Iran, Saudi-Arabien und die Türkei, heute im Krieg in Syrien und dem Irak ihre Interessen verfolgen, gab es Spekulationen zu den Ursachen, die von Verschwörungsfantasien gekennzeichnet sind. Fremde Mächte hätten die Kriege angezettelt, um den Islam zu zerstören, die arabischen Länder auszubeuten, an ihr Erdöl zu kommen, einen Markt für Waffen zu schaffen oder, um die schlauen Köpfe zur Auswanderung zu bewegen, um sie dann in ihren Ländern als Arbeitskräfte ausnutzen zu können. Diese fremden Mächte werden in den USA, Israel und »den Juden«, oder auch in einer ominösen globalen Waffenindustrie gesehen. Diese Erklärungsversuche zeugen von einem Weltbild, das die Ursache für negative Entwicklungen bei übermächtigen Anderen sucht. Dabei wurde häufig eine selektive Geschichtsdarstellung bemüht, in der etwa die Aufteilung des Nahen und Mittleren Ostens nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches in französische und britische Einflusssphären 1:1 in die Gegenwart fortgeschrieben und als antiarabische bzw. antimuslimische Verschwörung begriffen wird: »Einmal habe ich Hillary Clinton gehört, wie sie über das Ende des Sykes-Picot-Abkommens sprach, das sich auf die Teilung der arabischen Länder bezieht und die Laufzeit von einhundert Jahren hat […], so311
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dass im Jahr 2011 die Menschen in arabischen Ländern revolutionieren und nach Ablauf des Abkommens einen anderen Arabischen Frühling hervorbringen. Also ich denke, das ist eine westliche, amerikanische und israelische Verschwörung gegen arabische Länder, um den israelischen Frieden zu erhalten.« (Sayid, 20, arabisch-muslimischer Mann aus Hama/Syrien) In solch einem Geschichtsbild handeln nicht unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Interessen den Lauf der Dinge aus, sondern große, undurchsichtige Mächte planen den Lauf der Geschichte von langer Hand vor und über Generationen hinweg. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn in diesem Denken auch auf die Tradition antisemitischer Verschwörungsfantasien wie die antisemitische Fälschung der Protokolle der Weisen von Zion zurückgegriffen wird und »die Juden« oder stellvertretend Israel beschuldigt werden, das eigene Land als Spielball zu nutzen. Diese Verschwörungsfantasien stellen einen unhinterfragten Interpretationsrahmen dar, mit dem nicht nur Politik und Geschichte, sondern auch beiläufige, nahezu alltägliche Phänomene interpretiert werden, die als Bedrohung für die eigene Gesellschaft angesehen werden. So war Burhan (27, kurdischmuslimischer Mann aus Damaskus/Syrien) überzeugt, dass das Computerspiel »Counter-Strike« von bösen Mächten nach Syrien gebracht wurde, um eine neue Generation kaltblütiger Krieger für den derzeitigen Bürgerkrieg heranzuzüchten. Burhan, der stolz ist auf die syrische Kultur, sah mit großem Bedauern auf die Zerstörung seines Landes, für die er den Mossad, den »internationalen Zionismus« und die Freimaurer verantwortlich machte. Interessanterweise ist Burhans Weltbild einerseits von Verschwörungsfantasien geprägt, auch von antisemitischen. Er ist überzeugt, dass Juden die Banken dominieren und dass Juden vom Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 zumindest wussten, weil sie an diesem Tag angeblich nicht zur Arbeit erschienen. Andererseits ist dieses Denken mindestens an einer Stelle brüchig. Als es um Israel geht, lobt Burhan die israelische Regierung, weil diese sich für ihre Bevölkerung einsetze und humaner sei als das Regime Bashar al-Assads. In den verschwörerischen Weltbildern waren die Attentate vom 11. September 2001 häufig ein wichtiger Bestandteil, da sie angeblich von den Amerikanern und/oder den Juden zur Legitimierung der Angriffe gegen die Länder des Nahen Ostens oder gegen »die Muslime« oder »den Islam« orchestriert wurden. Die amerikanische Politik und der amerikanische Präsident wurden als stark abhängig von der jüdischen oder israelischen Lobby betrachtet.
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Eine bei syrischen Interviewten verbreitete Verschwörungsfantasie ist das angeblich geheime Bündnis Bashar al-Assads mit Israel: Das syrische Regime betreibe zwar nach außen hin antiisraelische Propaganda, verhindere aber tatsächlich jegliches effektive Vorgehen gegen Israel, weil es in Wirklichkeit mit Israel unter einer Decke stecke. Die antizionistische Ideologie des syrischen Regimes war bei einigen so stark verinnerlicht, dass sie diese trotz Opposition gegen das Regime nicht hinterfragten. Es gab aber durchaus auch Anzeichen, dass selbst diejenigen, die krudesten antisemitischen Verschwörungsfantasien anhängen, zum Teil bereit sind, ihre Ansichten zu überdenken. Maen (23, arabisch-muslimischer Mann aus Khirbet Ghazaleh/Syrien) beispielsweise erzählte von dem ihm zu Ohren gekommenen Gerücht, dass Israel oder Juden die meisten Medien in der Welt und dass jüdische Familien die meisten Banken weltweit kontrollierten, und erwähnte in diesem Zusammenhang »Die Protokolle von Zion« und ein weiteres verschwörungstheoretisches Buch. Im Anschluss daran gab er allerdings zu, dass dieses auf wenig Fakten beruhe und falsch sein könne. Auch die »Erziehung zum Hass gegen Israel« in Syrien kritisierte er als Propaganda. Antisemitismus und Religion: Islamischer Antisemitismus? Explizit religiös begründeter Antisemitismus wurde im Vergleich zu anderen Begründungen selten geäußert. Generell waren die muslimischen Befragten darum bemüht, ein positives Bild des Islams zu zeichnen und diesen nicht als Ursache von potentiellen Konflikten darzustellen. Dennoch gaben die Interviewten auch Vorstellungen wieder, die islamisch-anti-jüdische Stereotype bedienen. Darunter fallen die Ansichten, dass Juden und Muslime generell Feinde seien, dass »die Juden« die heiligen Schriften verfälscht hätten und dass »die Juden« versucht hätten, den Propheten Mohammed zu vergiften.11 Auch positive Stereotype von Jüdinnen und Juden begründeten Befragte mit Verweis auf islamische Quellen: »Juden sind fähig, Juden sind die Söhne Gottes, Juden … das ist der Grund, warum sie Geld haben und der Koran besagt, dass sie hart arbeiten« (Nidal, 35, kurdischer Mann aus Aleppo/Syrien mit muslimischem Hintergrund).
11 Entsprechende Interpretationen finden sich traditionell in Strömungen des Islams. Der Koran und die Hadithen beschreiben die Beziehungen zwischen Juden und Muslimen ambivalent. Eine detaillierte Dokumentation entsprechender Textpassagen findet sich bei Bostom (2008).
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Die Annahme einer generellen Feindschaft zwischen »den Juden« und »den Muslimen« hat ein radikales Potenzial, da sie essentialistisch auf die Gesamtheit der Jüdinnen und Juden, einschließlich in Deutschland, bezogen wird. Ein Beispiel ist die Reaktion von Yanes auf eine Äußerung Jalils, der in einem Gespräch über das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen in Deutschland betonte, dass der Islam eine friedliche Religion sei und dass »unser Prophet Mohammed uns gesagt hat, dass wir alle Religionen akzeptieren müssen. Und als sie Heiden bekämpften, wollte er keinen von ihnen töten, weil er dachte, dass es vielleicht ein Gläubiger sein könnte.« (Jalil, 42, arabisch-muslimischer Mann aus Bagdad/Irak). Jalils Aussage entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Scheintoleranz, wenn sie wörtlich auf heutige Verhältnisse übertragen wird, insbesondere gegenüber Atheisten. Yanes war aber auch mit dieser Scheintoleranz nicht einverstanden und warf daraufhin ein: »Aber letztlich werden sie [die Juden12] zu unseren Feinden. Laut Koran und dem Islam sagt Gott uns, wer die Feinde deiner Religion sind. Letztlich sagt uns Gott, dass dies deine Feinde sind.« (Yanes, 32, arabisch/palästinensisch-muslimischer Mann aus Damaskus/Syrien) Yanes hat durchaus recht, dass es im Koran und auch in den Hadithen (Erzählungen über den Propheten Mohammed) Textstellen gibt, die insbesondere bei einer – weitverbreiteten – ahistorischen, nicht kontextualisierten Interpretation nahelegen, dass Jüdinnen und Juden Feinde des Islams und der Muslime schlechthin seien.13 Verweise auf die Annahme einer entsprechenden Feindschaft machten auch Interviewte, die diese Ansichten selbst nicht teilten: »Es gibt ein Riesenproblem zwischen dem Islam und
12 Auf Nachfragen des Übersetzers, wer der Feind sei, antwortete Yanes »Israel«, womit klar wird, dass er nicht Ungläubige im Allgemeinen meint. Da es im Gespräch zuvor hauptsächlich um Juden ging und er an anderer Stelle äußerte, dass er keinen Unterschied zwischen Juden und Israelis sehe und darüber hinaus die Aussage mit dem Bezug zum Koran unsinnig wäre, wenn sie auf Israel und nicht auf Juden bezogen würde, kann geschlossen werden, dass hier Juden gemeint sind. 13 Besonders relevant unter einer Anzahl von judenfeindlichen Stellen im Koran scheinen: Sure 5, Vers 82, der besagt, dass unter Juden die erbittertsten Gegner der Muslime zu finden sind, weit mehr als unter Christen; Sure 2, Vers 61, der beschreibt, dass Gott die Juden mit einem Fluch belegte; Sure 2, Vers 96, in dem Juden vorgeworfen wird, sie liebten das weltliche Leben; sowie Sure 9, Vers 29, der zum Kampf gegen Juden und Christen aufruft, bis sie Tribut zahlen und sich unterwürfig zeigen. Die kanonischen Hadithe enthalten noch explizitere judenfeindliche Stellen.
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Juden. Und dieses Problem stammt aus der Zeit des Propheten.« (Nidal, 35, kurdischer Mann aus Aleppo/Syrien mit muslimischem Hintergrund). Das in islamistischen Kreisen verbreitete Bild, Juden würden von Affen und Schweinen abstammen (Kressel 2012), war vereinzelten Interviewten aus YouTube-Videos von religiösen öffentlichen Persönlichkeiten bekannt, stieß bei ihnen aber auf Ablehnung. Als Beweis einer Feindschaft der Juden gegenüber Muslimen diente einigen Befragten die Annahme, Juden hätten versucht, Mohammed zu töten. Dieses Gerücht lässt sich zurückverfolgen auf die kanonisierten Hadithe, die Erzählungen über das Leben Mohammeds, in denen es heißt, eine jüdische Sklavin habe Mohammed vergiftetes Fleisch zu essen gegeben.14 Islamisten, und in diesem Fall auch einer der Interviewten, machen daraus den Vorwurf, dass schon seit Zeiten Mohammeds »die Juden« Todfeinde der Muslime seien. Einer der wirkmächtigsten Vorwürfe gegen »die Juden« in der Tradition des Islams – in mancher Hinsicht vergleichbar mit dem Vorwurf im Christentum, »die Juden« hätten Jesus getötet – ist die Vorstellung, »die Juden« hätten die heiligen Schriften gefälscht. Dieser Vorwurf findet sich an mehreren Stellen auch direkt im Koran.15 Damit verbunden sind Stereotype von »den Juden« als Verrätern und Lügnern. »Was wissen wir über Juden? Sicher, eine Religion, aber sie haben sie verfälscht. [...] Das wissen wir. Sie haben ein Buch wie unseres und sie haben einen Propheten und wir erkennen ihren Propheten an und alles, aber sie haben das Buch gefälscht, das von Gott offenbart wurde […]. Der Koran besagt auch, dass es nicht dasselbe Buch ist.« (Bader, 33, arabisch/palästinensisch-muslimischer Mann aus dem Flüchtlingslager Jarmuk bei Damaskus/Syrien) Auch der Wunsch nach der Zerstörung Israels kann religiös begründet werden, indem »Palästina«, das in diesen Vorstellungen das Gebiet Israels
14 Sahih Muslim, Buch 026, Nr. 5430 und Sahih Bukhari, Band 3, Buch 47, Nr. 786. 15 Theologisch stellt sich im Islam das Problem, dass der Koran als direktes Wort Gottes gilt und dass darin Geschichten aus der Thora beziehungsweise dem Alten Testament wiedererzählt werden, bei denen aber einige, teilweise wesentliche Details anders beschrieben werden. Wenn der Text des Korans als absolute Wahrheit gilt, muss die Thora eine Fälschung dieser Geschichten sein, auch wenn historisch unstrittig ist, dass die Thora lange vor dem Koran entstand und Niederschriften aus vorislamischer Zeit existieren. Der Vorwurf der Fälschung findet sich im Koran, so etwa in Sure 4, Vers 46 oder in Sure 2, Vers 75, in denen Juden vorgeworfen wird, wissentlich Gottes Wort entstellt zu haben.
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mit umfasst, als muslimisches Territorium deklariert wird, auf dem Juden und damit der jüdische Staat keinen Hoheitsanspruch haben dürfen. »Letztendlich ist Palästina unser. Wir sind Muslime und wir wissen, dass Palästina den Muslimen und Arabern gehört und Aksa [der Felsendom in Jerusalem] unser ist und eines Tages wird Palästina frei sein und zu uns zurückkehren.« (Yasser, 41, arabisch/palästinensisch-muslimischer Mann aus Homs/Syrien) Inas und Fatin, beide junge, säkulare, wenig religiöse Frauen aus Damaskus, erwähnten eine in ihrem Bekannten- und Familienkreis sowie in Schulen und Schulbüchern in Syrien verbreitete Vorstellung: »Ich habe gehört, im Islam, dass wir vor dem Jüngsten Tag Palästina zurückkriegen und den Krieg gewinnen werden« (Inas, schätzungsweise Mitte 20, arabisch-muslimische Frau aus Damaskus/Syrien). Diese Annahme zeigt die Verflechtung säkularer, islamischer und nationalistischer Deutungen des Krieges gegen Israel beziehungsweise gegen »die Juden«. Sie ist anschlussfähig an die in islamistischen Kreisen weitverbreitete Wahnvorstellung eines globalen Krieges gegen den Islam, der von »den Juden« angeführt würde, oder an dem sie zumindest mitwirkten. In dieser Vorstellung gibt es in der Zeit kurz vor dem Jüngsten Gericht einen Religionskrieg, aus dem der Islam als Sieger hervorgehen werde (Nettler 1987). Gamal, ein ehemaliger Schuldirektor und Hochschullehrer, führte als Beleg für diese Position die »Protokolle der Weisen von Zion« an, aus denen er frei zitierte: »Wir haben unser Bestes getan, um das Christentum in Europa zu erledigen und es innerhalb der Kirche zu beschränken. […] Und wir werden nicht lange brauchen, um den Islam zu erledigen.« (Gamal, 45, arabisch-muslimischer Mann aus Idlib/Syrien) Den in seinen Augen allgegenwärtigen Vorwurf, »der Islam« sei die Ursache des Terrorismus, sah Gamal als Bestätigung für die Echtheit der Protokolle der Weisen von Zion, die er als jüdisches Buch ansah und von denen er zwei Exemplare besitzt. Einige Interviewte begründeten ihre Abneigung gegenüber Jüdinnen und Juden auch mit muslimischen Traditionen. Inas etwa erinnerte sich an muslimische Verhaltensregeln gegenüber jüdischen und christlichen Menschen. »Was ich höre, ist, dass Juden wie wir sind. Sie sind sauber wie Muslime, […] aber du darfst nicht in ihrem Haus schlafen, weil du [dort] nicht sicher bist. Christen sind nicht sauber, aber du kannst in ihrem Haus schlafen. Aber Juden sind unsere Cousins, sie sind wie wir, was 316
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Alltagsgewohnheiten betrifft.« (Inas, schätzungsweise Mitte 20, arabisch-muslimische Frau aus Damaskus/Syrien) Anti-Israelismus: Gegen die Existenz Israels Negative Einstellungen gegenüber Israel und die Wahrnehmung, dass die Existenz des Staates prinzipiell unrechtsmäßig sei und beendet werden sollte, gehörten für die meisten der befragten Geflüchteten (mit Ausnahme vieler kurdischer) zur Norm. Dazu gehörte, dass Zionismus grundsätzlich negativ konnotiert war. Unter den Begriff Zionismus wurden jedoch auch viele Fantasien über angebliche israelische Einflüsse in der Welt sowie über vermeintliche Expansionspläne Israels gefasst. Zionismus wird also keineswegs nur als Nationalbewegung zur Errichtung eines jüdischen Staates verstanden. In dem Schwarz-Weiß-Denken und der Pauschalisierung des Anti-Israelismus, bei denen keine Kritik an bestimmten Positionen israelischer Regierungen geübt wird, sondern hinter denen eine grundsätzliche Opposition gegen Israel steht, wird deutlich, dass es sich eben nicht um Kritik, sondern um antisemitisches Ressentiment handelt. Hinzu kommt, dass die Vorstellungen der Befragten von Jüdinnen und Juden einerseits und Israel bzw. Israelis andererseits häufig ineinander übergingen, auch bei denen, die eingangs betonten, dass es einen großen Unterschied zwischen Juden und Israelis gibt. Eine Reihe von syrischen Interviewten bemerkte durchaus, dass die Verbrechen des syrischen Regimes und des IS gravierender sind als die Israel zugeschriebenen Verbrechen. »Israel hat in seiner ganzen kriminellen Geschichte in Palästina nicht so viele Menschen getötet wie Bashar al-Assad in sechs Monaten in Syrien«, sagte etwa Burhan (27, kurdisch-muslimischer Mann aus Damaskus/Syrien), der keineswegs frei war von anti-israelischen Verschwörungsfantasien. Allerdings ließ sich bei ihm eine Infragestellung des Feindbildes Israel beobachten. Andere Befragte sahen jedoch eindeutig ein Komplott am Werk und beschrieben Bashar al-Assad als »Partner« des Islamischen Staates. Die Begründung: Beide würden Israel nicht bekämpfen, obwohl Israel doch Syrien angreife. Wieder andere gingen davon aus, dass Syrien angegriffen wird, »um Israel zu schützen« (Zaid, 29, arabisch-muslimischer Mann aus Syrien). Dass Israel hinter den Kriegen in Syrien und im Irak stecke, glaubten interessanterweise sowohl säkulare wie religiöse, christliche wie muslimische, männliche wie weibliche Interviewte. Manche betonten jedoch eher den (negativen) regionalen Einfluss Israels und hoben israelische Angriffe auf Syrien und die Besetzung der Golanhöhen oder des Südlibanons hervor, die sie als Teil eines 317
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Plans zur Errichtung eines Groß-Israels ansahen, der bis 1948 oder noch früher zurückreiche. Der Hauptpunkt, mit dem die Befragten ihre antiisraelische Haltung begründeten und bei dem sie von einem allgemeinen Einverständnis auch des Interviewers ausgingen, ist die Verurteilung der »Besatzung Palästinas«, womit allerdings nicht die Besatzung des Westjordanlandes, sondern die Staatsgründung Israels gemeint ist. Dabei kann das Bild von Juden von entsprechender Propaganda des syrischen oder irakischen Regimes geprägt sein, wie Assad es rückblickend für die Zeit, bevor er nach Deutschland gekommen war, reflektierte: »Ich wusste so gut wie nichts über Juden. Alles, was ich wusste, ist, dass die Juden palästinensisches Land besetzen« (Asaad, 31, arabisch-muslimischer Mann aus Homs/Syrien).16 Andere leugneten selbst die historische Tatsache, dass Jüdinnen und Juden bereits lange vor der Gründung des Staates Israel im Nahen Osten lebten. Juden wurden oft ausschließlich als Europäer und damit als Fremdkörper auf arabischem Territorium angesehen: Interviewer: »Aber denken Sie nicht, dass Juden bereits dort waren [in Jerusalem und Hebron], auch schon vor zweitausend Jahren?« Yassar: »Wer? Juden? Nein, Juden waren in Großbritannien, Juden sind nicht in Palästina zu Hause. […] Juden haben kein Zuhause, sie haben kein Land.« (Yassar, 41, arabisch/palästinensisch-muslimischer Mann aus Homs/Syrien) Das Recht auf jüdische nationale Selbstbestimmung verneinte Sabri nicht nur mit dem Argument, dass es keine Geschichte jüdischen Lebens im Nahen Osten gegeben hätte. Ganz prinzipiell postulierte er, dass Jüdinnen und Juden gar kein eigenes Land zu haben hätten und greift damit auf das Stereotyp des wurzellosen, ewig wandernden Juden zurück.17 Andere Interviewte erkennen zwar die historische Tatsache an, dass Jüdinnen und 16 Asaad widersprach antisemitischen Verschwörungsfantasien anderer Befragter und zeigte wenig Ressentiments gegenüber Juden. Das Stereotyp, dass Juden reich seien und ihnen »alles gehört«, glaubte er jedoch, von seinen jüdischen Bekannten in Deutschland als wahre Zuschreibung gelernt zu haben. 17 Sabri ist ein gutes Beispiel für jemanden, der versuchte, zwischen Juden und Israel zu trennen. Die Fundamentalopposition gegen Israel, das Leugnen eines jüdischen Volkes und seiner Verbindung zu Israel sowie die Verwendung alter judenfeindlicher Stereotype hielten ihn nicht davon ab, an anderer Stelle zu sagen: »Wir sind nicht gegen Juden. Manche sind gut und manche sind schlecht. Netanyahu ist ein schlechter Mensch, aber das sind nicht alle Bürger« (Yassar, 41, palästinensisch-syrischer Herkunft aus Homs/Syrien). Auch der oben mit einer Verschwörungstheorie in Bezug auf die angeblich von Israel initiierte Zerstörung Sy-
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Juden seit Jahrhunderten nicht in Jerusalem, sondern auch im Irak und in Syrien leben. Aus ihrer Perspektive bestätigte dies aber nur, dass ein harmonisches Zusammenleben am besten unter arabischer bzw. muslimischer Herrschaft möglich ist. Letztlich wird daraus eine Forderung nach Auflösung des jüdischen Staates zugunsten eines muslimisch oder arabisch dominierten Palästinas, in dem Jüdinnen und Juden toleriert werden. Ein Vertreter dieser Position ist Zaid: »In unserer arabischen Mentalität gibt es keinen Frieden, solange du nicht zurückgibst, was genommen wurde […]. Was ich will, ist, dass deren Armee zerstört wird. Sie mögen dann weiter auf unserem Gebiet leben und ihre Religion ausüben […]. Das ist, was wir für die nächsten 25 Jahre wollen, inschallah [so wahr Gott will]. Und ich wiederhole es zum dritten Mal, wir werden für die Zukunft der gesamten arabischen Nation entscheiden, auch wenn es einen dritten oder vierten Weltkrieg geben wird, weil wir eine große Generation haben, die in dieser Kultur groß geworden ist. Wir haben kein Problem mit den jüdischen Menschen, wir glauben, dass das [auch] deren Land, deren Region ist, aber wir wollen ein Ende der israelischen Armee und sie wird zerstört werden. Und sie mögen dann mit uns, unter der palästinensischen Regierung, leben und ihre jüdische Religion ohne Probleme ausüben. Wir wollen nur in Frieden und Sicherheit leben« (Zaid, 29, arabischmuslimischer Mann aus Syrien). »Frieden und Sicherheit« ist in dieser Vorstellung also nur durch Unterwerfung unter den Islam oder einen arabischen (islamisch dominierten) Nationalismus zu haben. Die fundamentale Ablehnung des jüdischen Staats zeigte sich auch bei einigen sehr westlich orientierten Interviewten darin, dass sie die offizielle Bezeichnung Israel ablehnten und stattdessen den Begriff »Palästina« verwendeten. Dazu die bereits zitierte Inas: »Mein Traum ist, dorthin zu fahren und Palästina zu sehen. Wirklich, das ist ein Traum von mir«. Auf Nachfrage des Interviewers, ob sie Israel oder Palästina meine, kam die freundliche, aber bestimmte Antwort: »Nein, nein, das ist Palästina. Palästina und etwas, das Tel Aviv genannt wird« (Inas, schätzungsweise Mitte 20, arabisch-muslimische Frau aus Damaskus/Syrien).
riens zitierte Jaleel stellte an anderer Stelle seine nicht sehr originelle Verschwörungsfantasie zum 11. September 2011 vor, als angeblich 3 000 jüdische Angestellte nicht zur Arbeit erschienen, und ergänzte dann: »Ich habe hier drei sehr nette jüdische Freunde, also das ist in Bezug auf die Regierungen« (Jaleel, 31, Christ aus Damaskus/Syrien).
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Distanzierung von antisemitischer Propaganda Einige Interviewte lehnten antisemitische Stereotype und Vorstellungen explizit ab. In ihrer Ablehnung wurde jedoch oft zum einen deutlich, dass entsprechende judenfeindliche Einstellungen in ihrem Herkunftsland zur gesellschaftlichen Norm und zur staatlichen Propaganda gehören und zum anderen, dass meist nur ein Teil der antisemitischen Vorstellungen hinterfragt wurde, andere Stereotype und Denkmuster aber fortbestanden. Die folgenden drei Beispiele von Fatin, Adnan und Maryam zeigen unterschiedliche Aspekte der Distanzierung von antisemitischen Einstellungen seitens der arabischen Befragten. Fatin studierte zum Zeitpunkt des Interviews in Deutschland, vertrat im Allgemeinen sehr säkulare und tolerante Positionen. Sie spricht hervorragend Englisch und gut Deutsch. Sie glaubte zwar, dass Israel hinter den Anschlägen vom 11. September 2001 stecke, aber sie begann, antisemitische Einstellungen zu hinterfragen. Dazu zählen judenfeindliche Stereotype in der Alltagssprache. Außerdem erkannte sie die staatliche Hetze in Syrien gegen Israel und Juden als Propaganda und bemühte sich um eine Trennung von Juden, Israelis und dem Staat Israel. Adnan, 36, hatte in Damaskus eine Filiale eines internationalen Modegeschäfts geleitet. Im Interview hob er hervor, dass man sich in Syrien im Zweifelsfall judenfeindlich zeigen müsse, um nicht in Schwierigkeiten mit dem Regime zu kommen. Er persönlich hege keine Feindschaft gegen Juden und der Koran schreibe, auch wenn er ihn nicht so genau kenne, Respekt gegenüber Juden vor. An anderer Stelle erklärte er jedoch, dass Juden durch die Besetzung Palästinas zu Feinden würden. Maryam, 35, eine arabisch-atheistische Frau mit christlichem Hintergrund aus Damaskus/Syrien, sagte, »man kann das, was in der Schule gelehrt wurde, dass Juden habgierig sind und viel Geld haben«, nicht für bare Münze nehmen, denn »sie sind auch Menschen«, wie sie in Deutschland in Begegnungen erfahren habe. Alle drei, Fatin, Adnan und Maryam, sind wenig religiös und kommen aus Damaskus, einer relativ pluralistischen Großstadt. Alle drei betonten, dass sich die syrische Propaganda nicht nur gegen Israel, sondern gegen Juden richtet. Fatin beschrieb außerdem einen Antisemitismus in der Alltagssprache. Bei Fatin ist es die räumliche Distanzierung, bei Adnan das Wegfallen der Nötigung zum Antisemitismus des syrischen Regimes verbunden mit seinem toleranten Islamverständnis und bei Maryam Begegnungen mit Jüdinnen und Juden in Deutschland, die zum ersten Überdenken antisemitischer Positionen führten. Unter kurdischen Interviewten sind antisemitische Stereotype und Verschwörungsfantasien generell weniger verbreitet, auch wenn es Gegenbei320
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spiele gibt, wie oben zitierte Beispiele kurdischer Interviewter zeigen. Wenn Kurden sich antisemitisch äußerten, dann geschah dies häufiger in gemischt arabisch-kurdischen Gruppen als in rein kurdischen Gruppen. Zum Teil mag das an einer instrumentellen Verwendung antisemitischer Bildern liegen: Die Anpassung an den herrschenden (antisemitischen) Diskurs ermöglicht es unter Umständen, bezüglich der Interessen der kurdischen Minderheit dem herrschenden Diskurs widersprechen zu können. In rein kurdischen Gruppen zogen einige Kurden Parallelen zwischen ihrem Volk und Juden beziehungsweise Israel aufgrund der Wahrnehmung eines gemeinsamen Feindes (»die Araber« oder die Staaten Irak, Syrien, und die Türkei). Andere sahen Parallelen zwischen der Shoah und dem Giftgasangriff Saddam Husseins 1988 gegen Kurden in Halabaja und anderen Städten.18 Nidal, ein 35-jähriger Kurde mit muslimischem Hintergrund und ehemaliger Lehrer aus Aleppo, beschrieb nicht nur das Fehlen einer Feindschaft zwischen Kurden und Juden. Er sprach sogar von einer heimlichen Liebe, die sich daran zeige, dass Juden Kurden geholfen hätten. Er sah Parallelen in der Geschichte des kurdischen und jüdischen Volkes, wobei er allerdings die Ermordung tausender Kurden durch Saddam Husseins Giftgasangriffe mit der Shoah gleichsetzte. Sein Bild von Juden war eher philosemitisch geprägt. Aufgrund Gottes Gaben seien sie besonders fähig und reich. Siwar (26, kurdisch-atheistischer Mann aus Qamishli/Syrien) beschrieb einen deutlichen Unterschied zwischen Arabern, die Juden feindlich gesinnt seien und deshalb sogar die Ermordung von Juden befürworteten, und Kurden, die diese Feindschaft nicht teilten. Dabei verwies er auch auf Unstimmigkeiten in syrischen Lehrinhalten in Bezug auf Israel, die zwar die historische jüdische Besiedlung Kanaans beschreiben, aber den heutigen Juden die Besetzung arabischen Landes vorwerfen würden. Gleichsetzungen Israels mit dem Nationalsozialismus stießen bei Kurden meist auf Unverständnis. Sie verwiesen auf die völlig unterschiedlichen Formen von Diskriminierungen beziehungsweise Ermordungen. Siyamend erkannte entsprechende Gleichsetzungen und die Projizierung von Taten der israelischen Armee auf alle Juden als Ideologie, die ihm aber in der Schule beigebracht worden war:
18 Ein christlicher Teilnehmer, vermutlich mit armenischem Hintergrund, sieht Parallelen zwischen der Shoah und dem Genozid an den Armeniern, was ihn aber nicht daran hindert, antisemitischen Verschwörungsfantasien über die angeblich von Juden dominierten Freimaurer anzuhängen.
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»Ich weiß, dass es diese Verallgemeinerungen gab, zum Beispiel, wenn wir sahen, dass die israelische Armee schreckliche Dinge tat, dachten wir, dass alle Israelis so sind. Und das ist etwas, was sie uns in den Schulen gelehrt haben, dass jeder Israeli, Jude, schlecht ist. Auch, weil sie einen kleinen Teil von Syrien besetzten, und solche Dinge werden besonders hervorgehoben, während sie jung sind, dass Israelis Juden sind und schlecht sind.« (Siyamend, 22, kurdisch-muslimischer Mann aus Qamishli/Syrien) Kurden wurden sowohl in Syrien als auch im Irak als Kurden diskriminiert. Die nationalistisch-arabische Ideologie und Praxis der Baath-Partei war und ist auch gegen sie gerichtet. Dies mag ein entscheidender Grund sein, weshalb auch der antizionistisch-antisemitische Teil der arabisch-nationalistischen Ideologie abgelehnt wird. Der morgendliche Treueeid im syrischen Schulsystem beinhaltete zumindest unter Hafez al-Assad ein Bekenntnis zum Regime, zur arabischen Einheit sowie zum Kampf gegen die Muslimbruderschaft und gegen den zionistischen Imperialismus. Auch kurdische Schüler_innen wurden unter Prügelandrohung zum Schwur auf die arabische Einheit gezwungen. Die syrische Kurdin Bervian (26) berichtete: »Der wirkliche Feind für uns Schülerinnen und Schüler war nicht die Muslimbruderschaft oder Israel. Selbstverständlich sprachen sie von Imperialismus oder Zionismus, aber wenn sie darüber sprachen, dann sprachen sie auch über die Kurden […]. Sie verbanden Kurden mit Imperialismus, dass sie Unterstützung bekämen vom Imperialismus oder imperialistischen Ländern.« Das trug offensichtlich dazu bei, dass viele Kurd_innen auch die Propaganda gegen den »zionistischen Imperialismus« nicht sehr überzeugend fanden. Resümee Antisemitische Stereotype waren eher die Regel als die Ausnahme, auch wenn sich kaum offener Hass zeigte. Die Position, die Welt würde von Juden oder Israel kontrolliert, wird oft als normal beziehungsweise legitim empfunden. Das Welt- und Geschichtsbild vieler Interviewpartner ist geradezu strukturiert durch Verschwörungsfantasien, insbesondere hinsichtlich der Entwicklungen in der Region des Nahen und Mittleren Ostens. Antisemitische Denkweisen waren auch unter denjenigen verbreitet, die 322
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betonten, dass sie das Judentum »respektieren« oder dass das Zusammenleben zwischen Muslimen, Christen und Juden in den Herkunftsländern und in Deutschland unproblematisch sei. Ein grundsätzlich negatives Israelbild und eine Infragestellung des Existenzrechts Israels ist für fast alle arabische Interviewte selbstverständlich. Das Feindbild Israel bricht jedoch vereinzelt auf, insbesondere angesichts der Verbrechen des IS und des syrischen Regimes. Kurdische Interviewte äußern sich zumindest in rein kurdischen Gruppen des Öfteren neutral oder sogar positiv in Bezug auf Israel. Viele Interviewte betonen, dass sie zwischen Juden und Israel trennen. Dies gelingt aber gerade bei einer starken Abneigung gegen Israel nur punktuell. Andere wiederum sehen explizit keinen Unterschied zwischen Israel und »den Juden«. Auffallend war die Diskrepanz zwischen Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung im jeweiligen Herkunftsland und den Angehörigen der jeweiligen ethnischen und religiösen Minderheiten. Insbesondere einige Kurden und noch deutlicher Jesiden zeigten pro-jüdische und pro-israelische Einstellungen. Teilweise waren diese jedoch philosemitisch durchsetzt, das heißt, »die Juden« werden bewundert für ihre Macht und Cleverness. An vielen Punkten wurde die antisemitische Norm innerhalb der jeweiligen Herkunftsgesellschaft deutlich. Die antisemitischen Vorstellungen, ob aus arabisch-nationalistischen, anti-imperialistischen, islamistischen, oder aus allgemein weltverschwörungstheoretischen ideologischen Versatzstücken gespeist, waren jedoch zum Teil brüchig und bei einigen konnten Ansatzpunkte zum Überdenken dieser Vorstellungen verzeichnet werden. Inwiefern »MENA-Migranten auf gesellschaftlicher Ebene bedeutend zum Antisemitismus beitragen« (Feldman 2018: 31) kann nicht abschließend beurteilt werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die antisemitische Norm unter einem Großteil insbesondere der arabischen und muslimischen Geflüchteten sich nicht von selbst auflöst. Es steht zu befürchten, dass sie bei der in der deutschen Gesamtbevölkerung verbreiteten Israelfeindschaft im Alltag auf wenig Widerstand stößt, wenn sie entsprechend umformuliert wird. Literatur Anti-Defamation League (2014): ADL GLOBAL 100. 2014, http://global100.adl.or g. Anti-Defamation League (2015): ADL GLOBAL 100. 2015 Update in 19 Countries, http://global100.adl.org/public/ADL-Global-100-Executive-Summary2015.pdf.
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Von der Delegitimierung zum eliminatorischen Antizionismus. Holocaustleugnung im Iran seit 9/11, Vernichtungsdrohungen gegen Israel und die regionale Expansion des Ajatollah-Regimes Stephan Grigat
Das iranische Regime war 2001 nach den offensichtlich von der islamistischen Konkurrenz der Ajatollahs ausgeführten Anschlägen von 9/11 trotz des zeitweise instrumentell-kooperativen Verhaltens Teherans gegenüber Al Qaida (Lieberman 2016) schnell mit Verurteilungen der Angriffe bei der Hand (Hartenstein 2015: 95). Dadurch wurde die in westlichen Medien und in der wissenschaftlichen Literatur ohnehin existierende Tendenz zur Verharmlosung und Relativierung des antisemitischen und staatsterroristischen Charakters des iranischen Regimes (Grigat 2015) verstärkt. Wenige Jahre nach den Anschlägen, in der Amtszeit des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinejad ab 2005 gerieten die Holocaustleugnung und die gegen Israel gerichteten Vernichtungsdrohungen des iranischen Regimes durch die aggressive Rhetorik des aus den Reihen der Pasdaran stammenden Regierungschefs dennoch bei einer breiteren globalen Öffentlichkeit ins Bewusstsein. Allerdings handelte und handelt es sich auch vor nach der Präsidentschaft Ahmadinejads beim Regime der Ajatollahs und Revolutionswächter um eine ebenso antisemitische wie staatsterroristische, sich religiös legitimierende Diktatur, die angesichts der antiwestlichen, antisemitischen, märtyrerzentrierten Ideologie und dem Wechselspiel von staatlichen und »revolutionären« Institutionen am ehesten mit Begriffen wie »Unstaat« im Sinne Franz L. Neumanns und »Doppelstaat« im Sinne Ernst Fraenkels zu fassen ist (Scheit 2017). Hinsichtlich der antisemitischen Ideologie der iranischen Islamisten kann zusammenfassend von einer Verherrlichung einer konkretistisch verklärten, als organisch, authentisch, schicksalhaft und harmonisch gezeichneten Gemeinschaft der Muslime gesprochen werden, die als permanent von zersetzenden Feinden bedroht halluziniert wird. Diese idealisierte Gemeinschaft wird gegen eine als chaotisch-abstrakt, entfremdet, künstlich, unmoralisch, materialistisch und widersprüchlich portraitierte und letztlich mit Juden oder dem jüdischen Staat und dem liberalistischen Westen assoziierte Gesellschaftlichkeit in Anschlag gebracht (Marz 2014). 327
Stephan Grigat
Wenn über den Antisemitismus des iranischen Regimes gesprochen wird, gilt es drei Punkte zu thematisieren: Erstens die traditionelle Judenfeindschaft, wie sie sich besonders ausgeprägt, aber keineswegs ausschließlich beim bis heute von den Anhängern des Regimes verehrten Ajatollah Ruholla Khomeini findet; zweitens die Leugnung und Relativierung des Holocaust; und drittens die offenen Vernichtungsdrohungen gegenüber Israel samt des daraus resultierenden Agierens in der Region des Nahen Ostens. Keine dieser Komponenten verschwindet zu irgendeiner Zeit in der »Islamischen Republik«, aber in gewissen Phasen der Islamischen Revolution treten einzelne Aspekte stärker in den Vordergrund. Die offene Judenfeindschaft war vor allem für die vorrevolutionären Schriften Khomeinis charakteristisch, sie bricht aber auch nach 1979 immer wieder durch und bestimmt neben traditionellen islamischen Regelungen die diskriminierende Praxis gegenüber der im Iran verbliebenen jüdischen Minderheit. Die verbalen Attacken gegen Israel und die Unterstützung der gegen Israel agierenden Terrororganisationen ist eine Konstante in der Ideologie und Praxis des iranischen Regimes und wird seit 1979 bis zum heutigen Tag von ausnahmslos allen Fraktionen des Regimes formuliert und praktiziert. Der Hass auf den jüdischen Staat gehört zu den Kernelementen der islamistischen Ideologie und ist keineswegs lediglich ein »Mittel zum Zweck« (Schweizer 2017: 613). Die Holocaust-Leugnung hatte ihre Hochzeit während der Präsidentschaft Ahmadinejads, der sie in das Zentrum seiner Politik und Agitation rückte, aber auch seine Vorgänger Ali Akbar Hashemi Rafsandjani und Mohammed Khatami waren Holocaustleugner, und der bis heute amtierende oberste geistliche Führer Ali Khamenei ist es ebenfalls. Von Seiten des aktuellen Präsidenten und seines Außenministers Mohammad Javad Zarif fand hinsichtlich der Holocaustleugnung seit 2013 eine partielle rhetorische Abrüstung statt, aber auch während Hassan Rohanis Amtszeit sind iranische Regierungsstellen in Veranstaltungen zur Leugnung des Holocaust involviert. Die Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen wird von der Rohani-Administration selbst betrieben – etwa, wenn Zarif verkündet: »Wir verurteilen das von den Nazis verübte Massaker an den Juden. Und wir verurteilen das von den Zionisten verübte Massaker an den Palästinensern« (Der Standard 2013), womit er nicht nur die Shoah zu einem »Massaker« minimiert, sondern zugleich die Israelis zu den Nazis von heute erklärt, was ihm nichtsdestotrotz von zahlreichen internationalen Beobachtern als deutliche Distanzierung von der Holocaustleugnung ausgelegt wurde, obwohl es sich eher um eine Art Modernisierung des Antisemitismus im Sinne der Anpassung an internationale antiisraelische Gepflogenheiten handelte (Grigat 2014: 166). 328
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Letztlich wird die Linie in dieser Frage nicht vom Präsidenten oder vom Außenminister, sondern vom obersten geistlichen Führer festgelegt, der allein schon durch seine Befugnis zur Ernennung von über 100 Spitzenpositionen in Politik, Justiz, Verwaltung, Militär, Medien und religiösen Institutionen (Boroujerdi/Rahimkhani 2018: 46–49) der entscheidende Mann des Regimes ist: »Holocaust denial is the official position of Supreme Leader Ali Khamenei and no Iranian official can do anything against it« (Mohammadi 2016: 12). Selbst ein Befürworter von noch engeren Beziehungen zwischen Deutschland und dem Iran wie Adnan Tabatabai, der Sohn des bis 1986 amtierenden Botschafters der ‚Islamischen Republik’ in der Bundesrepublik, musste am Ende der ersten Amtszeit von Rohani einräumen, dass Holocaustleugnung »eine Konstante in der iranischen Außenpolitik bleibt« (2016: 123). Traditioneller Antisemitismus und Hass auf den jüdischen Staat Der spätere Revolutionsführer Khomeini war Ende der 1930er-Jahre ein regelmäßiger Hörer des nationalsozialistischen Kurzwellensenders Radio Zeesen, mit dem die antisemitische NS-Propaganda im Nahen und Mittleren Osten Verbreitung fand (Küntzel 2009: 64; Taheri 1986: 99). Das bedeutet nicht, dass Khomeini sich mit der Ideologie Hitlers insgesamt identifiziert hätte, über die er sich mitunter abfällig geäußert haben soll (Motadel 2017: 136), während andere Geistliche, wie Ajatollah Abu al-Qasem Kashani, zu dessen Schülern Khomeini allerdings gerechnet werden muss, und der in den 1940er-Jahren auf Grund seiner »profaschistischen Einstellung« im Iran inhaftiert war (Ebert/Fürtig/Müller 1987: 42), sich explizit positiv auf den Nationalsozialismus bezogen haben. In Bezug auf den Antisemitismus ist das iranischen Regimes jedenfalls ein Paradebeispiel für das Nachwirken des Nationalsozialismus nach seiner militärischen Niederringung (Grigat 2012). Die Ideologie Khomeinis richtet sich keineswegs nur gegen den israelischen Staat, sondern proklamierte insbesondere vor 1979 offen die Feindschaft zum Judentum. Der spätere Revolutionsführer konnte dabei auf die Tradition des persisch-islamischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts zurückgreifen (Wistrich 2010: 830–37; Weinstock 2019). Seinen politischen Hauptkontrahenten, Schah Mohammad Reza Pahlavi, attackierte Khomeini mehrfach als »Jude«, der seine Befehle aus Israel erhalte (Küntzel 2015: 509). Der Revolutionsführer sah den Islam seit seiner Gründung in einer Konfrontation mit den Juden. Khomeini war in einer klassischen Projektion seiner eigenen globalen Herrschaftsgelüste davon überzeugt, er 329
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müsse gegen die Errichtung einer jüdischen Weltherrschaft kämpfen, von der er bereits in seiner zentralen Schrift Islamic Government fantasierte, einer Sammlung von Vorlesungen, die er Anfang der 1970er-Jahre im irakischen Exil gehalten hat: »We must […] make the people aware that the Jews and their foreign backers are opposed to the very foundations of Islam and wish to establish Jewish domination throughout the world.« (1981: 127) An anderer Stelle führte er aus: »[…] the Jews have grasped the world with both hands and are devouring it with an insatiable appetite, they are devouring America and have now turned their attention to Iran and still they are not satisfied […].« (1995: 368) Der antisemitische Charakter des iranischen Regimes wird häufig mit Hinweis auf die verbliebene jüdische Gemeinde im Iran bestritten. Tatsächlich werden Juden im Iran derzeit nicht in dem Maße verfolgt wie andere religiöse Minderheiten wie beispielsweise die Baha’i, die nicht als ‚Buchreligion’ anerkannt werden. Doch der Verweis auf die verbliebene jüdische Gemeinde blendet aus, dass Juden im Iran keine gleichberechtigten Staatsbürger sind. Die jüdische Minderheit wird gezwungen, sich mit der Existenz als systematisch diskriminierte Minderheit abzufinden und sich permanent von Israel zu distanzieren. Juden gelten als dhimmis, die zahlreichen Sonderregelungen und Diskriminierungen unterliegen und sich dem Herrschaftsanspruch des Islam unterzuordnen haben, was auch von Autorinnen konstatiert wird, die selbst noch die offen antisemitischen Äußerungen Khomeinis als »Polemik« (Amirpur 2019: 229) verharmlosen. Juden dürfen – so wie Angehörige der meisten anderen ‚anerkannten’ Minderheiten – nicht Minister, Staatssekretäre, Generaldirektoren, Richter oder Lehrer an regulären Schulen werden (Fürtig 2016: 157). Für Juden, wie auch für die anderen ‚anerkannten’ Minderheiten, gelten diskriminierende Sonderregelungen beispielsweise im Erbrecht, bei Zeugenaussagen vor Gericht und beim ‚Blutgeld’, mit dem unterschiedliche Schadenshaftungszahlungen an Muslime und Nichtmuslime, an Männer und Frauen geregelt sind (Posch 2010a: 30). Allein schon vor diesem Hintergrund ist es alles andere als überraschend, dass rund 90 Prozent der vor 1979 im Iran lebenden geschätzten 100.000 bis 150.000 Juden seit der islamischen Revolution das Land verlassen haben (Hakakian 2017: 149). Große Bedeutung für die Verbreitung des Antisemitismus im Iran hatte die 1978 ins Persische übersetzte antisemitische Hetzschrift Die Protokolle der Weisen von Zion, die in den folgenden Jahrzehnten von staatlichen Stel330
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len im Iran in großen Auflagen immer wieder neu herausgegeben wurde – mitunter mit geänderten Titeln wie Protokolle der jüdischen Führer zur Eroberung der Welt (Posch 2010b: 32). Hier wird bereits deutlich, dass die zeitweiligen Bemühungen seitens der iranischen Führung, mitunter zwischen Juden und Zionisten deutlicher zu unterscheiden, immer wieder konterkariert werden. Zudem wird in der iranischen Propaganda über ‚die Zionisten’ stets in eben jenem verschwörungstheoretischen Geraune geredet, das aus dem klassischen Antisemitismus gegenüber Juden bekannt ist. Der Zionismus wird in der Ideologie und Propaganda des iranischen Regimes nicht als ein gewöhnlicher politischer Gegner attackiert, sondern als Grundübel, das für nahezu alle Probleme in der Welt verantwortlich gemacht wird, und dessen Auslöschung daher den Weg zur Erlösung bereite. Auch wenn Khomeini, Khamenei und andere Vertreter des Regimes nach 1979 in öffentlichen Verlautbarungen mehrfach betont haben, dass sich ihre Politik und Ideologie nicht gegen Juden richte, solange sich diese vom Zionismus distanzieren und dem Herrschaftsanspruch des Islam unterordnen, gibt es offen judenfeindliche Proklamationen, die sich nicht an diese rhetorische Unterscheidung halten, keineswegs nur von randständigen Vertretern des Regimes. Regelmäßig werden in der iranischen Staatspropaganda Begriffe wie Juden und Zionisten oder auch Judentum und Zionismus in austauschbarer Art und Weise verwendet (Jaspal 2014: 168). Wettbewerbe, Konferenzen und Filme zur Holocaustleugnung Der erste internationale Wettbewerb für »Holocaust-Karikaturen« fand 2005 unmittelbar nach dem Amtsantritt von Ahmadinejad statt. Der Wettbewerb, an dem sich ‚Künstler’ auf 63 Ländern beteiligt haben, wurde vom Hamshahri Institute organisiert, das die gleichnamige und viel gelesene Zeitschrift für die Teheraner Stadtverwaltung herausgibt. Eine Auswahl der fast 1.200 Einreichungen wurde im August 2006 in einer öffentlichen Ausstellung gezeigt. Im Dezember 2006 fand unter dem Titel »Review of the Holocaust: Global Vision« die bisher am stärksten rezipierte Holocaustleugner-Konferenz im Iran statt, organisiert vom Institute for Political and International Studies, das zum iranischen Außenministerium gehört. Eröffnet wurde sie vom damaligen iranischen Außenminister Manutschehr Mottaki; an der Abschlusszeremonie der Konferenz nahm Präsident Ahmadinejad teil. Die Veranstaltung war ein Stelldichein des Who is who der internationalen Holocaustleugner-Szene. Mit dabei waren unter anderem der ehemalige Ku Klux Klan-Chef David Duke und Bradley Smith vom »Committee 331
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for Open Debate on the Holocaust«, der deutsch-australische Rechtsextremist Frederick Toeben, Georges Theil vom Front National und Robert Faurisson, Herbert Schaller und Wolfgang Fröhlich aus Österreich. In Folge dieser Konferenz spielten iranische Regimemedien jahrelang eine entscheidende Rolle beim Austausch und für die Vernetzung der internationalen Holocaustleugner-Szene (Schiedel 2010: 168). 2012 eskalierte das iranische Regime seine antisemitische Agitation, indem es am 19. April, dem israelischen Gedenktag für die Shoah, im Staatsfernsehn zehn Animationsfilme ausstrahlte, die den Holocaust in einer Manier leugnen, wie man es ansonsten nur von deklarierten Alt- und Neonazis kennt. Sämtliche dieser Zeichentrickfilme basieren auf dem Buch Holocartoons vom Zeichner Maziar Bijani und dem Kommentator Omid Mehdinejad, das 2008 vom iranischen Bildungsminister Aliresa Ahmadi vorgestellt und in den folgenden Jahren in mehreren Übersetzungen über das Internet global verbreitet wurde. Um einen Eindruck von der Abscheulichkeit dieser offen antisemitischen Machwerke zu erhalten reicht es, auf folgende Beschreibung der Anfangsszene zu verweisen, die bei allen zehn Filmen die gleiche ist: »Wir sehen einen Nazi – erkennbar am Hakenkreuz an seinem Ärmel –, der eine große Sprayflasche mit der Aufschrift ‚Gas’ ins Bild hält und diese aktiviert. Sobald die Szene vollständig in Gaswolken getaucht ist, kommt laut kichernd ein als hakennasiger Wurm stilisierter Jude ins Bild, der das Nazigas begierig und genießerisch in sich einsaugt. Anschließend stößt er laut rülpsend zwei kleine Gaswölkchen aus, die die Buchstaben des Wortes ‚Holocaust’ formen.« (Küntzel 2012: 151) Die an dieses Intro anschließenden Episoden stehen dem um nichts nach: »Einer der Filme handelt von einer merkwürdigen Stahlkonstruktion mit der Aufschrift ‚Gaskammer’. Es sind immer dieselben zehn Juden, die jene Kammer vorne betreten und hinten wieder verlassen, während ein Anzeiger die Zahl der Durchläufe zählt und bei der Zahl ‚Sechs Millionen’ laut klingelt. Nun fallen sich die zehn Juden unter hysterischem Gelächter gegenseitig in den Arm – hat man doch perfekt den Mord der sechs Millionen simuliert, obwohl kein einziger gestorben ist.« (ebd.) Matthias Küntzel hat darauf hingewiesen, dass an diesen Filmen die globale Bedeutung der Holocaustleugnung des iranischen Regimes deutlich wird: Durch den Rückgriff auf das Animationsformat sind sie ohnehin schon für eine weltweite Verbreitung prädestiniert. Findet Sprache oder 332
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Schrift in den Filmen Verwendung, so ist es Englisch. So haben diese Machwerke unter anderem über YouTube zeitweise eine weltweite Verbreitung erfahren. 2014, nach dem Amtsantritt von Rohani, verschaffte das iranische Regime der Internationale aus Verschwörungstheoretikern und Antisemiten mit der »2nd New Horizon Conference of Independent Thinkers« abermals eine Bühne in Teheran. Neben klassischen Holocaustleugnern stellten so genannte 9/11-Truther einen Großteil der Vortragenden. Die linksliberale israelische Tageszeitung Haaretz hat die New Horizon-Konferenzen der letzten Jahre in Teheran als ein Vernetzungstreffen beschrieben von »Iranian Revolutionary Guards, Russian imperialists, Ukrainian fascists, Chinese spies, Qaddafi devotees, Corbyn fans, Assad apologists, neo-Nazis, Trump devotees, French Holocaust deniers, Western antiwar feminists, African American separatists, Venezuelan socialists and anti-Semites of every conceivable form and type«. (Reid Ross 2019) Bei der Konferenz 2014 war (wie auch schon 2006) der schwedisch-marokkanische, wegen Volksverhetzung verurteilte langjährige Betreiber von Radio Islam, Ahmed Rami dabei. Einer der Stargäste war 2014 der italienische Geschichtsprofessor Claudio Moffa, dem auf der mittlerweile umgestalteten Konferenz-Website newhorizon.ir offenherzig bescheinigt wurde: »He achieved international fame through revisionist statements, in particular by the public denial of the Holocaust.« Die iranische Propaganda konnte sich auch über den Auftritt von Medea Benjamin, der Mitbegründerin von Code Pink und eine zentrale Aktivistin der US-amerikanischen ‚Friedens’und BDS-Bewegung freuen. Aus Frankreich nahm das ehemalige Front National-Mitglied Olivier Lemoine teil. Manuel Ochsenreiter, in den letzten zwei Dekaden Autor, Redakteur und Interviewpartner in diversen rechtsradikalen Publikationen und bis Anfang 2019 Mitarbeiter des AfDBundestagsabgeordneten Markus Frohnmaier, wollte in Teheran über die »Israeli Lobby in Germany« aufklären. Ochsenreiter gilt seit Jahren als Verbindungsmann der deutschsprachigen rechtsextremen Szene zum iranischen Regime und insbesondere zur libanesischen Hisbollah. Laut der Konferenz-Website nahmen auch der Karikaturist Joe le Corbeau, der als »closely related« zum antisemitischen Komiker und Aktivisten Dieudonné M’bala M’bala vorgestellt wurde, und die Holocaust-Leugnerin Maria Poumier teil, die an Dieudonnés, mit Unterstützung des Iranian Institute of Cinema produzierten Film L’antisémite beteiligt war. Auch wenn die Tagung nicht wie die große Holocaustleugner-Konferenz in der Amtszeit Ahmadinejads 2006 vom Außenminister eröffnet wurde, war die Veranstaltung von Seiten des iranischen Regimes hochran333
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gig besetzt: Saeed Jalili, 2013 unterlegener Präsidentschaftskandidat und früher sowohl Chefverhandler für das Atomprogramm als auch Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates, nahm ebenso teil wie Alaeddin Borojerdi, während Rohanis Präsidentschaft der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des iranischen Pseudoparlaments, und Ali Asghar Soltanieh, der langjährige Repräsentant des Regimes bei der Internationalen Atomenergie Organisation in Wien. Während die Holocaustleugner-Konferenz 2006 fast auf der ganzen Welt verurteilt wurde (auch wenn daraus kaum Konsequenzen bezüglich einer Isolierung und Bekämpfung des iranischen Regimes gezogen wurden), gab es in Zeiten der Präsidentschaft Rohanis an nennenswerten Protesten nur eine Stellungnahme von Abraham Foxman, dem damaligen Direktor der Anti-Defamation League. Im Oktober 2013 hatte Rohani noch dafür gesorgt, dass eine derartige Konferenz kurz nach seinem Amtsantritt nicht stattfinden konnte. Sie wäre zu dieser Zeit der Charmeoffensive gegenüber dem Westen im Wege gestanden. 2014 und danach sah sich das iranische Regime zu derartigen Rücksichtnahmen offensichtlich nicht mehr veranlasst. Der zweite internationale Wettbewerb für »Holocaust-Karikaturen« wurde 2015 vom Iran House of Cartoon und dem Sarcheshmeh Cultural Complex mit Teilnehmern aus über 50 Ländern abgehalten. Eine Auswahl von 50 Karikaturen wurde im Mai 2016 bei der elften International Cartoon Biennale und im Palestine Museum im Iran gezeigt. Außenminister Zarif behauptet im Westen gerne, derartige Veranstaltungen würden im Iran unabhängig von staatlichen Stellen organisiert. Zur unmittelbaren Verantwortung der Rohani-Regierung für den »Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb« und ähnliche Events stellt Majid Mohammadi hingegen klar: »The expenses of these activities are totally paid by governmental institutions, whether military, cultural, municipal, or religious. These institutions, their pseudo branches, and seemingly private affiliates […] may have misleading titles, but they are all organized, financed, and managed under the Supreme Leader’s office, his appointed bodies, and the executive branch headed by the President.« (2016: 4) Auf leader.ir, der offiziellen englischsprachigen Website von Khamenei, war auch während der Präsidentschaft Rohanis vom »Mythos« des Holocaust zu lesen. Doch auch andere prominente Vertreter des Regimes haben sich wiederholt in diese Richtung geäußert. Rafsanjanis erklärte im iranischen Radio, seine persönlichen Forschungen hätten ihn zu der Überzeugung gebracht, Hitler habe nur 20.000 Juden ermordet (Anti Defamation 334
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League 2001: 8). Der Ex-Präsident, der bis zu seinem Tod 2017 während der Amtszeit Rohanis Vorsitzender des einflussreichen Schlichtungsrates war, erklärte 2016 beim Besuch des niedersächsischen Ministerpräsidenten Stefan Weil seinem Gast, vor dem Zweiten Weltkrieg hätten »die Zionisten Europa mit Geld und Medien unsicher gemacht«. Deutschland habe sich rächen wollen und »diese Leute nach Palästina geschickt«, wodurch der Staat Israel entstanden sei. Eventuell seien sechs Millionen Juden im Zweiten Weltkrieg umgekommen, ließ der Ex-Präsident im Kontrast zu seinen früheren Äußerungen zumindest als Möglichkeit gelten. Doch, so Rafsanjani, das sei nichts im Vergleich zu den von ihm herbeifantasierten 20 Millionen Toten und acht Millionen Vertriebenen nach der Gründung Israels (Will 2016). Sein Nachfolger, der bis heute immer wieder als Beispiel für einen ‚Reformislamisten’ präsentierte Khatami, setzte das insofern fort, als er sich als einer der leidenschaftlichsten Verteidiger des französischen Holocaustleugners Roger Garaudy positionierte (Menashri 2001: 279) und ihm eine Audienz bei Khamenei verschaffte. Anfang 2014 stellte Khamenei die historische Realität der Massenvernichtung der europäischen Juden abermals in Frage (Die Presse 2014). Rohani möchte sich diesbezüglich nicht festlegen und kreierte eine Art ‚moderate Holocaustleugnung’: Auf die Frage, ob die Shoah ein »Mythos« sei, erwiderte Rohani im Interview mit CNN 2013 lediglich, er sei kein Historiker und könne daher zur »Dimension historischer Ereignisse« nichts sagen – eine Taktik, die man von europäischen Holocaustleugnern kennt, wenn sie sich strafrechtlicher Verfolgung entziehen wollen. Die unterschiedliche Handhabung der Holocaustleugnung bei den diversen Fraktionen des iranischen Regimes – die in aller Regel nicht darüber streiten, was die Ziele der ‚Islamischen Republik’ sind, sondern darüber, wie diese am besten erreicht werden können –, hat Majid Mohammadi treffend zusammengefasst: »The only difference between the reformists […] and nonreformists […] is their tactics: reformists believe that denying the Holocaust is not a priority […], while the nonreformists believe that hatred against Israel and Jews will increase the Islamic Republic’s influence in the region. They believe that exhibitions of Holocaust cartoons help the Islamic Republic to promote its objectives and strategies to be a force in global issues.« (2016: 13)
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Vernichtungsdrohungen gegen Israel Das zentrale Motiv deutscher und österreichischer Holocaustleugner, die unumwundene Schuldabwehr, entfällt bei der iranischen Leugnung und Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen weitestgehend. Das entscheidende Motiv für die Holocaustleugnung und -relativierung des iranischen Regimes ist zum einen die nachträgliche Delegitimierung der Gründung Israels und zum anderen die auf die Zukunft gerichtete Legitimierung der Vernichtung des jüdischen Staates. Im Iran dient die Relativierung und Leugnung von NS-Verbrechen dem »eliminatorischen Antizionismus« (Wahdat-Hagh 2008: 44) des Regimes. 2012 hat Khamenei Israel als »cancerous tumor« ins Visier genommen, »that should be cut and will be cut« (Fars News 2013). Er hat damit Formulierungen aufgegriffen, die bei Khomeini schon in den 1970er-Jahren Verwendung fanden (Wistrich 2010: 843). Zum 9. November 2014, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, ließ Khamenei einen Neun-Punkte-Plan zur Zerstörung des jüdischen Staates auf Twitter verbreiten (2014). Zur Zeit der Finalisierung des Atomabkommens JCPOA 2015 ließ er sein 400-Seiten-Buch Palestine in einer Neuauflage veröffentlichen, in der er Israel abermals als »Krebsgeschwulst« bezeichnete, das vernichtet werden müsse. (IRIB 2016) Um die Ausrichtung des iranischen Atom- und Raketenprogramms vor der Weltöffentlichkeit zu demonstrieren, testete das Ajatollah-Regime 2016 in klarer Verletzung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates ballistische Raketen, auf denen wie schon öfters die Forderung nach der Vernichtung Israels prangte, diesmal allerdings nicht nur in Farsi oder Englisch, sondern auch in Hebräisch (Moore 2016). 2017 erklärte Khamenei die westlich-liberalen Vorstellungen von Geschlechtergleichheit zu einer »zionistischen Verschwörung« und verkündete hinsichtlich Israels abermals: »There is no cure for the problem that this savage and wolfish regime […] has created except its destruction and annihilation« (Khamenei 2017). Präsident Rohani nimmt seit seinem Amtsantritt 2013 so wie seine Vorgänger regelmäßig am Quds-Marsch in Teheran teil, bei dem seit 1979 auf Geheiß von Khomeini weltweit am Ende des Ramadan für die Vernichtung des jüdischen Staates demonstriert wird. 2017 griff Rohani eine gängige Formulierung von Khamenei auf und sprach ebenfalls von Israel als »cancerous tumor« (Press TV 2017), was er Ende 2018 nochmals wiederholte (Associated Press 2018) und sich kurz darauf demonstrativ mit Ziad al-Nakhala, dem neuen Generalsekretär der Terrororganisation Palästinensischer Islamischer Djihad traf (Official Website 2019), der die Kooperation mit Teheran im Vergleich zu seinem Vorgänger Ramadan Shalah noch336
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mals deutlich intensiviert und der Hamas-Führung im Gaza-Streifen mittlerweile den Rang als wichtigster Verbündeter des iranischen Regimes abgelaufen hat (Shehada 2019). Mit seinen Attacken auf den jüdischen Staat als »fake regime« (Associated Press 2018) rekurriert der im Westen systematisch verharmloste Rohani auf einen Klassiker des antisemitischen Antizionismus, bei dem zunächst in der nationalsozialistischen Ideologie der 1920er und 1930er Jahre und in den 1960er und 1970er Jahren dann auch in der arabisch-nationalistischen und links-antizionistischen Propaganda die antisemitische Gegenüberstellung von ‚raffend’ und ‚schaffend’ bezüglich des Kapitals durch das Gegensatzpaar von ‚organischen’, ‚echten’ Staaten und ‚künstlichen Gebilden’ ergänzt wurde (Grigat 2016: 42). Auf diese Terminologie griff auch die Anfang 2018 in Teheran veröffentlichte Ausschreibung zum »First International Hourglass Festival« zurück, das auf seiner Website israelhourglass.com das »fake regime« namens Israel attackierte. Das Symbol des Festivals war ein Davidstern, der sich beim Durchlaufen einer Sanduhr auflöst. Der Festivalpromoter Hossein Amir-Abdollahian ist ein Berater des Präsidenten des iranischen Pseudoparlaments, Ali Laridjani, und Generalsekretär der »Internationalen Konferenz zur Unterstützung der palästinensischen Intifada«. Sowohl unter Ahmadinejad als auch unter Rohani war er als stellvertretender Außenminister des Iran tätig. Mehrere Monate wurden Einreichungen entgegengenommen, die das erhoffte Ende Israels in spätestens 25 Jahren illustrieren und den bösartigen, »bestialischen« und »unmenschlichen« Charakter des Zionismus sowie seiner Unterstützer dokumentieren sollten. Das Motto des Festivals bezieht sich auf Reden Khameneis, der 2015 und 2016 angekündigt hatte, das »zionistische Regime« werde bis zum Jahr 2040 endgültig ausgelöscht sein (Khanenei 2016). 2017 ließen die herrschenden Ayatollahs daraufhin in Teheran eine Installation aufstellen, welche die Tage bis zum Endsieg über den jüdischen Staat zählt. Antisemitismus, regionale Expansion und die Hisbollah Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, welche Rolle die antisemitische Ideologie und der Hass auf Israel bei politischen Entscheidungen des iranischen Regimes spielen. Als Khomeini 1979 im Iran die Macht übernahm, hatte er eine sehr puristische Vorstellung von Außenpolitik, deren Ausrichtung allein schon durch einen der ersten prominenten Besucher des neuen Regimes dokumentiert wurde: Jassir Arafat, der in einer feierlichen 337
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Zeremonie die Schlüssel der ehemaligen israelischen Botschaft in Teheran überreicht bekam, nachdem viele spätere Führungsoffiziere der Pasdaran ihre erste militärische Ausbildung in PLO-Camps im Südlibanon erhalten hatten. Die Außenpolitik des iranischen Regimes war von Beginn an durch eine Gleichzeitigkeit von Pragmatismus und Vernichtungswahn gekennzeichnet, die es Kommentatoren im Westen bis heute ermöglicht, die Vernichtungsfantasien gegenüber Israel regelmäßig durch den Hinweis auf Ersteren zu verharmlosen. Der Pragmatismus macht sich in zahlreichen auch außenpolitischen Entscheidungen bemerkbar, konnte sich aber gerade im Verhältnis zu Israel nicht durchsetzen: »Iran’s attitude to Israel was one of the rare examples of adherence to dogma« (Menashri 2001: 281). Das Bündnis mit der libanesischen Terrormiliz Hisbollah ist auch unter Rohani intakt und bekommt durch den Krieg in Syrien zentrale Bedeutung; jenes mit der sunnitischen Hamas wurde erneuert. In letzter Zeit wird insbesondere die Unterstützung der Huthi-Rebellen im Jemen verstärkt, zu denen die Hisbollah und die Pasdaran schon länger enge Kontakte pflegen, und die sich ideologisch in den letzten zwei Jahren deutlich dem iranischen Regime und der Hisbollah angenähert haben (Karmon 2017). Über ihre Prioritäten lassen die jemenitischen Verbündeten Teherans keine Zweifel aufkommen, wenn sie in den Schriftzügen ihres Logos verkünden: »Gott ist groß! Tod den USA! Tod Israel! Verdammt seien die Juden! Sieg dem Islam!« (Taylor 2015) 2015 erklärte Qassem Soleimani, dessen Einfluss im iranischen Machtgefüge durch das Engagement der Pasdaran im Irak und in Syrien enorm gewachsenen ist, der Iran könne in einer ähnlichen Weise, wie er jetzt schon den Irak, Syrien und den Libanon kontrolliert, demnächst auch Jordanien kontrollieren (Khoury 2015). Soleimani ist Kommandant der für Auslandseinsätze zuständigen Quds-Brigaden, die das Ziel all ihrer Bestrebungen – Jerusalem – bereits im Namen tragen. Zum Jahreswechsel 2018/19 wiederholte Mohammed Reza Naqdi, der stellvertretende Kommandant der Pasdaran und Befehlshaber der Basidj-Milizen, Israel »must be destroyed and wiped out« und »Zionists must be annihilated« (MEMRI TV 2018). Solchen Worten folgen schon lange Taten, und mittlerweile ist Israel nicht nur mit den Verbündeten des iranischen Regimes an seinen Grenzen konfrontiert, sondern mit dem Regime selbst. Das Eindringen einer iranischen Drohne in den israelischen Luftraum im Februar 2018 stellte ebenso eine gefährliche Eskalation der Situation dar wie die iranischen Raketenangriffe auf die Golanhöhen im Mai 2018. Insbesondere die massive Aufrüstung der Hisbollah im Libanon und die iranische Präsenz in Syrien stellen Israel vor erhebliche Probleme. Die Hisbollah als wichtigster und schlag338
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kräftigster Verbündeter Teherans in der Region ist heute mit über 130.000 Raketen ausgestattet, die ausnahmslos auf den jüdischen Staat gerichtet sind. Ihr Generalsekretär, Hassan Nasrallah, nimmt Israel ganz wie Khamenei und Rohani als »krebsartiges, tyrannisches Gebilde« (Webman 2003) ins Visier und hat in klassisch antisemitischer Dehumanisierung zionistische Juden als »the descendants of apes and pigs« bezeichnet (Noe 2007: 187), nachdem der langjährige geistliche Führer der Hisbollah, Muhammad Hussein Fadlallah, bereits Anfang der 1990er-Jahre den »Kampf gegen den jüdischen Staat« zur »Fortsetzung des Kampfes der Muslime gegen die Verschwörung der Juden gegen den Islam« erklärt hatte (zit. n. Meyer 2010: 187). Nasrallah freut sich geradezu, dass Juden aus der ganzen Welt nach Israel kommen, wo die »Widerstandsachse« aus iranischem Regime und Hisbollah sie dann bequemer bekämpfen könne: » […] the Jews from the entire world will come to occupied Palestine. But this will not be done for their antichrist to rule. God Almighty wanted to save you the trouble of finding them all over the world.« (Noe 2015) Umso absurder ist es, dass die Hisbollah, die in zahlreiche Anschläge wie beispielsweise den Angriff auf das jüdische Gemeindezentrum in Buenos Aires mit 87 Toten involviert war, und ganz wie das Regime im Iran den Holocaust leugnet oder relativiert und europäische Holocaust-Leugner wie Roger Garaudy verteidigt (Saad-Ghorayeb 2002: 181f.), in Deutschland und auf EU-Ebene immer noch nicht in ihrer Gesamtheit als terroristische Organisation eingestuft ist. Wie dramatisch die Bedrohungssituation durch die von Teheran bis an die Zähne bewaffnete Hisbollah für Israel mittlerweile ist, sieht man unter anderem daran, dass die rechte Netanjahu-Regierung in der Haaretz dafür kritisiert wird, nicht schon viel früher militärisch gegen das Waffenarsenal der libanesischen Terrormiliz vorgegangen zu sein (Harel 2018). Das iranische Regime ist heute einer der maßgeblichen Protagonisten des globalen Antisemitismus. Auf Grund seines fortgesetzten Strebens nach der Technologie der Massenvernichtung (Grigat 2017: 30–35) und der Fortentwicklung des dazugehörigen Raketenprogramms (Nadimi 2019), seiner regionalen Expansion bis an die Grenzen Israels und der massiven Aufrüstung seiner ebenfalls antisemitischen Verbündeten wie der Hisbollah stellt es gegenwärtig die entscheidende sicherheitspolitische Herausforderung für den jüdischen Staat dar, was auch in der offiziellen Militärstrategie der israelischen Streitkräfte seinen Niederschlag findet (Fuhrig/ Kölker 2017: 12). Dementsprechend wäre ein Sturz des Regimes der Ajatollahs und Pasdaran ein in seiner Bedeutung kaum hoch genug einzu339
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Linker Antisemitismus
Ist Die Linke eine antisemitische Partei? Martin Kloke
1. Traditionslinien Das antisemitische Ressentiment ist Teil einer langen Überlieferungskette, in die entgegen manch einer Legende auch linke Strömungen, Parteien und Personen eingebunden sind.1 So muss nicht erstaunen, dass die empirische Sozialforschung antiimperialistischen und antizionistischen Denkweisen eine »Korrelation mit dem Antisemitismus-Score« attestiert (Imhoff 2011: 126f.). Schon überraschender mag es anmuten, dass die Linkspartei derart heftig über den Antisemitismus in ihren Reihen diskutieren sollte, dass sie zeitweise an den Rand der Spaltung geriet. Genealogisch ist Die Linke die Nachfolgepartei der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Die SED mutierte 1990 – nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus im Herbst 1989 – zur SED/PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus). Um wenigstens äußerlich die Spuren der Vergangenheit zu tilgen, benannte sich die SED-Erbin 2005 erneut um und firmierte zeitweise als »Die Linkspartei. PDS«. Nach dem Zusammenschluss mit der westdeutschen linkssozialistischen WASG (»Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative«) nahm die Partei 2007 ihre bis heute gültige Bezeichnung Die Linke an. Vor dem Hintergrund dieser Namens-Odyssee wird deutlich, dass die heutige Linkspartei weder jung noch traditionslos ist. Die Linke, die in Ostdeutschland noch immer eindrucksvolle Wahlergebnisse erzielt, ist die politische und materielle Erbin der SED. Jahrzehntelang betrachteten die Funktionäre des SED-Regimes den jüdischen Staat nicht als den Zufluchtsort überlebender Opfer von Antisemitismus und Rassenwahn, sondern als den Gegner aller »progressiven« Kreise. Entschädigungszahlungen an das ideologisch »irregeleitete« Israel lehnte die DDR ab. Das SED-Regime verlieh seiner antiisraelischen Agitation eine besondere Schärfe und unterstützte die PLO politisch, materiell und
1 Hierzu und zu vielen weiteren Belegen der in diesem Essay erwähnten Fakten vgl. Kloke 2014: 153–193.
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personell – bis hin zur Durchführung von Trainingsprogrammen für palästinensische Terroristen. In diese nur andeutungsweise erinnerten Traditionszusammenhänge sind auch die Nachfolger der SED verstrickt. Dennoch sind viele ehemalige Funktionäre, Parteigänger, aber auch Bürger der untergegangenen DDR der Überzeugung, die DDR und die Linke insgesamt seien frei von Antisemitismus gewesen. Ex-Parteichef Gregor Gysi räumt allerdings ein: »Die Gedanken- und Gefühlswelt in Bezug auf Israel und die arabischen Länder ist in meiner Generation unklar, wirr und widersprüchlich.« (Gysi 2006) Ex-Parteivize Halina Wawzyniak kennzeichnet das Verhältnis ihrer Partei zu Israel gar als ein »hochproblematisches und hochemotionalisiertes« Thema (zit. n. Hengst 2009). Beide Statements lassen erahnen, wie sehr auch die Linkspartei und ihre Klientel ein genuin »deutsches« Phänomen sind. Nach der Antisemitismusdefinition der »International Holocaust Remembrance Alliance«, der sich 2017 auch die Bundesregierung angeschlossen hat, »kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird«, zum Ziel judenfeindlicher Angriffe werden.2 Zwar sind in der Linkspartei auch traditionelle Formen des Antisemitismus virulent und auch hinreichend dokumentiert (vgl. Kloke 2014: 166f.); da sich antisemitische Ressentiments in der Partei vorzugsweise als »Israelkritik« camouflieren und auch weltweit die am meisten verbreitete Variante aktuellen Judenhasses repräsentieren, steht im Fokus dieser Analyse der israelbezogene Antisemitismus. 2. Antisemitische Erscheinungsformen Trotz aller tastenden Versuche einer kritischen Aufarbeitung des DDR-spezifischen Antizionismus in der PDS (vgl. Kloke 2014: 156ff.) pflegte die parteinahe Medienlandschaft nach der Wende ihre antiisraelischen Ressentiments weiter – diesmal unter dem harmlos anmutenden Label der »Israelkritik«: Auch wenn sich die Darstellung von Juden, Judentum und Israel über die Jahre pluralisiert hat, fühlten sich parteinahe Zeitungen wie das Neue Deutschland« noch bis vor wenigen Jahren dem israelfeindlichen 2 Vgl. den Wortlaut der Antisemitismusdefinition v. 26.5.2016, https://www.holocau stremembrance.com/sites/default/files/press_release_document_antisemitism.pdf; Bundesregierung unterstützt internationale Arbeitsdefinition von Antisemitismus v. 22.9.2017, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/kulturdial og/06-interkulturellerdialog/-/216610 (abgerufen am 21.12.2018).
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Erbe der DDR verpflichtet. Die Junge Welt, die sich seit 1997 von den gemäßigten Teilen der Linkspartei abgekehrt hat, geht in ihrer Ablehnung Israels weiter als die frühere DDR-Presse. Der langjährige Kommentator Werner Pirker bestätigte diese Einschätzung: »[…] im Laufe der Jahre begannen wir das Existenzrecht Israels als Apartheidstaat dezidiert in Frage zu stellen« (Pirker 2013). In der Linkspartei selbst ist das Verhältnis zu islamistischen und antisemitischen Israelfeinden (Hamas, Hisbollah, Iran) latent doppelbödig: In Teilen der Partei sind verschämte Sympathien mit der Hisbollah als angeblich »antikolonialer Befreiungsbewegung« virulent. So nahmen im April 2002 Angehörige der Berliner PDS an einer propalästinensischen Großdemonstration teil, die maßgeblich von Sympathisanten islamistischer Gruppen getragen wurde. Die Parteiaktivisten ließen sich von den dort geäußerten antiisraelischen Vernichtungswünschen kaum beeindrucken. Die Linken-Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz, die dem trotzkistischen Netzwerk »Marx 21« angehört, wandte sich 2006 gegen die »Dämonisierung« der Hisbollah und bekannte freimütig: »Auf der anderen Seite stehen in diesem Konflikt die Hisbollah, die Friedensbewegung in Israel und die internationale Antikriegsbewegung. Das ist die Seite, auf der auch ich stehe« (Buchholz 2006). Oskar Lafontaine, Ex-Vorsitzender der Linken-Bundestagsfraktion, äußerte wiederholt Verständnis für das iranische Atomprogramm, sekundiert von dem langjährigen außenpolitischen Sprecher der Fraktion, Norman Paech: »Was man Israel oder Pakistan gewährt hat, kann man dem Iran nicht verweigern. […] Israel droht dem Iran, nicht andersherum.« (Paech 2008b) So lehnt die Partei Sanktionen gegen den Iran ab und zeigt sich nachsichtig gegenüber Firmen wie etwa Siemens, die mit dem Iran enge wirtschaftliche Beziehungen unterhalten und damit das iranische Atomprogramm unterstützen. Ungerührt von den Vernichtungswünschen und -drohungen iranischer Regierungsvertreter gegen das »zionistische Krebsgeschwür« und ungeachtet der kruden Menschenrechtsverletzungen gegen politische, religiöse und sexuelle Minderheiten heißt es in einem Positionspapier der Rosa-Luxemburg-Stiftung: »Zum iranischen Entwicklungsweg sollte grundsätzlich eine Haltung bezogen werden, die als selbstverständlich anerkennt, dass Iran seinen selbstbestimmten, am Islam, der sozialen Spezifik und Werten seiner Gesellschaft orientierten Entwicklungsweg geht.« (Seifert u. a. 2006) Norman Paech gehörte in seiner aktiven Zeit zu den leidenschaftlichsten Israelkritikern in der Linkspartei. Auf einer Veranstaltung palästinensischer und arabischer Organisationen an der TU Berlin im Frühsommer 349
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2007 rief er »Palästina« als »das Guantanamo der arabischen Welt« aus. Angesichts der israelischen »Aggression gegen die Palästinenser« müssten die israelfreundlichen Angehörigen des deutschen Regierungsapparats »in Erziehungshaft« genommen werden. »Wir, die Deutschen«, seien schon jetzt »Mittäter« der israelischen »Verbrechen«. […] »Warum sollten die Palästinenser das Existenzrecht eines Staates anerkennen, der seine Grenzen nicht definiert?« (Paech, zit. n. Kloke 2008: 131) Israel wurde von Paech nicht nur für allerlei historisch-politische Unpässlichkeiten im Nahen Osten, sondern auch für das Erstarken des islamischen Fundamentalismus verantwortlich gemacht, der »aus Verzweiflung« zur Gewalt greife: »Wer sich ernsthaft mit dem Islamismus auseinandersetzt, kommt nicht darum herum, sich auch mit dem Zionismus auseinanderzusetzen«, ist seine Quintessenz (vgl. Paech 2008a: 10). Vor diesem Hintergrund kann es kaum überraschen, dass Paech als einer der ersten Linken-Politiker den Boykott israelischer Waren forderte (vgl. Meisner 2009). Einen Eklat lösten elf Abgeordnete der Linkspartei aus, als sie im Herbst 2008, kurz vor dem 70. Jahrestag der Reichpogromnacht, der Abstimmung zu einem Antrag zur Bekämpfung des Antisemitismus fernblieben. Als Begründung gaben die Fraktionsdissidenten die »anmaßende Tendenz« der Erklärung in punkto »Solidarität mit Israel« an, durch die »jegliche Kritik an der israelischen Politik für illegitim« erklärt werde.3 Als Israel 2008 eine Militäroperation gegen die Raketenangriffe der Hamas im Gazastreifen begann, beteiligten sich Sympathisanten und Mitglieder der Linken an antiisraelischen Kundgebungen. Der Frankfurter »Friedenspfarrer« und Linken-Aktivist Ingo Roer warf den Israelis auf einer Protestveranstaltung vor, Palästinenser in Gaza »wie Tiere zu schächten und zu schlachten«.4 Kein einziger christlicher bzw. säkularer Linker widersprach diesem Rückfall in das verbale Arsenal des christlichen Antijudaismus. Fast ein Dutzend Bundestagsabgeordnete der Linkspartei beteiligte sich im Januar 2009 an einem Aufruf gegen ein angebliches »Massaker« in Gaza, darunter der Sprecher der Bundestagsfraktion, Wolfgang Gehrcke, sowie die Abgeordneten Norman Paech und Ulla Jelpke – dieselben Personen, die sich schon im November 2008 von einem parteiübergreifenden 3 Vgl. die Erklärung der 11 MdBs: https://www.ulla-jelpke.de/2008/11/pressemitteilu ng-antisemitismus-antrag-ist-schlechter-kompromiss/ (abgerufen am: 19.12.2018). 4 Kundgebung der Palästinensischen Gemeinde in Hessen, 31.12.2008, Hauptwache Frankfurt/Main. Redebeitrag von Pfarrer Dr. Ingo Roer, http://www.muslim-markt .de/Palaestina-Spezial/demos/frankfurt/frankfurt_2008.htm (abgerufen am: 19.12.2018).
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Antrag gegen Antisemitismus distanziert hatten. Bei der dem Aufruf folgenden Anti-Israel-Demonstration in Berlin, an der die genannten Linkspolitiker an vorderster Front mitmarschieren sollten, skandierten Protestierende in Sprechchören u. a. »Tod, Tod, Israel!« Im Gegenzug zog sich der Berliner Linken-Vorsitzende Klaus Lederer heftige Vorwürfe zu, da er auf einer proisraelischen Kundgebung aufgetreten war und Solidarität mit den Opfern beider Seiten ausgedrückt hatte. Zu den empörten Unterzeichnern eines »Brandbriefs« gegen Lederer gehörten mehr als 20 »Genossen«, darunter Hans Modrow, Ex-DDR-Ministerpräsident und Ältestenratsvorsitzender der Linken, sowie Christine Buchholz und Sahra Wagenknecht. Israels Präsident Shimon Peres hielt am 27. Januar 2010 zum Gedenken an den Holocaust eine Rede im Deutschen Bundestag. Nach der Rede erhoben sich alle Parlamentarier von ihren Sitzen – mit Ausnahme der Linken-Abgeordneten Sahra Wagenknecht, Christine Buchholz und Sevim Dağdelen. Die drei Parlamentarierinnen hatten sich zwar noch erhoben, um der Ermordeten zu gedenken, blieben am Ende jedoch sitzen vor demjenigen, der seiner Ermordung entkommen war. Wagenknecht rechtfertigte die demonstrative Geste mit der Bemerkung, sie könne »einem Staatsmann, der selbst für Krieg mitverantwortlich ist, einen solchen Respekt nicht zollen […]«.5 Als Ende Mai 2010 hochrangige Vertreter(inne)n der Linkspartei an einer so genannten Gaza-Hilfsflotte teilnahmen, befanden sich darunter Inge Höger, Annette Groth und Norman Paech. Darüber hinaus beherbergte der Schiffskonvoi 663 vor allem türkische, aber auch internationale Anti-Israel-Aktivisten. Die Initiatoren und Finanziers entstammten einer türkisch-islamistischen »Wohltätigkeitsorganisation«. Beteiligt an der antiisraelischen Querfront-Koalition waren neben linksradikalen »Friedensaktivisten« auch Mitglieder der ägyptischen und jordanischen Muslim-Bruderschaft, Angehörige der libanesischen Hisbollah sowie Anhänger aus dem Milieu der rechtsextremen türkischen »Grauen Wölfe«. Beim Auslaufen der Flotte in Istanbul skandierten Unterstützer antijüdische Schlachtparolen, z. B.: »Tod den Juden!« – »Erinnert euch an Khaibar, Khaibar, oh Juden! Die Armee Mohammeds wird zurückkehren! Intifada bis zum
5 Sahra Wagenknecht hat die Stellungnahme auf ihrer Website vor der Bundestagswahl 2013 gelöscht, http://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/651.erklaerung-zu r-rede-von-shimon-peres-im-bundestag-am-27-januar-2010.html (abgerufen am 10.09.2013); Printfassung im Privatarchiv d. Verf.
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Sieg!«6 Die Unterstützer der Flottille erklärten, sie wollten »humanitäre Hilfslieferungen« in den von der Hamas kontrollierten Gazastreifen bringen. Das Angebot der israelischen Behörden, die Schiffsgüter auf dem Landweg nach Gaza zu transportieren, lehnten die Aktivisten ab mit dem versuchten Blockadedurchbruch wollten sie ein Fanal setzen und den jüdischen Staat ins Unrecht setzen. Originalmitschnitte des Funkverkehrs am 31. Mai 2010 zeigen, dass die Israelis kurz vor ihrem Angriff ein letztes Mal die Aktivisten aufgefordert hatten, vom Kurs auf Gaza abzudrehen. Während die Besatzungsmitglieder von fünf der sechs Schiffe keinen militanten Widerstand leisteten, antwortete ein Sprecher der »Mavi Marmara«, dem Hauptschiff der Flotte: »Shut up, go back to Auschwitz!« Zur Überraschung der dilettantisch vorbereiteten israelischen Marinesoldaten setzten ihnen circa 50 Besatzungsmitglieder erbitterten Widerstand entgegen. Statt auf unbewaffnete Friedensaktivisten zu stoßen, wurden die mit Paintball-Pistolen und leichten Waffen ausgerüsteten Israelis mit Eisenstangen und Messern »empfangen«. Mehrere Israelis wurden entwaffnet und zum Teil verletzt – Panik brach unter ihnen aus, auch aus Furcht vor Lynchversuchen durch militante Passagiere. Am Ende kamen bei der Kommandoaktion neun türkische Aktivisten um. Später räumten türkische Medien ein, dass »mindestens 40« Aktivisten der Marmara »gewaltbereit« gewesen seien – drei der getöteten Passagiere hätten öffentlich bekundet, auf dem Trip als »Märtyrer« sterben zu wollen. Ein von den Aktivisten gedrehtes Video, das im Internet kursiert, bestätigte – ungewollt – die kalkulierte Aggressivität der Kämpfer.7 Trotz ihrer zweifelhaften Bundesgenossen und obwohl die »humanitären Hilfslieferungen« auch aus schrottreifen Rollstühlen und abgelaufenen Medikamenten bestanden hatten, beharrten die genannten Linken-Politiker auf der Legitimität ihrer Teilnahme an der Gaza-Blockadebrecher-Aktion – sie bestritten nicht nur den antisemitischen und gewalttätigen Charakter eines Teils ihrer Bundesgenossen, sondern klagten nach ihrer Rückkehr aus Israel vor Medienvertretern, von den Israelis »gekidnappt« und »deportiert« worden zu sein. Biografische Hintergründe und den gewalt-
6 In einer Oase auf der arabischen Halbinsel, etwa 150 Kilometer nördlich von Medina, hatte der jüdische Stamm der Khaibar jahrhundertelang gelebt. Die Khaibar wurden von Mohammeds Kämpfern im 7. Jahrhundert besiegt und die Überlebenden vertrieben. 7 Vgl. einen Bericht in Haaretz v. 4.6.2010, http://www.haaretz.com/news/diplomacy -defense/idf-video-shows-flotilla-passengers-tell-israel-navy-to-go-back-to-auschwitz1.294249, sowie diesen Videoclip: https://www.youtube.com/watch?v=pxY7Q7CvQ PQ (abgerufen am 19.12.2018).
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förmigen »Widerstand« ihrer Mitstreiter blendeten die beteiligten Linkspolitiker aus. Norman Paech will bei den »sich wehrenden« Aktivisten lediglich »zweieinhalb Holzstöcke« gesichtet haben. Einerseits betonte Paech den »groben Akt der Piraterie« und die angeblich »völkerrechtswidrigen Kriegsverbrechen« der Israelis, andererseits hatte er keine juristischen Bedenken, dass die Flotte im türkisch besetzten Nordzypern einen Zwischenstopp eingelegt hatte. Während Annette Groth den Israelis ein geplantes »Killing« unterstellte, sah sie in der auf dem Schiff praktizierten Geschlechtersegregation kein kritikwürdiges Verhalten der männlichen Islamisten. Inge Höger unterstrich ihre »absolute Solidarität« mit den anderen Aktivisten und forderte die Israelis zur »Wiedergutmachung« auf. Selbst die auf der Pressekonferenz anwesende stellvertretende Fraktionsvorsitzende Gesine Lötzsch sah keinen Grund zur selbstkritischen Nachdenklichkeit: Die Linkspartei sei »sehr stolz« auf den »mutigen Einsatz« ihrer Kollegen auf dem Marmara-Schiff.8 Symptomatisch für den Zustand von Teilen der Linkspartei sind die kruden Boykottaufrufe des Bremer Friedensforums, von denen sich der Bremer Landesverband nicht distanzieren mochte, aber auch die antisemitisch grundierten Aktivitäten der Duisburger Linkspartei. Unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Hermann Dierkes rief die Partei im Kommunalwahlkampf 2009 zum Boykott gegen Israel auf. Jahrelang verbreitete die Duisburger Linkspartei Hassparolen, die eine frappierende Nähe zu rechtsextremen und islamistischen Formen der Judenfeindschaft aufwiesen – zeitweise wurde auf ihrer Homepage der Davidstern mit dem Hakenkreuz gleichgesetzt, der Staat Israel als Hort zionistischer Weltverschwörung gegeißelt und schließlich auch der Holocaust geleugnet. Das SimonWiesenthal-Center in Los Angeles sah sich 2011 veranlasst, Hermann Dierkes auf eine so genannte Top-Ten-Liste antisemitischer und antiisraelischer Verunglimpfungen zu setzen. Auch wenn sich die Linkspartei als Ganzes zurückhaltend und in letzter Zeit kritisch zur antisemitischen Boykottbewegung BDS verhält, so erfreuen sich die Boykott-Aktivisten der Unterstützung aus Teilen der Parteibasis – etwa bei der Kampagne gegen das Baumpflanzungsgeschenk der SPD zum 65. Geburtstag des Staates Israel. Philipp Gliesing von der Linksjugend [‘solid] im thüringischen Pößneck begründete Ende 2012 sein Engagement gegen einen »Wald der SPD« in der Negev-Wüste mit jenem ver-
8 Vgl. die Pressekonferenz der Free-Gaza-Flottillen-Rückkehrer vom 1.6.2010, dokumentiert auf YouTube, http://www.youtube.com/watch?v=uYOc6CZ 0MoM (abgerufen am 19.12.2018).
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gangenheitspolitisch motivierten Exkulpationsjargon, der dem Fundus des Schuldabwehr-Antisemitismus entnommen ist: »Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass im Generalgouvernement des NS-Staates die ‚kulturelle Raumentwicklung‘ eine große Rolle bei Umsiedlung, Vertreibung und Vernichtung der ansässigen jüdischen Bevölkerung in Osteuropa gespielt hat.« (Gliesing, zit. n. Kloke 2013) Auch in der parteinahen Presse sind die Schamschwellen gelegentlich immer noch niedrig. Wenn es um bzw. gegen Israel geht, werden journalistische Standards – z. B. ein Faktencheck oder kritische Fragen gegenüber ideologischen Eiferern – rasch außer Kraft gesetzt: Der Journalist und Linken-Politiker Rolf-Henning Hintze gab im Juli 2013 der palästinensischen Aktivistin Haneen Naamnih ein ausführliches Forum zur Verbreitung antiisraelischer Propaganda – in Sprachmustern, die streckenweise an die mittelalterliche Judenfeindschaft erinnerten. In dem »Interview« behauptete Naamnih u. a., die Israelis vergifteten die Ernten der Beduinen und wollten sie aus der Negev-Wüste vertreiben; mit ihrem Geschenk zum 65. Geburtstag Israels, der Anpflanzung eines Waldes im Negev, negierten die deutschen Sozialdemokraten die Existenz der Palästinenser, erklärte die Antizionistin, die die bloße Existenz Israels als eine permanente Provokation und Katastrophe begreift: »Die Nakba hat nie aufgehört. Solange Israel als Siedlerkolonie besteht, ist sie da.« Auf diskursive Einsprüche oder gar presserechtliche Konsequenzen stieß dieser journalistische Frontalangriff auf die Gebote von Fairness und Objektivität nicht (vgl. Hintze 2013). Der wochenlange Raketen- und Tunnelkrieg zwischen der Hamas und Israel im Sommer 2014 entfesselte heftige Eruptionen – auf der Straße, in Teilen der Medien sowie nicht zuletzt in sozialen Netzwerken und OnlineKommentarspalten. Der Jugendverband Solid, Landesverband NRW, organisierte mit Unterstützung der Mutterpartei »Friedensdemonstrationen«, an denen auch islamistische und rechtsradikale Strömungen beteiligt waren. Obwohl bei diesen Protestaufmärschen krude antisemitische Parolen skandiert wurden und es zu gewaltförmigen Ausschreitungen kam, die sich auch gegen in Deutschland lebende Juden gerichtet hatten, vermochte sich der Linken-Landesverband nicht davon zu distanzieren – dies ungeachtet der Tatsache, dass einige Spitzenvertreter der Bundespartei Kritik an den Protestmärschen angemeldet hatten (vgl. Küpper 2014; Laurin 2014; Paul et al. 2014). Im Herbst 2014 erregte eine »Toilettenjagd« auf Gregor Gysi die Gemüter. Vorausgegangen war die kurzfristige Absage einer von Linken-Politikerinnen am Abend des 9. November geplanten antizionistisch ausgerichteten Veranstaltung in der Berliner Volksbühne, in der aufgrund der perso354
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nellen Zusammensetzung eine Dämonisierung Israels und die Relativierung des Holocausts befürchtet werden musste. Als die Veranstaltung mit den israelfeindlichen Journalisten Max Blumenthal und David Sheen in die Räume der Linksfraktion verlegt werden sollte, untersagte Gysi die Nutzung der Fraktionsräume. Inge Höger und Annette Groth luden daraufhin Sheen und Blumenthal in eigener Regie in den Bundestag ein. Am Rande eines ad hoc einberufenen »Fachgesprächs« wurde Gysi von den genannten Journalisten in Begleitung der Abgeordneten Groth, Höger und Heike Hänsel verbal und physisch so sehr bedrängt, dass er in eine Toilette flüchtete.9 Obwohl Angehörige des Reformflügels gegen die Hetzjagd protestierten, löste der Vorfall keine politischen Konsequenzen aus, nachdem die drei Abgeordneten sich bei Gysi entschuldigt hatten. Die Linke fürchtete, mit einem Ausschluss der verantwortlichen Fraktionsmitglieder den Status als größte Oppositionsfraktion zu verlieren (vgl. Meisner 2014). Antizionistisch-antisemitische Aktivitäten sind auch im Milieu-Umfeld der Linkspartei nach wie vor virulent. Im Verlagsgebäude Neues Deutschland etwa, dessen Betreiber mit der Linkspartei ideologisch wie wirtschaftlich verbunden sind, haben in den vergangenen Jahren wiederholt aggressiv antiisraelisch grundierte Zusammenkünfte stattgefunden, darunter Veranstaltungen mit der marxistisch-leninistischen PFLP unter Einschluss von BDS-Vertretern; die PFLP wird in der Europäischen Union aufgrund ihrer Affinität zu gewaltförmigen Praktiken als Terrororganisation eingestuft (vgl. Balandat 2016). 3. Reaktionen in der Linken Wenn sich Anhänger oder Funktionäre der Linkspartei in Bezug auf Israel antisemitisch betätigen, lösen derartige Vorfälle ein vielstimmiges Echo aus – auch innerhalb der Partei. Wer einer Hermeneutik des Verdachts folgt, mag sich mit Pauschalzuschreibungen und stereotypen Markierungen begnügen. Doch so paradox es klingen mag – in der Partei existiert ein kleiner proisraelischer Flügel, der sich seit 2007 im »Bundesarbeitskreis Shalom« organisiert. Der Arbeitskreis agiert in linkszionistischer Motivation, prangert antiisraelische Vorfälle im Kontext der Linkspartei an10 und
9 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=soUS3JTrm50&list=UU7ZJ4QRIv-QWK gJpRdtQHvQ (YouTube-Aufzeichnung v. 10.11.2014, abgerufen am 23.12.2018). 10 Vgl. die im Netz dokumentierten Aktivitäten: http://bak-shalom.de/ (abgerufen am 29.12.2018).
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wird deswegen intern weithin geächtet. Auch außerhalb dieser seit 2016 kaum noch in Erscheinung tretenden Strömung distanzieren sich prominente Politiker/innen der Linkspartei vom antizionistisch grundierten Antisemitismus in Teilen der Partei. Allen voran zu nennen ist der ehemalige Vorsitzende der Linken-Bundestagsfraktion Gregor Gysi, der sich mit Israel seit langem in kritischer Solidarität verbunden fühlt und auch für die umstrittene Sperranlage zum Schutz der israelischen Bevölkerung Verständnis zeigt. Im April 2008 bekannte er sich in einer Grundsatzrede zum Existenzrecht Israels als Teil »einer (deutschen) Staatsräson« – implizit folgte er damit der israelpolitischen Linie von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ungeachtet seiner Kritik an der israelischen Siedlungspolitik rief Gysi zur »Solidarität mit Israel« auf, hinterfragte Bekenntnisse zum nationalen »Befreiungskampf« der Palästinenser und forderte eine Abkehr von den antiimperialistischen und antizionistischen Denkfiguren des traditionalistischen (= linksradikalen) Parteiflügels – auch wegen der traumatischen Erfahrungen des Völkermords an den Juden. Das »jüdische Nationalstaatsprojekt« sei historisch »alternativlos« gewesen. »Der Antizionismus kann […] für die Linke insgesamt […] keine vertretbare Position sein, zumindest nicht mehr sein« (Gysi 2008). Trotz aller Widerstände gegen diese Positionierung in jenen Teilen der Partei, die dem jüdischen Staat in inniger Ablehnung verbunden sind, erweckt Gysi nach außen den Eindruck, es gebe keinen Antisemitismus in der Linken; es mache ihn allerdings »stutzig«, »mit welcher Leidenschaft innerhalb der Linken gerade über Israel diskutiert wird« (vgl. Gysi 2011 und 2013). Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, die den Wahlkreis Berlin-Marzahn-Hellersdorf unangefochten vertritt, engagiert sich u. a. im interreligiösen Dialog sowie gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus; zudem pflegt die Politikerin enge Beziehungen zur jüdischen Gemeinschaft und zu israelischen Einrichtungen. Zumeist äußert sie sich diplomatischmoderat, kann aber auch zornige Töne anschlagen, wenn ihr »zweideutige Signale« antisemitischer Provenienz entgegenschallen. Zu nennen sind u. a. auch Katja Kipping, Co-Vorsitzende der Linkspartei, Bodo Ramelow, thüringischer Ministerpräsident, Klaus Lederer, Berliner Kultursenator und Deutschlands bekanntester Anti-BDS-Aktivist, sowie Dietmar Bartsch, Co-Vorsitzender der Linken-Bundestagsfraktion – sie alle fallen immer wieder mit differenzierten israelpolitischen Stellungnahmen auf und distanzieren sich von Worten und Handlungen ihres antizionistischen Parteiflügels. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit unterstützte die Linken-Bundestagfraktion 2005 eine interfraktionelle Resolution für das Existenzrecht Is356
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raels, nachdem der iranische Präsident Ahmadinedschad selbiges infrage gestellt und den Holocaust geleugnet hatte. In der Debatte selbst vermied die Linken-Fraktion gleichwohl jeglichen expliziten Bezug zu dem Antrag. Sensible Linken-Aktivisten mögen im Rahmen ihrer z. T. herausragenden innerparteilichen Funktionen die Stimmungslage der Partei beeinflussen; doch ist ihr Wirkungsradius ausreichend, um die Linkspartei im Ganzen auf einen nicht-antisemitischen Kurs auszurichten? Insbesondere die Weigerung von elf Linken-Bundestagsabgeordneten, im November 2008 eine interfraktionelle Resolution gegen den Antisemitismus mitzutragen sowie die Teilnahme und Mitwirkung einschlägiger Parteikreise an kruden antiisraelischen Demonstrationen während des Gaza-Konflikts Anfang 2009 lassen erkennen, dass die von Gysi angemahnten Lernprozesse zumindest unter den anvisierten Adressaten wirkungslos verhallten. »Solange es in unserer Partei Leute gibt, die auf Demos auftreten oder gar zu ihnen aufrufen, die die Trennlinie zum Antisemitismus nicht klar ziehen, muss man darauf eine Antwort geben«, erklärte der LinkenPolitiker Stefan Liebich (vgl. Halser 2009, Hengst 2009). Als wenige Wochen später der Duisburger OB-Linken-Kandidaten Hermann Dierkes das Existenzrecht Israels als »läppisch« abtat und den Holocaust relativierte, wiesen Gregor Gysi und Petra Pau den Duisburger Parteifreund energisch zurecht. Trotz aller anerkennenswerten Bemühungen Einzelner wurde und wird in den zurückliegenden Antisemitismus-Debatten ein gleichbleibendes Reaktionsmuster erkennbar: Ohne öffentlichen Druck reagiert die Partei allenfalls abwiegelnd. Widersprüchlich muten vor allem die Signale der Linkspartei in öffentlichen Erklärungen an: Um den Druck auf die Partei wegen der anhaltenden Antisemitismus-Debatte zu mildern, bekannte sich die Bundestagsfraktion im April 2010 einerseits mit großer Mehrheit zum Existenzrecht Israels und für eine Zweistaatenregelung zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Andererseits forderte die Fraktion in der geschlossenen Sitzung »die Einbeziehung der Hamas in politische Gespräche und die Aufhebung ihres Boykotts« – ohne auch nur ein Wort über den terroristischen und antisemitischen Charakter der islamistischen Organisation zu verlieren. Auch die Problematik von Boykottaufrufen gegen Israel, die in der Linken ventiliert werden, wurde diskret ausgespart. Die Teilnahme dreier Linken-Politiker an der umstrittenen Gaza-Hilfsflotte Ende Mai 2010 stieß auch in Teilen der Bundestagsfraktion auf Zustimmung. Doch ein Jahr später widerrief die Fraktion und forderte ihre Mitglieder auf, sich bei der nächsten Gaza-Flottille in Abstinenz zu üben – ein Sinneswandel, der von ND-Chefredakteur Jürgen Reents als außenge-
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steuerte »Falle« und Teil einer innerparteilichen »Selbstdemontage« denunziert wurde (vgl. Reents 2011). Woher rührte die taktisch motivierte Anpassungsleistung oder der (wenn auch heftig umstrittene) »Paradigmenwechsel«, für den Reents ausdrücklich Parteichef Gysis Grundsatzrede von 2008 verantwortlich machte? Zwischen 2009 und 2011 traten die oben skizzierten antisemitischen Exzesse in Teilen der Partei nicht nur gehäuft auf, sondern wurden zunehmend medial wahrgenommen und kritisch diskutiert. Die Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn und Sebastian Voigt nahmen 2011 den Antisemitismus in Teilen der Linkspartei systematisch in den Blick, indem sie einschlägige Ereignisketten historisch analysierten und kontextualisierten. Dabei übten sie scharfe Kritik an den zurückhaltenden Reaktionen der Parteiführung, denen in den zurückliegenden Jahren mehr an der Aufrechterhaltung einer innerparteilichen Pluralismus-Balance als an der Abwehr antisemitischer Tendenzen gelegen war (vgl. Salzborn/Voigt 2011). Der Parteivorstand reagierte auf den medialen Sturm der Entrüstung (vgl. Meisner 2011) mit einer schizophren anmutenden Doppelstrategie: Während Fraktionschef Gysi die »in der Studie aufgestellten Behauptungen« zunächst als »Blödsinn« abtat, schlug der Linken-Parteivorstand kurz darauf einen sachlicheren Ton an, indem er sich von israelfeindlichen Ausprägungen des Antisemitismus distanzierte. Einstimmig nahm der Vorstand »vor dem Hintergrund unserer spezifischen Geschichte« Abstand von »Boykottkampagen gegen israelische Waren«, wies allerdings »Vorwürfe eines angeblichen Vormarsches antisemitischer Positionen in der Linken« zurück. In der wenig später von den Regierungsfraktionen beantragten »Aktuelle(n) Stunde« zur Diskussion der in der Salzborn/Voigt-Studie erhobenen Vorwürfe erwies sich die Linkspartei als die einzige Fraktion, die an die Stelle selbstkritischer Akzente apologetische Ausflüchte setzte.11 Nicht zuletzt dieser peinliche Debattenausgang veranlasste Fraktionschef Gregor Gysi, »seine« Linken-Abgeordneten zu einem ultimativen Beschluss zu nötigen. Die Fraktion gelobte am 7. Juni 2011 »einstimmig«, sich »an der diesjährigen Fahrt einer ‚Gaza-Flottille‘« nicht mehr beteiligen zu wollen – und forderte auch die Mitarbeiter/innen der Fraktion auf, diesen Kurs mitzutragen. Um die Fiktion der »Einstimmigkeit« aufrecht erhalten zu können, hatten zuvor allerdings mindestens zehn Israel-Gegner den Sitzungssaal verlassen, um sich nicht an der Abstimmung über den »gefährlichen Beschluss« beteiligen zu müssen; einige von ihnen drückten
11 Vgl. das Bundestagsplenarprotokoll v. 25.5.2011, S. 12572ff., http://dipbt.bundesta g.de/dip21/btp/17/17110.pdf (abgerufen am 10.12.2018).
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ihren Unmut über den angeblich »großen psychologischen Druck« des »rechten Flügels« aus – Spaltungsgerüchte machten die Runde. Der Antisemitismus-Streit brodelte auch nach dem beherzt anmutenden Fraktionsbeschluss weiter. In dem Maße, wie Partei und Fraktion zwischen die ideologischen Fronten von antizionistischen und proisraelischen Akteuren gerieten, die beide weiterhin die Linkspartei – aus je unterschiedlichen Perspektiven – attackierten, siegte kollektiver Korpsgeist über die bescheidenen Ansätze linker Selbstkritik. In einem neuerlichen Beschluss ging die Fraktion drei Wochen später wieder auf Abstand zu ihren selbstkritischen Einsichten vom 7. Juni. Am 28. Juni 2011 rekurrierten 45 Abgeordnete – bei sechs Nein-Stimmen und 11 Enthaltungen – wieder auf ihren herkömmlichen Anti-Israel-Kurs: »Wir werden nicht zulassen, dass Mitglieder unserer Fraktion und Partei öffentlich als Antisemiten denunziert werden, wenn sie eine solche Politik der israelische Regierung kritisieren.« (Die Linke im Bundestag 2011) Die verharmlosende Gleichsetzung von antizionistischem Antisemitismus und »Israelkritik« zeigte, wie kurzlebig sich die Sensibilität für gemeinsame Schnittmengen von Antisemitismus und obsessiver »Israelkritik« erwiesen hatte. Dem Realo-Flügel gelang es nicht einmal, die Fraktion mehrheitlich auf eine Forderung wie diese zu verpflichten: »Eine Kritik Israels, die mit NS-Vergleichen arbeitet, ist nicht akzeptabel.« (Deggerich 2011) Die antizionistischen Kräfte in der Partei erhielten einen Freibrief, um ihrer Israel-Aversion weiterhin frönen zu dürfen – im Zweifel außerhalb des Parteilabels. Als im April 2013 bei einer u. a. vom Linken-Kreisverband »Links der Weser« und der AG »Antikapitalistische Linke« organisierten Veranstaltung über »Antisemitismusvorwurf als ideologische Waffe« zwei jüdischen Besuchern der Zutritt verwehrt und diese antisemitisch angepöbelt wurden, distanzierte sich der Bremer Landesverband zwar anschließend von der Veranstaltung und ein Sprecher des involvierten Kreisverbandes entschuldigte sich »bei den Betroffenen«; politische Konsequenzen hatte dieser Vorfall nicht (vgl. Hein 2013; Anchuelo 2013), so dass mit »Einzelfällen« dieser Art auch in Zukunft zu rechnen sein wird. 4. Fazit und Ausblick Auf dem Erfurter Bundesparteitag im Oktober 2011 gelang es dem LinkenReformflügel, im Parteiprogramm eine Klausel zur Anerkennung des Existenzrechts Israels unterzubringen und durch einen Mitgliederentscheid zu bestätigen (vgl. Programm Die Linke 2011: 10). Optimisten mögen in diesem politisch überfälligen Votum eine innerparteiliche Richtungsentschei359
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dung wider den antizionistischen Antisemitismus sehen. Doch wer den mühevollen Kraftakt wahrnimmt, mit dem die Linkspartei die Existenzberechtigung des jüdischen Staates programmatisch anerkennt – oder duldet? –, fühlt sich ob einer solchen Toleranzgeste unangenehm berührt. Kein anderer Staat der Welt bedarf der Bezeugung seiner Existenzberechtigung durch die Linkspartei, weil eine solche Selbstverständlichkeit – ein Staat hat das Recht zu existieren, weil er existiert – unter normalen Umständen nicht betont werde müsste, schon gar nicht in einem Parteiprogramm. Im Falle Israels macht Die Linke eine Ausnahme, weil die Legitimität des jüdischen Staates intern umstritten ist. Zwar werden ihre außenpolitischen Aktivitäten heute nicht mehr von antizionistischen Akteuren dominiert; gleichwohl verzichtet Die Linke nach wie vor auf Sanktionen gegen antisemitische Brandstifter (z. B. Parteiausschlussverfahren) – jedenfalls so lange, wie diese unter der Camouflage der »Israelkritik« auftreten. Zwar versuchte die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) jahrelang mit publizistischen Mitteln zur innerparteilichen Mäßigung beizutragen (vgl. Timm 2012; Ullrich 2012; Meyer 2013); seitdem jedoch die Nahostwissenschaftlerin Angelika Timm den Leitungsstab 2015 an den antizionistischen Berliner Aktivisten Tsafrir Cohen weitergereicht hat, inszeniert sich das Tel Aviver Stiftungsbüro als neues »Zentrum für die israelische Linke«.12 Damit droht die RLS zur Speerspitze importierter Israelkritik zu verkommen, zumal sie bis hinauf zur Leitungsebene mit der BDS-Kampagne zu sympathisieren scheint.13 Die israel-aversiven Teile der Linkspartei verbinden das Bekenntnis zur Zweistaatenlösung mit einer strategisch erweiterten Agenda: Sie wollen den jüdischen Staat zwar nicht (länger) antizionistisch zerschlagen, wohl aber mithilfe postzionistischer Denkfiguren evolutiv überwinden – zugunsten eines bi-nationalen Staatenkonstrukts in ferner Zukunft (Gehrcke u. a. 2009: 245f.). Der parteinahe Soziologe Peter Ullrich bemüht das Konstrukt der vermeintlich goldenen Mitte einer geläuterten Linkspartei: »Israelkritik geht oft mit einer Neigung zur Bagatellisierung des Antisemitismus einher, Antisemitismuskritik oft mit einer Bagatellisierung der palästinensischen Leidenserfahrung.« (Ullrich 2008: 67) Obwohl dieser Positionierung, gemessen an den antizionistischen Irrtümern der DDR und der
12 Vgl. die Selbstdarstellung der RLS im Netz: http://www.rosalux.org.il/about/#rosa -in-israel (abgerufen am 16.12.2018). 13 Vgl. Tsafrir Cohen: Wie weiter in Nahost? In: Texte der RLS, New York Office v. Dezember 2017, http://www.rosalux-nyc.org/de/the-options-for-resolving-the-israe li-palestinian-conflict/ (abgerufen am 16.12.2018).
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1968er-Linken der BRD, ein historischer Fortschritt attestiert werden kann, ist sie letztlich apologetischen Abwehrmotiven geschuldet. Antisemitismus-Vorfälle werden in der Linkspartei teilweise noch immer tabuisiert oder reaktiv bagatellisiert. Wie ein Mantra weist Peter Ullrich die meisten antisemitischen Indikatoren in der Linken, soweit sie ‚nur‘ Israel betreffen, als »Ausdruck einer Grauzone« aus (vgl. Ullrich 2011 und 2013: 171–188; Ullrich/Werner 2011). Samuel Salzborn sieht in diesem »völlig begriffslosen Wort« den Versuch, sich »präventiv gegen Analysen zu imprägnieren: eine Grauzone ist aber irgendwie alles – und damit eben auch nichts« (Salzborn 2012: 106). Selbst Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau vermied 2012 in der Plenardebatte zum Antisemitismus-Bericht der Bundesregierung, das Problem in der eigenen Partei anzusprechen.14 Als Ende 2017 in einem Leitartikel der Frankfurter Rundschau die antisemitisch konnotierte Kooperation des Linken-Abgeordneten Dieter Dehm mit dem verschwörungsgläubigen Journalisten Ken Jebsen aufgedeckt wurde (vgl. Bommarius 2017), der sich der Berliner Linken-Kultursenator Klaus Lederer entgegengestellt hatte, beschwerte sich der Parteivorstand bei der Chefredaktion über die »Vorwürfe«, ohne auf die antisemitismusaffinen Querfront-Umtriebe ihres langjährigen »Parteimitglieds« einzugehen (vgl. Lehmann 2017). Derweil wurde im Juni 2018 mit Inge Höger eine der hartnäckigsten Israel-Gegnerinnen der Linkspartei zur Sprecherin der nordrhein-westfälischen Landespartei befördert, bevor der neugewählte Bundesvorstand wenig später das Vorgehen der israelischen Militärs gegen den gewaltförmigen »Rückkehrmarsch« aus Gaza verurteilte, ohne die Raketenangriffe der Hamas auf Israel zu missbilligen (vgl. Reeh 2018). So wird in ritualisierter Regelmäßigkeit deutlich: Der israelbezogene Antisemitismus wuchert in den Randmilieus der Partei wie ein Krebsgeschwür – unbeeindruckt von empirischen Befunden und zurückliegenden Debatten. Solange viele ihrer Anhänger und Funktionäre ihr obsessives Verhältnis zu Israel weder psychosozial-therapeutisch aufarbeiten noch historisch-politisch reflektieren, wird die Linkspartei die Wiederkehr des Verdrängten nicht los. Hat Die Linke das Potenzial, sich der Gespenster ihrer Vergangenheit zu entledigen und eine zukunftsweisende Haltung einzunehmen? Im Hannoveraner Bundestagswahlprogramm von 2017 bekannte sich die Linkspartei ausdrücklich zum
14 Vgl. das Plenarprotokoll v. 17.10.2012, S. 23735f., http://dip21.bundestag.de/dip2 1/btp/17/17197.pdf (abgerufen am 27.12.2018).
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»Recht von Jüdinnen und Juden in Israel auf politische Selbstbestimmung […]. Daher stehen wir für das Existenzrecht Israels ein. Wir stehen für eine friedliche Beilegung des Nahostkonfliktes im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung. […] DIE LINKE unterstützt den Kampf gegen Antisemitismus.« (Die Linke 2017: 110) So war es nur folgerichtig, dass die EU-Abgeordneten der Linkspartei im Dezember 2018 eine Sympathie-Veranstaltung der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) zugunsten der BDS-Bewegung als unvereinbar mit den Positionen ihrer Partei kritisierten. Zwar konnten sich die Parlamentarier fraktionsintern nicht durchsetzen, gingen aber einen Tag vor der Veranstaltung mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit, in der sie mit antisemitismuskritischer Vehemenz ihre Position deutlich machten.15 Sollte dieses Beispiel in der Linkspartei Schule machen, könnten die quälenden Antisemitismus-Debatten der letzten Jahre doch noch einen glücklichen Ausgang nehmen. Literatur Amadeu Antonio Stiftung (Hg.) (2010): »Das hat’s bei uns nicht gegeben!« Antisemitismus in der DDR. – Das Buch zur Ausstellung der Amadeu Antonio Stiftung, Berlin. Anchuelo, André (2013): Juden unerwünscht? Erneut Antisemitismus-Vorwürfe gegen die Linkspartei der Hansestadt. Der Landesvorsitzende distanziert sich, in: Jüdische Allgemeine online v. 17.4.2013, http://www.juedische-allgemeine.de/ar ticle/view/id/15752 (abgerufen am 15.12.2018). Balandat, Felix (2016): Israels Vernichtung in Berlin feiern, in: Jungle World (Blog) v. 7.12.2016, https://jungle.world/blog/jungleblog/2016/12/israels-vernichtung-b erlin-feiern (abgerufen am 23.9.2018). Bommarius, Christian (2017): Querfront. Antisemitismus ist eine deutsche Tradition, in: Frankfurter Rundschau v. 13.12.2017, http://www.fr.de/politik/meinung/ leitartikel/querfront-antisemitismus-ist-eine-deutsche-tradition-a-1406646,0 (abgerufen am 4.12.2018).
15 Vgl. Gemeinsame Erklärung der Delegation Die Linke im EP zur GUE/NGL-Veranstaltung »Boycott, divestment, and sanctions: achievements and challenges« v. 3.12.2018, https://www.dielinke-europa.eu/de/article/12095.gemeinsame-erkl% C3%A4rung-der-delegation-die-linke-im-ep-zur-gue-ngl-veranstaltung-boycott-dive stment-and-sanctions-achievements-and-challenges.html? fbclid=IwAR3X2g9gXfuKzBz8Xrz2M3D0Upc96s7Rq1TCxIoV3bQCdfX6 tPBCJvP7LwU (abgerufen am 15.12.2018).
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Der Antisemitismus der anderen. Zum Verhältnis von Globalisierungskritik und Antisemitismus am Beispiel des globalisierungskritischen Akteurs Attac Holger Knothe
1. Einleitung: Like it never happened »Die produktive Bearbeitung des Problems verlangt dauerhafte Anstrengung. Attac wird das Thema in seiner Bildungsarbeit, in der Außendarstellung und in seiner gesamten Strategie verankern.« (Attac Deutschland 2003c) Das hier vor über einem Jahrzehnt in einem Diskussionspapier des Koordinierungskreises von Attac angesprochene »Problem« bzw. »Thema« ist die vermeintliche oder tatsächliche Nähe antisemitischer Narrative zur Globalisierungskritik, wie sie die deutsche Sektion des globalisierungskritischen Netzwerks Attac1 vertritt. Die angekündigte »dauerhafte Anstrengung« hat sich indes als ebenso nichtexistent erwiesen wie die Etablierung dieser Thematik in Bildungsarbeit, Außendarstellung und Strategie. Im Gegenteil wirkt die damalige Veröffentlichung des wissenschaftlichen Beirats von Attac rückblickend betrachtet wie eine mehr oder weniger pflichtschuldige Übung. Tatsächlich erstarb die Diskussion kurz danach und wurde im Sinne eines »es ist alles gesagt« mit der Veröffentlichung dieses Readers beendet. Angesichts dieser Tatsache und der relativ langen Reaktionszeit auf die Kritik an antisemitischen Tendenzen innerhalb Attacs offenbaren sich die spezifischen Schwierigkeiten, die für Attac mit der Positionierung gegenüber dem Argument der Kongruenz zu antisemitischen Weltbildern und Deutungsmustern verbunden sind. Je nach Perspektive sind diese Schwierigkeiten im Vorwurf des Antisemitismus für das emanzipatorische Selbst-
1 Die »Association pour la taxation des transactions pour l'aide aux citoyens« (Attac) wurde 1998 in Frankreich mit dem Ziel gegründet die sogenannte Tobin-Steuer auf Währungsspekualationen zu etablieren. Mittlerweile existiert sie in 50 Ländern mit 90.000 Mitgliedern und verkörpert den prominentesten Akteur innerhalb der Globalisierungskritischen Bewegung.
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Holger Knothe
bild der Organisation oder im substanziellen Gehalt der Kritik begründet. Darüber hinaus bezeugt der oftmals rituelle und abwehrende Umgang mit dem Argument der Nähe zu antisemitischen Deutungsmustern aber auch noch etwas anderes, weit über den politischen Akteur Attac hinausweisendes: Denn wie unter einem Brennglas werden Muster und Strukturen des Umgangs mit diesem Argument bei einem sich selbst als im weitesten Sinne progressiv und emanzipatorisch und links verstehenden Akteur deutlich. Diese sind wiederum nur erklärbar mit den spezifischen gesellschaftlichen, politischen und historischen Rahmenbedingungen, innerhalb derer die deutsche Sektion des globalisierungskritischen Netzwerks Attac agiert. Das Verhältnis Attacs zu Antisemitismus steht in diesem Sinne paradigmatisch für ähnlich gelagerte Fälle innerhalb des Postnazismus (vgl. Grigat 2012) wie z.B. bei Teilen der Linkspartei (vgl. Salzborn/Voigt 2011). Das Verhältnis zum Antisemitismus zeigt sich – so die These – im Umgang mit diesem. Gegenstand dieses Beitrags ist demgemäß die Reaktion Attacs auf die Kritik an dessen Nähe zu antisemitischen Deutungsmustern. Dies umso mehr, als dass diese Positionierung als zentraler Indikator für das reflexive Potenzial im Sinne eines kollektiven Lernprozesses (vgl. Bergmann 1997) bei Attac gesehen werden kann. Es geht also folglich nicht nur darum, ob und inwiefern der globalisierungskritische Akteur Attac strukturelle Affinitäten zu antisemitischen Weltbildern aufweist, sondern vor allen Dingen um dessen Umgang mit der hieran erfolgten Kritik. Eine Analyse hierzu kann dabei von zwei miteinander verknüpften Kontexten nicht getrennt werden: zum einen von dem in Deutschland vorhandenen sekundären Antisemitismus aus Erinnerungsabwehr und zum anderen von der Tradition der Anfälligkeit linker Bewegungen zu antisemitischen Weltdeutungen. Im Folgenden werden kurz die wesentlichen Merkmale und Eigenschaften des globalisierungskritischen Netzwerks Attac (2.) skizziert um daran anschließend das Argument der inhaltlichen Nähe von Globalisierungskritik und Antisemitismus zu entfalten (3.) sowie die Abwehr und Negation des Arguments durch Attac zu analysieren (4.). Ein bilanzierendes Fazit unter Rekurs auf den postnazistischen Rahmen der Positionierung gegenüber Antisemitismus beschließt den Beitrag (5).
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Der Antisemitismus der anderen
2. Das globalisierungskritische Netzwerk Attac Das seit 2001 auch in Deutschland aktive Attac-Netzwerk ist der prominenteste Vertreter der Globalisierungskritik.2 Attac versteht sich dabei als internationales Netzwerk, in dem sowohl Einzelpersonen als auch Organisationen aktiv sein können. In Deutschland gehören ungefähr 170 Organisationen Attac an, darunter bspw. Ver.di, BUND, Pax Christi sowie entwicklungspolitische und kapitalismuskritische Gruppen. 2018 hatte Attac in der Bundesrepublik Deutschland rund 29 000 Mitglieder, die sich in zirka 250 Regionalgruppen und einem runden Dutzend bundesweiter Arbeitsgruppen organisierten (Attac 2018). Dabei sieht sich Attac einerseits in der Tradition der außerparlamentarischen Neuen Linken seit 1968 und der Neuen Sozialen Bewegungen, versucht diese Tradition andererseits aber strukturell und inhaltlich neu auszubuchstabieren (vgl. John/Knothe 2007). Das anfänglich große mediale und wissenschaftliche Interesse an Attac (vgl. z.B. Rucht, 2002) hat mittlerweile jedoch deutlich nachgelassen (vgl. Anzlinger 2018). Inhaltliche Referenz ist für Attac die »Globalisierung«, denn »[s]ie verändert die Gesellschaft mit enormem Tempo und greift tief in unsere Lebensbedingungen ein« (Attac Deutschland 2006b). Globalisierung erscheint zum einen als ein von außen gesteuerter Prozess, der bisher eindeutige, stabile gesellschaftliche Verhältnisse auflöse und bedrohe. Zum anderen werden diese stabilen gesellschaftlichen Verhältnisse im Gegensatz zur von außen kommenden negativen Globalisierung unweigerlich als positiv affirmiert. Die Begründung für die negativen Veränderungstendenzen liege im Charakter der Globalisierung selbst: »Ihr Leitbild ist der Neoliberalismus« (ebd.). Hinter der Globalisierung werden einflussreiche Akteure vermutet, welche diese vorantreiben: »Sie wird bisher einseitig von mächtigen Wirtschaftsinteressen dominiert, von großen Banken, von Investmentfonds, transnationalen Konzernen und anderen großen Kapitalbesitzern« (Attac Deutschland 2006b). Unterstützt werden diese durch staatliche und zwischenstaatliche Institutionen: »Sie ist von den Regierungen der großen Industrieländer und mit Hilfe von internationalem Währungsfonds (IWF), Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO) zielgerichtet betrieben worden« (ebd.). Die Auswirkungen der Globalisierung würden sich auf alle Lebensbereiche und -räume erstrecken, sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern. Exemplarisch zeigt sich deren überra-
2 In Anlehnung an den französischen Begriff »Altermondialiste« bezieht sich Attac Deutschland auf Globalisierungskritik und weniger auf Anti-Globalisierung.
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gende Bedeutung für das Selbstverständnis von Attac an der Diskussion über mögliche andere Einflussvariablen, durch welche die Veränderungen im Sozialsystem erklärt werden könnten: »So sind beispielsweise auch der technische Fortschritt oder demographische Veränderungen von Bedeutung, aber dennoch ist der Abbau des Wohlfahrtsstaates nur in Zusammenhang mit der Globalisierung zu sehen« (Wahl 2004a: 26; Herv. d. Verf.). Unter dem Dach der Kritik an neoliberaler Globalisierung können prinzipiell unendlich viele Veränderungen und Missstände kommuniziert, verhandelt und bekämpft werden. Daraus resultieren Schließungs- und Öffnungsprozeduren: Schließung, sofern die Vielfalt potenzieller Themen auf Globalisierung reduziert wird; Öffnung, sofern heterogene Themen wie Ökologie, Sexismus, Ungleichheit etc. sowohl im lebensweltlichen als auch im globalen Bezugsrahmen gleichzeitig verhandelt werden. Attac fungiert in diesem Sinne zunehmend als Projektionsfläche, die verschiedene und zum Teil auch einander widersprechende Anschlüsse erlaubt. Grenzziehungen im Außenverhältnis werden dabei durch das Ausschlusskriterium des Neoliberalismus markiert.3 Der Begriff »Neoliberalismus« stellt das vorherrschende identitätsstiftende negative Distinktionsmerkmal dar. Zusätzlich zu diesem Kriterium existieren gleichsam Mindestanforderungen für die Teilhabe an Attac: »Für Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus und verwandte Ideologien gibt es keinen Platz« (Attac Deutschland 2006a). Die starke Betonung eines pluralen Raumes der unterschiedlichen, auch entgegengesetzten Anschauungen und Ideologien sowie der prominente Ort von eigentlich Selbstverständlichem – zumindest für eine Bewegung, die sich selbst im Kontext progressiver Neuer Sozialer Bewegungen begreift – wirft die Frage nach der Funktion solcher Herausstellungen auf. Die Kontroverse um die Nähe antisemitischer Narrative zur Globalisierungskritik bezeugt zudem, dass es mit dieser formelhaften Abgrenzung alleine nicht getan ist.
3 Jenseits diverser Kämpfe und Verhandlungen um Sinn und Funktion des Begriffs »Neoliberalismus«, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, ist dieser hier vor allen Dingen wegen seines projektiven Gehalts für Attac von Belang.
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3. Kritik der Globalisierungskritik: Affinitäten zu antisemitischen Denkformen und Argumentationsmustern Die Kritik an antisemitischen Affinitäten innerhalb Attacs existiert seit den Anfängen der globalisierungskritischen Bewegung in Deutschland.4 Gegenstände dieser Kritik sind eine verkürzte Kapitalismusanalyse, personifizierendes und verschwörungsideologisches Denken, eine verzerrte Wahrnehmung des Nahostkonflikts und tendenzielle Anschlussfähigkeit für rechtsradikale Positionen. Es handelte sich dabei im Großen und Ganzen um ein Wiederaufleben der Debatte um linken Antisemitismus,5 also um die Frage, ob und inwiefern Elemente des linken Antisemitismus in die Globalisierungskritik Eingang gefunden haben. Die Kritik an Attac kann in drei Hauptlinien unterschieden werden (vgl. Sternfeld 2006: 61): Erstens richtet sie sich gegen die »klassischen Motive des linken Antisemitismus« (ebd.) wie die Personalisierung von Herrschaftsverhältnissen und verschwörungstheoretische Wahrnehmungsmuster, zweitens wird eine »essenzialisierende Kritik an Israel und den USA« (ebd.) beanstandet, die diese zum globalen Feindbild stilisiert. Drittens wird eine »Anschlussfähigkeit an rechtsradikale Gruppen« (ebd.) konstatiert, die sich in einer Verbindungslinie zu fundamentalistischen Organisationen manifestiert. Dabei amalgamieren strukturelle und inhaltliche, sekundär antisemitische Aspekte miteinander, die mit Ideologemen des Antisemitismus von links verknüpft sind.6 Bedeutsam ist, dass in keinem der genannten Argumentationsstränge eine Ineinssetzung des globalisierungskritischen Akteurs Attac mit explizit antisemitischen Akteuren stattfindet. Vielmehr geht es darum,
4 Vgl. für die innerlinke Debatte z.B. Wolter (2000), für die Printmedien z.B. Braun (2003), Staud (2003a, 2003b) sowie für den wissenschaftlichen Bereich z.B. Bergmann & Wetzel (2003). 5 Trotz der strukturellen Ähnlichkeiten zum Phänomen des rechten Antisemitismus weist das Phänomen des Antisemitismus von links einige historische, kulturelle und psychologische Spezifika auf (vgl. Geisel 2015). Wenn von linkem Antisemitismus die Rede ist, gibt es grundsätzlich zwei Positionen: Innerhalb der ersten werden antisemitische Vorfälle in linken Parteien und Bewegungen als Einzel- oder Oberflächenerscheinungen eingeordnet und innerhalb der zweiten wird die Existenz eines genuin linken Antisemitismus grundsätzlich bejaht. Letztgenannte Position dürfte mittlerweile innerhalb der sozial- und geisteswissenschaftlichen Fachrichtung die Majorität erlangt haben (vgl. Brosch et al. 2007) – zumindest im deutschsprachigen Raum. 6 Für eine ausführlichere und detailreichere Analyse antisemitischer Anschlussstellen innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung als sie hier geleistet werden kann vgl. Haury (2005), Knothe (2009) sowie Sternfeld (2006).
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auf strukturelle Ähnlichkeiten zwischen heutigen globalisierungskritischen Argumentationsfiguren und antisemitischen Stereotypen hinzuweisen und auf sekundär antisemitische Narrative in der Wahrnehmung des Nahostkonflikts aufmerksam zu machen.7 In Anbetracht der im vorherigen Abschnitt dargelegten Spezifika des globalisierungskritischen Akteurs Attac ist dieser Hinweis auch berechtigt. So kann die selbstgewählte Grenze zwischen »GlobalisierungskritikerInnen« einerseits und »Neoliberalen« andererseits nicht in Einklang gebracht werden mit der Grenzziehung zwischen »antisemitisch« und »nicht antisemitisch«. Dies verschärft sich strukturell durch die Bearbeitung des Problems innerhalb Attacs. Der Versuch, dies durch die Abgrenzung gegen Antisemitismus, Rassismus und Sexismus nachzuholen, verweist einerseits auf die Notwendigkeit der Grenzziehungen anhand eines realen Problems, wirft aber als Nebenfolge andererseits ein neues Problem auf: Was ist unter Antisemitismus zu verstehen? Sind eine antizionistische Wahrnehmung des Nahostkonflikts und eine auf die Börsen fokussierte Ökonomiekritik bereits antisemitisch? Wie kann Antisemitismus z.B. von Formen legitimer Kritik am Staat Israel differenziert werden? Können sich Akteure der globalisierungskritischen Bewegung in Deutschland überhaupt jenseits der Fallstricke von sekundär antisemitischer Erinnerungsabwehr und stereotyper Wahrnehmungen des Nahostkonfliktes bewegen? Der dynamische Charakter des antisemitischen Weltbilds legt zudem nahe, dass ein pauschaler Antisemitismusverdacht ebenso wenig hilfreich ist wie ein Festhalten an nicht mehr adäquaten und oberflächlichen Vorstellungen vom Charakter antisemitischer Weltbilder.8 7 Diese Diskussion wird oftmals mit der Debatte um neue Formen des Antisemitismus verknüpft (vgl. Rabinovici/Speck/Sznaider 2004). Tatsächlich haben sich Erscheinungsformen, Anlässe und Akteure antisemitischer Manifestationen zum Teil verändert, nicht aber die antisemitischen Argumentationsmuster selbst (vgl. Bergmann 2006). Die Dynamik und Wandelbarkeit des antisemitischen Vorurteils hinsichtlich der Thematisierungsanlässe, der gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen und der Akteure, die es kommunizieren, erschweren es jedoch, von einer eindeutigen Differenz zwischen altem und neuem Antisemitismus zu sprechen, sondern legen vielmehr das Bild eines Übergangs, der von Irritationen gekennzeichnet ist, nahe (vgl. Knothe 2015). 8 Ein Versuch, diesem Problem auf politischer wie auch pädagogischer Ebene gerecht zu werden kann in der Etablierung der so genannten »Arbeitsdefinition Antisemitismus« (IHRA 2016) gesehen werden. Auch im Lichte der Auseinandersetzung um die verbindliche Übernahme der Definition in anderen Ländern und bei anderen Akteuren wie z.B. Labour in Großbritannien (vgl. Hirsh 2017: 135ff.) muss die Frage jedoch offen bleiben, ob und in welchem Umfang die deutsche Sektion von Attac dieses Definition übernehmen würde.
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Denn dass antisemitische Weltbilder sich wandeln können, manifestiert sich in den zahlreichen Stellungnahmen in Teilen der deutschen Linken nach 1967 zum Nahostkonflikt. Dabei zeigte sich, dass durch die unkritische Solidarisierung mit den Palästinenser*innen eigene, unbewusste antisemitische Ressentiments rationalisiert werden konnten. Ferner bewirkte das antiimperialistische Weltbild eine nationale Entlastungsfunktion (beispielsweise nach 9/11), die sich vornehmlich in der Täter-Opfer-Umkehr und der Relativierung der Shoah zeigte. Die Substitution religiöser oder rassistischer durch politische Narrative markiert einen weiteren Aspekt des antiimperialistischen Weltbildes (vgl. Kloke 1994, Haury 2002). Die kollektive Haftbarmachung des Staates Israel kann dabei mit Elementen des sekundären wie auch des klassischen Antisemitismus amalgamieren. Die Frage nach der Kompatibilität einzelner Narrative der globalisierungskritischen Bewegung mit genuin antisemitischen Weltbildern muss dementsprechend vor dem Hintergrund der Verortung der globalisierungskritischen Bewegung innerhalb dieser Tradition der außerparlamentarischen Neuen Linken gestellt werden. Angesichts dessen zeigte sich, dass die innerhalb Attacs praktizierte Ökonomiekritik strukturell vielfache Anschlussmöglichkeiten für antisemitische Weltbilder enthält. Auch der Antiamerikanismus weist, namentlich was seine verschwörungstheoretische Komponente betrifft, strukturelle Affinitäten zu diesen auf. Dabei ist indes zu beachten, dass sich die Ökonomiekritik und genauso die spezifische Wahrnehmung der USA nur in den seltensten Fällen folgerichtig in geschlossen antisemitische Welterklärungen transformieren. Demgegenüber ist jedoch festzuhalten, dass eine zur ‚Israelkritik‘ fetischisierte unverhältnismäßige Kritik am Staat Israel bis hin zum antisemitisch grundierten Antizionismus sowohl innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung als auch innerhalb Attacs nicht nur weitgehend unhinterfragte und akzeptierte, sondern dominante Positionen sind. In Verbindung mit der auf die Zirkulationssphäre zielenden Ökonomiekritik, die von der Nötigung zum Verkauf der Ware Arbeitskraft schweigt, operierte Attac dabei wiederholt mit einer genuin antisemitischen Symbolik.9 Auch die weitgehende Akzeptanz einer Bündnispolitik, die islamistische, antisemitische Positionen wie jene z.B. der Hisbollah 9 Ein besonders eindrückliches von vielen Beispielen zeigte sich bei der Demon-stration von Globalisierungskritikerinnen 2003 aus Anlass des World Economic Forum in Davos gegen den US-Verteidigungsminister Rumsfeld, bei der dieser mit einem gelben Davidstern, auf dem statt »Jude« das Wort »Sheriff« gemalt war, dargestellt wurde. Zusammen mit anderen Personen tanzt dieser um ein großes goldenes Kalb (vgl. Hammerschmidt 2003).
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nicht nur toleriert, sondern auch als Teil des Bündnisses begreift (vgl. Strauss 2003) legt die Einschätzung nahe, dass Teile der globalisierungskritischen Bewegung diesen Vorgang keinesfalls als Problem wahrnehmen. Insgesamt ergibt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits bestehen innerhalb zentraler globalisierungskritischer Narrative bedeutende und wichtige Anschlüsse hin zu antisemitischen Stereotypen und ideologischen Elementen des Antisemitismus und in der Vergangenheit kam es zudem zu personellen Verflechtungen mit islamistischen Netzwerken. Andererseits kann die globalisierungskritische Bewegung und ihr prominentester Protagonist Attac nicht per se und in Gänze als antisemitisch bezeichnet werden. Davon abgesehen, dass eine inflationäre Verwendung des Begriffes »Antisemitismus« dessen inhaltliche Bedeutung aushöhlen würde und zu einer historisch-politisch unsachlichen Relativierung tatsächlich manifester antisemitischer Ideen und Praxen beitragen würde, gibt es zwei Aspekte, die in der Struktur der globalisierungskritischen Bewegung selbst verankert sind, die gegen die Annahme der These, Attac sei antisemitisch, sprechen. Erstens sind die hier angeführten Stellungnahmen, Argumente und Aussagen im Kontext zahlreicher anderer Veröffentlichungen der Globalisierungsgegner*innen zu sehen. So wie sich nicht jede Kritik an den ökonomischen, politischen und sozialen Folgen der Globalisierung personifizierender Beschreibungen bedient, so haben nicht alle Globalisierungskritiker*innen allein die Finanzmärkte und damit die Zirkulationssphäre im Blick. Und selbst diejenigen Metaphern, die personifizierende und verschwörungstheoretische Konstruktionen erzeugen, unterscheiden sich qualitativ und quantitativ von der wahnhaften Beschwörung des gleichen Sujets im geschlossen antisemitischen Weltbild. Zweitens kommt hinzu, dass trotz der personifizierenden und verschwörungstheoretischen Elemente in der Argumentation der zentrale und wesentliche Schritt der Gleichsetzung – im Gegensatz zu genuin antisemitischen Argumentationen – nicht stattfindet. Es existiert eben keine explizite Identifikation der Eliten oder Spekulanten mit Juden und Jüdinnen. Auch wenn offen bleiben muss, ob dieses Argument der ausbleibenden Ethnisierung nicht zuallererst den äußeren Rahmenbedingungen postnazistischer Öffentlichkeit und damit einhergehender Kommunikationslatenz (Bergmann/Erb 1986) in Deutschland geschuldet ist, so bedeutet dies doch auch, dass klassischer Antisemitismus prima facie kein angemessenes Kriterium der Beschreibung der geschilderten Narrative für die globalisierungskritische Bewegung ist. Dies wird allein schon durch den historischen Vergleich mit antisemitischen Schriften aus dem Kaiserreich oder dem aktuellen Vergleich mit dem islamistischen Antisemitismus deutlich. Allerdings muss festgehalten werden, dass das Argument der strukturellen Affinität zu antisemitischen Weltbil374
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dern und der sekundär antisemitischen Elemente insbesondere in der Wahrnehmung des Nahostkonflikts ausgesprochen gehaltvoll ist. 4. Negation, Abwehr und mögliche Spielräume Die Aussagekraft des Arguments der Nähe zu antisemitischen Deutungsmustern wird auch im Umgang mit diesem durch wesentliche Protagonist*innen des deutschen Attac-Netzwerks deutlich. Dabei waren und sind für die Analyse der veröffentlichten Positionen von Attac zur Frage der Anschlussfähigkeit antisemitischer Weltbilder innerhalb ihrer eigenen Argumentation zwei Parameter maßgeblich: erstens der Deutungsrahmen eines in Deutschland vorhandenen sekundären Antisemitismus aus Erinnerungsabwehr und zweitens die Tradition der Anfälligkeit linker Bewegungen für antisemitische Narrative. Selbst vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass innerhalb der vergleichsweise überschaubaren Anzahl an Veröffentlichungen10 der deutschen Sektion zu dem Thema in toto nur eine Position zur Kritik an Attac und an der globalisierungskritischen Bewegung betrifft existiert: Es ist dies ganz eindeutig die Position der Negation bzw. Abwehr. Die zwar ebenfalls kurze, aber inhaltlich ganz anders verlaufene Debatte innerhalb der österreichischen Sektion zu demselben Thema belegt, dass dies kein zwangsläufiges Ergebnis ist. So ist im österreichischen Kontext eher von einem strukturellen Problem innerhalb Attacs und der globalisierungskritischen Bewegung die Rede ist. Diese elementare Differenz äußert sich in mehreren Aspekten und wird argumentativ durch unterschiedliche Strategien fundiert. Dies zeigt sich z.B. im Verständnis von Antisemitismus und in der Eigenverortung innerhalb der Gesellschaft. Während im deutschen Kontext ein enger, historisch eingrenzbarer Begriff von Antisemitismus, der sich zudem in erster Linie auf manifestes Verhalten Einzelner fokussiert, verwendet wird, überwiegt im österreichischen Reader (Attac Österreich 2005) ein mehrdimensionaler Begriff, der vor allen Dingen die latente und strukturelle Dimension in den Vordergrund stellt. Mit diesen unterschiedlichen Herangehensweisen ist auch die unterschiedliche Positionierung des politischen Akteurs Attac innerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens verbunden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Annahme, dass sich die Erscheinungsformen von Antisemitismus weg von einer konsistenten Weltdeutung hin zu »Partikel(n) des Ressentiments« (Diner 2004: 310) ent10 Für einen Überblick über den Datenkorpus (vgl. Knothe 2009: 147).
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grenzt haben und nicht auf einen bestimmten gesellschaftlichen Sektor beschränkt sind. Für beide Positionen stellt sich Antisemitismus zwar als gesellschaftliches Problem dar, wobei jedoch die Reichweite des Problems und die eigenen Verwicklungen sehr unterschiedlich bewertet werden. Die maßgebliche Position bei Attac Deutschland zeichnet sich in den analysierten Publikationen dadurch aus, dass antisemitische Weltdeutungen grundsätzlich jenseits des eigenen Wirkungskreises verortet werden. Es handelt sich in dieser Perspektive bei Antisemitismus immer um den ‚Antisemitismus der anderen‘. Antisemitismus wird also als gesellschaftliches Problem erkannt, aber anderen Akteuren zugeschrieben. Paradigmatisch dafür ist, dass bis zur Debatte um Antisemitismus innerhalb Attacs dieser gleichsam unsichtbar und seine Bekämpfung auch nicht Bestandteil der politischen Agenda von Attac war: »Erst in der Konfrontation mit den eigenen Antisemitismen taucht er überhaupt als Thema auf« (Sternfeld 2006: 81). Angesichts der vielfältigen Positionierung Attacs gegen jedwede Herrschaftsverhältnisse wie Rassismus, Sexismus, Ausbeutung der Entwicklungsländer etc. ist dies besonders eklatant. Positionen müssen indes nicht auf ewig statisch fixiert bleiben, und gerade die Debatte der österreichischen Sektion Attacs zeigt, dass es immer wieder zu dynamischen Entwicklungen und inhaltlichen Verschiebungen kommen kann. Da die Debatte über Antisemitismus innerhalb Attacs über einen Zeitraum von mehreren Jahren andauerte, stellt sich die Frage nach den Entwicklungstendenzen in ihr, wie folgende für den Verlauf der deutschen Diskussion paradigmatische Zitate in zeitlicher Abfolge verdeutlichen: »Es ist eine Diskussion darüber entbrannt, ob es bei ATTAC Antisemitismus gäbe, oder ob dieser begünstigt würde.« (Attac Deutschland 2003c) »Die Positionen von Attac sind nicht antisemitisch.« (Attac Deutschland 2003a) »Attac, aber auch die globalisierungskritische Bewegung insgesamt, sind seit einiger Zeit Zielscheibe des Vorwurfs, antisemitisch oder zumindest anschlußfähig an Antisemitismus zu sein, bzw. antisemitische Tendenzen in ihren Reihen zu dulden.« (Wahl 2004b: 5) Im Laufe von zwei Jahren wurde so aus einer sachlichen Erwähnung einer existenten Diskussion darüber »ob es bei Attac Antisemitismus gäbe« (Attac Deutschland 2003c) die Feststellung, dass dies nicht der Fall sei (Attac Deutschland 2003a), bis hin zur Wertung der Diskussion als »Vorwürfe« und der Inszenierung von Attac als Opfer dieser Vorwürfe, nämlich als 376
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»Zielscheibe« (Wahl 2004b: 5). In Anbetracht dieser Entwicklung und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass allen Ankündigungen zum Trotz das Thema Antisemitismus sowohl während als auch nach der Veröffentlichung der thematischen Reader nie breit diskutiert wurde, kann der zeitliche Verlauf der Debatte als Formierung der Abwehr gedeutet werden. Aus vorhandenem Diskussionsbedarf wird somit Gewissheit, in keiner Weise, weder latent noch manifest, mit Antisemitismus strukturell in Verbindung zu stehen. Nicht nur der letztgenannte Befund führt zu der Frage, welche Schlussfolgerungen für die Praxis von Attac gezogen werden könnten. Entgegen der dort vorgetragenen Sorge, dass die Beschäftigung mit der Kritik sich als »unproduktiv« (Attac Deutschland 2003b) erweisen könnte, würde diese gerade zu einem Zuwachs an Reflexion führen, der dem eigenen Anspruch einer politischen Bildungsbewegung gerecht wird. Dies wiederum wäre die Bedingung der Möglichkeit, sich in der Auseinandersetzung um antisemitische Formen der Kritik angemessen zu positionieren. Gerade aber das Ausbleiben dieser Reflexion in Verbindung mit projektiven Zuschreibungen an die Kritiker*innen im Gestus der empörten Abwehr belegt, dass Attac dem selbstformulierten Ziel einer politischen Bildungsbewegung nur unzureichend Rechnung trägt. Denn die Abwehr der Beschäftigung mit der Thematik und das Fehlen einer selbstreflexiven Positionierung gegenüber aktuellen, strukturellen Formen des Antisemitismus stellen für Attac Deutschland ein weit größeres Problem dar als ein Antisemitismusvorwurf, dem man sich zu Unrecht ausgesetzt sieht. Käme es nämlich perspektivisch zu einem Engagement gegen Antisemitismus als integralem Bestandteil der Attac-eigenen Agenda, würden sich die Probleme für Attac glaubwürdiger reduzieren lassen als durch Vermeidungs- und Abwehrstrategien: »Das würde auch das Scheinproblem der ‚Anschlussfähigkeit‘ für rechtsradikale und antisemitische Positionen lösen, die – wie Attac so gerne beteuert – ja niemand verhindern kann: Einer Bewegung, die sich gezielt gegen die Ausbreitung des Antisemitismus in Europa, gegen Neonazis und antisemitische Terrorattentate richtet, werden sich nämlich weder Neonazis noch radikale islamische Gruppen anschließen.« (Sternfeld 2006: 83) Alles in allem ist die Abwehr der Debatte die signifikante Position in der Diskussion innerhalb Attacs. Dies bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass die Bemühungen um Reflexion innerhalb des österreichischen Kontexts zu vernachlässigen sind. Gerade als Referenz eines möglichen Spielraums an
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Reflexion verdeutlicht diese Position die Abwehrhaltung des deutschen Kontexts umso stärker. 5. Coda: Attac als Neue Soziale Bewegung im Postnazismus Eine reflexive Position, welche das Argument der strukturellen Nähe zum Anlass nimmt, sich mit der eigenen Argumentation und Bildsprache auseinanderzusetzen findet also bei Attac trotz der emanzipatorischen Rhetorik keine Mehrheit. Dies steht mit drei wichtigen Faktoren in Zusammenhang. Der erste Faktor findet sich in der spezifischen Problemkonstruktion des Programms von Attac. Die Fixierung auf einen Fluchtpunkt, auf ein Movens, nämlich die Globalisierung, die von außen verursacht wird, führt zum einen dazu, dass Globalisierung »[…] als mächtige Struktur außerhalb meiner selbst gesehen wird, die von zwielichtigen Akteuren gelenkt wird« (Messerschmidt 2005: 141). Zum anderen aber führt die Fixierung auf die Transnationalität des Kapitals mit all ihren negativen Folgen – unter Ausblendung der Produktionssphäre und bei einer Fetischisierung des Fordismus – zu einer Weltsicht, in der das Lokale als authentisch und gut, das Globale als oktroyiert und schlecht firmiert. Zudem korrespondiert diese monothematische Großerzählung mit einer Verhärtung und Fundamentalisierung, die nur noch eine zweiwertige, moralisch aufgeladene Differenz als Maßstab der Wahrnehmung kennt. Die strukturelle Nähe zu antisemitischen Wahrnehmungsmustern zeigt sich dabei nicht nur in dem projektiven Modus der Abspaltung eigener Verstrickungen in Vorgänge der Globalisierung und Projektionen auf vermeintliche Drahtzieher der Globalisierung, sondern auch in der Unbedingtheit der eigenen Positionierung: »Globalisierungskritik neigt dort zur Neuauflage antisemitischer Bilder, wo sie ins Grundsätzliche ausweicht, also gar nicht mehr auf konkrete Probleme und erreichbare Ziele bezogen ist« (ebd.: 142). Der zweite Faktor für die Vermeidung und Abwehr der Auseinandersetzung mit der Kritik an den Anschlussstellen zu antisemitischen Deutungsmustern liegt in der heterogenen und pluralen Struktur von Attac. Diese auf maximale Mobilisierung und Unterstützung zielende Bündnisstrategie führt letzten Endes zu unklaren und schwammigen Grenzziehungen gegenüber strukturell oder sogar offen antisemitischen Akteur*innen und ihren symbolischen Praktiken und Narrativen. Gerade die sehr allgemeine und durch äußeren Druck provozierte Grenzziehung, die überdies mit Relativierungen und Abwehr einhergeht, führt dementsprechend dazu, dass die von Attac postulierten »Grenzen der Offenheit« (Attac Deutschland 2003c) nur einen oberflächlichen Abstand zu offenkundigen Antisemit*innen zur Folge ha378
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ben. Dadurch entsteht der Eindruck, dass eventuell vorhandene inhaltliche Bedenken bezüglich der Tauglichkeit einiger Akteure für das Mitwirken bei Attac zugunsten der Mobilisierung und Unterstützung zurückgestellt werden. Der dritte grundsätzliche Faktor für die Position der Abwehr liegt außerhalb des Akteurs Attac und bezieht sich auf den postnazistischen Rahmen und die damit verbundene Wahrscheinlichkeit sekundär-antisemitischer Reaktionsbildungen. Die Art der Positionierung innerhalb dieses nationalen Rahmens kann jedoch auf Attac selbst zurückgeführt werden. So sind viele Argumentationen zum Umgang mit der Kritik an antisemitischen Anschlussstellen von Elementen der Abwehr durchzogen und in einigen Fällen sekundär-antisemitisch gefärbt. Ironischerweise wird dabei die deutsche Sektion von Attac als Bestandteil eines transnationalen politischen Netzwerks mit der genuin transnationalen Agenda der Globalisierung auf den spezifisch deutschen, postnazistischen nationalen Rahmen zurückgeworfen. Dieser erweist sich gerade in den Momenten der ritualisierten und formelhaften Bezugnahme auf ihn als unüberwindliches Hindernis für eine Positionierung jenseits davon: »Zu diesen Essentials gehört zuallererst, dass wir als Deutsche nicht von der Singularität des Holocausts, von einer historisch einmaligen Konstellation, in der wir uns bewegen, und von einer besonderen Verantwortung abstrahieren können. Das gibt es in dieser Weise in keinem anderen Land. Daher können wir auch nicht einfach die Positionen von Kollegen aus Frankreich oder sonst woher übernehmen. Das ist die Konsequenz des deutschen Sonderwegs 1933–45.« (Attac Deutschland 2003c) Inwiefern diese aus der Shoah resultierende Definition des eigenen Handlungsspielraums als Einengung und Hemmnis erlebt wird, entfaltet sich im Rekurs auf die Position von Attac Frankreich zum Nahostkonflikt. Deren eindeutig propalästinensische Haltung zu übernehmen, ist Attac Deutschland verwehrt, das deutsche Netzwerk kann sich aufgrund der geschichtlichen Verantwortung nicht einfach auf deren Seite stellen. Die Formulierung des »Könnens« ist an dieser Stelle schillernd und ambivalent und lässt die Frage offen, inwiefern Attac Deutschland die Position von Attac Frankreich uneingeschränkt teilen möchte und die Einschränkung »Können« als aufgezwungen interpretiert wird. In der Verbindung Holocaust – Nahostkonflikt sind wesentliche Elemente sekundär-antisemitischer Ideologiebildung basal angelegt, ohne dass diese als manifest erscheinen bzw. erscheinen müssen. Die objektiv vorhandenen Dispositionen der Abwehr werden jedoch in den überwiegenden Fällen von Attac nicht reflektiert, was wiederum die 379
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Abwehr erst ermöglicht. Antisemitismus ist in dieser Perspektive immer ein externes Problem; ein ‚Antisemitismus der anderen‘. Dass diese Konstellation jedoch nicht zwangsläufig von dauerhaftem Bestand sein muss, belegen die selbstreflexiven Positionierungen innerhalb des von Attac Österreich herausgegebenen Readers, betrachten diese die Auseinandersetzungen um Antisemitismus bei Attac gerade als Chance, Globalisierungskritik anders auszubuchstabieren. Es kann konstatiert werden, dass »kollektive Lernprozesse« wie sie andernorts beschrieben werden (Ullrich 2014: 111) bei Attac ausgeblieben sind. In diesem Sinne erweist sich die Attac’sche Globalisierungskritik deutscher Provenienz in ihrem Umgang mit dem Problem des Antisemitismus als geradezu paradigmatisch für eine Neue Soziale Bewegung innerhalb des Postnazismus. Literatur Anzlinger, Jana (2018): Wie Attac wieder in Schwung kommen will, in: Süddeutsche Zeitung, 7.10.2018. Attac Deutschland (2006a): Das Selbstverständnis von Attac. Zwischen Netzwerk, NGO und Bewegung – 8 Thesen, online erschienen, https://www.attac.de/filead min/user_upload/bundesebene/attac-strukturen/Attac_Selbstverstaendnis.pdf (abgerufen am 24.01.2019). Attac Deutschland (2006b): Attac-Erklärung. Beschlossen am 26.05.02 auf dem ATTAC-Ratschlag in Frankfurt/M. Ergänzt auf dem Ratschlag am 29.10.2006 in Frankfurt/M., online erschienen, https://www.attac.de/fileadmin/user_upload/b undesebene/attac-strukturen/Attac_Erklaerung.pdf (abgerufen am 24.01.2019). Attac Deutschland (2003a): Erklärung des Ratschlags zu Antisemitismus und zum Nahostkonflikt, online erschienen am 18.10.2003, https://www.attac-netzwerk.d e/fileadmin/user_upload/AGs/Globalisierung_und_Krieg/text/20031018_attac-ra tschlag_erklaerung.pdf (abgerufen am 20.01.2019). Attac Deutschland (2003b): ATTAC Ratschlag, Aachen, 16.-18. Oktober 2003, Bericht des Koordinierungskreises, online erschienen, http://www.attac.de/archive/ ratschlag-aachen/bericht.php.html (abgerufen am 22.01.2019). Attac Deutschland (2003c): Grenzen der Offenheit. Eine Klarstellung. Diskussionspapier des Attac-Koordinierungskreises zu Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus, online erschienen, http://www.imi-online.de/2003/01/20/grenzen-d er-offenhei/ (abgerufen am 20.01.2019). Attac Deutschland (2018): Mitglieder, online erschienen, https://www.attac.de/wasist-attac/mitglieder/ (abgerufen am 01.12.2018). Attac Österreich (Hg.) (2005): Blinde Flecken der Globalisierungskritik. Gegen antisemitische Tendenzen und rechtsextreme Vereinnahmung, online erschienen, https://www.attac.at/fileadmin/_migrated/content_uploads/reader_antisemitism uskongress_2004_01.pdf (abgerufen am 01.02.2019).
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Wie inklusiv ist Intersektionalität? Neue soziale Bewegungen, Identitätspolitik und Antisemitismus Karin Stögner
Intersektionalität gewinnt seit den 1990er Jahren zunehmend an Einfluss und fungiert in vielen neuen linken Bewegungen als Basis für globale Solidarität. Das Konzept ist jedoch auch zunehmend umstritten und dient zuweilen als ideologischer Hintergrund für spezifische Ausschlüsse, von denen Juden und Jüdinnen in besonderem Maß betroffen sind. Deshalb stellt sich die Frage, inwiefern sich eine gendersensible Antisemitismuskritik auf Intersektionalität berufen kann. Intersektionalität nimmt die aus der Multidimensionalität sozialer Ungleichheit und Unterdrückung, namentlich entlang der sozialen Kategorien Geschlecht, Sexualität, Klasse, Ethnizität, Nationalität, Religion, Alter, Ability etc. resultierenden Diskriminierungserfahrungen in den Blick und geht davon aus, dass diese nicht isoliert voneinander, sondern in wechselseitiger Verschränkung zu analysieren sind. Intersektionalität war aber immer auch politisches Programm und wurde in enger Verbindung mit der Bürger- und Frauenrechtsbewegung (A. Davis 1981; Crenshaw 1991), später mit postkolonialem Aktivismus entwickelt. Die Ermächtigung von Partikularitäten gegenüber dem Universellen, also von special interests, die sich in einem hegemonialen Kampf um gesellschaftliche Anerkennung gegenüber dem vorgeblichen Allgemeininteresse befinden, wird dabei häufig betont. Was jedoch als zu ermächtigende Partikularität wahrgenommen wird und welche Allianzen zwischen unterschiedlichen Bewegungen gebildet werden, unterliegt indes Aushandlungsprozessen. Dabei transformiert sich Intersektionalität zuweilen von einer aufs gesellschaftliche Ganze zielenden Herrschaftskritik zu einem Buzzword (K. Davis 2010) in neuen sozialen Bewegungen und Online-Gegenkulturen (Milkman 2017; Nagle 2017), in welchen einerseits tatkräftige Allianzen für globalen sozialen Wandel initiiert, andererseits aber auch gesellschaftlich gesetzte Differenzen identitätspolitisch gefestigt anstatt kritisiert werden. Immer wieder kam es in den letzten Jahren zu Debatten um Antisemitismus in den Reihen von Aktivistinnen, die sich einem intersektionalen Zugang verpflichtet fühlen. Anhand aktueller Anlassfälle im Bereich glo385
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baler feministischer Solidaritätsbewegungen fragt dieser Beitrag danach, ob es eine aus dem Intersektionalitätskonzept kommende Neigung zum Antisemitismus gibt oder ob nicht gerade ein bestimmter intersektionaler Zugang ermöglicht, den Antisemitismus strukturell zu erkennen und radikal zu kritisieren. Ich möchte in diesem Beitrag argumentieren, dass Intersektionalität ein analytischer Zugang zur Erkenntnis der Vielschichtigkeit des gesellschaftlichen Widerspruchs sein kann, gleichzeitig zuweilen ideologisch verzerrt und für die Legitimation von Ausschlüssen instrumentalisiert wird.1 Demgegenüber schlage ich im letzten Teil des Kapitels ein Intersektionalitätskonzept vor, das für die gendersensible Antisemitismuskritik fruchtbar gemacht werden kann. Dyke March und Women’s March on Washington Inwiefern Intersektionalität in der Praxis politischer Bewegungen als ideologischer Hintergrund für die Aushandlung von Identitäten dient, im Zuge derer jüdische Identitätskomponenten exkludiert werden, zeigt das Beispiel des lesbischen »Chicago Dyke March« im Juni 2017, an dem zwei Frauen die Teilnahme verweigert wurde, weil sie Regenbogenfahnen mit Davidstern trugen. Die Veranstalterinnen werteten diese Fahne als Symbol des Zionismus, das andere Teilnehmerinnen unsicher fühlen ließe. Der Magen David, das Symbol des Judentums, wurde auf ein Symbol des Zionismus enggeführt und so die spezifische Intersektionalität von Jüdischund Lesbisch-Sein ausgeschlossen. Juden und Jüdinnen wären willkommen bei dem Marsch, solange sie sich zum Antizionismus bekennen würden, so die Forderung der Veranstalterinnen. Das heißt aber, dass nur eine von den (nicht-jüdischen) Veranstalterinnen definierte Form jüdischer Identität – eine explizit antizionistische – als zulässig erachtet wurde, während andere jüdische Identitäten, die ein Bekenntnis zum Zionismus in der einen oder anderen Form beinhalten, von vorneherein unerwünscht waren.2 Von keiner anderen Gruppe wurde verlangt, sich zu einem Nationalstaat explizit zu verhalten, ob positiv oder negativ, und keine andere 1 Unterdessen ist Intersektionalität auch als analytisches Konzept keine einheitliches Gebilde, sondern überaus divers. Vgl. Crenshaw 1991; Hill Collins 2015; Walgenbach et al. 2007; Lorey 2012; Klinger et al. 2007; Knapp/Wetterer 2003; Lutz et al. 2010. Für die Diskussion im deutschen Kontext möchte ich ein Sonderheft der Zeitschrift Erwägen Wissen Ethik (2013) hervorheben. 2 Der Einwand, dass der Antizionismus eine legitime Position in einer pluralistisch verstandenen innerjüdischen Auseinandersetzung um Israel und jüdische Identität
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spezifische Form der nationalen Identifizierung wurde explizit ausgeschlossen. Den ideologischen Hintergrund ihres Vorgehens machten die Veranstalterinnen in ihrem »Chicago Dyke March Official Statement on 2017 March and Solidarity with Palestine«3 deutlich, indem sie den Zionismus mit Rassismus gleichsetzten: »Zionism is an inherently white-supremacist ideology. It is based on the premise that Jewish people have a God-given entitlement to the lands of historic Palestine and the surrounding areas.« Dies zeugt von Unkenntnis der historischen Bedingungen sowohl des Zionismus als auch der jüdischen Bevölkerung in Israel (cf. Morris 2001), die hier pauschal als fremd und unzugehörig einer vorgeblich autochthonen palästinensischen Bevölkerung entgegengesetzt wird. In der auf den Marsch folgenden Diskussion verwendeten Dyke March Aktivistinnen sodann auch den vom Ku Klux Klan popularisierten Ausdruck »Zio«.4 Noch umfassender präsentiert sich das Problem von Intersektionalität, Identitätspolitik und Antisemitismus im Rahmen des »Women’s March on Washington«, einer großflächigen, ihrem Selbstverständnis nach intersektional-feministischen Kampagne gegen Rassismus, Homophobie und Antifeminismus, die sich im Herbst 2016 nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA gebildet hatte, damals noch als eine sehr diverse Plattform. Im Januar 2017 fanden einen Tag nach Trumps Amtseinführung in zahlreichen amerikanischen Großstädten Sister Marches statt, an denen mehr als eine Million Menschen teilnahmen. Drei der Kampagnen-Vorsitzenden – Linda Sarsour, Tamika Mallory und Carmen Perez – gerieten in die Kritik, den Antisemitismus zu bagatel-
und deshalb per se nicht antisemitisch sei, greift im Fall des Chicago Dyke March nicht, da es sich hier nicht um einen innerjüdischen Diskurs handelt. Wie am Chicago Dyke March und am Women’s March on Washington deutlich wird, diskutieren nicht Jüdinnen untereinander, sondern nicht-jüdische Aktivistinnen geben vor, welche Form jüdischer Identität in ihrem Kreis akzeptabel ist und welche nicht. 3 Online erschienen, https://chicagodykemarchcollective.org/2017/06/27/chicago-dyk e-march-official-statement-on-2017-march-and-solidarity-with-palestine/ (abgerufen am 4.1.2018). Während sich auf unterschiedlichen Online-Plattformen (Facebook, reddit und Twitter) nach wie vor Links zu dem Statement finden, ist die Seite selbst nicht mehr aktiv. 4 Dafür wurde die Gruppe vom Simon Wiesenthal Center unter den »2017 Top Ten Worst Global Anti-Semitic/Anti-Israel Incidents« angeführt, online erschienen, http://www.wiesenthal.com/atf/cf/%7B54d385e6-f1b9-4e9f-8e94-890c3e6dd277%7 D/TOPTENANTI-SEMITIC2017.PDF (abgerufen am 21.12.2018); vgl. Rosenberg 2017.
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lisieren oder sogar zu befördern. Linda Sarsour verteidigt die islamische Sharia,5 weil diese das Zinsnehmen verbiete, unterstützt BDS und nennt Israel einen Apartheid-Staat. Sie trat zudem mit der Aussage in den Vordergrund, dass Feminismus und Zionismus einander widersprechen würden (vgl. Meyerson 2017). Zwar setzt sie den Zionismus nicht offen mit »white supremacy« gleich, wie die Veranstalterinnen des Dyke March, dennoch aber erlaube der Zionismus keine Solidarität mit palästinensischen Frauen. Auf die Frage, ob zionistische Feministinnen im Women’s March Platz hätten, antwortete sie: »It just doesn’t make any sense for someone to say, >Is there room for people who support the state of Israel and do not criticize it in the movement?< There can’t be in feminism. You either stand up for the rights of all women, including Palestinians, or none. There’s just no way around it.« (ibid.) Die Unterdrückung palästinensischer Frauen wird einzig von der israelischen Besatzung hergeleitet, während die patriarchalen Strukturen der palästinensischen Behörden und muslimischen Gesellschaft nicht als frauenfeindlich kritisiert, sondern in Form der Sharia legitimiert werden. Ebenso eingeschränkt ist das Bild des Zionismus, der allein als Unterdrückungsideologie wahrgenommen wird. Während Sarsour, aber auch andere Aktivistinnen und Verteidigerinnen der Sharia wie Hibaaq Osman6 beständig darauf pochen, den Islam nicht auf eine Seite hin zu reduzieren, sondern die gelebte Diversität des Islam unter Muslimen zu berücksichtigen (und innerhalb dieser Diversität zuweilen die unterdrückenden Aspekte verschweigen), gestehen dieselben Aktivistinnen dem Zionismus solche Diversität nicht zu. Demgegenüber verweisen viele jüdische Aktivistinnen, die an Feminismus als auch Zionismus festhalten,7 wie die von Sarsour harsch angegriffene Emily Shire (Shire 2017), dass sie Zionismus im Sinne des Rechts auf jüdische Selbstbestimmung verstehen, dies sie aber nicht daran hindere, eine Zweistaatenlösung zu vertreten und sich für die Rechte palästinensischer Frauen einzusetzen. Im Selbstverständnis vertritt der Women’s March einen »neue intersektionalen Feminismus der 99 Prozent« und stellt diesen in Gegensatz zu einem weißen Feminismus neoliberaler Prägung. Eine zentrale Forderung
5 Online erschienen, https://twitter.com/lsarsour/status/484513285921046529? ref_src=twsrc%5Etfw. 6 Online erschienen, https://womenintheworld.com/2017/02/02/ayaan-hirsi-ali-says-c ontroversial-womens-march-organizer-is-a-fake-feminist/ (abgerufen am 5.3.2019). 7 Online erschienen, https://www.replyall.me/jofas-cast/feminism-zionism-intersecti onaility/ (abgerufen am 5.3.2019).
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dieser neuen feministischen Bewegung ist »Justice for Palestine«, wie auf der International Women's Strike US Platform zu lesen ist.8 Die Frontstellung gegen den Zionismus von Seiten der Organisatorinnen des Women’s March steht im Zusammenhang mit einem simplizistischen Freund-Feind-Schema, das Intersektionalität in exklusive Identitätspolitik verwandelt. Das wird auch deutlich daran, dass das Bild einer Frau, die die amerikanische Flagge als Kopftuch trug, unter dem Titel »We the people are greater than fear« zum Symbol für die intersektionale Kampagne gegen die Präsidentschaft Donald Trumps wurde.9 Im März 2018 schaffte es Women’s March on Washington erneut in die Schlagzeilen, als Tamika Mallory, ebenfalls Ko-Vorsitzende, bei der »Saviour’s Day« Veranstaltung der Nation of Islam zugegen war und von Louis Farrakhan, dem Führer der Nation of Islam, in einer explizit antisemitischen, misogynen und homophoben Rede lobend erwähnt wurde (vgl. Kaplan Sommer 2018). Zwei Jahre zuvor hatte Mallory ein Foto von sich und Farrakhan auf Instragram gepostet und ihn »GOAT« (greatest of all time) genannt.10 Zwar stimmten Sarsour, Mallory and Perez zu, dass Antisemitismus und Homophobie den Prinzipien des Women’s March widersprechen würden, eine Distanzierung von Farrakhan und der Nation of Islam jedoch blieb aus. So wies etwa Tamika Mallory darauf hin, dass man doch beachten müsse, was Farrakhan für den Kampf für die Rechte der People of Color geleistet habe und Carmen Perez meinte, dass kein Führer perfekt sei (vgl. Roth 2018). Im Juni 2018, nach einer Reise nach Israel und in die Westbank, verlautbarte Mallory im Rahmen eines Auftritts beim bekanntermaßen Israel-feindlichen Center for Constitutional Rights11 in Manhattan, dass die Schaffung des Staates Israel ein »human rights crime« sei.12
8 https://www.womenstrikeus.org/our-platform/. 9 Online erschienen, https://obeygiant.com/people-art-avail-download-free/; https://www.facebook.com/womensmarchonwash/photos/a.1361065283906747/1 426392240707384/?type=1&theater (abgerufen am 29.12.2018). 10 Online erschienen, https://abcnews.go.com/theview/video/womens-march-leader-t amika-mallory-facing-heat-ties-53641064. 11 https://ccrjustice.org/home/get-involved/events/palestine-everywhere; https://www .ngo-monitor.org/ngos/center_for_constitutional_rights/. 12 Dabei sagte sie: »When you go to someone’s home and you need a place to stay, you ask ‘Can I come into your home and can I stay here, and can we peacefully coexist?’ You don’t walk into someone else’s home, needing a place. It’s clear you needed a place to go – cool, we got that! I hear that! But you don’t show up to somebody’s home, needing a place to stay, and decide that you’re going to throw them out and hurt the people who are on that land. And to kill, steal, and do
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Solche Vorfälle häuften sich im Laufe der letzten zwei Jahre, so dass Aktivistinnen, die zu Beginn noch Ko-Organisatorinnen gewesen waren, sich vom Women’s March zurückzogen oder alternative Kampagnen13 gründeten, da sie die ursprüngliche Diversität des Women’s March nicht mehr gegeben sahen. Insbesondere jüdische Aktivistinnen wurden sukzessive aus der Kampagne gedrängt, unter anderem mit dem Vorwurf, dass sie selbst »white supremacy« aufrecht erhalten würden und man die Unterstützung der antirassistischen Plattform Black Lives Matter nicht verlieren wolle (Stockman 2018). In Einklang mit diesen Auseinandersetzungen innerhalb des Women’s March steht auch die wachsende internationale Popularität der Boycott Divestment Sanctions Kampagne auf Seiten feministischer Organisationen. So unterstützt etwa die National Women Studies Association (NWSA), die größte feministische Organisation in Nordamerika, seit 2015 BDS. Auf die Frage, warum sich Feministinnen und Queers weltweit zunehmend mit BDS identifizieren, führen manche als Grund ihren intersektionalen Zugang zu Herrschaft und Diskriminierung an und beharren darauf, dass eine Feministin ihre Augen nicht vor anderen Formen der Unterdrückung verschließen dürfe. Eine Vorkämpferin auf diesem Gebiet ist Angela Davis, Ikone der Black Power Bewegung und des Black Feminism. In ihrem Buch »Freedom is a constant struggle« entwickelt sie ein Verständnis von Intersektionalität im Sinn globaler Allianzen der Unterdrückten und spricht von einer »intersectionality of struggles«, die den Kampf gegen den Prison Industrial Complex in den USA bruchlos mit dem Kampf gegen Israel verbindet (A. Davis 2016). Was heißt Intersektionalität? Partikularismus, Whiteness und der Ausschluss von Juden und Jüdinnen Diese Entwicklungen veranlassen, einen genaueren Blick auf das Intersektionalitätskonzept zu werfen, auch um beurteilen zu können, wie viel von den hier benannten Entwicklungen tatsächlich auf Intersektionalität zurückzuführen ist. Dabei öffnet sich eine ganze Bandbreite an unterschiedlichen Zugängen, darunter auch identitätspolitische Engführungen, die für whatever it is you’re gonna do to take that land! That to me is unfair. It’s a human rights crime« (Krupkin 2018). 13 Z.B. Women For All, eine inklusive grassroots Frauenbewegung, die sich dezidiert gegen BDS stellt und Aufklärung über Antisemitismus betreibt (https://wo men4all.org/about-wmfa/).
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das Ausblenden und die Verharmlosung des Antisemitismus mitverantwortlich sind. Als analytischer Zugang tritt Intersektionalität mit der Forderung an, die vielschichtigen Strukturen von Herrschaft kritisch zu durchdringen und die unterschiedlichen Formen zu analysieren, in denen Individuen in den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang eingebunden sind. Dazu gehört notwendig, die Kategorien sozialer Teilung (Knapp 2013) zusammenzuführen, wo sie ansonsten ideologisch getrennt werden. Aber beim Erkennen, dass die Gesellschaft nach Kategorien wie race/ ethnicity und gender/sexuality geordnet ist und bei dem Erkennen, dass diese Kategorien nicht getrennt voneinander, sondern intersektional zu betrachtet sind, kann man sich nicht bescheiden. Denn mit dieser Einsicht ist das repressive Kategorisieren selbst noch nicht kritisiert. Solche Kritik aber ist dringend nötig, will man Diskriminierung nicht aus dem Herrschaftszusammenhang herauslösen. In manchen Anwendungen des Intersektionalitätsansatzes in der Praxis politischer Bewegungen ist demgegenüber zu beobachten, dass die gesellschaftlich vorgegebenen Kategorien positiv besetzt werden – als Identitätskriterien, welche die Betroffenen als Momente ihres Selbstbewusstseins und der Ermächtigung im politischen Kampf um Anerkennung identitätspolitisch noch einmal betonen sollen (kritisch dazu: L’Amour LaLove 2017). Was den Menschen vormals tendenziell bloß angetan wurde, nämlich nach vorgefertigten Kategorien voll identifiziert zu werden, sollen sie sich nun selbst zufügen und positiv umwerten. In solchen Identitätspolitiken wird wiederhergestellt, was in der Tradition der Queer-Theorie massiv kritisiert wurde, nämlich Identität zum Prinzip zu erheben (vgl. Butler 1993). Dabei geht es nicht um individuelle, sondern um Gruppenidentitäten, die ins Zentrum politischer Aktivität gerückt und denen die Individuen subsumiert werden. Das wird bei Angela Davis deutlich, die sich in ihrer Unterstützung der BDS-Kampagne14 auf Gruppenidentitäten beruft, in denen das Individuum einzig unter dem Aspekt seiner neoliberalen Zurichtung firmiert (vgl. auch Brown 2015). Darin manifestiert sich die an Ausschließlichkeit und Vereindeutigung orientierte Denkart des Tertium non datur, das alle nicht-hegemonialen Bedeutungsschichten eines Begriffs und eines Gegenstandes schlicht verleugnet. Selbst wenn der Individualismus in der Praxis deutlich neoliberale Züge trägt, ist
14 Vgl. Angela Davis, »What Is Queer BDS? Pinkwashing, Intersections, Struggles, Politics«, online erschienen, h t t p s : / / v i m e o . c o m / 5 5 8 8 6 2 3 2 (abgerufen am 18.7.2018).
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es doch falsch, im Individuum nur noch die neoliberale Zurichtung zu sehen und den Begriff des Individuums darauf zu reduzieren. Diese Verengung von Begriffen hin auf eine einzige, wenn auch offensichtliche Bedeutungsschicht fällt auch bei der Demontage des Universalismus auf, die von intersektionaler Theorie und Praxis vertreten wird. Intersektionalität wird mittlerweile weitgehend als ein Kampf von Partikularitäten gegen das Universelle verstanden, wobei das Universelle als hegemoniale Partikularität entlarvt wird. Diese hegemoniale Partikularität ist weiß, männlich und heterosexuell. Als unmittelbarer Ausdruck bestehender Machtverhältnisse verhält sich das Universelle tyrannisch gegenüber dem Partikularen, das rassistisch und sexistisch unterdrückt wird (A. Davis 2016). Das ist nicht ganz falsch, aber in dieser Ausschließlichkeit und Schlichtheit auch nicht richtig (vgl. Stögner 2019). Denn es liegt im Universellen mehr als die hegemoniale Partikularität – dieses Mehr liegt im Anspruch und im Versprechen auf ein tatsächlich Allgemeines und Gemeinsames, das sich nicht hegemonial durchsetzt, aber quasi unterirdisch in den Allgemeinbegriffen immer noch mitschwingt. Man kann dieses Allgemeine nicht anders legitimieren und dafür kaum anders argumentieren als negativ – dass ohne das Beharren auf dem Allgemeinen wir die Grundlage der Forderung gleicher Rechte aller und der Universalität von Menschenrechten verlieren würden. Ein bloßer Partikularismus lässt das Gemeinsame verschwinden und wird, wenngleich er als Kritik an Ausschlüssen gedacht ist, zur Grundlage neuer Ausschlüsse.15 So fällt auf, dass insbesondere jüdische Partikularität zunehmend aus dem Blickfeld des intersektionalen Aktivismus gerät. Jüdischsein wird insgeheim mit dem Universellen identifiziert, das als rassistisch und imperialistisch gilt. Das Jüdische wird als weiße hegemoniale Partikularität – als »white privilege« – wahrgenommen. Die Frage ist also, wie in Anwendungen von Intersektionalität die jüdische Erfahrung mit Antisemitismus ausgeblendet und gleichzeitig behauptet werden kann, inklusiv vorzugehen 15 Auf dieser Grundlage bilden sich jene Allianzen, die Angela Davis »intersectionality of struggles« nennt – oft willkürlich nebeneinander gestellte Kämpfe, die außer dem blanken Freund-Feind-Schema nichts gemein haben und nur über ein gemeinsames Feindbild verbunden werden. Auf solchen willkürlichen Allianzen beruht Queer BDS. So folgte etwa die brasilianische queere Künstlerin Linn da Quebrada der Aufforderung von Angela Davis, ein queeres Filmfestival in Tel Aviv zu boykottieren. Ihre Solidarität galt aber nicht explizit palästinensischen Queers, die sie ohnehin nur »palästinensische Körper« nannte, sondern Palästina ganz allgemein, also implizit auch der palästinensischen Führung, die bekanntermaßen homophob ist (https://twitter.com/linndaquebrada/status/1001273938125 705221).
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und die Herrschaftsverhältnisse adäquat und in ihrer Komplexität in den Blick zu nehmen? Hier ist es wichtig, nochmals zu betonen, dass Intersektionalität ein diverses und uneinheitliches Konzept ist und die unterschiedlichen Zugänge stark debattiert werden. Wenngleich der Begriff Intersektionalität aus dem Black Feminism und dem amerikanischen Civil Rights Movement kommt, gab es doch auch schon in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule Überlegungen, die in eine ähnliche Richtung gingen und die strukturellen Affinitäten zwischen Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit behandelten (Stögner 2014; 2017). Das fand Eingang in einen kritischen materialistischen Feminismus im deutschsprachigen Raum, der sich ab den 1980er Jahren kritisch mit der Kategorie Frau beschäftigte und die Dekonstruktion einer einheitlichen Kategorie Geschlecht explizit in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vornahm. Es wurde nach der Rolle nicht-jüdischer Frauen im Nationalsozialismus gefragt, nach ihren Handlungs- und Widerstandsmöglichkeiten, und zentral auch nach den unterschiedlichen Arten ihrer Integration in das NS-System, als Täterinnen und Mitläuferinnen, und auch nach dem perfiden Emanzipationsgewinn, den sogenannte arische Frauen durch solche Integration für sich veranschlagen konnten. Die Erfahrung des Nationalsozialismus und der unterschiedlichen Positionierung von Frauen in und zu ihm initiierte im Anschluss an die Kritische Theorie eine Auseinandersetzung mit der Heterogenität der Kategorie Frauen (Gehmacher 1992; Kohn-Ley/Korotin 1994; Knapp 2012; Stögner 2014). Von solcher Heterogenität nahm auch in den USA die Auseinandersetzung mit Intersektionalität ihren Ausgang. Hier allerdings war die historische Problemsituation eine andere: nicht der Nationalsozialismus, sondern die historische Erfahrung der Sklaverei und der systematische, institutionalisierte Rassismus gegen die schwarze Bevölkerung standen im Zentrum. Diese unterschiedlichen Situierungen machen die Übertragung des Konzepts von einem gesellschaftlich-historischen Kontext in einen anderen schwierig und erfordern eine spezifische Übersetzungsleistung. In Anlehnung an Mieke Bal (2002) liest Knapp (2005) Intersektionalität deshalb als travelling concept, das bestimmte Gepäckstücke mitbringt, die nicht für jede Problemsituation passend sind. Im amerikanischen Kontext ist es verständlich, dass Intersektionalität weitgehend auf ein bestimmtes Konzept von race oder Ethnizität fokussiert, das auf die soziale Differenzierung zwischen Weiß und Schwarz/Braun enggeführt wird. Die klassische intersektionale Trias race, class, gender ist für diese spezifische Problemsituation weitgehend adäquat, sie kann aber das komplexe Phänomen des Antisemi-
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tismus nicht fassen. Vielmehr gelten Juden und Jüdinnen aus der Sicht dieser klassischen Trias unwillkürlich als Repräsentant_innen von Whiteness. Das wird deutlich beim Women’s March on Washington, dessen offizielles Statement lautet: »We must create a society in which all women – including Black women, Indigenous women, poor women, immigrant women, disabled women, Muslim women, lesbian, queer and trans women – are free.«16 Auffällig ist, dass jüdische Frauen nicht erwähnt werden. Auch Black Lives Matter erwähnen jüdische Leben nicht.17 Jüdinnen werden implizit den All Lives subsumiert, d.h. dem falschen Universellen. Das entspricht der Kampagne BDS, die Palästinenser_innen als PoC, die jüdische Bevölkerung Israels hingegen als weiß markiert, was die arabischen und äthiopischen Juden und Jüdinnen in Israel unberücksichtigt lässt. Jedoch auch unabhängig von der Diversität der Hautfarbe von Jüdinnen und Juden, ist es höchst problematisch, wenn Whiteness als Frame auf Jüdinnen und Juden angelegt wird. Das Konzept Whiteness hat den Zweck, Privilegien aufzudecken, die Weiße als »unmarkierte Individuen« haben. »Unmarkiert« bedeutet das Privileg, kaum unter ethnisierten Kategorien wie der Farbe der Haut gefasst und kollektiviert zu werden. Wie Geschlecht, ist auch »Rasse« eine Kategorie, die nicht für alle gleichermaßen Gültigkeit hat, sondern insbesondere dort thematisiert wird, wo sie von der hegemonialen Norm, also von Whiteness, abweicht. Whiteness ist aber nicht nur eine Hautfarbe, sondern umfasst die Privilegien, die mit der weißen Hautfarbe gesellschaftlich verbunden sind: Macht, Einfluss, Geld, Eigentum, Bildung, Dominanz, Partizipation, Gehört-Werden und eine Stimme haben, Seilschaften, über Generationen vererbte Positionen usw. »To be White is to have greater access to rewards and valued resources simply because of one’s group membership« (Ferber 2012, 64). Whiteness ist 16 Online erschienen, https://www.nytimes.com/2018/12/23/us/womens-march-antisemitism.html?smid=tw-nytnational&smtyp=cur. 17 Angela Davis, Aktivistin bei BLM und BDS, erklärt folgendes: »If indeed all lives mattered we would not need to emphatically proclaim that ‘Black Lives Matter.’ Or, as we discover on the BLM website: Black Women Matter, Black Girls Matter, Black Gay Lives Matter, Black Bi Lives Matter, Black Boys Matter, Black Queer Lives Matter, Black Men Matter, Black Lesbians Matter, Black Trans Lives Matter, Black Immigrants Matter, Black Incarcerated Lives Matter. Black Differently Abled Lives Matter. Yes, Black Lives Matter, Latino/Asian American/Native American/Muslim/Poor and Working-Class White People's Lives Matter. There are many more specific instances we would have to name before we can ethically and comfortably claim that All Lives Matter« (A. Davis 2016: 87).
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also ein hegemoniales Dasein, das so allgegenwärtig ist, dass man darüber gar nicht spricht (Schraub 2018, 18). Wird Whiteness analytisch als Frame genommen, dann können damit die rassistischen Strukturen gesellschaftlicher Herrschafts- und Dominanzverhältnissen benannt werden (Harris 1993). Problematisch wird es aber, wenn Whiteness nicht als Struktur, sondern schlicht als Eigenschaft von Individuen gefasst wird und in die Personalisierung von Herrschaftsverhältnissen im »weißen Mann« als Person mündet. Was impliziert Whiteness als Frame aber, wenn er auf Jüdinnen und Juden angelegt wird? Was bedeutet es, wenn Jüdinnen und Juden als Repräsentant_innen von Whiteness gesehen werden, also als Inhaber_innen von Privilegien und Vertreter_innen der hegemonialen Norm, als Inhaber_innen gesellschaftlicher Positionen, die mit Macht, Einfluss und Eigentum verbunden sind? Als Repräsentant_innen alt hergebrachter Machtstrukturen, die unsichtbar im Verborgenen wirken und das gesellschaftliche Positionsgefüge prägen? Diese Eigenschaften, die für die hegemoniale Mehrheitsgesellschaft tatsächlich zutreffen mögen, ähneln gleichzeitig frappant den antisemitischen Stereotypen der »jüdischen Verschwörung«, also der jüdischen Omnipräsenz und Omnipotenz, des Agierens im Verborgenen und des Strippen-Ziehens hinter den Kulissen, des globalen Einflusses und der Herrschaft über die Medien und Informationssysteme (Schraub 2018). Aus der Sicht des Antisemitismus sind Jüdinnen und Juden ausgesprochen machtvoll im Vergleich zur übrigen Menschheit, sie sind die Elite und beherrschen die Welt. Juden werden nicht gehasst, weil sie als unterlegen, sondern weil sie als überlegen wahrgenommen werden. Sind sind aus dieser Sicht quasi »Super-Weiße«. Wird der Whiteness-Frame auf Jüdinnen und Juden angelegt, dann werden damit nicht verborgene gesellschaftliche Strukturen offengelegt, sondern bestehende antisemitische Stereotypen bekräftigt, wie David Schraub deutlich macht: »The hope in applying the Whiteness frame to a Gentile White is to unsettle received understandings of the White experience – to make people see things they hadn’t seen before. By contrast, the effect of applying Whiteness to Jewishness is confirmatory: ‘I always thought that Jews had all this power and privilege – and see how right I was!’« (Schraub 2018, 23) Damit wird Ideologie für Realität genommen und die spezifische jüdische Erfahrung ausgeblendet, was massive Konsequenzen für die Sicht auf den globalen Antisemitismus und seine genozidale Geschichte hat: Wenn Jüdischsein und Weißsein verschmelzen, dann kann die Shoah bizarr als ein Verbrechen erscheinen, das Weiße an Weißen begangen haben und das da395
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her für die intersektionale Analyse, die zentral auf das Machtgefälle zwischen Weißen und PoC abstellt, keine Relevanz hat. Daran wird deutlich, dass die theoretische Konstruktion von Fremdheit praktisch nicht ohne Folgen bleibt. Wird sie auf die Unterscheidung von Weiß und Schwarz bzw. Braun eingeschränkt und wird die Historisierung dieser Fremdheit nur mit Bezug auf Kolonialismus und Imperialismus vorgenommen, dann führt dies notwendig zu einer Ausblendung des Antisemitismus und der Shoah (Knapp 2013). Das Konzept Whiteness ist auch deshalb für eine Analyse des Antisemitismus unangemessen, da Jüdinnen und Juden im Antisemitismus über Jahrhunderte nicht als weiß galten (Brodkin 2000; Gilman 1994). Der Antisemitismus siedelte sie amorph zwischen weiß und schwarz an, sie galten als nicht zuordenbar zu den strikt gezogenen Kategorien. Dass der Antisemitismus über diese strikten Zuordnungen nach weiß und schwarz bzw. braun hinweggeht, macht gerade seine Spezifik als umfassende Weltsicht aus. Der Rassismus baut insbesondere auf Bilder unterlegener, primitiver, kolonialisierter, ausgebeuteter »brauner Körper«, nimmt die Position des Modernen für sich selbst in Anspruch und wendet sie gegen die vorgeblich »Primitiven« (Knapp 2013). Antisemitismus hingegen, wenngleich er durchaus mit rassistischen Momenten operiert, ist in erster Linie eine Projektion nicht fassbarer, überallhin zerstreuter, jede Identität zersetzender, universeller Macht. Damit wehrt der Antisemitismus mit modernen Mitteln die Moderne selbst ab und hasst den »Juden« als den Repräsentanten von Geist und Geld. Wird dieser Unterschied nicht berücksichtigt, bleibt ein Antisemitismus unerkannt, der nicht rassistisch operiert, sondern sich in Form des Vernichtungswunsches gegen Israel äußert. Diese nicht traditionell rassistisch operierenden Formen des Antisemitismus sind heute vorherrschend. Die Komplexität der Gesellschaft, die der Antisemitismus in einer wahnhaften Weltsicht auf einfache Schemata reduziert, manifestiert sich im Antisemitismus selbst. Seine Stereotypie ist durchwegs widersprüchlich. Die Geschichte des Antisemitismus zeigt, dass Juden und Jüdinnen als umfassend »unzuordenbar« gelten in den drei Dimensionen, die im Intersektionalitätsansatz zentral sind: die Geschlechtlichkeit/Sexualität, die Klassenlage und das Prinzip der Ethnizität/Nation. Die aus dem 19. Jahrhundert stammende Figur des antinationalen Juden, der das Nationsprinzip in Frage stellt (Holz 2001), korrespondiert mit dem Bild des Juden als »Geschlechtsbeuger« (Gilman 1994), der die Geschlechterbinarität durchkreuzt. Und schließlich sind Juden und Jüdinnen im Antisemitismus auch klassenmäßig nicht zuordenbar, sondern werden sowohl mit Kommunismus als auch mit dem Kapitalismus, insbesondere mit dem Finanzkapital 396
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identifiziert. Sie galten als »misfit bourgeois« – Außenseiter, verdächtig, nicht authentisch, eingeschlichen (Adorno 1997). Die antisemitischen Bilder widersprechen also den für Identitätspolitiken zentralen Kategorien gesellschaftlicher Positionszuweisung und stellen sie insgeheim in Frage. Die quasi antikategoriale Fassung des Jüdischen im Antisemitismus – nicht eindeutig zuordenbar zu race, class und gender – macht es schwierig wenn nicht unmöglich, den Antisemitismus im Rahmen des klassischen Intersektionalitätskonzepts zu analysieren. Das liegt aber nicht am Konzept der Intersektionalität als solchem, sondern vielmehr an seiner identitätspolitischen Ausrichtung, die im Sinn der beschriebenen Verwendung des Whiteness Frames verengt wird. Wie auch immer man Identität und Identitätspolitik letztlich bewertet, ist doch auffällig, dass lediglich Juden und Jüdinnen keine Identitäten haben sollen, die in Intersektionalität ihren Platz haben. Das ist auf einer Linie mit dem antisemitischen Stereotyp des identitätslosen Juden, der als wurzellos und heimatlos imaginiert ist, dessen Kultur nicht authentisch sondern durchwegs künstlich sei, der etablierte Grenzen zwischen den Nationen, aber auch zwischen den Geschlechtern und Klassen unterwandern würde etc. Der »identitätslose Jude« bedroht die Identität der Nicht-Juden, er steht für die absolute Ungewissheit, für die Unsicherheit der modernen Welt, die mit Traditionen gebrochen hat und das einsame Individuum als ihren Dreh- und Angelpunkt betrachtet. Das geheime Wissen, dass das Individuum in Wahrheit vor dem Verwertungsprozess des Kapitals nicht zählt, äußert sich im Antisemitismus projektiv – »der Jude« würde die Auflösung der identitären Bande vorantreiben. Darum repräsentieren Juden und Jüdinnen auch nicht so sehr eine fremde Identität, die der eigenen feindlich gegenüberstehen würde, sondern eher die Anti-Identität, mit anderen Worten das Ende von Identität und Einheit überhaupt. Das betrifft auch die klar gezogenen Grenzen nach gesellschaftlich vorgegebenen Kategorien, deren Gültigkeit im Antisemitismus negativ aufgehoben ist. Die Bindung zu Nation, Kultur, Geschlecht, Religion wird im Antisemitismus verleugnet, um sie real wiedergewinnen und stärken zu können. Es ist zu vermuten, dass die Angst vor der Auflösung von Identität und Einheit ein sozialpsychologischer Hintergrund identitätspolitischer Instrumentalisierungen von Intersektionalität ist, welche die Einzelnen identitär den Kollektiven – communities nach Ethnizität, Kultur und Religion ein- und unterordnen. Dass Identität so sehr betont wird, ist ein Zeichen dafür, dass sie prekär, porös und unsicher geworden ist. Die Angst vor dem Identitätsverlust war stets eine treibende Kraft im Antisemitismus. Auch deshalb ist die gegenwärtige Konjunktur intersektionaler Identitätspolitiken kritisch zu reflektieren. 397
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Intersektionalität und gendersensible Antisemitismuskritik Angesichts solcher konzeptionellen Schwächen und politischen Auseinandersetzungen, die im Namen von Intersektionalität nicht nur den Antisemitismus ausblenden, sondern ihn in manchen Fällen auch legitimieren, weil er als oppositionell gegenüber dem als tyrannisch erfahrenen Universellen erscheinen kann, stellt sich die Frage, inwiefern eine genderkritische Antisemitismusforschung dennoch auf das Konzept der Intersektionalität zurückgreifen kann und soll. Meine Motivation, das Intersektionalitätskonzept für die Antisemitismusforschung zu öffnen, liegt nun gerade in der Charakteristik des Antisemitismus selbst: Zwar widerspricht die antisemitische Stereotypie der Zuordnung zu den Kategorien, mit denen Intersektionalität hauptsächlich operiert. Der Antisemitismus selbst vereinigt jedoch alle diese Kategorien und ist so geradezu ein Paradebeispiel von Intersektionalität. Als umfassende Ideologie, ja als Weltsicht, ist er durchgängig von Momenten durchzogen, die für sich genommen nicht antisemitisch sind, sondern sexistisch, homophob, rassistisch, ethnozentristisch und nationalistisch. Darüber hinaus spiegelt der Antisemitismus das ökonomische Klassenverhältnis in wahnhaft verzerrter Weise wider und maskiert sich als Kapitalismuskritik. Es wird also deutlich, dass auf der ideologischen Ebene Rassismus und Nationalismus, Sexismus und Homophobie, sowie die ideologisch verzerrte Sicht auf die Klassengesellschaft sich im Antisemitismus vereinigen. In der ideologiekritischen Durchdringung dieser Zusammenhänge wird Antisemitismus als die intersektionale Ideologie par excellence bestimmbar. Intersektionalität so zu fassen impliziert eine Änderung der Perspektive von der Ebene der Identitätspolitik hin zur Ebene objektiver Herrschaftsverhältnisse, die sich in Ideologien legitimieren. Diese Form von Intersektionalität, die ich Intersektionalität von Ideologien (Stögner 2017) nenne, geht im Grund zurück auf die Studien der Kritischen Theorie zum autoritären Charakter (Adorno 1997) aus den 1940er und 1950er Jahren, in denen die Autor_innen feststellten, dass Ideologien selten separat voneinander auftreten, sondern sich im Gegenteil durchwegs wechselseitig durchdringen und gerade aus solcher Durchdringung ihre gesellschaftliche Wirkmacht beziehen. Sie nannten dieses Phänomen das antidemokratische ideologische Syndrom. In ihm amalgamieren sich unterschiedliche Ideologien (Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus, Ethnozentrismus, Antifeminismus, Homophobie etc.) zu einem beweglichen Ganzen, das je nach politischer und gesellschaftlicher Situation aktiviert werden kann. So kann es geschehen, dass eine Ideologie in den Vordergrund tritt und eine andere überdeckt. Die spezifische Wirkmächtigkeit eines Antisemitismus, 398
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der auf der latenten Ebene operiert, beruht zum Teil auf einer Überdeckung von und Durchdringung mit anderen Ideologien, etwa dem Nationalismus oder dem Antifeminismus (Stögner 2014). Dass der Antisemitismus von anderen Ideologien quasi vertreten werden kann, ohne dass sie ihn aber ablösen würden, liegt daran, dass es gemeinsame Elemente in diesen Ideologien gibt, die der Antisemitismus alle in sich erfasst. In diesem Sinn scheint es mir der falsche Weg zu sein, das Intersektionalitätskonzept einfach zu verwerfen. Vielmehr kann das Konzept für eine umfassende Herrschaftsanalyse wiedergewonnen werden, die auch für eine Analyse des Antisemitismus fruchtbar ist. Als analytisches Konzept hat Intersektionalität das Potential, die Totalität der Gesellschaft zu durchdringen und in ihrer Komplexität und Wandelfähigkeit zu erfassen. Intersektionalität meint, dass die disparaten Momente miteinander wechselseitig verbunden, nicht aber identisch sind. So kann es zu widersprüchlichen Verbindungen und Wechselwirkungen kommen: gender issues sind verbunden mit Zionismus ebenso wie mit einer propalästinensischen Haltung. Intersektionalität bildet die gesellschaftlichen Widersprüche ab und macht sichtbar, dass sie nicht nach einem schlichten Freund-Feind-Schema verlaufen, sondern komplex sind. Diese Stärke von Intersektionalität geht verloren, wenn der Widerspruch in ideologischen Ausschlüssen der Art, dass man nicht gleichzeitig Feministin und Zionistin sein könne, aufgelöst wird. Dadurch wird Intersektionalität in ihr Gegenteil – eingeschränkte Identitätspolitik – verkehrt, wodurch bestimmte Gruppen dämonisiert und ausgeschlossen werden können. Damit verwandelt sich ein analytisches Konzept mit Potential in einen Kampfbegriff politischer Propaganda. Literatur Adorno, Theodor W. (1997): Studies in the Authoritarian Personality, in: Gesammelte Schriften 9–1, Frankfurt. Alcoff, Linda Martin/Arruzzo, Cinzia /Bhattacharya, Tithi/Fraser, Nancy/Ransby, Barbara/Taylor, Keeanga-Yamahtta/Odeh, Rasmea Yousef/Davis, Angela (2017): Women of America: we’re going on strike. Join us so Trump will see our power, in: The Guardian, February 6, 2017, https://www.theguardian.com/commentisfr ee/2017/feb/06/women-strike-trump-resistance-power (abgerufen am 29.12.2018). Bal, Mieke (2002): Travelling Concepts in the Humanities: A Rough Guide, Toronto. Brodkin, Karen (2000): How Jews Became White Folks and What That Says About Race in America, New Brunswick/New Jersey/London.
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Die Augstein-Debatte im Jahr 2013 Lukas Betzler/Manuel Glittenberg
Im 2014 erschienenen Interviewband Ab heute heißt du Dieter! spricht Dieter Graumann – zu diesem Zeitpunkt noch Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland (ZJD) – über ein Streitgespräch, das er im Jahr zuvor mit dem Journalisten Jakob Augstein geführt hat. Auf die Frage, ob er sich dabei an das Gespräch zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis erinnert gefühlt habe, das 1998 im selben Raum stattgefunden hatte, antwortet Graumann: »Ja, und das habe ich auch ausdrücklich gesagt: ‚Vor dreizehn Jahren haben Ignatz Bubis und Ihr leiblicher Vater Martin Walser hier in Frankfurt bei der F.A.Z. zusammengesessen und er hat damals schreckliche Dinge gesagt. Und heute sitzen wir hier zusammen, um wieder darüber zu diskutieren: Wo beginnt der Antisemitismus? So viel scheint sich in den Jahren gar nicht verändert zu haben!‘« (Graumann 2014: 121) Folgen wir zum Einstieg einen Moment Graumanns Spur: Martin Walser hatte anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche eine Rede gehalten, in der er die mediale Thematisierung rassistischer Gewalt in Deutschland und die öffentlichen Formen des Gedenkens an Auschwitz problematisierte. Auschwitz kam in Walsers Rede nicht als reales, grausames Verbrechen gegen die europäischen Jüdinnen und Juden vor, sondern einzig als moralische Vorhaltung gegen die (nichtjüdischen) Deutschen. Walser deutete die Erinnerung an die Shoah zur Gewalt gegen die Täter*innen und ihre Nachkommen um. Die Erinnerung galt ihm überdies als unaufrichtig. Nebulös behauptete er, es handele sich dabei um eine »Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken« (a.a.O.: 12). Ignatz Bubis verweigerte sich in der Paulskirche der überwältigenden Zustimmung, die Walser von den Zuhörenden für seine Rede erhielt. Kurz darauf kritisierte er Walser für seine Rede scharf und stieß so die »Walser-Bubis-Debatte« an, deren symbolisches Ende im Dezember 1998 das von Graumann angeführte Gespräch bildete (vgl. Rensmann 2004: 359f.).
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Lukas Betzler/Manuel Glittenberg
Auch Jakob Augstein war im Jahr 2013 in eine öffentliche Kontroverse um Antisemitismus involviert, deren inhaltlicher – medial jedoch kaum rezipierter – Höhepunkt das oben erwähnte SPIEGEL-Streitgespräch bildete. Graumann warf Augstein darin vor, er vermittele ein verfälschtes Israelbild und transportiere antisemitische Klischees. Augstein hingegen wehrte diese Kritik vehement ab. Bemerkenswert ist, dass er sich dabei ähnlicher Motive bediente, wie Walser in seiner Paulskirchenrede. Hatte Walser eine Instrumentalisierung der Erinnerungskultur behauptet, warf Augstein Graumann nun eine Instrumentalisierung der Kritik des Antisemitismus vor: »Mir kommt es vor wie die Instrumentalisierung eines schweren Vorwurfs.« (Augstein/Graumann 2013: 126) Während Walser die (nichtjüdischen) Deutschen zu Opfern eines als aufgenötigt und aggressiv empfundenen Gedenkens stilisiert hatte, inszenierte sich Augstein als Opfer einer Diffamierungskampagne gegen (israel-)kritischen Journalismus. Und wie bei Walser die Shoah, kommt bei Augstein der Antisemitismus als realer Sachverhalt kaum vor, sondern verschwindet hinter der Konstruktion eines angeblich ungerechtfertigten »Antisemitismus-Vorwurfs«. Die Parallelisierung der beiden 14 Jahre auseinanderliegenden Fälle offenbart bestehende Kontinuitäten, obwohl der diskursive Kontext, in dem sich Antisemitismus in der politischen Öffentlichkeit jeweils artikuliert, nicht unwesentlich verändert hat. Denn ungefähr seit dem Jahr 2000 kreisen Debatten um Antisemitismus in Deutschland nicht mehr wie zuvor um den deutschen Umgang mit dem Nationalsozialismus und der Shoah, vielmehr »steht […] zunehmend Israel im Fokus der Auseinandersetzungen« (Grimm/Kahmann 2018: 6). Teilweise handelt es sich bei diesem Wandel jedoch um ein Oberflächenphänomen. Denn das Verhältnis der nichtjüdischen Deutschen zu Schuld und Verantwortung für die nationalsozialistische Vergangenheit scheint auch die Auseinandersetzung mit Israel untergründig stark zu prägen. Doch werfen wir zunächst noch einen Blick auf den Entstehungskontext der »Augstein-Debatte«: Ende Dezember 2012 veröffentlichte das Simon Wiesenthal Center (SWC), eine 1977 gegründete Menschen-rechtsorganisation, die sich insbesondere dem Kampf gegen Antisemitismus und dem Auffinden noch lebender NS-Täter verschrieben hat, zum dritten Mal seine seit 2010 jährlich erscheinende Liste der Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs (TTAS). Den neunten Platz der Liste belegten fünf Textpassagen des Journalisten Jakob Augstein, die seiner wöchentlich erscheinenden SPIEGEL Online-Kolumne Im Zweifel links entnommen waren. Augstein ist Miteigentümer der SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH und Eigentümer, Geschäftsführer, Verleger und Chefredakteur der Wochenzeitung Der Freitag. Neben den Textpassagen Augsteins befanden sich auf der 404
Die Augstein-Debatte im Jahr 2013
Liste u.a. Zitate der ägyptischen Muslimbruderschaft auf Platz eins, auf Platz drei eine Karikatur des brasilianischen Karikaturisten Carlos Latuff und ein Zitat eines Politikers der rechtsextremen ungarischen Partei Jobbik auf Platz sieben (vgl. Simon Wiesenthal Center 2012). In den Jahren zuvor hatte die Veröffentlichung der TTAS-Liste in den deutschen Medien nur wenig Beachtung gefunden, obwohl 2010 mit Thilo Sarrazin und 2011 mit Hermann Dierkes bereits Deutsche mit antisemitischen Äußerungen auf der Liste vertreten waren. Der TTAS-Liste 2012 hingegen wurde sofort eine sehr große mediale Aufmerksamkeit zuteil. Jedoch war diese weniger von einer sachlichen Auseinandersetzung als von großer emotionaler Empörung und einer pauschalen Zurückweisung der Vorwürfe geprägt. Zahlreiche Journalist*innen, Politiker*innen von der CDU und von der Partei Die Linke, Vertreter des ZJD und verschiedene Wissenschaftler*innen reagierten auf die Veröffentlichung der Liste. Diese Debatte bildete den Anlass und Hauptgegenstand unserer 2015 veröffentlichten Studie Antisemitismus im deutschen Mediendiskurs. Eine Analyse des Falls Jakob Augstein (vgl. Betzler/Glittenberg 2015). Die folgende Darstellung basiert auf den Ergebnissen dieser Untersuchung, ergänzt und aktualisiert sie. Im ersten Abschnitt werden die fünf auf der TTAS-Liste aufgeführten Äußerungen Augsteins einer antisemitismuskritischen Textanalyse unterzogen, womit zugleich der Diskursanlass umrissen ist. Darauf folgt eine schlaglichtartige Darstellung der Augstein-Debatte in den deutschen Medien, abschließend werfen wir einen Blick auf die (ausbleibenden) Konsequenzen der Debatte und ziehen aus rückblickender Perspektive ein vorläufiges Fazit. Antisemitismus in Augsteins Kolumnentexten Das SWC hatte auf seiner am 28. Dezember 2012 veröffentlichten TTASListe fünf ins Englische übersetzte Zitate aus drei verschiedenen Kolumnentexten Augsteins aufgeführt. Die Zitate werden im Folgenden in der Reihenfolge wiedergegeben und analysiert, in der sie auf der TTAS-Liste erscheinen.1 »Mit der ganzen Rückendeckung aus den USA, wo ein Präsident sich vor den Wahlen immer noch die Unterstützung der jüdischen Lobbygruppen sichern muss, und aus Deutschland, wo Geschichtsbewälti1 Unmarkierte Kürzungen, die das SWC in einigen der Zitate vorgenommen hat, stehen hier in eckigen Klammern.
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gung inzwischen eine militärische Komponente hat, führt die Regierung Netanjahu die ganze Welt am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs.« (Augstein 2012b) Dieser Satz, den das SWC in der TTAS-Liste an oberster Stelle anführte, stammt aus Augsteins Kolumne »Es musste gesagt werden« von April 2012. Kurz zuvor hatte Günter Grass sein antisemitisches Gedicht »Was gesagt werden muss« veröffentlicht (vgl. den Beitrag von Carla Dondera in diesem Band). Augstein war einer der wenigen Journalisten, die Grass vehement gegen den Vorwurf des Antisemitismus verteidigten. In dem zitierten Ausschnitt artikuliert sich insbesondere das Stereotyp einer ‚jüdischen Weltherrschaft‘. Die Äußerung suggeriert, die Regierung des 8-MillionenEinwohner-Landes Israel dominiere »die ganze Welt« und führe sie einem Krieg entgegen. Zugleich wird in knappen und suggestiven Nebensätzen angedeutet, weshalb Israel dabei die Unterstützung von Amerika und Deutschland genieße: Mit dem spezifisch-unspezifischen Verweis auf den Einfluss »der jüdischen Lobbygruppen«, von denen selbst der US-Präsident abhängig sei, bedient Augstein das Stereotyp der Juden als ‚geheime Strippenzieher‘ hinter der amerikanischen Politik. In Deutschland hingegen mache sich der ‚jüdische Einfluss‘ in anderer Form geltend, nämlich indem die israelische Regierung die unbewältigte Geschichte der Shoah für ihre kriegerischen Zwecke instrumentalisiere – ein bekanntes Stereotyp aus dem Fundus des sekundären Antisemitismus, der sich aus Motiven der Schuld-, Verantwortungs- und Erinnerungsabwehr speist. Aus diesem Fundus bedient sich auch das zweite Zitat, das derselben Kolumne entnommen ist: »‚Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.‘ Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, weil Günter Grass ihn sagt. Darin liegt ein Einschnitt. Dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen.« (Augstein 2012b) Durch die unwahre Behauptung, Israel gefährde den »Weltfrieden«, wird Israel als ‚potentieller Weltbrandstifter‘ dämonisiert. Diese von Grass getroffene und von Augstein hier stark bekräftigend zitierte Aussage reproduziert so, in Übertragung auf Israel, das antisemitische Stereotyp, die Juden würden die Welt verderben. Indem Augstein behauptet, dieser Satz habe einen »Aufschrei« ausgelöst, »weil er richtig ist« und »weil ein Deutscher ihn sagt«, suggeriert er ein besonders in Deutschland wirkendes Kritik-Tabu gegenüber Israel. Schließlich kann ein wahrer Satz nur dann 406
Die Augstein-Debatte im Jahr 2013
einen »Aufschrei« auslösen, wenn die geäußerte Wahrheit unterdrückt wird oder mit einem äußerst mächtigen Tabu belegt ist. Dieses vermeintliche ‚Kritik-Tabu‘ aber ist imaginiert, die Rede davon bedient selbst ein antisemitisches Stereotyp (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 197). Wenn Augstein zudem schreibt, man müsse Grass für diesen Satz danken, offenbart sich darin ein starker auf die nationale Identität bezogener Entlastungswunsch: Grass wird als Erlöser dargestellt, der stellvertretend »für uns alle« – d.h. alle nichtjüdischen Deutschen – die Bürde des ‚Wahrsprechens‘ auf sich genommen habe. Indem Israel zum prospektiven Täter erklärt wird, wird im Sinne einer »Aufrechnung von Schuldkonten« (Adorno 1955: 302) die historische deutsche Schuld relativiert und die als Last empfundenen Erinnerung an Auschwitz – samt ihren notwendigen politischen Konsequenzen – entsorgt. Ein sehr wirkmächtiges und weit verbreitetes antijudaistisches Stereotyp ist das der ‚jüdischen Rachsucht‘. Bei Augstein findet sich das Motiv insbesondere in der Kolumne mit dem vielsagenden Titel »Gesetz der Rache«, die er anlässlich der israelischen Militärintervention in Gaza im Herbst 2012 verfasste, und aus der das dritte vom SWC angeführte Zitat stammt: »Israel wird von den islamischen Fundamentalisten in seiner Nachbarschaft bedroht. Aber die Juden haben ihre eigenen Fundamentalisten[. Sie heißen nur anders]: Ultraorthodoxe oder Haredim. Das ist keine kleine, zu vernachlässigende Splittergruppe. Zehn Prozent der sieben Millionen Israelis zählen dazu. [Benjamin Netanjahu hat in seinem Kabinett Mitglieder gleich dreier fundamentalistischer Parteien sitzen.] Diese Leute sind aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ihre islamistischen Gegner. Sie folgen dem Gesetz der Rache.« (Augstein 2012c) Zwar weist Augstein darin zunächst auf die islamistische Bedrohung Israels hin, doch scheint dies lediglich dazu zu dienen, die ‚jüdischen Fundamentalisten‘ erwähnen zu können. Diese setzt er nicht nur mit den »islamischen Fundamentalisten« gleich, sondern belegt sie zudem ganz unverschleiert mit dem Stereotyp der ‚jüdischen Rachsucht‘, indem er behauptet, sie folgten dem »Gesetz der Rache«.2 Die Metaphorik von »aus dem gleichen Holz geschnitzt« signalisiert dabei, dass es sich um einen unveränderlichen Wesenszug der Haredim handele.3 2 Indem Augstein unterstellt, die Rache habe für die Haredim Gesetzescharakter, schließt er an die christlich-antijudaistische Unterscheidung zwischen dem Judentum als ‚Religion des Gesetzes‘ und dem Christentum als ‚Religion der Liebe‘ an. 3 Dass er an dieser Stelle die ultraorthodoxen Juden zum Teil mit den Nationalreligiösen verwechselt bzw. gleichsetzt, zeugt von Augsteins geringem Wissen über Is-
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In der Kolumne »Wem nützt die Gewalt« von September 2012 befasst sich Augstein mit islamistischen Ausschreitungen in arabischen Ländern. Ihr ist das vierte Zitat entnommen: »Das Feuer brennt in Libyen, im Sudan, im Jemen, in Ländern, die zu den ärmsten der Welt gehören. Aber die Brandstifter sitzen anderswo. Die zornigen jungen Männer, die amerikanische – und neuerdings auch deutsche – Flaggen verbrennen, sind ebenso Opfer wie die Toten von Bengasi und Sanaa. Wem nützt solche Gewalt? Immer [nur] den Wahnsinnigen und den Skrupellosen. Und dieses Mal [auch – wie nebenbei –] den US-Republikanern und der israelischen Regierung.« (Augstein 2012e) Die Ausschreitungen, auf die Augstein hier referiert, richteten sich vor allem gegen amerikanische Einrichtungen, ihnen fielen unter anderem der US-Botschafter in Libyen sowie drei seiner Mitarbeiter zum Opfer. Als »Opfer« werden von Augstein aber auch die Teilnehmer an diesen Protesten bezeichnet, aus deren Gruppe heraus die Botschaftsmitarbeiter ermordet wurden. Für die Taten macht Augstein somit nicht die unmittelbaren Täter verantwortlich, sondern angebliche Hintermänner, die er metaphorisch als »Brandstifter« bezeichnet. Um diese zu identifizieren, geht er jedoch nicht der Frage nach, wer zu den Protesten aufgerufen und mobilisiert hat. Allerdings glaubt er zu wissen, wer von den Ausschreitungen profitiert habe: »die US-Republikaner und die israelische Regierung« – und zwar »wie nebenbei«, also auf eine bloß scheinbar zufällige Weise. Indem er auf die Gleichzeitigkeit der Ausschreitungen mit der Endphase des US-Präsidentschaftswahlkampfs und mit den angeblichen israelischen Plänen eines Präventivkriegs gegen den Iran verweist, konstruiert Augstein hier in verschwörungstheoretischer Manier aus rein zeitlichen Zusammenhängen Kausalrelationen. Gemäß der simplen Logik des ‚Cui Bono?‘ folgert er ohne jeglichen Beleg, dass die von ihm identifizierten Profiteure die Ausschreitungen bewusst herbeigeführt hätten. Er entwirft damit das Zerrbild einer ‚wahnsinnigen und skrupellosen‘ israelischen Regierung, die – gemeinsam mit den US-Republikanern – Aufstände inszeniere und dabei für ihre Machtinteressen unschuldige Opfer billigend in Kauf nehme. Damit bedient er das Stereotyp der ‚Juden als im Verborgenen agierenden Hintermännern‘ und als ‚skrupellosen Egoisten‘.
rael – das in großem Kontrast zu seinem Gestus des Bescheidwissens und seiner Selbstinszenierung als sachlicher Experte steht.
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Die Augstein-Debatte im Jahr 2013
Das letzte auf der TTAS-Liste angeführte Zitat entstammt wieder der Kolumne »Gesetz der Rache«: Gaza ist ein Ort aus der Endzeit [des Menschlichen]. 1,7 Millionen Menschen hausen da, [zusammengepfercht] auf 360 Quadratkilometern. [Gaza ist ein Gefängnis. Ein Lager.] Israel brütet sich dort seine eigenen Gegner aus. (Augstein 2012c) Unmittelbar vor diesem Ausschnitt behauptet Augstein in seinem Text, dass Israel menschliches Elend im Gaza-Streifen bewusst herbeiführe. Sodann entwirft er in kurzen, teilweise elliptischen Sätzen und stark emotionalisierender Lexik ein Schreckensbild vom Gaza-Streifen, das eine erschütternde Wirkung hat. Der Begriff »Endzeit« evoziert apokalyptische Vorstellungen, die genannte Einwohnerzahl vermittelt den Eindruck großer Enge. Die Behauptung, »Israel brütet sich dort seine eigenen Gegner aus«, ist in dieser Logik die zwingende Folgerung: Ein Land, das Menschen mit voller Absicht einer derartigen Situation aussetze, müsse sich nicht wundern, wenn es ihren Hass auf sich ziehe. Hier artikuliert sich in entmenschlichender Form das Stereotyp, die Juden seien selbst schuld am Antisemitismus. Verwunderlich ist, dass gerade die drastischsten Teile dieses Zitats vom SWC gekürzt wurden. Denn die Bezeichnung Gazas als »Gefängnis« und die seinen Bewohnern attribuierten Verben »hausen« (in der englischen Übersetzung wird das neutrale »live« verwendet) und »zusammengepfercht« suggerieren ein extremes Ausmaß an Entmenschlichung und Entrechtung. Und das Wort »Lager« lässt sich hier schließlich nicht anders denn als Signalwort aus dem Kontext des Nationalsozialismus auffassen: Der Gaza-Streifen wird mit einem Konzentrationslager in Analogie gesetzt, Israels Politik somit in die Nähe des Holocaust gebracht. Die direktive Bedeutung dieser Aussage ist: Wer den Nationalsozialismus ablehnt, muss auch die israelische Politik verurteilen. Dies dämonisiert die israelische Politik und relativiert zugleich den Nationalsozialismus, die Abwertung Israels dient hier somit zugleich einer Entlastung von historischer Schuld. Die Augstein-Debatte Die Augstein-Debatte erstreckte sich auf den Zeitraum vom 29. Dezember 2012 bis zum 4. Februar 2013. In diesen fünf Wochen erschienen in den
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von uns untersuchten Medien4 74 Beiträge mit Bezug auf die Veröffentlichung der TTAS-Liste. Im Folgenden sollen einige Schlaglichter auf die diskursiven Muster der Reproduktion von Antisemitismus sowie der Abwehr der Antisemitismuskritik geworfen werden, die die Debatte maßgeblich prägten. Jakob Augstein reagierte mit einem Facebook-Post auf die Veröffentlichung der TTAS-Liste, der zustimmende Verbreitung in nahezu allen Artikeln der Debatte fand: »Das SWC ist eine wichtige, international anerkannte Einrichtung. Für die Auseinandersetzung mit dem und den Kampf gegen den Antisemitismus hat das SWC meinen ganzen Respekt. Um so [sic!] betrüblicher ist es, wenn dieser Kampf geschwächt wird. Das ist zwangsläufig der Fall, wenn kritischer Journalismus als rassistisch oder antisemitisch diffamiert wird.« (Augstein 2012a) Darauf, weshalb der Vorwurf, seine Aussagen seien antisemitisch, nicht zutreffe, ging Augstein in seiner Stellungnahme nicht ein. An die Stelle einer inhaltlichen Argumentation trat die Beschwörung seiner anti-antisemitischen Überzeugung in Form einer Respektbekundung für den Kampf des SWC gegen Antisemitismus. Vergegenwärtigt man sich den antisemitischen Gehalt der Textpassagen Augsteins, die er hier als »kritischen Journalismus« bezeichnet, lässt sich sein Statement als Bestreben erkennen, das Täter-Opfer-Verhältnis umzukehren und sich selbst als Opfer einer unberechtigten Diffamierungskampagne zu stilisieren. Alvin Rosenfeld hat herausgearbeitet, dass es sich hierbei um ein charakteristisches Muster des »israelkritischen« Diskurses handelt: »Mit der Behauptung, jeder der (oder jede, die) es wage, von einer angeblichen ‚Beschlusslage‘ in Sachen Israel abzuweichen, werde gleich als Antisemit (oder Antisemitin) denunziert und damit mundtot gemacht, soll der Sprecher oder die Sprecherin gleich zu Beginn als Opfer stilisiert werden.« (Rosenfeld 2016, 51) In Einklang mit Augsteins Facebook-Post wurde in den ersten journalistischen Reaktionen auf die Veröffentlichung der TTAS einstimmig behauptet, es handele sich bei Augsteins Auslassungen um Israelkritik bzw. Kritik
4 Den Materialkorpus unserer Studie bildeten alle Beiträge zur Veröffentlichung der TTAS-Liste in den Online-Formaten folgender Medien: Frankfurter Rundschau, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt, Tagesspiegel, Süddeutsche Zeitung, taz, Die Zeit und Spiegel online; vgl. Betzler/Glittenberg 2015: 192.
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Die Augstein-Debatte im Jahr 2013
an der israelischen Regierung: »Augstein nimmt sich lediglich die Freiheit, die Regierung Netanjahu dafür zu kritisieren, wofür sie alle Welt kritisiert«, behauptete Christian Bommarius (2013) in der FR, Stefan Reinecke (2013) bezeichnete Augstein in der taz als »scharfe[n], rationale[n] Kritiker der rechtsnationalen israelischen Regierung.« Nun hatte das SWC nicht fünf der zahlreichen Passagen aus Augsteins Kolumnen auf seine Liste gesetzt, die »lediglich« von einseitigen Negativdarstellungen, einem binären Gut-Böse-Schema und unbelegten, z.T. auch schlicht falschen Behauptungen über Israel geprägt waren, sondern Passagen, in denen offen klassische Stereotype des modernen Antisemitismus und Motive des Schuldabwehr-Antisemitismus formuliert wurden. Dass diese zumeist nicht »die Juden«, sondern den Staat Israel bzw. die israelische Regierung zum Referenzobjekt hatten, reichte den sich zu Wort meldenden Journalist*innen offenkundig aus, um sie kontrafaktisch als Kritik an Israel auszugeben – und damit die Kritik, sie seien antisemitisch, pauschal zurückzuweisen. Die Beachtung zentraler Erkenntnisse der Antisemitismusforschung, die für die Zeit nach 1945 in Deutschland eine Gleichzeitigkeit von »Kommunikationslatenz und Bewusstseinspräsenz von Antisemitismus« (Bergmann/Erb 1986: 229) feststellt und als mögliche »Lösung« für dieses Problem auf eine »Ersatzkommunikation (Israel, Antizionismus)« (ebd., 230) hinweist, hätte an dieser Stelle zu einer gänzlich anderen Einschätzung führen können. Hinzu kam, dass die Liste antisemitischer Verunglimpfungen (slurs) in den ersten journalistischen Beiträgen fast ausnahmslos in einer personalisierenden Weise, d.h. als Liste von Antisemiten, rezipiert wurde.5 Meist wurde von einer »Liste der (weltweit) zehn schlimmsten Antisemiten« berichtet. Auf SPIEGEL online war von einer »Liste der zehn übelsten Antisemiten« (Korge 2013; Freiburg 2013) die Rede. Stefan Reinecke ging in einem Kommentar in der taz sogar so weit zu behaupten, Augstein belege »Platz neun der gefährlichsten Antisemiten weltweit« (Reinecke 2013, Herv. d. Verf.). Nun mag die personalisierende Lesart der Liste abgesehen von Reineckes Hinzudichtung auf den ersten Blick nicht als allzu bedeutsam erscheinen. Verfolgt man jedoch den weiteren Verlauf der Debatte, wird
5 Einen Anknüpfungspunkt für diese Lesart der Liste bot allerdings auch das SWC selbst, indem es als Referenz für die Platzierung von Augsteins Textpassagen den Publizisten Henryk M. Broder mit folgender Äußerung zitierte: »Jakob Augstein ist kein Salon-Antisemit, er ist ein lupenreiner Antisemit […] ein Überzeugungstäter, der nur Dank [sic!] der Gnade der späten Geburt um die Gelegenheit gekommen ist, im Reichssicherheitshauptamt Karriere zu machen. Das Zeug dazu hätte er.« (Simon Wiesenthal Center 2012: 4).
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deutlich, dass diese verzerrte Lesart die Grundlage für eine vehemente Abwehr der Kritik darstellte. Dass Augstein kein Antisemit sein könne, schon gar nicht einer der zehn schlimmsten oder gar gefährlichsten der Welt, schien einem großen Teil der sich an der Debatte beteiligenden Journalist*innen so offenkundig zu sein, dass sie sich erst gar nicht mit den vom SWC als antisemitisch klassifizierten Textstellen auseinandersetzten. Auf Grundlage dieser verzerrten Lesart der TTAS-Liste prägte die von Augstein in die Auseinandersetzung eingebrachte Verkehrung des TäterOpfer-Verhältnisses die Debatte maßgeblich. Sie wurde von zahlreichen Journalist*innen aufgegriffen und weitergeführt. So schrieb etwa Nils Minkmar (2013) in der FAZ: »Es gibt genug Antisemiten, man muss den Kreis nicht in diffamierender Absicht erweitern«. In der Süddeutschen Zeitung schrieb Lothar Müller (2013): »Es war keine Meinungsäußerung, sondern eine Feinderklärung, als kürzlich das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles seine Top Ten-Liste der weltweit gefährlichsten antisemitischen und anti-israelischen Verleumder publizierte.« Auf die Spitze getrieben wurde die Verkehrung in der Zeit. Frank Drieschner (2013) versah seinen Artikel zur TTAS-Liste mit der Überschrift »Wer hasst da wen?« und suggerierte so, das SWC hasse Jakob Augstein, weil dieser Israel kritisiere. Der Inhalt des Artikels stand der Überschrift in nichts nach. In verschwörungstheoretischem Gestus wurde das SWC zur Lobbyorganisation Israels erklärt: »Die Frage ist, ob sie womöglich gemeinsam durchdrehen: Israel […] [u]nd seine Lobby, die soeben in Gestalt des renommierten SimonWiesenthal-Zentrums den deutschen Journalisten Jakob Augstein zu einem der schlimmsten Antisemiten der Welt erklärt hat.« (ebd.) In Stefan Reinickes taz-Kommentar wurde diese Konstruktion mit einer expliziten Zuschreibung von Aggressivität und Gewalt an das SWC verbunden: »Denn an wem dieses Etikett klebt [Antisemit zu sein; die Verf.], der ist im öffentlichen Diskursgeschäft erledigt. Diese Stigmatisierung dient also auch als Warnschuss. Wer Israel kritisiert, wird mit der Antisemitismus-Schrotflinte beschossen.« (Reinecke 2013) Die im Antisemitismus angelegte Gewalt wurde so auf die Kritik des Antisemitismus projiziert. Diese wurde dementsprechend als gefährliche Waffe konstruiert, deren Einsatz die öffentliche Existenz dessen, auf den sie zielt, gefährde. Wie wenig diese Fantasie mit der empirischen Realität zu tun hat, hätte schlicht ein unvoreingenommener Blick auf zurückliegende Antisemitismus-Debatten in der politischen Öffentlichkeit zeigen können: 412
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Weder Martin Walser noch Jürgen Möllemann und auch nicht Günter Grass hatten nach (zumal berechtigten) Antisemitismusvorwürfen letztendlich ernsthafte negative Konsequenzen für ihre öffentliche Reputation zu tragen.6 Die aufgeführten Reaktionen verdeutlichen, wie schnell sich nach dem Hinweis des SWC auf den Antisemitismus in Augsteins Textpassagen eine Abwehrbewegung formierte, die zum Teil selbst antisemitische Züge trug. Während der antisemitische Charakter der Textpassagen Augsteins in den ersten journalistischen Reaktionen fast ohne Ausnahme negiert wurde, wurde die Antisemitismuskritik des SWC zu einer aggressiven und gewalttätigen Praxis umgedeutet. Die mit der Solidarisierung mit Augstein verbundene Abwehr der Antisemitismuskritik ging so weit, dass sich mit Reinecke und später auch Harald Martenstein zwei Journalisten plakativ selbst als Antisemiten identifizierten: »Wir Antisemiten« (Reinecke 2013) und »Ich will auch auf die Antisemiten-Liste!« (Martenstein 2013) lauteten die Titel ihrer Beiträge. Diese ironisch intendierten Selbstpositionierungen als Antisemit, die die vermeintliche Absurdität des Vorwurfs deutlich machen sollten, zeigen, wie selbstverständlich in der Debatte Antisemitismus als real bestehendes gesellschaftliches Problem und als Gefahr für Jüdinnen und Juden negiert wurde: »Antisemitismus« wurde einzig als vermeintlich stigmatisierenden Fremdzuschreibung in Form des »Antisemitismusvorwurfs« verhandelt.7 Vor diesem Hintergrund war es umso irritierender, dass die Reaktionen von Politiker*innen und v.a. seitens wissenschaftlicher Expert*innen, die auf die ersten journalistischen Beiträge folgten, demselben diskursiven Muster entsprachen. Gregor Gysi von der Partei Die Linke sowie Julia Klöckner von der CDU ergriffen Partei für Augstein (vgl. Korge 2013). Auch der Deutsche Journalisten Verband (vgl. DJV 2013) und der ZJD verteidigten ihn. In einem Interview mit Deutschlandradio Kultur gab Salomon Korn, damals Vizepräsident des ZJD, zu Protokoll: »[I]ch hatte nie den Eindruck, dass das, was er geschrieben hat, antisemitisch ist« (Korn 2013). Die Zurückweisung der Kritik vonseiten Korns fand eine enorme mediale Verbreitung. Allein am 4. Januar erschienen sieben vorwiegend auf einer dpa-Meldung basierende Artikel dazu in den von uns untersuchten Medien (u.a. dpa 2013). Dies ist vor allem deshalb beachtlich, da 6 Dies wird z.B. daran deutlich, dass Günter Grass und Martin Walser in der damals noch nicht nach rechts außen gerückten Zeitschrift Cicero. Magazin für politische Kultur im Dezember 2012 Platz eins und drei einer Liste der wichtigsten deutschen Intellektuellen belegten (vgl. Cicero 2012). 7 Vgl. hierzu ausführlicher Betzler/Glittenberg 2015: 207ff.
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Graumanns Kritik an Augstein im SPIEGEL-Streitgespräch keine vergleichbare mediale Resonanz erfuhr. Darüber hinaus bekundeten die Historiker Michael Wolffsohn und Tom Segev, der Erziehungswissenschaftler und ehemalige Leiter des FritzBauer-Instituts Micha Brumlik und Juliane Wetzel vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) ihre Unterstützung Augsteins (vgl. Pohlmann/Böhme 2013; Bax 2013). So war in der taz am 4. Januar in einem Artikel von Daniel Bax zu lesen: »‚Maßlos überzogen‘ findet Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin die Vorwürfe gegen Augstein […]. Natürlich gebe es eine Kritik an Israel, die Plattform für antisemitische Ressentiments sei. Doch wenn jede scharfe Kritik an Israel ‚inflationär‘ als Antisemitismus bezeichnet werde, dann werde ‚der Sinngehalt des Wortes ausgehöhlt‘.« (ebd.) Diese Behauptung einer inflationären Verwendung des AntisemitismusVorwurfs war zuvor auch schon in den bereits erwähnten Artikeln in der Zeit (Drieschner 2013) und in der taz (Reinecke 2013) in die Debatte eingebracht worden. Auch Augstein argumentierte in seiner einen Monat vor Veröffentlichung der TTAS publizierten Kolumne mit dem Titel »Überall Antisemiten« in dieser Weise: »Früher war es eine Schande, für einen Antisemiten gehalten zu werden. Inzwischen muss man einen solchen Vorwurf nicht mehr ernstnehmen. Im Meer der hirn- und folgenlosen Injurien des Internets geht auch diese Beschimpfung einfach unter.« (Augstein 2012d) Augsteins Aussage, die auch von Çiğdem Akyol (2013) wiedergegeben wurde, suggeriert, die Ursache für einen Anstieg der Zahl öffentlicher ‚Antisemitismusvorwürfe‘ liege nicht in einem tatsächlichen Anstieg von Antisemitismus8 oder in einer erhöhten Bereitschaft, diesen als solchen zu benennen und zu kritisieren. Vielmehr seien diese Vorwürfe stets oder zumindest in ihrer Mehrzahl unberechtigt. In der Debatte schien dies häufig die Prämisse zu bilden, unter der die Kritik an Augsteins antisemitischen Textpassagen diskutiert wurde. Dass diese unbelegt bleibende Behauptung nun auch von Expert*innen, darunter einer Mitarbeiterin des ZfA, wieder-
8 Im Jahr 2019 dürfte allgemein anerkannt sein, dass jedoch genau eine solche erhebliche Zunahme von antisemitischen Artikulationen und antisemitischer Gewalt tatsächlich stattgefunden hat und weiterhin stattfindet.
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holt und damit legitimiert wurde, verengte den Spielraum für Antisemitismus-Kritik in der Debatte zusätzlich. Den fast ausnahmslosen Verteidigungen Augsteins entsprechend hieß es im Untertitel einer vielfach wiedergegebenen dpa-Meldung vom 4. Januar 2013: »Viel Rückendeckung für Jakob Augstein« (dpa 2013). Diese Einstimmigkeit wurde erst mit mehreren Artikeln aufgelöst, die v.a. ab dem 9. Januar erschienen und sich kritisch auf den vorangegangenen Debattenverlauf bezogen. So fand doch noch eine inhaltliche Vertiefung der Debatte statt. Den bis dahin hegemonialen Deutungen wurde widersprochen und die auf der TTAS-Liste aufgeführten Textpassagen wurden als antisemitisch kritisiert (vgl. u.a. Lehming 2013; Joffe 2013; Küntzel 2013; Salzborn 2013).9 In der Summe blieben diese Stimmen jedoch marginal, einerseits aufgrund ihrer relativ geringen Zahl, andererseits weil sie, abgesehen von zwei Ausnahmen (Küntzel 2013; Salzborn 2013), allesamt als Kolumnen oder im Ressort »Meinung« erschienen. Die die Debatte dominierenden pauschalen Zurückweisungen der Kritik waren hingegen vielfach von der dpa multipliziert und damit als Nachrichten präsentiert worden. Am 14. Januar erschien dann in der Printausgabe 3/2013 des SPIEGEL das erwähnte Streitgespräch zwischen Jakob Augstein und Dieter Graumann. Die eingehendere Beschäftigung mit dem Streitgespräch macht nachvollziehbar, warum es Graumann an das Gespräch zwischen Walser und Bubis (Bubis et al. 1998) erinnerte. Jakob Augstein enthielt sich nicht nur weiter jeder kritischen Selbstreflexion, sondern äußerte sich erneut in antisemitischer Weise. Graumann verneinte gleich zu Beginn die von den Moderator*innen an ihn gerichtete Frage, ob er Augstein für einen Antisemiten halte. Er kritisierte aber zugleich, Augstein begünstige mit seinen Texten antisemitische Ressentiments, und forderte ihn auf, diesen Vorwurf ernst zu nehmen. Augstein hingegen reagierte harsch und warf Graumann die »Instrumentalisierung eines schweren Vorwurfs« vor, und zwar mit dem Ziel, »Debattenverläufen den Riegel vorzuschieben« (Augstein/Graumann 2013: 126). Damit bediente sich Augstein des antisemitischen Stereotyps eines ‚jüdischen Meinungsdiktats‘ und wendete es direkt gegen Graumann.10 Außerdem hielt er Graumann im Stil des klassi-
9 Zuvor hatten dies nur Clemens Wergin (2013) in der Welt am 3. Januar und Anetta Kahane (2013) in der FR am 6. Januar getan. 10 Später buchstabierte Augstein diesen antisemitischen Vorwurf einer »jüdischen Kontrolle der Medien« in einer Stellungnahme gegenüber dem Focus noch weiter aus: »Mit Antisemitismus-Vorwürfen, wie sie das Wiesenthal-Zentrum gegen mich erhebt, wird Politik gemacht und versucht, die Öffentlichkeit zu kontrollieren.« (zit. n. o.V. 2013).
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schen antisemitischen Selbstrechtfertigungsarguments vor, mit seinem Agieren selbst für Antisemitismus verantwortlich zu sein: »In der Beschneidungsdebatte sind Sachen aufgebrochen, die erschreckend waren. Aber eben deswegen finde ich, dass Sie mit dieser Debatte, die wir beide jetzt führen, den Antisemiten in die Hände spielen.«11 (ebd.) Die Tragweite dieser beiden von Augstein getätigten antisemitischen Aussagen wird besonders deutlich, wenn wir sie nochmals im Kontext der Gesamtdynamik der Debatte betrachten. Denn hier zeigt sich, wie die zunächst v.a. gegen Israel gerichteten antisemitischen Äußerungen Augsteins sich infolge der Kritik Graumanns (und anderer Akteure zuvor) radikalisierten und nun auch direkt gegen Graumann gewendet wurden. Obwohl mit dem Streitgespräch endgültig deutlich wurde, mit welch unerschütterlicher Überzeugung Augstein seine antisemitischen Äußerungen verteidigte und sich dabei erneut auf antisemitische Konstruktionen stützte, erhielt das Streitgespräch nur wenig mediale Beachtung. Die Gelegenheit einer selbstkritischen Überprüfung der publizierten Positionen, die das SPIEGEL-Streitgespräch den zahlreichen Verteidiger*innen Augsteins eröffnet hatte, wurde nicht genutzt. Stattdessen fand die Debatte vorläufig ein abruptes Ende. Erst zwei Wochen später kehrte das Thema noch einmal zurück in die Medien. Am 31. Januar hielt das SWC in Person von Rabbi Abraham Cooper gemeinsam mit dem Mideast Freedom Forum Berlin (MFFB) eine Pressekonferenz ab, in der Cooper die Kritik an Augstein erneuerte und verschärfte: Angesichts von Augsteins Umgang mit der Kritik sei er nun tatsächlich als Antisemit zu bezeichnen. Das MFFB, auf der Pressekonferenz vertreten von Matthias Küntzel, gab zudem eine Presseerklärung ab (vgl. Mideast Freedom Forum Berlin 2013). Zwar wurde über die Pressekonferenz mit Ausnahme der Süddeutschen Zeitung in allen Medien berichtet, doch blieben die Artikel rein deskriptiv, zumeist wurde lediglich die Agenturmeldung der dpa wiedergegeben. Weder wurde Augstein gegen die erneuerte Kritik verteidigt, noch fand eine kritische Reflexion der vorangegangenen Debatte statt.
11 Bemerkenswert an dieser Äußerung war erneut die Unverbundenheit zweier einander völlig entgegengesetzter Bekundungen: der Empörung über den Antisemitismus in der Beschneidungsdebatte einerseits und des antisemitischen Vorwurfs gegen Graumann andererseits.
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Nach der Debatte Die mediale Debatte um Jakob Augsteins Antisemitismus war somit im Wesentlichen bereits nach weniger als zwei Wochen beendet, die deutschen Medien kehrten schnell wieder zum business as usual zurück. Dasselbe gilt von Augstein, der aus der Debatte nahezu unbeschadet hervorgegangen zu sein schien, – ein Eindruck, der sich auch aus mehreren Jahren Abstand bestätigt. Augsteins Popularität ist unverändert groß oder womöglich noch gestiegen, er ist ein beliebter Talkshowgast, konnte die Auflage seiner Wochenzeitung Der Freitag12 in den letzten Jahren steigern (vgl. Der Freitag 2019), er ist als Buchautor erfolgreich und stieg in den Intellektuellen-Rankings des Cicero-Magazins in die Top 50 auf. (vgl. o.V. 2019: 18) Auf der Social-Media-Plattform Twitter zählt sein Account mehr als 250.000 Follower.13 Am Beispiel Augsteins erweist sich somit die Behauptung, dass, wen der Vorwurf des Antisemitismus trifft, öffentlich erledigt sei, in aller Deutlichkeit als falsch. Nur in einem kleinen Teil der medialen Öffentlichkeit wurden Augsteins Äußerungen seit der Debatte weiterhin kritisch beobachtet – überwiegend sind es jene Medien und Akteur*innen, die auch schon vor der Debatte auf Augsteins Antisemitismus hingewiesen hatten.14 Auch das SWC behielt Augstein im Blick: 2014 setzte es ihn noch einmal auf die TTAS-Liste, diesmal allerdings nur in Form einer »dishonorable mention« (Simon Wiesenthal Center 2015: 6). Weder diese Erwähnung noch andere Kritik an Augstein löste jedoch eine erneute Debatte aus – der ‚Fall Augstein‘ schien für den Großteil der Medien abgeschlossen zu sein. Dabei lieferte Augstein für eine fortgesetzt kritische Beobachtung durchaus Anlass. Nach einer anderthalbjährigen ‚Abstinenz‘ nahm er seine
12 An dieser Entwicklung änderte auch Augsteins stark umstrittene Ernennung Jürgen Todenhöfers zum Herausgeber im Dezember 2016 nichts. Der ehemalige CDU-Politiker, der bereits nach einem Jahr von seiner Funktion zurücktrat, war zuvor durch antiamerikanische und antisemitische Äußerungen aufgefallen – so hatte er etwa Israel als »Herrenvolk« bezeichnet. Aus Kritik an seiner Ernennung verließen mehrere Redakteur*innen und freie Mitarbeiter*innen den Freitag (Weissenburger 2017). 13 Die Bedeutung von Twitter als Kommunikationskanal Augsteins dürfte sich auch dadurch noch erhöhen, dass er seine Spiegel-Kolumne sowohl online als auch im Print im Oktober 2018 fürs Erste eingestellt hat (Augstein 2018a). 14 Insbesondere die Zeitungen Welt, Jungle World und (mit Einschränkungen) taz, das (mittlerweile) rechte Blog Achse des Guten, die Zeitschriften Titanic und Konkret, die Amadeu-Antonio-Stiftung sowie der Politiker Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen.
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Beschäftigung mit Israel im Sommer 2014 wieder auf. Die Motive seiner ‚Israelkritik‘ blieben dabei in vielerlei Hinsicht dieselben, teilweise bis in die Formulierungen hinein. Ein besonders häufiges Motiv war die Gleichsetzung der israelischen Politik mit dem Islamismus15 oder mit rechten, autoritären und sogar völkischen Regierungen und Bewegungen. Israel galt Augstein als Vorläufer und Blaupause des Aufstiegs rechter Parteien in Europa und den USA – eine Tendenz, die er als »Israelisierung der Welt« (Augstein 2017b) bezeichnete. Mit Verweis auf die Nähe zu Israel, die Teile der europäischen Rechten für sich reklamieren, stellte er in Abrede, dass der Antisemitismus der ideologische Kern auch der Neuen Rechten ist. Auf Grundlage dieser systematischen Eskamotierung des Antisemitismus setzte Augstein die Regierung Netanjahu mit der AfD gleich (»So rechts wie die deutschen Rechtspopulisten ist die Regierung von Benjamin Netanyahu allemal.« (Augstein 2015)) und erklärte Netanjahu in einem Atemzug mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu einem völkischen Ideologen: Beide eine »die Verachtung für Muslime und die rechtspopulistische Sehnsucht nach der reinen Volksnation«, schrieb Augstein bei Twitter (Augstein 2018c) und delegitimierte damit den Zionismus als völkisches Projekt – als sei dieser nicht (auch) Konsequenz, sondern Ausdruck der völkischen Blut-und-Boden-Ideologie. Die Grenze von der Delegitimierung zur Dämonisierung überschritt Augstein schließlich mit seiner Kolumne »Grass hatte recht« vom Mai 2018. Augstein erwähnte Netanjahu darin neben dem iranischen Mullah Ahmad Khatami und dem US-Milliardär Sheldon Adelson und charakterisiert alle drei folgendermaßen: »Solche Leute leben in der Logik des Konflikts. Da drüben steht der Feind, und der Feind muss vernichtet werden« (Augstein 2018b). Selbst eine derartige Äußerung löste nun jedoch keinerlei öffentliche Kritik aus. Zugleich äußerte sich Augstein regelmäßig zum Thema Antisemitismus. In einer Kolumne, die auf einen brutalen Angriff auf einen Kippa-tragenden Mann in Berlin Bezug nimmt, wird dessen eindeutig antisemitischer Charakter relativiert: »Den genauen Grund des Angriffs kennt man nicht. War der Angreifer ein rassistischer Antisemit, der Juden hasst, weil sie Juden sind? Oder galt die Wut, die sich da Bahn brach, dem Nahostkonflikt, dem Schicksal der Palästinenser, der israelischen Besatzungspolitik?« (Augstein 2018e). Während er Antisemitismus derart relativierte, erklärte Augstein »Muslimfeindlichkeit« zu »Deutschlands neue[m] Anti-se-
15 So schrieb Augstein etwa: »Wir beklagen den Fundamentalismus des Islam – aber in Gestalt von Trump und Netanyahu hat der Westen seine eigenen Fundamentalisten […]« (Augstein 2017b).
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mitismus« (Augstein 2016a). Diese habe »den Antisemitismus längst als gefährlichsten Rassismus abgelöst« (ebd.) oder gar vollständig ersetzt: »Der ‚Andere‘, das war früher der Jude. Heute ist es der Muslim« (Augstein 2016b). Diese Behauptung, nämlich dass Antisemitismus im Wesentlichen ein Phänomen der Vergangenheit sei, will Augstein mit den Ergebnissen des im April 2017 vorgelegten Berichts des von der Bundesregierung eingesetzten »Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus« (UEA) belegen, der ihm zufolge »zeigt, dass der klassische Antisemitismus in Deutschland zurückgeht« (Augstein 2017c).16 Das ebenfalls im Antisemitismusbericht festgehaltene Ergebnis, dass sich bei etwa vierzig Prozent der Deutschen israelbezogener Antisemitismus finde, muss Augstein daher vehement anzweifeln: »Die Zahl ist so hoch, dass man sich fragen muss, mit welchen begrifflichen Kriterien da operiert wird« (Augstein 2017), schreibt er, und beklagt: »Der Definitionsrahmen wurde derart erweitert, dass der Begriff Antisemitismus seine Bedeutung weitgehend verloren hat.« (Augstein 2017a) Augstein maßt sich hier nicht nur an, über den aktuellen Antisemitismus besser urteilen zu können als ein aus Antisemitismusforscher*innen gebildeter Expert*innenkreis, sondern er interveniert damit als selbsternannter Experte in die Kontroverse um die Bestimmung des antiisraelischen Antisemitismus.17 Diese Selbstinszenierung ist zwar nichts Neues, neu ist jedoch das Ausmaß ihres Erfolgs: Vermehrt ist Augstein als Experte auf Podien und Diskussionsveranstaltungen zum Thema Antisemitismus vertreten, so etwa im Januar 2018, als er sich an der Volksbühne Berlin mit Armin Langer über die Frage »Was tun gegen Antisemitismus?« unterhielt, und im Oktober 2018, als er als Podiumsgast an einer Vorstellung von Oliver Polaks Buch Gegen Judenhass teilnahm. Dass ausgerechnet jemandem, der sich selbst wiederholt antisemitisch geäußert und keinerlei Fähigkeit zur Selbstreflexion gezeigt hat, Autorität hinsichtlich der Bestimmung des Antisemitismus zugesprochen wird, ist eine besonders bestürzende Feststellung im Rückblick auf die Debatte – zumal anzunehmen ist, dass Augs-
16 In den rechten und völkischen Bewegungen um AfD und Pegida spielt Antisemitismus Augstein zufolge keine Rolle mehr. So kommentiert er ein Zitat des Journalisten Volker Zastrow, dem zufolge der Antisemitismus Kohäsionsmittel und »Kraftquelle« der völkischen Bewegung sei, lapidar: »Aber das ist Vergangenheit« (Augstein 2015). 17 Augsteins Selbstbild als Experte äußert sich auch in einem Tweet, in dem er den Leiter der Bildungsstätte Anne Frank auffordert, ihn zu einem Gespräch einzuladen, denn mit »echte[m] und ausgedachte[m] Antisemitismus« kenne er sich »inzwischen – notgedrungen – aus« (Augstein 2018d).
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tein dieser Expertenstatus nicht trotz, sondern wegen der damaligen Debatte zugesprochen wird. Die etablierte Antisemitismusforschung ist daran nicht unbeteiligt. Nicht nur während der Debatte, sondern auch danach verteidigten einige Antisemitismusforscher*innen Augstein weiterhin gegen Kritik, u.a. Micha Brumlik und Juliane Wetzel (vgl. Betzler/Glittenberg 2015: 273ff.). Der Bericht des UEA thematisiert die Auseinandersetzung um Augstein zwar ausführlich (vgl. Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017: 257ff.), betont jedoch, dass der Expertenkreis aufgrund von »Bewertungsdifferenzen« in dieser Frage keine Einigkeit erzielt habe (ebd., 265). Doch gibt es auch eine andere Tendenz: In zahlreichen jüngeren Publikationen wird der ‚Fall Augstein‘ als Beispiel eines gebildeten, öffentlich weitestgehend anerkannten Antisemitismus oder sogar als »milestone in Germany’s slowly changing public discourse on Jews and Israel« (Grimm 2019: 371) betrachtet.18 Die Augstein-Debatte hat gezeigt, dass der antiisraelische Antisemitismus zur zentralen antisemitischen Artikulationsform im deutschen Mediendiskurs geworden ist und sich im gleichen Zuge zunehmend normalisiert hat.19 Augstein kann als Ausdruck und zugleich Wegbereiter dieser Entwicklung gelten, da er demonstriert hat, dass antisemitische Äußerungen in dieser Form für ihre Urheber keine negativen Konsequenzen haben. Für die von Antisemitismus Betroffenen hingegen gilt das nicht. Die Zahl antisemitischer Straftaten steigt, die subjektive und objektive Unsicherheit von Jüdinnen und Juden in Deutschland nimmt zu (vgl. FRA 2018). Dazu tragen nicht nur diejenigen bei, die israelische Flaggen verbrennen, antisemitische Demo-Parolen rufen und Jüdinnen und Juden auf der Straße beleidigen oder angreifen, sondern auch all jene anerkannten und mit Deutungsmacht ausgestatteten Teilnehmer*innen des Mediendiskurses, die antisemitische Stereotype und den Hass auf Israel gesellschaftsfähig machen – und eine Öffentlichkeit, die dies nicht vehement zurückweist.
18 Vgl. u.a. Grimm/Kahmann 2018; Rensmann 2016; Becker/Giesel 2016; Küntzel 2015; Glöckner 2015 und Schoeps 2014. Julius H. Schoeps, der Augstein im Januar 2013 noch in einem Tagesthemen-Beitrag verteidigt hatte, nahm hier eine partielle Revision seines Urteils vor und bemerkte die Nähe von Augsteins Äußerungen zu Ideen einer »‚Jewish World Conspiracy‘ that we can read about in the ‚Protocols of the Elders of Zion‘« (Schoeps 2014: 304). 19 Die breite öffentliche Zustimmung, die Augstein erfahren hat, verdeutlicht, dass dieser Befund sich nicht auf ein bestimmtes politisches Spektrum beschränken lässt.
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Roger Waters, das Schwein und BDS. Antisemitische Argumentationsmuster in der Boykottkampagne gegen Israel Kirsten Dierolf
Das ehemalige Mitglied von Pink Floyd, Roger Waters, überzeugt bei seinen Konzerten mit eindrucksvollen, opulenten Bühnenspektakeln. Seit Mai 2017 ist er mit seiner Show »Us + Them« auf Welttournee. Rund 1,5 Millionen Menschen werden am Tourende ein Konzert von Roger Waters besucht haben. Doch bei seinen Konzerten bleibt es nicht bei rein musikalischer Unterhaltung, denn Waters nutzt die Bühnenpräsenz für die Verbreitung seiner politischen Agenda. In teilweise bizarren Wutreden echauffiert sich Waters über das Böse der Welt – über Kriege, Hungersnöte und Ausbeutung, aber auch über Großkonzerne wie Shell oder McDonald‘s, über Donald Trump und, mit ganz besonderem Engagement, über den Staat Israel. Denn Waters ist einer der prominentesten Fürsprecher der weltweit agierenden BDS-Kampagne, die sich für Boykott, Deinvestitionen (Investitionsabzug) und Sanktionen gegen den Staat Israel einsetzt. So lässt Waters kaum eine Gelegenheit verstreichen, auch außerhalb der Konzerthallen für BDS zu werben. Er fungiert innerhalb der BDS-Kampagne als Idol, insbesondere im Bereich des kulturellen Boykotts. Die Kampagne setzte Künstler_innen wie Nick Cave, Thom Yorke oder Lana Del Rey unter Druck, nicht in Israel aufzutreten. Während sowohl Thom Yorke als auch Nick Cave gerade wegen BDS in Israel auftraten, verkündete Lana Del Rey via Twitter die Absage ihres Konzerts in Tel Aviv. Die BDS-Kampagne sieht sich in der Tradition der Anti-Apartheid-Bewegung Südafrikas und möchte mit ihren Boykottaktionen im wirtschaftlichen, kulturellen und akademischen Bereich erreichen, dass Israel solange unter Druck gesetzt wird, bis es die »Besatzung arabischen Landes« (Call for BDS 2005) beendet, den Palästinenser_innen ihr »Selbstbestimmungsrecht« (ebd.) zugesteht sowie das »Rückkehrrecht« (ebd.) palästinensisch-arabischer Flüchtlinge nach Israel ermöglicht. Diese Forderungen klingen vordergründig gewaltfrei, doch wird sich zeigen, dass sich hinter BDS nichts anderes verbirgt als eine antisemitische Hetzkampagne gegen den jüdischen Staat. Dieser Beitrag möchte sich kritisch mit der BDS-Kampagne auseinandersetzen und ihre Wirkungsweise anhand einer ihrer prominentesten Ga427
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lionsfiguren, Roger Waters, exemplarisch aufzeigen. Anhand der Arbeitsdefinition Antisemitismus der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) werden ausgewählte Ereignisse, Reden, Interviews und sonstige Statements des Musikers analysiert, um zu zeigen, dass die politische Agitation, die Waters im Namen des BDS vollzieht, nicht eine Kritik an der Politik des Staates Israel oder eine solidarische Unterstützung der Palästinenser_innen darstellt, sondern in den meisten Fällen als manifester israelbezogener Antisemitismus bezeichnet werden muss. Kritik des Antisemitismus Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, bezeichnete BDS im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen als »antisemitische Strömung, die mit ihren Boykott-Forderungen gegenüber Israel mit Argumentationsmustern aus der Nazi-Zeit agiert, die schlichtweg unerträglich sind« (Engel 2018). Mit dieser Einschätzung ist er nicht allein, denn die Kritik des Antisemitismus an der BDS-Kampagne wurde vermehrt öffentlich geäußert (vgl. Salzborn 2013): Der WDR beendete die Zusammenarbeit mit Roger Waters und reagierte damit auf eine Petition der Kölnerin Malca Goldstein-Wolf, die sein Engagement für die BDS-Kampagne als antisemitisch kritisierte (vgl. Hanfeld 2017). Auch haben die Städte München, Berlin und Frankfurt a.M. beschlossen, für Veranstaltungen der jeweiligen BDS-Ortsgruppen keine städtischen Räume mehr zur Verfügung zu stellen (vgl. Schindler 2017). Vertreter_innen der BDS-Kampagne, wie Roger Waters, fühlen sich meist völlig zu Unrecht mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert. So äußerte sich Waters in einem offenen Brief auf Facebook: »JEW-HATING? [Hervorhebung im Original] I have many very close Jewish friends, one of whom, interestingly enough, is the nephew of the late Simon Wiesenthal. I am proud of that association; Simon Wiesenthal was a great man. Also I have two grandsons who, I love more than life itself, their Mother, my daughter in law, is Jewish and so, in consequence, I’m told, are they. […] NAZI? [Hervorhebung im Original] Not only did my father, 2nd Lieutenant Eric Fletcher Waters, die in Italy on February 18th 1944 fighting the Nazis, but I was brought up in post war England where I received the most thorough education on the subject of Nazism and where I was spared no horrific detail of the heinous crimes committed in the name of that most foul ideology. I remember my mother’s friends Claudette and Maria, I re428
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member their tattoos, they where survivors, two of the lucky ones. […]«. (Waters 2013) Waters hält es also folglich mit der Floskel »Einige meiner Freunde sind Juden«, um sich vom Vorwurf des Antisemitismus freizusprechen und seine Handlungen und Aktionen zu legitimieren. Auch sein Vater, der im Zweiten Weltkrieg gegen die Nazis kämpfte, dient ihm in dieser Angelegenheit perfekt als Feigenblatt. In ähnlichem Jargon verteidigt Waters auch sein Engagement für die BDS-Kampagne: »I have often come under attack by the pro Israel lobby because of my support for BDS (Boycott, Desinvestment, Sanctions) which I won’t go into here […]. To peacefully protest against Israel’s racist domestic and foreign policies is NOT ANTI-SEMITIC [Hervorhebung im Original]. « (ebd.) Denn er betrachtet »the State of Israel [as] a state that operates Apartheid both within its own borders and also in the territories it has occupied and colonized since 1967« (ebd.). Unter dem Deckmantel der »Israelkritik« behauptet Waters, er habe mit Antisemitismus nichts zu tun. Gleichzeitig ereifert er sich über eine mächtige »Israel-Lobby«, die jede Kritik am Staat unter einen generellen Antisemitismusverdacht stelle und somit Denkverbote auferlegen würde. Allein dies impliziert schon das alte antisemitische Stereotyp der Juden, die die Geschicke der Welt in ihren Fingern hielten und die Menschheit manipulierten (vgl. Piper 1995). Also alles nur legitime Kritik an einem Staat, die jeden anderen Staat genauso treffen könnte? »Israelkritik«, Antizionismus, Antisemitismus Die Abwehr der Kritik des Antisemitismus gehört nach der Zäsur der Shoah zum guten Ton. Es möchte niemand mehr Antisemit_in sein. Doch das antisemitische Ressentiment ist nicht verschwunden, sondern sucht sich neue Wege der Artikulation. Gerade der Antizionismus gewinnt in diesem Zusammenhang an Attraktivität. Ein beliebtes Argument lautet, man sei nicht antisemitisch, sondern kritisiere lediglich Israel und sei auf der Seite von Humanität und Menschenrechte. Man habe nichts gegen Juden und Jüdinnen, sondern nur gegen den Staat Israel mit seiner angeblich rassistischen Politik. Rückenwind hierfür gibt die (völkerrechtlich unverbindliche) Resolution 3379 der UN-Generalversammlung, die Zionismus als Form des Rassismus anprangerte und den Staat Israel in eine Reihe 429
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mit dem Südafrika der Apartheid stellte.1 Zwar wurde diese Resolution 1991 zurückgenommen, ihr Inhalt hält sich jedoch wacker (vgl. Israel Ministry of Foreign Affairs 1991). Und um sich letztendlich moralisch abzusichern und den »Koscher-Stempel« zu erhalten, werden jüdische Kronzeug_innen herangezogen, was beispielsweise bei den jährlichen Demonstrationen zum antisemitischen Al-Quds-Marsch oder auch bei Roger Waters Verweis auf seine jüdischen Verwandten und Freund_innen deutlich wird. Die Unterscheidung, ob eine Kritik an der Politik Israels nun antisemitisch sei oder nicht, wird oft als »schmaler Grat« oder als »schwieriges Unterfangen« bezeichnet. Daher wird sogar häufig gefragt: »Dürfen wir – gerade als Deutsche – Israel kritisieren? Und wenn ja, wieviel?« (Kloke 2015: 157). Natürlich dürfen konkrete Entscheidungen und Handlungen israelischer Politiker_innen kritisiert werden. Dies ist als Ausdruck einer aktiven Partizipation am politischen Prozess zu fördern, denn kritische Teilnahme am politischen Leben ist einer der wichtigsten Stützpfeiler einer Demokratie. Und gerade in Israel floriert in den Medien die kontroverse Debatte (vgl. ebd.). Die von sogenannten Israelkritiker_innen oft vorgebrachte Feststellung, Kritik am Staat Israel sei nicht erlaubt, widerspricht nicht nur den Tatsachen, sondern impliziert bereits die Vorstellung eines Kritik-Tabus, das jegliche Äußerungen über den jüdischen Staat unter einen antisemitischen Generalverdacht stelle (vgl. ebd.). Und dieser Vorwurf wird meist nur dann erhoben, wenn sich hinter der vermeintlichen Kritik antisemitische Ressentiments verschanzen (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 197). Es gab noch nie ein Kritikverbot am Staat Israel. Der jüdische Staat steht »wie kein Staat der Welt so unverhältnismäßig oft und heftig« in der Kritik (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 198). Medial kam es in den letzten Jahren jedoch vermehrt zu Aussagen, die ein derart negatives Bild von Israel zeichneten, dass sie eine legitime Kritik bei weitem überschritten. Israel werden »Nazi-Methoden« (ebd.: 194) vorgeworfen, es wird als »rassistischer Apartheidstaat« (ebd.) bezeichnet, betreibe »Staatsterror wie im Dritten Reich« (ebd.) oder sei ein »terroristisches Unrechtsregime« (ebd.). Dies ist keine Kritik, sondern manifester israelbezogener Antisemitismus. Denn wenn »Israel als Projektionsfläche für antisemitische Ressentiments dient und tradierte antijüdische Stereotype und Argumente benutzt werden, um
1 Siehe hierzu auch die eindrückliche Darstellung zum Verhältnis der UNO mit Israel: Feuerherdt, Alex / Markl, Florian (2018): Vereinte Nationen gegen Israel. Wie die UNO den jüdischen Staat delegitimiert.
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den Staat Israel generell zu diskreditieren, wenn seine jüdischen Bürger kollektiv dämonisiert werden und seine Existenzberechtigung als jüdischer Staat in Frage gestellt wird, wenn ein irreales Feindbild von Israel konstruiert wird, dann liegt keine Israel-Kritik vor, sondern verbaler Antisemitismus in der Formvariante des Anti-Israelismus.« (ebd.: 199). Antisemitismus benennen Die Leitlinien, wonach Aussagen systematisch auf Antisemitismus überprüft werden können, sind keineswegs schwammig oder interpretationsbedürftig. Die Arbeitsdefinition der IHRA legt Merkmale des Antisemitismus klar und transparent fest. Demnach ist »Antisemitismus […] eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und / oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.« (IHRA 2016) Antizionistischen oder israelbezogenen Antisemitismus hat die IHRA mit folgenden fünf Punkte charakterisiert: • »Das Abstreiten des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen. • Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet und verlangt wird. • Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben. • Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten. • Das Bestreben, alle Juden kollektiv für Handlungen des Staates Israel verantwortlich zu machen.« (ebd.)
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Praxistauglich gemacht wird diese Definition in Form der sogenannten 3Ds: 1. Dämonisierung: Aussagen müssen als antisemitisch bewertet werden, wenn schlichtweg alles Unheil auf den Staat Israel projiziert wird, wenn folglich der Staat oder seine Bürger_innen als Inbegriff des Bösen betrachtet werden (vgl. Sharansky 2004: 6). 2. Doppelstandards: Aussagen müssen als antisemitisch bezeichnet werden, wenn konkrete Handlungen des Staates Israels mit doppelten, strengeren Maßstäben gemessen und bewertet werden als Handlungen anderer Staaten. (vgl. Salzborn 2013: 10). 3. Delegitimierung: Aussagen müssen als antisemitisch eingestuft werden, wenn deren Inhalt das Existenzrecht Israels diskutiert und in Abrede stellt, wenn beispielsweise der Staat Israel als rassistischer Apartheidstaat bezeichnet wird. (vgl. ebd.). Betrachtet man die Argumentationen und Forderungen der BDS-Kampagne mit dieser Definition dann wird schnell deutlich, dass die Bewegung als nichts anderes bezeichnet werden muss als eine antisemitische Hetzkampagne gegen Israel. Die 3 Ds lassen sich in Roger Waters Aussagen geradezu paradigmatisch aufzeigen, wie sich später zeigen wird. BDS – Antisemitismus unter dem Deckmantel der Kritik Die BDS-Kampagne wurde 2005 von 171 vorwiegend palästinensischen Organisationen ins Leben gerufen.2 Es sollte ein zentraler Verband entstehen, der die zahlreichen dezentralen Boykottbewegungen und Einzelpersonen unter dem Label »BDS« vereinigt. Im »Call for BDS«, dem Gründungsaufruf der Kampagne, werden ihre Leitlinien und Forderungen festgehalten. Mit dieser Schrift soll Israel gezwungen werden, »den Konventionen des Humanitären Rechts genüge zu leisten, die grundlegenden Menschenrechte anzuerkennen und die Besatzung und Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung zu beenden.« (Call for BDS 2005). Alle »rechtschaffenen (sic!) Menschen auf der ganzen Welt« (ebd.) werden dazu aufgerufen, »weitgreifend Boykott and Investiti2 Die Gründung der Kampagne darf nicht als Startschuss für eine antiisraelische Boykottbewegung verstanden werden. Die Wurzeln des arabischen Boykotts gegen Israel reichen weit vor dessen Staatsgründung von 1948 zurück. Regelmäßige Boykottaufrufe gegen die ersten jüdischen Einwander_innen gab es seit den 1890er Jahren (vgl. Becker 2016).
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onsentzug gegen Israel durchzusetzen, ähnlich der Maßnahmen gegen Südafrika während der Apartheid.« (ebd.). Dieser Aufruf richtet sich auch an »gewissenhafte Israelis« (ebd.), die sich dem Kampf für »echten Frieden« (ebd.) anschließen dürfen. Es werden so lange »gewaltlose Strafmaßnahmen« (ebd.) gegen den jüdischen Staat gefordert, bis Israel »1. [d]ie Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes beendet und die Mauer abreißt; 2. Das Grundrecht der arabisch-palästinensischen BürgerInnen Israels auf völlige Gleichheit anerkennt; und 3. Die Rechte der palästinensischen Flüchtlingen, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, wie es in der UN Resolution 194 vereinbart wurde, respektiert, schützt und fördert.« (ebd.) Mit zahlreichen Einzelkampagnen verschiedener lokaler BDS-Gruppen wird der Boykott Israels weltweit organisiert. Vergangene Aktionen richteten sich beispielsweise gegen SodaStream (vgl. BDS-Kampagne gegen SodaStream 2011), Hewlett Packard (vgl. BDS-Kampagne gegen Hewlett Packard 2018) oder den Eurovision Songcontest (vgl. BDS-Kampagne gegen den ESC 2018), der 2019 in Israel ausgerichtet wird. Die »Israeli Apartheid Week« ist darunter die einzig regelmäßig stattfindende Veranstaltungsreihe, die jährlich und weltweit organisiert wird und die darauf abzielt, mittels Demonstrationen, Diskussionsabenden und Filmvorführungen öffentliche Unterstützung für die BDS-Kampagne zu generieren. Apartheidstaat Israel? Der Hauptbezugspunkt der BDS-Kampagne ist ihre Referenz auf den Kampf der Südafrikaner_innen gegen das damalige Apartheidregime von 1948–89. Indem sie Israel unterstellt, ein ebenso rassistischer Apartheidstaat zu sein, der auf Unrecht gegründet worden ist und dabei sogar »ethnische Säuberungen« der Palästinenser_innen betrieben hätte, dämonisiert sie Israel und zielt auf dessen Delegitimation und damit auf die Abschaffung des jüdischen Staates. Diese Behauptung entbehrt jeglicher Faktenlage. Nach der Staatsgründung Israels 1948, die keineswegs auf »ethnischen Säuberungen« der palästinensischen Bevölkerung beruhte, sondern größtenteils durch völlig geordnete Landverkäufe von Arabern an Juden erfolgte (vgl. Salzborn 2013: 12), wurde denjenigen Araber_innen, die in Israel bleiben wollten, die israelische Staatsbürgerschaft gegeben. So leben heute rund 1,7 Millionen arabische Israelis im jüdischen Staat. Diese haben die gleichen Bürgerrechte wie jüdische Israelis: Sie haben Zugang zur Politik, zum Arbeitsmarkt, zur Bildung (vgl. Babbin/London 2014: 20). Natürlich 433
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kommt es in Israel auch zu Diskriminierung und Ungleichbehandlung der arabischen Bevölkerung. Dies ist zu kritisieren und sollte, wie in einem Rechtsstaat üblich, unterbunden werden. Dennoch geschieht dies in Israel nicht wie in einem Apartheidregime per Gesetz, sondern durch individuelle Handlungen von Einzelpersonen oder Institutionen. Israel ist eine Demokratie mit funktionierendem Rechts- und Sozialstaat wie sie im Nahen Osten ihresgleichen vergeblich sucht. Jede_r Bürger_in Israels, egal welcher Hautfarbe, welchen Geschlechts, welcher religiösen Zugehörigkeit oder Herkunft, hat dieselben einklagbaren Rechte. Es gibt bisher zudem kein Urteil des Internationalen Gerichtshofes, das Israel der Apartheidpolitik schuldig spricht (vgl. Klitz / Klein-Zirbes 2015: 16). Alles für das Wohl der Palästinenser_innen? Auch die Behauptung, der BDS-Kampagne ginge es um die Einhaltung der Menschenrechte und um das Wohl der palästinensischen Bevölkerung, lässt sich bei genauem Hinsehen kaum halten. Was vordergründig danach klingt, wird geradezu ins Gegenteil verkehrt: Die Firma SodaStream, die seit Jahren eine Erfolgsgeschichte der Zusammenarbeit von Palästinenser_innen und Israelis vorzeigen konnte, zog ihren Firmensitz vom Westjordanland in die Wüste Negev ab. Diesem Umzug der Produktionsstätte gingen mehrjährige Boykottaktionen von BDS voraus. Dadurch verloren rund 500 Palästinenser_innen ihre Arbeit (vgl. ebd.: 13). Durch die Boykottaufrufe gefährdet BDS Arbeitsplätze von rund 126.000 palästinensischen Angestellten (Stand Ende 2017), die in Israel oder israelischen Siedlungen tätig sind (vgl. ebd.). Diese verdienen fast das Doppelte (im Vergleich zum Durchschnittsgehalt im Westjordanland) oder sogar das Vierfache (im Vergleich zum Durchschnittsgehalt im Gazastreifen), wie Zahlen des Palestinian Central Bureau of Statistics zeigen (vgl. Palestinian Central Bureau of Statistics 2017). Auch bleiben in der BDS-Kampagne die Solidaritätsbekundungen aus, wenn es um die katastrophalen Bedingungen von Palästinenser_innen in arabischen Flüchtlingslagern geht, denen bis heute die Staatsbürgerschaft der jeweiligen arabischen Staaten verweigert wird und die somit ein inhumanes Dasein in überfüllten Lagern ohne Aussicht auf Besserung fristen müssen. Ein lautes Schweigen herrscht auch im Falle der rund 4.000 Palästinenser_innen, die seit Kriegsausbruch im Jahr 2011 in Syrien gefoltert, ermordet und vermisst werden. Lieber wirft man Israel so genanntes Pinkwashing vor, als dass zu weltweiten Protestaktionen gegen die Erhängungen, gegen das Auspeitschen oder das öffentliche Erschießen von Homosexuellen im Gazastreifen aufgerufen wird. All das of434
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fenbart den eindeutigen Charakter der BDS-Kampagne, denen die Palästinenser_innen lediglich als Druckmittel zum Zweck dienlich sind, um das Ansehen Israels in der Welt zu diffamieren. Bei jeder militärischen Eskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts wird die Alleinschuld dem jüdischen Staat gegeben und dabei sowohl eine klassische Täter-Opfer-Umkehr vollzogen, als auch Israel dämonisiert. Denn nicht Israel spricht Vernichtungsdrohungen gegen die Palästinenser_innen aus, sondern es sind vielmehr Palästinenserorganisationen wie die PFLP oder die islamistische Hamas, die Israels Existenz beendet sehen wollen. Wenn aber aus dem Gazastreifen Raketen auf Israel gefeuert werden und Israel sich verteidigt, werden ihm Kriegsverbrechen und aggressives Handeln vorgeworfen. Jedem anderen Staat würde man das Recht auf Selbstverteidigung zugestehen – doch Israel nicht. Während Forderungen nach dem Abbau der israelischen Grenzbefestigungen und Schutzanlagen zum festen Repertoire der BDS-Kampagne gehört und auch Roger Waters regelmäßig zum Abriss der »Mauer« aufruft (vgl. Waters 2011), misst die Kampagne hier auch mit doppelten Standards: Denn Terrororganisationen wie die palästinensische Hamas werden nicht aufgefordert, ihre Selbstmordattentate oder Messerattacken zu stoppen. Solche menschen- und freiheitsverachtenden Taten werden sogar als Widerstand gegenüber den Israelis verharmlost. Stattdessen wird Israel zum alleinigen Aggressor gemacht, der durch seine Schutzanlagen und militärischen Aktionen das Recht auf Selbstverteidigung umsetzt und somit für die körperliche Unversehrtheit all seiner Bürger_innen zu sorgen versucht. Mit ihren Boykottaktionen möchte BDS das so genannte Rückkehrrecht »aller palästinensischen Flüchtlinge […] wie es in der UN Resolution 194 vereinbart wurde« (Call for BDS 2005), erzwingen. Der palästinensische Flüchtlingsstatus ist der einzige Flüchtlingsstatus, der über Generationen weitervererbt wird. So hat sich die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge von anfangs zirka 700.000 auf mittlerweile zirka fünf Millionen erhöht (vgl. Feuerherdt 2016: 7). Eine »Rückkehr« dieser Menschen nach Israel – in ein Land, in dem der Großteil noch nie gelebt hat und folglich auch nicht von dort geflohen ist – würde die Jüdinnen und Juden zu einer Minderheit im eigenen Staat machen, was den Charakter des jüdischen Staates und damit den Staat selbst auslöschen würde. Wieviel Land BDS für »kolonisiert und besetzt« hält, wird bewusst offengelassen.
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Friedlicher, zivilgesellschaftlicher Protest? Gerade die Forderung nach dem »Rückkehrrecht« scheint den gewaltfreien Charakter der Kampagne zu unterstreichen. BDS sei eine rein von der palästinensischen Zivilgesellschaft getragene Bewegung, die sich von Gewalt distanziere. Doch es wird schnell ersichtlich, dass dies nicht immer der Fall ist. 2007 wurde das BDS National Committee (BNC) gegründet, das als richtungsgebende Institution innerhalb der Kampagne zu betrachten ist. Es ist dafür verantwortlich, Strategien und Aktionsprogramme auszuarbeiten, es hilft bei der Vernetzung und Koordination der verschiedenen BDSGruppen, vermittelt Rechtsunterstützung im Bedarfsfall und betreibt Lobbyarbeit bei politischen Entscheidungsträger_innen. Im BNC sind jedoch auch die »Palestinian National and Islamic Forces« vertreten – ein Zusammenschluss palästinensischer Parteien und Vereine, in dem auch ganz unverhohlen antisemitische Terrororganisationen wie die Hamas, die PFLP oder der islamische Dschihad vertreten sind (vgl. ebd.). Die BDS-Kampagne distanziert sich nicht von diesen Terrororganisationen und bleibt daher anschlussfähig für die gewalttätige, islamistische Ideologie. Auch der größte BDS-Verband Deutschlands, BDS Berlin, kooperiert mit Organisationen wie F.O.R. Palestine – dabei steht die Abkürzung für »For One State and Return«. Die Organisation fordert in ihrem Kampf eine »Entkolonisierung und Entzionisierung Palästinas« (F.O.R. Palestine 2016) die Rückgabe des »ganzen historischen Palästinas« (ebd.) und lehnt somit eine Existenz des jüdischen Staates rigoros ab. F.O.R. Palestine bezieht sich auf ihrer Website positiv auf die BDS-Kampagne und betont aber gleichzeitig, dass es nicht der einzige Weg sei »gegen die zionistische Besatzung Widerstand zu leisten, und alle anderen Mittel legitim sind und unsere Solidarität haben« (ebd.) – was nichts anderes heißt als sich auch mit den terroristischen Aktionen der Hamas zu solidarisieren. Anstatt sich von solchen Gruppen zu differenzieren, freut man sich über die gegenseitige Unterstützung beispielsweise im Rahmen der Israeli Apartheid Week 2016 in Berlin (vgl. BDS Berlin 2016). Boykottaufruf in nationalsozialistischer Manier? Mit ihren Boykottaufrufen stellt sich die BDS-Kampagne in direkte Tradition des nationalsozialistischen »Kauft nicht beim Juden!« – nur übertragen auf Israel (vgl. Salzborn 2013: 12). Diese NS-Analogie wird dann überdeutlich, wenn BDS-Aktivist_innen in SA-Manier mit selbst gemalten 436
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Schildern vor Geschäften stehen und die Kund_innen zu einem Kaufboykott drängen, wie vor der Galeria Kaufhof auf dem Berliner Alexanderplatz regelmäßig stattfindend (vgl. BDS-Kampagne gegen SodaStream bei Galeria Kaufhof Berlin 2015). Der antisemitische Gehalt der Kampagne zeigt sich letztendlich darin, dass alle Israelis »in Kollektivhaftung genommen [werden], ausschließlich aufgrund ihrer vermeintlichen oder realen Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, sie alle werden für etwas abgestraft, was mit ihrer persönlichen Haltung und Person nichts zu tun hat.« (Salzborn 2013: 13). Die Aktionen der BDS-Kampagne richten sich nicht gegen konkrete Handlungen von Personen. Sie bestrafen Individuen für das, was sie sind, und nicht für das, was sie tun, da ihre Boykottaufrufe auf die Schädigung ganz Israels und somit auf alle Israelis, auch auf die arabischen, abzielt (vgl. ebd.: 14). Damit bedient sich die BDS-Kampagne nicht nur des altgedienten und abgeänderten »Kauft nicht beim Juden«, sondern »vollstreckt das Menschen- und Weltbild des Nationalsozialismus« (ebd.). Betrachtet man die Kampagne als das, was sie ist – eine antisemitische Hetzkampagne, mit dem Ziel, Israels Ansehen in der Welt zu schädigen, so verwundert es doch, dass sie so prominente Fürsprecher_innen hat. Die Website BDS Movement wirbt mit zahlreichen berühmten Unterstützer_innen: mit dem südafrikanischen Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu, der Philosophin und Bürgerrechtlerin Angela Davis, der Autorin Naomi Klein, der Autorin des Romans Die Farbe Lila Alice Walker, dem Präsidenten von Bolivien Evo Morales, dem Holocaust-Überlebenden und Autor des Beststellers Empört euch! Stéphane Hessel, dem verstorbenen Physiker Stephen Hawking, der Philosophin Judith Butler und mit Roger Waters. Neben seinem Foto steht: »Where governments refuse to act people must, with whatever peaceful means are their disposal. For me this means … joining the campaign of Boycott, Divestment and Sanctions against Israel.« (vgl. BDS Movement, What is BDS) Wish You Weren’t Here – The Dark Side of Roger Waters (Halperin 2018) Schon mit seiner Tour »The Wall« (2010–2013) konnte Roger Waters unglaubliche Erfolge verzeichnen. Rund vier Millionen Zuschauer_innen verfolgten in 219 Shows ein bild- und tongewaltiges Spektakel. Höhepunkt dieser Tour, wie schon zu Zeiten Pink Floyds, war ein riesiges aufblasbares Schwein, das über die Menge hinwegschwebte. Dieses Schwein war mit verschiedenen Symbolen bemalt, unter anderem mit dem Shell437
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Logo, Dollarzeichen, Hammer und Sichel, dem McDonald’s Zeichen, dem Mercedes-Logo – und einem großen Davidstern. Nach einem Auftritt in Belgien 2013 nannte Rabbi Abraham Cooper vom Simon-Wiesenthal-Center auf der Website der jüdischen Onlinezeitung The Algemeiner die Verwendung des Schweins in Kombination mit dem Davidstern antisemitisch (vgl. Pontz 2013). In einem Offenen Brief verteidigte sich Roger Waters und nannte die Kritik »rasend und bigott« (Waters 2013). Er sei weit davon entfernt, antisemitisch zu sein. Das Schwein, so Waters weiter, »represents evil, and more specifically the evil of errant government. We make a gift of this symbol of repression to the audience at the end of every show and the people do the right thing. They destroy it« (ebd.). Das Symbol des Judentums auf einem Schwein, das das Böse repräsentieren soll, sieht Waters nicht als Problem und schon gar nicht als antisemitisch. Denn: »However I will say this, in a functioning theocracy it is almost inevitable that the symbol of the religion becomes confused with the symbol of the state, in this case the State of Israel, a state that operates Apartheid both within its own borders and also in the territories it has occupied and colonized since 1967. Like it or not, the Star of David represents Israel and its policies and is legitimately subject to any and all forms of non violent protest. To peacefully protest against Israel’s racist domestic and foreign policies is NOT ANTI-SEMITIC.« (ebd.; Hervorhebung im Original) Der Davidstern steht Waters zufolge für den Staat Israel und nicht vordergründig für das Judentum. Daher sei friedlicher Protest gegen Israel, so wie er ihn mit dem Schwein erhebt, nicht antisemitisch. Doch Waters greift damit auf eine altbekannte antisemitische Symbolik zurück. Denn das Schwein, das im Judentum als unrein und nicht-koscher gilt, wurde bereits im Mittelalter als antijüdische Schmähfigur verwendet (vgl. Töllner 2015: 227). Hinzu kommt, dass das Schwein in der christlichen Ikonographie ein Symbol des Teufels darstellt (vgl. ebd.). Davon zeugen noch heute beispielsweise das Relief der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der Predigtkirche Martin Luthers, sowie am Kölner und Regensburger Dom. Indem Waters den jüdischen Staat mit dieser Symbolik brandmarkt, verlässt er die Ebene der sachlichen Kritik an israelischer Politik und begibt sich auf das Feld des Antisemitismus. Denn damit projiziert Waters das Böse ohne jegliche Differenzierung auf den jüdischen Staat, dehumanisiert seine Bewohner_innen und dämonisiert Israel somit als Ganzes.
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Er delegitimiert Israel nicht nur als rassistischen Apartheidstaat, sondern bezeichnet es fast schon nebenbei als Theokratie, also als eine Staatsform, dessen Staatsgewalt allein religiös legimitiert ist und von einer von Gott ernannten Person oder Institution ausgeübt wird. In einer Theokratie gibt es weder eine Trennung von Staat und Religion noch von weltlichem und religiösem Recht. Beispiele hierfür sind die Islamische Republik Iran oder der Staat Vatikanstadt. Diese Staatsform steht im radikalen Gegensatz zum Ideal eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats. Indem er Israel entgegen aller Tatsachen als solchen bezeichnet, spricht er dem jüdischen Staat seine Legitimation als Demokratie ab. Legitimation palästinensischen Terrors Im Rahmen des »International Day of Solidarity with the Palestinian People« am 29. November 2012 in New York durfte Roger Waters vor dem Menschenrechtskomitee der UNO eine Rede halten. Er sprach als Vertreter des »Russel Tribunal on Palestine«, einer privaten NGO, die sich für die Verfolgung vermeintlicher Völkerrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen der Israelis gegenüber den Palästinenser_innen einsetzt. Der Inhalt seiner rund 20-minütigen Rede zielt auf nichts anderes ab als auf die Delegitimierung und Dämonisierung des Staates Israel: »We found that the State of Israel is guilty of a number of international crimes.« (Waters 2012). Er unterstellt Israel im Folgenden, ein Apartheidstaat zu sein, der willkürliche Verhaftungen vornehme und Gesetze erlässt, die »discriminate in the political, social, economic and cultural fields; measures that divide the population along racial lines, and the persecution of those opposed to the system of apartheid« (ebd.). Auch verurteilt er Israel für die vermeintlichen ethnischen Säuberungen während der Staatsgründung. Was jedoch zumindest offiziell über die Forderungen und Unterstellungen der BDS-Kampagne hinausgeht, ist das systematische Rechtfertigen der terroristischen Attacken von Seiten der Hamas auf Israel. Hier formuliert Roger Waters eine Täter-Opfer-Umkehr, die seinesgleichen suchen muss. Die Militärschläge Israels gegen die Hamas betrachtet Waters als »collective punishment of a civilian population« (ebd.), die von Israel seiner Ansicht nach völlig zu Unrecht und vermeintlich unter massiven Menschenrechtsverletzungen durchgeführt worden sind. Interessanterweise verurteilt er in diesem Fall die kollektive Bestrafung einer Bevölkerungsgruppe, doch, dass dies im Namen von BDS gegenüber den Israelis ebenfalls geschieht, scheint Waters weniger zu stören. Den Terror der Hamas habe sich Israel nämlich selbst zuzuschreiben: 439
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»As I speak, I can hear the tut, tutting of governmental and media tongues trotting out the well worn mantra of the apologists, but ‚Hamas started it with their rocket attacks, Israel is only defending itself‘. Let us examine that argument. Did Hamas start ‚It‘? When did ‚It‘ start? How we understand history is shaped by when we start the clock. If we start the clock at a moment when rockets are fired from Gaza into Israel on a certain afternoon that, is one history. If we start the clock earlier that morning, when a 13-year-old Palestinian boy was shot dead by Israeli soldiers as he played soccer on a Gaza field, history starts to look a little different. If we go back further we see that since »Operation Cast Lead«, according to the Israeli human rights organization B’tselem, 271 Palestinians were killed by Israeli, bombs, rockets, drones and warplanes, and during the same period not a single Israeli was killed. A good case can be made that ‚It‘ started in 1967 with the occupation of Gaza and the West Bank. History tells us that the invasion and occupation of a land and the subjugation of its people almost always creates a resistance. Ask the French or the Dutch or the Poles or the Czechs, the list goes on. This crisis in Gaza is a crisis rooted in occupation.« (ebd.) Diese Lesart des arabisch-israelischen Konflikts und ihre Umkehr von Tätern und Opfern ist in ihrer Auswirkung fatal. Denn sie dämonisiert Israel als übermächtigen Aggressorstaat, der willkürlich fußballspielende Kinder erschieße und die palästinensische Bevölkerung entgegen aller Menschenrechte unterdrücke. Somit wird Israel als alleinschuldiger Täter in diesem Konflikt verteufelt. Raketenbeschuss der Hamas aus dem Gazastreifen, Selbstmordattentate und Messerattacken – all das hat sich Israel selbst zuzuschreiben, da es im Zuge des Sechstagekrieges von 1967 den Gazasteifen und das Westjordanland besetzt hat. Doch Waters vergisst, dass es auch in diesem Krieg die arabischen Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien waren, die Israel massiv bedrohten. Hätte sich Israel nicht militärisch gewehrt, würde der jüdische Staat heute wahrscheinlich nicht mehr existieren. Und dass es Palästinenserorganisationen wie die Hamas sind, die Israels Existenz auslöschen möchten, ignoriert Waters nicht nur, er verteidigt die Terrororganisation direkt: »Hamas, having dropped its original demand for Israel to be dismantled in the run up to the elections was democratically elected in January2006, in elections deemed free and fair by every international observer present, including former U.S. President Jimmy Carter. The leaders of Hamas have made their position clear over and over again. It is this: Hamas is open to permanent peace with Israel if there is total 440
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withdrawal to the 1967 borders (22 per cent of historic Palestine), and the arrangement is supported by a referendum of all Palestinians living under occupation. I know you all know this, but where I live they don’t know this, they don’t know that that is the position of Hamas. So I’m telling them.« (ebd.) Die Hamas sei um Frieden mit Israel bemüht, respektiere seine staatliche Souveränität und Grenzen und strebe eine Zwei-Staaten-Lösung neben Israel an. Dies ist schlichtweg falsch. Die Hamas wird von der EU als Terrororganisation eingestuft. Anhänger der Hamas sind es, die tödliche Terroranschläge auf Israelis ausüben und einen islamischen Staat vom Mittelmeer bis nach Jordanien errichten wollen, in dem Jüdinnen und Juden nicht mehr existieren dürfen. Denn die Charta der Hamas3, die Gründungserklärung der Terrororganisation, bekennt sich darin unverhohlen dazu, Jüdinnen und Juden mit den Mitteln des Djihad zu verfolgen und zu töten. Zahlreiche Hamas-Vertreter propagieren offen das Ziel, Israel mitsamt seiner jüdischen Bürger_innen vernichten zu wollen. Roger Waters schafft es, diese Rede vor der Generalvollversammlung zu halten, ohne dass ein Aufschrei der Empörung darüber erfolgte. Im Gegenteil: Im Anschluss an die Rede wurde »Palästina« in den UN der Status eines Beobachterstaates zugesprochen. In seiner Rede reiht Waters faktisch falsche Tatsachen aneinander und zeichnet so ein Bild von einem übermächtigen, aggressiven Staat Israel, der abseits von Menschenrechten die palästinensische Bevölkerung unterdrücke und verfolgt somit die Strategie der BDSKampagne. Als logische Reaktion auf Israels Existenz rechtfertigt Waters den Terror der Hamas und ignoriert geflissentlich den antisemitischen Kern der Palästinenserorganisation. Ideologischen Rückenwind bekam Waters Anfang Dezember 2018 von der UN-Vollversammlung, als diese eine Resolution, in der die Hamas wegen der Raketenangriffe auf Israel verurteilt wird, abgelehnt hat.
3 Obwohl die Charta der Hamas 2017 überarbeitet wurde und der offenen Antisemitismus mit Chiffren wie »zionistisches Projekt« anstelle von Jüdinnen und Juden umschrieben wird, bekennt sich die Hamas noch immer zum Dschihad als probates Mittel zum politischen Kampf. Antisemitismus ist und bleibt weiterhin Kernelement ihrer Ideologie.
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NS-Analogien und Holocaustrelativierung Doch Roger Waters verharmlost nicht nur antisemitische Terrororganisationen, er scheut auch nicht davor zurück, Israel direkt mit dem nationalsozialistischen Deutschland zu vergleichen. So im Interview mit dem Onlinemagazin Counterpunch. Darin antwortet er auf die Frage, ob ein Boykott Israels gerechtfertigt wäre: »The situation in Israel/ Palestine, with the occupation, the ethnic cleansing and the systematic racist apartheid Israeli regime is un acceptable. So for an artist to go and play in a country that occupies other people’s land and oppresses them the way Israel does, is plain wrong. They should say no. I would not have played for the Vichy government in occupied France in the Second World War, I would not have played in Berlin either during this time.« (Barat 2013) Indem er Nazi-Deutschland mit Israel gleichsetzt, impliziert er, dass der israelische Staat die palästinensische Bevölkerung so behandelt wie Nazis die Jüdinnen und Juden. Dies stellt eine fatale Relativierung der Verbrechen der Shoah dar. Doch er wird noch deutlicher: »There were many people that pretended that the oppression of the Jews was not going on. From 1933 until 1946. So this is not a new scenario. Except that this time it’s the Palestinian People being murdered. It’s the duty of every thinking human being to ask: ‚What can I do? ‘ Anybody who looks at the situation will see that if you choose not to take up arms to fight your oppressor, the non violent route, and the Boycott Divestment and Sanctions (B.D.S) movement, which started in Palestine with 100% support from Palestinian civil society in 2004–2005, a movement that has now been joined by many people around the world, the global civil society, is a legitimate form of resistance to this brutal and oppressive regime. […] The parallels with what went on in the 30’s in Germany are so crushingly obvious that it doesn’t surprise me that the movement that both you and I are involved in is growing every day.« (ebd.) Was Israel heute mit den Palästinenser_innen macht, sei das Gleiche wie die systematische Ermordung der Jüdinnen und Juden durch die Deutschen im Nationalsozialismus. Dieser Vergleich der israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialist_innen entbehrt jeder faktischen Grundlage und zeigt deutlich den antisemitischen Gehalt seiner Argumentation, indem er die Israelis mit Nationalsozialist_innen gleichsetzt. Waters
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wird nachfolgend gefragt, wie er sich erklären könne, dass sich so wenige Künstler_innen solidarisch mit den Palästinenser_innen zeigen: »Well, where I live, in the USA, I think, A: they are frightened and B: I think the propaganda machine that starts in Israeli schools and that continues through all the Netanyahu’s bluster is poured all over the United States, not just Fox but also CNN and in fact in all the mainstream media. It’s like a huge bucket of crap that they are pouring into the mouth of a gullible public in my view, when they say ‚we are afraid of Iran, it is going to get nuclear weapons…‘. It’s a diversionary tactic. The lie that they have told for the last 20 years is ‚Oh, we want to make peace«, you know and they talk about Clinton and Arafat and Barak being in Camp David and that they came very close to agreeing, and the story that they sold was ‚Oh Arafat fucked it all up‘. Well, no, he did not. This is not the story. The fact of the matter is no Israeli government has been serious about creating a Palestinian state since 1948. They’ve always had the Ben Gurion agenda of kicking all the Arabs out of the country and becoming greater Israel. They tell a lie as part of their propaganda machinery whilst doing the other thing but they have been doing it so obviously in the last 10 years. […].« (ebd.) Roger Waters bezeichnet Israel als Kriegstreiberstaat, dessen einziges Interesse darin bestehe, sein Territorium zu vergrößern und die arabische Bevölkerung zu vertreiben. Er unterstellt Israel, dass es nur aus taktischen Gründen auf die Gefahren des iranischen Atomprogramms verweise, nämlich um von seinen mutmaßlichen Verbrechen gegen die Palästinenser_innen abzulenken. Er vollzieht in seiner Argumentation eine Täter-OpferUmkehr indem er verkennt, dass es Staaten wie der Iran sind, die Israels Existenz bedrohen und nicht umgekehrt. Mit diesen Falschaussagen dämonisiert er den jüdischen Staat und gibt ihm die Alleinschuld am gescheiterten Friedensprozess. Noch deutlicher wird der antisemitische Gehalt seiner Argumentation daran, dass Waters der israelischen Regierung unterstellt, sie kontrolliere die gesamte amerikanische Medienlandschaft mit ihrer Propaganda und schüchtere damit diejenigen Menschen ein, die sich für die Palästinenser_innen starkmachen wollten. Das alte antisemitische Ressentiment, das Juden und Jüdinnen bezichtigt, im Geheimen die Geschicke der Welt zu ihrem Vorteil zu lenken und zu manipulieren, wird hier von Waters zum einen direkt auf Israel übertragen. Zum anderen phantasiert er nachfolgend unverhohlen von einer mächtigen »jüdischen Lobby«: »The Jewish lobby is extraordinary powerful here and particularly in the industry that I work in, the music industry and in rock’n roll as 443
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they say. I promise you, naming no names, I’ve spoken to people who are terrified that if they stand shoulder to shoulder with me they are going to get fucked. They have said to me ‚aren’t you worried for your life?‘ and I go ‚No, I’m not‘. A few years ago, I was touring and 9/11 happened in the middle of the tour and 2 or 3 people in my band who happened to be United States citizens wouldn’t come on the next leg of the tour. I said ‚why not? Don’t you like the music anymore?‘ and they replied ‚no, we love the music but we are Americans and it’s too dangerous for us to travel abroad, they are trying to kill us‘ and I thought ‚Wow!‘.« (ebd.) Nach den islamistischen Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 müssen sich seiner Ansicht nach also diejenigen Amerikaner_innen bedroht fühlen, die dem BDS-Movement nahestehen und die die vermeintliche Wahrheit über die Anschläge kennen: Nämlich dass diese von Israel und den USA selbst initiiert wurden. Dieses Wissen sei für sie lebensgefährlich, denn »they« are trying to kill »us«. Im Rahmen antisemitischer Verschwörungstheorien phantasiert er die Existenz einer mächtigen jüdischen Lobby, die nicht nur die Medien kontrolliert, sondern sogar all denjenigen nach dem Leben trachtet, die sich ihr entgegenstellen. Hier benötigt Waters nicht einmal den argumentatorischen Umweg über Israel, sondern artikuliert seinen Antisemitismus frei heraus. Resümee Nach Analyse der Ziele und Vorgehensweisen der BDS-Kampagne muss festgestellt werden, dass die ihr zugrunde liegenden Argumentationsmuster bei weitem über eine probate Kritik am israelischen Staat hinausgehen und die Kampagne daher als antisemitisch bezeichnet werden muss – auch wenn sich BDS-Aktivist_innen immer wieder vom Antisemitismus freizusprechen versuchen. Auch Roger Waters fühlt sich zu Unrecht mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert, stehe er mit seiner »Kritik« doch lediglich auf der Seite der Menschenrechte und sei bei weitem kein Antisemit – schließlich habe er sogar jüdische Verwandte! Doch misst man seine Aussagen an der Definition des israelbezogenen Antisemitismus, kommt man zu einem anderen Schluss: Indem er Israel als rassistischen Apartheidstaat bezeichnet, als aggressiven Unterdrücker- und Besatzerstaat, der die palästinensische Bevölkerung drangsaliere und als Alleinschuldiger des Nahost-Konfliktes ausgemacht wird, dämonisiert und delegitimiert er Israel, spricht ihm somit über den Umweg der »Israelkritik« seine Existenz444
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berechtigung ab und zielt damit auf die Auslöschung des jüdischen Staates. Doch Waters artikuliert antisemitische Ressentiments auch ohne diesen antizionistischen Umschweif. Er verharmlost den palästinensischen Terrorismus als Widerstand und verteidigt die islamistische Hamas, deren antisemitische Ideologie er unwidersprochen ignoriert. Auch vor offenen Holocaustrelativierungen, NS-Analogien und antisemitischen Verschwörungstheorien macht Waters keinen Halt. Hier wird dann nur allzu deutlich, was Waters zuvor hinter »Israelkritik« zu verstecken versuchte: sein manifestes antisemitisches Weltbild. Und so muss Roger Waters auch als das bezeichnet werden, was er ist: Denn Antisemit_in ist, wer antisemitisch agiert. Und das ist bei Roger Waters der Fall. Literatur Babbin, Jed/London, Herbert (2014): The BDS War Against Israel. The Orwellian Campaign to Destroy Israel Through the Boycott, Divestment and Sanctions Movement, London Center for Policy Reserach. Barat, Frank (2013): An Interview with Roger Waters, online erschienen in: https:// www.counterpunch.org/2013/12/06/an-interview-with-pink-floyds-roger-waters/ (abgerufen am 28.12.2018). BDS Berlin (2016): Berlin: Israeli Apartheid Week 2016, online erschienen in: http://bdsberlin.org/2016/02/13/berlin-israeli-apartheid-week-2016/ (abgerufen am 28.12.2018). BDS-Kampagne gegen SodaStream (2011), online erschienen in: http://bds-kampag ne.de/themen/sodastream/ (abgerufen am 28.12.2018). BDS-Kampagne gegen SodaStream bei Galeria Kaufhof Berlin (2015), online erschienen in: http://bds-kampagne.de/2015/11/29/protestaktion-gegen-sodastream -bei-galeria-kaufhof-am-alexanderplatz/ (abgerufen am 28.12.2018). BDS-Kampagne gegen Hewlett Packard (HP) (2018), online erschienen in: http://b ds-kampagne.de/themen/stop-hewlett-packard-hp/ (abgerufen am 28.12.2018). BDS-Kampagne gegen den ESC (2018), online erschienen in: https://bdsmovement. net/news/boycott-eurovision-song-contest-hosted-israel (abgerufen am 28.12.2018). BDS Movement (o.A.): What is BDS?, online erschienen, online erschienen in: https://bdsmovement.net/what-is-bds (abgerufen am 28.12.2018). BDS Movement (o.A.) (2005): Call for BDS, in: https://bdsmovement.net/call (abgerufen am 27.12.2018). Becker, Ulrike (2016): Die Wurzeln des arabischen Boykotts gegen Israel, in: Boykottbewegungen gegen Israel. Widerspruch mit Informationen und Argumenten. Deutsch-Israelische Gesellschaft, S. 18–20.
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Die Autor(inn)en
Baier, Jakob, Doktorand in der Promotionsförderung der Hans-BöcklerStiftung (Justus-Liebig-Universität Gießen), forscht zu Antisemitismus in Jugendkulturen. Betzler, Lukas, M.A., Promotion zur Kritischen Theorie an der Leuphana Universität Lüneburg. Botsch, Gideon, Prof. Dr., außerplanmäßiger Professor an der Universität Potsdam, Leiter der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus des Moses Mendelssohn Zentrums für europäischjüdische Studien. Boumaza, Jessin, B.A., Studium Kultur und Technik mit dem Kernfach Wissenschafts- und Technikgeschichte. Brögeler, Hanna Sophie, B.A. Soziologie, Afrikanistik; Master Studentin Interdisziplinäre Antisemitismusforschung (TU Berlin) und Psychologie (IPU Berlin). Dierolf, Kirsten, B.A., Studentin Master Interdisziplinäre Antisemitismusforschung am Zentrum für Antisemitismusforschung. Dondera, Carla, Studentin im Bachelor Politikwissenschaft an der FU Berlin, studentische Hilfskraft am dortigen Arbeitsbereich Politische Theorie und Philosophie. Feuerherdt, Alex, freier Publizist mit den Themenschwerpunkten Antisemitismus, Israel, Naher Osten und Fußball.
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Glittenberg, Manuel, M.A. Soziologie, tätig in der politischen Bildungs- und Beratungsarbeit u.a. zu den Themen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe). Grigat, Stephan, Dr., Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Passau, Lehrbeauftragter an der Universität Wien, Permanent Fellow am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien Potsdam und Research Fellow am Herzl Institute for the Study of Zionism and History der University of Haifa. Ionescu, Dana, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Studienfach Geschlechterforschung der Georg-August-Universität Göttingen. Jikeli, Günther, Dr., Gastprofessor Indiana University. Kloke, Martin, Dr., verantwortlicher Redakteur für die Fächer Ethik, Philosophie und Religion beim Cornelsen Verlag in Berlin. Knothe, Holger, Dr., Professor für Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften, IUBH Nürnberg. Lämmel, Niklas, B.A., Student im Masterstudiengang "Interdisziplinäre Antisemitismusforschung", wissenschaftliche Hilfskraft beim Editionsprojekt "Judenverfolgung 1933–1945". Markl, Florian, Mag. phil., wissenschaftlicher Leiter von Mena Watch. Marsovszky, Magdalena, MA, freie Kulturwissenschaftlerin, Lehrbeauftragte an der Hochschule Fulda/ University of Applied Sciences.
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Die Autor(inn)en
Poensgen, Daniel, Dipl. Verwaltungswissenschaftler, promoviert zum Verhältnis von Staatsverständnis und Antisemitismus, Mitarbeiter Rechercheund Informationsstelle Antisemitismus – Bundesweite Koordination beim Bundesverband RIAS e.V. Quent, Matthias, Dr. Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) Jena. Rathje, Jan, M.A., Projektleitung «No World Order. Handeln gegen Verschwörungsideologien«, Amadeu Antonio Stiftung. Rokahr, Sandra, M.A. Interdisziplinäre Antisemitimusforschung, freie pädagogische Mitarbeiterin in der Gedenkstätte des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück, Lehrbeauftragte an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Saggerer, Alina, B.A., Mastersstudentin Interdisziplinäre Antisemitismusforschung und Theaterwissenschaft. Salzborn, Samuel, Prof. Dr., Gastprofessor für Antisemitismusforschung am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Schwietring, Marc, M.A., Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, NFG 015 »Die Relevanz der Nebenklage. Der NSU-Prozess vor dem OLG München aus Sicht der Nebenklage-VertreterInnen«. Steinitz, Benjamin, M.A. Afrikawissenschaften, Politikwissenschaften, Gender Studies, Projektleiter Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin beim Verein für Demokratische Kultur e.V. und Geschäftsführer Bundesverband RIAS e.V.
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Stögner, Karin, PD Dr., Gastprofessorin an der Universität Wien. Stöver, Merle, B.A. der Sozialen Arbeit, M.A. cand. der Interdisziplinären Antisemitismusforschung.
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