129 99 1MB
German Pages 208 [214] Year 1999
Stefan Krammer / Wolfgang Straub / Sabine Zelger (Hg.) Tropen des Staates
Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 21
Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Leipzig Manuel Knoll, Istanbul Eun-Jeung Lee, Berlin Marcus Llanque, Augsburg Samuel Salzborn, Gießen Birgit Sauer, Wien Gary S. Schaal, Hamburg Peter Schröder, London Virgilio Afonso da Silva, São Paulo
Stefan Krammer / Wolfgang Straub / Sabine Zelger (Hg.)
Tropen des Staates Literatur – Film – Staatstheorie 1918–1938
Franz Steiner Verlag
Diese Publikation entstand im Rahmen des FWF-Projekts „Tropen des Staates. Denkfiguren des politischen Gemeinwesens“
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10170-7 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany
EDITORIAL Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdiskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort ....................................................................................................................7 Tropen des Staates. Eine Einleitung ........................................................................9 I. Staatsdiskurse Sabine Zelger Staat im Film – Film im Staat Werner Hochbaums Konstruktion und Störung von Gemeinschaften...................17 Martin Weidinger Inszenierte Gewalt des Staates Zur Polizei im Film der Zwanzigerjahre................................................................35 Wolfgang Straub Der Ständestaat im Bienenstock Georg Rendls Bienenroman...................................................................................51 Martin Weidinger Nationaler Staatsdiskurs im „Ständestaat“ Willi Forsts Burgtheater ........................................................................................65 Sabine Zelger Politische Inszenierungen des Aufbruchs Poetik der Masse bei Mirko Jelusich und Anna Seghers.......................................79 Eva Kreisky Staatsdiskurse. Ein Resümee .................................................................................95 II. Rhetorik des Staates Stefan Krammer Pars pro toto Synekdochische Staatsfiktionen bei Ödön von Horváth......................................109 Sabine Zelger Tropen in Konkurrenz Erich Mühsam und die Staatsräson......................................................................123
6
Inhaltsverzeichnis
Marion Löffler „Der Staat, das sind wir“ Gerhard Anschütz’ ironischer Volksstaat ............................................................143 Wolfgang Straub „Die Bauernhäuser saßen da“ Zum österreichischen Dorfroman um 1930 .........................................................161 Stefan Krammer Das Drama mit der Uniform Militarismus zwischen den Weltkriegen..............................................................175 Roland Innerhofer Rhetorik des Staates. Ein Resümee......................................................................193 Projektbibliographie zur Erforschung von Fragen zu Staat und Staatlichkeit.....203 Kurzbiographien der Autoren und Autorinnen ....................................................207
VORWORT Auf den ersten Blick sind republikanisch-demokratische BetrachterInnen geneigt, den Staat als etwas anzusehen, das nicht der bildlichen Darstellung bedarf und dieser womöglich auch gar nicht zugänglich ist. Der Staat wird durch seine Institutionen repräsentiert, wie etwa den König, einen Staatspräsidenten, das Parlament oder ehrwürdige alte Gebäude. Sie sind Sinnbilder bestimmter Teilaspekte des Staates, nicht jedoch des Staates als solchem. Seit der dem französischen König Ludwig XIV. zugeschriebene Ausspruch L’État c’est moi („Der Staat, das bin ich!“) im republikanischen Zeitalter seine Bedeutung verloren hat, scheint sich eine Leerstelle in der Repräsentation des Staates aufzutun. Es hängt vom Standpunkt der BetrachterInnen ab, ob sie diese Leerstelle als selbstverständlich und leicht hinnehmbar oder aber als schmerzlich empfinden. Als große Ausnahme von der mangelnden Verbildlichung des Staates erweist sich die Gestalt des Leviathan von Thomas Hobbes, jenes Riesen in Menschengestalt, der aus zahllosen Einzelmenschen zusammengesetzt ist und wie kein anderes Bild den Staat symbolisiert. Das Frontispiz des Leviathan ist ein Kupferstich des deutsch-böhmischen Künstlers Wenceslaus Hollar aus dem Jahr 1651. Diese Abbildung ist über Jahrhunderte immer wieder interpretiert und – zum Teil äußerst kontrovers – diskutiert worden. Wer immer sich mit der bildlichen Darstellung des Staates beschäftigt, wird an diesem Bild nicht vorübergehen können. Dabei zeigt sich, dass sowohl die Visualisierung des Politischen als auch die Konstruktion des politischen Körpers wichtige Aspekte des Politik- wie des Staatsverständnisses sind, die in der Politikwissenschaft freilich noch immer nicht hinreichend beachtet werden. Vor diesem Hintergrund ist die Frage, wie ein Buch über die Tropen des Staates in die Reihe Staatsdiskurse passt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren, leichter zu beantworten. Tropen sind dabei als semantische Figuren zu verstehen, die nicht im wörtlichen, sondern im übertragenen Sinn gebraucht werden. Dazu gehören solche bekannten sprachlichen Mittel wie die Metapher oder die Ironie, aber auch die weniger bekannten Stilfiguren der Metonymie, also der bewussten Namensvertauschung, und der Synekdoche, der Ersetzung eines Wortes durch einen verwandten Begriff mit etwas anderer Bedeutung. Diese Tropen lassen sich als Denkwerkzeuge verstehen, mit deren Hilfe sich zeitgenössische Denk- und Darstellungsmöglichkeiten des Staates erweitern, aber auch untersuchen lassen. Die AutorInnen des vorliegenden Sammelbandes, der das Ergebnis interdisziplinärer Zusammenarbeit in einem Forschungsverbund an der Universität Wien ist, verwenden Tropen – mit erstaunlichem Erfolg – als solche Denkwerkzeuge
8
Vorwort
zur Analyse von Konstruktionen in Staatstheorien, Literatur und Filmen der Zwischenkriegszeit, die durch vielfältige Auseinandersetzungen mit Formen der Staatlichkeit in ideologischer wie ästhetischer Hinsicht charakterisiert ist. Das Material hierfür findet sich in Romanen, Dramen und Filmen, in denen oft genug die Grenze zwischen Denken und Fühlen verschwimmt. Gerade der Film ist deshalb so wichtig, weil die imaginative Kraft seiner Bilder die Staatsvorstellungen besonders wirkungsvoll prägen kann. Der Gedanke liegt für die Politik also nicht allzu fern, den Film für Propagandazwecke zu nutzen, um den Menschen mit „sanfter Gewalt“ eine eigene Sicht der Dinge aufzunötigen. Die Auseinandersetzung mit Denk- und Darstellungsformen des Staates erweitert das thematische Spektrum der Reihe Staatsdiskurse und stellt zugleich eine Bereicherung dar. Es ist zu wünschen, dass weitere Bände zu dieser oder einer ähnlichen Thematik folgen werden.
Rüdiger Voigt
TROPEN DES STAATES. EINE EINLEITUNG Stefan Krammer und Sabine Zelger Einen aussagekräftigen Fundus für Auseinandersetzungen mit dem Staat und Dimensionen von Staatlichkeit bilden nicht nur theoretische Texte, sondern auch Romane, Dramen und Filme. Sie alle enthalten spezifische Formen des Wissens über den Staat und bilden einen integralen Bestandteil des politischen Diskurses, in dem staatliche Systeme stabilisiert, verändert und reflektiert werden. Politisch relevante Fragen, etwa nach Demokratisierungsprozessen, der Organisation von Staatsgewalt und der Institutionalisierung von Kollektiven, werden über Lagergrenzen hinweg aufgegriffen und in verschiedenen Formen bearbeitet. Dazu werden Bilder aufgerufen, in denen der Staat nach bestimmten Vorstellungen und Ideologien als Konstrukt hervorgebracht wird. Das Buch Tropen des Staates widmet sich diesen Konstruktionen in Staatstheorien, Literatur und Filmen der Zwischenkriegszeit. Der Titel des Bandes greift einen Begriff aus der Rhetorik auf und verweist damit auf einen zentralen methodischen Zugang, der in den Beiträgen verfolgt wird. Mit Hilfe einer Rhetorik, die der Verfasstheit von Sprache und Diskursen auf den Grund geht, wird untersucht, welche Tropen verwendet werden, um den Staat diskursiv zu erfassen. Auf Tropen – d.h. Ausdrücke, die nicht im wörtlichen, sondern im übertragenen Sinn gebraucht werden – ist der Staat allemal angewiesen. In unterschiedlichsten Wendungen werden staatliche Dimensionen und Institutionen verbildlicht. Aber an welche Diskurse wird angeknüpft, wenn der Staat als Bienenstock dargestellt wird? Welche Ideologien werden aufgerufen, wenn die Masse als Ungeheuer erscheint? Welche Dimensionen von Staatlichkeit werden ausgeblendet, wenn die Uniform den Staat repräsentiert? Mit derartigen Fragen beschäftigen sich die Beiträge in diesem Buch. Dabei werden in Anlehnung an metapherntheoretische Diskussionen die Tropen als Denkwerkzeuge verstanden. Metaphern, Metonymien, Synekdochen u.a. werden also nicht nur als linguistische Phänomene, sondern auch als mentale Repräsentationen betrachtet. In Gegenüberstellung von fiktionalen und theoretischen Texten wird die Demarkationslinie zwischen ästhetischem Schein und wahrem Sein dekonstruiert. Der Fokus auf die Tropen des Staates bietet sich zudem dazu an, Erkenntnisse über die Spezifität der poetischen Sprache zu gewinnen. Mit Blick auf die Poetizität wird gezeigt, inwiefern sich politische Positionen auf die Gestaltung der Texte auswirken und kreatives Potenzial für neue Formen liefern können. Untersucht werden in diesem Zusammenhang also nicht nur Realisierungen traditioneller Mittel, sondern auch formale Brüche und neue Techniken, mit denen Staatlichkeit inszeniert wird.
10
Einleitung
Die Beiträge dieses Bandes sind Ergebnis eines interdisziplinären Forschungsprojektes an der Universität Wien, das sich dominanten und marginalisierten Bildern des Staates widmete. Wie das Gemeinwesen und seine Institutionen denk- und hinterfragbar gemacht werden, wurde in kanonisierten und vergessenen Texten aus Österreich und Deutschland untersucht. Forschungszeitraum bildete die Zwischenkriegszeit, in der die Auseinandersetzungen mit Formen der Staatlichkeit in ideologischer wie ästhetischer Hinsicht eine große Vielfalt aufweisen. Ziel war es, interdisziplinäre Zugänge zu entwickeln, die Literatur- und Politikwissenschaft zusammenführen und die den Staat über die unterschiedlichen Fachrichtungen hinaus begreifbar machen. Um den in den Texten eingeschriebenen Staatsdiskurs analysieren zu können, wurden verschiedene methodische Herangehensweisen erprobt. Als besonders produktiv erwiesen sich dabei rhetorische Verfahren, diskursanalytische Zugänge, Genderkonzepte und soziologische Theorien. Entlang ausgewählter Topoi ließ sich die Bandbreite zeitgenössischer Denk- und Darstellungsmöglichkeiten des Staates aufzeigen und zu einem konstitutiven Staatsdiskurs verdichten. Darüber hinaus konnten genrespezifische und ideologiebedingte Denk- und Darstellungsgrenzen ausgelotet werden. Erste Ergebnisse des Projektes finden sich in der Publikation Staatsfiktionen, in der sich Literatur-, Politik-, Rechts-, Geschichts- und StaatswissenschafterInnen – über eingeübte Denkweisen der Einzeldisziplinen hinweg – mit Denkbildern moderner Staatlichkeit auseinandersetzen. Ausgewertet werden Texte und Bilder aus verschiedenen Jahrhunderten: vom Hobbes’schen Leviathan über Nestroys Revolutionstheater bis hin zu medialen Inszenierungen von PolitikerInnen der Gegenwart. Weitere Analysen wurden im Tagungsband Staat in Unordnung? publiziert, der Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen verhandelt. Das Augenmerk der Beiträge liegt auf mehr oder weniger stabilen Staatsvorstellungen, wie sie etwa durch Brüderhorden, weibliche Führerschaft und subversive Sexbilder realisiert werden. Vorliegendes Buch versteht sich als Projektpublikation im engeren Sinn, wurden die Beiträge doch ausschließlich von Mitgliedern des Forschungsteams verfasst. Es widmet sich Staatskonstruktionen der Zwischenkriegszeit in Österreich und Deutschland und greift folgende Analysefragen des Projektes auf: Welche Ideen und Formen politischer Vergemeinschaftung werden in den Texten sichtbar und wie werden sie inszeniert? Welche Modelle staatlicher Organisation von Gesellschaft werden entworfen? Wie werden politische Kollektive und staatliche Institutionen sichtbar? Wird der Staat über Differenzen und Feindbilder, über das Fremde und Eigene konstruiert? Bekommen marginalisierte Personen oder Gruppen eine Stimme? Im Zentrum des Bandes steht der Staatsdiskurs, der in unterschiedliche Teildiskurse zerfällt. Die Beiträge diskutieren diese, indem sie verschiedene Dimensionen des Staates ansprechen. Sie untersuchen kollektive Akteure wie Dorfgemeinschaft, Partei und Klasse; staatliche Institutionen wie Polizei, Militär und Justiz; imaginierte Kollektivsubjekte wie Masse und Nation. Außerdem erörtern sie zeittypische Fragen zur Demokratie, zur Staatsräson wie zum Verhältnis von Kirche und Staat. Untersucht wird auch die politische Ausgestaltung, wie sie im
Einleitung
11
Staatsdiskurs verhandelt wird. Die Auswahl der besprochenen Texte und Filme berücksichtigt die Bandbreite ideologischer Ausrichtungen. Die darin eingeschriebenen Konzepte reichen von faschistischen und nationalistischen Auffassungen über konservative und liberaldemokratische Vorstellungen bis zu sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Positionen. Dabei werden bestimmte Genres und Formate favorisiert: Im Wiener Film wird der nationale Diskurs bedient; im österreichischen Dorfroman werden ständestaatliche Vorstellungen realisiert; im Volksstück und Dokumentardrama sind häufig linke Positionen vertreten. Die einzelnen Aufsätze beziehen sich auf unterschiedliche theoretische Positionen, indem sie u.a. sozialwissenschaftliche, demokratietheoretische und ästhetische Konzepte aufgreifen. Sie verfolgen diverse methodische Zugänge, die allesamt einem konstruktivistischen Ansatz verpflichtet sind. Diskurs- und Rhetorikanalysen bilden dafür den Rahmen und gliedern das Buch in zwei Abschnitte mit Fallanalysen, die in Respondenzen von Eva Kreisky und Roland Innerhofer kommentiert werden. Im ersten Teil werden, ausgehend von exemplarischen Beispielen aus Literatur und Film, einzelne Teildiskurse beforscht. Inwiefern die fiktionalen Darstellungen den hegemonialen Vorstellungen folgen oder als Gegendiskurse verstanden werden können, wird in den genrespezifischen Analysen sichtbar gemacht. Der Spielfilm, im Untersuchungszeitraum längst zum Massenmedium geworden, spielt eine zentrale Rolle im öffentlichen Diskurs. Durch die imaginative Kraft seiner Bilder prägt er Staatsvorstellungen in besonders wirkungsvoller Art. Er bietet nicht nur Einblicke in staatliche Institutionen, sondern erzeugt sie geradezu in performativer Weise. Wenn Sabine Zelger in ihrem Beitrag Werner Hochbaums Konstruktionen und Störungen von Gemeinschaft nachspürt, dann wird deutlich, auf welche Weise seine ideologisch recht divergierenden Filme Formen von Kollektiven favorisieren oder bekämpfen. Ausgehend von Jacques Rancièrs filmästhetischen Schriften analysiert sie Hochbaums Filme als politische Interventionen, die ein konsensuelles Erlebnis hervorrufen oder sich diesem als Streitakte widersetzen. Die politischen Veränderungen der Weimarer Republik werden auch in den unterschiedlichen ästhetischen Konzepten seiner Filme sichtbar, die Elemente vom sowjetischen Revolutionskino, vom expressionistischen Film und von der NS-Propaganda aufweisen. Während in Zelgers Beitrag individuelle und kollektive Subjekte und Objekte der Staatsgewalt untersucht werden, fokussiert Martin Weidinger auf die Darstellung der Polizei im Film der 1920er Jahre. Er betrachtet die Darstellung der Exekutivbeamten als Teil jenes Diskurses, in dem das staatliche Gewaltmonopol hergestellt wird, und entwirft anhand deutscher und österreichischer Beispiele eine Typologie von Polizeiauftritten. Beschützende Ordnungshüter und findige Kriminalisten sorgen in den Filmen für ein positives Image der Polizei, negative Repräsentanten der Staatsgewalt kommen hingegen nur selten vor. Als staatstheoretische Bezugspunkte dienen Schriften von Hans Kelsen, Hermann Heller und Carl Schmitt. Auf Benedict Andersons Imagined Communities greift Weidinger hingegen in seinem Beitrag zum Nationsdiskurs zurück. Diesmal ist es der Wiener Film
12
Einleitung
der 1930er Jahre, der diskursanalytisch untersucht wird. Anhand von Willi Forsts Burgtheater wird gezeigt, welche Identitätsmodelle in diesem Genre für die Erfindung der österreichischen Nation zur Verfügung gestellt werden. Die nationale Konstruktion erweist sich dabei als prekär, zumal über scharfe Klassengrenzen, die sich auch in der Topografie des Films niederschlagen, die integrative Funktion des Diskurses in Frage gestellt wird. Als Bindeglied zwischen den sozialen Welten und filmischen Szenen fungiert die Musik: Das Wienerlied sorgt für nationales Gemeinschaftsgefühl. Widersprüche des ständestaatlichen Nationsdiskurses werden so übertüncht. Wie der ständestaatliche Diskurs in der Literatur verhandelt wird, untersucht Wolfgang Straub anhand Georg Rendls Bienenroman, der einen Beitrag der österreichischen Heimatliteratur zur diskursiven Konstruktion des Austrofaschismus darstellt. Die Grundstruktur des Romans bildet eine Staatsauffassung, die als ständische Theokratie gelesen werden kann. Rendls arbeitsteiliger Bienenstaat wird als scheinbar natürliche Ordnung und als Organismus präsentiert. Dass der Roman damit verbreitete Staatsvorstellungen realisiert, wird durch Verknüpfungen zu diskurskonstituierenden Texten deutlich gemacht: staatstheoretische Schriften von Othmar Spann und Karl von Vogelsang sowie die päpstliche Interpretation von Ständestaatlichkeit. Dass Literatur über andere Möglichkeiten verfügt, um sich am Staatsdiskurs zu beteiligen, wird in der Analyse der Erzählperspektive, der Figurenzeichnung und der spezifischen Metaphorik deutlich. Wie sich dabei die Poetik ideologisch unterscheidet, zeigt Sabine Zelger am Beispiel von Massedarstellungen bei Mirko Jelusich und Anna Seghers. Im Unterschied zu theoretischen Überlegungen zur Masse, in denen sich Tendenzen der Dichotomisierung finden, zielt Zelger auf die Pluralisierung politischer Ordnungsvorstellungen ab, die sich in verschiedenen Arrangements von literarischen Masseinszenierungen niederschlagen. Dabei wird vorgeführt, wie unter Bezugnahme auf den hegemonialen Diskurs politische Implikationen erzähltechnisch und dramaturgisch umgesetzt werden. Die literaturwissenschaftliche Analyse zeigt im Detail, inwiefern die vielfältigen Szenen des Aufbruchs als linke bzw. rechte Interventionen zu verstehen sind. Der zweite Teil des Bandes widmet sich der Rhetorik des Staates und analysiert seine tropische Verfassung in Drama, Roman und politischer Rede. In den unterschiedlichen Funktionsweisen der Tropen wird deutlich gemacht, wie wirkungsmächtig sprachliche Bilder in politischer Hinsicht sind. Die Analysen zeigen, welche Möglichkeiten durch unterschiedliche rhetorische Mittel eröffnet werden, den Staat zu denken und zu überdenken. Mit der Synekdoche als jener Trope, bei der ein Teil für das Ganze steht, beschäftigt sich Stefan Krammer in seinem Beitrag zu Ödön von Horváths Dramen. Diese werden nach Formen kollektiver Gemeinschaften ausgewertet: etwa staatlich legitimierte Truppen, illegale Hakenkreuzler, Splittergruppen innerhalb des republikanischen Schutzbundes. Dabei spielen Fragen von Inklusion und Exklusion individueller AkteurInnen eine zentrale Rolle. Ein Augenmerk wird auf die politische Ausrichtung der Figuren gelegt, die ein Spektrum von linken und rechten Ideologien abdeckt. Während hier eine dekonstruktive Lektüre der Tropen des Staates vorgenommen wird, zeigt Sabine Zelger in ihrer Analyse von Erich Mühsams Staatsräson, wie differenziert
Einleitung
13
das Leben in Metaphern – im Sinne von Lakoff und Johnson – dramatisch realisiert werden kann. Die Staatstropen werden aus herrschaftsstabilisierender und destabilisierender Perspektive untersucht, wobei der Staat als Mensch, als Maschine, als Gebäude sichtbar gemacht wird. Durch die rhetorische Analyse von Mühsams Dokumentardrama, das das Gerichtsverfahren gegen die anarchistischen Aktivisten Sacco und Vanzetti in Szene setzt, werden divergente Konzepte der Justiz herausgearbeitet, wobei die rhetorische Verfasstheit des Textes wider die Staatsräson steht. Inwiefern auch staatstheoretische Überlegungen rhetorisch gefasst sind, zeigt Marion Löffler anhand der Rektoratsrede von Gerhard Anschütz. Mit Hayden Whites Metahistory liest sie die Ansprache als Protokolle verschiedener Tropen. Verfassungsgeschichte wird dabei als Erzählung in Form der Komödie aufgefasst, der Volksstaat erscheint ironisch gebrochen. Interpretiert wird die Rede unter Berücksichtigung demokratietheoretischer Positionen, wie sie im Kontext der Weimarer Reichsverfassung diskutiert wurden. Die Analyse von Anschütz’ Rede führt zum Schluss, dass es nicht möglich ist, den Staatswillen zu deuten, bevor dieser nicht realpolitisch konkretisiert worden ist. Wie Desiderate von staatlichen Gemeinschaften literarisch ausgestaltet werden, zeigt Wolfgang Straub am Beispiel des österreichischen Dorfromans um 1930. Ausgehend von Georg Simmels Raumsoziologie untersucht er Karl Heinrich Waggerls Roman Brot und Richard Billingers Die Asche des Fegefeuers. Analysiert werden die ordnungsstiftenden Qualitäten des gesellschaftlich konstituierten Raumes: etwa die Grenze, die Fixierung, die Mobilität. Welche Rolle dabei die Metaphern des Feuers, des Wassers und des Leibes spielen, wird tropologisch ausgewertet. Eine Rhetorik der Uniform erarbeitet Stefan Krammer anhand Karl Zuckmayers Der Hauptmann von Köpenick und Bertolt Brechts Mann ist Mann. In einer semiotischen Analyse wird das theatrale Potenzial der Uniform, wie sie in dramatischen Texten als imaginäre Kleidung geschrieben wird, sichtbar gemacht und deren Bedeutung für den Militarismus zwischen den Weltkriegen aufgezeigt. Krammer geht der Frage nach, auf welche Weise die Uniform zur Reproduktion staatlicher Ordnung beiträgt bzw. der Staat durch Maskeraden subvertiert wird. Wie Kleider Leute machen, wird vor dem Hintergrund von Gendertheorien analysiert, sodass das Militär als Schule der Männlichkeit gedeutet werden kann. Die vorliegende Publikation eröffnet somit Einblicke in ein komplexes und politisch höchst brisantes Forschungsfeld. Eine methodische Zuspitzung erscheint umso notwendiger, als verschiedene Disziplinen integriert werden müssen. Der Band leistet dies durch seine diskursanalytischen und rhetorischen Perspektivierungen. Auch andere Zugänge wurden im Rahmen des Forschungsprojektes erprobt; die daraus entstandenen Publikationen werden in einer Bibliographie am Ende des Buches angeführt. Anregungen werden durch die Projektergebnisse allemal gegeben: zum politischen Betrachten von Literatur, zum Schauen von Staat im Film, zum poetischen Lesen von Staatstheorie und zum kritischen Denken als StaatsbürgerInnen. Das bedeutet nicht zuletzt, dass der Staat auch anders gelebt und erlebt werden kann.
I. STAATSDISKURSE
STAAT IM FILM – FILM IM STAAT Werner Hochbaums Konstruktion und Störung von Gemeinschaften Sabine Zelger Unterschiedliche Erfahrungen mit dem Staat beruhen nicht nur auf dem Wechsel politischer Systeme, wie er für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnend war. Sie gründen auch in Erlebnissen vielfältiger Art, wie persönlichen Kontakten mit Behörden, der Teilnahme an politischen Prozessen und Ereignissen oder in medial gestifteten Erfahrungen. Via Text und Bild werden Art und Weise der Teilhabe an der staatlichen Gemeinschaft geregelt und denkbare von undenkbaren Ordnungen geschieden. Dem Film wurde in den zeitgenössischen Manifesten seiner Frühzeit bei der Konstituierung des Staatsdiskurses eine ganz außerordentliche Rolle zuerkannt. Wie Jacques Rancière pointiert darlegt, wurde das junge Medium als Verwirklichung der romantischen Idee gedeutet, wie sie im 19. Jahrhundert entwickelt worden war. Gerade im Film werde durch das mechanische Auge, das auch nicht bedeutende Segmente aufzeichnet, Bewusstes mit Nichtbewusstem verwoben. Durch die Aufhebung der Grenze zwischen Fühlen und Denken würden die Ideen „unters Volk“ gebracht und vergemeinschaftet. Damit wird der Film zu jener Kunst, die das „älteste Programm der Ästhetik [realisiert und] der politischen Gemeinschaft jene Formen anschaulicher Gemeinschaft gibt, die im Gegensatz zur Abstraktion des Gesetzes, die Menschen in lebendige Verbindung zueinander setzen“.1 Einem derart emphatischen Blick auf das neue Medium halten zeitgenössische Filmproduktionen nicht stand. Die Dominanz der ästhetischen Denkweise, wie sie sich in der Theorie manifestiert, ist dort nicht auszumachen. So sind stets auch die repräsentative Logik mit ihren kodifizierten Objekten und Verfahren, über die die Gesellschaft ausdifferenziert wird, sowie die individuelle künstlerische Logik am Werk.2 Außerdem ist eine weitere zu ergänzen, die gerade beim Film besondere Wirksamkeit entfaltet: die ökonomische Logik. Durch die kostspielige und aufwändige Produktion sind die Kinofilme nicht ohne finanzielle Rahmungen zu denken, die mit dem Ästhetischen, Repräsentativen und künstlerisch Individuellen interferieren. Durch parteipolitische Finanzierungsmöglichkeiten sowie staatliche Eingriffe und Steuerungen bei der Distribution ist die ökonomische Logik nicht selten direktpolitisch durchdrungen und als solche wiederum in Zusammenhang mit den anderen Logiken zu denken. 1 2
Rancière 2010, S. 225. Er bezieht sich hier auf Jean Epstein, Élie Faure und Dziga Vertov. Ebd., S. 229.
18
Sabine Zelger
Um die Besonderheiten vom Staat im Film herauskristallisieren zu können, was Thema dieses Beitrags ist, sind die Produktionen demnach auch als Film im Staat zu betrachten. Im je spezifischen Zusammenhang des Ästhetischen, Repräsentativen, Künstlerischen und Ökonomischen lässt sich damit jeder Film als Teil des Staatsdiskurses lesen, der Vorstellungen von Gemeinschaft mitgestaltet und ihre Geschichte mitschreibt. Besonders gut lässt sich das komplexe Verhältnis von Staat und Film anhand von Inkohärenzen der unterschiedlichen Logiken darlegen, die in Filmproduktionen immer wieder manifest werden. In der Zwischenkriegszeit finden sich viele brüchige Künstlerbiographien und heterogene Œuvres, in denen zeitgenössische Vorstellungen von Staat und Staatlichkeit höchst unterschiedlich hergestellt wurden. Exemplarisch hierfür ist Werner Hochbaums Leben und Filmschaffen. 1899 in Kiel geboren, 1946 in Potsdam gestorben, ging Hochbaum zeit seines Lebens verschiedenen Tätigkeiten nach, Schwerpunkt bildete jedoch seine Regietätigkeit. Diverse Vorhaben scheiterten an der Finanzierung sowie an politischen Umständen, die durch den Ausschluss aus der Reichsfilmkammer im Jahr 1939 sowie dem Ausreiseverbot nach Italien im Jahr 1942 schließlich das Aus für seine Arbeit als Filmregisseur bedeuteten.3 Brüchigkeit und Variabilität seiner Biographie zeigen sich nicht nur im diskontinuierlichen Filmschaffen, sondern finden sich auch in seinen Produktionen, etwa in den auffälligen Veränderungen der Sujets oder bei der gewählten Filmsprache. Die zeittypische Elastizität der Ideologien und politischen Deutungen wird nicht zuletzt in der Rezeption und Distribution seiner Filme deutlich. Gerade ob ihrer Gemeinschaft fördernden oder Gemeinschaft störenden Wirkung wurden sie von Fachpresse und Parteien oft sehr kontrovers eingeschätzt. Beispielhaft sollen hier nun drei sehr unterschiedliche Produktionen herangezogen und nach dem gemeinschaftlichen Potenzial im staatlichen Kontext untersucht werden. In seinem abendfüllenden Debüt von 1929 dreht Werner Hochbaum mit LaiendarstellerInnen den Stummfilm Brüder, in dem es um den historischen Hafenarbeiterstreik in Hamburg von 1896/97 geht. Beraten durch die Gewerkschaft Deutscher Verkehrsbund und finanziert von der SPD4 inszeniert Hochbaum eine Episode dieses historischen Ereignisses in Anlehnung an die Ästhetik des proletarischen Sowjetkinos. Durch die offene Bindung an die sozialdemokratische Partei, von der der Film schon vorab als politisch und ästhetisch bedeutsam eingestuft wurde, trifft er andernorts auf Ablehnung: In den kommunistischen Medien findet er nicht einmal Erwähnung5 und die Kinobesitzer dürften sich nicht nur an der Thematik und mäßigen bis negativen Kritiken der Fachpresse, sondern auch am sozialdemokratischen Verleih gestört haben.6 Bald gerät der Stummfilm, wie auch
3 4 5 6
Vgl. Döge 2011. Nach dem Krieg konnte er aufgrund einer Krankheit nur mehr Teile seiner Projekte verwirklichen. Ebd., S. 27f. Vgl. Bock 1984. Vgl. Döge 2011, S. 29.
Staat im Film – Film im Staat
19
sein Regisseur, in Vergessenheit.7 Hochbaums Arbeit mit der SPD endet wenig später, er ist längere Zeit arbeitslos und kann erst nach einigen Jahren mithilfe eines Erbes wieder Filmpläne verwirklichen.8 Als weiteres Beispiel ziehe ich Hochbaums Tonfilm Morgen beginnt das Leben (1933) heran, in dem der spannungsreiche Tag eines Haftentlassenen und seiner Frau in Szene gesetzt wird. Diesmal wird der Streifen von der Ethos-Film produziert und mit professionellen SchauspielerInnen gedreht. Während der Arbeit soll Hochbaum von den neuen Machthabern, den Nationalsozialisten, immer wieder verhaftet worden sein.9 Dass er diese Erfahrungen künstlerisch verarbeitet und über die Thematisierung von Angst und Vereinzelung gegen das neue Regime ankämpft, wird mehrfach konstatiert, andererseits wird der Film in der nationalsozialistischen Kritik geradezu euphorisch aufgenommen.10 Nicht einmal an den avantgardistischen Techniken stießen sich die Nationalsozialisten, die zu Beginn ihrer Herrschaft bei der Suche nach dem neuen deutschen Film dafür durchaus aufgeschlossen waren.11 Dass sich die ästhetischen Vorstellungen der Nationalsozialisten bald ändern, wird im Spielfilm Drei Unteroffiziere deutlich, der von der verstaatlichten UFA produziert wird. In diesem 1938/39 gedrehten Melodram in funktionalem Stil geht es um die Herausforderungen der Wehrmacht, denen nicht alle Protagonisten gleich gewachsen sind. Obwohl der Film das Prädikat „staatspolitisch wertvoll“ erhält – und damit den KinobesitzerInnen weniger Vergnügungssteuer kostet –,12 bleibt umstritten, ob er nicht doch gegen die Intention der Auftraggeber realisiert wurde. Wie kann aber ein Film, der gegen „die Konsumtion von jungen Menschen durch die Institutionen“ protestiert,13 ausgerechnet 1942 wieder in den deutschen Kinos gezeigt werden? Schon durch die hier skizzierten Kontexte, in denen die drei Filme produziert und rezipiert wurden, wird sichtbar, dass sich die ökonomischen Logiken in den filmischen Staatsfiktionen äußern und die individuellen künstlerischen Logiken herausfordern. Im Folgenden geht es nun darum zu verdeutlichen, wie Hochbaum das Verhältnis bestimmt, in dem Gemeinschaft stiftende Ordnungen realisiert werden und Gesellschaftsordnung ausdifferenziert wird. Wie wird dabei die staatliche Gemeinschaft fühl- und denkbar gemacht? Oder sind die Filme als politische
7 8 9 10 11 12 13
Vgl. ebd. S. 28. Der Film, lange Zeit im Moskauer Gosfilmofond gelagert, wurde erst Anfang der 1970er Jahre in der DDR wiederentdeckt. Vgl. ebd., S. 29ff. Vgl. Müller/Sannwald 1996, S. 7. Allerdings finden sich dafür nach Döge (2011, S. 35) keine historischen Belege. Vgl. Müller/Sannwald 1996, S. 7. Ebd. Die nationalsozialistische Fachpresse sah in Hochbaum sogar die Möglichkeit, ihn als deutsches Pendant zu Eisenstein aufzubauen. Döge 2011, S. 44. Kurowski 1984, E 1.
20
Sabine Zelger
Interventionen, als Streitakte zu lesen, die sich dem konsensuellen Erlebnis widersetzen?14 1. GEMEINSCHAFTEN FÜHLEN Wird nach dem emphatischen Gemeinschaftserlebnis gefragt, das im Film verwirklicht wird und jenseits des Gesetzesstaates Anschaulichkeit für alle ermöglicht, so fällt auf, dass die Institutionen des Staates darin je anders in- und exkludiert sind. In den drei ausgewählten Produktionen zeigt sich, dass Hochbaum über die Inszenierung unterschiedlicher Formen von Gemeinschaft Vorstellungen verwirklicht, in denen Polizei, Justiz und Militär mit ihrem Personal einerseits als externes Ordnungsgefüge, andererseits als Teil der Gemeinschaft konzipiert sind. In den drei Filmen werden über diese Differenz hinaus zentrale Unterschiede bei den Formen von Gemeinschaft deutlich. Wie in der Rezeption sichtbar wurde, wird die „Versinnlichung des Sozialen“ dabei heftig und kontrovers wahrgenommen. Alle Filme zeigen sich jedenfalls als „ein ästhetisches Streitbild, in dem etwas Unerhörtes, Unverständliches, Widersinniges sich Raum schafft“.15 Darüber hinaus ist in den drei Produktionen der Versuch angelegt, auch einen genuin politischen Streit zu konstruieren16 und die jeweils hegemonialen staatlichen Gemeinschafts(ver)ordnungen zu irritieren. 1.1 Der Staat als Klassenherrschaft in Brüder In Brüder wird in Anlehnung an den sowjetischen Revolutionsfilm eine Ungehörigkeit mit ungehörigen Mitteln inszeniert. Eine Episode eines proletarischen Kampfes, der in Deutschland ausgefochten worden ist, wird über den Fokus einiger Protagonisten drei Jahrzehnte später in Szene gesetzt. Die Inhaftierung des Helden sowie das Ende des erfolglosen Streiks werden dabei nicht ausgespart. Trotz jahrzehntelanger Distanz zum historischen Ereignis sowie dessen Niederlage wird der elfwöchige Kampf über Schriftbilder – „Funken der Begeisterung sind 14 Rancièrs Geschichtlichkeit des Films (2010), auf die hier Bezug genommen wird, ist mit seinen Ausführungen zur politischen Theorie (z.B. Rancière 2002) nicht kompatibel, bei der er auf Dissens statt Konsens, Unvernehmen statt Vernehmen setzt. So legt Drehli Robnik (2010, S. 14) überzeugend dar, dass es im Sinne der Streitakte notwendig ist, „Rancière gegen ihn selbst zu (ver)wenden“. Mit den widersprüchlichen Konzeptionen von Gemeinschaftlichkeit und Störung lassen sich aber dennoch, wie hier gezeigt werden soll, anhand eines brüchigen Œuvres bedeutsame politische Unterschiede von Staatsfiktionen herausarbeiten. 15 Sonderegger 2010, S. 41. 16 Ebd. Ruth Sonderegger unterscheidet, im Rückgriff auf Rancière, zwischen der Logik von Kunstwerken, die seit ca. 1800 einen endlosen Streit praktizieren, während der Streit in der politischen Logik lokal begrenzt ist und lösungsorientiert funktioniert. Zu bedenken gelte es, so Sonderegger, dass der gelungene Streit des Kunstwerks nicht zwangsläufig zu gesellschaftlichem Dissens führt.
Staat im Film – Film im Staat
21
gefallen“ – als „notwendig“ herausgestellt. Angesichts des Scheiterns dieses exemplarisch vorgeführten Streiks sowie späterer revolutionärer Versuche in Deutschland wirkt dieser Ausblick in eine andere Zukunft als offene Frage an die Gegenwart.
Abb. 1: Szene aus Brüder
Weniger offen sind Hochbaums Konstruktionen der AdressatInnen, an die die Antworten delegiert sind. Durch wiederholte, kaum veränderte Gruppenarrangements inszeniert der Regisseur die proletarische Klasse als Gemeinschaft und stellt sie dem Staat gegenüber. Die Zugehörigkeit der Gruppe wird über Arbeiterzüge, die sich wiederholt dieselben Wege durch Schnee und Eis bahnen, ebenso hervorgebracht wie durch von der Arbeit determinierte Tagesroutinen, die exemplarisch an einer Familie vorgeführt werden. Vor allem aber wird die Arbeiterschaft als Gemeinschaft sichtbar gemacht, indem Hochbaum den Stummfilm auf unterschiedlichen Ebenen nach parallelen Strukturen montiert. Parallelisiert werden Alltag und Symbole der Arbeiterschaft jedoch nicht mit jenen der besitzenden Klasse, die kaum ins Bild kommt, sondern mit Arbeitsstrukturen und Insignien der Polizei als Institution des Staates, die die Interessen der Unternehmer schützt. Durch die oftmalige – und via direkte Schnitte betonte – Alternation der beiden Lebenswelten werden nicht nur deren Kontraste, sondern auch Ähnlichkeiten vorgeführt. In beiden Sphären hat das Personal zeitlich und räumlich in festgefahrenen Abläufen zu interagieren. Trotz dieser parallel geschalteten Welten der Entfremdung und Subordination wird die Gemeinschaft der Arbeiter in klarer Abgrenzung zu den Vertretern des Staates konzipiert. Nur die ProletarierInnen werden durch Aufrufe in Zwischentiteln adressiert, nur sie sind – abgesehen von zwei Sequenzen mit dem Polizisten-Bruder des Protagonisten – exemplarisch individualisiert.
22
Sabine Zelger
Mit biographischer Argumentation bezeichnet Ulrich Kurowski diesen Film als „Ausflug des an seiner bürgerlichen Herkunft leidenden Hochbaum [...], der bei den Proletariern Werte entdeckt, die dem Bürger ungeläufig sind: Wärme, Zuwendung, Solidarität“.17 Eine besondere Rolle spielen diese Attribute in familiärer Umgebung, die zu den ausbeuterischen Arbeitszusammenhängen in kontrastreichem Gegenlicht gezeichnet wird. Durch die äußerst karge Ausstattung der Wohnung und nur geringfügig variierte Wiederholungen der Abläufe bekommen die mütterliche Umsorgung des Protagonisten und dessen kranker Ehefrau sowie das unbeschwerte Spiel von Katze und Kind eine herausragende Bedeutung. Dass diese als heil apostrophierbare Welt ausschließlich als Ordnung der Arbeiterschaft und nicht als Teil des oppositionell dazu gesetzten Staates anzusehen ist, zeigt sich in den verschiedenen Bedrohungen der Familie. Die Gefährdung der Existenzsicherheit spitzt sich durch die abgelehnten Lohnforderungen dramatisch zu und wird von der Staatsgewalt durch die gewalttätige Festnahme zementiert. Dass auch die symbolische Ordnung angegriffen wird, führt der Regisseur vor, indem im Lauf der Verhaftung ein auffällig ins Bild gesetzter Christbaumschmuck zertreten wird. Vor allem aber demonstriert er die zerstörerische Kraft des Staates durch den Konflikt zwischen dem politischen Arbeiter und dessen Bruder, der Polizist ist. Während in der Polizeistation die Spannung zwischen beiden durch Ungehorsam gelöst werden kann – und der Polizist den verhafteten Bruder über den Hinterhof freilässt –, wird der private Besuch des verwandten Staatsdieners für den politisch aktiven Bruder in der Wohnung nur als Provokation wahrgenommen. 1.2 Individuen zwischen Staat und Gesellschaft in Morgen beginnt das Leben Ein ganz anderes Verständnis des Staates steht in Hochbaums Spielfilm Morgen beginnt das Leben zur Debatte. Nachgerade umgekehrt erweist sich hier die Rolle von Justiz und Polizei, die als wichtige Institutionen mit vorbildlichem Personal ins Bild gesetzt werden. Zwar sind auch hier „stilistische Analogien zum sowjetischen Revolutionskino unübersehbar“,18 jedoch fehlen Gemeinsamkeiten in Thema oder Figurenarsenal völlig. Der zentrale Konflikt verläuft nicht mehr zwischen Herrschaft sicherndem Staat und beherrschter Klasse, sondern befindet sich mitten in der Gesellschaft. Allerdings sind es auch hier wiederum ökonomische Zwänge, die die Situation eskalieren lassen und als verdeckte Grundstruktur für Spannung sorgen. Es sind existenzielle Bedürfnisse des Protagonistenpärchens, einer Kellnerin und eines Kaffeehausmusikers, die der Lokalbesitzer ausnutzt. Er bedrängt die Kellnerin und droht den beiden mit Entlassung, worauf sich der Ehemann auf den Chef stürzt und ihn tötet. Auch die zweite Handlungsschiene beruht auf existentiellen Gründen, wenn der neue Arbeitskollege der Ehefrau, ebenfalls ein Geiger, 17 Kurowski 1984, E 1. 18 Müller/Sannwald 1996, S. 9.
Staat im Film – Film im Staat
23
für den Haftentlassenen eine Arbeitsstelle organisiert. Diese beiden ökonomischen Handlungsmotive bleiben allerdings den Großteil des Films im Dunkeln. Indem das Publikum über bekannte filmische Mittel die Kaschierung grundlegender Existenzfragen mitvollzieht, was sich erst nach und nach als Irreführung erweist, wird der Film politisch wirksam. Die konventionellen Deutungen entpuppen sich nämlich als problematische Vorurteile. Dem Haftentlassenen, der seine fünf Jahre wegen Totschlags abgesessen hat, werden neue Gewalttaten zugetraut. Die konspirative Kommunikation zwischen seiner Frau und dem neuen Musikerkollegen werden als verstecktes, aber angesichts des angeblich gemeingefährlichen Verbrechers durchaus akzeptables Verhältnis gedeutet.
Abb. 2: Szene aus Morgen beginnt das Leben
Über ein raffiniertes Montagegeflecht, grell dazwischengeschnittene Schlagzeilen aus der Boulevardpresse, die aus dem Totschlag einen Mord macht, und hinausgezögerte Rückblenden werden Vorurteile geschürt. In die Hintergründe der Tat verschafft der Regisseur erst nach und nach Einblick, während in der Filmhandlung von Anfang an auf das stets verhinderte Zusammentreffen des Ehepaares hingefiebert wird. Dadurch führt der Regisseur das Publikum als Teil jener Gruppe vor, die sich durch die Sensationspresse anheizen lässt und naheliegende ökonomische Bedingungen ausblendet. Die irregeführten ZuseherInnen werden solcherart in die nachbarschaftliche Gemeinschaft integriert, deren Häme und Sensationslust mit expressionistischen Schockschnitten und Verfremdungen besonders drastisch vor Augen geführt werden. Über die akzentuierten Kameraführungen auf die beiden zentralen Gebäude, das Wohnhaus in der Stadt und das Gefängnis mitten in den Feldern, wird darüber hinaus ein Vergleich zwischen den verfremdeten Lebensformen angeregt. Dabei erweist sich das stille, ritualisierte Haftleben hinter der romantischen Fassade
24
Sabine Zelger
zwar als steril, aber zumindest als sicher. Im Chaos der Stadt, das ebenso drastisch inszeniert ist wie die Szene der hetzerischen Hausgemeinschaft, lässt Hochbaum wiederum einen Polizisten auftreten, der dem verwirrten und alkoholisierten Protagonisten hilfreich zur Seite springt und ihn beruhigt. Damit entwirft Hochbaum nicht zuletzt ein krasses Gegenbild zu einer ähnlichen Straßenszene in Brüder, in der der Vertreter des Staates den betrunkenen Arbeiter grob anpackt und drangsaliert. Jedoch wird dort via flotter Schnitttechnik klargemacht, für welchen Staat hier Ordnung hergestellt werden soll: Das direkt ins Bild genommene Polizistengesicht mit Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart wird mit verschiedenen Details eines preußischen Denkmals überblendet, einem Löwenkopf, einer Siegessäule und schlussendlich mit Kanonenrohren. Demgegenüber sind die Polizisten in Morgen beginnt das Leben Teil eines demokratischen Selbstverständnisses und stehen zusammen mit den juristischen Institutionen als Garanten eines Rechtsstaates, an dessen Abbau von den nationalsozialistischen Machthabern im Laufe der Dreharbeiten bereits gearbeitet wurde. Demonstriert wird dieser Zusammenhang nicht zuletzt in rasanten Überblendungen in dieser Szene. Als der Polizist ins Bild kommt, erinnert sich der am Boden liegende Protagonist über die Formel „Im Namen des Gesetzes“ an seinen eigenen Prozess. Im Unterschied zu dieser Vergangenheit steht die Gegenwart im Zeichen jener Menschenmenge, deren Zusammengehörigkeit auf Sensationslust beschränkt ist und die den akustischen Raum besetzt. Nicht nur haben die Passanten keine Hilfe geleistet, eine Frau meint sogar mit merkbarer Enttäuschung in der Stimme: „Ach, dem ist ja gar nichts passiert!“ Aufgrund des Verfolgungsschemas, das ein dramatisches Ende dieser Sequenz erwarten lässt, wird beim Publikum möglicherweise ein ähnliches Gefühl ausgelöst. Damit wird es in dieser Szene mit den entsolidarisierten Gruppen der ZeitungsleserInnen, PassantInnen oder der Nachbarschaft kurzgeschlossen, die dem Abbau des Rechtsstaates, so ein wichtiger Subtext des Films, Vorschub leisten. 1.3 Der omnipräsente Staat. Gemeinschaftszwänge in Drei Unteroffiziere Gegenüber derartig mangelhaften und widerrufbaren Kohäsionskräften ist der gemeinschaftliche Kitt in Drei Unteroffiziere außerordentlich, ja zentrales Thema des Films. Bar jeder provokanten Schnitttechnik und Bildmontage erscheint die UFA-Produktion in der Tat als Werbefilm für militärischen Zusammenhalt, als der er auch gedacht war.19 Die Frage ist, inwiefern diese Gemeinschaftlichkeit im ästhetischen Regime durchgezogen wird, ob die Idee der Vergemeinschaftung im Staat aufgeht. In jedem Fall wird die kühle, distanzierte Welt des Staates und seines Personals, wie sie in den beiden besprochenen Filmen je positiv und negativ inszeniert wird, aufgegeben. Der Staat mit seinem Personal, diesmal über die militärische Institution thematisiert, wird nicht nur als Teil der Lebenswelt ausgewie19 Der Verleih schlug, so Müller/Sannwald 1996, S.17, eine Bewerbung des Films in folgenden Zeitschriften vor: Die Wehrmacht, Deutsche Infanterie sowie Der Adler.
Staat im Film – Film im Staat
25
sen, sondern in staatlichen Räumen ebenso lebendig gestaltet wie in den privaten. Die militärischen Disziplinen und Routinen – reproduziert in Marsch- und Manöverszenen, Rhythmen und Musik – werden stets in unkoordinierte, freie Ordnungen überführt oder durch sie konterkariert. Umgekehrt finden sich über die drei Protagonisten in den zivilen Räumen staatliche Denk- und Handlungsweisen, Salutierungen, Uniformen und zeitliche Reglements. Der Staat, der damit in Szene gesetzt wird, ist grenzenlos und expansiv und nicht auf ein bestimmtes Personal und seine Symbole und Institutionen zu beschränken.
Abb. 3: Szene aus Drei Unteroffiziere
In krassem Gegensatz zu den beiden anderen Filmen, wo institutionalisiertes Personal und institutionelle Räume strikt von der privaten Sphäre getrennt sind, finden in Drei Unteroffiziere zahlreiche Verflechtungen statt. Die Gemeinschaftsidee der kameradschaftlichen Soldateska, die als Ergänzung und Korrektur des formstrengen Militärs inszeniert wird, ist auf verschiedene Weise verschmolzen mit lebensweltlichen Ordnungen. Die Protagonisten nehmen an Manövern teil, sitzen am Abend im Feld zusammen, verkehren aber gleichermaßen in bürgerlichen und künstlerischen Sphären, wo sie ihre unterschiedlichen Liebesbeziehungen leben. Damit wird auch umgekehrt das Theater-, Lokal- und Privatleben der Zivilbevölkerung in das große Ganze des Staates integriert, der am Ende mit Hakenkreuzfahnen im Wind unmissverständlich als Drittes Reich ausgewiesen wird.20 Der zentrale Konflikt, der im Handlungsablauf sichtbar gemacht und schlussendlich einer Lösung zugeführt wird, betrifft einen der drei Unteroffiziere und verdeutlicht, dass es aus dieser Gemeinschaft kein Entkommen gibt. Leutnant 20 In einer anderen Fassung endet der Film stilistisch kohärent ohne augenfällige Zwischenschnitte mit staatlichen Symbolen, wie sie in Hochbaums erstem Spielfilm typisch waren.
26
Sabine Zelger
Rauscher kann mit seiner großen Liebe keine Reise machen, da er keinen Urlaub bekommt. Die dramatischen Konsequenzen aus seinem kurzzeitigen Ungehorsam gegenüber dem Staat werden mit Unterstützung seiner Kameraden sowie mit Einverständnis der unmittelbaren Vorgesetzten im letzten Moment abgewendet. Somit ist bereits in der Grundanlage des Films trotz heiterem Grundton und komödiantischen Anklängen der Zwangscharakter der Vergemeinschaftung verankert. Selbst die KünstlerInnen, denen exklusive Positionen im Gemeinschaftsraum zugestanden werden, sind in ihren Handlungen fixiert und werden – so sie ihn in Frage stellen – auch mit Gewalt daran gehindert, individuell zu agieren. So wird die gemeinsame Reise, die Fahnenflucht für Rauscher bedeutet hätte, dadurch verhindert, dass seine Geliebte vom Dirigentenfreund einfach zu Hause eingesperrt wird. Auch ihre Reise würde einer Art Fahnenflucht gleichkommen und ihre weitere Arbeit am Theater gefährden. Dass beide, der Unteroffizier und die Schauspielerin, diese massive Gefahr auf sich nehmen würden und nur über Intrigen der jeweiligen Kameraden davon abgehalten werden, zeigt, dass ähnliche Mechanismen für die Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung sorgen. Diese Art von Gemeinschaft vermittelt also nicht nur bei Schwierigkeiten zwischen Privatheit und Öffentlichkeit und federt allzu große Härten bei Fehlpässen und Inkompatibilitäten ab. Sie verhindert darüber hinaus Denk- und Handlungsweisen, die jenseits der durchstaatlichten Welt mit ihren Ein- und Ausschlüssen aufgeblitzt sind. 2. GEMEINSCHAFTEN STÖREN Die hier herauskristallisierten Versinnlichungen des Sozialen im Klassenkampf, in der Wohngemeinschaft und Mediengesellschaft sowie in der Kameraderie machen das jeweils dominante Verständnis des Staates sichtbar. Es erscheint durchwegs nachvollziehbar, dass Proponenten einer klassenkämpferischen Partei, Inhaber einer kleinen Berliner Produktionsfirma und Entscheidungsträger der Nazis kurz vor Kriegsbeginn Filme zu den entsprechenden Gemeinschaftsformen produzierten. Jedoch stehen gegenüber diesen dramaturgischen Fiktionen staatlicher und gegenstaatlicher Formen von Gemeinschaft nebensächliche, scheinbar zufällige Kamerafahrten, Einschnitte, Verweildauern in seltsamem Widerspruch. Zum einen können sie als rudimentäre Wahrnehmungen bezeichnet werden, die angesichts der durchgängig spannungsgeladenen Plots nur nebenbei beachtet werden und die Aufnahme der Geschichte lediglich verstärken und versinnlichen. Zum anderen sind darin Irritationen eingelagert, die die Einübung in die fühl- und sichtbaren Gemeinschaften trüben. Wenn durch filmische Mittel „die Allgemeinverständlichkeit und gesellschaftliche Geltung der Zeichen weitestgehend garantiert ist“,21 so können diese Irritationen als allgemeinverständliche Störungen angesehen werden. Differenzen tun sich auf, Räume heterogener Gruppen, die mit dem filmisch kolportierten Staats- bzw. Gesellschaftsbild nicht kompatibel sind 21 Kuchenbuch 2005, S. 93.
Staat im Film – Film im Staat
27
und den Erfahrungsschatz des Publikums, das sich darauf eingelassen hat, stören. In einem weiten Staatsverständnis, das für eine gesellschaftskritische Betrachtung des Staates im Film notwendig ist,22 sind es insbesondere diese Sequenzen, die berücksichtigt werden müssen. Gerade hier wird die Vielfalt staatlicher Handlungsmacht als Kodifizierungs- und Normalisierungsinstanz oder als liberales Trennungsdispositiv zwischen Öffentlichkeit und Privatheit sichtbar.23 Ebenso finden sich gerade hier Möglichkeiten des Dissenses, mit denen die staatlich gesetzten Denk- und Handlungsweisen in Frage gestellt werden können. Dabei handelt es sich möglicherweise um jene Sequenzen, die mit Rancière als Politik24 bezeichnet werden können und in denen jenes Potenzial steckt, das Hochbaums Filme ideologisch mit so unterschiedlichen Etiketten versehbar macht und machte.25 Exemplarisch sollen einige dieser Sequenzen herausgegriffen werden. 2.1 Möglichkeitsräume und Auszeiten Wenn in den beiden ersten Filmen die Trennungslinie zwischen staatlichem und nicht-staatlichem Personal und deren Räumen klar gezogen ist, bleibt die Frage, wie der öffentliche Raum dargestellt wird. Die Straßen bilden jeweils einen konstitutiven Teil des Plots: Routinen und das hektische, voyeuristische Großstadtleben werden veranschaulicht, es kommt zu Kontakten mit der Polizei. Demgegenüber bildet die unbewohnte Gegend einen Zwischenraum, der innerhalb der Dichotomie Staat/Gesellschaft nicht verortet werden kann und der in beiden Filmen als Niemandsland inszeniert wird. Dort kommt es, im Unterschied zu anderen Sequenzen, zu keinen Besetzungen durch klar zuordenbare Aktionen oder Symbole. In Brüder gibt es zu Beginn mittels langer Kamerafahrten poetische Blicke in den nahezu menschenleeren Hamburger Hafen, auf Eisschollen, Wellen, Möwen und Kähne, „oszillierend zwischen impressionistischer Stimmungsmalerei und dokumentarischer Photographie“.26 Sie verschaffen den Eindruck der Unverfügbarkeit. Auch wenn diese Gegend später Schauplatz proletarischer Ausbeutung und politischer Kampfmaßnahmen wird, bleibt dieser Eindruck bestehen – die Positionierung zwischen den Fronten und damit die Unveräußerbarkeit der Gegend wird nicht angetastet. Es ist, als ob die politischen Ereignisse durch die stets winterlich bleibende Landschaft nur durchziehen würden. Mit der Entstaatlichung der Gegend geht ihre Enthistorisierung einher, sodass das Geschehen zu Zeiten 22 Während in einem engen Verständnis, so Löffler (2011, S. 195f.), auf den institutionellen Staat fokussiert wird und sich das politische Handeln als Institutionenkritik verstehen lässt, ist Staatskritik in einem weiten herrschaftskritischen Verständnis als Gesellschaftskritik zu begreifen. 23 Ebd. 24 Wie Ruth Sonderegger (2010, S. 36f.) herausstellt, ist Politik laut Rancière „rar und schwer zu bewerkstelligen, nämlich ein aktiver Streit, dem es gelingt, das Gegenüber zur Aufmerksamkeit zu bewegen; womit über den Ausgang des Streits natürlich noch nichts gesagt ist.“ 25 Vgl. Zelger 2011, S. 61–70. 26 Müller/Sannwald 1996, S. 10.
28
Sabine Zelger
des historischen Streiks, aber auch im zeitgenössischen Hafen spielen könnte. Bis auf jahres- und tageszeitliche Markierungen fehlen Daten der Verortung. Als frühlingshaftes Pendant dazu finden sich gleich mehrere lang gezogene Landschaftsaufnahmen in Morgen beginnt das Leben, die die Distanz zwischen Gefängnis und Stadt vergrößern. Die Einstellungen bei den Fußmärschen und Eisenbahnfahrten des enthafteten Protagonisten sowie seiner Geliebten bilden einen neutralen Block zwischen kühlem Gefängnishof und hitziger Großstadt. In einem Moment höchster ästhetischer Spannung kollidieren mit Einstellungswechseln zwischen rasender Eisenbahn und Pferdekutsche klassische Symbole von Moderne und Vormoderne. Die Landschaft wird aber auch über die Perspektiven der ProtagonistInnen in den Blick genommen, die zu Fuß und mit dem Zug, schnell und langsam unterwegs sind. Eine besondere Rolle auf diesem Weg spielt hier der Ringelspielplatz als weiterer unbesetzter und dem Prinzip nach unbesetzbarer Ort. Diese Klassifizierung hängt unter anderem mit der Rolle zusammen, die Hochbaum in den untersuchten Filmen kleinen Kindern vorbehält. In Brüder hegt die kleine Tochter keine negativen Gefühle gegenüber dem Polizisten-Onkel und möchte auf seinem Schoß sitzen, was ihr Vater prompt verhindert. Analog zu ihrem offenen und vertieften Spiel mit Weihnachtsengel und Katze versinnlicht ihr Umgang mit dem Besucher Handlungs- und Denkräume, die nicht den dichotomen Sphären angehören, sondern jenseits davon angesiedelt sind. Ebenso vertrauensvoll lässt sich in Morgen beginnt das Leben ein kleines Mädchen mit einem fremden Mann ein, dem gerade haftentlassenen Geiger. Obwohl sich die beiden sichtlich gut miteinander verstehen, wird durch filmspezifische Codes höchste Spannung erzeugt und Verdacht erweckt. Misstrauen gegenüber dem Mann, über dessen Tat noch nicht informiert wurde, hegt neben dem Publikum auch die Begleiterin des Kindes, die es mit einem Verweis auf das Gefängnis vom Mann wegzieht. So werden in diesen Sequenzen der beiden Filme durch die Kontakte generationen- und geschlechterübergreifende Möglichkeitsräume gezeigt – und wieder verschlossen. Die Landschaft jedoch bleibt unbesetzbar und offen. Nachdem die Segregation zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre in Hochbaums Spielfilm Drei Unteroffiziere mittels Konzept der Kameraderie verschwommen ist, sind hier die alternativen Räume etwas anders gelagert. Die Durchlässigkeiten betreffen Straße, Kasernen, Exerzierfelder ebenso wie öffentliche und private Räume, in denen sich Zivil- und Militärpersonen unterhalten und lieben. Als gesonderte Ordnung erscheint über längere Zeit die Theaterwelt. In einer Filmsequenz treten sogar mehrere Soldaten in einem Stück auf und unterwerfen sich den Regeln der Künstlerwelt. Wenn ihre Schwierigkeiten auf diesem Gebiet komödiantische Momente aufweisen, setzen sich bei der militärisch künstlerischen Interferenz durch das sich liebende Paar vermehrt tragische durch. Schließlich wird die störende Sphäre, die Theaterwelt, einfach als staatstragendes Element deklariert.27 Die Welt der Verpflichtungen ist ausgeweitet, wenngleich die Pflichten da wie dort etwas anders aussehen mögen.
27 Vgl. ebd., S. 17.
Staat im Film – Film im Staat
29
Erfolgreich exkludiert bleibt in diesem Film meines Erachtens eigentlich nur der Wartesaal des Bahnhofs, wo eine andere Kultur des Zusammenseins denkbar bleibt. In dieser Atmosphäre weichen die jungen Unteroffiziere einem armen Zivilisten. In diesem Raum wird es für die beiden Unteroffiziere, die sich vorher nur schlagen konnten, möglich, ein ernstes und ehrliches Gespräch zu führen, das statt der Beliebigkeit und Lustigkeit unhinterfragter Kameradschaft Anklänge an Offenheit zeigt. Auch wenn Rauscher dadurch wieder in das konventionelle durchstaatlichte Leben zurückkehrt, bleibt das Milieu des Wartesaals als andere Lebensmöglichkeit erhalten. 2.2 Aufbegehren gegen einsinnige Gemeinschaftssektionen
Abb. 4: Szene aus Brüder
Neben den Räumen, die das dominante Staatsbild kontrastieren, setzt Hochbaum vor allem auf „andere“ Figuren, die nicht in das jeweilige Gemeinschaftssetting passen. Dabei werden Ein- und Ausschlussregeln der Gesellschaft diskutiert und intersektionale Strukturen sichtbar gemacht. In Brüder sind es gleich mehrere Kategorien, über die Irritationen ausgelöst werden und über die der politische Kampf der Arbeiterschaft gegen den Staat auch hinsichtlich gesellschaftlicher Ungleichheitslagen diskutierbar wird. Wenn staatliche und proletarische Kräfte ausschließlich aus Männern bestehen und den Frauen gemäß dem liberalen Trennungsdispositiv die häusliche Sphäre zugeordnet ist, wird über diese Bilder der revolutionäre Kampf sehr differenziert ausgestaltet. Eine wichtige Trennungslinie wird zudem entlang der Alterskategorie gezogen. Während etwa die erwachsenen Männer konventionelle, erprobte Wege des offiziellen Streiks gehen, erproben die jungen auch andere Wege der Selbster-
30
Sabine Zelger
mächtigung: So malt, während der Polizist seinen Bruder besucht, ein Junge die Parole „Nieder mit der Polizei!!!“ auf die Hauswand. Bei den Frauen der exemplarischen Familie, die drei verschiedenen Generationen angehören, wird dagegen insbesondere die marginalisierte Position thematisiert. Wie das kleine Mädchen ignoriert die Großmutter den Konflikt zwischen den Brüdern. Allerdings setzt sie mit der Wahl des Kaffees Prioritäten: Während der Polizistensohn keinen angeboten bekommt und für den Arbeitersohn im Alltag Ersatzstoffe herhalten müssen, bereitet sie für die revolutionären Genossen Kaffee aus dem letzten Restbestand echter Bohnen. Besonders deutlich wird die schrittweise Selbstermächtigung der Ehefrau inszeniert. Während sie zu Beginn im Zimmer der Arbeiterfamilie eher als Teil der Ausstattung fungiert, im Bett liegt, ab und an hustet und betreut wird, gewinnt sie – trotz fehlender Medikamente – immer mehr an Kraft und Gesundheit. Sie attackiert die Behörden körperlich, die ihren Mann verhaften wollen, und besucht ihn dann im Gefängnis, wo sie ihm einen Bericht über das Ende des Streiks zusteckt. Die zauberhaft anmutende Genesung und Erstarkung der Frau – ohne den Einsatz magischer oder märchenhafter Elemente – zeigt nicht nur die zeitgenössisch virulenten Frauenbewegungen an, sondern auch das Möglichkeitsspektrum, das noch in der Zwischenkriegszeit durch das vergeschlechtlichte liberale Trennungsdispositiv enorm beschnitten war.28 Nicht zuletzt ist jene umstrittene Sequenz anzuführen, in der ein armer Jude vom Polizisten-Bruder drangsaliert wird. Während diese Figur im Vorspann durch die ethnische Bezeichnung als Fremdkörper erscheint, wird sie durch die Staatsgewalt mit den Proletariern in einer Reihe vereint. Aufgrund der geheimen Freilassung des Protagonisten durch seinen Bruder entsteht eine Überwachungslücke und – in Parallelsetzung zum Helden – vermag auch der Jude zu entkommen. Die Szene ist, so Drehli Robnik, wie jene des polizeilich drangsalierten „Trunkenbolds“ formal herausgestellt: durch den Einsatz eines auffälligen, irritierenden Achssprungs, bei dem die Kamera das Geschehen plötzlich von der anderen Seite aufnimmt. Bleibt bei dieser Parallelisierung des Juden mit dem Trunkenbold die Stigmatisierung prinzipiell aufrecht, so wird durch eine weitere Analogie damit gebrochen: Die Darstellung des Juden in Anlehnung an Charlie Chaplins populäre Tramp-Figur impliziert nicht nur die Aufforderung, seiner Subjektivität nachzugehen, sondern ihn zudem als „Subjekt unerhörter Mächtigkeit“ wahrzunehmen.29 In den beiden anderen Filmen sind es vor allem junge Frauen, die sich den zwanghaften Lebensentwürfen widersetzen, der Vorurteilsgesellschaft der alten Frauen entkommen und sich gegen jene Zurichtungen sträuben, die von der temporeichen Zeit und mächtigen Herren ausgeübt werden. In Morgen beginnt das 28 Die historisch ungenaue Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre wurde, so Sauer (2001, S. 184ff.), durch geschlechtliche Einschreibungen und Zuteilungen vereindeutigt und durch Frauenbewegung sowie feministische Kritik sichtbar gemacht. In diesen Kontext ist auch Hochbaums Inszenierung der weiblichen Protagonistinnen zu stellen. 29 Robnik (2011, S. 316f.) bezieht sich hier auf Siegfried Kracauers Deutung der Tramp-Figur von Charlie Chaplin.
Staat im Film – Film im Staat
31
Leben steht für ein solches emanzipatorisches Projekt nicht nur die Ehefrau, die trotz missgünstiger Umgebung ihren Gefühlen vertraut, sondern auch eine andere Kellnerin. In einer außergewöhnlichen Sequenz wiederholt Hochbaum mehrmals, wie diese junge Frau mit immer demselben Lied auf den Lippen den unglücklichen Protagonisten mit Kognak versorgt. Das Austarieren zwischen Nähe und Distanz, das hier kreisförmig in Szene gesetzt wird, zeigt eine klare Alternative zu anderen Sequenzen der Repetition, die die dichotomen Welten versinnlichen: einerseits zur abgehackten Kamerabewegung, die Stimmen und Körperteile der Nachbarinnen verzerrt, andererseits zum monotonen Geschirreinsammeln im Gefängnis oder dem geometrischen Rundgang der Gefangenen. In Drei Unteroffiziere sind es wiederum die jungen Frauen, die um Selbstbestimmung kämpfen und damit dagegen aufbegehren, von den Männern nach Zeit und Laune kontaktiert und ausgeführt zu werden. Insbesondere Gerda Cyrus, die Schauspielerin, erkämpft sich eine eigenständige Position. Nicht zufällig wird sie mit der Bezeichnung „feiner Kerl“ männlich konnotiert. Höhepunkt ihrer Ausgesetztheit und Autonomie bildet ein Klavierspiel, das nicht nur die militärische Tonspur und die marschierenden Soldaten im Hintergrund karikiert, sondern auch die erzählenden Montage-Einheiten widersinnig durchbricht. Zwar kann sich ihr Lebensentwurf nicht durchsetzen – jedoch wird selbst im soldatesken Schlussteil das Happy-End-Pathos ironisch unterlaufen. Während der Worte des Vorgesetzten zu den wiedervereinten drei Kameraden grinst der Kollege ebenso wie die drei Protagonisten. Diese Heiterkeit ist nach der Dramatik der Handlung eigentlich nicht angebracht. Vielleicht liegt das Komödiantische am Pferd, auf dem der Hauptmann sitzt und das während der ganzen Rede ununterbrochen den Kopf schüttelt? FAZIT: WIDER DEN HEGEMONIALEN DISKURS Wie gezeigt werden konnte, sind die Gemeinschaftsideen, wie sie in den drei Filmen umgesetzt werden, ganz unterschiedlich. Die ersten beiden exkludieren den Staat, der als Gegner fungiert oder als neutrale Institution im Sinne der Rechtssicherheit, der dritte demonstriert die wechselseitige Durchdringung von institutionellem Staat und Lebenswelt. Wenngleich diese grundlegenden Anlagen jeweils im Zeichen ihrer Zeit stehen und dominante Positionen einnehmen, können die Filme im Sinne eines gegenhegemonialen Diskurses gelesen werden, indem sie zeitgenössische Bedrohungen gegen die vorherrschende Lesart thematisieren. Am Höhepunkt der Finanzkrise als neuem Phänomen liberalisierter und globaler Ökonomien wird auf einen Grundkonflikt rückverwiesen, der ins alte Jahrhundert und in die alte Monarchie zurückführt und an die systemunabhängige Krisenhaftigkeit des Kapitalismus gemahnt. Dementsprechend werden Lösungsansätze in der Selbstermächtigung der Arbeiterschaft gesucht, die durch Analogien zum sowjetischen Revolutionskino jenseits der Handlung radikalere Ideen zum Ausdruck bringen.
32
Sabine Zelger
Abb. 5: Szene aus Morgen beginnt das Leben
Rund um die Machtübernahme der Nationalsozialisten setzt Hochbaum hingegen den Rechtsstaat in Szene und demonstriert mit drastischen Irreführungen des Publikums dessen Verführbarkeit durch Medien und Vorurteile. In Rückgriff auf expressionistische Montagetechniken sowie impressionistische, fotografische Stilelemente veranschaulicht er Denkzwänge und Handlungsmöglichkeiten. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges gelingt es ihm, und das ausgerechnet in einem UFA-Film über die Wehrmacht, die Durchstaatlichung der Gesellschaft zu kritisieren und kleine Freiräume aufzutun. Außerdem zeigt Hochbaum, wie die kriegerischen Abenteuer und kameradschaftlichen Beziehungen angesichts der unbezähmbaren Leidenschaften monoton werden und verblassen. Mit seinen räumlichen und personellen Gegenentwürfen, den Irritationen der Handlung durch Verlangsamung, Wiederholung oder Verzerrung stört er genau jenes Pathos, mit dem ein romantisches Gemeinschaftsgefühl realisiert werden sollte. Angesichts der ökonomischen und politischen Bedingungen, die für Hochbaum die Möglichkeiten des Films im jeweiligen Staat radikal begrenzten, hat er die verschiedenen Staatsformen, Monarchie, Republik und Diktatur, in seinen Filmen erstaunlich vielseitig in den Blick genommen. FILME Brüder, Werner Hochbaum, D 1929 Morgen beginnt das Leben, Werner Hochbaum, D 1933 Drei Unteroffiziere, Werner Hochbaum, D 1939
Staat im Film – Film im Staat
33
LITERATUR Büttner, Elisabeth/Schätz, Joachim (Hrsg.), 2011: Werner Hochbaum. An den Rändern der Geschichte filmen, Wien. Bock, Hans-Michael (Hrsg.), 1984: CineGraph. Lexikon zum deutschsprachigen Film, Bd. 3, München. Döge, Ulrich, 2011: Die ewigen Masken des Werner Hochbaum. Eine Biografie. In: Büttner, Elisabeth/Schätz, Joachim (Hrsg.): Werner Hochbaum. An den Rändern der Geschichte filmen, Wien, S. 15–58. Kuchenbuch, Thomas, 2005: Filmanalyse. Theorien – Methoden – Kritik, Wien/Köln/Weimar. Kurowski, Ulrich, 1984: Beitrag zu Werner Hochbaum. In: Bock, Hans-Michael (Hrsg.): CineGraph. Lexikon zum deutschsprachigen Film, Bd. 3, München, E1–E2. Löffler, Marion, 2011: Feministische Staatstheorien. Eine Einführung, Frankfurt a. M./New York. Müller, Robert/Sannwald, Daniela, 1996: Avantgarde und Melodram. Der Regisseur Werner Hochbaum. In: Die Filme von Werner Hochbaum, Begleitpublikation zur Retrospektive 22. März bis 1. April 1996, Viennale in Zusammenarbeit mit Österreichischem Filmarchiv/Filmclub Action/Bellaria Kino, Wien, S. 4–20. Rancière, Jacques, 2002: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M. Rancière, Jacques, 2010: Die Geschichtlichkeit des Films. In: Robnik, Drehli/Hübel, Thomas/Mattl, Siegfried: Das Streit-Bild. Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière, Wien/Berlin, S. 213–231. Robnik, Drehli, 2010: Film ohne Grund. Filmtheorie, Postpolitik und Dissens bei Jacques Rancière, Wien/Berlin. Robnik, Drehli, 2011: Streik-Bild, Werkel-Welt, Verkehrsbund. Zur politischen Ästhetik von Werner Hochbaums „Brüder“. In: Büttner, Elisabeth/Schätz, Joachim (Hrsg.): Werner Hochbaum. An den Rändern der Geschichte filmen, Wien, S. 299–319. Sauer, Birgit, 2001: Die Asche des Souveräns. Staat und Demokratie in der Geschlechterdebatte, Frankfurt a. M./New York. Zelger, Sabine, 2011: „Wenn mein sonstiges Leben auch bunt war“. Werner Hochbaum und die Zurichtungen seiner Biographie. In: Büttner, Elisabeth/Schätz, Joachim (Hrsg.): Werner Hochbaum. An den Rändern der Geschichte filmen, Wien, S. 61–70.
INSZENIERTE GEWALT DES STAATES Zur Polizei im Film der Zwanzigerjahre Martin Weidinger Als zentraler Teil der Exekutive wird die Polizei gerade durch ihre öffentliche Sichtbarkeit landläufig als Inbegriff der Staatsgewalt wahrgenommen.1 Die Polizei bekämpft Verbrechen bzw. VerbrecherInnen und hält die öffentliche Ordnung aufrecht – so lautet zumindest eine populäre Zuschreibung. Wer definiert, was ein Verbrechen ist und was nicht, wird in der Regel nicht gefragt. Ebenso wenig wird thematisiert, dass die „öffentliche Ordnung“ selbstverständlich ebenfalls ein politisches Konstrukt darstellt, das bestimmten Interessen dient und anderen wiederum hinderlich ist. Dass die Polizei immer auch politisches Instrument war und ist, bleibt aus den vorherrschenden und bis in die Gegenwart transportierten Images weitgehend ausgespart. Bezogen auf die Entwicklung der Polizei zu einer eigenständigen staatlichen Institution in Deutschland verweist der Soziologe Martin Winter auf einen zentralen Differenzierungsschritt im 19. Jahrhundert: jenen der Trennung zwischen Wohlfahrtspolizei und Sicherheitspolizei.2 Die Wohlfahrtspolizei sollte dem allgemeinen Wohl, insbesondere im ökonomischen Sinne, dienen. Doch die Förderung der allgemeinen Wohlfahrt kam eher einer politischen, wirtschaftlichen und moralischen Bevormundung der Untertanen durch den Staat gleich. Die Sicherheitspolizei sollte die öffentliche Sicherheit in einem weiten Sinne gewährleisten, insbesondere aber für den Schutz des Staates verantwortlich sein.3
Die gesetzgeberische Kodifizierung dieser Weichenstellung brachte eine Reduktion der Polizeiaufgaben auf die „Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ mit sich.4 Diese Verengung des Polizeibegriffs und die Abkopplung der Aufgaben allgemeiner Wohlfahrtspflege stellen nach Winter einen „erste[n] große[n] Schritt in Richtung Institutionalisierung von Polizeibehörden als Ordnungsbehörden“5 dar. 1
2 3 4 5
Die im vorliegenden Beitrag aufgrund der Themenstellung vorgenommene Reduktion von Staatsgewalt auf Polizei bzw. auf die exekutive Gewalt des Staates soll keineswegs die Ansicht ausdrücken, dass sich Staatsgewalt ausschließlich oder auch nur vorwiegend in dieser manifestiert. Winter 1998, S. 46. Ebd., S. 46f. Ebd., S. 47. Ebd.
36
Martin Weidinger
In zentralen staatstheoretischen Werken der Zwischenkriegszeit wird die Staatsgewalt und damit auch die Rolle und Funktion der Exekutive auf unterschiedliche Weise diskutiert. Hans Kelsen oder Hermann Heller setzen sich beispielsweise mit der Staatsgewalt und ihrer politischen Wirkung auseinander. Für Kelsen „muß die Staatsgewalt Rechts-Gewalt, d.h. die spezifische Gewalt des Rechtes, das ist: seine Geltung sein“.6 Hervorzuheben ist insbesondere, dass, was bei ihm als Staatsgewalt figuriert, die „Sollgeltung“ des Rechts ist – keine „irgendwie natürliche Kraft“, wie die zeitgenössische Staatslehre laut Kelsen behauptet.7 Nach Heller hingegen ist der Staat „wie jede Organisation zunächst ein wirklicher Leistungszusammenhang, als dessen Ergebnis uns die Staatsgewalt nicht etwa als bloss vorgestellte, sondern als kausal wirkende Einheit entgegen tritt.“8 Er erhebt in seinem postum veröffentlichten Hauptwerk Staatslehre (1934) Einspruch gegen die Ansicht Kelsens und seiner Anhänger, die zu einer „Entwirklichung des Staates gelangen […], die Staatsgewalt als Seinsfaktum bestreiten und nur noch als ‚Sollgeltung‘ des Rechts kennen“.9 Nach Heller ist die Staatsgewalt (im Rechtsstaat) „immer legale, d.h. rechtlich organisierte politische Macht“.10 Sie ist also ein sehr reales Gebilde und „wird von allen Beteiligten als eine neue Wirkungseinheit erlebt“.11 Ihre Existenz ist undenkbar „ohne die politische Solidarität eines Machtkerns“.12 Der Fokus der Verfassungslehre Carl Schmitts, erstmals 1928 veröffentlicht, ist ein anderer und viel enger umgrenzt als jener der Staatslehren Kelsens und Hellers. Schmitt ist an der Darstellung der „Verfassungslehre des bürgerlichen Rechtsstaates“ gelegen.13 Er bezieht sich konkret auf die Weimarer Republik und auf die deutsche Verfassungsgeschichte. Es überrascht kaum, dass ein Gegner der liberalen Demokratie, ein rechtskonservativer Theoretiker, wie der in den 1930er Jahren zum prominenten Juristen des nationalsozialistischen Staates aufgestiegene Schmitt, in seinem Werk auf die Polizei im Kontext von Einschränkungen der persönlichen Freiheit zu sprechen kommt. Überlegungen zur öffentlichen Sicherheit, Ruhe und Ordnung bzw. die Abwendung von Gefahren seien Aufgabe der Polizei14 – hier findet sich Schmitt noch im Einklang mit einem verengten Polizeibegriff bzw. der Idee einer „Sicherheitspolizei“.15 Sodann kommt Schmitt allerdings auf die Notwendigkeit der Freiheitseinschränkung zu sprechen. Über den Verweis auf das preußische Allgemeine Landrecht, insbesondere auf einen Paragraphen, der als gesetzliche Grundlage für die Polizeibefugnisse gelte, landet er 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Kelsen 1925, S. 97. Ebd., Kelsen bezieht sich hier auf Georg Jellinek. Heller 1934, S. 238. Ebd. Ebd., S. 243. Ebd., S. 239. Ebd., S. 240. Schmitt 1954, S. XI. Ebd., S. 176. So umreißt auch Max Weber in Wirtschaft und Gesellschaft die Polizeiaufgaben mit „de[m] Schutz der persönlichen Sicherheit und öffentlichen Ordnung“. Weber 1980, S. 516.
Inszenierte Gewalt des Staates
37
schließlich bei der zeitweiligen Außerkraftsetzung der Grundrechte – beim Ausnahmezustand.16 Die Diskussionen zum Wesen der Staatsgewalt in der Staatstheorie lassen auf die Wichtigkeit und auf das kontroverse Potential dieser Frage in den Jahren nach 1918 sowohl in Deutschland als auch in Österreich schließen. Die Herstellung des staatlichen Gewaltmonopols wurde für das Funktionieren der den zusammengebrochenen Monarchien nachfolgenden Staaten als von zentraler Bedeutung angesehen. Die Staaten sollten ihre Stärke und über diese nichts weniger als ihr Existenzrecht (und ihr Anrecht, den als „stark“ wahrgenommenen Monarchien nachzufolgen) unter Beweis stellen. Der Polizei kam hierbei die Position eines zentralen Akteurs zu, insbesondere mit Blick auf die Repräsentation des Staates und seiner legitimen Gewalt gegenüber seiner Bevölkerung. Die Rolle der Polizei und vielmehr noch ihr öffentliches Image für die Menschen sind als integraler Teil dieser Bemühungen anzusehen. Im öffentlichen Diskurs der 1920er Jahre spielte der mittlerweile zum Massenmedium avancierte Film17 eine wichtige Rolle als diskursive Arena. Gerade ein so populäres Medium, das im unmittelbarsten Sinne ein Bild der Polizei zeigt, gibt Aufschluss über die Repräsentation der Exekutive und ihre Rolle im öffentlichen Raum. Anhand deutscher und österreichischer Beispiele aus den 1920er Jahren möchte ich die filmische Darstellung der Polizei nach folgenden Fragen beleuchten. In welchen Situationen treten Polizisten in den Filmen auf und wie werden die Auftritte inszeniert? Ist es der „Schutzmann“ oder der „Bulle“, den die Kamera einfängt? Ist die fiktionale Staatsgewalt in ihrer Repräsentation durch die Polizei Gewalt, die den Menschen als Bedrohung erscheint, oder wird alleine über die Präsenz von uniformierten Beamten im öffentlichen Raum ein zumindest subjektives Gefühl von Schutz und Sicherheit gestiftet? Sind Polizisten kompetente und effiziente Verbrechensbekämpfer oder inkompetente Bürokraten? Anhand einer Unterteilung in drei Abschnitte, die versucht, eine Typologie der Polizeiauftritte bereitzustellen, wird mehr oder minder guten Polizisten nachgespürt sowie nach der Bedeutung der jeweiligen Darstellungsweise für das vorherrschende Bild von Staatsgewalt gefragt. 1. „FREUND UND HELFER“: DIE POLIZEI ALS ORDNUNGSHÜTER/ORDNUNGSSTIFTER Ein gängiges Bild der Polizei in der Zwischenkriegszeit ist folgendes: Sie tritt in Form freundlicher Uniformierter in Erscheinung und hält durch ihre schlichte Präsenz im öffentlichen Raum die Ordnung aufrecht. Die Beamten helfen rechtschaffenen Menschen durch den (meist großstädtischen) Alltag, kleinere Probleme und Sorgen werden ganz selbstverständlich und wie nebenbei aus der Welt geschafft. Mit sicherer Hand regelt Albert, ein junger, engagierter Polizist, in Joe Mays 16 Schmitt 1954, S. 176. 17 Vgl. z.B. Kaes 2004, S. 39.
38
Martin Weidinger
Asphalt (D 1929) den dichten Verkehr in der pulsierenden Metropole und vermag so selbst in das schier unüberschaubare Großstadtchaos den Anschein eines geordneten Ablaufens zu bringen. Ein freundlicher Austausch mit einem Kollegen wird kurz ins Bild genommen, bevor dieser Albert ablöst. Währenddessen kommt es in einem Juweliergeschäft in unmittelbarer Nähe zum Diebstahl eines Edelsteins. Der junge Verkehrspolizist erweist sich auch noch als findiger Kriminalist, indem er aufdeckt, wie die Diebin den Stein in der Spitze ihres Regenschirmes versteckt hat. Auch Alberts alter Vater ist Polizist – die Eltern sind stolz auf ihren Sohn. Im Privaten bleibt für Albert freilich nicht alles so geordnet, wie es in den ersten Szenen erscheint. Die schöne Juwelendiebin versteht ihn zu verführen. Sie hätte den Diebstahl nur begangen, um ihre Miete bezahlen zu können und nicht auf der Straße zu landen. Albert weiß, was „die Straße“ für eine junge Frau bedeutet, und lässt sich zusehends vom Weg des korrekten Amtshandelns abbringen. Die Handlung gipfelt in der Wohnung der schönen Diebin in einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit einem anderen Mann, der am Ende tot am Boden liegt. Albert gesteht seinen Eltern alles und wirft sich in den Schoß seiner Mutter: „– – ich habe – – einen Menschen – – umgebracht!“ Ihm scheint bewusst zu sein, was sein Vater schließlich ausspricht: „Recht muss Recht bleiben!“ Ohne Zögern bringt der Vater den Sohn auf das Kommissariat. Ausgedrückt wird, dass Recht und Pflicht unteilbar sind und immer und für jeden gelten. Der Tod des fremden Mannes ging jedoch aus einer Notwehrsituation hervor und so kann Asphalt ein Happy End für alle ProtagonistInnen aufbieten – sogar für die junge Juwelendiebin, die sich in Albert verliebt hat und schließlich auch nur ein guter, im Chaos der Moderne in Not geratener Mensch ist. Siegfried Kracauer diagnostiziert in Asphalt denn auch eine Wärme, die nur wenige Filme der Stabilisierungszeit ausstrahlen.18 Diese wird einerseits innerhalb Alberts Familie bzw. in seinem innigen Verhältnis zu den Eltern sichtbar, andererseits sind es Polizisten wie er, denen es gelingt, den Menschen im Großstadtleben nicht nur das Gefühl der Sicherheit, sondern auch der Geborgenheit zu vermitteln. Auf diese Weise wird aus der oft negativ konnotierten modernen Metropole – dem unmenschlichen, ja menschenvernichtenden Moloch – ein lebenswerter Ort, an dem es in der Person des guten Polizisten jemanden gibt, der auch ein Auge auf die „einfachen Leute“ hat. Alberts innerhalb seiner eigenen Familie tradiertes Rechts- und Pflichtbewusstsein und seine Gesetzestreue haben ihre Basis nicht so sehr in der strikten Umsetzung staatlichen Regelwerks, sondern in einer grundsätzlich menschenfreundlichen Einstellung den MitbürgerInnen gegenüber. In ihrer Verkörperung durch Albert präsentiert die Staatsgewalt ein offenes und freundliches Gesicht. Den Fokus auf die Polizei in Form einer Story, die einen jungen Polizisten als Helden in ihrem Mittelpunkt hat, teilt Asphalt mit dem ein Jahr später entstandenen österreichischen Spielfilm Die Tat des Andreas Harmer von Alfred Deutsch-
18 Vgl. Kracauer 1984, S. 168.
Inszenierte Gewalt des Staates
39
German.19 Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit prägen das Leben in Wien. Andreas Harmer ist ein rechtschaffener junger Mann, der als Arbeitsloser durch glückliche Fügungen die Chance erhält, ein Praktikum bei der Polizei zu machen. Er bewährt sich und wird bald zum „richtigen“ Polizisten befördert. Seine Metamorphose wird vom Regisseur in mehreren Szenen ins Bild gesetzt. Harmer wird während der Polizeiausbildung gezeigt, im Lehrsaal und beim Kampftraining, bevor er dann nach einer sehr kurz erscheinenden Ausbildungsphase als vollwertiges Exekutivorgan in blitzender Uniform (und mit einem treuen Schäferhund an seiner Seite) vor die Menschen tritt.
Abb. 1: Die Tat des Andreas Harmer
Bereits eine frühe Szene des Films zeigt Harmers furchtlose Hilfsbereitschaft im Einsatz: Im Prater stellt er nur mit Hilfe seines Hundes einen Dieb und kann einer Dame ihre geraubte Handtasche wenige Minuten nach dem Diebstahl bereits zurückgeben. Selbst in dieser Sequenz verlässt sich Deutsch-Germans Film großteils auf Bilder, die die Verfolgung der Diebe auf übersichtliche Weise in der Totalen darstellen. Ein kurzes Handgemenge zwischen den Dieben, das Harmer in diese Bilderfolge nur für wenige Sekunden durchbricht, bevor der Film visuell – in Schnitt, Montage und Kameraeinstellung – wieder Ordnung signalisiert.
19 Für die Zurverfügungstellung einer DVD-Kopie des äußerst selten gezeigten Films danke ich Thomas Ballhausen vom Filmarchiv Austria.
40
Martin Weidinger
Abb. 2: Die Tat des Andreas Harmer
Auch im Kontext wesentlich bedrohlicherer krimineller Szenarios erweist sich Harmer als Glücksfall eines Polizisten. Eine Bande von Geldfälschern operiert von einem Haus aus, in dem Harmers Schwester als Kindermädchen tätig ist, und schreckt, um ihre Geschäfte weiterführen zu können, selbst vor drastischen Taten nicht zurück. Der junge Polizist agiert auch hier furchtlos. Er rettet das zwischenzeitlich von den Verbrechern entführte Mädchen, das andere Polizisten zuvor nicht zu beschützen bzw. aufzuspüren im Stande waren, und bringt die kriminellen Brüder unter Einsatz des eigenen Lebens zur Strecke. Seine scheinbare Omnipräsenz lässt das Bild einer weitreichenden Durchstaatlichung auch privater bzw. halb-privater Räume entstehen. Polizei ist überall, Kriminelle können sich nirgends vor staatlichen Zugriffen sicher fühlen. Entsprechend fällt seine Belohnung aus. Er „bekommt“ eine Frau, die höheren sozialen Sphären entstammt und zuvor durchaus – besonders auch von ihrem Umfeld beeinflusst – Zweifel hatte, ob ein zum Polizisten gewordener Ex-Arbeitsloser der richtige, d.h. der standesgemäße Partner für sie sei. Asphalt und Die Tat des Andreas Harmer heben sich von den im Weiteren noch diskutierten Filmen insofern markant ab, als sie Geschichten erzählen, die Polizisten in ihrem Zentrum haben, ja um die Figuren dieser jungen Männer herum strukturiert sind. Asphalt wird von Siegfried Kracauer als Beispiel des „Weimarer Straßenfilms“ gelesen.20 Der Kleinbürger, den die Verlockungen und Gefahren der „Straße“ beinahe in den Abgrund ziehen, ist vielleicht nur zufällig Polizist. Anders ist es in Die Tat des Andreas Harmer, wie aus den produktions20 Kracauer 1984, S. 165ff.
Inszenierte Gewalt des Staates
41
historischen Informationen geschlossen werden kann. Regisseur Deutsch-German wurde nämlich bei der Produktion des Films von der Polizeidirektion Wien unterstützt, die nicht zuletzt durch den schweren „Image-Schaden“ im Zuge des blutigen Polizeieinsatzes rund um den Wiener Justizpalastbrand 1927 Interesse daran hatte, an einer Verbesserung des Bildes der Exekutive in der Öffentlichkeit zu arbeiten. Ein Film, in dem die Polizei aus bestens ausgebildeten, sympathischen und integren, ja heldenhaften Männern besteht, erschien dazu hervorragend geeignet. Politisch prekäre Einsätze hat Harmer nicht zu absolvieren. Er rettet Frauen und Kinder und bekämpft brutale Gangster mit ausländischen Namen. Ansonsten ist er zwar hilfsbereit und tapfer, aber im Kern lediglich ein Biedermann mit (klein)bürgerlichen Aspirationen – weit davon entfernt, den Eindruck zu vermitteln, ein politisches Instrument zu sein. Im Privaten liegt auch für ihn das „kleine Glück“.21 Die im Film angelegten Identifikationsmöglichkeiten konnten kaum systemkritischen Einstellungen oder gar Aktivitäten Vorschub leisten. Harmer salutiert bei jeder sich bietenden Gelegenheit – selbstverständlich nicht nur Vorgesetzten gegenüber – und zeigt damit an, dass er als Ordnungshüter nicht zuletzt der gehorsamste Diener rechtschaffener Menschen ist (siehe Abb. 1 und bes. Abb. 2). Von der sozialdemokratischen Presse wurde Die Tat des Andreas Harmer als staatliche Propaganda eingestuft.22 Elisabeth Büttner und Christian Dewald bringen den Grundtenor des Films treffend auf den Punkt: „Er nährt die Vision einer allumfassenden Ordnung in Zeiten der Unübersichtlichkeit und wirtschaftlichen Krise.“23 Die österreichische Polizei konnte sich in dem Film also durchwegs als jene Instanz präsentieren, die diese Ordnung trotz aller Unwägbarkeiten einer wirtschaftlich und politisch unsicheren Periode garantierte. Das spiegelt sich schlussendlich im konventionellen und klar strukturierten Aufbau der Handlung, im langsamen Tempo und der visuellen Umsetzung in Form übersichtlicher Einstellungen und Schnittfolgen wider. Von einer „Verherrlichung der Polizei“ spricht Kracauer24 in Bezug auf Karl Grunes archetypischen Straßenfilm Die Straße (D 1923). Auch hier findet sich eine Kombination von Szenen, in denen Polizisten als Freunde und Helfer im städtischen Alltag auftreten, und einem Schlussteil, in dem ein Mord aufzuklären ist. Ein vom biederen häuslichen Leben mit seiner älteren Ehefrau gelangweilter Mann sucht Vergnügungen des pulsierenden urbanen Lebens. Der Film markiert „die Straße als eine Gegend […], in der das Gesetz des Dschungels herrscht und man das Glück im Spiel und in flüchtigen Sexaffären sucht“.25 Anarchie, Chaos und vielerlei Gefahren – vor allem für die moralische Gesundheit des Menschen – lauern in den Großstadtstraßen. Trotzdem vermag die Polizei Ordnung in die Un21 Diese Diagnose trifft auch auf Albert aus Asphalt zu. Und selbst die vormalige Juwelendiebin sucht, wie sich am Ende des Films herausstellt, nichts anderes als dieses „kleine Glück“ in der Privatheit der kleinbürgerlichen Existenz an Alberts Seite. 22 Vgl. Moritz/Moser/Leidinger 2008, S. 205. 23 Büttner/Dewald 2002, S. 296. 24 Kracauer 1984, S. 131. 25 Ebd.
42
Martin Weidinger
ordnung zu bringen und den BürgerInnen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Bezeichnend hierfür ist eine Szene, in deren Mittelpunkt ein Kind steht. Ein kleiner Junge strandet inmitten des nie abreißenden Verkehrs auf einer Verkehrsinsel. Es gelingt ihm nicht, die Straße zu überqueren. Ein Polizist ist sofort zur Stelle, hält die Autos auf, führt den Jungen über die Straße und bringt ihn zur Polizeistation. Dort scharen sich sogleich fünf Polizisten um das Kind, tätscheln ihm freundlich Kopf und Wangen, ein Polizist schüttelt ihm die Hand. Sie spielen mit dem Jungen, einer schaukelt ihn auf seinem Knie, bevor schließlich ein Beamter mit dem Kind an der Hand die Polizeistation verlässt. Der freundliche Polizist bringt den Buben unbeschadet nach Hause. Alleine diese Szenenfolge, in der der Beamte idealisiert dargestellt wird, lässt Kracauers Urteil der Polizei-Verherrlichung nachvollziehbar erscheinen. Im letzten Drittel des Films müssen die Polizisten allerdings ihre Kompetenzen in der Aufklärung von Kapitalverbrechen statt im freundlichen Umgang mit Kleinkindern unter Beweis stellen. Der in den Zwischentiteln lediglich als „Mann“ bezeichnete Protagonist steht unter dem dringenden Verdacht, einen Mord begangen zu haben. Er gerät außerhalb des kleinbürgerlichen Heims in schlechte Gesellschaft und erliegt den Reizen einer Frau von der Straße. Kurz darauf findet er sich in einem Zimmer mit einem Toten wieder. Dort trifft ihn auch die Polizei an. Sowohl dem fälschlich des Mordes verdächtigten Mann als auch den kurz darauf überführten tatsächlichen TäterInnen – der Prostituierten und einem Zuhälter – gegenüber verhält sich die Polizei vollkommen korrekt, ja höflich, und wendet in keinem Fall Gewalt an. In seiner Darstellung einer Handlung, die in der Figur des Mannes von der Auflehnung zur Unterwerfung führt, lege der Film, so Kracauer, autoritäres Verhalten nahe.26 Die Straße erscheint als Plädoyer für ein kleinbürgerliches Angepasst-Sein, als eindringliche Warnung vor dem Versuch des Ausbruchs aus dieser sicheren, geordneten und nicht zuletzt moralischen Welt. 2. LEGALE STAATSGEWALT VERSUS ILLEGALE, VERBRECHERISCHE GEWALT: POLIZISTEN ALS FINDIGE KRIMINALISTEN In Die Tat des Andreas Harmer und Asphalt sind die Polizisten die Helden – auch die romantischen Helden – der Filme. Die Straße zeichnet sich dadurch aus, dass die Exekutive nicht nur außerordentlich freundlich ins Bild gerückt ist, sondern dass ihr zudem sehr viel Platz in der Filmhandlung, die im Kern keine KriminalStory ist, eingeräumt wird. In allen drei Filmen sind die Polizisten sowohl Freunde und Helfer als auch kompetente Bekämpfer von (Kapital-)Verbrechen. Auf letzteren Aspekt konzentriere ich mich nun im zweiten Abschnitt meines Beitrags. Er stellt Filme in den Mittelpunkt, in denen Polizisten nur auftreten bzw. erst auftreten, wenn es durch die Handlung notwendig wird. Ihre Aufgabe ist es dann erwartungsgemäß, ein Verbrechen aufzuklären bzw. eine/n Kriminelle/n dingfest zu 26 Kracauer 1984, S. 128f.
Inszenierte Gewalt des Staates
43
machen. Wie inszenieren die Filme dieses Auftreten ansonsten kaum handlungsrelevanter und als Individuen oft namenloser Polizisten? Wie wird die weitgehend anonyme Staatsgewalt in diesem Handlungszusammenhang dargestellt? Orlacs Hände, ein 1924 von Robert Wiene inszenierter österreichischer Film, erzählt die Geschichte eines Pianisten, dem bei einem Eisenbahnunglück beide Hände abgetrennt werden. Im Zuge eines medizinischen Experiments werden ihm die Hände eines Mörders angenäht. Fortan leidet er unter der Wahnvorstellung, die den Mörderhänden innewohnende „verbrecherische Energie“ würde auch ihn, Orlac, zum Mörder machen. Ein Mord geschieht dann auch im letzten Drittel des Films, und die Kriminalpolizei tritt auf den Plan. Das Innere einer Polizeistation ist zu erkennen. Jemand läuft ins Gebäude und ruft „Mord!“ Uniformierte Polizisten setzen sich sofort in Bewegung. In der nächsten Szene ist ein Kriminalpolizist in Zivil am Tatort zu sehen. Es handelt sich bei ihm um einen distinguiert wirkenden älteren Herrn, andere Beamte in Anzügen begleiten ihn. Der Kommissar untersucht die mutmaßliche Tatwaffe – einen Dolch – mit der Lupe und erkennt darauf sofort und mit freiem Auge die Fingerabdrücke des hingerichteten Mörders Vasseur. Der verdächtige Pianist sitzt in einer der folgenden Szenen Kommissar und Staatsanwalt zur Befragung gegenüber. Der Kommissar bedankt sich außerordentlich höflich für Orlacs Aussage. Er glaubt an Orlacs Unschuld und überzeugt den Staatsanwalt, diesen vorerst nicht festnehmen zu lassen. Mr. Nera, der Bösewicht und Kopf hinter der gesamten kriminellen Aktion, wird schließlich vom Kommissar und anderen anzugtragenden Polizisten festgenommen. Am Ende erfährt das Publikum, dass auch Vasseur unschuldig gestorben ist und Nera für alle Morde verantwortlich war. Orlacs Hände sind demnach „clean“: Orlac hat also dem korrekten, kompetenten und höflichen Kommissar für die Aufklärung und viel mehr noch für die Wiederherstellung seines Seelenheils zu danken. Die Kriminalbeamten in Orlacs Hände agieren als versierte Sicherheitsbeamte und sind dabei nicht nur Verwalter der öffentlichen Sicherheit, sondern treten außerdem als aktive Beschützer und Garanten dieser Sicherheit – als Ordnungsbehörde mit weitreichenden Kompetenzen – auf. Makellose kriminalistische Arbeit führt zur Aufklärung des Verbrechens. Die Überwältigung des Mörders stellt dann keine Schwierigkeit dar und geschieht so rasch, dass kaum die Anzüge der Beamten zerknittert werden. Souveränität, gepaart mit einem sicheren Gespür für Fairness zeichnet den untersuchungsleitenden Beamten aus und wirft ein dementsprechend positives Licht auf die Polizeiarbeit. Unaufgeregt und seiner Sache sicher bewegt er sich beinahe unauffällig durch die Szenen. Einschüchterung gehört nicht zu seinen Arbeitsmethoden. Einen vergleichbaren Auftritt eines wiederum älteren Kriminalbeamten gibt es in G. W. Pabsts Die freudlose Gasse (A 1925). Nach dem Mord an einer Frau wird auch hier ein unschuldiger junger Mann – August Stirner ist sein Name – des Mordes bezichtigt und im Zuge der Untersuchung vom Kommissar mit aller Höflichkeit und allem Respekt behandelt. Als sich später aufgrund des Geständnisses der wirklichen Täterin alles aufklärt, drückt der Beamte Stirner freundlich die Hand. Hier kommt es, wie in Orlacs Hände, zu keinerlei Vorverurteilungen, hier stürzt sich die Polizei nicht auf den erstbesten Verdächtigen, nur um der Öffent-
44
Martin Weidinger
lichkeit möglichst rasch einen Täter präsentieren zu können. Staatsgewalt ist auch hier nicht nur eine Gewalt auf der Seite der gesetzestreuen BürgerInnen. Sie ist eine Gewalt, vor der sich jene, die sich nichts zuschulden kommen lassen, niemals fürchten müssen und die jene „anderen“, die die Gesetze brechen, umgehend aufspürt und ins Gefängnis bringt. Besonnen, korrekt, ja scheinbar gegen Fehler gefeit, versehen die Repräsentanten dieser idealisierten Ordnungsbehörde Dienst – Dienst an den BürgerInnen, wie die Filme suggerieren, während dieser (Ordnungs)Dienst zuvorderst ein Dienst am Staat ist. Ein von Orlacs Hände und Die freudlose Gasse insofern abweichendes Szenario, als es nicht um ein Kapitalverbrechen wie Mord geht, zeigt der österreichische Spielfilm Café Elektric (alternativer Titel: Die Liebesbörse) von Gustav Ucicky (1927). Knotenpunkt der Handlung ist das Café Elektric, ein verrauchtes Amüsierlokal, „Liebesbörse“ und Umschlagplatz für Materielles wie NichtMaterielles.27 Von Prostituierten bis hin zu respektablen Geschäftsmännern verkehren alle Schichten im Café, auch für die Hauptfigur Ferdl ist es der zentrale Ort zur Verfolgung seiner hochstaplerischen Interessen. Seine „bevorzugte Spielwiese sind die Gefühle der Frauen, für ihn reine Spekulationsmasse“.28 Ein wertvoller Ring wird gestohlen, eine eifersüchtige Bekannte verrät Ferdl an die Polizei, zwei Beamte in Zivil warten daraufhin im Café auf ihn. Ruhig und professionell – ohne jede Spur von Schwerfälligkeit oder Altersmüdigkeit – befördern sie Ferdl aus dem Lokal. Zwischen der Welt des Café Elektric mit ihren Berührungspunkten zur Unterwelt und der Polizei existiert augenscheinlich eine funktionierende und gut eingespielte Zusammenarbeit, zum beiderseitigen Nutzen. Man versteht einander und hat keine Berührungsängste. Der Regisseur führt die beiden Polizisten ohne Hast in die Handlung ein, lässt ihnen Zeit, sich zu setzen und eine Bestellung aufzugeben. Lediglich in der Szene des kurzen Kampfes zwischen den Beamten und Ferdl folgen einige schneller geschnittene Bilder aufeinander. Die Kamera rückt das Geschehen großteils über halbnahe oder amerikanische Einstellungen (in denen die Figuren etwa bis zu ihren Knien gezeigt werden) ins Bild (vgl. Abb. 3), um danach rasch wieder auf sichere Distanz und in die Halbtotale zu gehen. Nach einem kurzen Augenblick der Irritation herrscht wieder Übersichtlichkeit. Der Polizeiauftritt in dieser Szene zeigt zwei unauffällige Beamte, die sich in das Ambiente des Lokals einfügen, ohne dort weiter aufzufallen. Der erste Eindruck lässt die anschließende Professionalität im Zuge der raschen Überwältigung des Protagonisten nicht unmittelbar erwarten. Insofern hat die Kriminalpolizei in dieser Darstellung ihrer makellosen Amtshandlung schließlich noch ein positives Überraschungsmoment auf ihrer Seite – ihre vorteilhafte Zeichnung kann dadurch noch verstärkt werden. Die Kontakte der Polizisten und ihr sicheres Agieren im scheinbar gut vertrauten Umfeld des Amüsierlokals in dieser Szene verdeutlichen die Nähe der Beamten zur Unterwelt – sie kennen ihre „Klienten“ und „Klientinnen“ und die Orte, an denen diese zu finden sind. Unaufgeregte Souveränität ist 27 Vgl. Büttner 2010, S. 157. 28 Ebd., S. 156.
Inszenierte Gewalt des Staates
45
wie schon in Orlacs Hände auch hier ein Merkmal der Exekutive. Die geordnete und überschaubare Darstellung unterstreicht das effiziente Agieren der staatlichen Ordnungsbehörde.
Abb. 3: Café Elektric
Die Präsenz der Staatsgewalt in Form ihrer polizeilichen Repräsentanten stellt sich in den diskutierten Filmen somit überwiegend positiv dar. Sowohl als uniformierte „Schutzmänner“ als auch als Kriminalpolizisten machen die Exekutivbeamten auf der Leinwand gute Figur. Das moderne urbane Leben erscheint in vielerlei Hinsicht chaotisch und bedrohlich – Polizisten bringen ein Element der Ordnung ein und sorgen dafür, dass kleinere Störungen rasch beseitigt werden. Die Großstadt, die in den diskutierten Filmen den zentralen Schauplatz bildet,29 ist jedoch auch als Ort für Verbrecher inszeniert, deren kriminelle Aktivitäten weit über Taschendiebstahl hinausgehen. Die Polizei agiert – nunmehr personifiziert durch Kriminalbeamte, oftmals ältere Männer und stets in Zivilkleidung – wiederum korrekt und effizient. Wesentlich in der Darstellung der Polizei ist mit Blick auf die zentrale Rolle der modernen und im frühen 20. Jahrhundert stetig wachsenden Großstadt – des 29 Einzig Orlacs Hände ist örtlich nicht exakt festzumachen und wohl bewusst vage gehalten. Die Tatsache, dass der Film auf einem französischen Roman basiert (Les mains d’Orlac von Maurice Renard), legt die Vermutung nahe, dass er in Frankreich spielt. Einige vorkommende Ortsnamen untermauern dies. Bilder und Szenen aus der Handlung lassen eher das Szenario einer kleineren Stadt als jenes einer Metropole entstehen. In der Tradition des expressionistischen (Horror-)Films stehend, ist Orlacs Hände jedoch nicht an einer konkreten Verortung innerhalb einer realen Geographie gelegen. Für die Filmhandlung wäre eine solche kaum von Bedeutung.
46
Martin Weidinger
bedrohlichen, „all-devouring monster“30 – somit immer auch zu zeigen, dass der Staat es versteht, diesen Lebensraum zu sichern und in einem Zustand der Ordnung zu halten. Der Staat muss die Stadt in seiner Gewalt haben. Den angesprochenen Filmen gelingt es, ein Bild von Staat und Staatsgewalt zu transportieren, das an der Integrität des Staates keine Zweifel aufkommen lässt und diese als unversehrt darstellt. Der staatliche Zugriff auf Personen, die die Ordnung und Sicherheit gefährden könnten, bleibt zu jeder Zeit sichergestellt, die Polizei hat jene Kräfte, die eine potentielle Störung für den Staat darstellen, unter Kontrolle. Der Staat steht also trotz verschiedener zeitbedingter Irritationen auf einem sicheren, durch seine Gewalt abgesicherten Fundament. 3. STAATSGEWALT ALS (BE)DROHUNG Der filmische Beitrag zum Diskurs zu Staat und Staatsgewalt – im vorliegenden Aufsatz eingegrenzt auf die Darstellung der Polizei – erscheint mit Blick auf die untersuchten Filme trotz einiger Abstriche insgesamt als überraschend homogen und weist eine Tendenz zur systemaffirmativen und unkritischen Darstellung auf. Hier ist Polizei niemals eine Gewalt, vor der die gesetzestreue Bevölkerung in Furcht leben müsste. Im Gegenteil, sie repräsentiert die positiv konnotierte Gewalt, die die Menschen vor der negativen, kriminellen Gewalt beschützt. Erstere hat Moral und Recht auf ihrer Seite und ist am Ende somit unweigerlich stärker als die unmoralische und „falsche“ Gewalt des Unrechts. G. W. Pabsts bereits erwähnter Film Die freudlose Gasse – basierend auf einem Roman des Wiener Autors und Publizisten Hugo Bettauer – entwirft in einigen Sequenzen jedoch ein konträres Bild. Der Film thematisiert auf komplexe und ambitionierte Weise das Leben im Wien der Inflationsjahre („Wien 1921“, präzisiert der erste Zwischentitel). Vormals in gesicherten Verhältnissen lebende Angehörige der Mittelschicht rutschen ins Elend ab und finden sich plötzlich dort, wo jene, die in den trostlosen Hinterhäusern der „freudlosen Gasse“ leben, immer schon mit einem Fuß gestanden waren. Am Beginn des Films stehen sie gemeinsam in der langen Schlange vor der Fleischerei Josef Geiringers, um zumindest ein kleines Stück Fleisch zu ergattern. Der Fleischhauer selbst nutzt seine Position skrupellos aus31 und wird sich später im Film das Fleisch von jüngeren Frauen auch mit sexuellen Diensten abgelten lassen. Den hungernden und verzweifelten Menschen in der Schlange droht er mit der Polizei, wenn sie nicht ruhig und geordnet anstehen. Als er diese dann schließlich ruft, drängen drei uniformierte Beamte die Wartenden rücksichtslos noch enger zusammen und rufen dabei laut „Ordnung!“
30 Gay 2001, S. 96. 31 Ein Zwischentitel stellt ihn als „Der Tyrann der Melchiorgasse. Josef Geiringer“ vor.
Inszenierte Gewalt des Staates
47
Abb. 4: Die freudlose Gasse
Die Reihe mag wohl etwas ungeordnet sein, eine die öffentliche Ordnung bedrohende Unordnung geht von den vielfach geschwächten und oft alten Menschen jedoch mit Gewissheit nicht aus. Ein Polizist salutiert dem mächtigen Fleischer.
Abb. 5: Die freudlose Gasse
48
Martin Weidinger
Eine junge Frau erleidet einen Schwächeanfall und bricht zusammen. Einer der Polizisten hilft ihr wieder auf die Beine und sorgt damit für das einzige positive Bild der Polizei in dieser Szenenfolge. Später vertreiben die Polizisten die Menschen, die kein Fleisch mehr bekommen haben, als würden diese Unruhe stiften, als würde es sich bei den Hungernden um eine Versammlung handeln, die der „öffentlichen Ordnung“ gefährlich werden könnte und deshalb aufgelöst werden müsste. Nur wenige Male zeigt die Kamera die Wartenden vor der Fleischerei in der Totale (wie in Abb. 5). Meist bleibt die Kamera in den Szenen mit den Wartenden und dem Fleischer bzw. mit der Polizei nahe an den Menschen. Kaum mehr als ihre Oberkörper sind in den halbnahen Einstellungen zu sehen (Abb. 4), Großaufnahmen verstärken immer wieder die klaustrophobische Atmosphäre. Die Kamera wird so zum Teil des von der Polizei verursachten Gedränges. Anstatt in sicherer Distanz und definitiv außerhalb zu stehen, befindet sie sich mittendrin und erlaubt so keinen strukturierten Blick und keinen Überblick. Hier erweisen sich Kameraarbeit und Schnitt als wesentlich innovativer und moderner als beispielsweise in den später entstandenen Filmen Café Elektric oder Die Tat des Andreas Harmer. Bemerkenswert ist, dass Pabsts Film einen Perspektivenwechsel vornimmt und – in den soeben besprochenen Szenen wird das am klarsten – aus der Sicht der Unterprivilegierten auf die uniformierten Repräsentanten der Staatsgewalt blickt. Hier liegt ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu den zuvor besprochenen Filmen, die auf Polizisten als Helden zugeschnitten sind, sie als Identifikationsfiguren aufbieten und demnach die Handlung aus deren Blickwinkel erzählen. Die Verschiebung der Perspektive geht mit einer markant vom Gros der diskutierten Filme abweichenden Polizei-Darstellung einher und lässt die einem autoritätsverhafteten Blick verpflichteten Entwürfe der übrigen Filmbeispiele umso deutlicher hervortreten. Staatsgewalt ist bei Pabst zur Bedrohung für unbescholtene BürgerInnen geworden. Sie haben sich keiner Vergehen schuldig gemacht und werden trotzdem von der staatlichen Gewalt bedrängt. Die Polizei wird zu jener Instanz, mit der man nicht in Berührung kommen möchte, weil man sich vor ihr ängstigt. Die Drohung mit der Polizei wird auch in anderen Filmen immer wieder als Mittel der Einschüchterung, als Mittel, um Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen, eingesetzt. Als eine Besucherin im Café Elektric in Ferdl jenen Mann erkennt, der ihre Handtasche geraubt hat, droht ihr der Lokalbesitzer sofort: „Nur kein Aufsehen, sonst haben sie nachher noch selbst Scherereien mit der Polizei.“ Lulu, der Protagonistin eines anderen zentralen Werks dieser Periode – G. W. Pabsts Die Büchse der Pandora (D 1928) –, wird im Verlauf der Handlung immer wieder mit der Polizei gedroht, um sie unter Druck zu setzen und beispielsweise Geld von ihr zu erpressen. Geiringer droht ebenfalls zuerst mit der Polizei, bevor diese schließlich auf seine Aufforderung hin die Menschen schikaniert. Dass sich gerade die Schwachen und Unterprivilegierten vor der Staatsgewalt in Acht nehmen müssen, widerspricht gänzlich dem in der Mehrzahl der gesichteten Filme dominierenden Bild. Während in den übrigen Beispielen eine idealisierte Darstellung die Auftritte der Exekutive prägt und sie dementsprechend an deren
Inszenierte Gewalt des Staates
49
positivem Image in der Öffentlichkeit entscheidend mitschreiben, wird bei Pabst die Polizei tatsächlich als „Gewalt“ dargestellt. Inwiefern sie dabei im Sinne Kelsens auf einer Rechtsgrundlage oder bereits im Schmitt’schen Ausnahmezustand handelt, bleibt offen. Allenfalls ist Staatsgewalt in ihrer Ausformung als Polizei in der filmischen Darstellung eine von den Menschen erlebte „Wirkungseinheit“, wie Heller es fasst. Ihrer Rolle als Sicherheitspolizei kommt sie auf der Leinwand allemal nach. Bei den diskutierten Filmen handelt es sich – mit Ausnahme von Die Tat des Andreas Harmer – weder um Filme mit einer vordergründig propagandistischen Intention noch um Werke, die eine klare politische Agenda für sich beanspruchen und offen mit dieser auftreten, wie das um 1930 etwa die kommunistischen Idealen verpflichteten und Staat und Staatsgewalt gegenüber kritischen Filme Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? (Slatan Dudow, D 1932) oder Mutter Krausens Fahrt ins Glück (Phil Jutzi, D 1929) taten. Ein sozialrealistischer und vor allem -kritischer Aspekt tritt lediglich in Die freudlose Gasse klar hervor. Dort wird aus dem vermeintlichen Freund und Helfer ein Instrument der Herrschenden gemacht, mit dem die Bevölkerung unterdrückt wird. Abgesehen von dieser Kritik findet sich in den untersuchten Filmen eine weitgehende Homogenität der überwiegend positiven Darstellung der Staatsgewalt in Form der Polizei. FILME Asphalt, Joe May, D 1929 Café Elektric, Gustav Ucicky, A 1927 Die freudlose Gasse, G. W. Pabst, A 1925 Orlacs Hände, Robert Wiene, A 1924 Die Straße, Karl Grune, D 1923 Die Tat des Andreas Harmer, Alfred Deutsch-German, A 1930
LITERATUR Büttner, Elisabeth, 2010: Im Halblicht der Großstadt. Der Film „Café Elektric“. In: Kos, Wolfgang (Hrsg.): Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930, Katalog zur 361. Sonderausstellung des Wien Museums, Wien, S. 154–157. Büttner, Elisabeth/Dewald, Christian, 2002: Das tägliche Brennen. Eine Geschichte des österreichischen Films von den Anfängen bis 1945, Salzburg/Wien. Gay, Peter, 2001: Weimar Culture. The Outsider as Insider, New York/London. Heller, Hermann, 1934: Staatslehre, Hrsg. Gerhart Niemeyer, Leiden. Kaes, Anton, 2004: Film in der Weimarer Republik. In: Jacobsen, Wolfgang/Kaes, Anton/Prinzler, Hans Helmut (Hrsg.): Geschichte des Deutschen Films, Stuttgart/Weimar, S. 39–98. Kelsen, Hans, 1925: Allgemeine Staatslehre, Berlin. Kracauer, Siegfried, 1984: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt a. M. Moritz, Verena/Moser, Karin/Leidinger, Hannes, 2008: Kampfzone Kino. Film in Österreich 1918–1938, Wien. Schmitt, Carl, 1954: Verfassungslehre, Berlin.
50
Martin Weidinger
Weber, Max, 1980: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen. Winter, Martin, 1998: Politikum Polizei. Macht und Funktion der Polizei in der Bundesrepublik Deutschland, Münster.
DER STÄNDESTAAT IM BIENENSTOCK Georg Rendls Bienenroman Wolfgang Straub Die Erfahrungen mit der österreichischen Revolution im November 1918, mit den kämpferischen Auseinandersetzungen vor dem Parlament, der Möglichkeit einer „Diktatur des Proletariats“ sowie die Ausrufung der Republik führten in konservativen Kreisen zu einer Renaissance ständischer Konzepte. Othmar Spann, der mit seinen „Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft“ – 1921 unter dem Titel Der wahre Staat als Buch veröffentlicht – das diesbezüglich einflussreichste Werk der Zwischenkriegszeit schrieb, meinte im Vorwort zur dritten Auflage 1931, das Buch sei „seinerzeit [...] inmitten der bewegten Tage nach dem Umsturze und unter dem Eindrucke des verlorengegangenen Krieges“1 entstanden. Der Ständestaatdiskurs speiste sich aus unterschiedlichen Quellen. Zum einen bildete sich um Othmar Spanns Lehrstuhl der Nationalökonomie und Gesellschaftslehre an der Wiener Universität der sogenannte Spann-Kreis, der ständische Modelle unter den Auspizien der Spann’schen Ganzheitslehre in den Staatsund Gesellschaftswissenschaften zu etablieren trachtete und Ende der zwanziger Jahre über Bildungseinrichtungen und Publikationen der Heimwehren auch realpolitisch Einfluss erlangte.2 Zum anderen war es die katholische Soziallehre, die sich auf vormoderne, vorrevolutionäre und antiliberale Konzepte berief. Des Weiteren trat in den 1920er Jahren eine neuromantische Richtung auf den Plan, die an romantische Vorbilder anschließen und eine neue katholische Ständelehre erarbeiten wollte.3 Diese Lehre mit ihren Harmonisierungs- und Respiritualisierungsbestrebungen fußt auf den Schriften Karl von Vogelsangs. Der von 1864 bis zu seinem Tod 1890 in Wien tätige katholische Sozialethiker und -reformer gilt als Begründer der christlichsozialen Bewegung. Diskursbestimmend waren darüber hinaus die päpstliche Interpretation von Ständestaatlichkeit sowie die katholische Frauenbewegung. Nicht zuletzt müssen auch literarische Texte als Quelle des Ständestaatdiskurses angesehen werden.
1 2 3
Spann 1931, S. VII. Vgl. Siegfried 1974, S. 88f. Vgl. Lelieveld 1965, S. 436. Mit den romantischen Vorbildern sind in erster Linie die Schriften Adam Müllers gemeint. Für Vogelsang und Spann ist Müllers Werk Elemente der Staatskunst (1809) wichtiger Bezugspunkt. Vogelsangs Forderung „nach einer organischen Integration von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat“ (zit. n. ebd., S. 321) korrespondiert mit Spanns Überlegungen zu Müllers Forderung nach einer Rückwendung zum Mittelalter.
52
Wolfgang Straub
Dieser Beitrag stellt einen Roman in den Mittelpunkt, der als repräsentativ für eine dem Katholischen verpflichtete „Heimatkunst“ gelten kann und der sich an der Poetisierung eines Bienenstaats versucht. Georg Rendl, ein heute auch von der Literaturwissenschaft weitgehend unbeachteter österreichischer Schriftsteller, gelang mit seinem Debüt Der Bienenroman 1931, verlegt im renommierten Leipziger Insel Verlag, ein großer Erfolg bei der Leserschaft und Kritik.4 Inwieweit Rendl mit seinem Werk einen Beitrag zum Ständestaatdiskurs lieferte und die Bilder von Gemeinschaft und Ordnung mit ständischen Konzepten korrespondieren, gilt es hier zu zeigen.5 Dabei wird auch auf die seit der Antike übliche Metaphorisierung des Bienenvolks als staatliche Gemeinschaft einzugehen sein. Es stellt sich die Frage, inwieweit Rendl hier auf ein zu seiner Zeit längst anachronistisches Modell zurückgreift. Um darzulegen, welche Elemente von (Stände-)Staatlichkeit in Rendls Roman zur Sprache kommen, ist es notwendig, wichtige Ausformungen der Ständestaat-Idee in Österreich in ihren Grundzügen zu charakterisieren. Zwei editorische Ereignisse sind in zeitlicher Koinzidenz mit dem Erscheinungsjahr des Bienenromans verbunden: 1931 erschien die dritte Auflage von Othmar Spanns Der wahre Staat, die für den Autor gegenüber der zehn Jahre zuvor erschienenen Erstausgabe ungebrochen aktuell war,6 sowie die Enzyklika Quadragesimo anno, in der Papst Pius XI. die Verbundenheit der Arbeitenden in Berufsständen als ein Rezept gegen die Säkularisierung propagierte und so die Lehre der Vogelsang-Schule Bestärkung fand. DER STÄNDISCHE STAAT VOGELSANGS UND SPANNS Konstitutiv für den Ständestaatdiskurs ist, dass in der Revolution und ihren Folgen der Ursprung der verdammenswerten Zeitumstände (‚Gleichmacherei‘, Individualismus, ‚Mechanismus‘, ‚Bürokratismus‘ etc.) ausgemacht wird. Karl von Vogel-
4
5
6
Vgl. Nauwerck 2006, S. 101 und Holl 1996, S. 172. Georg Rendl war trotz seiner Erfolge bei der Leserschaft ein Außenseiter im Literaturbetrieb (vgl. Aspetsberger 1980). Der „eher unpolitisch[e]“, explizit katholische Rendl (Nauwerck 2006, S. 173) schrieb Beiträge für die 1934 gegründete Wiener Kulturzeitschrift die pause, der Scheichl (1990, S. 204) RegimeNähe attestiert; 1937 wurde in Wien im Musikverein während einer der Österreich-Idee verpflichteten Soiree unter anderem aus seinen Werken gelesen (vgl. Danielczyk 2003, S. 70). Es dürften nicht zuletzt Rendls Mysterien- und Evangelienspiele gewesen sein, die ihn für offiziöse Kulturinitiativen interessant gemacht haben. Karl Müller weist darauf hin, dass Rendls Spiele auch in einer Publikation der Reichsamtsleitung des NS-Lehrerbundes (1936) als „wertvoll“ empfohlen wurden. (Müller 1997, S. 167) Die Bezüge zwischen Literatur und austrofaschistischem „Ständestaat“ haben Alfred Pfoser und Gerhard Renner untersucht und dabei die These aufgestellt, dass „der proklamierte Ständestaat nie über die Literatur hinauskam“, einzig in der Literatur habe sich das Konzept eines Ständestaats „verwirklichen“ lassen (Pfoser/Renner 2005, S. 350). Literatur meint hier religiöse Weihespiele, Massenfestspiele und Ständefestzüge. „An den Gedanken, die sich damals in stürmischen Zeiten mit elementarischer Gewalt aufdrängten, war nicht das mindeste zu ändern.“ Spann 1931, S. VII.
Der Ständestaat im Bienenstock
53
sang sah den Sündenfall der modernen Geschichte in der Französischen Revolution, weil jegliches „Organische“ im Staat abgetötet worden sei: Nicht das Naturrecht, welches Gott mit den ersten Menschen geschaffen, nicht die Gesetze des Christenthums, nicht einmal die Vorschriften einer natürlichen Religion sollten ferner Schranken für die Machtvollkommenheit des Staates seinen Bürgern gegenüber sein [...]. Für den Staat erfand man in der Caricatur der englischen Verfassung eine Musterform, und da es im Lebensprinzip des Liberalismus liegt, das Zusammengehörige zu zersetzen, so stellte man den Grundsatz der Dreitheilung der Gewalten auf und tödtete damit die Reste des organischen Lebens im Staate.7
Für organisches Leben braucht es laut Vogelsang eine ständische Ordnung. Diese biete „sowohl [eine] politische Alternative zum System einer parlamentarischen Demokratie als auch [einen] Gegenentwurf zur Verfassung des freien Wettbewerbs auf der ökonomischen Ebene“.8 Vogelsang sah in einem berufsständischen System die Möglichkeit geboten, den Klassengegensatz zwischen Ausbeuter und Ausgebeuteten – nicht zuletzt durch die Überwindung der Trennung von Eigentum und Arbeit – auszugleichen und dadurch auch das Proletariat obsolet zu machen.9 Erreichen könne man diese organische Integration aller am Staatswesen beteiligten Teile durch eine korporativ gegliederte und organisch entwickelte Gesellschaft [...], welche sich mit dem Staate deckt, so dass die Korporationen – wie die Glieder des menschlichen Körpers – jede ihre eigenartige Aufgabe, in Übereinstimmung mit den andern, erfüllt, vernunftmäßig geleitet und in Harmonie erhalten durch jenes Organ, in welchem – wie die Nerven im Gehirn – alle anderen Organe ihr Zentralorgan besitzen.10
Die Korporationen verfügen über dieses Zentralorgan in der Keimzelle, im „Urbild des Staates“11: in der Familie. Um dieses Zentrum gruppieren sich im föderalistischen System Vogelsangs ringförmig die nächsthöheren Organismen, bis der äußerste Ring mit den Grenzen des Staates zusammenfällt. Für die Durchführung eines berufsständischen Aufbaus habe der Staat zu sorgen und er sei deshalb mit der nötigen Autorität auszustatten.12 Vogelsang propagiert das Leitbild einer statischen Ordnung, in der jeder Einzelne einen festen Platz innerhalb seines Berufsstandes zugewiesen erhält, genauso wie die „Stände selbst innerhalb des Staatsganzen als gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Großgruppen statische Blöcke darstellen mit genau gegeneinander abgegrenzten Rechten und Pflichten“.13 Die von Vogelsang und seinen Nacheiferern ausgearbeiteten berufsständischen Konzepte werden durch das päpstliche Rundschreiben Quadragesimo anno 7 8 9 10 11 12 13
Vogelsang 1894, S. 25. Senft 2002, S. 75. Vogelsang lehnte den Begriff „Arbeiterstand“ ab, für ihn war die Arbeiterschaft „ein proletarischer Niederschlag aus der Zersetzung aller Stände“ (zit. nach Lelieveld 1965, S. 316). Vogelsang 1894, S. 125. Lelieveld 1965, S. 321. Vgl. Ebneth 1976, S. 147. Lelieveld 1965, S. 340.
54
Wolfgang Straub
1931 kirchlich legitimiert. Pius XI. fügt als wichtigen Kitt der Sozialordnung das Subsidiaritätsprinzip hinzu, durch das die „Stufenordnung der verschiedenen Vergesellschaftungen innegehalten“14 werden könne. Er betont die Natürlichkeit der Ordnung in Berufsständen, die geeignet sei, die tiefen gesellschaftlichen Gräben zu überwinden. Der Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer könne dadurch überwunden werden, „daß wohlgefügte Glieder des Gesellschaftsorganismus sich bilden, also ,Stände‘, denen man nicht nach der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Arbeitsmarktpartei, sondern nach der verschiedenen gesellschaftlichen Funktion des einzelnen angehört“.15 Die einflussreichste Position einer ständischen Staatsidee im Österreich der Zwischenkriegszeit war Othmar Spanns Schrift Der wahre Staat. Spann und Vogelsang sind sich nahe: vom antirevolutionären Impetus über den Anschluss an Adam Müller und dessen Postulat des Staates als organischem Ganzen16 sowie die Forderung nach Aufhebung der Trennung von Arbeit und Eigentum17 bis hin zum dominierenden organologischen Bildinventar.
Abb. 1: Der Ständestaat als Ordnungssystem aus Waben
14 15 16 17
Pius XI. 1946, S. 33. Ebd., S. 34. Vgl. Müller 1968, S. 27 u. S. 33. Vgl. Spann 1921, S. 252f.
Der Ständestaat im Bienenstock
55
Spann entwickelt sein universalistisches Gesellschaftsmodell „als Kontrapunkt zum angeblich vorherrschenden Individualismus“,18 wie er ihn in Sozialismus und Marxismus obwalten sieht. Das Individuum ist laut Spann nicht außerhalb einer Gemeinschaft denkbar und kann erst in dieser seine Fähigkeiten erwerben. Die Verschiedenartigkeit von Individuen soll in verschiedenen Tätigkeiten umgesetzt werden. Ähnliche Tätigkeiten sind in Gemeinschaften gefasst, die Spann als Stände bezeichnet. Den Zusammenhang zwischen Individuum und Stand parallelisiert er auf höherer Ebene im Bezug zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Jeder Stand habe spezifische Eigenschaften, er sei ein „Ausdruck, der in Entsprechung zu anderen Ständen seine Wesenheit besitzt“; zugleich müsse diesen Gemeinschaften die Tendenz zu eigen sein, „ein Glied jenes geistigen Gesamt-Ganzen zu werden, das in der Gesellschaft gegeben ist“.19 Dieses Gesamt-Ganze ist bei Spann nur bedingt mit Staat gleichzusetzen, ergibt sich doch aus seinem Konzept, wie Marion Löffler folgert, „ein doppeltes Bild des idealen Staates“20. Zum einen haben wir es mit der Vorstellung eines streng hierarchischen Staates als Gesamtheit der Stände im soziologischen Sinne zu tun, zum anderen bildet der Staat bei Spann einen eigenen Stand – den Stand der Staatsführer. Um die „Natur der Gliedlichkeit“21 – die laut Spann jedem Gesellschafts- und Staatsganzen zugrunde liegt und die notwendig ist, um aus Einzelnen ein „Gesamt-Ganzes“ zu machen – darstellen zu können, greift er auf organologische Staatsbilder zurück: Der ständisch gegliederte Staat besteht wie der Organismus wieder aus Organismen. ,Ständischer‘ Aufbau eines Staates bedeutet Durchgliederung des Ganzen, bedeutet Bestehen aus lauter kleinen Standeskörperschaften, d.h. aus lauter kleineren Organismen, gleich wie der lebendige Leib durch und durch organisch ist, überall aus Zellen besteht, also auch im Kleinsten organisiert ist. Während der demokratische Staat aus einem Haufen gleichförmiger Atome bestehen will, und eigentlich amorph ist, ist der ständische Staat durch und durch Staat, durch und durch Gliederung [...].22
Es sind zwei sich überlagernde metaphorische Vorstellungen vom Staat, auf die ständische Konzepte in erster Linie abzielen: zum einen der Staat als Organismus, als Zellverband,23 der sich vom Zellkern (der Familie) in konzentrischen Kreisen (Ständen) nach außen hin fortpflanzt, zum anderen das Schichtmodell. Vogelsang stellt sich „eine Ordnung von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat [...] unter dem Bild einer Pyramide, gebildet aus horizontal voneinander abgegrenzten Stufen“ vor.24 Othmar Spann legitimiert in Der wahre Staat sein wie bei Vogelsang pyramidenförmig aufgebautes Schichtensystem mit der Kategorie der „geistigen Grundlagen“, nach denen die Stände zu ordnen seien: Handarbeiter, höhere Arbeiter, Wirtschaftsführer, Staatsführer, Weise.25 An der Spitze stehen in Spanns Stän18 19 20 21 22 23 24 25
Löffler 2011, S. 192. Spann 1921, S. 201. Löffler 2011, S. 193 Spann 1921, S. 197. Ebd., S. 231. Zum „Zellen-Staat“ vgl. Johach 2008. Lelieveld 1965, S. 341. Spann 1921, S. 175.
56
Wolfgang Straub
destaat „die Besten“26, die ihre Autorität durch „geistige Gültigkeit“ erlangen und ihre Herrschaft wie in einer militärischen Befehlskette in einem Stufensystem ausüben – es sei eine „Grundeigenschaft der ‚Herrschaft des Besten‘“, dass „sie in einem gewissen Abstand von der Spitze notwendig in einem immer wachsenden Maße autoritativ sein muß“.27 DER BIENENSTOCK ALS STAATSMETAPHER Georg Rendl schreibt im Bienenroman über das Leben eines Bienenvolks im Laufe eines Jahres, über das schwierige Überleben im Winter, die Vorgänge im Stock, die Fortpflanzung, das Schwärmen, die Neugründungen von Nachfolgevölkern. Rendl wendet sich damit einer tierischen Gemeinschaft zu, die seit der Antike wie kaum eine andere für Metaphorisierungen des menschlichen Staatswesens diente. Aber zum Zeitpunkt der Abfassung des Bienenromans hatten die „notorischen Vergleiche“28 zwischen den Staatswesen der Menschen und den Formationen der Insekten bereits zwei Prozesse durchlaufen, die die Tauglichkeit des Bienenstocks als Staatsmetapher zunehmend fragwürdig machten. Zum einen brachte die Entdeckung des weiblichen Geschlechts des Bienenkönigs eine Verschiebung der Herrschafts- zu einer Reproduktionsordnung mit sich. Das bedeutet nicht, dass mit dem Verlust des Königs das Kollektiv ohne Zentrum und ohne Hierarchien war, die Bedeutung der Insektengemeinschaft verschob sich vielmehr zusehends hin zu der in der Figur der Königin konzentrierten biologischen Reproduktionsfunktion. Diese Fokussierung habe, so Eva Johach, „die Gesellschaften der Insekten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in teleologischen Deutungen“ gefangen gehalten.29 Zum anderen wurde im Zuge dieser Biologisierung im 19. Jahrhundert bei der Betrachtung des Bienenkollektivs das Bild vom Staat um jenes des Organismus erweitert. Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund der Entstehung des Konzepts „Gesellschaft“ zu sehen. Der Bienenstaat wurde zur mütterlichen Gesellschaft, die Königin wurde von der Regentin zur Mutter. Das Verständnis des Bienenstaates als Organismus korrespondiert mit der Konzentration auf den organischen Daseinszweck der Bienen: die Reproduktion. Diese konsequente Biologisierung des Gegenstands sowie die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse führten dazu, dass die beobachteten sozialen Prozesse von der politischen Herrschaftsmetaphorik abgekoppelt wurden.30 Um 1930 hatte die politische Bienenmetaphorik längst an Überzeugungskraft eingebüßt; das Bild vom Bienenstaat wurde in der naturwissenschaftlichen Literatur neben Anthropomorphisierungen zur Veranschaulichung der komplexen 26 „Die beste Staatsform ist diejenige, welche die Besten zur Herrschaft bringt.“ Spann 1921, S. 204. 27 Ebd., S. 206. 28 Johach 2007a, S. 219. 29 Vgl. Johach 2009, S. 207. 30 Vgl. Johach 2007a, S. 232f.
Der Ständestaat im Bienenstock
57
Handlungsabläufe im Bienenstock benützt.31 Im Folgenden wird der Frage nachzugehen sein, ob in Rendls Bienenroman die konstatierte Biologisierung nachgezeichnet werden kann oder ob im Text doch Fragen und Konstellationen des Gemeinwesens, die auf ein ständisches Staatsmodell rekurrieren, aufgezeigt werden. RENDLS BIENEN-POETIK Bereits das Kompositum Bienenroman versucht die Literarizität des Textes herauszustreichen und sich von Sachliteratur abzugrenzen. Georg Rendl geht es darum, mit poetischen Mitteln biologische Sachverhalte darzustellen. Wie Rendl nun den „struggle for life“ im Jahreskreis eines Bienenvolks erzähltechnisch organisiert, verweist auf ständestaatliche Konzepte. Rendl lenkt im Eingangsbild den Blick nacheinander auf verschiedene Lebewesen des Waldes, vom Baum über die kleinen Säugetiere wie Fuchs und Igel bis zu den Vögeln. In diesem Panorama stehen Pflanzen egalitär neben Tieren. Der Tod ist im Wald omnipräsent, auch der Tod ist egalitär: „Kalte Nächte haben Dohlen und Krähen und Häher und Amseln von den Bäumen geworfen.“32 Mitten in diese Natur-Szenerie stellt Rendl ein „kleines Gehöft“ mit einer „rohgezimmerten Hütte“, in der ein Strohkorb steht.33 Mit dieser Detailaufnahme, die der Totalen der Waldansicht folgt, suggeriert Rendl, dass der Bienenstock integraler Bestandteil der Natur ist. Das von Menschenhand Geschaffene fügt sich nahtlos in die Natur, in den göttlichen Ordo ein. Bereits das Eingangsbild korrespondiert mit Spanns Ganzheitslehre, dass die Teile nicht für sich alleine bestehen könnten, sie nur in der Ganzheit denkbar seien. Othmar Spann formuliert: „das Ganze ist das Primäre, der Einzelne ist in irgend einem [...] Sinne nur als Bestandteil des Ganzen vorhanden, er ist daher das Abgeleitete“.34 Rendls Erzählkonzeption wiederum lässt sich in Verbindung bringen mit Vogelsangs Forderung nach der Installation staatlicher Autorität, die über die Berufsstände zu stellen sei. Rendl führt einen auktorialen Erzähler ein, der ordnend und kommentierend in diese Arbeits- und Reproduktionsgemeinschaft eingreift. Im ersten Abschnitt lässt er die Dinge und Lebewesen für sich sprechen, danach treten unterschiedliche Erzählerpositionen auf den Plan, die von einem Satz auf den anderen wechseln können und teilweise schwer voneinander unterscheidbar sind. Der Erzähler schaltet sich kommentierend ein („Das werden die Armen nicht überstehen!“)35; er wird zu einem Kommandeur der Bienen („Saugt euch voll! Nehmt Vorrat!“)36; er lässt die Bienen sprechen („Nehmt Honig mit, daß wir nicht verhungern müssen in einem neuen Heim!“)37 und baut erlebte Rede sowie rheto31 32 33 34 35 36 37
Vgl. Peil 1983, S. 301. Rendl 1996, S. 9. Ebd., S. 10. Spann 1921, S. 23. Rendl 1996, S, 22. Ebd., S. 21. Ebd.
58
Wolfgang Straub
rische Fragen ein. Karlheinz Rossbacher ortet in dieser „Vielfalt in der Einheit“, in der er die Erzählerposition in der literarischen Heimatkunst der dreißiger Jahre organisiert sieht, ein Äquivalent mit der Organisation der Gesellschaft in der Ständestaatsidee und macht klar, dass trotz aller Variationen und Interventionen die auktoriale Erzählposition bestehen bleibt: „die Präsenz des Erzählers als eines organisierenden Zentrums ist immer zu spüren.“38 Die hierarchische, organische Gliederung des Gemeinwesens im Bienenstock gleicht der variablen, aber zugleich streng ordnenden Rolle des Erzählers. Der Erzähler hält alle Fäden in der Hand, ist der Herr über Leben und Tod – worin er der „Göttin Sonne“, der der erste Satz des Romans gilt,39 gleicht. RENDLS STÄNDISCHE THEOKRATIE Der Rendl-Biograph Arnold Nauwerck meint, dem Staatsbürger Rendl habe „eine ständische Theokratie unter der milden und gerechten Führung unantastbarer Geistlichkeit“40 vorgeschwebt. Mit dem Begriff „ständische Theokratie“ ist die Ordnungsidee des Gemeinwesens im Bienenroman gut charakterisiert. Er bezeichnet die Verbindung aus ständischen Konzepten, wie sie Rendl etwa in der Rolle seines Erzählers oder in der „Gliedlichkeit“ der Teile der Natur in der Eingangsszene realisiert, und der Installation einer göttlichen Herrschaft. Rendl nimmt zwar Bezug auf darwinistische Bilder und zeigt einen Hochzeitsflug, bei dem nur die allerbeste der Drohnen zur Befruchtung der Königin gelangt.41 Eine rein naturwissenschaftliche Herangehensweise ist jedoch für Rendl nicht denkbar. Er überhöht seine Deutung des Bienenstaats als Reproduktionsgemeinschaft mit der Inthronisation einer Sonnengöttin. Er stellt die „Göttin Sonne“ an die Spitze und (re)spiritualisiert damit den säkularen szientifischen Blick auf Naturphänomene – ein göttliches Prinzip durchwaltet Rendls Bienenwelt. Für eine ständische Ordnung im Sinne Spanns genügte ein „Wert“, um eine Gemeinschaft zusammenzubinden – wobei laut Spann der Staat selbst ein solcher „Wert“ sein könnte, bei den Bienen würde das Reproduktionsprinzip ausreichen.42 Rendl kann hier gleichzeitig mit Vogelsang gelesen werden, der davon ausgeht, dass das oberste Recht das Recht Gottes und staatliche Ordnung gottgewollt sein müsse.43 Auffällig ist die Vielfalt, die sich in Rendls Theokratie zeigt. Die Natur ist gotterfüllt, sie ist voller Zeichen der Göttin, die Bienen lobpreisen die Divinität der Natur. Außerdem ist die göttliche Instanz durch die Inthronisation einer Gottesmutter marianisch geprägt. Damit dupliziert Rendl das mütterliche Prinzip im 38 Rossbacher 1977, S. 98. Rossbacher bezieht sich hier auf Karl Heinrich Waggerls Roman Das Jahr des Herrn (1934). Die Beobachtung lässt sich ohne Abstriche auf den Bienenroman umlegen. 39 „Die Göttin Sonne will fern sein dem Werke, das sie liebt.“ Rendl 1996, S. 7. 40 Nauwerck 2006, S. 556. 41 Vgl. Rendl 1996, S. 116. 42 Vgl. Spann 1921, S. 155. 43 Vgl. Vogelsang 1894, S. 32.
Der Ständestaat im Bienenstock
59
Bienenstaat, er schreibt meist von der „Mutter“ anstelle der üblichen „Königin“.44 Diese Bezüge zum Marienkult korrespondieren mit der über den Roman verteilten großen Anzahl christlicher und christologischer Bilder: Opfertod, Marterung, Erfüllung, Auferstehung, Todsünde. Findet eine Biene wenig Beute, so kehrt sie erfüllt von der christlichen Grundtugend der humilitas in den Korb zurück: „Müde geworden, lädt sie in aller Demut ihren Fund ab.“45 Im Bienenroman wird die Tätigkeit der Bienen dem Postulat untergeordnet, dass das Gemeinwesen nur nach den Regeln eines göttlichen Gesetzes funktionieren könne. Damit schließt sich Rendl der alten Vorstellung an, aus dem Verhalten der Bienen die Evidenz ablesen zu können, „dass die soziale Ordnung auf einem Ensemble von Tugenden basiert“.46 Verlassen die Bienen die gottgewollte Ordnung, halten sie sich nicht mehr an die Tugenden, sind sie dem Untergang geweiht. Die Todsünde der Maßlosigkeit, der gula, etwa führt bei jenen Bienen, die sich am Nektar überfressen („Manche können nicht Maß halten.“)47, sogleich zum Tod; und die Königin eines Nachfolgevolks stürzt mit „maßlosem Eierlegen“, das nicht auf die Relation zu den vorhandenen Ressourcen achtet, das gesamte Gemeinwesen in den Untergang.48 DIE BIENENORDNUNG Rendl gestaltet die Theokratie im Roman, indem er allen Lebewesen ihren festen Platz in einer festgelegten Ordnung zuweist. Mag Rendl im Bienenroman seinen Bienenstock auch nicht als Staatsmodell betrachten,49 so setzt er die Ordnung im Stock mit jener in der Außenwelt in Bezug und greift damit auf das traditionelle Muster einer wohl eingerichteten und gottgewollten Ordnung zurück. Indem Rendl im Roman mehrmals in Panoramen die Tiere und Pflanzen des Waldes in repräsentativen Ausschnitten aufruft, verfestigt er das Ordnungsprinzip und suggeriert in diesen Enumerationen Vollständigkeit und Ganzheit. Zudem sind die Zeitläufe im Roman fest im Jahreskreis, im Ablauf der Jahreszeiten verankert. Rendls Ordnungsprinzip gleicht jenem der katholischen Soziallehre, wie es Papst Pius XI. in seiner Enzyklika von 1931 ausführt: „Ordnung bedeutet, wie der hl. Thomas meisterhaft ausführt, Einheit in wohlgegliederter Vielheit. Eine rechte gesellschaftliche Ordnung verlangt also eine Vielheit von Gliedern des Gesell-
44 Dass über die katholische Frauenbewegung „Mütterlichkeit“ zu einem wichtigen Begriff im austrofaschistischen „Ständestaat“ wurde, weist Irene Bandhauer-Schöffmann nach. Vgl. Bandhauer-Schöffmann 2005. 45 Rendl 1996, S. 55. 46 Johach 2009, S. 204. 47 Rendl 1996, S. 136. 48 Ebd., S. 131. 49 „Eines wollte Rendl ganz und gar nicht: Daß man seinen Bienenroman fälschlicherweise als Staatsroman, als Beispiel für die menschliche Gesellschaft verstehen könnte.“ Holl 1996, S. 167.
60
Wolfgang Straub
schaftskörpers, die ein starkes Band zur Einheit verbindet.“50 Diese Einheit in wohlgegliederter Vielheit ist ein ständestaatliches Prinzip, wie es etwa bei Othmar Spann ausgeführt wird, und sie ist das Prinzip der Rendl’schen Bienenordnung. Kommt diese Einheit, der „einheitliche Sinn“, wie Rendl schreibt, abhanden, löst sich die Bienenordnung auf – das „muß zu elendem Untergang führen“.51 Der Bienenordnung liegt ein „Bienenrecht“52 zugrunde: Das Schwache soll verderben, nur das Lebensstarke die harte Zeit überdauern. Das Eigenwillige aber, das das Gebot der Tage mißdeutet, das dem ihm innewohnenden Gesetze zuwider sich gebärdet, das soll gezeichnet werden mit einem Male, ihm anhaftend durch alle Tage und Jahre seines Lebens.53
Das ist eine darwinistische Darstellung verknüpft mit alttestamentarischer Stigmatisierung. Rendl konzentriert sich auf die Gesetze der Natur sowie den gemeinsamen Grund allen Daseins und zeigt sich fasziniert von einer Sozialform, „welche die Individuen einem größeren Ganzen unterwirft und im ‚Bild‘ der Königin die gegenwärtigen mit den zukünftigen Generationen vereint“.54 Rendl benützt die darwinistische und genealogische Perspektive vor allem für einen Blick zurück. Alle Tätigkeiten der Bienen fußen bei Rendl auf dem Erbe der Vorfahren, die Arbeiterinnen etwa sind „Erben des uralten Gesetzes“.55 Der Autor legitimiert durch dieses „Vererbungsgesetz“ die Unausweichlichkeit der Bienenordnung. Dabei führt er das „Erbe“ nicht auf das göttliche Prinzip zurück, sondern macht das Geerbte zu einem Mysterium: „Die Sorge, kaum gewußt, kaum gespürt, ist geheimnisvoll da, hergeerbt von Urvorfahren.“56 Rendl verwendet unterschiedliche Bilder, um das Erbe zu spezifizieren. Er bedient sich der Baum-Metapher, die er sowohl zum alttestamentarischen Schöpfungsmythos in Beziehung setzt („Der Volksbaum soll nun aus jungen Wurzeln wachsen, denn das Bienengeschlecht darf nicht untergehen“)57 als auch zum Bild der Familie: „Sie [die erstgeborene, neue Königin] hat es verdient, Wurzel eines Baumes, Schoß einer Familie zu werden.“58 In Rendls Familienbild werden zwei Bildbrüche deutlich. Zum einen schwebt Rendl nicht die gängige, bei Vogelsang ausgeführte Vorstellung der Familie als Urzelle des Staates vor, sondern offensichtlich das Bild der „heiligen Familie“. Die Gottesmutter ist der Kern der Familie: „Sie [die Mutter] ist die Heilige.“59 Wie eine Schutzmantelmadonna breitet sich die Mutter schützend über ihr neu gegründetes Volk: „Und die Wabe, aus vieltausend Zellen gefügt, ist sie nicht der breit aufgetane Leib der Königin, der
50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
Pius XI. 1946, S. 34. Rendl 1996, S. 148. Ebd., S. 147. Ebd., S. 8. Vgl. Johach 2007b, S. 327. Rendl 1996, S. 41. Ebd., S. 71. Ebd., S. 82. Zur Baum-Metaphorik vgl. Peil 1989, S. 67ff. Rendl 1996, S. 110. Ebd., S. 88.
Der Ständestaat im Bienenstock
61
Mutter des Volkes?“60 Zum anderen wird das mütterliche Prinzip an zwei Stellen aufgebrochen und das vom weiblichen Geschlecht dominierte Gemeinwesen der Honigbiene als ein von den männlichen Drohnen hergeleitetes dargestellt. Einmal war es das „männliche Wesen“, das der Königin „Bedeutung, Lebenserfüllung gegeben hatte“,61 das zweite Mal „schenkt“ die auserkorene Drohne („der Mann“) bei der „Hochzeit“ der Königin („der Braut“) ihren Samen.62 Rendl lässt bei der Ausgestaltung des „Hochzeitsflugs“ keine romantische Überhöhung zu, er weicht nicht vom Prinzip der Maternität ab. Dem Schwärmen, der Phase des Übergangs zur Gründung eines neuen Bienenstaats, gewährt er nur wenig Raum. Während des Schwärmens feiern die Bienen ein „Freudenfest“ fern des „Alltags“, indem jede Biene „ganz sie selbst“ wird und sich die „Bande, die sie ans Volksganze fesseln“, lockern.63 Doch diese individualistische Phase dauert nur kurz. Nachdem ein passender Ort gefunden wurde, „verschmilzt die einzelne geringe Biene in das Ganze“, das „Einzelne“ müsse sich „zum Ganzen fügen und darin untergehen“.64 FAZIT Georg Rendls Bienenroman ist alles andere als die vom Autor im Nachwort postulierte „unverkünstelte Darstellung des Bienenlebens“.65 Poetisierung und Rhetorizität öffnen Möglichkeiten, den Roman auch als Staatsroman zu lesen, der einen Beitrag zum Ständestaatdiskurs liefert. Rendls Programm, das sich aus alttestamentarischen, marianischen und christologischen Elementen zusammensetzt, ist ein Beitrag zur Legitimation eines göttlichen Ordnungsprinzips, das dem Gemeinwesen übergeordnet und dessen Negierung letal ist. Indem Rendl den arbeitsteiligen Bienenstaat als „natürliche“ Ordnung und als Organismus präsentiert, realisiert er im Sinne Vogelsangs ein Modell eines korporativen, „organisch entwickelten“ Gemeinwesens, in dem jedes Glied seine ihm „eigenartige Aufgabe“ erfüllt. Die Organisation des Gemeinwesens ist im Bild der Zellenstruktur des Bienenstocks gefasst – eine Struktur, die sich vom Kern einer Familie (bei Rendl die „heilige Familie“) aus in konzentrischen Kreisen entwickelt. „Gliedlichkeit“ und Zellenformation sind, wie ausgeführt, zentrale ständestaatliche Elemente. Die damit korrespondierende ständestaatliche Idee einer Vielfalt in der Einheit bildet eine Grundstruktur des Romans. Beobachtungen des Bienenstocks werden von Rendl christlich überhöht oder in Abwandlung der Vererbungslehre einem mythischen Erbe zugeordnet. All das dient einem Respiritualisierungsprogramm, das der Säkularisierung (der Moderne, 60 61 62 63 64 65
Ebd., S. 89. Ebd., S. 72. Ebd., S. 117. Ebd., S. 81. Ebd., S. 88. Ebd., S. 64.
62
Wolfgang Straub
dem Revolutionären etc.) entgegenwirken will. Rendl bietet der Leserin, dem Leser eine Vielfalt von mythischen Bildern unterschiedlicher Provenienz an und errichtet darüber den einheitlichen Überbau einer die natürliche Ordnung repräsentierenden Theokratie. In der Installation einer Sonnengöttin, der die Bienenköniginnen und schließlich das Bienenvolk nachgeordnet sind, legitimiert Rendl eine streng hierarchische, pyramidenförmige Struktur. Es geht hier um die Legitimation einer katholisch determinierten Theokratie, die ihre Werte aus Tugendbildern wie Mütterlichkeit, Dienerschaft oder Heiligkeit bezieht. In diesem System ist alles wohlgeordnet, an seinem natürlichen Platz. Abweichendes Verhalten wird mit dem Tod bestraft. Geht es in der Insektengemeinschaft primär nicht um die Herrschaft der Königin, sondern um Reproduktion, so betont neben den katholischen Bildern das Wertesystem des Erbes in seiner genealogischen Struktur die Bedeutung der Hierarchie. Was bei Rendl als Mischung aus katholischem Tugendkanon und darwinistischen Positionen besteht, schafft eine Hierarchisierung des Staates. Sie gehört auch zu den plakativsten Postulaten in Othmar Spanns Wahrem Staat. Spann spricht von einem „unendlich wichtige[n] Grundgesetz“ einer „Abstufung der Herrschaft“: „Das Beste soll herrschen über das Gute; das Gute soll herrschen [...] über das weniger Gute [...]. Die Herrschaft kann ihrer Natur nach nur stufenweise von oben nach abwärts gehen.“66 Dass der Erzähler im Bienenroman kommandierend in das Geschehen im und um den Bienenstock eingreift, ist ein Herrschaftssignal und Ausdruck einer Hierarchisierung. Abschließend sei auf den Ort, an dem Rendl seine Bienenvölker agieren lässt, verwiesen. Seine organische und hierarchische Ordnung hat ihren Platz im Dorf. Rendls „Stammvolk“ ist in einem abgelegenen Gehöft untergebracht, einer seiner Schwärme siedelt sich im Kirchturm an. An einer Stelle macht der Autor klar, dass er sich dieses Volkes nur zufällig angenommen habe, in dem Dorf, „dessen Häuser sich um den Kirchturm scharen“,67 sind noch viele andere Völker vorhanden. Hier wird auf das organisch gegliederte Sozialmodell Dorf rekurriert, das in der Heimatkunst der 1920er und 1930er Jahre im Mittelpunkt steht und das einen Gegenpol bilden soll gegen das „bürgerliche Börsenviertel, gegen Naturalismus und Expressionismus genauso wie gegen Dekadenz und Nervenkunst“.68 Es fällt auf, dass Rendl aus seinem dörflichen Modell jegliche Spur von Ökonomie getilgt hat, nirgendwo wird auf die Bewirtschaftung der Bienenstöcke, auf die Honiggewinnung verwiesen. Der Bienenstock wird als ökonomisch autarkes System, als „Organismus“ präsentiert. In der Heimatkunst herrscht die dörfliche Selbstversorgung vor. Das Dorf ist homogen, der Andere, der Eindringling, muss vertrieben werden.
66 Ebd., S. 203 u. S. 205. 67 Rendl 1996, S. 146. 68 Rossbacher 1977, S. 94.
Der Ständestaat im Bienenstock
63
LITERATUR Aspetsberger, Friedbert, 1980: Literarisches Leben im Austrofaschismus. Der Staatspreis, Königstein/Ts. Bandhauer-Schöffmann, Irene, 2005: Der „Christliche Ständestaat“ als Männerstaat? Frauen- und Geschlechterpolitik im Austrofaschismus. In: Tálos, Emmerich/Neugebauer, Wolfgang (Hrsg.): Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, 5., überarb. Aufl., Wien, S. 254–280. Danielczyk, Julia, 2003: Selbstinszenierung. Vermarktungsstrategien des österreichischen Erfolgsdramatikers Hermann Heinz Ortner, Wien. Ebneth, Rudolf, 1976: Die österreichische Wochenschrift „Der christliche Ständestaat“. Deutsche Emigration in Österreich 1933–1938, Mainz. Holl, Hildemar, 1996: Nachwort. In: Rendl, Georg: Der Bienenroman, Hrsg. Hildemar Holl, Salzburg, S. 166–179. Johach, Eva, 2007a: Der Bienenstaat. Geschichte eines politisch-moralischen Exempels. In: von der Heiden, Anne/Vogl, Joseph (Hrsg.): Politische Zoologie, Zürich u.a., S. 219–234. Johach, Eva, 2007b: „Schicksalvolles Zauberbild“. Maurice Maeterlincks „Leben der Bienen“ zwischen Poesie und Wissenschaft. In: Eke, Norbert Otto/Geulen, Eva (Hrsg.): Texte, Tiere, Spuren (Zeitschrift für deutsche Philologie, Sonderheft 126), S. 322–338. Johach, Eva, 2008: Krebszelle und Zellenstaat. Zur medizinischen und politischen Metaphorik in Rudolf Virchows Zellularpathologie, Freiburg i. Br. u.a. Johach, Eva, 2009: Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Insektengesellschaften. In: Horn, Eva/Gisi, Lucas Marco (Hrsg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld, S. 203–224. Lelieveld, Bruno, 1965: Die Wandlung der Ständeidee in der deutschsprachigen katholischsozialen Literatur des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts bis zum Erscheinen der Enzyklika „Quadragesimo anno“ (1931), Krefeld-Bockum. Löffler, Marion, 2011: Politik der Zeitschichten. Utopische Potenziale im österreichischen Staatsdenken der Zwischenkriegszeit. In: Kreisky, Eva/Löffler, Marion/Zelger Sabine (Hrsg): Staatsfiktionen. Denkbilder moderner Staatlichkeit, Wien, S. 181–199. Müller, Adam, 1968 [1809]: Die Elemente der Staatskunst. Sechsunddreißig Vorlesungen, Berlin. Müller, Karl, 1997: Vaterländische und nazistische Fest- und Weihespiele in Österreich. In: Haider-Pregler, Hilde/Reiterer, Beate (Hrsg.): Verspielte Zeit. Österreichisches Theater der dreißiger Jahre, Wien, S. 150–169. Nauwerck, Arnold, 2006: Georg Rendl. Sein Leben im Spiegel von Quellen und Dokumenten, Salzburg. Peil, Dietmar, 1983: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart, München. Peil, Dietmar, 1989: Der Baum des Königs. Anmerkungen zur politischen Baummetaphorik. In: Jahrbuch des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, Bd. 15, S. 37–71. Pfoser, Alfred/Renner, Gerhard, 2005: „Ein Toter führt uns an!“ Anmerkungen zur kulturellen Situation im Austrofaschismus. In: Tálos, Emmerich/Neugebauer, Wolfgang (Hrsg.): Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, 5., überarb. Aufl., Wien, S. 338–356. Pius XI., 1946 [1931]: Quadragesimo anno. Rundschreiben des Hl. Vaters Pius XI. über die gesellschaftliche Ordnung, ihre Wiederherstellung und ihre Vollendung nach dem Heilsplan der Frohbotschaft. Hrsg. Katholische Schriftenmission/Linz, Linz. Rendl, Georg, 1996 [1931]: Der Bienenroman, Hrsg. Hildemar Holl, Salzburg. Rossbacher, Karlheinz 1977: Literatur und Ständestaat. In: Aspetsberger, Friedbert (Hrsg.): Staat und Gesellschaft in der modernen österreichischen Literatur, Wien, S. 93–107. Scheichl, Sigurd Paul, 1990: Literatur in österreichischen Zeitschriften der dreißiger Jahre. Mit einem bibliographischen Anhang. In: Amann, Klaus/Berger, Albert (Hrsg.): Österreichische Literatur der dreißiger Jahre. Ideologische Verhältnisse – institutionelle Voraussetzungen – Fallstudien, Wien, Köln, S. 178–211.
64
Wolfgang Straub
Senft, Gerhard G., 2002: Im Vorfeld der Katastrophe. Die Wirtschaftspolitik des Ständestaates, Wien. Siegfried, Klaus-Jörg, 1974: Universalismus und Faschismus. Das Gesellschaftsbild Othmar Spanns. Zur politischen Funktion seiner Gesellschaftslehre und Ständestaatskonzeption, Wien. Spann, Othmar, 1921: Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft, Leipzig. Spann, Othmar, 1931: Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft, 3., durchgesehene Aufl., Jena. Vogelsang, Karl von, 1894: Die socialen Lehren des Freiherrn Karl von Vogelsang. Grundzüge einer christlichen Gesellschafts- u. Volkswirtschaftslehre. Hrsg. v. Wiard Klopp, St. Pölten.
ABBILDUNGEN Abb. 1: Der Ständestaat als Ordnungssystem aus Waben. Schema „Der Ständestaat“, Appendix aus: Maier, Otto, 1931: Der Ständestaat. Ein Aufruf an das deutsche Volk, Leoben.
NATIONALER STAATSDISKURS IM „STÄNDESTAAT“ Willi Forsts Burgtheater Martin Weidinger WIENER FILM UND NATIONSDISKURS IN DEN 1930ER JAHREN Benedict Anderson betont in Imagined Communities die zentrale Rolle von Romanen und Zeitungen, die – beginnend bereits im 18. Jahrhundert – die Möglichkeit boten, die imaginierte Gemeinschaft der Nation zu repräsentieren.1 Nach Anderson ermöglicht erst die Verbreitung des Buch- und Zeitungsdruckes im Rahmen kapitalistischer Wirtschaftssysteme das erfolgreiche „Erfinden“2 nationaler Gemeinschaft und die globale Entwicklung hin zu jenem Punkt, wo aus „nationness“ schließlich „the most universally legitimate value in the political life of our time“ wurde.3 Das Kino betritt ab den 1920er Jahren als Massenmedium und ab 1930 mit dem Tonfilm diese diskursive Arena. Als noch junges, aber schon ungemein populäres Massenmedium ist der Film ein zentraler Teil eines breiten, medienübergreifenden Diskurses zum Nationalstaat im austrofaschistischen „Ständestaat“. Das Kino ist in diesen konstituierenden Nationalstaatsdiskurs eingebettet und in dessen Kontext zu betrachten. Waren in der Gründungsphase der Ersten Republik von verschiedenen Seiten des politischen Spektrums Rufe nach dem Anschluss eines vermeintlich alleine nicht lebensfähigen österreichischen Kleinstaates an Deutschland zu vernehmen, so stand in den Jahren des Austrofaschismus österreichisches Nation-Building auf der Agenda. Für die Entwicklung einer Österreich-Identität erweist sich diese Periode als zentral. In der Konstruktion einer österreichischen Nation fungierte im austrofaschistischen Staat die „deutsche Kulturnation“ einerseits als zentraler Bezugspunkt, andererseits sollte eine dezidierte Abgrenzung gegenüber Deutschland vorwiegend über die Berufung auf ein spezifisch österreichisches Kulturerbe stattfinden. Der „Wiener Film“4 war eine der vermeintlich typischen und einzigartigen kulturellen Ausdrucksformen Österreichs. Er galt als Beispiel für jene Idee von Kultur und Geschichte, wie sie als vage gehaltenes Konzept im „Ständestaat“ die
1 2 3 4
Anderson 2006, S. 24f. Der Titel der deutschen Übersetzung von Andersons Studie lautet Die Erfindung der Nation. Anderson 2006, S. 3. Vgl. zum Begriff des „Wiener Films“ – im Weiteren ohne Anführungszeichen – Weidinger 2011.
66
Martin Weidinger
Stütze der Österreich-Ideologie bildete.5 Wie Anderson im Rahmen seiner allgemeinen Definition von Nation anmerkt, wurde und wird diese immer als Gemeinschaft imaginiert, „because, regardless of the actual inequality and exploitation that may prevail in each, the nation is always conceived as a deep, horizontal comradeship“.6 Dies trifft auch auf die Imaginationsarbeit zur österreichischen Nation zwischen 1934 und 1938 zu. Die vorliegende Arbeit widmet sich nun der Rolle eines Filmes innerhalb dieses nationalen Staatsdiskurses in den Jahren vor dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich. Das Interesse richtet sich dabei vor allem auf die Frage, wie der Wiener Film mit widersprüchlichen Vorstellungen eines „Ständestaates“ mit undurchlässigen Schichtungen und einer imaginierten Gemeinschaft, die alle einschließt, umgeht. Außerdem soll untersucht werden, wie die Diskrepanz zwischen „deutscher Kulturnation“ und österreichischer Einzigartigkeit filmisch abgehandelt wird. Insbesondere nach der Ausschaltung der ersten österreichischen Demokratie durch die Christlichsoziale Partei unter Engelbert Dollfuß galt es, Österreich in der Abgrenzung zum nationalsozialistischen Deutschen Reich als eigenständige Nation zu positionieren, wenn auch, wie bereits angesprochen, seine Zugehörigkeit zur „Deutschen Kulturnation“ außer Frage gestellt war. „Es entsprach dem Zeitgeist, dieses Ja zu einem selbständigen Österreich stets mit einem Bekenntnis zum deutschen Volk zu verbinden.“7 Burgtheater, 1936 in Wien gedreht, ist heute einer der weniger bekannten Filme Willi Forsts.8 Er steht im Schatten von populäreren Vorgängern wie dem Schubert-Film Leise flehen meine Lieder (1933) und Maskerade (1934) – dem frühen Gipfelpunkt von Forsts Schaffen im Genre des Wiener Films und seinem auch international erfolgreichsten Werk. Die historische und politische Situation der Ersten Republik und des Austrofaschismus – geprägt nicht nur durch Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, sondern auch durch einen umkämpften politischen Diskurs zur Konstruktion des neuen Kleinstaates, zu Demokratie und Parlamentarismus auf der einen und gegenläufige Tendenzen hin zu Entdemokratisierung und zum Autoritarismus auf der anderen Seite – bilden die Folie, vor der der österreichische Film in der einschlägigen Fachliteratur9 diskutiert und analysiert wird. Dem Wiener Film wird dabei zu Recht eine besondere Rolle im Österreich-Diskurs dieser Periode zugestanden. Ein stark geschrumpftes Österreich bedurfte intensiver Reflexionen zur Herausbildung nationaler Identitätsmodelle.
5 6 7 8 9
Vgl. Pfoser/Renner 2005, S. 338. Anderson 2006, S. 7. Skalnik 1983, S. 16. Für die Arbeit an diesem Aufsatz wurde mir von Thomas Ballhausen vom Filmarchiv Austria eine Archivkopie (DVD) des Films zur Verfügung gestellt. Ihm gilt mein Dank. Dies gilt zumindest für jene Publikationen, die sich der Thematik unter einem weiter gefassten sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Fokus und nicht ausschließlich von einem filmhistorischen Standpunkt aus nähern, wie z.B. für Büttner/Dewald 2002, Moritz/Moser/Leidinger 2008 und auch einzelne Beiträge in Loacker 2003 und 2007.
Nationaler Diskurs im „Ständestaat“
67
Das „kulturell tief einprogrammierte österreichische Anlehnungsbedürfnis an Deutschland“10 traf ab 1933 im Bereich der Filmvermarktung auf massiven ökonomischen und auch politischen Druck seitens des deutschen Marktes (dem die österreichische Filmpolitik nur allzu willig und oft in vorauseilendem Gehorsam nachgab) – die Wiener Filme hatten für Deutschland bereits vor 1938 „eine Art (pseudo)exotische Kulisse abzugeben“.11 Hier fielen auf durchaus günstige Weise das bevorzugte Selbstbild bzw. die gewünschte Darstellung nach innen mit der ökonomisch erfolgversprechenden Außendarstellung zusammen. Das austrofaschistische Anliegen, eine österreichische Identität vor allem zum Zwecke der Darstellung staatlicher Eigenständigkeit zu inszenieren, bedeutete keineswegs, dass nicht im selben Moment großes Interesse daran bestand, in Deutschland gute Stimmung für Österreich zu machen. Vor allem für die österreichische Filmwirtschaft war dies überlebensnotwendig. Diese Welt eines ewigen Alt-Wien wurde in den 1930er Jahren auch international als der österreichische Beitrag zum globalen Unterhaltungskino (an)erkannt und versprach nicht nur Erfolg, der sich in wirtschaftlichen Gewinnen niederschlug, sondern zudem positive Österreich-Sichtbarkeit über den Rumpf-Staat hinaus. Nur welches Österreich war es, das hier sichtbar wurde? Dem Film, und ganz besonders einem Werk wie Burgtheater als Repräsentant eines als genuin österreichisch wahrgenommenen Genres wie dem Wiener Film, kam im Kontext dieser Identitätsdiskurse eine herausragende Rolle zu. Forst macht das Burgtheater als stolzes Symbol österreichischer Kultur und als zentrales Sinnbild für das Land schlechthin zum Mittelpunkt seines Films. Bereits der Filmtitel kann programmatisch verstanden werden und lässt eine bestimmte Positionierung des Regisseurs bzw. seines Films im Rahmen der angesprochenen Identitätsdiskurse annehmen. Im Zuge der Diskussion von Burgtheater soll weiters der Hypothese nachgegangen werden, dass dieser im Film geführte Diskurs starke Tendenzen der Enthistorisierung aufweist. Burgtheater entwirft eine an der Oberfläche apolitische österreichische (eigentlich wienerische) Welt, die scheinbar außerhalb der Zeit steht und – was wichtiger ist – nicht nur Epochengrenzen transzendiert, sondern von politischen und sozialen Umwälzungen nahezu unberührt zu bleiben scheint. Ein vermeintlich ewiges Österreich-Ideal, eine zeitlose Wertewelt, liegt dem im Film gezeigten Österreich-Bild zugrunde. Wie sieht dieses Bild, wie es in Burgtheater entworfen wird, nun im Detail aus? Welche Nations- und Identitätsdiskurse werden von dem Film aufgegriffen und mitgeschrieben? Wer ist Teil dieser verklärten Welt, die als pars pro toto für Österreich steht, und wer bleibt ausgeschlossen?
10 Schmid 1983, S. 710. 11 Ebd., S. 711.
68
Martin Weidinger
ENTHISTORISIERUNG UND RETRADITIONALISIERUNG „Weit wichtiger als die Darstellung einer historisch gewordenen Realität war“, so schreibt die Filmwissenschaftlerin Marion Linhardt in Bezug auf Forsts Wiener Filme, „die Beschwörung eines kaum in Begriffe zu fassenden Bewusstseinszustandes, der das kaiserliche Wien gewissermaßen als Insel der Glückseligen erscheinen ließ.“12 Burgtheater ist Repräsentant dieses Genres, eine Hommage an ein aus der Zeit gehobenes Wien/Österreich um 1900, die 1936 auch als solche erkannt und enthusiastisch begrüßt wurde.13 Im Versuch einer Retraditionalisierung sucht der Identitäts- bzw. Nationsdiskurs den Weg in eine vermeintlich glänzende Vergangenheit und fokussiert dort wiederum vor allem auf die mit dieser in engsten Zusammenhang gebrachten kulturellen Traditionen. Der Staat ist zwar kein Großstaat mehr, doch wird das kulturelle Erbe Österreichs als einzigartig und von Weltgeltung dargestellt. Überhöhte Vorstellungen von Geschichte und Kultur waren im Sinn des austrofaschistischen Anliegens, eine Österreich-Ideologie zu propagieren. „In ihrer Kombination ergaben sie die Ideologie eines universalistischen Österreich, dessen phantastische Geographie in diametralem Gegensatz zur sich stetig verschmälernden Machtbasis stand.“14 Retraditionalisierung bedeutet mit Blick auf den Wiener Film der 1930er Jahre immer auch eine „Erfindung von Traditionen“15 (die „phantastische Geographie“ verweist unzweideutig auf die Rolle der Phantasie). Marion Linhardt geht davon aus, dass musikalische und theatrale Traditionen, die in der Operette eine Verschmelzung erfahren haben, den Nukleus dieser Filmwelt bilden. Dabei geht es nicht um historisch verbürgte Fakten, sondern um erfundene Traditionen. [Um 1900] kam es zu einer explosionsartigen Zunahme von Operetten, in denen Wien im Zentrum stand, allerdings nicht das reale Alltags-Wien des Theaterbesuchers, sondern ein spezifisches Wien-Image, dessen Konstitution untrennbar mit den politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen der modernen Großstadt verbunden war, als deren Gegenmodell man es zu etablieren suchte.16
Hier wird eine Verwandtschaft zwischen der Operette der ausgehenden Habsburgermonarchie und einem Film wie Burgtheater erkennbar. Vor dem politischen und sozialen Hintergrund der 1930er Jahre verfolgt der Film eine Strategie der Enthistorisierung, die der Mythologisierung Vorschub leistet. Unter Ausklammerung realpolitischer Bezüge rekurriert Burgtheater auf die Musik als gemeinschafts- und letztlich nationsstiftendes Element. Die durchwegs positiven Reaktionen auf den Film sowohl von medialer Seite als auch von Seiten des Staates in seinem Selbstverständnis als höchster, Prädikate verleihender Kultur- und Bewertungsinstanz lassen den Schluss zu, dass BurgLinhardt 2003, S. 258f. Vgl. Haider-Pregler 1999, S. 160 u. S. 168. Pfoser/Renner 2005, S. 338. Das Konzept der „erfundenen Traditionen“ geht auf die Aufsatzsammlung The Invention of Tradition von Eric Hobsbawm und Terence Ranger (1992) zurück. 16 Linhardt 2003, S. 263.
12 13 14 15
Nationaler Diskurs im „Ständestaat“
69
theater in seiner Darstellung eines Ausschnitts Österreichs, der vor allem über die kulturelle Identifikation mit der Nation gleichgesetzt wurde, als angemessen galt. Der Film erhielt das Prädikat „kulturell wertvoll“ und wurde 1937 mit dem Ehrenpreis der österreichischen Filmkonferenz ausgezeichnet.17 Die österreichische Filmkonferenz war eine vom Bundesministerium für Handel und Verkehr im Dezember 1935 ins Leben gerufene Einrichtung, die die wichtigsten Kräfte der Filmwirtschaft vereinte und als ihren Auftrag die Vertretung (österreichischer) filmwirtschaftlicher Interessen im In- und Ausland hatte. Die „Konferenz“ fungierte als ministerielles Beratungsorgan.18 „Der Film“, schreibt Georg Schmid in seinem Essay zur Kinogeschichte der Zwischenkriegszeit – und meint damit das Medium schlechthin –, „[…] summiert sich mit der Zeit zu einem Corpus aus Mythologemen“.19 Im Wiener Film und in Burgtheater als einem seiner typischsten Vertreter verdichten sich diese Mythologeme (Musik, Theater, Künstlerverehrung, Vorstadt-Idyll inklusive Wiener Mädel etc.) zu einem ebenso realitätsfernen wie idealtypischen Staats- und Gesellschaftsbild, das sich vortrefflich in einen anti-modernen und durch beständige Rückgriffe auf eine selektiv verzerrte und überhöhte Vergangenheit charakterisierten Österreich-Diskurs einfügt. EXKLUSION: STÄNDESTAATLICHE DIFFERENZEN Als wichtigem Schauplatz und zentralem Symbol des Films gehört dem Wiener Burgtheater (genau genommen einem Modell davon) das erste Bild. Es ist Abend, die Fenster des Theaters sind beleuchtet, das Wort „Burgtheater“ legt sich über das Bild, bevor anschließend die Namen der Mitwirkenden – zuerst jene der SchauspielerInnen – angeführt werden. Am Ende des Vorspannes steht eine Texttafel: „Dieser Film erzählt keine Geschichte des Burgtheaters. Seine Bühne ist nur der Schauplatz einer Handlung, deren Thema überall erklingt, wo Schauspieler das geben, wozu sie berufen sind: Ihr Leben für die Kunst! Er ist in Dankbarkeit gewidmet – dem ewig jungen Theater!“ Die Kamera fährt langsam an das Theatermodell heran und zeigt nach einem Schnitt den Theaterzettel der laufenden Vorstellung im Schaukasten: Es ist der 28. April 1898 und man gibt Goethes Faust. Der Ton der Aufführung legt sich darüber, im nächsten Bild ist auch schon die Bühne zu sehen, die den gesamten Bildausschnitt füllt. Wiederum lässt Forst die Kamera langsam näherkommen, der Darsteller des Faust befindet sich in der Mitte des Ausschnittes. Als er die letzten Worte seiner Szene spricht, ist sein Gesicht in Großaufnahme im Bild: „Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!“ Bereits in diesen ersten Momenten des Films wird die symbolische Funktion des Burgtheaters hervorgehoben und gleichzeitig über die Auswahl des gespielten Stückes, das nicht etwa ein österreichischer Klassiker ist, klargestellt, dass gerade 17 Vgl. Haider-Pregler 1999, S. 159f; Moritz/Moser/Leidinger 2008, S. 355f. 18 Vgl. Duchkowitsch 2005, S. 365. 19 Schmid 1983, S. 706.
70
Martin Weidinger
dieses Theater in Wien ein zentraler Ort deutscher Kultur ist. Die Figur des sich und sein Leben ganz der Kunst hingebenden Schauspielers Friedrich Mitterer wird eingeführt, noch bevor er die Bühne des Theaters und damit des Films betritt. Die folgenden Szenen widmen sich der Einführung des Figurenensembles von Burgtheater – etwa des jungen, ambitionierten Schauspielers Josef Rainer oder der Baroness Seebach als Repräsentantin der Aristokratie – und lassen bereits soziale Schichtungen hervortreten, die später durch das Hinzukommen weiterer Charaktere noch deutlicher konturiert werden und den Nukleus des Films bilden. Friedrich Mitterer lebt nur für und scheinbar auch nur durch seine Kunst. Jegliche Ablenkungen, die das Leben gerade in der Welt des Wiener Films versüßen, versagt er sich. Mitterer verliebt sich in ein „Wiener Mädel“ aus der Vorstadt. Leni Schindler ist die Tochter eines Schneiders. Mitterer sieht sie zum ersten Mal, als er während eines Frühlingsspaziergangs in gehobener Stimmung eine kleine Kirche am Stadtrand betritt, in der die blonde Leni vor dem Altar kniet und betet. In ihr erblickt er sein Gretchen.20 Leni betet für den jungen Schauspieler Josef Rainer, der bei ihren Eltern zur Untermiete wohnt und ein Vorsprechen am Burgtheater vor sich hat. Rainer empfindet für sie vorerst jedoch kaum mehr als freundschaftliche Gefühle. Ein bestens erprobtes Handlungsmodell ist in Gang gesetzt. Es folgen die genreüblichen Verwicklungen und Verwechslungen, die das Erwartbare hinauszögern. Am Ende sind Leni und Josef vereint. Mitterer erkennt, dass die beiden füreinander bestimmt sind, und findet, nachdem er sich vorübergehend vom Theater verabschiedet hat, auf die Bühne und zu seiner eigentlichen Bestimmung zurück. Burgtheater braucht dieses Wiener Mädel ebenso wie den jungen, aufstrebenden, aber auch etwas naiven Schauspieler, die schöne und mondäne, zu kleinen Intrigen neigende Baroness und die vom unvermeidlichen Hans Moser dargestellte Figur des Sedlmayer, des Souffleurs und „persönlichen Assistenten“ Mitterers. Er souffliert diesem nicht nur, wenn er den Text vergisst, er managt auch das Leben des Künstlers, der, dem Klischee entsprechend, für praktische Dinge keinen Kopf hat. Selbst sehr private Angelegenheiten legt Mitterer in die Hände des umtriebigen Sedlmayer, eines Faktotums, wie es scheinbar jedem „großen Mann“, der es in Aufopferung für seine Berufung vorzieht, ohne Frau zu leben, zu gebühren scheint.21 Das mythische „Wien um 1900“, das Franz Joseph I. bereits seit einem halben Jahrhundert regiert, bietet sich als zentraler locus eines Nationsdiskurses an. Das 20 Hilde Haider-Pregler (1999, S. 161) erkennt in der Pose der 19-jährigen Schauspielerin Hortense Raky jene Pose wieder, „in der Paula Wessely vor dem Bildnis der Madonna beim Gretchen-Gebet in Max Reinhardts legendärer Salzburger Faust-Inszenierung – seit 1933 alljährlich auf dem Festspielprogramm – das Publikum zu rühren verstand“. 21 Am Ende ihres Aufsatzes zu Forsts Film resümiert Haider-Pregler (ebd., S. 173) dessen wertkonservativen Kunst- bzw. Theaterbegriff. Demgemäß können ausschließlich die großen Klassiker der Theaterliteratur adäquate Aufgaben für bedeutende Darsteller sein. Wirklich große Schauspielkunst ist eine männliche Domäne. „Die Gnade, über künstlerisches Charisma zu verfügen, verpflichtet zum Verzicht auf das private ‚kleine‘ Lebensglück.“ Der auserwählte Künstler hat „ungeteilten Dienst an der Kunst“ zu leisten und muss allen anderen Bindungen entsagen.
Nationaler Diskurs im „Ständestaat“
71
Ewige, kaum Veränderliche wird als ein hoher Wert dargestellt. Inwiefern auch das Burgtheater als Mythos fungiert, zeigt Hilde Haider-Pregler: Es existiert „ungeachtet der jeweiligen Burgtheaterrealität, mentalitätsgeschichtlich als Mythos“.22 Die präzise historische Positionierung der Film-Erzählung im Frühling des Jahres 1898 indiziert trotz ihrer Exaktheit keinen konkreten historischen Zeitpunkt, sondern vielmehr eine bestimmte Atmosphäre, eine Stimmung. Forst sagt in einem Interview mit der Zeitschrift Mein Film. Illustrierte Kinorundschau im August 1936: „Die Zeit um 1897 herum wählte ich des Kolorits halber und weil sie einen der Höhepunkte deutscher Schauspielkunst gerade im Burgtheater darstellt.“23 Das Burgtheater ist jedoch nicht nur Chiffre für den mythischen Ort und sein „Kolorit“, sondern symbolisiert als österreichisches Staatstheater auch diesen Staat selbst. Viel mehr als um die politische Einheit und die rechtlichen Institutionen geht es dabei um die Kulturnation Österreich, deren hehre Traditionen das Burgtheater mehr als jeder andere Ort im Land verkörpert. Mit Goethes Faust und Schillers Kabale und Liebe sind es deutsche Klassiker, die als Beleg hierfür herangezogen werden. Staat ist – entlang einem sozialen Verständnis von Staatlichkeit – in den gesellschaftlichen Verhältnissen verortet. So lässt er sich auch im Film über das Ensemble von Figuren und über Schauplätze erschließen. In Burgtheater ist Theater selbst ein zentraler Ort. Daneben spielen der Salon der Baroness und die Vorstadt tragende Rollen. In Nußdorf wohnen nicht nur die Schindlers und bei ihnen in Untermiete der junge Josef Rainer – die Vorstadt ist außerdem jener idealisierte Ort, an dem Mitterer in einem Moment emotionalen Überschwangs Leni vor dem Kirchenaltar kniend erblickt. Die Vorstadt ist die Heimat des Wiener Mädels und gänzlich anders konnotiert als die Palais und Salons der Innenstadt, in denen eine Frau wie Baroness Seebach zuhause ist. Die kurze Szene in und vor der barocken Kirche zeigt auch, dass hier (in der Vorstadt) jener einfache, ländlich geprägte Katholizismus zu finden ist, der im ständestaatlichen Österreich-Bild eine zentrale Position einnimmt und letztlich das Gegengewicht zur säkularen Stadt bildet. Die Künstlerwohnung Mitterers, das Café Dobner, ein Heuriger und ein Konzertcafé sind Nebenschauplätze, die wesentlich für Forsts „Kolorit“ mitverantwortlich sind. Für die meisten Charaktere bleiben bestimmte Schauplätze außerhalb ihrer (sozialen) Grenzen und damit auch physisch unerreichbar. Die Figuren wissen um ihr „Hingehören“ oder „Nicht-Hingehören“ an bestimmte Orte, zugrunde liegende Strukturen sind zum Teil über Jahrhunderte hinweg tradiert und zum scheinbar wesenhaften Teil Österreichs und der ÖsterreicherInnen geworden. Der Künstlersalon der Baroness und das Vorstadthaus der Schindlers fungieren als zentrale Kontrapunkte. Beiden Orten ist ein Frauentypus zugeordnet. Locus classicus der Vereinigung und des Zusammenkommens aller Bevölkerungsschichten im Kosmos des Wiener Films ist oftmals der Heurige, dem in Burgtheater aber lediglich eine vergleichsweise randständige Rolle zugestanden wird. Das Theater, ein weitaus exklusiverer und weitestgehend dem bürgerlichen Milieu vorbehaltener Ort, 22 Ebd., S. 158. 23 Zit. n. ebd.
72
Martin Weidinger
besetzt, wenngleich mit Einschränkungen, diesen Platz. Josef Rainer ist die einzige Figur des Films, die sich sowohl in der Vorstadt als auch im Theater bewegt und darüber hinaus in den großbürgerlichen Künstlersalon der Baroness vordringt. Rund um seine Figur brechen dann auch die zentralen Konflikte im Film auf, die ihm schließlich die Entscheidung für eine der Sphären und für die ihr zugeordnete Frau abverlangen. Die Selbstverständlichkeit, mit der er geglaubt hat, sich hier wie dort ganz ungezwungen bewegen zu können, erweist sich als Trugbild. Die für den Wiener Film prägenden Standesunterschiede, wie sie auch in Burgtheater dargestellt werden, sind inkompatibel mit dem Bild eines harmonischen Staatsganzen. Anderson hat darauf hingewiesen, dass Nation unabhängig von real existierenden sozialen Unterschieden immer als Gemeinschaft Gleicher imaginiert werden muss.24 Die Grenzen der verschiedenen Sphären können, wie im Vorangegangenen besprochen, von den ProtagonistInnen der Handlung kaum bzw. nur unter Gefahren überschritten werden. Lediglich KünstlerInnen ist es im Wiener Film gestattet, sich spielend oder musizierend im großbürgerlichen oder aristokratischen Salon ebenso wie beim Heurigen oder auf der Vorstadtbühne zu präsentieren. Die zentrale Künstlerfigur in Burgtheater verzichtet jedoch genau darauf. Mitterer ist das Gegenteil eines „Volksschauspielers“. Er meidet geradezu sein Publikum und die Menschen insgesamt, um ganz im Ideal seiner Kunst aufzugehen. Josef Rainer wiederum überspannt den Bogen. Die Gefahr, in der er sich durch sein sorgloses Übertreten von Grenzen befindet, wird ihm selbst erst klar, als es beinahe zu einem Duell mit dem Ehemann der Baroness kommt. Diese Gefahr lässt sich zwar bald abwenden, im Zuge des Skandals verliert Rainer jedoch seine Anstellung am Burgtheater, die ihm mittlerweile unerwartet eine Hauptrolle in Kabale und Liebe beschert hat. In Rainers Verzweiflung über die ihm widerfahrenen Ungerechtigkeiten ist nur Mitterer – sein künstlerisches Vorbild ebenso wie sein Kontrahent in Liebesdingen – im Stande, ihn vor dem Selbstmord zu bewahren. Auf den Boden seiner (sozialen) Möglichkeiten zurückgeholt, findet er dann auf den dramaturgisch vorgezeichneten Weg zur „richtigen“ Frau, die dieses eine Mal zumindest bis in die Portiersloge des Theaters vorgedrungen ist, um ihn dort zu erwarten und „nach Hause“ zu führen. Burgtheater zeigt, dass das Infragestellen gesellschaftlicher Grenzen Gefahrenpotential birgt. Sie sind weitgehend undurchlässig. Wo liegen angesichts dessen nun Möglichkeiten, Nation zu schaffen? Wo befindet sich der ideelle Raum, in dem Gemeinschaft über diese gesellschaftlichen Trennlinien hinweg entworfen und dargestellt werden kann? Die Tatsache, dass in Forsts Film ein arrivierter Künstler im Mittelpunkt steht und ein aufstrebender Schauspieler eine weitere zentrale Rolle spielt, weist bereits den Weg zur Auflösung dieser Fragen. Kunst und Kultur sind es, mit denen in Österreich über die Systembrüche von 1918 bzw. 1938/1945 hinweg „große“ Traditionen heraufbeschworen werden. Ihre Bezugspunkte liegen historisch zum allergrößten Teil vor dem Ersten Weltkrieg. Auf diese Weise können über jene politisch-historischen Bruchstellen hinweg Kontinuitäten erzeugt werden, die die als österreichisch vorgestellten kulturellen Tradi24 Anderson 2006, S. 7.
Nationaler Diskurs im „Ständestaat“
73
tionen als dauerhaft und eben un-unterbrochen imaginieren. Dem Theater des Fin de Siècle kommt hier aus der Perspektive der 1930er Jahre eine tragende Rolle zu, aber sein Gewicht als identitätsstiftendes Symbol erscheint auch in Burgtheater nicht groß genug, um ein nationales Kollektiv hinter seinem Mythos zu vereinigen. Bei allem Stolz auf die hochkulturellen Traditionen, den dieser in den ÖsterreicherInnen hervorzurufen vermag, ist das Theater jedoch zu exklusiv. Es bleibt letztendlich Eliten vorbehalten. Seine integrative Kraft als Ort nationaler Vereinigung erweist sich als mangelhaft. Diese Funktion übernimmt die Musik, die nicht ohne Grund in vielen Wiener Filmen der 1930er Jahre, aber auch der Nachkriegszeit eine so unverzichtbare Rolle spielt. Auch als Hohelied auf die österreichische Theaterkunst kommt Burgtheater nicht ohne sie aus, wie der für meine Argumentation wichtigste Filmausschnitt, auf den ich im Folgenden näher eingehen möchte, belegt. INKLUSION: NATIONALE GEMEINSCHAFT Ein Wienerlied ist das Leitmotiv dieser Sequenz, die im Salon der Baronin ihren Ausgang nimmt. Ein Kammersänger lässt sich ausnahmsweise zur leichten Muse herab und singt Sag beim Abschied leise Servus. Er begleitet sich dabei selbst am Klavier. Während die Kamera verschiedene Gäste und kurze Dialoge einfängt, erklingt das Lied weiterhin im Hintergrund, bevor der Sänger nochmals kurz ins Bild kommt und im Anschluss die Szene wechselt. Die Melodie klingt weiter, allerdings ist es nun nicht mehr der Klang eines Klaviers, sondern der einer Zither, die den Ton angibt und die Szene als volkstümlich und vorstädtisch kenntlich macht. Kein Kammersänger mehr, sondern Hans Moser als Faktotum Sedlmayer ist es, der nun das Lied am Kaffeetisch der Schindlers, vom Schneider selbst begleitet, ohne Unterbrechung fortführt. Frau Schindler strickt und in der Mitte des Tisches steht ein Gugelhupf als Symbol dafür, dass die Welt hier in Ordnung ist und die Menschen sich wohl befinden. Während die Kamera dann ihren Blick vom Kaffeetisch wendet, langsam durch das geöffnete Fenster hinausfährt und ein biedermeierlich anmutendes Vorstadt-Szenario einfängt, setzt der Gesang aus und das Wienerlied wird in einer orchestralen Version zum filmmusikalischen Hintergrund. Im Garten gehen Leni und Mitterer spazieren. Erstere denkt an Josef Rainer, Mitterer spricht in verklausuliert-pathetischen Worten von seiner Liebe zu ihr.25 Die Musik setzt nun ganz aus. Sedlmayer erinnert Mitterer daran, dass sie bald aufbrechen müssten – der Faust fange um acht an. Szenenwechsel. Leni sitzt mit Josef beim Heurigen. Sag beim Abschied leise Servus ist wieder zu hören – ein Damenorchester begleitet eine Heurigensängerin. Josef ist nach dem Jour Fixe bei der Baronin in Hochstimmung und möchte statt dem „Schmachtfetzen“ was „Fesches“, was „Lustiges“ hören, aber Leni mag gerade 25 Haider-Pregler (1999, S. 166) verweist darauf, dass Mitterer auch außerhalb des Theaters sprachlich wie gestisch nur über seine theatralen Ausdrucksmittel verfügt und ihm in seiner Werbung um Leni lediglich „gefühlsschwangere Pathetik“ bleibt.
74
Martin Weidinger
dieses Lied so gerne. Josef plant den kommenden Tag: zuerst zum Burgtheaterdirektor, um den Vertrag zu machen, dann zum Dank-Besuch bei der Baronin. Hier endet die vor dem Hintergrund der populären Melodie inszenierte Sequenz. Die Musik, genauer die volkstümliche Musik in Form eines Wienerliedes, stellt ein starkes einigendes Element quer durch alle Bevölkerungsschichten dar. Sie vermag auch die Kluft zwischen dem aristokratisch-großbürgerlichen Salon und der Vorstadt zu überbrücken. Hier liegt das identitätsstiftende Motiv, das die Menschen zusammenzuführen im Stande ist. Jeder – selbst ein Nicht-Sänger wie Moser (und ganz besonders ein solcher!) – kann diese volkstümliche Kunst ausüben und durch sie für einen Moment selbst zum Künstler werden. Auch jene Personen, die an der Hochkultur partizipieren, können sich dem Reiz des Volkstümlich-Populären nicht entziehen. In allen schlägt, so die Unterstellung bzw. das Selbstbild, ein „österreichisches Herz“. Darauf rekurriert der „Ständestaat“, wenn es darum geht, den Identitätsdiskurs möglichst in einen erfolgreichen nationalen Staatsdiskurs zu überführen. Der Gemeinschaftsentwurf des Wiener Films täuscht die weitreichende Inklusion vermeintlich aller Bevölkerungsschichten vor – der oben besprochene Filmausschnitt illustriert dies –, setzt in Wahrheit aber auf Exklusion. „Kleinbürgerliche und aristokratische Kreise treffen aufeinander, Submilieus und das Proletariat bleiben ausgespart. Es finden sich weder Ausbeuter noch Ausgebeutete […].“26 In Bezug auf Burgtheater kann nicht einmal mehr von einer Marginalisierung „unerwünschter“ sozialer Gruppen oder Ethnien (z.B. jüdischer WienerInnen) gesprochen werden. Sie bleiben in dem enthistorisierten Staatsgebilde vollends unsichtbar. Staatsbürgerschaft bleibt auf die genannten Schichten beschränkt. Die Bevölkerung wird durch die stillschweigende Ausblendung anderer Ethnien als ausschließlich deutsch-österreichisch kenntlich gemacht. Die dargestellte Gesellschaft präsentiert sich somit weitestgehend ohne Brüche. Als einzige für kurze Zeit gefährlich erscheinende Irritation bleibt der Konflikt zwischen Josef Rainer und dem Baron Seebach eine flüchtige und in der allgemeinen Harmonie des Films schnell übertünchte Episode. Trotzdem lassen diese Momente die reale Gefahr erkennen, in die sich eine ebenso positiv wie unbedarft dargestellte Figur begibt, wenn sie es wagt, sich aus der ihr eigenen gesellschaftlichen Sphäre hinauszubewegen. In der vollendeten Harmonie des „Wien um 1900“ erlaubt lediglich dieses eine Motiv einen kurzen Blick auf die dunkle Kehrseite der Traumwelt. Er bleibt so flüchtig, dass die Idylle kaum gestört und das Gesamtbild nicht nachhaltig beeinträchtigt wird. Als Hommage an das österreichische Staatstheater ist Burgtheater in seinem Kulturverständnis wertkonservativ und befand sich damit nicht nur im Einklang mit den kulturpolitischen Ansichten des „Ständestaates“, sondern eckte auch im nationalsozialistischen Deutschland nicht an.27 Diese nicht nur im Kulturverständnis konservative Grundhaltung ist eines der Merkmale des Wiener Films à la Forst und insofern nicht als Besonderheit dieses einen Werks zu betrachten. 26 Moritz/Moser/Leidinger 2008, S. 355. 27 Vgl. ebd.; Haider-Pregler 1999, S. 172f.
Nationaler Diskurs im „Ständestaat“
75
Der Wiener Film blendet Politik und aktuelles Zeitgeschehen aus. Er besinnt sich einer glänzenden Vergangenheit und eines großen kulturellen Erbes und gibt den Österreichern ein Stück Identität zurück, das mit dem Zerfall der Monarchie verlorengegangen scheint. Das Genre kam dem austrofaschistischen Regime somit mehrfach entgegen. Es entzog sich der Gegenwart, bewarb ein reaktionäres System und suchte den österreichischen Patriotismus zu beleben.28
So schrieb denn auch das Neue Wiener Journal im Dezember 1936: „Dieser beglückende Film, zu dem man rückhaltlos ‚Ja’ sagen kann, ist eine Huldigung für Wien, für das Burgtheater, für Österreich, wofür Willy [sic] Forst herzlich bedankt sei.“29 FAZIT: WIDERSPRÜCHE UND IHRE ÜBERWINDUNGEN Der „Ständestaat“ erschöpfte sich in seiner ständischen Durchorganisierung wie auch in vielen anderen Vorhaben politischer wie sozialer und kultureller Neuorganisation vielfach in Absichtserklärungen. Bevorzugt wurden verbreitete Oppositionen verschärft und Traditionen wiederbelebt und ausgebaut. Die austrofaschistische Kulturpolitik war vor allem auf eine Beseitigung jeglichen sozialdemokratischen Einflusses fixiert.30 Ein „heimattreuer Katholizismus“31 sollte das Herzstück der Österreich-Identität und die Basis der für die Nationsbildung unumgänglichen Gemeinschaftsidee bilden. Ebenso prägend für das Österreichbild im Austrofaschismus sind kulturelle Traditionen und hierarchische Gesellschaftsstrukturen. In diesem Sinn markieren die Jahre 1933/34 keine Zäsur. In Burgtheater wird dies auf besondere Weise deutlich, erfüllt der Film doch seine politische Aufgabe in der Darstellung eines als typisch österreichisch entworfenen Szenarios. Die im Film imaginierte Gemeinschaft baut auf konservativen Traditionen auf und erhebt implizit den Anspruch des „Ewigen“ und „Zeitlosen“. Die Nation, so betont auch Anderson, sieht sich immer „as somehow ancient“.32 Wie gezeigt werden konnte, treten in Burgtheater allerdings Widersprüche hervor, die die Vereinigung durch ein Gemeinschaftsideal prinzipiell gefährden. Zum einen ist dies die Undurchlässigkeit der sozialen Sphären, die jeweils an konkrete geographische Orte gebunden sind. Die Ausblendung bestimmter Schichten und verschiedener Ethnien sowie die Enthistorisierung des Sujets ermöglichen es jedoch trotzdem, einen Gesellschaftsentwurf zu liefern, der der Österreich-Ideologie entspricht. Zum anderen sticht eine Diskrepanz zwischen dem Großstadtsetting und einer grundlegenden Sehnsucht nach ländlichen Orten und Lebensformen ins Auge. Aus der Perspektive ständestaatlicher Großstadtfeindschaft stellt sich die Propagierung eines Wien-Mythos als einigender und nationsstiftender Kraft in Burgtheater wie im Wiener Film allgemein durchaus als pro28 29 30 31 32
Moritz/Moser/Leidinger 2008, S. 355. Neues Wiener Journal, 23.12.1936, S. 12. Pfoser/Renner 2005, S. 340. Ebd., S. 339. Anderson 2006, S. 109.
76
Martin Weidinger
blematisch dar. Eine stets nahe am „Katholizismus als ideologische[m] Träger des ‚Austrofaschismus‘“33 geführte Romantisierung ländlich-agrarischer Lebensformen ging einher mit der Darstellung der Stadt als Ort der Dekadenz, dem die „Urkräftigkeit des Landes und Dorfes“34 fehlte und der ideologisch gegen die „Bergwelt, de[n] Fetisch der ‚Österreich‘-Ideologie“,35 stand. Die Vorstadt-Szenen erfüllen in Burgtheater somit die Rolle eines wichtigen Korrektivs. Die von einfachen Menschen bevölkerten Alt-Wiener Biedermeierhäuser und Vorstadtgassen sind jener Ort, an dem die zentrale Figur Leni zuhause ist und wohin diese schließlich den auf Abwege geratenen Josef Rainer „nach Hause“ führt. Für den Schauspielkünstler Mitterer ist sie nicht nur jener Ort, an dem er lebt, sondern auch die Umgebung für inspirierende Spaziergänge. Auf diese Weise schreibt der Film der Vorstadt durchaus jene reinigende Kraft zu, die im größeren Kontext betrachtet dem ländlichen Raum, der urwüchsigen Bergwelt zugeschrieben wird. Burgtheater adaptiert etablierte Handlungsmotive eines Genres, das bereits vor dem Austrofaschismus entstanden ist, und versteht es so, inhärente Widersprüchlichkeiten des ständestaatlichen Nationsdiskurses zu übertünchen. Dies betrifft nicht zuletzt das immer wieder geleistete Bekenntnis zum Deutschtum bei gleichzeitigen Bemühungen österreichischer Abgrenzung vom Nachbarn. Die Probleme, die das Regime mit der konsistenten Ausrichtung auf eine österreichische Nation im Spannungsfeld von Habsburgermythos und nationalsozialistischem Gedankengut hatte, machten es ohnedies schwierig festzulegen, wie der österreichische Film auszusehen hatte. Klarheit bestand 1936 hingegen im produktionsbezogenen Bereich: Forst hatte in Leise flehen meine Lieder (1933) und in Maskerade (1934) noch mit jüdischen HauptdarstellerInnen gearbeitet. In Burgtheater war dies nicht mehr möglich. Viel mehr noch als der ständestaatliche Antisemitismus war es der massive Druck von Seiten des deutschen Absatzmarktes, der dazu geführt hatte, dass die österreichische Filmwirtschaft bereits lange vor dem „Anschluss“ ihre jüdischen KünstlerInnen an die Ränder des Kinos – in den sogenannten „Exilantenfilm“ – gedrängt oder überhaupt ins Exil vertrieben hatte. FILM Burgtheater, Willi Forst, A 1936
LITERATUR Anderson, Benedict, 2006: Imagined Communities, London/New York. Büttner, Elisabeth/Dewald, Christian 2002: Das tägliche Brennen. Eine Geschichte des österreichischen Films von den Anfängen bis 1945, Salzburg/Wien.
33 Hanisch 2005, S. 68. 34 Pfoser/Renner 2005, S. 352. 35 Ebd., S. 353f.
Nationaler Diskurs im „Ständestaat“
77
Duchkowitsch, Wolfgang 2005: Umgang mit „Schädlingen“ und „schädlichen Auswüchsen“. Zur Auslöschung der freien Medienstruktur im „Ständestaat“. In: Tálos, Emmerich/Neugebauer, Wolfgang (Hrsg.): Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, Wien, S. 358–370. Haider-Pregler, Hilde, 1999: „… DAS THEATER HÖRT NIE AUF“. Willi Forsts Film vom Burgtheater. In: Modern Austrian Literature 32, H.4, S. 157–176. Hanisch, Ernst, 2005: Der politische Katholizismus als ideologischer Träger des „Austrofaschismus“. In: Tálos, Emmerich/Neugebauer, Wolfgang (Hrsg.): Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, Wien, S. 68–86. Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence, 1992: The Invention of Tradition, Cambridge. Linhardt, Marion, 2003: Phantasie und Rekonstruktion. Die Filme über Wien. In: Loacker, Armin (Hrsg.): Willi Forst. Ein Filmstil aus Wien, Wien, S. 258–289. Loacker, Armin (Hrsg.), 2003: Willi Forst. Ein Filmstil aus Wien, Wien. Loacker, Armin (Hrsg.), 2007: Im Wechselspiel. Paula Wessely und der Film, Wien. Moritz, Verena/Moser, Karin/Leidinger, Hannes, 2008: Kampfzone Kino. Film in Österreich 1918–1938, Wien. Neues Wiener Journal, 23.12.1936. Pfoser, Alfred/Renner, Gerhard, 2005: „Ein Toter führt uns an!“ Anmerkungen zur kulturellen Situation im Austrofaschismus. In: Tálos, Emmerich/Neugebauer, Wolfgang (Hrsg.): Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, Wien, S. 337–356. Schmid, Georg, 1983: Kinogeschichte der Zwischenkriegszeit. In: Weinzierl, Erika/Skalnik, Kurt (Hrsg.): Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik, Bd. 2, Graz u.a., S. 705–714. Skalnik, Kurt, 1983: Auf der Suche nach der Identität. In: Weinzierl, Erika/Skalnik, Kurt (Hrsg.): Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik, Bd. 1, Graz u.a., S. 11–24. Staudinger, Anton, 2005: Austrofaschistische „Österreich“-Ideologie. In: Tálos, Emmerich/Neugebauer, Wolfgang (Hrsg.): Austrofaschismus – Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, Wien, S. 28–52. Weidinger, Martin, 2011: Wiener Mädel als Stützen des Staates? Geschlechterordnung im Wiener Film der 1930er Jahre. In: Krammer, Stefan/Löffler, Marion/Weidinger, Martin (Hrsg.): Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen, Bielefeld, S. 227–241.
POLITISCHE INSZENIERUNGEN DES AUFBRUCHS Poetik der Masse bei Mirko Jelusich und Anna Seghers Sabine Zelger 1. ZUR BEDEUTUNG DER MASSEN AUF DER STRASSE. EINLEITENDE BEMERKUNGEN In der hoch politisierten Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ist die Straße wichtiger Schauplatz ideologischer Kämpfe. Zivile und militarisierte Gruppen artikulieren im öffentlichen Raum ihre Anliegen und versuchen in den republikanischen Staaten politische Veränderungen durchzusetzen. Sowohl bei den gewaltlosen Demonstrationen als auch beim physischen Kräftemessen auf den Straßen geht es um eine Neuverteilung der Kräfte, auch und gerade im Zusammenhang mit dem Staat: als legale Handlungsweise von StaatsbürgerInnen, als öffentliche Artikulationen der sich jeweils neu formenden und formierenden Bevölkerungsgruppen, als nachdrückliche Forderungen für andere Regierungsweisen und Gesetze. Die Menschenmengen partizipieren aktiv als sichtbarer Teil der jungen Demokratien und beteiligen sich am Gestaltungsprozess des Staates – sei es, um ihre Mitbestimmung auszubauen, zu beschränken oder durch den Ruf nach Diktatoren abzuschaffen. Wie diese politischen Masseereignisse interpretiert werden und welche Bedeutungen ihnen zukommen sollten, wurde in Politik, Medien und Wissenschaften ausverhandelt. Aber auch literarische Texte schrieben nicht unwesentlich an der politischen Verortung der Aufbrüche mit. Für die Frage nach der „Menschenunterbringung“, die nach Michel Foucault in der Moderne zentral wird,1 finden sich jede Menge Antworten in den politischen Straßenszenen der zeitgenössischen Literatur. „[W]elche Nachbarschaftsbeziehungen, welche Stapelungen, welche Umläufe, welche Markierungen und Klassierungen für die Menschenelemente in bestimmten Lagen und zu bestimmten Zwecken gewählt werden sollen“,2 wird in den fiktionalen Massedarstellungen vielseitig diskutiert. In der Komposition der Bewegungen privater, parteilich organisierter und staatlicher AkteurInnen stehen Umordnungen gesellschaftlicher Strukturen zur Debatte. Allerdings werden Einschätzungen und Wertungen nicht unbedingt explizit zur Sprache gebracht und sie können kaum durch reine Inhaltsanalysen rekonstruiert werden. Die politische Intervention, die via fiktionale Massedarstellungen realisiert wird, lässt sich, so 1 2
Foucault 1991, S. 67. Ebd.
80
Sabine Zelger
meine These, vor allem in den Poetiken festmachen. Es sind die Bilder und Perspektiven, über deren Analyse die fiktionalen Aufbrüche im großen politischen Prozess eingebettet werden können und über die sich implizierte Vorstellungen des Staates herauslesen lassen. Sie bilden auch das Zentrum meiner Untersuchung. Wenn die Masse eine zentrale Bedeutung in politischen Auseinandersetzungen spielte und im Fokus linker und rechter Interessen stand, stellt sich die Frage, wie sich die Darstellungen nach politischen Positionen unterscheiden und inwiefern diese rhetorisch oder erzähltechnisch realisiert werden. Mit dieser Kontrastfolie, vor der ich Massekonzeptionen vergleiche, werden die Grenzen des Sagund Unsagbaren, wie sie in den Rekonstruktionen des Massediskurses vermessen wurden, verschoben bzw. in Frage gestellt. Dies gilt erstens für die Tendenzen der Dichotomisierung bei Beschreibungen des Massephänomens. Vielen Darstellungen sei – so Bernd Widdig – eine binäre Struktur inhärent, die die Menschenmenge als negativen bzw. positiven Pol implementieren.3 Auch Michael Gamper geht bei Massetexten von entgegengesetzten Funktionen aus und unterscheidet eine beruhigende von einer beunruhigenden Wirkung.4 Gelten diese Strukturmerkmale für faschismusaffine Darstellungen ebenso wie für Fiktionen mit kommunistischen Zielvorstellungen? Oder sind die Dichotomien – männlich/weiblich, bereichernd/regressiv, beruhigende/beunruhigende Funktion, positiver/negativer Pol – nicht einmal innerhalb ideologisch kohärenter Fiktionen konstant? In einer Analyse, die politische Interventionen über erzähltechnische Fragen untersucht, werden diese dominanten Unterscheidungskriterien ausdifferenziert und nach ihrer Trennschärfe sowie politischen Neutralität untersucht. Zweitens wird der Hang zur Heilung und Zähmung der pathologisierten Masse befragt, wie er im modernen Massediskurs ausgemacht wird: als Imperativ gegen die weiblich imaginierte Formlosigkeit und Bedrohung der Masse,5 gegen die Gefährdung des Ich6 oder ganz generell gegen die „politische Ungestalt“7 in all ihrer chronischen Bedrohlichkeit, wodurch „[d]as Schicksal der Politik [...] auf die Regierung dauerhafter Ausnahmesituationen und Anomalien verpflichtet [wird], mithin auf die Regulierung eines feindseligen Potentials, das die Gesellschaft selbst ist“.8 Mein Anliegen zielt demgegenüber auf Pluralisierung politischer Ordnungsvorstellungen ab, die sich in verschiedenen Arrangements von Massedarstellungen niederschlagen. Anhand exemplarischer Texte sollen Spezifika rechter und linker Poetiken der Masse herausgearbeitet werden. Mit dem Roman Cromwell (1933, verfasst 1932/33) von Mirko Jelusich und der Novelle Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft (1930, verfasst 1929/30) von Anna Seghers stehen 3 4 5 6 7 8
Widdig 1992, S. 20 u. S. 25. Gamper 2007, S. 29. Widdig 1992, S. 26, in Anlehnung an Theweleit. Ebd., S. 19, in Bezug auf Freud. Vogl 2011, der diese Formulierung als Vortragstitel wählt. Ebd., S. 13.
Politische Inszenierungen des Aufbruchs
81
Werke zur Debatte, die zu einer Zeit geschrieben wurden, als sich die parteipolitischen Kämpfe zuspitzten, die politische Zukunft in den jeweiligen Ländern jedoch noch als offen erlebt wurde.9 Zugleich handelt es sich um einen Zeitraum, in dem nach Michael Gamper „die Bedeutung der ‚Masse‘ im Schwinden begriffen“ war: Im Unterschied zur politischen Praxis sei das Interesse an ihr in Wissenschaft und Literatur verloren gegangen.10 Dies trifft auf die ausgewählten Texte nicht zu, in denen die Masseszenen konstitutiv sind.11 Nachdem die beiden AutorInnen politisch aktiv und nationalsozialistisch12 bzw. kommunistisch13 organisiert waren, kann davon ausgegangen werden, dass auch ihre Texte als rechte bzw. linke Interventionen lesbar sind. 2. DIE MASSE WIRD GEZÄHMT. PHANTASIEN DIKTATORISCHER GEWALT Im viel gelesenen Historienroman Cromwell – das Buch zählt zu den erfolgreichsten des „Bestsellerautors“14 Mirko Jelusich – sind Massedarstellungen gleich aus mehrerer Hinsicht eine Besonderheit: Sie sind rar und kurz, sie fallen aus dem erzähltechnischen Setting und sie markieren pointiert die jeweils aktuellen Herausforderungen für den Helden. Diese bestimmen die in Formation und Wertung je unterschiedlichen Ausgestaltungen der Menschenmenge sowie das jeweils zu exemplifizierende Modell des Staates. Dass die Masse einen ganz besonderen Platz im Roman und der dort gestalteten Staatsfiktion einnimmt, wird durch die narrative Sonderstellung evident. In der dramatischen Grundstruktur, in der mittels Dialogen Cromwells Aufstieg bis zu seinem Tod nachgezeichnet wird, bilden die Masseszenen epische Versatzstücke und werden als grundlegende Fundierung einer allgemeinen Entität ausgewiesen. Der Bruch mit der traditionellen Erzählzeit, der Verwendung des Präsens statt des Präteritums, wird in diesen Stellen ganz besonders wirksam. Jelusich gelingt es dadurch, die Menschenmenge als zeit9 10 11
12
13
14
Jelusich lebte in der Zwischenkriegszeit in Österreich, Seghers bis zu ihrer Flucht ins Exil in verschiedenen deutschen Städten. Gamper 2007, S. 511. Dieser Befund ist für die österreichische Literatur vielleicht überhaupt zu revidieren. Vgl. beispielsweise Jura Soyfers Romanfragment So starb eine Partei (1934) oder Robert Neumanns Sintflut von 1929. Auch in den prominenten Romanen Dämonen von Heimito von Doderer (1929–56) sowie Barbara oder die Frömmigkeit (1929) von Franz Werfel spielen Masseszenen eine wichtige Rolle. Auch wenn Jelusich 1945 bestritt, bereits vor dem „Anschluss“ NS-Parteimitglied gewesen zu sein, ist das Engagement des „‚Haus- und Hofdichters‘ der österreichischen NSDAP“ (Sachslehner 1985, S. 44) für die „Bewegung“ vielfach belegt. Eine detaillierte Recherche findet sich ebd., S. 30–57. Anna Seghers trat in der Zeit, als sie an dieser Erzählung arbeitete, der KPD bei (vgl. Brandes 1992, S. 37), wenig später dem „Bund proletarisch revolutionärer Schriftsteller“. Später distanzierte sie sich allerdings von den in der vorliegenden Novelle eingesetzten künstlerischen Lösungen. Vgl. Seghers 1931, zit. n. Schlenstedt 2008, S. 6. Vgl. Sachslehner 1985, S. 100.
82
Sabine Zelger
los Gegebenes auszuweisen, als unumstößliche Basis bzw. stete Herausforderung des Staates. Dabei differiert nicht nur die Art und Weise, wie die Masse jeweils wahrgenommen wird, sondern es werden auch verschiedene Menschengruppen, sogar in Institutionen organisierte Personen, in Massedarstellungen fiktionalisiert. Dementsprechend breit sind die Wirkungen, die von den jeweiligen Inszenierungen der Menschenmenge ausgehen. Es finden sich beunruhigende Darstellungen der Masse als bedrohliche oder monströse Erscheinung mit immanentem physischem Kraftpotenzial. Daneben gibt es jedoch harmlose Ansammlungen, selbst von freundlichen Strömen ist zu lesen, in denen große Menschengruppen unterwegs sind. Einzige Konstante der Massedarstellungen bildet die erzähltechnische Entscheidung, die Menschenmenge immer von Unbeteiligten, meist über die Identifikationsfigur, den großen Cromwell, in den Blick zu nehmen. Es sind seine Augen, mit denen die Menschenmenge gefasst wird, ja eine Fassung erhält. Mit einer Erzählinstanz, die gemeinsam mit ihrem Helden meist den Überblick bewahrt, lassen sich die diktatorischen Interessen des Protagonisten mit den spannungsgeladenen Masseszenen kurzschließen. Hohe Erwartungen an den Führer als herausragende Persönlichkeit werden angestachelt oder erfüllt. Je nach Art der Menschenmenge geschieht dies auf unterschiedliche Weise, die gleichzeitig den Beweis erbringt, wie der Diktator dem Volk Herr ist oder Herr werden muss. 2.1 Volk und Masse In der ersten Masseszene, die eine lose Gemeinschaft darstellt, schaffen Fahnen und Sonntagskleider deutliche Signale für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die zusammen etwas zu feiern hat. Damit keine Zweifel ob ihrer homogenen und geschlossenen Form aufkommen, wird der Erzähler ganz deutlich: Die Massen sind ungeordnet; dennoch ist es, als weise ein geheimes Gesetz jedem seinen Platz an, als füge ein unbekannter Plan alle die Einzelwesen zu einer organischen Einheit zusammen, die, wie nur ein Ziel, auch nur einen Willen kennt: die triumphale Wasserstraße zu säumen, die dem Siege des Parlaments sinnfälliger Schauplatz sein soll.15
Die zauberhaften Ordnungsmechanismen werden klar als gemeinsamer politischer Wille ausgewiesen. Interessanterweise sind sie instinktiv und unbewusst wirksam, obwohl der Grund für die Zusammenkunft kein Geheimnis ist. So macht der Autor die Masseszene für das Konzept der Nation tauglich, bei dem von einer natürlichen homogenen Einheit ausgegangen wird. Dennoch bedarf es diverser Regelungskräfte, damit der Organismus nicht zerfällt. Da dafür bekannte Personen, nämlich Milizionäre der eigenen Stadt, zuständig sind, genügen „ein freundlicher Zuruf, ein lustiger Scherz her und hin, und willig fügt sich alles den Anordnungen“.16 Allerdings kann der wundersame und friedliche Status nicht von Dauer sein. Dies deutet Jelusich nicht zuletzt in der Metaphorik an, indem er die Men15 Jelusich 1933, S. 50. 16 Ebd., S. 51.
Politische Inszenierungen des Aufbruchs
83
schen als Tiere in Szene setzt. Damit deponiert der Autor, dass von dieser Masse eine latente Bedrohung ausgeht, da sie jederzeit wild und gefährlich werden kann. Dennoch verblüfft das Ausmaß, in dem die Effekte dieser Transformation wenig später ausgemacht werden. Dieselben Menschen jagen in „Volkshaufen“ durch die Straßen: „Es ist, als sei die ganze Stadt von einer seelischen Seuche ergriffen, in deren kochendem Fieber Vernunft und Besinnung untergehen.“17 Gesteigert wird die bedrohliche Darstellung, als sich der Protagonist – wie sonst in keiner anderen Szene – einen Weg durch die Menge bahnen muss und dabei selbst in Gefahr gerät. Und doch überwiegen bei einem Vergleich der beiden Massedarstellungen, den auch der Erzähler anregt, die Ähnlichkeiten. Weder in der idyllischen noch in der bedrohlichen Straßenszene sind „Vernunft und Besinnung“ zu finden. Immer ist der Einsatz von Ordnungskräften notwendig. Wenn sich „die ganze Stadt“ anschickt, zum Handlungssubjekt zu werden, wird sie über Milizionäre wieder in die Objektposition katapultiert. Das bedeutet nicht, dass der Ausgang der Kämpfe klar ist und die Miliz jede Gefahr, die von der Masse ausgeht, bannen kann. In jenen Momenten, in denen das Volk stumm und bewegungslos auf die Hinrichtung des Königs und später auf den Tod Cromwells wartet,18 wird deutlich, dass in ihm ein gewaltiges Kraftpotenzial ruht, dessen Realisierung niemals vorhersehbar ist. Zwar verfügt die Masse über einen Willen, der in ihren Bewegungen zum Ausdruck kommt, jedoch ist dieser Wille unzugänglich für alle, die nicht Teil von ihr sind. Dazu gehören neben Cromwell auch die Erzählinstanz und die LeserInnen. Besonders deutlich wird diese ausschließende Gegenüberstellung dadurch, dass das Geschehen niemals aus Sicht der Menschenmenge berichtet wird: Egal ob die Erzählperspektive auktorial oder personal organisiert ist oder Figuren über direkte Rede zu Wort kommen – die Masse ist niemals Subjekt, sondern immer in Objektposition.19 Allein durch diese narratologische Entscheidung werden die Volksauftritte kanalisiert, die über eine Fülle von Metaphern in Szene gesetzt werden: die Masse als „organische Einheit“,20 als Tiere21, als amorpher Haufen oder geordneter Zug.22 Während die Position der Masse konstant bleibt, ist ihre Rolle widersprüchlich. Dies trifft auch auf jene Schlüsselstelle zu, in der Cromwell das politische Ziel imaginiert und wieder auf eine andere Konzeption zurückgreift: König oder Volk! Das war die Lösung. Der Eine gegen die Vielen. Gewiß, auch die Vielen konnten sich in Einen verdichten, Einer konnte ihr Kopf, ihr Herz, ihr Mund, ihr Arm werden; aber darauf eben kam es an, daß er einer von Ihnen blieb, die Kristallisation der formlosen
17 Ebd., S. 126. 18 Ebd., S. 362, S. 492, S. 494. 19 So gesehen kann der Befund Sachslehners, dass das Volk in Jelusichs Romanen stets Objekt sei, in Cromwell hinsichtlich der Fokalisierung bestätigt werden. Vgl. Sachslehner 1985, S. 116. 20 Jelusich 1933, S. 50. 21 Ebd., S. 51. 22 Ebd., S. 126.
84
Sabine Zelger Strebungen und Gelüste der Masse; daß Niedriges, Schlackenhaftes, Falsches von ihm abfiel, daß er die ewige Wahrheit verkörperte, die im Volke war.23
Jelusich propagiert hier, kurz bevor das Beil den Königskopf abschlägt, seine diktatorische Lösung – die so vielseitig aufgebauten Probleme mit der Menschenmenge vermag er nicht zu lösen. So realisiert er hier Massevorstellungen, die mit jenen vor und nach dieser Szene nicht kompatibel sind. Die Menschenmenge ist kaum formlos, wird nicht als „gelüstig“ inszeniert. Auch die angestrebte „Verdichtung“ in einer Person ist durch die Heterogenität ihrer Erscheinungen nicht möglich. Das wird dort ganz besonders augenscheinlich, wo Jelusich für Parlament und Freiwilligenheer auf Elemente des Massediskurses zurückgreift. 2.2 Parlamentarier und Masse Indem der Autor einen historischen Abschnitt wählt, für den die gewählte Volksvertretung als bahnbrechende Errungenschaft gilt, kann er diese Institution nicht gut außen vor lassen. Wie aber integriert der bekennende Nationalsozialist die parlamentarischen Szenen in seinen „Führerroman“, der auch als Hitler-Biographie gelesen wurde?24 Für meine Fragestellung besonders spannend ist die poetologische Lösung des Autors, die in den Parlamentsszenen durch den Rekurs auf den Massediskurs die dialogischen und pluralistischen Anteile hintertreibt. Die strikte Ablehnung dieser Institution verwirklicht Jelusich, indem er zwischen die parlamentarischen Debatten Masseszenen schneidet, in denen er die „Volksvertreter“ als bedrohliches „Volk“ ausmacht. Mit seiner Metaphorik dockt der Autor an ein bekanntes Bildrepertoire aus dem 19. Jahrhundert an, in dem über Darstellungen von monströsen, tier- und triebhaften Menschenmengen die Französische Revolution desavouiert werden sollte. Nicht zufällig greift Jelusich dabei nicht das Bild der enthaupteten Bestie,25 sondern die Metapher des vielköpfigen Monstrums auf. Über das „Gleichnis vom heidnischen Helden“ vermag er die gute Masse der Bevölkerung von den bösen, bestialischen Parlamentariern zu separieren und deren Vernichtung zu bewerben. Erst war es der reißende Löwe, den der Held erwürgte: dann bekämpfte er die vielköpfige Schlange, die fünfzigfach gefährlich war dadurch, daß ihr die abgeschlagenen Köpfe immer wieder nachwuchsen. Dieser Kampf steht ihm [Cromwell, Anm. S.Z.] bevor, und er ist entschlossen, ihn durchzufechten, bis einer von ihnen beiden am Platze bleibt: er oder das völkerfressende, vielköpfige Untier!26
Hinsichtlich der mehrmaligen Auflösung und Wiederinstallierung des Parlaments antizipiert dieses mächtige Bild des Endsieges27 eine Zukunft, die sich nicht mehr 23 Ebd., S. 365. 24 Vgl. Sachslehner 1985, S. 48, S. 112. 25 Vgl. Vogl 2011, S. 9, der sich bezüglich der beliebten antirevolutionären Metapher auf Hippolyte Taine, Eduard Burke sowie Gustave Le Bon bezieht. 26 Jelusich 1933, S. 244. 27 Dieser Begriff wird an anderer Stelle explizit genannt, siehe ebd., S. 496.
Politische Inszenierungen des Aufbruchs
85
mit politischen Problemen auseinandersetzen muss. Dass der Kampf eine Angelegenheit der Überraschung und des Überfalls ist, macht Jelusich durch die alleinige Lenkungskompetenz des Führers klar, wie sie sich bereits in der Regie der mythischen Anleihe zeigt. Cromwell verwendet das Bild in seiner Rede, es fällt ihm wieder ein, „unwillkürlich spinnt er es weiter, gedenkt der Großtaten des Mannbaren“.28 Die Parlamentarier sind in ihren Ausformungen Produkt der Führerphantasie und können auch über sie wieder zum Verschwinden gebracht werden. Den Beweis für die unermessliche Macht seines Helden liefert Jelusich in einem weiteren Rekurs auf die Massemetaphorik, in dem er der Führerfigur magische Züge verleiht. Während das gesamte Parlament im „Höllenlärm“ tobt, bleiben nur zwei Personen ruhig. Die eine ist einfach fassungslos, war nur Mittler einer überraschenden Botschaft, die „andere ist Cromwell, der, die Hände auf dem Rücken, ruhig auf seinem Platze steht, in das Getümmel aufmerksam hineinblickt, fast wie ein Adept in die brodelnde Masse in der Retorte, die er selbst ans Feuer gerückt hat.“29 Mit diesem Vergleich reduziert sich die Gefahr des Parlaments, und der jeweiligen Köpfe, gegen null. So ist es denn nicht verwunderlich, dass von dieser Institution später nur mehr das „Gefäß“ übrigbleibt, bis auch das „zertrümmert“ wird, „weil der köstliche Wein, den es einst enthielt – und wie viel durstige Lippen hatten mit diesem Weine einst Mut und Kraft in sich hineingetrunken! – bis zur Neige geleert worden war.“30 Bedrohung geht von einer derartigen Institution nicht aus, die jederzeit substanzlos werden kann. Höchstens besoffen macht das Parlament. 2.3 Soldaten und Masse Neben dem Volk und dem Parlament greift Jelusich noch für eine dritte staatliche Kategorie auf das Bilderrepertoire des Massediskurses zurück und setzt es für das Freiwilligenheer ein. Parallelen zu den Volksdarstellungen gibt es zu Beginn des Romans, als die zukünftigen Soldaten die Straßen wie einen „Strom“ füllen. Das ungeordnete Zusammenlaufen zeigt den gewollten Bruch mit den sozialen Hierarchien und Differenzen. Klassenunterschiede, Stadt-Land-Differenz, lokale Abweichungen sollen angesichts des gemeinsamen Ziels, des Kampfes gegen König und Adel, keine Rolle mehr spielen. „[D]er Lehrjunge steht neben dem Studenten, der Landarbeiter neben dem, der sich der Stadt verschrieben hat: es ist ein buntes Gewimmel, das sich auf den hastig freigemachten Exerzierplätzen zusammengefunden hat“.31 Dort werden statt der alten Differenzen sofort neue installiert, „denn jeder der Obersten und selbständigen Hauptleute liebt es, seine Mannschaft in seine Farben zu kleiden [...]. So viel Farben gibt es da zu sehen, als wäre ein Regenbogen auf die Erde gefallen und hätte sich in die tausende seiner Tropfen auf28 29 30 31
Vgl. ebd., S. 244. Ebd., S. 265f. Ebd., S. 430. Ebd., S. 70.
86
Sabine Zelger
gelöst.“32 Mit diesem Bild wird ein zauberhaftes Spektakel evoziert und zugleich der himmlische Segen verbürgt. Erstaunliche Vielfalt wird den Soldaten und Heerscharen gestattet, ebenso beeindrucken Harmonie und Lockerheit. Dass Jelusich in der Buntheit Gefahren sieht und für den Sieg eine viel striktere militärische Ordnung notwendig ist, führt er erst später vor. An dieser Stelle wirkt eine derartige Formation noch eigenartig und fast bedrohlich. So ist die Schwadron Cromwells „in düsteres Schwarz gekleidet“ und „sticht von dem Farbenrausch seltsam ab“.33 Sie unterscheidet sich auch akustisch von den anderen Bataillonen und ist bereits zu diesem Zeitpunkt äußerst straff organisiert.34 Die Unterschiede zwischen buntem Gewimmel und Cromwells Truppe demonstrieren, dass ungeordnete Masse disziplinierte Einheit werden kann. Hier – und nicht etwa zwischen Soldateska und Bevölkerung – markiert der Autor die zentrale Differenz. In den Schlachtszenen, wo sie am markantesten ausgebildet ist, unterstreicht sie der Autor durch geschlechtliche Zuschreibungen. Für das gegnerische Militär setzt er weiblich codierte Masse ins Bild. Dem Feind, dem „mächtigen, träge wogenden Klumpen“, wird endlich der entscheidende „Stoß“ versetzt.35 Ganz deutlich wird die sexuelle Konnotation am Ende des Romans, als der sterbende Cromwell die stets bereiten Kämpfer fantasiert: „Alle suchen sie die Gefahr, alle stürzen sich hinein, bereit, sie wie eine Braut zu umfangen.“36 Wie bereits in den Volks- und Parlamentsdarstellungen zeigt sich bei den Heeresszenen eine Vielfalt an Massekonzepten. Da wie dort ist durch die konstante Position der Erzählinstanz für eine dichotome Inszenierung gesorgt: Nie ist der Erzähler Teil der Masse, sondern bleibt ihr stets äußerlich und blickt mit den LeserInnen auf „Gewimmel“, „Strom“, „Klumpen“ und „Braut“. Eine derart in den Blick genommene Masse ist Objekt der Führung, Beobachtung, Strukturierung oder Vernichtung, kurzum Objekt, das sich in einem transitorischen Zustand befindet. Der Umgang mit dem Objekt ist unterschiedlich, jedoch erzählstrategisch immer zwischen Führer und Leserschaft parallel geschaltet. So richtet sich der wohl radikalste Vorschlag für den Umgang mit Masseerscheinungen an beide: „[T]un Sie Ihre Pflicht, retten Sie den Staat, der Ihnen anvertraut worden ist, indem Sie erbarmungslos die Empörung niedertreten, wo immer sie ihr freches Haupt erhebt“.37 Mit Cromwells Unterschrift, in der diese Vorgangsweise besiegelt wird, unterzeichnen auch die LeserInnen und besiegeln ihre eigene Enthauptung oder zumindest ihre Kopflosigkeit.
32 33 34 35 36 37
Ebd., S. 70f. Ebd., S. 71. Vgl. ebd. Ebd., S. 393. Ebd., S. 495. Ebd., S. 448.
Politische Inszenierungen des Aufbruchs
87
3. WIE DIE STRASSE LINKS WIRD. DIE SUSPENSION EXKLUSIVER STANDPUNKTE Als Exempel linker Besetzungen der Straße eignet sich Anna Seghers’ Novelle Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft, wo eine vielschichtige und kontroversielle Szenerie des Aufbruchs realisiert wird. In dieser Erzählung ist die Masse Grundthema und zentrales Subjekt der Handlung. Die Demonstration für die italienischen Anarchisten Sacco und Vanzetti, die in den USA zum Tode verurteilt worden waren, wird chronologisch aufgerollt, Erzählzeit und erzählte Zeit fallen zusammen. Durch die Art und Weise, wie die Autorin die Demonstration narrativiert, ist ihre Darstellung mit dem Massediskurs in mehrerlei Hinsicht inkompatibel. Gleichzeitig setzt Seghers mit ihren poetologischen Entscheidungen ein linkes Ereignis im Sinne einer demokratischen Selbstermächtigung in Szene. 3.1 Entpolarisierung durch Dominanz des Ereignisses Mit den polarisierenden Darstellungen von Menschenmengen lässt sich das undemokratische Konzept darstellen, das zwischen „Volk“ und Führung differenziert, aber auch klassische marxistische Interessen- und Klassengegensätze sind abbildbar. Ebenso lässt sich die Opposition zwischen Staat und Gesellschaft via Gegenüberstellung von Straßenzügen und Ordnungskräften visualisieren, die sich gegenseitig exkludieren. Dichotome Strukturen liegen allerdings ganz grundsätzlich dem nationalstaatlichen Verständnis zugrunde: Die Einheitlichkeit einer Nation beruht auf ihrer Differenz zu anderen Nationen – für das Konzept der InländerInnen sind die AusländerInnen konstitutiv. Alle diese im Staatsverständnis implementierten dualen Strukturen sind in den Massediskurs eingeschrieben und einige davon sind in Jelusichs Roman perspektivisch und räumlich veranschaulicht. Anna Seghers bricht nun auf verschiedenen Ebenen mit dieser binären Ordnung und lässt die Gegensätze zugunsten eines gemeinsamen Ereignisses verschwimmen. Sie suspendiert die autonome Erzählinstanz und vermeidet durch die Pluralisierung der Perspektive, dass Ereignis und Betrachtung polar angelegt sind. Der Text ist durch eine Montage verschiedener Erzählstimmen strukturiert, die oft unvermittelt ineinander übergehen. Zentrale Bedeutung nehmen dabei vier Demonstrierende ein, die zufällig in einer Reihe gehen: der Mann, der Fremde, die Frau und der Kleine. Sie werden in ihren Bewegungen und Gedanken von außen beschrieben, mehrheitlich kommen jedoch ihre Gefühle und Gedanken über Innere Monologe zum Ausdruck. Andererseits wird der Demonstrationszug, die Stadt, werden Häuser und Gegenden zum agierenden Subjekt gemacht: „Die Gasse bäumte sich auf, schrie und stöhnte, als ob ein Wind nach einem unbekannten Gesetz kreuz und quer durch die Gasse blies, flogen manche Fenster auf und manche zu.“38 Beide Erzählebenen, die rhetorische Verschiebung des Raumes wie Beschreibung und Rede der vier ProtagonistInnen, sind ineinander verzahnt und 38 Seghers 2008, S. 129.
88
Sabine Zelger
Teil der Masse mit ihren Anliegen. „Der Fremde lief nebenher. Die Gasse war dunkel vor Angst. Er lief aufs Geratewohl nach dem Geräusch der Schritte. Hinter ihnen am Eingang der Straße tönte ein Schrei, ein langgezogenes Aah!“ 39 Wie die verselbständigten Stimmen tauchen immer wieder gänzlich unvermittelt Figuren aus den Erinnerungen der ProtagonistInnen auf. Sie werden wie PassantInnen und die Polizei zum integralen Bestandteil des Geschehens. Damit radikalisiert Seghers das Masseereignis als personell und ideell ausufernde Begebenheit. Indem Gegner, wie die Ordnungskräfte, ZuschauerInnen und AnhängerInnen, ja selbst Abwesende, wie Familienangehörige und KollegInnen der ProtagonistInnen, konstitutive Elemente der Bewegung werden und nicht immer als Anderes auszumachen sind, verwischen die Oppositionen. Als „linke“ Intervention kann die entpolarisierende Poetik verschiedentlich ausgemacht werden. Eine grundlegende Neubesetzung des öffentlichen Raums wird vorgenommen, eine neue Einheit wird geschaffen und bestehende Machtverhältnisse werden niedergerissen. Es ist die Neubesetzung der Straße und der Stadt, die Inbesitznahme eines traditionellen Ortes, der alle in den Kampf integriert: Suspendiert sind neutrale distanzierte Positionen, die von außen statische Verhältnisse reproduzieren. Dies gilt ebenso für den Leseprozess, in dem stabilisierende Haltungen schwer möglich sind. Ob seiner Sogwirkung wird das Experiment als notwendiges herausgestellt: hinsichtlich der Lektüre ebenso wie hinsichtlich der Neubesetzung des Raumes. 3.2 Strukturierung nach Ungleichheitslagen Im gemeinsamen Erlebnis und der poetisch hergestellten Einheit des Ereignisses sind Personen als Zugehörige von Gruppen markiert, die gesellschaftlichen Positionen entsprechen. Während PassantInnen durch die physikalische Sogwirkung, über Begehren der ProtagonistInnen, strategische Hilfeleistungen sowie mögliche zukünftige Teilnahme zu Teilen des Demonstrationszuges werden, bildet die Polizei diverse abgegrenzte Formationen innerhalb der Erzählung. Sie ist derart homogenisiert, dass sie im Demonstrativpronomen „die“, im Abstraktum „Polizei“, in Geräuschen oder Körperteilen verknappt bleiben: als „das zittrige, helle Getrappel“40, als „Arme und Beine von Polizisten“.41 Ihre Auftritte haben nichts mit dahinterstehenden politischen Konzepten oder Personen zu tun. Die Polizisten sind lediglich als Kräfte wirksam und insofern nur von physikalischer Relevanz. So wird die im Text dominierende Rede der Demonstrierenden nicht einmal dort von den Polizisten tangiert, wo sie verhaften und töten. Damit zeigt Seghers, dass der Kampf zwischen Polizei und Demonstrierenden nicht bedeutsam ist, sondern auf ganz anderer Ebene ausgetragen wird.
39 Ebd. 40 Seghers 2008, S. 133. 41 Ebd., S. 142.
Politische Inszenierungen des Aufbruchs
89
Die zentrale Struktur, in der der politische Aufbruch realisiert wird, gestaltet die Autorin über kleinteilige Selbstdarstellungen der Demonstrierenden. Hier zeigt sich, dass Seghers’ Massekonzept keineswegs auf beliebige oder obsolete Differenzierung setzt. Von einer Nivellierung der demonstrierenden Personen, wie sie im Massediskurs kritisiert wurde, kann keine Rede sein. Eine Fülle von Ungleichheiten markiert die DemonstrationsteilnehmerInnen als voneinander in Lebens- und Arbeitsalltag unterschieden. Die Unterdrückungsverhältnisse fußen auf klassenspezifischen, ethnischen und geschlechtlichen Kriterien und sind nur intersektional rekonstruierbar. Entscheidend ist, dass die vier Hauptfiguren über ihre Körper, Bedürfnisse und Begehren für jeweils unterschiedliche Ausbeutungsverhältnisse stehen. Wie Anette Horn belegt, sind auch die jeweiligen Aussagemöglichkeiten davon betroffen, die diskursiv begrenzt sind.42 D.h. die Figuren sind nicht als autonome Subjekte konzipiert, sondern agieren ihre Interessengegensätze in verschiedenen Diskursfeldern aus, von denen sie zugleich bestimmt werden. Die Interaktionen werden gedanklich realisiert – Referenzen zu Arbeits-, Reproduktionsbedingungen, Geldsorgen, Fürsorgepflichten – und würden jede Menge guter Gründe bieten, die Demonstration zu verlassen. Die jeweiligen gesellschaftlichen Verankerungen der ProtagonistInnen erweisen sich als widerborstig im gemeinsamen Vorhaben der Demonstration. Gustavs Weinen zog sie ohnedies über die Brücke wie ein ewiger, von einer endlosen Spule abgerollter, in ihre Stirn eingefädelter Faden. Sollten andere mit solchen Umzügen gehen ans letzte Ende der Stadt, Freie, Glückliche, die nicht so ein Zimmer hinter sich herschleifen voll Kinder und Teller und Wäsche.43
Wie die Frau fühlt sich der Fremde nicht wohl und versucht mehrmals die Demonstration zu verlassen. Der mürrische Mann wiederum hatte erst kürzlich einen tragischen Arbeitsunfall miterlebt, zudem ist er besorgt um sein Kleingeld in der Hosentasche. Diese beiden so unterschiedlichen Gedanken beschäftigen ihn stärker als die Anliegen der politischen Bewegung gegen die Verurteilung von Sacco und Vanzetti. Auf diese Weise wird das Masseereignis als dialektischer Prozess von Einzelfiguren und Gruppe dargestellt. Die physikalische Sogwirkung, die Inbesitznahme der Stadt mit all ihrer naturnahen Metaphorik interagiert mit den soziologischen Fixierungen, die wesentlich von Besitz, Arbeit, Geschlecht, Herkunft und Alter bestimmt sind. „Freie, Glückliche“, wie sie die Frau jenseits ihrer eigenen Lebensbedingungen imaginiert, sind auf dieser Demonstration nicht auszumachen. 3.3 Entpathologisierung durch Entwicklung von Geschichten Entscheidend für diese politische Dimension in der Massedarstellung ist Seghers’ Integration von Geschichten, die ihre vier Figuren durchleben. Schon die Zeichnung der Protagonisten als TrägerInnen verschiedener Teildiskurse widerspricht 42 43
Horn 1988. Seghers 2008, S. 120.
90
Sabine Zelger
der Vorstellung einer Masse von nivellierten, bewusstlosen Teilchen. Dass sie jedoch in der kurzen Zeit individuelle Entwicklungen durchleben und dabei aktive Parts innerhalb eines großen Veränderungszusammenhangs werden, macht sie zu AkteurInnen im politischen Prozess. Dabei wollen sie den Staat nicht loswerden, sondern aktiver Bestandteil einer anderen staatlichen Ordnung werden. Wie diese aussehen könnte, wird über die Geschichten der vier Hauptfiguren angedeutet, in denen Ungleichheitsverhältnisse erfasst, erlebt und schließlich in individuellen Prozessen der Selbstermächtigung in Frage gestellt werden. Warum lässt sich dieser Wandel ausgerechnet auf der Demonstration verwirklichen? Von Bedeutung ist, dass sich die Geschichten nicht in gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei entwickeln bzw. auf physische Erlebnisse gegenseitigen Einwirkens reduzieren lassen. Das würde bedeuten, dass die Demonstrierenden gegen den Staat anzukämpfen und diesen physisch, also über körperliche Überlegenheit, zu besiegen versuchen. Und doch sind die Ordnungsversuche des Staates ausschlaggebend für die jeweils spezifischen Aufbrüche der ProtagonistInnen. Sie entsprechen verschiedenen Dimensionen von Staatlichkeit, die Brüche mit vergangenen Bezügen auslösen. Der bedrohlichen Aufstellung der Polizei, die die Masse magisch bannt, widersteht der Mann: Er setzt auf seine Erfahrung und sein Alter und nimmt in Kauf, keine Rente und keine Anerkennung des Eisenbahnerverbandes zu bekommen.44 Damit bricht er mit der symbolischen staatlichen Ordnung, die über den Wert verschieden verknüpfter Kapitalsorten entscheidet: Arbeitsdauer, erworbene Kenntnisse, Mitgliedschaft bei Organisationen.45 Selbst auf das bedeutsame Kapital, die Pensionsabsicherung, verzichtet er und setzt damit die geheimnisvolle Stabilität gesellschaftlicher Ordnung außer Kraft. Mit einem Schritt auf „die magische Fläche“ reißt auch schon „die Sprungfeder, die die Reihen im Zug und die Menschen in den Reihen gehalten hatte“46. Eine andere Dimension staatlicher Gewaltverhältnisse wird in der Behandlung der Masse als Herde thematisiert, die den Befreiungseffekt bei der Frau auslöst. Das veraltete, mit dem demokratischen Staat inkompatible Bild der Untertanen47 reizt die Frau zum Bruch mit ihrer Vergangenheit. Sie ignoriert die bis dahin dominanten mütterlichen Fürsorgepflichten, ja vermag gar nichts mehr aus ihrem privaten Raum zu hören, der sie aus dem öffentlichen ausgeschlossen hatte.48 Eine andere staatliche Dimension zeigt sich für den Fremden in derselben staatspolizeilichen Aktion, bei der die Menschen „Reihe für Reihe, wie Schafe zur Schur“, durchgelassen werden.49 Die scharfe Grenze zwischen dazugehörigen und nicht dazugehörigen Personen, die von der Polizei hier gezogen wird, bringt den Auswärtigen, indem er sich zur Bewegung bekennt und durchgeht – der Gruppe nahe. 44 45 46 47 48 49
Ebd., S. 142. Bourdieu 1998. Seghers 2008, S. 142. Vgl. Kreisky/Löffler/Zelger 2011, S. 9. Seghers 2008, S. 128. Ebd.
Politische Inszenierungen des Aufbruchs
91
Dass er trotzdem noch nicht ganz dazugehört – es ist ihm, als träte er über eine „Schwelle“50 –, liegt daran, dass die Konstitution der Menge immer eine auf Widerruf bleibt: Das politische Experiment verwirklicht sich in unerlässlichen Bewegungen der Beteiligten, die steter Selbstermächtigung bedürfen. Dafür bietet das Masseereignis auch aus anderen Gründen gute Rahmenbedingungen. So wird die physische Nähe von Personen, die einander unter anderem aufgrund gesellschaftlicher Ungleichheitslagen nicht kennen, zum Katalysator neuer Erfahrungen und provoziert erste Schritte in die angestrebte Richtung. Nicht zuletzt wirkt sich die verdichtete Atmosphäre darauf positiv aus: In der Enge des Raumes und der Zeit – die Exekution der unschuldig Verurteilten droht – verlieren sich Bedenken, und Ängste können sich nicht auswachsen. Dennoch sind die Änderungen nicht ausschließlich auf die äußeren Einwirkungen zurückzuführen – es bedarf jeweils eines Entscheidungsaktes der ProtagonistInnen bzw. der Überwindung individueller Hemmungen. Der mürrische Mann, der ganz auf sich und sein Elend konzentriert war, zeigt Mut,51 nimmt Bezüge zu den anderen auf, sodass ein Zusammenhang wahrnehmbar wird: Er sucht den Kleinen,52 ruft der Frau etwas zu,53 ja nützt die Kraft seiner Stimme: „Große, harte Schreie wie Steine in einem zum Untergehen bestimmten Sack. Er sparte sie nicht länger, er zerschrie sie.“54 Zuletzt gibt er sogar seine distanzierte Haltung auf: „Aus dem Gesicht des Mannes fiel die Mürrischkeit wie Mörtel herunter.“55 Die Frau, die anfangs vergessen hatte, warum sie überhaupt an dieser Demonstration teilnimmt, kappt die Verbindung mit ihrer Familie, löst sich von den Sorgen um sie und bleibt im Demonstrationszug. Auf brutale Weise wird sie „in den Platz hineingeknetet“56 und damit der Bewegung eingeschrieben. Dabei kehrt sich plötzlich die traditionelle Kommunikationsrichtung um: Anstatt dass sie nach Hause gerufen wird, ist nun ihr Ruf „im ganzen Haus“ zu hören.57 Auch der Fremde wird unwiederbringlich Teil von Bewegung und Stadt, nachdem er seine Angst besiegt hat und weiterdrängt. „Als wäre er hier geboren, schlug die Stadt über ihm zusammen, Beine und Röcke, Himmel und Häuser.“58 Nicht zuletzt sorgt der protesterprobte Kleine – über seine wichtige Orientierungsfunktion in der Demonstration hinaus – für eine Nachhaltigkeit der Bewegung. Obwohl er zuvor vorsichtiger geworden war, zeigt er ungebrochene Zuversicht, als er von der Polizei abgeführt wird. „Er hob sein rundes, braunes Gesicht gegen die Fenster und prägte sein Lächeln für immer den Knaben ein, die ihn neugierig und eifersüchtig betrachteten.“59 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
Ebd. Ebd., S. 142. Ebd., S. 143. Ebd., S. 144. Ebd., S. 145. Ebd., S. 146. Ebd. Ebd. Ebd., S. 142. Ebd., S. 143. Da das Personalpronomen nicht eindeutig auf eine bestimmte Person verweist, wäre es auch möglich, dass es sich hier nicht um den verhafteten Kleinen handelt.
92
Sabine Zelger
Die skizzierten Änderungen der vier ProtagonistInnen, die in der Novelle nur wenig detaillierter ausgeführt werden als hier, demonstrieren, wie die Beteiligten eigene Widerstände brechen und dabei mitunter Erwartungen verletzen. Einem ekstatischen Erlebnis ist der Identitätswandel dennoch nicht zu verdanken. Die Figuren erleben auch bei ihrem Masseerlebnis ihre Differenzen als Fixierungen in verschiedenen Positionen im gesellschaftlichen Gefüge, wodurch sie jeweils verschieden benachteiligt sind. Indem die sozialen, geschlechtlichen und nationalen Differenzen nicht verschwimmen, sondern ausagiert und bekämpft werden, erstreiten sich die Demonstrierenden einen Platz in einem zukünftigen Staat. FAZIT. WIE POLITISCH IST DIE POETIK DER MASSE? Organisierte Menschenmengen mit politischen Anliegen waren zu Beginn der 1930er Jahre in Deutschland und Österreich eine verbreitete und brisante Angelegenheit. Für die Auseinandersetzung mit den Erscheinungen der aufgebrachten Massen stand ein Diskurs zur Verfügung, in dem Aufbrüche von Menschenmengen seit Jahrzehnten auf spezifische Art und Weise gedeutet wurden. Dieser Diskurs kanalisierte die Szenen des Aufbruchs in polaren Strukturen, deutete sie als physikalische Prozesse, als pathologische, irrationale Ausnahmeerscheinungen, als entindividualisierende, nivellierende Verdichtungen. Auch die hier analysierten Texte greifen Elemente dieses Diskurses auf, um die politisch offene Situation in Österreich und Deutschland zu diskutieren. Beide zeigen in den Masseszenen selbstermächtigte Massen, die bevorzugt in legitimen und legalen Aufbrüchen Position beziehen. Jelusich bedient sich sogar dieses Diskurses, um neue Institutionen, wie das Freiwilligenheer und das Parlament, als zentrale Erscheinungen junger Demokratien zu charakterisieren. Mit Metaphern aus der Natur bringen Jelusich und Seghers die enorme Dynamik und das beeindruckende Kräftepotenzial von Menschenmassen zum Ausdruck und verwirklichen damit eine spannungsvolle Dramaturgie. Obwohl die Anliegen klar sind, bleibt der Ausgang der Szenen des Aufbruchs wegen der physikalisch freigesetzten und stets noch darüber hinaus freisetzbaren Kräfte offen. So zeigt sich, dass die politische Richtung kaum in der Metaphorik zum Ausdruck kommt. Stattdessen werden die politischen Implikationen erzähltechnisch eingelöst. Es ist vor allem die Fokalisierung, in der sich der Unterschied manifestiert. Der Blick der Rechten ist auf die Masse gerichtet und wendet verschiedene Ordnungsraster an. Verschiedene Phänomene von Strukturierung, Zähmung und Vernichtung werden durchgespielt und dabei unterschiedliche Staatskonzepte thematisiert: der Nationalstaat in seiner regionalen Vielfalt und zugleich geheimnisvollen Einheitlichkeit, der demokratische Staat mit seinen unberechenbaren Entscheidungsfindungsprozessen, der diktatorische Staat mit seinen eisernen Militärkadern. Die Unterscheidung und Gestaltung des Außen und Innen lässt sich in kriegerischen Auseinandersetzungen auch auf geschlechtliche Codes hin lesen. Anna Seghers hat die Masse- bzw. Staatsvorstellungen ganz anders erzählt. Linke Blicke – es sind jeweils mehrere voneinander unterschiedene – schweifen
Politische Inszenierungen des Aufbruchs
93
in der Masse, wechseln Stand- und Blickpunkte. Die PerspektivträgerInnen sind Teil der Bewegung, deren Kraft nicht nur als Naturgewalt auszumachen ist, selbst wenn dies in den Tropen nahegelegt wird. Unterschiedliche Anliegen werden thematisiert, in Inneren Monologen, Parolen oder Gesang diskutiert. Konsequenterweise wird damit die Masse heterogen und differenziert sich wie die Gesellschaft intersektional aus. Dadurch ziehen in die einsinnige Demonstration auch widerspenstige Gedanken und Bewegungen ein. In Kämpfen gegen die Ordnungsversuche der Staatsgewalt, die für das symbolische und politische Monopol des Staates steht, finden individuelle Aufbrüche statt. Geschichten entstehen und zeigen, dass die Veränderungen der Gesellschaftsstrukturen durch die Betroffenen ausgelöst und mitvollzogen werden müssen. Von den ideologischen Unterschieden aufgrund poetischer Entscheidungen sind auch die Distanzen zu Lesern und Leserinnen betroffen. Bei Jelusich wird über identifikatorische Angebote eine elitäre Position außerhalb der Masse eingenommen und die Perspektive derart ausgeweitet, dass darin einzelne Figuren kaum auszumachen sind. Die Menschenmenge ist in einer Ungestalt vereint und solcherweise als Ganzes ordenbar, erziehbar, vernichtbar. Seghers’ „Klumpen“ und „Haufen“ lösen sich hingegen immer wieder in Gesichter und Stimmen auf. Dass nichts und niemand die Menge dirigieren kann, liegt nicht nur an den Differenzierungen, sondern auch an der Bemächtigung der Gegend, die Part der Bewegung wird. Eine neutrale Position ist schlussendlich deshalb nicht einnehmbar, weil die Trennung der Erzählstimmen bisweilen so unscharf bleibt, dass nicht klar ist, wer hier spricht. Die solidarische Kundgebung sprengt alle Fixierungen. Wenn demnach die Frage nach der „Menschenunterbringung“ von Jelusich und Seghers mehrmals und ganz unterschiedlich gestellt wird, Nachbarschaften, Stapelungen, Umläufe und Markierungen in beiden Texten wechseln, so liegt der zentrale Unterschied in der Adressierung. Wer zuständig ist und sich anmaßen darf, staatliche Maßnahmen zu setzen oder eine staatliche Form zu finden, bestimmen AutorInnen mit der Fokalisierung. Dadurch werden nicht zuletzt Vorentscheidungen für staatliche Modelle getroffen. Im Massediskurs, der in medialen Inszenierungen von Flüchtlingsbewegungen heute wieder Hochkonjunktur hat, werden via Perspektivierung ebenfalls Richtungsentscheidungen getroffen. Wie in den Jahren vor der Auflösung der demokratischen Republiken sollten wohl auch diese Berichte nach ihren politischen Imperativen befragt werden. LITERATUR Bourdieu, Pierre, 1998: Staatsgeist. Genese und Struktur des bürokratischen Feldes. In: ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M., S. 91–136. Brandes, Ute, 1992: Anna Seghers (Köpfe des 20. Jahrhunderts 117), Berlin. Doderer, Heimito von, 1985: Die Dämonen. Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff, München. Foucault, Michel, 1991: Andere Räume. In: Wentz, Martin (Hrsg.): Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen (Frankfurter Beiträge II), Frankfurt a. M./New York, S. 65–72.
94
Sabine Zelger
Gamper, Michael, 2007: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765–1930, München. Horn, Anette, 1988: Anna Seghers’ Darstellung der Frau in der Erzählung „Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft“. In: Acta Germanica, Bd. 19, S. 96–113. Jelusich, Mirko, 1933: Cromwell, Berlin. Kreisky, Eva/Löffler, Marion/Zelger, Sabine 2011: Staatsfiktionen. Denkbilder moderner Staatlichkeit. Eine Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Staatsfiktionen. Denkbilder moderner Staatlichkeit, Wien, S. 7–23. Neumann, Robert, 1929: Sintflut, Stuttgart. Sachslehner, Johannes, 1985: Führerwort und Führerblick. Mirko Jelusich. Zur Strategie eines Bestsellerautors in den Dreißiger Jahren (Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur 11), Königstein/Ts. Schlenstedt, Silvia, 2008: Nachwort. In: Seghers, Anna: Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft und andere Erzählungen, Hildesheim u.a., S. 1–7. Seghers, Anna, 2008: Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft. In: dies.: Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft und andere Erzählungen, Hildesheim u.a., S. 101–146. Soyfer, Jura, 2003: So starb eine Partei. In: ders.: So starb eine Partei. Prosa (Werkausgabe III), Wien/Frankfurt a. M., S. 121–78. Vogl, Joseph, 2011: Politische Ungestalt. Vortrag gehalten in Leuven am 23.4.2009 im Rahmen der Konferenz „Matters of State“, Manuskript. Werfel, Franz, 1996: Barbara oder Die Frömmigkeit, Frankfurt a. M. Widdig, Bernd, 1992: Männerbünde und Massen. Zur Krise männlicher Identität in der Literatur der Moderne, Opladen.
STAATSDISKURSE. EIN RESÜMEE Eva Kreisky VORBEMERKUNGEN Wissenschaftliche Staatslehren entstanden in der Ära des Vormärz, als auch im deutschen Sprachraum Staats- und Rechtsformen zum Gegenstand öffentlicher und akademischer Diskurse aufschlossen. Zu jener Zeit vollzog sich eine Verwissenschaftlichung privaten wie öffentlichen Rechts durch Ausdifferenzierung einer methodischen Grundlegung. So bildete also das 19. Jahrhundert eine bestimmende Epoche in der Entfaltung moderner Staatslehren. Das Aufkommen des politischen Liberalismus und die Wende zum Konstitutionalismus verstärkten diese Vorgänge. Auswirkungen dieser Entwicklung waren an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu verzeichnen (Georg Jellinek). Eine weitere wichtige Phase ist mit dem Übergang zu den neuen (Massen-1)Demokratien anzusetzen, was für die Zwischenkriegszeit eine theoretische und politische Herausforderung bedeutete. Bald ergab sich eine krasse Frontstellung zwischen demokratischen und autoritären Staatsvorstellungen (Hans Kelsen, Rudolf Smend, Carl Schmitt, Hermann Heller u.a.m.). Trotz restaurativer Denkbewegungen und zahlreicher Anzeichen politischer Reaktion wurden freilich auch Fundamente demokratischer Staatsrechtslehren gelegt. Eine neue Staatsrechtswissenschaft gewann sowohl in theoretischer wie auch in methodischer Hinsicht an Boden. Staatslehre wurde nun als „Wirklichkeitswissenschaft“2 eingefordert. Vermehrt sprach man schon von Staatstheorien, zumal nicht mehr nur staatsrechtliche Bedingungen in den Blick genommen wurden, sondern soziale und politische Wirklichkeiten zum Gegenstand staatsempirischer Analysen aufrückten. Waren im 19. Jahrhundert Fundamente des Rechtsstaates und ein Ensemble bürgerlicher Grundrechte angedacht und partiell realisiert worden, bestand im 20. Jahrhundert immer noch Bedarf an nachholenden Reformen im Komplex sozialer Rechtsstaatlichkeit. Debatten um soziale Grundrechte oder Proteste gegen Praktiken einer Klassenjustiz beeinflussten das Diskursfeld der auslaufenden 1920er und beginnenden 1930er Jahre. Selbst die „Frauenfrage“ fand 1
2
Der Begriff der Massen ist in erheblichem Maße ein ideologischer Begriff, zumal er meist eine negative, also abwertende Konnotation enthält (vgl. Massengesellschaft, Massendemokratie, Massenuniversität, Massenkultur, Massentourismus, Massenspektakel). Lediglich in der Bewegungsrhetorik zeigt er positiv bewertete Stärke kollektiver Identität politisch Aktiver an (vgl. Massenbewegungen, Massendemonstrationen, Massenproteste). In dieser Weise differenziert ist der Begriff im Folgenden auch zu lesen und auf die jeweilige Aussage zu beziehen. Vgl. Heller 1934, S. 238f.
96
Eva Kreisky
nach und nach Berücksichtigung in Rechts- und Staatsdiskursen (Käthe Leichter, Marianne Weber u.a.m.). Genau diese sozialen und geschlechtlichen Komponenten der Staats- und Rechtsdiskurse bildeten sich auch in fiktionaler Literatur ab. Mit den endenden 1920er Jahren fand in der praktischen Politik sowie im akademischen Feld eine Wende zu immer autoritäreren Politikvorstellungen statt. Die Genese des nationalsozialistischen Politik- und Staatsregimes stimulierte auch widerständige, gesellschaftstheoretisch erheblich erweiterte Staats- und Rechtsdiskurse, die später in rechts- und politikwissenschaftlicher Exilliteratur in „Strukturanalysen“ des NS-Regimes mündeten (Ernst Fraenkel, Franz Neumann, Otto Kirchheimer u.a.m.). Um den Staat zu begreifen, kann man sich nicht damit begnügen, flüchtigen Wortspielen zu folgen, ihre vagen Bedeutungen unkritisch hinzunehmen oder sie gegen konträre, aber ebenso oberflächliche Begrifflichkeiten auszutauschen. Vielmehr ist die tiefere Herrschaftsgrammatik zu entschlüsseln. Praktische Staatskritiken und kritische Staatstheorien sind reflexiver und dekonstruktiver Arbeit förderlich. Aus einer sozialwissenschaftlichen Sicht gilt es darum, den Staat als soziales Verhältnis sichtbar zu machen und gängige Begriffe des semantischen Feldes von anhaftenden ideologischen Gehalten freizumachen. Darüber hinaus sind stets die historischen Kontexte sowie die Variabilität von Staatsdiskursen im Blickfeld zu behalten. Staats- und Rechtsdiskurse sind Felder politischer Theoriearbeit, die sich – seit der Antike – auch metaphorischer Darstellungstechniken bedienen. Selbst moderne und spätmoderne Staatsdebatten bleiben auf Verbildlichungen angewiesen, um Sinn und Zweck von Staaten zu veranschaulichen und ihre (Ordnungs- und Leistungs-)Aufgaben möglichst ausdrucksvoll zu präsentieren. Insbesondere Bilder, auch Sprachbilder, können zudem klassistischen, sexistischen oder rassistischen Einwürfen eine allgemeinverständliche Schneise schlagen. Staaten zeigen durchaus reale Wirkungen für StaatsbürgerInnen (aber auch für Nicht-BürgerInnen), bedienen sich zusätzlich aber fiktiver, symbolischer oder rhetorischer Techniken, um normative Absichten sowie formale Prinzipien von Staatlichkeit nahezubringen. Die Zwischenkriegszeit fungierte geradezu als Labor überaus wirksamer Vermittlungsformen von Staatlichkeit in modernen Massengesellschaften. Mein Resümee befasst sich – aus politikwissenschaftlicher Staatssicht – mit dem Masse- und dem Ständestaatsdiskurs in exemplarischen Analyseergebnissen zum Forschungsmaterial fiktiver Literatur und sodann mit dem in den 1920er und 1930er Jahren noch relativ neuen Medium Film, das der Verbreitung modernen Staatsdenkens völlig neue Möglichkeiten eröffnete. Es geht also um die Erörterung von Propagierungstechniken verschiedenartiger Staatsideen und -modelle in Literatur und Film. Wesentlich ist die Tatsache, dass Staatsdenken in dieser historischen Periode nicht nur sozial-, politik- und staatswissenschaftlichen Disziplinen überantwortet war, sondern zudem außerhalb des akademischen Feldes die Ausdrucksmöglichkeiten des öffentlichen Raums nutzte (Presse, Film, Literatur, Straße usw.). Hinzu kommt noch, dass diese historische Periode durch neues Politikund Staatshandeln geprägt war: Manche der Staatsvorstellungen sind im Kontext experimenteller Politik zu sehen. Sie wurden durch neue soziale und politische
Staatsdiskurse. Ein Resümee
97
Bewegungen aktiviert und popularisiert. Die untersuchte Periode repräsentierte beides: Sie war ebenso Versuchsraum neuer demokratischer Entwicklungen, wie sie in autoritäre und faschistische Staatsexperimente münden sollte. Diese Ambivalenz bestätigt sich auch im Untersuchungsmaterial aus fiktionaler Literatur und dem Film als Kunst für die Massen. ZUM MASSEDISKURS Zwischen den beiden Weltkriegen erwiesen sich die alten Staatskonzepte als nicht länger tauglich, neue Modelle aber wurden bereits in ihren Ansätzen bekämpft: Feudal-monarchische Staatsideen waren zwar obsolet, vor einer Modernisierung der Politik- und Staatsform, einer Republik bzw. einer Demokratie für die Massen, schreckten jedoch viele zurück. Hybridformen zeichneten sich ab (Heller: „autoritärer Liberalismus“). Die Schwächung des Parlaments gegen Ende der 1920er Jahre sollte durch Stärkung der Position der Regierung pariert werden. Die Forderung nach starker Stellung des Reichspräsidenten beruhte auf dem Verlangen, das monarchische Prinzip in die Republik hinüberzuretten, den Reichspräsidenten gewissermaßen als monarchisches Surrogat einzurichten. Man nahm an, dass große Teile der Bevölkerung einen offen „autoritären Staat“ nicht akzeptieren würden, weshalb man Momente eines „Anti-Staats“ (Neumann) schon in die demokratischen Politikstrukturen einzuarbeiten begann. In soziologischer Hinsicht standen einander also Staatsphantasien von gesellschaftlichen Eliten und solche der/für die Massen gegenüber: Manche der Eliten vertraten den Fortbestand zentraler Politikelemente des alten Regimes, während sich die breiten Massen zugunsten neuer, vornehmlich partizipativer Politik- und Staatsformen stark machten. Diesen beiden gesellschaftlichen Lagern kamen die Deutungskämpfe zwecks Weiterentwicklung der Staaten zu: Beide Seiten fanden entsprechende intellektuelle Unterstützung durch Sozial-, Kultur-, Staats- und Rechtswissenschaften (Gustave Le Bon, Sigmund Freud, Max Weber u.a.m.). Staatslehren und Staatstheorien erfuhren einen historischen Aufschwung (Hans Kelsen, Hermann Heller, Carl Schmitt, Othmar Spann u.a.m.). Auch fiktionale Literatur und Filme vermochten Staats- und Rechtsdiskurse nachhaltig zu prägen (u.a. Thomas Mann). Vor allem die urbanen Zentren fungierten als neue Handlungsräume der Politik. Als diskursivpraktische Arenen besonderer Art wurden (groß-)städtische Straßen entdeckt. Gleichzeitig traten neue AktivistInnen auf den Plan. Politisierung bürgerlicher wie proletarischer Frauen und ihre Kämpfe um politische Rechte veränderten die Staats- und Rechtsdiskurse dieser Periode. Genau diese Konstellation radikalen Umbaus gesellschaftlicher Strukturen thematisiert Sabine Zelgers Analyse der „Poetik der Masse“: Darunter fasst sie ein Set von „Bildern und Perspektiven, über deren Analyse die fiktionalen Aufbrüche im großen politischen Prozess eingebettet werden können und über die sich implizierte Vorstellungen des Staates herauslesen lassen“ (Zelger, S. 80). Als Analysematerial dienen ihr fiktionale Texte von Mirko Jelusich (Cromwell, 1933) sowie von Anna Seghers (Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft, 1930). Interesse
98
Eva Kreisky
zeigt sie an fiktionalen Darstellungsweisen von Massen als Kampfansagen an den Staat: das eine Mal aus rechter, das andere Mal aus linker Politik- und Staatsperspektive. In den politisch-rechten Massendiskurs wird der Begriff des Volkes in seiner völkischen Wendung eingeschrieben. „Ungeordnete“ Massen werden dem „organisch“ einheitlichen Volk kontrastiert.3 Das Potenzial der Massen wird von Jelusich zwar als machtvolles Objekt bewundert, aber ihren Blickwinkel, die Motive und Interessen der handelnden Massen, lässt er außer Acht. Die Staatsperspektive ist demnach als „diktatorische“ festgelegt. Parlamentarier („Volksvertreter“) werden als „böse“ Randgruppe des in seinem Kern „guten“ Volkes gezeichnet. Die Nähe zu rechtspopulistischen Staatsdiskursen der Gegenwart ist nicht zu übersehen. Die Aushöhlung des Parlamentarismus der Zwischenkriegszeit hatte letztendlich eine einflusslose, politisch ungefährliche Institution hinterlassen. Und der „ungeordneten Masse“ steht schlussendlich die „disziplinierte Einheit“ des (sozial zwar fragmentierten) Heeres als zuverlässiger, kämpferischer Wahrer des Staates in Zeiten bedrohlicher gesellschaftlicher Transformationen entgegen (Zelger, S. 86). Die Staatsidee ist hier durchgängig männlich fundiert. Die Okkupation der Straße als linke Politik-Arena, wie sie in Anna Seghers Novelle dargestellt wird, zeigt hingegen ein sozial und politisch bewegteres Bild auf. Die Massen erscheinen Seghers nicht bloß als Objekt, vielmehr präsentieren sie sich als Subjekte des Handelns. Sie verfügen über aktivierbare Handlungsmacht. Soziale Ungleichheit bleibt auch im Protest präsent. Konflikte und Gegensätze werden von Seghers durch polarisierende Darstellungen markiert. „Als ‚linke‘ Intervention kann [...] entpolarisierende Poetik [...] ausgemacht werden“ (Zelger, S. 88). Machtverhältnisse werden durch die Erzähltechnik visualisierbar und auch städtische Straßen erscheinen politisch anders besetzbar. Polizisten werden zum Korps vereinheitlicht. So wirken sie als Kraft im physikalischen Sinn. DemonstrantInnen hingegen werden über ihre differenten gesellschaftlichen Positionen dargestellt. Klassenspezifische, ethnische und geschlechtliche Differenzen werden über Konfigurationen sozialen und politischen Protests erschließbar. Diese Differenz findet sich ebenso im staatstheoretischen Diskurs: Hermann Hellers demokratisch-theoretischer Ansatz geht von einem sozialen Antagonismus aus, während der antidemokratische Staatslehrer Carl Schmitt ein homogenes Volk unterstellt und alles Andere ausscheidet. Nicht die unmittelbare Konfrontation zwischen Polizei und Demonstrierenden steht für Seghers im Zentrum. Nicht auf dieser Ebene manifestiert sich der Staat. Vielmehr geht es um Aufmerksamkeit für Auseinandersetzungen auf „höherer“ Ebene, zumal sich erst hier das jeweilige Staatsprojekt realisiert. Die Demonstrierenden wollen staatliche Ordnung nicht gerade abschaffen, aber sie wollen einen anders gestalteten Staat erwirken. Nicht nur Deutungskämpfe gelte es darum zu überstehen, vielmehr sei ein völlig neuartiger Staat anzudenken und real zu erkämpfen (Zelger, S. 88ff.). Insbesondere politische Beteiligung von Frauen, Kindern
3
Vgl. Jelusich 1933, S. 50.
Staatsdiskurse. Ein Resümee
99
und Fremden indiziert eine grundlegende Verschiebung von Erfahrungswelten, die in eine neue Staatskonzeption münden sollten. Die Konfrontation zwischen links und rechts ereignete sich auf der Ebene des akademischen Diskurses, der kulturellen Arenen (Literatur, Theater, Film u.a.m.), in den politischen Institutionen der neuen Republiken, aber auch in großen Demonstrationen und im Straßenkampf. In Österreich und Deutschland waren die 1920er und 1930er Jahre durch Massendemonstrationen und machtvolle politischsoziale Bewegungen geprägt. Sabine Zelger hat mit der Auswahl ihrer Analysebeispiele einen diskursiven Kern dieses demokratischen/antidemokratischen Aufbruchs eingeholt. Metaphorisierungen der Massen in Staatsdiskursen sind kaum eindeutig nach politischen Lagern zu unterscheiden. Sie sind auch keineswegs selbstredend. Erst über detaillierte Analysen der Erzählformen und -techniken lassen sich die jeweiligen Politik- und Staatsbilder herausstellen und politischen Präferenzen zuordnen. Massen finden sich ebenso in nationalistischen, in demokratischen wie in diktatorischen Staatsdiskursen. Die von Jelusich oder Seghers gewählten Erzählperspektiven verweisen zugleich auf die ihnen jeweils zusagenden Staatsmodelle. ZUM STÄNDESTAATSDISKURS Die späten 1920er und frühen 1930er Jahre sind als Periode einer (vorläufig gescheiterten) Bewährungsprobe demokratisch-republikanischer Staatsprojekte in Deutschland und Österreich zu lesen. Antidemokratische und faschistische Staatsalternativen, entwickelt und verbreitet durch rechte Intellektuelle, Wissenschafter und Schriftsteller, fanden zunehmend die Zustimmung auch der Massen. Flankiert von sozialen und ökonomischen Krisenentwicklungen blockierten antidemokratische Staats- und Rechtsdiskurse Entwicklungsmöglichkeiten der neuen Republiken. In seinem Beitrag nimmt Wolfgang Straub die Frage auf, inwieweit fiktionale Literatur der Zwischenkriegszeit an der Propagierung des ständestaatlichen Ideensystems beteiligt war. Das von Sabine Zelger präsentierte Konzept einer „Poetik der Massen“ wird durch Wolfgang Straubs „Bienen-Poetik“ erweitert. Damit wird eine Analogie menschlicher und tierischer Vergemeinschaftungsformen angesprochen, was den organologischen und biologisierenden Gestus so mancher Staatslehren, vor allem konservativ-ständischer Staatsphantasien, anzuzeigen vermag. Der Schriftsteller Georg Rendl, sozialisiert im katholisch-konservativen dörflichen Milieu Salzburgs, verfasste während seiner Arbeitslosigkeit einen Roman über das „Bienenleben“ (Der Bienenroman, 1931). Konkretes Wissen über „Bienenstaaten“ hatte er vor allem aus der praktischen Arbeit mit den „Bienenvölkern“ seines Vaters erworben. Diese Erfahrungen setzte er in einen literarischen Text um. Es ging ihm darum, „mit poetischen Mitteln biologische Sachverhalte darzustellen“ (Straub, S. 57). Heißt dies aber, dass damit zugleich eine Parteinahme für ein bestimmtes staatspolitisches Modell seiner Zeit gemeint war?
100
Eva Kreisky
Nicht nur Rendls (arbeits-)praktischer Erfahrungszugang zum geordneten Bienenleben stimulierte einen vergleichenden Blick auf die hierarchisch-ständisch intendierten Staatsdiskurse der Zwischenkriegszeit. Rendl betrachtete den Bienenstock nicht ausdrücklich als Staatsmodell. Dennoch entdeckte er in seiner Beschreibung des Bienenlebens Analogien zu hierarchisch geordneter Staatlichkeit. Auch die erfahrungsgesättigten Bilder des Staates in den Köpfen der Menschen folgen solchen vermeintlich naheliegenden Assoziationszusammenhängen, suchen gewissermaßen nach Prototypen von Staatlichkeit in einer als „gotterfüllt“ erwünschten Natur. Die staatliche Ordnung, im Konkreten die Ständestaatsidee, sollte darum möglichst „gottgewollt“ erscheinen.4 Im Archiv politischer Ideengeschichte stößt man immer wieder, angeregt durch Beobachtung staatenbildender Insekten, auf entsprechende Visualisierungen und Metaphorisierungen staatlichen Aufbaus. Seit der Antike war die Metapher vom Bienenvolk als Staat sowie des Bienenstocks als Staatsaufbau verbreitet. Solche Metaphern wurden jedoch kaum auf ihre Aussagekraft überprüft, sie wurden einfach übernommen. Freilich hat sich seither das Wissen um Eigenheiten gerade der Bienenvölker, insbesondere die Geschlechterfrage im Bienenvolk, grundlegend verschoben (Straub, S. 56). Straub geht der Frage nach, ob Rendls Darstellungen von Gemeinschaft und Ordnung im Bienenstaat sich mit ständestaatlichen Politikideen seiner Zeit überkreuzen. Straub fokussiert seine Analyse ständischer Staatsdiskurse auf das Jahr 1931: In diesem Jahr erschien nicht nur Der Bienenroman, sondern auch die dritte Auflage von Othmar Spanns Der wahre Staat sowie die päpstliche Enzyklika Quadragesimo anno. Die scheinbar zufällige Gleichzeitigkeit dreier Publikationen wäre dann vielleicht doch als absichtsvolle Tarnung gewisser Sympathien für den Ständestaatsdiskurs zu deuten. Als einen wichtigen Vordenker organischen Lebens und ständischer Gesellschaftsordnung bezieht Wolfgang Straub den publizistisch tätigen Begründer der christlich-sozialen Reformbewegung, Karl von Vogelsang, ein. Schon Jahrzehnte zuvor hatte dieser ständische Reformkonzepte für Gesellschaft und Staat vorgeschlagen: Nur in einer „korporativ gegliederten und organisch entwickelten Gesellschaft“, die sich mit dem Staatskonzept deckt,5 garantiere die „organische Integration aller am Staatswesen beteiligten Teile“ (Straub, S. 53). Korporationen verbildlichte Vogelsang als „Glieder des menschlichen Körpers“.6 Als Keimzelle des Staates fungiert die Familie. Durch die päpstliche Enzyklika 1931 wurde die berufsständische Ordnung als „natürliche“ und „organische“ bekräftigt. Der Staat als Signum der Moderne wurde „subsidiarisiert“. Durch Romantisierung vergangener Gesellschafts- und Staatsmodelle sowie Biologisierung gesellschaftlichhierarchischer Verhältnisse versprach man sich eine Beherrschung sozialer Antagonismen und die Überwindung gesellschaftlicher Brüche, ohne demokratische und soziale Reformen in Angriff nehmen zu müssen. 4 5 6
Vgl. Vogelsang 1894, S. 32. Ebd., S. 125. Ebd.
Staatsdiskurse. Ein Resümee
101
Othmar Spanns Ideale eines künftigen Ständestaates, veröffentlicht als Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft (1921), sind als (theoretische) Reaktion auf die Ära demokratischer Massenbewegungen und massendemokratischer Staatsmodelle zu deuten. Im Anschluss an den Staatslehrer des Vormärz, Adam Heinrich Müller („politische Romantik“), entwickelte Othmar Spann seine „ganzheitliche“ Gesellschaftslehre. Müller hatte als Kontrapunkt zu vertragstheoretischen Lehren Vorstellungen von einem organisch gewachsenen Staat entwickelt, der Tradition und Gegenwart zusammenzuführen vermochte. Vom Staat meinte Müller (1809), dass er „die innige Verbindung der gesamten physischen und geistigen Bedürfnisse, des gesamten physischen und geistigen Reichtums, des gesamten inneren und äußeren Lebens einer Nation, zu einem großen, energischen, unendlich bewegten und lebendigen Ganzen“7 darstellt. Aufklärerischen, liberalen Reform- und Modernisierungsbestrebungen war nun der politisch-intellektuelle Kampf angesagt. Anti-Rationalismus, Anti-Liberalismus, Anti-Individualismus, Anti-Materialismus und Anti-Marxismus bildeten das ideologische Unterfutter von Spanns Theorie des Ständestaates. Als „dritten“ Weg zwischen Demokratie (Parlamentarismus) und Marxismus (Arbeiterbewegung) forderte Spann einen „organischen Staat“, den autoritären Ständestaat. Dieser sollte wesentlich auf „berufsständischer“ Neuordnung von Staat und Gesellschaft beruhen. Die Stände wurden als Zwangsorganisationen angedacht. Sie sollten die staatlichen Hoheitsrechte wahrnehmen. Dabei sollten die (Hand- und Geistes-)Arbeiter den „Wirtschaftsführern“ und alle zusammen den „Staatsführern“ unterworfen sein. Dass diese Staatsphantasie auf einem exklusiv maskulinistischen Selbstverständnis beruhte, war in der damaligen Zeit wohl selbstverständlich und bedurfte keiner besonderen Rechtfertigung. Spann repräsentierte eine romantisierende antiliberale staatswissenschaftliche Denkrichtung, die durch die katholische Soziallehre flankiert und legitimiert wurde. Seine Theorie schuf eine Brücke zwischen konservativem Romantizismus und faschistischen Ideologien: Spanns Standpunkte vermittelten zwischen der intellektuellen Tradition sozialkonservativer Ideologien und der Praxis faschistischer Massenbewegungen. [...] Das Konglomerat aus klerikoromantischen und deutschnationalistischen Ideologemen, [...] hat Spanns Wendung zum italienischen Faschismus, den deutschen Nationalsozialisten und zu allen drei österreichischen Faschismen wesentlich begünstigt und seine Integrativfunktion innerhalb der österreichischen Rechten überhaupt erst ermöglicht.8
Ab Ende der 1920er Jahre fand Spanns Ständestaatsmodell jedenfalls Gehör bei den (austrofaschistischen) Heimwehren. Gleichzeitig wendete er sich dem nationalsozialistischen Staatsprojekt zu. Allerdings endete dieses Engagement in einem Konflikt zum NS-Regime. 1938 wurde Spann verhaftet und war einige Monate im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. In der Folge zog er sich zurück. Spann wurde nach 1945 nicht wieder als universitärer Staatslehrer rehabilitiert.
7 8
Vgl. Müller 1968, S. 27. Holzer 1978, S. 95ff.
102
Eva Kreisky
Hat sich nun Georg Rendls Bienenpoetik tatsächlich mit dem Ständestaatsdiskurs seiner Zeit verschränkt? Eine Analyse der Erzähltechnik Rendls, so Straub, vermag uns einen solchen Zusammenhang mehr oder weniger nahezulegen. Rendl sah den Bienenstock als „integralen Bestandteil der Natur“. Trotz aller Interventionen von Menschen ist er Teil des „göttlichen Ordo“ (Straub, S. 57). Diese als Ganzheit gesetzte „Natur“, der alle Aspekte des Bienenlebens unterworfen sind, setzt Straub mit Spanns Ständestaatsidee in Verbindung. Spann ging nämlich von der Annahme aus, dass Teile niemals für sich bestehen können, nur in der „Ganzheit“ könnten sie wirksam werden.9 Eine ähnliche Vorstellung findet sich in der von Rendl ausgeführten Erzählsituation: Die große Zahl der Details des Narrativs werden durch einen Erzähler, gewissermaßen als das „organisierende Zentrum“ des Romans, zusammengehalten (vgl. Straub, S. 58). Er greift kommandierend und kommentierend in die organisch-hierarchische Organisation des Bienenstaats ein, der jedoch – infolge der Entdeckung des weiblichen Geschlechts der Bienenkönigin – keine Herrschafts-, sondern nur eine Reproduktionsorganisation darstellt. „Die hierarchische, organische Gliederung des Gemeinwesens im Bienenstock gleicht der variablen, aber zugleich streng ordnenden Rolle des Erzählers“, so Straub, und hierin könnte man also ein „Äquivalent mit der Organisation der Gesellschaft in der Ständestaatsidee“ vermuten (Straub, S. 58). In Anlehnung an Rendl-Biograph Arnold Nauwerck geht Straub der Frage nach, inwiefern Rendls Bienenroman der Vorstellung einer „ständischen Theokratie“ folgt.10 Auf diese Weise definiert er die zentrale Ordnungsidee des Bienenromans. Rendl erschien eine methodisch konsequent naturwissenschaftliche Sichtweise unannehmbar. Vielmehr überhöhte und „(re)spiritualisierte“ er den „säkularen szientifischen Blick auf Naturphänomene“ (Straub, S. 58). Auch in dieser Hinsicht trifft Rendl sich in gewissem Maße mit Othmar Spann, für den nur zentrale Werte „Gemeinschaften“ zusammenzuhalten vermögen. Und der Staat bedeutete ihm einen solchen überragenden „Wert“.11 Wolfgang Straub weist zudem darauf hin, dass Rendls Verständnis von Theokratie auf zwei Eckpfeilern ruht: auf einer „pantheistischen“ Orientierung – Natur wird durchgängig als „gotterfüllt“ dargestellt –, aber auch auf einer „marianischen“ Prägung. So begreift Rendl den Bienenstaat als „mütterliches Prinzip“ und trifft sich in dieser Hinsicht mit der „Mütterlichkeitsideologie“ des austrofaschistischen Ständestaats (Straub, S. 59). Poetisierung und Rhetorizität von Rendls Bienenroman eröffnen Straub zufolge durchaus die Möglichkeit, „den Roman auch als Staatsroman zu lesen, der einen Beitrag zum Ständestaatdiskurs liefert“. (Straub, S. 61) Das ständestaatliche Organisationsprinzip findet sich auch in der Struktur des Bienenstaates wieder. Die Individuen haben sich dem größeren Ganzen zu beugen. Im Gesellschaftsgefüge ist allen Menschen ein fixer Platz zugedacht (Straub, S. 59f.). Die katholische Soziallehre stimmte sich ebenfalls auf dieses gesellschaftliche Ordnungs-
9 Vgl. Spann 1921, S. 23. 10 Nauwerck 2006, S. 556. 11 Vgl. Spann 1921, S. 155.
Staatsdiskurse. Ein Resümee
103
prinzip ein: „Einheit in wohlgegliederter Vielheit“12 lautete die ständestaatliche Entsprechung der Enzyklika 1931. ZUM STAATSDISKURS IM FILM Staatsbilder speisen sich aus Erfahrungen unterschiedlicher Art: Zum einen sind es einschneidende Wendepunkte der politischen Geschichte, die sich im (Unter-) Bewusstsein der Menschen niederschlagen. Zum anderen sind es mehr oder minder oberflächliche Alltagskontakte mit staatlichen Agenturen und deren Personal (Bürokratie, Polizei, Justiz usw.), die sich als Einstellungen zum Staat einschreiben und verfestigen. Diese beiden Erfahrungsebenen werden im 20. Jahrhundert um mediale Erzähl- und Darstellungsformen erweitert. So lassen sich Staats- und Rechtsideen auch über Spielfilme verbreiten und verallgemeinern. Dieser Teil des Resümees bezieht sich darum auf die Verwendbarkeit des Mediums Film, das in der Zwischenkriegszeit als diskursive Plattform an Bedeutung zulegte, weil es die Popularisierung und Ideologisierung von Staatsphänomenen zu modernisieren und voranzutreiben vermochte. Waren es in der politischen Ideengeschichte zunächst einzelne Denker (äußerst selten Denkerinnen), dann Bewegungen („-ismen“), die Staatsdenken voranbrachten, so folgte nun eine Phase der Medialisierung der Propagierung moderner Staatsideen. „Dem Film wurde“, so Sabine Zelger, „in den zeitgenössischen Manifesten seiner Frühzeit bei der Konstituierung des Staatsdiskurses eine ganz außerordentliche Rolle zuerkannt“ (S. 17). Weil der Spielfilm manifeste sowie latente Momente von Staatlichkeit zu vermitteln vermag, trug er nicht unerheblich zur Rezeptionssteigerung aktueller Staatsphänomene bei. Wie Sabine Zelger ausführt, kommt dem Spielfilm dabei eine inhaltliche sowie künstlerische Bedeutung zu. Repräsentation und Ästhetik bestimmen filmische Ausdrucksweisen. Darüber hinaus nahm aber auch die Ökonomie der Filmproduktion nicht unerheblichen Einfluss auf die Verbreitung von Staatlichkeitsideen. Jeder Spielfilm lässt sich darum als „Teil des Staatsdiskurses“ lesen (Zelger, S. 18). Den Staat im Film demonstriert Sabine Zelger anhand dreier Filme von Werner Hochbaum (Brüder, 1929; Morgen beginnt das Leben, 1933; Drei Unteroffiziere, 1938/39). Den drei ausgewählten Filmen entsprechen nicht nur verschiedene Film- und Erzähltechniken, sondern auch höchst unterschiedliche politische Rahmungen und Finanzierungsstrukturen. Der Bogen reicht von SPD-Finanzierung bis zu NS-Interventionen. Dabei wird deutlich, dass es nicht nur der Staat ist, der mit dem Medium Film erfasst und propagiert werden soll, sondern dass umgekehrt auch der Staat die Produktionsstätte Film erfasst und zunehmend für sich nutzt. Sabine Zelger geht in der Analyse dieser Filme unter dem Titel Gemeinschaften fühlen bzw. Gemeinschaften stören Staatsfragen im weiteren Sinn nach. In den Filmanalysen gilt es nämlich zumeist, Staat nicht scharfkantig, eng institutio12 Pius XI. 1946, S. 34.
104
Eva Kreisky
nalisiert gedacht verfolgen zu können, sondern Staatlichkeit in einer weicheren Bedeutung nachzuspüren. Immer wieder ist in der Geschichte des neuzeitlichen Staates versucht worden, den Staat auch fühlbar, in gewissem Sinn wohlig zu machen. So kontrastiert Hochbaum in Brüder den kalten Staat, verkörpert etwa durch die Polizei als Schutzmacht der Unternehmer, mit den Proletariern, dargestellt als soziale Werte- und Klassengemeinschaft (Zelger, S. 21f.). Anders wird Justiz und Polizei in Morgen beginnt das Leben vermittelt: Hier steht vor allem die Vernunft des Staates, das demokratische und rechtsstaatliche Selbstverständnis zur Debatte. In Drei Unteroffiziere wird Kameraderie als militärische Zwangsgemeinschaft in staatlichen Räumen thematisiert (Zelger, S. 24f.). Eine (implizite/explizite) Demarkation zwischen öffentlichen/staatlichen und privaten/entstaatlichten Räumen durchzieht alle drei Filme. Sie bedingt gewissermaßen die Störungen und Irritationen im Gemeinschaftlichen. Zugleich ist sie aber auch geschlechtlich markiert (Zelger, S. 30). Martin Weidingers Beiträge nehmen filmische Darstellungsweisen spezieller Staatsfragen auf: die Staatsgewalt und den Nationalstaatendiskurs. Am Beispiel der filmischen Darstellung der Polizei erörtert er die Staatsgewalt (in einem engeren Verständnis eigentlich die Vertreter des Staatsapparats) als Garant öffentlicher Sicherheit und Ordnung (Die Straße, 1923; Orlacs Hände, 1924; Die freudlose Gasse, 1925; Café Elektric, 1927; Asphalt, 1929; Die Tat des Andreas Harmer, 1930). Am Beispiel der Institution des Burgtheaters als Symbol österreichischer Kultur geht Weidinger auf den Nationalstaatsdiskurs ein, der in den Kontext des austrofaschistischen Ständestaates eingebettet war (Burgtheater, 1936). Die Polizei als ein Instrument der Staatsgewalt nimmt in der Zwischenkriegszeit, einer Phase der Unübersichtlichkeit und krisenhafter Phänomene, ein eindeutiges Profil an: War sie zunächst dem „allgemeinen Wohl“ verpflichtet, hatte sie nun als „Sicherheitspolizei“ vor allem „Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“13 abzuwehren, was immer darunter zu verstehen sei. In den ausgewählten Spielfilmen wird dieser polizeiliche Paradigmenwandel zumeist auf den Straßen der bedrohlichen Großstädte abgebildet. Hier ist Sicherheit und Ordnung gefragt. Gewalt und Kriminalität findet angeblich nur im öffentlichen Raum der Städte (oder, wie in Die Tat des Andreas Harmer, im Keller eines gutbürgerlichen Hauses) statt. Die Gewalt privater Familien- und Lebenswelten wird unsichtbar gehalten. Die Polizei wird als „Freund und Helfer“ im städtischen Alltag inszeniert, was Sicherheit und Geborgenheit suggerieren soll. Einige der ausgewählten Filme erscheinen geradezu als Propagandafilme der Polizei, mit deren Unterstützung einige, wie die Tat des Andreas Harmer, auch produziert werden konnten, und sie sollten offensichtlich das Image der Polizei verbessern. Martin Weidinger kommt denn auch zur Schlussfolgerung, dass „der filmische Beitrag zum Diskurs zu Staat und Staatsgewalt […] mit Blick auf die untersuchten Filme trotz einiger Abstriche insgesamt als überraschend homogen [erscheint] und eine Tendenz zur systemaffirmativen und unkritischen Darstellung“ aufweist (Weidinger, S. 46). Einzelne Polizisten greifen ein, werden aus dem Korps 13 Winter 1998, S. 47.
Staatsdiskurse. Ein Resümee
105
herausgelöst, bekommen ein individuelles Antlitz und werden heroisiert. Die Omnipräsenz der Polizei soll zwar in erster Linie Kriminelle verunsichern, doch wird in den von Weidinger gewählten Filmbeispielen zudem deutlich, in welchem Ausmaß die Staatsgewalt in Form der Polizei „als Freund und Helfer“ gleichzeitig die Privaträume und Geschlechterverhältnisse durchstaatlicht. Insbesondere in Asphalt und Die Tat des Andreas Harmer sind die Übergänge von öffentlichem Raum und Privatraum fließend. In beiden Filmen spielt darüber hinaus die angehende Beziehung mit Frauen eine bedeutende Rolle, die zunächst jeweils eine Abweichung von der Norm darstellen: die Diebin in Asphalt, die verwöhnte Tochter einer semi-aristokratischen Familie in Die Tat des Andreas Harmer. Nicht zuletzt wird in diesen melodramatischen Elementen der Filme die Konsequenz für die Geschlechterbeziehungen deutlich, die die als monströs erfahrenen Großstädte des beginnenden 20. Jahrhunderts offensichtlich implizierte. Polizeipräsenz verunsichert aber erfahrungsgemäß auch unbescholtene BürgerInnen, was lediglich in Die freudlose Gasse zaghaft anklingt. Die Darstellung des Staates als (Be)Drohung in diesem Film von G. W. Pabst basiert auf einem Perspektivenwechsel. Die Filmhandlung wird nicht aus der Sicht der heroisierten Polizisten erzählt, sondern „aus der Sicht der Unterprivilegierten auf die uniformierten Repräsentanten der Staatsgewalt“ (Weidinger, S. 48). Der „Wiener Film“ der 1930er Jahre propagierte ein kulturelles Österreichbild, das dem nationalen Identitätsdiskurs des Ständestaates zuarbeitete und eine sichtbare Abgrenzung zum nationalsozialistischen Deutschland gewährleistete. Ein extrem verkleinertes, ja in vielerlei Hinsicht in Frage gestelltes Österreich suchte nach nationaler Identität. Die Wiederherstellung vormaliger Größe erwartete man sich vor allem vom besonderen Stellenwert österreichischer Kultur. Dafür stand das Burgtheater als Symbol. Ihm wurde eine Funktion als „zentraler Ort deutscher Kultur“ zugewiesen (Weidinger, S. 70). Der Film verbindet die verschiedenen sozialen Gruppen und Schichten und vereinheitlicht sie. Zugleich werden sie auf ihre jeweiligen sozialen Plätze verwiesen, so wie dies der Ständestaat gleichermaßen vorsah. Mit der filmischen Idealisierung der Vorstadt wurde dem ländlich geprägten Katholizismus Rechnung getragen und damit das ständestaatliche Österreich-Bild bekräftigt (vgl. Weidinger, S. 71). Der Film Burgtheater als typischster Vertreter des Wiener Films wurde nicht zufällig staatlicherseits ausgezeichnet.14 Auch an diesem Film zeigt sich das im Beitrag von Sabine Zelger angesprochene systemische Ineinandergreifen von Staat im Film bzw. von Film im Staat. LITERATUR Heller, Hermann, 1934: Staatslehre, Hrsg. Gerhart Niemeyer, Leiden. Holzer, Willibald 1978: Faschismus in Österreich 1918–1938. In: Austriaca Bd. 1, Nr. 3 1978, S. 69–155. 14 Moritz/Moser/Leidinger 2008, S. 355f.
106
Eva Kreisky
Jelusich, Mirko, 1933: Cromwell, Berlin. Moritz, Verena/Moser, Karin/Leidinger, Hannes, 2008: Kampfzone Kino. Film in Österreich 1918–1938, Wien. Müller, Adam, 1968 [1809]: Die Elemente der Staatskunst. Sechsunddreißig Vorlesungen, Berlin. Nauwerck, Arnold, 2006: Georg Rendl. Sein Leben im Spiegel von Quellen und Dokumenten, Salzburg. Pius XI., 1946 [1931]: Quadragesimo anno. Rundschreiben des Hl. Vaters Pius XI. über die gesellschaftliche Ordnung, ihre Wiederherstellung und ihre Vollendung nach dem Heilsplan der Frohbotschaft, Hrsg. Katholischen Schriftenmission, Linz, Linz. Spann, Othmar, 1921: Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft, Leipzig. Vogelsang, Karl von, 1894: Die socialen Lehren des Freiherrn Karl von Vogelsang. Grundzüge einer christlichen Gesellschafts- u. Volkswirtschaftslehre, Hrsg. Wiard Klopp, St. Pölten. Winter, Martin, 1998: Politikum Polizei. Macht und Funktion der Polizei in der Bundesrepublik Deutschland, Münster.
II. RHETORIK DES STAATES
PARS PRO TOTO Synekdochische Staatsfiktionen bei Ödön von Horváth Stefan Krammer 1. EINLEITUNG: TEIL UND GANZES Die in der Staatslehre geläufige, wenngleich tautologische Definition, nach der der Staat durch seine Staatsgewalt, durch sein Staatsgebiet und das Staatsvolk bestimmt ist,1 beruft sich auf „Komponenten des Staates“2, die in der Summe der Teile das Ganze zu bilden scheinen. In kritischer Bezugnahme auf eine derartige Segmentierung des Staatsbegriffs verdeutlicht Marion Löffler die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, den Staat auf einen Begriff zu bringen und ihn als Ganzes (er)fassen zu können. Dem setzt sie eine Vielfalt an „Bausteinen“ 3 entgegen, mit denen sich der Staat als heterogene politische Organisation konstruieren lässt: individuelle und kollektive AkteurInnen, imaginierte bzw. konstruierte Kollektivsubjekte, staatliche Institutionen und auch politische Symbolsysteme. Löffler betont dabei die wechselseitige Fundierung und Abhängigkeit dieser Einzelteile. Sie machen für sich genommen zwar noch keinen Staat aus, vermögen aber allemal Einblicke in seine Beschaffenheit, seine Funktionsweisen, sein Verhältnis zu Gesellschaft und Politik zu eröffnen.4 Zentral ist dabei, welche Bausteine überhaupt in den Blick genommen werden, wenn vom Staat die Rede ist. Denn mit der Fokussierung auf spezifische Teile und der Konzentration auf bestimmte Interdependenzen werden dem Staat dann auch entsprechende Bedeutungsgehalte bzw. -dimensionen zugewiesen und eingeschrieben. Folgender Beitrag geht der Frage nach, inwiefern sich Staatsfiktionen über einzelne Bausteine und ihre Wechselbeziehungen beschreiben lassen. Das Verhältnis von Teil und Ganzem wird dabei über die rhetorische Trope der Synekdoche gelesen. Diese Trope, die ins Deutsche übersetzt „Mitverstehen“ bedeutet, bezeichnet die Substitution eines Wortes durch einen semantisch engeren bzw. weiteren Begriff. Bei der Ersetzung wird kein kausaler, räumlicher oder zeitlicher Zusammenhang hergestellt, sondern es findet eine quantitative Bedeutungsverschiebung statt, die sich innerhalb der Ebene des Begriffsinhaltes bewegt. Insbe1 2 3 4
Vgl. Schulze 2004, S. 909. Roth 2003, S. 17. Löffler 2011, S. 26. Ebd., S. 26f. In der offenen Liste an Staats-Bausteinen werden auch Abgrenzungskategorien genannt, die das Nicht-Staatliche markieren.
110
Stefan Krammer
sondere wird eine Beziehung im Bereich von Teil und Ganzem beschrieben: Entweder steht in induktiver Weise ein Teil für das Ganze (Pars pro toto) oder in deduktiver Weise das Ganze für einen Teil (Totum pro parte).5 Wenn hier die Synekdoche zur Analyse herangezogen wird, dann ist damit keineswegs nur ein linguistisches Phänomen gemeint, das zur stilistischen Ausschmückung herangezogen werden kann. Vielmehr soll sie als Denkwerkzeug verstanden werden: Als integraler Bestandteil der Sprache bestimmt sie wesentlich unsere Wahrnehmung, unser Denken und unser Handeln. Dass die Wirklichkeit selbst tropisch verfasst ist, davon gehen George Lakoff und Mark Johnson in ihrem Buch Leben in Metaphern aus. Der Synekdoche wird dabei eine besondere Funktion zugewiesen: Indem die Substitution innerhalb des Begriffsumfangs erfolgt, stellt sie Beziehungen her, die einer inneren Systematik folgen, und macht dadurch den umschriebenen Sachverhalt in konkretisierender Weise verstehbar.6 Im Sinne eines hermeneutischen Verstehensprozesses ist der Zusammenhang zwischen Teil und Ganzem als eine wechselseitige Verschränkung beider Erkenntnisebenen zu lesen: Das Einzelne kann nur als Teil des Ganzen, das Ganze aber nur aus dem Einzelnen verstanden werden. Ganzheit und Teil sind dadurch dialektisch miteinander verbunden, stehen gleichsam in einem Zirkelverhältnis zueinander. Daraus ergibt sich ein Paradoxon, dem der Zirkelschluss bereits eingeschrieben ist. Denn das, was verstanden werden soll, muss schon vorher irgendwie verstanden worden sein. Insofern gilt es auch die Prämissen, aus denen sich die Folgerungen herleiten, zu hinterfragen und durch neue Einsichten zu vertiefen, zu modifizieren bzw. zu revidieren.7 Das bedeutet insbesondere, das Verhältnis von Teil und Ganzem unter unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten: etwa in Hinblick auf die Repräsentativität des Teils für das Ganze oder unter dem Gesichtspunkt der kategorialen Verschiedenheit des aus den Teilen hervorgegangenen Ganzen.8 Dabei wird nicht nach dem einen einzigen Sinn gesucht, der sich durch die Summierung der Teile zu einem Ganzen erschließen lässt, sondern es wird mittels einer tropischen Nuancierung den Differenzen nachgegangen, die im Sinne der Dekonstruktion immer schon durch Unentschiedenheit und Mehrdeutigkeit bestimmt sind. Bei der dekonstruktiven Lektüre wird der Prozess der Aggregierung in den Blick genommen und werden die Voraussetzungen für Analogiebildungen untersucht, um aufzuzeigen, inwiefern es sich bei den Beziehungen wechselseitiger Repräsentation um Fiktionen handelt, die immer wieder aufs Neue formuliert werden und schon allein dadurch als wirklich erscheinen. Der Beitrag widmet sich einer Rhetorik des Staates, welche Literatur einsetzt, um verschiedene Formen politischer Vergemeinschaftung zur Sprache zu bringen. Mit Blick auf synekdochische Verfahren soll gezeigt werden, wie sich in literarischen Texten Bausteine des Staates verdichten und dadurch Aussagen über den 5 6 7 8
Vgl. Groddeck 1995, S. 212f. Eine differenzierte Begriffsbestimmung findet sich bei Dubois u.a. 1974, S. 170ff. sowie bei Koch/Winter-Froemel 2009, S. 356ff. Vgl. Lakoff/Johnson 2008, S. 47ff. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem hermeneutischen Zirkel vgl. Ströker 1990, S. 279ff. Vgl. Acham/Schulze 1990, S. 9.
Pars pro toto
111
Staat als Ganzes getroffen werden. Die Darstellungsarten und -möglichkeiten der Texte bedingen dabei bereits die synekdochische Anlage des Staates. Denn mit den beschriebenen Figuren, Orten und Situationen kann immer nur ein Ausschnitt gezeigt werden, der in einer fiktiven Versuchsanordnung als Exempel fungiert oder zum Modellfall wird. Wesentlich scheint hier aber, dass Figurationen des Staates in und durch literarische Texte auch ästhetisch fassbar werden. Mit Hilfe von poetischen Mitteln kann der Staat durch seine Teile vermeintlich realistisch dargestellt oder aber verfremdet werden; es können bestimmte Aspekte hervorgehoben, andere nur angedeutet oder gar verschwiegen werden; es können Staatsutopien entwickelt und in einer rhetorischen Geste wieder verworfen werden. Vor allem dramatische Texte, die Figuren in eine Handlung involvieren und dabei an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit binden, sind prädestiniert dafür, Szenerien zu entwickeln, die Einblicke in die Wesensart und Funktionsweise des Staates geben. Das Personenverzeichnis gibt bereits Auskunft über das Figureninventar, aus dem sich die im Stück beschriebenen Dimensionen des Staates zusammensetzen. Individuelle und kollektive AkteurInnen werden dabei oft schon in Hinblick auf ihre Bedeutsamkeit aufgelistet: Es gibt Figuren, die einen Namen erhalten, und solche, die als Funktionsträger bestimmt werden. Andere wiederum erscheinen in kollektiven Gruppen, ohne auch nur quantitativ erfasst zu werden. In der dramatischen Komposition der Texte lassen sich dann hierarchische Strukturen ablesen, die in der Konfrontation einzelner Figuren oder Figurengruppen in Szene gesetzt werden. Von zentraler Bedeutung ist dabei, wie sich das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe darstellt, wie sich das Individuum zum Kollektiv verhält und auf welche Weise Ein- bzw. Ausschlüsse vorgenommen werden. In Zusammenhang damit sind die Einstellungen, Bewertungen und politischen Ideologien, die durch die Figuren repräsentiert werden, von Bedeutung, vor allem in Hinblick auf die jeweilige Handlungsrelevanz, die von persönlichen Handlungskalkülen bis hin zu politischen Programmen und Aktionen reicht.9 Selbst wenn sich die Aktionen in individuelle Handlungen auflösen und auf solche zurückführen lassen, kann in den Texten – so meine These – auch der Staat als Konstrukt sichtbar werden. Zur exemplarischen Analyse werden zwei frühe Volksstücke von Ödön von Horváth herangezogen: Sladek oder Die schwarze Armee aus dem Jahr 1927/2810 und Italienische Nacht aus dem Jahr 193111. Bei beiden Texten handelt es sich um politische Zeitstücke, die im Deutschland der Zwischenkriegszeit angesiedelt sind. Meine Lektüre der beiden Stücke soll zeigen, auf welche Weise sie in kritischer Auseinandersetzung mit der politischen Situation der Weimarer Republik synekdochische Modellfälle in den Blick nehmen und dadurch insgesamt auf Problemlagen des Staates aufmerksam machen. 9 Vgl. dazu Mozetic 1990, S. 245. 10 Als Entstehungszeit für Sladek oder Die schwarze Armee kann die zweite Hälfte 1927 angenommen werden, wobei Horváth die Arbeit etwa im Mai 1928 abgeschlossen habe dürfte. Das Stück wurde in einer zweiten verkürzten Fassung mit dem Titel Sladek, der schwarze Reichswehrmann im Oktober 1929 im Berliner Lessingtheater uraufgeführt. Die vorliegende Analyse bezieht sich auf den Text der Erstfassung. 11 Die Uraufführung fand im März 1931 im Theater am Schiffbauerdamm in Berlin statt.
112
Stefan Krammer
2. GEHEIME RECHTE: SLADEK ODER DIE SCHWARZE ARMEE Horváths Stück Sladek oder Die schwarze Armee greift die Verhältnisse der Weimarer Republik der Jahre 1923 bis 1925 auf. Als „Historie“ wird der Text im Untertitel bezeichnet, obwohl nur eine Episode aus der Zeit der Inflation und des Wiederaufbaus Deutschlands in Szene setzt. Dabei wird eine „stationäre, verdinglichte Geschichtserfahrung“12 derart präsentiert, dass der dargestellte Mikrokosmos des Stückes als Makrogeschichte zu lesen ist. Bezeichnenderweise gibt das Stück keine spezifische deutsche Stadt oder Gemeinde als Schauplatz der Handlung an, sondern nennt generalisierend schlichtweg das Deutsche Reich als Ort des Geschehens. Als zeittypisch wird dann auch die Hauptfigur Sladek gezeichnet, wie folgendes Interview mit Horváth bestätigt: Sladek ist als Figur ein völlig aus der Zeit herausgeborener und nur durch sie erklärbarer Typ […]. Ein ausgesprochener Vertreter jener Jugend, jenes „Jahrgangs 1902“, der in seiner Pubertät die „große Zeit“, Krieg und Inflation, mitgemacht hat, ist er der Typus des Traditionslosen, Entwurzelten, dem jedes feste Fundament fehlt und der so zum Prototyp des Mitläufers wird.13
In Horváths Stück geht es darum, die gesellschaftlichen Kräfte und staatlichen Mechanismen aufzuzeigen, aus denen dieser Typus entstanden ist. Als Kind seiner Zeit gehört Sladek einer verlorenen Generation an, die sozial und wirtschaftlich nicht Fuß fassen kann. Er lässt sich zunächst von der um einige Jahre älteren Witwe Anna aushalten, um schließlich Mitglied der geheimen paramilitärischen Organisation der schwarzen Armee zu werden. Annas Drohung, die schwarze Armee zu denunzieren, um den geliebten Mann nicht zu verlieren, führt zum tödlichen Verrat Sladeks. Er liefert sie dem Femegericht aus und rechtfertigt den Mord als Hinrichtung im nationalen Interesse des Staates. Als er sich aber vor Gericht für diese Tat verantworten muss, wird ihm seine individuelle Schuldigkeit bewusst: „Ich bitte, mich als Menschen zu betrachten und nicht als Zeit“,14 fordert er vom Rechtsanwalt ein, der Sladeks Verfehlung allein aus den schwierigen Umständen ableitet, die die Nachkriegsjahre mit sich gebracht haben. Sladeks Dilemma liegt darin, dass die instabilen Verhältnisse aus ihm ein „Unikum der Uneigentlichkeit“15 gemacht haben, das voller Widersprüche steckt. Seine gesellschaftliche Rolle ist von Anfang an unbestimmt, schwankt zwischen individueller Ausgestaltung und kollektiver Vereinnahmung. Der Titel des Stückes deutet dies an: Sladek wird hier noch in Opposition zur schwarzen Armee gesetzt. Das Stück führt dann vor Augen, unter welchen Bedingungen er sich der paramilitärischen Organisation anschließt und welche Erfahrungen ihn dort erwarten. Der Integrationsprozess wird insbesondere über das Kostüm der Uniform sichtbar, die Regieanweisung liefert dazu den entsprechenden Kommentar, bei 12 Strauß 1987, S. 79. 13 Interview mit der Berliner Zeitung Tempo, das unter dem Titel Typ 1902 erschien. Die Jahreszahl ist eine Anspielung auf den Roman Jahrgang 1902 von Ernst Glaeser. Zit. nach Abels 1996, S. 339. 14 Horváth 1983, S. 84. 15 Strauß 1987, S. 81.
Pars pro toto
113
dem die Perspektive Sladeks eingenommen wird: „Endlich in Uniform“,16 heißt es dort, wodurch auch markiert wird, dass Sladek nun Teil des Kollektivs geworden ist. Trotzdem ist Sladek von Anfang an bemüht, sich seine Individualität zu bewahren. Bereits bei der Einführung seiner Figur wird das durch einen dramaturgischen Kunstgriff zum Ausdruck gebracht. Aus der Gruppe von Hakenkreuzlern, die allein durch Ordinalzahlen unterschieden werden, tritt Sladek als Einzelmensch hervor, indem er in einem performativen Akt seinen Namen nennt. Daraufhin wechselt die Personenbezeichnung von „Vierter Hakenkreuzler“ zu „Sladek“. Die „Verwandlung“ wird aber nicht nur auf formaler Ebene angezeigt, auch in seiner Rede unterstreicht Sladek seine Persönlichkeit und stilisiert sich zu einem, der selbstständig denken kann und sich keineswegs ideologisch festlegen lässt. Seine solipsistische Weltsicht, die er propagiert, erweist sich allerdings dort als brüchig, wo er unvermittelt vom „ich“ in ein „wir“ kippt und damit ein Kollektiv aufruft, das er im Grunde synonym für den Staat verwendet. Bildlich gesprochen, bläht er sich selbst zum Vaterland auf. Seine überzogene Selbsteinschätzung revidiert er später folgendermaßen: „Nämlich ich hab den Fehler gemacht, daß ich mich in den sogenannten Mittelpunkt der Welt gestellt hab, mich, den Sladek, obwohl dieser Sladek nur ein Teil ist. Ich hab mich mit dem Vaterland verwechselt.“17 Sladek identifiziert sich so sehr mit dem Vaterland, dass es gleichsam zu einer „Vergötzung des Staates als Wahrheit des Ganzen“18 kommt. Wenn Sladek von sich spricht, meint er in einer synekdochischen Übertragung das Vaterland. Insofern sind auch seine Handlungen als Staatsaktionen zu lesen. Er betrachtet Annas Bemühungen, ihn an sich zu binden, als Vereinnahmung und Gefährdung des Staates. Der Mord an ihr scheint daher durch diesen Staat, in dessen Mission er zu handeln glaubt, legitimiert. Die Rechtmäßigkeit, dass ein Teil für das Ganze geopfert werden muss, gerät dort ins Wanken, wo gesellschaftliche Notwendigkeiten und private Interessen aufeinanderprallen. Welche Rolle dabei dem Einzelnen als Teil für das Ganze zukommt, wird zur ungeklärten Frage. Denn einerseits hat er „überall gehört, daß der Einzelne nichts zählt, daß er sich für das Ganze aufopfern muß“,19 andererseits wird er nun als Einzelner für etwas verantwortlich gemacht, das er nur als Teil gemacht hat. Die Widersprüchlichkeit setzt sich in seiner Argumentation fort: Ich hab doch alles, was ich ja nicht tat, nur tun wollte, für das Vaterland getan, das war alles sozusagen ideal. Ich hätt sie [Anna] nie umgebracht, wenn das Vaterland nicht gewesen wär, ich hab mich zu guter Letzt geopfert, aber das wird nirgends anerkannt.20
So unklar sich Sladek über seine Rolle im Staat ist, so unklar ist auch, von welchem Staat hier eigentlich die Rede ist. Die Figuren verwenden zumeist den Begriff des Vaterlandes, wenn sie ihre nationale Zugehörigkeit zum Ausdruck bringen möchten. In Abgrenzung dazu werden einerseits die alliierten Staaten als 16 17 18 19 20
Horváth 1983, S. 46. Ebd., S. 54. Abels 1996, S. 340. Horváth 1983, S. 83. Ebd.
114
Stefan Krammer
bedrohliche Mächte beschworen, vor denen es sich zu schützen gilt. Allen voran wird Frankreich – und in Zusammenhang damit der Versailler Vertrag – zum Gegner erklärt, wenn in populistischer Weise die Befürchtung zum Ausdruck gebracht wird, dass Deutschland eine „französische Kolonie“21 werden könnte. Andererseits ist es die junge Weimarer Republik, die als Feindbild aufgerufen und in abwertenden Metaphern bloßgestellt wird. Sie wird etwa als schwacher Mann imaginiert, der keine Gewalt hat und sich gleichsam selbst kastriert, weil er nur ausführt, was andere ihm befehlen. Die mangelnde Souveränität der Republik wird in diffamierenden Personifikationen wie „Büttel der Botschafterkonferenz“22 oder „Hure der Juden und Jesuiten“23 deutlich gemacht. Auch die Bilder, die vom Staat über Kollektivsymbole gezeichnet werden, sind durchwegs gebrochen: Das Deutschlandlied wird angespielt, doch durch die Drehorgel als mechanische Leier verzerrt, bis das Schließen des Fensters die Musik von außen gleich zum Verstummen bringt und der Staat symbolisch ausgesperrt wird. Zudem treten Figuren in militärischen Uniformen auf, die aber – wie sie selbst behaupten – keine Soldaten sind, sondern nur so aussehen. Die Kokarde mit dem Adler der Republik tragen sie verkehrt, als hätten sie den Vogel als Sinnbild für Einheit und Freiheit bereits abgeschossen. Sie pervertieren so den Staat, den sie mittels politischer Abzeichen aufrufen: Die Herrschaft des Staates wird auf den Kopf gestellt. Allemal fragwürdig erscheint dadurch die Anbindung dieser Uniformierten an den Staat. Als schwarze Armee werden sie in Opposition zu den „Regulären“24, d.h. staatlich legitimierten Soldaten gestellt. Für die Figurenkonstellation ist bedeutsam, dass die schwarze Armee aus einer Gruppe von Deklassierten aller Art besteht: ehemaligen Soldaten, die nach dem Krieg als solche nicht mehr gebraucht werden und auch sonst keine Arbeit finden; Arbeitslose, die dringend Geld benötigen; junge Männer auf der Suche nach Sinn in ihrem Leben. Als deren Anführer kristallisiert sich die Figur des Hauptmannes heraus, der im Stück keinen Eigennamen besitzt, sondern allein als Funktionsträger ausgewiesen ist. Die Bezeichnung muss allerdings in Zweifel gezogen werden, führt er doch eine Truppe an, die es als illegale paramilitärische Formation nur „als Geheimnis“25 geben kann, von der niemand wissen, geschweige denn reden darf. Als paradox stellt sich heraus, dass die schwarze Armee im Grunde nur bestehen kann, weil und solange sie offiziell nicht besteht. Ihre Existenz muss daher auch allerorts negiert werden. Ihr inoffizieller Status verleiht ihr jedoch zugleich besondere Wirkungskraft, denn als politisches Kollektiv, das außerhalb der staatlichen Ordnung angesiedelt ist, kann sie sich auch über staatliche Gesetze hinwegsetzen und Selbstjustiz ausüben. Der Hauptmann als zentrale Repräsentationsfigur der schwarzen Armee erklärt sich dabei selbst zur obersten juridischen Instanz, personifiziert gleichsam das „ordent-
21 22 23 24 25
Ebd., S. 12. Ebd., S. 20. Ebd., S. 49. Ebd., S. 60. Ebd., S. 18.
Pars pro toto
115
liche Gericht im Namen des deutschen Volkes“.26 Das Ich des Hauptmannes wird zur zentralen Größe, die die schwarze Armee zu konstituieren scheint: „Ich habe die Truppen gesammelt, ich habe die Gewalt, ich bin die Macht! Ich marschiere auch allein. Die nationale Revolution bin ich.“27 Sprachlich verdichtet sich so das Kollektiv der Armee zu einer Einzelperson, die als Teil für das Ganze steht. Ironischerweise bleibt der Hauptmann bei der Auflösung der Armee dann auch als letzter Mann übrig: Die Armee reduziert sich letztlich tatsächlich auf eine Person. Die Auflösung der schwarzen Armee kann als eine staatliche Intervention betrachtet werden, mit der eine außer Kontrolle geratene politische Kraft gebändigt werden soll. Sie macht allerdings auch die Verbindungen der schwarzen Armee zu den staatlichen Behörden sichtbar. Denn diese haben offenbar über eine lange Zeit hindurch das illegale Kommando geduldet und sogar gefördert. In Horváths Text ist dann von der sogenannten „maßgebenden Stelle“28 die Rede, die insofern fragwürdig erscheint, als sie „offiziell [republikanisch] tun“ muss, um „inoffiziell die Republik unterhöhlen zu können“.29 Im Grunde ist sie es, die die Macht über die schwarze Armee ausübt, über deren Existenz entscheidet und die Direktive der Geheimhaltung ausgegeben hat. So muss die schwarze Armee vor allem deswegen geheim bleiben, weil jegliche Kollaborationen von staatlicher Seite verschleiert werden sollen. Figuriert wird die „maßgebende Stelle“ durch die amtshandelnde Person des Bundessekretärs. Dramaturgisch betrachtet, erscheint er wie ein deus ex machina, der unvermittelt, dafür umso mächtiger in die Handlung eingreift. Denn als Vertreter der Staatsmacht gibt er die Anweisungen, durch die der Hauptmann zur Kapitulation gezwungen wird. Weil die schwarze Armee nicht Teil des Staates ist bzw. nicht sein darf, wird sie endgültig beseitigt. Mit der Liquidierung der schwarzen Armee scheint auch der Staat wieder konsolidiert. Das erste Bild im dritten Akt spricht von „Wiedererstarkung“30. In Szene gesetzt wird das dadurch, dass der Staat nun in vielfältiger Gestalt in Form von Repräsentanten unterschiedlichster staatlicher Institutionen auftritt. Zugleich hat dieser aber nur ein Gesicht: Der Bundessekretär, der die schwarze Armee auflöst, der Untersuchungsrichter, der den Pazifisten Franz verhört, der Kommissar, der Sladek verhaftet, der Richter, der ihn verurteilt, und der Polizist, der ihn verwarnt, sollen den Regieanweisungen entsprechend nur von einem Darsteller gespielt werden. Eine derartige Konzentration auf eine Person erzeugt eine monolithische Vorstellung von einem Staat, dem nicht zu entkommen ist, suggeriert einen Staat als Mastermind, der alles weiß und dementsprechend auch überall zur Stelle ist. Ironisiert wird dieses Bild am Ende des Stückes, wenn Sladek, der trotz Verurteilung zu lebenslanger Haftstrafe schon nach kurzer Zeit wieder frei geht, von einem Polizisten dabei erwischt wird, als er seine Notdurft im Freien und nicht in der öffentlichen Bedürfnisanstalt verrichtet. Der Staat samt seiner 26 27 28 29 30
Ebd., S. 47. Ebd., S. 45. Ebd., S. 43. Ebd. Ebd., S. 67.
116
Stefan Krammer
Justiz, die Lappalien nachgeht, aber Morde toleriert, wird so der Lächerlichkeit preisgegeben. 3. DISPARATE LINKE: ITALIENISCHE NACHT Horváths Volksstück Italienische Nacht ist wie der Sladek-Text in der Zeitgeschichte verankert. Das Drama spielt zu Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in einer süddeutschen Kleinstadt, für welche der Markt Murnau Vorbild gestanden sein dürfte.31 Dort vertreiben sich Parteigenossen des republikanischen Schutzbundes die Zeit mit Kartenspielen und organisieren eine harmlose italienische Nacht mit Tanz und Theater, während die Ortsgruppe der Faschisten mit militärischen Aufmärschen, Geländeübungen und einem deutschen Tag zum Kampf gegen die Demokratie rüstet. Hauptschauplatz ist das örtliche Wirtshaus, an dem holzschnittartig in „Sprachklischees“32 Politik verhandelt wird. Das Stück ist insofern auch als Stammtischposse zu lesen, allerdings in der Art, als es mit den Mitteln der Satire die politische Rede der Figuren hyperbolisch verstellt – und dadurch letztlich demaskiert. Wenn im Stück die politische Situation der Weimarer Republik, der latente Bürgerkrieg zwischen rechts und links sowie der Zerfall der Volksherrschaft eingefangen werden, dann dient der Mikrokosmos der kleinen süddeutschen Stadt als synekdochischer Modellfall für die gesamte Weimarer Republik. Die Verbindung zwischen der Stadt als Teil für den ganzen Staat wird in folgender Erklärung des Stadtrats offenbar, die am Anfang wie auch – allerdings ironisch gebrochen – am Ende des Stückes steht: „Kameraden! Solange es einen republikanischen Schutzbund gibt, und solange ich hier die Ehre habe, Vorsitzender der hiesigen Ortsgruppe zu sein, solange kann die Republik ruhig schlafen!“33 Die Ortsgruppe des republikanischen Schutzbundes versteht sich als Teil einer Bewegung, die dem Schutz der gesamten Republik dienen soll. Als personifizierte Gestalt imaginiert, soll diese dann ruhig schlafen können. Aufgerufen wird eine derartige Vorstellung vom Staat auch in Max Schneckenburgers patriotischem Lied „Die Wacht am Rhein“, dessen sechste Strophe im Stück von den Faschisten als Schlaflied dargeboten wird: „Wir alle wollen Hüter sein! / Lieb Vaterland magst ruhig sein [...]!“34 Dass ausgerechnet die Republikaner eine italienische Nacht feiern, unterstreicht das Bild der nächtlichen Ruhe. Im Gegensatz dazu wird der deutsche Tag gesetzt, der von den Faschisten gefeiert wird. Ihre Parole lautet dann auch programmatisch: „Deutschland erwache!“35
31 Vgl. Lunzer u.a. 2001, S. 79. 32 Kampelmüller/Prantner 1995, S. 36. 33 Horváth 1984, S. 63f. und S. 124, dort allerdings anstatt des ersten Beistrichs mit einem Gedankenstrich versehen, der eine Nachdenkpause markiert und somit eine Leerstelle eröffnet. 34 Ebd., S. 88. 35 Ebd., S. 87.
Pars pro toto
117
In diesem Sinne soll die italienische Nacht gesprengt werden. Daran sind aber nicht allein die Faschisten interessiert, sondern ebenso der revolutionäre Flügel des republikanischen Schutzbundes, der gegen die verbürgerlichten Tendenzen innerhalb der Bewegung auftritt. Martin, als dessen Anführer, hat Angst, dass die Republikaner die politischen Interventionen der Faschisten verschlafen und sie „im heiligen römisch-mussolinischen Reich deutscher Nation“36 aufwachen könnten. Die rhetorische Verschränkung erweist sich als monströse politische Konstruktion: Eine feudale Herrschaft, welche die Tradition des antiken Römischen Reiches fortsetzt und die Herrschaft als Gottes heiligen Willen im christlichen Sinne legitimiert, wird mit einer faschistischen Ideologie, repräsentiert durch den italienischen Duce, gepaart. Diese italienische Mischung ruft Martin als Schreckgespenst auf, das es auf jeden Fall abzuwehren gilt. Der Blick nach Italien verheißt nichts Gutes, insofern sieht Martin in der italienischen Nacht, wie sie von seinen Parteigenossen als apolitische Veranstaltung mit kleinbürgerlichem Kitschprogramm gefeiert wird, eine Gefährdung für die Republik. Die Chiffre „italienisch“ symbolisiert nicht den republikanischen Geist der Sozialdemokraten, sondern steht ganz im Gegenteil für deren reaktionäre Haltung, die im Grunde als „faschismusbereit“37 zu lesen ist. In Horváths Stück stehen sich nicht nur Republikaner und Faschisten;38 sondern innerhalb des republikanischen Schutzbundes auch revolutionäre und verbürgerlichte Mitglieder gegenüber. Während die Faschisten zunächst durch keine Leitfigur repräsentiert werden,39 sind es bei den Republikanern Martin als Anführer der radikalen Gruppe und der Stadtrat als Vertreter der verbürgerlichten Fraktion. Der Stadtrat legitimiert sein Handeln über seine politische Funktion, die ihm im Stück bereits in der Bezeichnung seiner Figur eingeschrieben ist. Als Vorstand des Schutzbundes versteht er sich als Repräsentant der ordentlichen wie auch außerordentlichen Mitglieder. Wenn er spricht, dann tut er das im Namen dieses Kollektivs. Martin hingegen behauptet seinen Führungsanspruch auf performative Weise, indem er sich etwa selbst als den „angestammten Führer“40 bezeichnet und sich als der „offizielle“ und „berufene Führer“41 aufführt. Im Personenverzeichnis wird auch eine Figurengruppe durch seinen Namen bestimmt, die als weiters nicht differenziertes Kollektiv auftritt: Martins Kameraden.42 Martin Walder geht davon aus, dass der Stadtrat und Martin die eigentlichen politischen Gegenspieler im Stück sind: „beide als Repräsentanten ihrer Splittergruppen, als Führer eines Anhanges, teilweise altershalber bedingt aber verschieden in Radikalität und persönlichem Engagement hinter den politischen Anlie36 Ebd., S. 102. 37 Jarka 1990, S. 122. 38 Im Personenverzeichnis sind beide Gruppierungen als divergierende politische Kollektive angeführt. 39 Erst im Finale tritt der Major als Sprecher der Faschisten auf. 40 Horváth 1984, S. 101. 41 Ebd., S. 104. 42 In Abgrenzung dazu wird im Personenverzeichnis der Kamerad aus Magdeburg angeführt, der im Text dann als „der fremde Kamerad“ ausgewiesen wird.
118
Stefan Krammer
gen“.43 Sie versinnbildlichen die Ideen der jeweiligen Gruppierung, das Individuum tritt dabei in den Hintergrund, es ist stets von einem Wir die Rede, wenn es um politische Angelegenheiten geht. Daran droht der republikanische Schutzbund zu zerbrechen, zu unterschiedlich sind die einzelnen Auffassungen, die im Namen eines Kollektivs geäußert werden. Um die Differenzen aufzuzeigen, wird vermehrt zwischen „wir“ und „ihnen“ unterschieden.44 In der rhetorischen Zuspitzung nehmen die Protagonisten zumal auch die Ich-Perspektive ein und ersetzen das Kollektiv durch ihre eigene Person: So argumentiert etwa der Stadtrat in deduktiver Weise: „Wir lassen uns unsere italienische Nacht nicht spalten, Kameraden! Seit vierzehn Tagen hab ich mich auf die Nacht gefreut, und ich laß mich nicht spalten!“45 Martin hingegen unterstreicht seine Vormachtstellung, wenn er behauptet, dass er persönlich die italienische Nacht gesprengt hat. Derartige „Spaltungserscheinungen“46 werden nicht nur verbal zum Ausdruck gebracht, sondern auch szenisch auf der Ebene der Proxemik dargestellt, wenn sich Martin und seine Kameraden beim republikanischen Fest „abseits“47 setzen und sich weigern, auf der italienischen Nacht mitzutanzen. Wer nicht standhaft genug ist und – durch Musik und Frauen verführt – ins andere Lager überläuft, wird sodann als „halber Mensch“48 diskreditiert. Szenisch wird der politische Kampf zwischen den Republikanern auf dem Tanzboden ausgetragen. Doch die Positionen sind so verhärtet, dass man weit davon entfernt ist, zu einer Einigung zu gelangen. Die inneren Konflikte können letztlich allein dadurch versöhnt werden, dass gegen die Faschisten als gemeinsamen politischen Gegner vorgegangen wird. Frauen scheinen in der politischen Welt des Stückes, die von den Männern bestimmt wird, kaum eine Rolle zu spielen. Das Personenverzeichnis zeugt bereits davon: Die weiblichen Protagonisten werden erst nach den männlichen genannt und dann meist mit Vornamen oder generalisierend als „Frauenzimmer“49 bezeichnet. Dennoch sind sie im Handlungsverlauf an zentralen Punkten politisch aktiv. So ist es Adele, die Frau des Stadtrats, die – gerade noch zum „Hausmütterchen“50 degradiert – ihren Mann gegen die Angriffe des Majors verteidigt und ihn dadurch vor seiner Kapitulation rettet. Auch Martins Frau Anna interveniert an entscheidender Stelle, wenn sie auf den „politischen Strich“51 geht, um Einblicke in die kriegerischen Strategien der Faschisten zu gewinnen. Trotz ihrer Marginalisierung kommt den beiden Frauen eine durchwegs tragende, ja staatstragende Rolle zu. Doch ihre Agitation scheint allein in Abhängigkeit von ihren Männern motiviert: „Es ist ein Triumph aus Treue, eine Emanzipation durch Zugehörigkeit.“52 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52
Walder 1974, S. 17. Vgl. etwa Horváth 1984, S. 107f. Ebd., S. 103. Ebd., S. 96. Ebd., S. 90. Ebd., S. 98. Ebd., S. 62. Ebd., S. 94. Ebd., S. 80. Hildebrandt 1970, S. 172.
Pars pro toto
119
Gerade indem Adele gegen den Major aufbegehrt, bestärkt sie ihre untergeordnete Rolle als Ehefrau. Und wenn Anna die Faschisten ausspioniert, dann tut sie das im Sinne einer ihr aufoktroyierten politischen Aufgabe allein für ihren Mann, durch den sie ihre einzige Existenzberechtigung zu erhalten meint: „Der [Martin] steht über uns allen. Ich war blöd, dumm, verlogen, klein, hässlich – er hat mich emporgerissen. Ich war nie mit mir zufrieden. Jetzt bin ich es.“53 Konsequenterweise haben die Männer letztlich wieder das Sagen. Die patriarchale Ordnung kann dadurch aufrechterhalten werden, dass die Frauen in ihre subalterne Position zurückgewiesen werden. Sie sind es dann auch, die im Schlussbild wortlos neben ihre Männer gestellt werden, während sich Martin kollektiv dafür rühmt, die Gefahr der Faschisten abgewendet zu haben, und der Stadtrat abermals seine Beschwichtigungsparolen abgibt. Am Ende scheint die Ruhe wiederhergestellt. Die „Machtergreifung in miniature“54 von Seiten der Faschisten konnte noch rechtzeitig abgewehrt werden. Der Sieg der Republikaner über die Faschisten erweist sich allerdings in seiner Beständigkeit als höchst fragwürdig, denn die postulierte Standhaftigkeit des Stadtrats ist in seiner formelhaften Wiederholung selbst als desavouierend zu werten.55 Das Stück liefert demnach auch keine Entwicklung zum Besseren, es kehrt in seiner kreisförmigen Struktur am Schluss wieder zum Anfang zurück. Das herkömmliche Komödienschema wird zwar erfüllt, wenn die Restauration der totalen Harmonie im Finale in Szene gesetzt wird. Doch mit der Wiederherstellung des Status ante quo wird zugleich die Unbelehrbarkeit der politischen Spießer vor Augen geführt und das Andauern der faschistischen Gefahr festgeschrieben.56 Die Republik kann zwar wieder ruhig schlafen, und auch die Republikaner können endlich ins Bett gehen. Die „Gute Nacht!“57 am Ende verheißt allerdings nichts Gutes. In ihrer Ironie birgt sie das genaue Gegenteil in sich. Der guten Nacht folgt der schlechte Tag. FAZIT Sowohl Sladek oder Die schwarze Armee als auch Italienische Nacht lassen sich insofern als synekdochische Staatsfiktionen lesen, als beide Stücke ein politisches Gemeinwesen entwerfen, in dem unterschiedliche individuelle und kollektive AkteurInnen eine Stimme bekommen, imaginierte Kollektivsubjekte und staatliche Institutionen aufgerufen sowie politische Symbolsysteme in Szene gesetzt werden. Für die Dramatik der Handlungen zentral sind die Figurenkonstellationen, die durch In- und Exklusion von politischen Gruppierungen bestimmt sind. Wesentlich ist dabei, welche Personen überhaupt als politisch handlungsfähig betrachtet 53 54 55 56 57
Horváth 1984, S. 80. Grenville 1987, S. 406. Vgl. Gerschlauer 2007, S. 86. Vgl. Bartsch 2000, S. 75. Horváth 1984, S. 124.
120
Stefan Krammer
werden und in wessen Namen sie politisch aktiv werden. Welche staatstragenden Funktionen Subalterne übernehmen können, wird in beiden Texten zum Thema gemacht. So spielen etwa Frauen in den Texten nur eine marginale Rolle, insbesondere was ihren politischen Handlungsspielraum betrifft. Im Sladek-Text ist es Anna, die politisch aktiv wird, wenn sie die schwarze Armee verraten will. Doch ihr Handeln ist nicht von allgemeinem Nutzen, sondern ist allein von privaten Interessen geleitet. Sie möchte Sladek an sich binden und wird dadurch zur politischen Gefahr. Um den Staat retten zu können, muss Anna letztlich ihr Opfer bringen und aus diesem eliminiert werden. Den Frauen in Italienische Nacht wird ein etwas größerer politischer Aktionsraum zugestanden, sie greifen in die Handlung in entscheidender Weise ein. Wenngleich sie im Stück zu Wort kommen, haben die Männer letztlich doch wieder das Sagen. Sie sind es, denen die politische Herrschaft vorbehalten ist. Die Staatsfiktionen in den beiden Stücken sind deutlich männlich konnotiert. Das patriarchale System des Staates ist den Texten unmissverständlich eingeschrieben. Mit den beiden Stücken fängt Horváth die politische Situation der Weimarer Republik aus zwei unterschiedlichen Perspektiven ein. Indem Figuren aus divergierenden politischen Lagern vorkommen, wird ein Spektrum zwischen rechten und linken Ideologien aufgeschlagen. In Sladek oder Die schwarze Armee nehmen die zentralen Figuren eine antirepublikanische und antidemokratische Haltung ein, die mit einem nationalistischen Denken einhergeht. Auf Grund der durchwegs militaristischen Einstellung der Figuren herrscht eine große Gewaltbereitschaft vor, die nationalistisch legitimiert ist. Nation wird dabei als Kampfgemeinschaft verstanden, die es sich zur politischen Aufgabe gestellt hat, eine autoritäre staatliche Ordnung herzustellen. In Italienische Nacht hingegen werden Figuren in Szene gesetzt, die faschistische wie auch nationalistische Tendenzen ablehnen und dagegen mehr oder minder aktiv auftreten. Als Mitglieder oder Sympathisierende des republikanischen Schutzbundes haben sie zwar allesamt ihren Marx58 gelesen, die politischen Vorstellungen, die sich aus dieser verbindenden Referenz ableiten lassen, zeichnen sich aber durch stark divergierende Meinungen aus. Die Differenzen, wie sie im Stück zur Sprache kommen, lassen sich dann im Wesentlichen in zwei Positionen bündeln: Die einen streben revolutionäre Ziele an, die anderen verfolgen bürgerliche Absichten. Trotz unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung der Figuren ist beiden Texten gemein, dass sie politische Kollektive über staatliche AkteurInnen aufrufen und dadurch veranschaulichen, wie komplex sich Abläufe in einem staatlichen Gemeinwesen gestalten. Die Beziehung zwischen Teil und Ganzem wird in der wechselseitigen Fundierung und Interdependenz der unterschiedlichen Figuren und Figurengruppen verdeutlicht. So kann mit den Texten gezeigt werden, welch zentrale Funktion den Repräsentationsfiguren zuteil wird, wenn sie zwar im Namen der Gruppe sprechen, aber immer auch ihre eigenen Interessen zum Ausdruck bringen. Im Sladek-Text spielt die individuelle Handlungsfähigkeit der Figuren eine bedeutende Rolle. Im Zentrum steht die Frage, in wessen Auftrag hier 58 Vgl. ebd., S. 65.
Pars pro toto
121
agiert wird. Die Protagonisten verstecken sich dabei hinter dem Vaterland, das sie zu retten gedenken. Im Grunde sind sie es aber selbst, die gerettet werden müssen. In der synekdochischen Übertragung verwechseln sie sich mit dem Vaterland und halten am eigenen Standpunkt bis zur Selbstaufgabe fest. Die Ich-Perspektivierung mag dann auch der autoritären Ideologie geschuldet sein, welche die Protagonisten favorisieren. Im Gegensatz dazu wird in Italienische Nacht auf das Ich vor allem dann Bezug genommen, wenn private Interessen im Vordergrund stehen. Ideologisch wird dadurch an einen Egoismus angeknüpft, der politischen Zielen im Wege steht und dadurch das gesamte Kollektiv gefährdet. Insofern sprechen die Figuren zumeist von einem Wir, wenn es um Politik geht. Dieses sorgt – neben sparsam verwendeter Kollektivsymbole wie etwa der schwarzrotgelben Fahne, die anlässlich des republikanischen Festes gehisst wird – für einen Zusammenhalt und erzeugt ein Gemeinschaftsgefühl, das individuelle Bedürfnisse zweitrangig erscheinen lässt und ideologische Divergenzen einzuebnen versucht. Die Faschisten im Stück werden hingegen über zahlreiche Kollektivsymbole aufgerufen und dabei durch unterschiedliche theatrale Codes in Szene gesetzt: etwa über Märsche und Sprechgesänge, über Uniformen, über die schwarzweißrote Fahne. Mit ähnlichen Mitteln wird die schwarze Armee im Sladek-Text als Kollektiv szenisch greifbar. Die Uniform dient als Mittel der Integration: Sie markiert auf vestimentärer Ebene, wer als Teil der Armee zu betrachten ist. Zugleich dient sie durch die subversive Verwendung der Kokarde mit dem Adler der Republik auch der Abgrenzung. Die schwarze Armee pervertiert damit die staatliche Macht des Militärs und inszeniert sich wirkungsmächtig als revolutionäre Gegenkraft. Zur Konstituierung der unterschiedlichen Gruppierungen erweisen sich zudem Feindbilder als notwendig. In Sladek oder Die schwarze Armee ist es allen voran die Republik, gegen die die schwarze Armee als imaginiertes Kollektiv opponiert. Konkret wird sie erst durch die maßgebende Stelle, die in Erscheinung tritt, um die Armee aufzulösen. Die geballte Macht der regulären Soldaten lässt der Armee auch keine andere Chance als zu kapitulieren. Doch erst danach bekommt die Republik durch die Amtsträger unterschiedlicher staatlicher Institutionen ein Gesicht. Als anzugreifender Gegner wird sie daher für die schwarze Armee unmittelbar nicht greifbar. Allein Sladek wird der Prozess gemacht, doch seine Verbindungen zur geheimen Armee spielen dabei keine Rolle, werden für den Tatbestand sogar als irrelevant betrachtet. Im Gegensatz dazu ist in der Italienischen Nacht der Gegner der Republikaner von Anfang an anwesend. Bereits im Eingangsbild marschiert eine Abteilung der Faschisten mit Musik beim Wirtshaus vorbei, wo sich einige Mitglieder des republikanischen Schutzbundes zum Kartenspiel getroffen haben. Sie schauen aber nur unbeteiligt zu, was sich draußen ereignet. Daraus entwickelt sich auch der Konflikt mit Martin, der Aktionen fordert, um die militärische Kraft der Faschisten zu brechen. Der Angriff der Faschisten vermag aber die Republikaner wieder zu vereinen. Die Solidarität mit den Bundesgenossen ist zuletzt doch stärker: Der Sieg gegen die politischen Gegner wird als ein gemeinsamer gefeiert.
122
Stefan Krammer
LITERATUR Abels, Norbert, 1996: „Überall kauert der Tod und lauert“. Zu Ödön von Horváths „Sladek“ oder „Die schwarze Armee“. In: Auckenthaler, Karlheinz F. (Hrsg.): Lauter Einzelfälle. Bekanntes und Unbekanntes zur neueren österreichischen Literatur, Bern u.a, S. 335–344. Acham, Karl/Schulze, Winfried, 1990. Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften, München, S. 9–29. Bartsch, Kurt, 2000: Ödön von Horváth, Stuttgart. Dubois, Jacques, u.a., 1974: Allgemeine Rhetorik, München. Gerschlauer, Jörg, 2007: Ausgelacht: Das Ende der Komödie im totalen Jargon. Scherz, Satire und Ironie in den Volksstücken Ödön von Horváths, Marburg. Grenville, Anthony, 1987: The Failure of Constitutional Democracy: The SPD and the Collapse of the Weimar Republic in Ödön von Horváth’s Italienische Nacht. In: The Modern Language Review 82, H.2, S. 399–414. Groddeck, Wolfram, 1995: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel/Frankfurt a. M. Hildebrandt, Dieter, 1970: Liebe, Tod und Kapital. In: Krischke, Traugott (Hrsg.): Materialien zu Ödön von Horváth, Frankfurt a. M., S. 161–172. Horváth, Ödön von, 1983: Sladek oder Die schwarze Armee. In: Ders.: Sladek. Gesammelte Werke 2, Hrsg. v. Traugott Krischke, Frankfurt a. M., S. 9–92. Horváth, Ödön von, 1984: Italienische Nacht. In: Ders.: Italienische Nacht. Gesammelte Werke 3, Hrsg. v. Traugott Krischke, Frankfurt a. M., S. 61–124. Jarka, Horst, 1990: Alltag und Politik in der österreichischen Literatur der dreißiger Jahre. Horváth – Kramer – Soyfer. In: Bolbecher, Siglinde (Hrsg.): Über Kramer hinaus und zu ihm zurück, Wien, S. 120–139. Kampelmüller, Gudrun/Prantner, Elisabeth, 1995: Ödön von Horváth – „ein treuer Chronist seiner Zeit“. In: Bartenstein, Helmut u.a. (Hrsg.): Politische Betrachtungen einer Welt von Gestern. Öffentliche Sprache in der Zwischenkriegszeit, Stuttgart, S. 13–51. Koch, Peter/Winter-Froemel, Esme, 2009: Synekdoche. In: Ueding, Gert (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen, S. 356–366. Lakoff, George/Johnson, Mark, 2008: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg. Löffler, Marion, 2011: Geschlechterpolitiken der Transformation. Aspekte feministischer Staatstheorien, Wien. Lunzer, Heinz/Lunzer-Talos, Victoria/Tworek, Elisabeth, 2001: Horváth. Einem Schriftsteller auf der Spur, Salzburg. Mozetic, Gerald, 1990: Individualismus und Kollektivismus. Eine methodologische Kontroverse und ihre pragmatische Valenz. In: Acham, Karl/Schulze, Winfried (Hrsg.): Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften, München, S. 240–277. Roth, Klaus, 2003: Genealogie des Staates. Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens, Berlin. Schulze, Rainer-Olaf, 2004 Staat. In: Nohlen, Dieter/Schulze, Rainer-Olaf (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe, Bd. 2, München, S. 909–910. Strauß, Botho, 1987: Die vertierte Vernunft und ihre Zeit. In: Ders.: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken, Frankfurt a. M., S. 77–84. Ströker, Elisabeth, 1990: Über die mehrfache Bedeutung der Rede von Ganzen und Teilen. Bemerkungen zum sogenannten hermeneutischen Zirkel. In: Acham, Karl/Schulze, Winfried (Hrsg.): Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften, München, S. 278–298. Walder, Martin, 1974: Die Uneigentlichkeit des Bewußtseins. Zur Dramaturgie Ödön von Horváths, Bonn.
TROPEN IN KONKURRENZ Erich Mühsam und die Staatsräson Sabine Zelger Im Dokumentardrama Staatsräson (1928) widmet sich Erich Mühsam der Festnahme, dem Gerichtsverfahren und der Verurteilung zweier italienischer Anarchisten in den Vereinigten Staaten. Ein Jahr nach der Hinrichtung von Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti bringt der anarchistische Aktivist damit ein Stück heraus, in dem er „das wirkliche Geschehen unter Punktierung bestimmter, für die Entwicklung der Ereignisse bedeutungsvoller Daten in Dialogen und angedeuteten Handlungen für die Bühne“ einrichtet.1 Dazu greift er auf Dokumente der Kläger und Angeklagten zurück und bemüht sich, sie „wortgetreu“ wiederzugeben.2 Durch die ausgewählten Texte und montierten Dialoge wird der Prozess gegen die beiden Angeklagten als politischer Kampf gegen die virulenten revolutionären Bewegungen dargestellt. So ist es nahe liegend, das Stück als Entlarvung der Staatsräson zu lesen, die im zeitgenössischen US-Staat im Unterschied zum Deutschen Reich nicht „desorientiert“ war.3 Dass es dem Autor vor allem um diese Dimension des Staates geht und nicht nur um die Rehabilitation zweier Unschuldiger, macht er durch den Titel explizit. Mit der Staatsräson, „die in ihrem Kern die Erhaltung staatlicher Macht und Funktionsfähigkeit ist“,4 wird die zweck- und vernunftgeleitete „Ratio Gubernandi“5 angesprochen, aber auch die Tradition der „arcana imperii“, der legitimen Geheimnisse von Macht und Herrschaftsausübung.6 Weil im Mittelpunkt der dramatischen Handlung ein Gerichtsprozess steht, wird die Staatsräson vor allem in ihrem Verhältnis zur Jurisprudenz diskutiert. Damit steht per se ein Spannungsverhältnis zur Debatte, nachdem Staatsräson „eine a-juristische Kategorie, ein[en] Gegenbegriff zum Recht“ darstellt und „sich rechtlicher Zähmung nicht fügt“.7 Dem Stück liegt somit eine fundamentale staatskritische Disposition zu Grunde. Außerdem lässt sich Staatsräson auch insofern als politische Intervention lesen, als es sich an der zeitgenössischen Diskussion über Scheitern bzw. Ausbleiben von Revolutionen beteiligt. Mühsam thematisiert die zeithistorisch brisante 1 2 3 4 5 6 7
Mühsam 1992b, S. 5. Ebd. Vgl. Ahmann 2003, S. 70. Heydemann/Klein 2003, S. 8. Stockhammer 2009. Vgl. Klein 2003, S. 90. Ebd.
124
Sabine Zelger
Frage nach Stärke und Legitimität des Staates und der realpolitischen Schwierigkeiten, ihn zu entmächtigen. Dazu bringt er verschiedene Auffassungen von Staat zur Sprache, in denen Begründungen der Machterhaltung und -demontage sehr unterschiedlich ausfallen. Die Frage ist, welche Vorstellungen in den Kämpfen um die Macht des Staates miteinander konkurrieren. Kommt der Staat als Nationalstaat zur Sprache, der durch scheinbar unverbrüchliche Traditionen über Einheitlichkeit und Stärke verfügt? Inwiefern sind es institutionalistische Ansätze, in denen der Staat auf eine formal rechtliche Dimension reduziert wird, der mit Justiz, Militär, Regierung etc. Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Gesellschaft bereitstellt? Und wie kommen marxistische Konzepte mit dem Fokus auf Ökonomie und Klassengesellschaft zur Sprache? Wird der Staat dabei als Opposition zur Gesellschaft gedacht oder finden sich ebenso Bilder, in denen diese Trennung in Frage gestellt wird?8 Zeigt sich der Staat dabei ausschließlich in zwanghaften Herrschaftsverhältnissen oder, wie beispielsweise in Gramscis Hegemoniekonzept, auch in konsensorientierten Institutionen der Zivilgesellschaft?9 Neben theoretischen Bezugspunkten zu zeitgenössischen Vorstellungen des Staates werde ich in meiner Analyse zudem auf neuere Erklärungsmodelle rekurrieren, insofern deren Denkfiguren im Drama Mühsams zur Sprache kommen. Die Frage nach der Staatsräson wird nämlich ganz anders beantwortet, wenn mit der Einheitlichkeit des Staates bzw. der Trennschärfe zwischen Staat und Gesellschaft gebrochen wird. Die Schwierigkeiten der Staatskritik werden augenscheinlich, wenn sich, wie bei Louis Althusser, der repressive Staatsapparat von den ideologischen Staatsapparaten nicht mehr separieren lässt.10 Giorgio Agamben, der dieses Verständnis von Staat weiterführt und auf die provokante „These von einer innersten Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus“ zuspitzt,11 macht im Übersehen der Politisierung des nackten Lebens den entscheidenden Grund für das Scheitern linken Denkens gegen den Staat aus: „[D]ie Unzulänglichkeit der marxistischen und anarchistischen Kritik des Staates bestand genau darin, diese Struktur nicht einmal erahnt und deshalb das ‚arcanum imperii‘ voreilig beiseite geschoben zu haben, wie wenn es außerhalb der Simulakren und der Ideologien, die ihm zur Rechtfertigung beigestellt wurden, keinen Bestand hätte.“12 Auch wenn im Drama getreu der historischen Vorlage die beiden anarchistischen Protagonisten von der US-amerikanischen Justiz hingerichtet werden, verdeutlicht die tropologische Analyse, dass der Kampf gegen den Staat nicht als verloren gegeben wird. Wie dieser ausgefochten wird und ob er im Sinne Agambens auf ungenügender Kritik basiert, ist zu untersuchen. Diese Fragen sind nicht so einfach zu beantworten, zumal unterschiedliche Denkfiguren des Staates zur Sprache gebracht werden und sich darin Stabilisatoren ebenso unterscheiden wie Strategien der Demontage. So bedarf es einer differenzierten rhetorischen Analyse der Figu8 9 10 11 12
Zur Klassifizierung der Staatstheorien vgl. Löffler 2011. Vgl. Gramsci 1967. Althusser 2010, S. 54. Agamben 2002, S. 20. Ebd., S. 22.
Tropen in Konkurrenz
125
renrede und der Regieanweisungen, um mittels konkurrierender Tropen die vielseitige Staatskritik herausarbeiten zu können. Mit George Lakoff und Mark Johnson13 gehe ich davon aus, dass wir in Metaphern leben14 und über politische und kulturelle Differenzen der Bilderwelten Wirklichkeiten verschieden denken und hervorbringen. Die Art und Weise, wie Konzepte der Liebe, der Zeit, aber auch des Staates metaphorisch strukturiert sind, legt fest, was für uns real ist. Zugleich wird von Metaphern durch die Beleuchtung und Ausblendung von Aspekten bestimmt, was wichtig und unwichtig ist und was für uns existiert oder nicht. Je nach Bildern, in denen wir uns komplexe Sachverhalte, wie den Staat, veranschaulichen, werden bestimmte Denkmöglichkeiten eröffnet, andere in den Hintergrund gerückt bzw. ausgeschlossen. Das bedeutet aber auch – und Lakoff und Johnson haben dies überzeugend dargelegt –, dass unsere Wahrnehmung und Deutung vor allem über solche Metaphorisierungen organisiert sind, die für uns derart selbstverständlich sind, dass wir die Bildlichkeit gar nicht mehr wahrnehmen. Durch diese konventionalisierten Metaphern erscheint uns das Wahrgenommene samt impliziter Ordnungen, Naheverhältnisse, Hierarchien, Aus- und Einschlüsse als natürlich und konkurrenzlos. Werden jedoch ungenutzte Teile der Metaphern beleuchtet oder neue, sogenannte „bildhafte“ Metaphern kreiert, können vertraute Wahrnehmungen gestört und geändert werden. Die Frage ist nun, wie in Mühsams Drama Konzepte des Staates metaphorisch strukturiert werden, welche gewohnten Vorstellungen aufgegriffen oder irritiert werden, wie die Staatsapparate interagieren, Demokratie und Totalitarismus zusammenspielen. Greift der Autor bei der Wahl der Tropen auf liberale oder klassisch marxistische Konzeptionen zurück, die Staat und Gesellschaft in Opposition zueinander setzen?15 Finden sich auch Vorstellungen von diffundierenden heterogenen Machtprozessen, die die sonderbare Stabilität und Legitimität der ungerechten Verhältnisse nicht nur in der monopolisierten physischen Gewalt des Staates ausmachen? Und ist in der Gestaltung der konkurrierenden Tropen letztlich die Denkmöglichkeit angelegt, den Staat abzuschaffen? Oder ist dies gar nicht nötig, weil der Staat abstirbt?16 1. KONZEPTE DES STAATES. GEWOHNTE UND IRRITIERENDE STAATSMETAPHERN Wird der Staat nicht exemplarisch über eine Institution oder einen Funktionsträger, sondern als Ganzes zur Sprache gebracht, kommen vor allem „ontologische Metaphern“ zum Einsatz, d.h. dass der Staat „auf Grundlage unserer Erfahrung 13 14 15 16
Lakoff/Johnson 2008. Ebd., Titel des Buches: Leben in Metaphern. Vgl. Löffler 2011, S. 225. So prognostizierte Friedrich Engels, dass durch die Rationalisierung von Arbeits- und Produktionsprozessen der Staat nicht mehr abgeschafft zu werden braucht, weil er einfach „abstirbt“. Vgl. Engels 1962, S. 262.
126
Sabine Zelger
mit physischen Objekten“17 vorgestellt wird. Mit der Beleuchtung spezifischer Aspekte dieser Objekte kann auf etwas Bezug genommen, kann etwas Bestimmtes quantifiziert werden, es können ausgewählte Bereiche oder Ursachen identifiziert, aber auch Ziele gesetzt und Handlungen motiviert werden.18 In Staatsräson werden von den Figuren verschiedene Konzepte zum Ausdruck gebracht und für unterschiedliche Zwecke eingesetzt. Um die Arbeit für und gegen den Staat via Metaphern untersuchen zu können, nehme ich eine analytische Trennung vor und unterscheide zwischen den Bildern jener Figuren, die im Sinne der Staatsräson agieren und die bestehenden Verhältnisse stabilisieren wollen, und den Metaphern der KritikerInnen und RevolutionärInnen, die an Veränderung bzw. Destabilisierung interessiert sind und die Legitimität der Herrschaft in Frage stellen. Dabei fällt auf, dass im Drama Mühsams auf die Konzepte der Staatsvertreter weniger Aufmerksamkeit gelenkt wird als auf die Staatskritik. Dies liegt jedoch nicht an der Quantität der Rede oder Tropen, sondern ausschließlich an deren unterschiedlichen Qualität. Während die Beamten und Politiker fast ausschließlich auf konventionalisierte Metaphern zurückgreifen, die nicht mehr als Bilder erkennbar sind, bedienen sich die RevolutionärInnen heterogener und widersprüchlicher Bildlichkeit und setzen mitunter auch auf überraschende Kombinationen. 1.1 Staatstropen aus herrschaftsstabilisierender Perspektive Wenn in Erich Mühsams Stück Beamte und Politiker den Staat zur Sprache bringen, wird er manchmal als Substanz, manchmal als Objekt, in den meisten Fällen jedoch als Mensch verbildlicht. Damit wird an die Metapher des Titels angeknüpft, in dem mit der Räson eine wesentliche Eigenschaft des Staates als Mensch beleuchtet wird. Eine Präferenz dieser Fähigkeit ist im Bildmaterial der Staatsbefürworter allerdings nicht zu finden. Neben der Vernunft (11, 49)19 werden nämlich noch jede Menge anderer menschlicher Aspekte und Eigenschaften angesprochen. So hat der Staat als Mensch motorische Fähigkeiten, wenn er einen Knoten durchhaut (75), aber er könnte auch zurückweichen (73, 75). Er ist bedürftig, weil er ein Wohl hat (57) und man ihm Ruhe verschaffen muss (20). Für seine emotionale Kompetenz steht die Fähigkeit, zaudern oder nicht zaudern zu können (73), sowie das „große Herz“ (59), das „jedem Bedrängten offen“ steht. Besonders kompetent erscheint der Staat in punkto Selbstdarstellung, insofern er nicht als feig gelten will (73) oder Energie „zeigen“ möchte (73). Im Bild des nach außen gerichteten „Rufes“ (49) findet das einzige Sinnesorgan Erwähnung. Dass der Staat als Mensch über jede Kritik erhaben ist, wird über seine Tugenden verdeutlicht, über die er bereits in der Vergangenheit verfügte – er hat eine tugendreiche Geschichte –, die ihm als unauslöschliche aber auch in der Zukunft nicht verloren 17 Lakoff/Johnson 2008, S. 35. 18 Ebd., S. 36f. 19 Im Folgenden werden die Seitenzahlen aller direkten und indirekten Zitate aus Mühsam 1992a im Fließtext in Klammern wiedergegeben.
Tropen in Konkurrenz
127
gehen können (75). Zum Staat als sozialem Wesen werden verschiedene Aspekte zur Sprache gebracht. Er ist Vater (21) mit Pflichten (75), hat eine Ehre zu verteidigen (49) und muss seine Reputation wahren (75). Außerdem verfügt er über Autorität (57) und Besitz (62). Einerseits kann ihm gedient werden (21, 57), andererseits ist er selbst mit Geboten konfrontiert (75). Als weitere Charakterisierung wird seine Gastfreundschaft erwähnt, der jedoch nicht alle „würdig sind“ (24). Nicht zuletzt bringt das Staatspersonal zum Ausdruck, dass der Staat als Mensch vertreten werden kann (55). Diese Aspekte ergeben zusammengenommen einen Mann in „bestem Alter“: Er ist kraftvoll, laut, ehrenvoll, vernünftig usf. Es geht ihm gut, er ist selbstständig und hat hohes Ansehen. Wenn sich die Staatsbefürworter auf den Staat beziehen, verwenden sie die Begriffe „Amerika“, „Land“ und „Nation“ synonym und berufen sich implizit auf den zeitgenössischen US-Staat. Dass der Staat als Mensch auch andere Eigenschaften haben könnte, zeigt sich explizit nur an einer Stelle. Dort wird das amerikanische „Staatsbewusstsein“ in Differenz zu anderen gesetzt und für diese als unerreichbar bezeichnet (75). Dass sich dieses Selbstbewusstsein unter anderem in funktionstüchtiger Selbstverteidigung manifestiert, die von diversen Institutionen übernommen wird, ist in anderen Metaphern ausgedrückt. Statt sich den Staat als Mensch vorzustellen, wird hier auf andere Metaphern zurückgegriffen. So wird der Staat als Substanz gedacht, in die sich andere einmischen können (75). In dieser Metaphorik wird mit der Verletzung des Prinzips der Souveränität die außenpolitische Dimension und das Militär thematisiert. Beim Bild des Staates und seiner Vernunft als Objekt, das verteidigt werden muss (23), ist hingegen die innenpolitische Stabilität angesprochen. Mit der entsprechenden Metapher wird der Einsatz der Polizei motiviert. Wie die staatliche Ordnung im Allgemeinen, so stellt die Verfassung im Speziellen ein schützenswertes Objekt dar (49) und muss behütet werden (57). Hilfe braucht nicht zuletzt die Justiz (75), deren Ehre wiederhergestellt werden muss (49). Territorium, Legislative und Jurisdiktion sind demnach stets gefährdet und bedürfen der Exekutive sowie verschiedener Taktiken, um die Herrschaft sicherzustellen. Insgesamt lassen sich zwei kohärente Staatskonzepte herauskristallisieren, die nicht konsistent sind. Das dominante Bild zeigt den Nationalstaat als Ganzheit, in dem die Zugehörigkeiten kulturell geregelt sind. Veränderbarkeit wird als nicht möglich und absolut unerwünscht dargestellt. In dieser Metaphorik des Staates als Mensch wird auf zivilgesellschaftliche Normierung – auf Religion, Schule, Medien – gesetzt und die Ausübung von Zwang als nicht notwendig erachtet. Wird der Staat hingegen in einem institutionellen Verständnis intern ausdifferenziert, verlieren sich der monolithische Charakter und parallel dazu die männlichen Zuschreibungen. Der Staat als Substanz und seine Institutionen als Objekte sind – in Anlehnung an weibliche Stereotype – bedürftig, müssen bearbeitet und beschützt werden. Damit lässt sich die Notwendigkeit des repressiven Apparats begründen: Justiz, Polizei, Militär inklusive geheime Taktiken und Operationen. Beide Konzepte werden ausschließlich durch konventionalisierte Metaphern strukturiert und entsprechen herrschenden Vorstellungen eines starken Staates: eines Nationalstaates, der einheitlich und in seiner Traditionalität natürlich und unhintergehbar ist,
128
Sabine Zelger
sowie eines institutionellen Staates, der mittels seiner Gewalten für Sicherheit und Bestand eben dieser traditional abgesicherten Herrschaftsordnung sorgt. 1.2 Staatstropen aus destabilisierender Perspektive Während in Mühsams Drama Beamte und Politiker stets den US-amerikanischen Staat im Blickpunkt haben, wird der Staat von den AnarchistInnen als internationales Phänomen gedacht. Die Unterschiede zwischen den Staaten, die nunmehr als politische und nicht als nationalhistorische gedacht werden, lassen sich nicht mehr als Differenzen zwischen Menschen mit mehr oder weniger Herz, Tugenden oder Bewusstsein konzipieren, die genetisch aus der Geschichte entstanden sind und von einem repressiven Apparat gesichert werden. Stattdessen wird der Unterschied zwischen Staaten im Täuschungsgrad bzw. im Spannungsverhältnis zwischen Transparenz und Intransparenz ausgemacht. Dabei greifen die beiden Angeklagten und ihre proletarischen MitstreiterInnen auf ganz andere Bilder zurück und legen ihre Sicht auch wesentlich variantenreicher dar. Eine aufschlussreiche Stelle für die mehrdimensionale Staatskritik findet sich im 11. Bild, wo Vanzetti seinem Zellengenossen auseinandersetzt, warum es nichts bringe, dass sich auf internationaler Ebene Bürgerliche, europäische Behörden und Parlamente für ihre Freilassung einsetzen. Die Besonderheit der rhetorischen Komposition liegt in der Verschränkung einander ausschließender Bilder für den Staat als Mensch, Objekt, Gebäude und Maschine. Die Passage beginnt mit der Definition der Staatsräson, d.h. mit der Vernunft des Staates als Mensch, die nicht technisch, rational, objektiv, sondern nur pragmatisch sei: Sie „ist Rechthaberei um der Einbildung einer Idee willen“ (60). Die Staatsräson ziele demnach darauf ab, eine Idee, die es gar nicht gibt, durchzusetzen. Bei der Erklärung, warum es sich bei der Idee um eine Einbildung handle, differenziert Vanzetti seine Vorstellung vom Staat aus. Weil der Staat garnicht auf einer Idee beruht. Er muß sie nur vortäuschen. Der Staat ist die nüchterne blutleere Maschinerie, die das Funktionieren der kapitalistischen Ausbeutung garantiert, sonst nichts. Seine Einrichtungen, Militär, Justiz, Polizei, selbst Schule und Kirche sind nur Hilfsmittel dieser einzigen Funktion des Staates. Aber sie werden mit dem Schimmer eines sittlichen Prinzips umkleidet, damit ihr Anspruch auf Autorität vor den unkritischen Massen geweiht scheint. (61)
Es lohnt sich, die hier angewandte Metaphorik näher anzuschauen, um das exund implizit geäußerte Staatsverständnis in seiner Vielfalt und Kritik zu rekonstruieren. In der rhetorischen Argumentation bringt Vanzetti vorerst den Staat als Gebäude zur Sprache, indem er formuliert, dass „der Staat garnicht auf einer Idee beruht“ (Herv. S.Z.). Das vorgebliche Fundament des Staates ist nicht vorhanden. Wird das Gebäude, der Staat, also einstürzen? Diese Frage erscheint umso plausibler, als dafür der Staat als Mensch verantwortlich zeichnet, der die Idee, das Fundament, lediglich vortäuscht. Dass die Abschaffung des Staates jedenfalls mehr ist als eine ideologische Frage, zeigt Mühsam durch das Bild der Maschine. Nicht nur wird mit diesem Konzept die Vorstellung des Staates durch die ökono-
Tropen in Konkurrenz
129
mische Dimension erweitert bzw. ersetzt, sie ist zudem kaum mit jenen kulturellen Implikationen kompatibel, die beim dominanten Konzept des Staates als Mensch zentral sind. Symbolische Kriterien wie Ehre und Stolz sind nicht auf den Staat als Maschine anwendbar. Trotz der Fokussierung des Staates auf dieses klassisch marxistische Bild,20 das Vanzetti durch den Nachsatz „sonst nichts“ noch unterstreicht, kommt er nicht damit aus. Auch Vanzetti denkt den Staat als Mensch, der Ansprüche stellt, Autorität beansprucht und Hilfsmittel einsetzt. Allerdings werden von ihm neben Institutionen der politischen Gesellschaft auch Institutionen der Zivilgesellschaft thematisiert. Diese Erweiterung des repressiven Staatsapparats durch ideologische Staatsapparate wird durch inkohärente Metaphorik dargelegt und insofern schon in ihrer Bildlichkeit als etwas Widersprüchliches charakterisiert. Die als Hilfsmittel etikettierten Institutionen kommen als optisch verhüllte Objekte zum Einsatz. Die Verkleidung dient der Tarnung und zugleich der Verschönerung. Eine Diskrepanz findet sich weiters im Bild des sittlichen Prinzips als Leuchtkörper, der nicht erhellt, sondern verbergende Effekte hat: Indem er die Aufmerksamkeit auf sich zieht, wird das Interesse an anderem abgezogen. Nicht zuletzt werden die Hilfsmittel auch als Einrichtungen ad absurdum geführt: Zwar sind sie mit der Metapher des Staates als Gebäude konsistent – allerdings wird das Fundament nur vorgetäuscht. Die Täuschungs- und Tarnfunktion des Staates ist für die Vorstellungen der RevolutionärInnen zentral und erhält in einem weiteren Bild eine provokante Zuspitzung. Der Vorsitzende der ArbeiterInnenversammlung berichtet von der faschistischen „Umwälzung“, dass sie „die Entkleidung der staatlichen Organe von allen gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Behinderungen der Ausbeuter [...] gewagt hat“ (39). Rechtsstaatlichkeit wird als Kleidung dargestellt, die einerseits Schutz bietet und die Ausbeutungsmöglichkeiten verringert oder reguliert, andererseits jedoch die Tatsache der Ausbeutung verbirgt. Auch wenn, wie in diesem Bild ausgedrückt, die Zerstörung des Scheins nicht zwingend zur Revolution führt, wird dies als notwendig dargestellt. Da auch die zivilgesellschaftlichen Institutionen als konstitutive Teile des Staates gedacht werden, müssen die revolutionären Handlungen dementsprechend offen und jenseits parteilicher Organisation realisiert werden.21 Angesichts des revolutionären Kampfes wird das Konzept des Staates weiter ausdifferenziert. Statt der ideologischen und ökonomischen Dimension steht dabei der Staat mit seiner Macht über Leben und Tod im Mittelpunkt. Dem Staat als Mensch gilt das Leben der ProletarierInnen so wenig, wie den Mördern „das Leben eines Nebenmenschen“ (15). Sich mit ihm anzulegen bringt aus dem Gleichgewicht und gefährdet die Zukunft der Einzelnen (14). Nicht zuletzt wird der Staat dezidiert als Mörder ausgewiesen, indem er die Stimmen „verstummen machen will“, die in Zukunft „aus den Gräbern die Massen zur Revolution rufen“ (57). 20 Vgl. Löffler 2011, S. 209. 21 Nach Haug 1992, S. 109f., sind die Widerstandsformen in Staatsräson ähnlich dem historischen Verteidigungskomitee und den zeitgenössischen Massenprotesten heterogen und parteienübergreifend, was von der kommunistischen Rezeption dementsprechend kritisiert wurde.
130
Sabine Zelger
Während der Staat als Maschine als grundlegendes Konzept des Staates alle Beherrschten inkludiert, ist der Staat als Mensch, der foltert und tötet, ein Konzept, bei dem die Reichweite nicht eindeutig ist. Dies wird in einem kurzen Wortwechsel zwischen dem Ehepaar Sacco thematisiert, in dem der Staat als Gebäude fungiert. Wenn Rosa Sacco sagt, dass aus Amerika „schon eine wahre Folterkammer geworden ist“, dann relativiert ihr Mann sogleich und meint, dass dies nur für jene gelte, die „die Freiheit für alle erkämpfen wollen“ (28). Allerdings erwähnt Nicola Sacco auch, dass diese Kämpfer „überall Ketten und Gefängniszellen“ erwarten (ebd.). Für die Revolutionäre ist der Staat demnach überall und als ständige Bedrohung wirksam. Mit dieser räumlichen Differenzierung und Selektivität der Bedrohung kontrastiert seine Vorstellung nicht nur mit dem monolithischen Einheitsstaat der Beamten, sondern auch mit dem Staatsbild seiner Frau. Durch ihre Gleichsetzung Amerikas mit einer Folterkammer wird sowohl die Gewalt als auch die Präsenz des Staates totalisiert. 2. KONZEPTE DER JUSTIZ. GRUNDLEGUNG FUNDAMENTALER STAATSKRITIK UND NOTWENDIGKEIT RADIKALER LÖSUNGEN Erich Mühsam setzt in Staatsräson ein gerichtliches Verfahren in Szene. Wenn er darauf pocht, die Inszenierung im Sinne des Titels zu realisieren,22 dann liegt es nahe, die Justiz als konstitutives Element des Staates als Mensch zu sehen, deren Vernunft hier ausverhandelt wird. Das bedeutet für meinen Ansatz, die Tropen, die für Gerichtsprozess und Gefängnis eingesetzt werden, in ihrem Bezug zur Staatsräson zu lesen. Anders als bei den Konzepten des Staates, die insbesondere in ontologischen Metaphern ausgedrückt werden, kommen bei der Darstellung des Gerichtsprozesses vor allem Strukturmetaphern zum Einsatz. Im Unterschied zu den Metaphern wie Mensch, Substanz, Objekt oder Gebäude, die in unserer physischen und kulturellen Erfahrung wurzeln, wird der Staat nun mit einem anderen Konzept strukturiert, das, wie beispielsweise Arbeit oder Krieg, selbst wiederum eine komplexe Struktur aufweist.23 Durchstaatlichung wird durch diese Metaphern nicht nur denkmöglich gemacht, sondern zur Wirklichkeit, in der wir leben. 2.1 Der Gerichtsprozess Die dominante Metaphorisierung des Gerichtsprozesses durch die staatsbefürwortenden Figuren lässt sich folgendermaßen charakterisieren: Er ist „Übung“ (24), „Geschäft“ (35), „Arbeit“ (35), „Krieg“ (42, 57, 72, 74), „Reinigungsverfahren“ (75). Alle diese Bilder spezifizieren Handlungen bzw. Handlungskomplexe, die auf ein Ziel gerichtet sind. D.h. es geht nicht um die Handlung selbst, sondern um 22 Mühsam 1992b, S. 5. 23 Lakoff/Johnson 2008, S. 75ff.
Tropen in Konkurrenz
131
das, was dadurch bewirkt bzw. erreicht wird. Die Ziele unterscheiden sich wesentlich und betreffen Perfektionierung von Fähigkeiten und Objekten, symbolische oder materielle Profite. Staatsmacht wird erhalten und erweitert, indem Gerechtigkeit „geübt“ (24), Strafe „bezahlt“ (35), mittels Menschen als „Werkzeug“ „gearbeitet“ wird (42), wobei die juristische Arbeit durch die Hinrichtung „gekrönt“ (35), also symbolisch entlohnt wird. Durch die „Bereinigung“ der „Affäre“ (75) soll der langjährige und Aufsehen erregende Prozess samt den zwei Protagonisten der revolutionären Bewegung zum Verschwinden gebracht werden. Auch beim Prozess als Krieg werden nicht nur konkrete Verhandlungsziele verfolgt und die „unverschämte Bande, diese Advokaten“, bekämpft (74) oder verdeckte Manöver enthüllt (42). Durch die Aufforderung des Richters an die „Jury [...], ihr Amt aufzufassen, wie ein echter Soldat, der dem Geiste der höchsten amerikanischen Loyalität zu folgen habe“, (57) wird gleichzeitig gegen Ausland bzw. Einwanderer Stellung bezogen. Für die Gegenseite ist der Gerichtsprozess ebenfalls „Krieg“ (28, 29, 68), jedoch wird er zudem als „Spiel“ (24, 26, 68), als administrativer „Akt“ (40) und sogar als „Kreuzgang“ (54) verbildlicht. Schon in der tropologischen Kombination zeigt sich die wesentliche Differenz zu den Vorstellungen der Behörden und Politiker: Es geht nicht nur um Zwecke, die am Ende oder jenseits der Verhandlung liegen, sondern das Gerichtsverfahren wird auch als Selbstzweck gedacht: Es befriedigt, belustigt, realisiert eine vorgegebene Ordnung und demütigt. Es ist eine Komödie (24), in der die Anarchisten „in die Rolle eines Angeklagten versetzt“ (22), „als Geisteskranke hingestellt werden“ (40); der dahinter liegende politische Charakter wird „verdunkelt“ (26); die Ankläger „verstecken sich hinter die [sic] Gesetze“; (56) es gibt den „abgekarteten Betrug“ (68). Was sich aus Sicht der Angeklagten für die Beamten als Vergnügen oder Intrigenspiel entwickelt, erweist sich für sie selbst als rein zwanghafte Angelegenheit: Sacco und Vanzetti werden vorgeführt, sie haben ein Kreuz zu tragen (54), sie werden zu Objekten und als Mörder „abgestempelt“ (40). Auch in den ontologischen Metaphern des Kreislaufes (70) und des Weges, der keine Alternativen bietet (11, 54, 70), manifestiert sich der Mangel an Alternativen. Nur im Verweis auf den grundlegenden Kampf, den die Angeklagten als Revolutionäre führen (29), und der Option, dass das Proletariat eingreift (54), wird Handlungsspielraum eröffnet. Diese Externalisierung des „Prozesskrieges“ kommt auch in der „Schlacht des Klassenkrieges“ zur Sprache (70), die auf weitere Kämpfe an anderen Orten Bezug nimmt. In der rhetorischen Struktur des Gerichtsprozesses beider Parteien zeigt sich damit ein Staatsverständnis, das Althussers Konzeption der Staatsapparate entspricht, der in Abgrenzung zu Gramsci die Paradoxa des modernen Staates extrapoliert. Während Gramsci nämlich noch von einer organischen Einheit ausgeht, in der die beiden Sphären arbeitsteilig gedacht sind, lassen sich Althussers Staatsapparate nur durch die Dominanz der jeweiligen Existenzweisen der Macht als repressiv oder ideologisch denken. Im Unterschied zur ideologischen Eingliederung, wie sie Gramsci in seinem Hegemoniebegriff als positiven Begriff der Macht darlegt, bleibt der Staat in der Metapher der ideologischen Staatsapparate etwas Mechanistisches und damit auf äußeren Zwang angewiesen. In der Ver-
132
Sabine Zelger
knüpfung des mechanischen Zwangsverhältnisses mit der Integration, wie sie in diesem Begriff angelegt ist, bleibt ein paradoxes Bild bestehen.24 Auch in Mühsams Drama werden in der metaphorischen Strukturierung des Konzepts Gerichtsprozess der repressive Staatsapparat und die ideologischen Staatsapparate miteinander verflochten sowie verschiedener Wirkungsweisen der Macht offengelegt. Staat und Gesellschaft lassen sich weder als Opposition begreifen noch können die Sphären des repressiven und der ideologischen Apparate getrennt werden. Dies gilt für die Bilder des Staatspersonals und der Staatsgegnerschaft gleichermaßen, da sie jeweils kulturell gebundene Bilder und Werte für das zu strukturierende Konzept des Gerichtsprozesses enthalten. Zugleich wird manifest, dass nur eine radikale Lösung etwas ändern kann. Innerhalb und mittels der Institutionen ist dies nicht möglich, denn entsprechend der marxistischen Staatskritik sind diese verlässlich von der herrschenden Klasse besetzt. 2.2 Das Gefängnis Die überzeugendsten Motive für eine radikale Lösung finden sich in jenen Tropen, mit denen die Inhaftierten ihr Leben im Gefängnis beschreiben. Angesichts der drohenden Hinrichtung wird es als Ort des Jenseits vorgestellt und der Tod antizipiert: als „Fegefeuer“ (45), „Narrenhölle“ (45), „Sarg“ (66), „Haus des Todes“ (81). Daneben charakterisieren Sacco und Vanzetti über die Raumbeschreibung, wie mit ihnen umgegangen wird. Sie sprechen von „Giftkammer“ (28), „Vegetieren“ (65), „Irrenzelle“ (65) und dem „Dreckloch“ (62). An den Inhaftierten wird der Staat zum Teufel, Totengräber, Mörder, Tierhalter und Psychiater und bezieht somit seine Macht sowohl vom repressiven wie von den ideologischen Apparaten. Nur ironisch bezeichnen die Angeklagten ihre Behandlung als „Genesungskur“ (44) und ihren Status als „Staatspensionisten“ (28) und bringen damit den europäischen Wohlfahrtsstaat zur Sprache, der die Alten und Kranken versorgt. In scharfem Gegensatz dazu werden die Inhaftierten über die Raummetaphern zu Tieren und Menschen ohne Lebensberechtigung. Die mörderische Konstitution des Staates wird somit vor allem in der Metaphorik des Gefängnisses evident. Während der Prozess – mit der Metaphorik von Spiel und Übung – als Farce gedeutet wird, die die Staatsapparate in Betrieb hält und deshalb in aller Öffentlichkeit stattfinden muss, offenbart sich im Verborgenen der Haft die tödliche Vernunft des modernen Staates.25 Oder anders: Die Latenz des Mörderischen, die nach Agamben dem modernen Staat anhaftet, wird dort am evidentesten, wo er das nackte Leben fern jeder Öffentlichkeit verwaltet. Indem es nicht nur um das Gefängnis als rehabilitierende Einrichtung geht, sondern stets auch um die Todesstrafe, wird die Haft zum normalisierten Ausnahmezustand, in dem immer alles möglich ist. Wie die Metaphernanalyse gezeigt hat, lassen sich demnach Analogien zu Agambens Charakterisierung der Lager ziehen. Die Inhaftierten erleben 24 Vgl. Charim 2002, S. 60–63. 25 Vgl. Foucault 1976.
Tropen in Konkurrenz
133
sich „in einer Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Außen und Innen, Ausnahme und Regel, Zulässigem und Unzulässigem, in welcher die Begriffe selbst von subjektivem Recht und rechtlichem Schutz keinen Sinn mehr hatten“.26 3. STAAT UND GESELLSCHAFT. PHYSISCHE UND SYMBOLISCHE NEU- UND DES-ORIENTIERUNGEN Wenn die Staatsräson derart funktionstüchtig ist, wie in den Staatstropen veranschaulicht wird, und die staatliche Gefahr derart evident ist, wie in den Gerichtsund Gefängnismetaphern zum Ausdruck kommt, dann stellt sich die Frage, wie gegen den Staat angegangen werden kann. Um Handlungsoptionen ausloten zu können, ist es notwendig, in der rhetorischen Struktur der Staatstropen die Gesellschaft bzw. handlungstragende Gruppen zu differenzieren und in ihrem Verhältnis zum Staat zu verorten. Wer trägt zur Stabilität des Staates bei und wie kann die jeweilige Gesellschaft bzw. Personengruppe von ihrer Position aus dagegen ankämpfen? Ja, ist in der Metaphorik von Staat und Gesellschaft überhaupt die Veränderbarkeit des Staates angelegt? Wenn die Frage hier also das Verhältnis von Staat und Gesellschaft betrifft – und somit die räumliche Struktur der Metaphorik in den Blickpunkt gerät – müssen mehrere Ebenen des Dramas berücksichtigt werden. Einerseits können Raumkonzepte innerhalb der bereits besprochenen ontologischen Metaphorik ausgemacht und implizite Hierarchien, Ein- und Ausschlüsse offengelegt werden. Andererseits werden die Topographie der Bilder sowie die Bühnen- und Regieanweisungen betrachtet, die die Selbstermächtigung der StaatsgegnerInnen in Szene setzen. Die Neu-Positionierung der RevolutionärInnen gilt es dabei sowohl im szenischen Raum als auch in den Orientierungsmetaphern zu analysieren, mit denen sich die Selbstermächtigten auch verbal in ein anderes Verhältnis zum Staat setzen. 3.1 Verortungen der Gesellschaft in den Staatstropen In den herrschaftsstabilisierenden Staatskonzepten ist die Gesellschaft entsprechend den beiden zentralen metaphorischen Strukturierungen auf zwei verschiedene Arten differenziert und platziert. Separierung nach nationaler Zugehörigkeit findet sich erwartungsgemäß in jenen Bildern, in denen der repressive Apparat argumentiert wird: Im Staat als Substanz werden die Massen je nach Nation, der sie angehören, getrennt. Sie werden untergemischt und bewegt, bleiben passiv. Ähnlich verortet sind die Menschen im Staat als Objekt, das sie (über Kriegsdienste) von innen heraus zu verteidigen haben oder umgekehrt, das gegen sie verteidigt wird. Eine ähnliche Trennung zeigt sich in der Metaphorik von Familie, in der der unhintergehbare Zusammenhang zwischen Nation und Staat auch genetisch verbürgt ist. Mit diesen Tropen wird der Unterschied zwischen Einheimi26 Agamben 2002, S. 179f.
134
Sabine Zelger
schen und Fremden als problematisches Paradigma des Staatsdenkens aufgedeckt und der zeitgenössische Rassismus in den Vereinigten Staaten dokumentiert.27 Zwar ist es jederzeit möglich, gegen diesen Staat zu kämpfen, jedoch stets nur im Namen eines anderen und entsprechend der nationalen Zugehörigkeit. Anders ist es beim zweiten zentralen Konzept des Staates als Mensch, in dem die Gesellschaft dem Staat als Freund oder Feind gegenübergestellt ist. Körperlich kann der Staat bedroht, verletzt, beruhigt werden. Die Gesellschaft hat Einfluss auf sein gesundheitliches Wohl wie auf seine emotionale Lage. Gegenüber dem Staat als sozialem Wesen verfügen die GegnerInnen über ein gewaltiges Spektrum an Handlungsmöglichkeiten. Zwar sind sie dem ewigen Licht seiner Tugenden ausgesetzt und ständig mit seiner Größe konfrontiert, jedoch können sie diese auch demontieren und konterkarieren. Man kann dem Staat als Mensch den Dienst verweigern, sein Prestige zerstören sowie seine Autorität unterwandern. Anders als beim Staat als Substanz oder Staat als Objekt, wo der repressive Staatsapparat angesprochen ist, sind beim Staat als Mensch die ideologischen Staatsapparate gefragt. In jedem Fall lässt sich analog zu Gramscis staatstheoretischen Ausführungen ein integraler Staat denken, in dem diese beiden Sphären reibungsfrei interagieren und vereint sind. Bei den herrschaftsdestabilisierenden Staatskonzepten wird die Gesellschaft ebenso als Gegenüber des Staates positioniert, insofern das politische Potenzial angesprochen wird: Sie steht unter der Autorität des Staates als Mensch, der gestürzt werden kann. Sie ist Adressat des Staates, der Ansprüche stellt, denen man gerecht werden kann oder nicht. Sie befindet sich vis-à-vis vom Staat als Objekt bzw. gegenüber den Institutionen des Staates, die etwas vortäuschen. Diesen Staat zu bekämpfen ist möglich, wenngleich gefährlich, weil der personifizierte Staat als Feind foltert und tötet. Diese Handlungsoption gegenüber dem Staat als Mensch, und somit auch einer staatlichen Einheit gegenüber, wird in der rhetorischen Struktur der StaatsgegnerInnen jedoch durch andere Metaphern massiv eingeschränkt. Wenn der Staat ein Gebäude ist, sind sie in seinem Inneren gefangen – es gibt kein Außen, keinen nicht durchstaatlichten Raum. Umgekehrt befinden sich in den als Einrichtungen metaphorisierten Institutionen Räume, wo die Gesellschaft bzw. Teile der Gesellschaft nicht mit dem Staat in Kontakt geraten, wo er ihnen nur äußerlich ist. Am schwierigsten ist es, den Staat als Maschine zu bekämpfen, deren Objekte die Arbeiter sind. So ergeben sich auch aus den Staatskonzepten der AnarchistInnen zwei grundlegend verschiedene Optionen für Handlungen: Im Konzept des Staates als Mensch geht es um Interaktion und Selbstermächtigung, die Handlungen können von heterogenen Gruppen ausgeführt werden. Die zweite Möglichkeit sieht für die 27 So zeigt sich, dass die im Stück Mühsams vernachlässigte Problematik (vgl. Haug 1992, S. 109) doch einen zentralen Platz einnimmt. Es wäre zu überprüfen, ob dies auch für andere Bearbeitungen des Sacco-Vanzetti-Stoffes zutrifft, die nach Haug (ebd., S. 99f.) die „Jagd auf radikale Ausländer“ durch Staat und Öffentlichkeit ausblendeten, obwohl diese in den USA nach dem Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt erreichte und für die Verurteilung der beiden Italiener eine wichtige Rolle spielte.
Tropen in Konkurrenz
135
Gesellschaft eine passive Rolle vor, sie wird bearbeitet, in totalitärer Art und Weise dirigiert und von außen verändert. Die Frage ist also, welche Orte existieren oder erkämpft werden können, in denen die Masse nicht Substanz ist und bearbeitet wird: dort, wo sich keine Fabriken und Institutionen befinden, wo die „Organe“ des Staates abwesend sind. Um die Erkämpfung dieser Räume und Positionen geht es auf der Ebene der Regieanweisungen und in den Parolen der namenlosen RevolutionärInnen. 3.2 Selbstplatzierungen der GegnerInnen des Staates Wenn es um Bühne und Auftritte geht, wird das Augenmerk auf die „einzige Eigenarbeit“ des Autors gelegt, wie Mühsam im Vorwort darlegt: „Äußerlichkeiten im szenischen Aufbau und im Arrangement der Begegnungen und Dialoge sind also zum großen Teil mein Werk, die inneren Zusammenhänge des Stückes sind jedoch bloße Übertragungen der Wirklichkeit auf das Theater.“28 Wie inszeniert nun der Autor jenseits der dokumentierten juristischen Niederlage die Möglichkeit, gegen den Staat anzukämpfen? Welche Räume und Interaktionen wählt er aus, um revolutionäre Handlungsmöglichkeiten zu deponieren? Die fünfzehn Bilder spielen bis auf wenige Ausnahmen alle in staatlichen Institutionen, in verschiedenen Gefängniszellen, Justizräumen und Amtszimmern. Die Dominanz der staatlich determinierten und funktionalisierten Räume wird noch unterstrichen, wenn eine Szene auf dem Landgut des Gouverneurs spielt, der nicht nur im Büro, sondern auch in seinen privaten Räumlichkeiten amtiert. Unter dem Thema der Staatsräson betrachtet wird durch diese Topographie, mit den staatlich besetzten und geregelten Zugängen, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Staat geführt. Dabei wird der Staat als Raum in Form verschiedener Arenen,29 insbesondere als repressiver Apparat in Szene gesetzt. Über namenlose Figuren, die für die ausgebeuteten Massen stehen, inseriert der Autor nun eine Handlungsdimension, in der die klare Übermacht des Staates in Frage gestellt werden kann. Während die Inhaftierten und deren enge FreundInnen gegen den Staat als Mensch antreten und auf rechtsstaatliche Konventionen zurückgreifen und verlieren, setzen sich die Nebenfiguren mit dem Staat als Substanz auseinander und gewinnen. Schrittweise erobern sie die Bühne. Bei ihrem ersten Auftritt (5. Bild) bleiben die Proletarier, vertreten durch drei italienische Arbeiter, im Hintergrund und schweigen. Damit stellen sie einen Kontrast zum Wunsch von Rosa Sacco dar: „Das Proletariat der ganzen Welt müßte doch aufschreien!“ (33) Aber die drei Prototypen kommen nicht nur von außen, dem Ausland, sie stehen auch außerhalb des Gerichtssaals und sind im Bühnenhintergrund, also wie Zuschauer außerhalb des Geschehens platziert. Lediglich eine Parole können sie den Angeklagten zurufen, bevor sie weggescheucht werden. Bei der nächsten Gerichtsszene (9. Bild) kommen schon drei Arbeiter zu 28 Mühsam 1992b, S. 5. 29 Pringle/Watson 1992, konzipieren den Staat nicht als Akteur oder Objekt, sondern als Arenen.
136
Sabine Zelger
Wort, bevor sie von Polizisten zum Ausgang gedrängt werden (54), wo sie noch einmal ihre Stimme erheben. Die entscheidende Wende wird hier jedoch über die Regieanweisung transportiert. Mit der Bezeichnung „Stimmen aus den Arbeitern“ bekommt die Arbeiterschaft zum ersten Mal auch szenisch die Gelegenheit ihrer Darstellung. Vor allem aber hat sie – durch die Präposition „aus“ – zum ersten Mal einen einheitlichen Körper, ein Bild, das bis dahin den Institutionen des Staates vorbehalten war. Beim Abgehen wird die Internationale gesungen. Zur bedrohenden Kraft werden die ProletarierInnen allerdings erst in der nächsten Szene, in der sie sich auf den Straßen organisieren und auf der Bühne, dem Amtszimmer des Gouverneurs, lautstark zu hören sind (55, 59). Dort sind wiederum drei Arbeiter anwesend, diesmal jedoch auch ein amerikanischer. Die Grenze zwischen In- und Ausland, die der Gouverneur zieht – im Vertrauen darauf, dass man zumindest im Inland alles unter Kontrolle habe –, wird jedoch nicht nur durch die verschiedene Herkunft der Arbeiter in Frage gestellt. Sie versichern, dass die Interessen und Mittel der „Klassengenossen“ überall gleich seien, selbst wenn sie in Amerika erst mit Verspätung realisiert würden (56f.). Eine quantitative und qualitative Veränderung der Arbeiterschaft wird im 12. Bild vorgenommen, indem sie, kurz bevor die ProtagonistInnen der Bewegung auftreten, auch allein als diffuse Kraft auf die Bühne kommt. Auf dem „freien Platz“ in der Hauptstadt gibt es „Gedränge“ und es äußern sich „viele“, „[e]in Arbeiter“, „[e]ine Frau“. Zu hören sind „Rufe“, eine „Stimme“ und „Stimmen“. (67ff.) Mit diesen Bezeichnungen haben die Prototypen der Bewegung ihre Nationalität verloren – sie spielt keine Rolle mehr, wenn die StaatsgegnerInnen von der internationalen Solidarität und den verschiedenen Kampfmaßnahmen der ArbeiterInnen in anderen Ländern berichten. Dies gilt nicht für die geschlechtliche Unterscheidung, die doppelt hervorgehoben wird, weil weder Nationalität noch Beruf angegeben ist. Allerdings sind die weiblichen Demonstrierenden nicht wie die beiden Protagonistinnen, die als Gattin (Saccos) bzw. Schwester (Vanzettis) ausgewiesen werden, durch ihre familiären Beziehungen markiert. Die derart vergrößerte Masse, die nur mehr geschlechtlich differenziert ist, wird in den letzten Bildern in krassen Gegensatz zum repressiven Staatsapparat bzw. zur politischen Gesellschaft gestellt, die die neuralgischen Punkte besetzt halten: Die Straße zum Gefängnis ist abgesichert, die Wege zum Landgut des Gouverneurs sind mit Militär umstellt, der Präsident und „viele Senatoren“ werden extra bewacht. Während diese Staatspräsenz nur narrativ vermittelt wird, bleibt die gedrängte Masse im Blickpunkt. In ihrer Handlungsbeschränkung wird sie zur Kraft, die sich jederzeit Bahn brechen könnte. Besonders stark ist dieser Eindruck im vorletzten Bild. Nach der Hinrichtung, die ganz nach Plan abläuft, dringen die „Stimmen von außen“ auf die Bühne vor und beschließen die Szene (86). Im letzten Bild (87f.) haben die StaatsgegnerInnen schließlich die Bühne vollständig erobert und die politische Gesellschaft aus dem symbolischen Raum verdrängt. Die Bühne wird besetzt von den aufgebahrten Leichen, Kindern mit Fahnen sowie einem Chor, der in Abwandlung der antiken Tradition nicht das Geschehen kommentiert und deutet, sondern Zukunft prophezeit. Somit sind die GegnerInnen des Staates über physische und symbolische
Tropen in Konkurrenz
137
Vereinheitlichung von außen ins Zentrum gerückt und besetzen dramaturgisch die Schlüsselposition. Parallel zur Eroberung der Bühne, die über Verdichtung, Zentralisierung und Verdrängung als erfolgreiche Entstaatlichung gedeutet werden kann, wird der anarchistische Kampf auch von den Figuren zur Sprache gebracht. In den Selbstbeschreibungen der GegnerInnen des Staates wirken sie auf den Staat von allen Seiten ein: Als Sturm und Orkan richtet sich die zerstörerische Kraft auf das Gebäude Staat, auf seine Einrichtungen sowie auf den Staat als Maschine (54). Hier werden Orientierungsmetaphern30 relevant, bei denen vor allem räumliche Bezugssysteme hergestellt werden. Über diese physischen und kulturellen Erfahrungen werden Vorstellungen von Staat und Gesellschaft im bedeutungsdurchsetzten Raum verortet: In der Auseinandersetzung mit der Positionierung und Neupositionierung differieren die Orientierungen. So wird, wie die Naturgewalten, das revolutionäre „Wir“ im Ausdruck „auf der Schanze stehen“ (54) oben angesetzt. Damit werden die Überlegenheit, die gute Position sowie die ruhende Kraft ausgedrückt, die erst in Zukunft realisiert werden kann. Von unten hingegen ist die Masse als Erregung wirksam (67, 69). Dass bei der Metapher des Weges (38, 70, 71) ebenfalls die räumliche und weniger die zeitliche Dimension betont wird, zeigt sich in verschiedenen Bildern: etwa im Wunsch, „auf die Straße!“ zu gehen (70), oder in der Formulierung, den „Weg der Zukunft“, statt in die Zukunft zu gehen (87). Zentral ist die Gerichtetheit und Gemeinsamkeit, die sich auch im Adverb „vorwärts“ (71) ausdrückt. Von diesen überzeugten Manifestationen namenloser VertreterInnen der Masse unterscheiden sich die Bilder von den Hauptfiguren nicht unwesentlich. Zwar argumentieren auch sie für Vereinheitlichung und Zentrierung, jedoch stellen sie diesen Prozess als wesentlich komplexer dar. In ihren Metaphern zeigt sich, dass sich die GegnerInnen des Staates nicht so einfach organisieren können, sie müssen sich erst finden (46), die Kraft muss angetrieben werden (40). Auch im Bild der Arbeit für die Freiheit ist eine ordnende Bewegung auszumachen, indem die Handlungen der klassenbewussten RevolutionärInnen von einer Idee reguliert werden (41). Dass die ProletarierInnen als Benachteiligte unten angesiedelt sind, wird mehrfach ausgedrückt. Es wird im Kampf gegen die Differenzierung in politische und unpolitische ArbeiterInnen zur Sprache gebracht: „Es gibt keine Klasse unter dem Proletariat.“ (83) Außerdem wird diese Position in Bildern realisiert, in denen die herrschende Klasse thematisiert wird, die das Los auf Sacco und Vanzetti fallen ließ (vgl. 60) und damit „ihre Macht über die Arbeiter aller Länder ausprobt“ (ebd., Herv. S.Z.). Von dieser benachteiligten Position aus sind Darstellungen einer potenten proletarischen Masse als physikalische Kräfte nicht plausibel. Also greifen die ProtagonistInnen – anders als die namenlose Masse – gleichfalls auf militärische Metaphern zurück und sprechen von der „großen Armee des Weltproletariats“ (60) sowie den „Soldaten im Klassenkampf“ (60). Statt die ProletarierInnen als beinahe mythische, omnipräsente und ubiquitäre Naturgewalt zu
30 Lakoff/Johnson 2008, S. 22ff.
138
Sabine Zelger
denken, werden sie in dieser Metaphorik als gleichwertige Gegnerschaft der politischen Gesellschaft bzw. der herrschenden Klasse emanzipiert. So wird der Staat als Raum neu organisiert und verschiedentlich neu besetzt: Durch nicht kohärente Bilder ist es möglich, verschiedene Möglichkeiten denkbar zu machen. Während in der verbalen Sprache kriegerische Angriffe sowie überwältigende Bewegungen und Kräfte die alte Ordnung als bedroht und bedrängt darstellen, wird im symbolischen Raum des Theaters der radikale Wandel bereits vorweggenommen: Von marginalisierten und heterogenen Positionen außerhalb und unterhalb des Bühnengeschehens aus erobern die revolutionären Massen im Laufe des Stücks das Zentrum des gesamten szenischen Raums. MIT METAPHERN WIDER DIE STAATSRÄSON? EIN FAZIT Wenn die Staatsräson eines „der am meisten beschwiegenen politischen Handlungsimperative der Moderne“ darstellt und sie gerade dann besondere Wirkung entfaltet, wenn über die von ihr bevorzugten geheimen politischen Entscheidungen nicht gesprochen wird,31 dann kann Erich Mühsams Text als politisch höchst relevantes Werk angesehen werden: Der Autor widmet diesem Handlungsimperativ ein ganzes Stück und fordert, diesen Aspekt auch „bei einer Inszenierung in den Vordergrund zu rücken“.32 In Bearbeitung und Arrangement zeitgenössischer Texte fördert Mühsam verborgene Interessen zutage. In diesem Sinn deckt das Stück die „arcana imperii“ auf und stellt einen Akt wider die verschwiegenen Herrschaftsstrategien dar. Die „Verstaatlichung der Politik“ durch die Staatsräson33 wird im Drama nicht nur über die szenische Handlung, sondern insbesondere in „lebendigen Metaphern“34 diskutiert. In der tropischen Struktur wird die Staatsräson entsprechend einem institutionalistischen Staatsverständnis in der Notwendigkeit militärischer und polizeilicher Staatsgewalt ausgemacht, die die labile Substanz oder das kostbare Objekt zu schützen hat. Der zentrale Aspekt der Machterhaltung wird jedoch via Staat als Mensch im Konzept des Nationalstaates realisiert, über den sowohl der Zwangscharakter des Staates in den Hintergrund tritt wie auch die „Ratio Gubernandi“, in der der Nutzen für den Staat über Vernunft und Rationalität hergestellt wird.35 Der Staat der Herrschenden wird damit durch zwei wesentliche Metaphern strukturiert, die mit Gramsci die zwei Dimensionen des integralen Staates bilden: der Staat der politischen Gesellschaft sowie der Zivilgesellschaft, über die die kulturelle bzw. nationale Einheitlichkeit einverständlich hergestellt wird. Mittels konventionalisierter Metaphern liefern somit Vertreter von Justiz und Politik eine nach wie vor dominante Staatsvorstellung. Im Unterschied zur Weimarer Republik – die, so eine verbreitete Deutung, „zum 31 32 33 34 35
Münkler 1987, S. 328. Mühsam 1992b, S. 5: Münkler 1987, S. 9. Lakoff/Johnson 2008, S. 69. Stockhammer 2009.
Tropen in Konkurrenz
139
Zerrbild eines kraftlosen Staates [wurde], der seiner Staatsräson gleichsam verlustig gegangen ist“36 – werden die Vereinigten Staaten hier als Modell eines hervorragend funktionierenden Staates präsentiert. Dieses intakte und stimmige Konzept des Staates, wie es quer durch das Stück immer wieder zur Sprache kommt, wird jedoch massiver Kritik ausgesetzt, sodass es jegliche Plausibilität verliert. Nicht nur wird der Zwangscharakter des Staates durch Prozessierung und Hinrichtung zweier Unschuldiger deutlich und verliert über diesen extremen Fall von Gewalteinsatz den „Sichtschutz“, wie er durch die hegemonial hergestellte Zustimmung existiert.37 Mit der Kohärenz des Konzeptes Staat – durch eine widersprüchliche tropische Struktur – geht auch das Vertrauliche und Realistische der gewohnten staatlichen Konstruktion verloren. Die Deutung des Staates als starker Mann und preziöses Objekt wird demontiert. Durch Erweiterungen des ungenutzten Teils der metaphorischen Struktur und den Einsatz neuer Metaphern werden die Bearbeitung des Objekts, die steten Hinweise auf die Stärke des personifizierten Nationalstaates sowie die Stabilität des demokratischen Gebäudes als Täuschung gedeutet. Sie wird im Sinne der Machterhaltung als notwendig ausgewiesen, um die ausbeuterischen und todbringenden Verhältnisse zu verdecken. In der Argumentation gegen das institutionalistische Staatsverständnis und mittels der klassischen marxistischen Maschinenmetapher werden die zerstörerischen ökonomischen Verhältnisse thematisierbar gemacht. Der latente Ausnahmezustand, wie ihn Agamben für den modernen Staat jenseits seiner politischen und nationalen Besonderheiten konstatiert, wird vor allem über die Institution der Justiz ausgedrückt. Dabei wird vorgeführt, dass sich der repressive und die ideologischen Apparate nicht trennen lassen und der Staat seine staatsrassistische Grundlage auch in legalen demokratischen Prozessen reproduziert. Angesichts dieser latent tödlichen Bedrohung der Menschen wird eine Abschaffung des Staates zur existentiellen Angelegenheit. Durch die Entgrenzung der Wirkungsweisen der Macht, die vom repressiven und den ideologischen Apparaten ausgeübt wird, ist dies jedoch kaum möglich. Die zentral platzierte Metapher des Staates als Maschine wird nur zur Zustandsbeschreibung eingesetzt, eine Veränderung durch Umgestaltung oder Zerstörung kommt jedoch nicht zur Sprache. Die Möglichkeiten eines anarchistischen Weges werden in den durch die Metaphern der Maschine, aber auch des Menschen, des Gebäudes oder Objektes strukturierten Konzepten des Staates nicht ausgewiesen. Die Art des notwendigen Kampfes gegen den Staat findet dennoch seine Präzisierung. So nimmt Mühsam eine Akzentverschiebung von der zeitlichen auf die räumliche Dimension vor. Es geht weniger um die temporäre Entwicklung der proletarischen Bewegung als um Verdichtung und Vereinheitlichung der Kräfte, weniger um das Ziel als um die Besetzung des Weges. Während das Staatspersonal teleologisch an Optimierung und Perfektionierung der Nation und seiner Institutionen laboriert, wie sich in deren Staats- und Justizmetaphern zeigt, realisieren die StaatsgegnerInnen ihre räumliche Ausdehnung und verkörpern ihre Expansion 36 Heydemann/Klein 2003, S. 11. 37 Vgl. Löffler 2011, S. 227, die sich hier auf Gramsci bezieht.
140
Sabine Zelger
durch die Besetzung der vormals von der politischen Gesellschaft und deren Institutionen beherrschten Bühne. In diesem Sinne platzieren sich die bislang Ausgebeuteten, analog zu marxistischen Konzepten, im neutral konzipierten Staat: „Das politische Problem betrifft die Frage, welche Klasse über den Staat verfügt. Deshalb gilt es den Staat zu erobern.“38 Dazu passt auch das Schlussbild mit der chorischen Formation und dem Sieg über die herrschende Klasse im symbolischen Bereich. Allerdings sind gerade zwei jener Revolutionäre tot, die über inkohärente Metaphern ein komplexes, diffundierendes Staatskonzept vertreten haben. Der Staat von Sacco und Vanzetti sowie anderen WortführerInnen der AnarchistInnen ist nämlich keineswegs ein neutrales Phänomen. In der metaphorischen Strukturierung bietet sich ein Panorama kritischer Staatsverständnisse, die bisweilen neomarxistische wie poststrukturalistische Kritik vorwegnehmen und dabei nicht zuletzt die kognitive Herausforderung veranschaulichen, die eine Abschaffung des Staates darstellt. Dazu setzt das Drama bei hegemonialen Vorstellungen des starken Staates an und legt dessen Gefahren offen. Es bringt verdeckte Funktionsweisen des ideologischen Apparats, der zwanghaften staatlichen Integration und rassistische Ausschlüsse zur Sprache. Indem der Autor diese Auseinandersetzung insbesondere über metaphorische Strukturen der Staatsbefürworter und StaatsgegnerInnen austrägt, wird jene Sphäre der Performanz fruchtbar gemacht, die sich dem rationalen Kalkül und der Nutzenmaximierung, wie sie in der „Ratio Gubernandi“ angelegt sind, dem Prinzip nach widersetzt. Wenn Lakoff und Johnson resümieren, dass eine Metapher „kraft der Aspekte, die sie hervorbringt, in bestimmten politischen oder wirtschaftlichen Systemen die Würde des Menschen verletzen“ kann,39 wird diese These in Staatsräson belegt. Durch die Beleuchtung verborgener Aspekte trägt Erich Mühsam mit seinem Drama dazu bei, die Verletzungen sichtbar zu machen. Mittels tropologischer Struktur gibt er aber auch eine Ahnung davon, wie sie vermieden werden könnten. LITERATUR Agamben, Giorgio, 2002: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (Erbschaft unserer Zeit. Vorträge über den Wissensstand der Epoche, 16), Frankfurt a. M. Ahmann, Rolf, 2003: Der Wandel der Staatsräson vom preußisch-deutschen Kaiserreich bis zur nationalsozialistischen Diktatur – eine vergleichende Betrachtung. In: Heydemann, Günther/Klein, Eckart (Hrsg.): Staatsräson in Deutschland. (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, 83), Berlin, S. 45–87. Althusser, Louis, 2010: Ideologie und ideologische Staatsapparate. 1. Halbband, Hamburg. Charim, Isolde, 2002: Der Althusser-Effekt. Entwurf einer Ideologietheorie, Wien. Engels, Friedrich, 1962: Herrn Eugen Dührings Umwälzung in der Wissenschaft. In: MarxEngels-Werke, Bd. 20, Berlin, S. 1–303. Foucault, Michel, 1976: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. Gramsci, Antonio, 1967: Philosophie der Praxis. Eine Auswahl. Frankfurt a. M. 38 Ebd., S. 225. 39 Lakoff/Johnson 2008, S. 270.
Tropen in Konkurrenz
141
Haug, Wolfgang, 1992: Wie Ausländerfeindlichkeit und Radikalenfurcht zum Justizmord führte – oder Die wiedergewonnene Aktualität von Erich Mühsams Drama „Staatsräson“. In: Erich Mühsam: Staatsräson. Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti. Drama in 15 Bildern, Grafenau, S. 89–112. Heydemann, Günther/Klein, Eckart, 2003: Einführung. In: dies. (Hrsg.): Staatsräson in Deutschland (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, 83), Berlin, S. 7–21. Klein, Eckart, 2003: Die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland – Staats- und völkerrechtliche Elemente. In: Heydemann, Günther/Klein, Eckart (Hrsg.): Staatsräson in Deutschland (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, 83), Berlin, S. 89–193. Lakoff, George/Johnson, Mark, 2008: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg. Löffler, Marion, 2011: Feministische Staatstheorien. Eine Einführung, Frankfurt a. M./New York. Mühsam, Erich, 1992a: Staatsräson. Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti. Drama in 15 Bildern, Grafenau. Mühsam, Erich, 1992b: Vorbemerkung. In: ders.: Staatsräson. Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti. Drama in 15 Bildern, Grafenau, S. 5. Münkler, Herfried, 1987: Im Namen des Staates. Zur Begründung der Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. Pringle, Rosemary/Watson, Sophie, 1992: „Women’s interest“ and the Post-Structuralist State. In: Michele, Barrett/Philipps, Anne (Hrsg.): Destabilizing Theory. Contemporary Feminist debates, Cambridge, S. 53–73. Stockhammer, Nicolas, 2009: Das Prinzip Macht. Die Rationalität politischer Macht bei Thukydides, Machiavelli und Michel Foucault, Baden-Baden.
„DER STAAT, DAS SIND WIR“ Gerhard Anschütz’ ironischer Volksstaat Marion Löffler Durch das Scheitern der Weimarer Republik und die These vom tragischen „Sonderweg“ Deutschlands in den Nationalsozialismus1 gerieten demokratisches Denken und originäre demokratietheoretische Überlegungen relativ spät in den Fokus der ideenhistorischen Forschung.2 Christoph Gusy erklärt dieses Forschungsdesiderat mit der Dominanz der Debatten um die Republik, die zwischen Gegnern und Befürwortern der Weimarer Verfassung geführt wurden.3 Mit ihrem zentralen Disput um republikanische vs. monarchische Staatsform lagen sie eher quer zur zeitgenössischen Demokratiediskussion.4 Die Weimarer Demokratiedebatte ist aber auch deshalb schwer zu erfassen und einzugrenzen, weil sie nicht auf liberale Denker und Denkerinnen reduziert werden kann. Denn die an sich leere Formel „Demokratie“ – also Volksherrschaft – konnte mit disparaten Inhalten gefüllt werden. Da gab es die bürgerliche Demokratie, die liberale Demokratie, die Rätedemokratie, die autoritäre, konservative oder konstitutionelle Demokratie, die repräsentative, die parlamentarische, die identitäre oder die Führerdemokratie, die soziale, die materiale oder die formale Demokratie, es gab die demokratische Diktatur genauso wie die völkische und die nationale Demokratie.5
Wer im Besitz des „wahren“ Volksbegriffs war, schien auch im Besitz des „wahren“ Demokratieverständnisses. Herrschaft hingegen blieb fast unangefochten mit dem Staat assoziiert. Dieses staatstheoretische framing des Weimarer Demokratiediskurses kann – so meine These – als eine Spielart des „deutschen Sonderwegs“ gelesen werden, und zwar in seiner affirmativen Bedeutung im Sinne eines „Sonder- und Überlegenheitsbewusstseins“, das vor allem von Historikern propagiert wurde.6 Eine gewisse Überlegenheitsvorstellung – insbesondere gegenüber Frankreich – wurde mit der preußisch-deutschen Militärmacht und Bürokratie verbunden, die als starke Herrschaftsform der parlamentarischen Demokratie allemal überlegen schien. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die schon während des Krieges sich abzeichnende Schwäche der Monarchie führten zu einer tiefen Er1 2 3 4 5 6
Vgl. Kocka 1982, S. 365. Vgl. Groh 2010, S. 1. Gusy 2000, S. 12. Ebd. Groh 2010, S. 3. Kocka 1982, S. 366.
144
Marion Löffler
schütterung des verbreiteten Sonderbewusstseins, ohne dass es gänzlich eliminiert worden wäre. Auch im Demokratiediskurs galt es, eine spezifisch deutsche Demokratie zu entwerfen, die die „besondere“ deutsche Nationalstaatswerdung berücksichtigen und dem ebenso „besonderen“ deutschen Nationalbewusstsein entsprechen sollte, sich also qualitativ vom Westen und der westlichen Demokratie unterscheiden müsse.7 Diese Demokratie sollte sich wiederum mit einem starken Staat vereinen. Daher war auch die Demokratiediskussion vorrangig eine Staatsdiskussion. Zentral verhandelt wurden die Transformation von der Monarchie zur Republik bzw. vom „Obrigkeitsstaat“ zum „Volksstaat“ und damit die umstrittene Frage, wo denn der rechte Ort des „Volkes“ im republikanischen Staatsgefüge sein solle. Der Zusammenbruch der Monarchie erzwang ein radikales Umdenken in der Disziplin der Staatsrechtslehre. Die Außerkraftsetzung der Verfassung war gleichbedeutend mit dem Verlust ihres Gegenstandes. Die neue Verfassung war nicht nur inhaltlich umstritten; an ihr entflammte auch ein bis dahin nur schwelender Methodenstreit, der die gesamte Zeitspanne der Weimarer Republik anhalten und zu heftigen Auseinandersetzungen auf den jährlich stattfindenden Tagungen der „Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer“ führen sollte. Kurt Sontheimer betrachtet diesen Methodenstreit als Symptom einer geistigen Strömung, die schon zur Jahrhundertwende eingesetzt hatte und dem aufgeklärten Rationalismus und dem damit assoziierten Liberalismus eine neue „romantisch-irrationale Denkweise“ entgegensetzen wollte.8 Er interpretiert ihn auch als eine Art Generationenkonflikt,9 in dem die Jungen ein neues Naturrecht propagierten, während die Alten das Naturrechtsdenken als metaphysische Spekulation und Idealismus bekämpft und die Rechtslehre als Wissenschaft von den Gesetzen („positives Recht“) begründet hatten. Die Spannung zwischen den Generationen wird in einer Stellungnahme von Gerhard Anschütz deutlich: „Mit einem Male muß ich mir jetzt sehr altmodisch vorkommen, wo ich früher den Fortschritt zu vertreten meinte.“10 Doch die Frontstellung kann nicht synonym für demokratische und antidemokratische Positionen betrachtet werden. Denn der Methodenstreit drehte sich nicht zuletzt um eine den demokratischen Verhältnissen angemessene Staatsrechtslehre, die sich nicht auf den Status einer weltfremden Normwissenschaft zurückziehen konnte, sondern die Verfassungswirklichkeit, die politische Realität, untersuchen und gestalten sollte. Generationen- und Methodenspaltung verlaufen auch quer durch die sogenannten „Big Five“ der demokratischen Staatsrechtslehrer.11 Gerhard Anschütz gilt als Positivist der alten Schule12 und auch Hans Kelsens „reine Rechtslehre“ steht in dieser Tradition. Hugo Preuß, wie Anschütz ein Vertreter der älteren Generation, kann als Vorreiter einer sich politisch verstehenden Staats7 8 9 10
Vgl. Llanque 2009, S. 149. Sontheimer 1994, S. 42. Ebd., S. 69ff. Gerhard Anschütz in Reaktion auf einen Vortrag von Erich Kaufmann, zit. n. Sontheimer 1994, S. 71. 11 Groh 2010, S. 1. 12 Ebd., S. 44.
„Der Staat, das sind wir“
145
rechtslehre bezeichnet werden.13 Richard Thoma als Vertreter der jüngeren Generation begab sich „auf den Weg einer politischen Soziologie“,14 und Hermann Hellers Werk gilt als Wegbereiter für die Etablierung der Politikwissenschaft in Deutschland. Die Staatslehre der Weimarer Zeit erweiterte somit ihren rechtswissenschaftlichen Fokus in Richtung Sozialwissenschaft und Philosophie15 und handelte sich damit auch die „Krisenstimmung“ dieser Disziplinen ein.16 Vor diesem Hintergrund der wissenschaftshistorischen und staatspolitischen Wende soll im Folgenden ein Text von Gerhard Anschütz analysiert werden, den er im November 1922 unter dem Titel Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung17 als Rektoratsrede in Heidelberg gehalten hat. Anschütz zählte „zu den etabliertesten Staatsrechtlern sowohl des Kaiserreichs als auch der Republik“18 und gilt im Gegensatz zu den „Vernunftrepublikanern“ als überzeugter Demokrat und „Herzensrepublikaner“. Im Laufe des Krieges hatte er sich zusehends vom Kaiserreich und dem monarchischen Prinzip entfernt. Schon 1915 hatte er eine Demokratisierung des Reichs gefordert und 1916 erstmals seinen später öfter variierten demokratischen Grundgedanken festgehalten: „Wir, das Volk, sind der Staat“.19 Als führender Verfassungskommentator – sein Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung (WRV) erschien bis 1933 in 14 Auflagen20 – war er einer der meistzitierten Staatsrechtslehrer der Weimarer Republik,21 zugleich aber auch Zielscheibe anti-positivistischer Attacken. Nach 1945 wurde ihm sogar vorgeworfen, er habe mit seinem Positivismus nationalsozialistischen Rechtsauffassungen den Weg geebnet.22 Obwohl er einen starken Staat propagierte, vertrat er doch ein liberales repräsentativ-parlamentarisches Demokratieverständnis. Sein Volksbegriff und seine Version eines deutschen Nationalismus setzten sich deutlich von Konzeptionen völkischer und rechts-konservativer Antiliberaler ab. Anschütz stand sozusagen zwischen den Fronten: zwischen Positivismus und Anti-Positivismus, zwischen Liberalen und Antiliberalen, aber auch zwischen Wissenschaft und Politik. Ich gehe davon aus, dass eine Analyse der sprachlichen Modellierung von Staat und Demokratie, die Anschütz in seiner Rektoratsrede vornimmt, sowohl Rückschlüsse auf politische und theoretische Schwierigkeiten zulässt, die seiner Positionierung im Dazwischen geschuldet sind, als auch eine demokratietheoreti13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
Vgl. ebd., S. 22. Ebd., S. 72. Vgl. Sontheimer 1994, S. 68f. Vgl. Boldt 2000, S. 616. Anschütz 1923. Alle Bezüge auf diesen Text werden mittels Seitenangaben in Klammern im Fließtext ausgewiesen. Groh 2010, S. 42. Vgl. ebd., S. 44. Llanque 2009, S. 159. Vgl. Sontheimer 1994, S. 71. Vgl. Groh 2010, S. 45. Anschütz hatte mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten um seine frühzeitige Emeritierung angesucht, mit der Begründung, dass er die erforderliche innere Verbundenheit mit der geltenden Staatsordnung nicht aufbringen könne.
146
Marion Löffler
sche Problematik erhellen kann, die möglicherweise symptomatisch für den demokratischen Diskurs der Weimarer Republik ist. Diese liegt meines Erachtens im Begriff „Volksstaat“ begründet, der als zeitgenössisches Synonym für Demokratie und gleichzeitig als Argument gegen jeglichen Pluralismus fungieren kann. 1. POLITISCHER HINTERGRUND Als Gerhard Anschütz am 22. November 1922 seine Rede hielt, war der Weiterbestand der Republik noch fraglich. Am 4. Juni 1922 war auf den ehemaligen Reichskanzler, Philipp Scheidemann, ein Anschlag verübt worden, den er nur knapp überlebt hatte,23 und am 24. Juni wurde der amtierende Außenminister, Walther Rathenau, ermordet. Das Attentat auf Rathenau bildete den Höhepunkt einer Serie von Anschlägen, die hauptsächlich von Mitgliedern der rechtsextremen „Organisation Consul“ verübt worden waren, aber auch von Mitgliedern und Sympathisanten der NSDAP. Gemeinsam war ihnen ein aggressiver Antisemitismus, die Ablehnung linker, insbesondere marxistischer Gruppierungen, die ebenfalls als „jüdisch“ betrachtet wurden, und nicht zuletzt die „Judenrepublik“ selbst.24 Der Mord am USDP-Fraktionsvorsitzenden im Bayerischen Landtag, Karl Gareis, im Juni 1921 konnte noch als anti-marxistische Tat gedeutet werden, die Ermordung von Matthias Erzberger im August 1921 hingegen richtete sich erstmals gegen einen Repräsentanten der Republik, der zudem ein rechts stehender, noch dazu katholischer Spitzenpolitiker (Zentrumspartei) war.25 Eine daraufhin erlassene Notverordnung zum Schutz der Republik führte zur Enttarnung der „Organisation Consul“, machte aber auch deutlich, wie leicht die Länder – in diesem Fall Bayern – Reichsbeschlüsse blockieren konnten. Mit Ende des Jahres wurde die Notverordnung wieder aufgehoben, um nun nach dem Attentat auf Rathenau in neuer Form – diesmal als „Gesetz zum Schutz der Republik“ – wieder eingeführt zu werden.26 Die Verabschiedung des Gesetzes bedurfte der Zustimmung der Länder und des Reichstags, zudem war eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, weil damit auch die verfassungsrechtlich garantierte Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit beschränkt wurde. Es waren zwar einige Zugeständnisse an die Oppositionsparteien erforderlich, dennoch kann das sogenannte Republikschutzgesetz als breites Votum für die Republik interpretiert werden. Anschütz schließt sich mit seiner Rede diesem Republikschutz-Gedanken an. Sie ist ein Plädoyer für die demokratische Republik und ein Aufruf, die Kritik an der Verfassung zugunsten einer Auslegung zurückzustellen, die sie als politischen Konsens und als Basis für zukünftige Entwicklungen versteht. In ihrer Eigenschaft als Rede ist sie per se ein Sprechakt, der diese Basis und Zustimmung nicht einfach beschreibt, sondern selbst herstellen will. Ob er geglückt ist, bleibt zu be23 24 25 26
Büttner 2008, S. 190. Ebd., S. 188. Ebd., S. 191. Ebd., S. 191.
„Der Staat, das sind wir“
147
zweifeln. Denn zum ersten Mal in der Geschichte der Universität Heidelberg wurde die Rede des Rektors von lauten Missfallensäußerungen begleitet.27 2. DIE REKTORATSREDE ZWISCHEN WISSENSCHAFTSKOMMUNIKATION UND POLITIK Rektoratsreden waren rituelle Reden des neuen oder scheidenden Rektors einer Universität, in der dieser entweder einen Fachvortrag aus der eigenen Disziplin hielt, um sie einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen, oder grundsätzlich den Standort der Universität in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik zu bestimmen suchte.28 Sie sind also Teil einer Art von Wissenschaftskommunikation, aber auch gesellschaftspolitische Standortbestimmungen, wobei die Gewichtung dem Redner, also dem Rektor, obliegt. Anschütz bezeichnet die Rede als Pflicht des Rektors, „über einen Gegenstand seines Lehr- und Arbeitsgebiets zu sprechen“ (1), womit er die Komponente der Wissenschaftskommunikation hervorhebt. Sie ist aber auch eine politische Stellungnahme. Anschütz hat aus seiner politischen Einstellung nie einen Hehl gemacht. Er war Sympathisant der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die schon 1917 und 1918 an den letzten beiden Regierungen des Kaiserreichs beteiligt war. 1924 unterzeichnete er mit weiteren 15 Kollegen aus Heidelberg einen Wahlaufruf der DDP. Mit seiner politischen Haltung stand Anschütz an der Universität Heidelberg also nicht alleine da.29 Während sich einige Fakultäten völlig aus der Politik heraushalten wollten,30 waren die zunehmend interdisziplinär arbeitenden Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschafter großteils von einer öffentlichen Verpflichtung überzeugt: „Von den etwa sechzig Lehr-stuhlinhabern hat sich in den zwanziger Jahren fast ein Viertel an Kundgebungen und Manifesten zugunsten der Reichsverfassung und gegen die rechtsextreme Radikalisierung beteiligt oder ist auf andere Weise mit Wort und Schrift für den bestehenden Staat eingetreten.“31 Dementsprechend galt Heidelberg als „Musteruniversität der Republik“.32 Anschütz’ Rektoratsrede zeigt ein praxisorientier27 Wolgast 1986, S. 128. 28 Vgl. Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: Rektoratsreden im 19. und 20. Jahrhundert – Online Bibliographie. Unter: http://www.historischekommission-muenchen-editionen.de/rektoratsreden/, download am 13.10.2011. 29 Vgl. Wolgast 1986, S. 127. Auch die beiden Nationalökonomen und Wirtschaftshistoriker Max Weber und Eberhard Gothein, der Kultursoziologe Alfred Weber, der Theologe Martin Dibelius, der Psychologe und Philosoph Karl Jaspers sowie der Mediziner und Psychologe Willy Hellpach, der sich politisch vor allem in der Bildungspolitik profilierte und 1925 zur Wahl des Reichspräsidenten kandidierte, standen der DDP nahe. Andere Universitätslehrer in Heidelberg sympathisierten mit der Sozialdemokratie. Gustav Radbruch und Emil Lederer etwa waren Mitglieder der SPD. 30 Mit Ausnahme von Dibelius (Hellpach war Mitglied der Philosophischen Fakultät) enthielten sich Theologen, Mediziner und Naturwissenschafter jeglicher politischer Stellungnahme, vgl. ebd., S. 128. 31 Ebd., S. 127. 32 Ebd.
148
Marion Löffler
tes Verständnis von Wissenschaft, die in der Demokratie eine neue gesellschaftliche Relevanz haben solle, sowie den Versuch, die liberale Tradition der Universität Heidelberg aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Republik zu erneuern. 3. DIE WEIMARER REICHSVERFASSUNG ALS GEGENSTAND DER REDE Anschütz’ Rede ist vor dem Hintergrund zu lesen, dass die Weimarer Verfassung sowohl politisch als auch rechtswissenschaftlich umstritten war. Die WRV galt als „offener Kompromiss“33 zwischen den politischen Lagern, war teilweise ambivalent, in sich widersprüchlich, lückenhaft und dementsprechend auslegungsbedürftig.34 Schon während des Krieges hatte sich die spätere „Weimarer Koalition“ zu formieren begonnen.35 Ihr Ziel war eine Demokratisierung der Politik, und in diesem Sinn wurde dem monarchisch-bürokratischen „Obrigkeitsstaat“ der „Volksstaat“ entgegengesetzt. Obrigkeitsstaat meinte einen bürokratischen Anstaltsbetrieb mit dem Kaiser an der Spitze (monarchische Souveränität), dessen elitäre Regierung von der Gesellschaft vollständig getrennt ist und der einem Volk von Untertanen gegenübersteht. An dieser Staatskonzeption orientierte sich auch der Rechtspositivismus der „Gerber-Laband-Schule“36. Der Begriff des Volksstaats hingegen war ein vorrangig soziologisch verstandenes Konzept, das sich an der Vorstellung organischer Gemeinschaftlichkeit und Selbstverwaltung des Volkes orientierte. Rechtstheoretisch wurde diese Vorstellung vor allem von Otto von Gierke mit seiner Genossenschaftslehre vertreten, der jedoch den Volksstaat vom Obrigkeitsstaat strikt getrennt halten wollte. Die Forderung einer Demokratisierung zielte nun auf eine Aufhebung dieser klaren Trennung, was aber auf verschiedene Weise realisiert werden konnte. Während Hugo Preuß an Gierke orientiert im Staat eine reale Verbandspersönlichkeit sehen wollte und somit auf eine Demokratisierung des Volkes zielte,37 blieb bei Anschütz der Staat eine juristische Person, dessen zentrales Element seine „Willensfähigkeit“ und damit die Staatsgewalt ist. Demokratisierung meint dann Partizipation des Volkes an der Bildung des Staatswillens. Dementsprechend favorisierte er zunächst eine konstitutionelle Monarchie, die bereits mit der Parlamentarisierung der Reichsverfassung im Oktober 1918 erreicht schien.38
33 34 35 36
Peukert 1987, S. 46. Vgl. Groh 2010, S. 52. Llanque 2009, S. 149. Anschütz war in der Gerber-Laband-Schule sozialisiert. Diese steht synonym für den traditionellen Rechtspositivismus. Ausgehend von Karl von Gerber mit seiner positivistischen Beschreibung des Staatsrechts und seinem Hang zu abstrakter Interpretation wurde er in einen Gesetzespositivismus gewandelt, der nach Paul Laband die Staatsrechtslehre von allen nichtjuristischen Inhalten befreien sollte. Groh 2010, S. 47. 37 Preuß propagierte ein verantwortungsvolles bürgerliches Bewusstsein, dem bereits Parallelen zu neueren Konzeptionen von Zivilgesellschaft nachgesagt werden. Vgl. ebd., S. 32. 38 Vgl. Peukert 1987, S. 13.
„Der Staat, das sind wir“
149
Mit Kriegsende war die Überführung der Monarchie in eine Republik weitgehender Konsens. Doch die unmittelbare Revolutionsphase 1918/19 und die Rätebewegung empfand das bürgerliche Lager als abschreckend. Auch Anschütz rückte in dieser Zeit kurzfristig von seiner Vorstellung einer Demokratisierung der Politik ab.39 Da die WRV letztlich von der durch allgemeine Wahlen demokratisch legitimierten Nationalversammlung verabschiedet worden war, wurde Anschütz wieder Volldemokrat und machte sogar, im Krisenjahr 1922, eine Verteidigung dieser umstrittenen Verfassung zum Gegenstand seiner Rektoratsrede. Als problematisch an der WRV galt der Dualismus zwischen Reichstag und Reichspräsident, die beide direkt gewählt und damit auch direkt vom Volk legitimiert waren.40 Der Reichspräsident sollte das monarchische Prinzip, der Reichstag das republikanische Prinzip verkörpern. Die Position der Regierung blieb aber wie schon im Kaiserreich eingezwängt zwischen Parlament und Reichsoberhaupt. Der „Volkswahlpräsident“41 ähnelt durchaus dem von Max Weber ersehnten charismatischen politischen Führer, den dieser vor allem deshalb für die künftige Staatsform favorisiert hatte, damit man der Parteibürokratie, die das Parlament beherrschte, entkommen konnte. Zugleich war aber mit der Entscheidung für ein Verhältniswahlrecht indirekt eine Entscheidung für die Parteien gefallen, die im Verfassungstext nicht eigens erwähnt sind, faktisch aber den Parlamentarismus gestalten sollten.42 Neben Direktwahl von Präsident und Reichstag gab es weitere plebiszitäre Komponenten der WRV – nämlich Volksbegehren und Volksentscheid, die zwar selten eingesetzt wurden,43 aber ebenfalls als Gegengewicht zur parlamentarischen Parteienherrschaft interpretiert wurden. Marcus Llanque nennt sie dementsprechend ein „strukturelles Misstrauensvotum gegen die befürchtete Vorherrschaft der politischen Parteien“.44 Im zeitgenössischen Diskurs wurden die plebiszitären Verfassungskomponenten aber vorzugsweise als Zeichen für Demokratie interpretiert. So bezeichnet auch Anschütz den Volksentscheid als „höchste und letzte Entscheidung“ (24) und in diesem Sinn als Ausdruck des Volkswillens, sollte dieser von den gewählten Repräsentanten nicht verwirklicht werden. Ein weiterer Problemknoten der WRV war die Entscheidung für den Föderalismus bei gleichzeitiger Stärkung zentralstaatlicher Kompetenzen. Der hier entstandene Interpretationsspielraum bildet den zentralen Gegenstand der Rede von Anschütz. Denn neben der Demokratie sind es vor allem die „Staatlichkeit
39 Vgl. Groh 2010, S. 44. Anschütz ortet auch in den Arbeiter- und Unternehmerverbänden sowie in der „Macht der Straße“ die zentralen Rivalen der Staatsgewalt. Anschütz 1923, S. 2. Diese Fixierung auf eine linke Bedrohung ist insofern erstaunlich, als selbst Reichskanzler Wirth in seiner Trauerrede anlässlich der Ermordung Rathenaus deutlich gemacht hat, von welcher Seite die Republik am stärksten bedroht wird: „Darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts.“ Wirth zit. n. Büttner 2008, S. 191. 40 Peukert 1987, S. 49. 41 Weber 1988, S. 129. 42 Vgl. Peukert 1987, S. 48. 43 Vgl. ebd., S. 50. 44 Llanque 2009, S. 151.
150
Marion Löffler
des Reichs“ und der „Unitarismus“, die er als Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung formuliert (5). In seiner Diskussion der WRV macht sich Anschütz deren offenen Charakter zunutze. Er geht davon aus, dass sie ihre Wirksamkeit erst in der Zukunft praktisch entfalten und in diesem Prozess auch selbst weiterentwickelt wird (18).45 Dazu sei es aktuell nicht erforderlich, sie zu reformieren, sondern zunächst seien ihre Grundprinzipien im politischen Handeln zu verinnerlichen. Sie sind Leitgedanken im Sinn von Ideen, die über oder hinter dem konkreten Verfassungstext stehen und diesen in seiner politischen Umsetzung anleiten sollen. Aufgabe der Staatsrechtswissenschaft ist es, diese zu entdecken und zu bewahren. Dementsprechend versichert Anschütz am Ende seiner Rede, dass er diese Ideen „so wahr mir Gott helfe, nicht in die Verfassung hinein-, nur aus ihr herausgelesen habe“ (32). Sie sind aber auch Leitgedanken im Sinn von Wegweisern, die vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat führen sollen. Demnach haben sie als politische Orientierungspunkte zu fungieren. Dies können sie, weil sie selbst als politischer Kompromiss zu deuten sind. „Sie [die Leitgedanken] sind gut, weil sie unsern innern Machtverhältnissen entsprechen und weil sie die politischen Anschauungen der Mehrheit unseres Volkes unverfälscht widerspiegeln.“ (32) 4. RHETORISCHE VERFASSTHEIT Im Folgenden soll beleuchtet werden, wie Anschütz seine Verteidigung der Verfassung rhetorisch ausformuliert. Unter Rhetorikanalyse verstehe ich hier die Untersuchung der Äußerungsakte – d.h. die Analyse der Art und Weise, wie durch „Übersetzung, Übertragung, Wendung, Ersetzung, Verschiebung, Überkreuzung und Auseinandersetzung“46 Bedeutung generiert und daher der Gegenstand der Rede wesentlich mitkonstituiert wird. Im konkreten Fall sind es die Grundprinzipien der WRV, die Anschütz hervorheben möchte, faktisch aber in seiner Rede erst konstruiert. Für die Analyse orientiere ich mich an Hayden White, der in seinem Buch Metahistory47 einen analytischen Rahmen entwickelt hat, mit dem er die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts analysiert hat. Wie ich zeigen werde, ist er auch für die disziplinären Probleme der Rechts- und Sozialwissenschaften des frühen 20. Jahrhunderts adaptierbar. Nach White sind Geschichtsschreibung und -philosophie poetische Tätigkeiten, zumal die gesammelten Fakten (der Chronos) erzählt werden müssen, was auch literarische Fähigkeiten erfordert. Die narrative Strukturierung – emplotment – erfolgt in den klassischen Formen der Erzählung als Romanze, Tragödie, Komödie oder Satire, die mit je spezifischen Formen des Argumentierens verbunden 45 Anschütz bezeichnet die WRV an dieser Stelle als „elastisch“ und „weitmaschig“, was eine Weiterentwicklung erlaube, ohne dafür einer formellen Änderung zu bedürfen. 46 Hetzel 2011, S. 22. Aus Sicht der Rhetorik zeichnet sich eine Rede durch ihre Adressiertheit, ihre Wirksamkeit, ihre Figurativität und ihre Performativität aus. Ebd., S. 13. 47 White 2008.
„Der Staat, das sind wir“
151
sind und Rückschlüsse auf ideologische Implikationen zulassen.48 Das „historische Feld“ – d.h. alle Elemente, Personen, Ereignisse, Dokumente, zeitgenössische Begriffe und einfache Geschichten (Fabeln), die in einer derartigen Erzählung vorkommen sollen – muss jedoch zunächst vorstrukturiert und damit als Gegenstand der geistigen Wahrnehmung konstituiert werden. Dies dient dazu, (analytische) Begriffe zu generieren – d.h. eine eigene Sprache zu entwickeln oder zumindest anwenden zu können, die nicht die Sprache der Quellen ist. „Durch den poetischen Akt, der den formalen Analysen vorangeht, bringt der Historiker seinen Untersuchungsgegenstand hervor und legt gleichzeitig vorab die begriffliche Strategie fest, der er sich bei seinen Erklärungen bedienen will.“49 Die historischen Fakten usw. werden also in ein sprachliches Protokoll überführt, das sich durch den dominant zum Einsatz kommenden Tropus charakterisieren lässt. White orientiert sich an vier Grundtropen: Metapher (Übertragung) im Sinn von Analogie und Vergleich, Metonymie (Namenswechsel) im Sinn von Teil-zu-Teil-Beziehungen, Synekdoche, bei der ein Teil eine Qualität des Ganzen symbolisiert, und schließlich Ironie, die auf der bildlichen Ebene negiert, was auf der wörtlichen als positive Aussage erscheint.50 Obwohl White die Auswahl der zum Einsatz kommenden Tropen als vorwissenschaftliche, vorkritische und vor allem vorbegriffliche Tätigkeit betrachtet, die dem common sense bzw. einem alltäglichen Sprachgebrauch näher steht als einer wissenschaftlichen Terminologie, präfiguriert sie die im Erkenntnisprozess kognitiv schwierig zu erfassenden Erfahrungsbereiche, um sie zu beschreiben und zu erklären.51 Tropen sind nicht nur sprachliche Operationen, sondern zugleich Erklärungsparadigmen. D.h. das Protokoll bzw. die sprachliche Aufbereitung des Materials legt bereits eine bestimmte Art der Argumentation nahe. So ist die Metapher darstellend und fördert eine formativistische Argumentation, die Metonymie wirkt reduktionistisch und eignet sich daher für mechanistische Erklärungen, während die Synekdoche integrativ ist im Sinn des Organizismus. Die Ironie hingegen stellt die Fähigkeit der Sprache, die Dinge in figurativen Ausdrücken erfassen zu können, in Frage. Ironisches Sprechen setzt daher Metaphern, Metonymien und Synekdochen ein, um ihre Unangemessenheit vorzuführen. Dies führt insofern zu einer kontextualistischen Argumentation, als Ironie die Kenntnis eines
48 Vgl. ebd., S. 48. White betrachtet die häufigen Kombinationen z.B. von Komödie mit organizistischer Art der Argumentation und konservativer ideologischer Implikation oder von Satire mit kontextualistischer Art der Argumentation und liberaler Ideologie als Wahlverwandtschaften, die auf deren strukturelle Homologien zurückzuführen sind, nicht jedoch als immer notwendige Kombinationen im Sinn einer Gesetzmäßigkeit. Insofern finden sich auch andere Kombinationen oder Mischformen. 49 Ebd., S. 50. 50 Dies kann als offen widersinnige Bedeutung formuliert werden (Katachresis) oder als paradoxe Bedeutung (Oxymoron), die White beide als Varianten der Ironie betrachtet. Vgl. ebd., S. 51. 51 Ebd., S. 54.
152
Marion Löffler
Kontexts (einer Realität oder nichtfigurativen Erfahrungswelt) voraussetzt, der als Referenz für die Unangemessenheit der figurativen Rede dient.52 4.1. Metaphern von Recht und Politik In der Rede von Anschütz lassen sich zwei Bezugssysteme ausmachen, die er mit verschiedenen Metaphern zu erfassen sucht. Das eine ist das Staatsrecht, das andere die politische Gegenwartslage. Wenn Anschütz vom Staatsrecht, vom Verfassungsrecht, von Gesetzen und der Rechtslehre spricht, bedient er sich konsequent der Bildersprache der Architektur. Die WRV ist ein „Neubau“, errichtet auf „Fundamenten“, bestehend aus „Bausteinen“ (10) mit einer „Fassade“ und einem „Grundplan“ (25), einer „Schwelle“ (6) und „Einrichtungen“ (16). Dieses Bauwerk ist der Gegenstand der Staatsrechtswissenschaft, deren Aufgabe es ist, „für Klarheit und Ordnung der Begriffe zu sorgen“ (1). Anschütz setzt hier den üblichen Sprachgebrauch der Staatslehre ein, die mit ihrer Professionalisierung im Lauf des 19. Jahrhunderts die Metapher des Lehrgebäudes auch auf das Staatsrecht übertragen hat.53 Das Gebäude als menschliche Konstruktionsleistung ist aber weder fehlerfrei noch ewig. Anschütz’ Gegenwartsdiagnose unterstreicht diese Problematik. Demnach gibt es einen Zusammenhang zwischen der politischen Verfasstheit eines Staates und seiner juristischen Verfassung. „[M]it dem deutschen Staat [ist] auch sein Recht in Unordnung und Verwirrung geraten“ (1). Damit erklärt sich die aktuelle Herausforderung der Staatsrechtswissenschaft, denn Ordnung in die Begriffe eines festen Gebäudes zu bringen, wäre keine Schwierigkeit. Anschütz zeichnet aber einen vollständig zerstörten Zustand des Staatsrechts: „Neben stehengebliebenen Resten und Ruinen des Alten sehen wir in wachsender Fülle neue Bildungen, die zum Teil unvollendeten Rohbauten, selbst wieder Ruinen gleichen“ (1). Das Gebäude des Staatsrechts erweist sich somit als nicht nur instabil, sondern geradezu als eingestürzt. Zur Beschreibung der politischen Realität setzt Anschütz ein anderes Bildrepertoire ein, und zwar das eines kranken und verwundeten Menschen. Das Staatsgebäude wird ersetzt durch das „todkranke Staatswesen“, das „machtlos, arm und elend gemacht“ wurde, indem ihm „untragbare Lasten aufgebürdet“ und das ganze „Staatsleben“ unter „Kontrolle und Bevormundung“ gezwungen wurden, sodass der „nach außen ohnmächtige Staat“ auch von innerstaatlichen Widersachern bedroht ist, die ihm „über den Kopf zu wachsen drohen“ (2). Der Zustand des öffentlichen Rechts erscheint nun als „Symptom der Krankheit“ des Staatswesens.
52 Formativismus und Kontextualismus sind Argumentationsstrategien der Geschichtsschreibung, die vor allem der empirischen und faktischen Materiallage gerecht werden wollen. Mechanismus und Organizismus hingegen werden eher der Geschichtsphilosophie zugezählt. Sie suchen stärker nach Gesetzmäßigkeiten des Geschichtsprozesses. Vgl. ebd., S. 29ff. Zur Wahlverwandtschaft zwischen Vorstrukturierung des Geschichtsfeldes und den Erklärungsstrategien siehe auch ebd., S. 554. 53 Vgl. Kreisky/Löffler/Zelger 2011, S. 12.
„Der Staat, das sind wir“
153
4.2. Recht und Politik im metonymischen Protokoll Obwohl Anschütz diese beiden Realitäten, die des Rechts und die der Politik, metaphorisch darstellt, indem er quasi in Gleichnissen spricht, so ist dennoch das rhetorische Verfahren, das er hierbei einsetzt, als metonymisch zu qualifizieren. Denn er versucht nicht Recht und Politik in seinen Bildern von Architektur und Krankheit zu erfassen, sondern reduziert den Staat im Bereich des Rechts auf das Staatsrecht und im Bereich der Politik auf Souveränität bzw. auf die Staatsgewalt. In seinem Problemaufriss der Rede verfertigt Anschütz also ein metonymisches Protokoll. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als der Rechtspositivismus eine Form von Wissenschaftlichkeit etabliert hat, in der ein metonymischer Sprachgebrauch Usus ist. Die damit angeregte mechanistische Argumentation wendet Anschütz jedoch nur bei der prinzipiellen Diskussion des Verhältnisses von Unitarismus und Föderalismus an. Hier argumentiert er mit der Metapher einer Waage, die Zentralgewalt (Reich) und partikulare Gewalten (Länder) trägt und entweder starkes „Übergewicht“ in eine Richtung haben kann oder in die andere „gravitiert“ (13). Entsprechend hat der Unitarismus ein „föderalistisches Gegengewicht“ (24). Sie sind aber nicht im Gleichgewicht, weil – und hier bricht die mechanistische Erklärung ab – „die Grundstimmung der Revolution“ unitarisch war. D.h. ein Gleichgewicht oder gar ein ausgeprägter Föderalismus war nicht die politische Absicht der verfassungsgebenden Nationalversammlung, was eine Rechtsinterpretation, die sich lediglich auf den manifesten Gesetzestext konzentriert, übersehen könnte. Dieses Argument ist kontextualistisch, indem es den Bereich der Politik (der Gesetzgebung) zum Kontext für die Verfassungsinterpretation (des Rechts) macht. Die Frage nach der Absicht des Gesetzgebers kann als gängige juristische Praxis betrachtet werden, ist aber im streng rechtspositivistischen Verständnis nicht Aufgabe der Staatsrechtslehre. Wie kommt Anschütz nun zu seiner kontextualistischen Wende? Tatsächlich überführt er sein metonymisches Protokoll in eine Erzählung vom „Siegeszug des demokratischen Gedankens“ (21), die – wie noch zu zeigen ist – die Form einer satirischen Komödie annimmt. In der Erzählung der deutschen Verfassungsgeschichte müssen die getrennten Sphären von Recht und Politik überbrückt werden, was voraussetzt, beide auch zu durchblicken. Figurativ wendet Anschütz für diese Aufklärungsarbeit mehrfach die Metapher eines Bildes an, das „verschleiert“ (9) wurde und dessen „Entschleierung“ (8) das „dahinterstehende Bild“ (9) – „das Bild des Staates“ (11) – zeigt.54 Aufgabe der Staatsrechtswissenschaft ist es demnach, eine Wahrheit offenzulegen, die nicht im Gesetzestext manifest ist. Diese Veränderung rechtswissenschaftlicher Tätigkeit erklärt sich aus dem Konflikt zwischen Recht und Politik, die nicht nur miteinander versöhnt, sondern zugleich gerettet werden müssen. Dies wird deutlich, wenn die eingangs aufgespannten Metaphernfelder zu Schauplätzen und Handlungsträgern einer Erzählung werden. 54 Das verschleierte Bild, das zu entschleiern ist, ist keine einfache Metapher mehr, sondern in der Terminologie von White eine Fabel, d.h. eine einfache Geschichte, die Anschütz der klassischen Ideologiekritik entlehnt.
154
Marion Löffler
Die Gesetzgebung, die eigentlich das Rechtsgebäude bauen sollte, arbeitet „fieberhaft“ und schafft keine Bausteine, sondern „ein Heer wankender Gestalten“ (1). Eine Rechtswissenschaft, die sich darauf konzentriert, Ordnung und Klarheit in die Begriffe zu bringen, muss also an dem Chaos verzweifeln, das die Politik bzw. die Gesetzgebung permanent anrichtet. Den schöpferischen Akt, aus dem Chaos einen Kosmos zu machen (1), kann das an Souveränitätsverlust erkrankte Staatswesen nicht vollführen. Damit ändert sich aber die Rolle und Funktion der Staatsrechtswissenschaft. Das Staatsgebäude ist demoliert, das Staatswesen ist krank und verwundet und zu guter Letzt ist auch die Idee des Staates von dieser tödlichen Krankheit affiziert: „All das zusammengenommen gibt das trübe Bild einer Krisis des Staatsgedankens, deren weiterer Verlauf und Ausgang noch ganz im Dunkeln liegt.“ (2, Herv. i. Orig.) Im Krankheitsverlauf ist die Krisis der Wendepunkt, von dem an entweder eine Genesung erfolgt, oder der Tod eintritt. Der Ausgang liegt im Dunkeln, die Zukunft ist ungewiss. Aber Anschütz will einen „hemmungslosen Pessimismus“ vermeiden, und stattdessen das „letzte Gut“ verteidigen, das noch geblieben ist und zugleich „das höchste Gut“ ist, das ein selbstbewusstes Volk hat: „[D]ieses höchste Gut ist die staatliche Organisation unsrer nationalen Einheit, unser Reich“ (3, Herv. i. Orig.). Das Reich ist nicht nur von außen bedroht, namentlich von der französischen Politik, sondern auch von innen durch „Reichsverderber […], die den Reichsgedanken herabwürdigen, weil ihnen die jetzige Reichsverfassung nicht gefällt“ (3, Herv. i. Orig.). Wie in den Wendungen „höchstes Gut“ und „herabwürdigen“ deutlich wird, verlässt Anschütz die Bilderwelt der Medizin und Krankheit, begibt sich auch nicht zurück zum einstürzenden Gebäude des Staatsrechts, sondern vollzieht einen Wechsel ins Religiöse55 – in eine Welt der Ideen und Gedanken. Die drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung sind dann auch nicht Fundamente des Staatsgebäudes, sondern dahinterstehende Ideen. Aufgabe des Rechtswissenschafters ist es nun, nicht mehr nur Ordnung in die Begriffe zu bringen, sondern diese Ideen zu schauen, wahr zu sprechen und die Bedingungen einer wünschbaren Zukunft zu definieren. Politisch ist diese Tätigkeit, sofern es gilt, die einmal als wahr erkannten Ideen zu verteidigen und zu bewahren. Anschütz, dem wenig philosophisches Talent attestiert wird,56 vollzieht mit dieser Rede einen Wandel vom Rechtspositivisten zum Propheten. Es scheint, als könnten die disparaten Realitäten von Recht und Politik nur metaphysisch vermittelt werden.
55 Unter dem „Religiösen“ in Anschütz’ Rede verstehe ich nicht die manifesten Wendungen, die er einsetzt. Wenn er von einem „Bekenntnis“ spricht und sagt, „ich bekenne […]“ (Anschütz 1923, S. 17), dann tut er dies regelmäßig, um seine politische Meinung im Unterschied zu seiner wissenschaftlichen Erläuterung der Wahrheit zu markieren. Ich meine vielmehr, dass gerade in seinen wissenschaftlichen Aussagen ein religiöser oder zumindest metaphysischer Gehalt steckt. 56 Groh 2010, S. 46.
„Der Staat, das sind wir“
155
4.3. Die Verfassungsgeschichte als Komödie mit synekdochischem Protokoll Die Programmatik des Bewahrens der Leitgedanken der WRV und damit des Erhalts des Reichs als Nationalstaat gibt der gesamten Rede eine konservative ideologische Aufladung, die zudem mit der wiederkehrenden Wendung „Pflicht und Dienst“57 verstärkt wird. Konservative Implikationen sind nach den Beobachtungen von White meist verbunden mit der Erzählstruktur einer Komödie sowie mit einer organizistischen Art der Argumentation.58 Zudem ist es die intrinsische Sprache eines synekdochischen Protokolls, die einen Organizismus begünstigt.59 Die Beschreibung der Staatsorganisation in Analogie zu einem Organismus mit Teilen, die wie Gliedmaßen oder Organe eines Körpers funktional für das Ganze sind, entspricht einem staatstheoretischen Sprachgebrauch, der insbesondere für soziologische Staatsverständnisse zum Einsatz kommt und mit der Diskussion des „Volksstaats“ besonders relevant wurde. Auch im engeren rechtspositivistischen Sprachgebrauch sind ähnliche Körper- und Subjektmetaphern durchaus üblich, die jedoch wie z.B. die Begriffe „Körperschaft“ und „Staatsorgane“ als tote Metaphern zu betrachten sind. Der metaphorische Ursprung staatstheoretischer Termini macht es aber erforderlich jeden Text auf den rhetorischen Einsatz dieser Begriffe hin zu beleuchten. Obwohl nach White eine organizistische Argumentation am ehesten den konservativen Tenor der Rede von Anschütz erklären könnte, wendet Anschütz organizistische Strategien kaum an. Lediglich seine Erläuterung des Verhältnisses der Länder zum Reich folgt diesem Muster. Dabei geht es ihm – vor allem gegen Bayern gerichtet – darum, die Unterordnung der Länder zu argumentieren, und letztlich identifiziert er sogar föderalistische Forderungen als zentrale Bedrohung des Reichs: „Das Reich ist uns lebensnotwendig, sein Bestand eine Lebensfrage, über die sich nicht diskutieren lässt.“ (17) Indem er diese Verteidigung des Reichs als Postulat vorträgt und als quasi-religiöses „Bekenntnis“ ausweist, wird deutlich, dass er die organizistische Staatsmetaphorik nicht als Argumentation einsetzt, mit der er auch überzeugen wollte. Die „Lebensfrage“ bezieht er vorrangig auf das „kranke Staatswesen“ und im Weiteren auf den demokratischen „Volksstaat“. Sofern Anschütz ein Organizismus nachgesagt werden kann, so steckt dieser in der Betonung von Ideen, in denen „das Ziel, auf das sich der Prozess als Ganzes zubewegt“, bereits präfiguriert ist.60 Das konservative Element bei Anschütz kommt also nicht in organizistischen Körpermetaphern zum Ausdruck, sondern resultiert aus seinem Traditionalismus, der darin besteht, die Kontinuität zu betonen und die revolutionäre Erneuerung „nicht so sehr als einen Umsturz, denn als eine historische Fortentwicklung, Fortbildung der Verfassung des Kaiserreichs 57 Zu Beginn seines Vortrags bezeichnet Anschütz die Rede selbst als eine Pflicht, die Länder nennt er dienende Glieder eines Bundesstaates und letztlich ruft er zur pflichtbewussten Mitarbeit am Staat auf. Siehe Anschütz 1923, S. 1, S. 18, S. 31. 58 White 2008, S. 48. 59 Ebd., S. 55. 60 White 2008, S. 31.
156
Marion Löffler
[…] erscheinen zu lassen“.61 In seiner Rede setzt er dies in Form einer Verfassungsgeschichte um, deren Erzählstruktur insofern als Komödie qualifiziert werden kann, als sie in einer harmonischen Versöhnung widerstreitender Kräfte gipfelt, die als unvereinbar galten, sich letztlich aber in einer dialektischen Synthese vereinen und die Gesellschaft in einen besseren und vernünftigeren Zustand versetzen.62 Die WRV steht für Anschütz am Ende einer Chronologie der Verfassungen, die er auf drei Ereignisse reduziert: die Frankfurter Verfassung von 1849, die Bismarcksche Reichsverfassung von 1871 und schließlich die Weimarer Verfassung von 1919. Dabei bedient er sich eines diachronischen oder prozessualen Erzähltypus, der nach White den Sinn für strukturellen Wandel unterstreicht.63 Anschütz entwickelt aber keine lineare Erzählung eines steten Fortschritts. Seine Staats- und Verfassungsgeschichte beginnt mit der Versammlung in der Paulskirche, deren Verfassungsentwurf scheitern musste, weil es nicht gelang, einen Staat herzustellen. Der Staat wurde sodann vom „Reichsgründer“ Bismarck geschaffen. Damit wurde in Anschütz’ Einschätzung zwar ein Staat im Sinn eines Nationalstaats konstituiert, in der Ausgestaltung fiel diese Verfassung jedoch hinter die von 1849 zurück. Erst die WRV konnte wieder an die Tradition der Bürgerlichen Revolution anknüpfen und eine demokratische Republik in Form eines demokratischen Nationalstaats errichten. Die Leistung Bismarcks sei es gewesen, den Traum vom Nationalstaat verwirklicht zu haben, der in der Paulskirche geträumt worden war. Somit habe die konstituierende Nationalversammlung im Schauspielhaus zu Weimar einen Startvorteil gehabt: Denn „die Aufgabe der Weimarer Verfassung war nur die, dem bestehenden Reich an Stelle seiner alten, durch die Revolution zerbrochenen Verfassung eine neue zu geben“ (4). Die WRV ist damit zwar ein Neubau des Rechts, aber kein Neubau des Staates. Hier nimmt nun die diachronische und prozessuale Erzählweise ein Ende und mündet in einer Verhältnisbestimmung der drei Verfassungen, die der historischen Entwicklung, dem Chronos, widerspricht. Die „Verwandtschaft“ (5) zwischen den Verfassungen beschreibt Anschütz als gegenseitige Nähe und Distanz. Demzufolge ist die Weimarer Verfassung näher der Frankfurter. Beide sind der Ausdruck eines „nationalen Willens“ im Gegensatz zur Bismarckschen Verfassung. Bismarck „steht den Frankfurtern […] näher als denen von Weimar“, ist aber von beiden „meilenfern“ (5). Die Distanz bemisst Anschütz an den Leitgedanken. Insofern erzählt Anschütz seine Verfassungsgeschichte tatsächlich auf Basis eines synekdochischen Protokolls. Die Verfassungen werden mit der Qualität ihrer Leitideen in eins gesetzt und diese Qualitäten werden zu den zentralen Handlungsträgern der Komödie. Demokratie und Unitarismus der WRV stehen laut Anschütz in scharfem Gegensatz zur Bismarckschen Reichsverfassung. Obwohl er
61 Anschütz schreibt dies in seinen Memoiren Aus meinem Leben (hrsg. v. Walter Pauly 1993, S. 287), hier zit. n. Groh 2010, S. 46. 62 White 2008, S. 23. 63 Ebd., S. 25.
„Der Staat, das sind wir“
157
die Staatlichkeit des Reichs in ebenso große Distanz setzt, ist sie es, die es für Anschütz zu bewahren gilt. Die WRV selbst wird zum Versöhnungsfest der widerstreitenden Ideen der vorangegangenen Verfassungen. In ihr wird die Idee der nationalen Selbstbestimmung im Verfassungsentwurf von 1849 mit der von Bismarck autoritär verordneten Idee der Staatlichkeit des Reichs versöhnt. Doch diese Versöhnung im Werk von Weimar konnte noch nicht politische Wirklichkeit werden, weshalb die Gesellschaft auch noch nicht in einem besseren Zustand ist. Aber in den Leitgedanken meint Anschütz die Potenzialität einer Zukunft zu erblicken, die noch zu entwickeln ist. An dieser Stelle bricht nun der konservative Tenor der Rede ab, der von einer liberalen Grundposition abgelöst wird. Denn während Konservative dazu neigen, gesellschaftliche Entwicklung als steten Prozess der Ausdifferenzierung institutioneller Strukturen zu begreifen, und nur erstreben, was auch realistisch erscheint, imaginieren Liberale eine Zukunft, die einen radikalen Bruch mit den gesellschaftlichen Strukturen der Gegenwart verspricht. Wesentlich ist aber, dass dies eine so ferne Zukunft ist, dass sie nicht sofort und nicht mit revolutionären Mitteln verwirklicht werden kann.64 Und genau diese liberale Vorsicht ist in Anschütz’ Rede ein dominantes Motiv: Wer die große Idee des nationalen Einheitsstaates hochhält, muss Geduld haben. Und er muss sich bescheiden, wenn er die Verwirklichung seiner Idee nicht erlebt. Wir müssen warten können, und wir können es auch. Denn, darauf vertraue ich, die Zeit arbeitet für uns. Die Dinge werden sich entwickeln, nicht nur um ums, sondern auch in uns. (19, Herv. i. Orig.)
4.4. Die Ironie des Volksstaats Diese Entwicklungsgeschichte bildet einen zweiten Erzählstrang, in der die Bildung des deutschen Nationalbewusstseins und die Idee der Demokratie im Volksstaat vereint werden. Nationalismus ist das Selbstbewusstsein eines Volkes und Demokratie ein Staatsprinzip. Beide Gedanken bezeichnet Anschütz als „Geschwister“, als „Kinder eines Geistes“, d.i. das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, das zum Staat strebt (30). Die „enge Verschwisterung“ der beiden Ideen erhellt für Anschütz, dass sie „im Grunde nur eine“ sind, die Idee des Volkes, sich selbst zu regieren. „Der Nationalismus will diese Einheit herstellen und festigen im Bewußtsein des Volkes, die Demokratie sie betätigen durch den Willen des Volkes.“ Ein Volk „von Brüdern“, das im demokratischen Sinn „einer väterlichen Gewalt nicht untertan“ ist (31f.). Die hier eingesetzte Bilderwelt der Familie und die Fabel der sich emanzipierenden Söhne entsprechen wiederum der liberalen Tradition, von der Anschütz insofern abweicht, als er das damit üblicherweise verbundene Narrativ vom Gesellschaftsvertrag nicht aufnimmt. Mehr noch, er
64 Ebd., S. 41.
158
Marion Löffler
lehnt jegliche Vertragsargumentation (auch konservative) in seinem staatstheoretischen Entwurf ab.65 Mit der Geschichte der im Volksstaat vereinten Brüder versöhnt Anschütz zwei konkurrierende Ideen, die im antiliberalen Diskurs der Zeit als unvereinbar galten: Demokratie im Sinn des westlichen Parlamentarismus einerseits und einen spezifisch deutschen Nationalismus andererseits. Anschütz verweist zwar auf den „Erb- und Todfeind im Westen“ (2), bezieht sich aber durchwegs positiv auf die „großen Demokratien des Westens“ (28) und spricht vom „Siegeszug des demokratischen Gedankens, der sonst [mit Ausnahme von Deutschland] überall in der Welt Throne umwarf und Dynastien vertrieb“ (21). Gleichzeitig will er aber auf den Nationalismus, der gerade von antidemokratischen Kräften erfolgreich vereinnahmt wurde, politisch nicht verzichten. Anschütz spricht von einer „in Deutschland leider sehr verbreiteten politischen Untugend, jener, die es gewissen Parteien gestatten will, Patriotismus und nationale Gesinnung für sich allein in Anspruch zu nehmen und sie den anderen Parteien abzusprechen“ (28f.). Die Kombination der formal-parlamentarischen Demokratie mit einem Nationalismus, der es mit völkischen Argumenten aufnehmen will, lässt Anschütz’ Komödie (wohl eher unbeabsichtigt) ins Satirische kippen. Denn die Unmöglichkeit einer Versöhnung wird erkennbar und der fortschreitende Prozess zu einer vernünftigeren Gesellschaft scheint stillzustehen. Den satirischen Höhepunkt bildet das pathetische Finale der Rede, in dem Anschütz einen „reizbaren und zornigen Nationalstolz“ fordert und zum „Hass des Todfeindes“ (34) aufruft,66 was in krassem Widerspruch zu seiner gemäßigt demokratischen Intention steht. Den demokratischen Volksstaat bringt Anschütz in seiner Gleichung „Der Staat, das sind wir“67 auf den Punkt. Die damit reklamierte Volkssouveränität wird noch deutlicher, wenn er schreibt: „Wir Volk sind nicht mehr Objekt einer Staatsgewalt, die ihre Macht von irgendeinem ‚Oben‘ herleitet, wir sind selbst zum Subjekt der Staatsgewalt geworden.“ (31) Die Einheit von Staat und Volk sowie die Gleichsetzung von Staatsgewalt mit Volkswillen bilden das durchgängige demokratiepolitische Motiv der Rede. Groh meint, dass ihm diese Positionierung des Volkes durch Rückgriff auf Sprachkonventionen einfach passiert sei, denn in seinen juristischen Schriften sei es nie zum Subjekt der Staatsgewalt avanciert.68 Entgegen dieser Einschätzung gehe ich davon aus, dass Anschütz mit der Phrase „wir sind der Staat“ eine rhetorische Strategie verfolgt. Denn die Ineinssetzung von Staat und Volk lässt übersehen, dass Anschütz die Bedeutungsdimensionen seines Volksbegriffs variiert und verschiebt. „Der Staat, das sind 65 So lehnt er die Behauptung ab, Deutschland sei ein Staatenbund im Unterschied zu einem Bundesstaat, weil der Bund zwischen den Ländern nur ein dynastischer, nicht aber ein demokratischer sein könne. Selbst der Bismarckschen Reichskonzeption werde dieser Bund nur „angedichtet“. Vgl. ebd., S. 8ff. 66 Der Todfeind ist unmissverständlich Frankreich, womit Anschütz freilich von inneren Konflikten ablenken will: „Kehrt euren Hass aber nicht gegen eure Volksgenossen und Mitbürger […].“ Anschütz 1923, S. 34. 67 Ebd., S. 30, S. 31 und in abgewandelter Form noch mehrmals im Text. 68 Groh 2010, S. 62.
„Der Staat, das sind wir“
159
wir“, kann als Sprachspiel aufgefasst werden, das aus der Ersetzung des „Ich/moi“ in der absolutistischen Phrase „l’état, c’est moi“ resultiert. Es ist eine rhetorische Pointe gegen den Obrigkeitsstaat. Anschütz ruft zunächst einen romantischen Volksbegriff auf, der der deutschen Nation bestimmte Charaktereigenschaften zuweist: Das deutsche Volk ist ein „leidsames Volk“ (7) mit einer „tiefwurzelnden Neigung, sich durch historische, legitime Gewalten von oben her leiten zu lassen“. Doch es hat „sich dazu aufgerafft, seine Geschicke in die eigene Hand zu nehmen“ (4). Selbst noch den Methodenstreit führt Anschütz auf den deutschen Charakter zurück: „Wir Deutschen lieben es, uns mit der theoretischen Energie, die uns auszeichnet, über die theoretischen Grundprinzipien unseres Staatswesens in die Haare zu geraten.“ (12) Auf der Ebene dieses Volksbegriffs stehen auch die „deutschen Stämme“ in ihrer Pluralität und „farbenreiche[n] Vielgestaltigkeit“ mit ihren je „besonderen landmannschaftlichen Eigenarten“ (15). Diesen quasi-natürlichen Volksbegriff, der einem völkischen Verständnis nahekommt, schließt Anschütz aber aus seiner staatstheoretischen Argumentation aus. „Nicht jedes Volk ist eine Nation, sondern nur dasjenige, welches seiner Einheit und Eigenart bewußt ist.“ (29) Dieses Bewusstsein ist das Nationalbewusstsein bzw. der Nationalismus. Es ist eine politische Subjektivierung des Volkes: Das Nationalbewusstsein „erwacht“, wächst und entwickelt sich weiter (30). Es ist Ergebnis eines politischen Entwicklungsprozesses und keine angeborene Eigenschaft. Die Nation als subjektivisches Volk hat einen Willen – und zwar nur einen Volkswillen. Das ist der Wille zum Staat. Denn gerade weil das Volk (Nation) keine natürliche Einheit ist, muss es seine Einheit im Staat erst herstellen. In diesem Sinn ist das Reich für Anschütz ein Nationalstaat, weil nur im Reich (nicht in den vielgestaltigen Ländern) die deutsche Nation existiert. „Das Reich ist […] die Einheit des deutschen Volkes. Es ist das […] geeinigte deutsche Volk.“ (6) Der nationale Wille zum Staat ist denn auch der einzige objektiv ableitbare Volkswille, den Anschütz anerkennt. Daher war es möglich, dass Bismarck einen Nationalstaat oktroyierte und dennoch den Volkswillen umsetzte. Demokratietheoretisch schließt Anschütz aber auch dieses subjektivische Volk aus. Der Volksstaat als demokratischer Staat basiert nicht auf der Nation, sondern auf einem Volk, das „mündig“ geworden ist (30). Dieses Volk ist wiederum keine Einheit. Der „Gemeinwille des ganzen Volkes“ ist nun gleichbedeutend mit dem „Willen der Mehrheit des Volkes“ bzw. mit dem Willen einer „Volksvertretung“ (23). Das demokratische Volk ist also der Demos bzw. „die Wählerschaft, das Volk in diesem Sinne“ (24). Hier begibt sich Anschütz eindeutig auf die Ebene der parlamentarischen Repräsentativdemokratie. Durch den permanenten Wechsel zwischen den drei unterschiedlich konnotierten Volksbegriffen erzielt die Gleichsetzung von Volk und Staat im Begriff des Volksstaats einen satirischen Effekt. Volksstaat erweist sich als ein strategisch eingesetztes Oxymoron, mit dem Anschütz die Absurdität der völkischen Vorstellung einer identitären Einheit von Volk und Staat vorführt. Denn diese Einheit kann nur ein politischer Kompromiss widerstreitender Kräfte sein, die immer ein gewisses Maß pluraler Gesellschaftlichkeit und politischer Subjektivierung vor-
160
Marion Löffler
aussetzt, nicht jedoch ein natürliches oder gar angeborenes Substrat eines völkischen Geistes. Die demokratiepolitische Konsequenz ist, dass niemand, auch nicht der Staatsrechtswissenschafter, den Volkswillen deuten kann, bevor dieser konkret (z.B. in Wahlen) zum Ausdruck gebracht worden ist. LITERATUR Anschütz, Gerhard, 1923: Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung. Rede, gehalten bei der Jahresfeier der Universität Heidelberg am 22. November 1922, Tübingen. Boldt, Hans, 2000: Demokratie in krisengeschüttelter Zeit. In: Gusy, Christoph (Hrsg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden, S. 608–634. Büttner, Ursula, 2008: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart. Groh, Kathrin, 2010: Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, Tübingen. Gusy, Christoph, 2000: Einleitung: Demokratisches Denken in der Weimarer Republik – Entstehungsbedingungen und Vorfragen. In: Gusy, Christoph (Hrsg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden, S. 11–36. Hetzel, Andreas, 2011: Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie, Bielefeld. Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: Rektoratsreden im 19. und 20. Jahrhundert – Online Bibliographie. Unter: http://www.historische-kommissionmuenchen-editionen.de/rektoratsreden/, download am 13.10.2011. Kocka, Jürgen, 1982: Der „deutsche Sonderweg“ in der Diskussion. In: German Studies Review, Bd. 5, Nr. 3, S. 365–379. Kreisky, Eva/Löffler, Marion/Zelger, Sabine, 2011: Staatsfiktionen. Denkbilder moderner Staatlichkeit. Eine Einleitung. In: Kreisky, Eva/Löffler, Marion/Zelger, Sabine (Hrsg.): Staatsfiktionen. Denkbilder moderner Staatlichkeit, Wien, S. 7–23. Llanque, Marcus, 2009: Mehr Demokratie wagen: Weimar und die direkte Demokratie. In: Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen (Hrsg.): Die Weimarer Verfassung. Wert und Wirkung für die Demokratie, Erfurt, S. 145–159. Peukert, Detlev J. K., 1987: Die Weimarer Republik, Frankfurt a. M. Sontheimer, Kurt, 1994 [1962]: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1919 und 1933, München. Weber, Max, 1988 [1918]: Deutschlands künftige Staatsform. In: ders.: Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden 1918–1920. Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 16, hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Wolfgang Schwentker, Tübingen, S. 97–146. White, Hayden, 2008 [1973]: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. Wolgast, Eike, 1986: Die Universität Heidelberg 1386–1986, Berlin/Heidelberg.
„DIE BAUERNHÄUSER SASSEN DA“ Zum österreichischen Dorfroman um 1930 Wolfgang Straub 1. PRÄLIMINARIEN: GEORG SIMMELS RAUMSOZIOLOGIE Es besteht Übereinkunft in der Forschung, dass sich während der 1920er und 1930er Jahre in der österreichischen Literatur eine Tendenz verstärkte, die eine Dichotomie zwischen Stadt und Land aufbaute. Die antimoderne Heimatliteratur der Zeit habe in einem „Kampf gegen Wien“1 – basierend auf einem Unbehagen durch politische und technologische Revolutionen sowie ökonomische Krisenerfahrungen – ihr Heil in einer unverbrauchten Provinz gesucht.2 Vor dem „Sündenpfuhl“ der Stadt, „als seelenfressender Leviathan verteufelt“, sollte „das Positive des Landlebens und der ländlichen Wertskala Kontur gewinnen“.3 Die Heimat-, Dorf- und Bauernromane4 der Zeit hätten Zivilisationsfeindlichkeit, Antiintellektualismus, „archaisch-unveränderliches Personal wie Magd und Knecht, Hirt und Bauer, Zeitlosigkeit und Immobilität, also Bindung an die Scholle“, zusammengeführt.5 Der Argumentation in räumlichen Kategorien soll in diesem Beitrag gefolgt werden. Es stehen zwei um das Jahr 1930 entstandene Romane im Mittelpunkt, die Fragen der dörflichen Topologie verhandeln. Es war der Soziologe Georg Simmel, der in seinem am häufigsten rezipierten Text, dem 1903 erstmals publizierten Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“, moderne und archaische Gesellschaften in Stadt und Land gegenüberstellte und solche räumliche Kategorien in einen größeren analytischen Zusammenhang brachte. Zentral hierfür ist das Kapitel „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“ aus seiner Soziologie (1908). Die Besonderheit seines Konzepts liegt darin, dass Simmel „sowohl die strukturelle Seite des Raums betont als auch die Hervorbringung des Raums durch menschliche Aktivitäten“.6 Simmels Ausführungen liegen im Folgenden der Analyse der Gemeinwesen in zwei österreichischen Dorfromanen zu Grunde. 1 2 3 4 5 6
Vgl. Schmidt-Dengler 1983, S. 642. Vgl. Bergmann 1970. Strigl 1993, S. 32. Zur Begriffsvielfalt vgl. Plener 1997, S. 9f. Schmidt-Dengler 1983, S. 642. Schroer 2006, S. 78.
162
Wolfgang Straub
Georg Simmel spricht von fünf „Grundqualitäten der Raumform, mit denen Gestaltungen des Gemeinschaftslebens rechnen“7 müssen. In der ersten Kategorie, der „Ausschließlichkeit des Raumes“8, geht er davon aus, dass Raum häufig als Territorium gedacht wird. Diese Vorstellung beruhe auf einer Verschmelzung eines „gesellschaftlichen Gebildes mit einer bestimmten Bodenausdehnung“,9 in der eine Ausschließlichkeit begründet liege: Bestimmte gesellschaftliche Gebilde haben laut Simmel einen Exklusivitätsanspruch auf einen bestimmten Raumteil, allen voran der Staat. Die Stadt hingegen könne über ihre Grenzen hinaus wirken und Bedeutung erlangen.10 Simmels zweite Grundqualität betrifft die Grenze. Er verweist darauf, dass es keine „natürlichen Grenzen“ gibt, sondern die Begrenzung des Raums stets ein sozialer Akt ist: „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“11 Gemeinschaften bedürfen nach Simmel einer Rahmung, einer Abgrenzung nach außen und eines Zusammenschlusses nach innen. Investitionen in den Raum, in Grenzen verschaffen Klarheit, Sicherheit, Stabilität und Übersichtlichkeit der sozialen Verhältnisse.12 Die dritte Grundqualität des Raums nennt Simmel „Fixierung“, die lokale Bindung, womit Fragen der Anwesenheit und der Zugehörigkeit verknüpft sind. Der Soziologe verbindet diese Ausführung mit einer Gegenüberstellung von alten mit modernen Gesellschaften. Neben der Frage der Anwesenheit führt die räumliche Fixierung zu bestimmten Beziehungsformen, die sich um einen „Drehpunkt“, wie Simmel das nennt, um einen Gegenstand, ein Gebäude gruppieren. Besonders wichtig ist dabei das Haus, das – wie früher üblich – mit einem Eigennamen versehen eine „Empfindung räumlicher Individualität“13 hervorrufen könne, das aber auch als Versammlungsstätte denkbar und damit „der räumliche Ausdruck ihrer soziologischen Energien ist“.14 Die vierte Grundqualität stellt das Verhältnis von Nähe und Distanz dar. Simmel expliziert dies erneut anhand des Gegensatzes zwischen einfachen und differenzierten Gesellschaftsformen. Im Dorf herrscht Nähe und soziale Kontrolle vor, hier kann man sich nicht indifferent verhalten, erst in der modernen Großstadt kann man sich die Nichtzusammengehörigkeit des räumlich Nahen vorstellen.15 Für seine letzte Raumqualität – „die Möglichkeit, daß die Menschen sich von Ort zu Ort bewegen“16 – stellt Simmel ein weiteres Mal den Unterschied zwischen einfachen und modernen Sozietäten heraus: Die Möglichkeiten, die in der modernen Gesellschaft durch die 7 8 9 10
11 12 13 14 15 16
Simmel 1992, S. 690. Ebd. Ebd., S. 691. Vgl. ebd., S. 692. „Aus heutiger Sicht“, so Markus Schroer (2006, S. 66), sei es erstaunlich, „dass Simmel diese Annahme nicht auf den Staat überträgt“, sondern die Staatsgrenze bei ihm stets eine absolute Grenze bleibe. Simmel 1992, S. 697. Vgl. Schroer 2006, S. 69. Simmel 1992, S. 711. Ebd., S. 780. Vgl. ebd., S. 717. Ebd., S. 748.
„Die Bauernhäuser saßen da“
163
Kulturtechniken der Kommunikation (z.B. Briefe, Girokonten, Fotografien) geschaffen werden, müssen in der einfachen durch Reisen kompensiert werden. In diesem Abschnitt wägt Simmel über unterschiedliche Stadien der historischen Entwicklung hinweg die Sesshaftigkeit gegenüber dem Nomadentum ab. Für die Untersuchung des Genres Dorfroman erweisen sich Simmels Kategorien als analytischer Rahmen besonders brauchbar. Ausgehend davon wird zu diskutieren sein, wie sich die Frage nach Zugehörigkeit und Beziehungsformen in Bezug auf den Bauernhof, der einen zentralen Raum in den Dorfromanen darstellt, sowie auf institutionelle Räume gestaltet. Weiters interessiert die Perspektive der Autoren auf städtische Phänomene und auf welche Weise Distanzierungsstrategien im dörflichen Umfeld realisiert werden. Besondere Betrachtung erfährt die Bedeutung, die Simmel in der Wechselwirkung zwischen Nähe und Distanz dem leeren Raum zukommen lässt. In der konfliktreichen Menschheitsgeschichte war „der leere, unokkupierte Grenzbezirk“17 als neutrale Zone, als Gebiet, über das niemand verfügt, sehr wichtig – als Distanzierungsraum zwischen zwei Konfliktparteien, aber auch als neutraler Begegnungsraum dieser Parteien. Ein Blick auf die Randzonen, auf die marginalisierten Räume in den Texten, soll klären, ob sich solche Zwischenräume und neutralen Zonen – „bloß Raum und weiter nichts“18 – in den Romanen auftun und welche Funktionen ihnen zukommen. Der zentralen Frage nach räumlichen Strategien des Dorfromans um 1930 wird anhand zweier in den dreißiger Jahren vielgelesener Texte nachgegangen: Karl Heinrich Waggerls Debütroman Brot (1930) und Richard Billingers Die Asche des Fegefeuers (1931). Beide stammen von sogenannten Erfolgsautoren: Billinger war zum Zeitpunkt des Erscheinens des Romans bereits für seine Lyrik (u.a. von Hugo von Hofmannsthal) hochgelobt worden und erlangte nun vor allem als aufstrebender Dramatiker Bekanntheit, 1932 bekam er (gemeinsam mit Else Lasker-Schüler) den renommierten Kleist-Preis für sein Stück Rauhnacht zugesprochen; Waggerl, bislang mit Erzählungen regional wahrgenommen, gelang mit Brot – erschienen im Leipziger Insel-Verlag – der Durchbruch im deutschsprachigen Raum. Sowohl Billinger als auch Waggerl gehörten in der Folge während des austrofaschistischen Regimes sowie in der NS-Zeit zu den vielgespielten und vielgelesenen Autoren, was die Rezeption ihrer Werke maßgeblich beeinflusste.19
17 Vgl. ebd., S. 789. 18 Ebd. 19 Der Bauernroman sei, so Gerhard Schweizer, „in unmittelbarer Nähe des Dritten Reiches“ zur „meist gelesenen Literaturgattung“ geworden (Schweizer 1976, S. 231). Karl Müller schreibt davon, dass Brot für Waggerl die „Eintrittskarte in den NS-Literaturkanon“ gewesen sei (Müller 2003, S. 121). Billingers Œuvre, so Karl Müller an anderer Stelle, sei unter den Vorzeichen eines „schollenverbundenen Bauerntums“ und des politischen Opportunismus eines NS-Profiteurs rezipiert worden (Müller 1998, S. 247).
164
Wolfgang Straub
2. GRENZZIEHUNGEN Karl Heinrich Waggerls Roman Brot erzählt die Geschichte der Urbarmachung eines Ödlandes in einem entlegenen Gebirgstal durch einen einzelnen Mann. Dieses „Land von Eben“ liegt einen mehrstündigen Fußmarsch entfernt von einem kleinen Dorf. Das namenlose Dorf durchlebt einen Aufstieg zum Kurort mit anschließender existentieller Krise. Simon Röck, dem einzelgängerischen Einödbauer, gelingt es, mit bloßen Händen und einfachem Werkzeug eine Existenz, Hof, Viehstand, Ackerbau und Familie aufzubauen. Er meistert die Krise, die das Dorf und Eben nach seinem steilen wirtschaftlichen Aufschwung erfasst hat, und vermag darüber hinaus die Grundlagen für die nächste Generation zu schaffen. Brot wurde als Kolonisationsgeschichte20 und als Versuch, ein „Autarkieideal“21 zu verwirklichen, gelesen. Zwar nimmt Simon zu Beginn des Romans Besitz von einem „Land, das niemand gehört“ (B 6)22, aber er verdrängt wider besseres Wissen die Tatsache, dass alles Land einen Besitzer hat. Simon weiß auf die Frage des Müllers, wem sein Land gehöre, denn zumindest im Besitz des Staates müsse es ja sein, keine Antwort. Er sieht sich als Kolonialist: „Hier war nichts, niemand, ehe Simon kam.“ (B 73) Es ist der Müller, der bestimmende Entrepreneur des ökonomischen Aufstiegs des Dorfes zum populären Kurort, durch den die Besitzverhältnisse offengelegt werden. Er kauft Eben – ohne Wissen Simons – einem alten Adeligen, dem „letzten aus dem Geschlecht von Eben“, ab (B 94). Im Text gibt es Zuschreibungen an Eben als paradiesisches Eden und Parallelisierungen von Simon mit dem Adam der Genesis (B 145). Aber Simon ist nicht der erste Mensch auf Eben.23 Sein Projekt der Kolonisation ist vielmehr der Versuch eines Neubeginns, der mit dem Abkappen der Verbindungen zur Vergangenheit einhergeht – es wird angedeutet, dass Simon längere Zeit im Gefängnis verbracht haben könnte (B 74). Das Projekt einer möglichst autarken Existenz, mit so wenig ökonomischen und finanziellen Abhängigkeiten wie möglich, bedarf der Herstellung von Grenzen. Waggerl baut die Utopie eines eigenständigen, unabhängigen, dem Materiellen und Industriellen abgewandten Bergbauerntums inmitten unberührter Natur auf, er zeigt dabei aber zugleich die Verstrickungen dieses alpinen utopischen Raums in ökonomische und materielle Gegebenheiten. Zu Beginn des Romans ist es die feindlich gesinnte Natur, die die Grenzen vorgibt, es herrschen Metaphern des Eingesperrtseins vor: „um ihn war Nebel, eine undurchdringliche, trostlose Mauer“ (B 8). Nach und nach übernimmt Simon das Setzen von Grenzen: „Er sucht nach dem Hag, nach den Grenzen seines Landes.“ (B 15) Sobald diese Grenzen für Simon feststehen, müssen sie wiederholt rituell fixiert werden. Simon macht dies – vergleichbar dem Ritual des Grenz20 Schmid-Bortenschlager 1999, S. 57. 21 Schweizer 1976, S. 78. 22 Zitate aus Waggerl 1962 werden im Folgenden mit der Sigle „B“ und der Seitenzahl in Klammern ausgewiesen. 23 Es gibt in der Einöde zu Beginn bereits einen „Acker“ (B 6), und es steht dort ein verfallenes Haus, das Simon als Baustofflager für seinen Hausbau verwenden kann.
„Die Bauernhäuser saßen da“
165
begangs –, indem er den männlichen Nachfolgern, seinem Stiefsohn und seinem leiblichen Sohn, bald nach deren Eintreffen bzw. Geburt bei einem Rundblick vom Anger, in einer Art visuellem Flurumgang, den Besitz mit seinen Grenzen darlegt (B 86f., B 149). Auf seinem Hof versucht Simon eine Naturalwirtschaft zu verwirklichen: „Eben ernährt seine Leute selbst.“ (B 98). Die im Dorf vorherrschende Geldwirtschaft steht dazu in Widerspruch, Simon versucht sich das Notwendige im Dorf durch Tauschhandel zu besorgen. Das der Urbanisierung ausgesetzte Dorf ist räumlich klar durch einen großen Wald von Eben getrennt: „[...] der Wald nimmt sie auf. Man hört das Geräusch der Maschinen nicht mehr, das Singen und die Musik in der Schenke, das laute und lustige Leben“ (B 98). Als das Dorf mit großen Investitionen zu einem Kurort ausgebaut wird, profitiert Simon von diesem Aufstieg. Die Bauern der umliegenden Höfe kommen nämlich nach Eben, um ihr Getreide zu mahlen, weil der Müller diese kleinen Arbeiten nicht mehr erledigen will. Das bringt Simon „eine Menge Silberstücke“ ein (B 173). Den Weg zwischen Eben und dem Dorf baut Simon zur Erleichterung des Verkehrs immer breiter aus. Eine wichtige Rolle spielt Simons Frau Regina als sein persönlicher Widerpart: Sie war früher in der Stadt einige Zeit mit dem Müller liiert und hat aus dieser Zeit einen gemeinsamen Sohn, den Simon adoptiert. Der Müller – Personifikation der von Georg Simmel als „getreuer subjektiver Reflex der völlig durchdrungenen Geldwirtschaft“ apostrophierten Blasiertheit, der am meisten ins Auge stechenden urbanen Unart24 – ist nicht nur mit seinem Lebensentwurf Simons Gegenspieler. Simon hat ihn im Verdacht, sich nächtens an Eben anzuschleichen und seiner Frau nachzustellen. Hier, „wo die Interessen zweier Elemente demselben Objekt gelten“, ist für eine weitere Koexistenz eine klare Grenzlinie vonnöten:25 Simon stellt im Wald eine Fuchsfalle auf. Der Müller – der schlaue Fuchs – geht dem einfältigen Simon in die Falle; er lässt ihn schließlich schwer verletzt laufen (B 76f.). Der Müller ist längst der Besitzer von Eben. Er vertreibt aber Simons Familie nicht, Regina kann ihn ohne sexuelle Gegenleistung davon abbringen. Aber er leiht sich, nachdem der Kurtourismus nachlässt, wieder ohne Wissen Simons, Geld von Regina. In diesen existentiellen Dingen hält die Frau die für ihren Mann unsichtbaren Fäden in der Hand, während Simon sich weiterhin stumpfsinnig auf das „alte Recht, das Recht des Ersten, des Wegbereiters“, verlässt (B 267). Als der Konkurs des Müllers auch die Existenz von Simons Familie zu zerstören droht, sind es Regina und Peter, der Sohn Simons und Reginas, die die finanziellen Mittel zum Kauf des Landes organisieren. Richard Billingers Dorf liegt nicht im Gebirge und ist, im Gegensatz zu Waggerls Eben,26 in einer realen Topographie angesiedelt: dem Innviertel, Billingers 24 Simmel 1995, S. 121. 25 Simmel 1992, S. 698. 26 Schmid-Bortenschlager sieht die Topographie von Brot „ganz konkret in Eben im Pongau im Salzburgischen situiert“ (Schmid-Bortenschlager 1999, S. 57), plausibel erscheint jedoch, dass Waggerl eine fiktive Topographie aufbaut. Der Name sei, so Gottwald, eine Anspielung auf „Eden“, auf den Mythos des ersten Menschen und des Paradieses (Gottwald 1999, S. 77).
166
Wolfgang Straub
Herkunftsgegend.27 Billinger gab seinem kurzen Roman Die Asche des Fegefeuers (1931) den Untertitel „Eine Dorfkindheit“. Er erzählt in Ausschnitten von den letzten Jahren des Aufwachsens inmitten einer archaischen Dorfwelt. Der Ich-Erzähler ist bereits zu Beginn des Textes zum Priester auserkoren und geht am Schluss in die Stadt, um eine geistliche Ausbildung zu beginnen. Edith Rabenstein bezeichnet den Roman als Novellenkranz:28 In die Geschichte der „Dorfkindheit“ sind mehrfach Binnenerzählungen – vom jungen Ich-Erzähler erlauschte oder ihm erzählte, von der Dorfbevölkerung tradierte Geschichten, Kurznovellen – eingebettet. Billingers Roman ist in der Vergangenheit angesiedelt. Es gibt einen konkreten Hinweis auf die Zeit der Handlung, den Tod Bismarcks (1898), von dem der Ich-Erzähler in einer Zeitung liest (A 120)29. Der Autor präsentiert eine rein naturalwirtschaftliche Agrargesellschaft, eine archaische Bauernwelt gänzlich ohne Maschinen, in der alles von Hand, mit viel Schweiß erarbeitet wird. Grenzziehungen sind in dieser homogenen Welt in erster Linie nach innen vonnöten. Die Existenz des Ich-Erzählers ist durch eine Reihe von Ex- und Inklusionen gekennzeichnet. Durch seine Sonderrolle als „Heiligbüblein“, als Gott Versprochener hat er überallhin Zugang: „Ich war in allen Dorfhäusern wie die Katze daheim [...].“ (A 41) Wie eine Katze kann er sich unter Tischen verstecken und das Treiben der Erwachsenen beobachten und belauschen. Er kennt sämtliche Räume des Dorfes, Stuben, Ställe, Kapellen und Dachböden, auch die Kirche ist ihm als Messdiener wohlbekannt. Dieser Inklusion steht der Ausschluss aus der dörflich-bäuerlichen Gemeinschaft entgegen. Er muss nicht am Feld mitarbeiten und hat die Stube während der Erntezeit für sich: „Ich mußte die Stubenluft atmen, untätig sein, ins Büchlein starren, ich wurde schon aus dem Garten der Arbeit ausgeschlossen!“ (A 16) Als angehender Priester ist er außerdem von der Sexualität ausgeschlossen und daher umso faszinierter davon. Die Geschlechtsreife des Vetters Franz wird tropisch zum Ausdruck gebracht: „Er war schon drei Jahre älter als ich, er konnte schon zu einer Magdkammer gehen.“ (A 42) Bäuerliche Arbeit und Sexualität sind dem Erzähler verschlossen, ihm steht dafür der Himmel offen: Er kann an „goldenen Sommertagen“ die heilige Dreifaltigkeit über den Himmel schweben sehen (A 16). Grenzziehung dient zur Herstellung von Klarheit und Sicherheit.30 Die bäuerliche Ordnung im Text duldet keine Überschreitung dieser Grenzen. Als das „Heiligbüblein“ den Hof des Cousins Franz besucht, sieht er dort – wie zu Hause – 27 Im Roman werden die Stadt Passau und der Inn als reale Topographien genannt, das KlosterGefängnis im „Nachbardorf“ ist leicht als das ehemalige Stift Suben, das seit dem 19. Jahrhundert als Strafvollzugsanstalt genutzt wird, dechiffrierbar. Da Billinger hier vom „Nachbardorf“ (Billinger 1959, S. 131) schreibt, kann man hinter dem namenlosen Dorf des Romans das Suben benachbarte St. Marienkirchen – Billingers Geburtsort – erkennen. Bortenschlager nennt Die Asche des Fegefeuers daher einen autobiographischen Roman (Bortenschlager 1981, S. 302). 28 Rabenstein 1988, S. 139. 29 Zitate aus Billinger 1959 werden im Folgenden mit der Sigle „A“ und der Seitenzahl in Klammern ausgewiesen. 30 Simmel 1992, S. 699.
„Die Bauernhäuser saßen da“
167
Frömmigkeit und klare Ordnung: „jeder Knecht hatte seinen Platz am Tische, jede Magd ihren Stuhl“ (A 75). Franz fügt sich aber nicht dieser Ordnung, er will den ihm zugewiesenen Platz neben dem Vater nicht, er vagabundiert durch die Betten von Bäuerinnen und Mägden. Als er schließlich zum Zirkus geht, das Gebet am Mittagstisch verweigert und den ihn schlagenden Vater verspottet, erschießt ihn dieser (A 77). Innerhalb der Sippschaft ist der Bauer der Herrscher, Deviantes vertreibt oder tötet er persönlich. Die räumliche Ordnung im Dorf wird folgendermaßen beschrieben: „Die Rösser zogen uns durch Ortschaften, die Bauernhäuser saßen da, zu zweit und zu dritt geschart, im Reiche ihrer Äcker und Wiesen.“ (A 62) Die personifizierten Bauernhöfe sind zu einem Weiler, zu einer Schar gruppiert, geordnet. Die Personifikationen sind Teil der vitalistischen Textstrategie, die Dinge und Naturphänomene tropologisch zu verlebendigen, ihnen einen Körper zu verleihen. Eingepasst in diese sprachlichen Körperbilder inszeniert Billinger einen Widerstreit der Leiber, einen Widerstreit des Ich-Erzählers mit dem Leiblichen.31 Die Grenz- und Konfliktlinie geht mitten durch die jugendliche Erzählerfigur. Die Erlebnisse des Erzählers sowie die archaischen Geschichten geben Konflikte zwischen Aberglaube und Glaube, zwischen (homo)sexuellem Begehren und moralischen, kirchlichen Vorgaben wieder. Bildlich gefasst ist der Konflikt mit dem Kampf des titelgebenden Feuers gegen das (Weih-)Wasser. Billinger setzt eine Vielzahl von Feuer-Metaphern mit höchst unterschiedlichen Bedeutungen ein, die von der um Erlösung ringenden Seelen (Fegefeuer) über (Auf-)Begehren und Sexus bis hin zu Satanischem reichen. Feuer ist zum einen etwas Gefährliches, die Ordnung Bedrohendes („das Feuer des Geschlechtes“ A 48; die „Flamme des Ingrimms“ A 77) – gipfelnd in der Sexualität und Feuer verknüpfenden Metapher „feuernackt“32. Zum anderen steht Feuer sowohl für Reinigung als auch für Bestrafung – ein Mittel, Ordnung wiederherzustellen. Gegen Ende des Textes werden die Wasser-Bilder häufiger, sie besiegen das Feuer: „Jetzt floß wie weißer Wassergischt oft der Wind um unsere Scheunenecke“ (A 135). Der Kampf zwischen Feuer und Wasser steht nicht nur für die Auseinandersetzung zwischen Sexualität und kirchlicher Ordnungsmacht, er trägt auch die inneren Konflikte um eine Identitätsfindung des jungen Erzählers nach außen. Die Auseinandersetzungen um sein Mann-Sein und seine Dienerschaft Gottes werden über RaumMetaphern ergänzt: Ort der Konflikte sind die „Tempeln der Seele“ (A 29) und das „Land des Schauers“ (A 28). Der Höhepunkt der heidnischen Bräuche ist die Raunacht im Hof des „Roßgotterers“ – Gegenpart zur christlichen Weihnacht. Schon der sprechende Name des Bauern, das Kompositum aus Ross und Gott, verweist auf das Naturreligiöse. 31 Vgl. etwa folgende Körpermetapher, die während der Krankheit des Erzählers, in der fiebrige Dämonen von ihm Besitz ergreifen wollen, auftaucht: „An die Fensterscheiben pressten Winde ihre Brüste.“ (A 101) 32 Die Metapher signalisiert den Höhepunkt des vom Erzähler (unter dem Tisch) beobachteten teuflischen Treibens in der Stube des „Roßgotterers“ mit der versuchten Vergewaltigung der Fischerstochter: „ich glaubte, jetzt berste der Schneehimmel, der Blitz setze sich feuernackt in diese Bauernstube“ (A 93).
168
Wolfgang Straub
Mit dem Pferd verwendet Billinger ein Bild für Leiblichkeit, Sexualität, Virilität. Die Stube des „Roßgotterers“ ist eine gottlose Zone, hier muss nicht gebetet werden, „hier sitzt die unverschreckte Spinne im Stubenwinkel statt des Kruzifixes“ (A 90). Der Hof brennt nach einem Gewaltexzess in einem reinigenden Feuer ab. Das Inferno deuten die Dorfleute als Wink, in Hinkunft der Kirche gehorsam zu sein (A 102). Eine Gegenwelt zum Dorf stellt der gastierende Zirkus dar, der die Dorfleute fasziniert, die Bauern besuchen die Vorstellung in ihren „Sonntagsgewändern“ (A 72). Aber bei aller Faszination sind die Grenzen klar gezogen: Kontakt mit dem „hauslosen und gottlosen Gesindel“ (A 68) ist nicht erwünscht. 3. FIXIERUNGEN Die Bauernhöfe bedingen eine starke räumliche Bindung der Menschen. Zugehörigkeit kann hier, um mit Simmel zu sprechen, nicht ohne lokale Gegenwärtigkeit, ohne persönliche Anwesenheit der Gruppenmitglieder bestehen – für Simmel Zeichen einer archaischen, „primitiven“ Geistesverfassung sowie fehlender „geistiger Biegsamkeit und Spannweite“.33 Das Gehöft ist der Simmel’sche „Drehpunkt“. In Waggerls Brot fehlen zu Beginn noch die „soziologischen Energien“, aber mit dem Haus wird zugleich eine geschlechtliche (Zu-)Ordnung implementiert. Regina, der Klasse der DienstbotInnen zugehörig, ist dem pater familias untertan, hat aber ihre fixen räumlichen Zugehörigkeiten, wo sie die Hauswirtschaft bestimmt: „Ihr Reich, das ist die Küche und der Keller, das ganze Haus, Garten und der Stall.“ (B 195) Der Raum des Mannes ist der Acker, die zentrale männliche Tätigkeit das Säen. Waggerl schließt dabei an den Schöpfungsmythos der Genesis – den aus dem Ackerboden geformten Mann/Menschen34 – an. Während Regina niederkommt und ihre Schmerzensschreie bis vor das Haus dringen, lässt Waggerl seinen Protagonisten die Schöpfungsszene nachstellen. „[Auf den Acker] wirft er sich hin, mitten in die keimende Saat. Er breitet die Arme aus und drückt das Gesicht in die Erde. Lange liegt er so.“ (B 145) Hier findet eine Umdeutung der unio mystica zur Einheit bzw. Vereinigung mit dem Ackerboden statt, die sich an späterer Stelle auch in Simons Physiognomie niederschlägt: „braun und verwittert ist sein Gesicht, wie die Erde selbst, die nackte Ackererde“ (B 193). Die ganze Familie entsteht aus dem Acker: „Er [der Sohn Peter] ist auf diesem Boden gewachsen wie das Korn, wie alles, was lebt auf Eben.“ (B 189).
33 Simmel 1992, S. 706. 34 „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte.“ (Genesis 2,7–2,8)
„Die Bauernhäuser saßen da“
169
Einheit mit der das Haus umgebenden Natur wird auch mit Tier-MenschMetaphern inszeniert.35 Alles kann mit Tieren konnotiert werden: „die Maschine frißt“ (B 130), „der Bach ist zahm“ (B 39). Nur die Nutzpflanzen haben erstrebenswerte menschliche Eigenschaften: „Kartoffeln sind bescheiden, eine demütige Frucht“ (B 111). Sämtliche Metaphern entstammen dem landwirtschaftlichen Bereich, so wird das Bild eines zusammenhängenden Organismus hergestellt, in dem alle Teile – Pflanzen, Haustiere, Bauern – einem höheren Nutzen, der Sicherstellung der Nahrung, untergeordnet sind. Das solcherart bildlich vermittelte Gehöft wird zur Verkörperung der „Vergemeinsamung“36, es bildet das Zentrum eines Hausstaats. Nach der Geburt seines Stammhalters rekapituliert Simon: Simon hat jetzt zwei Frauen [Regina und eine Geburtshelferin] im Hause, und zwei Kinder, von den übrigen nicht zu reden, von den sechzehn Schafen und was sonst noch da herumkriecht, brüllt und gackert. Herr, mein Gott, es sind viele Mäuler, ein ganzes Volk, groß und klein, geschwänzt und ungeschwänzt. Er hat Weizen angebaut und sein Land bestellt, aber wird es genug sein? (B 146)
Das ruhende Zentrum in Die Asche des Fegefeuers, einem unruhigen Text voller Mord und Totschlag, ist der elterliche Hof mit seiner Stube, in der der IchErzähler sein Nachtlager hat. Er schätzt diesen öffentlichen Ort im Haus, in dem Familie und Personal zu den Mahlzeiten zusammenkommen. Das Gesinde teilt mit den Bauern den „Garten der Arbeit“, ins Wirtshaus geht der Bauer alleine. Die christliche Tugend der misericordia lässt den Bettlern einen fixen Platz im Hof zukommen, zu Mittag werden die Armen an einem Tisch im Vorhaus verköstigt (B 30). Auch die im Dorf übel beleumundete „Muhme“, eine verwahrloste Verwandte, eine alte „Zauberin“, hat ihren Platz im Gehöft. Der Vater hält seine schützende Hand über die verfallende Hütte neben dem Hof, wo sie wohnt. In dieser Gemeinschaft fehlen auch die Ahnen nicht: In der Stube werden die Eheringe der Verstorbenen offen aufbewahrt (A 20). Diese Sippschaft zeigt sich krisenresistent: Triebe und Aberglaube gefährden das Gebäude aus Frömmigkeit und Arbeitsethos nicht. Triebhaftem wird im gesellschaftlich integrierten Jagdtrieb (dem „Urtrieb der Ahnen“ A 78) Raum gewährt; und die Stube ist mit Weihwasser „geschützt vor den bösen Gespenstern“ (A 83). Die Höfe sind die Mittel- und Drehpunkte der beiden Romanwelten. Hier herrschen die Bauern, die traditionellen Ordnungen folgen und dabei zumal staatliche Gesetze missachten. Den staatlichen Institutionen wird in den Texten wenig Vertrauen entgegengebracht. Als sich der Müller in Brot nach dem Niedergang seines touristischen Imperiums das Leben nimmt, wird Simon als Mordverdächtiger verhaftet und in die Stadt gebracht. Ein Simon zugetaner Städter unterstützt ihn in Rechtsbelangen und macht seinem mangelnden Vertrauen in das Gericht Luft: „Sie [die Richter, die Juristen] möchten wohl Staat machen, mit ihrem Fall Röck. Aber wir wollen schon aufpassen [...].“ (B 296) Als Simon – ohne Prozess – nach 35 Regina ist ein „seltsamer Vogel“, der Simon „zugeflogen ist“ (B 32); „Simon ist ein Schaf“ voller Geduld und Sturheit (B 132); „der Mann, der Borkenkäfer“ – als sexuelles Wesen (B 141); der kleine Peter frisst Gras wie eine Kuh (B 157). 36 Simmel 1992, S. 780.
170
Wolfgang Straub
geraumer Zeit freikommt, gibt der auktoriale Erzähler keine genauen Gründe an, spricht nicht von einer „Einstellung des Verfahrens“, sondern deutet an, dass die Justiz nach ihrer Darstellung in der Presse schielt. Vielleicht sei Simon freigekommen, „weil eine kleine Notiz in der Zeitung stand, eine schüchterne Anfrage: Wie steht es mit dem Fall Röck, dauert es nicht ein bißchen zu lange?“ (B 312) Auch in Die Asche des Fegefeuers werden die staatlichen Institutionen als wenig vertrauenswürdig dargestellt. Wenn es um die weltliche Gerichtsbarkeit geht, wird zuweilen von der Lüge Gebrauch gemacht, um ein mildes Urteil zu erlangen – Rechtsprechung kann und darf man, so der Subtext, für sich beeinflussen: Die Tante des Ich-Erzählers sagt bei der Verhaftung ihres Mannes, des „Sohnesmörders“, aus, Franz sei einer Vergewaltigung durch einen Zigeuner entsprungen, die Tat des Bauern sei also „des milden Urteiles der Richter bedürftig“ (A 79). Über den Verlauf des Gerichtsverfahrens erfährt man im Roman nur, dass der Onkel des Erzählers eine Haftstrafe zu verbüßen hat. Die zweite staatliche Institution, der über eine Erwähnung hinaus Raum gewährt wird, ist das Gefängnis. Simon Röck war in seinem früheren Leben im städtischen Gefängnis, auch der Müller kommt nach einem Raufhandel kurze Zeit dorthin. In Billingers Text ist das Gefängnis nicht in der fernen Hauptstadt, sondern befindet sich in einem Kloster im Nachbardorf. Das gehört zwar „dem Kaiser“ (A 131), aber einige Klosterbrüder leben noch dort und betreuen die Gefangenen. Trotz der negativen Darstellung staatlicher Institutionen ist das Gefängnis in beiden Romanen ein Ort, in dem man nützliche handwerkliche Fähigkeiten erlangt: Der Korbflechter hat sein Handwerk „im Zuchthaus so schön gelernt“ (A 87), Simon kann seit seinem Gefängnisaufenthalt aus einem Stück Leder Schuhe nähen (B 74). 4. DISTANZIERUNGEN Georg Simmels Befragung des Verhältnisses von Nähe und Distanz lenkt – auch in Hinblick auf die eingangs erwähnte in der Forschung vorgenommene Dichotomisierung – den Blick auf die Frage, ob und wie in den Texten ein Gegensatz zwischen Dorf und Stadt hergestellt wird. Billingers Erzähler ist nicht nur der Detailblick, sondern auch das Panorama wichtig. Er blickt auf das Dorf und seine Umgebung von einem Hügel aus – der Überblick dient dem Ich-Erzähler aber weniger einer Beobachtung oder Analyse der dörflichen Strukturen als vielmehr einer zentralen Frage des Romans, jener nach dem Platz des jugendlichen, mit dem aufkommenden Sexualtrieb kämpfenden Gottsuchenden in der Welt (A 40). Solche Passagen, die aus der Distanz Dorf und Äcker überblicken, dienen mitunter der Lobpreisung des Bauerntums. Die klischierten Genrebilder lesen sich wie ein Hohelied des Nährstands37 und zeigen Billingers „unsägliche Heimat- und 37 „[Die] Äcker prangten schon voll reifer Kornähren und Weizenähren. Jede Saat ja schien heute aus Gottes Hand gefallen zu sein, [...].“ (A 13) Oder: „Auf den Äckern des Vaters standen die hochgetürmten Erntewagen.“ (A 15)
„Die Bauernhäuser saßen da“
171
Bauernverherrlichungs-Lyrik“.38 Solche Idyllisierungen betreffen die Naturalwirtschaft, der Billinger zwei negative Figuren, die Geldwirtschaft betreiben, gegenüberstellt: Der Krämer bietet zwar eine Palette an verlockenden Waren wie Süßigkeiten und Masken an, verkauft aber auch Tabak und Alkohol an die gottlosen, süchtigen Knechte („Abkömmlinge der Sklaven“ A 84) und ist letzten Endes nur am Geld „in seiner eisernen Truhe“ (A 85) interessiert. Die zweite Gegenfigur ist der Arzt aus dem Nachbardorf, der in einem prächtigen Haus wohnt und von dem ein Knecht sagt, er habe „Geld wie Mist, der Doktor. Den füttern die Grabhügel.“ (A 63) Als das „Heiligbüblein“ schwer erkrankt, wird der Arzt einmal gerufen, als er das zweite Mal vorbeischaut, wird der „Beutelschneider“ von der Mutter verjagt (A 116). In Die Asche des Fegefeuers steht dem archaischen Dorf mit Mord und Totschlag die rationale, positiv konnotierte Welt der Stadt gegenüber, die mit (Aus-)Bildung assoziiert wird. Die dumpfe Stadtfeindschaft, wie sie in der Dorfbevölkerung verbreitet ist, wird vom angehenden Intellektuellen als Ergebnis von Unwissenheit und Unbelesenheit interpretiert.39 Die Stadt, in die der Ich-Erzähler am Schluss aufbricht, ist durchaus positiv konnotiert, sie ist der Hort des Rationalen, der Bildung, das Versprechen einer Befreiung aus engen Bauernstuben: „[I]ch spürte die süße Freude, bald [...] in die große Stadt reisen zu dürfen, ein Diener des Studiums, der hundert großen und kleinen Bücher zu werden“ (A 70). Die Dämonen sind aus der Stadt ausgeschlossen: „[H]ier kamen die Geister und Gespenster nicht über die Schwelle“ (A 136). Einen Simmel’schen „Grenzbezirk“, einen Raum, über den niemand verfügt, stellt der Wald dar. Ihn gestaltet Billinger als mythisches Schattenreich, als Reich der Toten, voller Geschichten aus dem Volksglauben. Von hier bezieht die Muhme Beeren und Kräuter, hier haben Rationalität und katholische Lehre keine Verfügungsgewalt. Das Amorphe des Waldes erlaubt es der Muhme auch, nach ihrem „Frevel“ (sie erkennt ihren Sohn Kaspar nicht) und der Ermordung Kaspars im Wald unterzutauchen, für die Ordnungshüter unauffindbar zu bleiben (A 27). Der Wald ist (in den Binnenerzählungen) eine dunkle Kraft, die etwa einen Bauernsohn antreibt, einen Kirchenräuber zu erschlagen.40 Einen Passauer Bischof wiederum zieht er unwiderstehlich an, er vernachlässigt seine Amtsgeschäfte völlig und frönt nur mehr seinem Jagdtrieb. Anders als der Muhme gelingt es dem Bischof allerdings nicht, im Wald endgültig unterzutauchen, er wird erschossen – die Fänge der Ordnungsmacht, des Domkapitels, reichen bis ins Unterholz (A 11f.). Karl Heinrich Waggerl gestaltet die Bezüge zwischen Dorf und Stadt weniger dichotomisch als Billinger. Der Roman ist nicht frei von Reflexen gegen die (urbane) Geldwirtschaft. Aber Simon schätzt, wie erwähnt, das verachtete Geld durchaus. Der Tourismus wird nach dem Zusammenbruch des Müller’schen 38 Müller 1998, S. 258. 39 Der Krämer stellt die Stadt als Ungeheuer dar: „Die Stadt frißt, was aus dem Dorfe lauft. Wie der böse Riese die kleinen Kinder. Oft scheißt er sie in die Hölle hinab, hat er sie einmal geschluckt gehabt.“ (A 84) 40 „[…] der Wald habe es getan, ihn zu der Mordtat getrieben“ (A 30).
172
Wolfgang Straub
Hotelimperiums redimensioniert weitergeführt, Waggerl beansprucht für das Dorf keine Rückkehr zu einer rein bäuerlichen Existenzform. Den gegen die Stadt gerichteten Antiintellektualismus postuliert Waggerl nicht so eindeutig, wie das mitunter behauptet wurde:41 Simons Frau Regina, eine Frau aus der Stadt, „kennt den Wert von Büchern und gelehrten Dingen“ (B 153), was im Text nicht gegen sie gewendet wird. Der Wald ist in Brot nicht mythisch aufgeladen, er ist ein Ort, der genützt wird. Entweder dient er der Holzwirtschaft, als locus amoenus oder als Regenerations- und Rückzugsort für Simon. Beim Konflikt mit dem Müller ist der Wald ebenfalls kein neutraler, leerer Raum, er dient vielmehr der Jagd. Einen GegenRaum stellt die Alm, „das Kar“, dar, ähnlich amorph gezeichnet wie der Wald bei Billinger.42 Das Gebirge, der Raum ober- und außerhalb der häuslichen Ordnung des Hofs, ist ein sexualisierter Raum. Der Sohn Peter genießt hier den Freiraum fernab der väterlichen Ordnung, hier begegnet er erstmals der Verliebtheit. Entgrenzende Sexualität erlebt er allerdings nicht, die projiziert Waggerl in den weiblich konnotierten Kosmos, wie Gerhard Schweizer die entsprechende Passage des Romans (B 225f.) analysiert: „Die Fassung verlieren – sich selbst verlieren – kann und darf der Mann [...] nur angesichts des weiblichen Naturkosmos. [...] Das Ich des Mannes beginnt sich in der großen Hingabe an die Natur aufzulösen und gleicht selbst der bewußtlosen Weiblichkeit ‚Natur‘.“43 Die Bedrohung der Entgrenzung, der Grenzüberschreitung, besteht, aber durch die viele Arbeit, die Peter auf der Alm zu leisten hat, gliedert er sich schließlich in das Familien- und Arbeitsethos der Gemeinschaft ein. Auch der Vater gefährdet im „Kar“ kurzfristig die sittlich-familiäre Ordnung. Simon steigt mit der Frau des Ingenieurs hier herauf – es bleibt bei der sexuellen Verlockung (B 141). Simons Frau steht kurz vor der Geburt des Stammhalters. 5. AUSWEGE Beide Romane zeigen eine Gesellschaft in Krise, der Staat kann hier keine Lösungen bieten. Jene staatliche Institution, der in den Texten am meisten Raum gewährt wird, ist das Gefängnis; die Figuren kommen offensichtlich leicht mit dem Gesetz in Konflikt. Dabei gibt es kein Vertrauen in die Justiz. Die Traditionen der bäuerlichen Gemeinschaft werden über jene des Staates gestellt, was die Romane jedoch keinesfalls affirmativ oder positiv darlegen. Die scheinbar gottgewollte „natürliche“ Ordnung stellt vor allem Richard Billinger als Unterdrückerin dar, Abweichung wird sofort mit dem Tod bestraft. Andersartigkeit und Freiheit sind in diesem System der Frömmigkeit nicht lebbar, obwohl sich beide, im Feuer metaphorisiert, immer wieder Raum verschaffen wollen. Raum haben sie nur in der 41 vgl. Schmidt-Dengler 1983, S. 642; Schweizer 1976, S. 59. 42 Das Kar ist ein „unterirdisches Meer, ein riesiger Sumpf“, in dem ein „dumpfes, gespenstisches Murmeln“ vorherrsche (B 226). 43 Schweizer 1976, S. 249.
„Die Bauernhäuser saßen da“
173
magischen, irrationalen Geisterwelt der Muhme, einer Welt voller Toten. Auch Waggerl problematisiert die allmähliche Eingliederung in die Familienordnung durch mehrere Konflikte und Verlockungen. Liegt für die Figuren in Georg Simmels letzter Grundqualität des Raums, der räumlichen Mobilität, der Wanderung, ein Ausweg? Mobilität wird in den Texten in der Straße, dem Weg verbildlicht. Bei Waggerl führt der Weg von oben nach unten, vom Kar über Eben und das Dorf in die Stadt; bei Billinger ist die Straße (oder die Eisenbahn) ebenfalls häufig benutzte Kommunikationslinie zwischen Dorf und Stadt. Abseits dieser Linearität schreibt Billinger von vielerlei verschlungenen Wegen: Wegen durch den Wald, über Felder und durch/über den Fluss. Auswege bieten die in einer krisenhaften Zeit entstandenen Romane nicht: Waggerl zeigt, dass es autarkes Bergbauerntum nicht (mehr) gibt. Auch Billingers archaisch-bäuerliche Gesellschaft, die sich ihre eigenen Gesetze schafft, bietet keinen Ausweg. Der Ich-Erzähler in Die Asche des Fegefeuers imaginiert vielmehr seine Zukunft in der Stadt als Befreiung aus seiner mörderischen Bauernwelt. In Brot werden die mobilen Figuren, die Wandernden, die Vagabunden durchwegs als unglückliche Existenzen dargestellt: Simons Stiefsohn kommt nicht zur Ruhe, es hält ihn nie lange zuhause, er kränkelt ständig, er geht nicht, so der Subtext, den „gesunden“ Weg des Vaters – der das Vagabundieren hinter sich lässt – in die Sesshaftigkeit. Bei Billinger wird der Sohn der Muhme, kaum aus mehrjähriger Auslandsexistenz samt gescheiterter Ehe zurück, ermordet. In ihren Schlussbildern agieren die Romane unterschiedlich: Bei Billinger ist der Weggang in die Stadt sehr wohl ein Ausweg aus der restriktiven Dorfkindheit. Brot hingegen endet im Bild eines alten, auf ein arbeits- und ereignisreiches Leben zurückblickendes Ehepaares, das sich in die Bescheidenheit, in sein Los fügt und die kleinen Dinge schätzt.44 Bei Billinger ist der Ortswechsel die Lösung, bei Waggerl wird in einer Apotheose der Bescheidenheit, des Sich-Fügens, die Sesshaftigkeit gefeiert. LITERATUR Bergmann, Klaus, 1970: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim am Glan. Billinger, Richard, 1959 [1931]: Die Asche des Fegefeuers. In: Gesammelte Werke, Bd. 1 (Romane), Graz, Wien, S. 5–136. Bortenschlager, Wilhelm, 1981: Richard Billinger. Leben und Werk. Wels. Gottwald, Herwig, 1999: Knut Hamsun und Karl Heinrich Waggerl: zwei „antimoderne“ Autoren im Vergleich. In: Müller, Karl (Hrsg.): „Nichts Komplizierteres heutzutage als ein einfacher Mensch“. Beiträge des Internationalen Karl-Heinrich-Waggerl-Symposions, Salzburg, Wien, S. 69–94. Müller, Karl, 1998: Probleme männlicher Identität bei Richard Billinger. Homosexualität und Literatur während der NS-Zeit. In: Baur, Uwe u.a. (Hrsg.): Macht Literatur Krieg. Österreichische Literatur im Nationalsozialismus, Wien u.a., S. 246–273.
44 Es war diese moralisierende Zufriedenheitspropaganda, mit der Waggerl vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg große Erfolge feierte.
174
Wolfgang Straub
Müller, Karl, 2003: Beobachtungen zur ,Heimatliteratur‘ während der NS-Zeit. In: Dürhammer, Ilija/ Janke, Pia (Hrsg.): Die „österreichische“ nationalsozialistische Ästhetik, Wien u.a., S. 111–135. Plener, Peter, 1997: „Ein flüchtiges Plaudern“ auf Scholle und Asphalt. Anmerkungen zu einem Thema österreichischer Literatur. In: Plener, Peter/Zalán, Péter (Hg.): „[...] als hätte die Erde ein wenig die Lippen geöffnet [...]“. Topoi der Heimat und Identität, Budapest, S. 7–30. Rabenstein, Edith, 1988: Dichtung zwischen Tradition und Moderne: Richard Billinger. Untersuchungen zur Rezeptionsgeschichte und zum Werk, Frankfurt a. M. u. a. Schmid-Bortenschlager, Sigrid, 1999: Mythisches in der Prosa von Karl Heinrich Waggerl. In: Müller, Karl (Hrsg.): „Nichts Komplizierteres heutzutage als ein einfacher Mensch“. Beiträge des Internationalen Karl-Heinrich-Waggerl-Symposions, Salzburg, Wien, S. 54–68. Schmidt-Dengler, Wendelin, 1983: Literatur. In: Weinzierl, Erika/Skalnik, Kurt (Hrsg.): Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik. Bd. 2, Graz, S. 631–650. Schroer, Markus, 2006: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a. M. Schweizer, Gerhard, 1976: Bauernroman und Faschismus. Zur Ideologiekritik einer literarischen Gattung, Tübingen. Simmel, Georg, 1992: Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft. In: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908]. Gesamtausgabe Bd. 11, Frankfurt a. M., S. 687–790. Simmel, Georg, 1995: Die Großstädte und das Geistesleben [1903]. In: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Gesamtausgabe Bd. 7/1, Frankfurt a. M., S. 116–131. Strigl, Daniela, 1993: „Wo niemand zuhaus ist, dort bin ich zuhaus“. Theodor Kramer – Heimatdichter und Sozialdemokrat zwischen den Fronten, Wien u.a. Waggerl, Karl Heinrich, 1962 [1930]: Brot. Roman, Wien.
DAS DRAMA MIT DER UNIFORM Militarismus zwischen den Weltkriegen Stefan Krammer Diese Uniformen sind doch für die Tropen zu schwer Franz Kafka: In der Strafkolonie „Die Uniform ist von uns genommen“,1 schreibt Alfred Polgar in einem Feuilleton der Tageszeitung Der neue Tag vom 4. April 1919 und stellt damit die soldatische Kleidung tropisch ins Zentrum seiner Kritik am Militarismus. Mit dem Ablegen der Uniform – so Polgars Hoffnung – wird der Vorherrschaft des Militärs während der Kriegsjahre ein Ende bereitet. Der Devestitur wird insoweit Bedeutung zugemessen, als sie eine Zeitenwende markiert: Aus „den Un-Menschen, den AntiMenschen“2 sollen wieder Menschen werden, aus dem „militärische[n] Rohmaterial“ oder der „militärische[n] Schlacke“ wieder Individuen, aus den Kriegern wieder Bürger.3 Dass eine derartige Transformation nicht einfach nur über die Verwerfung der alten Kleider zu gewährleisten ist, wird an der Wirkungskraft, die der Uniform zugeschrieben wird, deutlich. Denn die „Uniform war stärker als der, der sie trug. […] Sie zog ihn ein, nicht er sie an.“4 Mit der Uniform wird eine höhere Macht aufgerufen, die den Uniformträger in gewisser Weise entmündigt. Nicht mehr er handelt, sondern mit ihm wird gehandelt. Derart von der Uniform angezogen, dass der Mensch zur „Fortsetzung der Uniform nach innen“5 wird, kann es ihm auch nicht mehr gelingen, sich in einem Akt der Selbstermächtigung der Uniform zu entledigen. Denn nicht er zieht sie aus, sie wird von ihm „genommen“. Die passive Konstruktion verschleiert dabei den eigentlichen Akteur, unterstreicht dadurch aber umso stärker dessen machtvolle Position: Es ist der Staat, der seine Männer zunächst in Uniformen gesteckt hat, um sie ihnen dann – vielfach unter Druck anderer Staaten – wieder zu nehmen. Dass dieser aber nicht immer auch neue Kleider bereitstellt und viele Männer dadurch im Grunde nackt zurückbleiben, stellt sich als eines der Dilemmata der Zwischenkriegszeit dar. So verschwand – im Gegensatz zu Polgars Befund von 1919 – die Uniform mit dem Kriegsende keineswegs aus dem öffentlichen Leben, sondern blieb in den 1 2 3 4 5
Polgar 1982, S. 72. Ebd., S. 74. Ebd., S. 72. Ebd. Ebd.
176
Stefan Krammer
folgenden zwei Jahrzehnten in vielfältiger Weise präsent. In den ersten Nachkriegsjahren wurde sie von vielen Kriegsheimkehrern weiterhin getragen, weil diesen aufgrund fehlender finanzieller Mittel keine anderen Kleidungsstücke zur Verfügung standen.6 Aus den ehemaligen Soldaten, die einst für Kaiser, Volk und Vaterland gekämpft hatten, waren oft Bettler geworden, die nun ihre alte Uniform als Zeichen ihrer Armut zeigen mussten. Der Bezug zum Krieg betont dabei ihre Erbärmlichkeit in besonderer Weise. Denn sie waren nicht nur deswegen arm dran, weil der Krieg verloren war, sondern auch, weil sie durch den Krieg alles verloren hatten und nun ohne staatliche Unterstützung in ihrer Existenz bedroht waren.7 Neben den alten Uniformen, die teils aus pragmatischen, teils aus nostalgischen Gründen weiter verwendet wurden, spielten in der Zwischenkriegszeit aber auch neue Uniformen eine zentrale Rolle. Denn im ideologisch aufgeladenen Klima der zwanziger und dreißiger Jahre traten verstärkt paramilitärische Verbände auf, die Uniformen als Symbole ihrer politischen Zugehörigkeit trugen. Hans Mommsen spricht in diesem Zusammenhang von einer „zivilen Militarisierung“, die die Politik der jungen Republiken in Österreich und Deutschland nachhaltig beeinflusste.8 Das Vordringen militärischer Organisationsmuster in die zivile Gesellschaft sieht Mommsen einerseits in der Formverwandlung der Politik begründet, die mit der Ausstrahlung der Erfahrungen des Krieges auf die Gesellschaft einherging, andererseits in den von den Alliierten aufgezwungenen Rüstungsbegrenzungen, die Substitutionseffekte mit sich brachten. So fungierten Freikorps und Wehrverbände aller Art als potenzielle Verstärkung der Reichswehr, die für sie bereitwillig Waffen- und Gefechtsausbildungen anboten. Eine präzise Trennung zwischen professioneller Armee und selbsternannten Kampfbünden war kaum mehr festzumachen, die Verbindungen der bewaffneten Macht – vor allem zu den rechts stehenden Wehrverbänden – entzogen sich von Anfang an der parlamentarischen Kontrolle und entwickelten jenseits der Legalität ihr Eigenleben.9 In diesem Prozess wurde das inszenatorische Potenzial der Uniform weiter ausgebaut, insbesondere was die Verschränkung von äußerer Zur-Schau-Stellung und innerlicher Vereinnahmung betrifft. Gabriele Mentges betont die besondere Medialität der Uniformen der nationalsozialistischen Zeit: Sie „steht nicht nur für die Dramatik der NS-Inszenierung, sondern begründet vor allem die Rhetorik des Affekts im Dienste der NS-Liturgie. Die Choreographie der Uniformen gehört zur Strategie des nationalen Gefühlsapparates.“10 Auch in der Literatur der Zwischenkriegszeit kommt der militärischen Uniform eine auffällig große Bedeutung zu, der literarische Diskurs der Zeit scheint 6 7
Vgl. Rieger 2009, S. 3. Vgl. dazu auch die Textstelle in Lernet-Holenias Roman Die Standarte: „Wirkliche, tragische Bettler sind, wie gesagt, eigentlich nur die, die früher alles andre eher als Bettler waren, Soldaten vor allem. Es gibt in unserer Zeit und in unserem Lande keine tragischere Figur als den bettelnden Soldaten. Jeder Soldat, der nun keiner mehr sein darf, ist in irgendeinem Sinn schon zum Bettler geworden, ob er nun arm ist oder reich.“ Lernet-Holenia 2002, S. 20. 8 Mommsen 1997, S. 265. 9 Vgl. ebd., S. 265ff. 10 Mentges 2005, S. 35f.
Das Drama mit der Uniform
177
geradezu vom „Zauber der Montur“11 überstrahlt zu werden. Die Uniformen nehmen dabei unterschiedliche Funktionen im Text ein: etwa als wiederkehrendes Motiv, als Trope oder auch als Narrativ, das direkt oder indirekt Bezüge zur historisch-politischen Realität herstellt. Mit den Uniformen legen sich die Texte darüber hinaus ideologisch fest, wenn sie etwa die soldatische Kleidung in Reminiszenz an die „gute, alte Zeit“ verherrlichen, sie als nationales Symbol zum kriegerischen Fetisch erklären oder aber als bedrohliches Zeichen gegen Militarismus einsetzen.12 Dieser Beitrag nimmt Uniformen in den Blick, die in dramatischen Texten der Zwischenkriegszeit in Szene gesetzt werden. Für die exemplarische Analyse werden zwei Texte herangezogen: Carl Zuckmayers Der Hauptmann von Köpenick und Bertolt Brechts Mann ist Mann. Besonderes Augenmerk wird dabei auf das inszenatorische Moment gelenkt, das der Uniform als „Spektakel des Militärs“,13 welches die Macht der staatlichen Ordnung wirkungsvoll zur Aufführung bringt, immer schon innewohnt. Bevor die Stücke im Einzelnen untersucht werden, gilt es zunächst nach der semiotischen Struktur und spezifischen Rhetorik von Uniformen zu fragen. Die historische Dimension wird dabei weitgehend ausgeblendet, stehen doch theoretische Aspekte im Vordergrund, die konstitutiv für die systematische Erschließung des Untersuchungsgegenstandes sind. 1. REALE UND IMAGINÄRE KLEIDER. ZU EINER RHETORIK DER UNIFORM Roland Barthes unterscheidet in seiner kulturwissenschaftlichen Studie Die Sprache der Mode zwischen realen und imaginären, zwischen getragenen, abgebildeten und geschriebenen Kleidungen und verdeutlicht damit die unterschiedliche Materialität, die semiotische Beschaffenheit, über die diese wahrgenommen werden können. Wenn der Stoff durch Wörter ersetzt wird, dann werden diese geschriebenen Kleider von der Last gegenständlicher Referenz entbunden und können dadurch in den Dienst einer imaginären Bedeutung treten.14 Doch die Beschreibung der Kleidung kann auch zum Ort einer rhetorischen Konnotation werden. Wird die Textur der Kleidung derart in einen Text verwoben, dass die Rhetorik ihre Besonderheit aus der spezifischen Art und Weise der beschriebenen Kleider gewinnt, kann von einer „Poetik der Kleidung“15 gesprochen werden. Diese umfasst alle rhetorischen und poetischen Mittel, mit denen der Text das 11 So der Titel des Buches von Rieger 2009. 12 Rieger zeigt in seiner Arbeit mittels der Analyse von Uniformen, wie etwa Roths Radetzkymarsch oder Lernet-Holenias Standarte reaktionäre Positionen vertreten, während etwa Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit oder auch Texte von Werfel und Kreutz eine pazifistische Grundhaltung einnehmen. Nationalistische Ideologien sind hingegen bei Paumgartten und Hohlbaum festzumachen. 13 Vgl. Myerli 1996, S. 14ff. 14 Vgl. Barthes 1985, S. 14ff. Erläuterungen dazu siehe Kraß 2006. 15 Barthes 1985, S. 241.
178
Stefan Krammer
jeweilige Kleidungsstück inszeniert: Metaphern, Symbole, Emphasen etc. Wesentlich ist hier aber, dass die Kleidung an sich schon ein besonderes poetisches Objekt darstellt: „zunächst einmal, weil sie mit vielerlei Abwandlungen sämtliche Eigenschaften der Materie heraufbeschwört: Substanz, Form, Farbe, Tastbarkeit, Bewegung, Festigkeit, Glanz; zum andern, weil sie den Körper berührt und als dessen Substitut und Maske ganz gewiß Objekt einer intensiven Besetzung ist.“16 Wenn Barthes neben der Materialität der Kleidung insbesondere ihre Funktion als Körperbekleidung thematisiert, die den Körper in signifikanter Weise ersetzt oder verstellt, dann greift er hier eine kulturanthropologische Einsicht auf, wonach der Körper überhaupt erst durch Kleidung kommunizierbar wird. Denn sie ist nicht nur entscheidendes Medium für Identitätsbildung, die historisch und kulturell bedingt unterschiedlich verlaufen kann, sondern sie gehört auch zu den zentralen Körpertechnologien, durch die der gesamte soziokulturelle Habitus (etwa Verhaltensund Distinktionsmuster, Körpersprache, Wahrnehmungsweisen) eingeübt werden.17 In der Typologie unterschiedlicher Kleidungen nimmt die militärische Uniform eine Sonderstellung ein, denn sie symbolisiert (in der Regel) die Funktion ihres Trägers als Soldaten, markiert dessen Zugehörigkeit zu einer bestimmten militärischen Organisation und artikuliert dadurch die soziale Identität der Armee. Mit dem Tragen der Uniform wird der Korpsgeist der Uniformträger in besonderer Weise ausgebildet und gefestigt. Mit der vereinheitlichenden Kleidung wird eine Gemeinschaft erzeugt, die auf Egalität setzt, indem sie Gleichheit und Gleichartigkeit suggeriert. Über das einheitliche, serielle Erscheinungsbild hinaus besitzt die Uniform allerdings auch klar geregelte individuelle Merkmale wie etwa Tätigkeitsabzeichen oder Orden, die insbesondere die hierarchische Ordnung innerhalb des Militärs kennzeichnen und die funktionale Beziehung des Einzelnen zum Ganzen festmachen. Diese lassen die Uniform in differenzierter Weise kommunizieren, indem sie sowohl internen als auch externen Personen eine Orientierung über die jeweilige Position eines Uniformierten geben und dabei Machtverhältnisse zum Ausdruck bringen. Durch das Tragen der Uniform wird der Uniformierte zum Funktionsträger. Nicht allein die Uniform, das Amt selbst kleidet seinen Körper und macht ihn zum Vertreter einer Körperschaft. Die Uniform schafft so eine institutionelle wie symbolische Verbindung zwischen dem individuellen Körper und der „persona ficta“ des Kollektivs. Sie investiert den Körper, überschreibt ihn aber zeichenhaft mit den Attributen des Unsichtbaren, das er fortan verkörpert. Im politischen Code markiert so die Uniform „die Nahtstelle zwischen der Empirie der Körper und dem, was an der sozialen Organisation den Sinnen nicht unmittelbar zugänglich, mithin transzendenter Natur ist“.18 Man könnte hier in Anlehnung an Ernst Kantorowicz’ Zwei-Körper-Lehre19 vom doppelten Körper des Soldaten sprechen. Dessen natürlicher Körper wird gleichsam durch einen politischen Körper überschrieben. Das 16 17 18 19
Ebd., S. 242. Vgl. Mentges/Richard 2005, S. 9. Koschorke 2002, S. 79. Vgl. Kantorowicz 1994.
Das Drama mit der Uniform
179
Besondere an der Uniform ist allerdings, dass sie nicht an einen Körper gebunden ist, sondern austauschbar von unterschiedlichen Körpern getragen werden kann. Trotz dieser Vielfalt ist eine Eindeutigkeit gegeben, die durch die unverkennbare Gleichförmigkeit der Uniform gewährleistet wird. Ihre Serialität bringt machtvoll zum Ausdruck, dass der einzelne Körper eine ganze Heerschar an Körpern um sich herum hat. Das bestärkt den Uniformierten zum einen in seiner Stellung innerhalb der Organisation, als dessen Teil er stets das Ganze repräsentiert, zum anderen gegenüber jenen, die außerhalb der Organisation stehen. Die Uniform verleiht ihm gewisse Machtbefugnisse, sodass er über sein Aussehen auch sein Ansehen steigern kann. Die militärische Uniform steht für die Autorität des Staates und bildet einen unverzichtbaren Bestandteil der Inszenierung staatlicher Macht. Folgt man Gabriele Mentges, dann ist die Uniform für die Sichtbarmachung und Reproduktion staatlicher Ordnung besonders wichtig: Denn sie behauptet die räumliche Präsenz der staatlichen Ordnung und erhält den Status eines Instrumentes, um diese zu strukturieren und zu modellieren.20 Die spezifische Rolle, die dem Militär innerhalb des Staates zuteil wird, ist dabei insofern zu berücksichtigen, als es (zusammen mit der Polizei) die physischen Gewaltmittel des Staates monopolisiert und diese mehr oder minder geregelt zur Wahrung staatlicher Sicherheits- und Expansionsinteressen einsetzt. Dabei ist das Militär aber nicht nur als staatliche Institution zu begreifen, sondern ebenso als kulturelles System, das bestimmte Denkstile und Deutungsmuster repräsentiert, die – im Widerspruch zum Zivilisationsanspruch bürgerlicher Gesellschaften – durch die Legitimation physischer Gewalt als einer seiner wesentlichen Bezugspunkte bestimmt sind.21 Die Uniform verleiht seinem Träger diese Gewalt, sie ist sogar notwendige Bedingung für seinen Kombattantenstatus. Zugleich investiert sie ihn mit einem kulturellen System, in dem körperliche Gewalt favorisiert wird. Mit der Uniform werden die Körper der Soldaten kontrolliert, diszipliniert und standardisiert, um sie politisch gefügig zu machen.22 Sie hebt die Uniformierten aus der scheinbar ungeordneten Masse der Zivilisten heraus und fügt sie in eine andere, geordnete und mächtige Masse ein. Zudem wird mit der Uniform aber ein militärischer Habitus eingeübt, der unhintergehbar an den männlichen Körper gebunden ist. Ute Frevert bezeichnet aus diesem Grund das Militär auch als „Schule der Männlichkeit“.23 Mit unterschiedlichen Disziplinartechniken wird der Soldat dazu erzogen, seinen eigenen Körper untertan zu machen. Über die Setzungsriten der militärischen Dressur werden scheinbar natürliche Ordnungsmuster derart in den Körper eingeschrieben, dass sie zu habituellen Gewohnheiten werden.24 Unterstützt wird diese Körper-Disziplinierung durch die Uniform, an 20 Vgl. Mentges 2005, S. 34f. 21 Vgl. Frevert 1997b, S. 10f. 22 Max Weber (2008, S. 872) charakterisiert das Militär als einen entscheidenden Faktor der gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesse und bezeichnet es als „Mutterschoß der Disziplin“ mit weitreichenden Folgen für die Staatsverfassung. 23 Frevert 1997a, S. 145ff. 24 Vgl. dazu auch Bourdieu 1998, S. 117ff.
180
Stefan Krammer
die sich der Körper anpassen muss. Sie demonstriert dann „Männlichkeit in Reinform, eine Männlichkeit, die durch perfekte Körperhaltung symbolisiert [wird] und als ihr Wesenselement unbeugsame Willenskraft erwarten [lässt]“.25 Inwiefern diese Implikationen in der Literatur zum Tragen kommen, soll nun anhand der exemplarischen Textanalyse gezeigt werden. Die Literarizität der Texte, aber auch die ihnen eingeschriebenen politischen Diskurse der Zeit weisen – so meine These – den Uniformen spezifische Funktionen zu. Mittels einer Rhetorik der Uniform soll gezeigt werden, auf welche Weise die imaginären Uniformen kommunizieren und welche Aussagen sie dabei treffen. In den Blick sind dabei die bildliche Wirkungskraft und das Spektakel ihrer Inszenierung zu nehmen, liefern die Uniformen doch eine „sinnlich-narrative Ansicht vom Staat, seiner Geschichte und seinen Wertemustern in theatralisch-pathetisch aufgeladener Form“.26 Insbesondere in Theaterstücken spielt das inszenatorische Moment der Uniform eine wesentliche Rolle. Bei der Analyse ist das Augenmerk deshalb auf die dramaturgischen Mittel zu richten, die im Text verwendet werden, um das theatrale Potenzial der Uniform entfalten zu können. Systematisch kann die Rhetorik der Uniform entlang von drei Ebenen analysiert werden: Auf der Ebene der Syntaktik wird die Uniform in Relation zu anderen theatralen Zeichen gesetzt, wie diese im dramatischen Text als interdepentente Strukturelemente eingeschrieben sind. Vor allem das Verhältnis zwischen Uniform und ziviler Kleidung ist hierbei von besonderer Bedeutung, weil es zeigt, wie „konzentriert“, „diffus“ oder „integriert“27 sich Uniformität in der Zwischenkriegszeit darstellt. Die Ebene der Pragmatik richtet das Augenmerk dann auf jene Figuren, die mit der Uniform in irgendeiner Weise interagieren: indem sie sie tragen, sie an- oder ausziehen, sie schneidern, sie beschmutzen etc. Vor diesem Hintergrund ist schließlich nach der Semantik der Uniform zu fragen, nach den Bedeutungen, welche die Uniform in den literarischen Texten zu generieren vermag. Es stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern sich Investitur, Devestitur und Maskerade in Zusammenhang mit der Uniform auch politisch deuten lassen. 2. KLEIDER MACHEN LEUTE. CARL ZUCKMAYERS DER HAUPTMANN VON KÖPENICK Carl Zuckmayer entwickelt in seinem Stück Der Hauptmann von Köpenick aus dem Jahr 1930 eine Szenerie, die – dramatisch verdichtet – vom Militärischen bestimmt ist. Angesiedelt in Berlin und Umgebung zur Zeit der Jahrhundertwende, handelt der Text von einem als Hauptmann verkleideten Mann namens Wilhelm Voigt, dem es dank einer gekauften Uniform gelingt, sich ein ganzes Wachkommando zu unterstellen, das Rathaus von Köpenick zu besetzen, den Bürgermeister 25 Frevert 1997a, S. 168. 26 Mentges 2005, S. 34f. 27 Vgl. Debord 1996, der mit diesen Varianten die mehr oder minder klare Trennung von Militär und ziviler Gesellschaft beschreibt.
Das Drama mit der Uniform
181
zu verhaften und die Gemeindekasse zu beschlagnahmen. Die Voraussetzungen und Motive, die den ehemaligen Häftling zu einem derartigen Staatsstreich veranlasst haben, werden in Form einer reportageartigen Bilderfolge in Szene gesetzt. Dabei wird in hyperbolischer Weise nicht nur der militärische Geist28 des deutschen Kaiserreichs szenisch eingefangen, sondern insbesondere auch jener, der weiterhin, wenngleich unter anderen Vorzeichen, die Diskurse der Weimarer Republik bestimmt.29 Wie sehr dieser das öffentliche Leben zu durchdringen vermag, wird an unterschiedlichsten Orten, Institutionen und Situationen gezeigt: Das Gefängnis dient – gleichsam als Substitut für den nicht geleisteten Wehrdienst – zur Einübung militärischer Disziplin, am Meldeamt begleitet ein martialischer Ton die bürokratischen Abläufe, die Fabrik wird wie eine Kaserne geführt und auch die Herberge für Obdachlose ist durch militärische Regeln organisiert. Die Szenen sind voll von Grenadieren, Offizieren, Reservisten und Kriegsveteranen, gleich im Eingangsbild zieht eine ganze Gardekompanie vorbei. Die Kinder werden in bunte Offiziersuniformen gesteckt, „der eine als kompletter Husar, der andere als Kürassier maskiert“,30 und selbst die „Damen“ im Etablissement des Café National sitzen „wie Soldaten, die auch bei ungünstiger Gefechtslage ihren Posten nicht verlassen“.31 Szenisch wird der militärische Grundtenor des Stückes sowohl auf akustischer wie auch visueller Ebene verdeutlicht: Der Militärmarsch bildet als wiederkehrendes Leitmotiv ein wesentliches musikalisches Element des Stückes. Auch die Art und Weise, wie die Figuren sprechen, ist von einem militärischen Ton geprägt. Dieser ist in Form von paralinguistischen Zeichen, d.h. durch explizite Angaben zum Sprachduktus bzw. implizite Sprachhandlungen der Figuren, in den dramatischen Text eingeschrieben. Im Bereich des Bildlichen sind es neben militärischen Utensilien und Fotografien von Offizieren und Schlachten vor allem die verschiedenen Uniformen, welche die ständige Präsenz des Militärs vor Augen führen.32 Diese nehmen als theatrale Zeichen im Text unterschiedliche Funktionen ein: als Dekoration, als Requisit bzw. als Kostüm. Als solche sind sie nicht immer an den Körper der Figuren gebunden, erscheinen zumal „auf Holzpuppen ohne Kopf“,33 sind „überm Bügel an die Schranktür gehängt“34 oder werden in Seidenpapier geschlagen und später in einer Pappschachtel zusammengeschnürt. Die Uniform 28 Im Sinne Bourdieus (1998, S. 96ff.) könnte man auch von „Staatsgeist“ sprechen. 29 Vgl. dazu Grenville 1996, 635ff. und Hein 1977, S. 269. In diesem Zusammenhang ist auch die Aussage Zuckmayers (1997, S. 513) zur Aktualität seines Stückes interessant: „Denn wenn auch die Geschichte mehr als zwanzig Jahre zurücklag, so war sie gerade in diesem Augenblick, im Jahre 1930, in dem die Nationalsozialisten als zweitstärkste Partei in den Reichstag einzogen und die Nation in einen neuen Uniform-Taumel versetzten, wieder ein Spiegelbild, ein Eulenspiegel-Bild des Unfugs und der Gefahren, die in Deutschland heranwuchsen – aber auch die Hoffnung, sie wie der umgetriebene Schuster durch Mutterwitz und menschliche Einsicht zu überwinden.“ 30 Zuckmayer 1995, S. 111. 31 Ebd., S. 23. 32 Vgl. dazu auch Hein 1977, S. 278f. und Schmitz 2000, S. 382f. 33 Zuckmayer 1995, S. 11. 34 Ebd., S. 68.
182
Stefan Krammer
erweist sich dann als eine Art Hülle, die erst noch mit Leben gefüllt werden muss. Dazu bedarf es eines menschlichen Körpers, der die Uniform in eine entsprechende Form bringt. Die Investitur kommt sowohl einer Verwandlung als auch einer Vereinigung gleich: „Det is keen Rock mehr, det is ’n Stick vom Menschen. Det is de bessere Haut, sozusagen.“35 Wie „anjewachsen“ erscheint dann die Uniform, als wäre man mit ihr schon „uff de Welt jekommen“.36 So wie die Uniform erst durch den Körper zur Geltung kommt, so verleiht sie diesem umgekehrt erst seine Wirkungsmacht: „in Uniform [...], da macht man Figur, das gibt ’n kolossalen Halt, da is man ’n ganz anderer Kerl“.37 Der Halt, den die Uniform gibt, wird jenen Figuren abgesprochen, die keine Uniformen tragen, d.h. keinerlei Erfahrungen mit dem Militär haben. Sie machen keine gute Figur, sind „mager und etwas gebückt“, haben O-Beine und können sich nicht gerade halten, ihnen fehlt einfach „der Schliff, der Schnick, der Benimm, die ganze bessere Haltung“.38 Das körperliche Auftreten wird hier an Denk- und Verhaltensweisen geknüpft, wie sie durch das Militär eingeübt werden. Die Uniform erweist sich dabei als eine zentrale Körpertechnologie bei der Ausbildung eines militärischen Habitus. An der Figur des Hauptmanns von Schlettow wird deutlich, wie die Uniform an den Körper gebunden ist und dabei als Mittel der Selbstermächtigung eingesetzt wird. Denn der überzeugte Militarist vermag nur in seiner Uniform etwas darzustellen, „in Staatsbürjerkluft“39 fühlt er sich dementsprechend unwohl. Dass ausgerechnet er seine Funktion als Hauptmann und damit seine Uniform ablegen muss, wird im Stück auf ironisch-tragische Weise in Szene gesetzt. Die neue Uniform wird just zu dem Zeitpunkt geliefert, als er seinen Dienst quittiert. Noch einmal will er Hauptmann sein, zieht die neue Uniform an und betrachtet sich dabei im Spiegel. Was er sieht, scheint noch in Ordnung, doch der imaginäre Schein des Spiegelbildes erweist sich als trügerisch. Er ist kein Hauptmann mehr, darüber kann auch die Uniform nicht hinwegtäuschen. Mit der Devestitur besiegelt Schlettow schließlich auf vestimentärer Ebene das Ende seiner militärischen Karriere. Zuckmayers Stück zeichnet insbesondere das Schicksal dieser einen Uniform nach, der der Körper immer wieder verlustig wird. Gerade weil sie nicht an einen einzigen Träger gebunden ist, entwickelt sie ihr Eigenleben. In diesem Sinn kommt ihr dramaturgisch gesehen der Status einer selbstständigen Figur zu, deren Handlungsspielraum zwar eingeschränkt ist, die aber trotzdem die Handlung des Stückes wesentlich vorantreibt. Fremdbestimmt ist sie genau genommen gleichermaßen wie die Hauptfigur des Stückes, Wilhelm Voigt. Parallel zu seinem sozialen Abstieg, den er im Stück durch das Fehlen gültiger Papiere erfährt, lässt sich der Niedergang der Uniform nachzeichnen.40 Der Uniform gelingt es nicht, an einen ständigen Träger zu gelangen und damit wirklich, im funktionalen Sinn, Uniform 35 36 37 38 39
Ebd., S. 42. Ebd., S. 10. Ebd., S. 28. Ebd., S. 13. Ebd., S. 28. In der Regieanweisung heißt es auch: „Man sieht ihm an, daß er die zivile Kleidung nicht gewohnt ist. Der Kragen ist zu hoch und scheint ihn zu drücken.“ (S. 27) 40 Vgl. Frizen 2000, S. 65ff. sowie Gehrke 1983, S. 52.
Das Drama mit der Uniform
183
zu sein. Sie vermag einfach niemandem zu passen: Der Hauptmann will sie nicht, weil ihre Gesäßknöpfe nicht am rechten Platz sitzen. So wird sie auch niemals von einem aktiven Offizier getragen, sondern landet im Schrank eines Reserveleutnants. Als dieser sie nach Jahren wieder anziehen möchte, ist sie ihm mittlerweile zu eng geworden. In einer slapstickartigen Szene versucht er zwar noch, den viel zu dicken Körper in die Uniform zu pressen, doch seine Mühen sind vergeblich. Die Uniform taugt nur mehr für den Maskenball und verkommt zu einem Kostüm. Als solches trägt sie schließlich Auguste Wormser am Kaisermanöverball. Die Uniform passt wieder nicht: Denn als Frau kann sie höchstens davon phantasieren, „’n Damenregiment [zu] gründen und ’n Krieg an[zu]fangen“.41 Das Militär bleibt auch hier eine Domäne der Männerwelt. Der weibliche Körper scheint zudem gar nicht für die Uniform geeignet zu sein, so wie diese „über ihrer wohlgerundeten Figur“42 spannt. Die Travestie vermag zwar die Geschlechterverhältnisse zu parodieren, die Uniform ist aber derart männlich besetzt, dass sie am weiblichen Körper vor allem für Irritation sorgt. Der Reiz, den sie auslöst, bleibt in sexueller Hinsicht nicht wirkungslos: Symbolisch wird die Uniform schließlich mit Sekt bespritzt. Befleckt, wie die Uniform nun ist, wird sie an einen jüdischen Trödler weitergegeben, von dem sie schließlich Wilhelm Voigt käuflich erwirbt. Da dieser kein Soldat ist, bleibt die Uniform zunächst weiterhin ein Kleidungsstück ohne Funktionsberechtigung. Doch dort, wo Stoff und Körper sich vereinigen,43 kann auch der Zauber der Montur wirken und Voigt seinen Coup landen. Die anderen Figuren erkennen ihn als Hauptmann an und befolgen unwidersprochen seine Befehle. Im Schlussbild wird er sich dann selbst im Spiegel als solcher identifizieren. Sein fürchterliches Lachen am Ende entlarvt jedoch den Schein. Sein Lachen geht auf den ganzen Körper über, nimmt sein ganzes Wesen ein – und die Uniform lacht gleichsam mit. Denn mit dem Schelmenstreich ist vor allem eines gelungen: die Staatsobrigkeit mit ihren eigenen Mitteln zu bekämpfen. In Zuckmayers Stück wird der Uniform eine Macht zugeschrieben, der immer schon das Imaginäre einer Als-ob-Figuration anhaftet. So zeigt der Text, wie soziale Ordnungen auf regulativen Fiktionen gründen, die das Spiel der kollektiven Einräumung von Macht überhaupt erst ermöglichen.44 Anerkennungsdynamiken laufen im Text über den äußeren Schein, Aussehen und Ansehen werden relationär miteinander verschränkt: „Wie de aussieht, so wirste anjesehn.“45 Im Text wird diese Aussage in der Figurenrede auf unterschiedliche Weise variiert und entwickelt allein durch die Iteration schon performative Kraft. Zudem wird auch szenisch konkretisiert, was hier von den Figuren geäußert wird. Das Gesagte erscheint dann wie ein pointierter Kommentar zur dargestellten Situation, in der die Kleidung über die Wirkungsmacht einer Figur entscheidet. Wenn der Hauptmann 41 Zuckmayer 1995, S. 96. 42 Ebd., S. 91. 43 Zuckmayer spricht von einer „Hochzeit“ zwischen Voigt und der Uniform. Vgl. Mews 1992, S. 43. 44 Vgl. hierzu Koschorke 2002, S. 77. 45 Zuckmayer 1995, S. 35.
184
Stefan Krammer
ohne Uniform in Erscheinung tritt, wird er als solcher nicht wahr- und ernst genommen. „Ohne Charge biste for mir ’n janz deemlicher Zivilist“,46 entgegnet der betrunkene Grenadier dem Hauptmann, als dieser ihn auf seine soldatischen Pflichten hinweist. In ziviler Kleidung bleibt der Hauptmann machtlos, weil die Uniform nur Macht verleiht, wenn er sie am Körper trägt. So wird der Hauptmann, der allein kraft seiner Funktion den Soldaten arretieren will, schließlich selbst verhaftet. Umgekehrt gelingt es dem ehemaligen Häftling Wilhelm Voigt mit seiner Verkleidung als Hauptmann, das Rathaus von Köpenick zu besetzen und dort das Kommando über die Beamtenschaft zu übernehmen. Allein die Uniform scheint sein Handeln zu legitimieren, sie verleiht ihm jene Vollmachten, die er benötigt, um den Staatsstreich durchführen zu können: „sone Uniform, die macht det meiste janz von alleene.“47 Die Textur der Kleidung überzeugt so sehr, dass es keiner schriftlichen Zeugnisse bedarf, die seine Beauftragung bescheinigen würden. So kann er ohne Ausweis oder Haftbefehl sein Vorhaben verwirklichen. Wesentlich ist hierbei auch das Machtverhältnis innerhalb staatlicher Institutionen, wie es der Text darlegt: Der Bürgermeister in Zivil gehorcht unwidersprochen dem vermeintlichen Hauptmann in Uniform. Pflichtbewusst, wie er ist, stellt er die staatliche Ordnung nicht in Frage und befolgt daher in gewissenhafter Weise die Anordnungen des Uniformierten. So wie die Uniform im Stück staatliche Ordnung repräsentiert, so ist man ihr gegenüber der Ordnung verpflichtet. Zur öffentlichen Verantwortung des Soldaten gehört es dann auch, die Uniform frei von jeglicher Verunreinigung zu halten: „Aufn bunten Rock kein Stäubchen – das is mir Lebensaufgabe.“48 Die Uniform steht hier stellvertretend für den Staat, der von Seiten des Militärs in Ordnung zu halten ist. Ordnung erscheint dabei als Maßstab alles menschlichen Lebens, die sich im Text dann oft als Selbstzweck erweist. „Da is was nich in Ordnung“,49 fühlt etwa Schlettow in der Eingangsszene beim Anlegen seiner neuen Uniform. Und er wird recht behalten: Der Abstand der Gesäßknöpfe entspricht um einen halben Zentimeter nicht der gesetzlichen Vorschrift. Ordnungsliebe wird hier mit penibler Genauigkeit übersetzt. Die Uniform ist dabei Ausdruck einer Satzung, in der der Mensch nur Mittel des Staates ist, nicht jedoch der Staat Mittel des Menschen. Die Verehrung der Ordnung gegenüber spiegelt sich ironisch auch in Voigts Auftreten als falscher Hauptmann. Er ahmt den Habitus der Offiziere nach, indem er die anderen zur Ordnung ruft: „Bringen Sie mal gefälligst Ihre Kleider in Ordnung.“50 Was hier auf vestimentärer Ebene verlangt wird, wird sodann auf die oberste Polizeigewalt übertragen: „Sorgense mal für Ruhe und Ordnung gefälligst!“51
46 47 48 49 50 51
Ebd., S. 37. Ebd., S. 145. Ebd., S. 28. Ebd., S. 11. Ebd., S. 125. Ebd. S. 126.
Das Drama mit der Uniform
185
In Zuckmayers Hauptmann-Text wird die Uniform mythisch verklärt, indem ihr eine gewisse Magie zugeschrieben wird: „So eine Uniform hebt entschieden – es geht ein gewisser Zauber von ihr aus –“.52 Die Uniform vermag nicht nur ihren Träger zu verzaubern, sondern insbesondere auch jene, die die Uniform betrachten. Wie in einem Märchen53 wird sie zu einer Tarnkappe stilisiert, die den Körper unter sich verschwinden lässt und dem Kleidungsstück allein Autorität zuschreibt. Diese speist sich über jene Anerkennungsdynamiken, die rund um die Uniform ablaufen. Der Zauber, der von ihr ausgeht, ist immer der, den die anderen ihr zuschreiben. Deutlich wird dies in der Verwandlungsszene von Wilhelm Voigt. Seine Investitur zum Hauptmann entspricht keiner offiziellen Staatsaktion, die in einem Amt als institutionellem Ort abgehalten wird. Voigt muss mit dem Abort vorlieb nehmen, an dem er sich selbst investiert. Der Zeremonie fehlt es in jeder Hinsicht an Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit, findet sie doch in the closet statt. Durch den Ausschluss der Öffentlichkeit scheint der performative Akt also kaum glücken zu können. Doch das Stück bedient sich nun eines theatralen Tricks, der mit dem Zauber der Uniform zusammenhängt. Als Voigt in Uniform aus der Toilette tritt, erscheint er als ein verwandelter Mensch. Was die LeserInnen als Maskerade erkennen, bleibt den Figuren im Stück verborgen. Sie nehmen ihn als Hauptmann wahr und akzeptieren ihn auch als solchen. Woher sich die Magie der Uniform speist, wird im Stück selbst thematisiert. In der Bezeichnung der Uniform als „Kaisers Rock“ wird eine direkte Verbindung zum Herrscher imaginiert. Der Name legt nahe, dass alle Soldaten den Rock des Kaisers höchstpersönlich tragen. So ist auch Voigt davon überzeugt, dass die Offiziere ihre Uniform direkt vom Kaiser beziehen. Desillusioniert wird er dann, als er einen Laden entdeckt, in dem Uniformen käuflich zu erwerben sind. Der Uniform wird so der ehrfürchtige Nimbus genommen, indem sie als austauschbare Ware erkannt wird. Wie sehr diese Ware aber mit einem Fetisch besetzt ist, veranschaulicht Zuckmayers Stück in parodierender Weise. Denn es wendet sich nicht nur kritisch gegen eine Fetischisierung der Uniform, sondern betreibt sie im Grunde vom Anfang bis zum Ende selbst. 3. KAMPFMASCHINE IM EHRENKLEID. BERTOLT BRECHTS MANN IST MANN Bertolt Brechts 1926 uraufgeführtes Lustspiel Mann ist Mann handelt ebenso von der Verwandlung eines Zivilisten zum Soldaten. Hauptfigur ist der Packer Galy Gay, der zunächst nur in die Rolle des Soldaten Jeraiah Jip schlüpfen soll, um ihn beim Appell zu vertreten, jedoch in der Folge sukzessive in eine „menschliche Kampfmaschine“54 ummontiert wird. Die Austauschbarkeit der Männer kündet 52 Ebd., S. 60. 53 Als ein solches wird das Stück auch im Untertitel bezeichnet: „Ein deutsches Märchen in drei Akten“. 54 Brecht 1964, S. 293.
186
Stefan Krammer
bereits der Titel an, das Stück liefert dann den Beweis dazu: „Herr Bertolt Brecht behauptet: Mann ist Mann. / Und das ist etwas, was jeder behaupten kann. / Aber Herr Bertolt Brecht beweist auch dann / Daß man mit einem Menschen beliebig viel machen kann.“55 Die Manipulierbarkeit des Menschen wird mit Metaphern aus dem Bereich der Technik umschrieben: Der Mensch soll umgebaut, wie ein Auto ummontiert werden.56 Die Uniform als sogenannte Montur hat bei der „Montage“57 eine zentrale Funktion. Brechts Stück fokussiert auf die Rolle des Militärs in diesem Prozess und führt vor Augen, wie jegliche Individualität im verbrecherischen Kollektiv58 der Armee verschwindet. Dass das Militär (wie die Technik) eine Domäne des Männlichen darstellt, wird schon durch den Titel verdeutlicht. Im Stück kommen mit zwei Ausnahmen auch nur männliche Figuren vor. Brechts Stück ist im Militärmilieu einer britischen Kolonialarmee im Indien der 1920er Jahre angesiedelt. Die Dislozierung in fremdes Staatsgebiet stellt vor allem eine Funktion des Heeres in den Vordergrund: Es geht nicht mehr um die Wahrung der Sicherheit im eigenen Land, sondern vielmehr um Expansionsinteressen, die von einem imperialen Herrschaftsanspruch geleitet werden. Die Kolonialisierung ruft schließlich als legalisiertes Verbrechen einen Krieg hervor, der insbesondere aus wirtschaftlichen Gründen geführt wird. Der Überfall der Gelbherrnpagode, der am Anfang des Stückes von vier Soldaten der Maschinengewehrabteilung vorgenommen wird, führt exemplarisch vor Augen, wie hier in fremdes Terrain eingegriffen wird, um sich an anderen bereichern zu können. Legitimiert wird die Aktion durch folgenden Vergleich, der das Handeln der Soldaten an die königliche Herrschaft knüpft: „Gleich wie die gewaltigen Tanks unserer Queen mit Petroleum gefüllt werden müssen, damit man sie über die verdammten Straßen dieses zu langen Goldlandes rollen sehen kann, so ist den Soldaten das Biertrinken unerlässlich. […] Dazu ist Geld notwendig.“59 Im Auftrag der englischen Königin60 ziehen die Soldaten in den Krieg, der im Grunde immer schon vorgesehen war und daher von den Soldaten als ordnungsstiftendes Moment erlebt wird: „Kameraden, der Krieg ist ausgebrochen. Die Zeit der Unordnung ist vorüber. Auf private Wünsche kann also keine Rücksicht mehr genommen werden.“61 Die kriegerischen Umstände zwingen die Figuren im Stück, ihre individuellen Bedürfnisse hintanzustellen und sich in den militärischen Apparat einzuordnen. Die räumliche Verlagerung des Stückes in „ein fremdes Land“62 hat auch Folgen für die Bedingungen, unter denen die Figuren als Soldaten agieren. Dennoch kann sie – ganz im Sinne eines Verfremdungseffektes, wie Brecht in seinen Schriften zum epischen Theater später proklamiert – Distanz zu einem 55 56 57 58 59 60 61 62
Ebd., S. 229. Ebd. Ebd., S. 262. Kesting (1969, S. 180) und Onderdelinden (1970, S. 156) sprechen mit Bezugnahme auf Brecht vom „falschen“ Kollektiv. Brecht 1964, S. 173. Die Stimme im Stück bringt diesen performativen Akt akustisch zum Ausdruck. Ebd., S. 230. Ebd., S. 232. Brecht 1963, S. 188.
Das Drama mit der Uniform
187
scheinbar bekannten Sachverhalt schaffen. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden schärft den Blick auf das Eigene. Der Text über die britische Armee in Asien verweist auf die militärischen Verhältnisse in Deutschland. Der Zusammenhang dazu wird auch an den verschiedenen Fassungen und Kommentaren zum Stück deutlich.63 Das Milieu, in dem das Stück spielt, schreibt auch die Kleidung vor, die die männlichen Figuren tragen. Als Soldaten erscheinen sie entsprechend ihrer Funktion in Uniformen, ohne dass diese in einer einleitenden Regieanweisung erwähnt werden müssten. Im Text wird die Kleidung der Soldaten erst dann beschrieben, als diese beim Einbruch in die Pagode Schaden erleidet. Der eine hat seine Hose an einem Bambushaken aufgeschlitzt, der andere seinen Stiefel in ein Schlageisen gesteckt. Die Soldaten verheddern sich im Tempel so sehr mit ihren Uniformen, dass sie schließlich „zerlumpt“64 aus ihm heraustreten. Die Aktion verlangt ihren vollen Einsatz, die versehrten Uniformen sind Zeichen dafür und verdeutlichen gleichsam, wie wenig souverän die Soldaten zu agieren imstande sind. Allein die Plünderung des Opferstocks wird für sie zu einer schier unbewältigbaren Aufgabe. Dem Tempel als personifiziertem Kriegsgegner werden unlautere Kampfmittel unterstellt, aus diesem Grund eröffnen die Soldaten das Feuer gegen ihn. Die zerlumpten Uniformen veranschaulichen aber gleichzeitig, dass der Überfall keineswegs legitim ist, selbst den militärischen Regeln zuwiderläuft: Das Militärverbrechen haftet so den Soldaten bereits an der Kleidung. Doch nicht nur ihre Uniformen sind in Unordnung geraten, auch als kleinste militärische Formation, die im Text immer aus vier Personen besteht, sind die Soldaten unvollständig, da sie einen ihrer Kumpanen am Tatort zurückgelassen haben. An dieser Stelle kommt Galy Gay zum Einsatz, der als Ersatzmann für den fehlenden Soldaten einspringen soll: „Es wäre uns geholfen, wenn Sie einen unserer Soldatenröcke anzögen und bei der Abzählung der Neuangekommenen dabeistünden und seinen Namen [Jeraiah Jip] rufen. Nur der Ordnung halber.“65 Beim Rollenwechsel spielt die Uniformierung eine wesentliche Rolle. Denn die Serialität, die der militärischen Uniform anhaftet, indem sie Kleidung und Körper standardisiert, nivelliert jegliche Auffälligkeit. Im Stück heißt es dazu, „daß die Herren Soldaten alle die gleichen Kleider haben“.66 Grafisch skizziert wird die 63 Vgl. dazu Onderdelinden 1970, der zeigt, wie das Stück in den frühen Fassungen von 1926 und 1928 als zynisches Lustspiel gelesen werden kann, das Brecht in der Fassung von 1931 aber zum antimilitärischen Lehrstück verwandelt. Wenn Brecht dann in seinem Kommentar aus dem Jahr 1936 Zur Frage der Konkretisierung vorschlägt, das Militärlager in Indien auf den Parteitag der NSDAP zu verlagern, dann wird der Text schließlich zu einem antifaschistischen Kampfstück. In diesem Sinne stellt sich die Entwicklungsgeschichte des Stückes, das die Manipulierbarkeit der Menschen in den Blick nimmt, selbst als eine Geschichte von der Manipulierbarkeit des Stückes heraus. In diesem Beitrag soll es aber nicht darum gehen, die textgenetische Verwandlung des Textes nachzuvollziehen und politisch zu deuten. Als Textgrundlage wird daher die Textversion der Werkausgabe herangezogen, die im Wesentlichen eine Kompilation der Fassungen von 1926 und 1931 darstellt. 64 Brecht 1964, S. 177. 65 Ebd., S. 192. 66 Ebd., S. 206.
188
Stefan Krammer
Gleichförmigkeit der Soldaten durch Strichmännchen, die seriell nebeneinander platziert werden. Die Unverwechselbarkeit und Austauschbarkeit der Soldaten macht sich der Text auch dramaturgisch zunutze: Erst einmal in eine Uniform gesteckt, wird Gay zum perfekten Platzhalter, der optisch nicht mehr unterscheidbar ist, sondern nur noch durch seinen Namen identifiziert werden kann. So wie er aber einen falschen Namen angeben wird, bleibt die Uniform zunächst nur eine Maskerade. Obwohl der Vorgesetzte beim Appell getäuscht werden kann, wissen die anderen Soldaten um den Schwindel, der weniger dem imaginären Schein der Uniform geschuldet ist als vielmehr ihrer unauffälligen Einförmigkeit. Vor diesem Hintergrund nimmt Gays Investitur auch eine zentrale Funktion im Stück ein. Hinter einem Verschlag von aufgestellten Tischen werden Gay zunächst seine zivilen Kleider abgenommen, um ihm dann in einem vermeintlich offiziellen Rahmen „das Ehrenkleid der großen britischen Armee anlegen“67 zu können. Der performative Akt, den die Soldaten hier für Gay inszenieren, wird vom Handel mit der Besitzerin der Campkantine unterwandert, die für die bereitgestellte Uniform eine entsprechend hohe Leihgebühr fordert: Die Uniform wird dabei vom Ehrenkleid zur feilgebotenen Ware. Weil die Uniform zu klein ist und die Stiefel ebenfalls nicht passen, kann sogar ein Preisnachlass erzielt werden. Dass Gay die Uniform nicht so recht passt, ist Zeichen dafür, dass er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich zu einem Soldaten geworden ist. Mit der Einkleidung ist zwar der Rollenwechsel theatralisch vollzogen, für die Internalisierung bedarf es jedoch eines weiteren szenischen Aufwands. In einer revueartigen Nummernfolge wird dazu ein Theater auf dem Theater inszeniert, in dem Gays endgültige Verwandlung zum Soldaten in einer konstruierten Groteske68 vor Augen geführt wird. Ein vermeintlicher Elefantenhandel wird ihm dabei zum Verhängnis. Was als Spiel beginnt, hat für Gay letztlich ernste Folgen: Der Elefant, den er verkaufen soll, erweist sich nämlich als eine schlechte Attrappe. Aus diesem Grund wird er in einem fingierten Gerichtsverfahren, bei dem ihm dieser offensichtliche Betrug angelastet wird, zum Tode verurteilt. Und nach seiner symbolischen Hinrichtung muss er sogar eine Grabrede auf sich selbst abhalten. Erst wenn Galy Gay als Zivilist ausgelöscht ist, kann Jeraiah Jip als Soldat auferstehen. Die Szenenfolge, in der jene theatralen Vorgänge offengelegt werden, mittels deren Gay sich hat täuschen lassen, wird als ein im Ausgang offenes Ringen um seine Identität gestaltet. Der Text liefert allerdings eine Vielzahl an Argumenten, die diese in Frage stellen, sodass Gay schließlich gezwungen wird, jemand anderer zu werden, um seine eigene Haut zu retten. Gay hat letztlich die Wahl, sich den Anpassungsanforderungen des Militärs zu beugen und damit an den kriegerischen Verbrechen teilzuhaben oder aber selbst erschossen zu werden.69 Er entscheidet sich für das Leben und nimmt damit in Kauf, mit seinem Namen auch seine Individualität auszulöschen. Mit dem Kleiderwechsel hat der Identitätsverlust seinen Anfang genommen, mit der Annahme s/eines neuen Namens ist die 67 Ebd., S. 193. 68 Zur Groteske bei Brecht vgl. Kesting 1969, S. 193ff. 69 Vgl. Kändler 1970, S. 348.
Das Drama mit der Uniform
189
Transformation zum Soldaten abgeschlossen. Durch die militärische Zurichtung, die er im Umgang mit den anderen Kameraden erlebt, hat er sich sogar schon einen militärischen Habitus angeeignet: „Jetzt gehst du wie ein Soldat“,70 versichert ihm einer seiner Kollegen. Dass in der Zwischenzeit tatsächlich der Krieg ausgerufen worden ist, wirkt sich förderlich auf seine Verwandlung aus. Denn als Soldat kann er im Krieg seine wahre Bestimmung finden: „Erst in der Schlacht erreicht ja der Mann seine volle Größe.“71 Die letzte Szene zeigt ihn als „großen Soldaten“72, als „Eroberer“73 im vollen Kampfeinsatz. Sein Handeln bestimmt nun auch sein Sein. Die Verwandlung Galy Gays vom Zivilisten zum Soldaten wird in einer gegenläufigen Parallelhandlung parodistisch konterkariert. Denn der Sergeant, der sich durch seine kriegerischen Heldentaten einen Namen gemacht hat, zweifelt an seiner eigenen militärischen Handlungsfähigkeit. Seine „hemmungslose Sinnlichkeit“74 gegenüber Frauen bestärkt ihn nicht in seiner Männlichkeit, ganz im Gegenteil, sie wird zum Zeichen seiner Schwäche, weil er dadurch die Kontrolle über sich selbst verliert. „Weißt du nicht, daß mich meine Mannheit schwach macht“?75 Mann ist eben dann nur Mann, so legt das Stück nahe, wenn er auch seine Triebe im Zaum halten kann. Unbeugsame Willenskraft wird zur zentralen männlichen Tugend erklärt. Doch der Sergeant vermag den Verlockungen der Besitzerin der Campkantine nicht zu widerstehen und wird sie von nun an auf ihren Wunsch hin ohne Soldatenrock, ganz „ohne Eisenhut“76 aufsuchen. Sein Entschluss wird auf vestimentärer Ebene zum Ausdruck gebracht. Er legt seine Uniform ab und erscheint in Zivil. Die Devestitur geht mit einem Machtverlust einher. Als Zivilist wird er von den Soldaten verspottet und schikaniert. Seine militärischen Befehle gehen ins Leere. Zur Rettung seiner Ehre ist er schließlich bereit, sich selbst zu kastrieren, um wieder seinen Namen zu erhalten und soldatisch handeln zu können. Mit dem Verlust seiner Virilität steigt in ungewöhnlicher Umkehrung seine militärische Potenz. Selbst wenn er nun kein „ganzer Mann“ mehr ist, gewinnt er seine gesellschaftliche Anerkennung zurück. Und das wiederum beweist Galy Gay, „wohin diese Hartnäckigkeit führt, und wie blutig es ist, wenn ein Mann nie mit sich zufrieden ist und soviel Aufhebens um seinen Namen macht“.77 Letztlich ist es die groteske Selbstentmannung des Sergeants, die Gay vollständig davon überzeugen kann, nicht weiterhin an seiner vorigen Identität festzuhalten. Seine Verwandlung ist damit abgeschlossen: Mann ist Mann. Quod erat demonstrandum.
70 71 72 73 74 75 76 77
Brecht 1964, S. 264. Ebd., S. 220. Die Aussage ist auch sexuell konnotiert. Ebd., S. 290. Ebd., S. 293. Ebd., S. 199. Ebd., S. 281. Ebd., S. 200. Ebd., S. 282.
190
Stefan Krammer
FAZIT Sowohl Zuckmayers Hauptmann-Text als auch Brechts Mann ist Mann lassen sich in Hinblick auf die politischen Diskurse der Zwischenkriegszeit als warnendes Zeichen gegen Militarismus und jegliche Form von Staatsgewalt lesen. Als Komödien machen sie sich über militärische Praktiken und Usancen lustig, veranschaulichen in grotesken Bildern soldatisches Gebaren und ironisieren kriegerische Aktionen. Sie zeigen dadurch aber auch die Macht, die vom Militär ausgeht, und legen die Mechanismen offen, die zu einer zivilen Militarisierung führen. Zuckmayers Stück bedient sich des Mittels der literarischen Übertreibung, wenn es die Uniform – an die Kaiserzeit geknüpft – nostalgisch als Fetisch verklärt. Der Zauber der Montur wird gebrochen, indem der imaginäre Schein der Uniform satirisch entlarvt wird. Wie der Protagonist am Ende mögen dann auch die LeserInnen darüber lachen, dass die Staatsobrigkeit mit ihren eigenen Mitteln geschlagen worden ist. Die Verlegenheit ist diesem Lachen aber bereits eingeschrieben, denn aus ihm formt sich allmählich ein Wort: „Unmöglich“.78 In seinem Spiegelbild erkennt der falsche Soldat die Unmöglichkeit der Situation. Er hat sich selbst zum Soldaten gemacht, obwohl er gar keiner ist. In seiner Figur wird augenfällig, dass die Grenzen zwischen Militär und ziviler Gesellschaft verschwimmen. Das Militär „konzentriert“ sich nicht mehr allein auf einen abgrenzbaren gesellschaftlichen Bereich, sondern durchdringt die gesamte Gesellschaft. Und der Einzelne wird dabei schneller zum Soldaten, als er es für möglich hält. Dem selbsternannten Soldaten in Zuckmayers Stück steht bei Brecht eine Hauptfigur gegenüber, die von anderen erst dazu überredet werden muss, die Rolle des Soldaten anzunehmen. Dabei ist weniger der imaginäre Schein der Uniform von Bedeutung als ihre serielle Austauschbarkeit. Insofern ist mit dem Anlegen der Uniform der militärische Integrationsprozess noch nicht abgeschlossen, es bedarf weiterer Überzeugungskraft, um das Individuum ins Kollektiv des Militärs überzuführen. Das Stück liefert die Argumente dazu, betont dabei die Vorteile eines Lebens in der Armee und verherrlicht kriegerisches Handeln. Die Uniform wird zum nationalen Symbol erklärt, das als kollektives Ehrenkleid an die königliche Herrschaft gebunden ist. Dass nicht alles, was die Figuren an Kriegspropaganda von sich geben, wörtlich zu nehmen ist, wird in der grotesken Verzerrung des Lustspiels evident. Die demaskierende Entstellung von Militär und Krieg soll gleichermaßen Lachen und Entsetzen hervorrufen. Zentral sind dabei die theatralen Mittel, die angewendet werden, um einerseits in der Verfremdung kritische Distanz zu schaffen, andererseits mit dem Theaterspiel selbst den Schein, der dem Militär anhaftet, offenzulegen. Dem Kleidertausch kommt dabei eine wichtige Funktion zu. Er zeigt nicht nur den Rollenwechsel an, sondern stellt – indem er den Eigenwert der Persönlichkeit ironisiert und verneint – auch die Individualität der Figuren in Frage. In ihrer dramatischen Konstruktion zeigen die beiden Stücke aber nicht nur den Weg vom zivilen Staatsbürger zum uniformierten Soldaten, sondern nehmen 78 Zuckmayer 1995, S. 148.
Das Drama mit der Uniform
191
auch die umgekehrte Richtung in den Blick. Bei Zuckmayer ist es der Hauptmann, der – dem militärischen Ehrenkodex verpflichtet – seine Uniform ablegt. Bei Brecht steht dem Sergeant seine Triebhaftigkeit im Weg, die ihn zu einem zivilen Leben zwingt. Die Durchlässigkeit von Militär und ziviler Gesellschaft ist demnach nach beiden Seiten hin gegeben. Die Devestitur wird aber in beiden Fällen als schmerzhaft inszeniert. Sie geht mit dem Verlust an gesellschaftlicher Anerkennung und sozialem Prestige einher. Wie stark dadurch auch die Männlichkeit der Figuren in Frage gestellt wird, zeigt die Selbstkastration des Sergeants. Selbst wenn er seine Virilität einbüßt, kann er dadurch rehabilitiert werden. Denn indem er seine unbeugsame Willenskraft und physische Gewaltbereitschaft unter Beweis stellt, gewinnt er wieder an militärischer Integrität. Als Theaterstücke verleihen die beiden Texte ihren geschriebenen Kleidern besondere inszenatorische Wirkungskraft. Als theatrale Zeichen formen sie den Körper der Figuren, machen diese zu Funktionsträgern und statten sie mit einer bestimmten Autorität aus. Dadurch beginnen sie auch selbst zu sprechen, interagieren mit anderen Zeichen bzw. dominieren die Szenerie. Sie dienen in den Texten der Sichtbarmachung und Reproduktion staatlicher Ordnung, bleiben aber trotz aller rhetorischer Intensität und struktureller Macht theatrale Kostümierungen. Sie können beliebig an- und ausgezogen werden, generieren dadurch die unterschiedlichsten Rollen, die durch ihre offensichtliche Maskerade stets auch unwahr erscheinen. So führen die Texte in ihrer Fiktionalität und Theatralität vor allem eines vor Augen: die Unmöglichkeit, die der Uniform immer schon vorausgeht. LITERATUR Barthes, Roland, 1985: Die Sprache der Mode, Frankfurt a. M. Bourdieu, Pierre, 1998: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handels, Frankfurt a. M. Brecht, Bertolt, 1963: Schriften zum Theater 3, Berlin/Frankfurt a. M. Brecht, Bertolt, 1964: Mann ist Mann. In: Ders.: Stücke II, Berlin/Frankfurt a. M., S. 169 –315. Debord, Guy, 1996: Die Gesellschaft des Spektakels, Wien. Frevert, Ute, 1997a: Das Militär als „Schule der Männlichkeit“. Erwartungen, Angebote, Erfahrungen im 19. Jahrhundert. In: Dies. (Hrsg.): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart, S. 145–173. Frevert, Ute, 1997b: Gesellschaft und Militär im 19. und 20. Jahrhundert: Sozial-, kultur- und geschlechtergeschichtliche Annäherungen. In: Dies. (Hrsg.): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart, S. 7–14. Frizen, Werner, 2000: Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick, München. Gehrke, Hans, 1983: Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick, Hollfeld. Grenville, Anthony, 1996: Authoritarianism Subverting Democracy: The Politics of Carl Zuckmayer’s „Der Hauptmann von Köpenick“. In: The Modern Language Review, Bd. 91, Nr. 3, S. 635–646. Hein, Jürgen, 1977: Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick. In: Hink, Walter (Hrsg.): Die deutsche Komödie. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Düsseldorf, S. 269–286. Kantorowicz, Ernst H., 1994: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München. Kändler, Klaus, 1970: Drama und Klassenkampf. Beziehungen zwischen Epochenproblematik und dramatischem Konflikt in der sozialistischen Dramatik der Weimarer Republik, Berlin/Wien.
192
Stefan Krammer
Kesting, Marianne, 1969: Die Groteske vom Verlust der Identität: Bertolt Brechts „Mann ist Mann“. In: Steffen, Hans (Hrsg.): Das deutsche Lustspiel. Zweiter Teil, Göttingen, S. 180–199. Koschorke, Albrecht, 2002: Macht und Fiktion. In: Frank, Thomas u.a.: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft, Frankfurt a. M., S. 73–84. Kraß, Andreas, 2006: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen/Basel. Lernet-Holenia, Alexander, 2002: Die Standarte. Roman, Frankfurt a. M. Mentges, Gabriele, 2005: Die Angst vor der Uniformität. In: Mentges, Gabriele/Richard, Birgit (Hrsg.): Schönheit der Uniformität. Körper, Kleidung, Medien, Frankfurt a. M./New York, S. 17–42. Mentges, Gabriele/Richard, Birgit, 2005: Schönheit der Uniformität. Zur kulturellen Dynamik von Uniformierungsprozessen. In: Dies. (Hrsg.): Schönheit der Uniformität. Körper, Kleidung, Medien, Frankfurt a. M./New York, S. 7–13. Mews, Siegfried, 1992: Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick, Frankfurt a. M. Mommsen, Hans, 1997: Militär und zivile Militarisierung in Deutschland 1914 bis 1938. In: Frevert, Ute (Hrsg.): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart, S. 265–276. Myerli, Scott H., 1996: British Military Spectacle, Cambridge/London. Onderdelinden, Sjaak, 1970: Brechts Mann ist Mann: Lustspiel oder Lehrstück? In: Neophilologus, Bd. 54, Nr. 1, S. 149–166. Rieger, Markus, 2009: Zauber der Montur. Zum Symbolgehalt der Uniform in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit, Wien. Polgar, Alfred, 1982: Die Uniform. In: Ders. (Hrsg.): Kleine Schriften, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg, S. 72–74. Schmitz, Walter, 2000: Das kleine Welttheater der Macht: Carl Zuckmayers Der Hauptmann von Köpenick. In: Zuckmayer-Jahrbuch, Bd. 3, S. 377–415. Weber, Max, 2008: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Frankfurt a. M. Zuckmayer, Carl, 1995: Der Hauptmann von Köpenick. In: Ders.: Der Hauptmann von Köpenick, Theaterstücke 1929–1937, Hrsg. Beck, Knut/Guttenbrunner-Zuckmayer, Maria, Frankfurt a. M., S. 7–149. Zuckmayer, Carl, 1997: Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, Frankfurt a. M.
RHETORIK DES STAATES. EIN RESÜMEE Roland Innerhofer Was Staaten sind, hängt davon ab, wie sie wahrgenommen werden, welche Gedanken und Gefühle sie mobilisieren, wie sich die Menschen zu und in ihnen verhalten. Doch gesichert wird die Existenz von Staaten wie anderer sozialer Systeme gemäß der Luhmannschen Theorie gerade durch den „Latenzschutz“, also dadurch, dass ihre Funktionsweise und Struktur unsichtbar bleiben.1 Der Literatur steht eine Reihe von Verfahren zur Verfügung, um die kommunikativen Prozesse und sozialen Energien zu verhandeln, die den Staaten und ihren Formen zugrunde liegen. Sie kann dabei tendenziell den Latenzschutz, die Systemsicherung durch die Nutzung eingespielter Wahrnehmungsformen des Staates und überkommener Umgangsformen mit ihm unterstützen oder eben diese konventionalisierten Wahrnehmungsweisen, Techniken und Praktiken bloßlegen und damit in einem bestimmten Maße systemdestabilisierend wirken. Ob der Staat als Organismus, als Person, als Familie, als Gebäude, als Apparat oder als Maschine vorgestellt wird, ist Teil eines Sprachspiels mit ernsten Folgen. Denn die Metaphern, die hier verwendet und wortwörtlich „ver-wendet“ werden, bestimmen das Leben derjenigen, die in diesen Metaphern leben müssen.2 Die Wendung, die diese ihrem Leben geben, kann im Grenzfall eine tödliche sein. Das zeigt sich in Erich Mühsams dokumentarischem Stück Staatsräson. Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti (1928). Wenn sich die Systeme des Rechts und Staats keineswegs decken, wie Sabine Zelger in Anschluss an Eckart Klein argumentiert,3 so nimmt der Staat das Recht in Anspruch, diejenigen auszuschalten, die sich seiner „Raison“ widersetzen. Staatliche Souveränität beruht auf der Verfügungsgewalt über Leben und Tod.4 Mühsams Stück führt den zu vereitelnden Versuch des souveränen Staates vor, Macht und Gewalt zu monopolisieren. Zwar bezahlen die beiden Anarchisten ihre Widersetzlichkeit gegen die Logik des souveränen Staates mit dem Tod, aber ihr Widerstand führt zugleich vor, dass sich Machtwirkungen nicht auf das vom Staat und seinen Institutionen besetzte Feld eingrenzen lassen. Michel Foucault sprach von einer „Mikrophysik der Macht“5, die in infinitesimale Netzwerke diffundiert. Die Dynamik der Macht erzeugt ein 1 2 3 4
5
Vgl. Luhmann 1984, S. 456–459. Der Beitrag von Sabine Zelger verweist in diesem Zusammenhang auf: Lakoff/Johnson 2008. Klein 2003, S. 90; vgl. Zelger, S. 123. Beispielhaft dazu Enzensberger 1978, S. 15: „Sie [die Abschaffung der Todesstrafe, R.I.] entzieht der staatlichen Herrschaft die Befugnis, über Leben und Tod des Einzelnen zu entscheiden. Diese Befugnis ist aber der eigentliche Kern der Souveränität.“ Foucault 1977.
194
Roland Innerhofer
unbezähmbares Moment der Unruhe, die das Konzept eines Staats-„Apparates“, der Ruhe und Ordnung garantiert, unterläuft. Je mehr der Staat seine Stärke in der Stabilisierung starrer Ordnung und totaler Integration sucht, desto mehr befördert er die destabilisierenden und desintegrierenden Gegenkräfte. Nach einem Diktum Foucaults ist „die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“.6 Diese Mittel sind nicht zuletzt, das belegen die Beiträge dieses Abschnitts, rhetorische. Marion Löffler zeigt anhand von Gerhard Anschütz‘ Rektoratsrede in Heidelberg 1922, wie Politik sich als Kampf um konkurrierende Sprachregelungen, Narrative und Zuordnungen von Begriffen äußert. Anschütz bewegt sich im Rahmen der wirkungsmächtigen organizistischen Bildlichkeit, um gegen den Mainstream der politischen Diskurse der Zwischenkriegszeit die Affinität von Nationalismus und Demokratie zu bekräftigen. Die Körpermetapher wird in Anschütz‘ Argumentationsstrategie zum Familiennarrativ ausgeweitet und dieses doppelt codiert: Zum einen werden der demokratische Staat und das deutsche Nationalbewusstsein zu Geschwistern erklärt. Zum anderen erscheint die Demokratie deshalb als die dem Volksstaat angemessene Regierungsform, da das Volk aus gleichberechtigten Brüdern besteht, die keiner väterlichen Autorität untertan sind. In der Formulierung Marion Löfflers vereinigt sich unter liberalem Vorzeichen die „Bilderwelt der Familie“ mit der „Fabel der sich emanzipierenden Söhne“ (S. 157). Auch die in der Wendung „Der Staat, das sind wir“ vollzogene Gleichsetzung von Volk und Staat erweist sich als rhetorischer Effekt, der mit der weiteren Argumentation der Rede und ihrer Auffächerung des Volksbegriffs keineswegs konform geht. Rhetorik dient hier nicht der Suggestion und Verschleierung, sondern sie exponiert pointiert und polemisch eine Position, die im Kontext der gesamten Rede relativiert wird. Was sich in der universitätspolitischen Rede ankündigt, zeigt sich noch deutlicher in der Literatur. Wird bei Anschütz zunächst ein totum behauptet, das sich aber im Gesamtzusammenhang zur pars reduziert, so führt der literarische Staatsdiskurs partes vor, während sich das totum, wofür sie stehen sollten, verflüchtigt. Der Staat ist eine von jenen Einheiten, die im Zuge der Moderne zerfallen. Je mehr das Wissen in unzählige Spezialgebiete ausdifferenziert und aufgesplittert wird, desto mehr wird das Begehren nach neuen (oder alten) Einheiten angespornt. Im Genre des Dorfromans, das Wolfgang Straub untersucht, manifestieren sich Wunsch- und Sehnsuchtspotentiale, die sich auf die Restitution gesellschaftlicher Integration richten. Diese wiedergefundene Einheit ist im Dorfroman an einen Boden, an ein Territorium geknüpft. Eben deshalb ist aber die Dorfgemeinschaft oder, noch enger, der Bauernhof als pars pro toto gesellschaftlicher und staatlicher Einheit von vornherein aporetisch. Denn die Bindung der Dorfgemeinschaft an ein Territorium impliziert die Exklusion eines anderen Territoriums, eines solchen, dessen Grenzen grundsätzlich nicht fixiert werden können: der Stadt. Die Einheit des Dorfes ist also per definitionem eine partielle und als solche für die Repräsentation eines Ganzen untauglich.
6
Foucault 1999, S. 26.
Rhetorik des Staates. Ein Resümee
195
Straub weist unter Berufung auf Simmels Raumsoziologie darauf hin, dass die Grenze keine räumliche Tatsache, sondern eine soziale Konstruktion ist. Eben aus diesem Grund kann ein Territorium keine Totalität stiften. Anknüpfend an Kant weist Simmel die Konzeption von Raum als Behälter zurück und betont, dass Raum immer nur durch die Vorstellung der Menschen generiert wird,7 also paradoxerweise „nichts Räumliches ist“8. Gemäß der Raumsoziologie Simmels ist also das Dorf ein Raum, dessen Ordnung Produkt eines gesellschaftlichen Systems ist. Der Raum ist mithin ein Effekt der Vergesellschaftung, in der individuelle Interessen „zu einer Einheit zusammenwachsen und innerhalb derer diese Interessen sich verwirklichen“.9 Die ordnungsstiftenden Qualitäten des gesellschaftlich konstituierten Raums sind „die Ausschließlichkeit, die Zerlegbarkeit, die Fixierung, die Nachbarschaft und die Bewegungsmöglichkeiten von Ort zu Ort“.10 Wenn in der Zwischenkriegszeit das Dorf als privilegierter Lebensraum für die Restitution gesellschaftlicher Ordnung erscheint, so liegt das auch daran, dass in der zeitgenössischen Wahrnehmung in ihm, anders als in der Stadt, nicht die Geld-, sondern die Naturalwirtschaft herrscht. „Von jeher war die Stadt im Unterschied vom Lande der Sitz der Geldwirtschaft“,11 heißt es bei Simmel. Indem besonders in der Großstadt die Beziehungen zwischen den Menschen durch die Geldwirtschaft geprägt sind, verlieren hier in Simmels Sicht die räumlichen Kategorien von Nähe und Ferne an Bedeutung. Diese distanzschaffende Eigenschaft des Geldes, das „eine durchgängige Objektivierung des Verkehrs mit sich bringt“,12 ist nach Simmel gerade für den Stadtmenschen unverzichtbar und lebensnotwendig: Daß man sich mit einer so ungeheuren Zahl von Menschen so nahe auf den Leib rückt, wie die jetzige Stadtkultur mit ihrem kommerziellen, fachlichen, geselligen Verkehr es bewirkt, würde den modernen, sensibeln und nervösen Menschen völlig verzweifeln lassen, wenn nicht jene Objektivierung des Verkehrscharakters eine innere Grenze und Reserve mit sich brächte. Die entweder offenbare oder in tausend Gestalten verkleidete Geldhaftigkeit der Beziehungen schiebt eine unsichtbare, funktionelle Distanz zwischen die Menschen, die ein innerer Schutz und Ausgleichung gegen die allzu gedrängte Nähe und Reibung unseres Kulturlebens ist.13
Im Landleben, wie es der Dorfroman darstellt, ist dagegen die soziale Verknüpfung noch von der Raumordnung und ihren Nähe-Distanz-Relationen abhängig. In Waggerls Erstlingsroman Brot (1930) bilden die Stationen Besitznahme, Abgrenzung, Urbarmachung eines bislang unbesiedelten Territoriums eine Art Ursprungsmythos, in dem der Bauernhof als Staat en miniature erscheint. Nicht von ungefähr kommt die Bedrohung für dieses auf Autarkie und Subsistenzwirtschaft beruhende Modell einer Einheit von Haus, Hof und patriarchaler Familie von dem nahe gelegenen, zur Stadt mutierten Dorf und den in ihm wirksamen sozialen 7 8 9 10 11 12 13
Vgl. Löw 2001, S. 59. Simmel 1905, S. 55. Simmel 1995, S. 19. Löw 2001, S. 62. Simmel 1900, S. 575. Ebd., S. 542. Ebd.
196
Roland Innerhofer
Energien des Geldes und der Sexualität. Mobilität wird als desintegrierende Kraft dargestellt: So wird dem körperlich starken leiblichen Sohn des Siedlers Simon, der den Bauernhof weiterführt und für den Fortbestand der Familie durch Zeugung eben dieses Sohnes sorgt, der schwächliche Ziehsohn Simons gegenübergestellt, der sein Glück in einem Landstreicherleben sucht. In der Abwehr städtischer Mobilität und in der Apologie bäuerlicher Sesshaftigkeit zeigt sich die antimoderne Grundhaltung des Waggerl’schen Dorfromans. Diese Dichotomie von ländlicher Stabilität und städtischer Mobilität liegt auch der Struktur von Richard Billingers Roman Die Asche des Fegefeuers. Eine Dorfkindheit (1931) zugrunde. Auch hier kann der Bauernhof als pars pro toto für eine legitime Gemeinschaft gesehen werden. Die durch die Genealogie legitimierte Einheit der Bauernfamilie spiegelt sich in der Gemeinschaft des Bauerndorfes. Bei Billinger sind, wie Straub hervorhebt, die Bauernhöfe ihrerseits personifiziert und als Sippschaft miteinander verbunden. Die Bilder der Ordnung sind räumliche: Wie am Tisch des Bauern jeder seinen ihm zustehenden Sitzplatz hat, hat auch im Dorf jeder Hof seinen angestammten Platz. Der Dorfroman gestaltet hier also eine doppelt gestaffelte Synekdoche, in der der Teil (das Dorf), der sich aus Teilen (den Bauernhöfen) zusammensetzt, für das Ganze eines hierarchisch geordneten, auf christlichen Werten gründenden Gemeinwesens steht. Bezeichnend ist die Strukturanalogie zwischen Dorf und Gefängnis, das, wie Straub hervorhebt, neben der Gerichtsbarkeit die einzige staatliche Institution ist, die in beiden Romanen mehr als bloß eine periphere Rolle spielt – und das im Unterschied zu den meisten anderen staatlichen Institutionen keineswegs nur negativ dargestellt wird. Wie das Dorf ist das Gefängnis durch Einschließung und Umgrenzung gekennzeichnet. Und wie in jenem ist auch in diesem jedem ein klar festgelegter Platz und eine eindeutig definierte Funktion zugewiesen. Damit steht das Gefängnis im diametralen Gegensatz zur Justiz, die als unberechenbar und undurchsichtig erscheint. Die Darstellung des Gefängnisses ist durch eine Ambivalenz geprägt, die ebenso die Welt des Dorfes charakterisiert. Dieses erscheint nicht nur als von außen gefährdet, vom Maßlosen und Amorphen, das es umgibt und in dem sich Anziehung und Abscheu mischen, sondern auch von innen, von einem Übermaß an Ordnungsbegehren. In Asche des Fegefeuers ahndet der pater familias jeden Verstoß gegen die rigide patriarchale Ordnung persönlich, indem er von seiner patria potestas, vom Recht über Leben und Tod, Gebrauch macht. Billingers Roman ist keineswegs eine plane Affirmation dieses auf väterlicher Herrschaft basierenden „Reichs“. Im Gegenteil: Es wirkt in seiner Grausamkeit bedrohlich und verstärkt die Faszination von Gegenräumen wie dem Wald, dem Zirkus und zuletzt der Stadt, in denen die dörflichen Ordnungen außer Kraft gesetzt sind. Es geht in diesen Texten weniger um die Frage, ob die in ihnen imaginierten, antimodernen sozialen Ordnungsgefüge vorteilhaft oder nachteilhaft sind. Vielmehr sind sie von einer Dynamik bestimmt, in der sich die herbeigesehnten wohlgeordneten Gemeinschaften als in sich zwiespältig und ambivalent erweisen. Je stärker das Ordnungsbegehren auftritt, desto größer ist die Wucht der zerstörerischen Kräfte, die es im Innern wie im Äußern entfesselt.
Rhetorik des Staates. Ein Resümee
197
Um eine solche Ambivalenz und Gegenläufigkeit geht es auch in den Dramen der Zwischenkriegszeit, mit denen sich Stefan Krammer in seinen beiden Beiträgen beschäftigt. Die „Schwarze Armee“ aus Ödön von Horváths Sladek oder Die schwarze Armee (1929) erscheint als Parodie auf ein Einheitsbegehren, das dem Sinn- und Gemeinschaftsverlust mit physischer, militärischer Gewalt entgegenwirken zu können glaubt. Denn erstens ist die Existenz der „Schwarzen Armee“ an die Latenz gebunden: nur als geheime hat sie Berechtigung. Zweitens bröckelt das geheime Kollektiv immer mehr ab, bis am Ende ein Einzelner als das Universale steht: er ist „das Vaterland“. Und drittens erweist sich die „Schwarze Armee“ als eine Marionette des Staates, der sie auflöst, sobald sie ihre Funktion erfüllt hat. Ein Staat aber, der zu seiner Erhaltung und Festigung darauf angewiesen zu sein scheint, nicht nur eine Farce zu inszenieren, sondern dabei auch Menschen zu töten, hat offensichtlich jede Glaubwürdigkeit verloren – das verbindet Sladek mit Staatsräson. Horváths Zeitstücke demonstrieren eine dominante Strategie, um unter Bedingungen der epistemischen und sozialen Desintegration Totalität zu restituieren: Der gesellschaftliche und staatliche Zusammenhalt soll durch die Konstruktion eines Feindes garantiert werden. Ist in Sladek der republikanische Staat ein solches Feindbild für die „Schwarze Armee“, so sind es im Stück Italienische Nacht (1931) die Faschisten, welche den in konkurrierende Parteien gespaltenen republikanischen Schutzbund am Ende doch noch zu einer Einheit verhelfen. Epistemologisch verkommt das dualistische Verfahren von Inklusion und Exklusion zur Tautologie, politisch zum leeren Ritual. Robert Musil hat in seinem zum Großteil in der Zwischenkriegszeit entstandenen Romanprojekt Der Mann ohne Eigenschaften mit dem General Stumm von Bordwehr eine Figur geschaffen, die die Aporien der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ironisch auf den Punkt bringt. Als scheinbar naiver Interlokutor fragt Stumm danach, was die Ideenwelt zusammenhält und wie „Ordnung in den Zivilverstand zu bringen“14 sei. Das Ergebnis seiner Bemühung ist verheerend: Der Kosmos des Wissens gleicht einem Irrenhaus, in dessen Stimmengewirr keine Bedeutung auszumachen ist. Den General, der „sich lange zwischen Ideen aufgehalten hat“, befällt „das dreckigste Gefühl von Ohnmacht“.15 Wenn das Denken, der Zivilverstand, dermaßen versagt, schlägt die Stunde des Militärs. Die Kriegshandlung, der Kampf gegen den Feind, schafft die Grundlage einer Ordnung, die in den verwirrten Fronten geistiger Gegnerschaften verlorengegangen ist. Die Hellsichtigkeit von Musils Roman zeigt sich darin, dass er die ordnungsstiftende Macht des Militärs als zerstörerische im Allgemeinen und als staatszerstörende im Besonderen erkannt hat. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben mit Berufung auf Paul Virilio herausgestellt, dass im Totalitarismus das Militär vornehmlich dem Staat dient, während der Faschismus „nicht durch den Begriff des totalitären Staates, sondern durch den des selbstmörderischen Staates“ definiert sei: „der sogenannte totale Krieg scheint weniger von einem Staat, als von einer Kriegsmaschine aus14 Musil 1978a, S. 370. 15 Ebd., S. 374.
198
Roland Innerhofer
zugehen, die sich der Staat aneignet und die quer zu ihm eine Strömung von absolutem Krieg eindringen läßt, die kein anderes Ziel hat als die Selbstvernichtung dieses Staates.“16 Wenn Musil den Ersten Weltkrieg als destruktive „Flucht vor dem Frieden“17 versteht, dann nimmt er schon die Signatur des Zweiten Weltkriegs vorweg: Diese Verkehrung der Fluchtlinie in eine Destruktionslinie belebte schon alle molekularen Unruheherde des Faschismus und ließ sie eher in einer Kriegsmaschine zusammenwirken als Resonanz in einem Staatsapparat finden. Eine Kriegsmaschine, deren einziges Ziel der Krieg war und die eher dazu bereit war, ihre eigenen Diener zu vernichten, als der Zerstörung Einhalt zu gebieten.18
Diese Ambiguität von Koalition und Opposition zwischen Staat und Militär am Vorabend des Zweiten Weltkriegs lässt sich in der Literatur besonders deutlich an der Poetik der Uniform19 ablesen. Denn die Uniform ist ein äußeres Zeichen der Zugehörigkeit und Zuordnung zum Staat wie zum Militär. Stefan Krammers Beitrag zum Militarismus zwischen den Weltkriegen setzt mit dem Zustand männlicher Entblößung ein, zu dem das unrühmliche Ende des Ersten Weltkriegs in Deutschland führte. Wohl begann die Erosion uniformierter Zugehörigkeit nicht erst mit dem Kriegsende, sondern schon in einem Krieg, der in der Immobilität der Grabenkämpfe steckenblieb und in dem Tag für Tag mit statistischer Regelmäßigkeit eine Anzahl uniformierter Körper lädiert oder getötet wurde. Doch so wenig wie der Krieg brachte sein Ende die erhoffte Lösung der Vorkriegsaporien. Die Befreiung von der Uniform entließ die ehemaligen Kombattanten in einen Zustand der Ohnmacht und Orientierungslosigkeit und bereitete so das Terrain für eine virulente Wiederkehr der Uniform. Wird das Ablegen der Uniform als bloße Deprivation empfunden, so bleibt als einzige Option die Reinvestitur mit der abgelegten Uniform. Stefan Krammer verweist in seinem Beitrag zum Drama mit der Uniform darauf, dass die Bekleidung als Körpertechnologie zu verstehen ist. Mit Blick auf die kommunikative Funktion der Kleidung könnte man sie darüber hinaus als Kulturtechnik bezeichnen. Der soziologische Begriff des „Habitus“ ist hier ganz wörtlich zu verstehen. Der Habitus Uniform ist dabei erklärtermaßen einer, dem alles Individuelle abgeht. Der Distinktionsgewinn, den er ermöglicht, ist immer schon ein unpersönlicher, kollektiver. Als materielles Zeichen der Distinktion ist er jederzeit vom individuellen Körper ablösbar und auf andere übertragbar: Die Uniform kann „austauschbar von unterschiedlichen Körpern getragen werden“ (Krammer, S. 179). Die Investitur mit der Uniform macht den Einzelnen aber nicht nur zum Teil eines hierarchisch strukturierten Kollektivs, sondern auch zum Angehörigen, ja zum Instrument des Militärs und des Staates. Denn zu dieser Investitur sind nur 16 17 18 19
Deleuze/Guattari 2005, S. 315. Musil 1978b, S. 1089. Deleuze/Guattari 2005, S. 316 (Herv. i. Orig.). Der Ausdruck lehnt sich an die auch von Krammer zitierten Barthes’schen Formel von der „Poetik der Kleidung“ an: Barthes 1985, S. 241.
Rhetorik des Staates. Ein Resümee
199
die staatlichen und militärischen Organe berechtigt. Und ein Staat, dessen Aufgaben vorrangig militärische sind, also ein Staat, der sich im Krieg befindet oder einen Krieg vorbereitet – das zeigt auch Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften –, ist ein solcher, der den Anschein von Ordnung erweckt und zugleich die Ordnung, nicht zuletzt die staatliche, unterminiert. Je mehr der zivile Staat in Unordnung20 gerät, desto wirksamer wird das Pathos der Uniform, mit dem sich, wie Krammer zeigt, der Staat als militärischer in Szene setzt. Solche militärstaatliche Selbstinszenierung kann besonders wirksam auf dem Theater gespiegelt und kenntlich gemacht werden. Karl Zuckmayers Stück Der Hauptmann von Köpenick (1930) stellt die hohle Rhetorik der Uniform durch ihre Usurpation bloß. Rhetorisch betrachtet ist die Uniform ein Musterbeispiel für eine Metonymie: Deren Kontiguitätsverhältnis äußert sich materiell in der Berührung zwischen Stoff und Haut, zwischen Hülle und Umhülltem. Die Uniform steht für die soziale Funktion ihres Trägers. Während die Symbole auf der Uniform in ihrer historischen Bedeutung verblasst sind und nicht mehr verstanden werden, bleibt die distinguierende und hierarchisierende Macht der Uniform ungebrochen. In der Art eines soziologischen Experiments führt Zuckmayers Stück vor, wie wirksam der „Zauber der Montur“21 auch dann noch ist, wenn er als karnevaleske Maskerade auftritt. Anders als in der historischen Vorlage, nach der sich der Hochstapler Friedrich Wilhelm Voigt seine Uniform aus Lumpen zusammennäht, trägt Zuckmayers Hauptmann eine Uniform, deren Vorgeschichte das Stück aufrollt: Sie wird mehrmals als unpassend abgelegt und als Kostüm für den Maskenball verwendet, bevor sie beim Trödler landet. Während im historischen Fall die Militarisierung der Gesellschaft in der Weimarer Republik dadurch hervorgehoben wird, dass selbst eine zusammengestoppelte Uniform noch erfolgreich an die Autoritätshörigkeit appellieren kann, betont die Zuckmayer’sche Tragikomödie, dass die Uniform erst dann zum Leben erwacht, wenn sie den zu ihr passenden Körper bekleidet. Dem historischen Stoff und seiner dramatischen Bearbeitung gemeinsam ist aber das entscheidende Moment, dass sich das durch die Uniform repräsentierte Militär gegen die staatliche Zivilgewalt, der Hauptmann gegen den Bürgermeister mühelos durchsetzen kann, selbst wenn die militärische Autorität nichts als Buffonerie ist. Das Zauberhafte an Zuckmayers Stück – es trägt die Gattungsbezeichnung Ein deutsches Märchen in drei Akten – besteht darin, dass die Macht der Uniform nicht nur demonstriert, sondern auch parodistisch subvertiert wird – und zwar zu einer Zeit, in der im Zuge des Aufstiegs der Nationalsozialisten die Gesellschaft rapide remilitarisiert wurde. In der Anbetung der Uniform artikuliert sich ein Fetischismus, der den Bereich der Politik mit dem der Warenwelt verbindet. Hinter der vordergründig politischen Botschaft des Stückes wird eine kulturanthropologische Schicht erkennbar, der gemäß der Fetischismus, das Leben und die Macht, mit denen Menschen die Dinge ausstatten, nicht Ergebnis einer krankhaften Perversion ist, sondern auf 20 Vgl. den gleichnamigen, mit einem Fragezeichen versehenen Band: Krammer/Löffler/Weidinger 2012. 21 So der Titel eines Konzertmarsches von Carl Michael Ziehrer aus dem Jahr 1899.
200
Roland Innerhofer
der Einsicht beruht, dass Menschen nicht nur Dinge herstellen oder auf sie stoßen, sondern dass die Beschaffenheit der Dinge, mit denen sie umgehen, sie auch formt und prägt.22 Wie dieser Vorgang unter Bedingungen des Krieges radikalisiert wird, zeigt Stefan Krammers zweites Fallbeispiel: Bertolt Brechts Lustspiel Mann ist Mann (1926). In der britischen Kolonialarmee, wie sie das Stück präsentiert, sind Leben und Macht ganz auf die Seite der Dinge übergegangen. Es ist die Uniform, die den Mann zum Mann macht, welcher Mann in ihr steckt, ist gleichgültig. Die Armee ist hier Paradigma eines nach dem Maschinenmodell durchorganisierten Kollektivs. Brechts Stück ist durch eine groteske Hyperbolik gekennzeichnet: Der Verlust und die Austauschbarkeit der Identität innerhalb eines militärischen Apparates korrespondiert mit einer Körperkonzeption, wie sie Michail Bachtin in der Groteske herausgestellt hat: Sie betont die Unfestigkeit der Körpergrenzen nach innen und außen, die Wandelbarkeit des Körpers und seine Offenheit hin zu anderen Körpern und zur Außenwelt.23 Gerade diese Ungesichertheit der Identität wie des Körpers, die dem Staatsbürger das Privat- bzw. Zivilleben erschweren, rufen die Monteure auf den Plan, für die die „Montur“ der Uniform, wie Krammer bemerkt, Teil der „Montage“ ist. Was der Expressionismus emphatisch ausgerufen hat, der „Neue Mensch“ – hier wird er mit der verwaltungs- und psychotechnischen Expertise der militärischen Organisation und ihrer Vorschriften planmäßig zusammengebaut und zugerichtet. Mit der Eliminierung des Staatsbürgers wird der zivile Staat verworfen und außer Kraft gesetzt, er geht in der faschistischen Kriegsmaschine auf. Die theatralische Hyperbel einer restlosen Auslöschung der Individualität und der Metamorphose des Staatsbürgers zur Kampfmaschine hat eine doppelte Funktion: Zum einen macht sie die tödlichen Gefahren kenntlich, welche vom bürgerlichen Subjektbegriff und von den zeitgenössischen Identitätspolitiken kaschiert werden. Zum anderen führt sie die Gewaltmechanismen des Militärs ins Absurde und gibt damit ihr Pathos der Lächerlichkeit preis. Beide Effekte könnten dazu beitragen, den Latenzschutz, den Systeme, seien es staatliche, gesellschaftliche oder militärische, zum Überleben brauchen, zu korrodieren. LITERATUR Bachtin, Michail M., 2006: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a. M. Barthes, Roland, 1985: Die Sprache der Mode, Frankfurt a. M. Böhme, Hartmut, 2006: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, 2005: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, 6. Aufl., Berlin. Enzensberger, Hans Magnus, 1978: Reflexionen vor einem Glaskasten [1964]. In: ders.: Politik und Verbrechen. Neun Beiträge, Frankfurt a. M., S. 7–40. Foucault, Michel, 1977: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin. 22 Vgl. Böhme 2006. 23 Vgl. Bachtin 2006.
Rhetorik des Staates. Ein Resümee
201
Foucault, Michel, 1999: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76), Frankfurt a. M. Klein, Eckart, 2003: Die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland – Staats- und völkerrechtliche Elemente. In: Heydemann, Günther/Klein, Eckart (Hrsg.): Staatsräson in Deutschland (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, 83), Berlin, S. 89–193. Krammer, Stefan/Löffler, Marion/Weidinger, Martin (Hrsg.), 2012: Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen, Bielefeld. Lakoff, George/Johnson, Mark, 2008: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg. Löw, Martina, 2001: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. Luhmann, Niklas, 1984: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. Musil, Robert, 1978a: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, Bd.1: Erstes und Zweites Buch, Hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg. Musil, Robert, 1978b [1922]: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8: Essays und Reden, Reinbek bei Hamburg, S. 1075–1094. Simmel, Georg, 1900: Philosophie des Geldes, Berlin. Simmel, Georg, 1905: Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität, Leipzig. Simmel, Georg, 1995: Das Problem der Soziologie. In: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Bd. 11, Hrsg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M., S. 13–62.
PROJEKTBIBLIOGRAPHIE ZUR ERFORSCHUNG VON FRAGEN ZU STAAT UND STAATLICHKEIT Im Folgenden sind alle Publikationen aufgelistet, die im Projektzusammenhang publiziert wurden oder demnächst erscheinen. Nach den Beiträgen der beiden Bücher mit interdisziplinären und genderspezifischen Zugängen finden sich Aufsätze zu den schwerpunktmäßig behandelten Aspekten Staat und Migration, 1920er Jahre in Österreich, Staatsgewalt, Staat und Männlichkeit, politische Theorie und Fiktion sowie Grenzüberschreitungen. Zuletzt sind Aufsätze angeführt, die ausgewählte Fragen zu Verwaltung, Macht, Krieg u.a. bearbeiten. 1. PROJEKTPUBLIKATION Eva Kreisky/Marion Löffler/Sabine Zelger (Hrsg.): Staatsfiktionen. Denkbilder moderner Staatlichkeit. Wien: facultas 2011. Eva Kreisky/Marion Löffler/Sabine Zelger: Staatsfiktionen. Denkbilder moderner Staatlichkeit. Eine Einleitung. S. 7–23. Eva Kreisky: Staatenlenker und Staatsdiener. Männlichkeiten im Bild des Staates. S. 27–49. Stefan Krammer: Tropen des Staates. Zur rhetorischen Verfasstheit literarischer Staatsentwürfe. S. 50–66. Martin Weidinger: Hybrider Staat und Parastaat. Inszenierungen von Staatlichkeit in Filmen von Fritz Lang. S. 67–85. Rüdiger Voigt: Leviathan. Zu Thomas Hobbes’ Bildsprache. S. 86–102. Elisabeth Holzleithner: „Führung muss sein.“ Carl Schmitts Fiktion eines totalen Staates. S. 103–121. Birgit Sauer: Vater Staat und seine Frauen. Anti–patriarchale Staatsbilder in der bundesdeutschen Frauenbewegung und Geschlechterforschung. S. 125–142. Sabine Zelger: „Wenn wir Menschen sehen, sehen wir nur Staatsmenschen.“ Wie Literatur bürokratische Durchstaatlichung hintertreibt. S. 143–163. Wolfgang Straub: Österreichisches Revolutionstheater. Johann Nestroys und Franz Werfels Fiktionen von 1948 und 1918. S. 164–180. Marion Löffler: Politik der Zeitschichten. Utopische Potenziale im österreichischen Staatsdenken der Zwischenkriegszeit. S.181–199. Roland Innerhofer: Robert Musils ‚Kakanien‘ oder Das Schwinden der Staatsmacht. S. 200–212.
2. PROJEKTPUBLIKATION Stefan Krammer/Marion Löffler/Martin Weidinger (Hrsg.): Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen. Bielefeld: transcript 2012. Stefan Krammer/Marion Löffler/Martin Weidinger: Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen. Eine Einleitung. S. 7–21.
204
Projektbibliographie
Eva Horn: Die doppelte Maria. Weibliche Führerschaft in Fritz Langs Metropolis. S. 25–46. Gisela Riescher: Politisches Vertrauen. Weibliche Abgeordnete in der Weimarer Republik. S. 47–59. Silke Helling: Frauen als Staatsbürgerinnen. Perspektiven der Berliner Publizistin Else Frobenius (1875–1952). S. 61–73. Evelyne Polt-Heinzl: Aktion Vaterversorgung. Überlebenskampf, private Nischen, öffentliche Aufgaben. S. 75–90. Marion Löffler: Staat und Familie − ein zerrüttetes Verhältnis? Familiennarrative als Erschütterungen konservativer Staatskonzeption. S. 91–104. Stefan Krammer: Zöglinge in Uniform. Zur schulischen Disziplinierung der Geschlechter. S. 105–118. Eva Kreisky: Antifeministische und antidemokratische Tendenzen im Staatsdenken der Zwischenkriegszeit. Männerbundfantasien bei Stefan George, Thomas Mann und Max Weber. S. 119–138. Michael Rohrwasser: Hitlerjunge Quex. Brüderhorden am Ende der Zwischenkriegszeit. S. 139–153. Roland Innerhofer: Imaginierte Männlichkeit. Ernst Jünger oder Die totale Mobilmachung der organischen Konstruktion. S. 157–166. Evelyn Annuß: Chor und Geschlecht im nationalsozialistischen Theater. S. 167–180. Ulla Wischermann: Transnationale Räume und internationale Organisierung der deutschen Frauenbewegung in der Zwischenkriegszeit. S. 181–195. Wolfgang Straub: Geschlechterordnung in Zeiten revolutionärer Unordnung. Hans Fleschs Revolutionsroman Die Amazone. S. 197–211. Sabine Zelger: Staat außer Haus. Literarische Gemeinschaften jenseits des Staatsgeistes. S. 213–226. Martin Weidinger: Wiener Mädel als Stützen des Staates? Geschlechterordnung im Wiener Film der 1930er Jahre. S. 227–241. Frank Stern: Sieben Filmbilder von Sex und Gender als demokratische Subversion. Ein Essay. S. 243–251.
STAAT UND MIGRATION Stefan Krammer: Andere Seiten. Konstruktionen des Fremden bei Alfred Kubin. In: Estudios Filológicos Alemanes 20 (2010). S. 765–778. Wolfgang Straub: Revolution und Migration bei Joseph Roth. In: Estudios Filológicos Alemanes 21 (2010). S. 155–165. Sabine Zelger: Die 1. Republik in der Literatur von Zugewanderten. In: Estudios Filológicos Alemanes 20 (2010). S. 621–634.
ÖSTERREICHISCHE STAATSFIKTIONEN DER 1920ER JAHRE Wolfgang Straub: Auch an Revolutionstagen elegant. November 1918 – ein Narrativ der Zwischenkriegszeit. In: Primus-Heinz Kucher/Julia Bertschik (Hrsg.): „baustelle kultur“. Diskurslagen in der österreischen Literatur 1918–1933/38. Bielefeld: Aisthesis 2011. S. 67–84. Sabine Zelger: Verwaltung des Elends. Über die politische Widerständigkeit österreichischer Literatur der 1920er Jahre. In: Primus-Heinz Kucher/Julia Bertschik (Hrsg.): „baustelle kultur“. Diskurslagen in der österreischen Literatur 1918–1933/38. Bielefeld: Aisthesis 2011. S. 85–102. Sabine Zelger: Ohne Arbeit – was nun? Routinen und Ausschlüsse bei der Stellungssuche in literarischen Texten der Zwischenkriegszeit. In: Studia Austriaca 19 (2011). S. 9–19.
Projektbibliographie
205
HERAUSFORDERUNGEN DER STAATSGEWALT IN LITERATUR UND FILM DER ZWISCHENKRIEGSZEIT Marion Löffler: Wider die Sittlichkeit. Hugo Bettauers Herausforderungen der Staatsgewalt. In: Linda Erker/Alexander Salzmann/Lucile Dreidemy/Klaudija Sabo (Hrsg.): Update! Perspektiven der Zeitgeschichte. Zeitgeschichtetage 2010. Innsbruck u.a.: Studienverlag 2012. S. 311–316. Martin Weidinger: (Kriminelle) Unter- und Parallelwelten: Herausforderungen der Staatsgewalt im Kino der Zwischenkriegszeit. In: Linda Erker/Alexander Salzmann/Lucile Dreidemy/Klaudija Sabo (Hrsg.): Update! Perspektiven der Zeitgeschichte. Zeitgeschichtetage 2010. Innsbruck u.a.: Studienverlag 2012. S. 317–324. Sabine Zelger: Unterschätzte Attacken gegen die Staatsgewalt. Staatsbürgerinnen in der deutschsprachigen Literatur der Zwischenkriegszeit. In: Linda Erker/Alexander Salzmann/Lucile Dreidemy/Klaudija Sabo (Hrsg.): Update! Perspektiven der Zeitgeschichte. Zeitgeschichtetage 2010. Innsbruck u.a.: Studienverlag 2012. S. 303–310.
STAAT UND MÄNNLICHKEIT Eva Kreisky/Marion Löffler: Maskulinismus und Staat. Beharrung und Veränderung. In: Gundula Ludwig/Birgit Sauer/Stefanie Wöhl (Hrsg.): Staat und Geschlecht. Grundlagen und aktuelle Herausforderungen feministischer Staatstheorie. Baden–Baden: Nomos 2009. S. 75–88. Stefan Krammer: Polymorphe Herrlichkeit am Beispiel österreichischer Literatur der 1980er und 1990er Jahre. In: Barbara Hindinger/Martin Langner (Hrsg.): „Ich bin ein Mann, wer ist es mehr?“ Männlichkeitskonzepte in der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München: Iudicium 2011. S. 256–281.
POLITISCHE THEORIE UND FIKTION Marion Löffler: Contributions of Fiction to State-Theoretical Issues. Joseph Roth’s Novels in Textual Cooperation with Carl Schmitt and Hans Kelsen. In: European Political Science 9/3 (2010). S. 328–340. Marion Löffler: Fiktionale Literatur als Beitrag zur politischen Theorie. In: Eva Kreisky/Marion Löffler/Georg Spitaler (Hrsg.): Theoriearbeit in der Politikwissenschaft. Einführung in den Umgang mit politischer Theorie. Wien: facultas/wuv (im Erscheinen). Martin Weidinger: Politikwissenschaft und Film. Überlegungen zur Entwicklung eines Forschungsansatzes. In: Eva Kreisky/Marion Löffler/Georg Spitaler (Hrsg): Theoriearbeit in der Politikwissenschaft. Einführung in den Umgang mit politischer Theorie. Wien: facultas/wuv (im Erscheinen).
GRENZÜBERSCHREITUNGEN. IMPORT/EXPORT FIKTIONALER STAATSMODELLE IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN LITERATUR Stefan Krammer: Prager Mythenimport. Oder: Franz Grillparzers „Libussa“ als Schwellentext. In: Bart Philipsen u.a. (Hrsg.): Imagination des Staates im 19. Jahrhundert. Heidelberg: Synchron (im Erscheinen). Wolfgang Straub: Der Staat am Blocksberg. Joseph von Eichendorffs Satire „Auch ich war in Arkadien“. In: Bart Philipsen u.a. (Hrsg.): Imagination des Staates im 19. Jahrhundert. Heidelberg: Synchron (im Erscheinen).
206
Projektbibliographie
Martin Weidinger: Amerika-Mythos und Republikanismus. Charles Sealsfields „Der Legitime und die Republikaner“ als Aufklärungs- und Erziehungsarbeit. In: Bart Philipsen u.a. (Hrsg.): Imagination des Staates im 19. Jahrhundert. Heidelberg: Synchron (im Erscheinen). Sabine Zelger: Die Grenzen von Utopie und Anarchie. Theodor Hertzkas vielgestaltige Modellierungen von Freiland. In: Bart Philipsen u.a. (Hrsg.): Imagination des Staates im 19. Jahrhundert. Heidelberg: Synchron (im Erscheinen).
WEITERE BEITRÄGE ZU STAATSFIKTIONEN Stefan Krammer/Sabine Zelger: Der fiktionale Staat. Politische Bildung im Literaturunterricht. In: IDE 4 (2008). S. 87–94. Sabine Zelger: Vom Staatsmenschen zum Marktmenschen. Das Image des öffentlichen Dienstes in der literarischen Gesellschaftskritik. In: ÖBVaktiv 63 (2009). S. 26–27. Eva Kreisky/Marion Löffler: Eine nicht politikwissenschaftsfähige Friedensvision? Einige Gründe, warum Bertha von Suttners Pazifismus nicht in den Kanon politischer Ideengeschichte gelangte. In: Johann Georg Lughofer (Hrsg.): Bertha von Suttner. „Die Waffen nieder!“. Wien/ St. Wolfgang: Ed. Art Science 2010 (Im Prisma, 2). S. 37–58. Stefan Krammer: Figurationen der Macht. Rhetorische Strategien in Thomas Bernhards Dramen. In: Joachim Knape/Olaf Kramer (Hrsg.): Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. S. 91–103. Wolfgang Straub: Anarchische Quartette. Arnolt Bronnen und Wolfgang Bauer vor dem Hintergrund der revolutionären Wegmarken 1918–1968. In: Österreich in Geschichte und Literatur 3 (2011). S. 168–176. Sabine Zelger: „Wenn mein sonstiges Leben auch bunt war“. Werner Hochbaum und die Zurichtungen seiner Biographie. In: Elisabeth Büttner/Joachim Schätz (Hrsg.): Werner Hochbaum. An den Rändern der Geschichte filmen. Wien: Filmarchiv Austria 2011. S. 61–70. Martin Weidinger: Fridericus, Madame Dubarry and die Nibelungen. The (Nationalist) Politics of Historical Films in Weimar Germany. In: Felicity Rash/Geraldine Horan/Daniel Wildmann (Hrsg.): English and German Nationalist and Anti-Semitic Discourse (1871–1945) (im Erscheinen). Sabine Zelger: Voraus&zurück. Singuläre Wegweiser aus der Monarchie von Theodor Hertzka und Fritz von Herzmanovsky-Orlando. In: Amália Kerekes/Katalin Teller (Hrsg.): Topografien der deutschsprachigen Kultur in der Moderne (Erscheint auf Deutsch und Ungarisch).
KURZBIOGRAPHIEN DER AUTOREN UND AUTORINNEN Roland Innerhofer, Univ. Prof. Dr. phil., ist Professor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Zahlreiche Arbeiten zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, zur Phantastik, Theorie und Praxis der Avantgarden, Medienästhetik und Wissenspoetik sowie zum Wechselverhältnis von Literatur, Technik, Architektur, Film und neuen Medien. Letzte Veröffentlichung: Das Mögliche regieren: Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse, hrsg. mit Katja Rothe und Karin Harrasser. Bielefeld 2011. Stefan Krammer, Dr. phil., Studium der Deutschen Philologie, Theaterwissenschaft, Mathematik und Linguistik in Wien und Lancaster. Seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Wien, dort mit der Leitung des Fachdidaktischen Zentrums Deutsch betraut. Arbeitsschwerpunkte: Österreichische Literatur (insbes. des 20. und 21. Jahrhunderts), Deutschdidaktik, Gender, Dramen- und Theatertheorie. Publikationen insbesondere zu Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und Josef Winkler. Letzte Veröffentlichung: Österreichische Gegenwartsliteratur 2000–2010, hrsg. mit Daniela Strigl. Innsbruck 2011. Eva Kreisky, Univ. Prof. Dr. iur., Venia Legendi der Politikwissenschaft, ist Professorin für Politische Theorie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Sie war von 1979 bis 1989 Leiterin der Abteilung Politikwissenschaft am Institut für Höhere Studien und Wissenschaftliche Forschung in Wien und von 1989 bis 1993 Professorin für Politikwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Frauenforschung am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Staats- und Institutionentheorien, Politik der Geschlechterverhältnisse. Demnächst erscheint: Theoriearbeit in der Politikwissenschaft. Einführung in den Umgang mit politischer Theorie, hrsg. mit Marion Löffler und Georg Spitaler. Wien 2012. Marion Löffler, Dr. phil., studierte Politikwissenschaft und Geschichte in Wien. Derzeit ist sie Projektmitarbeiterin und Lehrbeauftragte am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Davor war sie Assistentin im Bereich politische Theorie und Ideengeschichte ebendort. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Staatsund Demokratietheorien, feministische Staatstheorien, politikwissenschaftliche Geschlechterforschung, Umgang mit fiktionaler Literatur in der Politischen Ideengeschichte. Letzte Buchpublikation: Feministische Staatstheorien. Eine Einführung. Frankfurt/New York 2011.
208
Kurzbiographien der AutorInnen
Wolfgang Straub, Dr. phil, Studium der Deutschen Philologie und Theaterwissenschaft in Salzburg und Wien. Lehrbeauftragter und Projektmitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Wien. Er arbeitet zudem als Literaturkritiker und Verlagslektor. Zahlreiche Buchpublikationen insbesondere zur Literatur Österreichs und zur Literaturtopographie. Rezente Publikation: Anarchische Quartette. Arnolt Bronnen und Wolfgang Bauer vor dem Hintergrund der revolutionären Wegmarken 1918–1968. In: Österreich in Geschichte und Literatur 3/2011. S. 168–176. Martin Weidinger, Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Universität Wien. Seit 2002 Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, zuletzt Projektmitarbeiter ebendort. Forschungsschwerpunkte: politische Theorie und Ideengeschichte mit besonderem Fokus auf Staat und Geschlecht, US-amerikanische Kulturgeschichte, Film und Politikwissenschaft, österreichisches und deutsches Kino der Zwischenkriegszeit. Demnächst erscheint: Politikwissenschaftliche Filmanalyse. Überlegungen zur Entwicklung eines Theorieansatzes: In: Eva Kreisky/Marion Löffler/Georg Spitaler (Hrsg.): Theoriearbeit in der Politikwissenschaft. Einführung in den Umgang mit politischer Theorie. Wien 2012. Sabine Zelger, Dr. phil, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft in Wien. Projektmitarbeiterin und Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik an der Universität Wien. Forschungstätigkeiten am Institut für Philosophie an der Universität Wien sowie am Forschungsinstitut des Wiener Roten Kreuzes. Arbeitsschwerpunkte: Staat, Bürokratie, Kommunikation in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Genderforschung, Literaturtheorie, Politische Bildung, Didaktik. Letzte Buchpublikation: Das ist alles viel komplizierter, Herr Sektionschef! Bürokratie – literarische Reflexionen aus Österreich. Wien/Köln/Weimar 2009.
S TA AT S D I S K U R S E Herausgegeben von Rüdiger Voigt. Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Manuel Knoll, Eun-Jeung Lee, Marcus Llanque, Samuel Salzborn, Birgit Sauer, Gary S. Schaal, Peter Schröder, Virgilio Alfonso da Silva. Franz Steiner Verlag
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
ISSN 1865–2581
Michael Hirsch Die zwei Seiten der Entpolitisierung Zur politischen Theorie der Gegenwart 2007. 214 S., kt. ISBN 978-3-515-09089-6 Rüdiger Voigt Krieg ohne Raum Asymmetrische Konflikte in einer entgrenzten Welt 2008. 215 S. mit 42 Schaubildn., kt. ISBN 978-3-515-09135-0 Rüdiger Voigt (Hg.) Großraum-Denken Carl Schmitts Kategorie der Großraumordnung 2008. 265 S., kt. ISBN 978-3-515-09186-2 Michael Hirsch / Rüdiger Voigt (Hg.) Der Staat in der Postdemokratie Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken 2009. 229 S., kt. ISBN 978-3-515-09308-8 Rüdiger Voigt Der Januskopf des Staates Warum wir auf den Staat nicht verzichten können 2009. 231 S., kt. ISBN 978-3-515-09309-5 Georg Pfeiffer Privatisierung des Krieges? Zur Rolle von privaten Sicherheits- und Militärfirmen in bewaffneten Konflikten 2009. 172 S., kt. ISBN 978-3-515-09365-1 Rüdiger Voigt (Hg.) Der Hobbes-Kristall Carl Schmitts Hobbes-Interpretation in der Diskussion 2009. 204 S., kt. ISBN 978-3-515-09398-9 Andreas Wagner Recht – Macht – Öffentlichkeit Elemente demokratischer Staatlichkeit bei Jürgen Habermas und Claude Lefort 2010. 178 S., kt.
ISBN 978-3-515-09704-8 Reinhard Dorn Verfassungssoziologie Zum Staats- und Verfassungsverständnis von Ernst Fraenkel 2010. 193 S., kt. ISBN 978-3-515-09793-2 10. Samuel Salzborn / Rüdiger Voigt (Hg.) Souveränität Theoretische und ideengeschichtliche Reflexionen 2010. 200 S., kt. ISBN 978-3-515-09735-2 11. Manuel Knoll / Stefano Saracino (Hg.) Niccolò Machiavelli Die Geburt des Staates 2010. 235 S., kt. ISBN 978-3-515-09797-0 12. Rüdiger Voigt Staatskrise Muss sich die Regierung ein anderes Volk wählen? 2010. 206 S., kt. ISBN 978-3-515-09800-7 13. Salzborn Samuel (Hg.) Staat und Nation Die Theorien der Nationalismusforschung in der Diskussion 2011. 241 S., kt. ISBN 978-3-515-09806-9 14. Oliver Eberl (Hg.) Transnationalisierung der Volkssouveränität Radikale Demokratie diesseits und jenseits des Staates 2011. 354 S., kt. ISBN 978-3-515-09830-4 15. Rüdiger Voigt (Hg.) Freund-Feind-Denken Carl Schmitts Kategorie des Politischen 2011. 231 S., kt. ISBN 978-3-515-09877-9 16. Tobias ten Brink, Hrsg. Globale Rivalitäten Staat und Staatensystem im globalen Kapitalismus 9.
2011. 225 S. mit 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09905-9 17. Andreas Herberg-Rothe / Jan Willem Honig / Daniel Moran (Hg.) Clausewitz The State and War 2011. 163 S., kt. ISBN 978-3-515-09912-7 18. Frauke Höntzsch (Hg.) John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff 2011. 219 S., kt. ISBN 978-3-515-09923-3
19. Jochen Kleinschmidt / Falko Schmid / Bernhard Schreyer / Ralf Walkenhaus (Hg.) Der terrorisierte Staat Entgrenzungsphänomene politischer Gewalt 2012. 242 S., kt. ISBN 978-3-515-10117-2 20. Matthias Lemke (Hg.) Die gerechte Stadt Politische Gestaltbarkeit verdichteter Räume 2012. 208 S., kt. ISBN 978-3-515-10148-6
Einen aussagekräftigen Fundus für Auseinandersetzungen mit dem Staat bilden nicht nur theoretische Texte, sondern auch Romane, Dramen und Filme. Sie stehen im Mittelpunkt dieses interdisziplinären Bandes, in dem Perspektiven auf die Weimarer Republik und auf Österreich in der Zwischenkriegszeit eröffnet werden. Der Titel „Tropen des Staates“ verweist auf einen
Begriff aus der Rhetorik, die hier als Methode fruchtbar gemacht wird. In welchen Bildern wird der Staat in Szene gesetzt? In welcher Form wird er metaphorisch revolutioniert? Was für Diskurse werden aufgegriffen? Die einzelnen Beiträge gehen diesen Fragen nach und diskutieren politisch kontroversielle Denkmöglichkeiten des Staates.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10170-7