Stefan George und sein Kreis: Ein Handbuch [2 ed.] 9783110456882, 9783110441017

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German Pages 1924 [1894] Year 2015

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Stefan George und sein Kreis: Ein Handbuch [2 ed.]
 9783110456882, 9783110441017

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Stefan George und sein Kreis 2. Auflage Band 1

Stefan George und sein Kreis Ein Handbuch 2. Auflage Band 1 Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann in Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann Redaktion: Birgit Wägenbaur

De Gruyter

Das Handbuch wurde vom 1.6.2007 bis 30.11.2011 unter dem Geschäftszeichen BR 995/2 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Redaktionelle Mitarbeit: Markus Pahmeier

ISBN 978-3-11-044101-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045688-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045670-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: ‚Dichtertafel‘, Beilage zur siebten Folge der Blätter für die Kunst (1904); Aufnahme: Stefan George Archiv Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

I. Stefan George und sein Kreis 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6. 1.7. 1.8. 1.9.

1.10. 1.11. 1.12. 1.13. 1.14.

Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze [Kai Kauffmann] . . . Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herkunft: Familie und Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adoleszenz: Schulzeit in Bingen und Darmstadt . . . . . . . . . . . Liminalität: Auf dem Weg zum Dichtertum . . . . . . . . . . . . Positionierung im literarischen Feld: Aufbau des dichterischen Œuvres und eines literarischen Netzwerks . . . . . . . . . . . . . . . . Seelenfreundin und Dichtermuse: Ida Coblenz . . . . . . . . . . . Künstlerfreunde: Albert Verwey, Karl Wolfskehl, Melchior Lechter . . Die Mehrung des symbolischen Kapitals: Berliner Gesellschaftskreise und Literaturkritiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aufbau einer sozialen Gemeinschaft: der Kreis als Ersatzfamilie . . 1.9.1. Friedrich Gundolf, der erste Sohn . . . . . . . . . . . . . . 1.9.2. Die Generation der weiteren Söhne . . . . . . . . . . . . . 1.9.3. Dichterischer Mythos und weltanschauliche Ausrichtung des Kreises: Vom Gedenkbuch für Maximin bis zum Stern des Bundes Die Zäsur: Die Zeit des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . Der alternde Meister und der verjüngte Kreis: Vom 51. bis zum 60. Lebensjahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sorge ums Erbe: Werkpolitik der letzten Jahre . . . . . . . . . . . Das Ende des Lebens: 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zum Nachleben Georges . . . . . . . . . . . . . .

2. Stefan George: Werk . . . . . . . . . 2.1. Die Fibel (SW I) [Ute Oelmann] . . . . 2.1.1. Entstehung und Überlieferung . . 2.1.2. Aufbau und Formales . . . . . . 2.1.3. Rezeption und Deutung . . . . . 2.1.3.1. Zeitgenössische Rezeption 2.1.3.2. Forschung . . . . . . .

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7 7 8 13 15 20 24 28 36 41 43 48 51 58 64 74 82 92 95 95 95 100 104 104 106

VI

Inhaltsverzeichnis

2.2. Hymnen Pilgerfahrten Algabal (SW II) [Joachim Jacob] . . . . . . . 2.2.1. Entstehung und Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Aufbau und Formales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Rezeption und Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.1. Kreisinterne Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.2. Deutungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten (SW III) [Maurizio Pirro] . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Entstehung und Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Aufbau und Formales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Rezeption und Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1. Kreisinterne Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.2. Deutungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Das Jahr der Seele (SW IV) [Ute Oelmann] . . . . . . . . . . . . . 2.4.1. Entstehung und Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2. Aufbau und Formales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3. Rezeption und Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.1. Zeitgenössische Rezeption . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.2. Kreisinterne Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.3. Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel (SW V) [Nina Herres] . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1. Entstehung und Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2. Aufbau und Formales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3. Rezeption und Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3.1. Kreisinterne Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3.2. Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3.3. Deutungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6. Der Siebente Ring (SW VI/VII) [Kai Kauffmann] . . . . . . . . . . 2.6.1. Entstehung und Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2. Aufbau und Formales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2.1. Zeitgedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2.2. Gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2.3. Gezeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2.4. Maximin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2.5. Traumdunkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2.6. Lieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2.7. Tafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.3. Rezeption und Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.3.1. Zeitgenössische Rezensionen und Kritiken . . . . . . 2.6.3.2. Werkkommentare in den Kreisbüchern . . . . . . . . 2.6.3.3. Literaturwissenschaftliche Forschung . . . . . . . . 2.6.3.4. Forschungsdesiderate und Deutungsperspektiven . . . 2.7. Der Stern des Bundes (SW VIII) [Kai Kauffmann] . . . . . . . . . . 2.7.1. Entstehung und Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.2. Aufbau und Formales . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107 107 108 112 112 115 122 122 125 127 127 129 137 137 140 142 142 148 150 156 156 158 159 159 162 168 175 175 176 177 177 178 178 179 180 180 181 181 184 186 189 191 191 193

Inhaltsverzeichnis

2.8.

2.9.

2.10.

2.11.

2.12.

2.7.3. Rezeption und Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.3.1. Zeitgenössische Rezensionen und Kritiken . . . . . . 2.7.3.2. Werkkommentare in den Kreisbüchern . . . . . . . . 2.7.3.3. Literaturwissenschaftliche Forschung . . . . . . . . 2.7.3.4. Forschungsdesiderate und Deutungsperspektiven . . . Das Neue Reich (SW IX) [Ernst Osterkamp] . . . . . . . . . . . . 2.8.1. Entstehung und Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . 2.8.2. Aufbau und Formales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8.3. Rezeption und Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8.3.1. Zeitgenössische Rezeption . . . . . . . . . . . . . 2.8.3.2. Deutungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . Dante · Die Göttliche Komödie. Übertragungen (SW X/XI) [Anna Maria Arrighetti] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.1. Entstehung und Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.1.1. Entstehung und Situierung im Werkkontext . . . . . . 2.9.1.2. Handschriften, Drucke . . . . . . . . . . . . . . 2.9.2. Aufbau, Übersetzungsprinzipien und Formales . . . . . . . . 2.9.2.1. Zum Auswahlverfahren der Commedia-Übertragung . . 2.9.2.2. Bemerkungen zum Druckbild und zur Metrik . . . . . 2.9.3. Rezeption und Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.3.1. Kreisinterne Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.3.2. Zur allgemeinen Rezeption des Werks . . . . . . . . 2.9.3.3. Zur italienischen Rezeption . . . . . . . . . . . . Shakespeare Sonnette. Umdichtung (SW XII) [Ute Oelmann] . . . . . 2.10.1. Entstehung und Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . 2.10.2. Übersetzungsprinzipien und Formales . . . . . . . . . . . 2.10.3. Rezeption und Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.10.3.1. Werkkontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.10.3.2. Zeitgenössische Rezeption . . . . . . . . . . . . 2.10.3.3. Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baudelaire · Die Blumen des Bösen. Umdichtungen (SW XIII/XIV) [Cornelia Ortlieb] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.1. Entstehung und Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.2. Aufbau, Übersetzungsprinzipien und Formales . . . . . . . 2.11.3. Rezeption und Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.3.1. Zeitgenössische Rezeption . . . . . . . . . . . . 2.11.3.2. Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitgenössische Dichter (SW XV, XVI) [Jutta Schloon] . . . . . . . 2.12.1. Entstehung und Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.2. Aufbau, Übersetzungsprinzipien und Formales . . . . . . . 2.12.2.1. Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.2.2. Übersetzungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . 2.12.3. Rezeption und Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.3.1. Kreisinterne und zeitgenössische Rezeption . . . . .

VII

194 194 197 199 202 203 203 207 209 209 213 218 218 218 221 223 223 227 229 229 232 235 238 238 243 247 247 249 251 254 254 257 263 263 265 269 269 274 276 284 287 287

VIII

Inhaltsverzeichnis

2.13. Tage und Taten. Aufzeichnungen und Skizzen (SW XVII) [Lothar van Laak] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.13.1. Entstehung und Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . 2.13.2. Aufbau und Formales . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.13.3. Rezeption und Deutung . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

290 290 293 294

Geschichte der Blätter für die Kunst [Steffen Martus] . . . . . . . . Vorgeschichte der Blätter für die Kunst . . . . . . . . . . . . . . Gründung der Blätter für die Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der erste Band der Blätter für die Kunst: Programm und Durchführung Entwicklung der Blätter für die Kunst bis 1899 . . . . . . . . . . . 3.5.1. Die Blätter für die Kunst als künstlerische ,Bewegung‘ . . . . . 3.5.2. Bildende Kunst, Musik und Theater in den Blättern für die Kunst 3.5.3. Annäherung an die Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Entwicklung der Blätter für die Kunst von 1901 bis 1919 . . . . . .

301 301 305 309 318 329 331 336 341 349

4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 4.7. 4.8. 4.9. 4.10. 4.11. 4.12. 4.13. 4.14. 4.15. 4.16. 4.17.

365 365 365 368 371 372 375 377 379 382 386 389 391 394 396 398 401 402

3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.

Die ,Kreise‘ [Jürgen Egyptien] . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum ,Kreis‘-Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Schülerzeitschrift zur ,Internationale der Dichter‘ . . . . . Die Blätter für die Kunst: Dialektik des Privaten und Öffentlichen . . Berlin: Salon mit Fenster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . München: Kosmische Runde . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Gundolf: der erste Jünger / Maximin als Gründungsmythos Kulturkritik I: Konstitution des Kreises . . . . . . . . . . . . . Kulturkritik II: Der Binnendiskurs: Gundolf und Wolters . . . . . . Kulturkritik III: Das Jahrbuch für die geistige Bewegung . . . . . . Vermehrung der ,Pfalzen‘: Heidelberg und Basel . . . . . . . . . George-Kreis und Erster Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . Von Gundolfs Goethe bis zu Wilhelm Steins Raffael . . . . . . . . Gundolf-Krise und Enkelkreise / Rolle der Frauen . . . . . . . . . Ernst Kantorowicz und Max Kommerell . . . . . . . . . . . . . Dissoziationen und ,Blättergeschichte‘ . . . . . . . . . . . . . . Platon-Schriften / ,Staats‘-Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . 1933: Das Ende des George-Kreises . . . . . . . . . . . . . . .

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5.

Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung [Christine Haug mit Wulf D. v. Lucius] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Einführung und Quellensituation . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Globalisierung der Buchmärkte um 1900 – Normierung von Distributionssystemen und rechtlichen Rahmenbedingungen . . . . . 5.3. Symbolistische Literaturvermittlung und kommerzieller Buchmarkt um 1900 – Georges nicht-kommerzielle Publikationsphase . . . . . . . . 5.3.1. Literarische Akteure: Drucker, Verleger, Kunstbuchhändler . . . 5.3.2. Bücher- und Lesestuben als Vermittlungsinstanz symbolistischer Literatur – das Beispiel München . . . . . . . . . . . . . .

408 408 415 417 418 424

Inhaltsverzeichnis

5.4. Georges Schritt in die literarische Öffentlichkeit – Suche nach einem kommerziellen Verleger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1. Orientierungsphase auf dem deutschen Buchmarkt – Kontaktaufnahmen mit J. A. Stargardt, Eugen Diederichs, Max Spohr und Georg Bondi . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2. Die Zusammenarbeit Georges mit Bondi . . . . . . . . . . . 5.4.3. Der Verlag Bondi in den Jahren der Weimarer Republik . . . . 5.4.4. Verlagskalkulationen, Auflagenhöhen, Honorarberechnungen in den Zwischenkriegsjahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5. Druck, Ausstattung und Absatz der Gesamtausgabe der Werke Georges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.6. Die Bewahrung des literarischen Erbes – Einsetzung eines literarischen Nachlassverwalters . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Zur Einkommenssituation des Schriftstellers Stefan George . . . . . . 5.6. Buchgestaltung und Typographie bei Stefan George [Wulf D. v. Lucius] 5.6.1. Die frühen Publikationen 1890 bis 1895 . . . . . . . . . . . 5.6.2. Die Jahre mit Melchior Lechter 1895 bis 1907 . . . . . . . . 5.6.3. Exkurs: Die StG-Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.4. Das Jahr 1907 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.5. Nach 1907 – die letzten Werke und die Gesamtausgabe . . . .

IX

427 428 431 442 445 450 460 462 467 468 473 481 483 485

Inhaltsverzeichnis II. Systematische Aspekte 1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik [Wolfgang Braungart] . . . . . . 1.1. Einführung, Forschungssituation, Forschungsfragen . . . . . . . 1.2. Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Poe´sie pure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Abgrenzungen, Zäsur, Umkehr . . . . . . . . . . . . . 1.2.3. Die zwei Rollen des Dichters: Priester und Prophet . . . . 1.2.3.1. Der Dichter-Priester . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3.2. Der Dichter-Prophet . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Die Entwicklung der rhetorischen Intention . . . . . . . 1.3.2. Werk-Intention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1. Lesen und Vorlesen, Hören und Verstehen . . . . . . . . 1.4.1.1. Lesen und Vorlesen als rituelle Performanz . . . . 1.4.1.2. Verstehen als Anerkennung des poetischen ,Gebildes‘ 1.4.2. Maximin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . .

495 495 502 502 505 516 517 522 523 523 528 533 533 533 539 545

2. Bildende Kunst [Michael Thimann] . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Bildende Kunst als Gegenstand der Dichtung Georges . . . . . . . . 2.1.1. Bildgedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Bildbeschreibung: Prosatexte über bildende Kunst . . . . . . . 2.2. George und die Geschichte der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Georges Kenntnis der bildenden Kunst älterer Epochen . . . . 2.2.2. Georges Verhältnis zur zeitgenössischen Kunst . . . . . . . . 2.3. Kunstproduktion im George-Kreis (Buchillustration, Graphik, Malerei, Fotografie, Plastik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Mitarbeit bildender Künstler an den Blättern für die Kunst . . . 2.3.2. Bildnis und Image: George und die Fotografie . . . . . . . . 2.3.2.1. Fotografie und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . 2.3.2.2. Hoffotografen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.3. Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Plastik im George-Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1. Wie Caesar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.2. Atelier/Lapidarium: Der George-Kreis in der Versteinerung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

551 553 553 556 558 558 561 562 562 565 566 567 568 571 571 573

VI

Inhaltsverzeichnis

2.4. George in Darstellungen der bildenden Kunst . . . . . . . . . . . 576 2.4.1. Bildnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 2.4.2. Das Gesicht als Allegorie: Verkörperungen des Dichtertums . . 578 3. Wissenschaft [Rainer Kolk] . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Wissenschaft im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Frühe Wissenschaftsprogrammatik: Das Jahrbuch für die geistige Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Seher, Täter, Gestalten: Monographien . . . . . . . . . . . . 3.4. Wissenschaftler aus dem George-Kreis in den Kulturwissenschaften

. . 585 . . 585 . . 588 . . 594 . . 599

4. Traditionsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Deutsche Dichtung (DD I–III) [Gerhard R. Kaiser] . . . . . . . . . 4.1.1. Entstehung, Veröffentlichung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2. Bildkünstlerische und typographische Ausstattung . . . . . . . 4.1.3. Band 1: Jean Paul. Ein Stundenbuch für seine Verehrer . . . . 4.1.4. Band 2: Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5. Band 3: Das Jahrhundert Goethes . . . . . . . . . . . . . 4.1.6. Rezeption / Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Rezeption der französischen und italienischen Dichtung [Friedmar Apel] 4.2.1. Französische Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2. Italienische Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Rezeption der skandinavischen, englischen und niederländischen Literatur [Ute Oelmann] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Antike-Rezeption [Christian Oestersandfort] . . . . . . . . . . . . 4.4.1. Der George-Kreis und die Antike . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2. Formen und Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3. Aktualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4. Amalgamierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5. Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5.1. Erotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5.2. Kairologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5.3. Inspiration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5.4. Symbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5.5. Daimonion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5.6. Schönes Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Mittelalter-Rezeption [Jutta Schloon] . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1. Mittelalter-Rezeption vs. Mediävalismus . . . . . . . . . . . 4.5.2. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3. Phasen des Mediävalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.4. Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

607 607 607 609 611 615 618 622 626 628 628 633 637 647 647 648 651 653 655 655 657 660 661 662 665 672 672 673 675 681

5. Medien und Medialität [Günter Baumann] . . . . . . . . . . . . 683 5.1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 5.2. Zum Begriff der Medien und der Medialität . . . . . . . . . . . . 685

Inhaltsverzeichnis

5.3. Vermittlung nach innen und außen . . . 5.3.1. Buchgestalt . . . . . . . . . . 5.3.2. Schrift . . . . . . . . . . . . 5.4. Der Dichter als Botschaft . . . . . . . 5.4.1. ,Habitus‘ – Stimme und Fotografie 5.4.2. Plastik . . . . . . . . . . . . 5.4.3. Masken . . . . . . . . . . . . 5.5. Die Dichtung als Botenstoff . . . . . .

VII

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688 692 694 698 699 705 705 708

Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaften [Jan Andres] . . . . Kreisbildung, Dynamik und Entwicklung des Kreises . . . . . . Fortführungen des Kreises nach 1933 und 1945 . . . . . . . . Kreisrituale: Auswahl/Aufnahme, Lesen/Vorlesen, Feste, Briefkultur Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Imageaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pädagogik: Die ästhetische Erziehung aus dem Geist Platons . . . Gegnerschaften und Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . .

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713 713 722 725 729 732 736 740

7. Mythen, Mythisierungen, Religion [Lothar van Laak] . . . . . . . . 7.1. Mythen in Georges Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Esoterische und mystische Positionen um 1900 und ihre Bedeutung für George . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3. Strategien der Mythisierung – der Kult um Maximin . . . . . . . . 7.4. Mythisierung, Kunst und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

751 754

6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5. 6.6. 6.7.

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8. 8.1. 8.2. 8.3.

Zeitkritik und Politik [Stefan Breuer] . . . . . . . . . . . . . . Vom Blätter- zum Jahrbuch-Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . Divergente Konkretisierungen I: Der George-Kreis im Ersten Weltkrieg Divergente Konkretisierungen II: Der George-Kreis in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4. Der George-Kreis in der ,Revolution von rechts‘ . . . . . . . . . 8.5. „der dritte der stürme“: Das geheime wider das offizielle Deutschland

759 762 766 768

. 771 . 771 . 779 . 786 . 800 . 816

III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5.

Poetische Rezeption [Achim Aurnhammer] . . . . . . . . . . . Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Expressionismus, Neuklassik und Neue Sachlichkeit (1907–1933) . Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exilliteratur (1933–1945) Nachkriegslyrik (1945–1970) . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenwartsdichtung (1970–2010) . . . . . . . . . . . . . .

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829 830 843 868 879 888

VIII

Inhaltsverzeichnis

2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8. 2.9.

Übersetzerische Rezeption [Mario Zanucchi] Germanische Sprachen . . . . . . . . . Romanische Sprachen . . . . . . . . . . Ugro-finnische Sprachen . . . . . . . . Slawische Sprachen . . . . . . . . . . . Griechisch . . . . . . . . . . . . . . Semitische Sprachen . . . . . . . . . . Orientalische Sprachen . . . . . . . . . Esperanto . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . .

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897 898 905 910 911 914 914 915 916 916

3. 3.1. 3.2. 3.3.

Bildkünstlerische Rezeption [Sebastian Schütze] George-Bilder . . . . . . . . . . . . . . . George und die Moderne . . . . . . . . . . George in der zeitgenössischen Kunst . . . . .

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919 920 925 929

4. 4.1. 4.2. 4.3.

Musikalische Rezeption [Dieter Martin] . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zeitgenössische Rezeption im Überblick . . . . . . . . . . . Durchbruch zur Atonalität – Kompositionen der Zweiten Wiener Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Ausläufer der Lied-Tradition, jugendbewegte Kantaten und avantgardistische Experimente – von Georges Tod bis zur Gegenwart

. 939 . 939 . 941

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption . . . . . 5.1. Die Blätter für die Kunst in der deutschen Literaturkritik [Franziska Merklin] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Deutschsprachige George-Kritik 1898–1945 [Philipp Gresser] . . . 5.2.1. Die Rezeption vom Erscheinen der öffentlichen Ausgaben bis zum Siebenten Ring (1899–1907) . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.1. Gegenwind aus dem rechtskonservativen Lager . . . 5.2.1.2. Vergängliche Schönheit und historisches Verdienst: Vermittelnde Positionen . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.3. Wissenschaftliche vs. ,kosmologische‘ Perspektiven der George-Förderer . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2. Die Rezeption vom Siebenten Ring (1907) bis zum Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.1. Bewertung des ethischen Gehalts des Siebenten Rings 5.2.2.2. Wie ,deutsch‘ ist George? . . . . . . . . . . . . 5.2.2.3. Ästhetische Urteile über den Siebenten Ring . . . . 5.2.2.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3. Die Rezeption vom Ersten Weltkrieg bis 1927 . . . . . . . 5.2.3.1. George als Ikone des Antimodernismus . . . . . . 5.2.3.2. George als Erzieher . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3.3. Zur Religion Georges . . . . . . . . . . . . . .

. 962

. 946 . 950

. 962 . 976 . 976 . 977 . 979 . 981 . 984 . . . . . . . . .

985 985 990 991 993 994 994 997 999

Inhaltsverzeichnis

IX

5.2.3.4. Kritik am George-Kult . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3.5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4. Die Rezeption von 1928 bis 1932 . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.1. Stimmen anlässlich des sechzigsten Geburtstags . . . 5.2.4.2. Wolters’ George-Biographie und ihre Folgen: Zersplitterung und Radikalisierung der politischen Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.5. Die Rezeption im ,Dritten Reich‘ . . . . . . . . . . . . . 5.2.5.1. Das Jahr 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.5.2. Schrittweiser Reputationsverlust: Postume GeorgeRezeption bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.6. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. George-Rezeption seit 1945 [Jürgen Egyptien] . . . . . . . . . . 5.3.1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2. Werkausgaben, Bibliographien, Editionen . . . . . . . . . 5.3.3. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.1. Memoirenliteratur und Werkdeutungen aus dem George-Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.2. Fachwissenschaftliche Forschung . . . . . . . . . 5.4. George in der nichtdeutschsprachigen Literaturkritik [Michael Butter] 5.4.1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2. 1890–1898 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3. 1899–1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4. 1933–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5. 1946–1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.6. 1960–1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.7. 1980–2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Georges Lyrik in Anthologien [Gerhard R. Kaiser] . . . . . . . . 5.5.1. Anthologien zu Lebzeiten des Dichters . . . . . . . . . . 5.5.2. Anthologische Werkauswahlen . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3. Umfassende deutschsprachige Anthologien . . . . . . . . . 5.5.4. Fremd- und zweisprachige, außerhalb des deutschen Sprachgebiets erschienene Anthologien . . . . . . . . . . 5.5.5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1001 1003 1003 1003

6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.4.

1069 1069 1073 1083 1090 1090 1096 1099 1100 1102 1103 1106

Wissenschaftliche Rezeption . . . . . . . . . Einführende Bemerkungen [Barbara Beßlich] . . Germanistik [Mario Zanucchi] . . . . . . . . Klassische Philologie [Christoph Hartmann] . . Historische Wissenschaften [Eckhart Grünewald] 6.4.1. Geschichtswissenschaft . . . . . . . . 6.4.2. Archäologie . . . . . . . . . . . . . 6.5. Philosophie [Michael Großheim] . . . . . . . 6.5.1. Die Lyrik . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2. Die Gestaltästhetik . . . . . . . . . . 6.5.3. Der Kreis . . . . . . . . . . . . . . 6.5.4. Zeitkritik und Politik . . . . . . . . .

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1005 1007 1007 1011 1013 1016 1016 1019 1022 1022 1024 1044 1044 1046 1048 1050 1051 1053 1055 1058 1058 1059 1062 1067 1067

X

Inhaltsverzeichnis

6.6. Theologie, Religionswissenschaft, Religionsphilosophie [Roland Kany] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.1. Jüngerschaft und Katholizismus . . . . . . . . . . . . . 6.6.2. Religion und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.3. Kairos und Apokalypse . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7. Kunstwissenschaft [Michael Thimann] . . . . . . . . . . . . . 6.7.1. Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen um George . . . . 6.7.1.1. Raffael und Holbein: Wilhelm Stein (1886–1970) . . 6.7.1.2. Apologet der Konservativen Moderne: Ludwig Thormaehlen (1889–1956) . . . . . . . . . . . . . . 6.7.1.3. Märchenstil: Gertrud Kantorowicz (1876–1945) . . 6.7.1.4. „komm in den totgesagten park“ – Marie Luise Gothein (1863–1931) . . . . . . . . . . . . . . 6.7.2. Historische Bildforschung und George-Kreis: Friedrich Gundolf (1880–1931) und Ernst Kantorowicz (1895–1963) . . . . . 6.7.3. Kryptoporträts: Gerhart B. Ladner (1905–1993) . . . . . . 6.7.4. Die Aura des Meisters: George und George-Kreis als Anregung und Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8. Staatswissenschaften (Nationalökonomie, Staats- und Völkerrecht) [Bertram Schefold/Wolfgang Graf Vitzthum] . . . . . . . . . . . 6.8.1. Der Einfluss der ,anderen richte‘ auf die Staatswissenschaften . 6.8.2. Der Dichtung entspringende Normen . . . . . . . . . . . 6.8.3. Die Rezeption der Nationalökonomen um George . . . . . 6.8.4. Die Rezeption der Rechtswissenschaftler um George . . . . . 6.8.5. Zum Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.9. Soziologie [Stefan Breuer] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.10. Pädagogik [Richard Pohle] . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.10.1. Stefan George in der pädagogischen Provinz . . . . . . . 6.10.2. Wissenschaft und Humanismus . . . . . . . . . . . . .

1147 1147 1148 1151 1153 1156 1158 1169 1171 1172

7. 7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.5. 7.6.

Politische Rezeption [Stefan Breuer] . . . . . Vorklärungen . . . . . . . . . . . . . . . Die Ring-Bewegung . . . . . . . . . . . . Die rassenhygienische und nordische Bewegung Die bündische Bewegung . . . . . . . . . . Die völkische Bewegung . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1110 1110 1115 1124 1128 1129 1129 1132 1133 1135 1137 1142 1143

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1176 1176 1177 1189 1199 1212 1223

8. Institutionelle Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . 8.1. Castrum Peregrini [Günter Baumann] . . . . . . . . . . 8.1.1. Autopsie einer Zeitschrift . . . . . . . . . . . . 8.1.2. Vorgeschichte als Geschichte . . . . . . . . . . . 8.2. Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen [Birgit Wägenbaur] 8.2.1. Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2. Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1226 1226 1226 1229 1233 1233 1235

Inhaltsverzeichnis

8.3. Stefan George Stiftung und Stefan George Archiv [Maik Bozza/Ute Oelmann] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1. Zur Geschichte der Stiftung und des Archivs . . . . . . . 8.3.2. Der Archivbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3. Erschließung, Benutzung und eigene Forschungsaktivitäten . 8.4. Stefan George und sein Kreis in Ausstellungen [Thorsten Fitzon] . 8.4.1. Huldigung und regional-selektive Dokumentation . . . . . 8.4.2. Werkbiographische Gesamtschau . . . . . . . . . . . . 8.4.3. Thematische Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . 8.4.4. Werkbiographische Kontextualisierung des Umfelds . . . .

XI

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1237 1238 1239 1240 1241 1241 1242 1243 1245

Inhaltsverzeichnis

IV. Personen Vorbemerkung

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Andreae, Friedrich (Birgit Wägenbaur) . . . . Andreae, Wilhelm (Stefan Breuer) . . . . . . Andrian, Leopold von (Lea Marquart) . . . . Ansorge, Conrad (Werner Keil) . . . . . . . Anton, Johann (Franz K. von Stockert) . . . . Anton, Walter (Franz K. von Stockert) . . . . Bauer, Karl (Mario Zanucchi) . . . . . . . Berger, Erich (Birgit Wägenbaur) . . . . . . Bernus, Alexander von (Joachim Telle) . . . . Bertram, Ernst (Bernhard Böschenstein) . . . Blumenthal, Albrecht von (Birgit Wägenbaur) . Boehringer, Erich (Kay Ehling) . . . . . . . Boehringer, Robert (Christoph Perels) . . . . Bondi, Georg (Franziska Mayer) . . . . . . Borchardt, Rudolf (Kai Kauffmann) . . . . . Bothmer, Bernhard von (Alfred Grimm) . . . Bothmer, Dietrich von (Alfred Grimm) . . . . Brasch, Hans (Markus Pahmeier) . . . . . . Breysig, Kurt (Korinna Schönhärl) . . . . . . Claassen, Ria (Claudia Albert) . . . . . . . Coblenz, Ida (Elisabeth Höpker-Herberg) . . Cohrs, Adalbert (Eckhart Grünewald) . . . . Curtius, Ernst Robert (Martin von Koppenfels) D’Annunzio, Gabriele (Mario Zanucchi) . . . Dauthendey, Max (Klaus Uhrig) . . . . . . Dehmel, Richard (Barbara Beßlich) . . . . . Derleth, Anna Maria (Hans Peter Buohler) . . Derleth, Ludwig (Barbara Beßlich) . . . . . Dessoir, Max (Lothar van Laak) . . . . . . Dette, Willi (Birgit Wägenbaur) . . . . . . . Dowson, Ernest (Jürgen Egyptien) . . . . . . Dülberg, Franz (Philipp Redl) . . . . . . . . Edward, Georg (Sascha Monhoff) . . . . . .

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VI

Elze, Walter (Wolfgang Graf Vitzthum) . . . . . . . . . . Fahrner, Rudolf (Jan Andres) . . . . . . . . . . . . . . . Franckenstein, Clemens von (Werner Keil) . . . . . . . . . Friedemann, Heinrich (Franziska Merklin) . . . . . . . . . Frommel, Wolfgang (Günter Baumann) . . . . . . . . . . Fuchs, Georg (Rebekka Peters) . . . . . . . . . . . . . . George, Anna (Ute Oelmann) . . . . . . . . . . . . . . . Ge´rardy, Paul (Mario Zanucchi) . . . . . . . . . . . . . Glöckner, Ernst (Wolfgang Braungart) . . . . . . . . . . . Gothein, Eberhard (Bertram Schefold/Korinna Schönhärl) . . Gothein, Marie Luise (Bertram Schefold/Korinna Schönhärl) . Gothein, Percy (Stephan Schlak) . . . . . . . . . . . . . Graef, Botho (Rebekka Peters) . . . . . . . . . . . . . . Greischel, Walther (Lutz Näfelt) . . . . . . . . . . . . . Greve, Felix Paul (Gaby Divay) . . . . . . . . . . . . . . Gundolf, Ernst (Jürgen Egyptien) . . . . . . . . . . . . . Gundolf, Friedrich (Jan Andres) . . . . . . . . . . . . . . Haan, Willem de (Werner Keil) . . . . . . . . . . . . . . Hallwachs, Karl (Werner Keil) . . . . . . . . . . . . . . Hardt, Ernst (Lea Marquart) . . . . . . . . . . . . . . . Heiseler, Henry von (Günter Baumann) . . . . . . . . . . Hellingrath, Norbert von (Bruno Pieger) . . . . . . . . . . Herrmann, Paul (Birgit Wägenbaur) . . . . . . . . . . . . Heyer, Wolfgang (Birgit Wägenbaur) . . . . . . . . . . . Hildebrandt, Kurt (Stefan Breuer) . . . . . . . . . . . . . Hilsdorf, Jacob (Ute Oelmann) . . . . . . . . . . . . . . Hilsdorf, Theodor (Birgit Wägenbaur) . . . . . . . . . . . Hofmann, Ludwig von (Birgit Wägenbaur) . . . . . . . . . Hofmannsthal, Hugo von (Manfred Koch) . . . . . . . . . Holten, Otto von (Franziska Mayer) . . . . . . . . . . . . Huch, Friedrich (Dorit Krusche) . . . . . . . . . . . . . Huch, Roderich (Dorit Krusche) . . . . . . . . . . . . . Husmann, August (Robert Igel) . . . . . . . . . . . . . . Kahler, Erich von (Gerhard Lauer) . . . . . . . . . . . . Kahler, Fine von (Barbara Picht) . . . . . . . . . . . . . Kantorowicz, Ernst (Eckhart Grünewald) . . . . . . . . . Kantorowicz, Gertrud (Robert E. Lerner) . . . . . . . . . Kempner, Walter (Maik Bozza) . . . . . . . . . . . . . . Klages, Ludwig (Michael Großheim) . . . . . . . . . . . . Klein, Carl August (Wolfgang Braungart) . . . . . . . . . . Kommerell, Max (Matthias Weichelt) . . . . . . . . . . . Kronberger, Maximilian (Franziska Walter) . . . . . . . . . Küpper, Helmut (Franziska Mayer) . . . . . . . . . . . . Landmann, Edith (Christian Oestersandfort) . . . . . . . . Landmann, Georg Peter (Bertram Schefold/Korinna Schönhärl) Landmann, Julius (Bertram Schefold/Korinna Schönhärl) . . .

Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

Landmann, Michael (Markus Pahmeier) . . . . . . . . . Lechter, Melchior (Sebastian Schütze) . . . . . . . . . . Lepsius, Reinhold (Annette Dorgerloh) . . . . . . . . . . Lepsius, Sabine (Annette Dorgerloh) . . . . . . . . . . . Liegle, Josef (Ernst A. Schmidt) . . . . . . . . . . . . . Mallarme´, Ste´phane (Annette Simonis) . . . . . . . . . . Markees, Silvio (Birgit Wägenbaur) . . . . . . . . . . . Mayer-Oehler, August (Jürgen Egyptien) . . . . . . . . . Mehnert, Frank (Daniela Gretz) . . . . . . . . . . . . Merrill, Stuart (Mario Zanucchi) . . . . . . . . . . . . Meyer, Richard Moritz (Myriam Richter) . . . . . . . . Mockel, Albert (Mario Zanucchi) . . . . . . . . . . . . Morwitz, Ernst (Michael Philipp) . . . . . . . . . . . . Muret, Maurice (Lea Marquart) . . . . . . . . . . . . Pannwitz, Rudolf (La´szlo´ V. Szabo´) . . . . . . . . . . . Partsch, Karl Josef (Wolfgang Graf Vitzthum) . . . . . . . Pen˜afiel, Antonio und Söhne (Carmen Go´mez Garcı´a) . . . Perls, Richard (Jan Andres) . . . . . . . . . . . . . . . Petersen, Carl (Stefan Breuer) . . . . . . . . . . . . . . Puttkamer, Gerda von (Maik Bozza) . . . . . . . . . . . Rassenfosse, Edmond (Mario Zanucchi) . . . . . . . . . Rausch, Albert H. (d. i. Henry Benrath) (Markus Pahmeier) . Re´gnier, Henri de (Mario Zanucchi) . . . . . . . . . . . Reventlow, Franziska zu (Birgit Wägenbaur) . . . . . . . Rolicz-Lieder, Wacław (Annette Werberger) . . . . . . . . Rouge, Karl (Birgit Wägenbaur) . . . . . . . . . . . . Saint-Paul, Albert (Mario Zanucchi) . . . . . . . . . . . Salin, Edgar (Bertram Schefold/Korinna Schönhärl) . . . . Salomon, Elisabeth (Gunilla Eschenbach/Korinna Schönhärl) Salz, Arthur (Korinna Schönhärl/Johannes Fried) . . . . . Schellenberg, Anna (Iryna Mastsitskaya) . . . . . . . . . Scheller, Will (Birgit Wägenbaur) . . . . . . . . . . . . Schlayer, Clotilde (Maik Bozza) . . . . . . . . . . . . . Schlittgen, Hermann (Stephan E. Hauser) . . . . . . . . Schmalenbach, Herman (Peter Trawny) . . . . . . . . . Schmitt, Saladin (Nina Herres) . . . . . . . . . . . . . Schmitz, Oscar A. H. (Wilhelm Kühlmann) . . . . . . . . Schuler, Alfred (Achim Aurnhammer) . . . . . . . . . . Schweinitz, Bernhard von (Hans Peter Buohler) . . . . . . Scott, Cyril (Werner Keil) . . . . . . . . . . . . . . . Sieburg, Friedrich (Ernst Osterkamp) . . . . . . . . . . Simmel, Georg (Volker Kruse) . . . . . . . . . . . . . Simmel, Gertrud (Ute Oelmann) . . . . . . . . . . . . Singer, Kurt (Christian Oesterheld) . . . . . . . . . . . Stahl, Arthur (Birgit Wägenbaur) . . . . . . . . . . . . Stauffenberg, Alexander von (Stefan Rebenich) . . . . . .

VII

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1518 1522 1528 1532 1536 1538 1542 1544 1546 1550 1552 1556 1559 1564 1566 1569 1573 1576 1578 1580 1583 1585 1588 1590 1593 1596 1598 1601 1606 1609 1613 1615 1617 1621 1624 1627 1629 1633 1637 1639 1644 1647 1651 1654 1659 1661

VIII

Inhaltsverzeichnis

Stauffenberg, Berthold von (Wolfgang Graf Vitzthum) . Stauffenberg, Claus von (Christopher Dowe) . . . . . Steiger, Robert von (Birgit Wägenbaur) . . . . . . . Stein, Wilhelm (Ernst Osterkamp) . . . . . . . . . . Steinen, Helmut von den (Heiko Hartmann) . . . . . Steinen, Wolfram von den (Heiko Hartmann) . . . . . Steiner, Herbert (Günter Baumann) . . . . . . . . . Stettler, Michael (Ute Oelmann) . . . . . . . . . . Stoeving, Curt (Manfred Riedel †) . . . . . . . . . . Strebel, Helmut (Wolfgang Graf Vitzthum) . . . . . . Susman, Margarete (Jürgen Egyptien) . . . . . . . . Thiersch, Paul (Katja Schneider) . . . . . . . . . . Thormaehlen, Ludwig (Achim Aurnhammer) . . . . . Treuge, Lothar (Mario Zanucchi) . . . . . . . . . . Troschel, Hans (Sarah Sander) . . . . . . . . . . . Uxkull-Gyllenband, Bernhard von (Eckhart Grünewald) Uxkull-Gyllenband, Woldemar von (Eckhart Grünewald) Vallentin, Berthold (Jens Schnitker) . . . . . . . . . Vallentin, Diana (Ute Oelmann) . . . . . . . . . . . Verlaine, Paul (Annette Simonis) . . . . . . . . . . Verwey, Albert (Jutta Schloon) . . . . . . . . . . . Volhard, Ewald (Christian Oesterheld) . . . . . . . . Vollmoeller, Karl Gustav (Hans Peter Buohler) . . . . Waldhausen, Balduin (Michael Philipp) . . . . . . . Weber, Max (Andreas Anter) . . . . . . . . . . . . Wenghöfer, Walter (Bruno Pieger) . . . . . . . . . . Wolff, Erich (Werner Keil) . . . . . . . . . . . . . Wolfskehl, Hanna (Hanna Köllhofer) . . . . . . . . Wolfskehl, Karl (Friedrich Voit) . . . . . . . . . . . Wolters, Erika (Ute Oelmann) . . . . . . . . . . . Wolters, Friedrich (Bastian Schlüter) . . . . . . . . . Wolters-Thiersch, Gemma (Katja Schneider) . . . . . Zschokke, Alexander (Stephan E. Hauser) . . . . . .

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Gesamtinhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1789

Abbildungsverzeichnis Teil I . . . . . Teil II . . . . . Teil III . . . . . Bildtafeln . . . . Personenlexikon .

1805 1805 1806 1806 1807 1808

Anhang

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Inhaltsverzeichnis

IX

Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editionen, Zeitschriften, Nachschlagewerke und Forschungsliteratur . . .

1812 1812 1813

Zeittafel . . . . . . . . . Vita . . . . . . . . . Werke . . . . . . . . Übertragungen . . Herausgeberschaften

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1816 1816 1817 1818 1818

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werke Stefan Georges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1819 1821 1859

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Verfasserverzeichnis Arrighetti, Anna Maria Egyptien, Jürgen Haug, Christine Herres, Nina Jacob, Joachim Kauffmann, Kai Laak, Lothar van Lucius, Wulf D. v. Martus, Steffen Oelmann, Ute Ortlieb, Cornelia Osterkamp, Ernst Pirro, Maurizio Schloon, Jutta

Vorwort zur 2. Auflage Seit 2012 liegt nun das George-Handbuch vor. Es ist auf großes Interesse gestoßen und hat eine insgesamt sehr positive Resonanz erfahren, weil es, wie wir es beabsichtigt hatten, einem breiten Benutzerspektrum zuverlässige Informationen zur Verfügung stellt. Der Erfolg des Handbuchs macht jetzt schon eine zweite, broschierte Auflage möglich, in die aber nur kleinere Korrekturen und Ergänzungen eingearbeitet wurden. Eine weitergehende Überarbeitung war jedoch weder möglich, noch schien sie zum jetzigen Zeitpunkt schon sinnvoll. Wir danken allen, die uns hilfreiche kritische und weiterführende Hinweise gegeben haben, und wünschen dem Handbuch, dass es hilft, die Beschäftigung mit Georges Leben, seinem Werk, seinem Kreis weiter zu beleben. Bielefeld, im Sommer 2015

Für die Herausgeber-Gruppe Wolfgang Braungart

Vorwort Stefan George ist – neben Hofmannsthal und Rilke – der bedeutendste deutsche Lyriker der Klassischen Moderne. Er hat die deutsche Lyrik neu begründet, indem er sie von realistischen und naturalistischen Traditionen radikal abgesetzt und gegenüber dem europäischen Symbolismus und Ästhetizismus, besonders dem Frankreichs, geöffnet hat. Nicht weniger bedeutend und wirkungsvoll war sein Kreis. Gottfried Benn ging sogar so weit, zu behaupten, George sei „das großartigste Durchkreuzungs- und Ausstrahlungsphänomen“ der deutschen Geistesgeschichte gewesen. Die Spuren Georges reichen in vielfältige Bereiche des geistig-kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Lebens des 20. Jahrhunderts hinein. Erstmals steht nun mit diesem Handbuch ein umfassendes Repertorium zu Leben und Werk Georges, zu seinem Kreis und zu seiner Rezeptionsgeschichte zur Verfügung. Dem Wirken Georges und seines Kreises entspricht das interdisziplinär und diskursgeschichtlich orientierte Konzept des Handbuchs. Es schließt die verschiedenen Kunst- und Geisteswissenschaften, die Soziologie, die Politologie und die Wissenschaftsgeschichte ein. Das Handbuch ist in vier Teile gegliedert. Teil I, „Stefan George und sein Kreis“, ist Georges Leben, seinem Werk und seinem Kreis gewidmet. Die Darstellung der Werke Georges orientiert sich an der maßgeblichen kritischen George-Ausgabe, den von der Stefan George Stiftung herausgegebenen Sämtlichen Werken Georges, die wiederum auf der noch vom Dichter selbst veranstalteten Gesamt-Ausgabe basieren. Damit sind hier auch erstmals neben der Dichtung die Übersetzungen ausführlich berücksichtigt, die insgesamt fast die Hälfte seines Werks ausmachen. Teil II behandelt „Systematische Aspekte“ bei George und im Kreis, so etwa Georges Poetik, seine Rezeption anderer Literaturen, sein Kunst-, Wissenschafts- und Politikverständnis und dessen Spiegelungen bzw. Ausfaltungen im Kreis, Medienstrategien, Sozialverhalten, Rituale und Strukturen im Kreis oder den Umgang mit Mythen und Religion. Teil III befasst sich mit der „Rezeption und Wirkung des George-Kreises“ in ihren vielfältigen Ausformungen und Facetten in Kunst, Wissenschaft und Politik. Teil IV des Handbuchs ist ein Personenlexikon, das 158 Artikel über die Personen enthält, die zum engeren oder weiteren Kreis um George gehörten. Die Kriterien für die Auswahl der Personen und die Anlage der Artikel werden in einer eigenen Vorbemerkung erläutert. Viele Lebensläufe und Beziehungen zu George wurden für die Artikel erstmals in dieser Ausführlichkeit recherchiert. Für die meisten Beiträge des Handbuchs wurden die Bestände des Stefan George Archivs in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart genutzt und neue archivalische Quellen einbezogen, die erst in den letzten Jahren zugänglich geworden sind. Das Handbuch dokumentiert den derzeitigen Forschungsstand und schafft damit eine Grundlage für die weitere Forschung. Es macht aber auch Desiderate kenntlich, so insbesondere in Artikeln zu einzelnen Werk-Bänden, und möchte damit die Forschung anregen.

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Vorwort

Noch vor zwanzig Jahren wäre ein solches Handbuch nicht möglich gewesen. Denn erst damals begann sich die George-Forschung neu zu formieren. In Bingen wurde 1994 die Stefan-George-Gesellschaft neu gegründet. Seit 1996 erscheint in ihrem Auftrag das George-Jahrbuch. In der zweiten Hälfte der 90er-Jahre kamen eine Reihe maßgeblicher George-Monographien heraus (Breuer 1995, Braungart 1997, Groppe 1997, Kolk 1998). 2004 ergriffen dann Ernst Osterkamp (Berlin) und Johannes Fried (Frankfurt am Main) eine erste Initiative zum vorliegenden Handbuch. Es bildete sich eine Arbeitsgruppe, die diese Initiative weiterführte und in zahlreichen Sitzungen inhaltlich und organisatorisch zu planen begann. Zu dieser Gruppe gehörten, neben Ernst Osterkamp, Stefan Breuer (Hamburg), Ulrich Raulff (Marbach), Wolfgang Braungart (Bielefeld) und Ute Oelmann (Stuttgart). Nach dem Ausscheiden Ulrich Raulffs, später auch Ernst Osterkamps, aus der Projektgruppe kam Achim Aurnhammer (Freiburg) als Mitherausgeber hinzu. Im Jahr 2006 wurde bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Förderungsantrag gestellt, der im Frühjahr 2007 genehmigt wurde. So konnte das Projekt im Juni 2007 starten. Als Koordinator des Teils über Leben und Werk (I) ergänzte Kai Kauffmann (Bielefeld) die Projektgruppe; Barbara Beßlich (Heidelberg) übernahm die Koordination des Abschnittes „Wissenschaftliche Rezeption“ des Teils zur Wirkung Georges (III, 6.). Als Redakteurin konnte Birgit Wägenbaur gewonnen werden, der die Herausgeber zu ganz besonderem Dank verpflichtet sind: Ohne ihre große Erfahrung und Akribie wäre die Arbeit an diesem Handbuch nicht zu bewältigen gewesen. Von Anfang an wurde die Arbeit der Projektgruppe durch den Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York, den damaligen Geschäftsführer Klaus G. Saur und den Cheflektor Heiko Hartmann nachdrücklich unterstützt. Insbesondere Heiko Hartmann ist herzlich zu danken, der sich bis zu seinem Ausscheiden aus dem Verlag in ungewöhnlich hohem Maße engagiert hat. Nach ihm übernahmen Birgitta Zeller und Manuela Gerlof die Betreuung des Projekts im Verlag, denen ebenso großer Dank gilt. Der Verlag hat das Projekt auch finanziell freundlich unterstützt. Die Herausgeber danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die viereinhalbjährige Förderung des Projekts. Sie danken der Stefan George Stiftung für die pauschale Abdruckgenehmigung aller Zitate aus den Beständen des George Archivs und aller Abbildungen aus den Archivbeständen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Stefan George Archivs sei für die vielfältige Unterstützung der Einzelrecherchen im Archiv und ebenso für die geduldige Beantwortung der Flut von Anfragen gedankt sowie für die Bereitstellung von über hundert Abbildungen, insbesondere von Porträtfotos für die Personenartikel. Ohne die Hilfe der Stiftung und des Archivs hätte das Handbuch nicht in dieser Form entstehen können. Ein besonderer Dank gilt auch dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und seinem Direktor Ulrich Raulff. Gedankt sei ebenso allen übrigen Literatur-, Universitäts- und Regionalarchiven, die hier nicht namentlich aufgezählt werden können, und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bei den Recherchen für das Handbuch geholfen haben.

Vorwort

3

Schließlich danken die Herausgeber allen Beiträgerinnen und Beiträgern des Handbuchs und den Helfern an der Universität Bielefeld, vor allem Markus Pahmeier, der als Wissenschaftliche Hilfskraft Herausgeber und Redaktion mit großer Umsicht und Beharrlichkeit unterstützt hat. Achim Aurnhammer Wolfgang Braungart Stefan Breuer Ute Oelmann

I. Stefan George und sein Kreis

1.

Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

1.1.

Vorbemerkungen

Nur in stilisierter Art und Weise hat StG über das eigene Leben berichtet. In Gesprächen und Briefen beließ er es meist bei knappen, formelhaften Bemerkungen. Über das, was ihn in seinem Leben tief berührte und bewegte, sollte einzig die Dichtung in symbolischer Gestalt sprechen. Die biographischen Auskünfte, die er seinen Freunden gab, dienten hauptsächlich der Unterstützung des poetischen Œuvres. Dies gilt nicht zuletzt für das von ihm kontrollierte Buch von Friedrich Wolters über Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890 (1930), das die ab 1928 erscheinende Gesamtausgabe der Werke sekundierte. Die gesteuerte Information über die eigene Biographie war Bestandteil von StGs ,Werkpolitik‘.1 Mehr noch: Seitdem StG zum Dichter geworden war, versuchte er sein Leben so zu gestalten, als ob es vom Werk nicht abzutrennen wäre. Das vom Stilwillen durchdrungene Leben sollte wie das aus ihm hervorgegangene Werk zum ,Bild des Dichters‘ gehören. Entsprechend stark reglementierte StG seine Lebensführung und wachte darüber, dass niemand abweichende Persönlichkeitszüge kennenlernen konnte. „Es gibt im Leben Stefan Georges so gut wie nichts, was nicht von vornherein Inszenierung gewesen wäre oder nachträglich für die Inszenierung verwertet wurde“, konstatiert Thomas Karlauf und fährt fort: Spuren, die über die Entwicklung seiner Persönlichkeit, sein Privatleben oder auch nur seine persönliche Meinung zu diesem oder jenem Thema Aufschluss hätten geben können, wurden verwischt; George hat Briefe, die ihm wichtig waren, nach Lektüre verbrennen lassen, Korrespondenzen am Ende einer Beziehung zurückverlangt, Vorstufen und Varianten von Gedichten oder das sonstige Futter für die Philologen vernichtet. Was nicht Eingang ins dichterische Werk gefunden hatte, gehörte für ihn nicht ans Licht der Öffentlichkeit.2

Mit dieser Kontrolle machte StG es späteren Biographen schwer, denen es im Unterschied zu den Hagiographen des Kreises nicht darum geht, das von ihm stilisierte Bild getreulich zu überliefern. Robert E. Norton3 hat mit einer bewundernswerten Akribie neues Material aus den Archiven ausgegraben, Thomas Karlauf die vorliegenden Zeugnisse durch ein kunstvolles Arrangement zum Sprechen gebracht. Aber die ausgewerteten Texte, die überwiegend aus dem Kreis StGs stammen, reproduzieren die 1 Vgl. Martus, Werkpolitik. 2 Karlauf 2007, S. 772. Allerdings sind heute im StGA rund 9.000 Briefe von und an StG zugänglich. 3 Vgl. Norton, Secret Germany.

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I. Stefan George und sein Kreis

bekannten Züge des ,Meisters‘. Um hinter die Maske zu schauen und das in den Tiefen der Persönlichkeit vermutete Geheimnis zu entdecken, haben Norton und Karlauf zwei unterschiedliche Methoden verwendet. Norton zieht das Werk StGs heran und dekodiert die Gedichte als die Chiffrenschrift eines Homosexuellen. Karlauf präpariert dagegen aus den Schilderungen der Georgianer bestimmte Schlüsselszenen heraus, in denen sich die von StG verborgenen Triebkräfte seines Lebens abzeichnen sollen. So lässt er die Initiationsriten des Kreises als Indiz für die – möglicherweise sogar praktizierte – Homosexualität und Pädophilie StGs erscheinen. Doch wie der Rückschluss vom Werk auf die Persönlichkeit des Dichters, so ist auch das Arrangieren von suggestiven Szenen aus dem Leben in einer Biographie nicht unbedenklich. Als alternative Methode bieten sich literatursoziologische und diskursgeschichtliche Analysen an, die die Mechanismen und Funktionen der Selbststilisierung und -inszenierung StGs untersuchen, die den Habitus des Dichters und die Sozialform des Kreises bestimmen. Seit der Studie Bilderdienst von Gert Mattenklott4 ist dieser Weg wiederholt beschritten worden.5 Aber erstens lässt sich so keine durchgehende Biographie erzählen und zweitens verstärken die Analysen nolens volens den Eindruck einer vollkommenen Stilisierung des Lebens. Die Probleme, mit denen eine Biographie StGs zu kämpfen hat, können hier nicht gelöst werden. Skizziert werden chronologisch wichtige Etappen im Leben des Dichters und verfestigte Bilder und Deutungen werden da und dort infrage gestellt. Das zugrunde gelegte Material verdankt sich größtenteils den Briefsammlungen und Erinnerungsbüchern aus dem Kreis, der sogenannten Zeittafel (ZT) sowie den Forschungsarbeiten von Carola Groppe (1997), Rainer Kolk (1998), Norton (2002) und Karlauf (2007). Auf diese Quellen wird der Leser generell verwiesen. Eine Vorbemerkung sei noch gestattet, die die Proportionen der folgenden Lebensbeschreibung erklärt. Der Ruhm des Dichters StG gründet sich hauptsächlich auf die ästhetizistische Lyrik der 1890er-Jahre. Gemessen an der Länge seines gesamten Lebens, in dem er mehr als vierzig Jahre als Autor tätig war, ist das eine kurze Periode, die zudem für einen Biographen den Nachteil hat, dass in ihr die Kunstwerke weitgehend für sich stehen. Dagegen werden in den folgenden Perioden, die durch eine kunstreligiöse und kulturpolitische Umorientierung von StGs Dichtung und den Aufbau seines Jünger-Kreises gekennzeichnet sind, die Wechselbezüge zwischen Leben und Werk immer enger, was auch zu einer Verdichtung der Biographie führt. Von daher erklärt sich, dass die Werke der frühen Periode weniger in die Darstellung einbezogen werden als die der späteren. Das ist kein Urteil über ihre ästhetische Qualität, sondern eine Folge ihrer geringeren Verknüpfung mit dem Leben.

1.2.

Herkunft: Familie und Heimat

StG kam am 12. Juli 1868 in Büdesheim bei Bingen am Rhein als zweites Kind des Weinhändlers und Gastwirts Stephan George (1841–1907) und seiner Frau Eva, geborene Schmitt (1841–1913), zur Welt. Aus Familientradition bekam er den Tauf4 Vgl. Gert Mattenklott, Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, München 1970, bes. S. 175–317. 5 Vgl. u. a. Martin Roos, Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, Düsseldorf 2000.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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namen Stephan. Als Rufname wurde aber die französische Variante Etienne verwendet, mit der StG bis zu seinem 22. Lebensjahr auch private Briefe unterschrieb. Erst als er in Paris den Dichter Ste´phane Mallarme´ kennengelernt hatte, ging er zu seinem Taufnamen – in der modernen Schreibweise mit ,f‘ – über. Die aus einem deutschsprachigen Teil von Lothringen stammenden Vorfahren des Vaters waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Büdesheim gezogen, hatten dort Grundbesitz erworben und sich mit eingesessenen Familien vermählt. Aus der Ehe der Eltern gingen drei Kinder hervor, StG hatte eine ältere Schwester namens Anna Maria Ottilie (1866–1938) und einen jüngeren Bruder, Friedrich Johann Baptist George (1870–1925). Alle drei blieben ledig und kinderlos, sodass die Familie mit ihnen erlosch.6 Im Jahr 1873 siedelten die Georges nach Bingen am Rhein um, wo der Vater ein Weingut erworben hatte und zugleich als Weinhändler im Kommissionsgeschäft tätig war. Der Familie gehörte in der Stadt ein Anwesen mit Wohnhaus und Wirtschaftsgebäuden. Das Haus an der Unteren Grube, in dem StG bis zu seinem Wechsel an das Ludwig-Georgs-Gymnasium in Darmstadt aufwuchs, war der Familienwohnsitz bis zum Ableben der Mutter. Seitdem wurde es von den Geschwistern vermietet. 1932 kehrte Anna George in das Haus zurück, das StG zu seinem 65. Geburtstag im Juli 1933 noch einmal besuchte. Nach dem Tod von StG und seiner Schwester wurde es 1938 vom Nachlassverwalter Robert Boehringer der Stadt Bingen geschenkt; 1944 wurde es durch einen Bombenangriff zerstört.7 Von StG sind so wenige Äußerungen über seine Eltern überliefert, dass seine Biographen auf die Berichte anderer zurückgreifen müssen. In einem Gespräch mit Ernst Glöckner soll er 1916 sein Verhältnis zu den Eltern etwas genauer geschildert haben: Seinem Vater ist er besonders dankbar. In seinen zwanziger Jahren wäre er […] ein Mensch gewesen, der unbedingt uns aufgefallen wäre; hätte das Haar auch lang getragen; seine Gesichtsformen den seinen ähnlich, aber viel weicher. Von Haus her die Eltern vermögend; sein Vater hätte aber nicht das Talent gehabt, in dieser günstigen geschäftlichen Konjunktur Geld zu machen. Hätte er es getan, dann wäre er nicht ,George‘ geworden. Die tiefen Zusammenhänge. Mutter war die treibende Kraft, daß sie von Büdesheim nach Bingen zogen. In der Kindheit hätte er alles gehabt. Sein Vater hätte ,Ja‘ zu seinem absonderlichen, außergewöhnlichen Leben gesagt, weil er so ungeheuer sparsam gewesen wäre; davor hätte der Vater Respekt gehabt und hätte ihn gewähren lassen; dazu die Distanz: seit dem 13., 14. Jahr wäre er nur in den Ferien bei seinen Eltern gewesen; von seinen Dichtungen hätten sie erst durch sein erstes Buch erfahren. (EG/EB, 76)

Die Binger Jugendfreundin Ida Coblenz erzählte (wohl in einem ihrer Gespräche mit Robert Boehringer), StGs Vater, ein lebensfroher Mensch, sei geschäftlich nicht besonders ehrgeizig und geschickt gewesen.8 Immerhin war er finanziell in der Lage, seinem Sohn den Besuch des Gymnasiums in Darmstadt, das Studium in Berlin, Wien und München sowie ausgedehnte Reisen durch Europa zu finanzieren. Dass er dazu viele Jahre hindurch ohne einen messbaren Gegenwert bereit war, zeigt eine erstaunliche Toleranz gegenüber der Lebensführung StGs. Ein Brief, den StG während seines 6 Zur Herkunft der Familie vgl. RB II, S. 15–26, 194ff. (Ahnentafel). 7 Vgl. ebd., S. 270f. 8 Vgl. RB II, S. 19.

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I. Stefan George und sein Kreis

ersten Aufenthalts in London erhielt, formuliert zwar gewisse Erwartungen: „Es ist sehr erfreulich zu hören daß du gute Fortschritte machst für das heidenmäßig viele Geld muß man auch die Zeit ausnutzen“.9 Doch scheint er den Geldhahn auch dann nicht abgedreht zu haben, als deutlich wurde, dass StG keinen Brotberuf anstrebte. Umgekehrt erwartete der junge StG die Finanzierung durch seinen Vater, und zwar ohne den Zwang der Rechtfertigung. Aus Italien schrieb er eine Postkarte: „Da mein Kassenbestand fast auf nichts reduziert ist (in Ponte Tr. habe ich ungeheuer billig gelebt) so bitte ich um sofortige zusendung von Hülfstruppen.“10 Über die Mutter soll StG in einem Gespräch mit Edith Landmann gesagt haben: Sie kannte keine Sentimentalitäten, auch keine überflüssigen Liebkosungen der Kinder. Sie machte alles mit sich ab. Der Vater sagte von ihr: nun bin ich schon so viele Jahre mit dieser Frau verheiratet und weiss immer noch nicht, was hinter ihr steckt. Sie hatte keine Vertrauten. Sie sagte nie was. Sie hatte es nicht leicht, die Temperamente waren sehr verschieden. (EL, 205)

Friedrich Gundolf, der von StG häufig zu Besuch nach Hause gebracht wurde, berichtet, sie sei eine „tieffromme strenge, sachlich ernste, unermüdlich arbeitsame“ Frau gewesen.11 In die gleiche Richtung gehen Schilderungen von Ida Coblenz, Sabine Lepsius und anderen Besuchern des Elternhauses. Auf die so beschriebene Familienkonstellation – die harte, verschlossene Mutter und der weiche, aber meist abwesende Vater – führt der Soziologe Stefan Breuer zurück, dass sich bei StG der kindliche Narzissmus zu einem dominanten Persönlichkeitsanteil verfestigt habe. Von den Eltern emotional vernachlässigt, habe sich das Kind seinerseits verschlossen und in einsame Größenphantasien der eigenen Machtvollkommenheit geflüchtet.12 Dass StG als etwa Neunjähriger ein Spiel erfunden hat, in dem er sich die Rolle des Königs vorbehielt, geht aus den Erinnerungen seines damaligen Spielkameraden Julius Simon hervor.13 Als poetische Reimagination solcher Herrschaftsspiele lässt sich das Gedicht „Kindliches Königtum“ aus dem Buch der Hängenden Gärten lesen, das für StG eine Urszene des eigenen Dichtertums darstellt: Du schufest fernab in den niederungen Im rätsel dichter büsche deinen staat · In ihrem düster ward dir vorgesungen Die lust an fremder pracht und ferner tat. Genossen die dein blick für dich entflammte Bedachtest du mit sold und länderei · Sie glaubten deinen plänen · deinem amte Und dass es süss für dich zu sterben sei. (III, 76)

9 Stephan George an StG v. 6.6.1888, StGA. 10 StG an Stephan George v. 9.3.1889, StGA. Hervorhebung hier und in allen folgenden Zitaten im Original. 11 Friedrich Gundolf, George, Berlin 1920, S. 33. 12 Vgl. Breuer 1995, S. 26–32. 13 Veröffentlicht in: New Yorker Staatszeitung und Herold v. 7.7.1947, zit. in RB II, S. 201.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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Zu Breuers Analyse der Mutter-Vater-Kind-Triade passt allerdings nicht recht, dass StG keineswegs die Distanz von den Eltern suchte. Klammert man die Darmstädter Gymnasialzeit aus, hielt er sich bis zum Tod der Mutter meist mehrere Wochen, ja Monate des Jahres in Bingen auf.14 Das Elternhaus, in dem er ein nach seinen Vorstellungen umgebautes und eingerichtetes Zimmer hatte, blieb sein Dauerquartier, hierhin lud er Freunde und Bekannte zu manchmal mehrtägigen Besuchen ein. Schwer vorstellbar, dass ihn allein das Pflichtgefühl gegenüber den Eltern, das Gebot der Sparsamkeit oder der Wunsch nach Bequemlichkeit leitete. Es war keine konventionelle, sondern eine für Schriftsteller ganz ungewöhnliche Geste, dass er 1901 die Fibel, die Sammlung seiner frühen Dichtungen, den noch lebenden Eltern widmete: „Meinem Vater und meiner Mutter als schwachen Dankes-Abtrag“ (I, [5]). Nachdem die Schwester Anna das Elternhaus komplett vermietet und sich 1920 in Königstein/Taunus niedergelassen hatte, wo auch der Bruder Friedrich im Sommer wohnte, pflegte StG bei ihr einige Wochen zu verbringen. Sein Verhältnis zu Anna, die charakterlich der Mutter geähnelt haben soll, war lebenslang eng. In den 1890er-Jahren fuhren die beiden Geschwister zusammen in die Sommerferien, zwischen 1902 und 1906 begleitete Anna den Bruder und Friedrich Gundolf auf ihren jährlichen Urlaubsreisen in die Schweiz. Auch auf andere Reisen, etwa 1897 zur Internationalen Kunstausstellung der Secession in München, nahm StG sie mit. Für seine Beziehung zu Anna war zweifellos wichtig, dass sie sich in Bingen und Königstein um den Haushalt kümmerte, wie sie in seiner Abwesenheit auch die Post besorgte. Doch gegen die Annahme, er habe sie lediglich als ein dienstbares Wesen behandelt und geschätzt, spricht der bis zum Tod StGs geführte Briefwechsel. Die Widmung an Anna, die StG 1898 der öffentlichen Ausgabe des Jahrs der Seele voranstellte, kann man nicht einfach auf einen Akt der Rache gegenüber Ida Coblenz reduzieren, der der Band ursprünglich zugedacht war.15 Dass StG „der tröstenden Beschirmerin / auf manchem meiner Pfade“ (IV, [5]) dankte, als er über das Zerwürfnis mit der Freundin verzweifelt war, sagt etwas über die – nicht nur momentane – Rolle der Schwester in seiner Gefühlsökonomie aus. 14 Vgl. Karlauf 2007, S. 42. 15 Vgl. das infame Urteil über Anna George ebd., S. 144.

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I. Stefan George und sein Kreis

Wahrscheinlich fühlte sich StG durch die spießbürgerliche Atmosphäre in der Familie zuweilen beengt, von der Besucher berichtet haben. Doch andererseits deutet vieles darauf hin, dass er die Familie als eine sichere Basis seines Lebens brauchte, auf die er sich in regelmäßigem Rhythmus zurückziehen konnte. Wie dem auch sein mag und wie immer man es deuten möchte: Über das Verhältnis zu den Eltern und Geschwistern hat StG nicht nur in Gesprächen wenig gesagt, sondern auch die Dichtung schweigen lassen. Im vierten Abschnitt der zwischen 1892 und 1894 entstandenen Prosaskizzen Sonntage auf meinem Land gedenkt er lediglich der Büdesheimer Ahnen, die das „altertümliche dorf“ bewohnten, und beschwört das Bild einer Landschaft herauf, in der Kinder mitten im Fluss fischen und baden: „Wäre es möglich in dieser friedfertigen gediegenen landschaft seine seele wiederzufinden?“ (XVII, 11f.) Obwohl StG Bingen nach dem Ende der Kindheit und Jugend immer wieder als Dauerquartier gewählt und noch als Alterssitz erwogen hat, obwohl für ihn „die Zeit in Bingen […] immer die Zeit der Sammlung und der Ausführung von Arbeiten“ (EL, 85) war,16 hat er der Stadt in der Dichtung kein Denkmal errichtet. Doch zur rheinischen Heimat hat sich StG stets bekannt: Zur Heimat zählten für ihn nicht nur die Orte der näheren Umgebung, sondern das gesamte Gebiet von Trier bis Bamberg, von Speyer bis Köln. Sein Leben lang hatte er am liebsten mit Menschen zu tun, die aus dem mainfränkischen Raum stammten. Er war überzeugt, dass an Rhein, Main und Mosel die Wurzeln der deutschen Kultur lagen, und sprach zeitlebens Dialekt.17

Das nicht genau datierbare Prosastück Der kindliche Kalender erinnert an ganzheitliche Erlebnisse der Kindheit, in denen sich die religiösen Rituale und kulturellen Bräuche der katholischen Feiertage mit den natürlichen Rhythmen der rheinischen Landschaft verbinden. Gemäß den Gedichten „Ursprünge“ und „Rhein: I–VI“ aus dem Siebenten Ring (VI/VII, 116–117, 174–175) sind die antiken und die christlichen Traditionen des Abendlands in den rheinischen „fluren“ und „türme[n]“ (VI/VII, 175) als ein kulturelles Erbe aufbewahrt, das durch das Ich des hierher stammenden Dichters zu neuem Leben erweckt wird und im künftigen, von seinen Jüngern begründeten Reich wieder eine reiche Ernte tragen soll. Ab dem 1907 erschienenen Siebenten Ring gehört die Thematisierung und Stilisierung der rheinischen Heimat als Ursprung zu einer kulturhistorischen und -politischen Konstruktion, durch die StG sich als der Stifter eines ,Neuen Reichs‘ deutscher Nation legitimiert. Nach der Jahrhundertwende lässt sich die Entwicklung ähnlicher Konstruktionen bei vielen Intellektuellen beobachten, die für sich selbst eine Führungsrolle in Deutschland und Europa beanspruchen. StGs Berufung auf die rheinische Heimat ist Teil eines mit den gewachsenen Traditionen von Ländern, Stämmen, Völkern und Nationen argumentierenden Diskurses der Kunst- und Kulturpolitik, dessen Spektrum in Deutschland z. B. auch die Bewegungen der Heimatkunst und der Konservativen Revolution umfasst.18

16 Die Äußerungen zu Bingen stammen aus dem Sommer 1919. 17 Karlauf 2007, S. 50. 18 Vgl. dazu u. a.: Handbuch zur ,Völkischen Bewegung‘ 1871–1918, hrsg. v. Uwe Puschner u. a., München u. a. 1996.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

1.3.

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Adoleszenz: Schulzeit in Bingen und Darmstadt

StG besuchte zwischen 1876 und 1882 die Binger Realschule. Obwohl seine Leistungen fast durchweg gut waren,19 bemängelten die Lehrer gelegentlich den „störrischen Eigensinn“20 des Knaben. Binger Schulkameraden und Altersgenossen von StG, die zum 60. Geburtstag des Dichters nach ihren Erinnerungen gefragt wurden, zeichneten das Bild eines einsamen Sonderlings, der sich, statt an den Spielen der Kinder teilzunehmen, gern in die Dachkammer oder das Gartenhäuschen der Familie zurückgezogen habe. Weil der junge Stefan oft „unbeweglich […] in die Wolken“ gestarrt habe, sei er von den Bingern als „Sternegucker“ verspottet worden.21 Auch die über den Schulunterricht in Deutsch und Französisch weit hinausgehende Lektüre deutsch- und fremdsprachiger Autoren muss sonderbar angemutet haben, gerade im nicht bildungsbürgerlich geprägten Bingen. Der junge Etienne verschlang, so erinnerte sich StG in späteren Gesprächen, Schiller und Heine, Jules Verne und Walter Scott. Autodidaktisch lernte er Italienisch, um klassisch gewordene Dichter wie etwa Boccaccio und Tasso, Manzoni und Leopardi im Original zu lesen.22 Das außergewöhnliche Interesse an Sprachen und Literaturen wird für den Vater, der ursprünglich an eine Ausbildung zum Kaufmann gedacht hatte, ein wichtiger Grund gewesen sein, seinen Sohn nicht länger auf eine Realschule gehen zu lassen. Im Herbst 1882, also im Alter von 14 Jahren, wechselte StG an das LudwigGeorgs-Gymnasium in Darmstadt. Das 1629 als evangelische Gelehrtenschule gegründete humanistische Gymnasium galt als sehr anspruchsvoll. In den ersten Monaten musste StG Stoff nachholen, dann kam er jedoch so gut mit den Anforderungen zurecht, dass ihm das Zeugnis für das Sommerhalbjahr 1883 „besonders tüchtige Leistungen“ bescheinigte. Später fielen die Zeugnisse eher durchschnittlich aus. Nur in Französisch, wo er der Lieblingsschüler des gleichzeitig von der Binger Realschule an das Darmstädter Gymnasium gewechselten Lehrers Dr. Gustav Lenz war, stach er hervor. Das Abiturzeugnis vom 13. März 1888 weist aus, er sei in Französisch und Religion „gut“, in Deutsch, Geschichte und Geographie „im ganzen gut“, in den anderen Fächern „genügend“ gewesen.23 Während der Darmstädter Schulzeit wohnte StG zur Pension im Haus des Volksschullehrers Philipp Raab, wo auch die Mitschüler Johannes Gärtner, Wendelin Seebacher, Hermann Weigel und Arthur Stahl sowie Externe anderer Jahrgänge untergebracht waren. Mit diesen Auswärtigen hatte er am meisten Umgang, während er an die Einheimischen kaum Anschluss fand. Doch ist der Bericht des Mitschülers Georg Fuchs übertrieben, obwohl oder gerade weil er das von StG selbst stilisierte Bild der einsamen, von der Menge getrennten Persönlichkeit so glatt bestätigt: 19 Vgl. Herbert Schnädter, Der Schüler Stefan George. Lehrjahre in Bingen und Darmstadt, in: Stefan George. Lehrzeit und Meisterschaft. Gedenk- und Feierschrift zum 100. Geburtstag des Dichters am 12. Juli 1968, hrsg. v. Stefan-George-Gymnasium Bingen, Bingen 1968, S. 29–39, hier: 30. 20 Stefan George in der Erinnerung seiner Bekannten und Altersgenossen. Der Dichter offenbart alle seine Eigenschaften schon in frühester Jugend, in: Rheinische Heimat. Beilage der Mittelrheinischen Volkszeitung zur Pflege der Heimatkunde Nr. 7 v.13.7.1928. 21 Ebd. 22 Vgl. Karlauf 2007, S. 49. 23 Vgl. RB II, S. 25.

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I. Stefan George und sein Kreis

Niemand in der Klasse wollte etwas mit ihm zu tun haben, aber auch er mit niemand aus der Klasse. Im Hofe stand er meistens vereinsamt an der Mauer, blass, fröstelnd, mit verschränkten Armen, über die lärmende Menge hinweg ins Unnennbare starrend, stets mit einem […] scharfen, hochmütigen Zug um den schmalen, herben Mund.24

Abgesehen von der eigenen, allerdings oberflächlich bleibenden Beziehung zu StG blendet Fuchs aus, dass StG in der Raabschen Pension einen Kreis von Mitschülern fand, die sich unter seiner Führung für Literatur und Theater begeisterten. Der zwei Jahre jüngere Mitschüler Carl Rouge (1870–1940), der zusammen mit Arthur Stahl (1869–1929) der engste Jugendfreund StGs wurde,25 erzählt rückblickend über die Zeit 1886 bis 1888: Als sich diese Gemeinschaft zu bilden begann, wurde in ihr eine Spielerei betrieben, die von dem sprachenkundigen George ausging, nämlich der Gebrauch einer künstlichen Sprache. Sie enthielt, so weit ich mich erinnere, ziemlich viele griechische Wurzeln. […] George war es, der uns auch in die Stücke Ibsens einführte, die dem damaligen Theaterpublikum meist fremd blieben. […] Er selbst übersetzte wohl als erster Ibsens Jugendstück ,Catilina‘ ins Deutsche, ebenso die ,Nordische Heerfahrt‘, und las uns daraus vor.26

Die Freunde versuchten sich auch selbst als Dichter in Formen des Dramas und der Lyrik. Von StG sind drei Dramenentwürfe (Phraortes, Graf Bothwell, Manuel) aus den letzten Jahren der Darmstädter Gymnasialzeit bekannt. Eine zweite Fassung des Manuel wurde 1888 während des Aufenthalts in London vollendet; ausgewählte Passagen erschienen dann 1893 unter dem Pseudonym Rochus Herz in der ersten Folge der BfdK.27 Gemeinsam mit Arthur Stahl, Carl Rouge und Georg Böttcher gründete StG die Literaturzeitschrift Rosen und Disteln, die trotz einer vollmundigen Vorrede nicht über die erste, in wenigen hektographierten Exemplaren vertriebene Nummer vom 20. Juni 1887 hinauskam. Unter dem Pseudonym ,Ed. Delorme‘ veröffentlichte StG in ihr einige Gedichte satirischer Art. Obwohl solche Satiren einen beträchtlichen – und von den Freunden besonders geschätzten – Teil seiner lyrischen Produktion ausmachten,28 hat sie StG später weder in die BfdK noch in die Sammlung des Frühwerks, die 1901 erschienene Fibel, aufgenommen, da sie seinen inzwischen gefundenen Grundsätzen hoher Dichtung widersprachen. Andere Gedichte aus der Darmstädter Gymnasialzeit haben Eingang in die ersten beiden, auf die Jahre 1886 bzw. 1887 datierten Teile der Fibel gefunden. StG markiert sie so als den Beginn seines dichterischen Werks. Das früheste in der Gesamtausgabe von 1928 berücksichtigte Gedicht ist die um 1885 entstandene Romanze „Prinz Indra“, dessen Thema bereits auf die drei Legenden vorausweist: Der indische Prinz, der von einer göttlichen Hetäre verführt wird, verliert durch die Berührung der Frau jene Reinheit, die Bedingung des Königtums ist. Schließlich weist ihm ein schöner Jüngling, zu dem ihn ein „gewaltig heisses sehnen“ hinzieht, den Weg, wie er den Dämon 24 Georg Fuchs, Sturm und Drang in München um die Jahrhundertwende, München 1936, S. 125. 25 Zu allen Personen, die für StGs Leben wichtig wurden, vgl. die Artikel des Personenlexikons im Handbuch. 26 Carl Rouge, Schulerinnerungen an den Dichter Stefan George, in: Volk und Scholle 8/1930, 1, S. 20–25, hier: 22. 27 BfdK 1/1893, 3, S. 72–78. 28 Vgl. I, 2.1.1.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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der weiblichen Sexualität überwinden und Geist und Leib in mannmännlicher Freundschaft und dichterischem Gesang verbinden kann (GA XVIII, 83–107). „Prinz Indra“ wird von den Biographen Norton und Karlauf als erster Hinweis darauf gelesen, dass StGs Entwicklung zum Dichter eng mit seiner Entdeckung der Homoerotik zusammengehangen habe. Die frühe Romanze habe jene „umwälzung“29 angekündigt, die sich nach der Darmstädter Gymnasialzeit in StG seelisch vollzog und in den Legenden dichterisch niederschlug: „die Geburt der Poesie aus dem Geist der männlichen Erotik“.30 Am Ende der Darmstädter Gymnasialzeit spürt Karlauf auch erste Indizien dafür auf, dass sich StG zu männlichen Mitschülern hingezogen fühlte. Doch fehlen eindeutige Belege für eine ausgelebte Homosexualität, was genauso für die späteren Jahre gilt.31 Wenn, was wahrscheinlich ist, StG homoerotische Neigungen hatte, wenn er sogar, und warum eigentlich nicht, bestimmte Jungen oder Männer begehrte und liebte, dann hat er diese Affekte gezielt ins Medium der Dichtung, aber auch in (andere) Formen der Freundschaft überführt, also sublimiert.

1.4.

Liminalität: Auf dem Weg zum Dichtertum

Beim Verlassen des Gymnasiums gab StG an, er wolle nach dem Abitur ein Studium der Jurisprudenz beginnen. Tatsächlich war er sich über seinen weiteren Lebensweg und ein mögliches Berufsziel unschlüssig. Dankbar nahm er das Angebot des Vaters an, er könne vor Aufnahme des Studiums für einige Zeit nach London gehen. Welche Absichten der Vater, der geschäftliche Beziehungen nach England hatte, damit verfolgte, ist nicht genau bekannt. Nur um bessere Englischkenntnisse seines Sohns wird es ihm wohl kaum gegangen sein. StG reiste im Mai 1888 nach London, wo er ein Zimmer im nördlichen Vorort Stoke Newington nahm. Seinen Aufenthalt, den er bis zum 1. Oktober ausdehnte, hat er selbst als Erweiterung seiner Weltläufigkeit dargestellt. „Du mußt übrigens wissen, dass ich in England immer kosmopolitischer werde“, renommierte er in einem seiner Briefe an den Schulfreund Arthur Stahl.32 Ob er sich aber die Grand Tour junger Engländer im 18. und 19. Jahrhundert zum Vorbild seiner anschließend auch in die Schweiz, nach Italien, Frankreich und Spanien führenden Auslandsreisen genommen hat,33 erscheint fraglich. Weder bewegte er sich in den sozialen Netzwerken der bürgerlichen Gesellschaft, noch verfolgte er ein kulturelles Programm bürgerlicher oder kosmopolitischer Bildung. Vielmehr begab er sich auf eine nicht von gesellschaftlichen Konventionen gesteuerte Suche nach der eigenen Identität, die auch eine Suche nach einer von der bürgerlichen Erwerbsarbeit unabhängigen Lebensform war. An29 StG an A. Stahl, Entwurf v. 28.10.1890, StGA. 30 Karlauf 2007, S. 65–71, hier: 70. 31 Norton, Secret Germany, S. 510, schreibt: „Glöckner was the only person among the scores of George’s companions to have left any surviving record of a physical intimacy with the poet.“ Der als einziger Beleg angeführte Brief Glöckners an StG vom 1.8.1917 verwendet jedoch die Metaphernsprache aus den Liebesgedichten StGs (vgl. ebd., S. 510f.). Ähnlich wie diese Gedichte, so enthält auch der Brief keinen Klartext über StGs Homosexualität. 32 StG an A. Stahl v. 15.7.1888, StGA. 33 Vgl. Karlauf 2007, S. 73.

16

I. Stefan George und sein Kreis

ders gesagt: Sein noch planloser Aufbruch nach London war der Beginn eines Übergangsstadiums, das StG erst nach der Begegnung mit der künstlerischen Bohe`me in Paris allmählich verließ. Ähnlich geartete Auslandsaufenthalte finden sich gehäuft in den Lebensläufen von Schriftstellern und Künstlern um 1900. Über sein Leben in London teilte StG in den Briefen an Rouge und Stahl relativ wenig mit. Nachdem er in den ersten beiden Wochen die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt besichtigt hatte, besuchte er Theateraufführungen und las englische Literatur, vor allem Romane des frühen 19. Jahrhunderts. Während der Arbeit an eigenen Dramen und Gedichten kamen ihm gelegentlich Zweifel, ob er überhaupt zum Dichter berufen sei, wie er etwas kokett gegenüber Stahl zugab: Denke Dir, welche schande für mich, wenn in späterer zeit jemand sich dieses briefes erinnerte ausser Dir!!! Jemand der diese meine zeilen gelesen, und sich nach einiger zeit erinnert, wie jene kreatur, die von poesie und dramen schrieb, die von einem dichterwahn geplagt war, mit zerschnittenen flügeln als – hu – ich will den satz nicht fertig schreiben – –34

Mit Rouge und Stahl korrespondierte StG wiederholt über die Idee, einen gemeinsamen „Congress“ unter Beteiligung von Dichtern aus anderen Ländern zu veranstalten. Die angeworbenen Autoren sollten Beiträge zu einer als „mappe“ bezeichneten Zeitschrift liefern, die damit „die erste ,Internationale‘ einrichtung dieser art“ würde.35 Offensichtlich hat StG aber während des gesamten Aufenthalts in London keinen Kontakt mit der dortigen Literatenszene gehabt, denn in einem aus Montreux geschriebenen Brief konnte er nur vage auf „meinen freund in England“36 als möglichen Beiträger der „mappe“ verweisen – der nicht beim Namen genannte Thomas Wellsted trat jedoch niemals als Dichter hervor. Auch der anschließende Aufenthalt in Montreux (November 1888 bis April 1889), der von einer einmonatigen Reise nach Mailand unterbrochen wurde, lässt keinen irgendwie gearteten Plan erkennen. Was hatte StG eigentlich von dem Ort am Genfer See erwartet? Er wohnte in einer von Gustav Lenz, seinem ehemaligen Französischlehrer, empfohlenen Pension und nahm an den Vergnügungen eines sozial gemischten, keineswegs nur mondänen Kreises von Gästen teil. Ironisch berichtete er Stahl über eine Laienaufführung von Molie`res Misanthrope, mit ihm selbst in der Titelrolle: „Kannst du dir etwas gegensatzreicheres vorstellen, als dass ich, der Socialist, Communard, Atheist mit einem deutschen Herrn Baron, im hause eines professors der theologie, umringt von einer ganzen kette von Highlife-damen Komödie spiele?“37 Das war nicht die Gesellschaft, in der StG Klarheit über seine Ziele gewinnen und in Verbindung mit anderen Dichtern kommen konnte. Die Initiative zur nächsten Reise ging (wieder) von Gustav Lenz aus, der geschrieben hatte, er plane im Frühling einen Aufenthalt in Paris. StG schloss sich ihm an. Im Mai 1889 fuhren die beiden in die französische Metropole und bezogen ein Zimmer im Hoˆtel des Ame´ricain, 14, rue de l’Abbe´ de l’Epe´e. Lenz hatte die im Quartier Latin gelegene Pension nicht zufällig ausgesucht, korrespondierte er doch mit dem jungen französischen Dichter Albert Saint-Paul (1861–1946), der hier wohnte. Schon am 34 StG an A. Stahl v. 5./6./7./8./14.8.1888, StGA. 35 StG an A. Stahl v. 1.12.1888, StGA. 36 Ebd. 37 StG an A. Stahl v. 1./2./6.1.1889, StGA.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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ersten Abend in Paris lernten sich StG und Saint-Paul kennen. Die daraus entstehende Freundschaft wurde für StGs weiteres Leben entscheidend. Der sieben Jahre ältere Saint-Paul las mit ihm französische Dichter und machte ihn dabei auch mit den neuesten, symbolistischen Tendenzen in der Lyrik bekannt. Er lieh ihm die Fleurs du mal von Charles Baudelaire und die Sagesse von Paul Verlaine.38 Außerdem führte er ihn persönlich bei Ste´phane Mallarme´ (1842–1898) ein, der jeden Dienstagabend in der Rue de Rome seinen berühmten Cercle abhielt. Der ,Maıˆtre‘, wie Mallarme´ von den Besuchern achtungsvoll genannt wurde, versammelte in der eigenen Wohnung einen Kreis meist jüngerer Autoren, mit denen er über Sprache, Poesie, Kunst und manch anderes redete. An die gemeinsamen Abende bei Mallarme´ erinnerte sich Saint-Paul in einem Heft der Revue d’Allemagne zum 60. Geburtstag StGs: Dans la petite salle a` manger de la rue de Rome, il rencontra Franc¸ois [!] Viele´-Griffin, Albert Mockel, Achille Delaroche, Andre´ Fontainas, Pierre Louys, Ferdinand Herold, etc. Il e´tait ravi. Pour revenir, vers minuit, de la rue de Rome au Luxembourg, nous traversions Paris […]. Nous devisions de poe´sie, de technique du vers. George nous e´coutait avec une curiosite´ passionne´e.39

Die Abende haben auf StG, der schweigend zuhörte, einen starken Eindruck gemacht. In seinem ganzen Habitus verkörperte Mallarme´ die Überzeugung, die Dichtung sei etwas Ernstes, Hohes, ja Heiliges. Zwar verbarg er keineswegs, dass er als Lehrer sein Leben verdiente, doch war dies, wenn es um Dichtung ging, ohne Bedeutung. Nicht nur Mallarme´s Sakralisierung der Poesie, die den Dichter selbst zu einer Art Priester erhob, sondern auch die Auratisierung des Maıˆtre in seinem Cercle dürfte StG fasziniert haben. Freilich: Mit Mallarme´ hat die Jahrzehnte später erfolgte Kreisgründung und die Lehrdichtung des Sterns des Bundes nur noch wenig zu tun. Möglicherweise ist in den legendenhaften Erzählungen der Biographen über StGs Begegnung mit Mallarme´ auch ein Aspekt zu kurz gekommen, den Saint-Paul hervorgehoben hat, nämlich die Diskussionen der etwa gleichaltrigen Gefährten über die Technik des symbolistischen Dichtens. Sollte StG nicht gerade aus ihnen viel für sein eigenes, noch unsicheres Schreiben gelernt haben? Nach der Rückkehr aus Paris schrieb sich StG am 25. Oktober 1889 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität für ein Studium der deutschen und der romanischen Philologie ein. Wollte er etwa – wie Mallarme´ – anschließend den Brotberuf des Lehrers ergreifen, oder verschaffte ihm das vom Vater finanzierte Studium nur den nötigen Freiraum für die Dichtung? In den drei Semestern, die er an der Berliner Universität verbrachte, besuchte er jedenfalls eine Reihe von Vorlesungen und Übungen in den gewählten Philologien, aber auch in Philosophie und Kunstgeschichte.40 Mit zwei Kommilitonen schloss sich StG enger zusammen: Der Darmstädter Carl August Klein (1867–1952), gleichfalls ein Zögling des Ludwig-Georgs-Gymnasiums, wurde der treu ergebene Freund der nächsten fünfzehn Jahre, dem StG 1892 die Herausgabe der BfdK anvertraute. Der Schweizer Maurice Muret (1870–1954), wohl der wichtigere Gesprächspartner, kehrte bereits nach dem Wintersemester 1889/90 in seine Heimat zurück, doch blieb StG mit ihm noch länger in Briefkontakt. 38 Vgl. Karlauf 2007, S. 79. 39 Revue d’Allemagne v. Nov./De´c. 1928, zit. nach RB II, S. 207. 40 Vgl. RB II, S. 35.

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I. Stefan George und sein Kreis

Schon aus Paris kannte StG drei Mexikaner, die Brüder Antonio, Porfirio und Julio Pen˜afiel, die sich dort mit ihrem Vater aufgehalten hatten. Im Februar 1890 begann er ernsthaft zu überlegen, ob er in ihrer Begleitung nach Mexiko auswandern sollte. Etwa gleichzeitig dachte er verstärkt darüber nach, in einer selbst erfundenen Lingua Romana zu schreiben, und setzte dies dann auch in mehreren Gedichten um. In einem Brief an Stahl vom 2. Januar 1890 heißt es: Der gedanke, der mich von jugend auf geplagt und heimgesucht hat, der in gewissen perioden sich wieder und wieder aufdrängte hat mich seit kurzem wieder erpackt: Ich meine der gedanke aus klarem romanischen material eine eben so klingende wie leicht verständliche literatur sprache für meinen eigenen bedarf selbst zu verfassen. Die gründe weshalb ich [in] meiner deutschen sprache nicht gern schreiben will kann ich dir auf diesem gemessenen raum nicht auseinandersetzen. […] Darin liegt auch der grund weshalb ich seit monden nichts mehr verfasse, weil [ich] ganz einfach nicht weiss in welcher sprache ich schreiben soll. Ich ahne, diese idee wird entweder bei mir verschwinden oder mich zum märtyrer machen.41

Korrespondierend zur geplanten Auswanderung nach Mexiko kann man in der Erfindung einer Lingua Romana ein Zeichen dafür sehen, dass sich StG nicht nur in der deutschen Gesellschaft und Kultur unwohl fühlte, sondern auch unsicher war, ob die deutsche Sprache für seine symbolistische Vorstellung von Poesie überhaupt geeignet wäre. Doch im Frühjahr 1890 setzte eine vehemente Produktion von deutschsprachigen Gedichten ein.42 In den Monaten bis zum September, die StG in Bingen, Berlin, Kopenhagen und Paris verbrachte, entstanden jene 18 Gedichte, aus denen er seine erste Sammlung, die Hymnen, formte. Das einleitende Gedicht „Weihe“ nimmt in den beiden Schlussstrophen den Topos des Musenkusses auf, verkehrt aber die traditionelle Rollenverteilung insofern, als der Mund der Muse vor Erregung bebt, während der Dichter seine Reinheit behält und die Sprache der Dichtung ihr – gerade im Augenblick des Musenkusses nur ganz leicht rhythmisiertes – Maß bewahrt: 41 Zit. nach ebd., S. 38. 42 Vgl. Norton, Secret Germany, S. 68: „In April, while still in Berlin, he had already begun to write the initial drafts of the poems that would form the introductory sequence of the first book of poetry. But it was not until summer, […], that the torrent broke.“ Dagegen Karlauf 2007, S. 99:

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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Nun bist du reif · nun schwebt die herrin nieder · Mondfarbne gazeschleier sie umschlingen · Halboffen ihre traumesschweren lider Zu dir geneigt die segnung zu vollbringen: Indem ihr mund auf deinem antlitz bebte Und sie dich rein und so geheiligt sah Dass sie im kuss nicht auszuweichen strebte Dem finger stützend deiner lippe nah. (II, 10)

Fast demonstrativ wird die Sprache der Erregung Herr und bannt sie in ein ,Bild‘ von erlesener Schönheit. Sieht man von einigen späten Gedichten Conrad Ferdinand Meyers ab – etwa „Der schöne Tag“ –, war das ein völlig neues Poesiekonzept in der deutschen Lyrik. Im Herbst 1890 ließ StG die Hymnen auf eigene Kosten in Berlin drucken. Im Dezember lag der betont schlicht gestaltete Band in 100 Exemplaren vor. Während StG die Hymnen schrieb, gewann er die Überzeugung, er sei nun in eine neue Sphäre der Dichtung eingetreten. Als er auf der Durchreise nach Paris seinen Freund Carl Rouge traf und ihm einige der neuen Gedichte vorlas, wunderte dieser sich, warum StG sie dem anderen Freund, Arthur Stahl, vorenthielt. StG antwortete, die Sphäre seiner Dichtung sei für Stahl wie für fast alle anderen Menschen unzugänglich. Es entwickelte sich eine prinzipielle Diskussion über den elitären oder öffentlichen Charakter von Dichtung überhaupt, die StG mit größter Härte gegenüber seinen früheren Weggenossen beendete: Liebe – ehmals – freunde! Ihr seid geblieben wie Ihr wart, was Ihr macht machten wir schon ebenso vor einigen jahren Euch muß ich also nicht erforschen Als ich aus England zurückkam erinnert Euch / begann ich eine umwälzung durchzuringen Wenn ich nun sage – und ich war doch in Eurem aug ein hohler reder nie – ich suche andere bahnen wie kann geringer Eure aufgabe sein als: hören / denken / fragen?43

Mit dem letzten Satz öffnete er die Tür wieder einen Spalt weit, aber nur unter der Bedingung, dass Rouge und Stahl ihm, dem neuen Dichter, kritiklos huldigten. Dazu waren die beiden nicht bereit. Die Jahre seit dem Abitur waren für StG eine Zeit der Umwälzung, weil er in einem von inneren Zweifeln und Kämpfen geprägten Prozess die geistige ,Haltung‘ eines Dichters gewonnen und zugleich einen neuen, symbolistischen Stil in der deutschen Sprache geschaffen hatte. Für den Eintritt in die Sphäre der Dichtung zahlte er einen hohen Preis. Er verlor die alten Freunde, mit denen er sich intensiv in Gesprächen und Briefen ausgetauscht hatte. So direkte Einblicke in das Innere, wie er sie Stahl und Rouge gewährt hatte, wird er nur noch wenigen Menschen in seinem Leben gestatten. Der einzige Zugang zu seiner Persönlichkeit sollte die Sprache der Dichtung sein, die wiederum nur eingeweihte, mit den symbolistischen Techniken vertraute Leser als Ausdruck verstehen würden können. Bereits zu Beginn seines dichterischen Schaffens zeichnete sich ein tragischer Grundzug ab. StGs Gedichte waren niemals reine Wortkunst, sondern immer schon „Seit Februar befand er sich in einem unerhörten Schaffensrausch, der bis in den September anhielt.“ 43 StG an A. Stahl, Entwurf v. 28.10.1890, StGA.

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I. Stefan George und sein Kreis

Seelenausdruck im Sprachmedium, durch das sich auch die eigene Sehnsucht nach einer verwandten Seele, einem liebenden und verstehenden Menschen artikulierte. Doch StG schloss nicht nur Menschen wie Stahl und Rouge aus der Sphäre der Dichtung aus, er schloss auch sich selbst in sie ein. Die seltenen Fälle, in denen er es wagte, die Grenze zum gelebten Leben und zu geliebten Menschen hin zu überschreiten, führten zu so tiefen Verletzungen, dass er sich wieder auf die Dichtung zurückzog. Die Signatur von StGs Leben und Dichten ist Einsamkeit.

1.5.

Positionierung im literarischen Feld: Aufbau des dichterischen Œuvres und eines literarischen Netzwerks

In den folgenden Monaten schrieb StG schubweise die Gedichte der nächsten beiden Bände. Noch während er den Privatdruck der Hymnen vorbereitete, begann er im Herbst 1890 an den Gedichten der Pilgerfahrten zu arbeiten, die im Dezember 1891 wiederum mit einer Auflage von 100 Exemplaren erschienen. Zu diesem Zeitpunkt lagen möglicherweise schon sämtliche Gedichte des Algabal-Bandes vor, der aber erst im November 1892 gedruckt wurde. Nach dem Schreiben der Algabal-Gedichte ruhte die lyrische Produktion, bis sie im Winter 1892/93 mit den ersten Gedichten zu den Büchern der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten erneut einsetzte. In der Zwischenzeit hatte sich StG verstärkt der Übersetzung von Baudelaires Fleurs du Mal zugewandt, die ihn bis 1902 immer wieder phasenweise beschäftigen sollte. StG führte sein von vielen Ortswechseln geprägtes Leben in den frühen 1890erJahren fort. Das Studium, das er einschließlich des Wintersemesters 1890/91 in Berlin verbrachte, verlagerte er zum Wintersemester 1891/92 nach Wien. 1893/94 studierte er an der Universität München. Wenn er sich während der vorlesungsfreien Monate nicht in Bingen aufhielt, reiste er kreuz und quer durch Deutschland und Europa. Anders als nach dem Abitur hielt er sich meistens nur kurz in den Städten auf. Seine Reisen hatten nun auch einen ganz anderen Zweck. Gezielt versuchte er ein persönliches Netzwerk von gleichgesinnten Autoren aufzubauen. Dabei ging es ihm erstens um seine Anerkennung als der deutsche Dichter durch die ausländischen Repräsentanten des Symbolismus und zweitens um die Einführung des eigenen Werks bei einem langsam wachsenden Publikum. Hierzu setzte er vor allem auf die Zeitschriften der befreundeten Autoren. Drittens wollte StG potenzielle Beiträger für die von ihm selbst geplante Zeitschrift anwerben. In Gesprächen mit Carl August Klein war er seit 1890 mehrfach auf die alte Idee der „mappe“ zurückgekommen, hatte ihre Realisierung aber immer wieder verschoben, sei es, weil er sich selbst auf das Schreiben von Gedichten konzentrieren wollte, sei es, weil er noch weitere Mitarbeiter finden musste. Im Frühjahr 1892 konkretisierten sich die Pläne für die BfdK, denen es jedoch auch noch nach dem Erscheinen des ersten Hefts im Oktober des Jahres immer wieder an Beiträgern fehlte.44 Der Mittelpunkt, von dem aus StG sein Netzwerk aufbaute, war Paris. Nachdem er Ende 1890 die Hymnen an Saint-Paul, Delaroche und Mallarme´ geschickt hatte, 44 Vgl. dazu I, 3.2.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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wurde er vom ,Maıˆtre‘ gleichsam in die dortige Gilde der symbolistischen Dichter aufgenommen: J’ai e´te´ ravi par le jet inge´nu et fier, en de l’e´clat et la reˆverie, de ces ,Hymnes‘ (nul titre qui soit plus beau); mais aussi, mon che´r exile´ (je dirai presque, oui) que vous soyez par votre main d’œuvre, si fine et rare, un des noˆtres et d’aujourd’hui.45

Saint-Paul teilte mit, der Band der Hymnen sei bei einer Zusammenkunft der Pariser Freunde von Hand zu Hand gegangen und habe bei allen größte Anerkennung gefunden, obwohl niemand von ihnen die Gedichte ohne Übersetzung verstehen könne: „Vous voila` de´sormais le poe`te symboliste de l’Allemagne.“46 Auf sein Drängen hin übersetzte StG einige der Hymnen ins Französische und erleichterte den Freunden so, etwas für ihn zu tun. Mitte 1891 veröffentlichte Albert Mockel (1866–1945) eine erste, kleine Besprechung der Hymnen in der Zeitschrift La Wallonie, einige Monate darauf brachte Saint-Paul zwei übersetzte Gedichte in der Ermitage. In den Jahren 1892/93 folgten weitere Besprechungen und Hinweise auf StG im Mercure de France, in La Plume und der Lütticher Zeitschrift Flore´al. Stets kamen diese Publikationen aufgrund von freundschaftlichen Beziehungen zustande. StG lernte schnell, wie wichtig die persönlichen Kontakte waren, und pflegte sie durch regelmäßige Besuche. Zwischen 1890 und 1892 reiste er mindestens viermal nach Paris. Über die alten Freunde ergaben sich auch neue Bekanntschaften, etwa mit dem polnischen Dichter Wacław Rolicz-Lieder (1866–1912), der zeitweilig in Paris lebte. Da unter den Pariser Freunden einige belgische Autoren waren, bildete sich allmählich ein zweiter Knotenpunkt heraus. Im Sommer 1892 besuchte StG die Familie von Edmond Rassenfosse (1874–1947) bei Lüttich und begegnete dort u. a. Paul Ge´rardy (1870–1933), der die Hymnen und die Pilgerfahrten bereits über Mockel kennengelernt hatte. Fortan reiste StG auch regelmäßig nach Belgien. Aus dem so entstandenen, immer noch sehr beschränkten Reservoir von ihm persönlich bekannten, wenn nicht sogar freundschaftlich verbundenen Dichtern konnte sich StG bedienen, als er im Herbst 1892 die BfdK startete. Von Mallarme´, Verlaine, de Re´gnier, More´as, Viele´-Griffin, Stuart Merrill, Saint-Paul, Rolicz-Lieder bekam er die Erlaubnis, einzelne Gedichte in deutscher Übersetzung abzudrucken. Das war für die gefragten Autoren kein großes Zugeständnis, hatte für StG jedoch den Vorteil, die BfdK als die deutsche Zeitschrift des europäischen Symbolismus darstellen zu können. Größere Schwierigkeiten machte die Anwerbung deutscher Mitarbeiter, die ja auch Originalbeiträge zu liefern hatten. Ein Blick in die erste Folge der BfdK verdeutlicht, dass StG anfänglich auf seine Darmstädter Verbindungen zurückgreifen musste. Offenbar kannte er sich in der deutschen Szene kaum aus. Die Hinweise auf Max Dauthendey und Leopold von Andrian kamen von Hofmannsthal. Besonders auffällig ist, dass er in Berlin außer dem Darmstädter Klein keine Mitarbeiter fand, was er selbst auf die dortige Herrschaft der Naturalisten zurückführte. Ein wichtiger Grund für seinen Ortswechsel nach Wien (und später nach München) dürfte die Hoffnung gewesen sein, in dieser mit Berlin konkurrierenden Metropole der Literatur und der Künste eher fündig zu werden. Während des Sommersemesters 1891 bekam er jedoch noch nichts von den Autoren mit, für die Hermann Bahr später die Bezeichnung 45 S. Mallarme´ an StG v. 28.2.1891, zit. nach RB II, S. 202. 46 A. Saint-Paul an StG v. 16.12.1890, zit. nach ebd., S. 217.

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I. Stefan George und sein Kreis

,Jung-Wien‘ prägen sollte. Erst bei seinem zweiten, im Spätherbst beginnenden Aufenthalt scheint er durch eine Zeitschriftenpublikation auf Hofmannsthal und dessen Werke aufmerksam geworden zu sein. Mitte Dezember 1891 sprach er den siebzehnjährigen Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) im Wiener Cafe´ Griensteidl persönlich an. StG habe ihn gefragt, so stellte Hofmannsthal die Begegnung dreißig Jahre später dar, ob ich der und der wäre – sagte mir, er habe einen Aufsatz von mir gelesen, und auch was man ihm sonst über mich berichtet habe, deute darauf hin, daß ich unter den wenigen in Europa sei (und hier in Österreich der einzige) mit denen er Verbindung zu suchen habe: es handle sich um die Vereinigung derer, welche ahnten, was das Dichterische sei.47

Nach dieser Begegnung trafen sich die beiden in den Tagen bis Weihnachten mehrfach zu Gesprächen und diskutierten Fragen der symbolistischen Dichtung. StG schenkte Hofmannsthal ein Exemplar der Hymnen und erhielt umgekehrt einen Druck des Dramoletts Gestern. Hofmannsthal war von StG fasziniert, doch je enger ihr Verhältnis wurde, umso mehr packte ihn die Angst. Nach einem Treffen am Heiligabend in der Wohnung StGs fingierte er eine kurzzeitige Abwesenheit aus Wien. Weil StG das sich immer länger hinziehende Warten auf eine Nachricht nicht mehr aushielt, passte er Hofmannsthal am 6. Januar vor dem Akademischen Gymnasium ab. In den nächsten Tagen schrieb er ihm einen großen, teils hoffenden, teils resignativen Bekenntnisbrief, der durch seine emphatische Rhetorik den Umworbenen noch mehr unter Druck setzte. In ihm stehen die Worte: Schon lange im leben sehnte ich mich nach jenem wesen von einer verachtenden durchdringenden und überfeinen verstandeskraft die alles verzeiht begreift würdigt und die mit mir über die dinge und die erscheinungen hinflöge […]. Jenes wesen hätte mir neue triebe und hoffnungen gegeben (denn was ich nach Halgabal noch schreiben soll ist mir unfasslich) und mich im weg aufgehalten der schnurgrad zum nichts führt. […] Diesen übermenschen habe ich rastlos gesucht niemals gefunden grad so wie jenes Andre unentdeckbare im all . . […] Und endlich! wie? ja? Ein hoffen – ein ahnen – ein zucken – ein schwanken – o mein zwillingsbruder – Werden wir wieder vernünftig – das ist vorbei. ich sehe nun deutlicher und ich weiss: In unsren jahren ist die bedeutsame grosse geistige allianz bereits unmöglich […]. (G/H, 12f.)

Am 10. Januar 1892 übergab StG den Brief an Hofmannsthal, der mit einem Freund als Begleitschutz ins Cafe´ Griensteidl gekommen war. Zwar kündigte Hofmannsthal in seiner um Beruhigung bemühten Antwort an: „ich kann auch das lieben, was mich ängstet“ (G/H, 14). Aber als StG auf ein weiteres Treffen drängte, schickte er einen beleidigenden Brief, den der zutiefst verletzte Adressat später vernichtete. Aus der Erwiderung lässt sich vermuten, dass StG libidinöse Annäherungsversuche unterstellt wurden: Also auf etwas hin und gott weiss welches etwas ,das Sie verstanden zu haben glauben‘ schleudern Sie einem gentleman der dazu im begriff war Ihr Freund zu werden eine blutige kränkung zu. Wie konnten Sie nur so unvorsichtig sein, selbst jeden verbrecher hört man 47 H. v. Hofmannsthal an Walther Brecht v. 20.2.1929, in: G/H, S. 234–236, hier: 235.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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nach den schreiendsten indizien. Sie sehen ich rede ganz gesezt und wenn Sie nach einigen tagen gelassen denken oder nach jahren so werden Sie mir (mit Ihren werten eltern deren einziges kind Sie sind!) sehr verbunden sein dass ich soviel ruhe bewahrte und nicht sofort das veranlasse was mit Ihrem oder meinem tod endet.48

Die Androhung eines Duells, so lächerlich sie gegenüber einem siebzehnjährigen Schüler sein mochte, war zu viel. Hofmannsthal schaltete seinen Vater ein, der StG zur Rede stellte und ihm den persönlichen Umgang mit Sohn Hugo untersagte. StG akzeptierte und verließ am nächsten Tag die Stadt. Schon Leopold von Andrian49 und Rudolf Borchardt haben, die Berichte ihres Freundes Hofmannsthal ausschmückend und übertreibend, das Geschehen als die missglückte Werbung eines Homosexuellen dargestellt. In einem italienischsprachigen Nachruf, der Fragment blieb, stilisiert Borchardt die gescheiterte Verführung zu einer Schlüsselszene von StGs Leben.50 Etwas Ähnliches suggerieren die Biographien von Norton und Karlauf.51 Nun muss man nicht bestreiten, dass die Beziehung zwischen StG und Hofmannsthal einen erotischen Subtext besaß, zu dem auch das Verhalten des Jüngeren beitrug. Entscheidend ist ein anderer Punkt. Die wechselseitige Anziehung entstand aus der Sehnsucht nach einem ,Zwillingsbruder‘, mit dem man sich, altmodisch formuliert, über die jeweilige Seelenwelt und die daraus geschöpften Sprachgestalten der Dichtung verständigen könnte. Nur spürte Hofmannsthal bald etwas Gewalttätiges in StGs Persönlichkeit, das sich anderer Menschen zu bemächtigen versuchte. Um den 9. Januar schrieb er in sein Tagebuch unter der Überschrift „Der Prophet“ die Verse: In einer Halle hat er mich empfangen Die rätselhaft mich ängstet mit Gewalt Von süssen Düften widerlich durchwallt, Da hängen fremde Vögel, bunte Schlangen, Das Thor fällt zu, des Lebens Laut verhallt Der Seele Athmen hemmt ein dumpfes Bangen Ein Zaubertrunk hält jeden Sinn befangen Und alles flüchtet, hilflos, ohne Halt. Er aber ist nicht wie er immer war. Sein Auge bannt und fremd ist Stirn und Haar. Von seinen Worten, den unscheinbar leisen Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen Er macht die leere Luft beengend kreisen Und er kann töten, ohne zu berühren. (G/H, 239)52 48 StG an H. von Hofmannsthal v. 14.1.1892, in: G/H, S. 15f. 49 Vgl. Leopold Andrian, Erinnerungen an meinen Freund, in: Helmut A. Fiechtner (Hrsg.), Hugo von Hofmannsthal. Die Gestalt des Dichters im Spiegel der Freunde, Wien 1949, S. 52–64. 50 Vgl. Rudolf Borchardt, Stefan George (1868–1933), in: Kai Kauffmann (Hrsg.), Das wilde Fleisch der Zeit. Rudolf Borchardts Kulturgeschichtsschreibung, Stuttgart 2004, S. 196–219, hier: 212–214 [ital. Text] u. S. 220–245, hier: 238f. [dt. Übersetzung von Gerhard Schuster]. Vgl. die nur mit Andeutungen arbeitende Passage in Rudolf Borchardt, Aufzeichnung Stefan George betreffend, hrsg. v. Ernst Osterkamp, München 1998, S. 22–24. 51 Vgl. Norton, Secret Germany, S. 95–107; Karlauf 2007, S. 12–27. 52 Hofmannsthal bot das Gedicht zum Druck in den BfdK an, es erschien im ersten Heft.

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I. Stefan George und sein Kreis

Die Wiener Vorfälle haben das Verhältnis zwischen StG und Hofmannsthal für immer schwer gestört. Fortan vermied Hofmannsthal jede persönliche Begegnung. Immerhin erklärte er sich bereit, an den BfdK mitzuwirken. In den ersten Jahren war er neben StG der wichtigste Autor der Zeitschrift, ohne den der Plan, die BfdK zum deutschen Organ des europäischen Symbolismus zu machen, gleich zu Beginn gescheitert wäre. Auf die wiederholten Versuche StGs, ihn als Autor an sich zu binden und über seine Beiträge nach eigenem Ermessen zu verfügen, reagierte er jedoch allergisch. Jede Form der Fremdbestimmung war Hofmannsthal zuwider. Im Oktober 1892 erschien das erste Heft der BfdK, das neben Auszügen aus den Hymnen, den Pilgerfahrten und dem Algabal vor allem den Tod des Tizian von Hofmannsthal enthielt. Die Dichtungen der beiden Protagonisten ergänzend, brachten die Hefte der ersten Folge originale Beiträge von Karl Bauer, Max Dauthendey, Georg Edward, Paul Ge´rardy, Carl August Klein, Fritz Koegel, Carl Rouge und Arthur Stahl, außerdem Übersetzungen von Gabriele d’Annunzio, Jens Peter Jacobsen, Ste´phane Mallarme´, Stuart Merrill, Jean More´as, Henri de Re´gnier, Albert Saint-Paul, Paul Verlaine, Francis Viele´-Griffin. Durch seine ersten drei Lyrikbände und die auf einem Autorennetzwerk fußende Gründung der BfdK hatte sich StG als führender Dichter des deutschen Symbolismus positioniert. Noch war er jedoch nicht in einer größeren Öffentlichkeit etabliert.

1.6.

Seelenfreundin und Dichtermuse: Ida Coblenz

Anfang 1892 war StG dreiundzwanzig Jahre alt. Als Dichter hatte er sich einen Namen unter den europäischen Symbolisten erarbeitet, als Mensch aber stand er nach dem Verlust seiner Jugendfreunde und dem Scheitern der Zwillingsbruderschaft mit Hofmannsthal einsamer da denn je. Und das Problem der Erotik und Sexualität, das schon den Gymnasiasten in der Romanze „Prinz Indra“ beschäftigt hatte, war in seinem Leben weiter ungeklärt. Zu diesem Zeitpunkt lernte er Ida Coblenz, die anderthalb Jahre jüngere Tochter eines Binger Kommerzienrats,53 kennen. Ida Coblenz (1870–1942) hatte von StGs Bruder Friedrich, mit dem sie gelegentlich tanzen ging, den Band der Hymnen geliehen bekommen und sich in einem Brief begeistert über die „Klangschönheit der Gedichte“ geäußert, deren Ideen sie allerdings nicht immer ganz zu erfassen vermöge.54 Friedrich gab ihren Brief an StG weiter, der Ida Coblenz im März 1892 persönlich in Bingen aufsuchte. Von Anfang an lag das Faszinosum ihrer Freundschaft darin, dass beide ihre ansonsten verborgenen Gefühle im Dialog über Dichtung zumindest andeuten konnten, ohne dabei sich selbst schutzlos zu entblößen oder dem anderen auszuliefern. Mit seinem ersten Brief eröffnete StG das Spiel zwischen den Ebenen und Zeilen, indem er Ida Coblenz bat, ihm ihre Gedanken über das Gedicht „Gespräch“ (II, 25) mitzuteilen. Die Adressatin ging auf das Spiel ein und schrieb sich selbst die Rolle der seelenverwandten Frau zu, die, statt den geschlechtlichen Begierden zu folgen, zur tröstenden Freundin und inspirierenden Muse des Dichters wird: 53 Ida Coblenz wechselte später durch ihre zweimalige Verheiratung den Namen: zunächst in Auerbach, dann in Dehmel. Im Folgenden wird im Text jedoch nur ihr Geburtsname verwendet. 54 I. Coblenz an Friedrich George v. Anfang 1892, in: G/C, S. 29.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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Wie kommt es, daß Sie mich gerade nach diesem Gedicht fragen? Habe ich Ihnen erzählt oder geschrieben, daß es mir das Liebste in dem ganzen Heft ist? ,Liebste‘ ist nicht richtig ausgedrückt, es ist mir das Nächste, Verwandteste, weil ich unzähligemale seinen Inhalt gedacht habe, freilich von meinem Standpunkt aus. […] – Der Dichter sucht also ein Weib, das er lieben könnte, und nirgend findet er sein Ideal. Keine reicht bis zu ihm heran; und so verbietet er lieber königlich den niederen Mägden ihn zu lieben, und hält sich rein für seine Muse. – Sie kommt und spricht mit ihm, klagt mit ihm und tröstet ihn. – Ob es Trost ist zu wissen, daß ein geliebtes Wesen dasselbe leidet, oder vielmehr duldet wie wir? Ich glaube es nicht, glaube sogar, daß es eine Qualvermehrung ist. Aber ich bin davon durchdrungen, daß dem Dichter seine Muse einstens verkörpert begegnen wird, nicht flüchtig, nicht dahinsterbend ,in bebendem Finale.‘55

Nachdem StG ihr die Regel eingeschärft hatte, dass tiefe seelische Empfindungen am besten in schönen dichterischen Bildern mitgeteilt werden – das ,leise sehnen‘ etwa im ,lispeln der blumen‘ und die ,unbezähmten wünsche‘ etwa in einem ,brandenden see-rauschen‘56 –, fasste er rasch Vertrauen und wagte nach wenigen Briefen die Anrede „gnädiges Fräulein und geschäzte freundin“.57 Seit dem Frühjahr 1892 verabredeten sich die beiden regelmäßig, wenn StG in Bingen weilte. Er besuchte Ida Coblenz in ihrem Elternhaus oder begleitete sie auf ausgedehnten Spaziergängen an den Ufern des Rheins und der Nahe. Wie StG in Ida Coblenz, so fand sie in ihm einen mitfühlenden Zuhörer, der Leid zu verstehen und Trost zu spenden versuchte. Ida Coblenz litt damals unter körperlichen Krankeiten und seelischen Verstimmungen, sie trauerte um ihre vor Kurzem verstorbene Schwester und stand unter Druck, weil ihr Vater sie unbedingt standesgemäß verheiraten wollte. Sie fühlte sich genauso traurig und einsam wie StG, und diese Gefühle, so unterschiedliche Gründe sie haben mochten, motivierten die Freundschaft und machten diese zugleich für Störungen anfällig. Wie wichtig das geteilte Leid für StG war und wie verletzt er reagierte, wenn sich Ida Coblenz von ihm zurückzog oder sich, schlimmer, einem anderen Dichter-Seelen-Freund zuwandte, zeigen seine Briefe. Nachdem sie länger nicht geschrieben hatte, mahnte er am 5. Oktober 1892: „eine verschwisterte seele meide der andern gegenüber auch den schein einer entfremdung“.58 Als sie kurz darauf wegen ihrer deprimierten Gefühlslage ein Zusammentreffen ablehnte, protestierte er: „das ist sehr grausam solche unheilvolle andeutungen zu machen … zu was hat man denn seine freunde? dass sie helfen hie und da aus unerträglichen stimmungen loszukommen“.59 Knapp zwei Jahre nach dem Beginn der Verbindung wies sie den Vorwurf zurück, sie sei ,ungnädig‘ geworden, und verwies auf ihren „Hang zum Abgeschlossensein, zur Einsamkeit, fast möchte ich sagen: zum Leben nur in mir“.60 Gerade diesen Hang, den er von sich selbst allzu gut kannte, wollte StG in der Freundschaft mit Ida Coblenz wenn nicht überwinden, so doch in eine andere, auf das Mitfühlen setzende Form überführen. Bemerkenswerterweise störte er sich nicht an der Ehe, die sie im April 1895 mit dem Berliner Honorarkonsul Leopold Auerbach einging. Im Gegenteil steigerte die 55 I. Coblenz an StG v. April 1892, in: ebd., S. 30. 56 Vgl. StG an I. Coblenz v. Juni 1892 (?), in: ebd., S. 31f. 57 Vgl. StG an I. Coblenz v. 22.6.1892, in: ebd., S. 32. 58 StG an I. Coblenz v. 5.10.1892, in: ebd., S. 34. 59 StG an I. Coblenz v. 14.10.1892, in: ebd., S. 36. 60 I. Coblenz an StG v. 15.2.1894, in: ebd., S. 44.

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I. Stefan George und sein Kreis

Lieblosigkeit der Konventionsehe, über deren Unglück Ida Coblenz in fast jedem Brief klagte, die Vertrautheit einer Seelenfreundschaft, zu deren nur indirekt ausgesprochenen Bedingungen es gehörte, dass ein erotisches Verhältnis nicht infrage kam. Einige Monate nach der Heirat gestand Ida Coblenz gegenüber StG ihren Ekel vor dem Geschlechtsakt und warf ihm vor, sie nicht vor der Beschmutzung bewahrt zu haben: Sie kannten mich doch, ich hatte Ihnen mich gezeigt, wie vielleicht, nein gewiß keinem Andern. Warum nahmen Sie mich nicht bei der Hand und sagten: ,Das kannst Du nicht tragen. Der Schlamm wird über Dir zusammen schlagen, und über Deinen Lilien.‘ Und wäre der Mann, dem ich bereit war mich hinzugeben, weil ich nicht wußte was hingeben sei, der Klügste, der Beste, der Schönste gewesen – mein Elend wäre dasselbe. Ich ersticke, ersticke im Schlamm. Es giebt für dieses Grauen, für dieses Gräßliche keine Worte, keine Farben, keine Töne. Es ist dafür nur völlige Verzweiflung, Entsetzen bis zum Wahnsinn, Wahnsinn.61

Ihr Bekenntnis ermöglichte es StG, das eigene Grauen vor der Sexualität zu bekunden, wobei nicht klar wird, ob sich diese „qual“ auf Frauen, Männer oder auf beide Geschlechter bezieht: Teuerste freundin: aus Ihrem brief nahm ich grad die schmerzlichste stelle zuerst: ,Sie hätten sollen …‘ kann man darauf etwas erwiedern das nicht hart sei? ich fürchte hartes zu sagen darum warten Sie bis ein gedicht vielleicht eines mit redenden personen antwortet. Soll man überhaupt vom ,grässlichen‘ – ja ich kenne es – reden? Haben Sie denn in meinem gesicht nie geraten dass es (mit ganz kleinen äusserlichen veränderungen) das nämliche ,grässliche‘ war was meines lebens ganze qual gewesen ist und möglicherweise sein wird.62

Nicht Ida Coblenz’ Ehe mit dem Konsul, sondern ihre Neigung zu einem konkurrierenden Dichter veranlasste StG, die Freundschaft abzubrechen. Als sie StG um den Jahreswechsel 1892/93 auf Richard Dehmels Erlösungen hinwies, weil „ein großer Zug durch seine Dichtungen“ gehe, und den Lyriker als Mitarbeiter der BfdK empfahl, kam es zu einer ersten schweren Störung. Einen Brief, in dem Dehmels „Lied der Menschheit“ als eine der „teigigsten und talentlosesten schöpfungen“ beschimpft wird, schickte StG nicht ab, erst nach dreimonatigem Schweigen nahm er wieder Kontakt mit der Freundin auf. Im November 1896 kam es zum endgültigen Bruch. StG begegnete Dehmel im Hause Auerbach und glaubte offenbar, dass die Hausherrin die beiden Dichter zusammenbringen wolle. Er scheint über die Begegnung so konsterniert gewesen zu sein, dass er Ida Coblenz kalt und spöttisch behandelte, worüber sie sich in einem um Fassung und die Freundschaft ringenden Brief beklagte. Er antwortete mit wenigen Sätzen auf einer Visitenkarte: schmähen sie die freundschaft nicht. unter uns entsteht sie dadurch dass eines sein grosses und edles ins andre hineinzutragen vermag – wächst und nimmt damit ab – schwindet dann ganz wenn dem einen etwas gross und edel scheint was dem andren roh und niedrig ist. Durch Ihre worte zwangen Sie diese meinen hervor.63

Das war als Abschied gemeint und wurde auch so verstanden.

61 I. Auerbach an StG v. 16.7.1895, in: ebd., S. 54. 62 StG an I. Auerbach v. 18.7.1895, in: ebd., S. 55. 63 StG an I. Auerbach v. Nov. 1896, in: ebd., S. 63.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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Ida Coblenz, die sich wenig später von Auerbach scheiden ließ und Dehmel heiratete, hat in ihren 1935 veröffentlichten Erinnerungen an die gemeinsame Zeit durchscheinen lassen, StG sei in sie unglücklich verliebt gewesen: Wir waren einander viel, jeder in seiner Art ein Einmaliges – aber wir hatten füreinander eine völlig verschiedene Bedeutung. George, vor dessen immer kalten Händen mir leise graute, behielt mit seiner pergamentenen Haut etwas Unlebendiges. So sehr ich jedes Zusammensein mit ihm genoß – das Mönchische seines Wesens beeindruckte mich stark. Er hat mich anders empfunden; das geht aus seinen Gedichten hervor und aus seinen Briefen; auch aus Äußerungen, die er zu andern getan hat, von denen ich erst viel später erfahren habe. Noch heute bin ich ihm dankbar für die zarte und kluge Zurückhaltung, die er wahrte. Er fühlte wohl selbst, daß auch die leiseste Andeutung einer Hinneigung unseren Bund gesprengt hätte.64

Es ist durchaus möglich, dass StG Ida Coblenz als Frau begehrte, seine erotischen und sexuellen Wünsche aber nur in Gedichten anzudeuten wagte, weil er zu Recht eine Ablehnung befürchtete. Doch könnte seine Zurückhaltung auch darin begründet gewesen sein, dass er sich selbst über die Art seiner Gefühle gegenüber Ida Coblenz unsicher war, ja vielleicht überhaupt noch keine Klarheit über die eigene Sexualität im Verhältnis zu Frauen und Männern gewonnen hatte. Die Liebe zu Ida Coblenz, für die es in seinem weiteren Leben keine Parallele gibt, würde dann zu einer Übergangsphase gehören, in der er noch auf der Suche nach seiner Sexualität war und zwischen den beiden Geschlechtern und unterschiedlichen Formen der Freundschaft schwankte. Die Gedichte aus dieser Zeit, die auf Ida Coblenz bezogen werden können, liefern keine eindeutigen Indizien. Ein von ihr als „Semiramislieder“ bezeichneter Zyklus aus dem Buch der Hängenden Gärten (III, 83–90) besingt eine Frau, um deren Zuneigung und Hingabe das lyrische ,Ich‘ nach dem Rollenmuster der hohen Minne wirbt. Nur diese Texte phantasieren von körperlicher Schönheit und sexueller Leidenschaft.65 Dagegen verwenden die Gedichte aus dem Jahr der Seele keine Bilder und Szenen des geschlechtlichen Eros.66 Stattdessen wird in ihnen immer wieder ein anderes Rollenschema variiert: Das ,Ich‘ des Dichters und das ,Du‘ der Frau teilen ihre jeweiligen Leiden und Schmerzen miteinander, was für beide Trost bedeutet. Doch damit nicht genug. Der Dichter sehnt sich geradezu nach der tiefen Traurigkeit der Frau, weil er aus ihr die Kraft zum Dichten zieht. Vor dem Bruch mit Ida Coblenz wollte StG dem Jahr der Seele das Gedicht „Zu meinen träumen floh ich vor dem volke“ als Widmung voranstellen,67 in dessen Schlussstrophen es heißt: Und heut geschieht es nur aus Einem grunde Wenn ich zum sang das lange schweigen breche: Dass wir uns freuen auf die zwielichtstunde Und meine düstre schwester also spreche: 64 Ida Dehmel, Der junge George. Aus meinen Erinnerungen, in: Berliner Tageblatt v. 1.7. u. 2.7.1935, zit. nach ebd., S. 77–84, hier: 79f. 65 Vgl. SW III, S. 83–90. 66 Eine gewisse Ausnahme ist das Gedicht „Nachtwachen IV“, das mit den Versen „Erwachen aus dem tiefsten traumes-schoosse: / Als ich von langer spiegelung betroffen / Mich neigte auf die lippen die erblichen“ (IV, 66) beginnt. Doch die nicht erwartete Erwiderung des Kusses durch ein ungreifbares ,Du‘, das das ,Ich‘ aus seiner leblosen Selbstbespiegelung zu retten scheint, bleibt an den Modus des Traums gebunden und ist vielleicht wieder nur das Produkt einer narzisstischen, das ,Ich‘ verdoppelnden Phantasie. 67 Vgl. StG an I. Auerbach v. Anfang September 1895, in: G/C, S. 58–60.

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I. Stefan George und sein Kreis

Soll ich noch leben darf ich nicht vermissen Den trank aus deinen klingenden pokalen Und führer sind in meinen finsternissen Die lichter die aus deinen wunden strahlen. (IV, 50)

Unabhängig von der Frage, ob StG in Ida Coblenz verliebt gewesen ist, dürfte eines evident sein: Ähnlich wie sie es in ihrem ersten Brief vorhergesagt hatte, war sie als „düstre schwester“ die Muse seiner Dichtung in den Jahren 1892 bis 1896. Gleichzeitig war sie eine Leserin, von der er den seelischen Gehalt seiner Gedichte – und damit seine Persönlichkeit – so tief verstanden glaubte, wie von keinem anderen zuvor. Mit ihr konnte er über die gerade entstandenen Verse und so über seine gegenwärtige Stimmung sprechen. Erinnerungen an einige Abende innerer Geselligkeit nannte er eine Reihe von Gedichten (IV, 57–67), die er der Freundin zueignete. Sie verlängerte die Zeit innerer Geselligkeit um jene langen Stunden, in denen sie StGs Gedichte für sich durchnahm, „genießend, denkend, empfindend hinein versenkt“,68 um ihm dann von ihrem ,Leben‘ in seiner Dichtung zu berichten. Jeder der beiden nutzte den anderen als Spiegelfläche und Resonanzraum der eigenen Empfindungen und Schwingungen. Ihre Einsamkeit wurde in dieser speziellen, durch die Dichtung vermittelten Form der Zweisamkeit nicht überwunden, sondern aufgehoben. Jeder der beiden erwartete vom anderen die Einzigartigkeit der eigenen Rolle. Deswegen konnte StG es nicht ertragen, dass Ida Coblenz einem zweiten Dichter eine ähnliche Bedeutung in ihrem Seelenleben einräumen wollte.

1.7.

Künstlerfreunde: Albert Verwey, Karl Wolfskehl, Melchior Lechter

In der Mitte der 1890er-Jahre gelang es StG, einige dauerhafte Freundschaften aufzubauen, die sowohl auf menschlicher Sympathie basierten als auch auf der dichterischen und künstlerischen Zusammenarbeit. Eine Bedingung ihrer Stabilität dürfte gewesen sein, dass in ihnen die erotische Anziehung keine Rolle spielte.69 Der holländische Dichter Albert Verwey (1865–1937) wurde auf StG vermutlich durch eine Notiz im Mercure de France (Aprilheft 1895) aufmerksam, in der Mallarme´ berichtete, dass Baudelaire über die BfdK endlich auch nach Deutschland gelangt sei. Wenig später schrieb Verwey in dem von ihm herausgegebenen Journal Tweemaandelijksch Tiijdschrift einen längeren Artikel über die neue Strömung in der deutschen Literatur und hob dabei die Gedichte StGs als ein Ereignis „von höchster, nämlich dichterischer Bedeutung in den geistigen Beziehungen“ zu Deutschland hervor.70 Im September 1895 verbrachte StG zusammen mit seiner Schwester einen zweiwöchigen Urlaub an der holländischen Nordseeküste und nutzte die Gelegenheit, um 68 I. Auerbach an StG v. 16.7.1895, in: ebd., S. 53. 69 Währenddessen scheinen alle erotischen Leidenschaften entweder ausschließlich in der Phantasie stattgefunden oder aber rasch zum Abbruch der Beziehung geführt zu haben. Thomas Karlauf weist für die Zeit der 1890er-Jahre auf eine Reihe von Männern hin, in die StG verliebt gewesen sein soll (Rassenfosse, Cyril Scott u. a.). 70 Zit. in der deutschen Übersetzung von Karlauf 2007, S. 179.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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Verwey in dessen Haus in Noordwijk zu besuchen. Vom ersten Treffen an entwickelte sich eine intensive Beziehung, in der sich die beiden Autoren vor allem über die aktuellen Strömungen in der holländischen und der deutschen Dichtung austauschten und gemeinsam an Übersetzungen aus der einen in die andere Sprache arbeiteten. Das Besondere ihrer Freundschaft lag aber darin, dass sie auf beiden Seiten die Familie einbezog. Als Verwey im Mai 1896 einer Gegeneinladung nach Bingen folgte, wohnte er mehrere Tage im Hause der Eltern StGs und bekam in dieser Zeit die Sorgen der Familie um den zweiten Sohn Friedrich mit, der in Brüssel ernsthaft erkrankt war und dort von StG betreut wurde. „Zeuge zu sein von so viel Schrecken, Angst und Spannung, wie sie die Gemüter der Eltern und Schwester bewegten, musste wohl den Freund zu einem Vertrauten, fast zu einem Sohn und Bruder machen“, schreibt Verwey in seinen 1936 in deutscher Übersetzung erschienenen Erinnerungen an StG.71 Auch bei seinen späteren Besuchen in Bingen (Juli 1899, Juni 1904, August 1907, Juni 1910) gehörte Verwey fast zur Familie, gemeinsam unternahm man Ausflüge, etwa eine Rheinfahrt mit dem Vater George nach Bieberich. Wenn StG nach Noordwijk kam (März 1896, September 1896, Juni 1898, Juli 1899, Mai 1900, Mai 1901, Juni 1904), wurde er ebenso herzlich von Albert und Kitty Verwey in ihrer Familie aufgenommen, zu der eine wachsende Schar von Kindern gehörte. Obwohl StG meistens gern am Leben der Familie teilnahm, ist Verwey die Einsamkeit als Grundzug der anderen Persönlichkeit aufgefallen: Seine Grösse als Dichter, seine Liebenswürdigkeit als Mensch, waren unleugbar. Aber ihm drohte eine Gefahr: die der Vereinsamung. Nicht als Los, ihm durch die Umstände auferlegt, sondern als Schicksal, aus eingeborener Anlage. Meine Bewunderung war darum stark gemischt mit Mitgefühl. Beide drückte ich aus in dem Gedicht Der Einsame.72

StGs Disposition zur Einsamkeit und sein Interesse, als Gast am Familienleben der Verweys zu partizipieren, bildeten keinen Widerspruch. Im Gegenteil war der regelmäßige Besuch bei der befreundeten Familie eine besonders geeignete Lebensform, um zwischen den extremen Polen der Persönlichkeit, dem ,Hang zur Abgeschlossenheit‘ (mit der Gefahr der Erstarrung des Selbst) und dem Begehren nach Liebe (mit der Gefahr der Auflösung des Selbst), eine gewisse seelische Balance zu finden. StG fühlte sich bei den Verweys so entspannt, wie sonst nirgendwo. Als Verwey im Oktober 1897 zu einem Treffen nach Berlin reiste, machte StG ihn mit Melchior Lechter und Karl Wolfskehl bekannt und führte so seine seit der Mitte der 1890er-Jahre gewonnenen Freunde zusammen. Die gemeinsamen Tage und Wochen in Berlin müssen für alle vier Beteiligten ein beglückendes Erlebnis gewesen sein, das neue Freundschaften zwischen Verwey, Lechter und Wolfskehl stiftete. Diese Freundschaften waren zwar durch StG vermittelt, aber nicht von ihm abhängig, wie sich nach der Jahrhundertwende zeigen sollte. Wie Verwey, so waren auch Lechter und Wolfskehl selbstständige Persönlichkeiten, die von StG nicht nur wegen ihrer künstlerischen und intellektuellen Fähigkeiten als gleichwertige Partner angesehen wurden.

71 Albert Verwey, Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1895–1928, aus dem Holländischen übers. v. Antoinette Eggink, Leipzig u. a. 1936, S. 14. 72 Ebd., S. 30.

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I. Stefan George und sein Kreis

Karl Wolfskehl (1869–1948) entstammte einer jüdischen, in Darmstadt ansässigen Bankiersfamilie, deren Geschäfte der Vater 1881 zugunsten von politischen Ämtern aufgegeben hatte. Nach dem Abitur am Ludwig-Georgs-Gymnasium, das Wolfskehl 1887, also ein Jahr vor StG, ablegte, studierte er Germanistik und Geschichte an den Universitäten Gießen, Leipzig und Berlin. Zur Promotion wieder in Gießen, lernte er 1892 über seinen Studienfreund Georg Daniel Eduard Geilfus die Dichtungen StGs kennen, die er begeistert in sich aufnahm. Als er 1893 seinen Lebensschwerpunkt nach München verlagerte, kam es zur persönlichen Begegnung mit StG, der sich während seines Studiums an der Ludwig-Maximilians-Universität ein Zimmer in München genommen hatte. Das erste Treffen soll am 12. Oktober 1893 stattgefunden haben. In den folgenden Monaten entstand eine enge, durch den geistigen Austausch geprägte Freundschaft. Friedrich Wolters berichtet, StG und Wolfskehl seien 1893/94 „gewöhnlich zweimal in der Woche“ (FW, 68) zusammengekommen. Die Bedeutung, die der neue Freund in dieser Zeit gewann, würdigte StG, indem er die 1894 erschienenen Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten mit den Namen der Dichter Paul Ge´rardy, Wenzeslaus Lieder und Karl Wolfskehl schmückte. Gerade weil die beiden sehr unterschiedliche, in manchem gegensätzliche Persönlichkeiten waren, zogen sie sich wechselseitig an. Wolfskehl faszinierte an StG, wie sich aus diesem tief verschlossenen Menschen, der seine inneren Kämpfe in der äußeren Haltung nicht erkennen ließ, die Worte der Dichtung herausrangen und sich auf diesem Weg eine Kraft offenbarte, die er als mythisch-religiös empfand. Schon in seinem ersten Aufsatz über StG, den Wolfskehl in der Allgemeinen Kunst-Chronik (November 1894) veröffentlichte, sah er in StG einen Dichter-Priester, der heilige Worte spricht und damit seinem orientierungslos gewordenen ,Volk‘ einen neuen Sinn gibt: Der königliche Priester […] steht und schichtet seine Scheite und seine Flamme lodert. […] und zum erstenmale erklimmt er die Stufen, umflossen von rieselnden Gluten wie von einem Purpurmantel. Und wie er einschreitet in die Dunkelheiten und ihre schwarzen Schleier sinken, siehe, da begab sich das Wunder, das sie lange und vergebens erfleht. Zum erstenmal tritt er hinaus vor seine Volkesbrüder, der Schöpfer der tiefen und dunklen Sänge, der zauberbergenden Lieder, der schwermütigen, verlorenen Weisen: der Dichter Stefan George.73

Zu denen, deren Leben einen solchen Sinn brauchte, gehörte Wolfskehl selbst. Wie seine Lust an sinnlichen Genüssen kannten auch sein Interesse an anderen Menschen und seine Neugier gegenüber allen möglichen Gegenständen des Wissens keine Grenzen. Daher drohte er sich zu verlieren. Kurze Zeit nach ihrer ersten Begegnung stellte Wolfskehl seine Person in den Dienst der Dichtung StGs und machte es zur eigenen Aufgabe, dem Dichter-Priester als Künder und Deuter seiner Mission zur Seite zu stehen. Knapp zehn Jahre später fasste er die Beziehung zu StG im Gedicht „Der Meister“: Ich weiss den willen der in euch ruht, Geblendet träumt im schäumenden blut, All was in euch quillt und sich selber nicht kennt 73 Karl Wolfskehl, Stefan George, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 104–110, hier: 104f.

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Verworrnen flackerns düster brennt – Lös ich in scheinen die euer sind Die mein sind: ihr mir mutter und kind! Mit euch ich enthoben dumpfem geheg Euch dank ich mein wissen: mir danket den weg!74

Vom ersten, mit dem Wort ,Ich‘ beginnenden Vers an formuliert das Gedicht den Anspruch Wolfskehls, einen wesentlichen Anteil an der Mission StGs zu haben. Tatsächlich kann man mit Karlauf75 der Meinung sein, dass Wolfskehl, der intellektuelle Stichwortgeber und ideologische Weichensteller, maßgeblich dazu beitrug, dass sich das Werk StGs seit Mitte der 1890er-Jahre in Richtung auf eine kunstreligiöse Gemeindestiftung weiterentwickelt hat. Dass Wolfskehl den Dichter vorbehaltlos als ,Meister‘ anerkannte, aber seine Selbstständigkeit trotzdem nie aufgab, hat StG vielleicht da und dort geärgert, doch der Freundschaft insgesamt gut getan. Gelegentlich beklagte sich StG – etwa gegenüber Gundolf, dem zweiten, von ihm schon viel enger geführten ,Jünger‘ –, Wolfskehl versäume mal wieder die gemeinsamen Aufgaben wegen anderer Beschäftigungen, und später störte StG das „Herumwuseln in Menschen“ so sehr, dass er von 1904 an den jüngeren Mitgliedern des Kreises verbot, Wolfskehl zu besuchen.76 StG wusste jedoch immer die geistigen Anregungen zu schätzen, die er durch Wolfskehl erhielt, und war auch für die über Wolfskehl zustande kommenden Kontakte mit für ihn interessanten oder bloß nützlichen Zeitgenossen dankbar. Ein wichtiger Punkt kam hinzu. Obwohl StG in Wolfskehl keinen gleichrangigen Dichter sah, wie es Hofmannsthal für ihn war, nahm er Beiträge des neuen Freundes nicht nur deshalb in die BfdK auf, weil es ihm gerade an Füllmaterial gemangelt hätte. Noch in der Auslese aus den Jahrgängen 1892 bis 1898 ist Wolfskehl mit mehreren Vers- und Prosatexten prominent vertreten.77 Und bei dem parallel geplanten Projekt, eine Auslese aus der gesamten deutschen Dichtung in mehreren Bänden vorzulegen, war Wolfskehl, der in allen Traditionen bewanderte Kenner der Literatur, weit mehr als ein hilfreicher Philologe und Korrektor: Die geistige Konzeption des Jean Paul (1900), des Goethe (1901) und des dritten Bandes Das Jahrhundert Goethes (1902) hat er gemeinsam mit StG erarbeitet. Nachdem StG und Wolfskehl ihre Zelte in München abgebrochen hatten, trafen sie sich meistens in Berlin, wo Wolfskehl während der Jahre 1896 bis 1898 lebte. Als Wolfskehl, der im Dezember 1898 die Darmstädterin Hanna de Haan (1878–1946) heiratete, sich anschließend dauerhaft in München niederließ, verlagerten sich die Begegnungen wieder in die bayerische Hauptstadt. Von 1899 an bis 1919, also über nicht weniger als zwei Dekaden, pflegte StG zu Beginn des Jahres für mehrere Wochen nach München zu kommen und dann bei den Wolfskehls zu wohnen. In ihrem Haus, das um die Jahrhundertwende zu den wichtigsten Treffpunkten des literarischen und kulturellen Lebens der Stadt gehörte, gingen nicht nur während des sonntäglichen 74 Ders., Gesammelte Werke, hrsg. v. Margot Ruben u. Claus Victor Bock, Bd. 1, Hamburg 1960, S. 60. Wie eine Variation auf die Worte „ihr mir mutter und kind“ klingt der Vers „Ich geschöpf nun eignen sohnes“ in StGs Gedicht „Einverleibung“ (VI/VII, 109), der die Wechselbeziehung zwischen dem Dichter und dem Gott Maximin beschreibt. 75 Vgl. Karlauf 2007, S. 165–177. 76 Vgl. ebd., S. 175. 77 Vgl. Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1892–1898, Berlin 1899, S. 115–130.

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,Jour‘ Dichter, Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle ein und aus. Im Gegensatz zu den von StG gemiedenen Gesellschaftseinladungen, die Ida Coblenz im Haus ihres Mannes, des Berliner Konsuls, veranstaltete und gerne mit Künstlern anreicherte, scheint er sich beim ,Jour‘ der Wolfskehls wohlgefühlt zu haben. Hier war der geistige Austausch der eigentliche Sinn. Trotzdem bevorzugte StG auch in München das intimere Gespräch mit wenigen Freunden. Um 1900 intensivierten sich StGs Beziehungen zu zwei anderen in München lebenden Schriftstellern, die zusammen mit Wolfskehl als ,Kosmiker‘ in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Mit Ludwig Klages (1872–1956) war StG schon seit 1893 bekannt, Alfred Schuler (1865–1923) soll ihm 1897 zum ersten Mal begegnet sein. Wolfskehl, Klages und Schuler verband das vor allem von Johann Jakob Bachofens Mutterrecht geweckte Interesse an den chthonischen Kräften der Welt-, Sprachund Kulturschöpfung. Die drei entwickelten Theorien, in denen der ,heidnische Eros‘, teils in weiblicher, teils in männlich phallischer Form, von eminenter Bedeutung war. An den Treffen der Kosmiker, die zwischen 1899 und 1904 häufig bei Wolfskehl stattfanden, nahm auch StG teil, wenn er gerade zu Besuch war. Eine biographische Skizze ist freilich nicht der richtige Ort, um auf die Kosmiker und ihre Bedeutung für StG genauer einzugehen. Wer sich für die esoterischen Theorien und Praktiken und die libidinösen Verwicklungen der Kosmiker sowie manche Anekdoten aus der Schwabinger Bohe`me dieser Jahre interessiert, der lese den satirischen Schlüsselroman Herrn Dames Aufzeichnungen (1913) der Gräfin Franziska zu Reventlow oder die Erzählung Beim Propheten (1904) von Thomas Mann. Welchen Anteil StG am Denken der Kosmiker nahm und welche Rolle er umgekehrt in ihren Fantasien einer Erneuerung des Lebens spielte, wie er sich mit den Denk- und Traumgebilden der Kosmiker in seinen Werken auseinandersetzte und wie er dabei bestimmte Konstrukte für die eigene Kunst- und Kulturpoetologie verwertete, erfährt man in der Forschungsliteratur.78 Hier sei nur soviel gesagt: Die Anziehung, die das Denken und Treiben der Kosmiker auf StG ausübte, muss beträchtlich gewesen sein. Doch die Beschwörung chthonischer Kräfte rief in ihm auch Gefühle der Abwehr hervor, besonders dann, wenn sie über eine intellektuelle Diskussion oder spielerische Inszenierung hinausging. Von einem Abend im April 1899, an dem es Schuler, einem Meister der Suggestion, in seiner Wohnung gelang, ein „magisches Feld“ zu erzeugen, erzählt Klages aus der Erinnerung: George gerät in wachsende, schließlich kaum noch beherrschte Erregung. Er hat sich hinter seinen Stuhl gestellt; fahler denn fahl scheint er im Begriff, die Fassung zu verlieren. Die seelenatmosphärische Spannung wird unerträglich. Keiner vernimmt noch genau, was Schuler kündet; doch aus dem Dröhnen seiner Stimme wächst ein Vulkan, der glühende Lava schleudert […]. Auf der nächtlichen Straße stehe ich plötzlich mit George allein. Da fühle ich mich am Arm ergriffen: ,Das ist Wahnsinn! Ich ertrage es nicht! Was haben Sie getan, mich dorthin zu locken! Das ist Wahnsinn! Führen Sie mich fort; führen Sie mich in ein Wirtshaus,

78 Vgl. Richard Faber, Männerrunde mit Gräfin. Die „Kosmiker“ Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow, mit einem Nachdruck des ,Schwabinger Beobachters‘, Frankfurt/M. u. a. 1994. Vgl. auch Georg Dörr, Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule, Würzburg 2007.

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wo biedere Bürger, wo ganz gewöhnliche Menschen Zigarren rauchen und Bier trinken! Ich ertrage es nicht!‘79

Dass die unterschwellig immer vorhandene Angst StGs, in einen für ihn nicht mehr beherrschbaren Strudel von Erregungen gerissen zu werden, in den nächsten Jahren nicht die Oberhand gewann, war ein Verdienst von Wolfskehl. Anders als bei Schuler behielten die von ihm geleiteten Zeremonien immer einen karnevalesken Zug. Die bekannten Kostümfeste der Jahre 1903 und 1904, an denen StG als Cäsar bzw. Dante verkleidet teilnahm, sind dafür ein Beispiel. Den beiden anderen Kosmikern waren diese Maskeraden nicht ernst genug. Schuler und Klages wollten ihre Theorien in die Praxis umsetzen und endlich mit der schöpferischen Erneuerung des Lebens beginnen. Allerdings schien es ihnen dazu erforderlich, dass StG, den sie als den gegenwärtigen Träger der kosmischen Energien betrachteten, sich nicht länger mit dem Schreiben von Gedichten begnügte: ,George hat die Kraft‘, soll Schuler gesagt haben, ,aber was macht er daraus? – Kunst!‘ Statt weiterhin einem bloßen Ästhetizismus zu huldigen, […], solle George daran mitwirken, die von ihnen geschaute neue Religiosität in die Praxis des Alltags zu überführen. Um ein für alle Welt sichtbares Zeichen zu setzen, müsse George nichts anderes tun, als ,Knaben auf offenem Markt zu beschlafen‘.80

Selbst wenn die letzten – von Friedrich Wolters kolportierten – Worte überhaupt nicht gefallen sind oder sie nur metaphorisch gemeint waren, lässt sich festhalten: Die Forderungen an StG, er müsse die von ihm zurückgehaltenen Kräfte des ,Blutes‘, der ,Seele‘ und des ,Rausches‘ zum Durchbruch kommen lassen und sie in einer wirklichen ,Tat‘ beweisen, wurden immer dringlicher. Zusammen mit anderen Querelen81 führte dies am Jahreswechsel 1903/04 zum Bruch zwischen StG und Wolfskehl auf der einen und Schuler und Klages auf der anderen Seite. Psychologisch gesehen, war StGs Entscheidung doppelt begründet, wobei es beidesmal um das Problem des drohenden Selbstverlustes ging. Mehr noch als eine mögliche Beherrschung durch Schuler und Klages machte ihm eine mögliche Auflösung im Rauschhaften Angst. Das Gleichgewicht zwischen dionysischem Rausch (dem Dunklen) und apollinischem Bild (dem Hellen), das StG im Siebenten Ring herzustellen suchte, ist die dichterische Antwort auf eine existenzielle Grundfrage seines Lebens, die sich im Umgang mit den Kosmikern erneut gestellt hatte. Melchior Lechter (1865–1937) war der engste Freund StGs in Berlin um die Jahrhundertwende. Der gebürtige Westfale hatte, aus einem kleinbürgerlichen Elternhaus kommend, zunächst in Münster eine Lehre als Glasmaler absolviert und danach in Berlin die Königliche Kunstakademie besucht. Im Herbst 1893 wurde er durch die BfdK auf StG aufmerksam und ließ ihm ausrichten, wie sehr er seine Dichtung bewundere. Im folgenden Herbst suchte StG ihn in der Wohnung auf, die Lechter in der Kleiststraße 3 bezogen und als sein Refugium künstlerisch ausgestaltet hatte. Menschlich waren sich die beiden sofort sympathisch. StG gefiel an Lechter die ruhige und 79 Ludwig Klages, Einführung, in: Alfred Schuler, Fragmente und Vorträge aus dem Nachlass, hrsg. v. Ludwig Klages, Leipzig 1940, S. 1–119, hier: 73. 80 Ebd., S. 332. Trotz der unsicheren Quellenlage spricht Karlauf von einer Aufforderung zum homosexuellen ,outing‘ und zum ,schwulen Happening‘. 81 Insbesondere führte der Antisemitismus Klages’ zu Auseinandersetzungen mit Wolfskehl. Vgl den Personenartikel ¤ Ludwig Klages.

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ausgeglichene Art seiner Persönlichkeit, bei der sich ein tiefer Ernst und ein kräftiger Humor austarierten. Die Neigung zum Mystischen war durch einen Sinn fürs Praktische gewissermaßen geerdet. In der Gesellschaft von Lechter scheint die Anspannung, unter der StG ansonsten stand, von ihm so weit gewichen zu sein, wie dies vielleicht nur noch im Kreis von Verweys Familie glückte. Künstlerisch sah StG in Lechter einen Gleichgesinnten, insofern er bei ihm die Auffassung, die Kunst sei etwas Geistiges, ja Heiliges, wiederfand und auch die gleiche Sorgfalt in der handwerklichen Gestaltung des Materials entdeckte. Diese Grundhaltung war die gemeinsame Basis für die buchkünstlerische Zusammenarbeit zwischen StG und Lechter, die 1897 mit dem Erstdruck des Jahrs der Seele begann und 1899 mit dem Teppich des Lebens ihren unbestrittenen Höhepunkt erreichte. Die auf 300 Exemplare limitierte Erstauflage des Teppichs ist von Lechter in Gänze gestaltet. Papierauswahl, Schrifttype, Seitenformat, Satzspiegel, Titelblatt, Zwischentitel, Umrahmungen, Initialen, Schlussstücke: Überall ließ ihm StG freie Hand. Als es 1906 um die Gestaltung des Gedenkbuchs Maximin ging, setzte allerdings StG gegen den Widerstand Lechters durch, dass eine Fotografie von Maximilian Kronberger den Texten vorangestellt wurde. Trotzdem wurde Lechter die buchkünstlerische Verantwortung für den Siebenten Ring nicht entzogen. Erst nach diesem, von Lechter wieder kostbar ausgestatteten und aufwendig verzierten Band beendete StG die Zusammenarbeit. Mit der Buchgestaltung des Sterns des Bundes kehrte er geradezu demonstrativ zur Schlichtheit seiner ersten Gedichtbände zurück. Auf die Kooperation zwischen StG und Lechter zurückblickend, haben sich viele Kritiker darüber gewundert und mokiert, dass StG den ornamentalen Stil Lechters zugelassen hat. Wie konnte er von dem Weg zur funktionalen Schlichtheit abkommen, den er selbst mit den Hymnen so vorbildlich eingeschlagen hatte? Warum fiel er in eine antiquierte Formensprache des 19. Jahrhunderts zurück, statt weiter in die Richtung der modernen Ästhetik des 20. Jahrhunderts zu drängen, für die exemplarisch der Name Bauhaus steht? Solche Kritiker, die sich gerne über Lechters zum bloßen Ornament verkommene Bildsymbolik christlicher (katholischer) Sakralität und seine überholte ,Buchstabengotik‘ belustigen, machen es sich zu einfach. Sie verkennen, dass die Kunst um 1900 eine komplexe Mischung von unterschiedlichen Tendenzen und Stilen war, die nicht als richtig oder falsch im Sinne einer Teleologie der Moderne bewertet werden können. Und sie missachten zugleich, wie vielfältig gerade das Werk StGs in stilistischer Hinsicht ist. Lechters Stil der Gestaltung ist StGs Gedichten nicht einfach unangemessen. Als eine Art der Interpretation betont sie vielmehr bestimmte Aspekte, die seit der großen Studie von Wolfgang Braungart als ,ästhetischer Katholizismus‘ bezeichnet werden und als solche zum Problemfeld der ,Sakralität der Moderne‘ gehören.82 Man sollte auch vorsichtig damit sein, die etwas abfälligen Bemerkungen, die der alte StG gelegentlich über Lechters Stil gemacht haben soll, als nachträgliches Eingeständnis eines künstlerischen Missverhältnisses zu beurteilen. Sicherlich war sich StG bereits zur Zeit ihrer Zusammenarbeit über manche Unterschiede der künstlerischen Auffassung im Klaren. Doch er respektierte Lechters Eigenart, weil er dessen Buchgestaltung nicht als eine bloße Illustration der Dichtung ansah. Letztlich gründete ihre Zusammenarbeit auf der wechselseitigen Anerkennung künstlerischer Selbstständigkeit. 82 Vgl. Braungart 1997.

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Vergleicht man die Beziehungen zu Verwey, Wolfskehl und Lechter mit dem, was zuvor gewesen war und später kommen sollte, drängt sich die Vermutung auf, dass die Jahre vor und nach 1900 nicht nur die meisten und besten Gedichte hervorbrachten, sondern zugleich die geistig erfülltesten und seelisch ausgeglichensten Freundschaften. Diese lassen gemeinsame Strukturen erkennen, die hier im Hinblick auf StG beschrieben seien. 1) Indem Verwey, Wolfskehl und Lechter zu Beginn die dichterische Bedeutung StGs anerkannten, schufen sie die Voraussetzung für das persönliche Kennenlernen. 2) StGs Respekt für die künstlerische oder geistige Leistung der anderen erweckte sein Interesse an einer Zusammenarbeit. Diese wurde zu einem zentralen Bestandteil der Freundschaft. 3) Die menschliche Verbindung basierte natürlich auf Sympathie, funktionierte aber nur, weil alle Personen ihre Selbstständigkeit behielten. Das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz wurde weder durch ein einseitiges Liebesbegehren noch durch einseitige Herrschaftsgelüste gestört. 4) Da sich StG der grundsätzlichen Anerkennung der Freunde gewiss war und sich in seiner Freiheit nicht beeinträchtigt fühlte, konnte er umgekehrt, zumindest stellenweise, Kritik zulassen und den Freunden einen eigenen Entfaltungsraum zugestehen. 5) Die Freundschaften traten erst dann in eine kritische Phase, als StG einen Kreis von Jüngern aufzubauen begann und dabei einen anderen Beziehungstypus, nämlich die Sozialform von ,Gefolgschaft und Jüngertum‘ (Friedrich Gundolf) bzw. ,Herrschaft und Dienst‘ (Friedrich Wolters), etablierte. StGs Toleranz gegenüber den Eigenmächtigkeiten der alten Freunde sank, umgekehrt reagierten sie teilweise befremdet auf seinen Herrschaftsanspruch. Die Distanz wuchs, zu einem völligen Abbruch der Freundschaften kam es jedoch nicht. 6) Der neue Beziehungstypus vermehrte StGs Herrschaft über andere Menschen, verminderte aber zugleich seine eigene Freiheit. Die Posen des erhabenen Dichters, auf die er im Zusammensein mit Verwey, Lechter und Wolfskehl, hatte verzichten können, kehrten im Kreise der Jünger wieder. An dieser Stelle sei eine Zwischenbetrachtung erlaubt. In der Literatur zu StG haben sich zwei Bilder seiner Persönlichkeit verfestigt: StG, der einsame, sich in die Kunst verschließende Dichter, und StG, der andere Menschen beherrschende, einen Kreis von Jüngern schaffende Meister. Trotz ihrer gegensätzlichen Züge sind diese beiden Bilder stets eng aufeinander bezogen worden. So erscheinen sie in den hagiographischen Darstellungen StGs als Stationen in der Teleologie seines Dichtertums, während sie von kritischen Biographen und Interpreten als Aspekte seiner psychisch (Narzissmus) oder sexuell (Homosexualität, Pädophilie) determinierten Persönlichkeitsstruktur gedeutet werden. Dass die Veranlagung zur Einsamkeit und das Verlangen nach Herrschaft – apologetisch: die Bestimmung zur Herrschaft – zwei Faktoren waren, die StG prägten, wird in der hier vorgelegten Skizze seines Lebens nicht bestritten, sondern immer wieder bestätigt. Aber zugleich soll die so oder so begründete Fixierung auf die bekannten Bilder vermieden und der Blick darauf gelenkt werden, dass StG zu einer überraschenden Vielfalt von Sozialbeziehungen in der Lage war. Sein Charakter ließ, wie gerade beschrieben, unter gewissen Bedingungen gleichberechtigte Freundschaften zu, die freilich auf andere Künstlerpersönlichkeiten beschränkt blieben. Und er gestattete ihm auch, häufig mit Kunstliebhabern aus dem Bildungsbürgertum zu verkehren, die sich für den Dichter und sein Werk interessierten.83 83 Vgl. Groppe 1997, bes. S. 119–212.

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1.8.

I. Stefan George und sein Kreis

Die Mehrung des symbolischen Kapitals: Berliner Gesellschaftskreise und Literaturkritiker

In den Jahren vor und nach 1900 hatte StG sich zur Regel gemacht, jeweils mehrere Wochen in Bingen, in München und in Berlin zu weilen. Während er sich nach Bingen zurückzog, um Kraft zu schöpfen und in Ruhe an seinen Dichtungen zu arbeiten, und er nach München fuhr, weil er dort geistige Anregungen, etwa durch die Kosmiker, bekam und die künstlerische Atmosphäre der Schwabinger Bohe`me genoss, dienten die Aufenthalte in Berlin hauptsächlich der Förderung seiner literarischen ,Karriere‘ und der Mehrung seines ,symbolischen Kapitals‘ (Pierre Bourdieu). In Berlin war StG erstmals mit bildungsbürgerlichen Zirkeln in Kontakt gekommen, die ihn gewissermaßen zu ,ihrem‘ Dichter erhoben. Als wegbereitend erwies sich die über Richard Perls vermittelte Bekanntschaft mit dem Ehepaar Reinhold Lepsius (1857–1922) und Sabine Lepsius (1864–1942), das, nicht nur weil beide als Porträtmaler für die wohlhabende Gesellschaft arbeiteten, in Berlin hervorragend vernetzt war. An einem Herbsttag des Jahres 1896 stattete StG dem Ehepaar einen ersten Besuch ab und machte so großen Eindruck, dass Sabine Lepsius noch am selben Tag die Gedichtzeilen schrieb: „Herr bist du […] Ich folge dir, ich eile dir voraus, Komme, in den Wolken stehet unser Haus“.84 Auf Erden hatten Reinhold und Sabine Lepsius ihre damalige Wohnung in der Kantstraße 162, direkt gegenüber des Theaters des Westens. Hier luden sie zu einem Salon ein, der Persönlichkeiten des akademischen, intellektuellen, künstlerischen und wirtschaftlichen Lebens zusammenführte: Neben manchen Koryphäen der Universität und älteren Gästen, die schon in [Sabine] Lepsius’ Elternhaus in der Bendlerstraße verkehrt hatten, begegnete man hier auffallend vielen Jüngeren. […] Luwig Justi, der spätere Direktor der Nationalgalerie, gehörte dazu, Heinrich Simon, der Erbe der ,Frankfurter Zeitung‘, oder Walter Rathenau, der Sohn des Gründers der AEG. Zu den auffallendsten Frauen zählten Mascha Eckmann, die Schwester von Lily Braun, und Sabines Jugendfreundin Lili Hensel, die mit dem ehemaligen Rektor der Berliner Universität, Emil du Bois-Reymond, verheiratet war.85

Als StG im Herbst 1897 wieder in Berlin war, vereinbarten die Lepsius’ mit ihm eine Lesung seiner Gedichte in ihrer Wohnung, die am 14. Oktober stattfand. Unter den „zahlreichen aber ausgesuchten“ Gästen befanden sich u. a. Georg und Gertrud Simmel, Richard M. und Estella Meyer, Marie von Bunsen, Botho Graef, Ernst Hardt, Rainer Maria Rilke, Lou Andreas-Salome´, Karl Wolfskehl und Luise Dernburg, wahrscheinlich auch Erich Schmidt und Paul Ernst (ZT, 73). Marie von Bunsens Bericht in der Vossischen Zeitung mag da und dort übertrieben ausgemalt sein, er lässt aber erkennen, wie sorgfältig der Auftritt des Dichters inszeniert war und warum die Lesung eine geradezu hypnotische Wirkung entfaltete: Wir saßen in den mit verschleierten Lampen matt erleuchteten Räumen auf florentinischen eingelegten Sesseln, auf verblaßtem Brokat. Bekannte Menschen waren zugegen. Nur in gedämpften Tönen wurde gesprochen. Dann glitt aus einer Seitenthür ein Mann herein und setzte sich, nach einer Verbeugung, an das gelbverhüllte Licht; hinter ihm eine japanische 84 Unveröffentlichtes Ms., zit. nach Annette Dorgerloh, Das Künstlerehepaar Lepsius. Zur Berliner Porträtmalerei um 1900, Berlin 2003, S. 217. 85 Karlauf 2007, S. 226.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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golddunkle Stickerei, nicht weit von ihm Lorberzweige [!] und orangerothe Blüthen in getriebenem Kupfergefäß. Niemals in meinem ganzen Leben ist mir so ein merkwürdiges Gesicht begegnet. Blaß, verarbeitet, mit müden, schweren Lidern, mit herbem, ausdrucksvoll vibrierendem Mund. Die Backenknochen sind stark geprägt; wuchtig wölbt sich die Stirn, aus der sich schwere, dunkle Haarmassen erheben. Von Gedanken und inneren Kämpfen ausgemergelte Züge, weit, weit älter als seine 28 Jahre. Das Profil hat eine verfolgende Aehnlichkeit mit dem Dantebild in Bargello. Der ganze Kopf, die magern, nervösen Hände erinnern sonderbar an den jungen Liszt. Er las mit leiser, gleichmäßiger Stimme, mit feiner diskreter Betonung. Hin und wieder störte sein rheinischer Accent. Obwohl ich die meisten Gedichte kannte, war es nicht leicht, den immerhin ungewöhnlichen Gedanken- oder Bilderverbindungen zu folgen. Aber mehr und mehr wurden wir hypnotisirt, in die Stimmung hinein gebannt. Zum Schluß erhob er sich, sagte noch ein Gedicht her und schlug zum ersten Mal die Augen auf; matte, etwas rothe Lider, dunkle, starre, nicht große Augensterne. Damit verbeugte er sich und ging.86

Der Stefan George. Ein Dichter und eine Gemeinde überschriebene Artikel Bunsens beginnt mit der Feststellung: „Nur ein enger Kreis verehrt ihn. Vielen gewissenhaften Kennern der neudeutschen Literatur ist selbst der Name Stefan George noch vollständig fremd.“87 Und er endet mit der Frage: „Wünscht man Stefan George einen weiten Ruhm, einen großen Kreis? Von den berüchtigten Modelyrik-Triumphen mit dreißig Auflagen innerhalb weniger Jahre ist sein vornehmes Wesen gefeit. Wohl aber möchte ich, daß sich die Besten des Landes an ihm erfreun.“88 Durch die auflagenstarke Vossische Zeitung wurde StG einem größeren Publikum bekannt, freilich nur dem Namen nach. Denn die im Artikel besprochenen Gedichtbände, von denen das Jahr der Seele wenige Tage nach der Lesung als Privatdruck erschienen war, konnten im normalen Buchhandel noch immer nicht erworben werden. Der Artikel dürfte StG in der Absicht bestärkt haben, seine gesammelten Gedichte in einem öffentlichen Verlag herauszubringen. Von den Gästen, die im Salon der Lepsius’ die erste Lesung StGs in Deutschland miterleben durften, waren auch Richard M. Meyer (1860–1914), Georg Simmel (1858–1918) und Lou Andreas-Salome´ (1861–1937) daran beteiligt, dass der Name StG verstärkt in die Öffentlichkeit drang. Der als Privatdozent der Germanistik an der Berliner Universität lehrende Meyer war StG allerdings noch nicht persönlich begegnet,89 als er am 17. März 1897 vor der Gesellschaft für deutsche Literatur einen Vortrag hielt, der wenig später unter dem Titel Ein neuer Dichterkreis in den Preußischen Jahrbüchern publiziert wurde. Sein Aufsatz war die erste große Würdigung StGs in einer renommierten, besonders vom akademisch gebildeten Bürgertum gelesenen deutschen Zeitschrift. Als StG im Oktober 1897 nach Berlin kam, nutzte Meyer die Gelegenheit, um ihn zusammen mit Wolfskehl und den Lepsius’ in die eigene 86 Vossische Zeitung v. 9.1.1898, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 317–323, hier: 322. 87 Ebd., S. 317. 88 Ebd., S. 323. 89 Meyer war durch eine von Hofmannsthal in der Wiener Zeitschrift Die Zeit veröffentlichte Besprechung der Bücher der Hirten- und Preisgedichte auf StG aufmerksam geworden und hatte bei Hofmannsthal angefragt, wie er die Bände des Dichters erhalten könne. Durch Hofmannsthal informiert, nahm StG am 21. Januar 1897 brieflichen Kontakt mit Meyer auf und teilte mit, er müsse „in allernächster zeit“ an eine öffentliche Gesamtausgabe seiner Gedichte denken (Kopie im StGA, zit. nach ZT, 65).

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I. Stefan George und sein Kreis

Wohnung einzuladen. Simmel, gleichfalls Privatdozent an der Berliner Universität, kannte StG schon von mehreren Abenden im Hause Lepsius, bevor er Anfang 1898 den Dichter zum Gegenstand einer ,kunstphilosophischen Betrachtung‘ in der Zeitschrift Die Zukunft machte. Wie StG und Lou Andreas-Salome´ in Verbindung gekommen waren, lässt sich nicht rekonstruieren, verbürgt ist, dass StG sie über Simmel zur Lesung bei den Lepsius’ gebeten hat. Von seinem Auftritt nachhaltig beeindruckt, ging sie in ihrer erst ein Jahr später in der Zeitschrift Pan erschienenen Studie Grundformen der Kunst auf die Lyrik StGs ein und pries ihn als den Schöpfer einer in Deutschland völlig neuen Kunst- und Seelenrichtung, der für seine Nachahmer unerreichbar sei: Denn sobald man, selbst mit viel Talent, ihm nachahmen sieht, springt das Ueberwiegen der Technik über den Inhalt als Mangel in die Augen, während bei Stefan George jeder Inhalt, den er zu Grunde legt, nicht nur in wunderbar intimen Zusammenhang mit seiner technischen Aeusserungsform gebracht worden ist, sondern auch zum Aeussern und Innern des ganzen Menschen, zu seiner Haltung, seiner Stimme, seinem Antlitz, seinem Lächeln; in so fein abgetönter Harmonie steht, als machte eben diese Persönlichkeit nebst der von ihr geschaffenen Lyrik erst vereinigt das eigentliche, wahre Kunstwerk aus.90

Große Besprechungen in der Vossischen Zeitung, den Preußischen Jahrbüchern, der Gegenwart und im Pan, das hatte eine andere Dimension und Resonanz als die Artikel, die bis dahin überwiegend in den französischen, belgischen und holländischen Literaturzeitschriften befreundeter Symbolisten erschienen waren. Nach der Veröffentlichung von Meyers Aufsatz in den Preußischen Jahrbüchern schrieb StG überglücklich an Verwey: „eine ganz neue entwickelung!!“91 Tatsächlich wurden ab 1897 in Berlin die Weichen dafür gestellt, dass sich der Ruf, StG sei der bedeutendste deutschsprachige Lyriker der Gegenwart, über die symbolistische Dichter- und Künstlerszene hinaus verbreitete. Vor allem über das Ehepaar Lepsius lernte StG eine Reihe von wichtigen Persönlichkeiten kennen, die dann ihrerseits zu Multiplikatoren in der Berliner Gesellschaft und der deutschen Öffentlichkeit wurden. Wenn es auch neben den Lepsius’ eigentlich nur den Simmels gelang, eine Freundschaft aufzubauen, und StG sich nicht in den Verkehr anderer Salons ziehen ließ, so wurde der Dichter doch vermehrt zum Gesprächsthema in den ästhetisch und intellektuell avanciertesten Zirkeln der Hauptstadt. Die Exklusivität des persönlichen Umgangs, in der sich die mit StG bekannten Persönlichkeiten sonnen konnten, steigerte bei den anderen den Nimbus des Dichters und auch das Interesse an seinen Werken. Wenn man schon den Dichter nicht persönlich erleben durfte, so wollte man wenigstens über seine Werke mitreden können. In ihren Erinnerungen schildert Sabine Lepsius, wie sie und Reinhold Lepsius die Ausbreitung von StGs Ruhm miterlebten: Man glaubte uns zu huldigen, indem man, bevor wir in der Gesellschaft erschienen, einen Band George auf den Tisch des Salons legte. Herr von Tschudi zum Beispiel, der damalige Direktor der Nationalgalerie, der gewiß keine große Neigung verspürte, Gedichte zu lesen,

90 Pan 4/1898, 3 (Nov.), zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 354–366, hier: 363. 91 StG an A. Verwey v. 2.5.1897, in: Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap, hrsg. v. Mea Nijland-Verwey, Amsterdam 1965, S. 39.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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beteiligte sich an diesem Snobismus wie viele andere auch, und man begann, an George zu glauben, ohne ihn zu verstehen. (SL, 43)

Solange die Gedichtbände und die BfdK nicht allgemein erhältlich waren, bildete dies eine Schwierigkeit, die den momentanen Reiz für das Gesellschaftsgespräch zusätzlich erhöhte. (Dauerhaft war sie aber für den Ruf und Ruhm des Dichters eine Gefahr, stand sie doch der Ausweitung der Leserschaft und der Wirkung der Kunstwerke im Wege.) Geisteswissenschaftliche Intellektuelle wie Richard M. Meyer und Georg Simmel, die nicht nur eine akademische Karriere als Professor anstrebten, sondern zugleich durch ihre publizistische Tätigkeit die Entwicklung des kulturellen Lebens beeinflussen wollten, spielten eine wichtige Rolle bei der gesellschaftlichen und öffentlichen Lancierung StGs. Indem sie in ihren Zeitschriftenaufsätzen die Entdeckung des größten Dichters unserer Tage feierten und seine Werke zum Beginn einer neuen Ära erklärten, vermehrten sie auch ihr eigenes ,symbolisches Kapital‘, bewiesen sie doch so ihre Kompetenzen als Literaturkritiker, Kunstphilosophen und Kulturpolitiker und bewährten sich in der Funktion von Trendsettern. Abgeschwächt gilt das auch noch für den Berliner Historiker Kurt Breysig (1866–1940), der StG bei einer am 12. November 1899 stattfindenden Lesung des Teppichs des Lebens im Hause Lepsius kennenlernte und zwei Monate später den Aufsatz Der Lyriker unserer Tage in der Zeitschrift Die Zukunft veröffentlichte – hier sieht er in StG die ,Erfüllung‘ von Nietzsches Träumen einer kommenden Kultur.92 Den Aufsätzen von Meyer, Simmel und Breysig war gemeinsam, dass sie sich nicht auf die ästhetische Kritik der Gedichte beschränkten, sondern vielmehr den neuen Dichter zum Repräsentanten einer neuen Zeit ernannten. Damit bescheinigten sie StG eine über die Meisterschaft des Künstlers weit hinausgehende Bedeutung für das Schicksal der (deutschen) Kultur. So erhielt StG in der Öffentlichkeit gewissermaßen einen kulturpolitischen Vorschuss, mit dem er arbeiten konnte, als er nach 1900 – parallel zum Aufbau seines Kreises – das Programm einer ,geistigen Bewegung‘ zu entwickeln begann. Bereits 1896 dachte StG über eine öffentliche Ausgabe seiner bisherigen Gedichtbände nach.93 Bezeichnend ist, wie die Zusammenarbeit mit seinem künftigen Verleger Georg Bondi (1865–1935) zustande kam. Bondi hatte nämlich den von Meyer am 17. März 1897 vor der Berliner Gesellschaft für deutsche Literatur gehaltenen Vortrag angehört und war dabei zum ersten Mal auf die Dichtung StGs gestoßen. Seitdem bemühte er sich um einen direkten Kontakt. Als im Oktober 1897 sowohl StG als auch Bondi in Rom waren, trafen sie im dortigen Atelier des Malers Ludwig von Hofmann zufällig aufeinander und verabredeten sich gleich zu einem Mittagessen, um über eine mögliche Verlagsbeziehung zu sprechen. Nach weiteren Gesprächen in den 92 Vgl. Kurt Breysig, Der Lyriker unserer Tage, in: Die Zukunft 8/1900, 16, S. 110–123; 8/1900, 17, S. 156–169. 93 Vgl. etwa seinen Brief an K. Wolfskehl v. 2.12.1896, in dem es heißt: „Hätten Sie also die freundlichkeit den herren [Franz Evers u. Max Spohr vom Verlag ,Kreisende Ringe‘] zukommen zu lassen dass ich nicht abgeneigt wäre, dass jedoch die ausgabe ganz in meinem sinn hergestellt werden müsse. und ich erst im nächsten jahre an die veröffentlichung denke und auch nicht anders als so dass meine drei werke (zwei in der zweiten ausgabe das dritte neu) zusammen und zu gleicher zeit erscheinen“ (StGA).

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I. Stefan George und sein Kreis

folgenden Tagen überließ StG seinen Berliner Freunden Lechter und Klein die Verhandlungen, die sich noch Monate hinziehen sollten. Währenddessen sondierte StG, ob der Verlag der ,Kreisenden Ringe‘ von Max Spohr oder der Verlag von Eugen Diederichs – beide waren in Leipzig beheimatet – eine Alternative sein könnten. Im September 1898 schlossen StG und Bondi einen ersten Vertrag, mit dem der Verleger die Rechte an den Bänden Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal, Bücher der Hirten- und Preisgedichte und Das Jahr der Seele erwarb. Als jährlich abzurechnendes Honorar wurde die Hälfte des Reingewinns aus dem Buchverkauf vereinbart.94 Anfang Dezember 1898 erschienen die genannten Gedichtbände erstmals in einer dem allgemeinen Publikum zugänglichen Ausgabe. Mit Bondi gewann StG einen in Berlin ansässigen Verleger, für den er der wichtigste Dichter des Hauses war. Er schätzte das persönliche Engagement für sein Œuvre, das Bondi bei der Herstellung und der Vermarktung der Gedichtbände an den Tag legte, und vertraute auch dem geschäftlichen Gebaren des Verlegers, der mit kaufmännischer Vorsicht wirtschaftete und gerade deswegen seinem Autor ein verlässliches Einkommen bot. Trotz einzelner Meinungsverschiedenheiten hielt StG an Bondi in den kommenden Jahrzehnten fest und legte auch noch die abschließende Gesamt-Ausgabe in die bewährten Hände. Die Beziehungen, die StG während der Jahre 1897/98 in Berlin zu Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Kulturlebens und öffentlichen Literaturbetriebs aufgebaut hat, können im Nachhinein als Teil seiner ,Werkpolitik‘ erscheinen. Das ist auch richtig, solange man sie nicht auf bloßes Kalkül und pure Strategie reduziert. Abgesehen davon, dass niemand, sogar StG nicht, alle Vorgänge steuern kann, müsste man die anderen Beteiligten stärker in den Blick nehmen, um das Zusammenspiel von Motiven und Interessen zu verstehen. Gegen die Annahme, StG habe nichts anderes als seine Anerkennung als bedeutendster Dichter der Gegenwart im Sinn gehabt, spricht, dass er den Lepsius’, den Simmels und auch Bondi persönlich verbunden blieb, nachdem er mit ihrer Hilfe den gesellschaftlichen und öffentlichen ,Durchbruch‘ (Karlauf) geschafft hatte. Die Beziehung zu Reinhold und Sabine Lepsius ist dafür wohl das beste Beispiel. Obwohl StG die Lepisus’ nach der Jahrhundertwende nicht mehr nötig hatte, um sein Renommee zu steigern, und bei ihnen auch keine Rezitationen mehr abhielt, bewahrte er die Freundschaft zu dem Ehepaar. Ja, als sie ein Sommerhaus, das im Berliner Vorort Westend lag, zu ihrem Hauptwohnsitz gemacht hatten, kam er jedes Jahr an mehreren Tagen zu Besuch und übernachtete dort sogar in einzelnen Fällen. (Allein die Störungen durch die Kinder der Familie ertrug er nicht gut.) Erst gegen 1910 nahm die Freundschaft deutlich an Intensität ab, sie erlosch am Ende des Weltkriegs.95

94 Vgl. I, 5.4.2. 95 Vgl. SL, S. 91–101.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

1.9.

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Der Aufbau einer sozialen Gemeinschaft: der Kreis als Ersatzfamilie

Die von Karl Wolfskehl vermittelte Beziehung zu Friedrich Gundelfinger (1880–1931), den StG gleich bei ihrem ersten, 1899 in München stattfindenden Treffen in Gundolf umbenannte, markiert den Beginn einer neuen Epoche im Leben und Werk StGs. Der nach der Jahrhundertwende einsetzende Aufbau eines auf den älteren ,Meister‘ verpflichteten Kreises von ,Jüngern‘ ist von späteren Kommentatoren, die selber zum Kreis zählten, im engen Zusammenhang mit der poetologischen Entwicklungslogik des Werks erklärt worden: Von den frühen Hymnen, in denen der einsame, allein von der Muse geküsste Dichter eine todesnahe Kunst für die Kunst betreibe, führe der Weg über den Engel des ,schönen Lebens‘ im Teppich des Lebens zum Maximin-Kult im Siebenten Ring und zu der vom pädagogischen Eros bestimmten Kreis-Dichtung des Sterns des Bundes. Damit korrespondierend haben Georgianer wie Friedrich Wolters den Kreis im Sinne der von StG dichterisch initiierten ,geistigen Bewegung‘ gedeutet und als Bildung einer weltanschaulichen Gemeinschaft aufgefasst, die gegen den kulturellen Zerfall der modernen Gesellschaft gerichtet sei. Schon zeitgenössische Beobachter haben StG andere, weit weniger hehre Motive für den Aufbau des Kreises unterstellt. Rudolf Borchardt, der bereits in der zwischen 1902 und 1907 geschriebenen Rede über Hofmannsthal diagnostiziert hatte, die Gedichte StGs seien der künstlerische Ausdruck eines Willens zur persönlichen Herrschaft, stellte in seinen seit 1910 erscheinenden Artikeln den Kreis als die soziale Verwirklichung dieses Willens dar und führte dabei das spezielle Verhältnis des Meisters zu seinen Jüngern immer expliziter auf die angebliche Veranlagung StGs zur Homosexualität zurück.96 In der jüngeren, gegenüber der Persönlichkeit StGs überwiegend kritischen Forschung ist dieser Erklärungsansatz mehrfach variiert worden. Während Stefan Breuer von einer Umsetzung narzisstischer Wünsche ausgeht, sehen Norton und Karlauf die sozialen Strukturen und Praktiken des Kreises durch die homosexuellen und pädophilen Neigungen StGs geprägt, wobei die Interpreten im Unklaren lassen, ob diese Neigungen in der Praxis körperlich befriedigt, sozial transformiert oder geistig sublimiert worden sind. Gemeinsam ist den Erklärungsversuchen von Norton und Karlauf, dass die Beziehungen zwischen dem Meister und seinen Jüngern auf ein nur geringfügig variiertes Rollen- und Verhaltensmuster festgelegt werden: Die von den Georgianern propagierten Leitbilder von ,Gefolgschaft und Jüngertum‘ (Gundolf) oder ,Herrschaft und Dienst‘ (Wolters) erscheinen als Deckmäntelchen für ein von StG einseitig bestimmtes, die Jünger seelisch manipulierendes (und vielleicht auch körperlich berührendes) Abhängigkeitsverhältnis. In Karlaufs Beschreibung der ,Liebe‘ zwischen StG und Gundolf deutet sich allerdings an, dass die Beziehung, weil sie von beiden, jeweils vielschichtigen Persönlichkeiten geprägt wurde, eine komplexe Rollenstruktur besaß und zudem unterschiedliche Entwicklungsphasen durchlief. Gleichwohl reduziert sie Karlauf, der sich dabei die erotischen Rollengedichte der Gezeiten im Siebenten Ring suggestiv zunutze macht, letztlich auf ein psychoanalytisch abgeleitetes Verhaltensmuster StGs: 96 Vgl. den Überblick von Kai Kauffmann, Von Minne und Krieg. Drei Stationen in Rudolf Borchardts Auseinandersetzungen mit Stefan George, in: GJb 6/2006/2007, S. 55–79.

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I. Stefan George und sein Kreis

Mit zunehmender Intensität und Nähe wuchs bei George das Bedürfnis, sich von dem Geliebten zu distanzieren, ja ihn zu schmähen. Leidenschaften mussten gezähmt werden, Abhängigkeit durfte gar nicht erst aufkommen. Psychoanalytisch gesehen, hatte die Angst vor der Öffnung wohl mit Phantasien von der eigenen ,Unzerstörbarkeit‘ zu tun, die ihrerseits eng mit der Vorstellung von ,Virginität‘ zusammenhingen. Jede Form der ,Öffnung‘ musste als Gefährdung erscheinen. […] Bereits der Engel des ,Vorspiels‘ hatte die Entindividualisierung des Erotischen zur wichtigsten Forderung des schönen Lebens erhoben. Gerechtfertigt im platonischen Sinn war die Liebe zu Gundolf erst, wenn sie als Liebe zum Schönen an sich erkannt wurde. Nur eine Freundschaft, die frei war von Sentimentalität, war über alle Zweifel erhaben. Georges Flucht vor emotionaler Bindung und Gundolfs Hang zur Heldenverehrung hätten sich nicht besser ergänzen können.97

In diesem Sinn stellt Karlauf die Freundschaft zu Gundolf als Paradigma für die späteren Beziehungen von StG zu seinen Jüngern im Kreis dar. Dass sich in der Geschichte des Kreises bestimmte Muster im Verhältnis zwischen ,Meister‘ und Jüngern wiederholten, kann ebenso wenig bestritten werden wie die hierarchische Grundstruktur der Rollenverteilung. Es stellt sich aber durchaus die Frage, ob StG – im Rahmen dieser Grundstruktur – nicht doch über eine beträchtliche Bandbreite an Verhaltensmöglichkeiten verfügte und sich selbst so weit öffnen und auf andere einlassen konnte, dass individuelle, nicht einfach austauschbare Beziehungen zu den Jüngern entstanden. Genau dieser Anspruch wird vom ,Meister‘ in den nicht mehr erotisch, sondern pädagogisch codierten Rollengedichten des Sterns des Bundes erhoben. Wenn man zur Überprüfung die Erinnerungsliteratur der KreisAngehörigen liest, findet man genügend Belege dafür, dass StG seinem Anspruch zumindest partiell gerecht geworden ist. Vor allem drängt sich der Eindruck auf, dass die liebesähnlichen Verhaltensvarianten, die wahrscheinlich am Anfang einiger Beziehungen (zu Gundolf, Boehringer, Morwitz u. a.) standen, durch familienähnliche Rollenkonstellationen überformt oder ganz ersetzt wurden. In ihnen nahm StG überwiegend die Position eines erziehenden Vaters ein, der seine Söhne fordert und fördert, lobt, tadelt und straft; aber zeitweilig verhielt er sich ihnen gegenüber auch wie eine behütende, ja gluckende Mutter.98 Andererseits hatte er selbst etwas Kindliches, insofern er von den anderen geliebt, gepflegt und versorgt werden wollte. (Dieser Aspekt sollte am Ende seines Lebens besonders stark hervortreten, als er in Minusio von Frank Mehnert und Clotilde Schlayer betreut wurde.) Von daher ließe sich die Hypothese formulieren, dass sowohl für den ,Meister‘ als auch für die Jünger der Kreis so etwas wie eine Ersatzfamilie gewesen ist. Verglichen mit den professionell orientierten Freundschaften, die StG in den 1890er-Jahren zu etwa gleichaltrigen und gleichwertigen Dichter- und Künstlerkollegen unterhielt, stellte er zu den Jünglingen des Kreises – wenigstens zeitweilig – eine größere persönliche Nähe her, deren Gefahrenpotenzial er freilich durch die hierarchische Verfassung des Kreises für sich selbst limitiert hatte. Die von ihm etablierten Beziehungen glichen strukturell dem Liebes-, Erziehungs- und Abhängigkeitsverhältnis, das typischerweise in den freien Schulgemeinden derselben Zeit zwischen dem Schulleiter und den an der Schwelle zum Erwachsenenalter stehenden Jugendlichen bestand. Die weitgehenden Parallelen auf verschiedenen Ebenen sollte die Forschungsliteratur noch systematischer untersuchen, als das bisher geschehen ist. 97 Karlauf 2007, S. 283f. 98 Vgl. Breuer 1995, S. 60f.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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Zu Lebzeiten StGs erstreckte sich die Geschichte des Kreises über mehr als dreißig Jahre und umfasste zu viele Individuen und Konstellationen, Ereignisse und Entwicklungen, um sie hier angemessen darstellen zu können. Deswegen sei auf die Bücher von Stefan Breuer, Carola Groppe und Rainer Kolk99 sowie die von Jürgen Egyptien, Jan Andres und Stefan Breuer verfassten Artikel über den George-Kreis im vorliegenden Handbuch verwiesen.100 An dieser Stelle lassen sich lediglich einige wichtige Stationen skizzieren, die auch dem Leben StGs Konturen gaben. 1.9.1. Friedrich Gundolf, der erste Sohn In Darmstadt, der gemeinsamen Heimatstadt, war Wolfskehl 1898 auf den Gymnasiasten Friedrich Gundelfinger aufmerksam geworden. Bei einer Einladung im Hause des Mathematikprofessors Sigmund Gundelfinger fragte er diesen, ob er den vielversprechenden Sohn StG vorstellen dürfe. Unter der Bedingung, dass Friedrich zunächst sein Abitur ablegen müsse, stimmte der Vater zu. In München, wo Friedrich im Wintersemester 1898/99 sein Studium aufnahm, vertiefte sich das Gespräch mit Wolfskehl, das um StG gekreist haben dürfte. Anfang März 1899 bereitete Wolfskehl ein Treffen vor, indem er StG einen Brief schrieb und Gedichte des jungen Mannes beilegte: Sie werden die Blicke, die Lebensblicke, in ihnen lieben, wie Sie vielleicht ihn selber lieben, den Epheben, wenn Sie ihn sehen. Seine Jugend und heilig geschaute Muster bestimmen noch seine Schritte, aber da er tief ist und glühend und voll Liebe, dürfen wir uns an ihm freuen und auf ihn hoffen.101

Die Art, wie hier ein junger Mann durch einen älteren Mentor mit StG bekannt gemacht wurde, wird im späteren Kreis zur üblichen Praxis der Einweihung gehören. Nach der ersten Begegnung im April 1899 schickte Friedrich, jetzt Gundolf genannt, StG weitere Gedichte und auch einige Shakespeare- und Rossetti-Übersetzungen. Von StG ermuntert, sich an die vollständige Übertragung von Shakespeares Sonetten zu wagen, meldete er nach wenigen Wochen, er habe schon ungefähr 60 Nummern in einer vorläufigen Fassung vorliegen, und bat, StG in Bingen besuchen zu dürfen. Am 4. August 1899 kam Gundolf für einen Tag nach Bingen, wo zu der Zeit auch Verwey weilte, und sprach mit StG seine Gedichte und Übersetzungen im Hinblick auf eine Veröffentlichung in den BfdK durch. Bald folgten weitere Bingen-Besuche, die wiederum von gemeinsamer Arbeit geprägt waren, unterbrochen von Mahlzeiten und Spaziergängen. Für die Aufmerksamkeit, die StG ihm schenkte, war Gundolf ungeheuer dankbar, seine Briefe an den ,Meister‘ schließen stets mit der Versicherung unwandelbarer ,Ehrfurcht‘ und ,Treue‘. In einem Antwortschreiben ließ StG am 14. September 1899 durchblicken, dass er statt solcher Bekundungen eine auf beiden Seiten tiefer gehende Freundschaft wünschte:

99 Vgl. bes. das Kapitel über „Aspekte der Gruppenbildung um George nach 1900“, in: Kolk 1998, S. 151–183. 100 Vgl. I, 4.; II, 6.; II, 8. 101 K. Wolfskehl an StG v. 6.3.1899, zit. nach G/G, S. 27.

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I. Stefan George und sein Kreis

lieber freund: dank für Ihre worte und sendungen. doch dünkt mir Sie bringen fast zu viel des dankes entgegen . . ich habe so viel ehrfurcht vor Ihrem beginnenden als Sie vor meinem halberfüllten leben. Ich kann Ihnen gewiss viel leuchten aber auch Sie können mir viel helfen. nur – um einen tieferen schnitt zu thun habe ich dazu das recht und haben Sie die kraft? lassen Sie die zeit entscheiden. reden Sie mir – darum bitt ich von Ihren plänen und werken so oft es Sie treibt. erwarten Sie dabei von mir wenig antwortzeilen ohne entmutigt zu sein. meine äusserungen sind beinah ausschliesslich bewegung und gebild. Gedenken Sie wie sehr ich Ihr freund bin.102

Zu der erhofften Öffnung kam es im nächsten Frühjahr auf einer mehrtägigen Reise nach Oberitalien, von der StG und Gundolf über Nürnberg nach Darmstadt und Bingen zurückkehrten. Wie viel StG das Erlebnis der Gemeinsamkeit bedeutet hat, brachte er brieflich in einem einzigen Satz zum Ausdruck: „ich erwarte Sie morgen mit der grössten sehnsucht.“103 Wortreicher und bei aller Idolisierung des anderen fast nur an sich selbst denkend schwärmte Gundolf: Mein inniggeliebter Meister! Bis Sie kommen muss ich bei Ihnen sein, so gut es möglich ist, durch Schrift und enger, ganz nah durch Erinnerung. Meine ganze Gegenwart ist jetzt das was in den letzten Wochen und Tagen mich erhoben und beseligt hat: Die hellen Hügel über dem Etsch, die Strassen Dantes und Mantegnas, Nürnberg und die Nahe und in Allem, über Allem was mir schön, gross und unvergänglich ist, Sie, mein einzig geliebter Meister. […] Mir scheint es jetzt unmöglich dass ich schöne Tage ohne Sie erlebt und dass mir noch Wege vertraut waren welche ich nicht an Ihrem Arm gegangen bin. […] Dass ich Sie liebe bürgt mir, dass Alles was Ihnen danken darf und nie genug danken kann in meinem Leben nicht nur höchste Augenblicke bleiben, Gipfel durch viele Schluchten oder Niederungen getrennt, sondern dass ich immer auf den Höhen schreiten darf und immer mit Ihnen. Denn auch wenn ich Ihnen nichts mehr sein dürfte – was niemals kommen möge, – so werde ich Sie immer lieben und nie verlieren können, denn ich kann nicht von mir trennen, was Sie mir gaben. Mir bleiben ja auch ewig Ihre Werke welche mir Sie ganz waren, ehe ich Sie kannte, ein herrliches und verehrtes Spiegelbild meines höchsten Meisters, da ich Sie selbst kenne und noch viel mehr liebe und verehre, als Ihre Werke.104

Wesentliches von dem, was zu den italienischen Reiseerlebnissen gehörte, zählt Gundolf auf: den Eindruck schöner Landschaften, den Besuch alter Kulturstädte (Verona,

102 StG an F. Gundolf v. 14.9.1899, in: ebd., S. 39. 103 StG an F. Gundolf v. 6.4.1900, in: ebd., S. 50. 104 F. Gundolf an StG v. 12.4.1900, in: ebd., S. 51.

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Vicenza, Padua), das Wandeln auf den Spuren großer Dichter und Künstler (Dante, Mantegna). Der indirekte Hinweis, dass StG und Gundolf Arm in Arm gegangen sind, benennt eine Geste freundschaftlicher Verbundenheit, die auch später zur sozialen Praxis des Kreises gehörte. Trotz dem von beiden artikulierten Gefühl der Liebe – aus dem aber erst im Mai der Wechsel vom ,Sie‘ zum ,Du‘ folgte – deutet in den Briefen nichts auf ein libidinöses Verhältnis hin. Nur die von StG wahrscheinlich im Laufe des Jahres 1900 geschriebenen Gedichte des Zyklus Gezeiten sprechen bildhaft von Augenblicken der leiblichen Vereinigung. Allerdings ist nicht nur eine genauere Datierung dieser Gedichte unmöglich, sondern auch unklar, ob man sie direkt auf eine einzelne Person beziehen darf.105 Ist die Schilderung einer Liebe, die nach dem Höhepunkt der leiblichen Vereinigung in einer seelischen Entfremdung vom Geliebten endet, ein symbolisches Modell oder spiegelt sie reale Erfahrungen in einer bestimmten Beziehung wider? Handelt es sich um den Ausdruck eigener Wünsche und Ängste, die für StG vielleicht nur in poetischer Form zu fassen waren? Sind die Gedichte auch eine Mitteilung an die geliebte Person, und, wenn ja, was sollen sie dem anderen zu verstehen geben? Im Mai 1902 hat StG sieben der zwölf Gedichte, die später den ersten Binnenzyklus der Gezeiten bilden werden, in den BfdK veröffentlicht, unter ihnen „Der Spiegel“, nicht aber die erotisch sehr viel deutlichere „Umschau“ (VI/VII, 75, 70). Möglicherweise hatte er Gundolf aber schon früher einen Einblick gewährt. Denn Gundolf schickte ihm am 24. Januar 1901 – bezeichnenderweise ohne jeden Kommentar – zwei eigene Gedichte nach Bingen, die wie eine Antwort erscheinen. Das eine lautet: Du wirst nie satt unsrer marter Da du meine liebe verwarfst Und sprach ich nicht: Nimm mich du harter Ich kenne ja was du bedarfst? Ich weiss wie du heilig mich lenktest Du hörtest den dankenden sang Doch wurdest du traurig und senktest Das haupt und forschtest so bang Ich jauchzte das leid sei begraben Und ahnte nicht dass es nur schlief Du warntest den freudigen knaben Der dankbar den segen berief Nun geben mit bebenden zähnen Wir unser irren uns kund Mir rinnen ins herz deine tränen Und brennen das liebende wund 105 Nach den Angaben von Ute Oelmann erstreckt sich der mögliche Entstehungszeitraum vom August 1899 bis zum Jahresende 1900 (vgl. SW VI/VII, S. 211). Am 30. Mai 1900 schrieb StG an Melchior Lechter: „Anspinnend an das Ihnen bereits in Berlin überreichte gedicht hat sich nach und nach eine ganze reihe von werken entwickelt die sie als freund nicht sowohl künstlerisch bestaunen werden – sonder[n] auch mit vielen menschlichen ausruf- und fragezeichen lesen werden“ (Zit. ebd.). Das hier erwähnte Gedicht „Wenn dich meine wünsche umschwärmen“, mit dem der Zyklus der Gezeiten beginnt, geht, wie aus der Widmung einer Handschrift ersichtlich wird, auf gemeinsame Tage mit Lechter im Spätherbst 1899 zurück. Ein ursprünglicher Bezug zu Gundolf ist also nicht gegeben.

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Doch können wir uns nicht entfliehen Du würdest von mir nicht erlöst Wenn auch deine hand von den knieen Den flehentlich fassenden stösst – Nimm mich! Geliebter! Erwählter! Und glaube: Nicht ich bin dein fluch Noch stets wird dich heilen, zerquälter Mein kuss und mein blick und mein spruch.106

Zu Gundolfs Geburtstag im Juni 1902 schenkte StG ihm ein mit dem griechischen Motto „Sehnen Leiden Danken“ versehenes Quartheft mit der eigenhändigen Abschrift von sechs der sieben in den BfdK veröffentlichten Gedichten, gewidmet „dem getreuesten / Friedrich Gundolf / zum Andenken“. Damit beendete er eine Art von Dialog in Gedichtform, in dem beide Seiten auf mehrdeutige und ambivalente Weise die Möglichkeiten und Grenzen der Liebe verhandelt hatten. Zugleich besiegelte er gewissermaßen den Bund einer auf Dauer gestellten Freundschaft, in der Gundolf in ,steter Liebe und Treue‘ der nächste Jünger des Meisters blieb, bis er, so die Sicht StGs, nach zwei Jahrzehnten den Bund dadurch brach, dass er sich in die Herrschaft einer Frau begab. Wie sehr beide, StG wie Gundolf, auf ihre Freundschaft angewiesen waren, kam am deutlichsten beim Tod eines engen Verwandten oder Vertrauten zum Ausdruck. Als Maximilian Kronberger im April 1904 gestorben war, überbrachte Gundolf die Nachricht und leistete StG einige Tage Gesellschaft, um das Leid „mit Dir zusammen zu tragen“.107 Als StG im Mai 1907 seinen Vater verloren hatte, wünschte er wieder Gundolfs Beistand: „Lieber Gundel: […] Ich freu mich wenn du kommst Dein betrübter Stefan“.108 Die folgenden Tage in Bingen erneuerten die Innigkeit der Freundschaft. Ende 1910 starb Gundolfs Vater. Nun war es StG, dessen Briefe jede Gefühligkeit zu vermeiden pflegten, der tröstend die Arme öffnete: Geliebtestes Gundelnes Dass Du mir schreibst wenn Du mich wieder brauchst oder gern willst! sei es auch für einen nachmittag und verlass mir nur die mutter nicht wenn sie ohne gesellschaft ist. Auch für nächste woche gilt es. Ich denke wie immer herzlich Deiner. Dein St.109

In der George-Literatur ist viel über die Themen Einsamkeit und Freundschaft, Narzissmus und Eros geschrieben worden; das Verhältnis zum Tod würde eine stärkere Beachtung verdienen. In den Jahren nach 1900 verbrachte StG mehr Zeit mit Gundolf als mit irgendeinem anderen Menschen. Er traf Gundolf regelmäßig, wenn beide in München waren, er lud ihn häufig ein, nach Bingen zu kommen, und hielt sich umgekehrt gern im Darmstädter Elternhaus Gundolfs auf. Auf den kürzeren und längeren Reisen, die er im Laufe des Jahres machte, ließ er sich von Gundolf begleiten. Bereitwillig übernahm 106 F. Gundolf an StG v. 24.1.1901, in: G/G, S. 75f. 107 F. Gundolf an StG v. 14.4.1904, in: ebd., S. 153. Im anschließenden Brief vom 27. April 1904 zeigte er sich von der Vertraulichkeit beglückt: „Du bist hoffentlich gut und beruhigt zur Maiarbeit wieder an der Nah und nicht einsam und trostlos. Ich bin bei Dir in Dank und Liebe und voll glorreicher Erinnerung an Dich und diese Woche der Trauer“ (G/G, 153). 108 StG an F. Gundolf v. 12.5.1907, in: ebd., S. 182. 109 StG an F. Gundolf v. 15.12.1910, in: ebd., S. 215.

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Gundolf die niederen und höheren Aufgaben eines persönlichen Assistenten. Er besorgte (und bezahlte) nicht nur den besonderen Zigarettentabak, den StG rauchte, sondern kümmerte sich auch um die Korrespondenz und machte Quartier. Bei den von StG und Wolfskehl herausgegebenen Auswahlbänden Deutsche Dichtung: Goethe (1901) und Deutsche Dichtung: Das Jahrhundert Goethes (1902) wurde er mit Arbeiten betraut, die bald über die Hilfstätigkeiten eines Redakteurs und Korrektors hinausgingen. Aber StG beutete die geistigen Kräfte seines Jüngers nicht einfach für sich aus, half er doch umgekehrt Gundolf in vielfacher Weise. Bei der Jahre dauernden Übersetzung von Shakespeares Dramen beschränkte sich der ,Meister‘ nicht auf weise Ratschläge und strenge Tadelsprüche, nein, er ging mit Gundolf immer wieder die Texte durch, arbeitete an Verbesserungen und las Korrektur. Obgleich StG Gundolf bereits zu Beginn ihrer Freundschaft davor gewarnt hatte, „so viel in fernen menschen [zu] forschen und in sagen [zu] lesen“, anstatt selber zu dichten,110 und er auch in späteren Jahren gelegentlich die unschöpferische Wissenschaft schmähte, nahm er an Gundolfs Studien zur Geistesgeschichte regen Anteil. Gerade in den gemeinsamen Gesprächen über die Konzeption von Caesar und die deutsche Literatur (1904) und Shakespeare und der deutsche Geist (1911) dürfte StG aufgegangen sein, dass sein ursprüngliches Projekt der schöpferischen Erneuerung der deutschen Dichtung zu einem Programm der Erneuerung des deutschen Geistes ausgeweitet werden könnte, ja müsste. Der geistesgeschichtliche Beitrag, den Gundolf zur kulturpolitischen und weltanschaulichen Entwicklung im George-Kreis geleistet hat, darf nicht unterschätzt werden,111 selbst wenn die Gründung des Jahrbuchs für die geistige Bewegung weniger von ihm als von Berthold Vallentin und Friedrich Wolters betrieben wurde. Im Jahr 1910 entschied sich Gundolf für eine Habilitation an der Universität Heidelberg, die er 1911 erfolgreich abschloss. Seitdem hielt er dort als Privatdozent seine Vorlesungen. (Erst 1917 wurde er zum außerordentlichen, 1920 zum ordentlichen Professor für Neuere Deutsche Literatur ernannt.) Während der Semester lebte er nun überwiegend in Heidelberg, wo er in der Pension Neuer am Schloßberg 49 wohnte. Ab 1910/11 wurde die Stadt am Neckar auch für StG zu einem wichtigen Aufenthaltsort. Wenn er Gundolf besuchte, ging er regelmäßig zu dessen Vorlesungen. Über Gundolf lernte er andere Angehörige der Universität kennen, so die Professoren Eberhard Gothein (1853–1923) und Max Weber (1864–1930), die sich wie ihre Ehefrauen Marie Luise Gothein (1863–1931) und Marianne Weber (1870–1954) sehr für den Dichter interessierten. Auch Studenten von Gundolf kamen zu ihm, vor allem Norbert von Hellingrath (1888–1914), Wolfgang Heyer (1892–1917) und Edgar Salin (1892–1974), die zu seinen Jüngern wurden.

110 StG an F. Gundolf v. 10.8.1899, in: ebd., S. 33. 111 Dagegen betont Carola Groppe die Unterschiede zwischen dem geistesgeschichtlichen Ansatz Gundolfs, der hauptsächlich auf die Bildung des Einzelnen gezielt habe, und den weltanschaulichen Bestrebungen der Niederschönhausener um Vallentin und Wolters, die auf die Schaffung eines ,Staates‘ hinausgelaufen seien. Gundolfs Beteiligung am Jahrbuch für die geistige Bewegung wird als vorübergehendes Abirren von der eigenen Bildungskonzeption dargestellt. Vgl. Groppe 1997, bes. S. 310–313.

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1.9.2. Die Generation der weiteren Söhne Am Anfang des neuen Jahrhunderts unterhielt StG noch enge Beziehungen zu den Münchner Kosmikern. Allerdings nahmen, wie bereits beschrieben, die menschlichen Spannungen innerhalb der Runde der Kosmiker immer weiter zu, bis es am Jahreswechsel 1903/04 zum Bruch zwischen StG und Wolfskehl auf der einen und Schuler und Klages auf der anderen Seite kam. Während seines Münchner Aufenthalts im Winter 1901/02 war StG auf der Leopoldstraße ein Jüngling aufgefallen. Nachdem er ihn mehrfach beobachtet hatte, sprach er den damals dreizehnjährigen Gymnasiasten Maximilian Kronberger (1888–1904) an und fragte, ob er ein Bild von ihm haben dürfe. „Am nächsten Tag suchte er mit dem Jungen ein Fotoatelier auf, begleitete ihn anschließend zur elterlichen Wohnung am Nikolaiplatz und nannte beim Abschied auf Nachfrage seinen Namen.“112 Kronberger, dem der Name nichts sagte, erfuhr kurz darauf beim Besuch einer Buchhandlung, dass er einen berühmten Dichter getroffen hatte, und versuchte, StG so bald wie möglich wiederzusehen. Doch erst im nächsten Jahr erneuerte und vertiefte StG die Bekanntschaft. Fortan ging er mit dem Jüngling häufiger spazieren. Auch nahm er ihn zu einem der von Wolfskehl veranstalteten Kostümfeste mit. Auf diesen Umgang war Kronberger stolz, zumal er sich erhoffte, dadurch selbst als Dichter bekannt zu werden. Er ordnete sich dem Willen StGs aber nicht so unter, wie es der ,Meister‘ von seinem Schützling verlangte. Anfang 1904 machte StG ihm eine Szene, weil Kronberger mehrfach nicht zur erwarteten Zeit gekommen war. Empört notierte Kronberger in sein Tagebuch: „Ich brauche mich doch nicht von ihm da zusammenschimpfen lassen wie ein Schuljunge?“113 Am Tag nach der Auseinandersetzung teilte er StG brieflich mit, er sehe nach den Vorkommnissen „keinen Grund unsere Bekanntschaft weiterzuführen“, und ersuchte ihn, „alle Beziehungen zu mir abzubrechen“.114 Zwar gelang es StG umgehend, mithilfe von Kronbergers Vater eine Versöhnung herbeizuführen, doch das Verhältnis blieb bis zum letzten Treffen belastet, das am 30. März in Wien stattfand. Wenige Tage später, StG war bereits aus Wien abgereist, erkrankte Kronberger an einer Meningitis. Er starb am 15. April 1904. In der Krise, die das Ende der Kosmiker-Runde ausgelöst hatte, scheint StG der Tod Kronbergers weit mehr getroffen zu haben, als man nach ihrer vergleichsweise oberflächlichen Beziehung vermuten würde. In einem Brief an Sabine Lepsius vom Juni 1904 heißt es: „ich trauere über einen unbegreiflichen und frühen tod der auch mich an die lezten klüfte hinführen wollte“.115 Darüber, was in StG vorging, soll hier nicht spekuliert werden. Jedenfalls bat er die Eltern Kronbergers schon wenige Wochen nach dem Tod, alles aufzubewahren, „was Max an gedichten und aufzeichnungen hinterlassen“ habe, da er diese Dokumente für das „gedächniszeichen“ benötige, das „ich ihm eines tages zu setzen willens bin“.116 Zum ersten Jahrestag von Kronbergers Ableben war das Manuskript des Gedenkbuchs Maximin abgeschlossen, das jedoch 112 Karlauf 2007, S. 342. 113 Maximilian Kronberger, Gedichte. Tagebücher. Briefe, hrsg. v. Georg Peter Landmann, Stuttgart 1987, S. 105. 114 M. Kronberger an StG v. 30.1.1904, in : ebd. 115 StG an S. Lepsius v. Juni 1904, in: ebd., S. 136. 116 StG an Alfred Kronberger v.31.5.1904, in: ebd., S. 135.

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erst an der Jahreswende 1906/07 erscheinen sollte. Diese Verzögerung erklärt sich möglicherweise nicht allein aus der künstlerischen Langsamkeit Lechters, der für die Buchausstattung verantwortlich war, sondern auch aus der werkpolitischen Absicht StGs, einen engen Zusammenhang mit dem gleichnamigen Gedichtzyklus im Siebenten Ring herzustellen. Das biographische Monument wäre dann als Seitenstück des poetischen Mythos zu deuten. In der Zwischenzeit waren diejenigen Menschen in das Leben StGs getreten, die zusammen mit dem einige Jahre älteren Gundolf die erste Jünger-Generation des Kreises bilden sollten. Bei einem Besuch in Basel wurde StG von Rudolf Burckhardt auf Robert Boehringer (1884–1974) hingewiesen, einen zwanzigjährigen Studenten der Nationalökonomie, der durch seine Rezitationen von Gedichten StGs auffalle. Auf Wunsch StGs kam Boehringer am folgenden Abend (30. März 1905) in das Haus des Gastgebers und sagte sogleich das gesamte Vorspiel auswendig her. StG war von dem jungen Mann so beeindruckt, dass er mit ihm am nächsten Tag einen längeren Ausflug nach Rheinfelden machte. Zu Weihnachten 1905 schenkte er ihm die Prachtausgabe des Teppichs des Lebens, für die sich Boehringer mit den Worten bedankte: „Dies sei mir leitspruch fürs kommende und spätere jahre: Dir zu gehören und mein leben von Dir zu empfangen, so Du es mir geben willst.“117 Neben Gundolf, der der engste Lebensbegleiter StGs blieb, stieg Boehringer rasch zu einem neuen Lieblingsjünger auf. Ernst Morwitz (1887–1971) brauchte dafür einige Zeit länger. Im August 1905 hatte sich der Berliner Gymnasiast brieflich an StG gewandt und ihm nicht nur seine tiefe Verehrung bekundet, sondern auch ein eigenes Gedicht mitgeteilt. Vermutlich begegnete er StG zum ersten Mal im November 1905. StG schätzte Morwitz als einen Menschen von dichterischer Begabung und ethischer Strenge; doch erst um 1910 gewann er ihn so lieb, dass er zum ,Du‘ überging und Morwitz gerne auf Reisen mitnahm. Kamen Gundolf, Boehringer und Morwitz einzeln zu StG, weil sie von dem Dichter, dessen Werke sie verehrten, eine Sinngebung für ihr eigenes Leben erhofften, so verhielt es sich mit den Mitgliedern des sogenannten ,Pankower‘ oder ,Niederschönhausener Kreises‘ etwas anders. Denn dieser Zirkel hatte sich nach der Jahrhundertwende um den Berliner Historiker Kurt Breysig gebildet, wobei anfangs die Dichtung StGs keine besondere Rolle spielte. Carola Groppe beschreibt die „Akademikergemeinschaft“, die sich bis Juni 1907 in einem von Friedrich Wolters, Friedrich Andreae und Rudolf von Heckel bewohnten Haus am Park von Niederschönhausen versammelte, wie folgt: Bei den Zusammenkünften und Festen des Kreises kamen bis zu fünfzehn gleichgesinnte Studenten und Wissenschaftler zusammen, eigene Gedichte sowie selbstverfaßte oder klassische Dramen und Texte, durch die Mitglieder aufgeführt und vorgetragen, waren ein wichtiger Bestandteil der Zusammenkünfte. So wurde in kleinem Kreis im Park gemeinsam Platons Symposion gelesen; auf einer Feier wurden freie Reden auf ,bekannte Paare‘ gehalten. Kurt Hildebrandt erinnert sich: ,Wolters sprach von Mirabeau und seiner Geliebten, F.[riedrich] Andreae von Marie Antoinette, [Rudolf von] Heckel von Beatrice, ich von Sokrates und Diotima.‘ Bildungsbürgerlich sozialisiert, verstanden die jungen Akademiker ihre Bestrebungen als gemeinschaftliche Suche nach einem neuen ,Lebenssinn‘ durch Kunst und Wissen-

117 R. Boehringer an StG v. 24.12.1905, StGA.

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schaft, da die meisten von ihnen, wie Wolters vermerkt, kaum noch über Bindungen an die großen Religionsgemeinschaften verfügten.118

Typisch für die Generation der sogenannten ,Jugendbewegung‘ war der Glaube im Niederschönhausener Kreis, dass es zur Bildung einer neuen Gemeinschaft eines geistigen Führers oder gar Heilsbringers bedürfe. Anfangs mögen die Freunde um Friedrich Wolters (1876–1930) und Berthold Vallentin (1877–1933) an ihren wissenschaftlichen und weltanschaulichen Lehrer Kurt Breysig gedacht haben, der sich auch selbst in dieser Rolle sehen wollte; dann wurde ihnen klar, dass es eines dichterischen Führers bedurfte. Es ist schwer zu erklären, warum sie nicht gleich auf StG verfielen, den Vallentin seit 1902, Wolters seit 1904 sogar persönlich kannten. Aber noch suchten sie einen anderen. Als im November 1905 Rudolf Borchardt zwei Wochen zu Gast in Niederschönhausen war, versetzte er Wolters und Vallentin wohl nicht nur mit seinem dichterischen Pathos, sondern auch mit seinen kulturpolitischen Visionen in einen Begeisterungstaumel. Sollte er der Richtige sein? Seine eigene Hoffnung, über StG, den Dichter des veralteten Ästhetizismus, hinweg zum Führer der jungen Generation zu werden,119 schlug jedoch fehl. StG, der über die Niederschönhausener Bestrebungen auf dem Laufenden war und auch von Borchardts Aufenthalt gehört hatte, kam wenige Tage später in Begleitung von Breysig und Morwitz zu Besuch, um den Prätendenten aus dem Felde zu schlagen.120 Mit Erfolg: Bei dieser Begegnung müssen die Mitglieder des Niederschönhausener Kreises schlagartig erkannt haben, dass allein StG zu ihrer Führung berufen war. In den nächsten Monaten drängten sich ihm Wolters und Vallentin geradezu als Jünger auf. Der Umworbene verhielt sich ihnen gegenüber erstaunlich reserviert. Vallentin, dessen Verse StG schon bei früheren Gelegenheiten gelobt und getadelt hatte, durfte ihn immerhin zweimal in Bingen besuchen. Als Wolters im September 1906 mit den Worten „herr und meister, ich hob euch diesen Kelch“ ein Gedicht schickte, fiel die Antwort frostig aus: „Herrn Dr Fritz Wolters. Ihr neues widmungsgedicht mahnt mich dass ich Ihnen noch für Ihre minnelieder zu danken habe […]. Ich lobe Ihren versuch […]. Aber […] für uns ist diese kunstübung etwas flau. In freundlicher gesinnung Stefan George.“121 An dem Brief lässt sich ablesen, dass für StG zu dieser Zeit noch immer die individuelle Sensibilität für das dichterische Wort das entscheidende Auswahlkriterium war. An den gemeinschaftlichen Veranstaltungen der Niederschönhausener, zu denen er stets eingeladen wurde, hatte er wenig Interesse. Nach dem Umzug von Wolters, Vallentin und den beiden Andreaes in eine Lichterfelder Villa zeigte er sich auch dort ziemlich selten. Sogar an einer „Feier der Huldigung vor dem Siebenten Ring“, die im Dezember 1907 stattfand, wollte er nicht teilnehmen, er schickte Morwitz als Vertreter. 118 Groppe 1997, S. 216. 119 Vgl. dazu die Argumentation in der zwei Jahre später geschriebenen Rezension des Siebenten Rings, in: Rudolf Borchardt, Prosa I, hrsg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 2002, S. 68–104, bes. S. 68f., 102–104. 120 Zwei Monate später intervenierte er energisch gegen die entstehende Freundschaft zwischen Borchardt und Boehringer. 121 F. Wolters an StG v. 10.9.1906; StG an F. Wolters v. 19.9.1906, in: G/W, S. 65, 66f. Vgl. genauer Ute Oelmann, „Eine Sehnsucht nach höherer Kunst“. Vom Umgang mit dem Dichter George. Zwei Fallstudien, in: Verehrung, Kult, Distanz. Vom Umgang mit dem Dichter im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Wolfgang Braungart, Tübingen 2004, S. 279–290.

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Morwitz, der schon bei dem ersten Treffen vom Treiben der Niederschönhausener angewidert gewesen war, fand auch die Feier des Siebenten Rings unerträglich, wie er Gundolf mitteilte. Dieser pflichtete ihm bei: „Ich hoffe diese höchst schätzbaren Kräfte lassen sich noch organisieren und fruktifizieren statt dass sie sich in übersteigerten Gesten verlieren. Lieber Ernst! Pathos allein genügt nicht, man muss auch Ironie (romantische!) haben.“122 Noch durften sich Gundolf und Morwitz als die eigentlichen Jünger fühlen, die dem ,Meister‘ persönlich nahestanden und ihm auf richtige Weise dienten. Im bewussten Gegensatz zu den gemeinschaftlichen Schwärmereien der Niederschönhausener bzw. Lichterfelder ,Enthusiasten‘ sah Morwitz seine eigene Aufgabe darin, jüngere Menschen im Geiste StGs zu erziehen und sie so ganz allmählich an den ,Meister‘ heranzuführen. Selber gerade zwanzig Jahre alt, machte er sich Ende 1907 zum Mentor zweier Knaben, des achtjährigen Bernhard von Uxkull und seines neunjährigen Bruders Woldemar von Uxkull – erst 1913 hielt er seine Zöglinge für reif genug, um vor die Augen StGs zu treten.123 In einem Brief vom 13. September 1906, der StG die Zusendung eines eingebundenen Manuskripts – wohl des Siebenten Rings – ankündigte, verwendete Gundolf das Wort ,Kreis‘ so, als hätte es sich zu diesem Zeitpunkt bereits um einen gebräuchlichen Terminus für eine feste Gruppierung um StG gehandelt.124 Dem tatsächlichen Stand der Kreisbildung entsprach das jedoch nicht. Zwar hatte sich die Zahl derer, die sich selbst als Jünger bezeichneten, seit 1905 beträchtlich erhöht. Auch schritt die Vernetzung der einzelnen Personen und Gruppen fort, weil es da und dort zu Begegnungen kam und man mit dem einen oder anderen Briefe wechselte. Doch weder gab es schon größere Treffen, bei denen sich mehrere Jünger um den ,Meister‘ geschart hätten, noch war bereits ein Bewusstsein ausgeprägt, einer alle umfassenden geistigen Gemeinschaft anzugehören. Gundolfs Brief an Morwitz vom Dezember 1907 belegt, dass wohl der Wunsch bestand, die unterschiedlichen Kräfte zu „organisieren und fruktifizieren“, aber gerade an der Möglichkeit gezweifelt wurde, die Freunde um Wolters und Vallentin, mithin die zahlenmäßig größte Gruppe, geistig integrieren zu können. Um einen ,festen Nucleus‘ (Borchardt) zu bilden, brauchte es mehr als das Charisma des von allen verehrten Dichters und ,Meisters‘. 1.9.3. Dichterischer Mythos und weltanschauliche Ausrichtung des Kreises: Vom Gedenkbuch für Maximin bis zum Stern des Bundes In der Vorrede zum Gedenkbuch Maximin, die wie die drei mit ihr korrespondierenden Gedichte „Auf das Leben und den Tod Maximins“ im April 1905 vorlag,125 wurde zum ersten Mal der Glaube an den göttlichen Jüngling ausgerufen und ver122 F. Gundolf an E. Morwitz v. 9.12.1907, in: G/G, S. 185. 123 Zu dem Erziehungskonzept von Morwitz, das nicht erst bei jungen Männern ansetzte, wie das bei den Hochschullehrern Gundolf und Wolters der Fall war, vgl. Groppe 1997, S. 441ff. 124 Vgl. F. Gundolf an StG v. 13.9.1906, in: G/G, S. 176: „verschiedenes klingt wie aus dem Kreis“. 125 Um den 20. April 1905 schrieb Gundolf an StG: „Das Gedenkbuch ist fertig bis auf deine drei Gedichte und die Vorrede, die ich nicht hier habe. Bringe Sie mit oder schicke sie ich mache dann sofort das ganze in die Reihe“ (G/G, 162). Wenige Tage später ging ein vollständiges Manuskript des Gedenkbuchs an Lechter ab. Die Vermutung liegt nahe, dass StG noch in der letzten Zeit vor der Redaktion des Gedenkbuchs an seinen Texten gearbeitet hatte.

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kündet, dass er ,uns‘ von allen Seuchen der heutigen Menschheit erlösen und die Jugend in eine Zeit des Heils leiten werde. Der Text redet und erzählt fast durchgängig in der personalen Form des ,wir‘, die freilich nicht überall dasselbe meint, sondern stark oszilliert. Die durch sie suggerierte Gemeinschaft der an der Gegenwart Leidenden und an die Zukunft – im Zeichen Maximins – Glaubenden wird gezielt in einem Bereich der Unschärfe gehalten. Gegen Ende der Vorrede wird die narrative Konstruktion, in der das ,wir‘ einem ,ihm‘ (Maximin) gegenübersteht, in zwei dialogischen Szenen vorübergehend verändert. In der ersten Szene spricht Maximin mit Gott und bittet: „so zeig dich mir im besten deiner sichtbaren schöpfung! gib mir Leda die geliebte! gib mir den grossen menschen den Meister!“ (XVII, 65) Wenn ihm diese Bitten erfüllt würden, sei er bereit, von „deinem adler“ (ebd.) schnell aus dem Leben zu Gott gerissen zu werden. In der zweiten Szene spricht der anscheinend von Gott auf Erden eingesetzte Meister: Mein Maximin · was du mir entgelten wolltest ist reichlich zurückgegeben. Mit Einem satze hast du ein quälendes geheimnis gelöst zu dem kein buch und keine rede mir den schlüssel brachte: du hast über grosse eisige flächen nun ein gleichmässiges und wärmendes licht verbreitet. Ich entlasse dich als schüler · nimm mich zum freund! denn immer bleib ich ein teil von dir wie du ein teil von mir. (XVII, 66)

Die Vorrede ist nicht nur wichtig, weil in ihr die heilsgeschichtliche Dramaturgie bis in die Rollenstruktur der Rede hinein angelegt ist, die im Maximin-Zyklus des Siebenten Rings dichterisch entfaltet werden wird. Vielmehr, und darauf kommt es hier hauptsächlich an, bezeugt sie, dass der von StG verkündete Glaube an Maximin von Anfang an über einen privaten Personenkult, aber auch einen poetischen Kunstmythos hinausgehen sollte. Eigentlich sollte der Siebente Ring parallel mit dem Gedenkbuch für Maximin kurz vor Anbruch des Jahres 1907 erscheinen,126 die mühevolle Arbeit an der Komposition des Gedichtbands und am Buchschmuck führte jedoch zu einer Verzögerung bis zum Oktober 1907. In der Mitte des Bandes steht der Maximin-Zyklus, der ein heilsgeschichtliches Geschehen in einer rituellen, an die katholische Liturgie gemahnenden Form schildert. Es wird in der literaturwissenschaftlichen Forschung bis heute kontrovers diskutiert, was der Maximin-Mythos für die Persönlichkeit StGs, die Entwicklung seines Werkes und die Bildung seines Kreises bedeutet hat. Psychologisch mag die Sorge bzw. Angst, sich selbst entweder in narzisstischen Spiegelungen zu petrifizieren oder im dionysischen Rausch (wie ihn die Kosmiker propagierten) aufzulösen, die Imagination einer göttlichen Gestalt motiviert haben, die das ,Ich‘ des Dichters mit neuem Leben und Sinn erfüllen sollte. Poetologisch erscheint nach der vom Engel im Teppich des Lebens erhobenen Forderung nach einem ,schönen Leben‘ die dichterische Stiftung eines religiösen Kultes als folgerichtiger Schritt im Prozess der Sakralisierung der Kunst. Aber soziologisch gefragt: Welche Funktion hatte der MaximinMythos für die Kreisbildung? Zweifellos war es StGs Absicht, mit ihm einen geistigen Mittelpunkt zu schaffen, auf den sich alle Jünger (freilich nicht unbedingt in derselben Art) beziehen sollten. Da er, der Dichter-Seher und Dichter-Priester,127 der eigentliche 126 Vgl. StG an M. Lechter v. 3.9.1906: „beide Werke das Gedenkbuch und der Siebente Ring müssen in diesem jahr gedruckt werden, gehe es wie es gehe.“ Zit. nach SW VI/VII, S. 190. 127 Vgl. II, 1.2.3.

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Schöpfer und Mittler des Maximin-Glaubens war und sein Werk als das eigentliche Medium der Offenbarung fungierte, verfolgte er zugleich den Zweck, die Herrschaft der eigenen Person und die Autorität der eigenen Dichtung im Jüngerkreis zu festigen. Wie weit es StG mithilfe des Maximin-Mythos gelang, diese Absichten zu verwirklichen, ist nicht definitiv zu beantworten. Da die Vorrede des Gedenkbuchs die Jugend so vehement auf die durch Maximin bewirkte Zeitenwende hingewiesen hatte, wäre zu erwarten gewesen, dass sich StGs Jünger nach dem Erscheinen des Siebenten Rings besonders dem Maximin-Zyklus zuwenden würden. Entsprechende Zeugnisse fehlen aber sowohl in den persönlichen Briefen als auch in den öffentlichen Verlautbarungen der Jünger. Wie der Siebente Ring in der Gruppe der Lichterfelder aufgenommen wurde, schildert Kurt Hildebrandt in seinen Erinnerungen (1965): „Der VII. Ring ist erschienen, der neue Ton ergreift uns gewaltig. Zwar brauchen wir Jahre, um uns Gehalt und Zusammenhang im Groben anzueignen, aber das hohe Pathos der zeitgedichte durchströmt uns bald, nach Vallentins Ausdruck als flüssiges Feuer“ (KH, 34). Ähnlich wie in Ludwig Thormaehlens Erinnerungen (1962)128 ist diese nachträgliche Schilderung insofern stilisiert, als sie einen Weg vom Äußeren, den Zeitgedichten und Tafeln, zum Innersten, dem Arkanum des Maximin, beschreiben will. Sie ist durch die erst allmählich im Kreis entstehende Tradition der Auslegung geprägt, die den Maximin-Zyklus immer mehr als geistiges Zentrum auffasste. Gundolf, der in seiner Rezension des Siebenten Rings für die Zeitschrift Die Zukunft (1908) nur andeutungsweise vom „heilig[en] Feuer“, das den ganzen Gedichtband durchströme, gesprochen und StG sehr vage als Boten eines „künftigen Eros“ bezeichnet hatte,129 legte erst im Buch George (1920) eine Deutung vor, welche die sich im Maximin-Zyklus vollziehende Erscheinung des Gottes als Mittelpunkt des gesamten Werks und Ausgangspunkt eines neuen Glaubens versteht. In der Schrift Herrschaft und Dienst, die Friedrich Wolters im April 1909 vollendete, werden andere Akzente gesetzt. Die Aufmerksamkeit gilt zwar auch der Kraft des Dichters, die den Mythos schafft und das Bild des Gottes hervorbringt, weit mehr aber seinem Kampf gegen die Zustände der heutigen Zeit. Die Versenkung in das Geheimnis jenes „innersten kernes […], der alle anderen ringe mit seinem feuer nährt“,130 wird nur zu gern aufgeschoben, um den Blick auf die Zeitgedichte und die Tafeln im Siebenten Ring richten zu können. Dass der Dichter nicht als Seher oder Priester, sondern als Täter und Herrscher apostrophiert wird, ist konsequent, weil seine kulturkritischen Angriffe auf die „morschen nöte des heutigen tages“131 und seine kulturpolitischen Erlasse und Gesetze für das ,kommende Leben‘ im Vordergrund stehen. Wohl lässt Wolters die Kraft des Dichters aus seinem als „kult“ gefassten Verhältnis zum „weltgrunde“ entspringen, das sich abgeschwächt in dem Verhält128 Vgl. LT, S. 17: „Von dem ,Siebenten Ring‘ hatte ich die Zeitgedichte begriffen, dazu die Gestalten und die Tafeln. Die von diesen Gedichtfolgen umschlossenen Teile des Buches waren mir wohl als Ton und Geste faßbar. Das Gedenkbuch ,Maximin‘ blieb mir zunächst in seinem Inneren verschlossen. Ich verstand wohl die Worte, die Aussage, die hohe Kühnheit der Gotterklärung, doch der Grund, der Ort, von dem aus solch Ereignis und Erlebnis begreifbar wäre, lag mir nicht offen. Ich empfand Ehrfurcht und Scheu vor solcher apodiktischen Erklärung, doch der Raum zwischen Wort und Bild wurde mir noch nicht lebendig.“ 129 Friedrich Gundolf, Der siebente Ring, in: Die Zukunft 16/1908, 14, S. 164–167, hier: 166f. 130 Friedrich Wolters, Herrschaft und Dienst, 2. Ausg., Berlin 1920, S. 41. 131 Ebd.

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nis der Dienenden zum „herrschergrunde“ wiederholt. Doch die gewählte Terminologie von Herrschaft und Dienst betont den sozialen Aspekt der von „oben“ nach „unten“ gestuften Ordnung des „Geistigen Reiches“,132 die vom Dienenden das „rückhaltslose opfer des eigenen wesens“ verlangt.133 StG, der während eines zweiwöchigen Besuchs bei Wolters im Januar und Februar 1909 manche Winke zum Verständnis seiner Werke gegeben hatte, war von Herrschaft und Dienst stark beeindruckt.134 Während Gundolf in der Abhandlung über Gefolgschaft und Jüngertum mit dem Begriff der Liebe auf der persönlichen Verbundenheit zwischen Jünger und Meister bestand (und dabei mindestens ebenso sehr an sein eigenes, in den Gezeiten dichterisch verarbeitetes Verhältnis zu StG gedacht haben dürfte wie an den Maximin-Mythos), eröffnete Wolters mit der Konzeption von Herrschaft und Dienst eine andere, weniger von der persönlichen Anwesenheit und Zuneigung des Meisters abhängige Sozialform. Wenn auch StG keinesfalls auf die Nähe einzelner, besonders geliebter Jünger verzichten wollte, so wurde ihm doch klar, dass das von Gundolf vertretene Prinzip nicht dazu taugte, um einen weiter ausgedehnten Kreis aufzubauen und diesen dann auf längere Zeit vor einer übermäßigen Konkurrenz der Jünger zu bewahren.135 Die Konzeption von Herrschaft und Dienst bahnte den Weg zu einer nach innen hierarchisch geordneten, nach außen sowohl elitär geschlossenen als auch agonal auftretenden Gemeinschaft. Um eine Art von ,ecclesia militans‘ zu werden, fehlte dem Kreis um StG allerdings noch ein außerhalb der Dichtung formuliertes Programm der Geisteshaltung und Weltanschauung. Die von Vallentin und Wolters initiierte Gründung des Jahrbuchs für die geistige Bewegung sollte genau diese Lücke schließen. Charakteristischerweise legte StG das neue Organ nicht allein in die Hände der Lichterfelder, sondern beteiligte Gundolf als – neben Wolters – zweiten Herausgeber und Wolfskehl als wichtigen Beiträger. Auf diese Weise schuf er innerhalb des Kreises eine gewisse Balance zwischen älteren und jüngeren Mitgliedern und erweckte außerhalb den Eindruck größter Kontinuität und Geschlossenheit. Das kulturpolitische Selbstverständnis des Jahrbuchs machte Wolters in seinen Richtlinien am Ende des ersten Bandes (1910) deutlich: „Kritik will nur noch verstanden werden als förderung der krise: nicht mehr als scheidung der erstarrten dinge, sondern als entscheidung für das lebendige.“136 Eine noch aggressivere Tonart schlug Gundolf im zweiten Band (1911) an: 132 Alle Zitate ebd., S. 60. 133 Ebd., S. 59. 134 Nachdem StG die ersten Abschnitte von Herrschaft und Dienst erhalten hatte, schrieb er Wolters am 19. Februar 1909, man habe das Manuskript „hier mit größtem lob und teilnahme“ gelesen (G/W, 71). In der von StG angeregten Rezension, die Karl Wolfskehl in den Süddeutschen Monatsheften veröffentlichte, wird Herrschaft und Dienst als ein Buch von „größter Wichtigkeit“ bezeichnet, „weil es die Gesinnung der nach uns kommenden Generation zu verraten scheint“. Entscheidend sei, dass die Jugend „die Erfüllung (Erlösung) nur in einem absoluten sieht; möchte es nun ein staatenumwälzender Eroberer oder ein weltenstürzender Heiland sein. Diese Generation kann ihn schon glauben“. Zit. nach G/W, S. 12. 135 Mit Recht ist in der Forschung darauf hingewiesen worden, dass die Konkurrenz der Jünger um die Nähe des ,Meisters‘ zur charismatischen Herrschaft StGs gehörte. Doch zum einen wurde die permanente Konkurrenz durch eine relativ stabile Hierarchie im Kreis eingeschränkt, zum anderen wurde das Gefühl der inneren Zusammengehörigkeit durch den Kampf gegen äußere Feinde aufrechterhalten. Ein derartiges Muster lässt sich bei vielen Sekten und ,Bewegungen‘ – darunter auch Hitlers Nationalsozialismus – beobachten. 136 Friedrich Wolters, Richtlinien, in: Jb 1/1910, S. 128–145, hier: 145.

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Die allgemeine toleranz ist eine krankheit des geistes, wie eiweisszerfall oder gehirnerweichung eine des leibes: unfähigkeit zur anverwandlung und verarbeitung der zudringenden materie. […] Der allgemeine duldende frieden ist ein müdes greisenideal. Wo jugend, wandlung, schöpfung möglich und nötig ist, da ist krieg nötig […].137

Aus diesem Selbstverständnis heraus holten die Beiträger des Jahrbuchs zum Rundumschlag gegen die mannigfachen Fehlentwicklungen in der Kultur der Gegenwart aus. Besonders häufig und hart griffen sie die positivistische Ausrichtung der heutigen Wissenschaften an,138 aber auch die kapitalistische Auffassung der Wirtschaft und die emanzipatorische Tendenz zur Gleichstellung der Geschlechter wurden einer vernichtenden Kritik unterzogen. Im Gegenzug versuchten sie Richtlinien der eigenen geistigen Bewegung zu formulieren, etwa die Lehre vom richtigen Schauen und Schaffen der ,Gestalt‘, die Orientierung am Vorbild großer Dichter und Denker, Herrscher und Täter, die Besinnung auf die griechische Antike (besonders Platon), die Bedeutung des ,Hersagens‘ von Gedichten etc. Die von StG abgesegnete Strategie des Jahrbuchs war wenigstens insoweit erfolgreich, als die Attacken auf kulturpolitische Feindbilder und die Reflexionen über weltanschauliche Richtlinien den inneren Zusammenhalt des Kreises stärkten. Natürlich führte die Arbeit am Jahrbuch auch dazu, dass sich die Beteiligten besser kennenlernten. Besonders auffällig ist die Annäherung zwischen Gundolf und Wolters, ihr persönlicher Umgang wurde herzlicher, die weltanschauliche Übereinstimmung größer. So trug das Jahrbuch einiges dazu bei, dass Jünger, die zuvor getrennte Wege gegangen waren, sich als Angehörige eines gemeinsamen Kreises verstanden und auch so zu handeln versuchten. Die Bildung eines inneren Kerns lässt sich an den in den Jahren 1909 bis 1913 häufiger werdenden Zusammenkünften der wichtigsten Jünger ablesen. Einige seien hier erwähnt. Am 14. Oktober 1912 versammelten sich in der Berliner Wohnung der Vallentins StG, Boehringer, Morwitz, Wolters und Hildebrandt: „Wolters spricht auswendig die ,Standbilder‘ (v. 58–63), Morwitz liest einige der ,Zeitgedichte‘, die StG dann von Vallentin noch ein zweites Mal lesen lässt“ (ZT, 236). Am 11. Mai 1913 – es war der Pfingstsonntag – lud StG im Münchner ,Kugelzimmer‘, das Wolfskehl für ihn angemietet und eingerichtet hatte, die Brüder Gundolf, Boehringer, Morwitz, Wolters, Vallentin, Thormaehlen und Ernst Glöckner zu einem großen Symposium: „Boehringer liest aus den ,Dante-Übertragungen‘ und Hölderlin, Vallentin aus seinen ,Zwiegesprächen vom Kaiser‘ (cf ,Blätter‘ IX), StG unbekannte Gedichte aus dem späteren ,Stern des Bundes‘“ (ZT, 240). Im Herbst desselben Jahres wohnte StG zusammen mit Morwitz in der Berliner Gaisbergstraße und arbeitete an der Fertigstellung des Sterns des Bundes. Nach mehreren kleineren Treffen, bei denen u. a. aus den Korrekturfahnen des neuen Gedichtbands gelesen wurde, übergab er Ende November (oder Anfang Dezember) Exemplare der Vorausgabe an Boehringer, Morwitz, Wolters, Thormaehlen und „einige weitere der nächsten Freunde“ (ZT, 243); eine Lesung aus dem Stern des Bundes fand möglicherweise am selben Tag statt. Über die Zusammensetzung des inneren Kreises hinaus macht diese knappe Übersicht deutlich, dass das abwechselnde ,Hersagen‘ von Gedichten des ,Meisters‘, aber auch anderer kanonisierter Autoren, sich zum wichtigsten Ritus der Georgianer entwickelt hatte. 137 Friedrich Gundolf, Wesen und Beziehung, in: Jb 2/1911, S. 10–35, hier: 25. 138 Vgl. II, 3.2.

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Dementsprechend wurde die Fähigkeit, Verse richtig zu sprechen, zu einem entscheidenden Kriterium für die Aufnahme neuer Jünger.139 Noch eines wird deutlich, nämlich die Verdrängung der Frauen an den äußeren Rand des Kreises. Noch um 1900 hatte StG eine Reihe von Freundschaften zu Frauen gepflegt, die er keineswegs als bloßes Anhängsel ihrer Männer betrachtete und duldete. Zu nennen sind vor allem Sabine Lepsius, Gertrud Simmel (1864–1938) und Gertrud Kantorowicz (1876–1945). Die Bedeutung dieser Freundschaften ist jüngst in einem Forschungsband über die Frauen um Stefan George gewürdigt worden.140 Gegen 1910 verlor StG aber zusehends das Interesse an den alten Gefährtinnen, neue Freundinnen von ähnlich großer Bedeutung kamen – mit Ausnahme von Edith Landmann und Clotilde Schlayer – nicht hinzu. In der Einleitung des dritten Jahrbuchs für die geistige Bewegung (erschienen im Oktober 1912) ließ er die Herausgeber Gundolf und Wolters eine Breitseite gegen die Emanzipation der Frau abfeuern. Hier wurde zur Richtlinie erklärt: Wir befeinden nicht die frau, sondern die ,moderne frau‘, die stückhafte, die fortschrittliche, die gottlos gewordene frau. Gerade am mehr naturhaften teil zeigt sich die moderne verderbnis am abschreckendsten. Die moderne frau hat sich herausgestellt als die treueste vorkämpferin aller fortschrittlich ungeschichtlichen, platt humanitären, flach rationalistischen und flach religiösen ideen, ja sogar einige der schlimmsten wie die theosophie und die friedensbewegung sind gerade von weibern ausgegangen. […] Mag die frau in früheren zeiten königin oder sklavin gewesen sein, jedenfalls hat sie alle helden der tat oder des geistes die wir bewundern hervorbringen können: aus diesem entsubstanziierten, losgerissenen, reflektierten geschlecht kann nie wieder ein grosser mann geboren werden. Auch hier genügt nicht zugeständnis einzelner verirrungen, übertreibungen, überspanntheiten, sondern das zugeständnis des primären frevels.141

Gertrud Simmel erkannte darin eine Erwiderung auf ihr soeben erschienenes Buch Realität und Gesetzlichkeit im Geschlechtsleben, über das sich bereits ein direktes Streitgespräch mit StG entzündet hatte, und wandte sich empört an den Freund: „Inzwischen lassen Sie mir von Ihren Jüngern das Jahrbuch – ich kann nur sagen: ins Gesicht schlagen.“142 Auf ihre in zwei Briefen wiederholten Ansichten zur Stellung der Frau, die sich nicht dem Mann als Mittler alles Geistigen und Göttlichen unterordnen müsse, reagierte StG halb versöhnlich, halb ausweichend: „Sie bezogen persönlich auf sich was für alle welt für jedermans lesen bestimmt ist.“143 Seine grundsätzliche Haltung revidierte er nicht. Im Stern des Bundes befiehlt ein Gedicht: „Mit den frauen fremder ordnung / Sollt ihr nicht den leib beflecken“ (VIII, 86). Ein anderes dekretiert: Die weltzeit die wir kennen schuf der geist Der immer mann ist: ehrt das weib im stoffe . . Er ist kein mindres heiligtum. Das weib 139 Zu den Eingangsprüfungen und Initiationsriten des Kreises vgl. Breuer 1995, S. 49ff.; Braungart 1997, S. 154ff.; ders., Meta´noia. Georges Poetik der Entschiedenheit, in: Oelmann/Raulff (Hrsg.), Frauen um Stefan George, S. 59–83, bes. 73ff.; II, 6.3. 140 Vgl. Oelmann/Raulff (Hrsg.), Frauen um Stefan George. 141 Jb 3/1912, S. V f. 142 G. Simmel an StG v. 2.12.1911, zit. nach Ute Oelmann, Das „protestantische erblaster“ und die Frauenfrage. Gertrud Simmel im Gespräch mit Stefan George, in: Dies./Raulff (Hrsg.), Frauen um Stefan George, S. 143–155, hier: 144. 143 StG an G. Simmel (Entwurf) v. vor dem 14.12.1911, zit. nach ebd., S. 151.

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Gebiert das tier · der mann schafft mann und weib Verrucht und gut ist es aus eurer rippe. Rührt nicht an sein geheimnis: ordnend innen Ist es am markte ungesetz und frevel. Wie in der Bücher Buch spricht der Gesalbte An jeder wendewelt: ›Ich bin gekommen Des weibes werke aufzulösen.‹ (VIII, 96)

In der Praxis des Kreises wurden diese Regeln und Gesetze nicht ganz so kategorisch ausgelegt. Zu Beratungen, die ,Staatsdinge‘ im engeren Sinn betrafen, wurden nur Männer hinzugezogen; ihre Frauen oder Freundinnen durften an Gesprächen, Lesungen und Ähnlichem teilnehmen, solange sie sich im Hintergrund hielten. Ein Ausdruck der einzigartigen Achtung, in der Edith Landmann (1877–1951) bei StG stand, war die Aufnahme ihres philosophischen Werks Transcendenz des Erkennens (1923) in die mit der Swastika gekennzeichnete Reihe der offiziellen ,Geistbücher‘ oder ,Staatsschriften‘ des Kreises. Der zu Beginn des Jahres 1914 veröffentlichte Stern des Bundes war StGs dichterischer Beitrag zum Aufbau des Kreises, dessen soziale Formierung und ideologische Programmierung er zugleich dokumentierte und manifestierte. Von daher stellt er auch die dichterische Summe der Kreisbildung dar. StG hat die Gedichte des Bandes zwischen 1907 und 1913 geschrieben, wobei die meisten in den Jahren 1910/11 entstanden. Es sollte die letzte Phase einer größeren dichterischen Produktion in seinem Leben sein. Aus dem vorliegenden Material komponierte er einen genau 100 Gedichte umfassenden Band, dessen Gliederung hier charakterisiert sei: Der Eingang ruft die – im Maximin-Zyklus des Siebenten Rings stattfindende – Erscheinung des Gottes in Erinnerung, ohne dass der Gott beim Namen genannt wird. Im Ersten Buch blickt der Dichter auf die Vergangenheit zurück: In der ersten Zehnergruppe rekapituliert er das eigene Schicksal bis zum heutigen Zeitpunkt, wo er als Künder des neuen Gottes fungiert, in der zweiten Zehnergruppe wettert er gegen die Zeit, die ohne Gott war, in der dritten rechnet er mit den ehemaligen Gefährten ab, die den Gott in einer falschen Gestalt gesucht haben – gemeint sind vor allem die Münchner Kosmiker. Im Zweiten Buch vollzieht sich der Aufbau des heiligen ,Bundes‘ im Geiste des neuen Gottes: In den ersten beiden Zehnergruppen sprechen zwei unterschiedliche Typen von Jünglingen mit dem Dichter-Lehrer, durch den sie auf den richtigen Weg geleitet und in die Geheimnisse des heiligen Lebens eingeweiht werden. In der dritten Zehnergruppe werden ewige Augenblicke des mit dem Gott erfüllten Daseins gepriesen. Das Dritte Buch birgt die Gesetzestafeln des neuen Bundes: Stellt in den ersten beiden Zehnergruppen der Dichter-Lehrer eine Reihe von Geboten und Verboten für den ,neuen Adel‘ auf, so kommen in der letzten Zehnergruppe einzelne Jünger zu Wort, die ihr Leben ganz dem ,heiligen ziele‘ widmen. Im Schlusschor stimmt die Gemeinschaft der Gläubigen unisono den Lobpreis des Gottes an. Gundolf hat in seinem Buch George gesagt, der Siebente Ring sei die Offenbarung des Göttlichen, der Stern des Bundes die Lehre eines Glaubens. Für ihn, der dem ,Meister‘ lange als einzelner Jünger gefolgt war, hatte der Siebente Ring mit seiner Mythologie des Eros höhere Bedeutung; den meisten der nach 1904 hinzugekommenen Mitglieder des Kreises lag der Stern des Bundes näher. Nicht nur durften sie sich persönlich durch bestimmte Gedichte des Bandes angesprochen und gewürdigt

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fühlen, sie erkannten auch ihre gemeinschaftlichen Lebens- und Denkformen in den sokratischen Gesprächen, kultischen Riten und kulturpolitischen Direktiven wieder, die insgesamt das zweite und das dritte Buch prägen. StG ging es freilich darum, möglichst viele Ansichten von dem, was das Wesentliche an seiner geistigen Mission sei, in der Konzeption des Sterns des Bundes zu integrieren, um so die Geschlossenheit des Kreises zu erhöhen. Tatsächlich gelang es ihm, die von Gundolf vertretene Auffassung des göttlichen Eros, die von Morwitz eingenommene Haltung des pädagogischen Eros und die von Wolters propagierte Richtung des kulturpolitischen Kampfes miteinander zu verknüpfen, indem er sie als Stadien einer großen geistigen Bewegung darstellte. Am Ende dieser im Gedichtband modellhaft durchlaufenen Bewegung sollte die geistige Gemeinschaft aller Jünger stehen, die sich im Schlusschor hymnisch artikuliert.

1.10. Die Zäsur: Die Zeit des Ersten Weltkriegs Die Arbeit am Stern des Bundes, an der StG – ganz anders als bei seinen früheren Gedichtbänden – gleich mehrere Freunde teilhaben ließ, muss ihm wie die wechselseitige Durchdringung und Befruchtung von Dichten und Leben erschienen sein. Und vielleicht verband sich mit ihr nicht nur das Gefühl neuer Kreativität, sondern auch die Hoffnung, die bisherige Einsamkeit zu überwinden. Die Lesungen des Sterns des Bundes im Kreise der liebsten Jünger waren Augenblicke des erfüllten Daseins und ein Versprechen für eine gemeinsam gelebte und gestaltete Zukunft. Diese Hochstimmung scheint durch den von StG sicherlich betrauerten Tod seiner Mutter im Dezember 1913 nicht eingetrübt worden zu sein, zu geborgen fühlte sich StG inmitten des Kreises. Auch den aus dem Tod der Mutter resultierenden Verlust des Hauses in Bingen, mithin des bislang wichtigsten Ortes der Ruhe und Konzentration, konnte StG in dieser Zeit verschmerzen. Nach der Beendigung des Sterns des Bundes versiegte die dichterische Produktion wieder, die persönlichen Kontakte mit den Jüngern nahmen aber nicht ab. Die Chronik von StGs Leben in der Zeittafel belegt, dass er im Jahr 1914 fast jeden Tag mit einem oder gleich mehreren aus dem Kreis der Seinen zusammentraf. Zu seinen eigenen Besuchen bei Gundolf in Darmstadt und Heidelberg, Wolfskehl in München, Morwitz in Berlin und Vallentin in Spremberg kam hinzu, dass er Jünger, die sich nicht sowieso am selben Ort aufhielten, einlud, dorthin zu reisen. Als er im März 1914 zusammen mit Karl Wolfskehl in Camogli (Italien) weilte, durfte ihm Hans Brasch (1892–1950) Gesellschaft leisten; im Juli 1914 verbrachte er die Sommerferien in Saanenmöser (Schweiz) zusammen mit Julius und Edith Landmann, Friedrich Wolters und dessen jungem Freund Balduin Waldhausen (1893–1920). In der Schweiz erreichte ihn Anfang August die Nachricht vom Ausbruch des Kriegs. Während die meisten seiner Jünger den Krieg als geistige Reinigung der deutschen Nation und der europäischen Menschheit begrüßten und sich einige als Freiwillige zu den Waffen meldeten, ließ sich StG nicht mitreißen. Gundolfs Briefe, die in Begeisterung schwelgten und zur Rückkehr nach Deutschland mahnten,144 beantwor144 Vgl. F. Gundolf an StG v. 25.7.1914, in: G/G, S. 253: „Zum erstenmal seit ich denken kann, seh ich europäische Menschheit und Massen nicht mehr um Gewinn und Verlust, Geschäft und

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tete er zunächst in einem nüchternen, stellenweise leicht spöttischen Ton, der das Kriegspathos gezielt unterläuft. So am 13. August: [N]ichts wird so heiss gegessen als es gekocht wird. Ich sehe keinen grund vorläufig in eile die Schweiz zu verlassen […]. Am meisten würde mich zu wissen verlangen wie lange du etwa in Darmstadt bleibst. Ich würde dann statt über München über Darmstadt nach Berlin fahren. Nur von Rob. [Robert Boehringer] ist eine nachricht eingelaufen von den andren noch nichts. Wolters ist in Berlin. Ist Deine Mutter + Ernst in Darmstadt zurück? Herzliches an Alle145

Und ähnlich, noch immer aus der Schweiz, am 26. August, einen Tag vor seiner Abreise nach München: Auch der aufenthalt in der Schweiz hatte sein gutes – eine schöne sachlichkeit! und ich rufe euch allen zu: ob es gut oder schlecht ausgeht: – das schwierigste kommt erst hintennach! Herzliches an alle.146

Als sich Gundolf – ähnlich wie Wolters und Wolfskehl – in eine Verherrlichung des „deutschen Geistes“ und des „deutschen Reichs“, deutscher „Heldenhaftigkeit“ und deutscher „Tucht“ hineinredete und gleichzeitig die französischen, britischen und russischen Kriegsgegner verunglimpfte,147 sah sich StG zu einer deutlicheren Stellungnahme gezwungen: Nach dem Krieg kann alles was Dich so begeistert hat wie weggeblasen sein und wer tut und sagt dann das notwendige wenn Ihr nicht da seid? Du redest die Sprache der Begeisterung; sie ist jugendlich und immer schön und wer die Sprache der Vernunft redet erscheint dem Begeisterten kalt und nüchtern. Aber die Begeisterung allein macht nicht die Dinge. […] Was die Jugendlichen angeht so würde ich keinen auch wenn ich ihn noch so sehr liebte und wenn ich es könnte vom Kriege abhalten. Darin liegt etwas von dem Geschick was wir alle gemeinsam tragen. Aber wer nicht nur den schönen Ansturm liebt sondern um das künftige Schicksal seines Volkes besorgt ist der muss schon jetzt alles das bedenken was er für die nächste Zukunft voraussieht. Jeder dient dem Ganzen am besten auf dem ihm zukommenden natürlichen Platz.148

Thomas Karlauf, der die Zeit des Ersten Weltkriegs in seiner Biographie weitgehend ausspart, hat, ein Wort von Gershom Scholem über das Gedicht „Der Krieg“ variierend,149 die Haltung StGs so zusammengefasst: „Dieser Krieg, das machte er immer

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Geschwätz, sondern Sein oder Nichtsein erregt, zum erstenmal wohl mit Recht.“ F. Gundolf an StG, wohl v. 30.7.1914, in: ebd., S. 255: „Was auch kommt, Geschäft, Geschwätz und Spielerei haben ein Ende, und das Grauen ist besser als die Leere – das was uns Ewigkeit ist wird durch diesen Augenblick nicht vernichtigt, sondern bestätigt, da auch über die Kleinsten, Stumpfsten ein Schauer des Ungeheuren kommt!“ F. Gundolf an StG v. 14.8.1914, in: ebd., S. 256: „Ich erwarte jetzt stündlich meine Einziehung zum Landsturm, und freue mich endlich am rechten Platz in diesen Tagen zu stehn. Denn eh die Deutschen gesiegt haben hat nichts einen Sinn und Bestand, was man denken und sinnen kann, und alles Tun hat nur die Eine Aufgabe Siegen um jeden Preis! Es bekümmert mich dass Du in diesen Tagen ausser Landes und nicht bei uns sein musst.“ StG an F. Gundolf v. 13.8.1914, in: ebd., S. 256. StG an F. Gundolf v. 26.8.1914, in: ebd., S. 258. F. Gundolf an StG v. 30.8.1918, in: ebd., S. 259. StG an F. Gundolf v. 19.9.1914, in: ebd., S. 260f. Vgl. Gershom Scholem an Werner Kraft v. 21.9.1917: „Das Kriegsgedicht […] ist wohl eine versifizierte Flugschrift mit dem ungeschriebenen, aber deutlichen Titel: was geht mich das an?“ Gershom Scholem, Briefe an Werner Kraft, hrsg. v. Werner Kraft, Frankfurt/M. 1986, S. 30.

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aufs Neue deutlich, ging ihn nichts an.“ Und noch pointierter: „Der Krieg findet in der Welt Georges nicht statt.“150 Das ist eine missverständliche Verkürzung. Im Gegensatz zu einer Vielzahl von deutschen Intellektuellen,151 die den Krieg entweder als Ausdruck oder aber als Mittel einer geistigen Auseinandersetzung betrachteten und den Triumph der deutschen Kultur über die westliche Zivilisation und die östliche Barbarei prophezeiten, hatte StG von Anfang an eine vergleichsweise realistische Sicht. Er rechnete mit Massen von Gefallenen und Verstümmelten, machte den Erfolg der Waffen nicht von der Überlegenheit des Geistes abhängig und zweifelte umgekehrt daran, dass ausgerechnet der Materialismus des modernen Krieges zu einem neuen Idealismus führen werde. Schwadronierten andere Schriftsteller und Wissenschaftler über das deutsche Heldentum, das sich in der Geschichte immer wieder bewiesen habe, so sprach StG von der deutschen Politik der Gegenwart und konstatierte: „eine maasslose dummheit der deutschen Staatskunst hat diesen krieg so gefährlich gemacht, und diese dummheit wird im lager wo sie gemacht wurde auch weiter grassieren! Wenn hier nicht eingeschritten wird.“152 Es stimmt allerdings, dass StG sich nicht besonders für den Krieg interessierte, weil er in ihm nur eine Störung des eigenen Lebens- und Wirkkreises sah. Die an Gundolf gerichtete Frage, „und wer tut und sagt dann das notwendige wenn Ihr nicht da seid?“, drückte die Sorge um den Fortgang der ,geistigen Bewegung‘ aus. Wie berechtigt diese Sorge war, sollte sich in den folgenden Jahren zeigen. Der Krieg führte dazu, dass immer mehr Jünger zum Dienst eingezogen wurden, die sich deswegen kaum noch um die Belange des ,Meisters‘ kümmern konnten. Beispielsweise waren Wolters und Morwitz ab 1914 als Soldat bzw. Sanitäter im Einsatz. Als erstes Mitglied des Kreises fiel Heinrich Friedemann, der Verfasser eines für die Georgianer wichtigen Platon-Buchs, im Februar 1915. Norbert von Hellingrath, der Entdecker der späten Hölderlin-Fragmente, starb im Dezember 1916, sein Freund Wolfgang Heyer im Oktober 1917. Dass der vierte Band des Jahrbuchs für die geistige Bewegung im Jahr 1914 nicht mehr erschien, lag freilich nicht an einem Mangel an Beiträgern und Aufsätzen. Vielmehr schien die Zeit für eine solche Publikation ungeeignet zu sein, da der Krieg das gesamte Interesse des Publikums okkupierte. Kurz dachten die Herausgeber über eine spezielle Kriegsausgabe nach, dann entschieden sie sich für die Einstellung des Jahrbuchs. Als Konkurrent der ,geistigen Bewegung‘ war der Krieg unschlagbar. Ein egozentrischer Grund, der StGs Haltung zum Krieg entscheidend mitbestimmt haben dürfte, tritt in späteren Äußerungen zutage. Der Krieg entführte ihm die Jünger, die er nötiger hatte denn je. Ernst Glöckner, der für StG mangels anderer Freunde zum täglichen Gesprächspartner in München wurde, notierte über eine Unterhaltung im Februar 1916: Was er über sich sagte diesmal, machte einen unglaublich tiefen Eindruck. Er wird immer einsamer, zieht den Ring um sich immer enger. Es muß Stunden geben, in denen er sich nicht mehr aushält. […] Sehr beschäftigt ihn die Wohnungsfrage, da Wolfskehl wahrscheinlich aufs Land zieht, und er überhaupt nicht mehr gut mit Wolfskehl zu stehen scheint […]. Er 150 Karlauf 2007, S. 459. 151 Vgl. Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000. 152 StG an F. Gundolf v. 5.10.1914, in: G/G, S. 263.

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sprach von früher, wo er wochenlang ganz allein sein konnte und glücklich war; jetzt kann er das nicht mehr; ,ich muß Menschen um mich haben, die mich verstehen, bei denen ich leben kann, wie es mir am bequemsten ist; und hier habe ich so wenige; es genügt mir nicht.‘ (EG/EB, 74f.)

Als im Oktober 1916 die Einberufung von Gundolf bevorstand, schrieb StG: „Mein kind ich kann nicht zulassen dass Du wirklich den äussersten gefahren ausgesezt wirst – was soll ich denn ohne dich?“153 Im übernächsten Satz wird klar, dass er zudem befürchtete, seine üblichen Aufenthalte in Darmstadt und Heidelberg aufgeben zu müssen: Übrigens Seele was soll ich denn anfangen wenn Dich die Preussen in Saarlouis da behalten. Was meinen übrigens Gotheins? hast Du sie gefragt? Gibt es dann eine möglichkeit für mich in Darmstadt oder Heidelberg zu bleiben? … Wie denkst Du Dir das für jenen fall? (G/G, 288f.)

Die Rhetorik verdeckt kaum, dass die Sorge weniger dem Heil des ,kindes‘ galt. StG fürchtete vorrangig um sein eigenes Wohlbefinden und forderte, auch Gundolf möge zuerst an ihn denken. Der Appell klingt fast panisch, so sehr sah er um 1916 seine gewohnte Lebensweise gefährdet, ohne die er psychisch labil wurde. Immer häufiger klagte StG darüber, dass er das Alleinsein nicht mehr aushalte. In Berlin, wo er seit 1915 nicht mehr bei einem der Jünger wohnen konnte, sondern mit dem Verleger Bondi und seiner Familie vorlieb nehmen musste – dafür gab es dort immer etwas Anständiges zu essen und zu trinken –, fehlte ihm besonders Morwitz. Die ersten Tage, so berichtet er einmal, seien schwer gewesen: „jezt aber hat die gewohnheit alles geregelt und ich denke dass ich hier durchhalten kann.“154 Etwas besser ging es ihm, weil die von ihm selbst gerufenen oder aber von anderen geschickten „S. S.“ – damit sind ,Staatsstützen‘ des Kreises gemeint – „nach und nach hierher kommen“155 und ihn regelmäßig besuchten. Der ,Meister‘, der eigentlich den Jüngern Halt geben sollte, benötigte nun umgekehrt ihren Zuspruch. Von einer Verdüsterung der Seele spricht die erste Hälfte eines wahrscheinlich im Frühjahr 1916 entstandenen Gedichts, das nach dem Krieg als zweites der drei „Gebete“ veröffentlicht wurde: In wilden wirren · schauerlichem harren Auf eine mär von trümmern und von tränen Auf einen toten-ruf . . wohin entfliehen Dass ich das fest der erde frei begehe? Mir bangt dass ich umwölkt von frost und starre Auf die Verkündung minder tief vertraute Und · was als eifer treibt in meine tage · In dumpfen stoff mein feuer nicht mehr presste . . Dass mir der schönsten leuchten führung fehlte Und ich mich rückwärts in die nacht verlöre. (IX, 39)

Die Depression, in die StG abgeglitten zu sein scheint, wurde durch zwei weitere, möglicherweise miteinander zusammenhängende Faktoren verschlimmert. Im Juli 153 StG an F. Gundolf v. 31.10.1916, in: ebd., S. 288. 154 StG an F. Gundolf v. 6.10.1916, in: ebd., S. 284. 155 StG an F. Gundolf v. 20.10.1916, in: ebd., S. 285.

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1915 wurde StG erstmals so krank, dass er mehrere Wochen in einer Heidelberger Klinik liegen musste. Seitdem war seine körperliche Gesundheit angeschlagen. Im September 1918 wurden bei einer urologischen Untersuchung Blasensteine gefunden, die immer wieder starke Schmerzen verursachten und zu einer fortschreitenden Schädigung der Nieren führten. Zugleich machte StG eine schöpferische Krise durch, wie eine Gesprächsnotiz Glöckners vom 1. Juni 1916 bezeugt: „Er leidet darunter, dass ihm seit seiner Krankheit nichts mehr so recht gelungen ist“ (EG/EB, 89). Auch diese Krise hielt an. Im August 1918, so berichtet Kurt Singer, habe StG über sich selbst gesagt, er sei zum Arbeiten unfähig, er fühle sich zerrissen.156 Tatsächlich kann man fragen, womit sich denn StG in dieser Zeit beschäftigte, wenn er nicht gerade Gespräche mit Jüngern führte oder Bücher aus dem Kreis las. Im Gegensatz zu den früheren Jahren gab es keine längeren Phasen intensiver und produktiver Arbeit, ja, es fehlte sogar an größeren Vorhaben. 1914/15 setzte sich StG einige Tage lang an die Überarbeitung der Schlegel-Tieckschen Übersetzung von Shakespeares Wintermärchen und Sommernachtstraum. Später wendete er sich sporadisch der Übertragung von weiteren Stellen aus Dantes Göttlicher Komödie zu. Dann und wann entstand ein kleines Gedicht oder ein kurzer Spruch. Allerdings trug StG kontinuierlich zur Entstehung von Gundolfs Goethe bei und las schließlich die Korrekturen des Buches, das 1916 erschien. Im ersten Halbjahr 1917 schrieb StG das einzige umfangreichere Werk dieser Zeit, die im prophetischen Ton von Dante und Hölderlin gehaltene Dichtung „Der Krieg“. Sie wurde, ein kalkulierter Kontrast, wie eine politische Flugschrift gedruckt. In „Der Krieg“ lässt StG die Figur des ,Siedlers auf dem Berg‘ sprechen, der auf die Frage, „Liegst du noch still beim ungeheuren los?“ (IX, 22), antwortet, dass er das ganze Geschehen lange vorhergesagt habe, er aber am „streit wie ihr ihn fühlt“ nicht teilnehme: Nie wird dem Seher dank . . er trifft auf hohn Und steine · ruft er unheil – wut und steine Wenn es hereinbrach. Angehäufte frevel Von allen zwang und glück genannt · verhehlter Abfall von Mensch zu Larve heischen busse . . Was ist ihm mord von hunderttausenden Vorm mord am Leben selbst? Er kann nicht schwärmen Von heimischer tugend und von welscher tücke. Hier hat das weib das klagt · der satte bürger · Der graue bart ehr schuld als stich und schuss Des widerparts an unsrer söhn und enkel Verglasten augen und zerfeztem leib. (IX, 23)

Die sich über 11 der 12 Strophen des Gedichts erstreckende Antwort des Sehers, dessen Amt „lob und fem · gebet und sühne“ (IX, 23) sein soll, ist zum größten Teil eine Schelt- und Fluchrede über die Verkommenheit der europäischen Menschheit, die die völlige Zerstörung durch den Krieg verdient hätte. Doch in den beiden Schlussstrophen vollzieht sich eine überraschende (und rhetorisch effektvolle) Wendung, 156 Vgl. Kurt Singer, Aus den Erinnerungen an Stefan George, in: Die Neue Rundschau 68/1957, 2, S. 298–310, hier: 309.

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denn der Seher verheißt eine Erlösung, deren Trägerin niemand anderes als die im deutschen Land heimische und wieder vom deutschen Geist erfüllte Jugend sei: Wo flöte aus dem weidicht tönt · aus hainen Windharfen rauschen · wo der Traum noch webt Untilgbar durch die jeweils trünnigen erben . . Wo die allblühende Mutter der verwildert Zerfallnen weissen Art zuerst enthüllte Ihr echtes antlitz . . Land dem viel verheissung Noch innewohnt – das drum nicht untergeht! Die jugend ruft die Götter auf . . Erstandne Wie Ewige nach des Tages fülle . . Lenker Im sturmgewölk gibt Dem des heitren himmels Das zepter und verschiebt den Längsten Winter. Der an dem Baum des Heiles hing warf ab Die blässe blasser seelen · dem Zerstückten Im glut-rausch gleich . . Apollo lehnt geheim An Baldur: ›Eine weile währt noch nacht · Doch diesmal kommt von Osten nicht das licht.‹ (IX, 26)

Jeder, der mit StGs Œuvre vertraut war, erkannte den Siedler-Seher nicht nur als Persona oder Maske des Dichters, sondern verstand in den beiden Schlussstrophen auch die Verweise auf die Mythopoetik seiner Werke: von den griechisch-römischrheinischen Flusslandschaften, die im Siebenten Ring als „Ursprünge“ (VI/VII, 116) besungen wurden, bis zur dionysisch-apollinischen und auch nordischen Gottgestalt des Maximin. Die Mehrheit der nicht eingeweihten Leser von „Der Krieg“ mochte immerhin erahnen, dass das künftige Heil nur von der durch StG geleiteten und geformten Jugend zu erwarten war. Die nach dem Juli 1918 geschriebenen Verse „Der Dichter in Zeiten der Wirren“, die das Andenken des Grafen Bernhard von Uxkull verklären (und dabei seine zusammen mit Adalbert Cohrs versuchte Fahnenflucht und den anschließenden Freitod der beiden Freunde völlig verdrängen), bekräftigen die Hoffnung auf ein „jung geschlecht“, aus dem eines Tages ein neuer „Herr“ und das „Neue Reich“ hervorgehen würden (IX, 27–30, hier: 30). Ob diese bereits im Stern des Bundes enthaltenen Verheißungen auf die durch die Erfahrungen des Kriegs geprägte Generation noch überzeugend wirkten, müsste anhand von Rezeptionszeugnissen genauer untersucht werden. Die von Karlauf angeführten Belege sprechen dafür, dass 1917 zumindest noch die in „Der Krieg“ formulierte Zeitkritik mit großer Zustimmung in der deutschen Öffentlichkeit aufgenommen wurde. Die Konzeption des Dichter-Sehers und die darauf gegründete Heilslehre fand nach dem Zusammenbruch von 1918 deutlich weniger Resonanz, sie erschien vielen als Vorkriegsmodell.157 Die 1920 von Kurt Pinthus herausgegebene Anthologie Menschheitsdämmerung, eine Sammlung expressionistischer Lyrik, traf weit eher den Nerv der Kriegsgeneration. 157 Vgl. Karlauf 2007, S. 506–511, hier: 509. Das folgende Zitat aus einem Artikel des Kunstwart zum 50. Geburtstag StGs im Juli 1918: „Was man auch für Hoffnungen auf die geschichtsbildende, weitwirkende Kraft der Georgeschen Gründung gesetzt haben mag, sie sind samt und sonders erledigt.“

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Mit der Arbeit an „Der Krieg“ versuchte StG nicht zuletzt, sich selbst aus der niedergeschlagenen Stimmung zu befreien, an der er während der Kriegsjahre litt. Seine Anstrengung ist den Versen anzumerken. Aber immerhin gelang ihm der Beweis, dass er noch die Kraft zu einem dichterischen Werk besaß, ohne das er vielleicht auch den Glauben an den Fortgang der geistigen Bewegung verloren hätte.

1.11. Der alternde Meister und der verjüngte Kreis: Vom 51. bis zum 60. Lebensjahr Den Herbst 1918 verbrachte StG in Berlin, wo er sich zunächst wieder für Wochen in eine Klinik begeben musste. Anschließend erholte er sich bei Bondi, dessen Villa im vornehmen Grunewald lag. Hier erfuhr er vom Kriegsende und bekam, wenn auch aus sicherer Distanz, die Kämpfe zwischen Revolutionären und Konterrevolutionären mit. Unter seinen Jüngern gab es Sympathisanten des einen und des anderen Lagers. Angeblich haben sich Morwitz und Boehringer so heftig gestritten, dass StG besorgt meinte: „beinahe wäre etwas Schreckliches passiert – zwei Glieder des Kreises hätten sich fast um der Politik willen entzweit“ (KH, 105). Genauso wie während des Krieges hielt er sich aus dem aktuellen Geschehen heraus. Am Tag des Waffenstillstands schrieb er an Wolfskehl: „Für irgend eine betätigung halte ich die stunde für noch nicht gekommen.“158 Dieser Maxime blieb er treu, als er an der Jahreswende 1918/19 nach München umzog, wo sich andere Schriftsteller für oder gegen die Räterepublik engagierten. Aus seiner Auffassung des ,Amtes‘, das er als dichterischer Führer der ,geistigen Bewegung‘ wahrnehmen musste, war es völlig konsequent, dass er sich auf die Wiederbelebung des Kreises konzentrierte. Denn nur der Kreis könnte der Keim jenes irgendwann kommenden ,Neuen Reiches‘ sein, für das der Untergang des alten Deutschland den Freiraum geschaffen hatte. Bezeichnenderweise war das Erste, was StG für nötig hielt, die Fortsetzung der BfdK (und nicht die Weiterführung des Jahrbuchs für die geistige Bewegung, die zwar geplant wurde,159 aber dann unterblieb). Von der Zeitschrift, die er zu Beginn seines dichterischen Wegs gegründet hatte, war im November 1914 die zehnte Folge erschienen, die erstmals auf die Angabe der individuellen Verfasser verzichtete und sich so als ein gemeinsames Werk des Kreises präsentierte.160 Nach der kriegsbedingten Unterbrechung wurde die elfte/zwölfte Folge in gleicher Weise zusammengestellt. Wieder sollte die dichterische Potenz des Kreises vorgeführt und sein Anspruch auf geistige Führung bekräftigt werden. Zusammen mit der Vorrede ist der ganze Band im Sinne einer erneuten Positionierung des Kreises zu lesen, wie Steffen Martus herausgearbeitet hat: StG setzte alles daran, dass die letzte Folge zwar auch die aktuellen Geschehnisse kommentiert – StG selbst hatte schließlich viele Verluste zu beklagen und rückte eine Reihe Gedichte ,An die Toten‘ ein […]. In dieser konkreten Bewältigung der Krisensituation sollten sich die

158 StG an K. Wolfskehl v. 11.11.1918, StGA. 159 Zum Jahrbuch-Plan von 1920 vgl. Kolk 1998, S. 450–454. 160 Beiträger waren neben StG selbst Ernst Bertram, Ernst Gundolf, Friedrich Gundolf, Ernst Morwitz, Saladin Schmitt, Berthold Vallentin, Karl Wolfskehl und Friedrich Wolters.

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BfdK jedoch bei Weitem nicht erschöpfen. Noch immer tritt die Zeitschrift als Gegenkraft zu den beherrschenden Mächten der Gegenwart auf.161

Der wichtigste Punkt dieser Positionierung war, dass StG die von vielen erhobene Forderung, der Dichter müsse sich verstärkt den drängenden Fragen der Zeit zuwenden, abwies und umgekehrt wieder die Aufgabe, in die tiefsten Gründe des Lebens zu schauen, betonte. Der von Martus beobachtete „Rückzug auf das Gebiet der Dichtung“162 war jedoch lediglich eine Akzentverschiebung innerhalb der polaren, zwischen dichterischer Versenkung (Mythopoetik) und geistiger Bewegung (Geistpolitik) hin- und hergleitenden Konzeption StGs. Zu Pfingsten 1919 lud StG ausgesuchte Jünger zu einem größeren Treffen nach Heidelberg ein. Zu diesem Zeitpunkt sollte eigentlich der neue Band der BfdK vorliegen, der sich dann aber bis Dezember verzögerte. Entscheidend für die Wahl des Termins war die symbolische Bedeutung des Pfingstfestes, an dem die Christen die Ausgießung des heiligen Geistes und die Gründung der Kirche feiern. Natürlich wollte StG auch darauf verweisen, dass die letzte Versammlung der engsten Jünger am Pfingstsonntag 1913 stattgefunden hatte.163 Das sogenannte ,Seelenfest‘ zwischen dem 7. und 9. Juni 1919 war die Inszenierung eines an die Vorkriegsjahre anknüpfenden Neubeginns. Die Versammlung fand in der Villa Lobstein (Schloßberg 55) statt, wo Gundolf seit Anfang des Jahres zwei Zimmer – eins für sich, eins für StG – gemietet hatte und zusätzlich ein Saal zur Verfügung stand. Von den Beiträgern der BfdK kamen Morwitz, Vallentin, Glöckner, Thormaehlen, Ernst Gundolf, Erich Boehringer, Woldemar Uxkull und Percy Gothein. Wolfskehl, Wolters, Robert Boehringer, Saladin Schmitt und Hans Bernhard von Schweinitz fehlten, weil sie verhindert – das galt zumindest für Wolters und Robert Boehringer – oder gar nicht eingeladen waren. Im Laufe der drei Tage wurden zahlreiche Gedichte und einige Aufsätze vorgelesen. Man spazierte gemeinsam im Schlosspark und ging zu zweit oder zu dritt in die Altstadt hinunter. Den ,Novizen‘ Erich Boehringer, Uxkull und Gothein wurde reihum die besondere Ehre zuteil, den ,Meister‘ nach seinem Mittagsschlaf wecken zu dürfen. Am Pfingstsonntag entstanden einige Fotografien der Teilnehmer. Nach der Abreise berichtete Glöckner seinem Freund Ernst Bertram und schwärmte: Den Meister in dieser Schar zu sehen, auf dem Platz, gehört wohl zum Unwahrscheinlichsten, was man in dieser Welt sehen kann. Er sah glänzend aus; alle Heiterkeit des Vollendeten und Vollkommenen strahlte von seinem Gesicht; und hättest Du ihn gesehen und jene um ihn, Du hättest mit mir gesagt: dies ist die neue Welt.164

Das Pfingsttreffen sollte zeigen, dass der Kreis wieder eine lebendige Gemeinschaft war und mit neuer Kraft der Zukunft entgegenging. Doch der äußere Schein trog, denn ausgerechnet der innere Kern bröckelte. Fast gleichzeitig verschlechterten sich 161 Steffen Martus, Geschichte der ,Blätter für die Kunst‘ (I, 3.6., S. 361). 162 Ebd., S. 362. 163 Die Inszenierung stimmt nicht ganz mit der Realität überein. Ludwig Thormaehlen berichtet in seinen Erinnerungen von einer um den 5. November 1916 in seinem Berliner Atelier veranstalteten Lesung, an der neben ihm Gundolf, Morwitz, Vallentin, Robert Boehringer und Walther Greischel teilgenommen hätten. Allerdings: StG sei erst spät aus Grunewald gekommen und „gegen seine Gewohnheit allein und als erster“ gegangen (LT, 148). 164 E. Glöckner an E. Bertram v. 14.6.1919, in: EG/EB, S. 130.

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StGs Beziehungen zu Wolfskehl, Friedrich Gundolf und Robert Boehringer. Die Freundschaft mit Wolfskehl, die ihre besten Zeiten um die Jahrhundertwende schon lange hinter sich hatte, war während des Krieges weiter abgekühlt. Zwar wohnte StG damals noch immer in dem von Wolfskehl angemieteten Kugelzimmer, wenn er sich in München aufhielt. Aber auffälligerweise traf er sich fast jeden Tag mit Glöckner, der aus seinen gelegentlichen Sätzen über Wolfskehl auf eine Entfremdung zwischen den beiden schloss. Kurz vor Kriegsende kaufte Wolfskehl dann ein großes Landhaus in Kiechlinsbergen am Kaiserstuhl – Pläne dafür gab es bereits seit 1911165 – und kündigte die Münchner Wohnung in der Römerstraße 16 zum 1. April 1919. Da sich der Mietvertrag für das Kugelzimmer nicht, wie eigentlich beabsichtigt, auf StG überschreiben ließ, verlor StG seine gewohnte – und bislang von Wolfskehl bezahlte – Unterkunft in München.166 Dass ihn dieser Eingriff in sein Leben tief verletzte, kann man vermuten. Hat er Wolfskehl überhaupt zum Pfingsttreffen eingeladen? Oder war Wolfskehl umgekehrt dem Ruf nicht gefolgt? Einen Monat nach dem Treffen, am 13. Juli 1919, schrieb Wolfskehl StG einen Geburtstagsbrief, in dem es heißt:

165 Vgl. H. Wolfskehl an StG v. 8.6.1911, StGA. 166 Erst ab 1924 kam StG wieder für kürzere Aufenthalte nach München.

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Meister gestern hab ich den Tag tief in Ihrem Geiste verbringen dürfen. Ja, ja ich bleibe der Flamme Trabant Und immer bin ich da wenn Sie rufen! Sie haben mir durch Gundolf sagen lassen ich dürfe Sie diesen Sommer sehen: lassen Sie mich bitte noch wissen wo ich Sie sei es Ende dieses Monats sei es im August aufsuchen darf. Ohnedem komm ich im August nach Darmstadt aber zu jeder andern Zeit auch bin ich da und gewärtig. In Verehrung bin ich Ihr Karl167

Zu diesem Zeitpunkt war StG bereits in die Schweiz abgereist, wo er bis Ende August 1919 blieb. Aber auch in den nächsten Monaten, ja sogar Jahren kam es zu keiner Begegnung. StG ist niemals zu einem Besuch nach Kiechlingsbergen gekommen, obwohl der Ort beinahe auf seinem Reiseweg in die Schweiz lag. Und Wolfskehl, der in der Inflation fast sein gesamtes Vermögen verloren hatte, zog 1922 nach Florenz, um dort als Hauslehrer seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Als er 1924 nach München zurückkehrte, arbeitete er, weil er Geld brauchte, als Journalist für die von StG verachtete Tagespresse. Viel tiefer konnte er in den Augen des Dichters nicht sinken. Im Verhältnis zu Gundolf hatte es 1916/17 erste Dissonanzen gegeben, weil StG die ständigen Liebesaffären seines Jüngers missbilligte. Am 29. Februar 1916 kündigte er an, er wolle nächstes Mal noch eingehend über „weibs-sachen“ reden, denn „dies geistige ziellose und verantwortungslose beschlafen jenes geschlechts bringt noch schädlichere folgen als körperliches“. An sich seien Frauen zwar eine „Privatangelegenheit“, sie dürften aber nicht die Staatsdinge des Kreises stören.168 Gut ein Jahr später drohte StG mit der Beendigung der Freundschaft, wenn Gundolf seine Absicht wahr mache, die von ihm schwangere Geliebte Agathe Mallachow zu heiraten.169 Gundolf gab umso leichter nach, als er sich inzwischen stärker für Elisabeth Salomon interessierte.170 Die zunächst gebilligte Beziehung zu dieser Frau empfand StG zunehmend als Gefahr, als ihm klar wurde, dass sie über eine gewöhnliche Affäre weit hinausging. Gerade in der Zeit des Pfingsttreffens 1919 setzte er Gundolf direkt und indirekt unter Druck, sich endlich aus der emotionalen Abhängigkeit und der sexuellen Hörigkeit gegenüber ,Elli‘ zu befreien. Er beauftragte u. a. Edgar Salin, Einfluss auf Gundolf zu nehmen, und machte dadurch, dass er Gundolf nicht mehr die Korrekturen für die BfdK lesen ließ, den Ernst der Lage deutlich. Die Krise zog sich quälend lange hin, weil sich beide Seiten zu keiner Entscheidung durchringen konnten. Erst 1922/23 war es so weit. Gundolf hatte es gewagt, seinem Buch über Heinrich von Kleist, das in der Reihe der ,Staatsbücher‘ erschien, die Worte „Elisabeth Salomon zugeeignet“ voranzustellen. Nicht ganz unberechtigt sah StG in der Widmung einen Affront gegen die eigene Autorität und nahm sie zum Anlass, im Frühjahr 1923 die Freundschaft mit Gundolf zu beenden. Durch seine Heirat mit Elisabeth Salomon im Sommer 1926 zog auch Gundolf einen Schlussstrich. Was StG betrifft, ist eine psychologische Deutung der Vorgänge plausibel. StG ertrug es nicht, dass er die alleinige Herrschaft über Gundolf verlor. Ähnlich wie Eltern, die nicht akzeptieren können, dass ihr Kind erwachsen wird, aus dem Haus geht und einen anderen Menschen liebt, versuchte er Gundolf mit allen Mitteln zu halten, um ihn letztlich zu 167 168 169 170

K. Wolfskehl an StG v. 13.7.1919, StGA. StG an F. Gundolf v. 29.2.1916, in: G/G, S. 280. Vgl. StG an F. Gundolf v. 10.5.1917, in: ebd., S. 304f. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach bereitet derzeit eine Edition des Briefwechsels zwischen Gundolf und Salomon vor.

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verstoßen. Und Gundolf? Manche Interpreten sprechen von einer weichen, von anderen leicht bestimmbaren Persönlichkeit, die erst StG, dann Elisabeth Salomon verfallen gewesen sei. Das mag nicht ganz falsch sein. Aber die Standhaftigkeit, mit der Gundolf seine Liebe zu Elli verteidigte, weist darauf hin, dass er sich, wenn auch in fortgeschrittenem Alter, gegenüber dem übermächtig wirkenden Ziehvater ein Stück weit emanzipiert hat. Könnte dazu nicht seine berufliche Karriere, der Aufstieg zum ordentlichen Universitätsprofessor und der Erfolg als populärer Wissenschaftsautor (der 1916 erschienene Goethe erreichte bis 1920 nicht weniger als neun Auflagen), Entscheidendes beigetragen haben? Jedenfalls ist in der Beziehung zwischen StG und Gundolf nicht so einfach zu sagen, wer sich hier von wem getrennt und wer damit mehr verloren hat. Für StG war Gundolf, sein erster Ziehsohn, durch niemanden ersetzbar, auch nicht durch Max Kommerell, den Lieblingsjünger der späteren Jahre. In der Freundschaft zu Robert Boehringer gab es gleichfalls erste Irritationen während des Krieges. Boehringer hatte als Leiter des Familienunternehmens wenig Zeit für anderes, und so fühlte sich StG bei seinen mehrfachen Aufenthalten in Mainz von ihm alleingelassen und vernachlässigt. Dass Boehringer nicht am Pfingsttreffen in Heidelberg teilnahm, soll allerdings an einer Erkrankung (so berichtet Glöckner)171 oder an der französischen Besetzung von Mainz (so heißt es in der Zeittafel)172 gelegen haben. Zum zwischenzeitlichen Bruch mit StG kam es, als Boehringer am 15. Mai 1920 heiratete und anschließend mit seiner Frau Margrit nach Basel umzog, wo er eine leitende Funktion bei La Roche & Co. übernahm. Die Korrespondenz mit StG setzte für die nächsten Jahre aus. Das Geschehen ist von der Forschung noch nicht analysiert worden. Wahrscheinlich handelte es sich wiederum um einen Emanzipationsprozess – die Gründung einer eigenen Existenz in Beruf und Familie –, den StG nicht zulassen konnte. Die Erschütterung reichte jedoch nicht so tief und weit wie im Fall von Gundolf. Nach rund fünf Jahren kam es zu einer Versöhnung zwischen StG und Boehringer. Wolfskehl, Gundolf, Boehringer. Damit verbunden: München, Darmstadt und Heidelberg sowie, weniger wichtig, Mainz. Das waren für StG existenzielle, höchstens rhetorisch zu kompensierende Verluste. Wie schwierig seine damalige Lage war, ermisst man aber erst richtig, wenn man sich zum einen daran erinnert, wie viele der älteren Freundschaften beim Aufbau des Kreises zu Bruch gegangen waren (u. a. Lepsius, Simmel) oder ihre Substanz eingebüßt hatten (Verwey, Lechter). Zum anderen ist zu bedenken, dass StG einige von den jüngeren Anhängern nach dem Krieg nicht mehr so nahe an sich herankommen ließ und sie später ganz aus dem Kreis verbannte. Das betraf etwa Percy Gothein und Ernst Glöckner.173 Von Edith Landmann auf Josef Liegle angesprochen, sagte StG im April 1922: 171 Vgl. EG/EB, S. 132. 172 Vgl. ZT, S. 295: „Boehringer (der aus dem besetzten Gebiet nicht kommen kann)“. 173 Schon in den Kriegsjahren hatte sich StG daran gestört, dass Glöckner seine Liebe zu Ernst Bertram nicht aufgeben wollte und er sich auch die Begeisterung für andere Schriftsteller (etwa Thomas Mann) nicht ausreden ließ. Zu dieser Zeit war er aber auf Glöckners Gesellschaft angewiesen. Das änderte sich am Kriegsende. Am 17. Oktober 1920 schrieb Glöckner an StG, sie hätten sich seit anderthalb Jahren nicht mehr (zu zweit) gesehen (StGA). Im selben Monat durfte er mit StG noch einmal für mehrere Tage zusammen sein. Bezeichnenderweise gab StG das bereits gelockerte Verhältnis gänzlich auf, als er in Marburg und Berlin neue Jüngerkreise gefunden hatte. Zu dem komplizierten Verhältnis vgl. Breuer 1995, S. 88–91, Norton, Secret Germany, S. 618–624.

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Die Staatsmitglieder sterben, aber der Staat lebt. Solange ich noch Lebenskraft habe, muss es von Zeit zu Zeit so ein grosses Aufräumen geben. […] Früher gab es distanzierte Verhältnisse. Jetzt kann ich nicht abwägen, jetzt muss ich bei denen bleiben, an denen ich hänge. Ich kann jetzt selbst denen, die ich liebe, ihre volle Portion nicht geben, weil ich äusserlich behindert bin. (EL, 119)

Beim großen Aufräumen zu Beginn der 1920er-Jahre könnte der Eindruck entstehen, StG habe aus einer Position der Stärke gehandelt. In Wirklichkeit war er in der Lage eines Geschwächten, was er selbst bemerkte. Wie nach der Kosmiker-Krise von 1904 hoffte er jedoch, durch radikale Maßnahmen eine Wende zu bewirken und vielleicht doch noch einmal eine ähnlich erfüllte Zeit wie vor dem Krieg zu erleben. Aber seine sinkende Lebenskraft, die sich umgekehrt proportional zur gesteigerten Heilsrhetorik des ,Neuen Reichs‘ verhielt, reichte über das große Aufräumen hinaus nicht mehr für einen großen Aufbau. Das sollte sich in der Dichtung wie im Kreis zeigen. Glöckner, der die eigene Chance in der Hilfsbedürftigkeit StGs gesehen hatte (was dieser, genauso wie bei Edgar Salin, für einige Zeit geschickt ausnutzte), berichtete nach einem lange erhofften Wiedersehen am 12. Februar 1923, die Krankheit und der Streit mit Gundolf hätten StG so zugesetzt, dass er gesagt habe, „ja, ich bin alt geworden.“ Und am 24. März 1923 notierte Glöckner: „Vieles aus den letzten Jahren … muß man milder beurteilen: denn George war schwerkrank“ (EG/EB, 169, 174). Tatsächlich hatte sich das Blasen- und Nierenleiden so verschlimmert, dass StG in kurzen Abständen von Schmerzanfällen gequält wurde und er sich fast jedes Jahr für mehrere Wochen in eine Klinik begeben musste. Zwei Eingriffe in den Jahren 1920 und 1923 verschafften kaum Linderung. Erst die dritte, von einem Berliner Urologen im Mai 1924 vorgenommene Operation führte zu einer dauerhaften Verbesserung des Gesundheitszustands. Die wichtige Rolle, die Heidelberg während der 1910er-Jahre für StG gespielte hatte, übernahm Marburg zu Beginn der folgenden Dekade. Als Wolters im April 1920 ein Extraordinariat für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Marburg antrat, richtete er in seiner Wohnung ein eigenes Zimmer für StG ein. Neben Berlin und Basel wurde Marburg zu einem bevorzugten Aufenthaltsort StGs, bis Wolters 1923 einem Ruf nach Kiel folgte. Zwar lag Marburg nicht in der Nähe des von StG über alles geliebten Rheins, und Wolters war ihm niemals so ans Herz gewachsen wie Gundolf oder Boehringer. Aber immerhin waren die Wege nach Königstein im Taunus, dem Wohnort der Schwester, und Bad Wildungen, dem bevorzugten Kurort dieser Krankheitsjahre, nicht weit. Und Wolters widmete sich, ganz im Sinne von Herrschaft und Dienst, mit großer Energie der Aufgabe, geeignete Jünger zu gewinnen, die die von StG bewirkte Erneuerung des deutschen Geistes in nationale Taten umsetzen könnten. In einer seiner ersten Vorlesungen trug er eine Reihe von ,heldischen und vaterländischen‘ Gesängen StGs vor und auch später nutzte er jede Gelegenheit, um die Bedeutung dieses dichterischen ,Herrschers‘ und weltanschaulichen ,Führers‘ für die Wiedergeburt der deutschen Nation herauszustreichen. Konkret verband er die Huldigung vor dem vaterländischen Dichter mit seinem Kampf gegen den Versailler Friedensvertrag. Gerade durch die Betonung der politischen Wirkungsmacht des Dichters begeisterte Wolters einige seiner Studenten für StG. Zu ihnen zählten die Freunde Max Kommerell (1902–1944) und Johann Anton (1900–1931), wie auch – Johanns Bru-

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der – Walter Anton (1903–1955), Walter Elze (1891–1979) und Ewald Volhard (1900–1945). Kommerell hatte allerdings schon während seines Studiums in Heidelberg die Werke StGs intensiv gelesen und war durch Gundolfs Vorlesungen und Schriften in die geistige Welt des Dichters und seines Kreises eingeführt worden. Von einem Freund, der dem Kreis nahestand, auf Wolters hingewiesen, wechselte er zum Wintersemester 1921 an die Universität Marburg. Was ihn an Wolters im Vergleich zu Gundolf beeindruckte, lässt sich einem Brief vom 10. November 1921 an seine Schwester entnehmen, der durch die Aneinanderreihung von Schlüsselbegriffen zugleich ein Echo der beiden Lehrer und eine Spiegelung ihrer differierenden George-Bilder und Weltanschauungen ist: Wolters hält Vorlesung und Seminar über das absolute Königtum in einer von Gundolfs Art merkwürdig verschiedenen weise. Der nächste eindruck ist, daß er viel unmittelbarer mit macht und herrschendem zauber in die menschen hineingreift und in wort und wirken stofflicher sinnlicher ist – nicht mit so rastlosem geistigen eifer die wurzeln aller dinge aufgrabend – sondern wahrheit und weisheit mehr in einer runden fülle von sinn- und zeitbildern hinschüttend – alles in allem doch weniger deutend als die bedeutenden Dinge selber zeigend, mehr im greifbaren wohnend als Gundolfs rastlos durchstürmendes dionysisches feuer. Was mir persönlich eigener ist, wage ich nicht zu sagen – so sehr ich mich täglich sehne, auch nur einmal Gundolf sprechen, geberden, schreiten zu sehen, so deutlich fühle ich, wieviel mehr es für mich an der zeit ist, daß mir die ordnung der welt und die gliederung des werks, die stufung des menschen und der gang des tuns wie der feier, die Wolters hier mit wunderbarer kraft und anmut in den menschen um ihn ausprägt, das natürliche leben wird.174

Im Juli 1921, also noch vor dem Beginn des Studiums in Marburg, ist Kommerell zum ersten Mal StG begegnet, als er einen Antrittsbesuch bei Wolters machte. StG, der gerade im Begriff war, zu Gundolf nach Heidelberg zu reisen, nahm Kommerell kurzerhand mit. Kommerell scheint einige Zeit mit StG bei Gundolf gewohnt zu haben, den er bis dahin nur aus den Vorlesungen kannte.175 An Wolters schrieb er etwas später: „Sie wissen wohl was mir alles in den beiden letzten Heidelberger wochen bescheert [sic!] war und wie reich sich mein sehnen erfüllte. Die fülle, die in diesen wenigen tagen in mich gelegt wurde, kann ich auch jetzt noch nicht ermessen.“176 Im Februar 1922 lernte auch Johann Anton den Dichter im Haus von Wolters kennen. Am Ende des Wintersemesters fuhr StG mit beiden Freunden für ein paar Tage nach Heidelberg. Danach verbrachte er eine Woche mit Anton allein im Schwarzwald. Zwei Jünger waren gewonnen. Während Kommerell und Anton in Marburg studierten, begegneten sie StG häufig bei Wolters. Sie trafen ihn aber auch gelegentlich an anderen Orten, besonders in Berlin. Die unzertrennlichen Freunde stiegen zu den neuen Favoriten des ,Meisters‘ auf, nicht zuletzt weil StG in ihnen eine dichterische Begabung sah. Als Kommerell 174 M. Kommerell an Julie Strebel v. 10.11.1921, in: Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen, S. 106. 175 Vgl. Dorothea Hölscher-Lohmeyer, Geist und Buchstabe der Briefe Max Kommerells. Anmerkung zu ihrer Gesamtedition, in: Walter Busch/Gerhart Pickerodt (Hrsg.), Max Kommerell. Leben – Werk – Aktualität, Göttingen 2003, S. 15–29, hier: 20. Die Angabe in der Zeittafel, Kommerell habe StG im Februar 1922 kennengelernt, beruht auf einem Erinnerungsfehler von Robert Boehringer (vgl. ZT, S. 317). 176 M. Kommerell an F. Wolters v. 21.8.1921, zit. nach Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen, S. 104.

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1924 seine Promotion abgeschlossen hatte und freier über seine Zeit verfügen konnte, wurde er von StG zum ständigen Begleiter erwählt, wodurch er die ehemalige Stellung von Gundolf mit all ihren Privilegien und Pflichten übernahm. In parodistischem Ton schreibt Karlauf: Er war jetzt Sekretär, Quartiermeister, Geliebter in einer Person und organisierte nach Georges Wünschen und Vorgaben die aufwendige Logistik der Nichtsesshaftigkeit. Es ging um so alltägliche Dinge wie die Bereitstellung von Bettwäsche, die Anschaffung neuer Unterjäckchen oder die reibungslose Abwicklung des Briefverkehrs.177

Ein Projekt StGs, an dem Kommerell hätte mitarbeiten können, gab es in der Mitte der 1920er-Jahre nicht. StG dichtete und übersetzte fast nichts mehr, die BfdK pausierten bis auf Weiteres, weil der Nachwuchs des Kreises poetisch völlig unkreativ oder bloß epigonal war, und eine Fortsetzung des Jahrbuchs für die geistige Bewegung hätte allzu sehr dem parteipolitisch orientierten Zeitgeist widersprochen. Was Kommerell, wie der ganzen Generation der sogenannten ,Enkel‘,178 noch offenstand, war der Ausbau einer von StG inspirierten Geisteswissenschaft.179 Die im ständigen Gespräch mit StG entwickelte Konzeption von Kommerells Buch Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, das 1928 in der Reihe der ,Staatsbücher‘ erscheinen sollte, verschmolz die Gundolfsche Auffassung dichterischer ,Gestalten‘ und die Woltersche Anschauung geistiger ,Taten‘. Walter Benjamin, der ein großer Bewunderer von StGs Dichtung und ein genauer Beobachter des Kreises war, gab seiner Rezension von Kommerells Buch den Titel Wider ein Meisterwerk, in dem nicht nur das Lob für die literaturgeschichtliche Leistung steckt, sondern auch die Kritik an der weltanschaulichen Prägung durch die Lehre des Meisters StG: „Dies ist Literaturgeschichte nur für den profanum vulgus; in Wahrheit eine Heilsgeschichte der Deutschen.“180 Die Stadt, die im Leben StGs die größte Kontinuität aufwies, war ausgerechnet Berlin. In den Jahren um 1900 waren die Gesellschaftskreise der deutschen Hauptstadt von entscheidender Bedeutung für seine literarische Karriere. Später wurde wichtig, dass hier sein Verleger und zahlreiche Jünger wohnten. StG kam in die Stadt, um Verlagsgeschäfte und ,Staatsdinge‘ zu besprechen oder an Lesungen und sonstigen Treffen von Kreisangehörigen teilzunehmen. Davon unabhängig gehörte es zum Rhythmus seiner durch Gewohnheiten stabilisierten Lebensführung, dass er sich jedes Jahr für längere Zeit in Berlin aufhielt. Obwohl er im Zusammenhang seiner Kulturkritik gegen die degenerierten Menschenmassen der Großstadt, die liberale Gesellschaft, die kapitalistische Industrie, die kommerzielle Presse etc. polemisierte, und er als Rheinländer auch gerne seine persönliche Abneigung gegen alles Preußische bekundete, fühlte er sich in Berlin erstaunlich wohl. Die kulturkritischen Argumente („bedenke nochmals die ganze aggressive täglich wachsende himmelstinkende

177 Karlauf 2007, S. 568. 178 Seit StG in der Einleitung zur elften/zwölften Folge der BfdK von „enkeln“ gesprochen hatte, war das Wort im Kreis üblich, um die neu hinzugekommenen Jünger zu bezeichnen. 179 Vgl. Kolk 1998, bes. S. 355–424; Groppe 1997, bes. S. 623–640. 180 Walter Benjamin, Wider ein Meisterwerk. Zu Max Kommerell, ,Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik‘ [1930], in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. v. Hella TiedemannBartels, Frankfurt/M. 1972, S. 252–259, hier: 254.

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I. Stefan George und sein Kreis

Scheusslichkeit Berlins, gegen die ich nicht so erhaben immun bin wie Du“),181 die Gundolf für sich in Anspruch nahm, als er 1920 einen Ruf an die Friedrich-WilhelmsUniversität ablehnen wollte, fand er dann doch übertrieben,182 denn er wusste ja aus eigener Erfahrung, dass man hier angeregt und umsorgt leben konnte. 1924 wurde Berlin für die nächsten fünf bis sechs Jahre zu StGs Hauptresidenz. Das hatte nicht zuletzt mit dem Mangel an Alternativen zu tun. Wolters hatte Kiel zu bieten, die Stadt an der Ostsee aber lag zu ungünstig und war bei StG zu unbeliebt, um ein voller Ersatz für Marburg zu werden.183 München, wo StG ab 1925 die Wohnung von Johann Anton zur Verfügung stand, eignete sich lediglich als Nebenquartier, weil es dort nur einzelne Jünger gab. Dagegen funktionierte Berlin als gemeinsames Zentrum des Kreises. Von den älteren Freunden, die StG noch immer nahestanden, lebten Morwitz, Vallentin, Hildebrandt und Thormaehlen in der Stadt. Um sie herum waren neue Anhänger herangewachsen, und von außen stießen andere hinzu, die auf kürzere oder längere Zeit nach Berlin kamen. Zu der letzten Kategorie gehörten, neben Kommerell und den beiden Antons, u. a. die drei Brüder Schenk von Stauffenberg: Alexander (1905–1964), Berthold (1905–1944) und Claus (1907–1944). Max Kommerell und Johann Anton, die sich bereits im Frühjahr 1924 in Berlin aufgehalten hatten, um StG nach seiner dritten Operation zu betreuen, mieteten im Herbst für drei Monate das Pförtnerhaus einer Villa an der Königsallee (Nr. 45–45a) in Grunewald, das sie zusammen mit StG bewohnten. Hier wurde die bekannte Fotografie von StG und den beiden Brüdern Berthold und Claus von Stauffenberg aufgenommen. Der erste Kontakt zwischen StG und den Stauffenbergs war über Albrecht von Blumenthal (1889–1945) zustande gekommen, der StG seit 1911/12 kannte und zum weiteren Kreis zählte. Im Mai 1923 stellte er StG die gerade achtzehnjährigen Zwillinge Alexander und Berthold und den fünfzehnjährigen Bruder Claus vor. StGs Charisma tat auch dieses Mal seine Wirkung. Fortan suchten die Stauffenbergs die Nähe des ,Meisters‘ und die Gemeinschaft der anderen Jünger. Ab Oktober 1924 studierte Berthold in Berlin, während Alexander, der in Jena eingeschrieben war, und Claus, der noch in Stuttgart zur Schule ging, ihre Ferien nutzten, um ebenfalls am Berliner Kreisleben teilzunehmen. StG war auf diese drei Jünger besonders stolz und redete sich selbst und allen anderen ein, dass die Grafen von Stauffenberg von den mittelalterlichen Stauferkönigen und -kaisern abstammten und daher zur Herrschaft im ,Neuen Reich‘ prädestiniert seien.184 Er integrierte die Stauf181 F. Gundolf an StG v. 12.3.1920, in: G/G, S. 340. Vgl. auch den Brief vom 17.3.1920, in: ebd., S. 342f. 182 Als er Gundolf dringend riet, den Ruf nach Berlin anzunehmen, statt in Heidelberg zu bleiben, zielte er allerdings hauptsächlich darauf ab, Gundolf aus seinen Liebesbanden zu lösen: „Es sei fern von mir dich zu etwas zu bereden zu wollen was Dir so von grund aus furchtbar ist wie es Dein brief darstellt – doch geb ich sehr zu bedenken dass jene stimmung auch etwas augenblickliches sein kann und dass später Deine reue kommen kann. Dies in so reichen farben geschilderte Idyll H. wird bald seine reize (Idyll hört jezt überall auf!) einbüssen. ich habe anzeichen dass die luft von äussrer wärmerer liebe (im menschlichen) auch dort flauer wird … Einen staatlichen grund dass Du nach Berlin gehst, seh ich freilich nicht mit der dringenden notwendigkeit – nur denk wie du selber noch vor einigen jahren gesprochen hast!“ (G/G, 341) 183 Zu StGs Abneigung gegenüber Kiel, das er mit Reykjavik verglich, und den Kielern mit ihren „Fischaugen“ vgl. Norton, Secret Germany, S. 635f. 184 Hoffmann, Stauffenberg, S. 68: „Der Zuzug der Stauffenbergs löste im Freundeskreis Stefan Georges eine kaum vorstellbare Aufregung aus. Der beziehungsreiche Name, die gleichzeitigen

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fenbergs in seine dichterische Reichsprophetie, zu deren Kernstücken der bereits im Siebenten Ring185 entworfene Mythos um den Stauferkaiser Friedrich II. zählte. Dass zur selben Zeit Ernst Kantorowicz (1895–1963) an der geschichtswissenschaftlichen Ausarbeitung dieses Mythos saß, war kein Zufall, hatte StG doch den Heidelberger Studenten, der gegen Kriegsende sein Jünger geworden war, zur Wahl dieses Themas geraten. Zur Besprechung der Arbeitsergebnisse trafen die beiden sich in Heidelberg, wo StG dann bei Kantorowicz wohnte, und auch in Berlin. Laut den Erinnerungen von Thormaehlen soll Kantorowicz aber mit den dort anwesenden Jüngern fast nie zusammengetroffen sein.186 Über das entstehende Buch wurden sie jedoch durch StG informiert. Als er an der Jahreswende 1926/27 die Korrekturen las, bezog er Kommerell, Johann und Walter Anton sowie Wilhelm Stein und Berthold von Stauffenberg in die Arbeit ein. Etwa zu dieser Zeit soll es auch eine Lesung aus dem fertigen Manuskript oder den Druckfahnen gegeben haben.187 Kantorowicz’ Buch Kaiser Friedrich der Zweite, das 1927 in der Reihe der ,Staatsbücher‘ erschien, war ein Schlüsselwerk für den späten Kreis, denn der Herrscher und sein von einem neuen Adel getragener Staat, der – so Kantorowicz – ein aus dichterischem Geist heraus geschaffenes Kunstwerk gewesen sei, wurden als Präfigurationen von StGs ,Neuem Reich‘ betrachtet. Die größeren Zusammenkünfte dieser Jahre fanden in den Berliner Künstlerateliers von Ludwig Thormaehlen und Alexander Zschokke statt. Seit 1914 hatte Thormaehlen (1889–1956) seine Bildhauerwerkstatt in der Neuen Ansbacher Straße, und hier, im sogenannten ,Pompejanum‘, waren schon während des Krieges gemeinsame Lesungen abgehalten worden. Diese Tradition wurde jetzt mit alten und neuen Jüngern wiederbelebt. 1925 verlagerte sich das Geschehen in das nicht weit entfernte Atelier von Alexander Zschokke (1894–1981). Ab Sommer 1927 war schließlich das neue, in der Albrecht-Achilles-Straße gelegene und daher ,Achilleion‘ genannte Atelier von Thormaehlen der Treffpunkt der Georgianer. Zu den vertrauten Riten des Kreislebens, den Gesprächen und Lesungen, trat in den Ateliers ein weiteres Element hinzu, das – zumindest in seiner inflationären Vermehrung – für die letzte Phase in Berlin charakteristisch war. Es wurde nämlich zum Brauch, dass die Bildhauer Thormaehlen und Zschokke, nach ihrem Muster aber auch bloße Dilettanten aus dem Kreis, die Köpfe des ,Meisters‘ und seiner Jünger in Ton oder Gips modellierten, zum Teil wurden Bronzeabgüsse angefertigt. In antikisierter Form stellten sich die Angehörigen des Kreises als das Heldengeschlecht des kommenden Reichs dar, ohne natürlich ahnen zu können, wo ihre Bildnisse allzu bald landen würden: erst in privaten Abstellkammern, dann in musealen Lagerhallen der deutschen Geschichte.188

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Staufer-Studien des Historikers Ernst Kantorowicz und Georges heimlicher Anspruch auf die geistige Führung Deutschlands tauchten alles in einen mythischen hellen Nebel. Die darin Befangenen hielten ihn für ,schau‘ von großer Klarheit.“ Die Schlussstrophe von „Die Gräber in Speier“ lautet: „Vor allen aber strahlte von der Staufischen / Ahnmutter aus dem süden her zu gast / Gerufen an dem arm des schönen Enzio / Der Grösste Friedrich · wahren volkes sehnen · / Zum Karlen- und Ottonen-plan im blick / Des Morgenlandes ungeheuren traum · / Weisheit der Kabbala und Römerwürde / Feste von Agrigent und Selinunt“ (VI/VII, 23). Vgl. LT, S. 210f. Vgl. ebd., S. 227f. Raulff 2009, S. 201: „Zwischen dem Augenblick im Jahr 1913, in dem Ludwig Thormaehlen die erste ,kreistypische‘ Skulptur schuf – ein hölzernes Porträtbild seines Freundes Ernst Mor-

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I. Stefan George und sein Kreis

In Thormaehlens ,Achilleion‘ wohnte StG von September 1927 bis Juni 1928 und stellte während dieser Monate seinen letzten Gedichtband Das Neue Reich zusammen. Hier fand auch im November 1928 die feierliche Lesung aus dem gerade erschienenen Band statt, zu der StG noch einmal eine Auswahl von Jüngern einlud. Der Hausherr Thormaehlen schreibt in seinen Erinnerungen: Zugegen waren Johann Anton, sein Bruder Walter und Max Kommerell, zugegen waren die drei Brüder Stauffenberg. Frank [Mehnert], als Jüngster, saß zu Seiten des Dichters. Zum letztenmal geschlossen anwesend war die Gruppe des Ernst Morwitz. Er kam mit Silvio Markees und Bernhard von Bothmer. Zugegen waren Alexander Zschokke und Albrecht von Blumenthal und – ebenfalls zu meiner Generation gehörend – Bernhard von Schweinitz. Zugegen war Erich Boehringer. Auch Willi Dette war hinzugezogen. Es ist mir nicht mehr genau erinnerlich, was und in welcher Reihenfolge aus dem Neuen Reich gelesen wurde. Ernst Morwitz begann mit den Gedichten, die am Anfang stehen: ,Goethes letzte Nacht in Italien‘, ,Hyperion‘ und ,An die Kinder des Meeres‘. Erich Boehringer las ,Der Dichter in Zeiten der Wirren‘ und ,Einem jungen Führer im ersten Weltkrieg‘. Dann sprach George selbst ,Die Winke‘, ,Burg Falkenstein‘ und ,Geheimes Deutschland‘. Der Dichter verabschiedete langsam, ohne daß er das Aufkommen einer Unterhaltung zuließ, die Einzelnen und die Gruppen in der Reihenfolge, in der sie gekommen waren. (LT, 241)

Knapp ein Jahrzehnt nach dem Heidelberger Pfingsttreffen schien die Erneuerung des Kreises gelungen zu sein. Und besonders die Generation der ,Enkel‘ mag in den Gedichten des Neuen Reichs einen Wegweiser in die Zukunft gesehen haben. Doch so wie sich die Reichsvision bei einer genaueren Lektüre der Gedichte als ein in die Vergangenheit gerichtetes Totengedenken entpuppt,189 so hat StG die Lesung vielleicht auch nicht als Aufbruch mit den Jüngern, sondern als seinen Abschied vom Kreis inszeniert.

1.12. Sorge ums Erbe: Werkpolitik der letzten Jahre Im Anschluss an die dritte, erfolgreich verlaufene Operation wird StG klar geworden sein, dass er die ihm verbleibende Lebenszeit und Lebenskraft dazu nutzen müsse, sein Werk und sein Wirken über den Tod hinaus zu sichern. Mitte der 1920er-Jahre unternahm er mehrere Schritte in diese Richtung. Erstens suchte er nach einer rechtlichen Konstruktion, die in der Lage wäre, seinen dichterischen Nachlass dauerhaft vor unbefugten Eingriffen zu schützen, und überlegte in diesem Zusammenhang auch, welche von seinen jetzigen Jüngern die am besten geeigneten Nachlassverwalter sein witz –, bis zum Tod Georges zwei Jahrzehnte später dürften um die zweihundert Köpfe aus Holz, Gips, Stein und Bronze entstanden sein. Eine große Zahl von ihnen zeigt den Kopf oder vielmehr ,das Haupt‘ des Meisters, die anderen geben die Züge diverser Jünger und Freunde wieder.“ Vgl. auch ders./Lutz Näfelt, Das geheime Deutschland. Eine Ausgrabung. Köpfe aus dem George-Kreis, Marbach 2008; II, 2.3.3. 189 Vgl. Osterkamp 2002, S. 48: „Das Neue Reich Stefan Georges verwirklicht sich als Wiederkehr der Toten. Nichts verdeutlicht stärker die geschichtliche Resignation des späten George, das Verlöschen der Impulse zur Lebenserneuerung in einer kunstpriesterlichen Rollenschematik, als die Dominanz dieser Gedankenfigur in seinem letzten Werk. Stefan Georges Neues Reich war zum Totenreich geworden.“

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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könnten. Zweitens plante er mit dem Verleger Bondi die Gesamtausgabe seiner Werke in einer für immer gültigen Form. Als Schlussstein sah er einen Band mit seinen späten Gedichten vor, der dann den alle früheren Werke überwölbenden Titel Das Neue Reich erhielt. Drittens setzte er Wolters unter Druck, das schon lange vorbereitete Buch über StG und die BfdK nun endlich fertigzustellen und damit eine von ihm selbst autorisierte und kanonisierte Geschichte seines Wirkens vorzulegen. Diese von StG wohl im Hinblick auf seinen 60. Geburtstag im Jahr 1928 geplanten Maßnahmen, deren Verwirklichung sich freilich verzögern sollte, waren Bestandteile einer umfassenden ,Werkpolitik‘ zur Sicherung des Erbes. Nach dem Tod des Dichters wurde sie weitergeführt und ergänzt, so durch den Werkkommentar von Ernst Morwitz (1933/34) oder die Schenkung von StGs Elternhaus an die Stadt Bingen (1938).190 Über die Regelung des Nachlasses sprach StG zunächst mit Ernst Morwitz, der ihn auch ansonsten in juristischen Fragen beriet. Nachdem sich Morwitz mit Julius Landmann abgestimmt hatte, schlug er Ende 1926 die Gründung einer Stiftung vor: „Die Stiftung ist nötig, um die Urheberrechte von Deiner Person zu trennen, so dass sie bei Tod verselbständigt sind und nicht auf die Erben übergehen.“191 StG konnte sich aber mit dieser Regelung nicht recht anfreunden und tendierte dazu, den Nachlass nicht einer juristischen, sondern einer natürlichen Person anzuvertrauen. Der Verlagsvertrag über die Gesamtausgabe, der am 6. Oktober 1927 mit Bondi abgeschlossen wurde, enthält unter Artikel 12 die Absichtserklärung: „Dr. Ernst Morwitz wird auch von George voraussichtlich durch letztwillige Anordnung zum literarischen Verwalter ernannt werden“ (StGA). Im Sommer 1930 kam StG auf die Idee einer Stiftung zurück und fragte Robert Boehringer, Johann Anton und Max Kommerell, ob er sie als Stiftungsrat einsetzen könnte. Triumphierend schrieb Anton an Kommerell: Der Stiftungsrat wird bestehen aus Robert Dir und – mir. Damit haben wir beiden jedenfalls die absolute Mehrheit. […] Ich kann dir nicht in wenigen Worten sagen, was alles an Perspectiven ich mit dieser Angelegenheit verbinde – erinnere nur, daß der bisherige Universalerbe und Vollstrecker Ernst nunmehr ausgeschaltet ist.192

Wie es zu dieser Willensänderung StGs kam, ist nicht genau geklärt. Ulrich Raulff vermutet, dass eine Gruppe von Jüngern – Kommerell, die Brüder Anton, die Brüder Stauffenberg, Frank Mehnert und, als Einziger aus der älteren Generation, Thormaehlen – gemeinsam gegen Morwitz intrigiert hätte, um ihn zu entmachten. Raulff bezeichnet diese Gruppe als „eine Art Kamarilla von jungen, mit nationalsozialistischen Ideen sympathisierenden Männern“, die am Ende der 1920er-Jahre zur Entourage StGs geworden seien.193 Sollte diese Vermutung zutreffen, die freilich der von Morwitz im Alter erzählten Version des Vorgangs widerspricht,194 dann hätte es sich 190 Vgl. Martus, Werkpolitik, S. 656–708. 191 E. Morwitz an StG v. 1.11.1926, StGA. 192 J. Anton an M. Kommerell, empfangen am 17.6.1930, zit. nach Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen, S. 172. 193 Raulff 2009, S. 61. 194 Die Autoren der Zeittafel stützen sich auf die persönliche Mitteilung von Morwitz, er selbst habe die Übertragung der Nachlassverwaltung an Boehringer angeregt (vgl. ZT, S. 369). Siehe dazu auch die weitergehenden Spekulationen von Karlauf 2007, S. 753. Nicht auszuschließen ist, dass Morwitz aus dem Abstand von mehreren Jahrzehnten die unterschiedlichen Vorgänge des Jahres 1930 (Stiftungsrat mit Boehringer, Anton, Kommerell) und des Jahres 1932 (Alleinerbe Boehringer) verschmolz.

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I. Stefan George und sein Kreis

um eine Art Verschwörung gegen einen Jünger der älteren Generation gehandelt, bei der eventuell auch antisemitische Ressentiments eine Rolle spielten. Überraschenderweise scheiterte die Besetzung des Stiftungsrates an Kommerell. Nachdem Kommerell den diesbezüglichen Brief Antons am 17. Juni 1930 erhalten hatte, schrieb er StG postwendend, er müsse das Angebot ablehnen: Durch das Wachstum seines ,Ichs‘ habe sich die Beziehung zum ,Meister‘ und zum Kreis so geändert, dass er die Zuständigkeit in dieser „innersten Sache“ nicht mehr übernehmen könne.195 Wenige Monate später trennte sich Kommerell von StG. Zu einer endgültigen Regelung des Nachlasses kam es erst durch die Leztwillige Verfügung vom 31. März 1932, die Robert Boehringer als alleinigen Erben und Berthold von Stauffenberg als Nacherben bestimmte.196 Schon beim Abschluss seines ersten Verlagsvertrags mit Bondi im Jahr 1898 hatte StG die Frage beschäftigt, wie der literarische Nachlass geregelt werden könnte.197 In einem späteren Verlagsvertrag vom 22. März 1912 wurde unter § 10 u. a. vereinbart: „Die Gesamtausgabe des Herrn George soll bei Herrn Bondi erscheinen […]. Kein Band der Gesamtausgabe darf vor 1919 erscheinen.“198 Spätestens 1926 traten StG und Bondi in konkrete Verhandlungen über die Gesamtausgabe ein. Die Regelungen, die vertraglich getroffen werden sollten, waren so kompliziert, dass StG sich gleich von mehreren juristisch und kaufmännisch versierten Mitgliedern des Kreises beraten ließ (Landmann, Boehringer, Morwitz u. a.). Zusätzlich wurde eine spezialisierte Rechtsanwältin eingeschaltet. Im Oktober 1926 erstellte Julius Landmann erste Entwürfe des Vertrags, über den mit Bondi noch Monate verhandelt wurde. Am 6. Oktober 1927 unterzeichneten StG und Bondi das umfangreiche Vertragswerk. StG verfolgte mit dem Vertrag hauptsächlich zwei Ziele: Zum einen ging es ihm um die Sicherung eines stetigen Einkommens bis zu seinem Tod. Insbesondere zur Finanzierung seiner zahlreichen Reisen war er auf beträchtliche Einkünfte angewiesen.199 Zum anderen sollte sein gesamtes Œuvre in eine Fassung letzter Hand gebracht und diese vor späteren Eingriffen bewahrt werden. StG behielt sich weitgehende Rechte vor, die nicht nur die Text- und die Buchgestaltung betrafen, sondern auch die Vermarktungsformen. Vereinbart wurde eine Ausgabe in achtzehn Bänden, die neben den literarischen Werken auch philologische Anhänge mit einer Auswahl von Lesarten, Proben von Handschriften und Bildern des Dichters enthalten sollten. Bei der Arbeit an den ersten Bänden entschied StG sogar über Details und überwachte die Ausführung, die er seinem Vertrauten Albrecht von Blumenthal übertrug. Gerade dieses extreme Maß persönlicher Kontrolle, das sich an dem permanenten Briefwechsel mit Bondi ablesen lässt, verzögerte freilich die Fertigstellung der Bände erheblich. Ursprünglich waren sich StG und Bondi einig gewesen, dass möglichst viele Bände der Gesamtausgabe zum 60. Geburtstag vorliegen sollten. Bis zum 28. Juli 1928 war dann aber lediglich

195 M. Kommerell an StG v. 17.6.1930, in: Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen, S. 170. 196 Beide letztwilligen Verfügungen StGs v.15.6.1930 und v. 31.3.1932 sind abgedruckt in: Fünfzig Jahre Stefan George Stiftung 1959–2009, für die Stefan George Stiftung hrsg. v. Christoph Perels, Berlin, New York 2009, S. 72f. 197 Vgl. zur Geschichte der Gesamtausgabe I, 5.4.5. 198 StGA. Zit. bei Martus, Werkpolitik, S. 690f. 199 Zu seinen vergleichsweise hohen Geldeinkünften und den häufigen Barabhebungen in den 1920er-Jahren vgl. I, 5.5.

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der erste Band erschienen, der zudem mit den Jugendgedichten der Fibel kein Hauptwerk brachte. Der Band, der auf StGs Drängen hin in nicht weniger als 6.000 Exemplaren aufgelegt worden war, erregte weder bei der Literaturkritik noch beim Lesepublikum ein besonderes Interesse. Noch ärgerlicher als dieser Misserfolg war für den Verleger, dass der Band des Neuen Reichs nicht, wie von ihm dringend gewünscht, rechtzeitig zum Jubiläum herauskam, weil StG die Perfektion der Werkgestaltung wichtiger fand als die Strategie der Buchvermarktung. Auch ohne das rechtzeitige Erscheinen des Neuen Reichs, das sich möglicherweise sogar nachteilig ausgewirkt hätte, wurde der 60. Geburtstag in der nationalen und internationalen Öffentlichkeit als ein großes Ereignis begangen. Bereits ein Jahr zuvor war StG durch die erstmalige Verleihung des Goethe-Preises als großer deutscher Dichter geehrt worden, was er mit einer – bei heutigen Künstlern gängig gewordenen – Mischung von betonter Verachtung und gnädiger Herablassung akzeptiert hatte. Nun wurde der Jubilar überall in der Presse als ein deutscher Klassiker gefeiert. StG habe, so der gemeinsame Tenor der öffentlichen Würdigungen, sowohl die dichterische Sprache erneuert als auch ein geistiges Ethos geformt, in dem das deutsche Wesen und die deutsche Bildung wieder lebendig geworden seien.200 Allerdings muss man auf die meist nicht direkt ausgesprochenen Relativierungen des Lobs achten. So fällt auf, dass die Schriftsteller und Journalisten, die sich bei einer von der Literarischen Welt veranstalteten Umfrage zu StG äußerten, zwar die poetische Kraft und ethische Leistung hervorhoben, aber von der weltanschaulichen Lehre StGs absahen. Außerdem historisierten sie seine Bedeutung, indem sie bevorzugt davon berichteten, wie sehr sie in ihrer Jugend von den Versen StGs ergriffen worden seien.201 Für die meisten der gefragten Autoren war StG ein Klassiker, aber auch Geschichte geworden. Deswegen ist es kein Widerspruch, dass das im Oktober 1928 als neunter Band der Gesamtausgabe erscheinende Neue Reich überwiegend auf Zurückhaltung oder Ablehnung stieß, denn hier trat ja der Dichter-Seher, so massiv wie nie zuvor, mit dem Anspruch geschichtlicher Prophetie auf. Der Band umfasst die seit dem Stern des Bundes verfassten (und zumeist in den BfdK oder in Separatdrucken veröffentlichten) Gedichte. Das schon 1908 geschriebene Gedicht „Goethes lezte Nacht in Italien“, mit dem der Band anfängt, führt auch in die Geschichtsvision des ,Neuen Reiches‘ ein.202 Goethe, den StG hier sprechen lässt, prophezeit das Kommen eines tausendjährigen Reiches, das im Zeichen eines neuen, für Goethe selbst nur erahnbaren Gottes errichtet wird: Ach wenn die fülle der zeiten gekommen: dann werden Wieder ein tausendjahr eurer Gebieter und Weisen Nüchternste sinne und trotzigste nacken gefüge Ärmlicher schar von verzückten landflüchtigen folgen Sich bekehren zur wildesten wundergeschichte Leibhaft das fleisch und das blut eines Mittlers geniessen · 200 Vgl. Kolk 1998, S. 433: „Die Reaktionen auf Georges 60. Geburtstag 1928 schreiben diese nationalintegrative Funktion des Lyrikers fest.“ 201 Vgl. III, 5.2.4.1. Besondere Vorsicht ist bei Rudolf Borchardts Geburtstagsartikel Der Dichter und seine Zeit. Die Gestalt Stefan Georges angebracht, der, als Laudatio des „größten Namens“ der deutschen Lyrik getarnt, seine Diffamierung betreibt. 202 Vgl. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte. Zu „Goethes lezte Nacht in Italien“ vgl. bes. S. 57–114.

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I. Stefan George und sein Kreis

Knieen im staube ein weiteres tausendjahr Vor einem knaben den ihr zum gott erhebt. (IX, 10)

Das von Goethe prophezeite Reich hat in dem Jahr, als das Gedicht entstand, bereits begonnen. Denn mit dem „knaben den ihr zum gott erhebt“ ist niemand anderes als Maximin gemeint. Und wenn Maximin, wie es im Siebenten Ring heißt, ein Geschöpf des Dichter-Sehers ist, so gilt das gleichermaßen für das in seinem Zeichen errichtete Reich, das wie der Gott primär im Modus der Dichtung zur Erscheinung kommt. Noch eines besagt das einleitende Gedicht: Das ,Neue Reich‘ ist von deutschem Fleisch und Blut. Diese nationale Heilsbotschaft, deren Metaphorik nicht nur christliche, sondern auch völkische Assoziationen weckt, wiederholen die folgenden, ebenso schwergewichtigen Gedichte „Der Krieg“, „Der Dichter in Zeiten der Wirren“, „Burg Falkenstein“ und „Geheimes Deutschland“. Wer die Mystifikationen des Gedichts „Geheimes Deutschland“ (IX, 45–49) mithilfe der späteren Kommentare entschlüsseln kann, erkennt freilich, dass das ,junge Geschlecht‘ des ,Neuen Reichs‘ (bislang) nur aus den Jüngern des ,Meisters‘ StG besteht. Sein Kreis ist das ,Geheime Deutschland‘, aus dem sich das ,Neue Reich‘ entfalten soll. Dementsprechend sind die mit Initialen gekennzeichneten Sprüche an Die Lebenden und Die Toten, die den Mittelteil des Bandes bilden, einzelnen Jüngern gewidmet, die allerdings auch den Typus für künftige Generationen abgeben sollen. Ob das ,Neue Reich‘ über die zur Erinnerung gewordene Mythologie des Dichters und das Gedenken an die teils schon gestorbenen Mitglieder des Kreises hinaus noch einen weltanschaulichen Gehalt besitzt und politische Perspektiven eröffnet, lassen die Gedichte mehr als alles andere im Unklaren. Vergleichsweise deutlich werden in dieser Hinsicht noch die Schlussverse von „Der Dichter in Zeiten der Wirren“, wo von einem ,jungen geschlecht‘ die Rede ist: Das von sich spie was mürb und feig und lau Das aus geweihtem träumen tun und dulden Den einzigen der hilft den Mann gebiert . . Der sprengt die ketten fegt auf trümmerstätten Die ordnung · geisselt die verlaufnen heim Ins ewige recht wo grosses wiederum gross ist Herr wiederum herr · zucht wiederum zucht · er heftet Das wahre sinnbild auf das völkische banner Er führt durch sturm und grausige signale Des frührots seiner treuen schar zum werk Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich. (IX, 30)

Hier zeichnen sich Vorstellungen von einem Alleinherrscher, einer Volksgemeinschaft, einer Ständeordnung, einer Rechtsüberlieferung ab, die sich diffus in das breite Spektrum des konservativen Denkens der Zeit einordnen lassen.203 Der an dieser Stelle gebrauchte Ausdruck ,Neues Reich‘, der ansonsten nur im Titel des Gedichtbands vorkommt, stellt (unter anderem) einen Bezug zu den politischen Diskursen der 1920er-Jahre her, in denen das Wort ,Reich‘ vor allem von Vertretern national-kon203 Vgl. dazu I, 2.8. u. II, 8.4.

1. Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze

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servativer, national-revolutionärer und national-völkischer Richtungen bis hin zum Nationalsozialismus verwendet wurde. Die öffentliche Literaturkritik, die wenige Monate zuvor den 60. Geburtstag StGs ausgiebig gefeiert hatte, reagierte nur da und dort auf die unauffällig in der Gesamtausgabe platzierte Neuerscheinung. Die wenigen Rezensenten vermissten die lyrischen Qualitäten der früheren Gedichtbände, die sie allein in den Liedern des letzten Teils wiederfanden. Zum anderen wiesen sie die im ersten Teil demonstrativ erhobenen Ansprüche der Geschichtsprophetie zurück, die selbst in der ansonsten positiven Besprechung von Ernst Blass mit Skepsis aufgenommen wurde.204 Abgesehen von der Rezeption durch Mitglieder des Kreises, wurde die Reichsvision nur von einzelnen Stimmen aus dem rechten Lager begrüßt, wobei die vorliegenden Zeugnisse, wohl nicht zufällig, erst aus den Jahren 1930 bis 1932 stammen, als der ,Seher des Reichs‘ an tagespolitischer Aktualität gewann.205 Parallel zur Arbeit an der Gesamt-Ausgabe und am Neuen Reich investierte StG seine Energie in das Buch Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, mit dem Friedrich Wolters betraut worden war. Gegenüber den ersten Plänen von 1914, die mit dem Aufbau des Kreises und dem Programm der ,geistigen Bewegung‘ in Zusammenhang gestanden hatten, erhielt das Unternehmen in der Mitte der 1920er-Jahre eine andere Aufgabenstellung. Das Buch sollte nun das gesamte Lebenswerk StGs als eine in sich konsequente Entwicklung und zugleich als einen agonalen Eingriff in die deutsche Geistesgeschichte schildern. Ähnlich wie im Fall der Gesamtausgabe geschah das um den Preis einer gewissen Philologisierung und Historisierung. Wie sehr StG in das Schreiben der sogenannten ,Blättergeschichte‘ involviert war, hat Steffen Martus philologisch an den überlieferten Typoskripten nachgewiesen.206 StG hat nicht nur Dokumente und Informationen über sein Leben und Werk geliefert, sondern auch die Deutungen im Großen und Kleinen vorgegeben. Er hat mit Wolters jede Seite durchgesprochen und an zahlreichen Stellen den Text selbst geändert. Die Angriffe auf einzelne Freunde und Jünger, die von diesen nach der Lektüre des Buchs hauptsächlich Wolters angelastet wurden, sind von StG in jedem Fall gebilligt, manchmal sogar verschärft worden. Dies spricht gegen die Annahme, dass StG mit dem Buch einzig und allein die historische Darstellung seines Dichtertums und die Bewahrung seines ,Bildes‘ intendiert habe. Vielmehr wollte er durch die Art, wie die historische Darstellung perspektiviert wurde, zugleich seine aktuelle Wirkung verstärken, selbst wenn dies frühere Perioden und ehemalige Weggenossen in ein schiefes Licht setzte. Als mehrere Jünger, die Einblick in die Handschrift des noch nicht gedruckten Buches erhielten, StG rieten, die eine oder andere Stelle präziser und weniger rhetorisch zu fassen, wies er ihre Einwände mit dem Argument ab: [W]ichtiger sei der Zeitpunkt, wann ein solches Werk herauskommt, als daß es für die Ewigkeit geschrieben sei. Solche dialektischen und kommentierenden Werke, gleichsam die Streitschriften, seien für zeitliche Wirkung bestimmt, sie hätten ihre Augenblicksaufgabe. Eine Zusammenfassung solcher Art erfolge ja von irgendeiner Seite doch einmal, da sei es 204 Vgl. die Auswertung der direkten Rezensionen in I, 2.8.3.1. Dort auch ein Zitat aus der von Ernst Blass verfassten Besprechung. 205 Vgl. die Sammlung von Zeugnissen bei Kolk 1998, S. 434f. 206 Vgl. Martus, Werkpolitik, S. 673ff.

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I. Stefan George und sein Kreis

ihm, dem Dichter, lieb, wenn er selbst noch mit einwirken und dafür Sorge tragen könne, daß die Akzente und Gewichte richtig verteilt würden. (LT, 249)207

Gerade weil das Buch sowohl ein kanonisches Geschichtswerk als auch eine rhetorische Streitschrift sein sollte, verfehlte es beide Ziele. In der Öffentlichkeit wurde es als Geschichte einer Kirche beiseite geschoben, an deren Lehre man nicht glaubte. Im Kreis aber empfanden selbst diejenigen Jünger, die die Dogmen des Buches guthießen, ein Unbehagen über die Verzerrungen von Personen und Ereignissen, die man aus eigener Erfahrung anders kannte. Dass besonders die alten Freunde des ,Meisters‘, die bei Wolters schlecht wegkamen, nicht erfreut waren, versteht sich von selbst. Während Wolfskehl, der von der antisemitisch gefärbten Charakteristik der eigenen Person tief verletzt war, dem ganzen Buch noch einen polemischen Sinn in der heutigen Zeit zusprach, schimpfte Gundolf über das „heillos schlechte, durch und durch verlogene Buch“ und bekundete, er habe mit dieser offiziellen oder offiziösen „Kreislehre oder historie“ der „George-orthodoxie“ nichts mehr gemein.208 Konnte Gundolfs Ablehnung der ,Blättergeschichte‘ niemanden überraschen, so war die ebenso heftige Reaktion von Kommerell, dem ehemaligen Wolters-Verehrer, nicht erwartet worden. Am Ende des Briefes vom 17. Juni 1930, in dem er das Angebot einer Funktion im Stiftungsrat zurückwies, teilte er StG mit, dass „das Woltersbuch mir manches (wenn auch nur einen kleinen Teil) zum Bewußsein gebracht hat: dies bei aller gewaltigen Leistung im Einzelnen für mich doch furchtbare Buch!“209 Was Kommerell damit meinte, setzte er am Ende des Jahres seinem Freund Johann Anton auseinander, um zu erklären, warum er in der Zwischenzeit sein Verhalten gegenüber StG und dem Kreis geändert habe. Wolters, so schrieb er, hat der ganzen Gründung durch sein Buch die Ansicht des Kirchlichen gegeben, hat Gegnerschaften von Rang mit kleinen Gesten der Sekte erledigt, hat die Verehrung des großen Menschen (in den letzten Kapiteln) entstellt zu einer Devotion, die ein Frösteln der Scham in feinern Geistern hervorrufen muß, und die, als eine andere Form der Betastung, D. M. [der Meister] ablehnen mußte!

Und gegen Ende des Briefes fügte Kommerell hinzu: Laß Dir noch sagen, daß die Gefahr diese ist: das Banale in der Sprechweise höchster Salbung nicht mehr zu erkennen, es gar für dichterisch zu halten, so daß Faustrecht im Geistigen, liturgische Pathetik im Dichterischen zusammentritt, um auch in dieser Umgebung dem mittleren Format die Existenz zu sichern, dem größern zu erschweren oder zu verekeln. Für das reine Gedicht: das höhere Individuelle, das als solches ein Muster ist – hat fast niemand mehr Sinn. Es muß Aufhöhung, Ethos, Pathos, Ritual zu hilfe kommen.210

Der ganze Brief richtete sich eigentlich nicht gegen Wolters, sondern gegen StG, der seine Aufgabe als Dichter, das höhere Individuelle zu bilden, verraten habe und sich stattdessen mit Menschen von mittlerem Format umgebe. Implizit teilte Kommerell auch mit, dass er im Gegensatz zur Mehrheit der Jünger eben zu den feineren Geistern und höheren Individuen gehöre – eine von gesteigertem Selbstbewusstsein zeugende Botschaft. 207 208 209 210

Vgl. ebd., S. 670f. F. Gundolf an J. Landmann v. 16.11.1930, zit. nach G/G, S. 390. M. Kommerell an StG v. 17.6.1930, in: Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen, S. 171. M. Kommerell an J. Anton v. 7.12.1930, in: ebd., S. 195f., 197.

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Kommerells Distanzierung von StG hatte innerlich schon etwa zwei Jahre vor der Veröffentlichung der ,Blättergeschichte‘ begonnen. Bereits 1928, also in dem Jahr, in dem er selbst das Buch Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik abschloss und das Neue Reich erschien, waren ihm Zweifel an der Herrschaft des ,Meisters‘ über den Kreis der Jünger gekommen. Die ,Blättergeschichte‘, deren Entstehung er aus der Nähe mitverfolgen konnte, lieferte ihm zusätzliches Material für die Einsicht, dass der Kreis wie eine Sekte funktionierte, in der der Gründer (oder Guru) seine Anhänger völlig beherrscht und alle, die vom vorgeschriebenen Weg abweichen, entweder selber oder mithilfe willfähriger Subjekte bestraft. Insbesondere erkannte Kommerell, dass das pädagogische Konzept des Kreises, das angeblich die innere Bildung der Jünglinge befördern sollte, dort nicht mehr galt, wo diese sich zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickelten. Der ,Meister‘ verhindere das freie ,Wachstum‘ des ,Ichs‘, dies war der entscheidende Vorwurf, den Kommerell in seinem Brief an StG vom 17. Juni 1930 noch etwas verklausuliert formulierte.211 Niemals zuvor hatte es ein Jünger gewagt, StG so direkt anzugreifen. Und Kommerell war auch der Erste, der von sich aus den Bund aufkündigte. Anders als Gundolf hatte er die Kraft, innerhalb von einem Jahr den Bruch mit StG zu vollziehen und gleichzeitig die Beziehungen zu allen Jüngern außer Johann Anton zu beenden. Umgekehrt war StG nicht mehr stark genug, um einen längeren Kampf mit seinem bisherigen Liebling durchzuhalten. Nach einigen gescheiterten Versuchen, Kommerell zur Umkehr zu bewegen, gab er auf. Opfer dieser Auseinandersetzung wurde Johann Anton, der zusammen mit Kommerell der ständige Begleiter StGs gewesen war, nun aber immer tiefer in ein Beziehungsdilemma geriet. Einerseits wollte er in der Nähe des ,Meisters‘ bleiben und den Kreis der Jünger nicht verlassen, andererseits den geliebten Freund nicht verlieren. Im Laufe des Jahres 1930 appellierte er zunehmend verzweifelt an Kommerell, den endgültigen Bruch mit StG zu vermeiden, doch ohne Erfolg. Anfang 1931 sah er für sich keine Lösung mehr: Am 25. Februar, dem Geburtstag Kommerells, nahm er sich auf dem Schauinsland bei Freiburg das Leben. Wie zwölf Jahre zuvor beim Freitod von Bernhard von Uxkull und Adalbert Cohrs reagierte StG fassungslos, als ihm die Nachricht in Thormaehlens Atelier überbracht wurde. Er sei, so berichtet Helmut Küpper, im Raum ruhelos herumgegangen und habe immer wieder die Frage vor sich hingesprochen: „Wie konnte das geschehen, wie durfte das geschehen“.212 Dass er selber, der auch in diesem Konflikt nach der Devise ,Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich‘ gehandelt und den sowieso schon hin- und hergerissenen Anton zusätzlich unter Druck gesetzt hatte, eine wesentliche (nicht: die alleinige) Verantwortung für den Freitod seines Jüngers trug, ist ihm vermutlich nicht in den Sinn gekommen. Sicher ist: Das Ergebnis des Konflikts mit Kommerell fiel für StG desaströs aus. Mit einem Schlag hatte er die beiden Lieblingsjünger der letzten Jahre verloren. Die von Walter Elze überlieferte Äußerung, „Da weiß man drei Wochen lang nicht, ob man das übersteht“,213 deutet die Erschütterung an.

211 Vgl. M. Kommerell an StG v. 17.6.1930, in: ebd., S. 171: „Ich bin entschlossen, mein Ich dahin wachsen zu lassen, wohin sein Wachstum drängt – redet man doch so gern vom Entschluß, wo man eigentlich gar keine Wahl hatte.“ 212 Private Aufzeichnung von Helmut Küpper, zit. in RB II, S. 297. 213 Private Erinnerungen von Walter Elze, zit. ebd., S. 265.

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1.13. Das Ende des Lebens: 1933 Anfang der 1930er-Jahre war StG körperlich so geschwächt, dass er den Rhythmus seines Reiselebens deutlich verlangsamen musste. Bis zu seinem Tod gab es nur noch wenige Orte, an denen er sich regelmäßig für mehrere Wochen oder gar Monate des Jahres aufhielt: Berlin und München im Frühling, Königstein (Taunus) und Wasserburg (Bodensee) im Sommer, wieder Berlin im Herbst und schließlich Minusio (Tessin) im Spätherbst und Winter. Am längsten verweilte er in Berlin, Wasserburg und Minusio, und das lag nicht zuletzt daran, dass an allen drei Orten Clotilde Schlayer (1900–2004) und ihr Freund, der Arzt Walter Kempner (1903–1997), für eine komfortable Unterbringung sorgten und über seine labile Gesundheit wachten. In BerlinDahlem besaß Schlayer ein Haus (Boetticherstraße 15c), in dem StG häufig übernachtete. Tagsüber war er meist in Thormaehlens ,Achilleion‘ anzutreffen, abends holte ihn dort Kempner, der als Assistenzarzt bei Gustav von Bergmann an der Charite´ arbeitete, mit dem Wagen ab und brachte ihn nach Dahlem. Hier fand er Ruhe nach den ,Staatsgeschäften‘ und war auch vom Verkehr der Großstadt abgeschirmt. Im Juli 1931 fuhr er zum ersten Mal nach Wasserburg, wo das Haus von Gerda von Puttkamer – der Schwägerin Clotilde Schlayers – auch genügend Platz für kürzere Besuche von Kreismitgliedern bot. StG fühlte sich in der direkt am See gelegenen Villa (Uferstraße 18) wohl und kam in den beiden folgenden Jahren wieder. Das Gleiche gilt für den Molino dell’Orso in Minusio, den Schlayer als mögliches Winterquartier für StG entdeckt und gleich angemietet hatte. Nach der ersten Woche, die StG im ,Molino‘ verbracht hatte, schrieb er seiner Schwester am 10. Oktober 1931: „Ich wohne in einem ruhigen, südlich-reizvollen privathäuschen etwas oberhalb Locarnos wo ich das lezte mal vor 3 ½ jahren mich aufhielt […].“214 Zusammen mit Schlayer und Frank Mehnert (1909–1943), der nach Antons Tod zu seinem ständigen Begleiter geworden war, blieb StG bis zum April 1932. Die nächste Saison in Minusio dauerte von November 1932 bis März 1933. Ein letztes Mal kehrte er Ende September nach Minusio zurück, wo er am 4. Dezember 1933 starb.215

214 StG an A. George v. 10.10.1931, StGA. 215 Vgl. dazu Schlayer, Minusio.

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Auch in den letzten Jahren seines Lebens war StG von Jüngern umgeben, die überwiegend der Generation der ,Enkel‘ angehörten. Sogar in Minusio erhielt er immer wieder Besuch von einzeln oder paarweise anreisenden ,Staatsstützen‘. Obwohl StG bei den Treffen versuchte, die aktuelle Politik aus den Gesprächen herauszuhalten, konnte er in der radikalisierten Situation der frühen 1930er-Jahre nicht verhindern, dass es immer wieder zum Meinungsstreit zwischen den Anwesenden kam. Die stärker werdende Bewegung des Nationalsozialismus führte zu einer politischen Polarisierung, die auch den inneren Kern des Kreises betraf. Auf der einen Seite gab es eine Gruppe von Jüngern, die mit dem Nationalsozialismus sympathisierten. Zu ihnen gehörten u. a. Ludwig Thormaehlen, Walter Anton, Albrecht von Blumenthal, Frank Mehnert sowie die Stauffenbergs. Auf der anderen Seite fanden sich diejenigen, die den Nationalsozialismus ablehnten, freilich aus ganz unterschiedlichen Gründen. Robert Boehringer, der sich im Laufe seiner schweizerischen Jahre zu einem Liberalen gewandelt hatte, konnte den antibürgerlichen und antidemokratischen Furor der Nationalsozialisten nicht tolerieren und nahm bei Zusammenkünften der Georgianer so deutlich Stellung, dass StG den anderen Jüngern eingeschärft haben soll: „Kinder, redet bloß nicht über Politik. Sonst hängt ihm gleich das Kinn so weit herunter, dass er zu sonst nichts zu brauchen ist.“216 Einige andere Jünger, die wie StG die bürgerliche Gesellschaft und den demokratischen Staat wenig schätzten oder gar verachteten, fühlten sich durch den militanten Antisemitismus der Nationalsozialisten abgestoßen, wenn nicht als Juden persönlich angegriffen. Das galt etwa für Ernst Kantorowicz. Im Sommer 1932 kam es im Hause von Gerda von Puttkamer (1901–1953) zu besonders heftigen Auseinandersetzungen.217 Karl Josef Partsch (1914–1996), der damals hauptsächlich mit Mehnert und den Stauffenbergs befreundet war, aber deren politische Tendenz nicht teilte, schreibt in seinen Erinnerungen: Die Herrin des Hauses war eine entschiedene Gegnerin des Nationalsozialismus und kreuzte deswegen häufig mit Frank [Mehnert] die Klingen. Im Sommer 1932 wurde die Reichspräsidentenwahl vom 10.4.1932 lebhaft diskutiert. Claus von Stauffenberg fand, es sei richtig gewesen, dabei für Hitler zu stimmen, um den bürgerlichen Kreisen klar zu machen, daß sie sich nicht darauf verlassen dürften, auf die Dauer die Herrschaft zu behalten.218

Nach der Reichstagswahl am 31. Juli 1932, bei der die NSDAP zur stärksten Partei geworden war, befürwortete Walter Anton in einer für Karl Josef Partsch und weitere ,Ungläubige‘ gedachten Denkschrift ein strategisches Bündnis mit Hitlers Partei. Er begrüßte die Bewegung des Nationalsozialismus, die aus dem deutschen Volkshass entstanden sei, und bezeichnete es als ihre Aufgabe, alles Bürgerliche hinwegzufegen, damit im Anschluss an diese Reinigung ein wieder vom deutschen Dichtergeist erfülltes Reich errichtet werden könne. Über ein reines Machtkalkül ging Anton insofern hinaus, als er eine gewisse Kongruenz zwischen den weltanschaulichen Prinzipien der Nationalsozialisten und der Georgianer behauptete, die besonders den Kampf gegen „das ewig Weibliche und das ewig Jüdische“ der „bürgerlichen Vegetationsformen“ 216 Karl Josef Partsch, [Erinnerungen an Robert Boehringer], in: Wie jeder ihn erlebte. Zum Gedenken an Robert Boehringer, hrsg. v. Georg Peter Landmann, Privatdr., Basel 1977, 74–87, hier: 75. 217 Zum Folgenden vgl. genauer Kolk 1998, S. 487–497; Raulff 2009, S. 64ff. 218 K. J. Partsch an Walther Greischel v. März 1963, StGA.

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betreffe. Die Jünger des Dichters StG kämen deshalb nicht umhin, diesen „Redner“ – gemeint ist Hitler, der an keiner Stelle beim Namen genannt wird – als „Knecht des deutschen Geistes“ willkommen zu heißen, weil seine Parolen mit den Lehren des ,Meisters‘ verwandt seien: Ein Uebergang zu einem besseren Führer braucht keinen Konflikt zu bringen mit den einmal eingehämmerten Glaubensformeln. Denn eine höhere und weitere Politik braucht ja nicht andere Formeln zu haben, sondern nur eine andere Handhabung der Formeln. In einem Wort haben verschieden Wirklichkeiten Platz und in diesem Parteiprogramm manche uns verwandte, im Gegensatz zur Reichsverfassung in die kein Herrgott einen anständigen Sinn hineintragen kann.219

Durch Antons Denkschrift sah sich Gerda von Puttkamer zu einer Entgegnung veranlasst, in der sie die Verknüpfung von StG mit der geistlosen und gewalttätigen Bewegung Hitlers als pure Demagogie bezeichnete und sich gegen diese primitive „Umfälschung und Zerstückelung des Georgeschen Werkes“ und „Schändung des Menschlichen Geistes aller Zeiten“ verwahrte.220 Nach Hitlers Ernennung zum deutschen Reichskanzler am 30. Januar 1933 rissen die politischen Gräben innerhalb des Kreises noch tiefer auf. Graf Woldemar von Uxkull war einer von denen, die glaubten, das von StG prophezeite ,Neue Reich‘ sei mit Hitlers ,Drittem Reich‘ in die Phase seiner Verwirklichung eingetreten, und dies auch außerhalb des Kreises kundgaben. Am 12. Juli 1933, also dem 65. Geburtstag StGs, hielt der Tübinger Professor für Alte Geschichte einen Vortrag über Das Revolutionäre Ethos bei Stefan George, in dem er den Dichter als geistigen Wegbereiter des nationalsozialistischen Umsturzes feierte. Sein enger Freund Ernst Kantorowicz, der wie StG den Text des Vortrags erhielt, war entsetzt. Als in den folgenden Monaten immer deutlicher wurde, dass die Nationalsozialisten ihre antisemitischen Parolen in politische Maßnahmen umsetzten, entschied er für sich, dass er als Jude der Beanspruchung von StG für das ,Dritte Reich‘ öffentlich entgegentreten müsse. Im November 1933 begann er als Frankfurter Privatdozent für Geschichte seine Vorlesung mit der Präambel, wer den Titel eines Professors führe, der müsse „in entscheidenden Stunden auch Bekenner zu sein den Mut haben“.221 In der ersten Stunde sprach er über die Geschichte und die Bedeutung des Begriffs ,Geheimes Deutschland‘. Seine von 219 [Walter Anton], Denkschrift zum 31. Juli 32. Für Crajo [!] und ältere Ungläubige vom Löwen geschrieben in ermangelung von Wolters und Hans, 6 Blätter ohne Paginierung, StGA. 220 Gerda von Puttkamer, Entgegnung auf das Löwen-Script Sommer 1932, Typoskript, 3 S., StGA. Dort heißt es u. a.: „Heute mündet plötzlich alles, auch was ursprünglich ganz wo anders herkam, auf die breite Strasse die Wolters ausgewalzt hat. […] Jetzt wird einfach Staat gleich Staat gesetzt. D. M. [Der Meister] sagte von dem Löwen-Script halb entschuldigend: ,Es ist ja für keine Art Öffentlichkeit geschrieben, sondern nur für einige Leute, die gewissen Gesichtspunkten überhaupt zugänglich sind.‘ Leider habe ich gerade dieses ausschließende Moment dort nicht erkennen können sondern fand, dass die Gesichtspunkte aller Welt zugänglich sind, von dem Stil ganz zu schweigen der sich dem der ,kläffenden Kerle‘, die angeblich ,schlecht in unsre Reihen passen‘, schon mit viel Geschick anzugleichen gewusst hat.“ 221 Ernst Kantorowicz, Das Geheime Deutschland. Vorlesung, gehalten bei Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit am 14. November 1933, hrsg. v. Eckhart Grünewald, in: Robert L. Benson/Johannes Fried (Hrsg.), Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt, Wiesbaden 1997, S. 77–93, hier: 77. Zur Analyse der Vorlesung über das ,Geheime Deutschland‘ vgl. genauer Raulff 2009, S. 157–167.

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George-Zitaten durchzogene Argumentation versuchte als zentrale Botschaft zu vermitteln, dass das ,Geheime Deutschland‘ niemals mit einem wirklichen Reich in weltgeschichtlicher Zeit identifiziert werden könne und dürfe, weil es ein geistiges Reich von heilsgeschichtlicher Wesenheit sei. Dieses Reich habe sich „nie zugetragen“, sei aber zugleich, wie der Aufstand der Toten beim Jüngsten Gericht, „stets unmittelbar nahe, ja gegenwärtig“. Konkreter an StGs Vorstellungswelt orientiert, sagte Kantorowicz über das ,Geheime Deutschland‘: Es ist die geheime Gemeinschaft der Dichter und Weisen, der Helden und Heiligen, der Opfrer und Opfer, welche Deutschland hervorgebracht hat und die Deutschland sich dargebracht haben […]. Es ist ein Seelenreich, in welchem immerdar die gleichen deutschesten Kaiser eigensten Ranges und eigenster Artung herrschen und thronen, unter deren Zepter sich zwar noch niemals die ganze Nation aus innerster Inbrunst gebeugt hat, deren Herrentum aber dennoch immerwährend und ewig ist und in tiefster Verborgenheit gegen das jeweilige Aussen lebt und dadurch für das ewige Deutschland.222

Unmissverständlich richtete sich der letzte Satz gegen alle Bestrebungen, StGs ,Geheimes Deutschland‘ und ,Neues Reich‘ für das von Hitler ausgerufene ,Dritte Reich‘ der Nationalsozialisten zu reklamieren. – In einem Brief vom 26. November 1933 berichtete Kantorowicz von seiner Vorlesung und fragte StG, ob sie in der Reihe der ,Staatsbücher‘ veröffentlicht werden könne. Im Selbstverständnis des Kreises wäre das eine vom ,Meister‘ autorisierte Absage an die neuen Machthaber gewesen, an die sich alle Jünger hätten halten müssen. Doch als der Brief um Wochen verspätet in Minusio ankam, war StG gestorben und der Verwalter seines Erbes, Robert Boehringer, lehnte im Einvernehmen mit anderen Jüngern das Ansinnen ab, weil das Staatssiegel nach dem Tod StGs nicht mehr verwendet werden dürfe. Der Text blieb ungedruckt. Es ist unwahrscheinlich, dass StG seine Erlaubnis zur Veröffentlichung in den ,Staatsbüchern‘ gegeben hätte. Denn er vermied schon in den Gesprächen mit den Jüngern eine klare Stellungnahme zu den politischen Vorgängen in Deutschland, die er am liebsten ganz aus dem Kreis herausgehalten hätte. Wenn einer der Jüngeren sich überschwänglich für die ,nationale Revolution‘ begeisterte, versuchte er ihn mit spöttischen Bemerkungen zu bremsen. So bezeichnete er Frank Mehnert, der das Schwärmen für die neuen Machthaber sogar in Minusio nicht ließ und damit den Widerspruch von Clotilde Schlayer provozierte, häufiger als ,kleinen Nazi‘ und spielte damit insgesamt die Bedeutung der politischen Angelegenheiten herunter. Ebenso wenig, wie er sich von den nationalsozialistisch gesonnenen Jüngern einspannen ließ, unterstützte er umgekehrt die jüdischen Kreismitglieder, die sich mit ihren Sorgen und Ängsten an ihn wendeten und auf ein eindeutiges Wort hofften. Edith Landmann, die, durch die Rassenpolitik der Nationalsozialisten tief verunsichert, ihre Identität als Jüdin und Deutsche neu zu fassen suchte, erinnert sich, im Sommer 1933 folgende Äußerungen von StG gehört zu haben: Über das Politisch-Aktuelle sagte er mir in Berlin, was er wohl allen Älteren sagte, denen gegenüber er die Jungen in Schutz nahm, es sei doch immerhin das erste Mal, dass Auffassungen, die er vertreten habe, ihm von aussen wiederklängen. Und als ich auf die Brutalität der Formen hinwies: Im Politischen gingen halt die Dinge anders. Bei der letzten Unterredung 222 Kantorowicz, Das Geheime Deutschland, S. 80 (alle Zitate).

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erklärte er, was die Juden betrifft: nach allem, was er gelebt, müsse er hierüber kein Wort ausdrücklich noch sagen. […] ,Ich will Ihnen etwas sagen: wenn ich an das denke, was Deutschland in den nächsten fünfzig Jahren bevorsteht, so ist mir die Judensach im Besonderen nicht so wichtig.‘ (EL, 209)

Zu einem Zeitpunkt, als sein alter Freund Wolfskehl bereits vor den Nationalsozialisten geflohen war und andere Jünger ihre Emigration planten, wollte StG die sich abzeichnende Bedrohung der Juden entweder überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen oder daraus keine Konsequenzen für sein Handeln ziehen. Bei dem für ihn schon immer typischen Bestreben, die eigene Sphäre gegen die aktuellen Geschehnisse abzuschirmen, übersah er freilich, dass sein bewusster Verzicht auf eine klare Stellungnahme den inneren Zerfall des Kreises nicht verhindern konnte, weil die von außen einwirkenden Kräfte zu stark waren. Gegenüber der Öffentlichkeit hüllte sich StG konsequent in Schweigen. Dieses Schweigen des großen Dichters zum nationalsozialistischen Reich deuteten einige Beobachter als ein Zeichen der Ablehnung. Walter Benjamin, der einen Artikel zum 65. Geburtstag StGs schrieb, hörte durch das Schweigen hindurch die Stimme des Propheten, der schon lange das heranbrechende Strafgericht vorausgesehen habe. Klaus Mann hoffte, es handele sich um eine abwehrende Geste des Dichters gegenüber dem neuen Deutschland, das für ihn schlimmer sei als das alte: „das Haupt weggewendet von einem Geschlecht, das sich täglich in eine noch tiefere Schande verstrickt, als die es war, von der er es reinigen wollte“.223 Doch mit seinem Schweigen wollte StG nur sagen, dass er weiterhin nichts mit der Tagespolitik zu tun habe. Ein einziges Mal sah sich StG veranlasst, die stillschweigend gezogene Grenze zur Tagespolitik ein Stück weit zu durchbrechen. Der Grund war folgender: Im Zuge der allgemeinen ,Gleichschaltung‘ hatten nationalsozialistische Kulturpolitiker begonnen, auch die Preußische Akademie der Künste in ihrem Sinne zu reinigen. Für die unter Protest ausscheidenden Mitglieder – Heinrich und Thomas Mann, Alfred Döblin, Ricarda Huch und zehn andere – suchten sie möglichst prominenten Ersatz und verfielen dabei auch auf StG. Am 5. Mai 1933 wandte sich Bernhard Rust, der neue preußische Kultusminister, an Ernst Morwitz, der damals noch Preußischer Kammergerichtsrat war, und fragte über ihn an, ob StG eventuell zum Eintritt in die Akademie bereit sei. Für diesen Fall bot er dem Dichter nicht nur eine „Ehrenstellung ohne jede Verpflichtung“, sondern auch einen „Ehrensold“ an. Als Morwitz die Anfrage weiterleitete, machte er zugleich einige Vorschläge, wie StG eine Ablehnung begründen könnte, ohne das Ministerium völlig vor den Kopf zu stoßen. Sein Ziel war, eine öffentliche Nennung von StG zu vermeiden. StG war mit Morwitz einverstanden, was die Ablehnung betraf, wollte aber zusätzlich etwas Positives über sein Verhältnis zur ,nationalen Bewegung‘ sagen, wohl wissend, dass dies Morwitz „wider den Strich“ gehen würde – denn, so schrieb er Morwitz, auf dessen Judentum und die Rassenpolitik der Nationalsozialisten anspielend, „da bist Du unter den gegebenen umständen nicht geeignet das rechte wort zu finden“. Der von StG am 10. Mai 1933 formulierte Text des Antwortschreibens, das Morwitz dem Ministerium übergeben sollte, lautete: 223 Klaus Mann, Das Schweigen Stefan Georges, in: Die Sammlung 1/1933, 2 (Oktober), S. 98–103, hier: 103.

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[I]rgendwelchen posten · auch ehrenhalber · der sogenannten akademie kann ich nicht annehmen ebensowenig einen sold. dass diese akademie jezt unter nationalem zeichen steht ist nur zu begrüssen und kann vielleicht später zu günstigen ergebnissen führen – ich habe seit fast einem halben jahrhundert deutsche dichtung und deutschen geist verwaltet ohne akademie · ja hätte es eine gegeben wahrscheinlich gegen sie. Anders verhält es sich mit dem positiven: die ahnherrnschaft der neuen nationalen bewegung leugne ich durchaus nicht ab und schiebe auch meine geistige mitwirkung nicht beiseite. Was ich dafür tun konnte habe ich getan · die jugend die sich heut um mich schart ist mit mir gleicher meinung . . das märchen vom abseit stehn hat mich das ganze leben begleitet – es gilt nur fürs unbewaffnete auge. Die gesetze des geistigen und des politischen sind gewiss sehr verschieden – wo sie sich treffen und wo geist herabsteigt zum allgemeingut das ist ein äusserst verwickelter vorgang. Ich kann den herrn der regierung nicht in den mund legen was sie über mein werk denken und wie sie seine bedeutung für sie einschätzen.224

Morwitz scheint den Oberregierungsrat Kurt Zierold, dem er dieses Schreiben aushändigte, überzeugt zu haben, dass eine Veröffentlichung für beide Seiten nicht von Interesse wäre. Erst zur Feier des 65. Geburtstags von StG wurden in der Presse einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Sätze zitiert, die belegen sollten, dass sich StG zum Nationalsozialismus bekannt habe. Das vollständig erst Jahrzehnte später publizierte Schreiben eröffnet einen weiten Spielraum für Interpretationen. Der Biograph Robert E. Norton deutet es als Beleg dafür, dass sich StG selbst als Ahnherr des Nationalsozialismus verstand.225 Andere sehen in ihm einen bloß rhetorischen Akt der politischen Diplomatie, der den gewünschten Erfolg – die ausbleibende Instrumentalisierung durch den Nationalsozialismus – bewirkt habe. Vieles spricht für eine bewusste Unschärfe der Aussage, die weder die eine noch die andere Deutung ausschließt, umgekehrt aber auch keine Interpretation eindeutig bestätigt. Jedenfalls blieb StG in den verbleibenden Monaten seines Lebens davor verschont, ins Licht der politischen Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Seinen 65. Geburtstag, der relativ wenig beachtet wurde, wollte er ursprünglich zusammen mit seiner Schwester in Bingen begehen. Bei seinem Aufenthalt im Elternhaus, das er nach einer zwanzigjährigen Unterbrechung noch einmal besuchte, störte ihn jedoch der Lärm eines in der Nähe stattfindenden Jahrmarktes so sehr, dass er vorzeitig abreiste. Stattdessen verbrachte er den Geburtstag in aller Stille bei Clotilde Schlayer und Walter Kempner in Berlin-Dahlem. In Begleitung von Mehnert fuhr er Mitte Juli nach Wasserburg am Bodensee und von dort aus Mitte August nach Heiden im Appenzellerland. Nach einer kürzeren Zwischenstation in Basel, wo er sich von Mehnert trennen musste, traf er Ende September in Minusio ein. Wie die Jahre zuvor hatte Schlayer alles bestens vorbereitet, doch dieses Mal war die heitere Stimmung des Molino von Beginn an durch eine fiebrige Erkrankung StGs getrübt, die sich hartnäckig hielt. Die vorangegangenen Aufenthalte in Minusio hatte StG sehr genossen. Er liebte das vergleichsweise milde Wetter, das seine Spaziergänge noch im Winter möglich machte. Zugleich fühlte er sich in der Gesellschaft von Clotilde Schlayer und Frank Mehnert wohl. Die Hausherrin verwöhnte ihn mit abwechslungsreichen und geschmackvollen Speisen sowie mit ausgesuchten, häufig sogar erlesenen Weinen un224 StG an E. Morwitz v. 10.5.1933, Briefentwurf (Schreiber Frank Mehnert), StGA. Die gestrichenen Varianten sind hier nicht wiedergegeben. Zu den unterschiedlichen Entwürfen und Fassungen des Briefes vgl. Karlauf 2007, S. 622, 762 Anm. 39. 225 Vgl. Norton, Secret Germany, S. 728ff.

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terschiedlicher Provenienz. StG schätzte aber auch, wie sie sich als Persönlichkeit gegenüber ihm verhielt. Mit sicherem Taktgefühl scheint Schlayer im täglichen Umgang mit StG die für ihn richtige Dosierung von Zuwendung und Zurückhaltung gefunden und auch das richtige Verhältnis von durchgehender Bewunderung und gelegentlichem, niemals verletzendem Spott getroffen zu haben. Schlayer, eine kluge und gebildete Frau, versuchte in den gemeinsamen Gesprächen nicht intellektuell zu brillieren, war aber überaus schlagfertig, was StG vor allem dann gefiel, wenn es den etwas unbeweglichen Mehnert traf. Aber auch er selbst ließ sich von ihr dann und wann aufziehen. Umgekehrt machte Schlayer bereitwillig mit, wenn er sie und Mehnert neckte und foppte. Liest man Schlayers Berichte, die sie fast täglich aus Minusio an Kempner in Berlin schickte, so staunt man über die gelöste, von der üblichen Bedeutsamkeit weitgehend befreite Atmosphäre, in der StG nicht selten eine kindliche Freude am Spiel mit Dingen, Worten und Gefühlen zeigte. Wie bei einem Kind passierte es freilich auch, dass seine gute Laune plötzlich umschlug. Schlayer versetzten diese Umschwünge in eine innere Unruhe, sie blieb aber nach außen gelassen und trug durch ihr fürsorgliches Verhalten dazu bei, dass sich die Stimmung bald wieder aufheiterte. Im Herbst 1933 belastete StGs Krankheit die Atmosphäre in Minusio, doch die Freundschaft mit Schlayer bewährte sich in diesen schweren Wochen. Bis Ende Oktober übernahm Schlayer alleine die Pflege des bettlägerigen Kranken, der in dieser Zeit oft so schwach war, dass er sich sogar bei der Körperhygiene und beim Kleiderwechsel helfen lassen musste. Zum Erstaunen von StG und seinen Vertrauten fühlte er sich in den Händen einer Frau nicht schlechter behandelt, als wenn er wie üblich von einem Jüngling betreut worden wäre: Man [d. h. bei Schlayer immer: StG] war mir überaus zuckern […] und nennt mich nur noch Nippelchen, Nuppchen usw. auch als Ruf und direkte Anrede. Als ich das Bett machte, sagte Man vor sich hin: ,sonst bedarf es keiner Offenbarung.‘ Und nachher sagte Man: Ja, ja, da haben Sie sich was Schönes eingebrockt. Aber Sie habens ja selbst gewollt. Ich sagte: Zwar, was sehr Schönes. Und als Man nachher von Fr. [Frank Mehnert] sprach, der würde, wenn er erführe, dass ich die ganze Pflege gemacht hätte, denken, die hats auch nicht leicht gehabt, sagte ich, die in Berlin sässen, könnten mich nur beneiden. […] Der aus Basel hat sich sehr gewundert, wie Man denn auskäme ohne Knaben und es kaum geglaubt als Man sagte, die ,Femininen‘ machten alles ausgezeichnet, Man hätts ihm aber sehr gerühmt, ob mir nicht ,die Ohren geklungen‘ hätten.226

Schlayer, die selbst die etwas anzüglichen Kosenamen und unbeholfenen Komplimente goutierte, freute sich ihrerseits, dass sie dem ,Meister‘ noch näher kam, als ihr dies in der Anwesenheit von Mehnert – den sie wegen seiner nationalsozialistischen und antisemitischen Sprüche sowieso nicht leiden konnte – möglich gewesen war. Permanent kontrollierte sie den Gesundheitszustand StGs und konsultierte Kempner, der die Krankengeschichte genau genug kannte, um eine Ferndiagnose zu wagen. StG hatte durchgehend leichtes Fieber und litt dauerhaft an Schmerzen, die seinen Nachtschlaf stark störten. Kempner scheint eine Harnwegsinfektion vermutet zu haben. Als Therapie empfahl er neben konsequenter Bettruhe eine punktuelle Wärmebehandlung sowie einen strengen Diätplan, der das Trinken von größeren Mengen von Mineralwasser und Blasentee einschloss, während der Genuss von Wein und Zigaretten 226 Schlayer, Minusio, S. 275.

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verboten war. Offenbar hat er auch ein Medikament verordnet, das StG jedoch nicht einnahm – die Pille, so sagte er, „beisst zu arg“.227 Im Übrigen hielt StG sich nolens volens an den medizinischen Rat, zumindest solange er sowieso keine Lust verspürte, aus dem Bett aufzustehen, größere Mahlzeiten zu essen, Wein zu trinken und Zigaretten zu rauchen. Mehrfach ließ Schlayer den in Minusio ansässigen Arzt kommen, der sich den Maßnahmen des Berliner Kollegen anschloss. Wenn es StG besonders schlecht ging, dachte er über eine Einweisung in die nahe gelegene Clinica Sant’Agnese in Muralto nach. Den Vorschlag von Robert Boehringer, sich doch besser in Basel von einem Spezialisten untersuchen und behandeln zu lassen, lehnte er ab, er scheute den Transport und fürchtete sich wohl auch vor einer weiteren Operation. Ende Oktober trat eine deutliche Besserung ein, die den nächsten Monat anhielt. Mit dem Abklingen des Fiebers kam der Appetit zurück, StG verließ das Bett, genehmigte sich zum Essen ein Glas verdünnten Wein und gönnte sich wieder den Genuss von Zigaretten. Da Ende Oktober auch Mehnert in Minusio eingetroffen war, konnte StG den Eindruck haben, dass alles wieder seinen gewohnten Gang nahm. Am 24. November erkundigte sich StG über Schlayer bei Kempner, wie lange er eigentlich noch die verordneten Mittel einnehmen müsse, und drängte den Arzt zugleich, ihn endlich wieder nach draußen zu lassen: Es geht ausgezeichnet und heute hat man mir, durch das so plötzlich herrliche Wetter verlockt, aufgetragen, Es [d. i. Kempner] zu fragen, wie lange das mit dem Im-Zimmer-Bleiben denn noch gehen sollte und wie’s dann mit dem Ausgehen gehalten werden soll!228

Doch am 26. November, einem Sonntag, sackte StG nach dem Mittagessen zusammen und fiel für mehrere Minuten in Ohnmacht. Auf eine kurze Phase der Erholung folgten in der Nacht Anfälle von Schüttelfrost und Erbrechen. Am Montagabend kollabierte StG erneut und wurde deshalb in die Clinica Sant’Agnese gebracht. Sein Zustand war so besorgniserregend, dass Mehnert am Dienstag damit begann, Telegramme an die engsten Freunde zu verschicken. Während StGs Zustand im Laufe der Woche immer kritischer wurde – lange Phasen von Bewusstlosigkeit, Atemstillstände, Schluckbeschwerden, Herzprobleme –, kamen die ersten Freunde in Minusio an. Kempner, der seinen Berliner Arbeitsplatz ohne Genehmigung des Dienstherren verlassen hatte, wachte von Mittwoch an als Arzt am Krankenbett StGs. Außer ihm und Robert Boehringer, der am Donnerstag eintraf, kamen Walter Anton, Albrecht von Blumenthal, Karl Josef Partsch, Ludwig Thormaehlen sowie die drei Stauffenbergs noch rechtzeitig, um sich von dem Sterbenden zu verabschieden. In der Nacht von Sonntag auf Montag, am 4. Dezember 1933 um 1.15 Uhr, trat der Tod durch Herzstillstand ein. StG hatte nichts über sein Begräbnis verfügt. Noch in der Todesnacht entstand zwischen den anwesenden Jüngern eine Diskussion darüber, wo der ,Meister‘ zu beerdigen sei. Robert Boehringer, der am 9. Dezember einen Bericht über das Verhalten beim Tode und bei der Bestattung von Stefan George verfasst hat, dessen Interna in seinem späteren Buch Mein Bild von Stefan George weitgehend ausgelassen werden, schildert die Situation folgendermaßen:

227 Ebd., S. 281. 228 Ebd., S. 315.

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I. Stefan George und sein Kreis

Als wir das Zimmer d.M. verlassen hatten, sassen wir im Bureau der Klinik zusammen, die nächsten Schritte zu beraten. Ob Bestattung in Minusio oder in Bingen war die Frage. Gewähr für Stille und Würde einer Bestattung durch die Freunde, und nur durch diese, schien nur in Minusio gegeben.229

Zu denen, die anfangs für eine Überführung nach Deutschland gewesen seien, hätten Thormaehlen, Blumenthal, Walter Anton und Berthold von Stauffenberg gehört.230 Aus ihrer weltanschaulichen Sicht war die Beerdigung des deutschen Dichters in deutschem Boden eigentlich ein nationales Gebot. Wenn Raulffs Interpretation von Boehringers Bericht stimmt,231 dann schreckte aber auch diese Gruppe von Jüngern vor einer öffentlichen Vereinnahmung StGs durch die nationalsozialistische Propaganda und einem pompös inszenierten Staatsbegräbnis zurück, sodass sie sich letztlich mit einem Begräbnis in der Schweiz einverstanden erklärte. Nachdem man die Zustimmung von StGs Schwester eingeholt hatte, suchte und fand man eine passende Grabstelle auf dem Friedhof von Minusio. Für die Jünger, die aus nationalen Gründen eine Bestattung in Deutschland vorgezogen hätten, ließ sich die Wahl des Ortes mit der weiter gespannten Reichsmythologie StGs rechtfertigen. Minusio lag an der Grenze zwischen Nord und Süd, Deutschland und Italien, und damit gewissermaßen in der Mitte des künftigen ,Neuen Reichs‘. Die anderen, die von den Nationalsozialisten wegen ihrer jüdischen Abstammung verfolgt und vertrieben wurden, konnten die Entscheidung für Minusio auch als eine politische Geste gegen das heutige Deutschland deuten. Der Dichter des ,Geheimen Deutschlands‘ war mit ihnen ins Exil gegangen. Auf die Reichsmythologie und die Zeitgeschichte anspielend, schrieb Wolfskehl seinem alten Freund Verwey am 20. Dezember 1933: „So wie ihn dies letzte Jahr nicht um einen Haarstrich aus der Bahn hat bringen können […], so liegt er wo er wollte am letzten Südrand des Reiches für das er sich und seine Welt erbaut hat […].“232 Nach der im Tessin üblichen Totenwache in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch fand am Morgen des 6. Dezember 1933 die Begräbnisfeier statt. In der Kapelle des Friedhofs von Minusio hatten sich fünfundzwanzig Freunde versammelt, die hier in alphabetischer Reihenfolge genannt seien: Walter Anton, Albrecht von Blumenthal, Erich Boehringer, Robert Boehringer, Ernst Kantorowicz, Walter Kempner, Helmut Küpper, Edith Landmann, Georg Peter Landmann, Silvio Markees, Frank Mehnert, Ernst Morwitz, Karl Josef Partsch, Gerda von Puttkamer, Clotilde Schlayer, Alexander von Stauffenberg, Berthold von Stauffenberg, Claus von Stauffenberg, Robert von Steiger, Wilhelm Stein, Michael Stettler, Ludwig Thormaehlen, Woldemar von Uxkull, Hanna und Karl Wolfskehl. Es wurden zwölf Gedichte vom Anfang des MaximinZyklus aus dem Siebenten Ring gelesen. Mit den Versen von „Erhebung“ (VI/VII, 103), die das Totenamt für Maximin beschließen, endete dieser Teil der Trauerfeier. Anschließend wurde der Eichensarg zum Grab getragen und in die Grube herabgelassen. Nachdem das Grab mit einer Granitplatte verschlossen worden war, sprachen 229 Robert Boehringer, Bericht über das Verhalten beim Tode und bei der Bestattung von Stefan George, Typoskript, S. 6, StGA. 230 Vgl. ebd., S. 9. 231 Vgl. Raulff 2009, S. 33f. 232 Wolfskehl und Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897–1946, hrsg. v. Mea NijlandVerwey, Heidelberg 1968, S. 293.

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drei Jünger gemeinsam den „Schlusschor“ aus dem Stern des Bundes (VIII, 113–114). Danach gingen die Trauernden rasch auseinander. War es bei der Entscheidung über den Begräbnisort gelungen, einen offenen Streit zu vermeiden, und wurde durch die Begräbnisfeier sogar noch einmal das Bild einer geschlossenen Gemeinschaft erzeugt, so zeigte sich in den nächsten Tagen, wie brüchig die Gemeinschaft der Jünger in Wirklichkeit war. Wieder handelte es sich um einen politischen Konflikt, der aus den gegensätzlichen Haltungen zum Nationalsozialismus resultierte. Auf Vorschlag von Frank Mehnert und Berthold von Stauffenberg war gleich am Morgen des 4. Dezember das Büro des Reichspräsidenten über den Tod StGs telegraphisch informiert worden.233 War den Georgianern, die angeblich nur den von StG schon zu Kriegszeiten verehrten Hindenburg unterrichten wollten, nicht bewusst, dass sie damit die Reichsregierung (und über deren Apparatur auch das Pressewesen) in Gang setzten? Zumindest dürften sie über die Geschwindigkeit überrascht gewesen sein, mit der die Reichsregierung reagierte. Bereits am Mittag des 5. Dezember fragte der deutsche Konsul aus Lugano beim Bürgermeister von Minusio an, wann die Beerdigung stattfinde. Robert Boehringer, der die Teilnahme eines Repräsentanten des deutschen Staates verhindern wollte, teilte über das Rathaus eine falsche Uhrzeit mit (nicht 8.15 Uhr, sondern 15 Uhr) und ließ ausrichten, man wünsche im engsten Kreis der Freunde zu bleiben. Als Mehnert und Berthold von Stauffenberg gegen diese Täuschung des deutschen Konsuls Bedenken erhoben, rief Boehringer den deutschen Gesandten in Bern, Ernst von Weizsäcker an, einen guten Freund, von dem er auch wusste, dass seine Söhne den verstorbenen Dichter verehrten. Er vereinbarte mit Weizsäcker, dass erst in den Tagen nach der Bestattung ein Lorbeerkranz des Deutschen Reiches am Grab niedergelegt werden sollte. Am Nachmittag des 7. Dezember wurde diese Zeremonie von Weizsäcker und dem deutschen Konsul aus Lugano vollzogen – ansonsten war nur Boehringer anwesend. Auf der Grundlage von Erinnerungsberichten (Schlayer, Kempner, Mehnert) hat der Stauffenberg-Forscher Peter Hoffmann rekonstruiert, wie der niedergelegte Lorbeerkranz des Deutschen Reiches aussah und was mit ihm in den folgenden Tagen geschah. Der Kranz hatte zwei Bänder, von dem das eine, rote, mit einem schwarzen Hakenkreuz auf weißem Grund versehen war: Clotilde Schlayer legte Rosen darauf, die Frank Mehnert wieder wegräumte. Kurz danach wurde das weiße Rund mit dem Hakenkreuz von Unbekannten entfernt; Frank Mehnert und Karl Josef Partsch kauften weißes Leinen und schwarzes Band und wollten von der Köchin Georges Ersatz schneidern lassen, die weigerte sich, sie nähten selbst und brachten das Ergebnis an dem roten Kranzband an.234

233 Zum Folgenden vgl. Raulff 2009, S. 35–39. 234 Hoffmann, Stauffenberg, S. 138.

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1.14. Überlegungen zum Nachleben Georges In Karlaufs Biographie ist das Gezerre um den Lorbeerkranz ein Sinnbild dafür, dass der Kreis mit dem Tod StGs zerfallen musste. Ohne die Person des ,charismatischen Herrschers‘, so schreibt Karlauf, sei der Zusammenhalt des Kreises fundamental infrage gestellt gewesen: In erster Linie ging es jetzt um die ,richtige‘ Verwaltung des Erbes, und bedeutete zunächst: um die ,richtige‘ Form der Pietät. Der Kampf um das NS-Hoheitszeichen war der Kampf um das Deutungsmonopol. Er war voll entbrannt, noch bevor die Blumen auf dem Grab vertrocknet waren.235

Das von Karlauf in Anknüpfung an Max Weber gewählte Deutungsmuster, mit dem er das ganze Leben und Wirken StGs als Entfaltung charismatischer Herrschaft zu verstehen versucht, führt konsequent zu dem Schluss, dass es nach dem Tod StGs nur noch einen entfesselten Kampf von lauter Sektierern um die richtige Lehre geben konnte. Doch da laut Karlauf das persönliche Charisma StGs die einzige Substanz des Kreises ausmachte, war dieser Kampf um die richtige Lehre eigentlich sinnlos. Das Einzige, was den Jüngern blieb, waren ihre Erinnerungen an den ,Meister‘. Und das Einzige, was dann noch die Nachwelt an StG interessieren kann, ist die wundersame Erzählung von einem Charismatiker, dem erstaunlich viele Menschen erlagen. Ulrich Raulff, der für sein Buch Kreis ohne Meister einen ideengeschichtlichen Ansatz gewählt hat, gelangt zu einer anderen Einschätzung von „Stefan Georges Nachleben“. Zwar beschreibt auch er, wie nach dem Tod StGs die Jünger unterschiedliche Wege einschlugen und unterschiedliche Zirkel innerhalb und außerhalb von Deutschland entstanden. Doch erstens betont er die Wirkung politischer Ideen und Tendenzen, die schon zu Lebzeiten StGs den Zusammenhalt des Kreises geschwächt und auch ohne seinen Tod im Jahre 1933 zu einer Zerstreuung der Jünger geführt hätten. Tatsächlich war der Nationalsozialismus, der jüdische Kreismitglieder wie Wolfskehl, Kantorowicz und Morwitz zur Emigration zwang, der entscheidende Faktor für die nicht nur räumliche, sondern auch gedankliche Spaltung des Kreises in den 1930er-Jahren. Sogar StG, der diese Entwicklung zu bremsen versuchte, war gegen sie letztlich machtlos. Zweitens weist Raulff nach, wie die Ideen und Konzepte, die StG in seinem Werk und seinem Kreis gebündelt hatte, nach seinem Tod weiter existierten und von Menschen, die ihn nicht alle persönlich kannten, in der einen oder anderen Weise fruchtbar gemacht wurden. Das ideengeschichtliche ,Erbe‘ StGs, das ist die Quintessenz von Raulffs Buch, lebt in einzelnen Teilen und unterschiedlichen Formen bis heute fort. Im Jahr 2010 hat Ernst Osterkamp eine „plötzliche Wiederkehr“236 StGs im gegenwärtigen Literatur- und Wissenschaftsbetrieb konstatiert. Allerdings, so schränkt Osterkamp ein, gelte das wiedererwachte Interesse hauptsächlich dem Dichter-Seher, dem Kreisgründer, dem Kulturkritiker und dem Wissenschaftspolitiker. Karlaufs Biographie, die den bisherigen Höhepunkt der „George-Konjunktur“ markiere, sei insofern repräsentativ, als sie sich nicht für die Poesie der Werke, sondern allein für das Charisma des Dichters interessiere. Dagegen lässt sich Osterkamp bei seinen Inter235 Karlauf 2007, S. 635. 236 Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 12.

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pretationen des Neuen Reichs von der „Überzeugung leiten, dass die Wirkungen des Dichters primär auf seiner Poesie beruhen und sich deshalb auch erst aus seiner Poesie erschließen“.237 Es kann hier offenbleiben, ob das Neue Reich, das für ein derartiges Verständnis von Poesie die denkbar größte Herausforderung darstellt, Osterkamp nicht doch zur Überschreitung seines Ansatzes gezwungen und damit seine Überzeugung in diesem extremen Fall widerlegt hat. Wichtig ist der Denkimpuls, dass die Wirkung StGs nicht primär auf seine charismatische Persönlichkeit (und auch nicht auf seine kulturellen ,Ideen‘) zurückgeführt werden darf. Gegen eine solche Erklärung sprechen nicht zuletzt die autobiographischen Erinnerungen an StG, von denen in diesem Artikel nur ein Bruchteil zitiert worden ist. Denn sie belegen auf eindrucksvolle Weise, dass fast immer die Begeisterung für die Gedichte der Begegnung mit StG voranging. Die ästhetische Faszination durch die Dichtung war die Basis, auf der sich die charismatische Wirkung der Persönlichkeit entfalten konnte. Anders gewendet: Diese Faszination durch die Dichtung StGs ist nicht von der Präsenz des Dichters abhängig. Auch nach StGs Tod bleibt die Möglichkeit, dass seine Kunstwerke den Leser ansprechen und ,ergreifen‘, wie man vor einigen Jahrzehnten gesagt hätte. Osterkamps Befund, dass kaum jemand die Werke StGs lese,238 ist zu pessimistisch. Unabhängig von den wechselnden Konjunkturen des Literatur- und Wissenschaftsbetriebs hat StG bis heute Leser gefunden, die zumindest einige seiner Gedichte über alles schätzen. Da der Dichter kein Herrscher ist, rufen sie nicht: Der Dichter ist tot, es lebe die Dichtung! Lieber sprechen sie Verse wie diese aus den Traurigen Tänzen: Ich weiss du trittst zu mir ins haus Wie jemand der an leid gewöhnt Nicht froh ist wo zu spiel und schmaus Die saite zwischen säulen dröhnt. Hier schreitet man nicht laut nicht oft · Durchs fenster dringt der herbstgeruch Hier wird ein trost dem der nicht hofft Und bangem frager milder spruch. Beim eintritt leis ein händedruck · Beim weiterzug vom stillen heim Ein kuss – und ein bescheidner schmuck Als gastgeschenk: ein zarter reim. (IV, 98)

Literatur Karlauf 2007; Raulff 2009; RB II; ZT. Fechner, Jörg-Ulrich (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“. Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der ,Blätter für die Kunst‘ 1890–1898, Heidelberg 1998.

237 Ebd., S. 15. 238 Vgl. ebd.

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Hoffmann, Peter, Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Die Biographie, vollständig überarb. u. erw. Neuausg., München 2007. Kommerell, Max, Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, aus dem Nachl. hrsg. v. Inge Jens, Olten, Freiburg 1967. Martus, Steffen, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007. Norton, Robert E., Secret Germany. Stefan George and his Circle, Ithaca, London 2002. Oelmann, Ute / Raulff, Ulrich (Hrsg.), Frauen um Stefan George, Göttingen 2010 (CP N.F. 3). Osterkamp, Ernst, Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010. Schlayer, Clotilde, Minusio. Chronik aus den letzten Lebensjahren Stefan Georges, hrsg. u. mit Erläuterungen versehen v. Maik Bozza u. Ute Oelmann, Göttingen 2010 (CP N.F. 4). Kai Kauffmann

2.

Stefan George: Werk

2.1.

Die Fibel (SW I)

2.1.1. Entstehung und Überlieferung StGs Lebensmitte sowie erster Schaffens- und Wirkungshöhepunkt fallen in das Jahr der Jahrhundertwende. Vorausschau und Rückblick beschäftigten den 32-Jährigen, und so fügt sich auch das ungewöhnliche Faktum ins Bild, dass sich ein Dichter vor Erreichen der Lebensmitte mit dem Gedanken trägt, seine Jugendgedichte zu sammeln und herauszugeben, d. h. sich der Werkstufe vor dem entscheidenden Durchbruch zuzuwenden. Diesen sah StG 1890 in den Hymnen gegeben, die er noch im gleichen Jahr einer eingeschränkten Öffentlichkeit im Druck vorgelegt hatte. Gedichtabschriften Karl Wolfskehls belegen, dass ihm StG in den Jahren 1897/98 Texte aus seinen frühesten Dichterjahren vorlas. 1898 kündigte der neu gefundene Verleger Georg Bondi das Erscheinen des Frühwerks schon als „in Vorbereitung“ unter dem endgültigen Titel Die Fibel an, und ein Jahr später teilte StG Melchior Lechter mit, die Fibel sei zusammengestellt und solle wie der Teppich des Lebens zur Jahrhundertwende erscheinen.1 Die von StG angestrebte, der Symbolik des Datums 1900 korrespondierende Ballung von Erstpublikationen, die in engem Entstehungs- oder Bedeutungszusammenhang standen, sollte auch noch die ersten beiden Bände der Deutschen Dichtung und die Baudelaire-Übertragungen umfassen. Wunsch und Planung scheiterten an Melchior Lechter und im Falle der Anthologien an der teilweise unzulänglichen Zuarbeit von Karl Wolfskehl und Friedrich Gundolf. So erschienen schließlich in enger Folge nach dem Teppich von 1899/1900 und Jean Paul. Ein Stundenbuch für seine Verehrer (1900) im Januar des Jahres 1901 Die Fibel und die öffentliche Ausgabe des Teppichs des Lebens sowie schließlich der Auswahlband Goethe. Die Gedichtsammlung der Fibel lässt nur erahnen, dass ihre Texte in einer Zeit der steigenden Unruhe und des allumfassenden Suchens entstanden. Es war die Zeit der Geburt des Dichters Stefan George. Der Schüler E´tienne George trat in mehrfacher Dichtergestalt auf: als Ed. Delorme, Edmund Lorm und Rochus Herz.2 Vielfältig waren die Orte und Sprachen, an und in denen er nach dem Schulabschluss lebte und sich bewegte: Darmstadt und Bingen als Ausgangsorte, dann London, Montreux, 1 Vgl. Brief v. 16.8.1899, in: Melchior Lechter/Stefan George, Briefe, kritische Ausg., hrsg. v. Günter Heintz, Stuttgart 1991, S. 90. 2 Zur Erklärung von StGs Pseudonymen lassen sich einige Anhaltspunkte finden. Der Name „Rochus Herz“ verweist auf den Binger Stadt-Heiligen St. Rochus, in „Delorme“ und „Lorm“ verbirgt sich französisch ,Ulme‘. Der Name „Delorme“ könnte aber auch von der Titelgestalt eines Dramas von Victor Hugo namens „Marion De Lorme“ geborgt sein.

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I. Stefan George und sein Kreis

Ponte Tresa, Mailand, Paris, Madrid und Berlin; das Englische, Französische, Italienische und das Spanische. Ebenso vielfältig war StGs Lektüre und Produktion in diesen Jahren. Dominant war seine Beschäftigung mit dem Drama. Briefe aus den Jahren 1888/89 bezeugen häufige Theater- und Opernbesuche des Schülers in Darmstadt sowie des Reisenden in London, das eigene Theaterspielen in Montreux. Die Produktion von Dramen wird dann häufig in den Briefen an den ehemaligen Mitschüler Carl Rouge thematisiert. StG beendete sein Drama Manuel, das er ein Jahr zuvor in Darmstadt begonnen hatte, im Juli 1888 in London.3 Fast gleichzeitig war er mit einer Übersetzung von Ibsens Catilina beschäftigt. Es gibt aus der Schulzeit zwei Fragmente, Phraortes und Graf Bothwell, von einem „Massageten-Schauspiel“ ist die Rede, später auch von den Unvermeidlichen4 sowie einem Stück Die Pächter der Ehre.5 In einem Brief an Rouge aus London klagte StG: „Mir aber ist nichts klar. Ich weiss nicht ob ich nach Manuel überhaupt wieder ein drama beginnen soll, obgleich der stoff vorliegt und wider meinen willen allmählich klarere formen annimmt“.6 Dieselbe Unsicherheit kommt in veränderter Situation mit veränderter Perspektive in einem Brief an Stahl aus Montreux zum Ausdruck: die luft hier ist lyrisch episch vielleicht auch, doch wenig dramatisch. Es folgt daraus, dass mir die luft gründlich geholfen hat, eine reihe von werken der beiden ersten kunstgattungen auszubilden, doch das ist leider nicht der fall. Ich habe nur ungeborenes, sehr viel ungeborenes, doch nichts fertiges, heute ist kein brieftag Du musst Dich gedulden bis zum nächsten montag. Vielleicht kann ich dann einige frische lyrik beilegen.7

Dieser Brief endet mit einer Unlusterklärung, welche eine andere Tätigkeit betrifft, die indessen StGs gesamtes dichterisches Werk begleiten und ergänzen sollte, das Übersetzen: „Moi, je n’ai plus envie de traduire je ne sais pas pourquoi.“ Wie wichtig die Übersetzungen auch schon in der Frühzeit waren, zeigt StGs Entschluss, 1901 eine kleine Gruppe in die Fibel aufzunehmen und diese 1928 für den ersten Band der Gesamtausgabe sogar um einige Beispiele zu erweitern. Überhaupt nicht berücksichtigt hat der Dichter jedoch um 1900 einen weiteren beträchtlichen Teil seiner Jugendproduktion, die von ihm so genannten ,Satiren‘. Aus späteren Jahren ist StGs Diktum „poetry is praise“ überliefert (EL, 164), und das veröffentlichte Gesamtwerk kennt dann auch keine Satiren oder Humoresken. Eine Ausnahme bildet ein unter dem Pseudonym Ed. Delorme in der Schülerzeitschrift Rosen und Disteln vom 20.6.1887 vervielfältigtes satirisches Gedicht, das den Titel „Fürst Commedotutti“ trägt. Es wurde von StG weder in die BfdK noch in die Fibel aufgenommen. Die Schülerzeitschrift, von der wir nur eine erste Nummer kennen, war Sprachrohr einer Freundesrunde um StG, die sich zu Lesungen und Diskussionen im Haus des Lehrers Raab in Darmstadt traf, bei dem StG wohnte. Des Schülers Erscheinung bei diesen Gelegenheiten ist uns durch den zur Runde gehörenden Freund Arthur Stahl überliefert. Er schreibt vier Monate nach der Abreise StGs an diesen: „Ich nehme an, Du säßest mir gegenüber, auf Deiner Bude, den Kragen Deines braunroten Rockes heraufgeschlagen, die linke Hand spielte mit dem Zwicker auf dem Tisch, die Füße 3 Vgl. StG an C. Rouge v. 15./16.7.1888, StGA. 4 Vgl. A. Stahl an StG v. 1.8.1888, StGA. 5 Vgl. C. Rouge an StG v. 2.1.1889, StGA. 6 StG an C. Rouge v. 5./14.8.1888, StGA. 7 StG an A. Stahl v. 7.1.1889, StGA.

2. Stefan George: Werk – Die Fibel

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übereinandergeschlagen“.8 Ein nur wenig früherer Brief führt StG in seiner wichtigsten Funktion vor: „Doch ich habe was vermisst / Dass Du nicht die Verse liest / Laut mit Deinem eignen Ton. / Setze statt liest = vorliest, recitierst mit Deiner eigenen Stimme, die namentlich für die Satiren eine eigentümliche Schärfe, fast zischende Färbung hat.“9 Schließlich spricht er von dem „ausgesprochenen Satirentalent“ StGs, „das zu bewundern [er] immer mehr bei Lektüre der Widmung Gelegenheit hatte.“ Dieser Hinweis auf Satirisches in der „Widmung“ gibt eine Erklärung dafür, warum in der so bezeichneten, frühesten erhaltenen Sammelhandschrift zur Fibel (H2) die gezählten Seiten 9 bis 123 fehlen. Sie wurden entfernt. Das teilweise zerstörte Notizbuch enthält auf den ersten Seiten als „Widmung“ an den „Theuren freund“ einen Prosatext, der unterschrieben ist mit „Etienne George / London im Mai 1888.“ Auf der nicht mehr gezählten letzten Seite sind noch die Überschrift und ein Versbeginn von Fibel-Gedichten erhalten, ansonsten sind ausschließlich Übersetzungen gerettet, die nur zum Teil in den Band von 1901 aufgenommen wurden, und zwar in leicht veränderter Gestalt.10 Der Text lautet: Theurer freund! Wie ich versprochen habe, sende ich dir hiermit meine gesammelten poetischen versuche zu; ich kann es dabei nicht unterlassen, Dir meinen tiefsten dank auszusprechen für deine ermahnung und aufmunterung, ohne die ich es nie für nötig oder für möglich gehalten hätte, meine zerstreut herumliegenden dichterischen erstlingsfrüchte zu einem ganzen zu vereinigen; ich bin jetzt herzlich froh mich der mühe unterzogen zu haben, es hat sich aus jenen versen die geschichte mein[es] ganzen verflossenen lebens zusammengestellt, und ist beim niederschreiben jahr für jahr an meinen augen vorübergezogen. Es wird für Dich nur wenig von interesse sein über vieles blicken wir jetzt schon mit überlegenem lächeln herab, und über noch mehr werden wir nach einigen jahren lippen und achselzuckend hinwegsehen. Ich brauch Dich nicht über [wegen] den unwert des geschenkes um entschuldigung zu bitten, wir sind uns ja darüber klar geworden, was wir gegenseitig von unseren versen zu halten haben; diese blätter mögen nur als erinnerungszeichen an einen freund gelten, und an eine reihe glücklich zusammen verlebter tage Mit herzlichem gruss aus d. ferne Etienne George (fast alle aus den beiden jahren die hinter uns liegen) London im Mai 1888

Die Sammelhandschrift ging mit Brief vom 18.5.1888 aus London an Arthur Stahl ab. Der Brief beginnt mit der Entschuldigung für Verzug und eventuelle Fehlerhaftigkeit der umfangreichen Handschrift: „Du wirst gütigst entschuldigen, dass es so lang gedauert hat, besonders da Du zuweilen einblick in meine papiere gehabt hast und Du Dir denken kannst durch welchen wust ich mich durchgearbeitet habe.“ Des Weiteren möge der Freund entschuldigen, dass es StG nicht möglich gewesen sei – „aus unwiderstehlicher abscheu“ – das Abgeschriebene noch einmal durchzulesen. Die Reaktion des fernen Freundes war wohl freundlich, denn im Juli bedankt sich StG für dessen großes Interesse an seinen „keineswegs vollendeten werken“, die dem „chaos“ abgerungen seien. Schließlich formuliert er mit etwas anderen Worten, was 1901 in der „Vorrede“ der Fibel stehen wird: „das meiste ist schon unterhalb meines jetzigen 8 A. Stahl an StG v. 26.7.1888, StGA. 9 A. Stahl an StG v. 8.7.1888, StGA. 10 Diese Texte werden im Supplementband zu den Sämtlichen Werken veröffentlicht werden.

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I. Stefan George und sein Kreis

horizonts und noch mehr wird noch darunter kommen nach einigen jahren. Es wird dann mehr eine (vielleicht zum grössten teil heitere) erinnerung sein.“ Die Verszusammenstellung in der „Widmung“ sei so etwas wie ein Tagebuch der vergangenen „beiden jahre“, es habe sich ihm aus jenen Versen die „geschichte [seines] ganz[en] verflossenen lebens zusammengestellt“. Diese Geschichte ist heute aus der Sammelhandschrift nicht mehr lesbar. Nur teilweise rekonstruierbar ist sie aus einer ebenfalls teilzerstörten Handschrift (H4), dem wichtigsten Textzeugen für die beiden ersten Abteilungen der Fibel aus den Jahren 1886/87. Textspuren am Rand einer großenteils herausgeschnittenen Seite (S. 7/8) lassen darauf schließen, dass hier der überarbeitete Text der „Widmung“ an Stahl aus H2 stand. Auf ihn folgen die beiden ersten Teile der Fibel-Gedichte mit einigen Auslassungen zu Beginn, die u. a. durch herausgetrennte Blätter noch kenntlich sind; dem „zweiten Teil“ steht eine Leerseite mit Datumseintrag 1887 voran. Der noch erhaltenen Datierung „London frühjahr 1888“ entsprechend, müsste die Sammlung mit den drei auch in dieser Handschrift überlieferten Übersetzungen enden,11 sie enthält aber auch die hier als „Zwischenspiel“ bezeichnete Gedichtgruppe Von einer Reise, zählt als eine Art Untertitel die Reiseorte auf und benennt die Reisezeit: „frühjahr 88 bis herbst 89“. Diese Tatsache macht deutlich, dass es sich bei der Handschrift um eine spätere Abschrift verschiedener handschriftlicher Vorlagen handeln muss. Die flüssige Kurrentschrift, die in die Jahre 1893 und später verweist, unterstützt die These. Alle heiteren, satirischen Gedichte StGs sind zu diesem Zeitpunkt schon aus der eigenen Werkgeschichte verbannt und werden auch später nicht mehr dokumentiert. Die mit Blaustift und in Stilschrift auf Seite 9 geschriebenen englischen Verse „This harps primordial strings / make weep me still“ finden sich in StGs Widmung eines Exemplars der Erstausgabe der Fibel an Karl Wolfskehl vom Februar 1901 wieder. Die letzten beiden Gedichtgruppen stehen unter dem aus der bildenden Kunst entliehenen Titel Zeichnungen in Grau12 und dem meist religiös konnotierten Titel Legenden. Die Texte sind wohl nicht vor StGs Ankunft in Berlin im Oktober 1889 geschrieben worden, und zwar, wie wir seit der Gesamtausgabe wissen, in einer romanischen Kunstsprache, in der die meisten von ihnen, wie auch die Legende „Erkenntnis“, handschriftlich überliefert sind. Bekannt ist der Brief StGs an Stahl vom 2.1.1890, in dem er sich dazu bekennt, dass ihn wieder der Gedanke gepackt habe, der ihn von jugend auf geplagt […] aus klarem romanischem material eine ebenso klingende wie leicht verständliche literatur sprache für meinen eigenen bedarf selbst zu verfassen […] Darin liegt auch der grund weshalb ich seit monden nichts mehr verfasse, weil [ich] ganz einfach nicht weiss in welcher sprache ich schreiben soll.13

Aus dieser ,lingua romana‘ hat StG die Gedichte – nach Ausweis der Handschriften – nicht sehr viel später ins Deutsche übersetzt. Die Idee, in einer Kunstsprache zu dich11 Es handelt sich um „Menschen und Kinder (nach dem spanischen des Constantin Gil)“, „Aus Ibsens Komödie der Liebe / Chor“ und „Chor der Unsichtbaren“; vgl. die ausführliche Handschriftenbeschreibung in SW I, S. 103f. 12 Bei Grisaille handelt es sich um Malerei in Grautönen, die vor allem zur Nachahmung plastischer Steinbildwerke benutzt wurde. 13 StGA. Vgl. RB II, S. 37f.

2. Stefan George: Werk – Die Fibel

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ten, wurde aufgegeben. Drei Jahre später trug er sich mit dem Gedanken, ein französischer Dichter zu werden. Zu Beginn des Jahres 1890 war StG in Berlin von einem wahren „jardin d’acclimation“ umgeben, „Franzosen, Italiener, Mexicaner etc.“14 Der Kosmopolit StG plädierte nach seiner Begegnung mit anderen Nationen, Gesellschaftsschichten und Rassen, mit europäischen Großstädten wie London, Mailand, Paris, Madrid, mit weltstädtischem Theater und den großen Traditionen bildender Kunst für ein Leben in Berlin: „merkwürdig gibt es hier sogar leute die sich mehr oder weniger meinen so äusserst modernen ansichten anschliessen, obwohl dieser freie geist gewöhnlich sich gebärt und gedeiht an der raffinierten brise der Seine“.15 In diesem Berliner Umfeld sind auch die beiden ersten Legenden entstanden. Im Herbst des Jahres 1890 erinnerte StG seinen Freund Stahl: „Als ich aus England zurückkam […] begann ich eine Umwälzung durchzuringen.“ Das Resultat dieser „Umwälzung“ liegt jenseits der Fibel in den Hymnen vor und in dem neuen Namen „Stefan“ George. Die dritte Legende, von der keine Handschrift bekannt ist und die nirgends in der Korrespondenz Erwähnung findet, fasst vermutlich im Abstand von Jahren das Geschehen von StGs Aufbruch und Loslösung noch einmal in Gestalt einer Verserzählung zusammen. Vielleicht entstand sie wie auch die einleitenden „Geleitverse“ erst nach der Jahrhundertwende, als der Entschluss zur Publikation der frühen Dichtung schon gefasst war und die Texte gesichtet. In den BfdK jedenfalls griff StG schon 1892 auf die ersten beiden Legenden zurück. Sie erschienen im Oktober und Dezember im ersten und zweiten Heft unter dem Pseudonym „Edmund Lorm“. Erst der fünfte Band der ersten Folge vom August 1893 enthält, durch Kleindruck abgesetzt und mit einer längeren Erläuterung versehen, angeblich Gedichte aus Rosen und Disteln, darunter vier Texte StGs, die 1901 unter den frühesten Gedichten in der Fibel stehen werden: „Die Najade“, „Der Blumenelf“, „Die Rose“ und „Ikarus“, gezeichnet mit der Initiale „G.“. Die erklärende Einleitung in den BfdK lautet: Rosen und Disteln Unter diesem namen der den meisten unsrer leser bekannt, uns selber eine liebe erinnerung ist bieten wir aus der frühesten schaffenszeit unsrer mitarbeiter einige proben. geschmack und anlage eines jeden leise verratend sind sie nicht nur eine hübsche seltsamkeit sondern machen auch den unterschied älterer und heutiger dicht-weise klarer. sie sind vielleicht um so mehr hier angebracht als davon nie etwas an die öffentlichkeit gelangte.16

Verantwortlich für diesen Rückgriff auf Gedichte aus der Zeit vor den Hymnen in den BfdK war der im Sommer 1893 noch eklatante Mangel an Mitarbeitern und Einsendungen. Keines der vier Gedichte StGs stand in der einzigen bekannt gewordenen Ausgabe der Rosen und Disteln. Der Name der Zeitschrift steht hier ganz allgemein für die Produktion der letzten eineinviertel Schuljahre (1887/88).

14 StG an A. Stahl v. 2.1.1890, StGA. 15 Ebd. 16 BfdK 1/1893, 5, S. 147.

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I. Stefan George und sein Kreis

2.1.2. Aufbau und Formales Der 1901 im Verlag Georg Bondi veröffentlichte Band enthält vier Hauptabteilungen und einen Prolog: die eigentlichen Fibel-Gedichte in zwei Teilen (1886/87) einschließlich der Übertragungen, Von einer Reise (1888/89), Zeichnungen in Grau (1889), Legenden (1889) und die „Geleitverse“. Auffällig ist die den Gedichtgruppen mitgegebene Datierung, eine StG sonst völlig fremde Praxis. Für die Gedichtreihe Von einer Reise wird die Datierung in der wichtigsten Sammelhandschrift H4 zusätzlich um einzelne Lokalisierungen ergänzt, die heute die genauere Datierung von einigen Gedichten ermöglichen.17 Zusammengetragen sind also Gedichte aus StGs Schulzeit (Abitur im März 1888) und seiner ersten Reisezeit (1888/89) einschließlich seines ersten Semesters in Berlin (Herbst/Winter 1889/90). Der junge StG bewegte sich in den Jahren 1886 bis 1890 nicht nur durch diverse Sprachen und literarische Gattungen, sondern bediente sich auch der verschiedensten tradierten lyrischen Formen. Er schrieb Sonette, Terzinen, Ritornelle und griff vor allem in den Jahren 1886 bis 1888 auf die vierzeilige Volksliedstrophe zurück, dichtete in Trochäen und Jamben, variierte die Reimschemata. Am Reimgedicht selbst hielt er bis 1889 fest. Carl Rouge zitiert im Juni 1888 StGs Bekenntnis zum Reim: „Nach Deiner eigenen Aussage ist Lyrik nichts ohne Reim“.18 Doch findet sich im zweiten Teil der Fibel-Gedichte schon ein Beispiel für eine eigene freiere Form, wie StG sie später, z. B. in den Liedern der Hängenden Gärten benutzte: ein strophenloses Gedicht von neun unterschiedlich langen Versen (zwischen drei und fünf Hebungen) in freier Reimstellung („Gräber III“; I, 36). Hubert Arbogast hat die frühen FibelGedichte gültig charakterisiert als sich bewegend zwischen den Polen von Lied und deliberierendem Gedicht, Empfindung und Reflexion, bildhafter und begrifflicher Aussage, Erinnerung an flüchtiges Glück und Enttäuschung, Erlebnis und Ressentiment. Er hat auch im Detail auf Ansätze hingewiesen, die zum ,Neuen‘ der Hymnen und des späteren Werks führen: auf rhetorisch-syntaktische Figuren der Verknappung und Verdichtung, die die glatte Fügung epigonaler Lieder aufrauen.19 Besonders sei hier auf die teilweise ganz ungewöhnlichen Komposita hingewiesen, Neologismen wie „fehldinge“, „zeitenhebel“, „frühlingsauferstehen“, „freuden-not“ etc. Es gehört zu den Charakteristika Georgeschen Schaffens, dass seine Übersetzungen nicht an erster Stelle dem Transfer eines Fremden in die eigene Sprache zum Nutzen einer breiten Leserschicht dienen, sondern immer wieder aufs Neue in Zeiten der Krise der Einübung neuer Stile und Töne, die dann dem Eigenen anverwandelt werden. Weniger sichtbar ist das noch im Falle der Übertragungen aus den Jahren 1886 bis 1888, hier wird vor allem Klang- und Reimtechnik geübt. Der auf die Evokation von Außenwelt gerichtete Stilwille der Reise-Gedichte ist auf das an den Übersetzungen Gelernte nicht zurückzuführen. Auffällig ist die Betonung von Erlebnis, Wahrnehmung, Erinnerung ebenso wie die damit einhergehende Setzung des Sprecher„Ichs“. So setzen diese Gedichte ein mit: „Ich hörte … Ich kam … Ich fuhr … Schon hab ich …“ (I, 55, 56, 60, 64). Das ich-lose Gedicht „Unser Herd“ (I, 61) wiederum könnte man als frühen Versuch einer Bildbeschreibung deuten. Die drastische Verän17 Zu Einzelheiten vgl. den Anhang zu SW I. 18 C. Rouge an StG v. Juni 1888, StGA. 19 Vgl. Arbogast, Erneuerung.

2. Stefan George: Werk – Die Fibel

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derung von Sujet, Stil und Ton der Zeichnungen in Grau aber ist StGs Begegnung mit der französischen zeitgenössischen Lyrik und thematisch mit dem Werk Charles Baudelaires verdankt, wahrscheinlich auch schon ersten Übersetzungen aus den Fleurs du Mal. Die Gedichte weisen weder Reim noch Metrum auf, umspielen nicht einmal ein Metrum wie der französische vers libre. Es sind Großstadt-Gedichte um „wilde gelüste“, „begierden“, „laster“, heterosexuelle Geschlechtlichkeit, die Baudelairesche Impression eines Sonnenaufgangs und ein mit „Friede“ überschriebenes Abendgedicht, das in Verzweiflung und im „beinah“ endet: Ich will nicht mehr denken . . ich kann nicht mehr: Ich möchte nur meine kniee beugen Gar nichts denken – beinah beten. (I, 71)

Nach der Jahrhundertwende, als StG die „Geleitverse“ schrieb, begann er, Dante zu übersetzen. Die „Geleitverse“ rufen noch einmal die Schwierigkeiten des Jugendlichen auf, der eine Sprache suchte, dem die Umsetzung von ,hellstem Traum ins Wort‘ noch nicht gelang, dessen Muse aber „Durch viele fremde töne / Bang vor sich selbst die eignen hört …“ (I, 9). Und er tut dies im wohlversteckten Bezug auf Viele´-Griffins Gedicht „De´dicace“ aus dem Jahr 1886.20 Um den „weisen dürftig und gewohn“ zu entkommen, hatte schon der 14-Jährige Gedichte Petrarcas abgeschrieben. Er hatte Italienisch gelernt, um zu verstehen und wohl auch übersetzen zu können. Wie wichtig StG diese frühe Suche nach eigenen Tönen durch die Wahrnehmung weit entfernter fremder Töne war, belegt die Aufnahme eines Faksimiles einer frühen PetrarcaAbschrift in den Anhang zur Fibel im Jahr 1928. Ist die Bedeutung Dantes für StG und sein Werk vielfach belegt und unumstritten, so ist diejenige Petrarcas nur in der Frühzeit zu fassen. Die Fibel enthält die Übersetzung eines Sonetts, das StG aber nicht unter die Übertragungen, sondern in die Reihe Von einer Reise aufnahm. In der Sammelhandschrift H4 steht unter dieser Nachdichtung „Sonett nach Petrarca“ der Ortseintrag „Mailand“, und in Mailand hatte StG sicher die Ausgabe der Rime mit Interpretationen von Leopardi aus dem Jahr 1887 gekauft, die sich noch heute in seinem Nachlass befindet. Tatsächlich stellte StG an den Anfang seiner Fibel-Sammlung ein petrarkistisches Sonett, das die Erweckung und Erhebung des Jünglings durch die Liebe zu einem weiblichen Idealbild feiert. Dass die „philosophische Spekulation“ über die Liebe die Schüler begeisterte, belegt ein Brief Arthur Stahls über diesen Gegenstand, „den wir schon in Darmstadt seinerzeit behandelten“,21 und Carl Rouge erinnert StG an seine Darmstädter Liebeserfahrungen: „Es war die Zeit, als Du […] noch poussiertest, besonders am, im u. vor dem Theater (ich weiß nicht, welche ,kvinde‘ Dich in Flammen setzte). Also kurzum, Du poussiertest damals oder liebtest – natürlich nicht Deine Poussage, aber Dein Ideal“ (Herv. i. Orig.).22 Diesem ,Ideal‘ begegnet der Leser auch in den Versen aus dem Jahr 1887: „Du standest in der wolken wehen / Gehüllt in wunderbares licht / So schön und herrlich anzusehen / Und 20 Darauf machte Bernhard Böschenstein aufmerksam, vgl. Bernhard Böschenstein, Wirkungen des französischen Symbolismus auf die deutsche Lyrik der Jahrhundertwende, in: Ders., Studien zur Dichtung des Absoluten, Zürich 1968, S. 127–170, hier: 136f. 21 A. Stahl an StG v. 31.12.1888, StGA. 22 C. Rouge an StG v. 5.9.1888, StGA; ,kvinde‘: dän. ,Frau‘.

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I. Stefan George und sein Kreis

wie ein sterblich wesen nicht“ (I, 27). Dass diese weiblich konnotierte Gestalt schon auf die „herrin“ der ersten Hymne, die Madonna der Sagen und Sänge, aber auch auf den Engel des Vorspiels (1900) und schließlich auf die Maximin-Gestalt der Dichtung nach 1904 vorausweist, erschließt sich erst dem historischen Überblick. Dem Nahblick entgeht nicht die Varianz der Formen, die Mehrzahl der vierzeiligen Strophengedichte – meist im Kreuzreim gehalten – der beiden ersten Gedichtreihen, den eigentlichen Fibel-Gedichten (I, 13–41), zunehmend erweitert um Reimpaare oder Terzette (z. B. „Wenn die gärten ganz verblassen“; I, 31 und „Die Rose“; I, 32), erste Madrigalformen („Gräber III“; I, 36 und „Des Kranken Bitte“; I, 40), echte und unechte Terzinen („Erinnerung“; I, 19, „Die Sirene“; I, 28 und „Drunten zieht mit bunten wimpeln“; I, 33), freie gereimte Strophen von wechselnder Länge im Zyklus Von einer Reise. Der formale Bruch der ,Grisaillen‘ – ungereimter, umfangreicher, freirhythmischer Texte – bleibt trotz dieser Varianz überdeutlich. Die drei Erzählgedichte Legenden weisen abschließend, wenn auch reimlos,23 auf StGs früheste überlieferte Romanze, auf „Prinz Indra“ zurück, die der Schüler ganz in der Tradition Heinrich Heines mit knapp 16 Jahren in gereimten Vierzeilern schrieb.24 Krass steht dem Liebe und Erweckung feiernden ersten Gedicht von 1886 („Ich wandelte auf öden düstren bahnen“; I, 13), einem Sonett in petrarkistischer Tradition, das letzte der Gedichte aus dem Zyklus Zeichnungen in Grau („In der Galerie“; I, 79) gegenüber: ein Gedicht der Vergeblichkeit, der Konjunktive („hätt“, „mögen“, „mögen“), des Vorübergehens, „unfähig zu geniessen“. Der Vers „Und Liebe pflanzte ihre siegesfahnen“ (I, 13, Vers 8) ist nicht nur rhythmisch und metaphorisch einer anderen Zeit und Poetik verpflichtet als die letzten Verse von „In der Galerie“: In dem weiten hinguss Von fleisch und blau und grün Find ich dein antlitz nicht. (I, 79)

StG hatte wie die Zeichnungen in Grau auch die beiden ersten Legenden in seiner Kunstsprache ,lingua romana‘ verfasst. Die romanische Fassung von „Erkenntnis“ trug den Titel „Cognicion. un misterio“, das Geheimnisvolle der Erzählgedichte betonend, vielleicht auch auf einen Bezug zu Ritualen versteckt hinweisend. „Erkenntnis“ (I, 83–86) aber handelt vom Mysterium der Geschlechtlichkeit, von der Ursünde der Verführung des Mannes durch weibliche Sexualität. Der zweiten biblischen Schöpfungsgeschichte folgend, ist das ewige Weib Eva verdammt: „Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, und er soll dein Herr sein“ (Mose 3.16). Sexuelles Begehren geht dementsprechend von der Frau aus, sie trägt es als sichtbares „mal“ wie jene Priesterin, die Algabal vom „altar“ raubte und die er verwarf, „Sie hatte wie die anderen ein mal“ (II, 81). So kann der Beischlaf immer nur vom Verdacht zur „Erkenntnis“ führen. Auch in der Legende kam die Frau nicht, wie erhofft, als „reine priesterin“ (I, 84), war nicht „aller reine und heiligkeit quell“ (I, 85). Den Jüngling 23 Zu den Unterschieden zwischen den beiden ersten und der dritten Legende gehört auch ihre metrische Struktur: Die beiden ersten sind weitgehend vierhebig in freier Füllung, die dritte ist in Blankversen verfasst. 24 Vgl. Ute Oelmann, Das Eigene und das Fremde. Stefan Georges indische Romanze, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1992, S. 294–310.

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ziehen die „tierische[n] zuckungen“ hinab, sie aber erscheint „süsser und herrlicher jezt“ (I, 86). Das Geistwesen Mann wird durch die Sexualität der Frau befleckt, das sympathetisch unruhig aufgewühlte Wasser des Sturzbaches wirft ihm nach dem Geschlechtsakt „hässlich“ sein Bild zurück, verheißt „Fluch“ und „verdammnis“ (I, 86). Schon dem 15-Jährigen war dies Thema gewesen. „Prinz Indra“ wird ebenso zur Sexualität von einer Frau verführt, wird unrein und damit unfähig zum Königtum. Der Schüler StG nimmt dann die Lösung vorweg, die später die dritte Legende andeutet. Rettung erfährt Indra durch die Kunst und die mannmännliche Freundschaft eines Sängerknaben (GA XVIII, 84–107). Die zweite Legende „Frühlingswende“ (I, 87–90) nimmt Elemente der ersten auf: Weibliches Begehren verfolgt den Knaben und – ermuntert durch Versprechen heidnischer Gesellschaft und ihrer Bräuche – den nach blutigem Ritual zum Waffendienst geweihten Mann. Dieser aber entkommt, flieht ihren „glühenden willen“, flieht „Zum lieben orte wo er nur herr ist“, vor den „hochgepriesenen freuden / Die kaum er ahnt die lieber er miede . .“ (I, 89f.). Am Ende auch dieser Legende steht die Selbstbespiegelung, diesmal im ruhigen Wasser eines Teiches: Im wasser inmitten der blassgrünen algen Und schwanker zum ufer getriebener blumen Erblickt er nur immer sein eigenes bild. (I, 90)

Von Blumen bekränzt erscheint das eigene Bild, Narziss wird alludiert und damit der Eros-Kult und gleichgeschlechtliche Liebe. Die Gefahr der Verführung und Verwundung durch die weibliche Sexualität ist überwunden. Jahre später setzt StG mit der Ich-Erzählung „Der Schüler“ (I, 91–93) und dem Akt narzisstischer Selbstbespiegelung als Erkenntnisakt ein: Wo ich bei manchem seltsamen gerät Den spiegel glänzenden metalls entdeckt Vor dem ich meines eigenen leibs geheimnis Und anderer zuerst bedenken lernte. (I, 91)

Noch wird der Ephebe, „jenes blonde kind der jüngste schüler“ als Beunruhigung eingeführt, doch ist die Lösung der Geschlechtsproblematik durch die ,Freundesliebe‘ deutlich evoziert. Der Entscheidung des Schülers, das friedliche Kloster, die vorgegebenen Wege der überlieferten Lehren endgültig zu verlassen, geht eine Art Pfingsterlebnis des Reisenden voraus: Ich schlürfte trunken jeden laut von aussen Ich fühlte innres rasen . . meine glieder Als drängten sie zu neuen diensten bebten Und schauerten . . es drang in mich ein hauch Und wuchs zu solchem brausen so gewaltig Und schmerzlich dass ich selbst mich nicht mehr kannte. (I, 92)

Eros überfällt, löst die Glieder, macht sie beben und schauern, Apollons „hauch“ dringt ein. Berufung hat stattgefunden und damit endgültige „Wandlung“ (Vers 23). Wie stark diese späte Legende biographisch unterlegt ist, mag StGs schon erwähnter

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I. Stefan George und sein Kreis

Ausspruch von 1890 bestätigen: „Als ich aus England zurückkam […] begann ich eine Umwälzung durchzuringen.“25 Die beiden ersten Erzählgedichte sind tatsächlich vor dieser ,Umwälzung‘ verfasst, das dritte berichtet von ihr in poetischer Verkleidung. Am Ende der Verserzählung, aber auch am Ende der gesamten Fibel steht der Auftrag an den Dichter StG der 90er-Jahre: […] Doch es treibt mich auf Der alten toten weisheit zu entraten Bis ich die lebende erkannt: der leiber Der blumen und der wolken und der wellen. (I, 93)

2.1.3.

Rezeption und Deutung

2.1.3.1. Zeitgenössische Rezeption Die zeitgenössische Rezeption eines Fibel-Gedichts begann mit einer Ablehnung lang vor der Publikation des Gedichtbandes. Carl August Klein schickte im Auftrag StGs an Michael Georg Conrad, Herausgeber der Gesellschaft, StGs erste Legende „Erkenntnis“. Die Reaktion Conrads vom 13.7.1890 fiel zwiespältig aus: „Das gedicht ist zwar eine starke talentprobe, aber es ist vielleicht doch besser – nach dem ausgange des Leipziger process – von dem abdruck absehen. Senden Sie einmal – den prüden zum trotz, etwas recht energisches, aber garnicht erotisches ein.“26 Im Leipziger Prozess war Wilhelm Walloth kurz zuvor wegen der Produktion unanständiger Literatur verurteilt worden. „Erkenntnis“ war skandalträchtig wie Baudelaires von StG übertragenes „Lesbos“-Gedicht und viele andere. Mehr als zehn Jahre später bedankte sich der Berliner Professor für Philosophie, Max Dessoir, postwendend bei StG für die Fibel und fügte hinzu, dass er dem Band viele wichtige Erkenntnisse verdanke.27 Mit dieser Formulierung widersprach der befreundete Wissenschaftler dem ersten Passus von StGs „Vorrede“ zum Band, die Freunden und Verehrern „enttäuschung“ in Aussicht stellt: „sie werden das für die zukunft bedeutsame […] gar oft verhüllt und verflüchtigt vorfinden und sie bedenken zu wenig dass die jugend gerade die seltensten dinge die sie fühlt und denkt noch verschweigt“ (I, 7). Nach dieser impliziten Zurückweisung potenzieller Erwartungen spricht StG vom idealen Leser in der Wir-Form: Die Dichter selbst erkennen sich in „diesen zarten erstlingen wieder“, sie „sehen in ihnen die ungestalten puppen aus denen später die falter leuchtender gesänge fliegen“. Die Publikation eines Frühwerks zu Lebzeiten ist für StG die richtige Art und Weise, die „erstlinge“ in „besondere obhut“ zu nehmen, d. h. auch auszusondern, zu ordnen und zu gestalten. Sie dient vor allem den Dichtern, StG selbst, und zwar ganz sentimentalisch als Bewahrung von Erinnerung an eine frühe Lebens- und Erlebnisstufe. Die der „Vorrede“ noch vorangestellte Dankadresse an die Eltern in spröder Diktion ist Rückblick und Abschluss zugleich. 25 StG an A. Stahl v. Herbst 1890, StGA. 26 Der Brief Conrads ist in einer Abschrift C. A. Kleins überliefert, auf den wohl die Kleinschreibung zurückgeht, StGA. 27 Vgl. M. Dessoir an StG v. 21.1.1901, StGA.

2. Stefan George: Werk – Die Fibel

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Reaktionen der Freunde aus der Zeit der Veröffentlichung sind kaum erhalten. Nur Friedrich Gundolf, schon beteiligt an der Großproduktion von Titeln StGs um die Jahrhundertwende, freut sich über die Fibel „von Herzen“.28 Fast zwei Jahrzehnte später schreibt er Kluges über die letzten beiden Abteilungen des Bandes. Nur diese faszinieren ihn, da er als Literaturhistoriker die Gedichte aus den Jahren 1887 und 1888 klar als schülerhaft, d. h. epigonal erkennt und als „kindliche[] Nachklänge und Nachempfindungen“29 bezeichnet. Ganz anderes entdeckt er in den Zeichnungen in Grau. Hier sei StG „zu sich selbst erwacht“, sie und die „Legenden bewegen sich schon in dem Kreis dieser einen leidenschaftlichen Grundspannung, um die später seine Weltstoffe angeschlossen sind“.30 Diese Grundspannung aber definiert er im Folgenden: Wie Goethes Seele leidet und wirkt aus der Polarität von Formtrieb und All-Suche so die Georges aus der zwischen Leidenschaft und Weihe – zwischen dem rückhaltlosen Drang ins Einzel-Schöne und dem steten Willen schöne Welt zu schaffen, dem Ruf sich dem Gott zu opfern und dem den Gott zu bannen, ja zu zeugen (Herv. d. Verf.).31

Er scheut sich auch nicht das Nochnichtgelingen dieser Gedichte anzusprechen: Die ,Zeichnungen in Grau‘ der ,Fibel‘ geben Georges erste Erschütterung und Spannung noch ohne eigene Sprache […] die Form, freie Rhythmen, ist noch befangen, ein schüchternes verhaltenes herbes Sagen mehr als ein Singen, ein unbeholfen trotziger Ausweg zwischen dem Ausdrucksverlangen und der Ausdrucksscheu. […] unter der Krust ungefüger Worte pocht und hämmert der heftige Puls.32

Ebenso wenig verschweigt er, worauf das Begehren, die Leidenschaften gerichtet sind: die süß schwebende Jünglings-schwermut, die Frühreife der romantischen Lyrik ist hier eingesogen, weggesengt von der steten lichtlosen Glut einer unterirdischen Begier, worin heiße Sinnlichkeit und eiserner Wille sich durchdringen. Die Begier wird zwar nicht als Sünde empfunden, aber als Gefahr und Lockerung . . mitten in dem schwelenden Düster hält der Jüngling fest an seinem Wunschbild von Reinheit, Höhe, Jugend, dem die Begehrte oder er selbst sich opfern muß.33

Verringert man das Pathos der Formulierungen, so erkennt man, dass Arbogasts Charakterisierung der Hymnen als „Verbindung der harten Fügung mit dem Reimgedicht“, der in der „Schicht des Weltverständnisses die Polarität von Weihe und Begehrlichkeit“ korrespondiere,34 in Gundolfs ,Polarität von Leidenschaft und Weihe‘ ihre frühe Vorlage hat. Auch zu den Legenden hat Gundolf Kritisches anzumerken, sie zugleich bezeichnend als weitere[n] Schritt auf [StGs] Weg: sie haben […] bereits längeren Atem, dichtere Anschauung, festeren Stil und Abstand als die ,Zeichnungen‘ […] der Dichter kündigt sich an der jedes Wort aus der Alltagsluft reißt und ganz in den einmalig eignen Sinnbereich bannt . . hier 28 F. Gundolf an StG v. 21.1.1901, in: G/G, S. 73. 29 Gundolf, George, S. 54. 30 Ebd., S. 55. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 56. 33 Ebd. 34 Arbogast, Erneuerung, S. 133.

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I. Stefan George und sein Kreis

noch krampfhaft, ungestüm und gleichsam gegen den Willen der Worte […]. Er hat Herrschaft über die Sprache, aber eine Tyrannis, noch kein wahres Königtum.35

Diese Sprachform führt er wiederum auf die Grundspannung StGs zurück: Auch das entspricht nur dem inneren Zustand den die Legenden als Inhalte wiedergeben: alle drei […] zeigen das Ringen zwischen Leidenschaft und Weihe, doch sie stellen es dar als persönlichen Zwiespalt, als ,Erlebnis‘ des puren Ich, noch nicht als Geschehen des welthaltigen Selbst und gesetzliche Form des überpersönlichen Seins.36

Die stilistische Differenz zwischen den beiden ersten und der dritten Legende hat Gundolf nicht wahrgenommen, jedenfalls nicht thematisiert. Sowohl Morwitz als auch Wolters folgen anhand der Fibel-Gedichte der Lebensspur des jungen StG. In Eduard Lachmanns 1933 bei Bondi erschienener Studie Die ersten Bücher Stefan Georges. Eine Annäherung an das Werk sind die Fibel-Gedichte nicht berücksichtigt. Ganz im Sinne StGs liegen sie außerhalb des eigentlichen Werks, das erst mit den Hymnen beginnt, ein Faktum, das die Gesamtausgabe verschleiert. 2.1.3.2. Forschung Bis zum heutigen Tage hat sich die Forschung nur sehr am Rande mit der Fibel beschäftigt. Hubert Arbogasts Sprach- und Stilanalysen gelten auch den „frühesten Werke[n] Georges“. Sie stehen unter der Kapitelüberschrift „Überlieferung und Ausdrucksnot“ und sie liefern zugleich eine literaturgeschichtliche Kontextualisierung der Gedichte. Seine Ausführungen aus dem Jahr 1967 sind bislang von der Forschung nicht überholt worden. In den italienischen Annali. Sezione Germanica erschien 1991 die einzige längere, allein den beiden ersten Teilen der Fibel (1886/87) gewidmete Abhandlung von Bianca Maria Bornmann, die vor allem den „Einflüssen“ („influenza letteraria“) Petrarcas und der Romantiker nachgeht und die Sammlung als „canzoniere amoroso“ begreift.37 Literatur Arbogast, Hubert, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges, Köln 1967, S. 14–55 (Kap. „Die frühesten Werke Georges. Überlieferung und Ausdrucksnot“). Gundolf, Friedrich, George, Berlin 1920. Ute Oelmann

35 Gundolf, George, S. 57. 36 Ebd., S. 57f. 37 Bianca Maria Bornmann, Alla ricerca delle fonti di un canzoniere giovanile: ,Die Fibel‘ di Stefan George, in: Annali. Sezione germanica. Studi tedeschi. Quaderni. Istituto Universitario Orientale Napoli N.S. 1/1991, 1/2, S. 127–165, hier: 128, 150.

2. Stefan George: Werk – Hymnen Pilgerfahrten Algabal

2.2.

107

Hymnen Pilgerfahrten Algabal (SW II)

2.2.1. Entstehung und Überlieferung Die in Band II der Gesamt-Ausgabe zusammengefassten Gedichtzyklen Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal „führen die reihe seiner veröffentlichungen“ an, wie es in StGs eigener „Vorrede“ zur zweiten Ausgabe 1899 heißt (II, 5). Sie stellen also die ersten, in unmittelbarer Folge und in kurzer Zeit zwischen Jahresbeginn 1890 und Jahresende 1891 verfassten literarischen Arbeiten dar, zu denen sich der Dichter StG öffentlich bekennt. Die vor allem in der älteren George-Forschung etablierte Auffassung, dass die drei Werke in ihrer Abfolge zugleich auch einen Entwicklungsprozess StGs zu einem ersten Höhepunkt künstlerischer Vollendung dokumentieren, sollte jedoch ein angemessenes Verständnis der drei Zyklen in ihrer jeweiligen Besonderheit nicht verstellen. Die Hymnen, entstanden zwischen Februar und September 1890, erschienen Ende des Jahres 1890 auf eigene Kosten im Selbstverlag in Berlin. Sie waren in schlichter, doch darin auffälliger und von StG wohlbedachter Ausstattung (II, 88f.) in 100 Exemplaren vor allem für die Freunde des Dichters bestimmt, aber auch zum freien Verkauf in einigen ausgewählten Buchhandlungen vorgesehen.1 In Jahresabstand erschienen darauf die Pilgerfahrten im Dezember 1891, wiederum in einer Auflage von 100 Exemplaren und gleicher Ausstattung, in Wien, geschrieben zwischen Dezember 1890 und Mitte 1891, und schließlich im Herbst 1892 der vermutlich im Juli 1891 begonnene Algabal in Paris, zunächst in einer Vorausgabe von zehn Exemplaren, im November 1892 mit weiteren 90 Exemplaren. Verlags- und Druckort stimmten nur für die Hymnen überein. Die Pilgerfahrten und Algabal wurden dagegen in Lüttich gedruckt, woran bereits deutlich wird, dass den jeweils gewählten Erscheinungsorten Berlin, Wien und Paris eine eigene Bedeutung zukommt. Sie erschließt sich aus den, allerdings erst in der zweiten Ausgabe eingedruckten, Widmungsträgern der Zyklen, die wesentliche literarische Bezugspunkte StGs zu dieser Zeit markieren. Für die Hymnen ist dies Carl August Klein, „den trauten und treuen seit der jugend“ (II, 9), für die Pilgerfahrten Hugo von Hofmannsthal, „im gedenken an die tage schöner begeisterung“ (II, 31), und für Algabal schließlich Albert Saint-Paul, „dem dichter und dem freund in langen erlebnissen und geniessendem künstlertum“ (II, 57). Aus Algabal erschienen vor der Erstpublikation des gesamten Zyklus im November 1892 und wenige Tage vor einem weiteren Vorabdruck von Gedichten in den BfdK sieben Gedichte in französischer Übersetzung im (erst im Oktober herausgebrachten) Septemberheft der belgischen Literaturzeitschrift Flore´al des befreundeten Paul Ge´rardy, der nach der Lektüre der Hymnen Kontakt zu StG aufgenommen hatte.2 Programmatisch bedeutsam eröffnete eine Auswahl von dreizehn Gedichten aus Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal ebenfalls im Oktober 1892 die erste Folge der BfdK. Eine weitere Auswahl aus den Zyklen wurde im zweiten Novemberheft 1894 der bedeutenden Wiener Allgemeinen Kunstchronik publiziert. 1 Näheres hierzu wie auch zur handschriftlichen Überlieferung der Gedichte und zum Folgenden im Anhang von SW II, S. 87ff.; zur weniger exklusiven als bisher meist angenommenen Publikationsgeschichte des Frühwerks vgl. I, 5.3.1. 2 Vgl. K, S. 21, sowie Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 43f.

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I. Stefan George und sein Kreis

Eine „Zweite Ausgabe“, die alle drei Werke vereinigt, dabei Pilgerfahrten um ein,3 Algabal um zwei Gedichte ergänzt,4 und sich nun im öffentlichen Verlag an die „lesende menge“ (II, 5) wendet, erfolgte mit Jahreszahl 1899 (tatsächlich seit November 1898 ausgeliefert) bei Georg Bondi in Berlin. Seit 1928 bildet sie in dieser nicht mehr veränderten Zusammenstellung den zweiten Band der Gesamt-Ausgabe und der Sämtlichen Werke. Gegenüber den Einzeldrucken ist die zweite Ausgabe um eine „Vorrede“ und jeweils eine „Aufschrift“ zu den Zyklen wie auch um eine eingedruckte, auf das Jahr der Erstpublikation zurückdatierte Widmung erweitert, von der oben bereits die Rede war. Wie später etwa auch bei der Publikation von Das Jahr der Seele, stellt StG den nun als Band versammelten drei Zyklen eine „Vorrede“ voran, die die öffentliche Wahrnehmung der Werke steuern soll. Sie stellt die besondere Editionsgeschichte der Zyklen als eine Bildungsgeschichte des lesenden Publikums dar, das zur ersten Ausgabe des Privatdrucks noch „besonders wenig willens oder fähig war ein dichtwerk als gebilde zu begrüssen und zu geniessen“, sich nun aber für die Lektüre qualifiziert habe, „da mit dem freudigen aufschwunge von malerei und verzierung bei uns vielerorten ein neues schönheitverlangen erwacht“ sei, angesichts dessen der Dichter glaube, „den wachsenden wünschen nachgeben und auf den schutz seiner abgeschlossenheit verzichten zu dürfen“ (II, 5).5 2.2.2. Aufbau und Formales Wie das Werk StGs überhaupt, ist bereits das Frühwerk in seinem Aufbau in hohem Maße durchdacht. Dies gilt für die Komposition der einzelnen Gedichte zum Zyklus wie auch für die Abfolge der drei Zyklen Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal untereinander, die sich aufgrund motivischer und formaler Verstrebungen als ein Gesamtzusammenhang verstehen lassen, den StG schließlich auch auf das folgende Werk ausweitet und so einer gewissen Selbst-Monumentalisierung Vorschub leistet.6 Hinweise für den sorgfältig geplanten ,architektonischen Bau‘ (Ernst Morwitz) der Zyklen gibt die Arbeitsweise StGs während der Niederschrift, bei der teilweise Seiten zunächst frei gelassen wurden, wie auch die durch Überschriften, aber zum Teil auch Leerseiten vorgenommenen expliziten Untergliederungen innerhalb der Zyklen selbst. Die Frage nach dem jeweiligen Aufbau des einzelnen Zyklus und der Bedeutung der Gruppierung der einzelnen Gedichte ist damit bei fast allen Interpreten zu einem wesentlichen Moment der Deutung geworden. Für alle drei Zyklen lassen sich darüber hinaus ausgeprägte Stileigentümlichkeiten beobachten, die StGs Willen zur Durchsetzung eines neuen lyrischen Ideals in der deutschsprachigen Literatur erkennen lassen. Dieses grenzt sich scharf vom vermeintlich dominierenden literarischen Naturalismus ab, um stattdessen ein am französischen Symbolismus geschultes ästhetisches Formideal zu etablieren, das sich insbe3 „Beträufelt an baum und zaun“ (II, 53). 4 „Lärmen hör ich im schläfrigen frieden“ (II, 74) und „Fühl ich noch dies erste ungemach“ (II, 83). 5 Vgl. zu dieser ,Politik‘ der versuchten Steuerung der Werkwahrnehmung bei StG Martus, Werkpolitik, S. 514ff., zu den Hymnen bes. S. 527ff. 6 Siehe etwa im Siebenten Ring „Das Zeitgedicht“ (VI/VII, 6–7) und „Algabal und der Lyder“ (VI/VII, 44–45).

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sondere den Prinzipien von „auswahl maass und klang“7 verpflichtet fühlt. Das Gebot der „auswahl“ realisiert sich u. a. durch einen radikal verkürzten sprachlichen Ausdruck, der das einzelne Wort in ,harter Fügung‘ (Norbert von Hellingrath) isoliert und ihm dadurch eine besondere Aufmerksamkeit und Mehrdeutigkeit sichert (verstärkt durch den fast gänzlichen Verzicht auf Zeichensetzung sowie den Verzicht auf Großschreibung außer am Versbeginn und bei Hervorhebungen). Darüber hinaus unterstreicht auch die Auswahl besonderer, seltener oder vergessener Worte den herausgehobenen Anspruch dieser Dichtungen.8 Der Forderung nach „maass“ entspricht die Durchkomponiertheit des Aufbaus, aber auch die strenge, an tradierten Versformen orientierte Metrik, so die häufig verwendete Strophenform eines jambischen Fünfhebers mit Kreuzreim und wechselnder Kadenz, die den Georgeschen Versen etwas Schwebendes verleiht und in einer für den Symbolismus typischen Weise die Darstellung von Handlung und linearen zeitlichen Abläufen zurückdrängt.9 Daneben weisen die Zyklen jedoch auch einen großen metrischen Formenreichtum auf, der mit unterschiedlichsten Vers- und Strophenformen experimentiert. Die Orientierung auf den „klang“ schließlich, der, ebenfalls nach dem Vorbild der französischen Symbolisten, gleichberechtigt neben die Bedeutungsdimension der Worte treten soll, zeigt sich in der alle Mittel nutzenden, immer wieder hervortretenden lautlichen und rhythmischen Versgestalt der Gedichte, deren Eindruck Ida Coblenz nach der ersten Lektüre der Hymnen Anfang 1892 so beschreibt: „Sie haben etwas ganz Eigenartiges: der Klang der einzelnen Strophen hat sich mir eingeprägt nachdem ich sie einmal gelesen, ehe ich die einzelnen Worte behalten hatte. Das Ganze ist wirklich ein ,Melodienstrom‘“ (G/C, 29).10 Mit der jeweils vier- bzw. fünf Verse umfassenden „Aufschrift“, die alle drei Zyklen neben den Widmungen tragen, schließt StG an die Tradition des Epigramms an (griech. ,Aufschrift‘), wobei er beide, seit der Antike gebräuchlichen Bedeutungsdimensionen des Begriffs ausnutzt: ,Aufschrift‘ auf einer Weihegabe, einem Denkmal oder einem Grabstein zu sein, wie auch im engeren literarischen Sinn eine kurze, pointierte Charakterisierung vorzunehmen. Im Falle der Hymnen weist sie in diesem Doppelsinn den folgenden Zyklus als Gabe für die ,neuen Söhne des Volks‘ aus und fungiert zugleich als seine konzentrierte Selbstdeutung, indem sie die für StG symbolisch bedeutsamen Farben Blau und Gold mit dem Zustand des Träumens und dem Zyklus-Gedanken des Jahres zusammenbringt: „Kurz eh es frühling ward begann dies lied / bei weissen mauern und im uferried / all unsres volkes neuen söhnen hold / spielt durch ein jahr der traum in blau und gold“ (II, 8). Die „Aufschrift“ zu den Pilgerfahrten deutet die folgenden Gedichte demgegenüber als Dokument der Suche des Dichters: „ein fremdling ward ich / und ich suchte einen / der mit mir trauerte / und keiner war“ (II, 30). Für Algabal wird die Funktion der ,Aufschrift‘ als Gedächtnis- und Grabinschrift adaptiert, wenn die „dem gedächtnis ludwigs des zweiten“ gewidmeten Verse eine komplexe Konstellation königlicher Geister beschwören, in der neben dem 7 Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst, Düsseldorf, München 1964, S. 10 (BfdK 2/1894, 2). 8 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die im Kommentar SW II, S. 100ff. mitgeteilten, mit Akribie geführten Auseinandersetzungen StGs mit dem Schulfreund Carl Rouge um einzelne Worte und Formulierungen in den Hymnen und Pilgerfahrten. 9 Vgl. Hoffmann, Symbolismus, S. 172. 10 Vgl. dazu für Hymnen die eingehende Analyse bei Arbogast, Erneuerung, S. 105–127.

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benannten exzentrischen ,Märchenkönig‘ Ludwig II. und der historischen Figur des römischen Kaisers Elagabalus mit den mehrfach bezüglichen Versen „nun ruft ein heil dir übers grab hinaus Algabal / dein jüngrer bruder o verhöhnter dulderkönig“ (II, 56) noch auf Jesus Christus und vielleicht auch auf den Dichter selbst angespielt wird.11 Der zunächst Gedichte benannte Zyklus Hymnen, der offenbar erst kurz vor Drucklegung seinen endgültigen Titel erhielt (II, 100), ruft eine Gattungstradition auf, der aber mit den in ihm versammelten Gedichten nur in gewissen Aspekten entsprochen wird.12 Soweit die Lyrik StGs „keine Poesie der Transzendenz ist, so sehr sie auf Religion und Religiöses Bezug nimmt“,13 findet sich auch in den Hymnen kein Bezug auf ein Göttliches außerhalb des Dichters mehr, sodass der Bedeutungsraum der Zuschreibung eher in der gewählten hohen, pathetischen Stillage und der Distanzierung liedhafter Lyrik zu suchen ist.14 Bezeichnend ist des Weiteren für das angestrebte „maass“, dass StG von den freirhythmischen Lizenzen der literarischen hymnischen Tradition (Klopstock, der junge Goethe) keinen Gebrauch macht, sondern weitgehend streng geregelter, strophischer Form folgt, in der jedoch kalkulierte Verletzungen des regelmäßigen Metrums, wie etwa in dem auf vier Terzinenstrophen folgenden einzelnen Schlussvers von „Im Park“ mit seiner poetologisch bedeutsamen Aussage: „Er hat den griffel der sich sträubt zu führen“ (II, 11), um so eindrucksvoller zur Geltung kommen. Die in der Gesamtausgabe realisierte graphische Gliederung der 18 Gedichte umfassenden Hymnen in drei Abschnitte mit drei, zwölf und noch einmal drei Gedichten (im Erstdruck 1890 noch feiner in sieben Teile unterteilt; vgl. II, 100), weist auf eine symbolische Überhöhung hin, die thematisch jedoch kaum gefüllt wird. Als einheitsstiftendes Moment lässt sich der in einzelnen Gedichten aufgenommene, in der „Aufschrift“ zuvor direkt angesprochene Zyklus der Jahreszeiten von Frühling („Einladung“) über Sommer („Hochsommer“) und Herbst („Die Gärten schliessen“) erkennen. Deutlich ist schließlich auch noch ein poetologisch-reflexiver Rahmen markiert: mit der „Weihe“ des Dichters und dem das poetische Schreiben thematisierenden Gedicht „Im Park“ zu Beginn und dem korrespondierenden „Die Gärten schliessen“ am Ende der Hymnen. Auch die Pilgerfahrten folgen dem Ablauf eines Jahres von Winter und Frühling („Siedlergang“, „Mühle lass die arme still“) bis zum Herbst („Beträufelt an baum und zaun“). Der formale Aufbau der Pilgerfahrten unterscheidet sich jedoch vom Ordnungsprinzip der Hymnen. Die zunächst 21, mit der zweiten Ausgabe von 1899 auf 22 erweiterten Gedichte sind zu fünf, mit eigenen Überschriften versehenen bzw. einem ,Leitgedicht‘ folgenden Gruppen zusammengefügt, die zum Titel des Zyklus in 11 Vgl. hierzu Tiedemann-Bartels, Versuch, S. 56. Zur zeitgenössischen Wertschätzung Ludwig II., insbesondere unter den französischen Symbolisten siehe Christophe Fricker, Ludwig II. in Stefan Georges ,Algabal‘, in: Weimarer Beiträge 52/2006, S. 441–448. 12 Siehe Kai Kauffmann, Loblied, Gemeindegesang und Wechselrede. Zur Transformation des Hymnischen in Stefan Georges Œuvre bis zum ,Stern des Bundes‘, in: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 34–47; Braungart, Hymne, Ode, Elegie. 13 Braungart 1997, S. 78. 14 Vgl. Hoffmann, Symbolismus, S. 172.

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engerer oder weiterer assoziativer Beziehung stehen: „Siedlergang“, „Gesichte“, „Mahnung“, „Neuer Ausfahrtsegen“ und „Verjährte Fahrten“. Den fünf Gruppen folgt ein einzelnes, letztes Gedicht „Die Spange“, das einerseits als poetologische Allegorie deutbar ist, andererseits den folgenden Zyklus Algabal motivisch vorbereitet. Seit der zweiten Ausgabe sind zusätzlich – gleichsam als sich überlagerndes Ordnungsmuster – jeweils die ersten und die letzten beiden Gedichte des Zyklus durch Leerseiten abgesetzt, wodurch vor allem die isolierte Stellung der „Spange“ aufgehoben scheint. Die im Vergleich zu den Hymnen weniger nach mathematisch-symbolischem „maass“ eingerichtete Anordnung der einzelnen Gedichte lässt sich mit dem Titel und dem Thema dieses Zyklus in Verbindung bringen, der das Suchende des Dichters und die Bewegung in der Auseinandersetzung mit der Natur, dem Weiblichen und schließlich dem Göttlichen in der eigentümlichen Pluralbildung Pilgerfahrten anzeigt. In dieser Ruhelosigkeit, auch dem sprachlichen Experiment geöffneten Duktus liegt der eigene Reiz dieses Zyklus, der gegenüber den Hymnen auch metrisch noch einmal eine gesteigerte Formenvielfalt zeigt, wie gleich in der ersten Gruppe „Siedlergang“, in der jedes Gedicht eigener metrischer Form folgt. Algabal schließlich weist im Vergleich mit den beiden vorhergehenden Zyklen die geschlossenste, integrierteste Form auf – einer der Gründe, warum er häufig als erster Höhepunkt im Werk StGs gesehen wird. Auch thematisch spannt Algabal ansatzweise einen epischen, um die Titelfigur des spätrömischen Kaisers syrischer Herkunft Elagabalus zentrierten Zusammenhang auf, in den sich die 21 Gedichte (und ein Schlussgedicht) des in drei Teile „Im Unterreich“, „Tage“ und „Die Andenken“ zu vier, zehn und sieben Gedichten gegliederten Zyklus einfügen lassen. Der erste Teil „Im Unterreich“ stellt eine Welt vollendeter Künstlichkeit dar, die der Herrscher sich erschaffen hat, einschließlich eines „garten den ich mir selber erbaut“. Das diesen Garten entwerfende, letzte Gedicht des ersten Teils („Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“; II, 63) ist als Programmgedicht des Ästhetizismus deutbar, die „Dunkle grosse schwarze blume“, von der der letzte Vers spricht, als mehrsinniges Echo frühromantischer Sehnsucht nach der ,blauen Blume‘. Der zweite Teil „Tage“ wirft in ostentativ a-moralischer Haltung Schlaglichter auf das todgeweihte, in Luxus und gottähnlicher Allmacht gleichwohl unbefriedigt bleibende Leben Algabals in seiner Welt, auf das der Herrscher im dritten Teil „Die Andenken“ betrachtend zurückblickt. Wie die Pilgerfahrten schließt auch Algabal mit einem abgesetzten, für sich bedeutsamen Gedicht: „Vogelschau“, das sowohl als Abschluss des Vorangegangenen wie wiederum als Übergang zum folgenden Band der drei Jahre später publizierten Bücher der Hirten- und Preisgedichte (1895) zu verstehen ist (EM I, 55). Angesichts des dunklen, zum Teil grausamen, offensichtlich mit dem Lebensgefühl und dem Spätzeitbewusstsein der Dekadenz spielenden Sujets, das dem Algabal die stärkste Aufmerksamkeit in Zustimmung und Widerspruch unter den drei frühen Zyklen StGs gesichert hat, kommt dem oben dargestellten Anspruch ,schöner‘, insbesondere klangschöner Dichtung auch und gerade im Falle Algabals programmatische Bedeutung zu. Neben zahlreichen, einem unbedingten Schönheitswillen huldigenden Motiven im Text erfüllt er sich auf klanglicher Ebene in der mit äußerster Sorgfalt gehandhabten reinen Reimform oder auch allein schon in der suggestiven Klanggestalt des Namens ,Algabal‘ für den sonst ,Elagabal‘, ,Helioga-

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bal‘ oder auch ,Halgabal‘ (so StG selbst; vgl. II, 119) genannten römischen Kaiser.15 2.2.3.

Rezeption und Deutung

2.2.3.1. Kreisinterne Rezeption Ist eine „[ö]ffentliche Resonanz der Einzelbände […] in Deutschland lange Zeit nicht nachweisbar“ (II, 89),16 markiert die kreisinterne Wahrnehmung der drei frühen Zyklen, je nach dem individuellen Beginn der Bekanntschaft mit StG und seinem Werk, entweder einen starken ersten Eindruck, oder aber die Zyklen scheinen in der Wertschätzung, wenn auch unausgesprochen, hinter anderem zurückzustehen. Sehr anschaulich schildert die mit StG später eng befreundete Sabine Lepsius, wie das Leseerlebnis der Hymnen für ihren Mann Reinhold und sie im Dezember 1895 die Bedeutung einer Initiation angenommen habe (SL, 11). Melchior Lechter, auf den nach dem Zeugnis Kurt Hildebrandts die Hymnen „unauslöschlichen Eindruck“ gemacht hatten (KHW, 34), versieht Erstausgaben der drei Gedichtbände mit einem eigenhändig aufwendig bemalten Prachteinband (Bildtafel A).17 In den Korrespondenzen oder Erinnerungsbüchern anderer Kreismitglieder sind die frühen Zyklen dagegen, etwa im Vergleich zum späteren Band Das Jahr der Seele, deutlich geringer gewichtet. Bemerkenswert ist beispielsweise, dass in einem Konzept für eine monographische Darstellung des Werks StGs, das Friedrich Gundolf an Friedrich Wolters im Juni 1913 schickt, weder Hymnen noch Pilgerfahrten oder Algabal überhaupt erwähnt werden. Als Beispiele für das erste „Bemühen um Herstellen eignen Staates und Sprache“ (FG/W, 85) des Dichters führt Gundolf vielmehr Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte und Das Jahr der Seele an. Für die Deutung der drei frühen Zyklen in den späteren Publikationen des Kreises ist eine doppelte Intention charakteristisch. Zum einen werden die Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal in ihrer chronologischen Entstehungsfolge in die organische Entwicklung eines vollendeten Gesamtwerks eingepasst. Zum anderen legen es die Kreismitglieder (mit teilweise im Detail durchaus informativen Ergebnissen) darauf an, im Rückgriff auf ihr esoterisches Wissen aus dem Umgang mit dem ,Meister‘ den konkreten Erfahrungsgehalt der Gedichte nachzuweisen und den um die Biographie des Dichters zentrierten Wirklichkeitsbezug der Zyklen herauszustellen (dass sich aus diesem auf die Person des Dichters zugerichteten Deutungsverfahren der Gedichte ein Widerspruch zu dem sich von der Identifikation „bestimmte[r] personen und örter“ [IV, 7] gerade absetzen wollenden „gebilde“ StG ergibt, räumt Ernst Morwitz im 15 Zur ästhetizistischen Verselbstständigung der Versbewegung als ,ornamentalem‘ Prinzip im Algabal siehe Annette Simonis, Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, Tübingen 2000, S. 119ff. 16 Für die Hymnen ist eine einzige, knappe, aber anerkennende Besprechung Albert Mockels nachgewiesen. Siehe dazu die Zusammenstellung von Rezeptionszeugnissen des Georgeschen Frühwerks bei Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 32f. 17 Signiert und auf 1896 datiert; Original im StGA. Siehe zu seiner Wertschätzung der frühen Zyklen StGs auch den Brief M. Lechters an C. A. Klein v. 16.9.1894, in: Melchior Lechter/Stefan George, Briefe, kritische Ausg., hrsg. v. Günter Heintz, Stuttgart 1991, S. 5f.

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Vorwort seines George-Kommentars selbst ein; EM I, 5). Im Sinne des Herstellens eines teleologisch sich entfaltenden Werkzusammenhangs erscheinen die drei Zyklen häufig in einer Entwicklungslogik, die von der Sprach- und Ausdruckssuche in den Hymnen, mit denen gleichwohl schon der „Durchbruch“ zum „überpersönlichen Ton“ gefunden sei,18 und den Pilgerfahrten über den ,Aufruhr der Seele‘ im Algabal zur schließlich geglückten und nach vorne weisenden ,Selbstfindung‘ des Dichters im Schlussgedicht des Algabal fortschreitet.19 Kritisch hat Manfred Durzak zu solch einem Interpretationsverfahren im Interesse der „organischen Entfaltung einer großen Persönlichkeit“ festgestellt, dass ihm „Krisen und Unvereinbarkeiten seiner tatsächlichen Entwicklung […] verborgen bleiben“ müssen,20 und dieser Einwand lässt sich auch auf die Wahrnehmung der Werke selbst übertragen, die, so geleitet, weder innere Brüche in den Texten, noch deren individuelle literarische Gestalt gegenüber ihrem biographischen Entstehungskontext angemessen realisieren kann.21 Umso bemerkenswerter ist, dass StG demgegenüber seine eigenen Zyklen nicht als aufsteigende Folge, sondern als gleichberechtigte Reihe im ersten Heft der BfdK erscheinen lässt, in welchem er, wie oben dargestellt, 1892 eine Auswahl von dreizehn Gedichten „Aus ,Hymnen Pilgerfahrten Algabal‘“ präsentiert.22 Indem die Auswahl unmittelbar der programmatischen Ankündigung der Herausgeber der BfdK folgt, eine neue „geistige kunst auf grund der neuen fühlweise und mache – eine kunst für die kunst“ zu etablieren und darum auch „nicht mit lehrsätzen [zu] beginnen sondern mit werken die unser wollen behellen“ zu eröffnen,23 rücken auf diese Weise alle drei Zyklen in den Rang eines poetisch-poetologischen Manifests.24 Eines der bedeutendsten Dokumente der kreisinternen Rezeption der drei Zyklen ist ihre Deutung in Friedrich Gundolfs umfassender Werkmonographie George von 1920. Sie belegt die Deutungslinie der Zyklen innerhalb des George-Kreises als Entwicklungsgeschichte der ,großen Persönlichkeit‘ StG. So sind die Hymnen Gundolf zufolge Ausdruck der ,Initiation‘ des Dichters, deren Urerlebnis gleichwohl im Dunkeln bleibt. Ihre spezifische Bedeutung liegt in der Gewinnung einer objektiven, dem „Bereich der Einzelwallungen und –schwankungen“ enthobenen poetischen Sprache.25 Die sprachliche „Erlösung“ des Dichters,26 die die Mitglieder des Kreises einhellig in den Hymnen am Werke sehen, ist schließlich auch der entscheidende Topos, 18 Gundolf, George, S. 61. 19 Vgl. EM I, S. 25, 57. Mit besonderer Konsequenz ist den Zyklen ein solches Deutungsschema von Friedrich Gundolf unterlegt worden (siehe dazu im Folgenden), aber auch Claude David teilt die Auffassung, dass „die ,Hymnen‘ und die ,Pilgerfahrten‘ nur als vielversprechende erste Stufen zu betrachten“ seien, wogegen „die Kunst Georges in ,Algabal‘ einen ihrer Höhepunkte erreicht.“ David, Stefan George, S. 76. 20 Durzak, Der junge George, S. 169. 21 Sehr schön zeigt Hoffmann, Symbolismus, S. 172–180, wie etwa die Bindung der Gedichte an konkrete, empirisch nachweisbare Orte, die Ernst Morwitz und andere zum Teil mit großem Scharfsinn nachzuweisen suchen, schon in den Gedichten selbst ins Leere läuft. 22 BfdK 1/1892, 1, S. 3–11. 23 Ebd., S. 1. 24 Das bestätigt auch Carl August Kleins, sicherlich von StG autorisierte Würdigung der drei Zyklen in seinem Beitrag für die BfdK 1893, Klein, Über George, S. 49f. 25 Gundolf, George, S. 62. 26 Friedrich Wolters, Frühe Aufzeichnungen nach Gesprächen mit Stefan George zur „Blättergeschichte“ [1913], hrsg. v. Michael Philipp, Amsterdam 1996, S. 28.

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der die harte Periodisierung der deutschen Literaturgeschichte trägt, die sich mit dem Erscheinen StGs der Kreis-Wahrnehmung zufolge in der neueren deutschen Literatur vollzieht. So ist der in den Hymnen angeschlagene „neue Ton“ nichts weniger als die „Hebung und Rettung der deutschen Dichtersprache, im Durchbruch aus gesellschaftlicher Bildungsrede und romantischen Gefühlsergüssen zum ursprünglichen Wort“.27 Gegenüber dem in den Hymnen zumindest von Gundolf noch beobachteten Mangel an äußerem Erfahrungsgehalt – gegenüber dem Raum der Geschichte und in der Wahrnehmung der äußeren Natur – stellen die folgenden Pilgerfahrten nach Gundolf einen Übergang zur „Weltwerdung des Ich“28 dar. Der in den Pilgerfahrten vom Dichter „durchlebte Raum“ bleibt jedoch noch im Stande eines träumerischen „einsamen Überschwangs“.29 Friedrich Wolters hält dementsprechend die Pilgerfahrten für „das am meisten romantisch anmutende Werk des Dichters“ (FW, 31). Erst im Algabal findet sich in der Lesart Gundolfs das Dichtersubjekt StG in seiner vollen Souveränität: „In den Hymnen ist Durchbruch, in den Pilgerfahrten siegreiches Ringen, im Algabal die vollendete Macht“30 des Dichters über sich und seine Sprache erreicht.31 Doch auch die Algabal-Welt bleibt nach Gundolf noch im Traum befangen. Aus ihm weist erst das Schlussgedicht „Vogelschau“ hinaus in die reale Welt der Natur und der Geschichte, die die folgenden Hirten- und Preisgedichte ausmessen werden.32 In der damit durch die drei Zyklen hindurch konstatierten Bewegung von ,Durchbruch‘, ,Ringen‘ und ,Vollendung‘ sind für Gundolf, und darin exemplarisch für die Kreis-Rezeption überhaupt, ihr Autor StG und das lyrische Subjekt der Zyklen (Algabal eingeschlossen) zu einer „Gestalt“-haften Einheit verschmolzen.33 Diese Identifikation, die StG für Algabal durch seine Selbstdeutung im 1902 entstandenen „Zeitgedicht“ (VI/VII, 6–7) zu bestätigen scheint, führt nicht nur zu einer konsequent biographischen Deutung Algabals,34 sondern auch zu einer bisweilen eigenwilligen Verzeichnung der im Gedicht dargestellten ungerührten Grausamkeit des Protagonis-

27 Gundolf, George, S. 68. Vgl. die bei Friedrich Wolters übermittelte Anekdote, die „halb scherzhaft“ das Erscheinen der Hymnen mit Martin Opitz’, nach üblichem Verständnis die neuere deutsche Literatur mit begründendem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) vergleicht: „Als Karl August [= C.A. Klein] das erste Heft in der Hand hielt, sagte er halb scherzhaft: ,Dies wird einmal so epochal wie das Büchlein von der teutschen Poe¨terey‘“ (FW, 29). 28 Gundolf, George, S. 73. C. A. Klein sieht dagegen die Seele „in den Hymnen […] mit noch deutlicher weltfreude über gärten und uferlandschaften schweben“, Klein, Über George, S. 49. 29 Gundolf, George, S. 76f. 30 Ebd., S. 78. 31 Auch nach Karl Wolfskehls Urteil ist Algabal das „Hauptwerk der ersten Schaffenszeit“; vgl. ders., Stefan George (1896), zit. nach: Ders., Gedichte. Essays. Briefe, in Verbindung mit dem DLA Marbach am Neckar hrsg. v. Cornelia Blasberg u. Paul Hoffmann, Frankfurt/M. 1999, S. 15–21, hier: 16. 32 Vgl. Gundolf, George, S. 93. 33 Ebd., S. 87. Zur Verschmelzung siehe etwa auch Morwitz, Dichtung Georges, S. 35: „Den unwirklichen Gefährten, der nichts anderes ist wie ein Teil der eignen, in einem bestimmten Entwicklungskreis verfangenen Seele, sieht der Dichter im Bilde des römischen Kaisers Heliogabal.“ Zur Deutung Algabals im George-Kreis siehe eingehender Durzak, Der junge George, S. 168ff. 34 Vgl. z. B. EM I, S. 43ff. Zur kritisch gewendeten Deutung von „Algabals Solipsismus“ als „Urszene des George-Kreises“ siehe Kolk 1998, S. 29ff., hier: 34. Schon Gundolf stellt Algabal als „kreisbildende Mitte“ dar, Gundolf, George, S. 79.

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ten.35 Eine Ausnahme bildet Karl Wolfskehl, der Algabal als historische und diagnostische Zeitdichtung bewundert, wenn er in einem an StG gerichteten Brief vom 11.12.1892 die „deutende Erkennenstiefe“, welche die historische Figur dieses „vielleicht […] dekadentesten Imperators lebenswahr und berauschend hat erstehen lassen“, hervorhebt, die dessen Bild zu einem „Flammengemälde geschmiedet“ habe, das zeige, was „das damalige Rom mit unsrer Kultur weltgemein hat“.36 2.2.3.2. Deutungsansätze Die in der Auseinandersetzung mit dem Werk StGs im Allgemeinen und mit den Zyklen Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal im Besonderen entwickelten Deutungsansätze lassen sich annäherungsweise und nicht trennscharf zu verstehen auf drei Ebenen ansiedeln: 1. der Paraphrase, die auf der (vor allem im George-Kreis verbreiteten) Auffassung von der grundsätzlichen oder vorläufigen Nicht-Interpretierbarkeit des Georgeschen Werks aufruht;37 2. der philologisch zum Teil höchst differenzierten, zur Mikroanalyse tendierenden geschlossenen Interpretation einzelner Gedichte und des Zykluszusammenhangs; 3. der kontextualisierenden Einordnung der Werke in größere literarische, kulturgeschichtliche und auch politische Zusammenhänge etwa mit Blick auf den Symbolismus, die ästhetische oder die historische Moderne. Als verbindendes und auch allgemein für die modernen Avantgarden um 1900 charakteristisches Motiv der drei Zyklen lässt sich die Suche nach einer Begründung der Kunst unter den (modernen) Bedingungen einer radikalen Immanenz jenseits transzendenter Sinnversprechen festhalten, nach einer Einheit von Kunst und Leben sowie nach einem authentischen Ausdruck für das Erleben und die Wahrnehmung der Welt, der nicht intuitiv, sondern nur konstruktiv, in höchster Artifizialität („mache“) gelingen kann. Dies durch verschiedenste Formen hindurch probierend und reflexiv umkreisend, wird die angestrebte Vollendung jedoch nie erreicht, sondern – ohne dass das lyrische Subjekt, das stets als einsames erscheint,38 seinen Anspruch zurücknehmen würde – durch einen neuerlichen Versuch abgelöst. Die Abfolge der Gedichte und der Zyklen erscheint in dieser Perspektive als ein unaufhörliches Experiment. Über die Hymnen hat die literaturwissenschaftliche Forschung höchst unterschiedlich geurteilt. Als Werk von epochalem Rang, mit dem „die Moderne in der deutschen Lyrik beginnt“,39 gelten sie, insofern sie gegen einen von Subjektivität und Expressivität geprägten traditionellen lyrischen Ausdruck ein Verfremdungsverfahren setzen, das sich vor allem durch seine Redeweise, weniger durch seine Redegegenstände als modern erweise. Derselbe Befund hat den Hymnen jedoch andererseits den Vorwurf 35 Etwa EM I, S. 48, 54f. 36 Abgedruckt in SW II, S. 119f. 37 „Annäherung an das dichterische Werk – gibt es das überhaupt? […] Heißt das nicht mit dem Wort der Mitteilung das Leuchtende antasten und seinen Zauber zerreden?“, so Eduard Lachmann in seiner George-Monographie 1933, zit. nach Durzak, Der junge George, S. 171. Dazu mit weiteren Belegen auch Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2005, S. 100ff. Vgl. dazu II, 1.4.1.2. 38 Siehe hierzu Georg Luka´cs’ Essay von 1908 Die neue Einsamkeit. 39 Lamping, Lyrisches Gedicht, S. 148.

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des hohlen Pathos („der feierliche Ton ist leer, der Titel kaum mehr als ein Kunstgriff“)40 oder des Preziösen eingetragen, insofern sich die dichterische Energie in ihnen an unbedeutenden Gegenständen abarbeite und allein Schönheit anstrebe.41 Ihre metrisch streng geregelte Form ist schließlich auch als „Domestizierung“ des mit dem Titel Hymnen eigentlich erwartbaren dionysisch-rauschhaften Moments kritisiert worden.42 Hinter dem Vorwurf des Preziösen verbirgt sich in Claude Davids erster Gesamtdeutung der Hymnen von 1952 die Beobachtung eines „Exzeß im Sprachlichen, eine für sie charakteristische Mischung von Feierlichkeit im Ton und Leichtigkeit in den Themen“,43 die letztlich auf eine „Auflösung, Zersplitterung“ und „Flucht“ vor der Welt hinauslaufe,44 auf einen substanzlosen Ästhetizismus: „Die ganze Welt existiert nur, um in einem schönen Bild Gestalt anzunehmen“,45 dem die Sicherheit des Gelingens eingeschrieben sei.46 In bewusster Abgrenzung von den biographisch und zum Teil dezidiert anti-philologisch ausgerichteten Deutungsansätzen des George-Kreises legt Hubert Arbogast 1967 die erste umfassende Untersuchung zu den Hymnen vor, die die oben (2.2.2.) beschriebenen literarischen Verfahrensweisen StGs erstmals im Detail philologisch nachvollzieht und Bezüge der Hymnen zu Baudelaire und Klopstock nachweist.47 Im Unterschied zu Klopstocks sakraler Dichtung, aber auch zu einer konventionell „vertrauende[n] Hingabe an die Natur und an das eigene Gefühl“, sei StG wie der europäischen Lyrik seiner Zeit beides nicht mehr möglich, sondern nur noch „ein Dichten um seiner selbst willen.“48 Anders aber als der l’art pour l’art hielten die Hymnen gleichwohl an der Suche nach einem Bezug auf äußere Natur („Im Park“) und höhere Weihe („Weihe“) fest. Als Hauptthema und entscheidende innovatorische Leistung des Dichters erkennt Arbogast in den Hymnen die Darstellung einer polaren Spannung zwischen den widerstrebenden Bewegungen der „Begehrlichkeit“ und der „Weihe“,49 des Innen und des Außen, die zur Versöhnung gebracht werden sollen. Dies gelingt jedoch Arbogast zufolge allein auf der Ebene der Form in der Zusammenführung von ,harter Fügung‘ und Reim.50 Gegenüber einer solchen, wesentlich auf formgeschichtliche Aspekte konzentrierten Deutung der Hymnen zeichnet sich in Manfred Durzaks George-Studie von 197451 die bereits in der George-Rezeption Georg Luka´cs’, Walter Benjamins und 40 Norbert Gabriel, Studien zur Geschichte der deutschen Hymne, München 1992, S. 213. 41 Vgl. David, Stefan George, S. 44, 45ff. 42 Henning Bothe, „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992, S. 138. 43 David, Stefan George, S. 43. 44 Ebd., S. 46. Die darin behauptete Absetzung von Gundolfs Deutung des Frühwerks (ebd.) ist eher nur eine Radikalisierung des auch von Gundolf konstatierten noch fehlenden ,Weltgehalts‘ der Hymnen. 45 David, Stefan George, S. 42, vgl. auch S. 46. 46 Vgl. ebd., S. 54. 47 Arbogast, Erneuerung. 48 Ebd., S. 101. 49 Ebd., S. 89ff. 50 Vgl. ebd., S. 123. 51 Der selbst eine eigene vornehmlich poetologisch-kunsttheoretisch ausgerichtete Untersuchung vorangegangen war: Durzak, Der junge George.

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Theodor W. Adornos vorgebildete Tendenz ab, die Hymnen wie das Frühwerk StGs überhaupt als Ausdruck moderner gesellschaftlicher Entfremdungserfahrungen zu deuten.52 Indem die Muse wie auch das Buch der Natur sich dem Dichter verweigern, Welt und Natur dem Menschen zum Rätsel werden, sei „die historische Lage seiner Poesie hellsichtig antizipiert und de[r] ästhetische[] Standort seiner frühen Dichtung anschaulich gemacht“.53 Neben vertieften Untersuchungen zu einzelnen Gedichten aus dem Zyklus der Hymnen, von denen vor allem das Eröffnungsgedicht „Weihe“, wie dann „Im Park“, „Auf der Terrasse“ oder auch „Die Gärten schliessen“ besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben,54 konzentrierte sich die nachfolgende Forschung eher auf einzelne Aspekte: so auf die Gattungsfrage und aus ihr zu gewinnende neue Interpretationsansätze, wie den Vorschlag, den Zyklus im Ganzen als Realisierung einer Hymnen-Struktur zu deuten,55 oder auf die Darstellung des Schönen, die sich in den Hymnen deutlich problematischer zeige, als es etwa noch bei David den Anschein habe.56 Im Vergleich zu den vorangegangenen Hymnen und vor allem dem späteren Algabal sind die vielleicht tatsächlich zu den „am schwersten zugänglichen Werke[n] Georges“57 gehörenden Pilgerfahrten kaum zum Gegenstand eigener Deutung geworden. Konstatiert wurde wiederholt die räumliche Ausweitung der in ihnen angeschlagenen Motive und Themen. Verstärkt ist auch das schon im Titel angedeutete und sakral eingefärbte Leitmotiv der – wie auch bereits in den Hymnen – weltlich zu deutenden peregrinatio des ,wandernden Dichters‘, der in äußerster Einsamkeit bleibt. Die biographische Parallele zu StGs Krisenjahr 1891 drängt sich auf, in dessen erster Hälfte der Zyklus abgeschlossen wird und in das u. a. das unglückliche Werben um Hugo von Hofmannsthal fällt (dem Widmungsträger der Pilgerfahrten). Eine Antwort auf die in den letzten Versen des Schlussgedichts „Die Gärten schliessen“ der vorangehenden Hymnen artikulierte Frage: „Heisse monde flohen aus der pforte. / Ward dein hoffen deine habe? / Baust du immer noch auf ihre worte / Pilger mit der hand am stabe?“ (II, 28), geben die Pilgerfahrten, so das übereinstimmende Urteil der Forschung, nicht. 52 Vgl. Luka´cs, Die neue Einsamkeit; dazu Walter Benjamin, Rückblick auf Stefan George (1933), in: Ders., Kritiken und Rezensionen, hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M. 1991 (Gesammelte Schriften 3), S. 392–399; Theodor W. Adorno, George (1967), in: Ders., Noten zur Literatur IV, Frankfurt/M. 1979, S. 45–62. 53 Manfred Durzak, Zwischen Symbolismus und Expressionismus. Stefan George, Stuttgart u. a. 1974, S. 27–29. 54 Vgl. u. a. Hoffmann, Symbolismus, S. 172–180 („Auf der Terrasse“); Lamping, Lyrisches Gedicht, S. 148–155 („Im Park“); Bernhard Böschenstein, ,Weihe‘, in: CP 50/2001, 250, S. 7–16; Armin Schäfer, Gärten in der Lyrik Stefan Georges, in: Walter Gebhard (Hrsg.), Sozialgeschichtliche Aspekte des Gartens, Frankfurt/M. u. a. 2002, S. 151–165; Joachim Jacob, Der zerstörte Palimpsest oder vom Entschwinden der Erinnerung. Zu einem Gedicht Stefan Georges, in: Ders./Pascal Nicklas (Hrsg.), Palimpseste. Zur Erinnerung an Norbert Altenhofer, Heidelberg 2004, S. 143–162 („Von einer Begegnung“); Martus, Werkpolitik, S. 531–575 („Weihe“). 55 Vgl. Simon, Hymne und Erhabenheit. Weitere Literatur hierzu siehe oben, Anm. 12. 56 Vgl. Joachim Jacob, Stefan Georges ,Hymnen‘. Experimente mit dem Schönen, in: GJb 5/2003/2004, S. 22–44. Siehe dazu auch, mit anderer Akzentuierung, Simon, Hymne und Erhabenheit, S. 374ff. 57 David, Stefan George, S. 58.

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Claude David benennt als zentrales Thema des Zyklus die Versuchung und als sein treibendes Motiv die Suche nach der wahren Dichtung selbst, von der sich der Dichter auf seinem Weg, einer rigoristischen, von Mallarme´ inspirierten Ethik der Entsagung folgend, nicht abbringen lasse.58 Jürgen Wertheimer identifiziert als zentrales Moment der Pilgerfahrten eine ,dialogische Sprechhaltung‘, die sich jedoch als ein „Dialog ohne Partner“ darstelle.59 Die „Aufschrift“ der Pilgerfahrten: „Also brach ich auf / und ein fremdling ward ich / und ich suchte einen / der mit mir trauerte / und keiner war“ (II, 30), gibt Wertheimer zufolge das Programm vor, das die einzelnen Gedichte in den nach Verständigung suchenden, aber sich zuletzt immer wieder zurückziehenden Sprachgesten stetig variieren und darin der Erfahrung der existenziellen lebensgeschichtlichen Krise StGs ihre angemessene literarische Gestalt verschaffen. Als Vision, das in den Pilgerfahrten offengelegte Scheitern in der ruhelosen Bewegung durch den Raum und im steten Rückfall in die Selbstisolation zu überwinden, hat Arbogast das abgesetzte Schlussgedicht „Die Spange“ gedeutet.60 Dem nachfolgenden Zyklus Algabal wäre damit die Stelle zugewiesen, das mit den Schlussversen der „Spange“ Angekündigte „Nun aber soll sie also sein: / Wie eine grosse fremde dolde / Geformt aus feuerrotem golde / Und reichem blitzendem gestein“ (II, 54) poetisch einzulösen. Und als eine solche erste Erfüllung der in den ersten beiden Zyklen Hymnen und Pilgerfahrten begonnenen poetischen Bewegung ist Algabal auch wiederholt gelesen worden. Unter den Texten des Frühwerks StGs hat Algabal die größten Kontroversen ausgelöst.61 Die provozierende, zum großen Teil aus der Innenperspektive formulierte ,Magie des Extrems‘ (Eckhard Heftrich), die sich um die Figur des spätrömischen, von einer kristallinen Kunstwelt umgebenen und das Menschenopfer nicht scheuenden, zum Sinnbild absoluter Souveränität sich empfehlenden jungen Kaisers spannt, disponiert Algabal dazu, ins Zentrum der politischen, moralischen und ästhetischen Auseinandersetzungen zu rücken, die StGs Werk seit seinen Anfängen umgeben. Während Georg Simmel in seiner „kunstphilosophischen Betrachtung“ über StG von 1898 in Übereinstimmung mit der Wahrnehmung des Zyklus im George-Kreis notiert, mit Algabal gelange das „Objektiv-Werden des Kunstgefühls […], jene Lösung von allen subjektiv-natürlichen Gefühlsreflexen, um der Kunst willen“ zum Durchbruch, mit der sich die „Herrschaft des Poeten über die Welt vollendet“,62 verurteilt Rudolf Borchardt in seiner Rede über Hugo von Hofmannsthal (1902) StGs Algabal als das „äußerlichste[] seiner Bücher, mit seinen absichtlichen Betäubungen, seiner 58 Vgl. ebd., S. 58–67. 59 Jürgen Wertheimer, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen, München 1978, S. 62–66. Zur spezifischen, die Geliebte entrückenden Form der ,Liebesrede‘ siehe hier auch Margherita Versari, Strategien der Liebesrede in der Dichtung Stefan Georges, Würzburg 2006, S. 31–34. 60 So Arbogast, Erneuerung, S. 130; vgl. Wolfgang Braungart, „Was ich noch sinne und was ich noch füge / Was ich noch liebe trägt die gleichen züge“. Stefan Georges performative Poetik, in: Stefan George, München 2005 (Text und Kritik 168), S. 3–18, hier: 15f. 61 Vgl. zur Deutungsgeschichte bis 1968 den Überblick bei Durzak, Der junge George, S. 168–190. 62 Georg Simmel, Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung (1898), in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen. 1894–1900, hrsg. v. Heinz-Jürgen Dahme u. David P. Frisby, Frankfurt/M. 1992 (Gesamtausgabe 5), S. 287–300, hier: 293.

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hoffnungslosen Überladenheit, seinem französisch unruhigen Gefallen am Absonderlichen und Entlegnen, am kalt Verzerrten, Schwachen, Entkräfteten und Bösen.“63 Neben den biographischen Deutungsansätzen wurde die mit zahlreichen Details nachweisbare Bezugnahme auf den historischen Kaiser Elagabalus ein wichtiger Ausgangspunkt der Deutung des Algabal. Die Jugendlichkeit des Herrschers, seine isolierte Stellung, die Verbindung von Religion und Politik in seiner Person zu einem ,Priesterkönigtum‘, wie schließlich auch der Eindruck, ebenfalls einer epochalen Spätzeit, einem frühen Fin de sie`cle, anzugehören, sind wesentliche Anknüpfungspunkte für die Algabal-Dichtung. Gerade auf der Grundlage des von Ernst Morwitz und Victor A. Oswald versammelten historischen Quellenmaterials64 weist jedoch schon Morwitz auch die stilisierende, keineswegs historiographische Treue anstrebende Tendenz des Werkes nach: „Sonderheit und Sonderung verbinden den Dichter mit Algabal“.65 Als weiteren wichtigen literarischen Bezugspunkt des Algabal als „konsequenteste[] Adaption des französischen Ästhetizismus in deutscher Sprache“66 hat die Forschung Charles Baudelaires „Reˆve Parisien“ aus den Tableaux parisiens der zweiten Ausgabe der Fleurs du mal (1861) ermittelt, mit deren Übertragung sich StG während der Zeit seiner Arbeit am Algabal-Zyklus intensiv beschäftigte.67 Ist die Darstellung des „Unterreichs“ im ersten Teil des Algabal-Zyklus nachweislich von Baudelaire inspiriert,68 sind auch die kontrastiven Momente zur Vorlage kritisch beachtet worden. Während Baudelaire sein Traumbild an die aktuelle Gegenwart binde, so Hella Tiedemann-Bartels, ziehe sich StGs „programmatisch artifizielle Lyrik […] aus der Gegenwart in legendäre Geschichte zurück“.69 Deutete Georg Luka´cs schon 1945 im Moskauer Exil das Moment der unverhüllten Gewalt in der Figur des Algabal als eine „Explosion der Widermenschlichkeit“, die „aus der aristokratisch-ästhetischen Unbrüderlichkeit seiner [StGs] Weltanschauung“ erwachse und ein zeithistorisches Zeichen „jenes bösartigen Kleinbürgertums“ gewesen sei, „das später das eigentliche Werbungsgebiet Hitlers abgab“,70 entzünden sich Ende der 1960er-Jahre an der damit benannten moralisch-politischen Frage neue Kontroversen um Algabal. So wirft Eckhard Heftrich dem 1964 in Westdeutschland 63 Rudolf Borchardt, Rede über Hofmannsthal (1902), in: Ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden: Reden, hrsg. v. Marie Luise Borchardt unter Mitarb. v. Rudolf Alexander Schröder u. Silvio Rizzi, Stuttgart [1955], S. 45–103, hier: 81. 64 Vgl. EM I, S. 43ff.; Victor A. Oswald, The Historical Content of Stefan George’s ,Algabal‘, in: The German Review 23/1948, 3, S. 193–205; ders., Oscar Wilde, Stefan George, Heliogabalus, in: The Modern Language Review 10/1949, S. 517–525. 65 Morwitz, Dichtung Georges, S. 35. Zur Kritik an Morwitz’ Präsentation der Quellen wie auch zum deutenden Umgang StGs mit dem historischen Material siehe Rink, Algabal – Elagabal. 66 Karlauf 2007, S. 103. 67 Vgl. SW XIII/XIV, S. 164; vgl. I, 2.11. 68 Vgl. detaillierte Nachweise bei Durzak, Der junge George, S. 202ff.; Heftrich, Stefan George, S. 33ff.; Tiedemann-Bartels, Versuch, S. 53ff. 69 Tiedemann-Bartels, Versuch, S. 53f. 70 Georg Luka´cs, Repräsentative Lyrik der Wilhelminischen Zeit (1945), wiederabgedruckt in: Ders., Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur, Neuwied, Berlin 1964, S. 170–178, hier: 177. Dass sein Urteil keineswegs das ,Lebenswerk‘ StGs erschöpfend charakterisiere, hebt Luka´cs im Vorwort zur Neuausgabe seines Essays ausdrücklich hervor, vgl. ebd., S. 5.

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neu aufgelegten Essay Luka´cs’ vor, „im Schutze eines ideologischen Zirkels ein Urteil“ zu fällen, „das alle Voraussetzungen einer angemessenen Interpretation von Dichtung ignoriert“.71 Algabal sei vielmehr als eine metaphorische Figur des jugendlichen Herrschertums zu deuten, „in dem sich das dichterische Königtum verbirgt“,72 dessen Versuch, Schönheit und Macht zu vereinigen, jedoch einem tragischen Untergang geweiht ist.73 Gert Mattenklott hingegen sieht in seiner 1970 mit bewusst provozierendem Gestus auftretenden George-Monographie die „Sensationen des Algabal“ als den „mißlungene[n] Versuch, das utopische Potential des Neuen und Anderen in effektvolle Novitäten auszumünzen, in Wunder- und Schauerstücke vom schönen Leben neben dem Tod“, wogegen es an Fantasie für die noch ausstehenden tatsächlichen Gräuel des Ersten Weltkriegs gemangelt habe.74 Differenzierter versucht Werner Kraft zehn Jahre später noch einmal die problematische politische Dimension des Algabal-Zyklus auszuleuchten, die mit dem reinen „lyrischen Hauch“ eines in ihn eingelassenen Gedichts wie „Fern ist mir das blumenalter“ (II, 79) widerstreite.75 So sieht Kraft im Algabal eine ,mythische Gewalt‘ (Walter Benjamin) am Werk, die mit Algabals Grausamkeit und seiner unnahbaren Größe die Idee der Diktatur und der Tat um der Tat willen artikuliere.76 Das „Traumspiel eines jugendlichen Dichters“ werde konkret durch seine Widmung an Ludwig II., mit dem Algabal einen „nationale[n] Zug“ erhalte, „der in eine so fürchterliche Figur wie den historischen Heliogabal hineininterpretiert wird.“77 Neben diese Deutungen des Algabal in moralischer, geschichtsphilosophischer und politischer Perspektive – eine psychoanalytische Interpretation des Algabal als Inszenierung eines ,grandiosen Ichs‘, an der jedoch zugleich die „Einsicht in die Unmöglichkeit der narzißtischen Gegenwelt“ aufgehe, hat Wolf Wucherpfennig vorgelegt78 – ist die Figur des Algabal schließlich auch als Sinnbild und Problematisierung des Dichter-Künstlers und einer Absolut-Setzung der Kunst verstanden worden. Wird das Problem autonomer Schöpfung schon im Zyklus selbst, vor allem in dem zentralen Gedicht „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“ thematisiert,79 und versteht Wolfgang Braungart den Algabal im Ganzen als Artikulation des „Konzept[s] einer radikal autonomen Dichtkunst“,80 hat Manfred Durzak im Anschluss an Paul Gerhard Klussmanns symbolische Deutung des Lebens Algabals als die „besondere 71 Heftrich, Stefan George, S. 7. 72 So mit Blick auf das erste Gedicht des dritten Teils „Grosse tage wo im geist ich nur der herr der welten hiess“ (II, 78) Heftrich, Stefan George, S. 38. 73 Vgl. ebd., S. 40, 50ff. 74 Mattenklott, Bilderdienst, S. 262f. Als fatale und moralisch prekäre „politische Dichtung“ liest auch Annette Rink Algabal, vgl. Rink, Algabal – Elagabal, S. 549 passim. 75 Kraft, Stefan George, S. 232. 76 Ebd., S. 228. 77 Vgl. ebd., S. 232. 78 Wolf Wucherpfennig, Die Einsamkeit des Westens. Moderne, Dekadenz und Identität im Heliogabal-Stoff (Lombard, Couperus, George), in: Eduard Beutner/Ulrike Tanzer (Hrsg.), Literatur als Geschichte des Ich, Würzburg 2000, S. 154–172, hier: 172. 79 Siehe dazu u. a. Durzak, Der junge George, S. 213f.; Heftrich, Stefan George, S. 50ff.; Tiedemann-Bartels, Versuch, S. 71ff. 80 Braungart, Hymne, Ode, Elegie, S. 260f. Vgl. in diesem Sinne auch Braungarts Interpretation des letzten Gedichts des Zyklus „Vogelschau“ (II, 85) als poetologische Metapher literarischer Selbstbezüglichkeit, Braungart 1997, S. 254ff.

2. Stefan George: Werk – Hymnen Pilgerfahrten Algabal

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Daseinsform des Dichters“81 allerdings auf das im Algabal ebenfalls zum Ausdruck gelangende, wenn auch nicht immer wahrgenommene Moment des Scheiterns seines Anspruchs aufmerksam gemacht. So sei Algabal auch als „mitgestaltete Kritik des eigenen Versuches“ eines l’art pour l’art zu deuten und als eine damit einhergehende „in der Dichtung vermittelte Reflexion von Georges damaliger Wirklichkeitskrise“.82 Literatur Braungart 1997; EM I; G/C. Arbogast, Hubert, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges. Eine stilgeschichtliche Untersuchung, Köln, Graz 1967. Braungart, Wolfgang, Hymne, Ode, Elegie. Oder: Von den Schwierigkeiten mit antiken Formen der Lyrik (Mörike, George, George-Kreis), in: Achim Aurnhammer/Thomas Pittrof (Hrsg.), „Mehr Dionysos als Apoll“. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, Frankfurt/M. 2002, S. 245–271. David, Claude, Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967. Durzak, Manfred, Der junge Stefan George. Kunsttheorie und Dichtung, München 1968. Fechner, Jörg-Ulrich (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“. Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der ,Blätter für die Kunst‘ 1890–1898, Heidelberg 1998. Gundolf, Friedrich, George, Berlin 1920. Heftrich, Eckhard, Stefan George, Frankfurt/M. 1968. Hoffmann, Paul, Symbolismus, München 1987. Klein, Carl August, Über Stefan George, Eine neue Kunst, in: BfdK 1/1893, 2, S. 45–50. Kraft, Werner, Stefan George, München 1980. Lamping, Dieter, Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, 2. Aufl., Göttingen 1993. Luka´cs, Georg, Die neue Einsamkeit und ihre Lyrik. Stefan George, in: Ders., Die Seele und die Formen. Essays, Neuwied, Berlin 1971, S. 117–132. Martus, Steffen, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis zum 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007. Mattenklott, Gert, Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, München 1970. Morwitz, Ernst, Die Dichtung Stefan Georges, Berlin 1934. Rink, Annette, Algabal – Elagabal. Herrschertum beim frühen Stefan George, in: Weimarer Beiträge 48/2002, S. 548–567. Simon, Ralf, Hymne und Erhabenheit im 19. Jahrhundert, ausgehend von Stefan Georges ,Hymnen‘, in: Steffen Martus/Stefan Scherrer/Claudia Stockinger (Hrsg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern u. a. 2005, S. 357–385. Tiedemann-Bartels, Hella, Versuch über das artistische Gedicht, München 1971. Joachim Jacob

81 Paul Gerhard Klussmann, Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und des Dichters in der Moderne, Bonn 1961, S. 88. 82 Durzak, Der junge George, S. 176.

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2.3.

I. Stefan George und sein Kreis

Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten (SW III)

2.3.1. Entstehung und Überlieferung Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten erschienen Ende Dezember 1895 im Verlag der Blätter für die Kunst in einer Auflage von 200 Exemplaren. Auf einem Umschlag aus hellgrauem Bütten war in strenger und etwas spröder schwarzer Blockschrift der Titel aufgedruckt. Die Entstehungszeit der Gedichte erstreckte sich vom Winter 1892/93 bis 1894. 1895 arbeitete StG an Korrekturen und neuen Anordnungslösungen. 1898 kamen in der zweiten, bei Bondi veröffentlichten Ausgabe vier weitere Gedichte (eines im ersten und drei im zweiten Buch) und eine „Vorrede“ hinzu, die im Schlusssatz von ihrer ersten Fassung (1894 in den BfdK) abweicht. Eine detaillierte Rekonstruktion der Überlieferungslage hat Ute Oelmann geleistet.1 Unter den 16 vorhandenen handschriftlichen Versionen ragen insbesondere zwei Gruppen hervor, die mit dem Buch der Sagen und Sänge und dem der Hängenden Gärten zu tun haben. Von den Hirten- und Preisgedichten sind dagegen nur einzelne Gedichte bruchstückhaft in drei Handschriften überliefert. Eine Auswahl aus den Hängenden Gärten stellte StG 1895 für seine Binger Freundin Ida Coblenz zusammen, die ihm in der Entstehungszeit der Bücher durch einfühlsame Gespräche und treffende kritische Beobachtungen nahestand. In einem weiteren, viel umfangreicheren Konvolut zum Buch der Hängenden Gärten versah StG mehrere Texte mit Korrekturen in je nach Art der vorgenommenen Veränderungen verschiedenfarbiger Tinte – ein für ihn typisches Arbeitsverfahren. Seiner Schwester Anna schenkte StG eine mit großer Sorgfalt hergestellte Handschrift mit Texten aus den Sagen und Sängen. Ein Faksimile der drei Doppelblätter in beigem Büttenpapier haben Hubert Arbogast und Ute Oelmann 1996 als Jahresgabe der Württembergischen Bibliotheksgesellschaft ediert.2 Die Bücher hängen sowohl in ihrer Entstehungsgeschichte als auch in mehreren inhaltlichen Aspekten mit StGs Versuchen zusammen, einen Ausweg aus jener Isolierung zu finden, die zwischen 1891 und 1892 sein Leben und seine dichterische Tätigkeit überschattete. In vielen Gedichten werden Erfüllung und Auflösung von zwischenmenschlichen Beziehungen thematisiert. Im ersten Teil der Sammlung kreist der gesamte Halbzyklus der Preisgedichte darum, Voraussetzungen geselligen Zusammenseins heraufzubeschwören oder in nachtrauernder Erinnerung wieder lebendig zu machen. Die Widmung an drei Gleichgesinnte, Paul Ge´rardy, Wacław Rolicz-Lieder und Karl Wolfskehl, stützt sich nicht nur auf literarische Kongenialität, sondern bezieht sich auf die Tage, die diese und StG im Herbst 1894 in München zusammen verbracht hatten. Die Sehnsucht nach einem menschlichen und literarischen Wirkungskreis korrespondiert dem Wunsch, nach Algabal dem eigenen Werk neue Impulse zu verleihen, wie StG selbst im Januar 1892 in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal andeutete: „was ich nach Halgabal noch schreiben soll ist mir unfasslich“ 1 Vgl. SW III, Überlieferung, S. 108–113. 2 Stefan George, Sagen und Sänge. Faksimile der Handschrift, hrsg. v. Hubert Arbogast u. Ute Oelmann, Stuttgart 1996.

2. Stefan George: Werk – Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte

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(G/H, 12). Es ist dabei von großer Bedeutung, dass die Werbeversuche, die StG Ende 1891 gegenüber Hofmannsthal unternahm, sich nicht zuletzt durch die rückblickende Uminterpretation des bereits Vollbrachten auszeichnen. Am 16. Januar 1892 stellte StG in einem Brief an Hofmannsthals Vater etwa fest, dass „mein Halgabal [und] sein [Hofmannsthals] Andrea […] troz allem verschiedenen kinder eines geistes [sind]“ (G/H, 242). Die Arbeit am Konzept der BfdK und die intensive Auseinandersetzung mit französischer Dichtung, die sich in einer regen Übersetzungstätigkeit und in dichterischen Experimenten in der Fremdsprache konkretisierte, zeugen ebenfalls von dem Bedürfnis, für das eigene literarische Schaffen durch Entgrenzung und Perspektivenerweiterung neue Existenzbedingungen zu gewinnen. Das ganze Jahr 1892 stand im Zeichen von Planung und Realisierung der BfdK, deren erstes Heft im Oktober erschien. Durch das Drängen des auf die Verwirklichung des gemeinsamen Planes ständig bedachten Herausgebers Carl August Klein wurde die Mitarbeit Hofmannsthals nach den Zerwürfnissen im Frühjahr relativ schnell gesichert. StG schaute sich im Sommer nach weiteren potenziellen Beiträgern persönlich um. In Belgien kam er mit Ge´rardy und Edmond Rassenfosse zusammen, über Klein besorgte er sich Auskünfte über die jüngsten Arbeiten von Max Dauthendey, Stanisław Przybyszewski und Maurice von Stern. Die Anwerbung von möglichen Autoren erfolgte allerdings nur zögerlich. Um das weitere Bestehen der BfdK zu sichern, musste StG auf eigene Übersetzungen zurückgreifen. Übertragungen von Verlaine, Mallarme´ und Re´gnier wurden schon ab dem im Dezember 1892 veröffentlichten zweiten Heft der Zeitschrift den Gedichten Hofmannsthals zur Seite gestellt. Die Desillusionierung, die er im Umfeld des Blätter-Unternehmens erfuhr, verlieh StGs Suche nach neuen dichterischen Ausdrucksmöglichkeiten neuen Elan. Wie fieberhaft StG nach Revitalisierungschancen der eigenen Poetik in der zweiten Hälfte 1892 Ausschau hielt, beweisen seine diversen Versuche, französische Verse zu schreiben, mit deren sprachlicher Überprüfung er Ge´rardy und Albert Saint-Paul beauftragte. Das Buch der Sagen und Sänge blieb von diesem Verfahren nicht unbeeinflusst, denn einige dort aufgenommene Texte entstanden ursprünglich auf Französisch. Im Mai 1893 brachte der vierte Band der ersten Blätter-Folge vier mit der Überschrift „Sagen“ betitelte Texte (darunter zwei, die dann in den Büchern erschienen), die mit dem Vermerk „zuerst französisch gedichtet dann vom verfasser selbst übertragen“3 versehen waren. StG sollte die Bücher immer wieder in engem Zusammenhang mit solchen Experimenten sehen. Noch im spärlichen Anhang zum dritten Band der Gesamt-Ausgabe der Werke merkte er 1930 an, dass „das dichten in fremdem sprachstoff · das der laie leicht für spielerische laune nehmen kann · […] seine notwendigkeit [hat]. In der fremden sprache in der er fühlt sich bewegt und denkt fügen sich dem Dichter die klänge ähnlich wie in der muttersprache“ (GA III, 127).4 Als die Lütticher Zeitschrift Flore´al im Februar 1893 StGs „Proverbes“ abdruckte, die nach Aussage Le´on Paschals auf den freundschaftlichen Verkehr mit Ge´rardy, Rassenfosse und Paschal selbst Bezug nehmen, hatte StG jedoch seine Abneigung gegenüber allem Deutschen („L’Allemagne commence a` me de´gouter“, klagte er am 3 BfdK 1/1892, 4, S. 97. 4 Zum Einfluss, den StGs Übersetzungstätigkeit auf die Bücher ausübte, vgl. Arbogast, ,Buch der Hängenden Gärten‘.

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I. Stefan George und sein Kreis

5. Januar 1893 in einem Brief an Saint-Paul; zit. nach RB I, 31) schon weitgehend überwunden und seinen Entschluss, sich der Muttersprache literarisch kaum mehr zu bedienen, deutlich relativiert. Im Winter 1892/93 begann eine überaus fruchtbare Produktionsphase, die nicht nur die Bücher umfasste, sondern sich auch auf das Jahr der Seele erstreckte. Teile des Zyklus Waller im Schnee entstanden parallel zu den Bücher-Gedichten. Am 3. April 1893 äußerte sich StG gegenüber Hugo von Hofmannsthal erleichtert darüber, dass er zum Deutschen zurückgekehrt sei: Die wintergeister die immer das übergrosse und tolle eingeben trieben mich zur französischen dichtung (Sie haben wol Flore´al? und in übertragung kommen auszüge in die ,Blätter‘) Nun ist der plan verlassen und ich will wieder auf goldnem kahn heimfahren […]. (G/H, 62)

Zu einem späteren Zeitpunkt, am 26. März 1896, rechnete es StG Hofmannsthal selbst, zusammen mit Ge´rardy, als Verdienst an, ihn zum Schreiben in deutscher Sprache zurückgeführt zu haben: „wer weiss ob ich – wenn ich Sie nicht oder Ge´rardy als dichter gefunden hätte – in meiner muttersprache weitergedichtet hätte“ (G/H, 90). Die Vielzahl von Texten aus den drei Büchern, die die belgische Zeitschrift Le Reveil Anfang 1896 (mit Erscheinungsjahr 1895) in einer französischen, von StG selbst 1894 für Rassenfosse besorgten Übersetzung veröffentlichte, belegt im Übrigen die große Bedeutung, die die Beschäftigung mit der Sprache der verehrten Symbolisten für die Gestaltung der Bücher hatte.5 Die Mehrheit der in den Büchern enthaltenen Gedichte schrieb StG im Laufe des Jahres 1893 nieder. Mag die intendierte Struktur der einzelnen Zyklen die Konzeption der Gedichte in formaler und thematischer Hinsicht geprägt haben, so muss gleichwohl davon ausgegangen werden, dass StG an den drei Büchern parallel und ohne klare Trennung der Zyklen untereinander arbeitete. Innerhalb einer knappen und äußerst konzentrierten Schaffensperiode entstanden, sind bei sämtlichen von StG zwischen 1893 und 1894 verfassten Texten die sprachlichen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten größer als die gattungsbedingten Unterschiede. So findet man in den zur gleichen Zeit entstandenen Prosastücken Sonntage auf meinem Land (XVII, 9–12) eine Disposition zur räumlichen Gestaltung der poetischen Rede, die auch für die Bücher charakteristisch ist. Ähnliches gilt auch für die vier 1893 verfassten Briefe des Kaisers Alexis an den Dichter Arkadios, die im fünften Band der ersten Blätter-Folge erschienen. Vom Mai 1893 bis Oktober 1894 veröffentlichten die BfdK mehrere, für die Aufnahme in die Bücher bestimmte Gedichte. Der vierte Band der ersten Folge enthielt neben den beiden bereits erwähnten Sagen Auszüge aus den Sängen eines fahrenden Spielmanns. Der erste Band der zweiten Folge brachte dann im Januar 1894 eine üppige Auswahl aus den Preisgedichten und den Hängenden Gärten, daneben vereinzelte Proben aus anderen Sektionen; im Oktoberheft wurden die erste Fassung der „Vorrede“ und drei weitere, den drei Bücher-Zyklen entnommene Gedichte publiziert. Die dabei jeweils angefügten, expliziten Verweise auf die endgültigen Zyklenbezeichnungen deuten darauf hin, dass StG sich frühzeitig auf eine dreiteilige Gliederung des Werks festlegte. Als 1894 ein Jahr vor dem Erscheinen der Bücher das 5 Die nicht immer linear verlaufende Geschichte dieser Publikation hat Jörg-Ulrich Fechner rekonstruiert, vgl. „L’aˆpre gloire du silence“, S. 153f.

2. Stefan George: Werk – Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte

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Novemberheft der Münchner Allgemeinen Kunstchronik zusammen mit anderen Gedichten StGs auch sechs der in den BfdK erschienenen Bücher-Gedichte abdruckte (der Dichter sah dieser Publikation übrigens mit großer Spannung entgegen),6 lagen Karl Wolfskehl für seine einleitenden Bemerkungen zum Werdegang des Dichters neben bis dahin veröffentlichten auch weitere, noch unveröffentlichte Bücher-Gedichte vor.7 Kann man zwar davon ausgehen, dass in den letzten Monaten des Jahres 1894 „die in der Erstausgabe enthaltenen Gedichte geschrieben waren“,8 so lassen sich doch über die Reihenfolge ihrer Entstehung sehr wenige verbindliche Aussagen treffen. Die ursprüngliche Fassung einiger „Sagen“ in französischer Sprache ist ohnehin ein Zeichen für deren Zugehörigkeit zu einer frühen Bearbeitungsphase. Daraus, dass StG in seinen gelegentlichen Äußerungen zur Ausarbeitung der Bücher diese stets im Hinblick auf deren triadische Struktur erwähnt, lässt sich im Allgemeinen folgern, dass die Ausführung der verschiedenen Sektionen parallel und ohne bedeutende chronologische Differenzierungen verlaufen ist. 2.3.2. Aufbau und Formales Durch die vier 1898 in der zweiten Ausgabe hinzugefügten Gedichte erhält das Werk seine endgültige Struktur. Dabei fallen vor allem die symmetrischen Korrespondenzen auf, die die beiden ersten Bücher miteinander verbinden. Auf 14 Hirtengedichte, die in ihrer Mitte durch eine leere Seite wiederum in zwei, jeweils sieben Texte umfassende Gruppen untergliedert sind, folgen elf Preisgedichte. Dem entspricht in umgekehrtem Verhältnis das zweite Buch, in dem auf die elf Sagen die 14 Sänge eines fahrenden Spielmanns folgen. Die dominante Zahl 25 wird schließlich auch im dritten Buch wieder aufgegriffen, das insgesamt 31 Gedichte enthält und durch mehrfache Zäsuren unterteilt ist, darunter eben auch eine zwischen den Texten 25 und 26. Die in der zweiten Ausgabe vorgenommenen Abrundungen zeigen, wie präsent solche strukturellen Überlegungen bei der Durchgestaltung der Zyklen waren.9 Trotzdem sollte man ihre Bedeutung nicht überbewerten, zumal die vielen Untergliederungen, auf die man im Buch der Hängenden Gärten anhand der Zahl der eingeschobenen Leerseiten eher spekulierend hinweisen kann, nur schwer mit einer klaren inhaltlichen Strukturierung des Zyklus in Einklang zu bringen sind. Das inhaltlich Heterogene in den drei Werkteilen wird durch die übergeordnete Perspektive eines Subjektes ausgeglichen, das sich auch bei den unterschiedlichen Ausdrucksformen, die jede einzelne Sektion bestimmen, als im Wesentlichen einheit6 Vgl. seinen Brief an Ida Coblenz v. 17.11.1894, in: G/C, S. 47. 7 Wolfskehls Ausführungen sind in Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 104–111, wiederabgedruckt. 8 So Ute Oelmann in SW III, S. 106. 9 Eine ausgewogene Darstellung der Bedeutung, die in der Lyrik StGs zyklischen Strukturen zukommt, in: Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007, S. 554. Vgl. auch die ältere, insgesamt noch lesenswerte Arbeit von Gabriel Simons, Die zyklische Kunst im Jugendwerk Stefan Georges. Ihre Voraussetzungen in der Zeit und ihre allgemeinen ästhetischen Bedingungen, Diss., Köln 1965.

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lich konstituiert. Der durchaus bewussten Übernahme von kulturgeschichtlich definierten Maskierungen in den drei Zyklen kommt eine eher sekundäre Bedeutung zu. Die jeweils altgriechische (in den Hirten- und Preisgedichten), mittelalterliche (in den Sagen und Sängen) und orientalische (in den Hängenden Gärten) Muster reproduzierende poetische Rede strebt keine historische Kohärenz an. Laut der „Vorrede“ besteht StGs Hauptanliegen darin, „spiegelungen einer seele“ (III, 7) zum Ausdruck zu bringen. Dieser knappe einführende Text, den StG nach der Erstveröffentlichung in den BfdK erst 1898 in die zweite, für eine breitere Öffentlichkeit bestimmte Ausgabe mit einer wichtigen Änderung aufnahm, lenkt an exponierter Stelle den Blick des Lesers auf die intendierte Geschlossenheit des Werks, die durch das Beharren auf der in sich zusammenhängenden Seelengeschichte des lyrischen Subjekts bedingt ist. Die topographischen Bezüge auf unterschiedliche Bildungsbereiche dienen allein dazu, visuelle Rahmenbedingungen für die Auslotung einer solchen Geschichte zu liefern. Dort, wo der Leser 1898 deutlich darauf hingewiesen wird, dass die Behandlung bildlicher Traditionselemente subjektive Zustände veranschaulichen solle, denn „[j]ede zeit und jeder geist rücken indem sie fremde und vergangenheit nach eigner art gestalten ins reich des persönlichen und heutigen und von unsren drei grossen bildungswelten ist hier nicht mehr enthalten als in einigen von uns noch eben lebt“ (III, 7), drückte sich StG in der ersten Fassung der „Vorrede“ noch stark defensiv aus. Scheinbar steht hier die Hervorhebung stilistischer Souveränität und spielerischer Unbekümmertheit im Vordergrund („spiel und übung bedeute das scheinbare ausbilden verschiedener stile für solche die nur auf den einen hinzuarbeiten raten: den unsrer zeit oder der kommenden“).10 Dies geschieht allerdings, wie schon die Verwendung des Konjunktivs zeigt, auf relativierende Weise, wobei die beschriebene Interpretation als ein Missverständnis abgelehnt wird.11 Die polemische Abgrenzung von reduktionistischen Lesarten seines Werks spitzte StG noch durch die verschleierte Erwähnung von deren Urhebern zu. Anhänger des Naturalismus, die im Stil nur ein Kampfmittel zur Erzwingung kurzlebiger sozialer Veränderungen sahen, sollten sich mit der Einschätzung zufriedengeben, die Bücher enthielten nichts als Virtuosentum und jonglierende Variationen von tradierten Bildungsmustern. Diese Pointe war durchaus im Sinne des antinaturalistischen Geistes der BfdK. Dadurch wird klar, wie sehr es StG darum ging, die Bücher nicht als launisches Sammelsurium oder bestenfalls als Experiment zur Erprobung disparater Schreibmodi rezipiert zu wissen. Die kombinatorische Zusammensetzung von unterschiedlichen bildlichen Traditionen will in der Tat „als solche empfunden werden“.12 Dies hängt aber keinesfalls damit zusammen, dass sich StG in den Büchern „mit Dingen“ beschäftigte, „die er selbst als minderwertig“ angesehen habe,13 sondern mit der für seine Poetik grundlegenden Überzeugung, der Kern lyrischer Aussagen liege weder allein in der Ausstrahlungskraft ihres formalen Habitus noch in ihrer subjektiven Wahrheit, sondern in der Art und Weise, wie sich beide Komponenten dynamisch vermengten. Stilistische Eigenarten erweisen sich in ihrem ephemeren Wesen erst dann als dienlich, wenn sie dem seelischen Betroffenheitszustand des Aussagenden in so 10 SW III, Varianten und Erläuterungen, S. 116. 11 Vgl. Ute Oelmanns Ausführungen in SW III, S. 105. 12 David, Stefan George, S. 119. 13 Ebd., S. 103.

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absoluter Angemessenheit entsprechen, dass jeglicher rein subjektive Begründungszusammenhang dabei spurlos verschwindet. Gegenüber Ida Coblenz war StG zu einer einleuchtenden Ausarbeitung dieser Grundsätze gelangt, als er ihr 1892 jenen Rath für schaffende zukommen ließ, der einen fiktiven, künstlerisch begabten Adressaten dazu auffordert, „all dein leises sehnen in das lispeln der blumen [zu] legen oder in einen feinen mairegen“ (G/C, 31; 1894 in den BfdK). Albert Verwey hat auf prägnante Weise dargelegt, wie das inhaltlich Disparate der Bücher im Lichte von solchen Kompositionsprinzipien weit über historische Nachbildung und antiquarische Genauigkeit hinaus zu homogener Einheit zusammengefügt wird. Zurückblickend auf seine erste Begegnung mit StG im September 1895 hat Verwey dem Freund die Absicht attestiert, „die wünschbare Uebereinstimmung zwischen Seele, Landschaft und Kunstwerk“ zu erzielen. Die durch die Vertrautheit mit den Pariser Symbolisten geprägte Poetik StGs zur Zeit der Bücher lässt sich in von Verwey StG selbst zugeschriebenen Worten folgendermaßen zusammenfassen: Unsere Bildung besteht aus sehr vielen Elementen: das griechisch-römische ist eins davon, dann das Mittelalter. In einer idyllischen Natur fühlt man sich aufgeregt zu idyllischen Bildern, am Rhein bei den verwitterten Ritterburgen sucht man grosse ritterliche. Und so in den Stätten der Ueppigkeit und Verfeinerung mit den vielen Lichtern gehe ich den glänzenden orientalischen Vorstellungen oder den römischen Kaisergeschichten nach.14

Der quellenbezogenen Treue gegenüber historischen Gegenständen kommt im Hinblick auf das Hauptanliegen StGs, seelische Grundzustände auszudrücken, eine nebensächliche Bedeutung zu. 2.3.3.

Rezeption und Deutung

2.3.3.1. Kreisinterne Rezeption Noch Mitte Dezember 1895, wie eine Postkarte Carl August Kleins mit etlichen Korrigenda der Druckfahne zeigt,15 war StG mit der Verbesserung von Details beschäftigt. Klein, der die Drucklegung des Werks betreut hatte, war der Erste, der unmittelbar nach dessen Erscheinen dazu Stellung nahm. Seine in einem Brief an StG vom 31. Dezember 1895 enthaltenen Ausführungen kreisen zunächst um die verlegerische Ausstattung des Bandes, die als „harmonisch in ton und farbe“ bezeichnet wird. Klein hebt gegenüber allen anderen Buchteilen „die prachtvollen weisen im ton des volksliedes“ hervor, die für die Sänge eines fahrenden Spielmanns charakteristisch sind, wobei er nicht versäumt, dem Freund zu versichern, er fühle sich „den mir noch fast ganz neuen ,Hängenden Gärten‘ sehr verwandt“ (StGA). Wacław Rolicz-Lieder, der sich im Juli 1894 über das ihm gewidmete Preisgedicht „An Kallimachus“ schon überschwänglich geäußert hatte („Le depart de Kallimachus me plaıˆt enormement. Comme il est antique ce poe¨me“),16 bedankte sich am 9. Januar 1896 auf ebenso 14 Albert Verwey, Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1895–1928, Straßburg u. a. 1936, S. 15. 15 Vgl. C. A. Klein an StG v. 13.12.1895, StGA. 16 Wacław Rolicz-Lieder/Stefan George, Gedichte – Briefe, hrsg. v. Annette Landmann u. Georg Peter Landmann, Stuttgart 1996 (Drucke der Stefan-George-Stiftung), S. 83.

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herzliche wie in kritischer Hinsicht verschwommene Weise für die Zusendung eines Exemplars der Bücher, das „inattendu – comme l’amour“ bei ihm eingetroffen sei und sich als „charmant, caressant l’oeil et l’oreille“17 erwiesen habe. Ein weiterer Adressat der Bücher-Widmung, Paul Ge´rardy, hatte wenige Tage zuvor, in einem Brief vom 27./28. Dezember 1895, den Empfang des neu erschienenen Werks mit ähnlicher Rührung quittiert: „Vous savez combien je suis heureux de l’honneur que vous me faites en de´diant votre oeuvre novelle“.18 Ein aufmerksamer Leser wie Melchior Lechter, dessen Mitwirkung an den BfdK gerade um die Jahreswende 1895/96 eingeleitet wurde, fällte am 24. Januar 1896 ein ungleich genaueres Urteil. Dabei ist seine Einfühlung in die Zielsetzungen des Dichters frappierend: Sehr schön finde ich die letzten Bücher in der farbigen Steigerung. Die Hirten- und Preisgedichte möchte ich mit Antiker – Relief – Zeichnung, nur leicht farbig getönt, vergleichen. Während die ,Sagen‘ den mittelalterlichen Ton wundervoll gebrochen zurückstrahlen. In den ,Gärten‘ steigert sich (nach meinem Empfinden) der farbige Klang und die klingende Farbe zu erstaunlich raffinierter Modernität.19

Unter den in literarischen Zeitschriften veröffentlichten Besprechungen findet man erwartungsgemäß nur bei Hugo von Hofmannsthal eine so deutliche Einsicht in StGs ästhetisches Programm. Wissen sich etwa Oscar A. H. Schmitz und Richard Moritz Meyer aus ihrer interpretatorischen Schwäche nur dadurch zu helfen, dass sie schablonenhafte und unbefriedigende Vergleiche anstellen, bei denen Meyer beispielsweise das Mittelalterliche in den Sagen und Sängen mit Hans Thoma in Verbindung bringt,20 so unterzieht Hofmannsthal die Bücher einer eindringlichen stilistischen Prüfung, die ihren „eigenen Ton“21 in der konzentrierten Ausdruckskraft und im Willen nach Auslöschung erlebnisbezogener Zusammenhänge verortet. Pragmatische Bedingungen seien auf eine schlichte, elementare Wesentlichkeit zurückgeführt, in deren Licht menschliches Erleiden auf einen höheren Sinnhorizont projiziert würde. Die für dieses Werk grundsätzliche Haltung bestünde darin, „dem Leben überlegen zu bleiben, den tiefsten Besitz nicht preiszugeben, mehr zu sein als die Erscheinungen“.22 Trotz Bedenken Wolfskehls, der Hofmannsthals Aufsatz eine „seltsam verhaltene Stimme“23 unterstellte, fühlte sich StG von solchen Beobachtungen verstanden: „Ihre zerlegung meiner hirten- und preisgedichte“, so lautet sein Dankesbrief, „ist so fühlend und fein – wie sie ein dichter wünschen kann“.24 Gerade das von Hofmannsthal 17 Ebd., S. 87. 18 Correspondance de Ge´rardy avec Stefan George (1892–1903), hrsg. v. Jörg-Ulrich Fechner, in: Marche romane 30/1980, S. 7–114, hier: 47. 19 Melchior Lechter/Stefan George, Briefe, kritische Ausg., hrsg. v. Günter Heintz, Stuttgart 1991, S. 13. 20 Vgl. Richard Moritz Meyer, Ein neuer Dichterkreis, in: Preußische Jahrbücher Nr. 88/1897, S. 33–54 (wiederabgedruckt in Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 283–303). Bereits 1896 war Schmitz’ Besprechung erschienen: Intimes aus dem modernen Kunstleben. Teil II: Stefan George, der Führer der neudeutschen Romantik, in: Didaskalia. Unterhaltungsblatt des Frankfurter Journals Nr. 152 v. 1.7.1896 (wiederabgedruckt in Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 252–261). 21 Hofmannsthal, Gedichte, S. 214. 22 Ebd., S. 218. 23 K. Wolfskehl an StG v. 9.4.1896, StGA. 24 StG an H. v. Hofmannsthal v. 26.3.1896, in: G/H, S. 89.

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festgestellte, abstrahierende und antimimetische Reduktionsverfahren, das für die Bücher durchaus typisch ist, veranlasste Arnold Schönberg zur Vertonung mehrerer Gedichte aus den Hängenden Gärten. Schönbergs Werk wurde im Januar 1910 in Wien uraufgeführt.25 Bei der kreisinternen Bewertung der Bücher stand die Frage nach der Bedeutung der unterschiedlichen Konstellationen, die den Kontext der drei Zyklen bilden, noch lange im Vordergrund. Dabei wurden die jeweiligen kulturgeschichtlichen Zusammenhänge meistens in ihrer faktischen Historizität wörtlich verstanden. StGs Hauptanliegen – so Friedrich Gundolf 1920 – bestehe in der progressiven Eroberung fremder Bildungstraditionen. Die Aneignung vergangener Kulturen erfolge freilich nicht durch ein undifferenziertes und bloß additives Verfahren, sondern sei als Wiedererkennung einer vertrauten, epochenübergreifenden Substanz zu verstehen. StG gehe es nicht darum, „Auffrischung des Vergangenen“ zu betreiben, sondern „Vergegenwärtigung eines Ewigen“26 zu vollziehen. 2.3.3.2. Deutungsansätze Langfristig sollte sich eine solche Fokussierung auf die Übernahme heterogener Bildungswelten für die kritische Rezeption der Bücher nicht förderlich auswirken. Stellte Ernst Morwitz noch emphatisch, aber nicht zu Unrecht „nach der neuen Art des Sagens in den voraufgegangenen Büchern […] eine neue Art des Sehens“ (EM I, 57) für dieses Werk fest, so sah schon Claude David in den drei Sektionen nichts als die willkürliche Aneinanderreihung unzusammenhängender Materialien. Mehr als fragmentarischer Charakter sei diesem Jugendwerk nicht zu attestieren, bei dem „das feinsinnige Spiel eines Gebildeten“ ausschlaggebend sei, „eine geistige Maskerade, die nicht bekennen will und noch von keiner Auferstehung kündet“.27 Kritische Aufmerksamkeit haben metrische Konstruktionen in den Büchern unter besonderer Berücksichtigung der Verweise auf griechische und lateinische Traditionen erregt.28 Außerdem hat sich das Werk wegen seiner Dreiteilung als Grundlage für allgemeine Untersuchungen zum Antike- und Mittelalter-Bild bei StG angeboten.29 Über diese Teilaspekte hinaus wurden Standort und Stellenwert der Bücher im Gesamtwerk StGs nach Claude Davids vernichtendem Verdikt kaum mehr erkundet. Ebenso wenig wurden sprachliche und inhaltliche Verbindungen der drei Zyklen untereinander thematisiert. 25 Vgl. Arnold Schönberg, Fünfzehn Gedichte von Stefan George, mit e. Nachw. v. Theodor W. Adorno, Wiesbaden 1959. 26 Friedrich Gundolf, George, Berlin 1920, S. 95. 27 David, Stefan George, S. 116f. 28 Vgl. H. Stefan Schultz, Stefan George und die Antike, in: Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung 5/1965, S. 203–238 (wiederabgedruckt in: Ders., Studien, S. 90–124); Dennis Robert Anderson, Metrics und Meaning in the Early Poetry of Stefan George, Diss., New York 1975. 29 Vgl. Joachim W. Storck, Das Bild des Mittelalters in Stefan Georges ,Buch der Sagen und Sänge‘, in: Mittelalter-Rezeption II. Gesammelte Vorträge des 2. Salzburger Symposions „Die Rezeption des Mittelalters in Literatur, Bildender Kunst und Musik des 19. und 20. Jahrhunderts“, hrsg. v. Jürgen Kühnel u. a., Göppingen 1982, S. 419–437; Giorgios Varthalitis, Die Antike und die Jahrhundertwende. Stefan Georges Rezeption der Antike, Diss., Heidelberg 2000; Oelmann, Mittelalter.

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Viele der in den Büchern behandelten Motive sind nicht von StGs spannungsgeladener Beziehung zu Ida Coblenz seit dem Frühjahr 1892 zu trennen.30 Das unglückliche, durch Missverständnisse und unerfüllte Erwartungen geprägte Verhältnis schlug sich nicht nur inhaltlich in der Sammlung nieder, sondern lag ihrer gesamten Konstruktion zugrunde. Das Werk steht im Zeichen einer unbewältigten Verstörung, die im Zusammenhang mit der wiederholten Erfahrung von Abgeschiedenheit und Vereinsamung zu sehen ist. Die kongeniale Gesprächspartnerin hatte die meisten Gedichte, die StG ab dem Winter 1892/93 niederschrieb und zum größten Teil in die Bücher aufnahm, als Erste kennengelernt, in brieflichem und persönlichem Kontakt einfühlsam kommentiert, durch StGs Liebe zu ihr ja selbst inspiriert. Obwohl StG von jeder durchsichtigen personenbezogenen Codierung sorgfältig absah, weisen die Bücher einen stark intersubjektiven Charakter auf. Aufnahme und Auflösung von menschlichen Beziehungen stehen im Mittelpunkt dieses Werks. Charakteristisch für die Bücher ist ein Abschiedsgestus, der in einem wiederholten Wechselspiel von Nähe und Distanz kenntlich wird. Verknüpfung und Lösung gegenseitiger Bindungen zwischen gleichgesinnten Menschen werden mittels ausgeprägter gestischer Komponenten körperlich inszeniert. Poetischer Umformung traumatischer Erlebnisse wird eine therapeutische Wirkung zugesprochen. War in Algabal die Funktion lyrischer Aussagen dadurch gekennzeichnet, dass dem Ästhetischen ein erhebliches Potenzial zur Gestaltung von Machtverhältnissen beigemessen wurde, so wird in den Büchern ein solcher Herrschaftsanspruch demontiert. Die Vertrautheit mit dem Schönen artikuliert sich weniger in Selbstermächtigungsphantasien als vielmehr in einer geduldig und liebevoll ausgeführten Praxis der Vertröstung. Die Darstellungsart der Bücher ist durch intensive Dynamik gekennzeichnet. Zusammenfinden und Abschiednehmen von verwandten Seelen werden mit starker visueller Prägnanz in ihren räumlichen Kontext eingebunden. So stehen im Zyklus der Hirtengedichte die ersten drei Gedichte – „Jahrestag“, „Erkenntag“ und der erst 1898 hinzugefügte „Loostag“ – im Zeichen einer dynamischen Tendenz, die den eher deskriptiven, auf die Evozierung von vergangenen Begebenheiten ausgerichteten Verlauf des fiktiven Gesprächs zwischen zwei Hauptfiguren ausgleicht.31 Bewegen sich diese im ersten Gedicht einträchtig und zu gemeinsamen Zielen hin (in deiktischer Absicht wird gerufen: „Wir wollen an der quelle wo zwei pappeln / Mit einer fichte in den wiesen stehn / Im krug aus grauem thone wasser holen“; III, 11), und wird diese Tendenz im zweiten Text durch das gemeinsame Hinschauen auf die Wasseroberfläche bestätigt und im Akt der gegenseitigen Widerspiegelung noch weiter gesteigert, so werden in „Loostag“ die schleichende Entfremdung und der nahe rückende Abschied durch den Verzicht der einen Figur auf die visuelle Beziehung mit der Freundin und die Besinnung auf alternative räumliche Koordinaten veranschaulicht: „Nun bringst du mir zum erstenmal ein leid / Ein tiefes – meine schwester – denn mir scheint / Dass du gen westen nach dem rebenzaun / Dich manchmal drehtest still und froh und 30 Zur Beziehung StGs zu Ida Coblenz vgl. Georg Peter Landmanns Einführung in: G/C; Friedrich Thiel, „Vier sonntägliche Straßen“. A Study of the Ida Coblenz Problem in the Works of Stefan George, New York u. a. 1988; Jürgen Viering, Nicht aus Eitelkeit – der Gesamterscheinung wegen. Zur Beziehung zwischen Stefan George und Ida Coblenz, in: Euphorion 102/2008, S. 203–239. 31 Zum Einsatz von längeren deskriptiven Einheiten in den Büchern vgl. Jürgen Wertheimer, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen, München 1975, S. 86–99.

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kaum / Mir lauschtest!“ (III, 13) Die visuelle Intensität der Szene wirkt sich lindernd auf das dargestellte Leiden aus, die topographische Einrahmung, bekräftigt durch den regelmäßigen jambischen Rhythmus, suspendiert den in der drohenden Trennung implizierten Gewaltcharakter der Handlung. StG beabsichtigte keinesfalls, Topoi und stilistische Eigenschaften der klassischen Idyllentradition wieder aufzunehmen. Die Gedichte dieser ersten Sektion sind von einer raffinierten und hoch komplizierten Textur geprägt, die weniger auf extensive Darstellung als vielmehr auf reflektierte und konzise Verdichtung einzelner Handlungsbruchstücke als stark symbolisiertes Äquivalent seelischer Zustände hinausläuft. Das unstete Wechselspiel von Hoffnung und Desillusionierung, dem der Melancholiker ausgesetzt ist, soll zum Ausdruck gelangen. So bricht ein Hirte aus den beschränkten Bedingungen seines gewöhnlichen Lebens plötzlich aus und begibt sich – wie von einer orgiastischen Euphorie erfasst – in die weite Welt, die ihn mit dem Versprechen von Glück und Seligkeit lockt („Der Tag des Hirten“). In „Der Herr der Insel“ entschwindet ein majestätischer Vogel dem profanen Blick der Menschen, die sein abgeschiedenes Reich zu verunstalten drohen. „Der Auszug der Erstlinge“ und „Das Geheimopfer“ handeln ebenfalls vom Ausgang aus der trügerischen Ruhe einer scheinbar befriedeten Lage zugunsten eines willig angenommenen Aufopferungsschicksals („Denn was wir tun gereicht den unsrigen zum heil“; III, 20). Auch in den Preisgedichten auf einige junge Männer und Frauen dieser Zeit wird der Schmerz über die Trennung von vertrauten Menschen thematisiert. Die mit der entsprechenden Gattungstradition verknüpfte apologetische Gesinnung spielt dabei kaum eine Rolle, schwingt im nostalgischen Nachtrauern über das gemeinsam Erlebte höchstens auf sehr gedämpfte Weise mit. Gegenüber Edith Landmann behauptete StG rückblickend, in den Preisgedichten würden sich die einzelnen Charakterisierungen weniger nach individuellen Zügen als vielmehr nach verallgemeinerbaren Mustern von überpersönlicher Gültigkeit richten (EL, 194). Auffallend ist jedenfalls die relational konnotierte Attitüde, die diesen Gedichten insofern eignet, als die Eigenschaften der Besungenen nicht abstrakt postuliert werden, sondern in ihren jeweiligen Beziehungen zum Sprechenden ausgedrückt werden. Der diesem Genre durchaus innewohnenden Tendenz der Fixierung auf typologische Erscheinungen wird durch die Einbindung der dargestellten Individuen in ein erkennbares Milieu entgegengearbeitet. Geselligkeit und Hingabe zum Menschlichen verdrängen das Museale. Soweit es möglich ist, den Inhalt der Preisgedichte auf erlebnisbezogene Kontexte und intendierte Adressaten hin zu rekonstruieren, stehen diese Texte deutlich im Zusammenhang mit jener Suche nach Auswegen aus der Einsamkeit, die für StGs kritische Zeit um 1892 in mehrerer Hinsicht bestimmend war. Beruht das Anfangsgedicht „An Damon“ auf dem an freundschaftlichem Austausch und prägenden literarischen Erlebnissen reichen Aufenthalt 1889/90 in Paris und verbirgt sich hinter der altgriechischen Maskierung Albert Saint-Paul, der StG Zugang zum Mallarme´-Kreis verschafft hatte, so liest sich das Verzeichnis der weiteren Adressaten – Ida Coblenz als ,Menippa‘, Wacław Rolicz-Lieder als ,Kallimachus‘,32 Paul Ge´rardy als ,Phaon‘, die Binger Freundin Luise Brück als ,Luzilla‘, Ludwig Klages als ,Isokrates‘, die Sängerin Frieda Zimmer-Zerny als ,Kotytto‘ und Edmond Rassenfosse als ,Antinous‘ – als eine durchaus repräsentative Auswahl der Menschen, von denen sich StG zur Entstehungs32 Zu „An Kallimachus“ vgl. Möller, „Willst du“.

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zeit der Bücher produktiven Austausch erhoffte. Entfremdung und Enttäuschung werden allerdings durch den Hinweis auf die therapeutische Kraft der Dichtung konterkariert. Das poetologisch fundierte Geflecht von Bezügen, das die Hirtengedichte durch gezielte Andeutungen auf Höhen und Tiefen der künstlerischen Sendung spannen,33 wird in den Preisgedichten durch Rückbesinnung auf verehrte Vorbilder („Im wettgespräch unsterbliche gesänge / Unsrer meister wiederholend“; III, 34) sowie Unterordnung des Lebens unter die Macht des Ästhetischen weiter ausgearbeitet („Wenn deine stimme sich in lieder löst verbreitest / Du warm und tief behagen und genuss […] / […] / Und in der rede · selbst mit treu erwiesnen lobern · / Verfährst du hart und winterlich“; III, 37). Die Sagen und Sänge sollten nach eigener Aussage StGs subjektive Wahrnehmung in mittelalterliches Gewand kleiden, im Leser Eindrücke aus dem „moyen aˆge mystique et pieux“34 hervorrufen. Dabei zeichnen sich die Sagen durch eine ungleich größere Nähe zu Themen und weltanschaulichen Grundlagen der Ritterkultur aus, als dies bei den stärker an Volksliedvorlagen anschließenden Sängen der Fall ist. Diese im Gesamtzusammenhang der Bücher befremdend anmutende Tendenz der Sänge, die inhaltlich von der Romantik und in stilistischer Hinsicht durch stark konzentrierte trochäische Formen geprägt ist, steht allerdings in keinem Widerspruch zum allgemeinen Mittelalter-Bezug des Zyklus. Die Rezeption mittelalterlicher Motive ist bei StG mit jener Wiederbelebung der Minnesangtradition aufs Engste verzahnt, die gerade von Autoren der Romantik wie Ludwig Tieck durch Quellen- und Interpretationsarbeit in Gang gesetzt wurde und über das ganze 19. Jahrhundert auf das Bild des Mittelalters entscheidend einwirkte.35 StGs Perspektive blieb von der nationalistischen Färbung völlig unbeeinflusst, die die Anknüpfung an mittelalterliches Gedankengut zum Zweck der politischen Herrschaftslegitimierung in der Wilhelminischen Zeit annahm. Die Verwertung altfranzösischer Stoffe wie etwa Melusines Legende (in „Die Tat“) und deren höchstwahrscheinlich durch französische Schriftsteller wie Victor Hugo und Le´on Gautier erfolgte Vermittlung mag dazu beigetragen haben. StG nahm mittelalterliche Topoi nur insofern auf, als diese ihm weitere Argumente zur Darstellung der dem Amt des Dichters zugehörigen Aufgaben lieferten. Sein Interesse für das Mittelalter war nicht durch antiquarische Nachahmung begründet, sondern wurzelte tief in seiner Poetik. Die Ausschaltung subjektiver Wunschvorstellungen um höherer geistiger Dienste willen, die ihm als das Wesentliche am ritterlichen Habitus erschien, diente StG als Grundlage zur Legitimierung der Kunst gegenüber dem Ungeformten, das am Leben haftet. Der für viele in den Sagen dargestellte Figuren charakteristische Entschluss, sinnlichen Versuchungen eine Absage zu erteilen und eine heroische, durch Selbstdisziplin und strengen Verzicht bestimmte Existenz zu führen, liest sich nicht nur als symbo33 Vgl. Vilain, George’s Early Works, S. 63–74. 34 Briefentwurf an E. Rassenfosse v. März 1894, zit. nach Ute Oelmann, Anhang, in: SW III, S. 106. Das erste Buch steht laut StG im Zeichen von einem „gout classique, helle´nique, attique, idyllique d’une claire tranquillite´“, während das dritte „oriental bizarre et luxurieux“ sei. 35 Zum Mittelalter-Bild bei StG im Allgemeinen vgl. Bernhard Böschenstein, Georges widersprüchliche Mittelalter-Bilder und sein Traum der Zukunft, in: „Ist mir getroumet min leben?“ Vom Träumen und Anderssein. Festschrift für Karl-Ernst Geith zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Andre Schneyder, Göppingen 1998, S. 207–213; außerdem II, 4.5.

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lische Übertragung der das Amt des Dichters bestimmenden Konzentration auf das Geistige, sondern ergibt sich aus der Entgegensetzung von zwei alternativen Modellen bildlicher Evozierung. „Sporenwache“ bietet ein eindrückliches Beispiel dafür. Das Ästhetische wird hier einerseits durch den Triumph einer asketischen Ethik über die Anziehungskraft des Erotischen thematisiert. Es wird andererseits in die semantische Konstruktion des Gedichtes insofern eingebunden, als der Kampf zwischen ethisch motivierter Entsagung und sinnlicher Lust als der Kontrast zwischen bildlichen Vorstellungen präsentiert wird, die durch fiktionale Sinnstiftung ihre Macht über die Fantasie der Hauptfigur ausüben. Sieht sich der junge Adelige am Grab seines Vorfahren in der eigenen ritterlichen Standhaftigkeit durch die Betrachtung von den in dessen Statue verewigten, würdigen Zügen des Ahnen bestätigt, so droht das phantasierte Bild eines Mädchens, ihn von seiner vorbestimmten Bahn abkommen zu lassen („Da wurde unvermerkt in die gedanken / Ihm eine irdische gestalt verwoben: // ›Sie stand im garten bei den rosmarinen / Sie war viel mehr ein kind als eine maid · / In ihrem haare goldne flocken schienen / Sie trug ein langes sternbesticktes kleid‹“; III, 44). Gegenstand von „Sporenwache“ ist zwar die Überwindung des Sinnlichen als Metapher der ästhetischen Berufung. In den durchkomponierten ekphrastischen Stellen dieses Gedichtes kommt wohl aber auch die gerade durch seine sinnlichen Seiten ausgelöste Faszination des Ästhetischen zum Ausdruck, das somit in seiner konstitutiven Ambivalenz gezeigt wird.36 Im gesamten Zyklus kommt das Ringen um die eigene Selbstbestimmung unter widrigen Umständen als subjektiver Grundzustand wiederholt vor. Soldatenhafte Festigkeit siegt in „Die Tat“ über das trügerische Glück der Liebe, während „Frauenlob“ in seinem zugespitzten, kulturkritischen Ton manchem aus den Zeitgedichten im Siebenten Ring vorauszugreifen scheint. Der Wert des Einzelnen soll sich hier gegen Skepsis und Verkennung der Zeitgenossen durchsetzen. Die Anprangerung der Art und Weise, wie geistige Menschen durch ihre Umwelt missachtet und abgewertet werden, wirkt dabei umso pointierter, als StG die verfügbaren Quellen über die porträtierte Hauptfigur des Gedichts, den Minnesänger Heinrich von Meissen, im Sinne eines solchen zivilisationskritischen Motivs völlig umdeutete. Der Verweis auf die ausbleibende Anerkennung dichterischer Leistungen im Rahmen einer säkularisierten Gesellschaft, der ritualisierte Formen der Sinnstiftung abhandengekommen sind („Wer von euch aber reichte mir zum grusse / Den becher und den eichenkranz entgegen / Und sagte mir dass sie mich würdig wähne / Ihr leichtes band gehorsam anzulegen?“; III, 46), zielt darauf ab, für die Existenz im Zeichen der Ästhetik den spröden ethischen Gestus der Pflichterfüllung in Anspruch zu nehmen, wodurch sich der Künstler von der Minderwertigkeit der Masse absetzt.37 „Irrende Schar“, in dem eine solche Weltabgewandtheit an der militaristischen Gesinnung eines mittelalterlichen Ritterordens veranschaulicht wird, fasst diese Motivik in komprimierter Form zusammen, indem StG den religiösen Charakter explizit macht, der seiner Vorstellung von dichterischem Schaffen innewohnt. Einsamkeit und Isolierung („Sie ziehen hin gefolgt vom schelten · / Vom bösen blick der grossen zahl“), 36 Zum ambivalenten Charakter, den die Darstellung von künstlerischer Existenz im Buch der Sagen und Sänge erhält, vgl. Wolfgang Braungart, ,Sieh mein kind ich gehe‘, in: CP 50/2001, 250, S. 21–27. 37 Vgl. Schultz, Studien, S. 36–39.

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Fixierung auf einen idealen Zustand verlorener Glückseligkeit („Ihr leben rinnt auf steten zügen / Als suchten sie von land zu land / Die erde mit den goldnen pflügen / Wo ihres glückes wiege stand“), selbstvergessene Erfüllung von höheren Forderungen („Sie bluten willig im gefechte / An meeresküsten kahl und grau / Und geben freudig ihre rechte / Für eine blasse stolze frau“), Wiederbelebung des Goldenen Zeitalters durch einen stark ritualisierten Schönheitskult, der religiöse Praxis eindeutig paraphrasiert („In sänge fliesst ihr erdenwallen / Bei festlich rauschendem getön · / Sie werden selig unter hallen / Die unvergänglich neu und schön“; III, 50f.) – all diese Aspekte fügen sich in einer Programmatik zusammen, deren paränetische Absicht, Gleichgesinnte zu mobilisieren, genauso wenig übersehen werden kann wie die leise Trauer, die darin mitschwingt und die den Übergang zum nächsten Zyklus vorbereitet. In den Sängen eines fahrenden Spielmanns wird das Abschiedsmotiv, das schon in den Sagen etwa in „Der Waffengefährte“ eingeführt wurde, in eine vergeistigte, durch und durch intime Sphäre aufgehoben, in der sich das Leiden über die Auflösung zwischenmenschlicher Bindungen zur Klage über die grundsätzliche Unmöglichkeit erhebt, vom Seienden Besitz zu nehmen. Die Reduzierung der sprachlichen Führung auf einen minimalen Komplexitätsgrad betont das Elementare an diesen Gedichten, die in ihrer dominanten monologischen Ausprägung menschliches Dasein im Lichte unüberwindbarer, existenziell bedingter Verzweiflung darstellen. Dabei wird die lindernde Kraft der Kunst („Worte trügen · worte fliehen · / Nur das lied ergreift die seele · “; III, 58) gleichsam hinterfragt und suspendiert, wie sich im Ausbleiben der gewohnten therapeutischen Wirkung des Lerchengesanges in „Ein edelkind sah vom balkon“ zeigen lässt. Im Buch der Hängenden Gärten führt das orientalische Ambiente, das schon im Titel durch die Anspielung auf Nebukadnezars babylonische Gärten evoziert wird, das Motiv der Großstadt ein. StGs Verweis auf „die sinnliche luft unserer angebeteten städte“ in der „Vorrede“ kann als Indiz für die topographische Zuordnung dieses Zyklus ausgelegt werden. Dabei liegt der Hauptakzent weniger auf der zivilisationskritischen Abgrenzung von der modernen Metropole als vielmehr auf einer Anziehung im Lichte der multiplen sinnlichen Anregungen, denen man in der Großstadt ausgesetzt ist. Das Preisgedicht „An Antinous“ hatte die mit der Tradition der Bukolik verbundenen Vorzüge des Landlebens schon deutlich relativiert, indem der Sprechende gestanden hatte, arkadische Ruhe könne keinen Trost für seinen Liebeskummer spenden und es ziehe ihn dagegen zu den „heissen säulen […] / Bei denen ich ein lächeln kenne lieblicher / Als alle vogelstimmen“ (III, 38). Im letzten Buch der Sammlung gibt das Subjekt dem Faszinosum großstädtischer Kulissen widerstandslos nach und lässt sich von Sinnlichkeit und Dynamik hinreißen, deren kombinierte Wirkung sich im Laufe des Zyklus derart steigert, dass das Subjekt als solches nicht weiter bestehen kann und Zuflucht in der Dimension des Ursprünglichen und Elementaren sucht. Die die Hängenden Gärten durchdringende Erotik, die freilich in ihren destruktiven Folgen dargestellt wird, hängt zweifelsohne mit StGs schmerzhafter Beziehung zu Ida Coblenz zusammen. Es verwundert nicht, dass dies diejenigen Gedichte betrifft, denen im Zwiegespräch der Freunde, wie der Briefwechsel dokumentiert, die größte Aufmerksamkeit zukam. Ida Coblenz, die diese Texte als „Semiramis-Lieder“ bezeichnete, unternahm 1895 einen Versuch, Teile des Zyklus in der u. a. von Richard Dehmel neu gegründeten Zeitschrift Pan erscheinen zu lassen, was allerdings nicht

2. Stefan George: Werk – Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte

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gelingen und wegen der Rivalitäten zwischen StG und Dehmel den endgültigen Bruch der Freundschaft einleiten sollte. StG verzahnt Liebes- und Herrschaftsthematik dadurch aufs Engste, dass in den Hängenden Gärten das Schwinden erotischer Bindungen im Zusammenhang mit dem Verlust politischer Macht thematisiert wird.38 Agiert hier das Subjekt innerhalb einer Konstellation, die mit der von Algabal zu vergleichen ist, so wird doch dem Ästhetischen in diesem letzten Buch eine völlig andere Valenz zugeschrieben. Während sich in Algabal Machtausübung und ästhetische Souveränität als zwei paritätische Herrschaftsformen gegenüberstehen, die ihre gemeinsame Legitimierung in der ausgeprägten Künstlichkeit ihrer Ausführung haben und sich somit in erster Linie als gegen die Natur gerichtete Instanzen definieren, rückt das Ästhetische im Buch der Hängenden Gärten in eine vermittelnde Position, in der sein konstitutiver Künstlichkeitscharakter unter einem anderen Vorzeichen steht. StG setzt das Künstliche nicht zur Auslöschung der Natur ein, sondern als transformative Kraft, die fortgeschrittene Kulturzustände durch Erschaffung eines befriedeten Zustandes der Natürlichkeit zu therapieren in der Lage ist, aus dem alles Bedrohliche getilgt ist. Im Schlussgedicht „Stimmen im Strom“ präsentiert sich Natur zwar genauso wie in Algabals „Im Unterreich“ (II, 59–63) als Konstrukt; das Unangenehme der dort angelegten luftleeren Gärten weicht aber nun dem Tröstenden eines kultivierten Ortes, in dem das Erlebnis des Primären als Ausgangspunkt zur Wiederherstellung von Subjektivität vorgestellt wird („Liebende klagende zagende wesen / Nehmt eure zuflucht in unser bereich · / Werdet geniessen und werdet genesen · / Arme und worte umwinden euch weich“; III, 99). Erotisches Begehren erwächst in diesen Gedichten aus dem Geiste der Herrschaft. Die Entwicklung des Zyklus lässt Spuren einer linearen Ausarbeitung des Stoffes in nahezu epischem Sinne durchscheinen, von der in den anderen Büchern nicht die Rede sein kann. Kreisen die ersten Gedichte um Gewaltphantasien und Potenzausübung, so rückt das Sexuelle immer mehr in den Vordergrund und unterminiert schließlich die Grundlagen der Herrschaft so sehr, dass der einst Mächtige sein Reich verliert und in die Sklaverei getrieben wird. Überwiegt zunächst eine nach Vertikalität konnotierte Dynamik, die Machtverhältnisse in einen kongenialen visuellen Rahmen einfasst, so leitet der längere Binnenzyklus, der eine detaillierte Symptomatik sinnlichen Begehrens zeichnet, einen horizontal ausgerichteten Perspektivenwechsel ein. Der König agiert von einer auch in räumlicher Hinsicht übergeordneten Stelle aus („Im dichten dunste dringt nur dumpf und selten / Ein ton herauf aus unterworfnen welten“; III, 81), von der aus er das Ausmaß seiner Eroberungen betrachten kann („Nachdem die hehre stadt die waffen streckte · / Die breschen offen lagen vor dem heer · / Der fluss die toten weitertrug zum meer · / Der rest der kämpfenden die strassen deckte // Und der erobrer zorn vom raube matt: / Da schoss ein breites licht aus wolkenreichen · / Es wanderte versöhnend auf den leichen · / Verklärte die betrübte trümmerstadt // […]“; III, 75). Durch die körperliche Erfüllung der Leidenschaft („Wenn ich heut nicht deinen leib berühre / Wird der faden meiner seele reissen / Wie zu sehr gespannte sehne“; III, 86) kommen neue Verbindungen unter ähn38 Vgl. Ulrike Weinhold, Refugium und Konfrontation. Zur Problematik der ästhetischen Naturmetaphorik in Stefan Georges ,Das Buch der Hängenden Gärten‘, in: Neophilologus 69/1985, S. 260–275.

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I. Stefan George und sein Kreis

lich fühlenden Menschen im Zeichen eines gemeinsamen Schicksals zustande. Ihr abruptes Ende versetzt das Geschehen erneut in eine vertikale Dimension, in der sich Desillusionierung als Kathabasis, als Untergang in den Abgründen der Verzweiflung und der Selbstvergessenheit abspielt. Aus der Tiefe schimmert schließlich das Versprechen einer panerotischen Erfahrung als Ankündigung der möglichen Wiedergeburt („Müdet euch aber das sinnen das singen · / Fliessender freuden bedächtiger lauf · / Trifft euch ein kuss: und ihr löst euch in ringen / Gleitet als wogen hinab und hinauf“; III, 99). Das Bändigende zwischenmenschlicher Beziehungen stellt sich als ambivalente Kraft dar, die Besänftigung autoritativer Instanzen bringt zugleich Schwäche und Lebensmüdigkeit mit sich. Künstlerisches Schaffen kommt dabei nicht mehr einem uneingeschränkten Herrschen cäsarischer Prägung gleich, wie dies in Algabal noch der Fall war. Die Umgestaltung der charismatischen Dimension, die für die späteren Werke StGs bestimmend sein wird, ist hier bereits vorgezeichnet. Die in Algabal praktizierte Stilisierung des Dichters als willkürlicher und gefürchteter Herrscher, der die Unwürdigen von den Auserkorenen scheidet, wird zugunsten einer mit christologischen Zügen versehenen Figur aufgegeben, die das Ästhetische in engem Zusammenhang mit ihrem tiefgründigen Wissen um das Leiden versteht. Der durch mehrfache Verlust- und Abschiedserlebnisse gezeichnete, über das Elementare einer allumfassenden Erotik eine radikale Regenerierung anstrebende König der Hängenden Gärten greift StGs späterem Modell des ,Meisters‘ als mildem Empfänger des von den Jüngern geleisteten „servitium amoris“ schon deutlich vor. Literatur Arbogast, Hubert, Stefan Georges ,Buch der Hängenden Gärten‘, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 30/1986, S. 493–510. David, Claude, Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967. Fechner, Jörg-Ulrich (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“. Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der ,Blätter für die Kunst‘ 1890–1898, Heidelberg 1998. Hofmannsthal, Hugo von, Gedichte von Stefan George, in: Die Zeit (Wien) v. 21.3.1896 (wiederabgedruckt in: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Bd. 8: Reden und Aufsätze I. 1891–1913, hrsg. v. Bernd Schoeller, Frankfurt/M. 1979, S. 214–221). Möller, Melanie, „Willst du den leuchtenden himmel […] / Wieder vertauschen […]?“ Zur Antikensymbolik in Stefan Georges ,Preisgedichten‘, in: GJb 7/2008/2009, S. 49–73. Oelmann, Ute, Das Mittelalter in der Dichtung Georges. Ein Versuch, in: Barbara Schlieben/Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004, S. 133–145. Schultz, H. Stefan, Studien zur Dichtung Stefan Georges, Heidelberg 1967. Vilain, Robert, Stefan George’s Early Works 1890–1895, in: A Companion to the Works of Stefan George, hrsg. v. Jens Rieckmann, Rochester, NY 2005, S. 51–77. Maurizio Pirro

2. Stefan George: Werk – Das Jahr der Seele

2.4.

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Das Jahr der Seele (SW IV)

2.4.1. Entstehung und Überlieferung Im Spätsommer 1895 deutete StG in einem Brief an Ida Coblenz-Auerbach1 eine Lebenswende an und damit verbunden einen tiefen Einschnitt in seinem Werk. Markieren wollte er beides durch die Herausgabe seiner Bücher: die einzeln erschienenen Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal sollten ebenso wie die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten einen Band bilden. Die „lezten gedichte“ aber wollte er „als Annum animae oder Jahr der Seele im dritten vereinigen.“ Diesen Band, „aus dem bereits einige stücke Ihnen zugeeignet sind“, sollte ihr Name „zieren“ (G/C, 59). Zum ersten Mal nannte StG hier den noch artikellosen Titel seines dritten Gedichtbandes, der freilich erst zwei Jahre später, im November 1897, erscheinen sollte und zwar wiederum als Privatdruck im eigenen Verlag der Blätter für die Kunst. Ganze 206 Exemplare wurden im Oktober 1897 in Berlin bei Otto von Holten gedruckt. Die Widmung an Ida Coblenz unterblieb. Knapp zwei Jahre zuvor hatte StG seinen letzten Gedichtband veröffentlicht, in äußerst zurückhaltender, ja strenger Aufmachung, kartoniert, weitgehend interpunktionslos, gedruckt bei Cynamon in Berlin, gewidmet Paul Ge´rardy, Wenzeslaus Lieder und Karl Wolfskehl. Der Großteil der Gedichte dieses Bandes war 1893/94 entstanden, lag also vor, als StG im Oktober 1894 in den BfdK eine „Vorrede“ zur Sammlung druckte, die 1895 in die Erstausgabe nicht aufgenommen wurde. Im durch große Unruhe, persönliche Schwierigkeiten und Zweifeln an seinem Dichtertum geprägten Zeitraum zwischen September 1892, der Drucklegung der Algabal-Dichtung, und November 1895 waren nicht nur die Gedichte der Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten mit ihren historischen Maskierungen entstanden, sondern, diesen vorausgehend, ein Teil jener Gedichte, die später ins Jahr der Seele aufgenommen wurden. 1892 verfasste StG nach seiner Begegnung mit Ida Coblenz und erster Freundschaftskrise die Texte von Waller im Schnee und die „Sprüche für die Geladenen in T.“, 1893 u. a. das in einer Handschrift Ida Coblenz gewidmete, noch überschriftlose Gedicht „Zieh mit mir geliebtes kind“ (später unter dem Titel „Entführung“). Die beiden erhaltenen Sammelhandschriften zu den Sagen und Sängen (H2 und H4) enthalten die „Sprüche“, und H2 enthält die ersten vier Verse von „Ich fahre heim auf reichem kahne“ (später unter dem Titel „Rückkehr“).2 Die BfdK veröffentlichten dementsprechend im Mai 1893 die „Sprüche“, aber auch „Von einer Nachtwache I“ („Deine stirne verborgen halb durch die beiden“) in stark vom Druck in der Erstausgabe abweichender Fassung. Zur gleichen Zeit (1892/93) schrieb StG auch einen beträchtlichen Anteil der 1903 unter dem Gesamttitel Tage und Taten zusammengefassten Prosagedichte,3 außerdem französische Gedichte, die er wiederum ins Deutsche übertrug, und er übersetzte zahlreiche Gedichte anderer Dichter. So wird die große Vielfalt seiner dichterischen Bemühungen deutlich. Zu verabschieden ist die Vorstellung, dass Gedichte StGs jeweils in

1 Im Folgenden verwende ich durchwegs ihren Mädchennamen Ida Coblenz. 2 Die Strophen zwei und drei wurden radiert. 3 Es handelt sich vor allem um die unter dem Gruppentitel Tage und Taten stehenden Texte.

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I. Stefan George und sein Kreis

chronologischer Folge ihrer Entstehung in die Gedichtbände nach 1892 eingingen.4 Die Gleichzeitigkeit der Entstehung von Texten, die später in unterschiedliche Zyklen und Bände aufgenommen wurden, bleibt ein Charakteristikum von StGs Schaffen, ebenso wie die minutiöse und zeitaufwendige Konstruktion von Zyklen. Besonders lange dauerte es im Falle der Zusammenstellung und Drucklegung des Bandes Das Jahr der Seele, war doch im September 1895 die Entstehung der Gedichte weitgehend abgeschlossen und hatte für StG eine neue Werkphase begonnen. Ersten Ausdruck fand der Neubeginn in einem unter dem Titel „Der Besuch“ vor Dezember 1895 entstandenen Gedicht, das zum Einleitungsgedicht des Vorspiels zum Teppich des Lebens wurde („Ich forschte bleichen eifers nach dem horte“; V, 10). Die handschriftliche Überlieferung zum Jahr der Seele ist spärlich, sieht man von einer teilzerstörten Sammelhandschrift und der Druckvorlage ab. Erhalten ist die Widmungshandschrift, die StG mit dem zuvor zitierten Brief von Anfang September 1895 an die Binger Freundin schickte und die diese – mit freudigem Dank für die Absicht, ihr den Band zu dedizieren, und einiger Kritik am Gedicht – selbst zurückschickte.5 Zu den Ida Coblenz zugeeigneten Blättern gehört auch eine Handschrift von „Ich fahre heim auf reichem kahne“. Sie trägt die Widmung „An Ida Coblenz / zum gedächtnis an einige abende innerer / geselligkeit“, die halbwegs anonymisiert als Eingang zu den Gedichten „Blumen“, „Rückkehr“ und „Entführung“ im August 1894 in den BfdK zu lesen war,6 später zum Gruppentitel für eine größere Anzahl von Gedichten unter Weglassung der einstmaligen Widmungsträgerin wurde (IV, 58–67). Es ist anzunehmen, dass Ida Coblenz neben „Entführung“ (H6) auch die anderen Gedichte dieser Gruppe handschriftlich besaß. An Karl Wolfskehl schickte StG, stark gefaltet, ein doppelseitig beschriebenes Blatt mit zwei Gedichten aus den Traurigen Tänzen („Des erntemondes ungestüme flammen“ und „Das lied das jener bettler dudelt“). Georg Peter Landmann datiert die kleine quadratische Sammelhandschrift in Kurrentschrift – einstmals war sie wohl gebunden –, die heute nur mehr vierzehn lose Blätter umfasst, auf den Spätsommer 1895, indem er sie in Zusammenhang mit StGs Aussagen in seinem Brief an Ida Coblenz bringt.7 So trägt der Umschlag aus grüner Pappe auch schon den endgültigen Bandtitel Das Jahr der Seele. Die vierzehn Blätter enthalten pro Seite je ein Gedicht und zwar aus den Zyklen Nach der Lese, Waller im Schnee und Sieg des Sommers, dem eigentlichen dreiteiligen Jahreszeitenzyklus, aber auch die Gedichte „Lieder wie ich gern sie sänge“ und „Zu meinen träumen floh ich vor dem volke“ aus dem mittleren Teil sowie einige wenige aus dem dritten Teil, den Traurigen Tänzen.8 Eine genaue Untersuchung dieser Handschrift fehlt bis heute. Einige wenige Einzelhandschriften belegen, dass das früheste Gedicht noch hinter jene 4 So enthält die Handschrift H4 zu Sagen und Sänge unter der Überschrift „Die Braut der Winde“ das Gedicht „Gewitter“, das erst 1899 in den Teppich des Lebens eingereiht wurde. 5 Vgl. StGs Brief v. Anfang Sept. 1895 mit nachfolgendem Gedicht „Zu meinen träumen floh ich vor dem volke“, das hier noch die Überschrift „Widmung“ trägt (G/C, 58f.), sowie Coblenz’ Antwortbrief v. 11.9.1895 (G/C, 61). 6 In BfdK 2/1894, 3, lautet sie: „I. C. / Einer Freundin / zur erinnerung an einige abende innerer geselligkeit“. 7 Georg Peter Landmann, Anhang, in: SW IV, S. 120–144, hier: 121. 8 Die Handschrift weist Paginierungen auf, die sich von 8 bis 89 bewegen. Auf S. 89 steht „Entflieht auf leichten kähnen“ (IV, 105).

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„Sprüche“ vom Sommer 1892 zurückdatiert. Die Handschrift von „Soll nun der mund der von des eises bruch“ kann der Schrift nach in den Dezember 1891 und in den Kontext der Erstbegegnung mit Hugo von Hofmannsthal platziert werden. Hilfestellung bei der Datierung der Gedichte gibt auch ihr jeweiliger Erstdruck in den BfdK.9 Hugo von Hofmannsthal, Ida Coblenz, Karl Wolfskehl, Clemens von Franckenstein und Richard Perls, die alle für Leben und Werk StGs im Zeitraum 1892 bis 1897 eine wichtige Rolle spielten, besaßen einzelne, heute noch bekannte Handschriftenblätter. Ihre Bedeutung für StG belegen auch die Gedichte und Sprüche im mittleren, mehrfach untergliederten Teil der Gedichtsammlung von 1897, finden sich doch hier neben den „Sprüchen für die Geladenen in T.“ (Paul Ge´rardy, Edmond Rassenfosse, Le´on Paschal) Gedichte für Ida Coblenz und Hugo von Hofmannsthal sowie elf mit Initialen überschriebene Gedichte auf oder an Personen. Einzig zum an Hofmannsthal gerichteten Gedicht „H. H.“ hat sich, von der Druckvorlage abgesehen, eine datierte handschriftliche Fassung erhalten, und zwar in StGs Brief an Hofmannsthal vom 31. Mai 1897. Die Druckvorlage aus der ersten Hälfte des Jahres 1897 macht wahrscheinlich, dass dies das am spätesten entstandene Gedicht ist, das StG in den Erstdruck aufnahm. Bei der Druckvorlage handelt es sich um die erste Niederschrift StGs in einer Stilschrift, die in der Folge als StG-Schrift bezeichnet wurde. Das Gedicht an Hofmannsthal wurde mit Bleistift auf den Seitenrändern zwischen den Gedichten an Melchior Lechter und Karl Wolfskehl nachgetragen und zwar in einer gegenüber der Briefniederschrift veränderten Fassung.10 Am 16. Juli 1897 verkündete StG Hofmannsthal, dass das neue Buch fertig sei. Nicht nur die Schrift macht das Besondere der Druckvorlage aus. StG gibt hier bis in Details der Farbgestaltung, der Überschriften, der Stellung der Gedichte auf der jeweiligen Seite die Gesamtgestaltung des Drucks vor, vom Format und der Textabfolge ganz zu schweigen.11 In den Druck umgesetzt wurde die Handschrift vom neu gefundenen Freund, dem Maler und Buchgestalter Melchior Lechter, der 1895 in StGs Leben getreten war. Im März 1896 überraschte er StG mit einem Exemplar der Bücher, in Pergament eingebunden, das farbig bemalt und beschriftet war.12 Dies erweckte StGs „volle Bewunderung“: „man kann sich kaum eine andere möglichkeit denken dies buch einzubinden. so zart übereinstimmend ist alles.“13 In der Folge entstand dann wohl der Wunsch, Lechter als Buchgestalter für das Jahr der Seele zu gewinnen. Den Zeitpunkt des Auftrags kennen wir nicht, wiewohl im Dezember 1896 zwischen Dichter und Maler in zwei Zeugnissen die Rede vom Jahr der Seele ist. 9 BfdK 1/1893, 4: „Sprüche“, „Nachtwachen I“; BfdK 2/1894, 3: „Blumen“, „Rückkehr“, „Entführung“; BfdK 2/1895, 5: Gedichte aus Nach der Lese; BfdK 3/1895, 1: 3 Gedichte aus Waller im Schnee und die ersten drei Traurigen Tänze; BfdK 3/1896, 4: vier Gedichte aus Sieg des Sommers und „Zu meinen träumen floh ich vor dem volke“. Vgl. SW IV, S. 131. 10 Auch das Gedicht an Ludwig Klages wurde mit Bleistift nachgetragen, allerdings auf einer leer gelassenen Seite. Darüber kamen die Verse 5–8 des Gedichts an Cyril Scott zu stehen, dessen erste vier Verse unten auf der Folgeseite niedergeschrieben wurden. Das Gedicht an Schuler fehlt hier und im Erstdruck. 11 Die Handschrift liegt seit 1968 als Faksimile vor. Auch gibt es viele Beschreibungen und Abbildungen in der Lechter- sowie in der George-Literatur. Vgl. dazu I, 5.6. 12 Das Exemplar befindet sich heute im Stefan George Archiv. Vgl. Melchior Lechter/Stefan George, Briefe, kritische Ausg., hrsg. v. Günter Heintz, Stuttgart 1991, S. 17. 13 StG an M. Lechter v. 16.3.1896, in: ebd., S. 18.

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Einmal spricht Lechter davon, StG werde bald in seinen Räumen „das ,Jahr der Seele‘ auf Pergament malen können“, zum anderen erhebt er das aufdämmernde neue Jahr zum „Jahr der Seele“.14 Erst im Oktober 1897 ist in der Korrespondenz wieder von dem Gedichtband die Rede: Lechter schenkt StG ein Foto von sich mit der Unterschrift: „An Stefan in den Tagen der Drucklegung von Das Jahr der Seele Berlin 10. Oktober 1897 Melchior Lechter“.15 Der Buchkünstler hatte dem Gedichtband einen Umschlag aus grauem samtenen Büttenpapier gegeben, schwarz, blau und rot bedruckt, mit der Zeichnung eines Orgel spielenden Engels versehen. Autor und Titel stehen in einer von Lechter entworfenen Schrift. In dieser Gestalt sollte der Gedichtband berühmt werden. Es begann eine zehnjährige Phase intensiver Zusammenarbeit von Dichter und Buchgestalter, die die zeitgenössische Rezeption StGs mit prägte.16 Wenig mehr als ein Jahr später erschienen, wie schon 1895 von StG vorgesehen, seine drei Gedichtbände in zweiter, nun öffentlicher Auflage beim Verlag Georg Bondi Berlin. Die erste öffentliche Ausgabe des Jahrs der Seele fällt u. a. durch die Verwendung des Kommas als konventionellem Satzzeichen auf. Es erschienen elf Auflagen des Einzelbandes Jahr der Seele vor der Gesamtausgabe vom Februar 1928. Von dieser Ausgabe erschienen drei Auflagen mit insgesamt 12.000 Exemplaren. In den Jahren 1892 bis 1897 war es StG durch die zunehmende Verbreitung der BfdK gelungen, Freunde und Bewunderer um sich zu scharen, nicht nur Karl Wolfskehl und Melchior Lechter, sondern Dichter, Maler, Komponisten und erste Wissenschaftler. Mit dem Jahr der Seele war er auf dem deutschen literarischen Feld etabliert, wie die zeitgenössische Rezeption belegt.17 2.4.2. Aufbau und Formales Die Erstausgabe von 1897 umfasst 94 Gedichte unterschiedlicher Länge. Sie verteilen sich auf drei Kapitel: Das Jahr der Seele, Überschriften und Widmungen und Traurige Tänze, von denen die ersten beiden je 31 Gedichte zählen, das dritte 32, was nahelegt, dass das letzte Gedicht als Schlussgedicht des gesamten Bandes zu betrachten ist. Solche Schlussgedichte, die zugleich auf den nächsten Band und auf eine neue Werkphase verweisen, finden sich schon in den vorausgehenden Bänden und deren Zyklen.18 Der Zyklus Jahr der Seele umfasst 11+10+10 Gedichte, wobei das erste Gedicht, poetologisch wie das letzte, als Einleitungsgedicht des Zyklus verstanden werden kann: „Komm in den totgesagten park und schau“. Mehrfach unterteilt, präsentiert sich der mittlere Abschnitt mit 7+10+14 Gedichten, dessen erste und dritte Gedichtgruppe schon 1898/99 um je einen Text („Wo in des schlosses dröhnend dunkler diele“) und zwei Texte („So grüss ich öfter wenn das jahr sich dreht“, „A. S.“) erweitert wurden zu 8+10+16. 14 M. Lechter an StG v. 16.12.1896 u. 31.12.1896, in: ebd., S. 19, 23. 15 M. Lechter an StG v. 10.10.1897, in: ebd., S. 30. 16 Vgl. I, 5.6.2. 17 Vgl. unten Abschnitt 2.4.3.1. 18 Zur Bedeutung von Zahlen und Zahlensymbolik für StGs Band- und Zykluskomposition vgl. vor allem auch den Stern des Bundes und meine Ausführungen im Apparat von SW VIII, S. 122f.

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Von großer Einheitlichkeit sind die Traurigen Tänze, da alle 32 Gedichte aus je drei Strophen zu vier Versen bestehen. Die Gedichte sind sämtlich gereimt, in der Mehrzahl stehen sie im Kreuzreim, viele auch in Paarreimen, einige in umarmendem Reim, mit zwei auffälligen Ausnahmen: Beim vierten Gedicht „Gib ein lied mir wieder“ verfehlen die Reimwörter in verblüffender Weise den Reim, auch wenn sie ihn weitgehend assonieren; es stört nur ein einzelner Laut oder Buchstabe.19 Dass hier eine Störung nicht nur im Formalen vorliegt, macht die Lektüre des Gedichts deutlich: Der „sang“ gelingt nicht „schön“ (IV, 90). Ähnlich verfährt StG im Falle des zehnten Gedichts „Trauervolle nacht“. Hier finden sich im Wechsel assonierende und reimende Versausgänge. Auch das fünfte Gedicht fällt durch seine Reimgestaltung auf, da jede Strophe identische Reime aufweist, insgesamt nur drei identische „ei“-Reime, zwei davon konsonantisch ausklingend (bleich/frei/beil). Dass solche Reimvarianz nicht als bedeutungsloses Kunsthandwerk zu verstehen ist, darauf weist StGs Feststellung in den BfdK hin, wenn es in den Merksprüchen heißt, „Reim“ sei ein „teuer erkauftes spiel“.20 Dass auch dieser Zyklus Traurige Tänze in Druckvorlage und Erstdruck mit drucktechnischen Mitteln noch unterteilt erscheint, sei wenigstens erwähnt.21 Etwas uneinheitlicher als in den Traurigen Tänzen sind Gedichtlänge, Strophenzahl und Reimgestalt in den drei Gruppen des ersten Zyklus Jahr der Seele, der wechselnd umarmend und kreuzgereimte Gedichte mit zwei, drei und vier Strophen, Letztere zunehmend in Waller im Schnee, enthält. Und wieder treten die ersten Gedichte von Teil I und Teil II durch Abweichungen hervor. In Nach der Lese fällt das Einleitungsgedicht „Komm in den totgesagten park und schau“ durch seine komplizierte Reimfolge auf (abab/aacc/deed), das einleitende Gedicht von Waller im Schnee „Die steine die in meiner strasse staken“ durch Abweichungen in der Verszahl in den drei Strophen (6+4+6) und eine entsprechend differente Reimfolge (abcabc, ddee, fghfgh). Erstaunlicherweise liegt der Varianz dennoch eine fast identische Strophenzahl pro Teilzyklus zugrunde: 30, 29, 28 Strophen. Metrisch weisen die Gedichte weitgehend fünf Hebungen mit Auftakt auf, mit Ausnahme des zehnten Gedichts von Waller im Schnee, das den Übergang zum Frühling markiert, der in der Jahreszeitenfolge fehlt. „Wo die strahlen schnell verschleissen“ ist trochäisch viertaktig gestaltet. In den Traurigen Tänzen wechseln vier und fünfhebige Gedichte ab. Weit größer ist die Formenvielfalt der Gedichte im mittleren Teil der Überschriften und Widmungen: mehrstrophige22 und einstrophige Gedichte, solche mit und ohne Überschriften, Kleinstzyklen wie die „Sprüche für die Geladenen in T. I–II“ und „Nachtwachen I–V“,23 vier titellose Gedichte, wahrscheinlich an Hofmannsthal und drei verschiedene Frauen gerichtet („Soll nun der mund der von des eises bruch“, „Die du ein glück vermehrst auch nicht es teilend“, „Angenehm flossen bei dir unsre nächtlichen stunden“, „So grüss ich öfter wenn das jahr sich dreht“), sowie die ab der 19 Kreuzreim wird angespielt: „wieder/friede“, „freudentage/zag“ etc. 20 BfdK 2/1894, 2, S. 35. 21 In der Druckvorlage befinden sich Markierungen nach den Gedichten „Trauervolle nacht“, „Mir ist kein weg zu steil zu weit“, „Ob schwerer nebel in den wäldern hängt“, „Zu traurigem behuf“, „Es winkte der abendhauch“. 22 Bis zu fünf Strophen. 23 Die fünf Gedichte der „Nachtwachen“ sind, abweichend von allen anderen Gedichten, in Terzinen geschrieben.

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zweiten Ausgabe von 1899 mit Initialen überschriebenen zwölf Widmungen, die jeweils acht Verse umfassen. Letztere sind bis auf die „K. W.“ und „E. R.“ betitelten reimlos aber streng metrisch gefasst. 2.4.3.

Rezeption und Deutung

2.4.3.1. Zeitgenössische Rezeption Waren StGs erste schmale Gedichtbände noch fast ohne Resonanz im deutschsprachigen Raum geblieben, so hatte sich die Situation 1897 beim Erscheinen des Jahrs der Seele gründlich geändert. Nicht nur war mit der „Gesellschaft der Blätter für die Kunst“24 dem Binger Dichter eine größere Leserschaft zugewachsen, sondern auch der Kreis gleich gesinnter Freunde hatte sich stark vergrößert. Die literarische Öffentlichkeit hatte die Gruppierung der Blätter-Dichter endgültig wahrgenommen.25 Dementsprechend vielstimmig fiel jetzt zum ersten Mal die zeitgenössische Rezeption aus, obwohl die Gedichte StGs noch immer einer beschränkten Leserschaft vorbehalten waren. Mit dem Erscheinen der öffentlichen Ausgabe 1898/99 änderte sich das dann, da auch bei Bondi ein erster Auswahlband der BfdK aus den Jahren 1892 bis 1898 erschien. Auch hatte StG begonnen, vor kleinerem, handverlesenem Publikum Gedichte – eigene und solche von Blätter-Freunden – vorzutragen. So geschehen in Den Haag, in der Vorlesung Max Dessoirs in Berlin und 1897 zum Erscheinen des Jahrs der Seele im Haus der erst vor Kurzem gewonnenen Freunde Reinhold und Sabine Lepsius. Eine Schilderung dieser Lesung findet sich in den Erinnerungen von Sabine Lepsius, der Gastgeberin dieser Leseinszenierung am 15. November 1897: ,Gestern war ein großer Tag. Stefan George las vor einem zahlreichen, aber ausgesuchten Hörerkreis Gedichte aus dem ,Jahr der Seele‘ und noch andere einzelne Verse. Ganz allmählich wurde man hineingezaubert in die Stimmung seiner Dichtungen, die mit- und hinrissen.‘ Wie sollte man es wohl zu beschreiben suchen – der Ton seiner Stimme wechselte seine Höhe und Tiefe nur in ganz seltenen Abständen, wurde dann streng beibehalten, fast wie eine gesungene Note, ähnlich dem Responsorium in der katholischen Kirche, und trotzdem bebend vor Empfindung und wiederum hart, dröhnend. (SL, 17)

Sie fährt einige Seiten später mit der Schilderung der Räumlichkeit fort: Die Gäste wurden unmittelbar vom Gang in das Wohnzimmer geführt, das nur matt erleuchtet war, während im Musikzimmer, für die Gäste verborgen, zwei Klavierlampen standen, die ihr ungefärbtes starkes Licht auf den Vortragenden warfen. […] Es waren, wie immer bei festlichen Gelegenheiten, Blumen in Kübeln aufgestellt, im Musikzimmer aber ein Kupfergefäß mit Lorbeerzweigen.26 (SL, 22) 24 So bezeichnet in der Selbstpräsentation im Verzeichnis der Erscheinungen der Blätter für die Kunst, Berlin 1904. 25 Vgl. das erste Auftreten der Blätter-Gruppe in der Allgemeinen Kunstchronik 18/1894, 23 (Febr.), und 19/1895, 4 (Nov.). 26 Überliefert ist Reinhold Lepsius’ spontane Reaktion auf den Erhalt der Erstausgabe: „So sage ich Ihnen vorher ein Wort von dem was mich erfüllt. Nach Allem was Sie schon gewährt hatten in

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Wer zu dieser Lesung geladen war und wie sie wirkte, belegen nicht nur die Erinnerungen von Sabine Lepsius und ihre Briefe an StG, sondern auch direkte Reaktionen von Teilnehmern wie Rainer Maria Rilke, den Lou Andreas-Salome´ mit in den Salon Lepsius gebracht hatte. Rilke zeigte sich sehr beeindruckt und bekannte gegenüber StG am 7. Dezember 1897: Meister Stephan George, der große Eindruck, welchen Ihr Leseabend im Salon Lepsius auf mich gemacht, läßt den Wunsch nicht zur Ruhe gehen, Alles, was Ihrer Kunst gehört, mit getreuem Interesse zu verfolgen. Ich konnte mir ,Das Jahr der Seele‘ verschaffen; und manche meiner Feierstunden lebt von seinen Melodien.27

Ein Jahr später, am 4. Dezember 1898, erbat er sich von Curt Stoeving eine fotografische Reproduktion von dessen weitverbreiteter George-Zeichnung, die er auch postwendend erhielt. Auch in diesem Brief gab er seiner Bewunderung Ausdruck: […] das dritte mal kam mir Mensch und Dichter, so seltsam Eines, aus Ihrem Bilde entgegen. Und wo im Kunstwerk diese Verschmelzung geschieht, da muss es wie eine Erfüllung aus dunkler Sehnsucht und klarem Verstehen heraus geworden sein; […] wollen Sie mir die Möglichkeit vermitteln, in den Besitz eines Exemplares der photographischen Reproduktion des Porträts zu gelangen? Stephan George’s Verse vollenden sich ja in ihm. Man muss das weise Schweigen dieser Lippen schauen, um die Rythmen ihrer Beredtsamkeit zu begreifen! (StGA)

Die Reaktionen der Freunde auf das Erscheinen des Werks waren anerkennend, je nach Charakter auch überschwänglich. Hofmannsthal ließ einer ersten freudig dankbaren Empfangsbestätigung (29.11.1897) erst am 13. Oktober des Folgejahres ein noch kurz gefasstes Lob folgen: Wie voriges Jahr ihr größeres Buch haben mich heuer die Dichtungen des ,Jahres der Seele‘ in die Stille einer ostgalizischen Garnison und nachher an den See von Lugano begleitet und ich gedenke in einem Aufsatz die mit Genuß gewonnene Einsicht in die wunderbare Einheitlichkeit der mitsammen das ,Jahr‘ bildenden Gedichte auszusprechen. (G/H, 136f.)

Es sollte dann noch Jahre dauern, bis 1904 Hofmannsthals Gespräch über Gedichte in der Neuen Rundschau erschien, das seinen Ausgangspunkt bei Gedichten aus dem Jahr der Seele nimmt. Hier wird StGs Dichtung Hofmannsthals eigene Poetik untergeschoben. Das zeigen zentrale Sätze wie: „Wir besitzen unser Selbst nicht: von außen weht es uns an, es flieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück […] etwas

unser Leben hinein, war die Erwartung auf dies neue Buch wie ein Fieber. Doch auch an dieser Erwartung gemessen ist die Gabe zu überragend als daß ich den Eindruck schildern könnte. Das aber will ich gestehen, daß – wie nur dem Größten gegenüber – ein Maßstab der Beurteilung mir nicht gegeben, sondern das Kunstwerk selbst zum Maß wird an dem ich meine Kunstempfindungen messe, zu dem ich meine Zweifel trage, von dem ich die tröstenden Bestätigungen meiner unausgesprochenen Überzeugungen empfange.“ R. Lepsius an StG v. 23.11.1897, StGA. 27 Die beiden Briefe Rilkes an StG sind zum ersten Mal veröffentlicht in Eudo C. Masons informativem Aufsatz Rilke und Stefan George, der schon 1957 in der Festschrift für Hermann August Korff erschienen war. Heute ist er leicht greifbar in Eudo C. Mason, Exzentrische Bahnen. Studien zum Dichterbewußtsein der Neuzeit, Göttingen 1963, S. 205–249, hier: 212.

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begegnet sich in uns mit anderem. Wir sind nicht mehr als ein Taubenschlag.“28 Eine direkte schriftliche Reaktion StGs auf dieses Gespräch über Gedichte ist nicht bekannt. Anders verfuhr der Holländer Albert Verwey. Ihm gingen die Verse „zu Herzen“, wie er in seinem Dankesbrief nach Empfang des Buches schreibt.29 Er begann sogleich mit dem Übersetzen, legte eine erste Probe dem Brief bei („Des erntemondes ungestüme flammen“), versprach eine baldige öffentliche Rezension und lobte Lechters Buchumschlag. Die Besprechung erschien rasch im Januar 1898 in der von Verwey herausgegebenen Tweemaandelijksch Tijdschrift.30 Nur die letzten drei Seiten sind dem Jahr der Seele gewidmet, ein Großteil des Textes ist mit der neuesten Ausgabe der BfdK, den ersten beiden Bänden der vierten Folge vom November 1897, befasst. Dementsprechend erfährt der Leser nur sehr Allgemeines über den Band und seine drei Großzyklen. Drei Beispielgedichten stellt Verwey seine These voraus: [Der Dichter] ist zurückgekehrt zur erde und hat da den trost gesucht den sie immer spendet, wär es auch nur ein trüber. Eine leisere ruhigere welt […] eröffnet sich. In diesem letzten band wird deutlich, dass der dichter die erde seines heimatlandes, die berge mit ihren weinstöcken wiedergefunden, sich da gestärkt hat für weitere freuden.31

Obwohl er das Gedicht „Rückkehr“ nicht zitiert, dürfte es seiner Deutung ebenso zugrunde liegen wie die eigene Erdverbundenheit, die sich vor allem in seinem Gedichtband Aarde von 1896 ausspricht. Karl Wolfskehls sicher enthusiastische Reaktion auf den Empfang des Buches ist nicht schriftlich überliefert. Er brachte 1898 in seinem Darmstädter Heimatblatt einen längeren Aufsatz unter, der schon einen ersten Rückblick auf StGs Werk seit 1890 wagt.32 Einleitend konstatiert er die bisherige Zurückhaltung der Rezensionsblätter („Dennoch blieb sein Schaffen der Öffentlichkeit lange verschlossen“) und weist auf die sich verändernde Lage hin, indem er drei wichtige größere Abhandlungen nennt, die neuerlich versuchten, StGs Werk „dem Kunstempfindlichen näher zu bringen.“ Er nennt Hofmannsthals Artikel in der Wiener Zeit, R. M. Meyers Bericht über den „neue[n] Dichterkreis“ und Georg Simmels „kunstphilosophische Betrachtung“. Auch macht er seine Leser aufmerksam auf die in naher Zukunft erscheinenden ersten öffentlichen Ausgaben von StGs Werken. Die Dichtung charakterisierend, betont er allgemein die „selbstsichere Strenge“, die Reinheit der Empfindung und immer wieder „Form, Geschlossenheit, Organisation gegenüber all dem heute so beliebten Zerfließen in chaotische Stimmungsseeligkeit.“ Betont er für den frühen StG die „Vereinsamung des auf sich selbst gestellten Schaffenden, dessen Liebe mit seinem Wissen wächst, seinen Zweifeln, seinen kurzen jähen Seeligkeiten, seinem Suchen, Ringen, 28 Hugo von Hofmannsthal, Prosa II, hrsg. v. Herbert Steiner, Frankfurt/M. 1951 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben), S. 97. 29 A. Verwey an StG v. 22.11.1897, in: Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap, hrsg. v. Mea Nijland-Verwey, Amsterdam 1965, S. 46. 30 Tweemaandelijksch Tijdschrift 4/1898, 3, S. 478–486. Der Aufsatz wurde später von Friedrich Gundolf übersetzt und findet sich in Albert Verwey – Ludwig van Deyssel. Aufsätze über Stefan George und die jüngste dichterische Bewegung. Mit Genehmigung der Verfasser übertragen von Friedrich Gundolf, Berlin 1905, S. 24–32. 31 Ebd., S. 29. 32 Stefan George, in: Darmstädter Tagblatt v. 7.10.1898.

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Ueberwinden“, so spricht er vom Dichter des Jahrs der Seele als Rückkehrer „von langen Fahrten“, spricht von seinem „Rasten an den ,heimatlichen Essen‘“, von einem, der das Leben als das „neue, tiefe, beruhigte Dasein“ empfinde. So ist für ihn der Gedichtband von 1897 StGs „innerlichstes, schmucklosestes und […] stärkstes“ Werk. Vom „innigsten Erfassen seiner heimatlichen Landschaft“ ist die Rede und davon, dass diese Landschaft ihr Leben lebe, das das seine sei. Entscheidend aber ist seine abschließende Betonung des Kunstcharakters dieser Poesie: StGs Poesie will „kunstmäßig“ sein. Wie das zu gestaltende Erlebnis geschaffen ist, ist somit ohne Gewicht, dass es ohne „Erdenrest“ dem „Tiegel“ entsteige, selbstverständliche Forderung. Willkommen war StG sicher auch die spontane Reaktion von Ludwig Klages. Dieser sah im Jahr der Seele „in einiger Beziehung einen Abschluss“, der einen Rückblick auf StGs „bisheriges Lebenswerk“ erlaube. Diesen „Rückblick“ nimmt er vorbereitend in einem Aufsatz von 1901 vor, in größerem Umfang und mit voller Zustimmung StGs in seiner bei Bondi mit der Jahreszahl 1902 erschienenen Schrift Stefan George.33 In einer Art Kurzfassung teilte er StG schon am 21. November 1897 seine Sicht des „sehr vollendeten Werk[s]“ mit: Mit immer wieder neuem Staunen gewahre ich, wie weite und wechselnde Lebens[s]trecken Sie durchmachten und hinter sich gelassen haben. Sollte man den Dichter des ,Algabal‘ in diesen Versen wiedererkennen, welche aus den Nebelländern und entsagend verschlossenem Sinn des Nordens hervorgewachsen zu sein scheinen? Dennoch kann dem tieferen Blick der Zusammenhang nicht entgehen: eine Gedämpftheit und Blässe aller Farben eine Herbheit und fast gebrochen zitternde Kraft des Rytmus wie sie nur erleben mag, wer ,ein Königreich verlor‘ und aus der verzehrend glühenden Kraft seiner erhabenen Träume ermattend zurückkehrte in die wehmütig mild ihn umfangenden Bezirke der Heimat. (StGA)

,Rückkehr‘, „Heimat“, „Norden“ sind Leitbegriffe für sein Verständnis der Dichtung nach Algabal, nach den Welten der Antike und des Orients, ebenso Ermattung, Wehmut, Milde und „spät-herbstlich leuchtende Schönheit“. Bemerkenswert ist dieser Brief vor allem auch als erstes Zeugnis für StGs Sorge um die adäquate Rezeption seiner neuen Gedichtsammlung. „Sie fürchteten dieses Buch möchte gefallen“, erinnert Klages StG, nur um ihm sogleich zu versichern, er habe ausreichend Rezeptionshindernisse für die „Lauen“ und „Süßlichen“ unter den Deutschen aufgerichtet, die den Sinn vieler Werke StGs nicht einmal erahnen könnten. StG beruhigte sich nicht, sondern verfasste eine „Vorrede“ und setzte sie als Versuch der Rezeptionslenkung der ersten öffentlichen Ausgabe des Jahrs der Seele voran. Nicht als Erlebnisdichtung seien die Gedichte zu lesen: möge man doch […] auch bei einer dichtung vermeiden sich unweise an das menschliche oder landschaftliche urbild zu kehren: es hat durch die kunst solche umformung erfahren dass es dem schöpfer selber unbedeutend wurde und ein wissen-darum für jeden andren eher verwirrt als löst. (IV, [7])

33 Der Aufsatz erschien in Der Lotse 2/1901, 11, die Monographie Ende November 1901. Als Frontispiz weist Letztere die Kreidezeichnung von Curt Stoeving aus dem Jahr 1897 auf.

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Damit bestätigte er Simmels These aus den Betrachtungen vom Rohstoffcharakter des Erlebens und der Gefühle für seine Kunst, die ihm 1898 vielleicht sogar zusätzlicher Impuls für die einleitenden Ausführungen war. Es gab aber noch einen anderen Grund für die Abwehr von Fragen nach Personen, nach Ich und Du der Gedichte: „Namen gelten nur da wo sie als huldigung oder gabe verewigen sollen und selten sind sosehr wie in diesem buch ich und du die selbe seele“ (IV, [7]). Es galt die Mehrzahl der Texte von ihrem jeweiligen Entstehungskontext zu lösen, so von Hofmannsthal, vor allem aber von Ida Coblenz, der nicht nur einzelne Gedichte oder Gedichtgruppen einmal gewidmet waren, sondern die ganze Sammlung vor dem Bruch mit ihr von 1896.34 Diese Widmungen waren 1897 getilgt. 1898 stand den Gedichten eine Widmung an die Schwester voran: „Anna Maria Ottilie / Der tröstenden Beschirmerin / Auf manchem meiner Pfade / MDCCCXCVII“ (IV, [5]). Dass diese Widmung Ergebnis einer Umorientierung war, zeigt auch die fassungslose Überraschtheit der Widmungsträgerin.35 StG schickte der Schwester die drei bei Bondi erschienenen Bände, offensichtlich ohne jede Erläuterung. Ihre Antwort vom 20. November 1897 lautet: Ich kann es nicht ausdrücken mit welchen Empfindungen ich dieselben zum ersten Male ansah und in meiner Hand hielt. Besonders Dein Jahr der Seele, welch eine Überraschung für mich! In meinen kühnsten Träumen wagte ich nicht zu denken, daß Du Deine Schwester also zu ehren gedächtest. Nun weiß ich es bestimmt, daß ich zu den wenigen gehöre, die Dir nahe stehen und das macht mich sehr sehr glücklich und die Erinnerung daran wird mir manche Enttäuschung verhüllen die einer Natur wie der meinen in ganz besonders zahlreichem Maße beschieden sind. Was das Äußere der Bücher betrifft, muß ich mit großer Freude gestehen, daß dieselben einen sehr feinen, sympathischen Eindruck machen im Schmuck der echt ,Lechterschen‘ Buchstaben. Auch der Druck ist sehr sorgfältig ausgeführt. (StGA)

Galt Meyers zuvor erwähnter Aufsatz dem „neue[n] Dichterkreis“ der BfdK und allen voran StG, so waren Simmels Ausführungen in Stefan George, eine kunstphilosophische Betrachtung von grundsätzlich kunsttheoretischer Art. Beide sind auf das 1897 vorliegende Gesamtwerk StGs bezogen, das bei Meyer noch mit den Büchern von 1895 und einem Ausblick auf das Jahr der Seele endet, von dem er nur vorab in den BfdK veröffentlichte Gedichte kannte. Diese lassen ihn vermuten, dass eine „gewisse Vergeistigung, eine zunehmende Neigung zum Verarbeiten der Eindrücke, ein stärkeres Hervortreten der inneren Natur“, welche er den Büchern von 1895 attestiert, in der neuen selbständig noch nicht vorliegenden Sammlung fortgesetzt würden, worauf schon der Titel Jahr der Seele hinweise.36 Er stellt fest: „Hier werden die Töne mehr lyrisch im engeren Sinne, das Symbol tritt zurück, der direkte Ausdruck wird deutlicher.“ Als Beleg dient ihm das Gedicht „Es lacht in dem steigenden jahr dir“, als Beleg auch für ein „Anschlagen einfacherer Töne“, für eine „Rückkehr in das alte Heimathgebiet der Lyrik.“37 Meyer ahnt, dass dies als „Rückkehr zur Natur“ und als 34 Vgl. I. Coblenz an Richard Dehmel, nach Nov. 1897, in: G/C, S. 98: „Ein ganz klein wenig hat es mich doch geschmerzt, daß keine Zeile meinen Namen nennt, da doch jedes Wort für und an und durch mich geschrieben ist.“ 35 Vgl. ¤ Anna Maria Ottilie George. 36 Richard Moritz Meyer, Ein neuer Dichterkreis, in: Preußische Jahrbücher 88/1897, S. 33–54, hier: 47. 37 Ebd., S. 48.

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„Gesunden“ StGs verstanden werden könnte, und wehrt solches Abwerten der symbolistischen, sich eines Symbols bedienenden Stimmungskunst vorauseilend ab. Seine Definition von StGs Dichtung, gewonnen an den ersten Bänden Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal, soll weiterhin auch für das Jahr der Seele gelten: „Und eben diese Vereinigung von objektiver Kunstfertigkeit mit subjektiver Stimmung, von idealistischem Schönheitskultus und realistischer Technik der Nachbildung scheint uns das Neue – das Neue als Prinzip“.38 Als Simmel seine Betrachtung verfasste, war das Jahr der Seele erschienen, wie schon die beiden als Motto über dem Text stehenden Strophen zwei und drei aus dem Schlussgedicht des Bandes belegen.39 Neben drei Algabal-Zitaten und dem Gedicht „Jahrestag“ (III, 11) aus den Hirtengedichten dienen zwei Gedichte aus dem neuen Band als Anschauungsmaterial („Ich trat vor dich mit einem segenspruche“ und „Ich weiss du trittst zu mir ins haus“). Simmel begrüßt StGs Lyrik pauschal als „Gipfel des Anti-Naturalismus“: Wenn nun der Lyrik Georges selbst das Gefühlsleben und seine zartesten und intimsten Inhalte in unmittelbarem Ausdruck noch nicht die Kunst ausmachen, sondern erst ihren zu höherer Form zu gestaltenden Rohstoff, so ist damit der Gipfel des Anti-Naturalismus erreicht.40

Diese Bedingung erfüllt die Lyrik des Jahrs der Seele am besten, wirkt doch in ihr „kein der Kunstform gegenüber selbständiger Reiz ihres Stoffes mit.“41 Das „Eigenartige und Bedeutsame an Stefan George“ fasst Simmel schließlich in einem Satz zusammen: „daß gerade Das, was am Gedicht reines poetisches Kunstwerk ist, mehr als irgendsonst das Ganze ausmacht, unter reinlicher Ausscheidung aller Nebeneffekte, die seinem Inhalt aus dessen sonstigen Beziehungen und Bedeutungen quellen könnten.“42 Die Besprechungen der Freunde dienten der Leserwerbung und der Rühmung von StGs Dichtung. Auch Meyer und Simmel standen in persönlichem Kontakt mit StG, verehrten den Dichter und seine Werke. Ganz anders Paul Ernst und der Historiker Karl Lamprecht, die auf die öffentlichen Ausgaben von 1898/99 reagierten. Ernst legte im September 1899 eine erste positive Besprechung vor, die zugleich das Phänomen StG in seiner Wirksamkeit und Entwicklungsfähigkeit rigid begrenzte. Wie viele Literaturhistoriker und Kritiker nach ihm sah er in StG den „Führer der Reaction gegen den Naturalismus bei uns.“43 Dessen „Zweckkunst“ entgegengesetzt sei die Kunstanschauung StGs und der BfdK allerdings genauso einseitig wie die der Naturalisten. StG wird als ,Formkünstler‘ gepriesen, der ganzen Richtung aber ein Mangel an „Sittlichkeit“ vorgeworfen. Eine weitere Entwicklung, ein Fortschritt solcher Kunst wird als Möglichkeit geleugnet: „Jener eine Eindruck von Georges Kunst

38 Ebd., S. 43. 39 Es handelt sich um den letzten der Traurigen Tänze, das Gedicht „Willst du noch länger auf den kahlen böden“. 40 Georg Simmel, Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung, in: Die Zukunft 22/1898, S. 386–396, hier: 391f. 41 Ebd., S. 392. 42 Ebd., S. 394. 43 Paul Ernst, Stefan George, in: Posener Zeitung v. 21.9.1899.

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wird immer bleiben: das Nervenberuhigende, von der Welt Loslösende, im Reinen und Schönen Schwebende werden wir immer bei ihm empfinden.“44 Weitere historische Einordnung widerfuhr StG durch Karl Lamprecht, Verfasser weitverbreiteter Werke zur deutschen Geistesgeschichte. Dieser schlug die Dichter um StG in der Morgen-Ausgabe der National-Zeitung vom 15.10.1901 einem „psychologischen Impressionismus“ zu. Willkommener Beleg ist ihm das Gedicht „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“ aus dem Jahr der Seele, dem er „außerordentliche Meisterschaft“ attestiert: Da giebt es zunächst den Weg einfacher Schilderung seelischer und besonders nervöser Reizvorgänge. Und hier wird von der neuen Schule sehr früh schon eine außerordentliche Meisterschaft erreicht, wie denn die Schule die Form überhaupt in jedem Sinne hochhält und fördert.45

Unterschiedslos werden StG wie Hofmannsthal, dem Einleitungsgedicht aus den Hymnen wie Versen aus dem Tod des Tizian, die Suche oder Sucht nach neuen Reizen und Sensationen bis zur Ekstase vorgeworfen, allerdings positiv abgesetzt von den „Narretheien“ der Franzosen. Sieht man von dem frühen Chauvinismus des Verfassers ab, der abschließend in seinem Artikel StGs und Hofmannsthals Deutschtum betont und vor allem StG schon 1901 als „ausgesprochen national“ bezeichnet und ihm mittels eines Gedichts aus dem Teppich des Lebens gar „vaterländische Wallung“ unterstellt, sind seine Ausführungen nicht ohne bedenkenswerte Einsichten. So lehnt er den Begriff der „Neuromantik“ für die Werke der Blätter-Dichter ab – die Unterschiede seien zu groß – und er betont ihren symbolischen Charakter: Diese Dichtung ist symbolisch durch und durch; und daß sie es ist, beweist, trotz aller Wunderlichkeiten und Modethorheiten im Einzelnen, daß sie einen Höhepunkt bildet in der Entwicklung der Poesie der modernen Stimmung. […] Dieser psychologisch-impressionistische Idealismus ist aber zugleich bisher die letzte völlig abgeschlossene Errungenschaft unserer dichterischen Kultur; mit ihm endet einstweilen der Lauf der modernen Entwicklung.46

2.4.3.2. Kreisinterne Rezeption Das Jahr der Seele war für die ältere Generation der George-Freunde, für Wolfskehl, Verwey, Hofmannsthal, erster Höhepunkt von StGs Werk, blieb es sicher für manche Zeitgenossen wie das Ehepaar Lepsius, beide Simmels oder Rilke. Mit dem Eintritt des ,Engels‘ in StGs Dichtung, Vorbereitung und Vorstufe für die Maximin-Dichtung der Jahre 1904 bis 1906, veränderte sich StGs Werk ebenso wie der Kreis der Freunde. Die in den Jahren nach 1900 hinzugekommenen Kreismitglieder vernachlässigten das Frühwerk StGs, bevorzugten in der Rezeption das späte Werk ab dem Siebenten Ring. Das Jahr der Seele, als Band der Mitte, wird bis heute zwar von Lyrik-Liebhabern geschätzt, stand aber nie im Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses. Auch in keinem der drei Hauptwerke zur Dichtung StGs aus dem Freundeskreis wird ihm be44 Ebd. 45 Karl Lamprecht, Psychologischer Impressionismus der modernen Lyrik, in: Nationalzeitung (Morgen-Ausgabe) Berlin v. 15.10.1901. 46 Ebd.

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sondere Beachtung geschenkt. Ernst Morwitz erwähnt zwar StGs „Vorrede der zweiten Ausgabe“, schwächt sie aber zu der Bemerkung ab, „daß Ich und Du hier nicht immer zu trennen sind, daß also bisweilen die Zweiteilung nur benutzt wird, um das Erlebnis des Dichters mit sich und in ihm selbst klarer zum Ausdruck zu bringen.“47 Sein Fazit lautet: „Die Gedichte handeln vom Zusammen zweier Menschen.“48 StG duldete das 1933 ebenso, wie er Friedrich Wolters’ Sicht über Jahre gefördert und 1930 autorisiert hatte, gegen welche Morwitz dann vor allem in seinem stark erweiterten Kommentar von 1960 anschrieb.49 Das siebte Kapitel von Wolters’ ,Blättergeschichte‘ handelt von der dritten Folge der BfdK und dem Jahr der Seele, das er aus der Rückschau zum Angelpunkt von StGs Werk erklärt: „im Herbst 1897 erschien ,Das Jahr der Seele‘ und vielleicht ist niemals in der Menschengeschichte, so weit wir blicken können, die Angel der Zeit mit leiserem Finger gedreht worden als durch dieses Werk“ (FW, 133). Zehn Jahre zuvor aber war Friedrich Gundolfs Gesamtdeutung StGs erschienen, die eine Zeit lang prägend für die Auffassung von StGs Werk war, tradiert durch manche seiner Freunde und Schüler bis in die 50er- und 60er-Jahre.50 Friedrich Gundolf deutet StGs Dichtung der Jahre 1892 bis 1897, indem er StGs spätere Entwicklung idealtypisch rückwärts projiziert. Entscheidend ist dabei auch seine Beschäftigung mit Goethe in den Jahren vor 1916, den er als Dichter des Werdens verstand, und dem er, nicht zuletzt angefeuert durch StGs Ablehnung des ,Werdens-Goethe‘, StG als Dichter des Seins gegenüberstellt und ihn damit auch rigoros von den Romantikern abgrenzt. Zwar waltet „durch das ganze ,Jahr der Seele‘ […] die Einheit von Natur Seele Schicksal“,51 das Verhältnis von Ich und Natur sei aber kein romantisch-sentimentalisches, sondern ein dämonisches, magisches, und daher seien die Gedichte des Jahrs der Seele, so die erstaunliche Konsequenz Gundolfs, letztlich unverständlich, ganz besonders diejenigen aus dem Zyklus Traurige Tänze. Natürlich sieht der Literaturhistoriker, dass ein Gedicht wie „Die jagd hat sich verzogen“ beinah sämtliche Lieblingsmotive romantischer Lyrik aufruft: Die jagd hat sich verzogen · Du bleibst mit trägem bogen · Blutspuren unter tannen – Horch welch ein laut! von wannen? (IV, 116) 47 Ernst Morwitz, Die Dichtung Stefan Georges, Berlin 1934, S. 58. Morwitz’ Buch erschien „am 14. November 1933 mit Stefan Georges Zeichen der ,Blätter für die Kunst‘“. Wie Morwitz berichtet, war der erste Entwurf schon 1924 fertig, 1933 stellte er die endgültige Fassung her, „und Stefan George versah sie mit schriftlichen Bemerkungen, die ich in den Text hineinarbeitete. Der Dichter selbst und einige von ihm bestimmte Freunde lasen sowohl die erste als auch die zweite Korrektur. […] seine Korrekturen und Briefe zu der Arbeit sind erhalten.“ Vgl. das Nachwort in der Ausgabe bei Küpper von 1948, S. 176. Dieses Buch war Grundlage für den späteren Kommentar. 48 Ebd., S. 57. 49 Hier erst werden Zyklus um Zyklus, Gedicht um Gedicht Personen und Orten zugewiesen, ganz Morwitz’ eigenem Dichtungsverständnis, Erleben und Wissen verpflichtet. 50 Vgl. die Interpretationen von Stefan H. Schultz, Victor A. Schmitz und Peter Lutz Lehmann. Gundolfs Deutung des Jahrs der Seele widersprach allerdings der Breitenrezeption, war auch wissenschaftlich nicht produktiv. 51 Friedrich Gundolf, George, Berlin 1920, S. 144.

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Die Jagd, die Landschaft, der Grund, der Laut von Ferne, Bedrohung und Lockung: Versatzstücke Eichendorffscher Lyrik in den Traurigen Tänzen. Die Schlussfolgerung des Literaturwissenschaftlers aber lautet: wie George die Natur nicht mythisch und nicht romantisch, sondern magisch bannt, so auch das mit seiner Natur und seiner Seele einsgewordene Schicksal. Nur soweit das Schicksal gefärbt ist von Natur und Seele, kann man es hier bezeichnen . . soweit Natur und Seele gefärbt sind vom Schicksal bleiben sie unfaßlich. Darum sind die Traurigen Tänze das schlechthin ,unverständliche‘ Buch Georges, wegen der Dunkelheit nicht ihres Ausdrucks, sondern ihres Ursprungs.52

Wirkungsmächtig war Gundolfs produktionsästhetische Gesamtdiagnose: Den drei Zyklen (Jahr der Seele, Überschriften und Widmungen, Traurige Tänze) „gemeinsam von ihrer Empfängnis her ist die abgründige Trauer, der Schmerz der Welt die aus dem Schlaf heraufgeweckt ist.“53 2.4.3.3. Forschung Erste Orientierung bei jeglicher Beschäftigung mit dem Werk StGs ist noch heute Claude Davids deutsche Übersetzung seiner französischen Monographie Stefan George. Son Œuvre poe´tique. Auch für das Jahr der Seele wurde es zum einschlägigen Referenzwerk,54 nicht zuletzt, weil hier die vorausgegangene Forschung rezipiert und explizit in den Anmerkungen dargestellt wurde. Allerdings ist die Eingangsthese Davids problematisch: Er sieht im Jahr der Seele einen Rückfall gegenüber den avancierteren Positionen in den BfdK der Jahre 1896/97: „Der Band ist fast völlig auf das Vergangene gerichtet und schließt die Periode der Beklemmung ab, die der Abfassung des ,Algabal‘ folgt.“55 Diese These leitet seine Lektüre: „Das Jahr der Seele ist pessimistisch und einsam, Nachhall der Vergangenheit, Ausdruck einer Müdigkeit, die in den gleichzeitig erscheinenden Manifesten der ,Blätter für die Kunst‘ bereits überwunden zu sein scheint.“56 Die „Poesie der Innerlichkeit“, die David dem Werk von 1897 attestiert, sieht er auch in StGs 1896 eingestandener Vorliebe für Jean Paul begründet, nicht ahnend, dass ein großer Teil der Gedichte StGs Entdeckung Jean Pauls entstehungsgeschichtlich vorausliegt.57 Zusammenfassend charakterisiert David die Gedichte als „persönliche Lyrik, die dem Anlass des Gedichtes Rechnung trägt“, als „Dichtung des Herzens, für die die Gefühlsanalyse bedeutsamer ist als der Sinneseindruck oder die Idee.“ Von der „erlebten Begebenheit“ ist die Rede wie auch von „weniger gesuchte[r] Sprache“, „einfache[n] Bilder[n]“, „direkte[m] Ausdruck“ und „Pathos“.58 Es fällt schwer, sich dieser Deutungsperspektive zu entziehen, die, durch 52 Ebd., S. 154f. 53 Ebd., S. 145. 54 Vgl. III, 5.3.3.2., S. 1025f. 55 Claude David, Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967, S. 130. 56 Ebd., S. 132. 57 Davids Ausführungen auf S. 141 zeigen, dass er von der frühen Entstehung mancher Gedichte weiß, die Zahl aber unterschätzt. Jean Paul findet seit 1896 Erwähnung, so in den BfdK, vgl. Einleitung, in: BfdK 3/1896, 1, S. 2; Lobrede auf Jean Paul, in: BfdK 3/1896, 2, 59–62. 58 David, Stefan George (Anm. 55), S. 140.

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Morwitz’ ausführlichen Kommentar von 1960 bestärkt, den Subzyklus Nach der Lese als „Geschichte einer unechten Freundschaft“ bezeichnet und die Waller im Schnee „ein weiteres Erleben“ erzählen lässt, „in dem eine innige Freundschaft von noch weniger Freude begleitet wird.“59 Doch folgt schon bei David der Widerspruch auf dem Fuße, der doppelte Einspruch gegen eine Lesart, die die Gedichte als Erlebnisgedichte und als romantische Naturgedichte wahrnimmt. Den Titel der Sammlung und StGs Naturverhältnis deutend, lassen sich Sätze wie die folgenden noch quasi ,romantisch‘ lesen: „Der Mensch sieht vor sich die Tage und Jahreszeiten abrollen. Den Erlebnissen seiner Seele entsprechen in der Natur Bilder, die jenen als Szenerie dienen“.60 Doch ist andererseits die Rede davon, dass für StG die „,Natur‘ ein Nebeneinander von sinnschweren Bildern“ sei, „ein Schauspiel, aus dem eine einsame kontemplative Seele ihre eigene Allegorie wiederfindet.“61 Schon der Begriff der Allegorie weist auf die Distanz zwischen dem Ich und einer Natur als ,Zeichen‘ hin, die David im Folgenden betont,62 um sie gleich wieder zu relativieren: „Die Natur ist für StG nicht nur eine Sprache. Die Natur behält für ihn einen Wert. Sie ist ein Schleier, der das Nichts bedeckt.“63 Und so kehrt David zu seiner Grundthese zurück: Im Jahr der Seele drohe das Nichts von zwei Seiten. „Die eine – wesentliche – liegt in der Seele selbst […]. Die andere Erscheinungsform des Nichts ist – draußen – der Ablauf der Jahreszeiten und der Jahre: ein Schauspiel, in dem die Seele metaphorisch eine Leere, die der ihren ähnlich ist, erkennt.“64 Abschließend, vom Kunstcharakter der Gedichte handelnd, spricht er von ihrer ,Durchsichtigkeit‘, von der Beherrschtheit dieser Kunst und bezeichnet sie in diesem Sinne als „antiromantisch“, als Kunst der „Sammlung“, der „Meditation, der Rückkehr zu sich selbst.“65 Sie sei bis 1896 „kontemplativ, mehr dem ,innen‘ als dem außen, mehr der Seele als dem Leib, mehr der Zeit als dem Raum, mehr der Erinnerung als der Aktualität zugewandt.“66 Davids Ausführungen sind fast ausschließlich auf den Zyklus Das Jahr der Seele und – weit weniger – auf die Traurigen Tänze bezogen unter weitgehendem Ausschluss des mittleren Teils, der doch ein Drittel der Texte umfasst. Allein die „große Einheitlichkeit im Ton“ halte die Sammlung zusammen, „trotz des lockeren Aufbaus“, ein von Stoizismus geprägter „elegischer Ton“.67 In dieser Deutungstradition stehen auch die immanent textauslegenden Studien Heidi E. Falettis, deren Einfühlung in die Texte häufig schwer zu folgen ist, sowie die sensiblen Interpretationen einiger Gedichte aus dem Subzyklus Nach der Lese von Jürgen Egyptien.68 Eine deutliche, wenn auch wenig beachtete Gegenstimme zu Davids Nihilismus-These findet sich in der amerikanischen Dissertation von Friedrich 59 Ebd., S. 143. 60 Ebd., S. 151. 61 Ebd., S. 150f. 62 „Er beobachtet die Zeichen, die den Ablauf des Jahres begleiten“ (ebd., S. 152) und er „ist nicht Teil dieser Natur, die er beobachtet. Er ist entwurzelt […]“ (ebd.). 63 Ebd. 64 Ebd., S. 154. 65 Ebd., S. 159. 66 Ebd., S. 160. 67 Ebd., S. 162. 68 Faletti, Jahreszeiten; Egyptien, Herbst der Liebe.

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Thiel, die vorrangig StGs Prosa in Tage und Taten gewidmet ist, aber auch ein Kapitel zum Jahr der Seele enthält.69 Thiel untersucht die Raumkonzeption in den drei Subzyklen des Jahrs der Seele und plausibilisiert den zeitweisen Sieg des Sprechers über „spatial restriction“ und „a similiar victory over the ravages of time“ im Sommerzyklus, wenngleich Vergänglichkeit und Begrenzung („transience and constriction“) aktive Kräfte bleiben.70 Diese Spannung konstituiere StGs Lyrik dieser Jahre, wie nicht zuletzt auch die Traurigen Tänze belegten. Im Laufe der 90er-Jahre setzte dann eine neue, vor allem poetologische Lesart des Gedichtbandes ein, die fast immer ihren Schwerpunkt beim Jahreszeitenzyklus hatte und mit der Deutung des Eingangsgedichts sowie des doppeldeutigen Titels des ersten Teilzyklus Nach der Lese beginnt. Solche Deutung verdankt sich auch gewissen methodologischen Leitfragen der Literaturwissenschaft wie Selbstbezüglichkeit, Medialität, Intermedialität, Performativität etc. Schon die Sprechakttheorie hatte das Bewusstsein der Interpreten für die auffällige Befehlsstruktur des Einleitungsgedichts geschärft, für die Imperative von „komm“, „schau“, „nimm“, „erlese“, „küsse“, „flicht“, „vergiss nicht“, „verwinde“. So war das Gedicht auch als Aufforderung an den Leser zu begreifen, einen, d. i. den folgenden Textraum zu betreten. Ganz grundsätzlich formuliert Cornelia Blasberg diese andere, neue Betrachtungsweise: Einerseits deutet der Titel der Sammlung […] darauf, dass den zu Naturbildern zusammentretenden Sprachzeichen ein psychologisches Signifikat, ein ,Seelen‘-Zustand entsprechen soll. Andererseits leitet bereits die Herbstimpression im berühmten ersten Gedicht der Sammlung, ,Komm in den totgesagten park‘, den Leser weniger zum Nachempfinden einer ,seelischen‘ Stimmung an, als daß sie seine Aufmerksamkeit auf die ,Textur‘, das Sprachgewebe des Gedichtes zurücklenkt.71

Verallgemeinert trifft das auf alle symbolistische und nachsymbolistische Lyrik zu,72 wie auch Blasbergs folgende Feststellung unterstreicht: Georges Gedicht exponiert sein Gemachtsein und präsentiert sich als das Bild, das die Verse evozieren. Entschieden legt die Materialität des Textes ihr Veto gegen eine Lektürepraxis ein, die die Buchstaben hastig gegen die Botschaft hin durchstoßen will.73

Blasberg bestätigt hier die Modernität von StGs Dichtung im Jahr der Seele, die sie in der Intermedialität von Text und Bild in der Gesamtausgabe von 1929 noch gesteigert sieht. Von grundlegender Bedeutung für die gesamte George- und George-KreisForschung war Wolfgang Braungarts Neuansatz Mitte der 90er-Jahre, der StGs Lyrik „umfassend, textuell und sozial, als ästhetisches Ritual“ begreift.74 Obwohl Braungart die „Rituale der Literatur“ vor allem an Früh- und Spätwerk ab dem Siebenten Ring diskutiert, finden sich gerade auch für die Analyse und Deutung des Jahrs der Seele vielversprechende Ansätze, u. a. für den bislang wenig beachteten Mittelteil des Bandes. 69 Friedrich Thiel, Vier sonntägliche Straßen. A Study of the Ida Coblenz Problem in the Works of Stefan George, New York 1988. 70 Ebd., S. 160, 163, 166. 71 Blasberg, Poetik zwischen Schrift und Bild, S. 231. 72 So vor allem dargelegt in Paul Hoffmann, Symbolismus, München 1987. 73 Blasberg, Poetik zwischen Schrift und Bild, S. 232. 74 Braungart 1997, S. 223ff.

2. Stefan George: Werk – Das Jahr der Seele

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Weitere wichtige Neuansätze für die Forschung finden sich auf den wenigen Seiten, die Steffen Martus im George-Kapitel seiner umfangreichen Habilitationsschrift dem Jahr der Seele widmet. Auf das erste Gedicht von Nach der Lese konzentriert, das auch er als Einleitungsgedicht zum gesamten Zyklus Jahr der Seele liest, skizziert er StGs „Verfahren der (literarischen) Dekomposition und Rekomposition“ und zeigt, wie StG gerade in diesem Parkgedicht die „Konstruktivität“ seiner Gedichte ausstellt, wie er in ihm eine „Poetik der Zusammenstellung“ entwirft.75 Er belegt überzeugend, „daß George im ,Jahr der Seele‘ die Requisiten der Park-Dichtung romantisch-liedhafter Herbstlyrik des 19. Jahrhunderts verwendet“.76 StG selbst hatte die Herbstund Parkgedichte Geibels ,totgesagt‘, deren Elemente er, wie Martus zeigt, virtuos aufs Neue verflicht. Verblüffender noch ist die Nähe zu Gustav Falkes Gedicht „Gestorben“ von 1893, in welchem die Poesie gemeinsam mit Herbstnatur und Park stirbt.77 Martus weist nach, was bislang in der George-Forschung zu wenig beachtet wurde, „wie genau George das lyrische Arsenal seiner Zeit gemustert hat und welcher Anspruch sich damit verbindet“.78 Darüber hinaus stellt er die Gedichte in einen größeren kulturellen Zusammenhang, indem er ihre „lyrische Farboptik“ mit „Tendenzen der bürgerlichen Dekorationskultur“ in Verbindung bringt.79 Das Jahr der Seele bedarf weiterer Kontextualisierung, intertextueller, intermedialer, formalanalytischer Untersuchungen, um StGs „Erkundung[en] der Möglichkeit am Rand der de´cadence“,80 die Neuheit auch dieser vergleichsweise traditionell erscheinenden Lyrik aufzuzeigen. Den besonderen Charakter eines Großteils der Gedichte macht ihr ,mehrfacher Schriftsinn‘ aus: Sie lassen sich als eine Art später Erlebnisdichtung lesen. In ihnen sind noch Landschaften kenntlich, Räume und Personen sind identifizierbar, biographische Lektüre kann stattfinden, so auch noch im knappen Kommentar G. P. Landmanns in der Ausgabe der Sämtlichen Werke, wenn dieser gegen StGs Lektüreanweisung den Vers „Brachtest du strauss und kranz mit heim“ (IV, 108, Vers 6) mit Ida Coblenz’ vollzogener Hochzeit identifiziert, eine Lesart, die freilich die Entstehungszeit des Gedichts definiert. Zugleich aber lässt sich dieses Herbstgedicht, lassen sich „kranz“ und „strauss“ mit dem Eingangsgedicht in Beziehung setzen, lassen sich Ich und Du auf ein und dieselbe Instanz des Sprechers beziehen, lässt sich das Gedicht „Flammende wälder am bergesgrat“ poetologisch lesen. Auf diese Textdimension der Selbstthematisierung weisen immer wieder Schlüsselwörter wie „lied“, „gesang“, „Muse“, „harfe“, „wort“, „spruch“ etc. hin, gerade auch in den Traurigen Tänzen. Deren alliterierender Titel verweist seltsamerweise auf eine sprachlose Kunstform, auf Bewegungskunst von Rhythmus und Klang, auf eine Kunst des Vollzugs, auch hier ein ungeklärtes ,pas de deux‘ von Ich und Du und Wir:

75 Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin u. a. 2007, S. 613, 610. 76 Ebd., S. 615. 77 Vgl. ebd., S. 617. 78 Ebd., S. 618. 79 Ebd., S. 611. 80 Ebd., S. 609f.

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I. Stefan George und sein Kreis

In der Auseinandersetzung von ,ich und du‘, wie es in der Vorrede heißt […], spiegelt sich die Auseinandersetzung des Autors mit sich selbst, die Auseinandersetzung mit seinen Lesern sowie die Auseinandersetzung mit dem, was ihm an inspiratorischen Kräften geblieben ist.81

Es wäre lohnend, diesen stark betonten Ich-Du-Wir-Konstellationen in den Zyklen nachzugehen, dem Wechsel der Zeiten sowie jenem von Anruf, Aufruf und erzählendem Erinnern. Auch hier bleibt der Forschung einiges zu tun. Noch mehr – geradezu stupend – trifft das auf den Mittelteil des Bandes zu, dessen Gesamttitel Überschriften und Widmungen mit Überschriften ein irritierendes Element aufweist und der mit vier überschriftslosen Gedichten beginnt. Unter dem preziösen Zwischentitel „Verstattet dies Spiel: Eure flüchtig geschnittenen Schatten zum Schmuck für meiner Angedenken Saal“ sind jene zwölf Widmungen versammelt, die durch Initialen eindeutig auf Personen bezogen sind. Ihnen gehen vier Gedichte voraus, welche allein schon dadurch auffallen, dass sie keine Widmungsträger verraten und dass je zwei von ihnen auf einer Buchseite stehen (ab der zweiten Ausgabe), was sonst im ganzen Band nicht vorkommt. Auch sie weisen diese direkte Du-Anrede auf, die den Leser im Kontext der anderen Widmungsgedichte vermuten lässt, dass hier Adressatennamen nachträglich getilgt wurden. Es gibt selbstverständlich Zuschreibungen in der Forschung und Biographik. Wichtiger jedoch wäre eine Untersuchung all jener personenbezogenen Gedichte StGs, die – beginnend mit den Preisgedichten – eine immer größere Rolle in seinem Werk spielen: 1895 sind die Personen noch griechisch maskiert und bis heute nicht sämtlich identifiziert, im Jahr der Seele sind sie durch die Initialen für einen beschränkten Kreis der Bezieher der BfdK kenntlich. In den Liedern von Traum und Tod tragen die Gedichte Überschriften und Namen der Widmungsträger,82 in den späteren Bänden wechseln kurze Gedichte, die entweder mit Initialen oder mit Namen gezeichnet sind. Allein im Stern des Bundes wurden sämtliche Zuschreibungen, die wir zum Teil aus Handschriften kennen, im Druck getilgt. Edith Landmann gegenüber betonte StG 1929 die Differenz zwischen den frühen Preisgedichten und späteren Personengedichten, die er als „ikonische Statuen“ bezeichnete.83 Nicht einmal die Widmungsgedichte im Jahr der Seele sind von einem einheitlichen Typus. So sind die an Ge´rardy und Schuler gerichteten Gedichte im erzählenden Präteritum gehalten, die Wolfskehl und Rassenfosse betreffenden sind nicht nur gereimt, sondern auch zweistrophig gedruckt. Auch Nähe und Distanz differieren. Das Gedicht für Hugo von Hofmannsthal gibt, einmaliger Fall, Einblick in die Entstehung. Die Handschrift belegt StGs akutes, momentanes Eingebundensein. Mit diesem Gedicht nimmt er den Kontakt zu Hofmannsthal nach schwerer Störung und längerem Schweigen wieder auf: Sein Brief von Ende Mai 1897 beginnt, ohne förmliche Anrede: Heut lass uns frieden schliessen · ich vergebe Den tropfen gift in edlem blute – Finder Des flüssig rollenden gesangs […] (G/H, 116) 81 Ebd., S. 609. 82 Z. B. „Dünenhaus. An Albert und Kitty Verwey“ (V, 63), „Blaue Stunde. An Reinhold und Sabine Lepsius“ (V, 62), „Fahrt-Ende. An Richard Perls“ (V, 73). 83 EL, S. 194: „dass sie noch keine ikonischen Statuen sind; die kommen erst später.“

2. Stefan George: Werk – Das Jahr der Seele

155

Als ,Schattenriss‘ verselbstständigt, musste das Gedicht „H. H.“ entzeitlicht werden, es musste anders beginnen: „Erfinder rollenden gesangs […]“ (IV, 75). Diese Personen-Gedichte dienen sicher manchem Zweck, verdanken sich unterschiedlichen Lebens- und Schreibsituationen, sind aber auf jeden Fall eines der zunehmend wichtiger werdenden Mittel der Kreis-Bildung. Braungart betont dies selbstverständlich, ebenso den „selbstthematisierenden, selbstreferentiellen Aspekt“ des Titels Überschriften und Widmungen. Er bietet eine Deutung dieses Titels an: Der Kreis der Freunde wird im Gedicht angesprochen. Die engen persönlichen Beziehungen werden zum poetischen Gegenstand; über sie wird geschrieben, wie die Überschrift ,Überschriften‘ konnotiert. Zugleich werden diese Beziehungen auch überschrieben und, Georges Verhältnis zu Hofmannsthal nicht unähnlich, auf George hin ausgerichtet und verpflichtet. Die Kreisbildung realisiert die soziale Bindekraft, die Rituale überhaupt haben. Das kündigt sich also schon in der Lyrik selbst und noch vor der Jahrhundertwende an.84

Den nicht im gemeinen Sinne zu verstehenden Zyklentitel Überschriften hat Morwitz zu deuten versucht. Er weist den ersten 18 Gedichten des Mittelteils diese Bezeichnung zu: Der Begriff bezeichne „Rückerinnerungen […] an frühere Erlebnisse […], die in einer späteren Erlebnisstufe wieder vor dem inneren Auge des Dichters aufgetaucht und erst in ihr zum Gedicht geformt, als übergeschrieben, nicht überschrieben, sind“ (EM I, 124). In der von StG noch 1933 gelesenen und akzeptierten Fassung war dieser Satz nicht zu finden. Bis heute hat sich nicht eindeutig klären lassen, ob StG 1895 Hölderlins Elegie „Menons Klagen um Diotima“ kannte, an dessen letzten Vers der Titel Das Jahr der Seele anklingt: „Und von neuem ein Jahr unserer Seele beginnt“. G. P. Landmann folgt im Apparat der Sämtlichen Werke Morwitz, der solche Kenntnis bei StG leugnet. Indizien gibt es wenige. In Das Jahrhundert Goethes (1902) nahmen StG und Wolfskehl überraschend viele Gedichte Hölderlins auf, nicht aber die lange Elegie. Erschienen war sie, mit der entscheidenden Änderung von „Liebe“ zu „Seele“ in zwei Teilen im Musenalmanach von 1802/03 von Bernhard Vermehren. Die „erste Fassung“ von 1799 erschien 1896 im ersten Band der von Berthold Litzmann herausgegebenen Ausgabe von Hölderlins gesammelten Dichtungen mit der frühen Lesart. Ungeklärt ist auch, was StG den sprachlich unkorrekten lateinischen Titel „Annum animae“85 nahelegte, sieht man von der Klangfülle ab. Literatur Blasberg, Cornelia, Stefan Georges ,Jahr der Seele‘. Poetik zwischen Schrift und Bild, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 5/1997, S. 217–292. Egyptien, Jürgen, Herbst der Liebe und Winter der Schrift. Über den Zyklus ,Nach der Lese‘ in Stefan Georges ,Das Jahr der Seele‘, in: GJb 1/1996/1997, S. 23–43. Faletti, Heidi E., Die Jahreszeiten des Fin de sie`cle. Eine Studie über Stefan Georges ,Das Jahr der Seele‘, München u. a. 1983.

84 Braungart 1997, S. 223f. 85 Der Titel steht in StGs eingangs zitiertem Brief an Ida Coblenz möglicherweise im Akkusativ, was die Endung „–um“ erklären würde.

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I. Stefan George und sein Kreis

Jacob, Joachim, Das Jahr der Seele, in: Große Werke der Literatur. Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg, Bd. 10, hrsg. v. Hans Vilmar Geppert, Tübingen 2007, S. 59–73. Ute Oelmann

2.5.

Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel (SW V)

2.5.1. Entstehung und Überlieferung StGs Werk der Lebensmitte, das zugleich den Platz in der Mitte seiner sieben Gedichtbände einnimmt, erschien erstmals 1899. Im Anhang zum fünften Band der Sämtlichen Werke ist seine Entstehungsgeschichte ausführlich dargelegt und erläutert.1 Grundsätzlich entspricht die Entstehungsfolge der Gedichte des Teppichs des Lebens der Abfolge, in der sie gedruckt wurden. Der Band besteht aus drei Gedichtzyklen. Den ersten Zyklus, das Vorspiel, hat StG spätestens seit 1895 verfasst, die Gedichte des Mittelteils Der Teppich des Lebens ab 1897 und Die Lieder von Traum und Tod schließlich seit dem Jahr 1898. Daran ist bereits zu erkennen, dass sich der Zeitraum, in dem StG am Teppich arbeitete, mit der Entstehung und Niederschrift der beiden zeitlich benachbarten Gedichtbände Das Jahr der Seele und Der Siebente Ring überschneidet. Als 1897 Das Jahr der Seele erschien, lagen schon Gedichte für den späteren Teppich vor; ebenso existierten bei dessen Veröffentlichung bereits Bestandteile für den 1907 publizierten Siebenten Ring. Besonders intensiv beschäftigte sich StG ab dem Sommer 1898 mit der Arbeit am Teppich des Lebens, den er bis zur Jahresmitte 1899 abzuschließen plante. Bevor dies im Spätherbst gelang, waren bereits 15 Gedichte, die dem Vorspiel entstammten, im September in Albert Verweys Zeitschrift Tweemaandelijksch Tijdschrift erschienen. Auch in den BfdK wurden bereits im November 1897, im September 1899 und zuletzt im Oktober 1899 TeppichGedichte publiziert.2 Eine sehr späte Stufe der Arbeit an diesem Band stellt eine Handschrift dar, die 2003 als Faksimile veröffentlicht wurde.3 Es handelt sich bei dem Manuskript um ein Heft aus acht Doppelblättern, auf deren 32 gefalzten Seiten sich 64 Gedichte befinden, acht weniger als im späteren Druck. Das Querformat ermöglicht es, dass zwei bzw. vier Gedichte nebeneinander Raum finden. Dieses „handgeschriebene buch“, das StGs Arbeit am Band zwischen Mai und Sommer 1899 dokumentiert, sollte ursprünglich als Vorlage für den Erstdruck dienen, wurde dann aber bei der Drucklegung nicht verwendet. Vielmehr nahm StG selbst etliche Änderungen, Korrekturen und Überarbeitungen darin vor, die das Manuskript zu einer intensiv genutzten Ar1 Auf den von Ute Oelmann verfassten Anhang in SW V, S. 88–94, bezieht sich die folgende Darstellung bis einschließlich Abschnitt 2.5.3.1. 2 Vgl. Oelmann, Anhang, in: SW V, S. 92. 3 Vgl. Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel. Faksimile der Handschrift, hrsg. v. Elisabeth Höpker-Herberg, Stuttgart 2003. Vgl. Ernst Osterkamp, Das handgeschriebene Buch. Stefan Georges ,Teppich des Lebens‘ als Faksimile-Ausgabe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 122 v. 30.5.2005, S. 36.

2. Stefan George: Werk – Der Teppich des Lebens

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beitsgrundlage werden ließen. Auf fast jeder Seite der Handschrift finden sich Zeichen, Ziffern, Tilgungen und Zusätze, die von StGs ebenso kalligraphischen wie poetischen Intentionen zeugen. Die Buchstaben der Handschrift entsprechen den für StG typischen unverbundenen Antiquaminuskeln, deren ,e‘ als einzige Ausnahme aus der Unzialschrift übernommen ist. Die Niederschrift erfolgte in schwarzer Tusche, die erkennbaren Überarbeitungen hat StG in blauer, violetter, schwarzer und roter Tinte vorgenommen. Zudem sind viele Bleistiftspuren sichtbar, radierte Stellen und mehrfache Korrekturen. Wie auch in der späteren Buchausgabe besteht jedes Gedicht aus 16 Versen, im Unterschied zu dieser Handschrift beinhaltet der gedruckte Teppich des Lebens jedoch 72 Gedichte. Die Gedichte sind paarweise angeordnet, die Titel der drei Zyklen Vorspiel, Der Teppich des Lebens und Die Lieder von Traum und Tod sowie die Überschriften der Gedichte in roter Tinte als Versalien gestaltet. Angesichts des „handgeschriebenen buchs“ wird deutlich, dass die Abfolge und Symmetrien der Zyklen innerhalb des Bandes bereits im Frühsommer 1899 feststanden. Die Drucklegung war für den 1. August des Jahres 1899 vorgesehen. Zwischen Ende Juni und Mitte August 1899 überließ StG jedoch Melchior Lechter ein Manuskript, bei dem es sich wohl um die einzige lückenlose Handschrift aller 72 Gedichte handelte. Der Erstdruck wurde auf den 1. September verschoben; tatsächlich begann die Drucklegung nicht vor dem 30.10.1899. Die prachtvolle Erstausgabe des Bandes, von Melchior Lechter künstlerisch ausgestaltet, wurde schließlich am 30.11.1899 veröffentlicht und war vorausdatiert auf das Jahr 1900. Es handelte sich um eine kleine Auflage von 300 Exemplaren, die der Berliner Drucker Otto von Holten betreute. Die einzelnen Bände dieser Erstauflage wurden nummeriert, die verwendeten Druckplatten anschließend zerstört. Dieser Entscheidung, gleichsam eine Emphase der technischen Nichtreproduzierbarkeit, entsprach die Gewähltheit des Äußeren. Auf grauem Büttenpapier im Großquart-Format (etwa 35 mal 38 cm) befanden sich jeweils zwei Gedichte auf einer Seite. Die drei Zyklen des Bandes waren von Melchior Lechter ornamental eingerahmt worden. Nach dem Jahr der Seele stellt der Teppich des Lebens einen weiteren Höhepunkt in der Zusammenarbeit StGs mit Lechter dar, die mit dem Siebenten Ring dann ihren Abschluss finden sollte.4 Der größte Teil der ersten Auflage wurde an Freunde und Bekannte im Umkreis der BfdK abgegeben. In den freien Verkauf gelangten nur wenige Exemplare über ausgewählte Buchhandlungen, die zudem einen höheren Preis verlangten als die Subskription von 25 Mark. Die zweite Ausgabe, welche auf den Privatdruck folgte, war dann im öffentlichen Handel zugänglich. Sie erschien 1900 (mit der Jahresangabe 1901) bei Georg Bondi in Berlin und war eine reine Textausgabe ohne Schmuckelemente oder Verzierungen, trug auf der ersten Seite aber eine Zueignung an Melchior Lechter: Da diese allgemeine ausgabe den schmuck der ersten entbehren muss: zu den kostbaren einfassungen die bilder des über wolken thronenden engels der lebensergiessenden blumen und der harfe in der hand der lezten leidenschaft: so sei es mir vergönnt den erlauchten namen vor diese seiten zu schreiben der mit ihnen so eng verbunden ist und der sie auf immer ziere.

Der Teppich des Lebens erlebte bis 1932, als er als fünfter Band in die Gesamt-Ausgabe der Werke aufgenommen wurde, elf Auflagen. Damit erreichte er mit 22.700 4 Vgl. I, 5.6.2.

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I. Stefan George und sein Kreis

verkauften Exemplaren eine ungewöhnlich große Verbreitung. Die Gesamt-Ausgabe kam demgegenüber lediglich auf 5.000 Exemplare. Dem Band der Gesamt-Ausgabe wurde ein 24-seitiger Anhang mit Handschriftenproben aus demselben Manuskript beigegeben, das 2003 als farbiger Faksimiledruck erscheinen sollte. Die aufwendige Gestaltung der Erstausgabe bringt den Teppich des Lebens als das erste Monumentalwerk StGs zur Geltung. Auch im Hinblick auf die Poetologie vollzieht der Band eine markante Wende, die ihm eine besondere Stellung und Bedeutung innerhalb der Entwicklung von StGs Œuvre verschafft. Im Bewusstsein des Vorangegangenen, aber schon angefüllt mit Neuem, entfernen sich die Gedichte von der ästhetizistischen Lebensferne des Frühwerks und nähern sich einem lyrischen Selbstverständnis, das die Fragen nach der Bestimmung, dem Auftrag und dem Ort der Dichtung zulässt. Das Statisch-Ornamentale, die Erstarrung im Kunstfertigen rückt nun in eine Distanz, die Raum schafft für den reflektierenden Selbstbezug von Lyrik. Die dekorativen Muster des Teppichs sind nicht länger ornamentale Verstrickung, sondern verlebendigen sich im magischen Moment einer Dichtung, die sich als Der Teppich des Lebens begreift. 2.5.2. Aufbau und Formales Der Band besteht aus drei Zyklen, dem Vorspiel, dem Teppich des Lebens und den Liedern von Traum und Tod. Jeder der drei Teile beinhaltet 24 Gedichte, die alle vier Strophen mit jeweils vier Versen umfassen. War der zyklische Gedanke von Anfang an konstitutiv für StGs Schaffen, so handelt es sich beim Teppich um die Erfüllung des symbolistischen Formideals. Der exakt durchkomponierte Band zeichnet sich – wie auch später der Siebente Ring, vor allem aber Der Stern des Bundes – durch eine strenge Bauform aus. Als Vorbilder mögen StG dabei die Sonett-Zyklen von Shakespeare oder Rossetti gedient haben. Die paarweise Anordnung der Gedichte ist dabei als Leseanweisung einer zyklischen Architektur zu sehen. Oft stehen die Gedichte in kontrastiver Paarung zueinander oder folgen dem Prinzip der Steigerung und der fortschreitenden bzw. aufgehobenen Negation. Die Texte, die sich am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines Teils befinden, tragen meist besonders prominent dazu bei, auf die zyklischen Abhängigkeiten innerhalb des Gesamtkorpus hinzuweisen. Das Einzelne wird ebenso wirksam für das Ganze, wie der Zyklus selbst auf seine einzelnen Bestandteile zurückwirkt. Das Schlussgedicht des Vorspiels steht so zum Beispiel in enger Verbindung mit dem letzten Gedicht der Lieder von Traum und Tod und knüpft die Motive von Leben und Tod auf diese Weise ähnlich programmatisch aneinander, wie die beiden Teile, denen sie angehören, um ihr gemeinsames Zentrum, den Teppich des Lebens, kreisen. Der emphatische Neubeginn des Lebens durch den Auftritt des Engels flicht sich in das Muster des Textes ebenso ein wie die poetologischen Gedichte ihre exponierte Stellung in diesem Gewebe finden: Anfang und Ende des mittleren Teppichs bilden mit dem „Teppich“- und dem „Schleier“-Gedicht einen Rahmen, der die Rahmung der beiden Teile rings um den zentralen Teppich ins Innere des Zyklus buchstäblich aufnimmt und reflektiert. Das Vorspiel ist gekennzeichnet durch einen dialogischen Charakter, der den Gedichten einen fast dramatischen Charakter verleiht. Die Begegnungen des lyrischen

2. Stefan George: Werk – Der Teppich des Lebens

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Ichs mit dem Engel werden wiederholt in Gesprächssituationen dargestellt, die das begleitende Nebeneinander von Dichter und Engel wie ein Selbstgespräch über die Bestimmung der Dichtkunst erscheinen lassen. Von der Initiationsszene des ersten Gedichts, gleichzeitig eine Berufung zum Eintritt in das dichterische Leben wie zum Betreten des lyrischen Textes, setzt sich die aktivierende, animierende Belebung dieses Inspirationstopos fort über eine parabelartige Anordnung von Motiven. Anfang und Ende des gemeinsamen Weges, Aufbruch und Ankunft, sonnenbeglänzte Gärten sowie sternenhelle Himmel verbinden sich im Kreislauf des Vorspiels zu einer Apotheose des poetischen Lebens. Von der Initiation bis zum Abschied reicht die Spanne; ins Leben gerufen zu werden, heißt im Zyklus der Dichtkunst zugleich, der Sterblichkeit anheimzufallen. Der Mittelteil Der Teppich des Lebens ist nun eher von narrativer Gestalt. Die 24 Gedichte des Mittelteils vollziehen in performativer Weise die künstlerischen Vorgaben, auf welche das Vorspiel vorbereitete. Sie aktualisieren eine dichterische Praxis, deren poetologischer Gehalt wiederum mit den rahmenden Teilen des Zyklus korrespondiert. Die Lieder von Traum und Tod nehmen schließlich in ihrem sehr persönlichen Stil den Standpunkt des genuin lyrischen Sprechens ein. Ihre kontemplative Haltung, die betrachtende, mitunter panoramatische Sicht prädestiniert sie auch dazu, sich als Widmungsgedichte einem konkreten Gegenüber zuzuwenden. Die erste Hälfte der Lieder ist namentlich genannten Personen aus StGs Umfeld zugeeignet. Die Gedichte des Bandes sind formal äußerst konsequent gestaltet. Alle 72 Gedichte bestehen aus vier Strophen mit jeweils vier Versen. Die Verslängen variieren dabei etwas, der fünfhebige Jambus wird aber nur selten verlassen. Quantitativ herrscht der Kreuzreim vor, der umarmende Reim wird etwas weniger verwendet. Der Paarreim beschränkt sich auf sehr wenige Gedichte. Im Mittelteil, Der Teppich des Lebens, befinden sich drei ungereimte Gedichte: „Der Erkorene“, „Der Verworfene“ und „Standbilder · Die beiden Ersten“. Unter den Liedern von Traum und Tod sind sieben Gedichte reimlos.5 Insgesamt verfügt der Band über eine strenge, uniforme Architektur, die mit einer gewissen Gleichförmigkeit in Metrum und Kadenz einhergeht. Der so vor allem im ersten Zyklus entstehende Eindruck eines liturgischen Konzepts mit gebetbuchartiger Anmutung täuscht aber nicht über seinen rhetorischen Aufbau hinweg, der mitunter dem Ablauf einer Rede folgt – oft antithetisch, stufenweise fortschreitend. Die straffe Durchformung und das vorherrschende Gleichmaß sorgen für eine distanzierte, gewählte Betrachterposition, die Zustände der Entrückung und Rauschhaftigkeit den Liedern von Traum und Tod vorbehält. 2.5.3.

Rezeption und Deutung

2.5.3.1. Kreisinterne Rezeption Die Resonanz auf den Erstdruck des Bandes war im Umfeld StGs geradezu euphorisch. Nicht zuletzt deshalb, weil StG selbst in höchster Begeisterung von einem „denkmal“ sprach, das aus buchkünstlerischer Sicht eine verlegerische Herausfor5 „Dünenhaus“ (V, 63), „Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang I, II, III“ (V, 64–66), „JuliSchwermut“ (V, 67), „Lachende Herzen . .“ (V, 77), „Nacht-Gesang I“ (V, 82).

160

I. Stefan George und sein Kreis

derung darstelle.6 Karl Wolfskehl schrieb dann auch tatsächlich, „jeder Besitzer sollte verpflichtet sein auf einem Singe- und Schaupult wie des Koranes oder der Missalen mittlerer Zeiten es für alle Zeit an Ketten geschlossen liegen zu haben und feierlich nur hin und wieder eine Seite wenden.“7 Paul Ge´rardy lobte das „superbe livre qui a jete´ tout un soleil de joie dans ma banale vie d’ affaires.“8 Und Albert Verwey bedankte sich „für das schöne und monumentale Buch“, aus dem ihm eine „neue gänzlich ursprüngliche Persönlichkeit“ entgegentrete.9 Die Qualität und Bedeutung der Gedichte des Zyklus wurde mehrfach von Hugo von Hofmannsthal hervorgehoben. 1902 schrieb er, dass er angesichts der Verse, „ich glaube es fest, so sonderbar es klingt – die Fähigkeit, selbst kurze Gedichte zu machen, verloren habe.“10 Und Hofmannsthal teilte StG freudig mit, Rudolf Kassner davon überzeugt zu haben, „daß nun für ihn Ihr Rang, sei es neben sei es über den von ihm so tief geliebten englischen Dichtern, für immer feststeht.“11 Sowohl Friedrich Gundolf als auch Ernst Morwitz haben den Teppich des Lebens in ihren kommentierenden Monographien eingehend gewürdigt.12 Bemerkenswert am Teppich-Kapitel von Morwitz’ Kommentar ist dabei, dass er die Zusammenarbeit StGs mit Melchior Lechter bereits aus einer deutlichen Distanz schildert. StGs spätere Abkehr vom prunkvollen Schmuck der Buchgestaltung ist auf diese Weise zeitlich vorverlegt (EM I, 157). Inhaltlich nennt Morwitz das Werk einen auf dem Fundament des ,Jahrs der Seele‘ in gleicher Weise aufgeführte[n] Bau, wie der ,Stern des Bundes‘ über der Grundlage des ,Siebenten Ringes‘ in einer späteren Erlebnisstufe steht. Beide Bände enthalten eine Erweiterung und Sublimierung der durch persönliches Erleben gewonnenen Erfahrungen und zeigen, das gleiche Ziel auf verschiedenen Ebenen verfolgend, besondere Regelmässigkeit und Einfachheit in der Gesamtanlage und in den Einzelteilen, für deren Strenge die ,Divina Commedia‘, die gleichfalls als eine Lebenslehre für Dantes Zeitalter gedacht war, das Vorbild gewesen sein mag. (EM I, 157)

Die ,Lebenslehre‘, die Morwitz aus dem Teppich des Lebens ableitet, verbindet er in seinen Erläuterungen konsequent mit der Biographie StGs. Sein Kommentar des Vorspiels greift sogar noch etliche Jahre weiter in die Zukunft nach dem Werk, wenn er im Schlussgedicht des Vorspiels StGs Ahnung des eigenen Todes erblickt: In solche Gedanken versponnen, hat der Dichter seinen Freunden durch einen Abschiedswink zu erkennen gegeben, dass er allein bleiben wollte, als er Ehrungen durch die damaligen Machthaber ablehnend in freiwilligem Exil in der Schweiz, voll Trauer über den Abfall einzelner und über das Schicksal aller Deutschen, während der Nacht vom dritten zum vierten Dezember 1933 in Locarno starb. (EM I, 176)

Den mittleren Zyklus Der Teppich des Lebens sieht Morwitz dagegen in einer Emphase des poetischen Kunstwerks schließen: 6 Zit. nach Oelmann, Anhang, in: SW V, S. 88f. 7 Ebd., S. 89. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 90. 11 Ebd. 12 Vgl. Gundolf, George, S. 157–198; Morwitz, Dichtung, S. 70–84; EM I, S. 157–214.

2. Stefan George: Werk – Der Teppich des Lebens

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Der ,Teppich des Lebens‘ im engeren Sinne endet mit der Feststellung, dass das Kunstwerk dem Sehnen der Seele die Richtung und die Färbung verleiht. Schloss das ,Vorspiel‘ mit dem Tod des Künstlers, so endet das zweite Buch des Bandes mit der lebenerhaltenden und lebendigen, ewigen und verewigenden Wirkung des Werkes des Künstlers. (EM I, 197)

Die Lieder von Traum und Tod bringen Morwitz zufolge „Reste, Rückstände von Erlebnissen und Einsichten dieser Lebensstufe des Dichters, die bisher nicht ins Werk gebannt waren, in mehr sanghafte Form aufgelöst, zum Ausdruck“ (EM I, 197). Friedrich Wolters argumentiert dagegen in seinen Ausführungen über das Werk13 weniger biographisch, sondern spricht raunend von den grundsätzlichen Urmächten des Lebens, denen sich der Band widme und denen er zugleich entstamme: Wenn das Vorspiel schon ein Verblassen der südlichen Wunder und die Einkehr in die Heimat preist, so ist ,Der Teppich des Lebens‘ ganz aus den erdhaften geschichtlichen und geistigen Stoffen unseres Volkes gewirkt. Aber nicht die tagflüchtige Zeitform unseres Volkes erscheint in ihm sondern sein urtümliches Sein, wie es in der Seele des Dichters am reinsten lebte. (FW, 203)

Das Exemplarische an Urtümlichem, das sich in diesem Gedichtband offenbare, fächert sich Wolters zufolge in den drei einzelnen Zyklen gleichsam auf wie ein chthonisches Schicksal maskulinen Menschseins: In dieser Dreiheit klingt die Weise des männlichen Lebens in ihrer tragischen Grundform auf: zuerst aufstrebend und leidenschaftlich, handelnd und lehrend trotz des Wissens um Vergängnis, Einsamkeit und Ende, dann gelassen und stetig, leuchtend und bildend bei offenem Blick in die Scheine und Schleier der Dinge, zuletzt schwingend traumhaft-schwebend, farbig-sinkend mit inniger Bejahung von Ruhm und Lust wie von Qual und Tod. (FW, 208)

Ludwig Klages fand hingegen keinen Gefallen an dem Werk und sah es als rückschrittlich an.14 Kurt Hildebrandt widmet dem Band ein langes Kapitel in seiner Werkbetrachtung15 und konstatiert darin denjenigen Wandel in StGs Werk, der zum maßgeblichen Topos in der Forschung zum Teppich des Lebens avancierte – dass dieser nämlich eine werkbiographische Wende markiere, die StG wegführte von den Vorbildern des französischen Symbolismus: Anfangs schien die Bewegung der Geistigen Kunst der französischen, der l’art pour l’art verwandt, nun aber offenbarte sich ein anderes Wesen. Das war kein innerer Widerspruch. Seine Bewegung sollte nicht der reinen Lyrik dienen, sondern der geistigen Kunst überhaupt, der hohen schöpferischen Form des Lebens. (KHW, 137)

Der Mythos, den StG zu diesem Zwecke aufrufe, sei in diesem Band ausgestaltet und mit Denkmälern zu dessen eigener Feier versehen, denn

13 Vgl. FW, S. 195–209. 14 Vgl. David, George, S. 174. 15 Vgl. KHW, S. 136–195.

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I. Stefan George und sein Kreis

George hat in mythenloser, gottferner Zeit weder den antiken noch den gotischen Mythos nachgeahmt: er hat aus eigenem Erleben […] den Mythos des Engels gestaltet, aber zugleich musste er den Raum schaffen, den Tempel erbauen, in dem der Dichterisch-Empfängliche das Mysterium mitfühlen konnte. […] Mythos ist nicht mehr bloße historische, prähistorische Tatsache, sondern eine wieder verjüngungsfähige Urkraft des Menschen. (KHW, 185)

Georg Peter Landmann wiederum, der den Teppich des Lebens in seinen Vorträgen über Stefan George ebenfalls erwähnt,16 empfindet den Band „wie ein Innehalten im Weg vor den bevorstehenden neuen Durchbrüchen“17 und sieht im Gespräch mit dem Engel die große Einsamkeit des modernen Individuums: „So war es früher die Muse, wird es später sein junger Gott sein. Und doch war George modern und reflektiert genug, um zu wissen, dass dieser Engel nur zu ihm selbst und keinem andern sprach, er konnte und wollte ihn nicht künden.“18 Landmann betont abseits aller religiös anmutenden Allusionen die vollkommene Vereinzelung des Dichters: „Der Mensch, der einzelne Mensch sei das Maass aller Dinge; es ist auch, wenn ich von diesen Dingen genug verstehe, der Ansatz des modernen Existenzialismus.“19 2.5.3.2. Forschung Paul Gerhard Klussmann gewährt dem Teppich des Lebens vergleichsweise wenig Raum in seinem George-Buch von 1961.20 Er bezieht sich insbesondere auf das Vorspiel und betont hierbei die innerweltliche Herkunft des Engels. Weder sieht er eine transzendente Ebene hereinbrechen, noch befindet sich der Engel für ihn überhaupt außerhalb des Dichters: „Dichter und Engel sind ein- und dieselbe Person. Abgelöst vom Dichter und seinem Wort hat der Engel keine reale Existenz. Er ist Symbol für das schöpferische Zentrum und die eigne Art.“21 Auf diese Weise sei die Begegnung mit dem Engel der Entwurf einer eigenen Dichterexistenz, das Vertrauen zum Begleiter ein neu gewonnenes Zutrauen in die eigenen schöpferischen Fähigkeiten.22 Klussmann erblickt im hier angelegten Streben nach dem allmächtigen Wort und der Allmacht desjenigen, der es spricht, eine Nähe zu Nietzsches „Willen zur Macht“, dessen Zugriff nichts ohne Fügung und Biegung entkommen solle.23 Und so „stellt der dichterische Entwurf des Engels einen der vermessensten Versuche des Menschen dar, sein Ich zur Mitte der Welt zu machen.“24 Claude David verweist in seiner Interpretation 1952 (dt. Übers. 1967) auf die zahlreichen Anleihen, die der Text des Vorspiels bei der Bibel macht, vor allem hin-

16 Vgl. Landmann, Vorträge, S. 111–132. 17 Ebd., S. 111. 18 Ebd., S. 114. 19 Ebd., S. 115. 20 Vgl. Paul Gerhard Klussmann, Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und des Dichters in der Moderne, Bonn 1961, S. 119–124. 21 Ebd., S. 121. 22 Vgl. ebd., S. 122. 23 Ebd., S. 123. 24 Ebd.

2. Stefan George: Werk – Der Teppich des Lebens

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sichtlich von Begebenheiten aus dem Leben Jesu.25 Dabei legt er Wert auf die Feststellung, dass „George von einer religiösen Haltung zu keiner Zeit weiter entfernt war als gerade jetzt. Der ,Teppich des Lebens‘ ist das Buch der Klarheit, für das Mysterium ist in ihm kein Platz.“26 Ganz im Gegensatz zu Hildebrandt, der einen neuen Mythenkult heraufziehen sah, verankert David das Reich des Engels innerhalb des Diesseits. Und er spricht dem Geschehen zudem jede epiphanische Würde ab: „Der Engel existiert nicht; er ist nur ein Symbol, besitzt keine greifbare Gegenwart.“27 So wird die Erscheinung und Anwesenheit des Engels für David zu einem Gespräch der Seelenteile, die sich losgelöst voneinander erstmals wieder begegnen. Den Austausch mit dem Engel deutet er als Selbstgespräch innerhalb der Gedichte. Die Begleitung des Engels verheiße Beistand und Ratschluss, erfordere aber auch eine völlige Hingabe an die Berufung des Dichters. Einzukehren in das Haus des Engels, jenes Seelenteils also, der für „das Wollen, die Pläne, das Selbstvertrauen“28 verantwortlich zeichne, bedeute daher zugleich einen Eintritt in das Haus der Dichtung. Da der Engel in Davids Lektüre kein echtes Gegenüber darstellt, sind dies Erfahrungen der Einsamkeit: „Die Einsamkeit des ,Jahrs der Seele‘ ist nicht verschwunden, nur die Bitterkeit, die mit ihr einherging. Sie wird jetzt zur Lebensbedingung der Starken erhoben.“29 Es zeigt sich ein „radikaler Solipsismus“, der den Anstrich erlauchter Berufung erhält: „Der ,Teppich des Lebens‘ ist das Buch des Stolzes: Aus dem Elend macht er eine Kraft, aus der Verlassenheit ein Schicksal, aus der Unmöglichkeit der Liebe das Zeichen eines Auserwähltseins.“30 Anstelle eines neuen Mysteriums sieht Claude David den Engel daher mit einem „Ausdruck des Humanismus“31 auftreten, weltimmanent, seelenintern. Seine Botschaft sei das Versprechen einer neuen Dichtung, in der jedes Muster seinen Platz im Webgeflecht des Lebens hat. „Aber die Erfolge von einst garantieren die von morgen. Das einzige Gesetz heute lautet: Den Schatz der Vergangenheit unversehrt bewahren. Der Dichter will nur Hüter und Fortsetzer einer Tradition sein.“32 Der mittlere Zyklus stellt David zufolge das Gleichgewicht zwischen den beiden Extremen dar, einerseits Enthaltung und Weltflucht, andererseits Unbeugsamkeit und Tatendrang. In diesem einmaligen Augenblick in der Schwebe ist Platz für die Weisheit, die einzige Geisteshaltung, die weltoffen genug ist, um die Gegensätze miteinander zu versöhnen, frei genug, um die Verschiedenheit der Lebensformen zuzugeben.33

Diese weise Versöhnung einer auseinanderstrebenden Antithetik von solipsistischer Seelenpein und naturwüchsiger Berufung ist für Claude David die große Leistung des Buchs. Er nennt den Band am Ende seiner Ausführungen sogar „eine kurze Zeitspanne des Klassizismus“34 im Werk StGs. 25 Vgl. David, George, zum Teppich S. 163–200, Teilkapitel „Interpretation“: S. 188–200, hier: 188. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 189. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 190. 31 Ebd., S. 191. 32 Ebd., S. 193. 33 Ebd., S. 195. 34 Ebd., S. 200.

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I. Stefan George und sein Kreis

1968 befasst sich Eckhard Heftrich in seinem Buch Stefan George innerhalb des Kapitels „Gott und Stern“ ebenfalls mit dem Teppich des Lebens.35 Im Eingangsgedicht zum Vorspiel sieht er einen eklatanten Bruch zwischen dem „Besten, was George bis zu dieser Zeit geschrieben hat“36 (die erste Strophe), und dem Stil bloßer „dekorativer Erzählung“37 in den folgenden Strophen. Indem er eine Reihe von Einzelversen des Teppichs Versen aus dem Stern des Bundes gegenüberstellt, postuliert Heftrich ein Zitationsverhältnis innerhalb der beiden Werke, als deren gelungeneres er von Beginn an den Stern des Bundes bezeichnet.38 Letztlich zielt Heftrichs Argumentation auf eine intertextuelle Dreierfigur von Engel (im Teppich des Lebens), Maximin (im Siebenten Ring) und einem namenlosen Gott im Stern des Bundes, die er als Metamorphose ein und derselben Figur zu beschreiben sucht.39 Jan Aler legt 1976 in seinem Buch Symbol und Verkündung. Studien um Stefan George eine vergleichsweise geschlossene Interpretation des Bandes vor. Das Kapitel „Kunst der Komposition“ ist ganz dem Teppich des Lebens gewidmet. Dabei liegt Alers Augenmerk auf den wechselseitigen Abhängigkeiten der Gedichte im Verhältnis zum jeweiligen Zyklus des Bandes. Exemplarisch zeigt er anhand des Gedichts „Der Schleier“, inwiefern die programmatischen Symmetrien in Wechselwirkung mit dem einzelnen Gedicht stehen. Dabei gelingt es ihm, die Bezugnahmen bis hin zur Aussage auf der Versebene zu applizieren: Die künstlerische Gestalt des Textes bestätigt und verdeutlicht auf diese Weise den Gehalt seiner eigenen Aussage, indem er das darstellt, wovon er spricht. Was das Gedicht meint, versinnlicht es auch. Georges Gedicht vom Schleier ist ein Schleier. In optima forma ist es Symbol.40

Die internen Beziehungen, die Aler weiterhin feststellt, sind Figuren der Entsprechung, der kontrastiven Antwort und der geschlossenen Kreisbildung: Das bedeutet nicht nur, daß ,Teppich‘ und ,Schleier‘ in ihrem symbolischen Hinweis sich ergänzen und verstärken, sondern auch, daß in der fortschreitenden Interpretation sich das Baugesetz der Sammlung bestätigt: die mittlere Abteilung kreist in sich, bildet einen ähnlichen Zyklus – im Zyklus – wie die beiden anderen Abteilungen.41

Indem Aler StGs Goethe-Anspielung auf dessen „Zueignung“ mit hineinnimmt in seine poetologischen Parabeln von Ergänzung und Ersetzung, offenbart er die Durchlässigkeit dieses Wechselspiels für die Einflüsse von außen. Aler weist darauf hin, dass es sich um synthetisierende Verfahren im Band handelt, die auch Unterschiedlichkeiten versöhnen, welche für sich genommen widerstrebend sein müssten (sein Beispiel ist die Goethe- und gleichzeitige Jean Paul-Verehrung).42 Auf diese Weise erhellen sich beide Seiten, das partikulare Einzelgedicht und die strenge Ordnung der Zyklusgestaltung, wechselseitig, und stellen gemeinsam mehr dar als die Summe ihrer Teile glauben machen könnte: 35 Vgl. Heftrich, George, S. 77–85. 36 Ebd., S. 77. 37 Ebd., S. 78. 38 Vgl. ebd., S. 77. 39 Vgl. ebd., S. 85. 40 Aler, Symbol, S. 225. 41 Ebd. 42 Vgl. ebd., S. 233.

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Eine Analyse, die gleichsam zwischen dem einzelnen und dem Ganzen hin und her pendelt und dabei sowohl von außen nach innen wie von innen nach außen ihren Weg sucht, erlaubt es, den hohen künstlerischen Rang eines solchen Werkes unter diesem Gesichtspunkt darzutun.43

Werner Kraft entwickelt in seinem Buch Stefan George (1980) eine isolierte Einzelinterpretation des Gedichts „Morgenschauer“ aus den Liedern von Traum und Tod.44 Kraft begibt sich darin in eine Art Gespräch mit bestehenden Deutungen dieses Gedichts, wobei er die Diskrepanz der Verse fokussiert, die zwischen der angestrengt thematisierten Kunst ihrer Verfertigung („nieten“) und ihrer vorgeblichen Leichtigkeit herrscht („schwer und frei“).45 Als Gegenbeispiel nennt er „Blaue Stunde“, in dem die Schönheit der Verse auch in ihre Klanglichkeit gefunden habe.46 Wolfgang Braungart hebt 1997 hervor, dass der Band „in seiner ganzen Präsentation ein heiliges Buch sein“ wolle.47 Die poetologischen Implikationen der Gedichte sind Braungart zufolge nicht denkbar ohne deren rituelle Strenge und die konsequente Zyklusgestaltung: „So wird ein religiöser Textraum geschaffen.“48 Braungart versteht das Auftreten des Engels und die Intention des gesamten Bandes als eine Antwort auf die poetologische Frage Algabals in der ästhetizistisch-sterilen Unterwelt: Wie zeug ich dich aber im heiligtume – So fragt ich wenn ich es sinnend durchmass In kühnen gespinsten der sorge vergass – Dunkle grosse schwarze blume? (II, 63)

An die Stelle der ersehnten, selbst hervorzubringenden Blume tritt nun die Teilhabe an einem höheren Gebot: „Nun tu ich alles was der engel will“ (V, 12). Obschon StG selbst zur biographistischen Auslegung der Gedichte einlade (was auch die kreisinterne Rezeption veranschaulicht), verrate die anspielungsreiche Ausgestaltung der Verse deutlich, was sie aussagen möchten, nämlich das „Konzept einer konsequent selbstthematischen und selbstbezüglichen, feierlichen Poesie“.49 Braungart weist dabei auf die „Metapher des Schlingens und Webens“50 hin und führt zugleich GoetheZitate als Beleg für die Bekanntheit dieses metaphorischen Feldes an. Bei StG sieht er nun eine Doppelung von poetologischer Metapher und kunsthandwerklicher Allusion, die die textile Materialität des Werkes betont: Zum einen impliziert ,Teppich‘ ,Gewebe‘ und ,Textur‘ und bietet sich damit als Metapher für den ,Text‘ an, für dessen innere Vernetzungen und Verbindungen. Zum anderen verweist ,Teppich‘ auch auf die handwerkliche, sorgfältige Machart und auf die ornamentale Ästhetik des Textes.51

43 Ebd., S. 234. 44 Vgl. Werner Kraft, Stefan George, München 1980, S. 239–245. 45 Ebd., S. 241. 46 Vgl. ebd., S. 243. 47 Braungart 1997, S. 278–287, hier: 279. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 281. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 282.

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I. Stefan George und sein Kreis

In seiner Interpretation des Gedichts „Der Teppich“ hebt Braungart sodann auch die „Ornamentalisierung des Organischen“52 ebenso hervor wie die Verlebendigung des Gebildes in der Abendstunde. Dabei ruft er erstmals für diesen Zusammenhang Hofmannsthals „Ballade des äußeren Lebens“ (1895) ins Gedächtnis, um ein intertextuelles Zitationsverhältnis in Form einer ,Antwort‘ auf Hofmannsthals Gedicht aufzuzeigen.53 Das Rätsel des Lebens, offengelegt in seiner lebendigen Feierstunde und festgezurrt im Muster des Gewebes zugleich: „Die Verlebendigung des Ornaments, das dennoch in den Teppich geknüpft bleibt: dieses Paradoxon faßt auch die Paradoxien von Georges Ästhetik des Rituals.“54 Die „lösung“, von der das Gedicht spricht,55 besteht Braungart zufolge darin, dass „die Textur erkannt und transparent wird und sich die verschiedenen Schichten voneinander abheben.“56 Hier sieht Braungart die Verbindung von ornamentaler Textualität und Ritual: „Die Form belebt sich und wirkt so ins Leben hinein.“57 Braungart weist darauf hin, dass das abschließende Gedicht im Teppich des Lebens die textile Metapher abermals aufnimmt. „Der Schleier“ variiert die poetologische Idee vom Gewebe des Textes um das beinahe schwerelose Schweben eines fein gewirkten Stoffes. „Die Semantik dieser Text-Metapher ist aber eine andere: aus dem schweren Teppich wird der leichte Schleier, der verhüllt und doch zeigt, der sich im Winde bewegt und nicht fixiert.“58 Braungart sieht in dieser selbstreferenziellen Relativierung des Motivs einen zweifelnden Zug, ob der rituelle Kontext, der sich mit dem Gewebe des Textes verbindet, ausreichend strapazierfähig sein werde. Robert E. Norton widmet dem Band ein eigenes Kapitel in seinem 2002 publizierten Buch Secret Germany: Stefan George and his Circle. Er betont ganz anders als Claude David den jugendstilhaften, religiösen Aspekt des Engels im Vorspiel: „The rather generic nature of the angel corresponds to the equally general aura of religiosity that suffuses the language and images of the first section of the book.“59 Der Engel stellt für Norton die Verbindung her zwischen dem „conventional imaginary repertoire of Christian motifs and George’s own more idiosyncratic vision“60 und exemplifiziert die in den BfdK angelegte Verehrung des klassischen Griechenlands: „Hellas ewig unsre liebe“ (V, 16). Aus dem Teppich des Lebens hebt Norton das Gedicht „Der Täter“ hervor und bemerkt darin ein diabolisches Kalkül, das ihn verstöre: What is disturbing here is that, whereas such a violent act of passion or rage may be comprehensible, if not excusable, the ,perpetrator‘ in the poem is obviously not at the mercy of some uncontrollable emotion. He is, instead, coldly calculating, plotting a vicious deed as if he were planning a Sunday outing.61 52 Ebd., S. 284. 53 Vgl. ebd., S. 285. 54 Ebd. 55 Die dritte Strophe des Gedichts lautet: „Da regen schauernd sich die toten äste / Die wesen eng von strich und kreis umspannet / Und treten klar vor die geknüpften quäste / Die lösung bringend über die ihr sannet!“ (V, 36) 56 Braungart 1997, S. 286. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 287. 59 Norton, Secret Germany, S. 232. 60 Ebd., S. 233. 61 Ebd., S. 237.

2. Stefan George: Werk – Der Teppich des Lebens

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Norton geht nicht darauf ein, dass eben dieses Gedicht wiederholt mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 in Verbindung gebracht wurde und heute in keiner StauffenbergBiographie mehr fehlt. Bezüglich der Lieder von Traum und Tod stellt Norton fest, dass das Verfahren StGs, den Freunden einzelne Gedichte zuzueignen, zwischen einer ehrenvollen Widmung an die Lebenden und einer mortifizierenden Epitaphenkunst changiere: „George may have wanted the verses concluding ,The Tapestry of Life‘ to stand as lasting monuments to his friends, but for him to do so in this way was equivalent to burying them alive.“62 Armin Schäfer interpretiert unter dem Gesichtspunkt „Der Wille zur Form“ ebenfalls das Gedicht „Der Täter“.63 Er hebt den dezisionistischen Charakter der Verse hervor, die weder Motive noch Handlungen aufwiesen: Einzig die Versicherung durch den Titel, daß jenes Ich tatsächlich ein Täter sei, rückt das Szenario schon in den Rang einer Tat: Nicht die Tat mache den Täter, sondern dessen Entschiedenheit. Die Entscheidung substituiert die Tat selbst, welche der weiteren Darstellung nicht mehr bedarf.64

Aus dieser Art der Ankündigung ohne zwingende Handlungsabfolge leitet Schäfer eine Nähe zum Apokalyptiker ab, die ihn eine Verbindung zum Gedicht „Der Widerchrist“ (VI/VII, 56–57) aus dem Siebenten Ring herstellen lässt.65 Thomas Karlauf bespricht den Band unter der Kapitelüberschrift „Das schöne Leben“.66 Darin vergleicht er die Gespräche mit dem Engel mit einer „psychotherapeutischen Sitzung“.67 Im Vorspiel selbst ist Karlauf zufolge „viel von Verführungen die Rede“, StGs stete Lockungen seiner homoerotischen Neigung seien daran maßgeblich beteiligt gewesen.68 Karlauf sieht im Vorspiel den Versuch einer neuen Vereinbarkeit von drohender Liebesglut und sublimierender Kunst: „Die Erotik soll entdämonisiert, die Kunst versinnlicht werden. Der solchermaßen vergeistigte Eros wird zum ästhetischen Ideal, die Kunst selbst als höchste Steigerung des Eros begriffen.“69 Die Aussage des Bandes, den er als „Werk des Übergangs“ verstanden wissen möchte, deute „weit voraus ins Zentrum des Georgeschen Mythos.“70 Christian Oestersandforts Aufsatz Platonisches im ,Teppich des Lebens‘ legt platonische Motive im Teppich offen und gibt Hinweise auf eine intensive Platon-Rezeption für einen Zeitraum lange bevor Heinrich Friedemanns Platon-Buch 1914 publiziert wurde. Die Figur des Engels samt seiner Botschaft vom schönen Leben ist hierbei mythopoetisch vorgezeichnet, seine Aktivitäten lassen sich als Phaidros-Zitate lesen.71 Viele der poetologischen Ideen aus dem Teppich sind im platonischen Dialog enthalten, sodass der Ausruf „Hellas ewig unsre liebe“ seine konkreten Niederschläge gefunden zu haben scheint. 62 Ebd., S. 238. 63 Vgl. Armin Schäfer, Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, Köln u. a. 2005, S. 243–253, hier: 247–253. 64 Ebd., S. 249. 65 Vgl. ebd., S. 250. 66 Karlauf 2007, S. 253–284. 67 Ebd., S. 258. 68 Ebd., S. 269. 69 Ebd., S. 271. 70 Ebd., S. 268. 71 Vgl. Oestersandfort, Platonisches, S. 106.

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I. Stefan George und sein Kreis

2.5.3.3. Deutungsansatz Die Anordnung der Gedichte in drei quantitativ symmetrische Teile hat zur Folge, dass sich jeder der Abschnitte selbst als zyklisch begreifen lässt. Die Gesetzmäßigkeiten des strengen Aufbaus wiederholen und spiegeln sich in den einzelnen Bestandteilen, deren Zusammenhänge wiederum auf den Zyklus zurückwirken. Dies gilt gleichermaßen für formale Bestimmungen wie für die Motive der lyrischen Texte. So ist das Vorspiel geprägt von einer konsequenten Abfolge titelloser Gedichte, die durch die einheitliche Präsenz des Engels verbunden sind. Der Eintritt des Engels in die Schreibstube des Dichters eröffnet die 24 Gedichte dieses ersten Teils: Ich forschte bleichen eifers nach dem horte Nach strofen drinnen tiefste kümmerniss Und dinge rollten dumpf und ungewiss – Da trat ein nackter engel durch die pforte: Entgegen trug er dem versenkten sinn Der reichsten blumen last und nicht geringer Als mandelblüten waren seine finger Und rosen · rosen waren um sein kinn. Auf seinem haupte keine krone ragte Und seine stimme fast der meinen glich: Das schöne leben sendet mich an dich Als boten: während er dies lächelnd sagte Entfielen ihm die lilien und mimosen – Und als ich sie zu heben mich gebückt Da kniet auch er · ich badete beglückt Mein ganzes antlitz in den frischen rosen. (V, 10)

Als der Engel über die Schwelle tritt, befindet sich das lyrische Ich in der melancholischen Versenkung seiner Verse, fahl von der Bürde der Gedanken, in weiter Ferne von dem topischen Garten der Dichtung („horte“). Das Versprechen, mit dem sich nun der Bote nähert, trägt dieser bereits um seinen Körper. Nackt wie das Leben selbst, umflort von üppigen Metaphern für die Dichtkunst, den flores poeticae, wendet sich dieses unverhoffte Gegenüber an den Bekümmerten. Dabei ist es unerheblich, ob das sich entwickelnde Gespräch eines der Selbstanrede ist, gar eine Situation pygmalionischer Prosopopoiie. Denn die Botschaft, die der Engel weniger überbringt als selbst darstellt, ist die des ,schönen Lebens‘. Was auch immer zeitgenössisch-jugendstilhaft unter ,schönem Leben‘ zu verstehen sein mag, es nähert sich in der Zuwendung einer zärtlichen Geste. Es spricht sich dem trübsinnigen Dichter zu, er wird erhört und darf selbst lauschen. Dabei ist die Stimme keine fremde, sondern vertraut bis zur Verwechselbarkeit mit der eigenen, „seine stimme fast der meinen glich“. Der Ausgang aus seiner dunklen Ungewissheit und seinem Unglücklichsein ist für den Dichter eine Inspirationsszene der poetischen Blumenübergabe. Verbunden mit der sinnlichen Anschauung einer gemeinsam knienden Blütenlese verquicken sich hier Verkündigungsgeschehen und Taufritual. Die Einladung, einzutauchen in die „frischen rosen“, eröffnet die Aussicht auf ein neues dichterisches Selbstverständnis und bietet vor allem die Gewissheit, nicht allein zu bleiben. Indem jede Taufe zugleich eine

2. Stefan George: Werk – Der Teppich des Lebens

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Gemeinschaft stiftet, wohnt dem Versprechen und der Erlaubnis, gemeinsam in den Blumen der Dichtkunst zu baden, ein initiatorischer Impetus inne: Von jetzt an weicht die „kümmerniss“ des Dichters dem glücklichen Zustand zu wissen, dass jener Überfluss an Blütenpracht ohne eigenes Zutun, aus einem Akt reiner Gnade, buchstäblich auf ihn gekommen sei. Hierbei scheint es umso bedeutender, dass der Engel, entgegen seiner oft hervorgehobenen Leiblichkeit,72 jeder konkretistischen Vereinnahmung widerspricht. Er ist als Stellvertreter und Überbringer des ,schönen Lebens‘ selbst weit davon entfernt, lebendig zu sein. Er besteht aus ornamentalen Verschlingungen und Linien im Raum, deren Ranken mit seinen körperlichen Umrissen verwoben sind. Seine filigranen Finger sehen aus wie „mandelblüten“, und „rosen waren um sein kinn“. Soll jetzt auch noch der „reichsten blumen last“ um die Schultern oder im Arm des Engels vorzustellen sein, so ist seine Gestalt buchstäblich umrankt und umflort von den organischen Verzierungen, deren Schwünge und Mäander ihn als Ornament kennzeichnen. Dass „lilien und mimosen“ von ihm abfallen, ist daher nicht nur als motivische Allusion auf den biblischen Engel Gabriel zu sehen, sondern ebenso als Hinweis auf die vielfältige Linienführung naturaler Blütenkunst. Handelt es sich nämlich um eine Szene, in der sich der Dichter einer Macht unterwirft, die ihn als ornamentale Gestalt buchstäblich heimsucht, so geht es tatsächlich auch um Formen, um den Willen zur Form und um das Einhalten von auferlegter Formstrenge. Das Bad in den Rosen, das zugleich Taufe, Kuss, Versenkung und Erhebung darstellt, besiegelt den rituellen Bund, der für den ersten Teil des Zyklus von Bestand sein soll.73 Ausgehend vom Geschehen dieser Inspirations- und Initiationsszene erstreckt sich die Gemeinschaft mit dem Engel über die ersten 24 Gedichte des Bandes. Im Verlauf ist eine gleichsam dialogische Entwicklung festzustellen. Was zunächst als Abkehr von einer Poetik des Jahrs der Seele verstanden werden kann,74 ein zögerndes, zweifelndes, ringendes Sich-Ablösen, führt zu einer Wende und befreitem Neubeginn. Im Fortlauf wird die Position des sprechenden Dichters autonomer, die gegenseitigen Abhängigkeiten weichen der gemeinsamen Intention, eine Lehre für die Dichtkunst zu schaffen. Es ist in diesem Zusammenhang immer wieder betont worden, dass StG im Vorspiel die Wiederentdeckung der ,heimatlichen Scholle‘ feiert und seine Abkehr von fremdländischen Einflüssen einleitet (EM I, 162). Die Verlockungen der Weite lassen nach und geben Raum für die Reize von „Deines volkes hort“. Deutsche Bäume, Weinstöcke und der Rhein gewinnen an poetischer Bedeutung, nehmen sie doch den „hort“ auf, der im eröffnenden Gedicht bereits sehnsuchtsvoll auf den Garten der Dichtkunst verwiesen hatte: ›Schon lockt nicht mehr das Wunder der lagunen Das allumworbene trümmergrosse Rom Wie herber eichen duft und rebenblüten Wie sie die Deines volkes hort behüten – Wie Deine wogen – lebengrüner Strom!‹ (V, 14)

72 Vgl. dazu ebd. 73 Zum rituellen Gestus des Zyklus vgl. Braungart 1997, S. 279. 74 Vgl. David, George, S. 176.

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Der Auftrag der Dichtung, sich den heimatlichen Gefilden bewahrend zuzuwenden, hebt darin auch das Lebendige hervor. Anstelle von Ruinen und Trümmern vergangener Epochen rückt nun das „lebengrün“ Fließende in das Zentrum der lyrischen Ansprache, eine affirmierende Apostrophe an die Metapher vom Fluss des Lebens. Der fortlaufende Dialog des Dichters mit dem Engel, der sich als „freund und führer dir und ferge“ (V, 16) vorstellt, erhellt den Zweck ihres Bündnisses als einen der poetischen Formgebung: Der Fährmann auf den Fluten der lebendigen Wasser gibt die Richtung vor, deren lyrische Leitlinien zum Gesetz für den Dichter werden sollen. Der heilige Ort ihrer Begegnung trägt Züge einer solipsistischen Abkehr, um dem „zagemut der väter“ und „der gestalten wechselnd bunte[m] schwirren“ gleichermaßen zu entkommen: So komm zur stätte wo wir uns verbünden! In meinem hain der weihe hallt es brausend: Sind auch der dinge formen abertausend Ist dir nur Eine – Meine – sie zu künden. (V, 19)

In der Vielzahl der Möglichkeiten gibt der Begleiter eine Entscheidung vor, die den zögernden Dichter seiner Fragen enthebt: „Wo greifen da sich alle fäden queren / Wo schöpfen da es quillt aus jedem bronne?“ (V, 19) Durch die Weihe an der heiligen Heimstatt des Engels liegt das Gewirr der Fäden nun nicht länger als bedrohliches Knäuel vor dem Dichter, sondern als die „Eine – Meine“ distinkte Form. Der Wille zur Form und die bewusste Entscheidung, Verkünder einer auferlegten Formgebung zu sein, ist die große Intention für das Vorspiel eines Zyklus, der die Gewebemetapher von Text, Teppich und Leben im Titel trägt. Der mittlere Zyklus des Bandes, Der Teppich des Lebens, führt nun dieses Verfahren weiter, ohne eine Vermittlungsfigur aufzurufen. Der unauflösliche Zusammenhang aller Bestandteile, die wechselseitig umeinander kreisen wie die Ranken eines Musters im Gewebe, spielt hinüber in das titelgebende Motiv des Teppichs: Der Teppich Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren Sich fremd zum bund umrahmt von seidner franze Und blaue sicheln weisse sterne zieren Und queren sie in dem erstarrten tanze. Und kahle linien ziehn in reich-gestickten Und teil um teil ist wirr und gegenwendig Und keiner ahnt das rätsel der verstrickten . . Da eines abends wird das werk lebendig. Da regen schauernd sich die toten äste Die wesen eng von strich und kreis umspannet Und treten klar vor die geknüpften quäste Die lösung bringend über die ihr sannet! Sie ist nach willen nicht: ist nicht für jede Gewohne stunde: ist kein schatz der gilde. Sie wird den vielen nie und nie durch rede Sie wird den seltnen selten im gebilde. (V, 36)

2. Stefan George: Werk – Der Teppich des Lebens

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Das Gedicht, mit dem der Teppich des Lebens anhebt, heißt selbst „Der Teppich“. Die eröffnende Deixis „Hier“ zeigt auf das anzublickende Objekt seines Titels und zugleich auf den Text, der ihn aufruft. Zudem ist „Hier“ keine Zeigegeste, die eine weite Entfernung überbrücken müsste. Sie gibt vielmehr an, dass sich der Sprecher dieses „Hier“ selbst im Innern des Angesprochenen befindet. Inmitten oder sehr nahe bei dem gewebten Muster, das Pflanzen, Tiere und Menschen gleichermaßen verbündet: Sie alle sind „fremd zum bund“ miteinander verwoben, in ihrer Verschlingung eingefasst und durchwirkt von Himmelszeichen, „blaue sicheln weisse sterne“. Das organische Leben erscheint dadurch stillgestellt, ornamentalisiert in seiner buchstäblichen Verstrickung mit den Gestirnen. In diesen „erstarrten tanze“ fügen sich die richtungweisenden Fixpunkte des Firmaments ebenso wie die lebendigen Wesen, das Oxymoron erfasst sie unterschiedslos als Ornamente. Das (zweite) „Da“, mit dem die dritte Strophe beginnt, ist nun die Deixis, die dem Blick jene Entfernung gestattet, die das „Hier“ nicht zulässt. War der Sprecher anfangs selbst in das Muster verstrickt, so wird er nun zum distanzierten Betrachter. Erst aus dem Abstand werden die Zusammenhänge der einzelnen Partien und ein Verhältnis von Figur und Grund erkennbar: Die erstarrten Lebewesen rühren sich „[u]nd treten klar vor die geknüpften quäste“. Im Gegensatz zu ihrem petrifizierten Tanz, der sie unterschiedslos in die Zweidimensionalität der ornamentalen Ebene egalisierte, erscheinen die lebendigen Teile jetzt plastisch „vor“ dem textilen Material, das sich erst darin als Rahmung und Hintergrund ausstellt. Der Ausruf „Die lösung bringend über die ihr sannet!“ macht aber deutlich, dass die Verwandlung der starren Ornamente in ein reges Leben nicht für jeden Betrachter in jedem Augenblick zu erzwingen ist. Vielmehr handelt es sich um einen magischen Augenblick, der sich nur im Vollzug der Dichtung ereignen kann. Die „lösung“ ist weder allen zugänglich noch für wenige immer verfügbar; der Zeitpunkt ihres Geschehens ist ungewiss: „Sie wird den vielen nie und nie durch rede / Sie wird den seltnen selten im gebilde“. Die sprachliche Weitergabe einer solchen „lösung“ ist ausgeschlossen, weil sie „den seltnen selten im gebilde“ zuteilwird. Sie muss sich offenbar in der Anschauung erweisen und wie die Initiation durch den Engel im Vorspiel als ritualisierter Akt von höheren Gnaden darstellen. Dabei ist jedoch evident, dass die Verquickung von Selbstanrede und Fremdappell, Apostrophe und Prosopopoiie, sowohl im magischen Vorgang der textilen Entwirrung eines Teppichs als auch bei der Einsetzung eines textuellen Heilsbringers wie dem ornamentalen Engel, die Autorität des dichterischen Subjekts nicht anficht. Der Sprecher des Gedichts „Der Teppich“ betrachtet das Werk ebenso souverän von innen wie von außen; er gehört zu den „seltnen“, die er erst dazu aufruft, diese Haltung einzunehmen. Insofern wohnt dem Zyklus ein Paradoxon inne. Seine formalen Gesetzmäßigkeiten spiegeln sich einerseits in seinen Inhalten, die von Stringenz, Strenge und weiter Übersicht sprechen, formulieren aber andererseits den Triumph des Dichtertums, die Apotheose des Dichters. Die Gedichte reflektieren auf diese Weise die Innenperspektive einer emphatischen Poetologie und versuchen gleichzeitig eine Außensicht auf die eigenen Webstrukturen. Sie befinden sich innen und außen zugleich. Das letzte Gedicht des mittleren Teppichs ist das siebte der „Standbilder“ und nimmt noch einmal die textile Metapher des Zyklus auf:

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I. Stefan George und sein Kreis

Der Schleier · Das Siebente Ich werf ihn so: und wundernd halten inne Die auf dem heimischen baumfeld früchte kosten . . Die ferne flammt und eine stadt vom Osten Enttaucht im nu mit kuppel zelt und zinne. Einst flog er so empor: und öde schranken Der häuser blinkten scheinhaft durch die nässe Es regte sich die welt in silberblässe – Am vollen mittag mondlicht der gedanken! Er wogt und weht: und diese sind wie hirten Der ersten tale · jene mädchen gleiten Wie sie die einst im rausch der Göttin weihten . . Dies paar ist wie ein schatten unter mirten. Und so gewirbelt: ziehen sie zu zehnen Durch dein gewohntes tor wie sonnenkinder – Der langen lust · des leichten glückes finder . . So wie mein schleier spielt wird euer sehnen! (V, 59)

Beim Motiv des Schleiers kommt man nicht umhin, an Goethes berühmtes Gedicht „Zueignung“ von 1784 zu denken, das die dichterische Gabe als eine Widmung an die Wahrheit feiert. Im Schutz und im Schatten der verschleiernden Dichtung enthüllt sich ,Wahrheit‘ und wird erst auf diese Weise überhaupt sichtbar: Empfange hier was ich dir lang’ bestimmt, Dem Glücklichen kann es an nichts gebrechen, Der dies Geschenk mit stiller Seele nimmt; Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit, Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit.75

In StGs „Schleier“ wird der Appell aus Goethes Gedicht „so wirf ihn in die Luft“ zur selbstbewussten Aussage „Ich werf ihn so“. Das poetologische Gedicht StGs inszeniert das Spiel mit dem Schleier als lyrische Magie: Der Dichter beherrscht das Material, aus dem die filigrane Textur seiner Vorführung besteht. Indem er die zarte Textilie nach Belieben wirft, sie fliegen, wogen, wehen und wirbeln lässt, zeigt er seine magische Macht, mit jenen Stoffen umzugehen, aus denen die Träume sind. Die magische Gewalt lyrischer Apostrophierung gerät zum Animationstheater eines allmächtigen Dichters, dessen modale Deixis „so“ den Vorhang hebt, hinter dem seine neuen Welten triumphal hervortreten. In der Willkür dieses Zauberers offenbart sich schließlich eine divinatorische Gabe. Das Spiel des Schleiers enttarnt sich als Augurenkunst, sein vermeintlich kontingentes Flattern in den Lüften hat die Qualität der Vorsehung: „So wie mein schleier spielt wird euer sehnen!“ Indem der letzte Vers die staunenden Betrachter direkt apostrophiert, nimmt er den Leser mit hinein in das Spiel der Verwandlungen. Formbar, handhabbar, zugleich aber zart gewirkt und kostbar gewebt liegen die Sehnsüchte des Lebens in der Hand desjenigen Dichters, der es versteht, sie magisch-filigran und zugleich machtvoll-evokativ anzusprechen. 75 Johann Wolfgang Goethe, Zueignung, in: Ders., Gedichte 1756–1799, hrsg. v. Karl Eibl, Frankfurt/M. 1987 (Sämtliche Werke 1), S. 9–12, hier: 11f.

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Der letzte Vers nennt nun den Schleier auch erstmals (außerhalb des Titels) und verkündet darin seine performative Botschaft: Das Gedicht „Der Schleier“ ist selbst ein Schleier.76 Im Wechsel von Verbergen und Enthüllen entfaltet der Text seine poetologische Aussage, die als künstlerisches Programm StGs zur Lebensmitte gelesen werden darf. Die Zeit ist gekommen, in der ein ornamentales Sprechen, eine ästhetizistisch selbstgenügsame Lyrik den Raum freigibt für das nicht minder anspruchsvolle Vorhaben, eine ästhetische Erziehung unter der Maßgabe des poetischen Lebens zu entwickeln. Der strenge Wille siegt dabei über das Staunen, welches den Blick auf die machtvolle Gebärde hinter dem Schleier verstellte. Der letzte Zyklus des Bandes trägt den Titel Die Lieder von Traum und Tod. Er enthält wie die zwei vorigen Teile ebenfalls 24 Gedichte. Von diesen ist die erste Hälfte Freunden und Bekannten aus dem Umfeld StGs zugeeignet. Insgesamt sind die Texte der Lieder von Traum und Tod persönlicher gefasst als die vorangegangenen. Indem sie sich jeweils einer Person explizit zuwenden, ermöglichen sie darüber hinaus eine fast hymnische Ansprache. Dabei sind sie getragen von einer melancholischen Stimmung, die Motive des Abschieds und der Vergänglichkeit aufnimmt. Die Blumen der Dichtkunst, mit denen das Vorspiel seine poetologische Dimension metaphorisch sinnfällig in den Zyklus einbrachte, gestalten sich jetzt in der Form herbstlicher Reste: Nun schwindet mir der sorgenlosen glaube Nun eil ich in der kargen frist und pflücke Von dem was blieb und binde laub und blumen Halbwelke wunder meiner grames-hand. (V, 66)

Als ein Gedichtkranz aus „dem was blieb“, kein monumentum aere perennius, stellen sich die Lieder von Traum und Tod vor. Sie sind „Halbwelke wunder meiner grameshand“, gebunden im Zeichen einer traurigen Spätzeitstimmung, „in der kargen frist“. Standen zuvor noch die „wundernden“ im Banne des Schleiers, unter der Macht dieses straffen Gewebes von hoher Kunstfertigkeit, so bleiben nun die ausgezehrten „wunder“ buchstäblich übrig: Die Lieder von Traum und Tod vertreten die Perspektive des abgelaufenen Lebens. Der Teppich ist zu Ende gewebt, sein abschließender Teil zielt auf den Tod als den linearen Fluchtpunkt des Lebens hin. Dabei erkennen die Gedichte die Unerbittlichkeit des Todes an und suchen gleichzeitig Trost in derjenigen zyklischen Form, der sie ihren Ort innerhalb des Bandes verdanken. Und der vogel spielt leis auf: Flur und garten sind vom blühn tot Jedes weiss sich schön im kreislauf . . Sieh die gipfel vor dir glühn rot! (V, 81)

Die Einsicht in den organischen Zyklus aller Dinge, der sich poetisch wie formal im Gedichtband spiegelt – „Jedes weiss sich schön im kreislauf“ –, ermöglicht es, vom toten Garten als dem verblühten Topos der Dichtkunst aufzuschauen und nach vorn zu blicken. „Sieh die gipfel vor dir glühn rot!“ apostrophiert in der deiktischen Ge76 Vgl. Aler, Symbol, S. 225.

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bärde die Zuversicht, dass jedes memento mori die Wiederkehr des Betrauerten verspricht. Im lyrischen Text ist das Vergangene schließlich nicht verloren, solange es besungen werden kann: „Und so warte bis mein sang schweigt / Und so bleibe bis das licht sinkt“ (V, 81). Das liedhafte Gedicht wird so zum Ort, an dem die Sorge über die vergängliche Pracht lyrischen Sprechens zutage tritt – und an dem zugleich die einzige Antwort zu finden ist. Denn in ihm selbst, im lyrischen Vollzug, im unbeirrten „TagGesang“ wie im „Nacht-Gesang“ erfüllt sich der Kreislauf, den abzubilden und zu knüpfen der Teppich des Lebens angetreten war. Dabei gewinnt der Gedanke des Kreislaufs eine soziale Bedeutung. Je abgeklärter die Verse werden, desto sicherer schließen die Gedichte mit einer Legitimierung des Dichters als einer Figur, an der man sich orientieren kann. Wie der Text nach etlichem Mühen und Zaudern streng und straff geformt werden konnte, so soll sich nun die Formung des Geistes fortsetzen. Der Teppich des Lebens will kein ornamentales Geflecht sein, das als lyrischer Wandbehang ohne Außenwirkung bleibt. Für einen Ästhetizismus, der nur an morbiden Schönheiten interessiert ist, ohne ein eigenes ethisches Fundament vorzuweisen, findet der StG des Teppichs nur harte Worte der Ablehnung: Denn dazu lieben wir zu sehr euch brüder Um zu geniessen nur als spiel und klang An euch die schwanke schönheit grabes-müder An euch den farbenvollen untergang. (V, 71)

Die Wiener Dekadenz stellt um 1900 für StG keine poetische Option mehr dar. Für die wenigen Erwählten, denen sich die Lösung des Teppich-Rätsels entfaltet hat, hält das letzte Gedicht des Zyklus vielmehr jenen harmonischen Schluss bereit, der im Bild der Sternwerdung Lebendiges und Totes in eins setzt. Spät in der Nacht, fast auf den Schwingen von Minervas Eule, entdecken sich die Zusammenhänge des Lebens „für uns“, die nicht länger auf die Verschlingungen im Innern der Teppich-Metapher angewiesen sind: All dies stürmt reisst und schlägt blizt und brennt Eh für uns spät am nacht-firmament Sich vereint schimmernd still licht-kleinod: Glanz und ruhm rausch und qual traum und tod. (V, 85)

Ein „schimmernd still licht-kleinod“ ist weit genug entfernt, die zurückliegenden Gefährdungen und Rauschzustände vergessen zu lassen, dabei aber ein fester Punkt im kosmischen Ordnungsgefüge, der den Weg vorgibt. Der leuchtende Stern am Ende des Bandes ist filigran und machtvoll zugleich, außerhalb jeder Verknotung in irdische Geschicke – und genau deshalb ein wichtiger, wegweisender Bestandteil im Teppich des Lebens.

Literatur Braungart 1997, S. 278–287; Breuer 1995; EM I, S. 157–214; FW, S. 195–209; KHW, S. 136–195, 213–234.

2. Stefan George: Werk – Der Siebente Ring

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Albrecht, Michael von, Der Teppich als literarisches Motiv, in: Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung 7/1972, S. 11–89. Aler, Jan, Symbol und Verkündung. Studien um Stefan George, Düsseldorf, München 1976, S. 214–235. David, Claude, Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967, S. 163–200. Gundolf, Friedrich, George, Berlin 1920, S. 157–198. Heftrich, Eckhard, Stefan George, Frankfurt/M. 1968, S. 57–114. Heselhaus, Clemens, Deutsche Lyrik der Moderne – Von Nietzsche bis Yvan Goll. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache, Düsseldorf 1961, S. 30–38. Höpker-Herberg, Elisabeth, ,Der Teppich des Lebens‘. Die „erste reinschrift des Vorspiels“ und das „handgeschriebene buch“. Ein Bericht, in: GJb 4/2002/2003, S. 195–218. Landmann, Georg Peter, Vorträge über Stefan George. Eine biographische Einführung in sein Werk, Düsseldorf, München 1974, S. 111–132. Morwitz, Ernst, Die Dichtung Stefan Georges, Berlin 1934, S. 70–84. Norton, Robert Edward, Secret Germany: Stefan George and his Circle, New York 2002, S. 222–240. Oestersandfort, Christian, Platonisches im ,Teppich des Lebens‘, in: GJb 7/2008/2009, S. 100–114. Pikulik, Lothar, Stefan Georges Gedicht ,Der Teppich‘. Romantisch-Unromantisches einer wählerischen Kunstmetaphysik, in: Euphorion 80/1986, S. 390–402. Schmidt-Dengler, Wendelin, Stefan George: Der Teppich des Lebens, in: Literatur um 1900. Texte der Jahrhundertwende neu gelesen, hrsg. v. Cornelia Niedermeier u. Karl Wagner, Köln 2001, S. 161–169. Schödlbauer, Ulrich, Traum und Tod. Gegenpoetik im ,Teppich des Lebens‘, in: GJb 2/1998/1999, S. 1–21. Schultz, Karla, In Praise of Illusion: ,Das Jahr der Seele‘ and ,Der Teppich des Lebens‘: Analysis and Historical Perspective, in: A Companion to the Works of Stefan George, hrsg. v. Jens Rieckmann, Rochester 2005, S. 79–98. Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hrsg. v. Ralf Konersmann, Darmstadt 2007 (darin: Ellen Harlizius-Klück, „Weben, Spinnen“, S. 498–518, Patricia Oster, „Schleier“, S. 331–340). Nina Herres

2.6.

Der Siebente Ring (SW VI/VII)

2.6.1. Entstehung und Überlieferung Sieben Jahre nach dem Teppich des Lebens erschien, als der insgesamt siebte Gedichtband StGs, Der Siebente Ring im Oktober 1907.1 In das alle früheren und auch späteren Bände an Umfang übertreffende Werk gingen Gedichte ein, die StG zwischen 1897 und 1906 geschrieben hatte.2 Abgesehen von den Zyklen Zeitgedichte und Gezeiten, deren Texte, zu kleineren Gruppen versammelt, überwiegend schon in der fünften bis achten Folge der BfdK publiziert worden waren, wurden die meisten Gedichte zum ersten Mal im Siebenten Ring veröffentlicht. 1 Genaue Informationen zur Entstehung des Siebenten Rings finden sich in Ute Oelmanns Werkkommentar, der hier dankbar benutzt wird (vgl. SW VI/VII, S. 190–236, bes. 190–193). 2 Oelmann (ebd., S. 191) hält es für möglich, aber nicht sicher belegbar, dass die ersten sechs der Lieder, die mit StGs Liebe zu Ida Coblenz zusammenhängen, bereits 1892/93 verfasst wurden.

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I. Stefan George und sein Kreis

Soweit sich rekonstruieren lässt, begann StG 1906, als die einzelnen Gedichte fast alle vorlagen, mit der Komposition des ganzen Bandes. Am 23. März schrieb Friedrich Gundolf an StG: „Hoffentlich geht dies widerliche Zwischenjahr bald zu Ende, bis das werk erscheint, das Ernte der vergangenen und Saat künftiger Jahre der Seele sein muss […].“3 Ende August 1906 glaubte StG die Komposition soweit fertig, dass er Gundolf an die Reinschrift des Siebenten Rings setzte. Doch die Arbeiten zogen sich noch Monate hin. Auf der Grundlage einer (später verloren gegangenen) Reinschrift, die noch immer nicht die Endfassung sein sollte, stellte Melchior Lechter im Juni 1907 den prachtvollen Buchschmuck her. Im September 1907 sandte StG die Druckfahnen an Kurt Breysig, der Korrektur las. Im folgenden Monat erschien der Gedichtband. Mit der Vollendung des Werks war StG also etwa anderthalb Jahre intensiv beschäftigt. Der 218 Seiten starke Erstdruck enthielt den Vermerk: „Die gesamte Ausstattung von Melchior Lechter unter dessen künstlerischer Leitung dieses Werk im Sommer neunzehnhundertundsieben bei Otto von Holten Berlin C gedruckt wurde.“4 Nach dem Ende 1906 erschienenen Gedenkbuch Maximin war der Siebente Ring der letzte in der Reihe der von Lechter gestalteten Bände StGs.5 500 Exemplare waren auf gelblichem Büttenpapier gedruckt und in violettem Leinen oder Leder mit Goldaufdruck gebunden; bei 35 Vorzugsexemplaren wurde stattdessen Japanpapier bzw. violette Seide verwendet. Das neben dem Titelblatt stehende Titelbild zeigt einen knienden Engel, der sieben Sterne abzeichnet. Die sieben Zyklen des Bandes werden nicht nur durch Zwischentitelblätter, sondern auch durch Zierseiten mit einer von ein bis sieben ansteigenden Anzahl von gebogenen Schlangen abgeteilt. Ein Schlussbild mit sieben, von einem Baum herabhängenden Schlangen markiert das Ende. 2.6.2. Aufbau und Formales Die „architektur“ des Siebenten Rings, von der StG in einem Brief an Lechter vom 3. September 1906 spricht,6 basiert geradezu demonstrativ auf der Zahl sieben. Der siebte, im Jahr sieben des neuen Säkulums erscheinende Gedichtband gliedert sich in sieben Zyklen. Die Zahl der Gedichte wie der Seiten (in der Erstausgabe), die diese Zyklen umfassen, beträgt jeweils ein Mehrfaches: Zeitgedichte versammelt 14, Gestalten 14, Gezeiten 21, Maximin 21, Traumdunkel 14, Lieder 28 und Tafeln 70 Texte. In der Bandmitte befindet sich der Zyklus Maximin, der, die Erscheinung und Entrückung eines Gottes kultisch feiernd, offensichtlich auch das Sinnzentrum des Ganzen sein soll. Um diese Mitte, die StG mit der von Dantes Divina Commedia inspirierten Metapher ,Siebenter Ring‘ meint, lagern sich die anderen Zyklen wie konzentrische Kreise an. Die durch die Metaphorik der Ringe geschaffene und von den Kommentatoren aus dem George-Kreis verstärkte Suggestion, alle Zyklen seien 3 Zit. nach ebd., S. 190. 4 Zit. nach ebd., S. 198. 5 Zur Zusammenarbeit zwischen StG und Lechter, bes. im Fall des Siebenten Rings, vgl. I, 5.6.4.; ¤ Melchior Lechter. 6 Zit. nach SW VI/VII, S. 190.

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durch ihre jeweilige Beziehung zu dem – von innen nach außen strahlenden – Sinnzentrum bestimmt, bedürfte allerdings einer Überprüfung durch eine Gesamtanalyse des Gedichtbands. Die streng anmutende Architektur der Gesamtkomposition steht in Spannung mit der großen Vielfalt der Einzelgedichte. Kein früheres Werk StGs weist eine solche Heterogenität auf wie der Siebente Ring. Rückblickend hat StG 1919 im Gespräch mit Edith Landmann bemerkt: „Im ,Teppich‘ schien das Leben schon gebändigt, im ,Siebenten Ring‘ bricht alles Chaotische wieder neu herein, wie das Leben eben ist. Etwas so Einheitliches wie der Stern des Bundes konnte nur entstehen, wo solch ein Chaos vorausgegangen war.“7 In formaler Hinsicht ist nicht nur bemerkenswert, dass die Zyklen eine unterschiedliche Stringenz besitzen – der linearen Entwicklung des Maximins stehen etwa die lockeren Konstellationen des Traumdunkels und der Lieder gegenüber. Vielmehr fällt auch auf, wie sehr die Gedicht-, Strophen- und Versformen im Einzelnen variieren. Anders als zuvor im Teppich des Lebens und danach im Stern des Bundes hat sich StG an kein einheitliches Versmaß gebunden, im Gegenteil wechseln die Weisen streckenweise von Gedicht zu Gedicht. Auf der inhaltlichen Ebene ist eine ähnliche Mannigfaltigkeit zu beobachten. Es fällt bereits schwer, den thematischen Zusammenhang einiger Zyklen zu bestimmen. Um die Struktur des Siebenten Rings etwas genauer zu erfassen, soll hier dennoch der Versuch gemacht werden, die Zyklen mit wenigen Stichworten zu charakterisieren – dass in die Kommentare schon Deutungen einfließen, sei nicht bestritten. 2.6.2.1. Zeitgedichte Die meisten der 14 Zeitgedichte waren in der vierten bis siebten Folge der BfdK veröffentlicht worden, in der sechsten bis siebten Folge unter demselben Gruppentitel. In den Gedichten spielt StG – aus seiner Sicht – große Persönlichkeiten (Dante, Goethe, Nietzsche, Böcklin, Villiers, Verlaine, Mallarme´, Papst Leo XIII., Könige und Kaiser des deutschen Mittelalters, Sophie von Alenc¸on, Elisabeth von Österreich, Clement Harris, Carl August Klein) gegen die von den niedrigen Bedürfnissen der ,blöden Menge‘ bestimmte Gestaltlosigkeit ihrer Zeit aus. Beides, die Würdigung herausragender ,Helden‘ und die Geißelung der verkommenen Zeit, zielt nach Art der von Thomas Carlyle und Friedrich Nietzsche geprägten Kulturkritik auf die Zustände der eigenen Gegenwart, die grundlegend verändert werden sollen. Einzelne Gedichte, etwa „Goethe-Tag“ und „Die Gräber in Speier“, weisen direkt auf Phänomene des Kulturverfalls im Wilhelminischen Deutschland hin. 2.6.2.2. Gestalten Die 14 Gedichte stellen einzelne Gestalten dar, die – im Gegensatz zur seelenlosen und gestaltlosen ,Menge‘ – sich in ein bestimmtes Verhältnis zu Sphären des Göttlichen setzen und dadurch charakterisiert sind. Es geht um unterschiedliche Lebenskräfte und Lebensformen in der Beziehung zum Göttlichen. Zum Kreis der menschlichen 7 Zit. nach ebd., S. 193.

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Gestalten gehören der Herrscher, der Helfer, der Sänger, Helden, Krieger, Hüter, hinzu kommen dämonische Mächte wie etwa der ,Widerchrist‘ und die Hexen. Das Erlebnis des Göttlichen kann sich z. B. in der tätigen Form des Kampfes oder des Festes ereignen, es kann sich aber auch als seelische Stimmung und Haltung nach Art der Sehnsucht oder der Schwermut ausprägen. Eine Besonderheit des Zyklus sind Gedichtpaare, in denen zwei unterschiedliche Gestalten und Rollen – teils in der dramenähnlichen Form einer wechselnden Figurenrede – aufeinander bezogen werden, so in „Der Fürst und der Minner“, „Manuel und Menes“, „Algabal und der Lyder“, „König und Harfner“. Der Aufbau des gesamten Zyklus zielt auf die Ankunft einer neuen Zeit. „Lenzblüte beut / Sturm und feuer der Helden“ (VI/VII, 63), so heißt es am Ende des letzten Gedichts mit dem Titel „Einzug“. 2.6.2.3. Gezeiten Der Titel des Zyklus ist doppelsinnig, insofern er sowohl auf den Wechsel von Flut und Ebbe als auch den Wechsel der Jahreszeiten verweist. Die 21 Gedichte gliedern sich in zwei Folgen, die erste endet mit „Abschluss“. Geschildert wird jeweils die Liebe zwischen einem ,ich‘ und einem ,du‘, bei dem es sich um einen schönen Jüngling handelt. Biographisch stehen hinter den beiden Gedichtfolgen die Freundschaften StGs zu Friedrich Gundolf (ab 1899) und Robert Boehringer (ab 1905). Sieben Gedichte der ersten Folge (Nr. 1–3 und 6–9) sind bereits 1901 in der fünften Folge der BfdK veröffentlicht worden, in einer Gundolf im Juni 1902 geschenkten Handschrift (die Nr. 3 ausspart) treten „Trübe seele – so fragtest du – was trägst du trauer?“ und „So holst du schon geraum mit armen reffen“ hinzu. Erst im Siebenten Ring finden sich die Gedichte „Danksagung“ und „Abschluss“, welche die Liebe aus der inzwischen eingetretenen Distanz resümieren. Die erste Folge beschreibt, anders als die zweite, eine Entwicklung, wobei in einigen Texten die Perspektive zwischen ,ich‘ und ,du‘ wechselt, um die Rollen der Liebenden und die Arten ihres Erlebens deutlich zu machen. Die von Anfang an mitschwingenden Dissonanzen zwischen der dunklen, schwermütigen Seele des ,ich‘ und der als heller und leichtlebiger apostrophierten Seele des ,du‘ führen im Laufe der Entwicklung zu einer Krise; das lange herbeigewünschte Glück des ,ich‘ schlägt in tiefe Trauer um, das ,ich‘ zieht sich wieder in sein Selbst zurück. Gleichwohl dankt das ,ich‘ am Ende für die zeitweise Erfüllung seiner Liebessehnsucht. Im Sinne einer erneuten Öffnung für den anderen beginnt die zweite Gedichtfolge wiederum mit der Begegnung zwischen dem ,ich‘ und einem ,du‘, doch schließt sie – und so der gesamte Zyklus – nicht im Stadium der Entfremdung, sondern im Moment der als Heilung der eigenen Seele empfundenen Liebesvereinigung. 2.6.2.4. Maximin Auch dieser Zyklus hat einen biographischen Hintergrund, nämlich StGs Bekanntschaft mit dem Münchner Gymnasiasten Maximilian Kronberger, der 1904 im Alter von 16 Jahren starb. Seinem Andenken galt das Ende 1907 erschienene Buch Maximin. Ein Gedenkbuch, aus dem die Gedichte „Auf das Leben und den Tod Maximins I–III“ in den gleichnamigen Zyklus des Siebenten Rings übergingen. Während in dem

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vorangehenden Zyklus Gezeiten die Stadien einer Liebesbegegnung geschildert werden, die im Falle der ersten Gedichtfolge mit der Enttäuschung des ,ich‘ und der Entzauberung des ,du‘ endet, werden hier die Stadien einer Heilsgeschichte vorgeführt, die das ,ich‘ zum Seher des als Gott erkannten Jünglings Maximin erhöht und seine brennende Sehnsucht mit dauerhaftem Gehalt erfüllt. Im Eingangsgedicht „Kunfttag I“ heißt es programmatisch: „Dem bist du kind · dem freund. / Ich seh in dir den Gott / Den schauernd ich erkannt / Dem meine andacht gilt“ (VI/VII, 90). Der Zyklus stiftet einen Mythos und Kult, wobei die strukturellen Analogien zur Heilsgeschichte Jesu Christi und die formalen Anleihen bei der Liturgie des katholischen Gottesdienstes nicht zu übersehen sind. Nach einer Art Totenamt in den Gedichten „Auf das Leben und den Tod Maximins“ und einer Reihe von drei „Gebeten“ kommt es in „Einverleibung“ zu einer mythopoetischen Transformation der christlichen Kommunion, welche die Paradoxie gar nicht zu verbergen sucht, dass der gepriesene Gott aus der dichterischen Einbildungskraft hervorgegangen ist: „Nun wird wahr was du verhiessest: / Dass gelangt zur macht des Thrones / Andren bund du mit mir schliessest – / Ich geschöpf nun eignen sohnes“ (VI/VII, 109). In der mythopoetischen Logik des Geschehens ist es folgerichtig, dass sich das ,ich‘ im letzten, „Entrückung“ genannten Gedicht des Zyklus „in tönen · kreisend · webend · / Ungründigen danks und unbenamten lobes“ auflöst und nichts anderes mehr sein will als „ein dröhnen nur der heiligen stimme“ (VI/VII, 111). 2.6.2.5. Traumdunkel Bei den 14 Gedichten des Zyklus handelt es sich überwiegend um Traumbilder von Landschaften und Gärten, in denen sich seelische Zustände (meist eines lyrischen ,Ichs‘) spiegeln. Einige der Landschaften sind selbst von elementaren Kräften, Geistern und Gestalten durchwirkt und beseelt. Das zweite Gedicht „Ursprünge“, in dem StG die rheinische Landschaft der eigenen Kindheit und Jugend als Verweserin der griechischen Kultur, der römischen Kultur und der christlichen Kultur darstellt und sich selbst als dichterischer Erbe der europäischen Menschheit herleitet, lässt sich u. a. als Hinweis darauf lesen, dass die folgenden Traumgesichter auf verschiedene Bildräume und Ideengehalte der abendländischen Tradition zurückgreifen und diese auch synkretistisch übereinanderblenden. Besonders ausgeprägt ist die Adaption von antiken Topoi, so des Hains, der sich im Gedicht „Feier“ mit der Vorstellung eines dionysischen Opferfestes verbindet. Der Wechsel der Landschaften, der häufig auch innerhalb eines Gedichts stattfindet, ist eng mit dem Wechsel von Dunkelheit, Dämmerung und Helligkeit verknüpft. Beides drückt den Wechsel von Seelenzuständen aus. Wie der Titel des Zyklus andeutet, herrscht in ihm die Dunkelheit vor. Sie ist der Bildraum der Verschlossenheit, Einsamkeit und Traurigkeit, aber auch der Trunkenheit und der Vereinigung oder Auflösung in Liebe, Tanz und Opfer. Korrespondierend mit dem Zyklus der Gezeiten, thematisieren die Gedichte „Landschaft II“, „Landschaft III“, „Nacht“, „Empfängnis“ und, vermittelt durch die Figuren der Fürstin und des Fürsten, auch „Der verwunschene Garten“ unterschiedliche Erlebnisse der Liebe und Beziehungen zwischen dem Selbst und einem Anderen.

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I. Stefan George und sein Kreis

2.6.2.6. Lieder Der Zyklus von 21 Gedichten weist die größte Heterogenität des Bandes auf. Eine allen Gedichten gemeinsame Gattungspoetik des ,Liedhaften‘ ist nicht zu erkennen, eher lässt sich die Bezeichnung als Lied durch jeweils unterschiedliche Kriterien formaler und thematischer Art begründen. Der Gattungstradition des Liedes, so wie sie sich in der deutschen Lyrik des 18. und 19. Jahrhunderts herausgebildet hat, stehen zwei von drei Gruppen des Zyklus am nächsten, die StG durch ihre Überschrift nochmals als „Lieder“ charakterisiert hat. Die Gedichte beider Gruppen,8 die biographisch auf StGs Freundschaft mit Ida Coblenz zurückbezogen werden können, schildern in kurzen – allerdings bei der ersten Gruppe untypisch kompliziert gereimten – Versen individualisierte Erlebnisse der Liebe in Bildern der Natur. Formal von der Gattungstradition stärker abweichend, aber thematisch durch die wechselseitige Durchdringung von Liebe und Natur eng verwandt ist die dritte Gruppe von „Liedern“.9 Bei den anschließenden Gedichten „Südlicher Strand I–III“, „Rhein“, „Schlucht“ und „Wilder Park“ reduziert sich die thematische Nähe darauf, dass die Stimmungen eines ,ich‘ in Landschaften gespiegelt werden. Wie zum Ausgleich nimmt ab hier die formale Nähe zur Gattungstradition zu, denn gegen Mitte des Zyklus setzt sich die Form der vierzeiligen Strophe mit gekreuztem Reim durch. Diese klingt freilich erst in den letzten Gedichten – ab „Heimgang“ – deutlich an die Volksliedstrophe an, weil dort die Länge der Verse die Zahl von fünf Hebungen unterschreitet. Gerade diese letzten Gedichte erfüllen jedoch am wenigsten die inhaltlichen Erwartungen an ein Lied. So spielen die Texte des Zyklus mit Merkmalen der Gattungstradition, ohne dass aber das Liedschema jemals vollständig erfüllt würde. 2.6.2.7. Tafeln Die 70, an Aufschriften und Sprüche erinnernden Gedichte gliedern sich in zwei Teile: 27 Tafeln würdigen Personen aus dem Leben StGs, 43 Tafeln ehren Orte in Deutschland. Kriterium der Würdigung ist stets, welche Bedeutung den Personen und Orten für StGs Werk und dessen Ziel, die Erneuerung der deutschen Poesie und Kultur, zukommt. Bei den Personen schließt die Würdigung ein, dass Schwächen benannt werden können, dies dient als Wink der Erziehung. Der letzte Zyklus schlägt insofern einen Bogen zum ersten Zyklus des Siebenten Rings, als auch in den Tafeln die bedeutsamen Gestalten mit den verkommenen Verhältnissen der heutigen Zeit kontrastiert werden.

8 Vgl. SW VI/VII, S. 136–141, 154–156. 9 Vgl. ebd., S. 142–144.

2. Stefan George: Werk – Der Siebente Ring

2.6.3.

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Rezeption und Deutung

2.6.3.1. Zeitgenössische Rezensionen und Kritiken Als Der Siebente Ring Ende Oktober 1907 gedruckt vorlag, wurde der Band zunächst nur an Freunde und Subskribenten verschickt. Ein sicherlich beabsichtigtes Ergebnis dieser für StG typischen Werkpolitik war, dass die ersten Besprechungen aus der Feder der Freunde Albert Verwey, Friedrich Gundolf und Franz Dülberg stammten. Erst nach der ,allgemeinen Ausgabe‘ des Bandes im Oktober 1908 setzten die kreisexternen Reaktionen in Zeitungen und Zeitschriften ein. Die George-Bibliographie von Georg Peter Landmann verzeichnet insgesamt acht Rezensionen und Kritiken des Siebenten Rings bis zum Jahr 1910 (GPL, 69), was allerdings eine signifikante Steigerung gegenüber dem Jahr der Seele und dem Teppich des Lebens ist. Die erste Besprechung veröffentlichte Albert Verwey in der Dezembernummer 1907 seiner holländischen Zeitschrift De Beweging. Schon der einleitende Satz deutet an, dass sich Verwey von der besonders in den Zeitgedichten vollzogenen Hinwendung des Dichters zur Zeitkritik und Kulturpolitik distanziert: „Er zijn daarin geesten gebannen, sommige die ook elders, andere die alleen in duitsche lucht leven.“10 (Es sind darin Geister gebannt, von denen einige auch anderswo, andere nur in deutscher Luft leben.) Laut Verwey besteht das eigentliche Leben der Kunst im Ausströmen der seelischen Empfindung und nicht im Widerstand gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit. Deswegen beginnt für ihn StGs Kunst im Siebenten Ring erst mit den Gestalten und erreicht in den folgenden Liebesgedichten ihre höchste Intensität und Qualität: „Bij deze gedichten, ,Gezeiten‘ genoemd, zijn de schoonste die hij ooit geschreven heeft.“11 (Unter diesen Gedichten, ,Gezeiten‘ genannt, sind die schönsten, die er jemals geschrieben hat.) Weniger enthusiastisch klingen die Sätze zum Maximin, doch sieht Verwey in ihm noch einen dichterischen Ausdruck der spezifischen Seelenart StGs: Liefdeverlangen dat zich hoe langer hoe meer vergeestelijkt, maar zich den god niet anders dan onder geliefde trekken kan voorstellen, – zoo is het wezen van George. Zooals Christus door zijn jongeren, zoo wordt zijn grieksche Christus, Maximin, oor hem vereerd in de herinnering.12 (Liebesverlangen, das sich je länger je mehr vergeistigt, aber sich den Gott nicht anders als unter geliebten Zügen vorstellen kann – das ist das Wesen Georges. So wie Christus durch seine Jünger, so wird sein griechischer Christus, Maximin, durch ihn verehrt in der Erinnerung.)13

Verwey erkennt, dass der Drang, durch die Dichtung in die Gegenwart zu wirken, gleichfalls einen Bestandteil von StGs dichterischem Selbstverständnis bildet. Aus seiner Sicht überschreitet StG damit aber die Grenzen der Kunst und verwickelt sich in die Kämpfe der Kultur, die jeweils nur von nationaler Bedeutung sind. Verwey betont am Ende der Rezension, dass die von StG in den Zeitgedichten und den Tafeln artikulierten Ideen, etwa der Hoheit des Königtums und des Papsttums, sich nicht von der deutschen Geisteswelt auf die holländische Geistesart übertragen lassen: 10 Albert Verwey, Stefan George: ,Der Siebente Ring‘, in: De Beweging 1907, S. 377–381, hier: 377. 11 Ebd., S. 378. 12 Ebd., S. 379. 13 Deutsche Übersetzung von Friedrich Wolters, in: FW, S. 348.

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Wij zijn anders, en anders is ook ons dichterschap. Hoewel evnzeer strijdende voelen wij ons niet verheven, ook niet boven het minste, maar ervaren in onze gelijkheid met al het levende onze, ware, verhevenheid.14 (Wir sind anders und anders ist auch unsre Dichterschaft. Obwohl ebenso streitend fühlen wir uns nicht erhaben selbst nicht über das Kleinste, sondern erfahren in unserer Gleichheit mit allen Lebenden unsere wahre Erhabenheit).15

Im Februar 1908 folgte eine knappe Rezension von Friedrich Gundolf in der Zukunft. Laut Gundolf hat sich im Siebenten Ring die Stellung StGs in und zu seiner Zeit gewandelt: [E]r ist nicht mehr der Dichter einer Gemeinde aus Schmeckern, denen er neue Reize, und aus Betern, denen er eine neue Heiligung gegeben, sondern wendet sich jetzt an eine Gesammtheit, in der einer unterirdische, noch uneingestandene, Klang und Luft bildende Macht geworden ist.16

An dem neuen Element der Zeitgedichte wird hervorgehoben, dass StG sich nicht mehr poetisch über die Wirren der Gegenwart erhebe, sondern diese selbst in Formen bringe: Mit der unzersetzten Leidenschaft (für George viel bezeichnender als alle ihm nachgerühmten Aesthetizismen) dringt er durch das entgötterte und ameisenhafte Wirrsal des Heute, mit hingegebenem Ja und erbarmungslosem Nein, mit einer antikischen Unbedingtheit, und ruft seinen heimlichen Gott, seine Bilder erhöhten Menschenthumes, als Typen und Individuen, aus den Gegensätzen und Möglichkeiten, aus Wirklichkeiten und Wünschen hervor, die Fleischwerdungen jenes Gottes in unserer Luft: die echten Jünglinge und Fürsten, die Helden und Priester, die Treuen und Adeligen, und hält die heutigen Alleweltplattheiten und Mißformen gegen die großen Schatten der Geschichte.17

Insgesamt preist Gundolf den Siebenten Ring als die „Synthese einer allumfassenden, aber unbedingten Schöpferleidenschaft“, die den unterschiedlichsten Elementen und Tönen des Lebens eine „gedrungene Einheit“ von „eiserner Geschlossenheit“ verliehen habe: „Nicht von George kann es abhängen, ob er als ein letzter Verkörperer des dem Untergang geweihten heroischen Ideales oder als der Bote eines künftigen Eros, einer sich verjüngenden Menschheit erscheinen wird.“18 Franz Dülberg, der zu den Münchner Bekannten StGs gehörende Beiträger der BfdK, besprach den Siebenten Ring im Litterarischen Echo. Er lobt das „neue Hauptwerk“ wegen der „Fülle an gedanklichem und klanglichem Glück“, das es dem Leser bereite.19 Bei seinem Überblick über die Zyklen, die mit einer Ausnahme „gesteigerte Wiederholungen der Grundmotive der früheren Gedichtkreise“ seien, weist er auf die Sonderstellung des Maximin-Zyklus hin, den er allerdings im Sinne des MaximinGedenkbuchs als „Klage um den frühverstorbenen Freund und Schüler“ versteht.20 Auf der gleichen Linie bewegt sich die ausführliche Würdigung des Gedichtbands in Dülbergs Buch Stefan George. Ein Führer zu seinem Werke aus dem Jahr 1908 – der Maximin-Zyklus wird als autobiographische „Erlebnisdichtung“ kommentiert.21 14 Verwey, George: ,Der Siebente Ring‘ (Anm. 10), S. 381. 15 Deutsche Übersetzung von Friedrich Wolters, in: FW, S. 349. 16 Friedrich Gundolf, Der siebente Ring, in: Die Zukunft 16/1908, 14, S. 164–167, hier: 164. 17 Ebd., S. 165. 18 Ebd., S. 167. 19 Franz Dülberg, Der siebente Ring, in: Das litterarische Echo 10/1908, 20, Sp. 1413–1415, hier: 1415. 20 Ebd., Sp. 1413.

2. Stefan George: Werk – Der Siebente Ring

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Bei den nicht dem George-Kreis angehörenden Literaturkritikern fand der Siebente Ring nur wenig Resonanz.22 Allein Johannes Nohl äußerte sich überschwänglich. Für ihn beginnt im Siebenten Ring, dieser „durchgängig großen Schöpfung“, eine „neue Epoche deutschen Geistes und deutscher Sitte“.23 Mit prophetischer Kraft habe StG einerseits die zerstörenden Mächte der heutigen Zeit angeprangert und andererseits den Geist der Liebe als das Prinzip der sittlich-religiösen Erneuerung unseres Volkes verkündet. Hans Bethge meint im Berliner Tageblatt pauschal, der Siebente Ring zeige „das Bild des Dichters gegen früher so gut wie unverändert“, und kann wieder nur den künstlerischen Willen erkennen, „alles Geschehen in reine lyrische Stimmung von höchster Prägnanz aufzulösen“.24 Ähnlich urteilte Albert Rausch im Casseler Tageblatt und Anzeiger.25 Besonders aufschlussreich sind die Kritiken von zwei Autoren, die StGs Werk nahestanden. Georg Simmel, der Rezensent der Münchner Neuesten Nachrichten, sieht im Siebenten Ring diejenige Stufe der organischen „Entwicklung“ von StGs Gesamtwerk, auf der die Einheit und der Sinn, platonisch zu reden, die „Idee“ des Ganzen sichtbar werde: Stefan Georges Lyrik quillt aus dem Einheits- und Einzigkeitspunkt der Seele, in einem schärferen, absoluteren Sinne, als die lyrische Kunst es in jedem Fall bedingt. Denn bei allem subjektivistischen Wesen der Lyrik kann doch auch in ihr das Schicksal und die Stimmung der Landschaft, das Du oder die Dinge des religiösen Glaubens sehr wohl eine Art von Eigenleben gewinnen; oder alles dieses kann dem Leben der Seele so assimiliert werden, daß sie in der eigenen Sprache die der Dinge redet. Die dichterische Seele in George aber singt nur sich selbst, nicht die Welt, nicht die Überwelt. Wo die Dinge, die außerhalb des Erlebens seiner selbst liegen, in seinen Versen zu Worte kommen, irgend ein geschichtlich oder sonst Gegebenes – da wirkt es nur oft wie ein Fremdkörper, das inkohärente Hineinragen einer Welt, die die seine nicht ist und nicht werden kann. Ist aber all dieses dennoch einmal in den organischen Prozeß seiner Kunst aufgegangen, so ist es zum reinen Symbol geworden, immer bleibt die Seele in sich beschlossen und spiegelt nur sich selbst zurück in den Formen der Dinge.26

Indem Simmel die gesamte Entwicklung von StGs Lyrik darauf festlegt, dass „jene Subjektivität, jener Solipsismus der Seele in seinem Ausdruck monumentale Gestalt gewinnt“,27 kritisiert er nicht nur solche Zyklen wie die Zeitgedichte und den Maximin als ästhetische Fremdkörper; vielmehr distanziert er sich von StGs Anspruch im Siebenten Ring, durch die Kunst eine soziale, ethisch oder gar religiös fundierte Gemeinschaft zu stiften, sei es die des eigenen Kreises oder die des deutschen Volkes. Simmels Rezension ist eine in kunstphilosophischen Reflexionen versteckte Absage an StGs Programm. 21 Ders., Stefan George. Ein Führer zu seinem Werke, München, Leipzig 1908, S. 54. 22 Vgl. hierzu III, 5.2.2. 23 Johannes Nohl, Stefan Georges siebenter Ring, in: Der Sozialist 3/1911, 9, S. 66–71, hier: 66. 24 Hans Bethge, Der siebente Ring, in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung v. 10.2.1909. 25 Vgl. Albert Rausch, Ueber das Wesen der Kunst Stefan Georges, in: Casseler Tageblatt und Anzeiger Nr. 121 v. 12.3.1909. 26 Georg Simmel, Der siebente Ring, in: Münchner Neueste Nachrichten Nr. 318 v. 11.7.1909 (zit. nach ders., Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze, Potsdam 1922, S. 75f.). 27 Ebd., S. 76.

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I. Stefan George und sein Kreis

Eine offene Kampfschrift ist dagegen Rudolf Borchardts Rezension, die Anfang 1909 in dem von Borchardt zusammen mit Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Alexander Schröder herausgegebenen Jahrbuch Hesperus erschien.28 Die über 30 Seiten lange Kritik setzt sich so ausführlich mit dem Siebenten Ring auseinander, dass hier nur die Tendenz der gesamten Argumentation angedeutet werden kann. Darüber hinaus sei auf die Forschung verwiesen.29 Bereits in der 1907 erschienenen Rede über Hofmannsthal hatte Borchardt die Problematik von StGs Kunstauffassung herausgearbeitet, die letztlich auf die Gründung einer ,Gemeinde‘, eines ,Staates‘ ziele. Mit dem Ausruf: „Die Welt regeneriert sich nicht an Gedichten“,30 wird dort das notwendige Scheitern einer aus der Kunstproduktion und Kunstrezeption hervorgehenden Kulturpolitik prophezeit. Seine Einwände gegen StG präzisiert Borchardt nun am Siebenten Ring. Er versucht sowohl an einzelnen Gedichten als auch am gesamten Werk nachzuweisen, dass der Stil des Siebenten Rings der problematische Ausdruck eines bestimmten Stadiums der Übergangszeit um 1900 ist, eines Stadiums, das inzwischen durch die Entwicklung der deutschen Dichtung im Zeichen Hofmannsthals, Schröders und Borchardts überholt worden sei. Nach einem flüchtigen Überblick über den Band, bei dem die Komposition des Werks als äußerlich bleibende Zahlenmystik abgetan wird und die Gedichte entweder als Meisterstücke oder aber als ,Schutt der Werkstatt‘ bezeichnet werden, beschränkt sich die eingehende Analyse im Wesentlichen auf die Zeitgedichte. Obwohl Borchardt diese zunächst als Vollendung von StGs Künstlertum preist, arbeitet er dann gezielt stilistische Schwächen und Fehler heraus, die er auf einen Mangel an kulturgeschichtlicher Bildung zurückführt. StG erscheint als Dichter, der in keiner der europäischen Kulturtraditionen verwurzelt ist, sondern sich, darin typisch für die Übergangszeit um 1900, willkürlich aus verschiedenen Traditionen bedient und ihre Versatzstücke zu unorganischen Kunstgebilden verbindet. Dieser Mangel an ästhetischem Stilgefühl läuft, so Borchardt, der kulturpolitischen Wirkabsicht der Gedichte entgegen, und zwar genau dort, wo StG Gegenbilder zur heutigen Zeit entwirft. Borchardts Konzentration auf die Zeitgedichte heißt auch, dass er den Maximin-Zyklus als das Zentrum des Werks ausspart. Wenn er behauptet, er habe die private Trauer des Dichters um seinen Geliebten durch keine Analyse des Zyklus stören wollen, ist das bloße Rhetorik. Tatsächlich lässt er den Anspruch StGs, einen religiösen Kult zu stiften, nicht gelten. 2.6.3.2. Werkkommentare in den Kreisbüchern Direkt nach dem Erscheinen des Gedichtbandes lud die von Kurt Breysig präsidierte „Academia urbana“ zu einer „Feier der Huldigung vor dem Siebenten Ringe“ ein. Obwohl an der Lesung, die am 4. Dezember 1907 in der Berlin-Lichterfelder Holbeinstraße 34 stattfand, neben StG lediglich Friedrich Wolters, Berthold Vallentin, 28 Vgl. Rudolf Borchardt, Stefan Georges Siebenter Ring, in: Hesperus 1909, S. 49–82 (wieder in: Ders., Prosa I, textkritisch revidierte, chronologisch geordnete u. erw. Neuedition der Ausg. v. 1957, hrsg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 2002, S. 68–104). 29 Vgl. Burdorf, Kopf statt Ohr; vgl. auch Kai Kauffmann, Rudolf Borchardt und der ,Untergang der deutschen Nation‘. Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion im essayistischen Werk, Tübingen 2003, S. 268–273. 30 Rudolf Borchardt, Reden, hrsg. v. Marie Luise Borchardt, Stuttgart 1955, S. 45–103, hier: 63.

2. Stefan George: Werk – Der Siebente Ring

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Kurt Hildebrandt, Friedrich und Wilhelm Andreae, Ernst Morwitz und Lothar Treuge teilnahmen, während Karl und Hanna Wolfskehl, Friedrich Gundolf und Melchior Lechter nicht kommen konnten oder wollten, kündigte sie einen veränderten Umgang mit den Werken des Dichters an. Diese wurden zu heiligen Büchern des Kreises, wie verstärkt nach der Veröffentlichung des Sterns des Bundes (1914) zu beobachten ist. In der Transformation des Kreises zu einer Weltanschauungsgemeinschaft, die ihre Lehren zunehmend auch in die Öffentlichkeit trug, war es ein folgerichtiger Schritt, dass die Georgianer sich verstärkt um die kanonisierende Auslegung der Werke StGs bemühten. Als Erster trat Friedrich Gundolf mit seinem George von 1920 hervor. Er fasst die Werke StGs als Stationen der Entwicklung zu einem neuen Glauben auf, wobei der Siebente Ring die in der „Offenbarung“ des Gottes Maximin kulminierende „Geschichte“ dieses Glaubens, der Stern des Bundes aber die daraus abgeleitete „Lehre“ darstellen soll.31 Entsprechend wird der Siebente Ring mit all seinen Zyklen von der Mitte aus gedeutet: Im ,Maximin‘ treffen sich alle Bahnen Georges, und der Siebente Ring umfaßt all diese Bahnen – die zu ihm hinführen und die von ihm ausgehen: in den ,Zeitgedichten‘, den ,Gestalten‘, den ,Gezeiten‘ die letzten Hübe, Ballungen, Spannungen zum nah verhüllten Urbild hin, im ,Traumdunkel‘, in den ,Liedern‘, den ,Tafeln‘ die ersten Lockerungen, Schwingungen, Ausbreitungen vom offenbaren Urbild her. Hier kreisen rings um die leibhaftige Gestalt noch einmal all seine Lebenskräfte, die bindenden und die gelösten, die einenden und die schweifenden, die fordernden und die verschwenderischen, eh er ihren vielfältigen Kosmos zusammenschließt zum Reich: zum irdischen Bund um die göttliche Mitte.32

In seiner für alles Übrige zentral wichtigen Auslegung des neuen Glaubens betont Gundolf, dass Maximin, ein Mensch, für StG dennoch zum Gott geworden sei, nämlich in dem für die griechische Antike ganz selbstverständlichen Sinn, dass für den geistig Schauenden in der Schönheit eines Jünglings die Kraft der ,weltschaffenden Liebe‘ offenbar werde.33 Zugleich grenzt Gundolf diesen platonisch gedachten Eros scharf von der bloß triebhaften Knabenliebe, die „Vergottung des Leibes von der Vergötterung des Körpers“ ab.34 Damit setzt er sich gegen den Vorwurf der Homosexualität zur Wehr, mit dem der George-Kreis spätestens seit Rudolf Borchardts Satire Intermezzo (1910) auch in der Öffentlichkeit konfrontiert wurde.35 In Stefan George und die Blätter für die Kunst, der von StG selbst initiierten und autorisierten Geschichte des Kreises, die 1928 herauskam, hält sich Friedrich Wolters grob an das von Gundolf bekannte Entwicklungsschema des Gesamtwerks und die Auslegungsmuster des Siebenten Rings. Doch setzt er deutlich andere Akzente. Bei Maximin misst er der wirklichen Begegnung mit dem Menschen – er übernimmt aus dem Gedenkbuch den Satz: „Wir erkannten in ihm den Darsteller einer allmächtigen Jugend wie wir sie erträumt hatten“ (FW, 311) – weit mehr Raum zu als der dichterischen Schau des Gottes im Siebenten Ring. Zu der Verschiebung der Gewichte passt, dass nicht der Maximin-Zyklus als die behauptete ,Mitte‘ des Gedichtbands, sondern 31 Friedrich Gundolf, George, Berlin 1920, S. 208. 32 Ebd., S. 242f. 33 Vgl. ebd., S. 201–212. 34 Ebd., S. 201. 35 Vgl. Rudolf Borchardt, Intermezzo, in: Süddeutsche Monatshefte 7/1910, 12, S. 694–716.

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I. Stefan George und sein Kreis

die an den äußeren Rändern stehenden Zeitgedichte und Tafeln eigene Kapitel erhalten. Im Gegensatz zu Gundolf interessiert sich Wolters weniger für die mythopoetische Erschaffung eines Gottes als für die kulturpolitischen Eingriffe in das Leben des deutschen Vaterlands. In Die Dichtung Stefan Georges von 1934 bemüht sich Ernst Morwitz um eine Einordnung jedes Einzelgedichts und jedes Einzelzyklus in das Sinngebilde des Siebenten Rings. Seine mit der getreuen Paraphrase der Gedichte eng verknüpften Auslegungen stimmen weitgehend mit der von Gundolf verkündeten ,Lehre‘ überein, in einer vergleichsweise sachlich wirkenden Diktion werden eigentlich Dogmen festgeschrieben. So betont Morwitz wieder die Schlüsselstellung und den Glaubensgehalt des Maximin: In der Mitte des ,Siebenten Ringes‘ steht die das Erleben mit Maximin umschreibende Gedichtreihe. Die Begegnung mit Maximin hat eine religiöse Bedeutung. In ihm erkennt der Dichter die Verkörperung des Gottes, seine Liebe wird zur Andacht, zum Dienst vor dem Überirdischen.36

Das bei Gundolf schwer zu überschauende Gewebe von zahlreichen Weltkräften und Seelenformen, die die Teile des Siebenten Rings je spezifisch bestimmen sollen – eine „Gundolfsche Mythologie Georges“, wie Claude David sagt37 – wird von Morwitz auf leicht zu begreifende und zu vermittelnde Gegensätze wie die dionysisch-apollinische Polarität von ,Erdkraft‘ (Leidenschaft) und ,Lichtkraft‘ (Gestalt) reduziert. Diese Art der Kanonisierung und Didaktisierung setzt sein 1960 erschienener Kommentar zu dem Werk Stefan Georges nicht fort. Das Ineinander von getreuer Gedichtparaphrase und gläubiger Bedeutungslehre wird jetzt ersetzt durch eine genaue Kommentierung der Textentstehung, der Wort- und Sachgehalte etc.; die Sinnauslegung und -vermittlung betreibt Morwitz nur noch mit Zurückhaltung, wie beispielhaft der Abschnitt zum Maximin-Zyklus zeigt (EM I, bes. 267–287). 2.6.3.3. Literaturwissenschaftliche Forschung Dass der Siebente Ring zu den Hauptwerken StGs gehört und eine Schlüsselstellung in der Entwicklung des gesamten Œuvres einnimmt, ist auch den Literaturwissenschaftlern nicht entgangen. Dennoch blieb die Forschung beschränkt. Die bisherigen Studien konzentrierten sich auf wenige Zyklen und Aspekte des Gedichtbands. Seit der bahnbrechenden Monographie von Claude David (1952) standen mit dem MaximinZyklus die mythopoetischen, kultischen und rituellen Züge im Mittelpunkt des Interesses. David leitet den Maximin-Mythos lebens- und ideengeschichtlich aus StGs Auseinandersetzung mit den Kosmikern her und deutet den ,Gott‘ Maximin als die „Devise eines atheistischen Humanismus“. Unter Berufung auf Gundolf, der zu Recht betont habe, Maximin sei nicht der ,Gott‘ einer neuen Religion, schreibt David: Dieser, von einem Dichter ausgerufene und propagierte Humanismus trägt die Züge eines Glaubens. Er drückt sich in der Sprache der Hymne aus. Es handelt sich nicht um eine als Religion verkleidete Weisheit, sondern um eine Frömmigkeit des Menschen gegenüber dem Menschen. Gott ist zur Fiktion geworden.38 36 Ernst Morwitz, Die Dichtung Stefan Georges, Berlin 1934, S. 109. 37 Claude David, Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967, S. 510.

2. Stefan George: Werk – Der Siebente Ring

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Für Hansjürgen Linke (1960), der der Entwicklung des Kultischen im Œuvre StGs nachgeht, führt das immerwährende Bedürfnis des Dichters nach Versinnlichung und Vergegenwärtigung des Göttlichen konsequent zur Maximin-Gestalt: Wie vorher Religion zum sinnlich erfahrenen Kult, so verdichtet sich dem Dichter nun in einer entscheidenden Phase seines Lebens das unbekannte numen zur sichtbaren Gestalt. In einem toten Freunde erlebt Stefan George zu seiner Zeit und in seiner Nähe die verleiblichte Gottheit Maximin.39

Gegenüber David räumt Linke zwar ein, dass der Maximin-Glaube im George-Kreis keine religiöse Praxis gewesen sei, er arbeitet aber die kultische und rituelle Poetik des Maximin-Zyklus selbst heraus. Nach Eckhard Heftrich (1968), der in seinen Analysen von StGs Versuchen der dichterischen ,Re-mythologisierung‘ den Siebenten Ring nur streift und den verleiblichten Gott des Maximin-Zyklus als bloßes Zwischenstadium zur ,platonischen Mythe‘ des Sterns des Bundes behandelt,40 entwickelt Wolfgang Braungart (1997) den Ansatz von Linke weiter. Am Maximin-Zyklus weist er auf verschiedenen Ebenen die rituelle Transformation des katholischen Gottesdienstes nach, die sich von den Formen des liturgischen Sprechens bis hin zu den Riten der heiligen Kommunion erstreckt.41 Aus einer systemtheoretischen und literatursoziologischen Perspektive interpretiert Gerhard Plumpe (1999) die Maximin-Dichtung als den für die Zeit um 1900 charakteristischen Versuch, eine mythische Identität zu stiften, die das Mitglied des Kreises von der Reflexivität und Kontingenz moderner Identität in der heutigen Gesellschaft entlasten solle. Andererseits spreche StGs Dichtung selbst aus, dass die mythische Identität ein poetisches Konstrukt sei, und gebe so den Anspruch auf Nichtnegierbarkeit preis: „[I]n dem Maße, in dem Georges Lyrik den von ihr artikulierten Mythos in die Schwebe bringen kann, bewundern wir sie als Vollzug moderner Literatur.“42 Als Zyklen haben neben dem Maximin nur noch die Zeitgedichte und die Tafeln – der kulturkritische Gegenpol zur mythopoetischen Glaubensstiftung – ein gewisses, wenn auch deutlich geringeres Interesse erregt. Jürgen Wertheimer arbeitet in seiner Monographie Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges (1978) die agonale Rhetorik und die appellative Funktion der Zeitgedichte heraus.43 Jan Andres (2006), der im Werk StGs die Kontinuität der ,ästhetischen Opposition‘ gegen den Zeitgeist betont, zugleich aber die prophetische Rolle des Dichters und den prosaischeren Ton als Novum der Zeitgedichte bezeichnet, liest die Texte des Zyklus als „Gegenbilder zur zivilisatorischen Moderne“.44 Die Tafeln interpretiert Andres (2007) als Versuch, durch die poetische Imagination von ,Erinnerungsorten‘ eine neue Kulturtradition der 38 Ebd., S. 259. 39 Hansjürgen Linke, Das Kultische in der Dichtung Stefan Georges und seiner Schule, 2 Bde., München, Düsseldorf 1960, hier: Bd. 1, S. 103. 40 Vgl. Eckhard Heftrich, Stefan George, Frankfurt/M. 1968, bes. S. 118. 41 Vgl. Braungart 1997, bes. S. 205–253. 42 Gerhard Plumpe, Mythische Identität und modernes Gedicht. Stefan Georges ,Maximin‘, in: Moderne Identitäten, hrsg. v. Alice Bolterauer u. Dietmar Goltschnigg, Wien 1999, S. 109–121, hier: 120. 43 Vgl. Jürgen Wertheimer, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen, München 1978, S. 105–133. 44 Jan Andres, Gegenbilder. Stefan Georges poetische Kulturkritik in den ,Zeitgedichten‘ des ,Siebenten Rings‘, in: GJb 6/2006/2007, S. 31–54, hier: 41.

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I. Stefan George und sein Kreis

deutschen Nation zu stiften. Zeitkritik und Traditionsstiftung sind zwei miteinander korrespondierende Seiten der Kulturpolitik StGs.45 Von unterschiedlichen Punkten aus versuchen einige Studien zum Siebenten Ring, die Sinnkonstruktion des Gedichtbands aufzuschlüsseln. Otto Weinreich (1916) geht der Symbolik der Sieben- und der Dreizahl nach und hebt dabei den Rückbezug auf Dantes Divina Commedia hervor.46 Benjamin Bennett (1982) deutet die in einer Geheimsprache verfassten Schlussverse des Gedichts „Ursprünge“ als die maximale Verdichtung der im gesamten Gedichtband gestalteten ,Wahrheit‘ über das GegensatzVerhältnis zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen Sein und Dasein, zwischen Mensch und Natur.47 Ernst Osterkamp (2001) analysiert den Kuss, das ,Zentralsymbol‘ des Siebenten Rings, mit seinen signifikanten Varianten in der Folge der Zyklen und rekonstruiert auf diesem Weg den Bedeutungszusammenhang des Werks: Der leidenschaftliche Kuß zu Beginn der ,Gezeiten‘, der Seelenkuß des ,Maximin‘: dies sind die Pole der Georgeschen Kußsymbolik, zwischen denen er die Semantik des Kusses oszillieren läßt. […] Gerade die Geste des Kusses zeigt, daß Georges Liebessemantik alle Eindeutigkeit vermeidet, ihn von Seelischem sprechen läßt, wo vom Körper die Rede geht, ihm auf körperliche Liebe anzuspielen erlaubt, wo er scheinbar nur von Seelischem spricht, ihm Herrschaft und Dienst zu symbolisieren gestattet, wo er nur von liebender Vereinigung zu sprechen scheint.48

Ralf Simon (2001) zeigt in seiner Studie zu StGs ,Diskurspolitik‘ im Siebenten Ring, dass der Versuch, den deklamatorischen Machtanspruch von Weltanschauungstexten, wie er besonders im Maximin und in den Zeitgedichten erhoben wird, an das poetische, im Modus der Lieder gestaltete Erlebnis eines Seinsgrunds zurückzubinden, wiederum eine bloße ,Setzung‘ des Dichters ist, durch die der Subjektivismus moderner Lyrik nicht überwunden werden kann.49 Als eine zu StGs Werkpolitik gehörende Strategie, um eine mit dem bereits von Georg Simmel konstatierten Grundproblem des ,Solipsismus der Seele‘ zusammenhängende Schwierigkeit zu lösen, untersucht Steffen Martus (2006) die Lenkung des Lesers im Siebenten Ring. Indem die Aufmerksamkeit des Lesers so geschult werde, dass dieser auf die kleinsten Details und feinsten Bezüge achte, werde der Glaube erzeugt, dass die äußerst heterogen erscheinenden Einzelgedichte in einem allerdings unsichtbar bleibenden Bedeutungszusammenhang stünden.50 Im Anschluss an ihre Monographie Homoerotik im Werk Stefan Georges (1987) analysiert Marita Keilson-Lauritz (2001), wie in einigen Gedichten des Siebenten 45 Vgl. ders., Stefan Georges Erinnerungsorte in den ,Tafeln‘ des ,Siebenten Ring‘, in: Ders. u. a. (Hrsg.), „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900, Frankfurt/M., New York 2007, S. 166–187. 46 Vgl. Otto Weinreich, Triskaidekadische Studien. Beiträge zur Geschichte der Zahlen, Gießen 1916, S. 100–114. 47 Vgl. Benjamin Bennett, Stefan Georges ,Ursprünge‘. Zur Deutung des ,Siebenten Rings‘, in: CP 31/1982, 155, S. 28–49. 48 Osterkamp, Die Küsse, S. 86. 49 Vgl. Ralf Simon, Das Wasser, das Wort. Lyrische Rede und deklamatorischer Anspruch beim späten Stefan George, in: Braungart u. a. (Hrsg.), Stefan George, S. 48–68. 50 Vgl. Steffen Martus, Stefan Georges Poetik des Endens. ,Zum Abschluß des VII. Rings‘, in: GJb 6/2006/2007, S. 1–30.

2. Stefan George: Werk – Der Siebente Ring

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Rings „die am Jahrhundertanfang noch weitgehend ,stumme‘ mannmännliche Neigung/Intimität ,zu Worte kommt‘ – gerade als Alternative zur meist im Vordergrund (und zu Zeiten ,im Wege‘) stehenden sexualwissenschaftlichen Verbalisierung“.51 Sie liest das Gedicht „Lobgesang“ als „Verbildlichung der Unterwerfung unter die Herrschaft des Eros, der sich im gewählten Bilde als ein mannmännlicher Eros zu erkennen gibt.“52 2.6.3.4. Forschungsdesiderate und Deutungsperspektiven Klammert man die Kommentarbücher der Georgianer aus, so ist der Siebente Ring ein vergleichsweise wenig erschlossenes Werk. Schon eine ,werkimmanent‘ ansetzende Forschung hätte zahlreiche offene Fragen auf mehreren Ebenen zu bearbeiten, wobei jeweils sehr schnell der Zusammenhang mit Poetiken und Thematiken der Lyrik um 1900 deutlich würde. Werkkomposition In kritischer Auseinandersetzung mit den Deutungsmustern der Georgianer müsste die Gesamtkomposition des Gedichtbands sowohl unter formalen als auch inhaltlichen Gesichtspunkten untersucht werden. Sogar zur Zahlensymbolik fehlt eine eingehende Arbeit, sodass bislang nicht klar ist, ob es sich um eine äußerliche Scheinfassade oder ein innerlich begründetes Bauprinzip handelt. Allerdings beschäftigt sich die Lyrik-Forschung generell wenig mit der Komposition von Gedichtbänden, noch weniger als mit der von Zyklen. Welche Möglichkeiten gibt es in der Lyrik überhaupt für den Bau von aus Einzelgedichten bestehenden Kunstwerken, die trotz ihrer Vielteiligkeit und Vielstimmigkeit einen Anspruch auf Ganzheit erheben? Die Frage ist nicht nur für den Siebenten Ring von zentraler Bedeutung, sondern für die Lyrik um 1900 insgesamt, weil einige der bedeutendsten Dichter der Zeit größere Kunst-Einheiten zu schaffen versuchten. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten erscheint – darauf hat schon Ernst Osterkamp hingewiesen53 – die Erforschung der mannigfaltigen und mehrdeutigen Konzepte von Liebe und Eros besonders interessant, weil sie ein den Gedichtband durchspannendes Themen- und Motivnetz bilden. In diesem Zusammenhang könnte ein derzeit (2010) laufendes Habilitationsprojekt zum Platonismus im Œuvre StGs einen wichtigen Beitrag leisten.54

51 Marita Keilson-Lauritz, Übergeschlechtliche Liebe als Passion. Zur Codierung mannmännlicher Intimität im Spätwerk Stefan Georges, in: Braungart u. a. (Hrsg.), Stefan George, S. 142–155, hier: 155. 52 Ebd., S. 154. 53 Vgl. Osterkamp, Die Küsse. 54 Vgl. dazu die erste Publikation aus dem Habilitationsprojekt: Christian Oestersandfort, Platonisches im ,Teppich des Lebens‘, in: GJb 7/2008/2009, S. 100–114.

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I. Stefan George und sein Kreis

Zyklen Mit Ausnahme der Zeitgedichte, des Maximin und der Tafeln sind die Zyklen des Siebenten Rings nicht eigens untersucht worden. Bei den meisten Zyklen bieten sich gattungspoetologische und -historische Zugänge an. So wie die Zeitgedichte an ein in der deutschen Lyrik der 1830er- und 1840er-Jahre ausgeprägtes Gattungsparadigma anknüpfen55 und der Maximin Elemente und Strukturen der von Klopstock bis Nietzsche reichenden Hymnentradition umformt,56 ließen sich beispielsweise die Gezeiten als Auseinandersetzung mit den Topoi der Liebeslyrik, die Lieder als Durcharbeitung von Mustern der Lieddichtung, die Tafeln als eigenwillige Beiträge zur Epigrammatik und Spruchdichtung analysieren. Dann würde der Siebente Ring als eine schöpferische Transformation und Komposition von verschiedenen, aus dem 18. und 19. Jahrhundert überkommenen Lyrikgattungen kenntlich werden. Einzelgedichte So gut wie kein Gedicht des Siebenten Rings ist als einzelner Text einer eingehenden Analyse und Interpretation unterzogen worden, wie es zu den wissenschaftlichen Standards der Lyrik-Forschung gehört. Vermutlich resultiert das aus dem von den Georgianern genährten Vorurteil, dass die Einzelgedichte lediglich in der Gesamtheit des Bandes angemessen verstanden werden könnten. Tatsächlich sind die Gedichte nicht nur von ihrer Entstehung her ästhetische Gebilde eigenen Rechts. Im Siebenten Ring stehen Einzelgedichte und Gesamtkomposition in einem solchen Spannungsverhältnis, dass es auf beiden Seiten einer stärkeren Anstrengung der Forschung bedarf. Vers- und Strophenbildung In seiner Rezension des Siebenten Rings hat Rudolf Borchardt die antike und christliche, romanische und germanische Stiltraditionen vermischende Art der Vers- und Strophenbildung bei StG kritisiert. Diese Kritik, die bereits Dieter Burdorf aufgenommen hat,57 sollte die Forschung dazu anregen, über den Synkretismus der Stile und Töne im Siebenten Ring nachzudenken.

55 Vgl. Jürgen Wilke, Das ,Zeitgedicht‘. Seine Herkunft und frühe Ausbildung, Meisenheim am Glan 1974, bes. S. 58–73, zu StGs Zeitgedichten S. 30–40. Achim Aurnhammer geht auf ein nicht im Siebenten Ring veröffentlichtes Zeitgedicht ein. Vgl. Achim Aurnhammer, ,Der Preuße‘. Zum Zeitbezug der ,Zeitgedichte‘ Stefan Georges im Spiegel der Bismarck-Lyrik, in: Braungart u. a. (Hrsg.), Stefan George, S. 173–196. 56 Vgl. Kai Kauffmann, Loblied, Gemeindegesang und Wechselrede. Zur Transformation des Hymnischen in Stefan Georges Œuvre bis zum ,Stern des Bundes‘, in: Braungart u. a. (Hrsg.), Stefan George, S. 34–47. 57 Vgl. Burdorf, Kopf statt Ohr.

2. Stefan George: Werk – Der Stern des Bundes

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Literatur Braungart, Wolfgang / Oelmann, Ute / Böschenstein, Bernhard (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘, Tübingen 2001. Burdorf, Dieter, Kopf statt Ohr. Rudolf Borchardt als Kritiker Stefan Georges, in: Braungart u. a. (Hrsg.), Stefan George, S. 353–377. Osterkamp, Ernst, Die Küsse des Dichters. Versuch über ein Motiv im ,Siebenten Ring‘, in: Braungart u. a. (Hrsg.), Stefan George, S. 69–86. Kai Kauffmann

2.7.

Der Stern des Bundes (SW VIII)

2.7.1. Entstehung und Überlieferung Sieben Jahre nach dem Siebenten Ring wurde Anfang Februar 1914 die erste Auflage des Sterns des Bundes im Bondi Verlag veröffentlicht. Zum vorangegangenen Gedichtband, in dem die Erscheinung des Gottes Maximin geschildert worden war, verhält sich der Stern des Bundes wie die Lehre zur Offenbarung. Obwohl Maximin als die neue Inkarnation des Göttlichen nicht mehr beim Namen genannt wird, ist er der ,Stern‘, angesichts dessen sich die Gläubigen zu einem ,Bund‘ zusammenschließen. Es ist seine Erscheinung, an welche die Worte des Dichter-Priesters und DichterLehrers erinnern, seine Wirkung, die sich in der Wandlung von Jünglingen in Jünger zeigt. Zur Entstehung der einzelnen Gedichte des Sterns des Bundes gibt es vergleichsweise wenige Zeugnisse. Laut Ernst Morwitz sollen einige Gedichte schon 1907/08 geschrieben worden sein, andere dagegen erst 1911 bis 1913.1 Der größte Teil der Texte ist, so schließt Ute Oelmann aus den vorhandenen Zeugnissen und Spuren, in den Jahren 1909/10 entstanden.2 Um diese Zeit scheint sich auch der Plan eines neuen Gedichtbands konkretisiert zu haben: So weiß Melchior Lechter im Oktober 1909 von dem in Arbeit befindlichen Werk der heiligen schaar, aus dem ihm George an seinem Geburtstag vorliest [Tagebuch Melchior Lechters]; auch berichtet K. Hildebrandt [KH, 61] von einer Lesung unbekannter Gedichte aus dem ,grünen Heft‘ im November 1910.3

Der von StG erwogene Werktitel, von dem Ernst Morwitz die Variation „Lieder an die heilige Schar“ überliefert (EM I, 339), wurde später aufgegeben. Erstmals erschien 1910 ein Zyklus von Neuen Gedichten in der neunten Folge der BfdK, dessen 15 Texte im Stern des Bundes allerdings keine Einheit mehr bilden.4 Im 1 Vgl. EM I, S. 339–401. Da bei den seltenen Hinweisen zur Datierung, die Morwitz ohne Belege gibt, nicht immer eindeutig zwischen Erlebnisgehalt und Entstehungszeit der Gedichte unterschieden wird, ist auch diese Quelle unsicher. 2 Vgl. SW VIII, S. 121. 3 Ebd. 4 Es handelt sich um die Gedichte „Chor“ (= „Schlusschor“), „Widmung I–III“ (= „Eingang I–III“), „Von welchen wundern lacht die morgen-erde“, „Aus purpurgluten sprach des himmels zorn“,

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I. Stefan George und sein Kreis

Kommentar zur kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke hat Ute Oelmann beschrieben, wie der um die Erscheinung des Gottes kreisende Zyklus in die Komposition des ganzen Blätter-Hefts eingebettet ist.5 Den Neuen Gedichten geht eine Reihe von Pindar-Übertragungen Hölderlins voraus und folgt eine Gruppe von Gedichten und Essays Wolfskehls nach. Im Prosatext Das Göttliche formuliert Wolfskehl mit dem Sinnspruch „Die Schöpfer müssen das Göttliche immer neu gebären“6 StGs Auffassung des Dichterischen, die der Komposition des Blätter-Hefts zugrunde liegt und auch für den Stern des Bundes gelten wird. Die Engführung der Pindar-Übertragungen mit den Neuen Gedichten im BlätterHeft weist auf die wachsende Bedeutung Hölderlins für StG hin. Norbert von Hellingrath, von dem 1910 die späten Pindar-Übertragungen und Hymnen-Entwürfe Hölderlins in der Stuttgarter Landesbibliothek entdeckt worden waren, hatte unverzüglich Abschriften für StG gemacht, sodass ein direkter Einfluss auf die seitdem entstandenen Gedichte des Sterns des Bundes möglich erscheint, wie das Vorbild auch auf den schweren ,Ton‘ und den sakralen ,Geist‘ der Gesamtkomposition gewirkt haben mag. Indem StG die „Feiertagshymne“ in die 1910 erscheinende Anthologie Deutsche Dichtung aufnahm, berief er sich auf Hölderlins Auffassung des Dichters als Mittler des Göttlichen. Wenige Jahre später wird Hölderlin im Gedicht „Hier schliesst das tor: schickt unbereite fort“ (VIII, 100) des Sterns des Bundes als „verheisser“ des Maximin-Kults geehrt.7 Konkreter zu bestimmen sind die Folgen, die StGs jahrelange, um 1901 beginnende Arbeit an den Übersetzungen von Dantes Divina Commedia und Shakespeares Sonetten für die Gestalt des Sterns des Bundes gehabt hat. Die Werkstruktur der Divina Commedia mit ihren drei Teilen und 1 + 99 Gesängen ist im Stern des Bundes nachgebildet, ebenso die durchgehende Zahlensymbolik. An Sonette erinnern die neun Gedichte des Eingangs dadurch, dass sie jeweils aus 14 Versen bestehen. In den Jahren 1911 bis 1913 hat StG wiederholt feierliche Lesungen vor Kreismitgliedern veranstaltet, bei denen er ungedruckte Gedichte aus dem späteren Stern des Bundes vortrug.8 Die meisten fanden im Münchner ,Kugelzimmer‘ statt. Wann StG aus dem anwachsenden Textmaterial den Gedichtband komponierte, geht aus den Zeugnissen nicht hervor. Im Oktober 1913 erfolgte in Berlin die Drucklegung des Sterns des Bundes. StG, der zusammen mit Morwitz eine Wohnung in der Gaisbergstraße bewohnte, arbeitete an den Korrekturen des Drucks und las an einigen Abenden aus den Bögen vor. Ludwig Thormaehlen, der bereits an früheren Lesungen teilgenommen hatte, berichtet: „Die Gestalt und innere Gefügtheit des Ganzen konnten wir aber, die nächsten Freunde des Dichters, nicht erahnen. Auch die Druckbogen wurden keinem gezeigt, und wenn sie auf dem Tisch lagen, rührte niemand sie an“ (LT, 106). Vermutlich Ende November waren die zehn Exemplare der Vorausgabe „Alles habend alles wissend seufzen sie“, „All die jugend floss dir wie ein tanz“, „Da dein gewitter o Donnrer die wolken zerreisst“, „Wer je die flamme umschritt“, „Dies ist reich des Geistes: abglanz“, „Breit’ in der stille den geist“, „Entbinde mich vom leichten eingangsworte“, „Auf der brust an deines herzens stelle“, „Über wunder sann ich nach“. 5 Vgl. SW VIII, S. 118–150, hier: 119f., 121. 6 BfdK 9/1910, S. 54. 7 Vgl. genauer Achim Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin, in: Euphorion 81/1987, 2, S. 81–99, bes. S. 88–91. 8 Vgl. ZT, S. 218, 222, 223f., 232, 240, 242f.

2. Stefan George: Werk – Der Stern des Bundes

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fertiggestellt, die an die engsten Vertrauten übergeben bzw. geschickt wurden (Morwitz, Boehringer, Thormaehlen, Vallentin, Wolters, Wolfskehl, Hellingrath, Salz). Im Februar 1914 erschien die öffentliche Ausgabe des Sterns des Bundes, der, anders als bei allen vorangegangenen Gedichtbänden StGs, kein privater Druck im Verlag der Blätter für die Kunst vorausging. Während noch der Siebente Ring von Melchior Lechter mit reichem Buchschmuck ausgestattet worden war, legte StG beim Stern des Bundes auf Schlichtheit Wert. Der weiße Leineneinband ist nur durch einen Goldaufdruck veredelt, die in der StG-Schrift gesetzten Gedichttexte kommen ohne jeden Zierrat aus. Die erste Auflage des Sterns des Bundes (2.200 Exemplare) war nach kürzester Zeit verkauft, sodass noch 1914 eine zweite (1.000 Exemplare) folgte. Nach der Baisse des Ersten Weltkriegs schnellten zu Beginn der Weimarer Republik die Verkaufszahlen in die Höhe: 1919 wurde die dritte Auflage (2.000 Exemplare) veranstaltet, 1920 die vierte (5.000 Exemplare), 1922 die fünfte (5.000 Exemplare). Insgesamt verlief der Absatz ähnlich wie der des Jahrs der Seele, des Teppichs des Lebens und des Siebenten Rings.9 Im Fall des Sterns des Bundes sah sich StG aber zu einer Vorrede veranlasst, als 1928 der achte Band der Gesamt-Ausgabe der Werke erschien: Um dies werk witterte ein missverständnis je erklärlicher desto unrichtiger: der dichter habe statt der entrückenden ferne sich auf das vordergründige geschehen eingelassen ja ein brevier fast volksgültiger art schaffen wollen . . besonders für die jugend auf den Kampf-feldern. Nun ist der verlauf aber so: der Stern des Bundes war zuerst gedacht für die freunde des engern bezirks und nur die erwägung dass ein verborgen-halten von einmal ausgesprochenem heut kaum mehr möglich ist hat die öffentlichkeit vorgezogen als den sichersten schutz. Dann haben die sofort nach erscheinen sich überstürzenden welt-ereignisse die gemüter auch der weiteren schichten empfänglich gemacht für ein buch das noch jahrelang ein geheimbuch hätte bleiben können. (VIII, [5])

2.7.2. Aufbau und Formales In der stringenten Logik des Aufbaus ähnelt der Stern des Bundes dem Teppich des Lebens, während er sich von der komplexeren Struktur des Siebenten Rings abhebt. Der Band besteht aus 100 Gedichten. Auf den Eingang mit neun Gedichten folgen drei Bücher, die jeweils 30 Gedichte enthalten, und der Schlusschor. Die Vierzehnzeiler des Eingangs besitzen durchgängig das Maß des Blankverses. Bei den Gedichten der Bücher wechseln sich Jamben, Trochäen und Daktylen mit vier oder fünf, stellenweise auch drei Hebungen ab. Jedes zehnte Gedicht ist gereimt, sodass die drei Bücher ihrerseits in drei Abschnitte gegliedert sind. Eine weitere Unterteilung in je drei Gedichte wird von den Kommentatoren aus dem George-Kreis konstatiert. Zumindest die größeren Gedichtgruppen lassen sich leicht als Sinneinheiten erkennen. Der Eingang ruft die – im Maximin-Zyklus des Siebenten Rings stattfindende – Erscheinung des Gottes in Erinnerung, ohne dass der Gott beim Namen genannt wird. Im Ersten Buch blickt der Dichter auf die Vergangenheit zurück: In der ersten Zehnergruppe rekapituliert er das eigene Schicksal bis zum heutigen Zeitpunkt, wo er als 9 Vgl. die Tabellen von Christine Haug in I, 5.4.2., S. 437f.

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I. Stefan George und sein Kreis

Künder des neuen Gottes fungiert, in der zweiten Zehnergruppe wettert er gegen die Zeit, die ohne Gott war, in der dritten rechnet er mit den ehemaligen Gefährten ab, die den Gott in einer falschen Gestalt gesucht haben – gemeint sind vor allem die Münchner Kosmiker. Im Zweiten Buch vollzieht sich der Aufbau des heiligen ,Bundes‘ im Geiste des neuen Gottes: In den ersten beiden Zehnergruppen sprechen zwei unterschiedliche Typen von Jünglingen10 mit dem Dichter-Lehrer, durch den sie auf den richtigen Weg geleitet und in die Geheimnisse des heiligen Lebens eingeweiht werden. In der dritten Zehnergruppe werden ewige Augenblicke des mit Gott erfüllten Daseins gepriesen. Das Dritte Buch birgt die Gesetzestafeln des neuen Bundes: Stellt in den ersten beiden Zehnergruppen der Dichter-Lehrer eine Reihe von Geboten und Verboten für den ,neuen Adel‘ auf, so kommen in der letzten Zehnergruppe einzelne Jünger zu Wort, die ihr Leben ganz dem ,heiligen ziele‘ widmen. Im Schlusschor stimmt die Gemeinschaft der Gläubigen unisono den Lobpreis des Gottes an. 2.7.3.

Rezeption und Deutung

2.7.3.1. Zeitgenössische Rezensionen und Kritiken Es könnte mit dem Verzicht auf eine Erstausgabe im Verlag der Blätter für die Kunst zusammenhängen, dass es beim Stern des Bundes keine vorab publizierten Rezensionen aus dem George-Kreis gab. Die Vertrauten des Dichters ließen sich auch nach dem Erscheinen des Bandes im Bondi Verlag nicht öffentlich vernehmen. StG scheint seine Werkpolitik dergestalt verändert zu haben, dass einerseits der Kreis sein geheimes Wissen für sich behielt, andererseits aber das Buch ohne jede Vorbereitung dem allgemeinen Publikum und der öffentlichen Kritik übergeben wurde. Nur Albert Verwey, der sich freilich schon in seiner Rezension des Siebenten Rings von StGs Dichtung und Kreis distanziert hatte,11 verfasste einen Artikel zum Stern des Bundes. In der Märznummer 1910 der Zeitschrift De Beweging gab er einleitend eine kurze, aber treffende Charakteristik des Bandes und beschränkte sich im Übrigen auf die niederländische Übersetzung von sieben Gedichten.12 Das Echo in der deutschsprachigen Presse war beachtlich. Von den großen Tageszeitungen rezensierten das Berliner Tageblatt (11.2.1914), die Neue Freie Presse (17.5.1914), das Leipziger Tagblatt (31.5.1914), die Frankfurter Zeitung (7.7.1914), die Vossische Zeitung (24./25.7.1914) und die Neue Zürcher Zeitung (31.12.1914) den Stern des Bundes. Auch die Zeitschriften Die akademische Bücherschau, Der Bücherwurm, Die Aktion, Die Argonauten, Die Gegenwart und Die Tat brachten Artikel. StGs Dichtung polarisierte Befürworter und Gegner. Um die Spannbreite deutlich zu machen, seien hier einige Rezensionen hervorgehoben. Die früheste bi10 Im Unterschied zu früheren Bänden StGs gibt es im Stern des Bundes keine Widmungsgedichte. Ähnlich wie beim Zyklus Gezeiten des Siebenten Rings haben die Kommentatoren aus dem George-Kreis die Zehnergruppen des Zweiten Buches auf einzelne Personen bezogen. So meint Ernst Morwitz, die erste Zehnergruppe sei, wie dann auch ein Teil der dritten, an ihn selbst gerichtet, während sich die zweite auf Ludwig Thormaehlen und Berthold Vallentin beziehe (EM I, 365, 370, 376). 11 Vgl. I, 2.6.3.1. 12 Vgl. Albert Verwey, Stefan George: Der Stern des Bundes, in: De Beweging 1914, 3, S. 326–330.

2. Stefan George: Werk – Der Stern des Bundes

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bliographisch nachgewiesene Reaktion war eine von M. Kestner verfasste Besprechung im Berliner Tageblatt. Der mit den früheren Werken StGs und der Entwicklung des Maximin-Kults vertraute Rezensent lobt, dass der Stern des Bundes durch seine „ungeheure Zentrierung“ von der gesamten deutschen Gegenwartslyrik unterschieden sei: [J]edes Gedicht, jeder Vers, jedes Wort beinahe strömt zu dem einen Mittelpunkt hin; in so großartiger Einseitigkeit und Geschlossenheit, daß sich der Leser von diesem Strom nach dem Zentrum hin mitreißen, in die Geschlossenheit des ,Bundes‘ einbefassen muß, wenn er diese Kunst verstehen will. Das Zentrum, das dem Buch seine Gestalt gibt, ist ein göttliches Wesen.13

Nicht ganz so begeistert, aber doch zustimmend äußerte sich Eduard Saenger in der Vossischen Zeitung: Das Schaffen Stefan Georges hatte im ,Jahr der Seele‘ und im ,Siebenten Ring‘ bisher seine Höhepunkte erreicht. Ein neuer und vielleicht krönender Gipfel ist in dem jüngsten Werk ,Der Stern des Bundes‘ erstiegen; hier mündet das Gefühlsleben des Lyrikers in Weltanschauung.14

Saenger, der das Schaffen StGs in die Linie Goethe-Wagner-Nietzsche stellt und als „Kulturromantik“ bezeichnet, betont die symbolische Dichtart, durch die gerade der Stern des Bundes ein Vorbild für die moderne Lyrik sei: Scheinbares Vermeiden aller leeren Begriffe zugunsten rein-sinnlicher Gestaltung selbst des Uebersinnlichen; bei näherem Zusehen aber ein ständiges Schweben zwischen Begriff und Anschauung, eine symbolische Auffassung der ganzen gegenständlichen Welt, sozusagen ein Bauen mit unmateriellen Formen; das ist das Wesen dieser neuen Kunst.15

Dagegen bestritt Ulrich Rauscher in der Frankfurter Zeitung, dass es sich überhaupt noch um Lyrik handele: Was Stefan George unter dem Titel ,Der Stern des Bundes‘ herausgegeben hat, ist kein Gedichtbuch: es ist das neueste Testament. Es ist Zwiesprache mit seinen Freunden und Jüngern, Ordensregel, Vermächtnis. Didaktisch und abstrakt, eine Geheimlehre in so gezüchteter Sprache, daß des öfteren der Geist der Sprache vor so viel Kunst und Künstelei entwichen ist. […] Das ist der Grundmangel des Georgeschen Buchs, daß es für den engen Kreis flüstert, daß es in der Breite nicht gehört werden will. Wer für ganz bestimmte Ohren spricht, verarmt sich selbst, der Monolog ist im letzten Grund eine Aneinanderreihung von Ich, Ich, Ich …16

Ein ähnlich kontroverses Meinungsbild findet sich in den Zeitschriften. Nachdem sich Franz Pfemfert, der Herausgeber der Wochenzeitschrift Die Aktion, über das Gedicht „Ich bin der Eine und bin Beide“ (VIII, 27) lustig gemacht hatte,17 kontrastierte in 13 M. Kestner, Stefan George: Der Stern des Bundes, in: Berliner Tageblatt und Handelszeitung v. 11.2.1914 (Beilage Literarische Rundschau). 14 Eduard Saenger, Der Stern des Bundes, in: Vossische Zeitung v. 24.7.1914. 15 Ebd. 16 Ulrich Rauscher, Neue Lyrik, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt v. 7.7.1910. 17 F[ranz] P[femfert], Stefan George vor 700 Jahren, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 341f. Pfemfert vergleicht das Gedicht mit Strophen aus dem Divan des persischen Dichters Ruˆmi (1207–1273) und spottet: „Ich bin nicht der Ansicht, Stefan George habe plagiiert. Aber: Ruˆmi dichtete besser.“

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I. Stefan George und sein Kreis

derselben Zeitschrift der junge Werner Kraft den Stern des Bundes mit Rudolf Borchardts Gedicht „Wannsee“. StG wird bescheinigt, er habe als Dichter seine Entwicklung abgeschlossen und den Menschen nichts mehr zu sagen: Denn wohl verstanden: über die dichterischen Themen des Lyrikers, die Liebe etwa, die Landschaft, die Seele, ist er hinaus. Er tut nichts anderes mehr als seine Theorie, die Borchardt schon in der Rede über Hofmannsthal ad absurdum geführt hat, ausbauen. Diese ist: Er und sein Kreis. (Herv. i. Orig.)18

Genau umgekehrt urteilte der expressionistische Dichter Ernst Blass, der dem Stern des Bundes einen Aufsatz in der von ihm begründeten Monatszeitschrift Die Argonauten widmete – 1920 wird er ein ganzes Buch Über den Stil Stefan Georges veröffentlichen. Ausgehend von der These, im Stern des Bundes werde versucht, „von der Kunst her das Fundament des Lebens aufzubauen“,19 bekennt sich Blass schließlich zum Programm einer als Gottesdienst und Glaubenslehre verstandenen Dichtung: Der ,Stern des Bundes‘ ist die stärkste Konsolidierung der schöpferischen Natur Georges, die wir bisher erlebt haben. Hier ist keine Ungewißheit mehr und überhaupt kein Weg, keine Vergangenheit und keine Gegenwart, sondern das kahle schaffende Tun selbst, das Ziel, die Mission. Das einzelne Kunstwerk, das Loblied schweigt in der großen Verkündigung der Kunst, die dies Buch ist. Denn es war notwendig, daß für unsere Zeit neu errungen und verkündet wurde, was in anderen Zeiten von selbst geübt und würdig verehrt ward. Darum hat das Buch den großen Ernst und die Wucht von Tafeln und die schwere Schrift. Denn es ist beladen mit der Aufgabe kundzumachen und so ist es priesterlich und seherisch und hat diese Form vom Inhalt des Georgeschen Werks, der die Predigt der göttlichen Form ist. […] Es ist der Sieg dieses Buches und dieses Dichters, das alles, was ehedem vielleicht noch spielender und selbständiger gewollt war, hier zum großen Glauben zusammenwuchs, zum tiefsten Dienst sich reinigte, der seinem Gott nicht nur in Lobliedern huldigt, sondern ihn Ungläubigen preist und predigt. Und so hat George den Tempel errichtet und den Bund gestiftet, den nicht eine leere Überzeugung eint, sondern eine religiöse Aufgabe, hinter der der Einzelne unsichtbar ist.20

Am Stern des Bundes entzündete sich ein Richtungsstreit über die Frage, welchen Gehalt und welche Gestalt (Stil) die neue Dichtung haben solle. Die Frage war noch immer aktuell, als 1916 Victor Meyer-Eckhardt einen längeren Aufsatz in der Tat veröffentlichte, der die Kritik des ,lyrischen‘ Lagers für stellenweise berechtigt hält, insgesamt aber das ,ethische‘ Lager unterstützt: Der Rezensent verhehlt nicht, dass StGs „Gestaltungskraft im einzelnen Gedichte gegenüber früheren Werken diesmal geringer erscheint“,21 und bedauert die dominierende Tendenz zu einer abstrakten Gedankendichtung, die nur wenigen Menschen zugänglich sei. Im Ganzen aber würdigt er StGs Ethos der Persönlichkeit, das sich bei dem „ernstesten Bildner unserer Tage“ mit einer strengen „Ethik der reinen Form“ paare. So werde StG in einer „Zeit der verwirrenden Übergänge“ zum Vorläufer einer „künftigen Kunst“.22 18 Werner Kraft, Der ,Stern des Bundes‘ und ,Wannsee‘, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 394–397, hier: 394. 19 Ernst Blass, Stefan Georges ,Stern des Bundes‘, in: Die Argonauten 1/1914, 5, S. 219–226, hier: 219. 20 Ebd., S. 225f. 21 Victor Meyer-Eckhardt, Der Stern des Bundes. Ein Beitrag zu Stefan Georges jüngster Entwicklung, in: Die Tat 8/1916, 4, S. 333–341, hier: 333. 22 Ebd., S. 340f. Im Zweiten Buch des Sterns des Bundes, das Meyer-Eckhardt am meisten beein-

2. Stefan George: Werk – Der Stern des Bundes

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2.7.3.2. Werkkommentare in den Kreisbüchern Die Georgianer haben auf den Stern des Bundes zunächst mit Schweigen reagiert, und zwar auch innerhalb des Kreises. „Die erhaltenen Briefe an George“, so kommentiert Ute Oelmann, „sind auffallend stumm“.23 Am 2. Dezember 1913 dankte Karl Wolfskehl für sein Exemplar der Vorausgabe mit den Worten: „Meister ich habe den Stern des Bundes. Ich halte ihn über mir. Ich weihe mich dem Stern des Bundes. Heut ist Verstummen Pflicht.“24 Und am 25. Januar 1914 schrieb Wolfskehl an Hellingrath, unter Verweis auf Hölderlins heilige Poesie (und Kants Diktum „der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“): „Deine Hölderlin-Bögen haben mich herbegleitet […]. Der Stern des Bundes über uns und alle Götter mit uns – es tut not sich wert zu zeigen solchen Weltenjahrs.“25 Das Schweigen über das Heilsbuch des Kreises, dessen Lehren in stiller Lektüre aufzunehmen waren, endete mit den Werkkommentaren der Georgianer. In George (1920) erklärt Friedrich Gundolf, im Stern des Bundes sei das „Gottgesicht“ und „Weltbild“, das der Siebente Ring offenbart habe, zur „Menschenordnung“, zum „Reich“ verdichtet.26 Im Siebenten Ring wird die Erscheinung des Mittlers selbst gefeiert, der Glanz den er ergießt, der Raum den er schafft, die Gestalten die darin wandeln, die Erschütterungen und Bewegungen seines Umkreises: die Durchdringung der Welt mit dem neuen Licht. Dies Werk ist daher mannigfaltig und vielfarbig, wie kein früheres von George. Im Stern des Bundes ist die Durchdringung vollbracht, und nicht mehr das Wirkende und Gewirkte, sondern das Wirken erscheint: die Dreieinheit von Mittler, Künder, Gesetz . . der Mittler aber nicht mehr als menschliche Gestalt sondern als göttliche Kraft, der Künder nicht mehr als Empfänger der Gesichte sondern als Träger der Sendung, und das Gesetz nicht als der Raum der Erscheinungen sondern als ihr Sinn. Der Stern des Bundes ist daher farbenlos und reizelos und behält von der ganzen Erscheinungsfülle nur die Wucht, das Maß und den Bau.27

Als Ursprung von Gottesschau und Weltgesetz bestimmt Gundolf den „gottsuchenden Eros“:28 „Wie bei Platon ist er im Stern des Bundes der Mittler zwischen den Menschen und dem Gott, die Kraft wodurch die Zweieinigkeit von Mensch und Gott wirkt und erscheint.“29 Wie bei Platon wirke der Eros in den Gesprächen des Zweiten Buches als eine erzieherische Kraft, durch die der Meister seine Schüler zur wahren Erkenntnis bringe. Die platonisierende Deutung des Eros macht das Zweite Buch zum Mittelpunkt des geistigen Geschehens im Stern des Bundes. Diese Deutung, die Gundolf als Erster formuliert hat, wiederholen die späteren Kommentare der Georgianer so obstinat, dass man sie für einen Kernsatz der Lehre im George-Kreis halten muss. In Stefan George und die Blätter für die Kunst (1930) fasst Friedrich Wolters den Stern des Bundes hauptsächlich als das Bild einer Gemeinschaft auf, die im „dichtedruckt, arbeitet er als erster die bei Platon vorgebildete Einheit von Eros und Ethos und ihre Bedeutung für eine „Erziehung zur Gestalt“ heraus, vgl. ebd., bes. S. 337. 23 SW VIII, S. 124. 24 Zit. nach ebd., S. 118. 25 Zit. nach ebd., S. 124. 26 Friedrich Gundolf, George, Berlin 1920, S. 243–269, hier: 243. 27 Ebd., S. 246f. 28 Ebd., S. 244. 29 Ebd., S. 255.

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I. Stefan George und sein Kreis

rischen Sprachleib“ als dem „geistigen Leib aller Einzelleiber“ und dem „Herd aller sie durchwaltenden Kräfte“ gründe.30 Dass „das eine Ganze alle Vielheit aufgefangen und allen Besonderheiten eine höhere Bedingtheit aufgeprägt“ (FW, 397) habe, zeigt sich für Wolters als die beiden Seiten eines Vorgangs, in der ästhetischen Gestalt wie im ethischen Gehalt des Gedichtbands. Es sei eine völlig neue Gattung der lyrischen Dichtung entstanden, in der das einzelne Gedicht eine tiefe Verwandlung erlitten habe: Indem es zwar nicht sein Sondermerkmal als geschlossene Form wohl aber seine Eigenatmosphäre aufgibt und die des Gesamtraumes annimmt, hat es noch seine Grenzen in sich selbst und ist doch nicht außer der Maßschwingung des Ganzen zu denken. (FW, 397f.)

Gleiches gelte für den einzelnen Menschen: Die Verhaltungen und Handlungen der in Gemeinschaft Verbundenen wurden hier zu Wort und Zeichen erhoben; ihr lebendiges Sein erscheint als geistiger Sinn, ihre gemeinsame Sitte als geistiges Lebensgesetz. Daher sind in diesem Werke alle Einzelerlebnisse in eine gemeinsame Sphäre getaucht, alle Personen und Namen als ausschließlicher Besitz dieser Sphäre verschwunden und mit Ausnahme einiger schon außer ihr liegenden Gestalten der Vergangenheit auch dem ihr Vertrauten nur ahnend erkennbar. (FW, 397)

So wie Wolters sagt, mit dem Stern des Bundes sei die „neue Hymne“ (FW, 410) geboren, in der jedes Gedicht von der Maßschwingung des Ganzen durchpulst werde, so beschreibt er die Geburt des ,neuen Menschen‘ als Glied einer durch Lebensgesetze gebildeten Gemeinschaft. In Die Dichtung Stefan Georges (1934) ergänzt Ernst Morwitz die Kommentare seiner Vorgänger u. a. dadurch, dass er genauer erläutert, wie das geistig Geschaute in sprachlicher Gestalt erscheint: Die Gedichte des ,Stern des Bundes‘ enthalten Weisheiten und Gesetze (Weistümer) der neuen Welt, des neuen Lebens. Es ist Absicht des Dichters, die Gedanken so unmittelbar und scharf zu fassen, daß der eine andere wie die eine allein gewollte Ausdeutung nicht mehr möglich ist. Hieraus mag sich erklären, daß bei der Mehrzahl der Gedichte ebenso wie auf dichterische Bilder auch auf den mannigfache Vorstellungen und Deutungen begünstigenden Reim verzichtet wird. Der Zusammenhalt der Worte und Verse wird nicht durch eine der Phantasie raumlassende Bilderweckung, vielmehr durch die Wucht eindeutigen Sagens, also durch die Kraft der Sprache selbst hergestellt, die wie in der Antike nicht Mittel zur Vorstellungsanregung, sondern Endzweck und im Sinn Hölderlins ,tödlich faktisch‘, nicht nur ,tötend faktisch‘ ist.31

Der spätere Kommentar zu dem Werk Stefan Georges (1960) erhellt nicht nur die lebensgeschichtlichen Hintergründe der einzelnen Gedichte, sondern erläutert hauptsächlich die geistesgeschichtlichen Bezüge zu den abendländischen Traditionen, etwa der Antike, des Judentums und des Christentums.32 Morwitz betont die Nähe des Sterns des Bundes zur deutschen Mystik, indem er immer wieder Vergleiche mit Meister Eckhart, Angelus Silesius, Mechthild von Magdeburg und Hildegard von Bingen einflicht. 30 FW, bes. S. 397–408, hier: 397. 31 Ernst Morwitz, Die Dichtung Stefan Georges, Berlin 1934, S. 127–152, hier: 127. 32 Vgl. EM I, S. 339–401.

2. Stefan George: Werk – Der Stern des Bundes

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Das Werk Stefan Georges (1960) von Kurt Hildebrandt reproduziert im Wesentlichen die im George-Kreis geltende Auffassung des Sterns des Bundes: Im ersten Überblick erkennen wir im ,Ersten Buch‘ die Wesensschau des Neuen Lebens und Schaffens in bezug auf das Weltgeschehen. Das ,Dritte Buch‘ zeigt den Bund im Sieg, in der Vollendung des Reiches. Aber zwischen diesen beiden gewaltigen Sichten ist das ,Zweite Buch‘ eingefügt, die innere, ja innigste Welt des Mysteriums der Schöpfung, der Grund der geistigen Zeugung, Eros. (KHW, 356)

Wolfgang Frommel, der durch seine Freundschaft mit Percy Gothein dem George-Kreis nahestand, hat in den Jahren 1937 bis 1942 an einem Buch mit dem Titel C Homilien zu Stefan George: Der Stern des Bundes gearbeitet. Aus dem Projekt gingen später Meditationen zum zweiten Buch des ,Stern des Bundes‘ hervor, von denen die ersten drei im Jahrgang 1980 der Zeitschrift Castrum Peregrini veröffentlicht worden sind. Nach Frommels Tod hat das Castrum Peregrini 1984 das gesamte, nach dreizehn Betrachtungen abbrechende Manuskript der Meditationen ediert. Frommel deutet den mittleren Teil des Sterns des Bundes als eine an die Ideen des platonischen Eros und der mystischen Liebe anknüpfende Freundschaftslehre, die, durch Sinnbilder vermittelt und in Weiheriten vollzogen, stufenweise eine geistige Gemeinschaft erschafft und, von den Älteren an die Jüngeren weitergegeben, eine Tradition des „schönen, des erfüllten Lebens“33 entstehen lässt. 2.7.3.3. Literaturwissenschaftliche Forschung Im Vergleich zu den früheren Werken StGs ist der Stern des Bundes seltener zum Gegenstand der Forschung geworden. Offensichtlich haben die außerhalb des engsten Zirkels verbreiteten Zweifel an der ästhetischen Qualität des Gedichtbands und die damit korrespondierenden Vorbehalte gegenüber der kulturpolitischen Kreisideologie hinderlich gewirkt. Aber auch das verstärkte Interesse der Forschung am Spätwerk, das eine 1998 veranstaltete George-Tagung zu Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘ markierte, richtete sich kaum auf den Stern des Bundes. Es könnte sein, dass sich die Forschung durch die schematisch anmutende Struktur und die bloß didaktisch scheinenden Diskurse des Bandes von eingehenden Untersuchungen abhalten lässt. Welche Spannungen jedoch unter der Oberfläche des Werks liegen, haben exemplarisch die Untersuchungen von Aler zur Metrik und die Fragen von Heftrich nach dem dichterischen ,Grund‘ des Sterns des Bundes gezeigt. Neben den Werkkommentaren aus dem George-Kreis ist eine Gesamtanalyse des Sterns des Bundes allein von Claude David in seiner großen George-Monographie (1952) vorgelegt worden. Der Versuch, die neuartige, sowohl von den Lyrismen der üblichen Erlebnisdichtung als auch vom Ästhetizismus der früheren Gedichtbände StGs abweichende Poetik des Werks zu fassen, führt David zu der vorläufigen Einschätzung, der Stern des Bundes sei ein esoterisches Buch mit okkultistischem Charakter.34 Dazu passen die von David bemerkten Reminiszenzen an griechische Mys33 Wolfgang Frommel, Meditationen zum zweiten Buch des ,Stern des Bundes‘ von Stefan George, in: CP 43/1994, 211/212, S. 5–106, hier: 8. 34 Vgl. Claude David, Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967, S. 285–336, hier: 296.

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I. Stefan George und sein Kreis

terien, platonische Mythen, gnostische Lehren und pythagoreische Überlieferungen wie auch die Bezüge zu den Münchner Kosmikern. Im weiteren Verlauf seiner Analyse gelangt David jedoch zu dem gegenteiligen Ergebnis, dass die im Stern des Bundes vorgespiegelten Geheimlehren bloß verkleidete „Lebensregeln“ für den Kreis seien. So habe der im Stern des Bundes dargestellte Kreis auch nicht die Aufgabe, eine okkulte Erkenntnis zu bewahren, vielmehr sei er selbst der eigentliche Zweck.35 Die Beschwörung des ,heiligen Eros‘ wird von David nur noch als Mittel zu diesem Zweck verstanden: „Die Liebe, so absolut und heftig sie sei, kennt ein Gesetz, das über ihr steht: das Erfordernis des Staates, den zu errichten und weiterzugeben ihre Aufgabe ist.“36 Und wenn man das „Zauberwort“ in der Lehre StGs, den vergotteten ,Leib‘, von seinen platonischen Mystifikationen befreit, dann läuft es laut David auf eine männliche, kriegerische „Moral der schönen Geste“ im Zeichen der Ehre und Dienste des Staates oder Reiches hinaus.37 Eckhard Heftrich (1968) interpretiert den Stern des Bundes als „Buch der Mitte“38 zwischen Siebentem Ring und Neuem Reich und konzentriert sich dabei auf die Beziehung von ,Grund‘ und ,Gründung‘. Ohne sich explizit gegen eine Deutung zu wenden, die (wie dies David tut) den Stern des Bundes als die religiös verbrämte Errichtung einer säkularen Gemeinschaft liest und damit das Spätwerk nicht mehr in das Zeichen des Dichterischen, sondern in das des ,Staatlichen‘ stellt, zeigt Heftrich, dass die im 21. Gedicht des Dritten Buches gefeierte Gründung des Bundes – „Ihr seid die gründung wie ich jezt euch preise“ (VIII, 102) – die Schau eines mythischen Grundes durch den Dichter voraussetzt. Das folgende Gedicht „Wer schauen durfte bis hinab zum grund“ (VIII, 103) mache deutlich, dass ohne diese dichterische Schau des mythischen Grundes und die Schöpfung heiliger Worte keine geistige Gründung möglich sei. Und wenn die Schau des Grundes und die Schöpfung der Worte nicht immer wieder durch einen Dichter erneuert würden, so sterbe die einmal gegründete Gemeinschaft allmählich ab. Heftrich sieht im Stern des Bundes durchaus eine Spannung zwischen „den Versen der mythenschaffenden Vereinigung von Traum und Urbild“ – der Schau des Gottes (Maximin) – und „jenen Gedichten, welche der Erneuerung dieses ursprünglichen Bundes in der heiligen Schar gelten“.39 Einen Bruch zwischen dem Dichterischen und dem Staatlichen erkennt er jedoch nicht. Zu den Analysen der sprachlichen Gestalt gehört die große Studie Dynamische Monumentalität von Jan Aler (1947). Aler, der einige Jahre zuvor eine Interpretation des Gedichts „Ich bin der Eine und bin Beide“ (VIII, 27) im Zusammenhang des „geistigen Raums“ des Sterns des Bundes vorgelegt hatte,40 untersucht mit den Mitteln der Stilkritik die metrische Versgestaltung, besonders in den Gedichten des Eingangs, und entdeckt unter der Oberfläche des scheinbar monotonen Gleichmaßes einen ästhetischen Reichtum unterschiedlicher Rhythmen von höchster Expressivität.41 In der Monographie Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges arbeitet 35 Vgl. ebd., S. 320. 36 Ebd., S. 318. 37 Vgl. ebd., S. 327. 38 Eckhard Heftrich, Stefan George, Frankfurt/M. 1968, S. 117–164, hier: 119. 39 Ebd., S. 117. 40 Vgl. Jan Aler, Zur Interpretation des Stern des Bundes. Der Dichter und sein Gott, in: Neophilologus 24/1938/39, S. 107–121. 41 Vgl. ders., Dynamische Monumentalität im Stern des Bundes, in: Ders., Symbol und Verkündung. Studien um Stefan George, Düsseldorf 1976, S. 276–324.

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Jürgen Wertheimer (1978) heraus, wie die Sprecherinstanzen und -perspektiven (ich, du, wir, ihr, sie) in den Gedichten des Sterns des Bundes zur Gemeinschaftsbildung und Sinnvermittlung eingesetzt werden. Anders als man erwarten könne, wende sich der Stern des Bundes aber nicht oder doch nicht nur an einen geschlossenen Kreis; vielmehr seien die Sprecherperspektiven auf prinzipielle Offenheit angelegt, die Gedichte appellierten an eine Vielzahl von Lesern und ermöglichten ihnen das Gefühl der Teilhabe. Der von StG in der Vorrede als bloßes „missverständnis“ deklarierte Publikumserfolg sei in Wahrheit durch die Struktur des Werks „vorprogrammiert“ gewesen.42 Die ideen- und motivgeschichtlichen Beiträge zum Verständnis des Sterns des Bundes beschränken sich auf die mystischen Züge und Bezüge der Dichtung. Bodo von Maydell (1958) spricht von kabbalistischen Elementen im Weltbild StGs und legt damit eine Verarbeitung der jüdischen Mystik nahe.43 In einer präziser argumentierenden Studie geht Gustaf-Adolf Zekert (1965) den Hinweisen von Wolters und Morwitz, aber auch von Aler und David auf die christliche Mystik nach. Seine Annahme einer „mystischen Grundhaltung“44 StGs sieht er im Stern des Bundes u. a. durch die Zahlensymbolik, die Bildmetaphorik und typische Denkmuster – etwa die ,Unio‘ und die ,Coincidentia oppositorum‘ – bestätigt. Auch der Aufsatz von Joachim Möller (1982), der die hauptsächlich auf den heiligen Zahlen der 5 und der 12 basierende Zahlensymbolik des Sterns des Bundes bis zur untersten Ebene der Buchstaben verfolgt, konstatiert eine enge Beziehung zu den Traditionen der Mystik.45 Ein diskursgeschichtlicher Aufsatz von Ulrike Stamm (2000) widmet sich StGs Auseinandersetzung mit dem Weiblichen im Stern des Bundes. An den drei Gedichten des Bandes, die direkt vom „weib“ und den „frauen“ sprechen, weist Stamm nach, dass in ihnen „mehrere Axiome eines abendländischen Denkens versammelt sind, die das Weibliche negativ bewerten und zugleich konservative Vorstellungen aufrufen, um seine Bedrohlichkeit zu bannen“.46 Für die Gender-Diskurse des gesamten Werks gelte: Insofern der Frau der Bereich des Animalischen zugeordnet wird, leiten sich die sogenannten niederen Instinkte, alles, was als dumpf oder im weitesten Sinne als ,chthonisch‘ zu bezeichnen wäre, von ihr her, während das eigentliche Schaffen, also die geistige Formung von Mann und Frau, sich dem Mann verdankt. Indem der Mann zum alleinigen Erzeuger des Menschen wird, macht das männliche Schaffen das ,weibliche‘ Gebären eigentlich überflüssig und hebt es auf.47

42 Jürgen Wertheimer, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen, München 1978, S. 134–152, hier: 151. 43 Vgl. Bodo von Maydell, Vom ,Stern des Bundes‘ zum ,Stern der Erlösung‘. Kabbalistische Elemente im Weltbild Stefan Georges, in: Judaica 14/1958, 4, S. 211–215, bes. S. 212. 44 Gustav-Adolf Zekert, Zu Georges ,Stern des Bundes‘, in: Grüsse: Hans Wolffheim zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Klaus Schröter, Frankfurt/M. 1965, S. 51–74, hier: 56. 45 Vgl. Joachim Möller, Zur Zahlensymbolik in Stefan Georges Gedichtband ,Der Stern des Bundes‘, in: Neue Beiträge zur George-Forschung 7/1982, S. 35–53. 46 Ulrike Stamm, Zwischen Abgrenzung und Auflösung: Georges Auseinandersetzung mit dem Weiblichen im ,Stern des Bundes‘, in: GJb 3/2000/2001, S. 1–21, hier: 11f. 47 Ebd., S. 13.

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I. Stefan George und sein Kreis

2.7.3.4. Forschungsdesiderate und Deutungsperspektiven Die zukünftige Forschung könnte sich an einem Katalog von Leitfragen orientieren, die in der bisherigen Rezeption des Sterns des Bundes zwar angesprochen, aber noch nicht systematisch behandelt worden sind. Werkpoetik und Werkpolitik So ist nicht hinreichend geklärt, um welche Art von Werkpoetik und Werkpolitik es sich eigentlich handelt. Ist der Stern des Bundes eine ,geschlossene‘, esoterische Dichtung für den kleinen Kreis oder eine ,offene‘, an das größere Publikum appellierende Dichtung? Oder ist er beides zugleich? Gattungsreferenzen und Intertextualität Entgegen der Behauptung von Wolters, der Stern des Bundes sei eine völlig neuartige und unvergleichliche Dichtung, kann diachron nach bestimmten Gattungstraditionen und Prätexten gesucht, synchron nach verwandten Schreibformen und Werkkonzepten um 1900 gefragt werden. Neben der Tradition der hymnischen Lyrik,48 in deren Zusammenhang die Bezüge des Sterns des Bundes auf Gedichte Hölderlins und Nietzsches genauer zu ermitteln wären, bietet sich die Tradition des platonischen Dialogs für eine Untersuchung an. Diese müsste auch die gehäuft auftretenden Variationen in der lyrischen, dramatischen, epischen und essayistischen Literatur um 1900 einbeziehen. Noch wenig erforscht ist die Tendenz der zeitgenössischen Lyrik zu großen Werkkompositionen, in deren Architektur sich die Frage nach dem Verhältnis von Teil und Ganzem stellt. Strukturanalyse Alers und Wertheimers Studien zur Metrik und zur Dialogizität, die einen großen Erkenntnisgewinn gebracht haben, sollten durch Untersuchungen anderer Strukturebenen des Sterns des Bundes ergänzt werden. Aussichtsreich erscheinen Analysen der Zeit- und der Raumstruktur sowie des Metapher- und Symbolsystems. Ideengeschichte und Diskursanalyse Die von den Georgianern vorgelegte Interpretation des Sterns des Bundes im Sinne platonischer Begriffe wird durch ein derzeit (2011) noch laufendes Forschungsprojekt 48 Zur Gattungstradition der Hymne vgl. Kai Kauffmann, Loblied, Gemeindegesang und Wechselrede. Zur Transformation des Hymnischen in Stefan Georges Œuvre bis zum ,Stern des Bundes‘, in: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 34–47.

2. Stefan George: Werk – Das Neue Reich

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zum Platonismus im George-Kreis überprüft.49 Der ideengeschichtliche Bedeutungshorizont, der, wie vom Autor wohl beabsichtigt, im Stern des Bundes auf den Platonismus eingeengt erscheint, ließe sich durch diskursgeschichtliche Analysen erweitern und verschieben. Um die nicht weiterführende Antithese zwischen der hagiographischen Affirmation des platonischen Eros als geistiger Lebensform und der biographischen Skandalisierung einer homosexuellen und pädophilen Libido in poetischer Tarnmaske zu überwinden, wäre es notwendig, die Figurationen des Sterns des Bundes im Kontext der zeitgenössischen Diskurse über Männerfreundschaft und -liebe zu untersuchen, wobei die Aufmerksamkeit sich hauptsächlich auf die Modelle und Varianten der ästhetischen Gestaltung in der Literatur und der Bildenden Kunst zu richten hätte.50 Studien zur ästhetisch-sozialen Praxis Schließlich sollte die Forschung der Frage nachgehen, welche besondere Rolle der Stern des Bundes in der ästhetischen und sozialen Praxis des George-Kreises und nachfolgender Jünger-Runden wie dem Castrum Peregrini spielte. Es gilt zu ermitteln, inwieweit das Memorieren und Rezitieren der Gedichte, rituelle Lesungen, meditative Lektüren, gesprächsweise Auslegungen und buchförmige Kommentare dieses ,Geheimbuch‘ tatsächlich zum Organon von Gemeinschaften im Zeichen der Freundschaft und des Dienste am Geist machten. Kai Kauffmann

2.8.

Das Neue Reich (SW IX)

2.8.1. Entstehung und Überlieferung StGs letzter Gedichtband erschien, nachdem der Dichter mit einem Brief vom 5. Oktober 1928 an seinen Verleger Georg Bondi das Imprimatur für den Druck erteilt hatte, noch im gleichen Monat als neunter Band der Gesamt-Ausgabe der Werke. Vom Beginn der Planungen der Gesamtausgabe an stand für StG fest, dass deren neunter Band seine nach dem Siebenten Ring und unabhängig vom Stern des Bundes entstandenen Gedichte versammeln sollte; auch wollte er, dass dieser Band 1928, im Jahr seines 60. Geburtstags, erscheinen sollte. Im November 1927 erschien als erster Band Die Fibel; der „Plan der Gesamt-Ausgabe“, der an dessen Ende abgedruckt ist, verzeichnet als deren neunten Band „Die neue Gedicht-sammlung. (Für 1928.)“ Der im Februar 1928 gedruckte vierte Band (Das Jahr der Seele) kündigt den neunten Band bereits für den „Sommer 1928“ an. Dies nimmt der im Juni 1928 gedruckte 49 Vgl. dazu die erste Publikation: Christian Oestersandfort, Platonisches im ,Teppich des Lebens‘, in: GJb 7/2008/2009, S. 100–114. 50 Textanalytisch und diskursgeschichtlich völlig unzureichend: Marita Keilson-Lauritz, Von der Liebe die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges, Berlin 1987, zum Stern des Bundes vgl. S. 53–55.

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zweite Band (Hymnen Pilgerfahrten Algabal) wieder zurück; hier wird im „Plan“ für den neunten Band nur das Erscheinungsjahr 1928 genannt. Ein 1928 gedruckter Verlagsprospekt zur Gesamt-Ausgabe, der zum zweiten Band den Vermerk „Erschienen Juli 1928“ trägt, also frühestens in diesem Monat gedruckt worden sein kann, kündigt den neunten Band weiterhin ohne Titel als „Die neue Gedicht-sammlung“ an und nennt als Erscheinungsdatum: „voraussichtl. für Herbst 1928“. Diese Daten zeigen, dass der Titel von StGs letztem Gedichtbuch, das ursprünglich nichts anderes als eine Sammlung seiner neuen Gedichte hatte sein sollen, erst in der letzten Arbeitsphase unmittelbar vor Druckbeginn gefunden wurde, vermutlich irgendwann im August oder September 1928. Das Neue Reich: Dies ist einer der anspruchsvollsten Titel der deutschen Lyrikgeschichte, und doch erscheint er im Lichte der Entstehungsgeschichte des Bandes wie ein thematisches Notdach, das eilig über einen viel Unterschiedliches versammelnden Textspeicher geschlagen wurde. Die „Vorrede“ zu dem Band desillusioniert den Leser denn auch gleich freimütig im Hinblick auf die von seinem Titel suggerierten Geschlossenheitsansprüche: Dieser band umfasst alle seit dem Stern des Bundes entstandenen gedichte. Viele sind in den Blättern für die Kunst erschienen (1914–19). Der Krieg und Der Dichter in Zeiten der Wirren mit zwei andern gedichten in gesonderten heften. Goethes lezte Nacht in Italien · die eröffnung einer neuen reihe · reicht bis 1908 zurück.

Vermischte Gedichte also aus zwanzig Jahren, entstanden aus den unterschiedlichsten Anlässen in einem weiten historischen Spannungsbogen, der sich von den Friedenszeiten vor dem Ersten Weltkrieg bis zu den Krisenjahren der Weimarer Republik erstreckt: Es liegt auf der Hand, dass der eine Reichsutopie von welthistorischer Bedeutung ankündigende und radikal einheitsstiftende Titel des Buches in beträchtlicher Spannung zu den kontingenten Faktoren seiner Genese und zu seiner inneren Zerklüftung steht. Kein anderes Werk StGs ist inhaltlich und formal so heterogen wie Das Neue Reich, keines versammelt Gedichte, die in einem auch nur annähernd so langen Entstehungszeitraum geschrieben worden sind – und keines verfügt über einen derart ambitionierten, das Heterogene im Zeichen eines entschiedenen Ganzheitsverlangens überwölbenden Titel. Über die Entstehungsgeschichte und die Textüberlieferung unterrichtet der Anhang in der Neuausgabe des Bandes (IX, 114–127); die folgende Darstellung stützt sich im Wesentlichen auf die hier versammelten Daten. StG hielt sich im Dezember 1927 und dann wieder von Ende Januar bis zum 21. Februar 1928 in Kiel bei der Familie Landmann auf. In dieser Zeit – also bald nach dem Erscheinen des ersten Bands der Gesamtausgabe – ließ er Georg Peter Landmann in StG-Schrift seine in den Folgen VII (erschienen Februar 1910) bis XI/XII (erschienen Dezember 1919) der BfdK veröffentlichten Gedichte abschreiben. In diese teilweise erhaltene Sammelhandschrift übertrug Georg Peter Landmann auch die in Form von Flugschriften veröffentlichten Dichtungen Der Krieg (1917) und Drei Gesänge („Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande“, „Der Dichter in Zeiten der Wirren“ und „Einem jungen Führer im ersten Weltkrieg“, erschienen 1921), und damit den Gesamtbestand von StGs seit dem Februar 1909 – in diesem Monat, also ein Jahr vor der achten Folge der BfdK, wurde „Goethes lezte Nacht in Italien“ im dritten Ausleseband Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1904–1909 gedruckt – erschienenen und noch nicht in Buchform veröffentlichten Gedichten. Auf Leerseiten trugen danach Frank

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Mehnert („Geheimes Deutschland“) und Max Kommerell („Burg Falkenstein“, „Der Gehenkte“ sowie das an Percy Gothein gerichtete Gedicht „P:“) an den von StG hierfür vorgesehenen Stellen bis dahin unveröffentlichte Gedichte ein. Von StG selbst stammt in der Sammelhandschrift die Überschrift Sprüche an die Lebenden; diese Sprüche fehlen mit Ausnahme des Spruchs „P:“ in der Handschrift aber ebenso wie die Sprüche an die Toten. Die Reihenfolge der Gedichte entspricht in der Handschrift noch nicht ganz derjenigen im Druck. „Hyperion“ und „An die Kinder des Meeres“, in der Handschrift noch hinter die Weltkriegsgedichte gestellt, fanden im Druck der Chronologie gemäß ihren Platz hinter „Goethes lezte Nacht in Italien“ als dem ältesten, den Band eröffnenden Gedicht, und im Druck wurde zudem, abweichend von der Sammelhandschrift, „Burg Falkenstein“ vor „Geheimes Deutschland“ gestellt. Die Sammelhandschrift bildet das wichtigste Textzeugnis für die Entstehung von StGs letztem Gedichtband; sie gibt dessen kompilatorischen Charakter deutlich zu erkennen und verweist darüber hinaus auf StGs Bemühen, der Sammlung trotz ihrer Heterogenität eine plausible innere Ordnung zu verleihen, wobei der Einfügung der bisher unveröffentlichten Gedichte eine besondere Funktion im Sinne der Einheitsstiftung zukam. Allerdings konnte StG bei der Zusammenstellung des Bandes nur auf eine Handvoll gewichtiger ungedruckter Texte zurückgreifen; mit ihnen aber verfuhr er höchst planvoll. Im Anschluss an die Maximin-Gedichte „Die Winke“ und „Gebete“ und vor „Der Mensch und der Drud“ fügte er die großen Gedichte „Burg Falkenstein“ (entstanden nicht vor August 1922) und „Geheimes Deutschland“ (entstanden in zeitlicher Nähe zu dem vorangegangenen Gedicht) sowie „Der Gehenkte“ (vermutlich eines von StGs spätesten Gedichten) ein und verlieh damit dem Band ein gewichtiges geschichtsprophetisches Zentrum. Unveröffentlicht waren des Weiteren die Mehrzahl der Sprüche an die Lebenden sowie vier der Gedichte, die in dem Das Lied betitelten Schlussteil des Bandes versammelt wurden: „Welch ein kühn-leichter schritt“, „Der lezte der Getreuen“, „Das Licht“ und „In stillste ruh“ (keine genaue Datierung möglich). Der als „die neue Gedicht-sammlung“ angekündigte Band enthielt also nur eine sehr geringe Zahl neuer Gedichte. Umso stärkere Bedeutung kam dem von StG zuletzt gefundenen Titel Das Neue Reich für die Proklamation des für den Band beanspruchten Erneuerungspotenzials zu. An den Anfang des Neuen Reichs stellte StG ein Gedicht, das seine Leser bereits seit zwanzig Jahren kannten: „Goethes lezte Nacht in Italien“, erschienen zunächst 1909 im dritten Ausleseband und erst 1910 in der achten Folge der BfdK. Auch in dem Ausleseband nahm es bereits einen strukturell wichtigen Ort ein, denn dort druckte es StG im Anschluss an die „Vorrede zu Maximin“ und stellte damit das Gedicht in engsten Bezug zu deren religiösem Erneuerungspathos. Formal ragte dies Rollengedicht aus StGs bisheriger lyrischer Produktion allein schon durch seine Länge hervor: Mit sieben Strophen von jeweils zwölf Versen Umfang – zahlensymbolisch hochbefrachtet – war es das umfangreichste Gedicht, das StG bis dahin geschrieben hatte. Damit präludiert „Goethes lezte Nacht in Italien“ eine Reihe weiterer langer Gedichte, die den poetischen Gesamtcharakter des Neuen Reichs auf markante Weise prägen. Seine 1910 in der neunten Folge der BfdK erschienenen Gedichte hatte StG sämtlich in den Stern des Bundes aufgenommen – mit der gewichtigen Ausnahme von „Das Lied“, das in der neunten Folge in einer das Heft abschließenden Reihe ohne Verfasserangabe abgedruckter Texte jüngerer Dichter erschien; ein diese Abteilung eröff-

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I. Stefan George und sein Kreis

nender Text bemerkt mit ausdrücklichem Bezug auf „Das Lied“: „Wir bringen wie in der achten folge eine auswahl jüngerer dichter: das lezte gedicht wie die lezte rede weil sie – obwohl den Rahmen der ,Blätter‘ etwas überschreitend – ein vielversuchtes und -angepriesenes in der echtheit zu enthalten scheinen.“1 StG hat das Gedicht ohne weiteren Kommentar ins Neue Reich aufgenommen und damit dem eigenen Werk zugeschlagen; Spekulationen darüber, ob es einen anderen Verfasser habe, führen nicht sehr weit. Immerhin ist denkbar, dass es sich bei „Das Lied“ um ein Gedicht des jungen StG handelt, das sich nicht zum Ton des Stern des Bundes fügte und deshalb in den BfdK anonym unter den Texten „jüngerer dichter“ Aufnahme fand. Reiches Material bot dann wieder die vor Kriegsausbruch zusammengestellte, im November 1914 ausgelieferte zehnte Folge der BfdK: das an Maximin gerichtete „Gebet“ (im Neuen Reich das erste der „Gebete“), die dreiteiligen Gesänge „Hyperion“ und „An die Kinder des Meeres“ (erweitert um ein viertes, „Nachklang“ überschriebenes Gedicht, das Ernst Morwitz verfasste), die großen Dialoggedichte „Der Mensch und der Drud“ und „Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann“. Während diese Texte die zehnte Folge der BfdK, in der alle Texte ohne Verfasserangabe erschienen, eröffneten und damit bereits durch ihre Position als Werke StGs für die Leser identifizierbar waren, schloss das „Schifferlied“ das Heft ab, konnte also von den zeitgenössischen Lesern nur schwer StG zugeschrieben werden. Auch hier bestätigte StG mit der Aufnahme des Gedichts ins Neue Reich seine Verfasserschaft. In der seit 1917 vorbereiteten, aber erst 1919 erschienenen elften und zwölften Folge der BfdK schließlich hatte StG unter dem Gesamttitel „Die Winke“ das später unter diesem Titel ins Neue Reich aufgenommene Gedicht sowie die dort als das zweite und dritte der „Gebete“ erschienenen Gedichte zum Abdruck gebracht. Aus der letzten Folge der BfdK konnte StG des Weiteren die Sprüche an die Toten (von denen das zweite der „Balduin“ überschriebenen Gedichte nach Ausweis von Ernst Morwitz Friedrich Wolters zum Verfasser hat; vgl. EM I, 473) sowie die ersten acht Sprüche an die Lebenden übernehmen. Auch die Szene „Der Brand des Tempels“ sowie die Lieder „Horch was die dumpfe erde spricht“, „Seelied“, „Die törichte Pilgerin“, „Das Wort“, „Die Becher“ und „Du schlank und rein wie eine flamme“ hatten die Leser StGs bereits 1919 in den BfdK kennenlernen können. So bildeten den Kernbestand des Neuen Reichs die von 1910 bis 1919 in den BfdK erschienenen Gedichte StGs. Hinzu kamen die in hohen Auflagen als Flugschriften verbreiteten Dichtungen Der Krieg (1917) und Drei Gesänge (1921), die „dem Andenken des Grafen Bernhard Uxkull“ gewidmet waren und die Gedichte „An die Toten“ (ins Neue Reich aufgenommen als „Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande“), „Der Dichter in Zeiten der Wirren“ und „Einem jungen Führer im ersten Weltkrieg“ umfassten, sowie jener oben beschriebene schmale Bestand an bis dahin unveröffentlichten Gedichten StGs. Was also war, da doch die überwiegende Mehrzahl der Gedichte seines letzten Bandes seinen Lesern längst bekannt war, das Neue an StGs Neuem Reich?

1 BfdK 9/1910, S. 139.

2. Stefan George: Werk – Das Neue Reich

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2.8.2. Aufbau und Formales Überraschend wirkt zunächst, nach dem 15 Jahre zuvor erschienenen Stern des Bundes in seiner formalen und thematischen Geschlossenheit, das weite Spektrum an Formen und Tönen, das das Gesamtgepräge des Bandes bestimmt. Zahlensymbolische Strukturierungen lassen sich zwar noch bei einzelnen Gedichten erkennen, legen aber nicht mehr den Aufbau des Buches fest; er besteht, wie schon Friedrich Wolters festgestellt hat, „in der einfachen Aufeinanderfolge von vierzehn großen Gesängen, dreimal dreizehn oft mehrteiligen Sprüchen und zwölf Liedern“ (FW, 526). Die Neigung des späten StG zu spruchhafter Dichtung, zur Entfaltung gekommen im Siebenten Ring und im Stern des Bundes zum zentralen Gestaltungsprinzip entwickelt, setzt sich mithin fort im Neuen Reich, prägt dort aber nicht mehr den Gesamtcharakter des Bandes. Dieser wird vielmehr von langen Gedichten oft hymnischen Charakters, wie sie in dieser Form in StGs früheren Gedichtbänden unbekannt waren, und von der den Band abschließenden Gruppe von Liedern bestimmt, mit der der Dichter auf wiederum überraschungsvolle Weise an die liedhaften Dichtungen seiner frühen Jahre anknüpft. Das Zentrum des Bandes bilden vier szenische Gedichte („Der Gehenkte“, „Der Mensch und der Drud“, „Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann“ und „Der Brand des Tempels“), wie sie für das Werk StGs ganz ungewöhnlich sind. So sticht Das Neue Reich aus der Reihe der Gedichtbände StGs durch den Kontrast einer Gruppe sehr langer Gedichte zu den kurzen Spruchdichtungen hervor, wobei der Band seine formale Abrundung durch die Reihe der einen Ausgleich zwischen diesen Extremen bezeichnenden Lieder erfährt. Inhaltlich steht der Band ganz im Zeichen der kunstreligiösen Wende, die StG mit dem Maximin-Erlebnis im Jahre 1904 vollzogen und die seitdem – also seit nahezu einem Vierteljahrhundert – seine Strategie der Kreisbildung und der metapolitischen Welterneuerung bestimmt hatte. StGs poetische Arbeit an einem Dichterbild, das den Dichter zum Seher und zum Verkünder eines neuen Gottes der wiedergewonnenen Lebenstotalität überhöht, führte zu einer markanten Verschiebung im Kanon der für sein Werk und sein dichterisches Selbstverständnis modellbildenden Leitfiguren. Von den drei Dichtern, die ihn seit der Jahrhundertwende besonders intensiv beschäftigt hatten, Dante, Shakespeare, Goethe, trat Goethe, aus dessen Werk er noch 1901 eine Anthologie zusammengestellt hatte, als dichterischer Repräsentant der Kunstautonomie und eines auf Antike und Renaissance sich berufenden menschheitlichen Universalismus mehr und mehr als Orientierungsfigur zurück; tatsächlich vollzieht „Goethes lezte Nacht in Italien“ als das Gedicht, welches Das Neue Reich eröffnet, einen Abschied von Goethe. Auch die gründliche Auseinandersetzung mit Shakespeare, dessen Sonette StG von 1907 bis 1909 übersetzt hatte, hinterließ nur geringe Spuren in den Gedichten des Neuen Reichs; erwähnen lassen sich hier immerhin die Couplets, die die drei „Gebete“ abschließen (im Falle des dritten „Gebets“ erweitert allerdings um einen dritten Vers mit demselben Reim). Umso wichtiger blieb Dante, dessen Commedia StG im Jahr 1900 zu übersetzen begonnen hatte, als der neuzeitliche Inbegriff des Dichter-Sehers: am deutlichsten im Neuen Reich in dem großen Gedicht „Der Krieg“, dem als Motto drei Terzinen aus dem Paradiso voranstehen. Die Wendung zum langen hymnischen Gedicht, die 1908 mit „Goethes lezte Nacht in Italien“ einsetzte, bildet eine Konsequenz des gesteigerten politisch-pädagogischen Wirkungswillens, dem sich der Dichter nach dem Erscheinen des Siebenten Rings

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ergab, und damit ein Komplementärphänomen zur Gründung des Jahrbuchs für die geistige Bewegung im Jahre 1910: „es ist nun die Zeit gekommen, da man sich ausbreiten kann: etwas deutlicher und mehreres sagen als früher“ (BV, 40f.), so stellte StG 1909 mit Blick auf „Goethes lezte Nacht in Italien“ im Gespräch mit Berthold Vallentin fest. In dieser Situation einer Neudefinition seines dichterischen Selbstverständnisses kam für StG der Entdeckung der Pindar-Übertragungen und der späten Hymnen Friedrich Hölderlins durch den damals 21 Jahre alten Norbert von Hellingrath, der ihm am 26. November 1909 von Karl Wolfskehl vorgestellt worden war, entscheidende Bedeutung zu. Dass die Anfang 1910 ausgelieferte neunte Folge der BfdK von Hölderlins Pindar-Übersetzungen eröffnet wurde und dass auf StGs Anweisung noch im selben Jahr deren von Hellingrath herausgegebene Gesamtausgabe im Verlag der Blätter für die Kunst erschien, verlieh diesen Übertragungen programmatischen Charakter für das Dichtungsverständnis des gesamten Kreises. Aus Hellingraths im Juli 1911 erschienener Dissertation Pindarübertragungen von Hölderlin übernahm StG den Satz aus Hölderlins bis dahin ungedruckter Ode „Rousseau“, den er zum Motto seines Gedichts „Hyperion“ erhob: „dem sehnenden war der wink genug und winke sind von alters her die sprache der götter.“2 – ein Zitat, das auch den Titel des ins Neue Reich aufgenommenen, auf Maximin bezogenen Gedichts „Die Winke“ erklärt. StGs Publikationspolitik ließ so Hölderlin Schritt für Schritt aus dem Schatten Goethes und diesen in den dichtungsgeschichtlichen Hintergrund treten, eine Tendenz, die sich mit dem Erscheinen der ersten Bände der von Hellingrath herausgegebenen historisch-kritischen Ausgabe sämtlicher Werke Hölderlins, an deren Zustandekommen StG intensiven Anteil nahm, noch erheblich verstärkte. Besondere Bedeutung kam hierbei dem im Sommer 1914 vorab als Sonderdruck für die Freunde erschienenen vierten Band zu, der die bis dahin weitgehend unbekannten großen Hymnen und Hymnen-Entwürfe des Dichters brachte. Hölderlins späte Hymnen standen StG für die Möglichkeit des Dichtersehers und einer visionären, über die Geschicke ihrer Nation entscheidenden Poesie auch in der Moderne ein. Erst dessen von Hellingrath erschlossenes Spätwerk ermöglichte es StG, in Hölderlins vaterländischem Sehertum die Präfiguration des nationalreligiösen Poeta vates zu erkennen, dessen Position zu beziehen er sich mit dem Siebenten Ring angeschickt hatte. Pindars Siegeslieder in Hölderlins Vermittlung und Hölderlins späte Hymnen bildeten somit die Muster, nach denen sich StGs dichterisches Sehertum in den großen hymnischen Dichtungen des Neuen Reichs modellierte (ohne sich dabei freilich jemals imitativ auf den sprachlichen Duktus und dichterischen Ton Hölderlins zu beziehen). Der Gestus des Rühmens in Gedichten wie „Einem jungen Führer im ersten Weltkrieg“ und das nationale Verkündigungspathos in Gedichten wie „Der Dichter in Zeiten der Wirren“ oder „Geheimes Deutschland“ haben hier ihren Ursprung. Gesänge, dialogische Gedichte, Sprüche, Lieder: Dies also sind die Gruppen, in die sich Das Neue Reich aufteilt, wobei jede dieser Gruppen durch einen hohen formalen Variationsreichtum charakterisiert wird – auch die Sprüche, deren formales Spektrum sich vom schlichten Vierzeiler bis zu dem großen Dialoggedicht „Victor * Adalbert“ erstreckt. Zu welcher formalen Vielfalt noch der späte StG fähig ist, erweist sich zumal an den zwölf Liedern, die zwar alle strophisch aufgebaut sind, von denen aber 2 Norbert von Hellingrath, Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe, Jena 1911, S. 45.

2. Stefan George: Werk – Das Neue Reich

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keines formal mit einem der anderen identisch ist. Hier stehen Volksliedstrophen mit Paarreim („Seelied“) oder Kreuzreim (das vierhebige Gedicht „Du schlank und rein wie eine flamme“, das fünfhebige Lied „Das Licht“ und „Das Lied“, bei dem sich aber nur jeweils der 2. und der 4. Vers reimen) neben Paarreimstrophen („Das Wort“) und reimlosen Strophen aus jeweils vier Versen („Der lezte der Getreuen“). Terzinenähnliche Gebilde, von denen das eine („Welch ein kühn-leichter schritt“) reimlos ist, das andere reimlose Mittelverse besitzt („Horch was die dumpfe erde spricht“), das dritte schließlich („Die Becher“) nach dem Schema abcabcdefdef gereimt ist, stehen neben fünfzeiligen Strophenformen („Die törichte Pilgerin“ und „In stillste ruh“) und dem reimlosen „Schifferlied“, dessen Verse durch eine markante Mittelzäsur unterteilt werden. Auch wenn StG in den Gedichten von Das Lied eine Rückkehr zum Volkston anstrebt, so zeigt doch dieser formale Variationsreichtum, dass er dabei immer eine Schlichtheit höherer Ordnung intendiert, die sich nur durch höchste Artistik erreichen lässt. Im Wechsel der Formen von den Gesängen über die Sprüche hin zu den Liedern zeichnet sich ein inhaltlicher Spannungsbogen ab, der von den großen politischen, zeitkritischen, poetologischen und religiösen Problemen und Themen von überpersönlicher Bedeutung über die Ansprache an die lebenden und toten Mitglieder des George-Kreises als die Lichtboten des ,Neuen Reichs‘ in finsterer Zeit hin zum zeitenthobenen Lied führt, in dem StG noch einmal grundsätzliche Probleme des Daseins – Liebe und Tod, Kunst und Leben – dichterisch zur Darstellung bringt, ohne sie, anders als in den großen Gesängen, einer programmatischen Lösung zuführen zu wollen oder zu können – dies dem Motto gemäß, das er dieser Gruppe vorangestellt hat und mit dem er ein letztes Mal die Einheit von Denken, Dichten und Leben behauptet: „was ich noch sinne und was ich noch füge / was ich noch liebe trägt die gleichen züge“ (IX, 98). 2.8.3.

Rezeption und Deutung

2.8.3.1. Zeitgenössische Rezeption Die öffentliche Resonanz auf StGs letztes Gedichtbuch fiel vergleichsweise zurückhaltend aus. Dies hat – neben der Tatsache, dass nach den zahlreichen publizistischen Huldigungen zu StGs 60. Geburtstag am 12. Juli 1928 das Interesse der Öffentlichkeit an dem Dichter im November noch etwas ermattet war – sicher auch mit dem Erscheinungsmodus des Werks zu tun. Dass Das Neue Reich gleich im Rahmen der Gesamtausgabe erschien, hatte zur Konsequenz, dass es weniger als ein eigenständiges Werk denn als die letzte Manifestation eines Klassikers zu Lebzeiten wahrgenommen wurde, der sich künstlerisch gleichsam schon selbst überlebt hatte. „Der Zirkel des Werkes ist so geschlossen. Aber auch des Sehers Amt ist mit ihm zu Ende“, so hieß es gleich nach Erscheinen des Buchs – repräsentativ für viele weitere Rezeptionszeugnisse – in der Berliner Börsen-Zeitung.3 Vor allem an dem im Neuen Reich massiv in 3 Peter Hamecher, Stefan Georges neues Gedichtwerk, in: Berliner Börsen-Zeitung v. 4.11.1928. Ich habe im Text der von Druckfehlern schwer gezeichneten Rezension zwei Konjekturen vorgenommen; im Druck heißt es: „Der Zirkel des Werkes ist so geschaffen. Aber aus des Sehers Amt“.

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I. Stefan George und sein Kreis

Szene gesetzten Sehertum StGs entzündete sich die Kritik, während die Lieder viel Bewunderung auf sich zogen; selbst StG prinzipiell wohlgesonnene Kritiker wie Eduard Korrodi zogen hier eine scharfe Grenze zu den Ansprüchen des Dichters: „Was uns an ihm verdroß und noch verdrießt, ist die Haltung des Sehers.“4 Umso schärfer mussten die Urteile derer ausfallen, die StGs Werk ohnehin kritisch gegenüberstanden; so schrieb Ernst Lissauer: Ein schwaches Buch; nicht etwa durchaus von den früheren Bänden unterschieden, aber die Schwächen und Mängel liegen offenbarer zutage als je zuvor. […] Georges Blick ist in die fernsten Fernen der Vergangenheit und der Zukunft gewandt, doch verblendet wider die Nähe; er erniedert sie übers Maß, er sieht sie unbestimmt und verfälscht aus seiner vermeinten Höhe. […] er ist dennoch tönend Erz und klingende Schelle, denn er hat der Liebe nicht.5

Und selbst Ernst Blass, der dem Buch eine der wenigen rundum positiven Besprechungen widmete, äußerte sich mit beklommener Zurückhaltung, als er auf StG als Seher des ,Neuen Reichs‘ zu sprechen kam: Denn es ist ein Schmerz, wenn von einem neuen Reich so konkret und unmetaphorisch gesprochen wird, zu wissen, dass es zunächst nirgends vorhanden ist und leider höchstwahrscheinlich auch nicht kommen oder nicht so kommen wird … Denn wenn auch Glauben fruchtbarer ist als Unglauben, so lässt sich Skepsis nicht durch ein Dekret entwurzeln.6

Außerhalb des George-Kreises dominierte also eine Rezeptionsstrategie, die den Anspruch des Dichters auf ein politisch-nationales Sehertum zu neutralisieren und das Erneuerungspathos des Bandes zurückzudämmen suchte im Zeichen des künstlerischen Autonomieanspruchs, der StGs Frühwerk geprägt hatte. Damit gewann Das Neue Reich, statt die vom Dichter erhofften Innovationsimpulse auszusenden, in der öffentlichen Rezeption eher einen rückwärtsgewandten Vermächtnischarakter: als das letzte Wort eines Klassikers, dessen Botschaft seinen Lesern seit Langem gut vertraut war. „Mit dem Neuen Reich übergab Stefan George den Deutschen ein Vermächtnis. Sein dichterisches Werk sieht er im wesentlichen vollendet.“ So heißt es im Mai 1929 am Schluss von Siegfried Langs großer Besprechung in der Neuen Schweizer Rundschau.7 Das Erscheinen des Neuen Reichs nahm StG zum Anlass einer feierlichen Lesung, die Anfang November 1928 in der Wohnung Ludwig Thormaehlens in Berlin-Halensee stattfand. Es lasen Ernst Morwitz, Robert Boehringer und StG selbst, der u. a. „Geheimes Deutschland“ vortrug. Wenn man das ,Neue Reich‘ als den geistigen Staat des ,Geheimen Deutschland‘ verstehen will, so waren bei dieser Lesung – zu einer Zeit also, als der George-Kreis von heftigen Konflikten zumal zwischen Max Kommerell und Ernst Morwitz zerrissen wurde – zum letzten Mal dessen wichtigste Mitglieder vereint. Zugegen waren Johann Anton, sein Bruder Walter und Max Kommerell, zugegen waren die drei Brüder Stauffenberg. Frank [Mehnert], als Jüngster, saß zu Seiten des Dichters. Zum

4 Eduard Korrodi, ,Das neue Reich‘ Stefan Georges, in: Neue Zürcher Zeitung v. 24.2.1929. 5 Ernst Lissauer, Georges neues Gedichtbuch, in: Hannoverscher Kurier v. 30.12.1928. 6 Ernst Blass, Das neue Buch von Stefan George, in: Berliner Tageblatt v. 13.12.1928. 7 Siegfried Lang, Zu Stefan Georges ,Neuem Reich‘, in: Neue Schweizer Rundschau 22/1929, S. 329–342, hier: 342.

2. Stefan George: Werk – Das Neue Reich

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letzten Mal geschlossen anwesend war die Gruppe des Ernst Morwitz. Er kam mit Silvio Markees und Bernhard von Bothmer. Zugegen waren Alexander Zschokke und Albrecht von Blumenthal und […] Bernhard von Schweinitz. Zugegen war Erich Boehringer. Auch Willi Dette war hinzugezogen. (LT, 241)

Wie Thormaehlen berichtet, hat StG nach der Lesung die Anwesenden, „ohne dass er das Aufkommen einer Unterhaltung zuließ“, einzeln verabschiedet. Pointiert gesagt: Wie sich StGs ,Neues Reich‘ bei dieser Lesung des Neuen Reichs konstituierte, so zerfiel es mit deren Ende auch wieder. Die kreisinterne Rezeption des letzten Gedichtbandes von StG bildet die spiegelbildliche Umkehrung der von der Literaturkritik vorgegebenen Lektürestrategien. Hier standen statt des Vermächtnischarakters gerade die politisch-nationalen Erneuerungsimperative im Vordergrund, und an die Stelle der Autonomie der Kunst trat der Dichter als Seher und Führer in ein metapolitisches Erlösungsszenario, das den Namen ,Neues Reich‘ trägt. Aus diesem Grund waren die Mitglieder des Kreises, die doch am besten wussten, wie wenig Neues sich in dem Band fand, auch sofort bereit, das Neue am Neuen Reich zu feiern. So fasste Edith Landmann, deren Reaktion in vieler Hinsicht repräsentativ ist für diejenige der Kreismitglieder, am 3. November 1928 ihre ersten Lektüreerfahrungen in einem Brief an StG wie folgt zusammen: Heiliger Sankt Franz wie ist das alles neu! ein erster schwacher widerhall wenigstens soll zu dem urheber dringen von all dem sturm des staunens und entzückens den das Neue Reich erregte … nur gut dass nicht alles neu ist · wer hätte das sonst verdauen sollen. (zit. nach IX, 114)

So wird das längst Vertraute als der Inbegriff der Erneuerung akzeptiert. Über die bis dahin ungedruckten, also tatsächlich neuen Gedichte wie „Geheimes Deutschland“ und „Burg Falkenstein“ heißt es dann: aber auch drohend erschreckend fremd und abweisend kann so neues zuerst aussehn, so dass man sich mit harter mühe den weg bahnen muss – freilich nur, um, wenn man ihn gefunden, nicht mehr zu begreifen, wo all das gestrüpp hingekommen das erst so undurchdringlich schien, und um mit um so grösserer beglückung die vertraute stimme zu erkennen die ,eigentlich‘ nie neues die nur ewiges tönte […]. (zit. nach IX, 115)

Im Neuen wurde also zugleich der Inbegriff des Ewigen erkannt, und dies steigerte bei den Mitgliedern des Kreises zugleich die Bereitschaft, im Neuen Reich die dichterische Repräsentation einer überpersönlichen Ordnung zu erkennen, also von den Kontingenzen der Entstehungsgeschichte des Bandes abzusehen und nach dem inneren Zusammenhang des Buchs im Sinne des von seinem Titel suggerierten Totalitätsverlangens zu suchen. Den „weg“, den sie sich durch das „gestrüpp“ des Textes bahnen konnte, hat Edith Landmann in einer 1931 erschienenen großen Besprechung des Bandes nachgezeichnet; es ist dies wohl die wichtigste Deutung von Das Neue Reich aus dem Kreis. Mit diesem Werk, so Landmanns Kernthese, habe StG, „der mit jedem neuen Werk die früher von ihm gewonnene Vorstellung vernichtete“,8 eine fundamentale „Wandlung“ vollzogen, wobei die „bisher unbekannten Stücke wie lange 8 Edith Landmann, Stefan George: Das Neue Reich, in: Logos 20/1931, S. 88–104, hier: 99.

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I. Stefan George und sein Kreis

Blitze sind, welche die Landschaft, in die wir nun eingetreten, erhellen.“9 Was der Leser in der poetischen Landschaft des Neuen Reichs gewahre, sei die Vereinigung des einsamen Dichters mit seinem Volk: „Durch das Neue Reich, das er stiftete, hat sich der Dichter seinem Volke vermählt.“10 Dies zeige sich nicht zuletzt in den Liedern, die „ältesten Volkston noch einmal retten, der ohne sie heute erloschen wäre“.11 Alles Persönliche habe sich bei diesem Dichter, der aufgehört habe, „Privatperson zu sein“, aus seiner Dichtung verloren.12 So verbürgt gerade seine Verbundenheit mit dem Volk für Landmann die Objektivität der Dichtung StGs: „das Überpersönlich-sein der Person, das Verbunden-sein mit einem Volk, die urbildliche Einfachheit und die große Gegenständlichkeit“,13 dies ist es, was in ihren Augen das Neue am Neuen Reich bezeichnet. Die großen hymnischen Dichtungen des Bandes rühmt Landmann als „staatliche Dichtung“14 – ein Anspruch, den Friedrich Wolters mit der ihm eigenen Härte des Zugriffs auf den gesamten Band ausdehnt: „Sowohl die welt- wie volkhaften wie persönlichen Gehalte sind in diesen Gedichten Ausdruck des gleichen staatlichen Geschehens und erhalten nur durch Lagerung und Richtung zueinander ihr unterscheidendes Merkmal“ (FW, 527). Auch Wolters betont die „Wandlungsfähigkeit und Offenheit“ von StGs „immerjunger Seele“; ihr verdankt sich, so will es Wolters verstanden wissen, die Wandlung seines Kreises zum Staat des ,Geheimen Deutschland‘ als die politische Dimension des Neuen Reichs: „Daß er noch einmal sich wandeln und neu erfüllen konnte, bedeutete die Möglichkeit aus dem ,Bund‘ ins ,Reich‘ zu wachsen“ (FW, 535). So wird ihm Das Neue Reich zum Zeugnis „der Entstehung einer jungen Menschenwelt“ (FW, 536). Dabei ist auffällig, wie vage gerade in Wolters’ ,staatlicher‘ Deutung des Bandes die politischen Gehalte bleiben, die er mit dieser neuen Welt verbindet. „Erfasste der ,Stern des Bundes‘ die Gesetze und die Gesetzmäßigkeit der Vorgänge im neuen Sein, so sind im ,Neuen Reich‘ die neuen Lebensformen, ihre Herkunft und ihre Wirksamkeit umschrieben.“15 Mit diesem Satz eröffnet Ernst Morwitz 1934 das Kapitel zum Neuen Reich in der ersten Fassung seines Kommentars zum Werk StGs. Er entstand unter dem Druck, das politische Sehertum des Dichters gerade im Neuen Reich nicht als Medium einer poetischen Legitimation des mittlerweile Wirklichkeit gewordenen ,Dritten Reichs‘ missbrauchen zu lassen. Nach Adolf Hitlers Machtergreifung hatten viele innerhalb und außerhalb des Kreises der Versuchung nachgegeben, zumal die Beschwörung des „einzigen der hilft“, indem er „[d]as wahre sinnbild auf das völkische banner“ heftet (IX, 30), in den Schlussversen des „Dichters in Zeiten der Wirren“ als eine Prophetie auf Hitler zu lesen. Morwitz wehrt solche Versuche einer politischen Funktionalisierung des Neuen Reichs ab und bahnt damit, unter dem Druck der Zeit, eine Lesart des Bandes an, die in ihm allenfalls eine metapolitische Heilslehre zu erkennen vermag, damit allerdings aber auch seine politischen Gehalte verharmlost: „Diese Prophezeiungen des Dichters werden durch die 9 Ebd., S. 88. 10 Ebd., S. 94. 11 Ebd., S. 99. 12 Ebd., S. 100f. 13 Ebd., S. 104. 14 Ebd., S. 90. 15 Ernst Morwitz, Die Dichtung Stefan Georges, Berlin 1934, S. 153.

2. Stefan George: Werk – Das Neue Reich

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Begebnisse unserer Jahrzehnte nicht erschöpft, sie reichen darüber weit hinaus.“16 Tatsächlich entschieden sich an der Frage, wie politisch Das Neue Reich gelesen wurde, nach 1933 die weiteren Geschicke des George-Kreises; während die einen das ,Neue Reich‘ StGs mit dem ,Dritten Reich‘ Adolf Hitlers verwechselten, erblickten die anderen in ihm das ideelle Gegenbild zur nationalsozialistischen Barbarei. Danach bemaßen sich die politischen Optionen: Parteimitgliedschaft und Mitläufertum auf der einen Seite, Widerstand und Emigration auf der anderen. Welchen Weg auch immer sie einschlugen: Die Mitglieder des George-Kreises konnten sich zu ihm aufgrund der Erneuerungsemphase des Bandes zum einen, der Unbestimmtheit der in ihm oszillierenden politischen Gehalte zum anderen durch Das Neue Reich legitimiert sehen. 2.8.3.2. Deutungsansätze Es empfiehlt sich, bei der Lektüre der Gedichte des Neuen Reichs zunächst abzusehen von dem erst spät gefundenen anspruchsvollen Titel des Bandes, der mit hohem Homogenisierungsdruck die über einen weiten Zeitraum hinweg aus sehr unterschiedlichen Anlässen entstandenen Gedichte in eine geschichtstheologische Perspektive reißt, der sie im Einzelnen nur schwer zu entsprechen vermögen. Gleichwohl darf nicht davon abgesehen werden, dass sich mit ihrer Aufnahme ins Neue Reich der Blick auf die Gedichte verändert hat; sie erscheinen nun – als Elemente einer politischästhetischen Konfiguration – intentional auf ein geschichtliches Fernziel bezogen, dem gegenüber sie einen Verkündigungscharakter gewonnen haben, der ihnen ursprünglich so nicht zukam. Dies erweist sich bereits bei dem ersten (und ältesten) Gedicht des Bandes. „Goethes lezte Nacht in Italien“ ist das Gedicht einer radikalen Grenzziehung; das Gedicht zieht auf der symbolischen Schwelle zwischen Italien und Deutschland die geschichtliche Grenze zwischen dem Jahrhundert Goethes und dem mit dem Tod Maximins, auf dessen Stern der Goethe des Gedichts blickt, und seiner poetischen Verklärung angebrochenen Jahrhundert StGs. In der Schlussvision des Gedichts verlegt StG den Pol der Menschheitserneuerung nach Deutschland; er ersetzt die rückwärtsgewandte Utopie des Griechenideals, dem sich der bürgerliche Humanismus im Zeichen Goethes geweiht hatte, durch eine völkisch definierte Erlösungsvision, in der die Trennung zwischen dem Dichter und seiner Nation im Rahmen einer männlichen nationalen Elite aufgehoben erscheint: Hier sprechen „Söhne meines volkes“ die „Sprache meines volkes“ (IX, 10). So zieht „Goethes lezte Nacht in Italien“ eine Zeitenschwelle zwischen den klassischen Bildungshumanismus der Deutschen und den von StG beschrittenen Erlösungsweg im Zeichen eines neuen Gottes und eines nationalen Erlösungsphantasmas. Namen und Gestalt hat diese nationale Utopie in dem 1908 entstandenen Gedicht noch nicht gewonnen. Das ist zwanzig Jahre später anders, als StG es an den Anfang seines letzten Gedichtbandes stellt: Dort bildet das Gedicht gleichsam das Eingangstor zum ,Neuen Reich‘. Wer es, das Gedicht lesend, durchschreitet, betritt nun – anders als im Gedicht Goethe, der an der Grenze zu dem neuen Zeitalter zu verharren verurteilt ist – das ,Neue Reich‘ der wiedergewonnenen Ganzheit, das bereits das erste Gedicht nach Deutschland verlegt. So ent16 Ebd., S. 161.

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I. Stefan George und sein Kreis

wirft „Goethes lezte Nacht in Italien“ im Kontext des Neuen Reichs ein auf Deutschland bezogenes säkulares Erlösungsphantasma, das auf eine Totalerneuerung des Lebens zielt: Der Gott ist als über allem schwebender „einziger stern“ (IX, 8) installiert, die ersten Lichtboten sind ausgesandt, das ,Neue Reich‘ tritt in die Zeit. Das dreiteilige Gedicht „Hyperion“ – ein Rollengedicht wie das vorangegangene – entwirft im nächsten Schritt die Poetik des Neuen Reichs; mit ihm legitimiert sich StG – in der Nachfolge nun nicht mehr Goethes, sondern Hölderlins – nach dem Bruch mit dem goethezeitlichen Autonomiekonzept als Poeta vates: als Künder des neuen Gottes und Seher des ,Neuen Reichs‘. Wie schon das erste Gedicht arbeitet auch „Hyperion“ an einer vaterländischen Wende; das Gedicht ist deshalb weniger an dem Wie als an dem Wo der Reichsutopie interessiert („Wo“ lautet bezeichnenderweise das erste Wort des Gedichts; IX, 12). „Ich kam zur heimat“: Mit diesem Satz begründet das Gedicht einen nationalen Chiliasmus, der die Reichsidee und die Epiphanie des kommenden Gottes ganz an die Heimat bindet: „bald geht mit leichten sohlen / Durch teure flur greifbar im glanz der Gott“ (IX, 14). Im „zweite[n] Alter“ (ebd.; das erste ist dasjenige des Griechenideals), wie das Gedicht es umreißt, wird das Menschheitsideal zum exklusiven Inhalt einer Reichsidee, deren ausschließlicher Träger eine aus allen Nationen hervorgehobene Nation ist: eine von der Moderne erlöste Nation, die damit zur Erlösernation aufsteigt. Das Bedürfnis nach Realpräsenz des Göttlichen bestimmt die kompositionelle Ordnung des Neuen Reichs. Deshalb folgt auf die „hohe schau“ (IX, 14) des „Hyperion“, die den baldigen Auftritt eines Gottes verspricht, unter dem Titel „An die Kinder des Meeres“ ein Zyklus von Gedichten, die an eine Reihe anonymer Knaben gerichtet sind. Sie bilden für StG die unmittelbare Einlösung des in „Hyperion“ gegebenen Heilsversprechens. Denn in den drei Kindern des Meeres tritt für den Dichter jeweils Ursprünglich-Vollkommenes in konkrete Gestalt; damit erweist sich in den drei profanen Epiphanien dieser Gedichte, dass jene gestaltbildende Kraft des unverstellten schönen Lebens, die für ihn identisch war mit dem Göttlichen, jederzeit plastische Realpräsenz zu gewinnen vermag. Hier huldigt StG einem Polytheismus der frischen, unverbrauchten Leiber, die stets aufs Neue für die Möglichkeit der Lebenstotalität auch in der Moderne einzustehen haben. Mit dem zwölf mal zwölf Verse umfassenden Gedicht „Der Krieg“ (1917) wendet sich dann der Band in eine konkrete zeitkritische Perspektive. Von der exterritorialen Position eines „Seher[s]“ (IX, 23) aus verwirft StG die Kriegseuphorie seiner Zeitgenossen (nicht zuletzt auch der Mitglieder seines Kreises), denn vom Krieg ist in seinen Augen schon deshalb nicht die zum ,Neuen Reich‘ führende geschichtliche Wende zu erhoffen, weil er die extremste Erscheinungsform der von ihm verachteten technisierten und ökonomisierten Moderne darstellt. Rettung ist für diesen „Seher“ nur von „vollste[r] umkehr“ (IX, 25) zu gewärtigen: von der Orientierung der Jugend an StGs dichterischem „preis auf stoff und stamm · / Auf kern und keim“, an einem antimodernen vaterländischen Erlösungsprogramm also: „Die jugend ruft die Götter auf“ (IX, 26). Mit dem sich anschließenden Gedicht „Der Dichter in Zeiten der Wirren“ radikalisiert StG dieses Konzept des Dichters als Seher („er einzig seher“; IX, 28) und Führer, indem er es in die Vision einer „lichtere[n] zukunft“ münden lässt, die von einem geschichtlichen Nothelfer angebahnt wird; ihn lässt er in einer antimodernen Gewaltaktion eine geschichtliche Tabula rasa schaffen, auf der sich das ,Neue Reich‘ errichten lässt. Diese Prophetie auf den „einzigen der hilft“ schließt mit prekären

2. Stefan George: Werk – Das Neue Reich

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Versen, die vor politischem Missbrauch nicht gefeit waren: „er heftet / Das wahre sinnbild auf das völkische banner / Er führt durch sturm und grausige signale / Des frührots seiner treuen schar zum werk / Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich“ (IX, 30). Dies ist die einzige Stelle in dem Gedichtband, an der der titelgebende Begriff des ,Neuen Reichs‘ fällt. Umso nachdrücklicher stellt sich für den Leser schon hier die Frage nach dem Inhalt dieser anspruchsvollen Geschichtsprophetie, nach den semantischen Konturen des ,Neuen Reichs‘. Hierzu aber ist dem Gedicht nicht mehr zu entnehmen, als dass das ,Neue Reich‘ all das nicht ist, was die Welt der Moderne repräsentiert; es bleibt unberührt von Ökonomisierung, Rationalisierung und Technisierung („von dem geilen markt / Von dünnem hirngeweb und giftigem flitter“; IX, 30) und organisiert sich als durch Herrschaft und Dienst regulierter Staat: „wo grosses wiederum gross ist / Herr wiederum herr · zucht wiederum zucht“ (IX, 30). StGs ,Neues Reich‘ beruht also vor allem auf radikaler Negation und Zerstörung als den Voraussetzungen für die Rekonstruktion von (männlichen) Hierarchien. Mit welchen Gewaltphantasien sich die Vorstellung eines ,Neuen Reichs‘ bei StG verbindet, erweist in dem Band vor allem das szenische Gedicht „Der Brand des Tempels“, in dem ein junger Gewaltherrscher von stupender Inhumanität seine Neugestaltung der Geschichte als ein umfassendes Abbruchunternehmen vollzieht, ohne seinem Erneuerungswerk einen anderen Inhalt als Zucht, Härte und Entfeminisierung geben zu können: „Was jahre bauten / Stürzt er in e i n e m tag“ (IX, 62). Es fällt dem Dichter StG jedenfalls außerordentlich schwer, in seinen späten Gedichten die positiven Inhalte der mit dem Titel Das Neue Reich machtvoll proklamierten Reichsutopie zu bestimmen; sie ist vor allem eine mit totalisierendem Vernichtungsblick auf die Moderne entworfene Negation des Alten. Auch im Neuen Reich finden sich an Maximin gerichtete Gedichte („Die Winke“, „Gebete“); sie dienen der privatreligiösen Einbettung und Absolutsetzung von StGs metapolitischem Erneuerungsprogramm. StG hat sie zwei großen hymnischen Gedichten vorangestellt, die bis dahin ungedruckt waren: „Burg Falkenstein“ und „Geheimes Deutschland“. Diese verleihen dem Neuen Reich seinen geschichtsprophetischen Kern, arbeiten entschieden an der Nationalisierung der Reichsutopie und übertragen die Vorstellung einer vaterländischen Tagwerdung unter dem Druck der Zeit aus dem Bereich der Fern- in die Naherwartung: „Aber schon deutlichen klang wittr’ ich durch schläfrige luft“ (IX, 43) und „Wunder undeutbar für heut / Geschick wird des kommenden tages“ (IX, 49). In den sich anschließenden dialogischen Gedichten kommt einerseits noch einmal der antibürgerliche Gestus von StGs Zeitverwerfung zum Ausdruck („Der Gehenkte“), andererseits seine Kritik am Frevel der Moderne an der Natur und am Leben („Der Mensch und der Drud“), schließlich im „Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann“ der prätendierte Arkancharakter seines eine spätzeitliche Kultur überwindenden Erlösungsprogramms („Der welt erlösung kommt nur aus entflammtem blut“; IX, 58), wobei gerade im Falle dieses Textes dessen ideelle Substanzlosigkeit im Hinblick auf die Faktoren „erlösung“ und „lezte[s] reich“ befremdet: „doch schweigen herrscht wo deutung weit“ (IX, 59). Das ,Geheime Deutschland‘ (diesen Begriff hatte Karl Wolfskehl bereits 1910 für StGs geistiges Gegenreich geprägt), dessen Genealogie in verschlüsselter, nur von Eingeweihten zu enträtselnder Form das Gedicht „Geheimes Deutschland“ nachzeichnet, wird in den Sprüchen an die Lebenden und den Sprüchen an die Toten in kurzen, an die lebenden und toten Mitglieder des Kreises gerichteten Merksprüchen

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I. Stefan George und sein Kreis

evoziert. Wenn irgendwo, dann ist hier StGs ,Neues Reich‘ konkret greifbar: in den männlichen Gestalten seines geheimen ,Staates‘, die im Neuen Reich auch deshalb geheim bleiben, weil die „Lebenden“ nur mit dem Anfangsbuchstaben ihres Vornamens, die „Toten“ nur mit ihren Vornamen bezeichnet werden. Damit freilich werden sie auch entindividualisiert zu Repräsentanten der Verhaltenslehren, deren Befolgung den Zugang zu StGs ,Neuem Reich‘ verschafft, bzw. im Falle der „Toten“ zu Mustern einer solchen Einhaltung ,staatlichen‘ Verhaltens im Sinne StGs. Wie wenig sich das ,Neue Reich‘ StGs noch als konkretes geistig-politisches Gegenbild auf die geschichtliche Wirklichkeit der Weimarer Republik beziehen lässt, zeigt eine in dem Buch dominante Gedankenfigur: Nach dem Weltkrieg, dem viele Freunde des Dichters zum Opfer gefallen waren, war das ,Neue Reich‘ für StG nicht anders mehr vorstellbar denn als die Wiederkehr der Toten. Diese Vorstellung begegnet in vielfacher Variation im Neuen Reich, am markantesten in dem Gedicht „Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande“, das den Sprüchen an die Toten vorangestellt ist und das „Der toten zurückkunft“ explizit beschwört (IX, 90): ein Zeichen dafür, welch geringer Realitätsstatus in den Augen des Dichters seiner Reichsutopie in seiner eigenen Zeit zukam, ein Zeichen auch dafür, wie tief der späte StG seine Isolation trotz der poetischen Beschwörung seiner Verbundenheit mit dem Volk tatsächlich empfand: „ich bin / Allein – ich bin der lezte meines volkes . .“ (IX, 82). Der Dichter ist der letzte Repräsentant seines Volkes, das im Grunde nur noch im Medium seiner Dichtung existiert. Von hier aus erklärt sich dann auch der Status der letzten Abteilung des Buchs: Das Lied. Man hat mit guten Gründen die These vertreten, dass StG, der in vielfacher Hinsicht erstaunlich illusionslos war im Hinblick auf die Irreversibilität der Moderne, in der kunstvollen Schlichtheit und der semantischen Offenheit des Liedes am Ende des Neuen Reichs Abschied nehme von den religiös-geschichtsprophetischen Ansprüchen des Dichter-Sehers, die seine späte Dichtung im Zeichen der titelgebenden Reichsutopie bestimmen,17 und tatsächlich scheint es so, als sei in den Liedern dem Dichter die Gewissheit des Sehers abhanden gekommen: „Worin du hängst · das weisst du nicht“ (IX, 103). Gleichwohl sollte man sich davor hüten, in den Liedern gleichsam das letzte, seine metapolitischen Ambitionen revozierende Wort des Dichters zu sehen; schließlich datieren viele dieser Gebilde noch auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Im Kontext des Neuen Reichs kommt diesen Liedern in einem hochartistischen Volkston vielmehr die Funktion einer ästhetischen Plausibilisierung des Anspruchs zu, der Sänger des ,Neuen Reichs‘ spreche tatsächlich im Namen und aus dem Herzen seines Volkes. So stehen sie am Ende des Bandes in axialsymmetrischer Entsprechung zu der vaterländischen Wende, die StG an dessen Beginn mit „Goethes lezte Nacht in Italien“ vollzogen hat: Wer, so besagt diese Konstellation, wie StG in den Liedern im Ton des Volkes zu dichten versteht, darf damit auch beanspruchen, in seinen großen Hymnen und Oden den geschichtlichen Hoffnungen und Sehnsüchten seines Volkes Ausdruck zu verleihen. Einer Antwort auf die Frage, was das ,Neue Reich‘ sei, kommt man schwerlich näher auf einem ideengeschichtlichen Wege, der sich zurückführen lässt bis zur mittelalterlichen Reichstheologie des Joachim von Fiore. Es ist gerade die ideelle Unbestimmtheit von StGs Reichsutopie, die sie zu einem poetischen Oszillationsraum für 17 Vgl. Petersdorff, Als der Kampf.

2. Stefan George: Werk – Das Neue Reich

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eine Fülle metapolitischer, politischer und völkischer Erlösungsträume prädestiniert. Der Text der Gedichte selbst lässt nicht viel mehr zu, als in dem ,Neuen Reich‘ das absolute Gegenbild zur Gegenwart einer demokratischen, technisierten, ökonomisierten und rationalistischen Moderne zu erkennen: den geistigen Staat einer männlichen Elite, der in klaren Hierarchien – Herrschaft und Dienst, oben und unten, groß und klein – binär organisiert wird und schon damit alle funktionalen Differenzierungen der Moderne unterläuft. Er ist der ideale Raum männlicher Gestaltwerdung; das ,schöne Leben‘, von dem StGs Poesie schon immer geträumt hatte, wird in ihm zum Staat. Und: Er ist ein geistiges Reich deutscher Nation. Das ,Neue Reich‘ ist, mit einem Wort, das zum Staat hochgerechnete ,Geheime Deutschland‘, die Utopie eines durch den Abbruch der Geschichte zum politisch-ästhetischen Reich aufgestiegenen George-Kreises, ein Reich zudem, an dessen Spitze der Dichter als Priesterkönig steht und das einen eigenen Gott besitzt, dessen einzige Botschaft die Vergöttlichung des männlichen Leibes bildet. Die Forschung hat sich mit dem zerklüfteten Textgebilde des Neuen Reichs jenseits der großen monographischen Darstellungen zu StGs Werk nur ungern befasst. Erst die jüngere, am komplexen Verhältnis von Dichtung, Religion und Sexualität, von Politik, Zeitkritik und Geschichtsdeutung in StGs Spätwerk interessierte Forschung ebnet den Weg zu einer Neubewertung des Neuen Reichs, wobei sie seit 2001 im Kommentar zu SW IX ein vorzügliches Hilfsmittel besitzt. Eine Neubewertung von StGs letztem Gedichtband setzt vor allem sorgfältige, ins ästhetische Detail gehende Interpretationen der einzelnen Gedichte voraus; viele Gedichte des Bandes haben bis heute keine – über die im George-Kreis üblichen Paraphrasen hinausgehende – Interpretation erfahren. Literatur Osterkamp 2002. Böschenstein, Bernhard, Stefan Georges Spätwerk als Antwort auf eine untergehende Welt, in: Braungart u. a. (Hrsg.), Stefan George, S. 1–16. Braungart, Wolfgang / Oelmann, Ute / Böschenstein, Bernhard (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘, Tübingen 2001. Herres, Nina (unter Mitwirkung von Christoph Meneghetti u. Dominique Wagner), Namhafte Bilder, wörtliche Verben. Zu Stefan Georges ,Das Wort‘, in: GJb 6/2006/2007, S. 100–121. Klussmann, Paul Gerhard, Spruch und Gespräch in szenischen Gedichten des Spätwerks von Stefan George, in: Braungart u. a. (Hrsg.), Stefan George, S. 102–113. Metzger, Michael, In Zeiten der Wirren: Stefan George’s Later Work, in: Ders., A Companion to the Works of Stefan George, Rochester/NY 2005, S. 99–123. Müller, Baal, ,Das Wort‘, in: CP 50/2001, 250, S. 118–133. Oelmann, Ute, Winke, in: CP 54/2005, 266/267, S. 83–96. Osterkamp, Ernst, Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges ,Neues Reich‘, München 2010. Petersdorff, Dirk von, Als der Kampf gegen die Moderne verloren war, sang Stefan George ein Lied. Zu seinem letzten Gedichtband ,Das Neue Reich‘, in: Jahrbuch der Deutschen SchillerGesellschaft 43/1999, S. 325–352. Schefold, Bertram, ,Seelied‘, in: CP 50/2001, 250, S. 105–117. Siblewski, Klaus, „Diesmal winkt sicher das Friedensreich“. Über Stefan Georges Gedicht ,Der Krieg‘, in: Stefan George, München 2005 (Text und Kritik 168), S. 19–34. Ernst Osterkamp

218

I. Stefan George und sein Kreis

2.9.

Dante · Die Göttliche Komödie. Übertragungen (SW X/XI)

2.9.1.

Entstehung und Überlieferung1

2.9.1.1. Entstehung und Situierung im Werkkontext Schon während seiner Gymnasialzeit las StG erstmals italienische Literatur im Original.2 Seinen autodidaktischen Erwerb der italienischen Sprache dokumentieren ebenso Abschriften wie Paraphrasen, Umbildungen und Übertragungen; sie bilden die Grundlage für die Aneignung und das genauere Verständnis ausgewählter Werke. Aus der Schulzeit haben sich zwei Sonette von Petrarca (Canzoniere, II: „Per far una leggiadra sua vendetta“, III: „Era il giorno, ch’al sol si scoloraro“) erhalten, die StG kalligraphisch, rot und schwarz, auf ein Blatt abschrieb und die dann in der Fibel reproduziert wurden (GA I, 132). Der Schlussband der Gesamtausgabe enthält die Übertragungen zweier Sonette von Dante (GA XVIII, 78, 79), deren Entstehungszeit nicht genau zu ermitteln ist: das XXIV. Sonett aus der Vita Nuova („Io mi senti’ svegliar dentro a lo core“) und das LXIII. aus den Rime („Sonetto, se Meuccio t’e` mostrato“).3 StG soll von dem Komponisten Willem de Haan, der Schwiegervater Karl Wolfskehls war und sich lebenslang mit Dante beschäftigte, angeregt worden sein, Dante-Sonette zu übertragen (ES, 337). „Die ursprüngliche Formwerdung eines strengarchitektonischen, zeremoniellen Sinnes und gewaltsam gebändigten Geblüts“,4 die, so Gundolf, das Sonett bei Dante und Petrarca charakterisiere, genoss im Kreis um StG hohes Ansehen. Von StGs frühem und regem Interesse an der italienischen Dichtung zeugt das zwischen 1886 und 1887 entstandene Eröffnungssonett der Fibel („Ich wandelte auf öden düstren bahnen“; I, 13), dessen Motiv der jugendlichen Verirrung durch Dante und Petrarca geprägt sein könnte.5 Die Vorliebe für die Kunst der Präraffaeliten, besonders für die des Maler-Dichters Dante Gabriel Rossetti, dessen Werk weitgehend unter dem Einfluss Dante Alighieris stand, könnte StG auch dazu angeregt haben, sich dem Werk des italienischen Dichters zu widmen. Wahrscheinlich näherte er sich über die Lektüre von Rossettis englischer Übersetzung der Vita Nuova,6 deren 1 Unerlässliche Grundlage für folgende Ausführungen bildet die detaillierte Bestandsaufnahme des Dante-Übersetzers Georg Peter Landmann, Anhang, in: SW X/XI, S. 143–197, auf die im Folgenden immer wieder Bezug genommen wird. Frau Dr. Ute Oelmann vom Stefan George Archiv gilt mein aufrichtiger Dank für viele wertvolle Hinweise. Für geduldige und kundige Hilfe bei der Revision des Manuskriptes bin ich Frau Dr. Christine Mundt-Espı´n zu großem Dank verpflichtet. 2 Vgl. hierzu Michels, Dante-Übertragungen, S. 24. 3 Zur Nummerierung der Dante-Stellen vgl. Bibliographie. Vom Vita Nuova-Sonett sind sowohl eine Gelegenheitshandschrift als auch eine vollständige handschriftliche Fassung vorhanden (beide StGA). Von „Meuccio“ liegen keine Handschriften vor. 4 Friedrich Gundolf, Goethe, Darmstadt 1963 (unveränderter fotomechanischer Nachdruck des 46.–50. Tausends, Berlin 1930), S. 579. 5 Vgl. Dante, Inferno I 1–3: „[…] mi ritrovai per una selva oscura / che´ la diritta via era smarrita“, wo das Bild des finsteren Waldes auf die persönliche Verirrung hindeutet; man denke außerdem an Petrarcas einleitendes Sonett des Canzoniere, „Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono“, in welchem der Begriff „(primo giovenile) errore“ sowohl auf die offenkundige Bedeutung ,Fehler‘ oder ,Sünde‘ als auch auf das Umherirren in der ersten Jugend hinweist. Weitere Anklänge zeigt Pensa, George e l’Italia, S. 237, auf. 6 Vgl. Paul Lieser, Fremdsprachliche Übertragung als Nachgestaltung und Neuschöpfung. Stefan

2. Stefan George: Werk – Dante. Übertragungen

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Stellenwert für die europäische Kulturgeschichte wohl erst Rudolf Borchardt erkannte,7 als Übersetzer an die Commedia an. Entscheidend für die deutsche Rezeption ist jedenfalls, dass Dantes Werk dank A. W. Schlegels Übersetzung im 19. Jahrhundert in Deutschland eine Wiederaufwertung erlebte.8 Anfang der 90er-Jahre, in der Lobrede auf Mallarme´ (XVII, 46–48),9 erscheint der Name des italienischen Dichters neben dem Pindars und Goethes, um eine geheimnisreiche, kunstvolle Sprache zu rechtfertigen. Ein Jahr später, in den Betrachtungen Rat für Schaffende (XVII, 68),10 dient ein Zitat aus Dantes Musenanrufung (Inferno II 9: „qui si parra` la tua nobilitate“) als eröffnendes Motto.11 Schließlich zählt StG in der Schlussstrophe des XVIII. Gedichts des Vorspiels zum Teppich des Lebens (V, 27)12 Dante, den „Florentiner“, neben Aischylos, Sophokles, Euripides, Shakespeare und Petrarca zu den „trost“ spendenden und „beispiel“ gebenden „höchste[n] meister[n]“. Bereits die erste Folge der BfdK von 1892 enthielt auch Übertragungen exemplarischer ,fremdländischer‘ Lyrik. Die Zeitschrift sollte dazu beitragen, den Sinn für den nach Meinung StGs höchsten poetischen Ausdruck in einem Land wiederzuerwecken, in dem Rationalisierung und Funktionalisierung der gesellschaftlich-kulturellen Verhältnisse den Anforderungen einer dichterischen Existenz nicht mehr zu genügen schienen.13 Ohne StGs Streben nach einem Neubeginn der Kunst – vornehmlich der Dichtersprache – ist seine umfangreiche Übersetzungsarbeit sowohl zeitgenössischer Dichter als auch weltliterarischer Größen wie Dante und Shakespeare somit nicht zu begreifen. StG hat seine Übertragungen insgesamt als Gelegenheit gesehen, neue Sprachmächtigkeit für das eigene lyrische Schaffen zu gewinnen. Allerdings ging es ihm bei der Dante-Übertragung nicht nur darum, die eigenen stilistischen Mittel durch Nachbildung zu verfeinern,14 sondern er verband damit auch eine anspruchsvolle Aufgabe: Wie bei den Shakespeare-Sonetten galt es, den „Lebensbereich“ von Dantes Werk „der deutschen Sprache und damit dem deutschen Volke neu zu gewinnen“ (ES, 75). Einer ,Poetik des Wortes‘ entsprechend15 sollten beim Übersetzen verborgene Sprachmöglichkeiten gewonnen und dadurch auch neue Wertmaßstäbe gestiftet, mithin ,übertragen‘ werden; die dichterische Übersetzung sollte so nicht zuletzt zur Bildung eines kollektiven Empfindens beitragen.

Georges Übertragungswerk, in: KTB, S. 73–96, hier: 76; vgl. auch Pensa, George e Dante, S. 25f.; ders., George e l’Italia, S. 239. 7 Vgl. Borchardt, Dante, S. 358ff. 8 Vgl. Pensa, George e Dante, S. 4ff.; Wuthenow, Das fremde Kunstwerk, S. 108. 9 Zuerst BfdK 1/1893, 5. 10 Zuerst BfdK 2/1894, 3. 11 Zur Bedeutung dieses Zitats für StG vgl. Klussmann, Dante und Stefan George, S. 138–150. 12 Das Gedicht erschien zuerst im September 1899 in einer holländischen Zeitschrift, dann im folgenden Winter mit der Jahreszahl 1899/1900 im Privatdruck des Teppich des Lebens. 13 Vgl. KTM, S. 67. 14 Anders Battafarano, Dell’arte di tradur poesia, S. 182, der in Bezug auf StGs Intentionen die „emulazione“, das Nacheifern, hervorhebt und darin vor allem den Reiz der Herausforderung sieht, „unter ungleichen Bedingungen“ zu übersetzen. 15 Hierzu vgl. Paul Gerhard Klussmann, Die Begründung der Wirklichkeit durch das Wort, in: Ders., Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und des Dichters in der Moderne, mit e. George-Bibliographie, Bonn 1961, S. 13–25.

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I. Stefan George und sein Kreis

Erst um die Jahrhundertwende begann StG mit der Übertragung von Dantes Werk. Erste Teile daraus stellte er schon 1900/01 in der fünften Folge der BfdK einer eingeschränkten Öffentlichkeit vor. Aus Äußerungen StGs gegenüber Friedrich Gundolf Ende Januar 1901 lässt sich entnehmen, dass er sich weitaus mehr von seiner Entdeckung Dantes versprach, als er sich oder anderen einzugestehen wagte (X/XI, 144). In StGs nachgelassener Bibliothek befindet sich eine kommentierte CommediaAusgabe von Camerini,16 eine Ausgabe der Vita Nuova17 und die Commedia-Übersetzung des Freundes Albert Verwey.18 Camerinis Ausgabe enthält Spuren von StGs Studium des Textes: Die übersetzten oder zu übersetzenden Stellen sind meist mit Bleistift oder Gelbstift, seltener auch mit Blaustift angestrichen. Nur in den ersten 15 Gesängen, insbesondere bis zum VIII. Gesang des Inferno, finden sich interne Verweise, Paraphrasen, Übersetzungen und Erklärungen (zum Teil auf Italienisch) einzelner Namen, Vokabeln und Ausdrücke. Dies lässt vermuten, dass StG in den späteren Phasen seiner Übertragungen mit mindestens einer weiteren Ausgabe der Commedia gearbeitet hat.19 Der Beginn der Dante-Übertragungen bedeutete zunächst den Abschluss der Arbeit an Baudelaire – die Übertragungen aus den Fleurs du Mal kamen 1901 heraus. Parallel erschienen die drei zwischen 1900 und 1902 zusammen mit Karl Wolfskehl herausgegebenen Bände Deutsche Dichtung: eine Auslese aus Jean Paul, von 110 Gedichten Goethes und eine Auswahl von Gedichten des 18. und 19. Jahrhunderts.20 Aus Anlass von Goethes 150. Geburtstag am 28. August 1899 und von Nietzsches Todestag am 5. August 1900 entstanden die Zeitgedichte „Goethe-Tag“ (VI/VII, 10–11) und „Nietzsche“ (VI/VII, 12–13),21 die nicht zufällig einen Platz unmittelbar hinter „Dante und das Zeitgedicht“ (VI/VII, 8–9) im Siebenten Ring erhielten. StG zieht in den Zeitgedichten eine Traditionslinie, in der er Dante den ersten Rang zuweist. Entgegen den Positionen der zeitgenössischen Dante-Kritik wertet StG zudem in einem unverhohlen polemischen Ton das Paradiso als poetischen Höhepunkt der Commedia, sodass das Dante-Gedicht zugleich StGs Standpunkt im Verhältnis zu seinen Zeitgenossen widerspiegelt.22 Die intensive Arbeit an der Commedia prägte in den Jahren nach 1900 auch StGs eigene Gedichte. Sowohl die Wahl der Versform und die zunehmende Bedeutung der Zahlenverhältnisse für die Komposition der Zyklen und Bücher als auch Motive und 16 Dante Alighieri, Divina Commedia, per cura di Eugenio Camerini, Milano 1878. 17 Ders., La vita nuova. Il convito. Il canzoniere, con prefazione e note, Milano 1888. 18 Ders., De Goddelijke Komedie, vertaling in terzinen door Albert Verwey, Haarlem 1923. 19 Erich Berger nimmt außerdem an, StG sei in seiner Jugend durch die deutsche Übersetzung von August Kopisch zur Lektüre des Originals angeregt worden (Berger, Vermutung, S. 29). Er berichtet, er habe im Arbeitszimmer StGs die unkommentierte gelbbroschierte edizione ortofonica der Divina Commedia im Verlag von Ulrico Hoepli (Milano) gesehen, als StG „an der Übersetzung der Stellen arbeitete, um welche die endgültige Ausgabe von 1925 der Ausgabe von 1921 gegenüber vermehrt ist“. Michels wiederum vermutet, dass es sich um die von Luigi Polacco herausgegebene Ausgabe gehandelt haben müsse (Michels, Dante-Übertragungen, S. 27). Auf die Möglichkeit, StG habe in früheren Jahren die bei Hoepli 1893 erschienene edizione minore der Ausgabe von G. A. Scartazzini benutzt, weist hingegen Klussmann hin (Dante und Stefan George, S. 140). 20 Vgl. II, 4.1. 21 Zuerst in BfdK 4/1899 und 5/1900/01. 22 Vgl. EM I, S. 218; Klussmann, Dante und Stefan George, S. 138f.

2. Stefan George: Werk – Dante. Übertragungen

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Metaphorik zeigen deutliche Parallelen zu den ersten übertragenen Teilen der Commedia.23 Die im Jahr 1905 verfasste und zuerst Ende 1906 (mit der Jahresangabe 1907) in Maximin. Ein Gedenkbuch veröffentlichte „Vorrede“ spielt in Bildlichkeit und Diktion auf Dantes Vita Nuova – die heilende Begegnung mit Beatrice, der ,Seligen‘ und zugleich ,Seligmachenden‘ – und die Commedia an.24 Im Jahr 1909, in dem die erste private Ausgabe, die Faksimile-Ausgabe, von StGs Commedia-Übertragungen im Verlag der Blätter für die Kunst erschien, veröffentlichte StG auch seine Umdichtung von Shakespeares Sonetten. 2.9.1.2. Handschriften, Drucke Die überlieferten Handschriften befinden sich zum größten Teil im Stefan George Archiv und vereinzelt in Privatbesitz.25 Während StG eigene Gedichte in der Regel nicht vor ihrem Erscheinen in den BfdK oder in seinen Gedichtbänden im Kreis bekannt machte, ließ er neue Dante-Übertragungen den Freunden (Lechter, R. Lepsius, B. Vallentin, G. Kantorowicz, R. Boehringer, den Brüdern Gundolf, einmal auch seiner Schwester Anna George) in kalligraphischer Abschrift als Präsent zukommen. Neben den Manuskripten StGs liegen weitere neun Abschriften vor, welche die Brüder Gundolf, Glöckner, R. Boehringer und Wolters – auch in StGs Auftrag – für sich oder vielleicht als Geschenk für andere anfertigten. Landmanns Rekonstruktion zufolge lässt sich StGs Arbeit in zwei Zeitabschnitte einteilen: Im ersten (1901–1911) übertrug StG überwiegend aus dem Purgatorio, im zweiten (1917–1922), dessen intensivste Phase noch während des Ersten Weltkriegs war, widmete er den drei cantiche gleichermaßen Aufmerksamkeit.26 Aus den Jahren zwischen 1912 und 1917, also nach dem Erscheinen der ersten Buchausgabe 1912 (A1), mit der StG seine Arbeit an Dante vorerst als abgeschlossen betrachtete, sind keine Manuskripte erhalten; das Übertragungswerk scheint allerdings nicht völlig unterbrochen worden zu sein.27 In der Kriegszeit entstand z. B. das Gedicht „Der Krieg“ (IX, 21–26; 1917 als Sonderheft gedruckt), dessen Motto Dantes Commedia (Paradiso XVII 124–133) entnommen ist. Diese Dante-Verse erschienen zusammen mit den vorausgehenden und folgenden Versen zuerst 1919 in BfdK 11/12 unter dem Titel „Cacciaguida, Voraussage der Verbannung“ (Paradiso XVII 13–142). Von der fünften bis zur siebten Folge (1900/01–1904) enthielten die BfdK regelmäßig Übertragungen aus der Commedia, die – anders als frühere Übersetzungen – zusammen mit StGs 23 Vgl. Klussmann, Dante und Stefan George, S. 138–150. Zu Dantes Einfluss auf StG vgl. außerdem Pensa, George e Dante, S. 23ff. (auch in Bezug auf die Vita Nuova); Pensa, George e l’Italia, S. 238–241; Wais, Divina Commedia, S. 47; Bertram Schefold, Stefan George als Übersetzer Dantes, in: CP 56/2007, 276/277, S. 77–115. 24 Vgl. SW XVII, S. 62f.; Pensa, George e l’Italia, S. 240. 25 Eine genaue Auflistung der Manuskripte in SW X/XI, S. 150–157. 26 Zu einer ausführlichen Chronologie der Übertragungen vgl. SW X/XI, S. 158–162. 27 Vgl. ZT, S. 233: Die offenbar in Gegenwart von Willem de Haan gefallene Äußerung StGs aus dem Jahre 1912, seine Dante-Übertragung sei jetzt abgeschlossen, gibt Karl Wolfskehl wieder. „Auf Willem de Haans Einwand, es fehle zumindest Ugolino, habe StG zwei Tage später eine erste Fassung ,Der Hungerturm – Ugolino‘ (Inferno XXXIII 13–75) gebracht“, womit die zweite Übertragungsreihe beginnen sollte, die in die 2., erweiterte Auflage der Buchausgabe (Berlin 1921) aufgenommen wurde. Anders Landmann, Anhang, SW X/XI, S. 160.

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I. Stefan George und sein Kreis

eigenen Gedichten jeweils den Bänden vorangestellt waren, um ihre Bedeutung hervorzuheben. Zum Teil gleichzeitig erschienen der Faksimiledruck und die Buchausgaben: F: Die 1903 geplante und im Verzeichnis der Erscheinungen der Blätter für die Kunst für das Jahr 1904 angekündigte zinkographische Reproduktion der 12 handschriftlichen Übertragungen erschien nicht und wurde durch die erweiterte, 20 Stellen umfassende FaksimileAusgabe vom November 1909 ersetzt:28 Dante, Stellen aus der Göttlichen Komödie, Umdichtung von Stefan George, Berlin: Verlag der Blätter für die Kunst 1909, 300 Exemplare; 20 ungezählte Blätter, 30 Textseiten, Titel auf dem Pergamentpapierumschlag wiederholt. Diese Ausgabe erschien in „genauer Nachbildung der Urschrift“; Druck blau und rot auf Büttenpapier. Rot: Überschriften, Stellenangaben, Rechtecke, die Umrandungen und das Inhaltsverzeichnis, das nur die Überschriften ohne Stellenangaben gibt. Titelblatt, Inhaltsverzeichnis und sechs Seiten sind im Anhang der Gesamtausgabe abgebildet (GA X/XI, 221–228). Inhalt: „Die Verirrung im Wald“ (Inferno I 1–27); „Entsendung des Vergil“ (Inferno II 58–93); „Die Gruppe der Dichter“ (Inferno IV 67–102); „Franziska von Rimini“ (Inferno V 97–142); „Brunetto Latini“ (Inferno XV 22–87); „Bekränzung mit dem Schilf“ (Purgatorio I 94–136); „Casella“ (Purgatorio II 67–117); „Buonconte und Pia“ (Purgatorio V 88–136); „Morgentraum“ (Purgatorio IX 13–33); „Der Friedensengel“ (Purgatorio XVII 40–69); „Buonagiunta von Lucca“ (Purgatorio XXIV 34–37, 40–63); „Die Sänger Guido und Arnaut“ (Purgatorio XXVI 97–148); „Abschied Vergils“ (Purgatorio XXVII 94–142); „Das irdische Paradies“ (Purgatorio XXVIII 1–42); Neunundzwanzigster Gesang (Purgatorio XXIX 1–154); Dreißigster Gesang (Purgatorio XXX 1–145); „Die Taufe im Lethe“ (Purgatorio XXXI 97–145); „Krönung der Jungfrau“ (Paradiso XXIII 25–111); „Die Himmelsrose“ (I, II) (Paradiso XXX 19–130, Paradiso XXXI 1–30); „Gebet des hl. Bernhard“ (Paradiso XXXIII 1–39).29 A1: die erste Buchausgabe Dante, Göttliche Komödie. Übertragungen von Stefan George, Berlin: Georg Bondi 1912, mit 33 Stellen. 128 S. Erschien im Februar. Inhalt wie F. Zudem: „Entsendung des Vergil“ (Inferno II 1–57, 94–142); „Die Lauen“ (Inferno III 25–51); „Cavalcante“ (Inferno X 52–72); „Petrus Vinea“ (Inferno XIII 22–45); „Odysseus lezte Fahrt“ (Inferno XXVI 106–142); „Casella“ (Purgatorio II 55–66); „Manfred“ (Purgatorio III 103–135); „Anfang des VIII. Gesangs“ (Purgatorio VIII 1–21); „Eitelkeit des Ruhmes“ (Purgatorio XI 73–102); „Statius“ (Purgatorio XXI 1–136); „Bad im Eunoe¨“ (Purgatorio XXXIII 115–145); „Anruf Apollos“ (Paradiso I 1–36); „Karl Martell“ (Paradiso VIII 31–57); „Krönung der Jungfrau“ (Paradiso XXIII 1–24, 112–139); „Der Erzengel Gabriel“ (Paradiso XXXII 88–114). Im Juni 1921 erschien bei Bondi die zweite, um die zweite Vorrede, einige Übertragungen30 und ein von Percy Gothein angefertigtes Namenverzeichnis erweiterte Auflage. Im November 1921 kam zu Dantes Todesjahr die dritte, unveränderte Auflage heraus und 1925 die vierte, um ein von Erich Berger ergänztes Namenverzeichnis erweiterte Auflage, die mit Band X/XI der Gesamt-Ausgabe identisch ist.

28 Vgl. SW X/XI, S. 146; GA X/XI, S. 218. 29 Hier und im Folgenden vgl. SW X/XI, S. 156f. 30 Ergänzt wurden die Stellen aus den BfdK 11/12/1919 und „Inschrift des Höllentors“ (Inferno III 1–24), „Der Hungerturm – Ugolino“ (Inferno XXXIII 13–75) sowie „Der Adler über Glaube und Heil“ (Paradiso XX 73–99).

2. Stefan George: Werk – Dante. Übertragungen

2.9.2.

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Aufbau, Übersetzungsprinzipien und Formales

2.9.2.1. Zum Auswahlverfahren der Commedia-Übertragung Eine vollständige Übertragung der Commedia hat StG nicht vorgelegt, sondern nur von knapp einem Viertel des Gesamttextes: 14 Stellen aus dem Inferno (ca. 1.010 Verse), 24 aus dem Purgatorio (ca. 1.433 Verse) und 12 aus dem Paradiso (ca. 874 Verse). In der „Vorrede der ersten Auflage“ erklärt er programmatisch, er habe jene Teile übertragen, die „das dichterische“, nämlich „ton bewegung gestalt“, zum Ausdruck bringen und die lebendige Größe Dantes auch jenseits der nationalen Grenzen konstituieren würden: „[A]lles wodurch Dante für jedes in betracht kommende volk (mithin auch für uns) am anfang aller Neuen Dichtung steht“ (X/XI, 5). Die größte Bedeutung misst StG somit den klanglichen Sprachmitteln („ton“),31 ihrer Einordnung in die maßvoll kalkulierte, rhythmische Bewegung der Vers- und Terzinenform („bewegung“) und schließlich jener harmonischen Ganzheit („gestalt“) bei, die sich aus dem vollkommenen Einklang von „ton“ und „bewegung“ zu ergeben habe.32 Es liegt nahe, dass ihm bei der Auswahl viel wichtiger ist, eine kanonische Überlieferung zu setzen als sich selbst zu beschränken. Die Chronologie der Manuskripte und der Drucke gibt detaillierte Aufschlüsse über StGs Vorgehensweise und über das Voranschreiten der Dante-Übertragung. Sie zeigt, dass er einen zunächst übertragenen Kern nach vorn oder hinten, in einzelnen Fällen bis hin zum gesamten Gesang erweitert hat.33 Auch wenn sich StGs Auswahlkriterien nicht auf den ersten Blick erschließen, lassen seine spärlichen Aussagen zu Dantes Position in der abendländischen Geistesgeschichte doch erkennen, welche Kriterien für seine Rezeption des Dichters ausschlaggebend waren. Er sah in Dante einen „Heraufführer der Renaissance“, was er vor allem an dessen „dichterische[r] Teilnahme am Menschen selbst“ (EL, 17) festmachte,34 an einer von Dante verkörperten ,Ganzheit‘, einer innigen Verbundenheit mit dem gesellschaftlichen und göttlichen Gefüge, die StG als ,Bindung‘ schlechthin verstand. Dantes neue (weil ,antimoderne‘), höchst poetische Qualität nahm StG dabei mehr an den seelischen Schwingungen und an der symbolischen Prägnanz der Bilder wahr als in dem lehrhaft-theologischen Gerüst des Werks.35 Letzteres wurde – neben dem rein Historisch-Politischen – daher 31 Vgl. Michels, Dante-Übertragungen, S. 137. 32 Vgl. II, 1.2.1. 33 Zum Entstehungsprozess der Dante-Übertragungen anhand der in den BfdK und in den Buchausgaben veröffentlichten Stellen vgl. GPL, S. 414ff. Eine Übersicht mit detaillierteren Jahresangaben zu den einzelnen Belegen findet sich in SW X/XI, S. 158–162. 34 Vgl. EL, S. 41f. 35 Vgl. ebd., S. 42. Dementsprechend postuliert StG die Unversöhnlichkeit zwischen Mittelalter (qua Christentum) und Dichtung: „Dichten ist eine unchristliche Aktion“. Hierzu vgl. Braungart 1997, S. 183: „Georges ästhetischer Katholizismus ohne katholische Dogmatik bedeutet nicht römische Religion, sondern Haltung und ins Äußerste gesteigertes Formbewußtsein“. – Die Vorstellung von einem in der Commedia dominierenden, im eigentlichen Sinn ,poetischen‘ Stoff, der sich in der Form einzelner lyrischer Episoden von dem Hintergrund eines gelehrten politisch-theologischen Gerüstes abhebt, wird von Benedetto Croce formuliert, der in La poesia di Dante eben zwischen poesia und struttura unterscheidet; vgl. ders., La poesia di Dante, 7., überarb. Aufl., Bari 1952, insbes. S. 47–65. Beispiele für die „Ausschaltung der politischen, lehrhaft-didaktischen und moralisch-theologischen Spekulation“ bei StG finden sich bei Michels, Dante-Übertragungen, S. 66f.

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I. Stefan George und sein Kreis

von StG kaum beachtet. Um die ,wahrhaft‘ charakteristischen Elemente der Dichtung Dantes zu zeigen, griff er einzelne Textpassagen heraus und stellte diese als eine Sammlung lyrischer, von ihm selbst betitelter Episoden dar, die nur einen oder wenige zusammenhängende Aspekte des betreffenden Gesangs in den Vordergrund rücken.36 Daher ist der sublimierende theologisch-narrative Weg, den die Hauptfigur vom Sündenwald bis zur Himmelsrose zurücklegt, in räumlicher wie in zeitlicher Hinsicht nicht mehr nachvollziehbar. Der strenge Aufbau des Originals, den Dante in Anlehnung an die mittelalterlich-christliche Zahlensymbolik entwirft, lässt sich in der Übertragung ebenfalls nur sehr beschränkt nachvollziehen: Aus den hundert Gesängen wählte StG nur fünfzig aus. Unter den ersten, in der fünften bis siebten Folge der BfdK veröffentlichten Übertragungen sind alle drei Teile der Commedia vertreten; es überwiegen jedoch Stellen aus dem Purgatorio. StGs Aufmerksamkeit scheint sich insgesamt auf Motive, Haltungen und Darstellungsverfahren gerichtet zu haben, die, wenn sie auch nicht immer inhaltlich eine vollkommene Entsprechung in seiner eigenen Dichtung fanden, so doch in engem Zusammenhang mit seinem dichterischen Selbstverständnis standen. Zu den frühesten belegten Teilübertragungen (Januar 1901)37 gehören Episoden der Huldigung und der absoluten Sublimierung von Dantes geistiger Begleiterin: Beatrice wird im Ausschnitt von der „Entsendung des Vergil“ (Inferno II 58–93) in ihrer Funktion als Vermittlerin geschildert und erscheint dann in „Wiedersehen mit der Seligen“ im triumphalen Gefolge von Blumen und Engeln (Purgatorio XXX 22–48; noch im selben Jahr übertrug StG den ganzen Gesang). Außerdem widmete sich StG Erscheinungen: der Vision der mystischen Rose – beginnend mit dem Bild des den Reisenden überwältigenden Lichtstroms, gefolgt von der ausführlichen Darstellung der „lichten rose“ mit der Bewegung der „himmelsheere“ („Die Himmelsrose“, Paradiso XXX 38–130, Paradiso XXXI 1–30). Schließlich übertrug er den Marienhymnus des Heiligen Bernhard („Gebet des hl. Bernhard“, Paradiso XXXIII 1–39), dessen feierlich-gehobener, eng an die Tradition der biblischen Hymnik angelehnter Duktus ihn besonders ansprechen musste.38 StG bevorzugte insgesamt „Einzelfälle“ der Commedia.39 Die seelisch bewegenden Begegnungen mit Sängern und Dichtern haben für den Sprechenden den kulturellaffektiven Wert einer erinnerten Erfahrung. Sie bieten ihm aber auch immer die Gelegenheit zu einer poetologischen Meta- und Selbstreflexion. So etwa in der Darstellung der tröstenden und kathartischen Macht der Musik (Casellas „liebessang“, Purgatorio II 67–117) oder in Dantes Auseinandersetzung mit der stilnovistischen 36 Erst am Ende des jeweiligen Übertragungsausschnittes vermerkt StG Gesang und Verszahlen. Der zweiten Auflage fügt er solche Stellen hinzu, die „von besonderer dichterischer wucht und eindringlichkeit [sind] wie der Felsenstieg (Hölle XXIV) der Hungerturm (Hölle XXXIII) die Verbannungsvoraussage (Himmel XVII)“ (X/XI, 5). 37 Wie G. P. Landmann präzisiert, ist das angegebene Datum immer als Terminus ante quem zu verstehen. 38 Auf die liturgische Antithese im Gebet des Hl. Bernhard greift StG mehrmals zurück, z. B. im Gedicht „Einverleibung“ aus dem Siebenten Ring: „Ich geschöpf nun eignen sohnes“ (VI/VII, 109) und im siebten Gedicht aus dem Stern des Bundes („Eingang“): „Ergeben steh ich vor des rätsels macht / Wie er mein kind ich meines kindes kind . .“ (VIII, 14). 39 Michels, Dante-Übertragungen, S. 42. Zum „Auswahlverfahren Stefan Georges“ und zu den formalen Charakteristika der ausgewählten Ausschnitte anhand mehrerer Beispiele vgl. grundsätzlich ebd., S. 30–72.

2. Stefan George: Werk – Dante. Übertragungen

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Produktion,40 mithin auch in der Deutung des eigenen ideologisch-literarischen Weges (z. B. „Casella“, „Die Sänger Guido und Arnaut“, Purgatorio XXVI 97–148). Weiteren Ausschnitten liegt das Interesse an rituellen Vorgängen, an Bereichen des Übergangs („Die Bekränzung mit dem Schilf“, Purgatorio I 94–136; „Der Friedensengel“, Purgatorio XVII 40–69) und an Erscheinungen im irdischen Paradies zugrunde (Purgatorio XXVIII 1–42). Eine Gruppe von autobiographisch motivierten Ausschnitten handelt vom Dichter und von seinem Schicksal im weitesten Sinne. So weist z. B. der Dialog mit Brunetto Latini (Inferno XV 22–87) neben der Anerkennung des Schülers auch auf die Unsterblichkeit hin, die durch Taten oder geistige Leistungen erlangt werden kann,41 und betont den Gegensatz zwischen dem Dichter und seinen Mitbürgern. Bei all diesen Stellen gilt das Interesse des Übersetzers offensichtlich sowohl der einzelnen schönen Geste oder Bewegung als auch der prächtigen, einem großen Gemälde gleichenden Darstellung.42 So erklärt sich, dass drei Gesänge aus dem Purgatorio (XXIX, XXX, XXXI), in deren Mittelpunkt eine symbolische Prozession, Beatrices Epiphanie und die komplexe liturgische Gestik des Lustrationsritus stehen, schon in der Faksimile-Ausgabe von 1909 als einzige vollständig übertragen sind. Die der Ausgabe von 1909 zugrunde liegende Textauswahl ist geprägt von StGs Interesse an ergreifenden Begegnungen mit historischen Persönlichkeiten (Franziska von Rimini, Buonconte und Pia), der erlösenden Erscheinung Beatrices, Momenten des Lobpreises und der Hingabe (zu dem oben erwähnten „Wiedersehen mit der Seligen“ kommt „Krönung der Jungfrau“ [Paradiso XXIII 25–111] und „Die Himmelsrose“ [Paradiso XXX 19–37] hinzu) und der Zelebrierung eines exklusiven Großmutideals mit dem triumphalen Empfang Vergils (und Dantes selbst, mithin auch des Übertragenden, der durch Dante spricht) durch die Dichter des Altertums („Die Gruppe der Dichter“, Inferno IV 67–102). Dantes morgendliche Traumvision der Entführung durch den Adler mit dem goldenen Gefieder (Purgatorio IX 13–33) wird außerdem bis zur vierten Auflage 1925 als selbstständige Einheit gefasst.43 Eine Hilfe für das Verständnis von StGs Vorliebe für die zweite und für die dritte cantica geben die letzten Verse von „Dante und das Zeitgedicht“. Hier kehrt das lyrische Ich (Dante) die Wertmaßstäbe der wissenschaftlichen Dante-Kritik um 1900 um und misst, indem es auf die enge Verknüpfung zwischen gehobener Dichtung und Preisen hinweist, dem Purgatorio und mehr noch dem Paradiso gegenüber dem Inferno den höheren Rang bei: „[…] o toren! / Ich nahm aus meinem herd ein scheit und blies – / So ward die hölle · doch des vollen feuers / Bedurft ich zur bestrahlung höchster liebe / Und zur verkündigung von sonn und stern“ (VI/VII, 9).44 Die Verse 40 ,Stilnovismus‘ ist eine poetische Richtung, die als Höhepunkt der älteren italienischen Lyrik vor Petrarca gilt. 41 „Zu herzen geht mir wie im geist mir währet / Noch eure gute teure vatermiene / Als ihr auf erden täglich habt erkläret // Wo sich der mensch die ewigkeit verdiene“ (X/XI, 30). 42 In Bezug auf StGs Auswahlverfahren spricht Michels u. a. von der Hervorhebung der „kostbare[n] Einzelheit“, Michels, Dante-Übertragungen, S. 44. 43 Vgl. ebd., S. 52f. 44 Vgl. hierzu Klussmann, Dante und Stefan George, S. 138f. Zum Verhältnis zwischen Dichten und Preisen vgl. EM I, S. 219: „Oberste Dichtung besteht im Preisen. Negieren hat nur dann Sinn in der Dichtung, wenn es vom Preisen übertroffen wird und zur Erhöhung des Preisens beiträgt“. In eine Reihe mit den Evangelien und den Werken der griechischen Antike stellt der Freund Edgar Salin in seinen Erinnerungen die Bedeutung Dantes für StG, um zu zeigen, dass nur feiernde Dichtung den Einbruch des ,Göttlichen‘ in die menschliche Welt zum Vorschein bringen kann

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verweisen indirekt auf die bereits vom stilnovistischen Dante gezogene Verbindung zwischen vollkommener Liebe und Seelenadel. Diese Verbindung ist Voraussetzung für die exemplarische Lobdichtung, wie sie im Paradiso verwirklicht wird. Auch Dantes musikalisch wirkende Sprache mag StGs Interesse für die zweite und dritte cantica geweckt haben. In einer feinfühligen Deutung der Commedia weist Attilio Momigliano zu Recht auf eine grundsätzliche Gemeinsamkeit zwischen Purgatorio und Paradiso hin. In vielen Passagen sei nicht die präzise Darstellung der Ausdruck von Dantes Dichtung […], sondern der mal gedehnte, mal verklingende Ton in der Luft […]. Das Wort zielt nicht mehr darauf ab, die nunmehr unendlich gewordene Vision, sondern die von dieser Vision bewirkte Gemütsbewegung und Entrückung zu umschreiben, weshalb nicht mehr auf figurative, sondern auf musikalische Elemente zurückgegriffen wird.45

Die thematischen Schwerpunkte und formalen Charakteristika der bis 1909 erschienenen Übertragungen scheinen sich in den folgenden Ausgaben nicht grundsätzlich zu verlagern. In der ersten Buchausgabe von 1912 werden zum Teil bereits übertragene Fragmente um vorhergehende und/oder nachfolgende Terzinen ergänzt. Dabei geht es nur in einzelnen Fällen um die Vervollständigung des Gesanges (z. B. „Entsendung des Vergil“, Inferno II; „Krönung der Jungfrau“, Paradiso XXIII), oft vielmehr um das Hinzufügen weiterer „erlesene[r] Details“.46 Zum anderen treten nun kulturhistorisch relevante, nicht zuletzt durch die Wahl der Überschriften absolut gesetzte Figuren wie Petrus de Vinea (Inferno XIII 22–45), Odysseus (Inferno XXVI 106–142), Manfred (Purgatorio III 103–135), Oderisi da Gubbio,47 Statius (Purgatorio XXI ganz) und Karl Martell (Paradiso VIII 31–57) hervor. Die Auswahl der Ausschnitte konzentriert sich außerdem auf stilistisch beeindruckende, mit visueller und musikalischer Präzision umrissene Bilder (Petrus de Vinea, Manfred, Anfang des VIII. Gesanges des Purgatorio, Karl Martell), moralische Gebote (stolzer und einsamer Adel beim Anblick der „Lauen“, Inferno III 25–51; in der kulturellen Überlieferung Italiens zu Stilemen gewordene Passagen wie in „Odysseus lezte Fahrt“, Inferno XXVI 119–120: „fatti non foste a viver come bruti / ma per seguir virtute e canoscenza“), das Lob der (eigenen) Dichtung („Statius“, Purgatorio XXI ganz; „Karl Martell“, Paradiso VIII

(ES, 152). Die Vermutung liegt nahe, dass die hohe Wertschätzung der preisenden Dichtung von StGs Platon-Lektüren beeinflusst wurde. Vgl. z. B. Platon, Der Staat, bearb. v. Dietrich Kurz, griech. Text von E´mile Chambry, dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 2001 (Sämtliche Werke in 8 Bden., Bd. 4), S. 831, 607a: „[I]n den Staat [ist] nur der Teil der Dichtkunst aufzunehmen […], der Gesänge an die Götter und Loblieder auf treffliche Männer hervorbringt“; zum pädagogischen Wert von Lobliedern vgl. auch Platon, Protagoras u. a., Bd. 1, bearb. v. Heinz Hoffmann, griech. Text von Louis Bodin u. a., dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 2001 (Sämtliche Werke in 8 Bden., Bd. 1), S. 125, 127, 325e–326a. Zu der möglichen Quelle des von StG gerne zitierten Spruchs „poetry is praise“ vgl. Jeffrey D. Todd, ,Poetry is praise‘ – Beobachtungen zu Stefan Georges Dichtung, in: CP 52/2003, 258/259, S. 45–66. 45 Dante Alighieri, La Divina Commedia, Kommentar v. A. Momigliano, Firenze 1951, S. 326 (Übers. d. Verf.). Darauf verweisen die Herausgeber von: Dante Alighieri, Commedia. Purgatorio, S. XXXIII. Die Begegnung mit Casella zählt Momigliano ebenfalls zu den Episoden, die durch diese eigenartig meditative Stimmung geprägt sind. 46 Michels, Dante-Übertragungen, S. 44. 47 Der Titel „Eitelkeit des Ruhmes“ (Purgatorio XI 73–102) gibt eigentlich den Maßstab eines ethisch-künstlerischen Bewusstseins wieder.

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31–57), Rituale im Bezirk des Übergangs („Bad im Eunoe¨“, Purgatorio XXXIII 115–145), die Verherrlichung Gottes, Marias und die Erscheinung des Engels („Anruf Apollos“, Paradiso I 1–36; „Der Erzengel Gabriel“, Paradiso XXXII 88–114). Im und nach dem Ersten Weltkrieg kamen „berühmte höllische, politische, mahnende Stellen“ (X/XI, 145) hinzu. Exemplarisch für die ,höllischen‘ Stellen sei hier „Eintritt in die Stadt des Dis“ genannt: Im November 1917 übertrug StG die gewaltige Vorbereitung für die rettende Erscheinung des vom Himmel gesandten („gelenkten“) Wesens (Inferno IX 55–90), später (1919) ergänzte er diesen Ausschnitt um die Terzinen, in denen mythisch-symbolische Figuren – die Erinnyen und die Medusa – dem Reisenden drohen (Inferno IX 34–54). Auch die „Ugolino“-Episode wurde in zwei Phasen übertragen: zunächst Ende 1917 Inferno XXXIII 37–75 (Hungertod der Kinder), dann vor 1921 Inferno XXXIII 13–36 (Ugolinos letzte Stunden). Die berühmte Eingangsszene, in der Ugolino mit tierisch-makaberer Gebärde den blutigen Mund vom Nacken seines Opfers hebt und ihn sich mit dessen Haaren abwischt, wird dabei auf für StG bezeichnende Weise vollkommen unterschlagen.48 Als Beispiel für die politischen und mahnenden Stellen sei ein Teil aus der „Voraussage der Verbannung“, (Paradiso XVII 46–99) erwähnt, der noch im Laufe des Jahres 1917 um vorausgehende und folgende Terzinen ergänzt wurde („Cacciaguida“, „Voraussage der Verbannung“, Paradiso XVII 13–45, 100–142). Hiervon erschienen einige Verse (124–133) auch als Motto des 1917 separat publizierten Gedichtes „Der Krieg“ (IX, 21–26). Auch die Übertragung von „Der Dichter Sordell, Wehruf über Italien“ (Purgatorio VI 61–84), die zwischen 1918 und 1919 erweitert wurde, gehört in diesen Themenbereich. StG bricht seine Übersetzung charakteristischerweise an der Stelle (Vers 102) ab, an der eine Aufzählung von Italiens politischen Übeln einsetzt. Die Abfolge der Übertragungen bis hin zur vierten und letzten Auflage von 1925 bestätigt somit nicht das von Friedrich Wolters und von Lorenzo Bianchi postulierte Vorhaben StGs, homogene Züge der Gestalt Dantes – nämlich die des „staatlichen Bildner[s], des Mahner[s], Richter[s] und Erwecker[s]“49 – hervorzuheben. Sie belegt vielmehr StGs Absicht, sich in den Vorstellungsbereich Dantes zu begeben und Möglichkeiten des dichterischen Ausdrucks selbst zu erproben. Der Auswahl der Übertragungen liegt eine sorgsame Reduktion zugrunde, die, indem sie Dantes Werk vom historisch-kulturellen Kontext löst, StGs eigenem Selbstverständnis folgt und dabei sein Interesse an bestimmten Modalitäten des poetischen Schreibens (z. B. das Huldigen und Lobpreisen, das Verweilen bei ornamentalen Details) verrät. 2.9.2.2. Bemerkungen zum Druckbild und zur Metrik Die typographische Gestaltung der Übertragungen weist Merkmale auf, die zum Teil bereits aus dem Druckbild von StGs eigenen Gedichten bekannt sind: die Trennung der einzelnen Terzinen durch eine Leerzeile – was schon äußerlich der epischen Kontinuität der Dichtung entgegenwirkt –, orthographische Besonderheiten (z. B. „lezt“,

48 Zu weiteren Beispielen der „Aussparung der realistischen Detailschilderung“ bei StG vgl. Michels, Dante-Übertragungen, S. 64f. 49 Bianchi, Dante und Stefan George, S. 17.

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„maassen“), den Gebrauch neuer Interpunktionszeichen und den sparsamen Gebrauch von Großbuchstaben, die, um eine „stilisierte Einheitlichkeit“ zu erzielen, nur für Eigennamen und Hervorhebungen bestimmt sind.50 StG gleicht das Strophenmaß dem Original an: der von Dante entworfenen gereimten Terzine, deren mittlerer Reim als erster und dritter Reim der folgenden Strophe wiederkehrt (Reimschema aba, bcb, cdc, … xyx y) und somit die einzelnen Strophen eng miteinander verflicht.51 Das Versmaß Dantes, den Endecasillabo (Elfsilber), erhält StG durch die Verwendung des auftaktigen Fünfhebers. Der gleichmäßige Rhythmus wird durch die Wahl meist zweisilbiger Wörter gewährleistet,52 wobei der stark substantivierte Stil und der jambische Rhythmus es dem Verfasser ermöglichen, einen gemessen feierlichen Ton durchzuhalten. Im Vergleich zum Italienischen allerdings, das vorwiegend aus Paroxytona besteht, mehrfach Elisionsmöglichkeiten und metrische Freiheiten (Synalöphe und Synärese) bietet, ist die deutsche Sprache eingeschränkter. Deshalb muss StG fast ausschließlich weibliche Versausgänge wählen, sodass neben „gelungenen und sicheren Neubildungen“ oft verlegene Konjunktive stehen.53 An der Übertragung von Vergils mahnenden Worten aus dem Inferno II 45–48 („So wurde dein gemüt der feigheit beute / Durch die in manchem fall der mensch ermatte · / Dass ihn erschrecken ehrenvolle schritte / Wie falsche schau die tiere wenn es schatte“) beanstandet Karl Vossler z. B. eine kaum zu rechtfertigende poetische Freiheit, die sich durch falsche Syntax, durch unannehmbare Verwendung des Konjunktivs („ermatte“/„schatte“) und durch ungewöhnliche Prägungen („schatten“ im intransitiven Gebrauch) äußere.54 Der enge Zusammenhang, den der Reim über die phonische Wirkung hinaus zwischen den einzelnen Reimworten herstellt, ist vor allem semantisch bedeutsam: Die Reimworte wecken die Aufmerksamkeit des Lesers nicht nur, weil ihre Kombination unvorhersehbar ist, sondern auch, weil sie eine metrisch starke Position am Versschluss einnehmen. So werden z. B. in den drohenden Mahnungen des Höllentors die ewigen Qualen und die höchste Gerechtigkeit verknüpft:

50 Michels, Dante-Übertragungen, S. 76, 83. Zur Interpunktion vgl. Landmanns relativierende Anmerkungen (X/XI, 147). 51 Michels hat gezeigt, dass die zusätzliche Verbindung, die sich bei Dante oft durch das Enjambement zwischen aufeinanderfolgenden Terzinen ergibt, bei StG in den meisten Fällen durch neue syntaktische Konstrukte so aufgelöst wird, dass die einzelnen Strophen als eine Folge von in sich geschlossenen, verselbstständigten Einheiten wirken. Vgl. Michels, Dante-Übertragungen, S. 77–80. 52 Zu den einzelnen Elementen eines „brachylogischen“, konzentrierten Stils vgl. ebd., S. 121–136. 53 Wuthenow, Das fremde Kunstwerk, S. 116. Zu Beispielen für die wenigen männlichen Reime vgl. Michels, Dante-Übertragungen, S. 152. Über Verweys Übersetzung äußerte sich StG: „Wenn ich mirs so leicht hätte machen wollen, wie es im Holländischen mit den mehrsilbigen Endungen möglich ist, hätte ich auch das Ganze übersetzen können“ (zit. nach X/XI, 144). Weitere Ausführungen zur Eigentümlichkeit der deutschen und der italienischen Verskunst finden sich bei Kloepfer, der StGs und Vosslers Übersetzungen anhand eines naturwissenschaftlichen AnalogieBegriffs vergleichend untersucht; vgl. Kloepfer, Wort. 54 Vgl. Vossler, Dante, Sp. 2289. Eine systematische Übersicht zu StGs ungewöhnlichen wie anspruchsvollen Wortbildungen bietet Michels, Versuch einer Wortkonkordanz zur Dante-Übertragung, in: Ders., Dante-Übertragungen, S. 231–270.

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,Per me si va ne la citta` dolente, per me si va ne l’etterno dolore, per me si va tra la perduta gente.

,Durch mich geht man hinein zur stadt der trauer Durch mich geht man in der Verlornen zelle Durch mich geht man zum leiden ewiger dauer.

Giustizia mosse il mio alto fattore; fecemi la divina podestate, la somma sapı¨enza e ’l primo amore […]‘ (Inferno III 1–6)

Aus recht gab mir der Schöpfer meine stelle Die göttliche Gewalt hat mich geweitet Die erste Liebe und die höchste Helle. […]‘55 (X/XI, 16, Herv. d. Verf.)

Während bei Dante dem „etterno dolore“ (Vers 2) „il mio alto fattore“ (Vers 4) und „’l primo amore“ (Vers 6) entsprechen, kann StG durch eine ausdrucksstarke Inversion („der Verlornen zelle“) und durch die Vertauschung der Verse 2 und 3 sowohl den allgemeinen Klangeindruck als auch den semantischen Effekt der Reimverknüpfung Dantes beibehalten. In der deutschen Fassung werden auch der parataktische Stil, die insistierende Anapher („per me“) und das thematische Crescendo des Originals (Verse 1–3) wiedergegeben. So kann als Fazit festgehalten werden, dass StG insgesamt nicht die wortgetreue Anlehnung an die Vorlage beabsichtigte, sondern die streng durchgeführte Übertragung von Dantes Vers- und Strophengestalt, indem er nicht zuletzt auf die gleichen rhetorischen Mittel zurückgriff. Hierfür scheute er weder „syntaktische Gewaltsamkeit“ noch Sinnverschiebungen oder Verdunkelungen des Inhalts, die nur teils aus der geballten Ausdrucksweise resultieren.56 2.9.3.

Rezeption und Deutung

2.9.3.1. Kreisinterne Rezeption Die aus dem Kreis um StG hervorgegangenen Erinnerungen bezeugen weniger eine verstehende oder gar kritische Aufnahme der Commedia-Übertragungen als vielmehr die Hochschätzung, die StG deshalb entgegengebracht wurde, weil er ein mittelalterliches Werk der Weltliteratur ,erschlossen‘ habe. Die Kenntnis der Commedia und der Vita Nuova wurde in StGs Bildungskonzept für die Jugend zwar als ,nötig‘ – wenn nicht, im Fall von Dantes Hauptwerk, als ,unbedingt‘ – angesehen.57 Bei vielen Kreismitgliedern fand eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Werk allerdings erst zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in den Kreis statt (X/XI, 147). Diverse Zeugnisse der physiognomischen Ähnlichkeit zwischen Dante und StG58 wurden im Freundeskreis gerne zum Beweis für die geistige Verwandtschaft der bei55 Vgl. hierzu Manfred Gsteiger, „Queste parole di colore oscuro“ – Zur deutschen Übersetzungsgeschichte der ,Divina Commedia‘, in: Ders., Poesie und Kritik – Betrachtungen über Literatur, Bern u. a. 1967, S. 132–144. 56 Kloepfer, Wort, S. 105ff.; Michels, Dante-Übertragungen, S. 74. Zu einer ausführlichen Untersuchung von StGs Stilmitteln und zu wichtigen Aspekten der inhaltlichen Vermittlung vgl. Michels, Dante-Übertragungen, S. 73–214. 57 Vgl. Groppe 1997, S. 480–497 („Index. Zur Bibliothek eines jungen Menschen“). 58 Viele Episoden werden von Boehringer und von Salin überliefert; vgl. RB II, S. 12f., 85, 88f., 126 (Zitat aus Gundolfs Stefan George in unsrer Zeit), 141; ES, S. 14. StGs Auftritte als Dante bei Maskenfesten hinterließen besonders eindrückliche Erinnerungen; vgl. RB II, S. 117; FW, S. 275. StGs selbststilisierten Darstellungen hat zuletzt Eva Hölter Aufmerksamkeit gewidmet: Eva Höl-

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I. Stefan George und sein Kreis

den Dichter und somit auch zur Legitimation von StGs Übertragungen gebraucht.59 Darüber hinaus ist eine deutliche Bemühung festzustellen, vermeintlich gemeinsame Haltungen und ein gemeinsames Schicksal hervorzuheben und dadurch eine geistige Traditionslinie für kanonisch zu erklären, die von Platon über Dante und Shakespeare bis hin zu StG reicht. In dieser Perspektive, die teils aus StGs stark auswählender Lektüre der literarischen Tradition, teils aus dessen überlieferten Äußerungen entwickelt wird, ist es nicht verwunderlich, dass die Dante-Übertragungen als Dokumente eines mythischen, d. h. überzeitlichen Bilds von Dante und seinem Werk verstanden werden.60 Im Namen der „Gleichheit des geistigen Schicksals“ und des „Ranges“ sowie der „verwandten sprachliche[n] Formkraft“ proklamiert Wolters in seiner ,Blättergeschichte‘ StG als „de[n] berufene[n] Verdeutscher Dantes“ (FW, 373f.).61 Die auf Platon verweisende Bedingung der Kongenialität von Dichter und Interpret habe, so Wolters, im Unterschied zu früheren, auch berühmten Dante-Lesern StGs Zugang zu Dantes eigentlichem ,Wesen‘ verbürgt und die Neuheit und Wirksamkeit seiner Übertragung garantiert (FW, 372f.).62 Albert Verwey äußert sich in De Beweging (März 1910) zu StGs Dante- und Shakespeare-Übertragungen.63 Wolters nimmt Verweys Ausführungen als weiteren Beleg für StGs Verwandtschaft mit den „Gipfel[n]“ (FW, 376) europäischer Dichtung, um somit noch einmal StGs Stellung im Bildungskanon der abendländischen Tradition zu bestätigen. Dass Wolters’ Argumente für die in der 11./12. Folge der BfdK erschienene Dante-Auswahl relativiert werden müssen, wurde bereits bemerkt.64 Wolters begründet StGs nur partielle Anverwandlung der Commedia mit den „versunken[en]“ Aspekten von Dantes Werk (das „Weltbild des Christen“ und der „Traum des Ghibellinen […] vom Weltkaisertum“), denen er dessen „wirklich“ lebendige, d. h. weiterhin vorbildliche Aspekte gegenüberstellt. Diese bestehen in seiner Sicht darin, neue Wertmaßstäbe im Rahmen eines überlieferten Kulturzusammenhangs zu stiften. Dantes Vorbildhaftigkeit zeige sich auch darin, wie er die Dimensionen der Transzendenz und der erfahrbaren Erscheinung miteinander verknüpfe: die Verdichtung und Gestaltung des Neuen Lebens in der Darstellung und Erfüllung der christlichen Welt, das Erscheinenlassen des heldischen Menschen und eines neuen staatlichvölkischen Fühlens im Raum der Heiligen und der Kirche, das Sichtbar- und Gewichtigmachen des Irdisch-Menschlichen im jenseitigen überirdischen Gottesreich.65 ter, „Der Dichter der Hölle und des Exils“. Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption, Würzburg 2002, S. 136–138. 59 So in Boehringers Besprechungen; vgl. Michels, Dante-Übertragungen, S. 14f. 60 „[B]leibt Dantes Werk nicht der größte Mythos des Mittelalters, obwohl Dante in seinem geistigpolitischen Werk vollkommen gescheitert ist?“ (KH, 14); vgl. auch ES, S. 152. 61 Bei Wolters’ apologetischer Interpretation handelt es sich um einen besonderen Fall von kreisinterner Rezeption, da die Monographie auf StGs Drängen und unter seiner Mithilfe – oft nach Diktat – verfasst wurde. 62 StGs Dante-Übersetzungen werden bei Wolters an dieser Stelle nicht separat behandelt, sondern in Verbindung mit den von Hellingrath herausgegebenen Pindar-Übertragungen Hölderlins und mit StGs Übertragung von Shakespeare-Sonetten. Zu formalen Aspekten der Dante-Übertragung vgl. FW, S. 374. 63 Vgl. Albert Verwey, Shakespeare en Dante, in: De Beweging 6/1910, 3 (März), S. 320–329. 64 Vgl. oben, Abschnitt 2.9.2.1. 65 Alle Zitate: FW, S. 457.

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In dieser Linie steht auch Friedrich Gundolf, der – wohl auch aus eigenem Interesse an einer Darstellung von Dantes Bedeutung aus der Sicht des 20. Jahrhunderts – wichtige Ausführungen zu StGs Dante-Übertragungen hinterlassen hat. Von einem groß angelegten Dante-Buch, das ihm selbst vorgeschwebt haben soll,66 und von einer offensichtlich langen Auseinandersetzung mit dem Dichter, die schon den zahlreichen Hinweisen in seinen Aufsätzen und Monographien zu entnehmen ist, sind allerdings nur die fragmentarisch überlieferten Einführungsworte zu einer Lesung erhalten, die auf die Zeit seiner Entfremdung von StG datierbar sind.67 Der gerade für diesen spannungsreichen Zeitpunkt bezeichnende Versuch, StGs Rang, seine innere Verwandtschaft mit Dante und seine ,Ursprünglichkeit‘ zu beteuern und diese Ursprünglichkeit als Bedingung für eine adäquate, d. h. zeitgemäße und ,lebendige‘ Dante-Rezeption zu betonen, erscheint von weniger Interesse als das hier entworfene Bild des ,europäischen‘ Dichters. In einer für Gundolf typischen Verfahrensweise werden zunächst ,unzulängliche‘ Dante-Deutungen und -Übersetzungen aus dem 15. bis 18. Jahrhundert angeführt, deren Autoren, angeblich ohne „ein volles Menschengefühl“ für Dantes Dichtung, „Zwecke, Lehren, Nutzen“ daraus zu schöpfen suchten.68 Von Herder über Kant und Goethe bis hin zur Romantik sieht er sodann zwar ein neues reiferes Stadium des Dante-Verständnisses erreicht („die ästhetische, philosophische, historische Deutung seines Werks und seines europäischen Sinns“69). Insgesamt habe jedoch eine bloß historisch-theoretische, im Grunde zersetzende Kenntnis von Dantes „Stoffe[n]“ und „Mittel[n]“ vorgeherrscht: Der Sinn für „das Unbedingte“ und für die „Kräfte […], in denen Dante lebte und webte“, habe damals fast völlig gefehlt.70 Dantes Gestalt fasst Gundolf hingegen in einer Reihe typischer Haltungen und geistiger Qualitäten zusammen: als „Minner“, „gewaltige[r] Eiferer“, „anima sdegnosa“, „stolze[r] Dulder“, „tiefsinnige[r] Seher und Deuter der irdischen Erscheinungen und der göttlichen Gesetze“, „Glaubensheld“, „ritterlichste[r], gentilste[r] der Menschen“, „ewiges Vorbild feiner Sitte und ausdrucksvollen Seelenadels“, „Richter eines Weltalters“, „weise[r] Genius“.71 StGs Verdienst besteht laut Gundolf darin, die überzeitlichen wie übernationalen Qualitäten Dantes in erneuerter Sprache festgehalten zu haben. Aus seiner Intention, einem menschlichen Spezifikum „als eine Einheit und als eine Ganzheit“72 nachzuspüren, habe StG die Konsequenz gezogen, alles ,Geschichtliche‘, d. h. das „ungeheure Welt-, Staats- und Kirchengebäude“, zu verwerfen.73 StG habe stattdessen eine episodische Lektüre der Commedia gewählt, die einzelne Gebärden und bildhaft konzentrierte Erscheinungen privilegiert. Er gebe nicht nur Dantes Versschema und dessen „Wort- und Vorstellungsinhalte“ wieder, sondern lasse 66 Vgl. Rudolf Sühnel, Friedrich Gundolf und der George-Kreis, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986. Bd. 3: Das zwanzigste Jahrhundert 1918–1985, hrsg. v. Wilhelm Doerr, Berlin u. a. 1985, S. 259–284, hier: 265. 67 Gundolfs kurzer Dante-Text wurde mehrmals bei seinen Lesungen aus StGs Übertragung vorgetragen (zuerst: Wien, 16. Oktober 1922) und postum veröffentlicht in CP 91/1970. 68 Gundolf, Dante, S. 197f. 69 Ebd., S. 198. 70 Ebd., S. 199, 200. 71 Ebd., S. 200, 201. Ähnliche Epitheta finden sich in noch gedrängterer Akkumulation in: Gundolf, George, S. 52f. 72 Gundolf, Dante, S. 203. 73 George-Wort zit. in ebd., S. 202.

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I. Stefan George und sein Kreis

„die spezifische Schwere des Dantischen Tons, das metallene Dröhnen, das mächtig holde Raunen und Rollen der Terzine als deutsche Sprache“ zum ersten Mal erklingen.74 Schließlich räumt Gundolf eine gewisse Dichte und Schwere des Duktus ein, die er als das Ringen „eines werdenden Deutsch mit einem gewordenen Italienisch“75 zu rechtfertigen sucht. 1920 war auch Gundolfs George-Monographie erschienen, in der einige Seiten StGs Übertragungen ausländischer Dichter gewidmet sind. Gundolf würdigt hier StGs unterschiedliche Herangehensweisen bei der Übersetzung neuerer Dichter (wie Baudelaire, Verlaine, D’Annunzio, Rossetti, Verwey und Lieder) und der Vorbilder Dante und Shakespeare. Auf der einen Seite sei ein experimentierfreudiges Verhältnis zur Sprache zu bemerken, wobei StG hauptsächlich die eigenen Ausdrucksmittel bereichert und verfeinert habe;76 auf der anderen Seite habe ein viel komplexeres Verständnis der Werke die Übertragung maßgeblich bestimmt. Dante habe die verborgenen schöpferischen Weltkräfte „durch die Schau eines Gottesreichs und die Offenbarung der heiligen Seelengesetze“ erspürt und solche Kräfte zugleich „bewahrt und [ge]steigert“, indem er sie in seiner „gehobene[n] Sprache“ festgehalten habe. Es ist somit das Charakteristikum eines vorbildlichen Dante, dessen Fähigkeit nämlich, ,Gestalt‘ und Sprachausdruck in vollkommenen Einklang zu bringen, das in Gundolfs Darstellung der Dante-Verdeutschung im Vordergrund steht. Dante wird als „der höchste dichterische Mensch“ gefeiert,77 als verwandtes, zugleich unerreichbares Wunschbild und als Begründer der europäischen Dichtung. 2.9.3.2. Zur allgemeinen Rezeption des Werks Auf die unterschiedlichen, zum Teil völlig entgegengesetzten Würdigungen der DanteÜbertragungen im deutschen und im italienischen Sprachraum weist Gerd Michels in der Einleitung zu seiner Untersuchung hin, in der er sich auf Rezensionen und monographische Abhandlungen bis Anfang der 60er-Jahre bezieht.78 Im Folgenden sollen Michels’ resümierende Bemerkungen, ergänzt um weitere Stellungnahmen, die entweder bei ihm kaum Beachtung fanden oder die zu einem späteren Zeitpunkt erschienen, vorgestellt werden. Sowohl in enthusiastischen als auch in kritischen Publikationen, die zuweilen – wie im Fall der berühmten Rezension Vosslers der ersten Buchausgabe von 1912 – voreingenommen sind, fehlen in Michels’ Sicht des Öfteren sachliche Begründungen. Neben der üblichen Kritik an der Eigenart der Drucktype werden die kühnen Neologismen und stilistischen Lösungen, die ungewöhnliche Verwendung des Konjunktivs, Verstöße gegen die Grammatik und die enge Anlehnung an die metrischen Formen des Italienischen bemängelt, aus denen nach Ansicht etlicher Kritiker ein weitaus mühsamerer Zugang zur Übertragung als zum Original resultiert. Vossler beispielsweise erkennt die Originalität von StGs Leistung an, die er als eine „wesentlich ästheten74 Ebd., S. 203. 75 Ebd., S. 204. 76 Vgl. Gundolf, George, S. 51: „Am Fremden hat er sein Eigenes sagen gelernt“. 77 Alle Zitate ebd., S. 52. 78 Vgl. Michels, Dante-Übertragungen, S. 11–29.

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mässige und impressionistische“ Arbeit jenen Übersetzungen entgegensetzt, welche „die theologische, die philosophische, die historische, die philologische Deutung des Werkes zur Grundlage ihrer Arbeit“ machten. Auch nimmt er die Eigenart von StGs Interpunktion in ihrer Funktion wahr. Doch insgesamt kritisiert er, dass „das stilistische Virtuosentum und das spielerische grammatikalische Dilettantentum“ zulasten der Übertragung gingen.79 Nur in einzelnen Fällen, so Michels, werden StGs formaler Anspruch und der Zusammenhang zwischen Übertragungswerk und individueller dichterischer Auffassung erkannt.80 Unter den umfangreicheren Arbeiten kommt in Michels’ Sicht allein derjenigen Bianchis das Verdienst zu, einige detaillierte vergleichende Analysen aus den drei cantiche zu bieten, wobei die Abhängigkeit von Wolters’ Urteil wiederum zum Nachteil der Darstellung gerate.81 Michels selbst ist eine eingehende Untersuchung von StGs Stil sowie Auswahl- und Übersetzungsverfahren zu verdanken, in die er auch die Kunstanschauung und das Selbstverständnis des Dichters miteinbezieht. Gerade dieser exklusive Bezug zu StGs eigener Poetik und die zu punktuelle Behandlung nur einzelner Aspekte der DanteÜbertragung verhindere aber, so Jeffrey D. Todd, einen ebenso erschöpfenden wie systematischen Überblick über die gesamte Entwicklung der Dante-Übersetzungen. Ein solcher Überblick sei Desiderat für die künftige Forschung.82 Neben Vosslers Bemerkungen ist die Kritik eines anderen namhaften Romanisten zu stellen. Ernst Robert Curtius äußert in einem kritischen Überblick über Neue Dante-Studien von 1947 einige Bedenken. Er räumt zwar ein, dass StGs Übertragung für viele Leser den alleinigen Weg zu Dante dargestellt habe, nämlich als „großartige[s] und einmalige[s] Beispiel einer partiellen Anverwandlung durch einen großen Modernen“. Seine Schlussfolgerung allerdings bleibt skeptisch: „[W]er Dante nur aus George kennt, der kennt Dante nicht und liest ihn nicht“.83 Erich Auerbach betont hingegen 1924 die Bedeutung von StGs Übersetzung für Deutschland, dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts sprachliche Verflachung und „Verwirrung und Wurzellosigkeit des nationalen Geistes“ gedroht hätten. Dem eigenen Volk habe StG eine gewisse Vertrautheit mit der Commedia ermöglicht: Er habe ein Ehrfurcht gebietendes Werk erst zu einem lebendig-wirksamen ,Ebenbild‘ und Vorbild werden lassen und somit der Besinnung auf das nationale Wesen und auf gemeinsame europäische Ursprünge den Weg geebnet.84 Unter den bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts kommt Rudolf Borchardt, der zur gleichen Zeit und offensichtlich als Gegenentwurf zu StG ein ehrgeiziges Dante-Projekt verfolgte,85 ein besonderer Stellenwert zu. Im Aufsatz Dante und deut79 Alle Zitate: Vossler, Dante, Sp. 2288f. 80 Vgl. Michels, Dante-Übertragungen, S. 19. 81 Näheres zu Bianchis Arbeit unten, Abschnitt 2.9.3.3. 82 Vgl. Todd, George’s Dante Translations. 83 Curtius, Dante-Studien, S. 239. 84 Vgl. Auerbach, Georges Danteübertragung, S. 412. Vgl. auch S. 411: „Die unendlich mühevolle Kommentierung jedes einzelnen Verses […] das immer wiederkehrende Stutzen vor allzu anschaulichen Bildern – die Fremdheit gegenüber dem sinnlichen Abbild der himmlischen Hierarchie: diese drei großen Hindernisse für jedes Vertrautsein mit der Komödie fallen für den fort, dem Georges Übertragungen zugänglich sind“. 85 Vgl. Dantes Comedia Deutsch, hrsg. v. Marie Luise Borchardt, unter Mitarbeit v. Ernst Zinn u. Ulrich Ott, Stuttgart 1967.

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scher Dante von 1908 mustert er kritisch die um die Jahrhundertwende unternommenen Versuche, Dante ins Deutsche zu übersetzen, und würdigt die seit 1901 in den BfdK erschienenen Stellen der Commedia als eine großartige Leistung auf dem Weg zur dichterischen Aufnahme des Werks in die deutsche Kultur. Im Gegensatz zu den teils dilettantischen, teils kunstgewerblichen Dante-Verdeutschungen eines Paul Pochhammer (1901), Otto Hauser (1906) und Richard Zoozmann (1908), die der herrschenden Praxis des gegenwärtigen Übersetzungsbetriebs entsprächen, erkennt er bei StG eine „künstlerische Arbeit von allererstem Range, von spezifischer Eigenschwere“.86 Borchardt richtet seine Aufmerksamkeit nicht nur auf die Erhaltung einzelner metrischer, syntaktischer und stilistischer Phänomene – die Terzine, die Reimwörter, die Periode, die rhythmische Zäsur –, sondern insgesamt auf die Angemessenheit des poetischen Mediums: Durch StGs Schöpfung eines neuen deutschen Verses spreche Dante selbst in der Übertragung. Somit zeige sich StG „innerhalb der Grenzen des Stiles, die ihn selber determinieren, nun durchaus auf der Höhe seiner Aufgabe, was von einem Übersetzer Dantes, wie bedingt immer, auszusagen, ein ungemeines und fast vermessenes Zugeständnis ist“.87 Allerdings betont Borchardt, dass StG aufgrund seiner eigenen kulturgeschichtlichen Determiniertheit noch nicht zur dichterischen Verdeutschung der ganzen Commedia in der Lage sei: [S]chon jetzt ist deutlich, wo George, der im kleinen niemals verzichtet, im großen allerdings sich beschieden hat, und im Verfolge seines Arbeitsprinzips wie seiner Stilgrenzen hat bescheiden müssen; den ganzen Dante zu geben, ist unserer Generation, vielleicht erst einer künftigen aufbehalten; aber inzwischen ist durch die ungeheure Anstrengung eine Bahn gebrochen worden und wir bekennen sofort, daß wir die darin liegende Forderung an uns mitgerichtet empfinden, das unsere zur Bezwingung der Aufgabe einzutragen im Begriffe sind.88

Wenn Borchardt sagt, StGs Übersetzung sei „für den durchschnittlich Aufnehmenden auf lange Strecken hin […] absolutes Äquivalent des Dantischen Gedichtes“,89 dann relativiert er sie als ein Phänomen der kulturgeschichtlichen Übergangsphase um 1900 und kündigt an, er selbst werde sie durch eine dichterisch weiter fortgeschrittene ersetzen.90 Ralph-Rainer Wuthenow stellt StGs und Borchardts Leistungen einander gegenüber.91 Er behandelt die Übersetzungen als Kunstwerke eigenen Rechts und ihre Einwirkung auf die deutsche Literatur und Sprache. Bei StG ist laut Wuthenow zum ersten Mal zwar der „Tonfall“ Dantes zu vernehmen, doch müsse der Verfasser in seinem Bemühen, sich möglichst streng an die Versgestalt und an die Gebärde des Originals zu halten, neben „ganz präziser Erfassung“ immer erneut auch auf „Abschwächungen und künstliche Umschreibungen“ ausweichen, die, wie Wuthenow am 86 Borchardt, Dante und deutscher Dante, S. 369. 87 Ebd., S. 368. 88 Ebd., S. 367. 89 Ebd., S. 368. 90 Vgl. Kai Kauffmann, Von Minne und Krieg. Drei Stationen in Rudolf Borchardts Auseinandersetzung mit Stefan George, in: GJb 6/2006/2007, S. 55–79, bes. S. 70f. Zur Einordnung von StGs und Borchardts Übertragungen in die Geschichte der deutschen Dante-Rezeption vgl. ders., „Deutscher Dante“? 91 Zuerst in: Ralph-Rainer Wuthenow, Deutscher Dante?, in: Neue Deutsche Hefte 9/1962, 90, S. 37–54 (wieder in: Ders., Das fremde Kunstwerk, S. 99–127).

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Beispiel der „Franziska von Rimini“-Episode zeigt, schon an sprachliche Willkür grenzten.92 Das Übertragungswerk erweise sich zum einen als wirklich StG gemäß, da es insgesamt den Eindruck einer überzeugenden „dichterische[n] Potenz“ hinterlasse, wie sie durch den Sinn für rhythmische Proportionen und für die richtige Wahl des einzelnen Wortes aus StGs Dichtung bekannt sei. Zum anderen aber sei es von einer oft übertriebenen Starrheit geprägt, welche die Zeichen des Verzichts (Undeutlichkeit und Gezwungenheit des Stils) in sich trage. Deshalb gelinge es StG nicht, „die Übersetzung zu schaffen, die als Übersetzung ein Werk der deutschen Literatur werden könnte“.93 Bei seinem Versuch, Dante „als eine ,archaische‘ Erscheinung“94 zu erneuern, vermöge sich Borchardt zwar der Commedia in höherem Maße zu nähern als StG. Wegen der nicht nur philologischen Genauigkeit seiner Vorgehensweise und seiner sprachlichen Virtuosität verliere seine Übersetzung allerdings an Wirkung und rücke „weit von uns weg in einen dem Original verwandten schwer zugänglichen Bezirk“.95 Neben der bündigen Darstellung von Kurt Wais96 ist es schließlich das Verdienst von Paul Gerhard Klussmanns Beitrag von 1971, anhand exemplarischer Analysen nicht nur StGs Perspektive in den Commedia-Übertragungen, sondern auch Dantes Vorbildfunktion und seinen Einfluss auf StGs gesamte Poetologie (Motive, Vorgänge und Kompositionsprinzipien) herausgearbeitet zu haben. 2.9.3.3. Zur italienischen Rezeption Trotz der grundsätzlichen Einschränkungen, die bereits Michels an Bianchis Studie von 1936 hervorgehoben hat, ist diese jahrzehntelang die wohl namhafteste Abhandlung zu StGs Dante-Übersetzungen aus italienischer Sicht geblieben.97 Zum Lob, das der Verfasser StGs Leistung in ausdrücklicher Anlehnung an Wolters und Borchardt entgegenbringt, gesellen sich kritische Beobachtungen, die hauptsächlich die Folgen von StGs Auswahlverfahren und seine Diktion betreffen. Nicht nur löse StG den einzelnen Ausschnitt aus seinen auch metaphysischen Bezügen heraus. Darüber hinaus erschwerten auch dunkle Wendungen und eine, wenngleich dichterische, so doch insgesamt „gläsern, opak, unwirklich“ wirkende Sprache das Verständnis der Texte. An StGs sprachlicher Gestaltung sei im Vergleich zum Original eine allgemeine Gewichtsverlagerung festzustellen, durch die sie zwar die ,Georgesche Prägung‘ erhalte, dabei jedoch vieles an der spezifisch poetischen Dimension Dantes einbüße.98 Der 92 Ders., Das fremde Kunstwerk, S. 117. 93 Ebd., S. 118. 94 Ebd., S. 116. 95 Ebd., S. 126. Einen beispielreichen Vergleich zwischen StGs und Borchardts Übertragungen als Reflex unterschiedlicher ästhetischer Konzeptionen bietet Lucia Mancini, Borchardt und George. Klaus Schuhmacher erkennt an beiden Übersetzungen die mit der Poetik des jeweiligen Verfassers eng verbundene Intention, „Dichtung als Macht zu etablieren“. Vgl. Klaus Schuhmacher, Das Textparadies als Autorenhölle. Dante-Lektionen deutscher Dichter, in: Arcadia. Zeitschrift für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 31/1996, S. 254–272, bes. S. 261–266. 96 Vgl. Wais, Divina Commedia, insbes. S. 46f. 97 Zu weiteren Stellungnahmen italienischer Interpreten vgl. Michels, Dante-Übertragungen, S. 11–29. 98 Vgl. Bianchi, Dante und Stefan George, S. 44.

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Duktus erscheine zwar gleichmäßig und künstlerisch, doch erweise er sich gerade durch eine derart durchgehaltene Homogenität als gezwungen, schwer begreifbar und an entscheidenden Stellen zum Teil auch ärmer und blasser. Die Darstellung, die bei Dante aufgrund ihrer Unmittelbarkeit und plastischen Qualität zur eindringlichen „Gestalt“ werde, bleibe bei StG zweidimensional, ein „schön erfüllter ZeitRaum“.99 Von StGs poetologischer Position und seiner Rezeption der frühromantischen Ästhetik ausgehend erläutert Mario Pensa (1950) am Beispiel einiger Ausschnitte (aus: „Der Hungerturm – Ugolino“, Inferno XXXIII; „Krönung der Jungfrau“, Paradiso XXIII) StGs ,figurative‘ Intention als Selbstzweck. Den Übertragungen fehle grundsätzlich jener ,psychische‘ Raum, der bei Dante für die menschliche Tiefe und für die Lebendigkeit des jeweils Dargestellten bürge.100 Nicht nur zerfalle die Commedia somit in eine Reihe erlesener, eher ,dekorativer Medaillons‘, durch welche das Ganze an ,geistigem Zusammenhang‘ verliere. Auch herrsche innerhalb der einzelnen Ausschnitte, die aufgrund ihrer formalen Strenge die Grenzen einer künstlichen, ,antihumanistischen und materialistischen‘ Dimension nicht zu überschreiten vermögen, eine Stimmung ,künstlerischer Irrealität‘.101 Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt die wenige Jahre später erschienene Untersuchung von G. L. Luzzatto. Auch hier wird StG als ,kraftvoller Wortschmied‘ („fabbro gagliardo della parola“) bezeichnet und dafür gewürdigt, ein höchstes Meisterwerk der ,poetischen Rekonstruktion‘102 geschaffen zu haben. StGs Sprache komme Dantes expressiven Intentionen oft sehr nahe. Die strenge Konsequenz, mit der StG die beabsichtigte Ausführung („piano esecutivo“) umsetze, reiche allerdings nicht immer an die ,dramatische Erfindung‘103 des Originals heran. Der musikalisch-fließende Rhythmus der Terzine gehe in einem „staccato“ unter, mit dem StG das einzelne Wort oder den einzelnen Satz privilegiere. In neuerer Zeit hat Italo Michele Battafarano die Aufmerksamkeit auf StGs eigentümliche Rezeption der „Franziska von Rimini“-Episode gelenkt. Manches erscheint an der sonst eingehenden vergleichenden Untersuchung nicht hinreichend differenziert, z. B., dass der Verfasser behauptet, weder stilistische noch thematische Verwandtschaft mit den ausländischen Autoren habe StG zum Übersetzen angeregt.104 Battafarano hebt nicht nur StGs Auswahl stark begrenzter narrativer Kerne hervor, in deren Mittelpunkt sich Einzelfiguren befänden, sondern auch, wie im Fall der Übertragung der „Franziska von Rimini“, seine wirkungsmächtige Umsetzung von Dantes Auffassung, dass Dichtung ein Ausdruck des Mitleids mit dem dargestellten Einzelschicksal sei. Der Schluss, den der Verfasser daraus zieht, StG lasse aus der göttlichen Komödie eine menschliche Tragödie werden,105 überzeugt allerdings nicht völlig. StGs Auswahlprinzip vermag somit grundsätzlich der Gefahr nicht zu entgehen, dem eigentümlichen Gesetz der Poesie Dantes wie aller großen Poesie zuwiderzulau99 100 101 102 103 104 105

Ebd., S. 51. Vgl. Pensa, George e Dante, S. 29–33. Vgl. ebd., S. 39, 34. Luzzatto, George traduttore, S. 31. Ebd., S. 36. Vgl. Battafarano, Dell’arte, S. 181. Vgl. ebd., S. 212.

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fen, nämlich jener schwer ausschöpfbaren semantischen Verdichtung, die sich aus dem Beziehungsgeflecht einzelner, zuweilen sogar dissonanter Elemente untereinander und aus deren Verbindung mit dem gesamten Werk ergibt. Die „Stilüberbietung“106 des Originals und die streng verfolgte rhythmisch-metrische Einheitlichkeit, die nicht nur das Sinngefüge der italienischen Fassung oft verrät, sondern auch letztlich deren dramatischer und gefühlsbetonter Stimmung kühle Gemessenheit verleiht, zeigt StGs Leistung einerseits als persönliche ,Anverwandlung‘. Gerade diese primäre Bewahrung der Form ermöglicht ihm aber andererseits, Dantes Stil und Vorstellungen in Vergleich zu anderen Übersetzern präziser und adäquater wiederzugeben, ohne sie zugleich dem Verständnis des Lesers zu entrücken. Literatur EL; FW. Alighieri, Dante, Rime, hrsg. v. Gianfranco Contini, mit e. Essay v. Maurizio Perugi, Torino 1995. Ders., La Vita Nuova, Einl. v. Giorgio Petrocchi, Kommentar u. Anm. v. Marcello Ciccuto, 9. Aufl., Milano 2006 (1. Aufl. 1984). Ders., Commedia. Inferno, hrsg. v. Emilio Pasquini u. Antonio Quaglio, 17. Aufl., Milano 2008 (1. Aufl. 1982). Ders., Commedia. Paradiso, hrsg. v. Emilio Pasquini u. Antonio Quaglio, 12. Aufl., Milano 2008 (1. Aufl. 1986). Ders., Commedia. Purgatorio, hrsg. v. Emilio Pasquini u. Antonio Quaglio, 13. Aufl., Milano 2008 (1. Aufl. 1982). Auerbach, Erich, Stefan Georges Danteübertragung, in: Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, hrsg. v. Karlheinz Barck u. Martin Treml, Berlin 2007, S. 410–413. Battafarano, Italo Michele, Dell’arte di tradur poesia. Dante, Petrarca, Ariosto, Garzoni, Campanella, Marino, Belli. Analisi delle traduzioni tedesche dall’eta` barocca fino a Stefan George, Bern u. a. 2006. Berger, Erich, Eine Vermutung, Stefan Georges Übertragungen aus der ,Göttlichen Komödie‘ betreffend, in: Ders., Randbemerkungen zu Nietzsche, George und Dante, Wiesbaden 1958, S. 27–50. Bianchi, Lorenzo, Dante und Stefan George. Einführung in ein Problem, Bologna 1936. Borchardt, Rudolf, Dante und deutscher Dante, in: Ders., Prosa II, hrsg. v. Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit v. Ernst Zinn, Stuttgart 1959, S. 354–388. Curtius, Ernst Robert, Neue Dante-Studien I, in: Romanische Forschungen 60/1947, S. 237–289. Gundolf, Friedrich, George, Berlin 1920. Ders., Dante, in: Ders., Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte, ausgew. und hrsg. v. Victor A. Schmitz u. Fritz Martini, Heidelberg 1980, S. 196–204. Kauffmann, Kai, „Deutscher Dante“? Übersetzungen und Illustrationen der ,Divina Commedia‘ 1900–1930, in: Dantes Göttliche Komödie. Drucke und Illustrationen aus sechs Jahrhunderten, hrsg. v. Lutz S. Malke, Ausstellungskatalog Berlin, Leipzig 2000, S. 129–152. Kloepfer, Rolf, Das ,notwendige, welthaltige Wort‘ – Dantes Purgatorio I, in: Ders., Die Theorie der literarischen Übersetzung, München 1967, S. 97–112.

106 Kloepfer, Wort, S. 106.

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Klussmann, Paul Gerhard, Dante und Stefan George. Über die Wirkung der Divina Commedia in Georges Dichtung, in: Stefan George Kolloquium, hrsg. v. Eckhard Heftrich u. a., Köln 1971, S. 138–150. Luzzatto, Guido Lodovico, Stefan George traduttore di Dante, in: Cenobio. Rivista mensile di cultura 4/1953, S. 31–43. Mancini, Lucia, Rudolf Borchardt und Stefan George: Übersetzer von Dantes ,Divina Commedia‘, in: Rudolf Borchardt 1877–1945. Referate des Pisaner Colloquiums, hrsg. v. Horst Albert Glaser u. Enrico De Angelis, Frankfurt/M. u. a. 1987, S. 321–346. Michels, Gerd, Die Dante-Übertragungen Stefan Georges. Studien zur Übersetzungstechnik Stefan Georges, München 1967. Pensa, Mario, Stefan George e Dante. Contributo alla storia della critica tedesca ed all’estetica dell’impressionismo in Germania, in: Annali del corso di lingue e letterature straniere (Pubblicazioni dell’Universita` di Bari) 1/1950, S. 2–39. Ders., Stefan George e l’Italia, in: Il Veltro. Rivista della civilta` italiana 6/1962, S. 227–242. Todd, Jeffrey Dean, Stefan George’s Dante Translations. Past Perspectives and Future Itineraries, Cincinnati 1997. Vossler, Karl, Dante, ,Göttliche Komödie‘. Übertragen von Stefan George, Berlin, Bondi 1912 [Rez.], in: Deutsche Literaturzeitung 36/1912, Sp. 2288–2290. Wais, Kurt, Die ,Divina Commedia‘ als dichterisches Vorbild im XIX. und XX. Jahrhundert, in: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 3/1968, S. 27–47. Wuthenow, Ralph-Rainer, Das fremde Kunstwerk. Aspekte der literarischen Übersetzung, Göttingen 1969. Anna Maria Arrighetti

2.10. Shakespeare Sonnette. Umdichtung (SW XII) 2.10.1. Entstehung und Überlieferung Shakespeares Ruhm, der Ruhm des Dramatikers, war seit Wielands Zeiten im deutschen Sprachraum nicht mehr verblasst. StG waren Goethes Shakespeare-Reden sicher ebenso vertraut wie die Übersetzungen von Schlegel und Tieck. In seinem Besitz befanden sich drei Bände einer englischen Werkausgabe von 1883 sowie ein Einzeldruck des Othello mit einigen Notizen.1 Das Nichtvorhandensein der berühmten Übersetzungen der Romantiker ist nicht überzubewerten; sie mögen verloren gegangen sein, befanden sich ganz sicher in den großen Bibliotheken von Karl Wolfskehl und späterhin Friedrich Gundolfs, die StG oft monatelang zur Verfügung standen. Theaterleidenschaft hatte außerdem den Schüler StG sehr häufig ins Darmstädter Theater geführt und ihn dort mit den großen Dramen des Engländers bekannt gemacht. In der Korrespondenz zwischen dem Schulfreund Carl Rouge und StG des Jahres 1888 finden Stücke wie Julius Caesar, Much Ado about Nothing und The Taming of the Shrew Erwähnung. Im Wintersemester 1889/90 belegte StG eine Vorlesung Shakespeare und Hamlet. Zwar standen die Sonnets im Schatten des dramatischen Werks, aber die Übersetzungen Friedrich von Bodenstedts (1862) und Otto Gildemeisters (1871) aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren verbreitet. 1 Die folgenden Ausführungen basieren auf meinem Nachwort zu SW XII, S. 166–179.

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Ob StG Ludwig Tiecks 1826 veröffentlichten Aufsatz Über Shakespeares Sonette einige Worte, nebst Proben einer Übersetzung derselben – die erste, allein den Sonetten gewidmete Veröffentlichung – kannte, lässt sich heute aufgrund fehlender Überlieferung nicht mehr entscheiden. Sicher ist, dass ihm Cyril Meir Scott 1899 die Temple-Ausgabe der Sonnets in der dritten Auflage von 1898 widmete und schenkte. Sie ist mit einigen wenigen Anstreichungen und Notizen StGs in seinem Nachlass erhalten, ebenso wie die kommentierte Ausgabe Edward Dowdens von 1899. Nicht festzustellen ist allerdings, ab welchem Zeitpunkt diese Ausgabe in seinem Besitz war. Cyril Scott, seit 1896 mit StG bekannt, mag ihn auf die Sonette hingewiesen, StG mag sie aber auch schon während seiner Londoner Aufenthalte (1888, 1891 und 1898) für sich entdeckt haben. Jedenfalls schrieb er auf die Rückseite eines Briefentwurfs an Hugues Rebell aus dem Jahr 1897 fünf Verse von Shakespeares Sonett „CXXVIII“: „When thou my music music play’st“.2 Selbst Oscar Wilde könnte Vermittler gewesen sein durch seinen Aufsatz The Portrait of Mr. W. H., der im Juli-Heft 1889 von Blackwood’s Edinburgh Magazine zu lesen war.3 Zweifellos kannte StG auch die Übersetzungen Max J. Wolffs, die 1903 in Berlin erschienen waren und gegen die Berthold Vallentin noch 1910 unter der Überschrift Übersetzungskunst der Gegenwart aufs Heftigste polemisierte. Sein Artikel war eine verkappte Anzeige der Sonnett-Übertragungen StGs, von welchen der letzte Absatz des Artikels handelt.4 StG hatte 1894 Sonette Dante Gabriel Rossettis aus dem Englischen übertragen und in den BfdK veröffentlicht. Seine Übertragungen Baudelaires, Mallarme´s, Verlaines und weiterer europäischer Zeitgenossen waren um 1900 weitgehend abgeschlossen, mit der Übersetzung von Gesängen aus Dantes Divina Commedia begann er nach der Jahrhundertwende. Friedrich Gundolf aber übersetzte im Mai 1899 Sonette Shakespeares, die – so schrieb er StG – seiner „Stimmung nicht fremd schienen“.5 Er stellte seinen „fleiss“ unter Beweis, indem er kaum drei Wochen später bekannte, dass ihn die „hohe Aufgabe“ nicht habe ruhen lassen, er habe „in diesen Tagen […] ungefähr sechzig Sonnette, so gut es gelingen durfte übertragen, davon die ersten 50 in fortlaufender Reihe“.6 Wolfskehl gegenüber betonte er fortdauernden „Eifer“, bekannte aber auch, dass es ihm vorkomme, „als hätte ich eine Sisyphusarbeit geliefert mit der bisherigen Verdeutschung: das wenigste kann noch gefallen; der Stein muss von neuem bergan gerollt werden.“7 Der „Stein“ jedoch blieb lange Zeit liegen. Zwar sandte Gundolf StG insgesamt 47 Übertragungen, und StG äußerte im August 1899 den Wunsch wegen der Übertragungen „mit Ihnen manches zu besprechen“ (G/G, 31), doch danach setzte Schweigen ein. Keine der Übersetzungen Gundolfs wurde in den BfdK oder anderen Orts veröffentlicht. Shakespeare trat hinter Dante und die intensive Beschäftigung mit deutscher Dichtung von Klopstock bis C. F. Meyer zurück. Noch einmal findet sich ein beredtes Zeugnis für Shakespeares Anwesenheit im Hintergrund und für StGs Hochschätzung des Dramatikers. Gundolf berichtet, dass er bei Grillparzer Sätze gefunden habe, die mit StGs „Lehre über den Dramatiker 2 Der Brief befindet sich im StGA. 3 Später wurde der Aufsatz von Felix Paul Greve, der 1902 mit StG in Kontakt stand, übersetzt und veröffentlicht. 4 Vgl. Vallentin, Übersetzungskunst, S. 554. Vgl. dazu unten Abschnitt 2.10.2. 5 F. Gundolf an StG v. 15.6.1899, in: G/G, S. 29. 6 F. Gundolf an StG v. 21.6.1899, in: G/G, S. 30. 7 F. Gundolf an K. Wolfskehl v. 29.7.1899, in: G/G, S. 30.

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überraschend einstimmen und wie außer der Zeit klingen.“ Er referiert diese „Lehre“ folgendermaßen: „dass nur ein Mensch von den wildesten Leidenschaften Dramatiker sein könne und in Sh. die Möglichkeit zum Mörder Dieb und Schurken gewesen sei, beherrscht durch den bildnerischen Trieb oder einen anderen . .“8 Der junge StG hatte auf dem Darmstädter Gymnasium Französisch, Latein und Griechisch gelernt. Seine erhaltenen Schulzeugnisse belegen, dass er nur auf der Binger Realschule auch Englischunterricht genoss: Note „gut–genügend“. Zur Erweiterung seiner Englischkenntnisse zog er im Mai 1888 nach dem Abitur nach London, wo er sich bis Anfang Oktober in einer Familienpension aufhielt. Zwei weitere kurze Aufenthalte folgten bis 1898. Wie gut StGs Kenntnisse der englischen Sprache waren, lässt sich nur vermuten. Allerdings sieht StG sich in den 90er-Jahren in der Lage, Rossetti, Swinburne und Dowson zu übertragen, und selbst Sonette in der fremden Sprache zu schreiben. Shakespeares Texte aber konfrontierten ihn mit ganz anderen Schwierigkeiten, hatte er es doch mit einer historischen Sprachform zu tun. Seine allem Anschein nach gute Sprachkompetenz fand dann Ergänzung in den Erläuterungen Dowdens und im offensichtlich viel benutzten Wörterverzeichnis der TempleAusgabe der Sonnets. Die Benutzung beider Ausgaben setzte wiederum gute Basiskenntnisse der modernen englischen Sprache voraus. Als StG im Februar 1907 mit der Übersetzungsarbeit begann, lag sein letzter kurzer Aufenthalt in England neun Jahre zurück und fast ebenso lange die Übersetzungsbemühungen Friedrich Gundolfs. Im Hinblick auf diese hatte StG am 11.6.1899 geschrieben: „vielleicht füllt einmal Ihr fleiss eine lücke: eine mögliche um-dichtung sei es auch nur teilweise der unsterblichen CLIV“ (G/G, 29). Doch Gundolfs SonettÜbersetzungen hatten die von StG konstatierte „lücke“ nicht schließen können. Spuren irgendeiner zwischenzeitigen Beschäftigung StGs mit den Sonetten Shakespeares haben sich nicht finden lassen. Der Überlieferung nach war es StGs Verleger Georg Bondi, der die Anregung zum doppelten Übersetzungsunternehmen gegeben hatte:9 Friedrich Gundolf überarbeitete die Dramen-Übertragungen von Tieck und Schlegel und übersetzte vieles neu, StG übertrug die Sonette. Im Dezember 1908 war StGs Arbeit schon beendet. Am 23.12.1908 schreibt Gundolf an Karl Wolfskehl: „Shakespeares Sonette alle 160 sind fertig und Romeo fast ganz neu“ (G/G, 189). Für die 22 Monate, in denen StG an den Sonetten arbeitete, liegen fast keine Zeugnisse vor. Erhalten sind nur zwei Sonett-Niederschriften von StGs Hand. Sonett „CXVI“ hatte StG Melchior Lechter geschenkt, vermutlich in Zusammenhang mit der geplanten Drucklegung. Das andere, Sonett „XCVII“, war im Besitz Friedrich Gundolfs, an welchen die unter dem Gedicht notierte Frage „sag hat das nicht seltsamerweise etwas jahrderseele-stimmung?“ sicher auch gerichtet war. Durch einen glücklichen Umstand wurde die Abschrift zweier weiterer Sonett-Übertragungen („CXVII“ und „CXX“) gerettet, während die Originale im Krieg verbrannten. Datierungen sind auf keinem der Blätter zu finden. Ernst Morwitz berichtet, StG habe ihm im April 1907 in Bingen Morgen für Morgen ein neu übersetztes Shakespeare-Sonett vorgelegt.10 Ist die hier bezeugte Geschwindigkeit schon erstaunlich, so ist noch hinzuzufügen, dass StG 8 F. Gundolf an StG v. 21.12.1901, in: G/G, S. 100. 9 Vgl. G/G, S. 178. 10 Vgl. Olga Marx, Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung, Bd. 1, Amsterdam 1967 (CP 77), S. 15.

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zugleich Mitarbeiter von Gundolfs Shakespeare-Projekt geworden war. Dies erfahren wir aus vielen Briefen Gundolfs, u. a. aus jenem vom Frühsommer 1908 aus Wolfenschiessen in der Schweiz, wo er mit StG weilte. Er schreibt an Wiesi de Haan: „Ich lebe hier nicht viel anders wie in Darmstadt, ganz dem Shakespeare gewidmet, aber nun ists bald ausgeründet und wird ein herrlich Werk, dank des Meisters Hand, die aus dem etwas latschigen Gundelthon recht marmorne Gebilde geknetet hat.“11 Es handelte sich um die Romeo und Julia- sowie die Othello-Korrekturen. Deutlicher noch benennt er im darauf folgenden August StGs Anteil: Was George vollends aus dem Antonius herausgeholt hat, der wirklich erst für unser Geschlecht entdeckbar, um drei Jahrhunderte Pathos, Heroik und Erotik vorwegzunehmen scheint, ist eine neue Welt von Glorie, Kraft, Zauber und Weisheit. […] Wenn Sie einen englischen Shakespeare haben, so suchen Sie einmal folgende Stelle zu verdeutschen (Akt V Sc.II ) ohne Verserweiterung ,But if there be, or ever were, one such […].‘ Und lesen Sie dann, was G[eorge] daraus gemacht hat.12

Eine große Übersetzungsanstrengung liegt vor, wenn Arbeitsbeginn der SonnettÜbertragungen tatsächlich erst im Februar 1907 war, denn in der dritten Blätter-Auslese erschienen am 16.2.1909 fünfzehn Sonette in StGs Übertragung und am 8. November 1909 erschien die in gelbes Leinen gebundene Erstausgabe sämtlicher 154 Sonette. Es ist mit großer Sicherheit anzunehmen, dass StG von vornherein das Jahr 1909 als Erscheinungsjahr geplant hatte, da 300 Jahre zuvor die auch von ihm benutzte Quarto-Ausgabe der Sonnets in London erschienen war. StGs Sinn für Zahlensymbolik war diese Übereinstimmung nicht entgangen. Welche Hilfsmittel ihm während der 22 Monate zur Verfügung standen, lässt sich kaum mehr feststellen. Textgrundlage war offensichtlich die Temple-Ausgabe, in der sich auch Bleistifteintragungen StGs finden, ergänzt um die Ausgabe Dowdens mit ihrem Kommentar und, wahrscheinlich zur Überprüfung herangezogen, ein von Gundolf besorgtes Faksimile der Erstausgabe von 1609. Es kann mehrfach belegt werden, dass StG den Kommentar Dowdens und das Vokabelverzeichnis nutzte.13 Von 410 aufgeführten Wörtern haben ungefähr ein Viertel StG geholfen, die adäquate Entsprechung im Deutschen zu finden.14 Dass er auch Freunde um Rat fragte, zeigt das Beispiel einer Anfrage an Cyril Scott.15 Schwieriger ist die Frage zu beantworten, welche Übertragungen StG kannte und möglicherweise als Paralleltext benutzte. Stichproben ergaben keinerlei Ähnlichkeit und Übereinstimmungen mit den sehr freien, deutenden, um Verständlichkeit bemühten Übersetzungen Otto Gildemeisters (1871). Dasselbe gilt für diejenigen Ferdinand Adolf Gelbckes (1867) und Friedrich von Bodenstedts (1862). Bei Letzteren lassen sich an einer Stelle Nähe und Abweichung zugleich entdecken. Die im Eugen Diederichs-Verlag 1902 in zweiter Auflage erschienene Ausgabe von Alexander Neidhardt kommt zumindest in der Tendenz StG näher. Sie gibt in einem Anhang die Varianz zu Bodenstedts Übersetzung, sich so auf sie beziehend und von ihr absetzend. Die Übersetzungen Karl Ludwig Kannegießers (1803) sind stark auf die Wiedergabe 11 Brief v. 5.7.1908, StGA. 12 F. Gundolf an K. Wolfskehl v. August 1908, in: W/G II, S. 68f. 13 Vgl. meinen Anhang in SW XII, S. 183f. 14 Vgl. Barlow, A Critical Study. Die maschinenschriftliche Dissertation, der ich einige Detailkenntnisse verdanke, befindet sich im StGA. 15 Vgl. die Erläuterung zu Sonett „CXVII“, Vers 10, im Anhang zu SW XII, S. 240f.

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des Originals ausgerichtet und kommen somit StGs Intention nahe. Wie groß die Entfernung zu Intention und Ausführung der Übersetzung von Max Wolff war, wird von Berthold Vallentin 1910 ausführlich dargestellt.16 Einen Sonderfall stellt nun das Verhältnis zu Gundolfs Sonett-Übertragungen dar. StG hatte sich fast zehn Jahre zuvor eingehend mit den ihm übersandten Texten beschäftigt. Spuren dieser Beschäftigung haben sich bis heute in seinem Nachlass erhalten in der Gestalt von Handschriften Gundolfs mit Korrekturen StGs. 1899 nannte StG die Übersetzungen „im ton gut“.17 Dennoch zeigt schon ein erster vergleichender Blick, dass seine eigenen Übertragungen von 1907/08 ganz anderen Übersetzungsprinzipien gehorchen. Gundolfs Versuche sind recht frei. Selten folgt er genau der Wortstellung des Originals im Vers oder gar in der Strophe.18 Dass Gundolfs Übersetzungen häufig die Couplets fehlen (Dreiviertel aller Übertragungen), auch den meisten an StG gesandten Reinschriften, kann gänzlich verschiedene Gründe haben. Gundolf mag sich der äußersten Verdichtung und Pointierung dieses Verspaars in vielen Fällen nicht gewachsen gefühlt haben. Zum anderen mag ihm das englische Sonett mit seinen drei Quartetten abgeschlossen erschienen sein, die begriffliche Pointierung der durch Paarreim verbundenen Schlussverse überflüssig und formal fragwürdig. Allerdings brilliert StG dann gerade im Übertragen jener konzentrierten, gnomischen Verspaare, die wenig bildreich, abstrakter und monosyllabisch sind. Es ist, die Zeugnisse deutend, anzunehmen, dass StG Gundolfs Übertragungen auch 1907 und 1908 vor Augen standen, vielleicht kann man sie sogar als zusätzliche Hilfsmittel bezeichnen. Wie zuvor schon erwähnt, erschienen die ersten fünfzehn Übertragungen StGs am 16.2.1909 im dritten Ausleseband der BfdK. Dieser war im Winter zusammengestellt worden und enthielt, abweichend von den vorhergehenden Bänden, auch bislang in den BfdK noch nicht publizierte Texte, so die Sonette „XVIII“, „XXIX–XXXIV“, „LII“, „LIII“, „LXXIII–LXXVI“, „XCVII“, „XCVIII“ und „Goethes lezte Nacht in Italien“. Die Druckgestalt der Sonnette unterscheidet sich maßgeblich von derjenigen in der Erstausgabe, die neun Monate später erschien: Die Couplets sind mit Einzug nach rechts gesetzt. Nach Erscheinen des Auslesebandes hatte Friedrich Gundolf im Auftrag StGs bei Melchior Lechter angefragt, ob er nicht vor der „Aufnahme der Sonette in den Gesamt-Shakespeare“ eine Sonderausgabe ausschmücken wolle.19 Allerdings drängte er zur Eile: Nicht nur liege das Werk bei einem Erscheinungstermin im Oktober schon ein Jahr lang vor, sondern Wolfskehl habe erfahren, dass S. Fischer zu Weihnachten eine Sonett-Übersetzung herausbringen wolle. Die Entscheidung liege ganz bei Lechter, nur bitte StG um baldige Nachricht. Diese kam mit leichter Verzögerung direkt an StG. Am 13.5. lehnte Lechter es ab, „etwas Zeichnerisches“ für die Shakespeare-Sonnette zu machen. Es fehle an „Zeit und Kraft“. Man könne die Sonnette aber „ohne jeden Schmuck sehr vornehm in Scene setzen.“ Darum wolle er sich „sehr gern kümmern“. Der Drucklegung voraus müsse jedoch eine Entscheidung 16 Vgl. unten 2.10.2. 17 StG an F. Gundolf v. 11.6.1899, in: G/G, S. 29. 18 Ausführlichere Erläuterungen zu Friedrich Gundolfs Sonett-Übersetzungen finden sich im Anhang zu SW XII, S. 166–179. 19 Brief v. 3.5.1909, in: Melchior Lechter/Stefan George, Briefe, kritische Ausg., hrsg. v. Günter Heintz, Stuttgart 1991, S. 295.

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über die „äussere Sonettform“ gehen. Falle die Wahl auf die englische, so müsse eine andere Lösung gefunden werden als das „hässliche Zurückspringen der beiden letzten Zeilen“, das er vergleicht mit „eine[r] gesegnete[n] Frau der im 8. Monat das Kleid vorn zu kurz“ werde. Er schlägt ein „Zierzeichen“ vor oder ein Spatium vor den letzten beiden Versen.20 StG verzichtete auf das „Zierzeichen“ und setzte in der Erstausgabe und in allen folgenden Ausgaben eine Leerzeile vor das abschließende Verspaar. Im Februar 1910 war dann auch die achte Folge der BfdK fertig und wurde zusammen mit der neunten Folge ausgeliefert, wenn auch nur an einen engen Kreis von Freunden. Die achte Folge enthält mit Sonett „XVII“ ein Sonett mehr als der Ausleseband und zwar das letzte der „fortpflanzungsreihe“.21 Weitere Einzelausgaben der Sonnette erschienen 1919 und 1920. 1931 wurden die Sonnette als zwölfter Band der Gesamt-Ausgabe StGs um „Drei Sonnette aus dem Liebenden Pilgrim“ angereichert. In Gundolfs Ausgabe der Werke Shakespeares wurden die Sonnette in StGs Übertragung 1922 in den sechsten Band aufgenommen und zwar in normaler Großund Kleinschreibung sowie Interpunktion. 2.10.2. Übersetzungsprinzipien und Formales Zu Beginn der 90er-Jahre war es die Intention von StGs Baudelaire-Übertragungen, ein „deutsches denkmal“ zu schaffen (XIII/XIV, [5]). Ein hoher Anspruch, der den Ausgangstext und die genaue Nachbildung desselben zurückdrängt und die Umdichtung als eigenständiges Werk begreift. Dass das Gesamtunternehmen zugleich einen Verehrungsbeweis für den in Deutschland weitgehend unbekannten Dichter und Geburtshelfer von StGs eigener neuer Dichtung darstellt, verschweigt er nicht. Festzuhalten bleibt, dass StGs Übersetzen immer wieder in Krisenzeiten dem Einüben neuer Formen, Stile und Töne dient, d. h. eine deutlich werkbezogene Funktion hat. Zugleich ist es in jenen Jahren auch Freundschaftsdienst und Vermittlertätigkeit. Die Intention ändert sich mit StGs erster großer Übertragung eines historischen Werks, Dantes Divina Commedia, mit der er im Jahr 1901 begann. Wird die „getreue nachbildung“ in der Baudelaire-Einleitung zwar genannt, aber als weniger wichtig bezeichnet, so scheint doch StGs späteres Übertragungswerk dieser Methode und nicht dem „sinnlosen blossen herübernehmen“ verdankt zu sein. Was aber verstand StG unter „getreue[r] nachbildung“? Lobte er Gundolfs Sonnett-Übertragungen als „im ton gut“, so nannte er damit ein Kriterium für Übertragungen fremdsprachiger Dichtung: Es galt den „ton“ zu treffen oder, wie er in der Einleitung zu den Dante-Übertragungen präzisiert: „fruchtbar zu machen […] ist das dichterische · ton bewegung gestalt“ (X/XI, [5]). Es ist kein der „gestalt“ abgezogener „gehalt“ (XII, [5]) in möglichst verständlicher, dem zeitgenössischen Idiom angepasster Sprache zu übermitteln; „gestalt“, das ist die Einheit von Form und Gehalt oder, wie Friedrich Gundolf 1910 in seiner Rezension von StGs Sonnett-Übertragungen schreibt: Shakespeares Sonette sind jetzt zum ersten Mal von einem Dichter verdeutscht, um ihres dichterischen Eigendaseins willen, nicht um ihren Begriffs- und Gefühlsinhalt näher zu brin20 M. Lechter an StG v. 13.5.1909, in: ebd., S. 297. 21 Die Formulierung stammt von StG und meint die Sonette „I–XVII“, vgl. die „Einleitung“ in SW XII, S. [5].

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gen. Stefan George läßt in deutscher Sprache ihren ,Seelenton‘ erklingen, der weder Inhalt noch Form, sondern die lebendige Einheit Beider ist.22

Will man StGs Übersetzungsmaximen präzisieren, so bietet sich ein Blick auf weitere Äußerungen von Freunden an. Nahe liegt es, die harsche Kritik Kurt Hildebrandts an den Übersetzungen von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff im Jahrbuch für die geistige Bewegung von 1910 zu überprüfen. Hildebrandt zitiert einen Ausspruch von Wilamowitz, um sich radikal davon abzusetzen: „Meine Übersetzung will mindestens so verständlich sein, wie den Athenern das Original war; wo möglich noch leichter verständlich.“23 Diese Programmatik bedeute, so Hildebrandt, „ausrottung des stiles.“ Solches Tun sei „frevelhaft gegen hellas und eine zu erhoffende bildung“, und es beinhalte „diese werke der bürgerlichen bequemlichkeit und dem proletarischen geschmack anzupassen, die höhe breit zu machen, das harte zu biegen, das rauhe zu glätten.“24 Berthold Vallentin25 wendet in Folge diese Übersetzungskritik, exemplarisch durchgeführt, gegen die Sonett-Übersetzungen des Berliner Anglisten und Professors Max Wolff aus dem Jahre 1903. An den Sonetten „II“ und „III“ demonstriert und benennt er: Allegorisierung, flache Poetisierung, ,Vernüchterung‘, bürgerliche ,Aufputzung‘, Schönrederei, Gefühlsabstraktion, Moralisierung, dozierende Verbegrifflichung, Konventionalisierung, tautologische Umschreibung, und er setzt StGs soeben erschienene Übertragung emphatisch in allen Punkten dagegen. Friedrich Gundolf aber, der lange Jahre mit StG in engster Zusammenarbeit Shakespeare übersetzte und Übersetzungen überarbeitete, StG als Übersetzer erlebte, formulierte aufs Genaueste StGs Übersetzungsimpulse, Methoden und Ziele in seiner eindringlichen Rezension von 1910. Seine Formulierungen machen deutlich, was „getreue nachbildung“ bedeuten kann und was sie fundieren muss. Er stellt dem „bloßen Wortkünstler“, dem „bloßen Sprachkenner“ den „Dichter“ entgegen: Der Dichter allein, der diese [rhythmische Bewegung] von innen als Werden mitlebt, nicht von außen in ihrem Ergebnis beschaut, kann Ton und Wesen von Versen nachbilden; und seine Nachbildung muß selbst philologisch getreuer sein als eine nur philologische; denn ihm sind die Worte nicht Einzelzeichen aus einem Mosaik: er sieht ein untheilbares Ganze, in einer Geburt entstanden und in Worte gegliedert […]. Drum ist ihm die genaue Kenntnis des gesammten Sprachmaterials unerläßlicher als dem Philologen, der von den Theilen ausgehen und sich mit Theilen begnügen darf.26

Gundolf hat StGs akribische Erforschung von Wortbedeutungen über Jahre hinweg erlebt und schildert sie in einem Brief an Wolfskehl: eine erhabene, unbarmherzige und hingegebene Sachlichkeit, ein Überschauen und nimmermüdes Ergründen aller Details […] eine enorme Akribie und ein verzehrender Fleiss, eine Allgegenwart der Realien, eine solch rührende Ehrfurcht vor jedem positiv Geleisteten, auch dem kleinsten Philologenstückchen […].27

22 Gundolf, Shakespeares Sonette, S. 65. 23 Kurt Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (Zum Ethos der Tragödie), in: Jb 1/1910, S. 64–117, hier: 66. 24 Ebd., S. 70; vgl. dazu III, 6.3. 25 Vgl. Vallentin, Übersetzungskunst. 26 Gundolf, Shakespeares Sonette, S. 66. 27 F. Gundolf an K. Wolfskehl v. August 1908, in: W/G II, S. 66f.

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Aber Gundolf wusste auch um die Voraussetzung, die unabdingbar war für jede „dichterische Umformung“: sie kommt aus der Kenntnis des Ganzen als einer Einheit und aus dem Erlebnis, ihre Treue ist nicht die straffere oder schlaffere Anlehnung an ein starr Gegebenes, sondern Nachlebung des in neuer Seele Bewegten. Der Dichter muß sein Urbild nochmals im Zustand des Werdens überraschen.28

StG habe, so konstatiert er, sich dem „rhythmischen Erlebnis“ noch einmal hingegeben, „nichts suchend als die centrale Seelenbewegung, kraft deren diese Verse geworden sind.“29 Was Gundolf verschweigt, StG selbst aber deutlich anklingen lässt, ist der Anspruch, dass der Umdichter eine Ahnung haben muss vom Gehalt der Sonette, von der „weltschaffenden kraft der übergeschlechtlichen Liebe“ (XII, [5]). Die „Verherrlichung männlicher Schönheit durch einen Mann“, das, was Gundolf als „Stoff“ der Sonette bezeichnet, ist StGs Erleben und seiner Dichtung nicht fremd, erst recht nicht dem Dichter der Maximin-Gedichte. Für ihn steht „im mittelpunkte der sonnettenfolge […] in allen lagen und stufen die leidenschaftliche hingabe des dichters an seinen freund“ (XII, [5]). StGs Interesse galt, das zeigen auch die Kernsätze der „Einleitung“, vorrangig den ersten 126 Sonetten. Die Sonette „CXXVII–CLII“, im weitesten Sinne der „dark lady“ und einem Verhältnis geschlechtlicher Abhängigkeit gewidmet, streift StG in seiner Einleitung nur, indem er dem Leser Fragen nach biographischen Bezügen, „wer der blonde jüngling und wer die schwarze dame der lezten abteilung“ sei (XII, [5]), untersagt. StG versucht, die Sonnette von jeglichem konkreten Lebensbezug abzulösen, will sie zu ewig wirksamer Poesie, zum für alle Zeiten und zu jeder Zeit gültigen Preis „übergeschlechtliche[r] Liebe“ machen. Die beiden thematisch ähnlichen Amor-Gedichte „CLIII–CLIV“ bilden den spielerischen, von StG durchaus geschätzten Abschluss des ganzen Zyklus. In den erst 1931 angefügten Übertragungen der „Drei Sonette aus dem Liebenden Pilgrim“ klingt deren Ton nach. StG zeigt die Sonette laut Gundolf „dabei auch in einer zugleich schreckenden und bezaubernden Fremdheit.“ Er kann dies tun, indem er nicht abschwächt, was bei Shakespeare drohend und finster steht, indem er krampfhafte Spannungen nicht mit gefälligen Faltenwürfen zudeckt, jähe, wilde Ausbrüche nicht in edel ausladende, innig schwellende Attitüden umdeutet, indem er sich den Glauben an Shakespeare als einen Vertreter unseres verblasen ,Guten, Wahren, Schönen‘ versagt.30

Im Folgenden seien verallgemeinernd und zusammenfassend StGs Übersetzungsprinzipien und Tendenzen dargestellt, wie sie die genaue Analyse der Übertragungen erschließen lässt. Leitendes Prinzip aus Notwendigkeit ist, bedingt durch die Unterschiede zwischen Ausgangs- und Zielsprache, die Verknappung. Da die englische Sprache extrem viele Einsilber aufweist, das Deutsche durch Vor- und Nachsilben und Flexion weitgehend mehrsilbig ist, StG aber Versbau, Metrum, Reimfolge etc. fast ausnahmslos nachbildet, sind verschiedene Kunstgriffe nötig. Shakespeares mittlere Silbenzahl pro Wort liegt bei 1,21, StGs bei 1,56, und es gelingt ihm, dies Mittel in den Übertragungen auf 1,27 zu reduzieren.31 Auch poetische Mittel wie Assonanzen, Al28 Gundolf, Shakespeares Sonette, S. 66. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 66. 31 Diese Zahlen verdanke ich Friedmar Apels Ausführungen zu StGs Sonett-Übertragungen: Apel, Sprachbewegung, S. 202.

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literationen, rhetorische Figuren werden möglichst erhalten. Wichtigstes Mittel zur Silbenreduktion im Vers ist die Reduktion von Wörtern auf Wortstämme („schmack“), die Bildung ungewöhnlicher Bindestrichkomposita, beides im eigenen Werk StGs stilbildend, seltener der Rückgriff auf Archaismen sowie die Bildung von Neologismen. Letztere entstehen u. a. durch genaue Nachbildung englischer Wörter, die bislang im Deutschen nicht existierten: „entvätern“ für „unfathered“; „selbstwillig“ für „selfwilled“; „nachverlust“ für „after-loss“. Grundsätzlich ist für StG die Entwicklung der deutschen Sprache nicht abgeschlossen; so gibt es auch Neubildungen wie „schaffnerei“. Den Rückgriff auf historisches Wortmaterial erlaubt sich StG eher selten. Shakespeares Zeit und Denken auf diese Weise näherzukommen, ist nicht Ziel seiner Übertragung, er übersetzt nicht historisierend, auch wenn z. B. in petrarkistischer Tradition vereinzelt Begriffe des Minnedienstes zu finden sind. Kolloquialismen kommen vor, wie sie auch Shakespeare nicht fremd sind. Ebenfalls der Verknappung geschuldet ist der häufige Ersatz von Plural- durch Singularformen, führt doch die Pluralbildung im Deutschen häufig zu einer zusätzlichen Silbe. Grundsätzlich scheint StG das einzelne Wort genauso bedeutend zu sein wie die syntaktischen Strukturen. Auch kommt bei ihm dem Vers größere Bedeutung zu als den Satzgebilden. Damit verstärkt er noch eine bei Shakespeare schon festzustellende Tendenz: Der einzelne Vers wird häufig als Einheit stark hervorgehoben. Innerhalb des zehn- oder elfsilbigen, jambisch geprägten Verses übernimmt StG, wenn möglich, die Zäsur, die dem häufig antithetischen Gehalt der Verse und des Wortmaterials entspricht. Umstellungen in der Versabfolge, ja selbst innerhalb der durch die Zäsur zweigeteilten Verse, sind selten. Die Versteile wiederum werden bei Autor und Übersetzer vor allem auf der Klangebene und durch das Metrum zusammengehalten. Der Endreim hat häufig zeilenabschließende Funktion, Enjambements sind bei Shakespeare selten, in StGs Übertragungen sind einige auffällig abweichende zu finden. Lange hypotaktische Sätze Shakespeares, die im Extremfall ein ganzes Sonett überspannen, werden von StG meistens in Einheiten zerlegt, die der Sonettstruktur folgen. Ergebnis ist eine dichtere grammatische Textur. Die Teilsätze hingegen versucht StG genau zu erhalten und möglichst in der englischen Wortfolge wiederzugeben. Nur zwei Sonett-Übertragungen weichen grammatikalisch völlig ab, dreizehn sind exakt nachgebaut und in allen anderen gelingt es, die syntaktischen Charakteristika des Ausgangstextes im Deutschen zu erhalten. Die tendenzielle Mehrsilbigkeit der deutschen Wörter zwingt StG, Konjunktionen auszulassen, kausale und temporale Verknüpfungen z. B. durch Doppelpunkte zu ersetzen. Davon abgesehen folgt er der englischen Syntax, der Wortstellung des Ausgangstextes so genau wie möglich, übersetzt vorzugsweise Wort für Wort, vor allem in den je ersten Versen und im abschließenden Verspaar. Dem Eingangsvers und dem gnomischen Schluss gilt insgesamt StGs Hauptaugenmerk. Seine Eingangsverse sind oft genauso einprägsam wie diejenigen Shakespeares. StGs Wörtlichkeit verdunkelt manchmal den argumentativ-diskursiven Charakter von Sonetten, den Übersetzer wie Karl Kraus in ihren Nachbildungen bevorzugt zu erhalten versuchten. Auch die Endreime betreffend, bemüht sich StG um größte Treue und Ähnlichkeit. Notgedrungen verwendet er viel mehr weibliche Reime als Shakespeare. Im Englischen sind weibliche, zweisilbige Reime eher die Ausnahme, werden sogar als Effekt wahrgenommen. Im Deutschen ist dies aufgrund der Flexionsendungen und Pluralendungen nicht der Fall. Zu gleicher Zeit bemüht sich StG, dieselben Wörter oder wenigstens dieselben Laute in Reimstellung zu halten wie das Original. Dies

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trifft zusammen mit seiner Bemühung, die Wortstellung Vers für Vers abzubilden. Wiederum gilt seine Aufmerksamkeit ganz besonders der Wortstellung und Reimerhaltung im Couplet. Abweichungen von der Reimfolge im Sonett erlaubt sich StG fast nie. StG verwendet weibliche Reime in 85 Sonetten, und nur in 21 Sonetten entsprechen sie denen Shakespeares. Insgesamt sind in seinen Übertragungen 14,2 % der Reime weiblich. Unreine Reime Shakespeares werden von StG nicht nachgebildet, da er sie zu Recht nicht als Stilmittel ansieht. Dem Ethos der „getreuen nachbildung“ gehorchend, überträgt StG auch Shakespeares Bildlichkeit so genau wie möglich. Zustatten kommt ihm dabei die Einfachheit der meisten Vergleiche, die häufig der Natur oder dem einfachen Leben entnommen sind. Shakespeare lehnte kunstvoll ausgesponnene, manieristische Bilder und Vergleiche, wie sie die neueren Dichter seiner Zeit benutzten, programmatisch ab; und auch dies kommt dem StG der Jahre 1907 bis 1909 entgegen. Allein die deutliche sexuelle Symbolik und Metaphorik Shakespeares erscheint in den Übertragungen gedämpft. Nicht immer ist zu entscheiden, wie weit es Intention war und wie weit die häufig in Wortspielen, der Doppeldeutigkeit einschlägiger Wörter sich manifestierende sexuelle Dimension der Texte einfach nicht in deutscher Sprache wiederzugeben war ohne große Verluste auf anderen Textebenen. Doch gibt es eine deutlich wahrzunehmende Abweichung, für jeden feststellbar, der mit StGs eigener Dichtung nach 1900 vertraut ist. Es finden sich Spuren eines spezifischen Vokabulars, das auch den George-Kreis fundiert: „heil“ für „remedy“ („LXII“, Vers 3), „fug“ für „reason“ („CXV“, Vers 3), „freundschaft“ und „bund“ für „aquaintance“ („LXXXIX“, Verse 8 u. 12), „weihe“ für „dignifies“ („LXXXIV“, Vers 8). Am auffälligsten findet Anpassung an den engsten Adressatenkreis StGs in Sonett „CLI“ statt, wenn er dort den „staat“ im Sinne seines Kreises einführt: „im staate / Prange die liebe“ für „that he (body) may / Triumph in love“. Eine seltene Anpassung an die eigene Lebenswelt fällt in Sonett „LXXXV“ auf, wenn aus dem „unlettered clerc“ der „messner aus dem volk“ (Vers 6) wird. Zusammenfassend ist festzustellen, dass jede Annäherung der Zielsprache an die Ausgangssprache, auch diejenige StGs, eine gewisse Ungeläufigkeit der Übertragung mit sich bringen kann. Diese aber regt auch zur bewussten Auseinandersetzung, zu nicht vereinnahmendem Lesen an. Distanz wird nicht weggemogelt, Fremdheit ist bei StG intendiert. 2.10.3.

Rezeption und Deutung

2.10.3.1. Werkkontext Es leuchtet ein, dass StG die Anregung Georg Bondis im Februar 1907 aufgriff, um mit seinem jungen, leicht ins Trudeln und Treiben geratenen Freund Gundolf eine gemeinsame Aufgabe zu übernehmen. Gemeinsame Arbeit spielte von Anfang an und ständig zunehmend eine große Rolle in den Freundschaftsbeziehungen StGs sowie in den Beziehungen der Freunde untereinander. Und doch sind andere Gründe aus dem Lebens- und Werkkontext zu erschließen. Das Jahr 1906 war allen erhaltenen Zeugnissen zufolge ein Jahr des Endens und des Übergangs. StG arbeitete an der Zusammenstellung des Gedenkbandes für Maximilian Kronberger und an dem ausgeklü-

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gelten Aufbau des Siebenten Rings; die Drucklegung beider Bände in den Jahren 1906 und 1907 fesselte einen Großteil seiner Energien. Nur wenige Gedichte entstanden, wahrscheinlich nach den letzten Maximin-Gedichten fast ausschließlich Tafeln des Siebenten Rings. Ein neuer Werkimpuls war noch nicht gegeben, die ersten ,neuen‘ Gedichte schrieb er, soviel wir heute wissen, Winter 1907 und 1908. Es waren erste Gedichte des Sterns des Bundes (1914), aber auch ein großes Gedicht wie „Goethes lezte Nacht in Italien“, das 1928 am Beginn des Neuen Reichs stehen wird (IX, 7–10). Erinnert StGs Maximin-Dichtung an Dantes Verherrlichung Beatrices in der Vita Nuova, der kleine Zyklus Auf das Leben und den Tod Maximins an Petrarcas zweiteiligen Canzoniere In vita und In morte di Madonna Laura und verdankt ihnen viel, so ist für den Stern des Bundes die Nähe zu Shakespeares Sonetten, zu den ersten 126 an den Freund gerichteten, nicht zu übersehen. Damit ist aber nicht nur die Nähe des Erlebens, nicht nur der Preis der übergeschlechtlichen Liebe gemeint, sondern die spezifische Gestalt, die sie in Shakespeares Sonetten findet: „diese vierzehnzeiler“, die „obwohl oberste dichtung · durchaus ,unromantisch‘ sind“ (XII, [5]). StG sucht und findet in ihnen einen neuen Gedichttypus, den er sich mittels der Übertragung aneignet. Wieder ist es Friedrich Gundolf, der in seiner Rezension der Übertragungen StGs diesen Gedichttypus gültig bestimmt: Sie sind keine Gelegenheitsgedichte. Vielmehr wird jeder ihrer Anlässe und Gegenstände gleichgiltig vor der unbedingten und, im Tiefsten, gegenstandslosen Erschütterung, in deren Bannkreis er zufällig geräth. Und diese Leidenschaft tritt (noch befremdender für uns) nicht als Gefühl, sondern als Verstand auf, zeigt in nackter Helle, was in dieser Helle zu schauen wir zagen.32

Damit ist der Abstand der ersten Gedichte aus dem Stern des Bundes von den Maximin-Gedichten im Siebenten Ring bezeichnet: StG ist durch die Shakespeare-Sonette ,hindurchgegangen‘. Seine Gedichte im Stern des Bundes sind so „unromantisch“ wie Shakespeares Sonette, trotz oder wegen ihres Gegenstands. Da nimmt es nicht mehr wunder, dass die Gedichte des Eingangs33 jeweils 14 Verse aufweisen, d. h. „vierzehnzeiler“ sind, allerdings reimlose. Einige von ihnen sind vor Januar 1910 geschrieben worden. Auch für die dreimal dreißig Gedichte des Hauptteils des Bandes ist die Sonnett-Übertragung von großer Bedeutung und zwar für „Gehalt, Impuls und Gestalt“ (VIII, 121). Die ersten Gedichte des Sterns des Bundes dürften, nach dem Zeugnis von Ernst Morwitz, Ende 1907 und 1908, d. h. parallel zu den ShakespeareÜbertragungen entstanden sein. Grundsätzliche Übereinstimmung herrscht aber auch zwischen StGs und Shakespeares Poetik, wie sie die Sonnette formulieren: Ganz in der Tradition von Ovids Epilog der Metamorphosen und Horaz’ dreißigster „Ode“ im dritten Buch preisen die Sonnette nicht nur den Freund, sondern die Dichtung preist sich selbst, ihre verewigende Kraft, ihre Unsterblichkeit. StGs Dichtung machte den Dichterjüngling Maximilian als ,Maximin‘ unsterblich, Shakespeare den Freund „W. H.“. Als 1928 Der Stern des Bundes als Band VIII der Gesamt-Ausgabe von StGs Werken erschien, stand in der „Vorrede“ zu lesen: „der Stern des Bundes war zuerst gedacht für die freunde des engern bezirks und nur die erwägung dass ein verborgen32 Gundolf, Shakespeares Sonette, S. 68. 33 Vgl. SW VIII, S. 8–16.

2. Stefan George: Werk – Shakespeare. Umdichtung

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halten von einmal ausgesprochenem heut kaum mehr möglich ist hat die öffentlichkeit vorgezogen als den sichersten schutz.“ Im Fortgang ist von den „weiteren schichten“ die Rede und vom vorliegenden Gedichtband als „geheimbuch“ (VIII, [5]). Diese Sätze zeigen und verbergen zugleich eine Nähe zu Shakespeares Sonettenzyklus, die Stephen Greenblatts große Shakespeare-Studie erkennen lässt. Er betont die doppelte Ausrichtung der Sonette Shakespeares, indem er sie zugleich als „private“ und „social“ bezeichnet.34 Darauf weist auch die bis heute nicht enträtselte Widmung hin. Charakteristisch ist für die Sonnets, dass sie einerseits in Gestalt einer ganz persönlichen, ja intimen Anrede erscheinen, zugleich aber in einer kleinen Gruppe zirkulieren, deren Werte und Wünsche sie artikulieren, reflektieren und verstärken. Schließlich können sie auch eine größere Leserschaft erreichen. Eine kleine Zahl von Lesern nur würde die tatsächlichen Akteure und Situationen kennen, auf welche diese komplexen Gedichte listig anspielen. Außerhalb des eigenen Kreises müssen sich die Leser mit der Bewunderung für des Dichters Kunst begnügen und damit, in der Dunkelheit biographischer Spekulation herumzuirren. Letzteres verwehrte StG sich und dem Leser im Falle Shakespeares und Dantes: „Nach der einen wirklichen Beatrice und dem einen wirklichen W. H. zu suchen ist eine spielerei der ausleger.“35 Er prangerte es als Irrtum der „mehr niedrigen [gehirne]“ an. Von ihnen setzte er jene „mehr stumpfen gehirne“ ab, die „durchgängig […] in auftrag gearbeitete stilübungen“ in Shakespeares Sonetten sehen. Sie alle verhören den „seelen-ton“ dieser Weltdichtung und missachten deren „gehalt: die anbetung vor der schönheit und den glühenden verewigungsdrang“ (XII, [5]). StGs eigene Dichtung der Jahre nach 1907 war sowohl für die „freunde des engern bezirks“ gedacht als auch – in anderer Weise – für die „weiteren schichten“, war „geheimbuch“ (VIII, [5]) und öffentlich wirksame Dichtung. In dieser Spannung stand StGs Werk bis zu den spätesten Gedichten im Neuen Reich, steht es in der Rezeption bis heute. 2.10.3.2. Zeitgenössische Rezeption Reaktionen auf die Sonnett-Übertragung StGs aus dem Freundeskreis sind bis heute kaum bekannt. Hanna Wolfskehl berichtete StG eine Woche nach Erscheinen, dass sie jede stille Stunde mit seinen Übertragungen verbringe.36 Die offiziellen Rühmungen von Friedrich Gundolf und Berthold Vallentin wurden schon ausführlich zitiert. Allein zwischen Friedrich Gundolf und Albert Verwey entspann sich ein Briefgespräch, das auch Reaktion auf die Veröffentlichung der fünfzehn Sonette in der Blätter-Auslese ist. Das Briefgespräch beginnt mit Gundolfs erfreuter Reaktion auf eine Rezension des ersten Bandes Shakespeare in deutscher Sprache durch den niederländischen Freund. Sein Brief enthält einen deutlichen Hinweis auf StGs Teilhabe an der „Neuübertragung“ von „Coriolan und Anton“ sowie kritische Bemerkungen über „Schlegeloiden“.37 Verwey geht in seiner Antwort verallgemeinernd auf StGs Sonnett-Über34 Stephen Greenblatt, Will in the World. How Shakespeare Became Shakespeare, New York, London 2004, S. 235. 35 Stefan George, Kunst und menschliches Urbild, in: SW XVII, S. 70. 36 Vgl. H. Wolfskehl an StG v. Nov. 1909, StGA. 37 F. Gundolf an A. Verwey v. 14.5.1909, in: Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap, hrsg. v. Mea Nijland-Verwey, Amsterdam 1965, S. 155f.

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tragungen ein, die er sehr bewundre und von denen er einige „uitmuntend“ („ausgezeichnet“) finde. Er fährt fort: „George heeft […] een zoodanig streven naar vereenvoudiging van lijn, zulk een saambinding van uiterlijk tot innerlijk, dat de naarbuiten werkende spankracht van Shakespeare dikwijls het tegendeel daarvan lijkt“.38 Gundolf reagiert gereizt auf diese Sätze, die er als „Vorwurf“ bezeichnet, wenn er zusammenfasst, „dass zuweilen das gegenteil von dem dastünde was Shakespeare gemeint.“ Er bittet im selben Tonfall, Verwey möge „Beispiele“ dafür geben und „Hinweise: um zu sehen ob sie überhaupt in einer deutschen Übertragung zu berücksichtigen sind.“ Dann fährt er, belehrend, fort, dass in der „erste[n] deutsche[n] Sonnett-Übertragung von einem Dichter […] der Vorwurf der ,Vereinfachung‘ […] unter Umständen ein Lob [wäre], da die Notwendigkeit ist: ein mögliches deutsches Gedicht an Stelle des Englischen.“39 Verwey hat den Ton vernommen und weist Gundolf entschieden zurück. Eine so „grijpbare grofheid“ („greifbare Grobheit“) wie Gundolf sie ihm gegenüber StG anlaste, hätte er nie schreiben können. Er beklagt, dass das Verständnis seiner Formulierungen selbst von einem „zoo goeden verstander als gij zijt“ („jemandem, der so gut versteht wie Sie“) zu wünschen übrig lässt, und er rekapituliert: „dan stelde ik S[hakespeare]’s karakter als een naar buiten werkende spankracht tegenover aan dat van George: een streven naar verinnerlijking en vereenvoudiging“.40 Gundolfs Reaktion zeigt, wie groß die Empfindlichkeit war und wie gering die Sicherheit, was die Reaktionen auf die Shakespeare-Übersetzungen betraf. Positive öffentliche Reaktionen auf StGs Übertragungen kamen aus dem näheren Umfeld noch von Marie Luise Gothein im Jahrbuch der Deutschen ShakespeareGesellschaft 1910 und von Albert H. Rausch in der Frankfurter Zeitung vom 12.2.1912. Beide stellen einen Vergleich an zwischen den im Insel-Verlag erschienenen Übersetzungen von Eduard Saenger und den Umdichtungen StGs, der ganz zugunsten StGs ausfällt. Rausch erkennt Saengers Übersetzungen „beträchtlichen Wert“ zu, bezeichnet sie sogar als „schön“, nur um auf diesem Hintergrund StG abzuheben und allein zu stellen: „Das Allerwichtigste fehlt ihr: Shakespeare! Mit anderen Worten: das Grunderlebnis […] sie ist nicht im eigentlichsten Sinn des Wortes Schöpfung“ (Herv. i. Orig.).41 StGs Teilhabe am „Grunderlebnis“ aber ist Voraussetzung für die adäquate Übertragung: für das „quälend Drängende, sich Mühende, Verzagende, wieder neu Anhebende, das leidenschaftlich Flammende, Männlich-Harte, oft Dunkle, Verhüllte, dann wieder blendend Aufblitzende der ursprünglichen Diktion des Shakespearschen Erlebnisses.“42 Aber es erhoben sich auch Gegenstimmen. So stand in der Zeitschrift Das literarische Echo, verfasst von Max Meyerfeld, nur ironisch Abwertendes zu lesen. Meyerfeld fasst zusammen, dass bislang die Rezensenten StGs Übertragungen als „Nationalereignis“ feiern, um dann in heftiger Polemik fortzufahren:

38 „George hat ein solches Streben nach Vereinfachung der Linien, solch eine Verbindung von Äußerlichem und Innerlichem, dass die nach außen wirkende Spannkraft von Shakespeare des Öfteren entgegengesetzt scheint“; A. Verwey an F. Gundolf v. 4.6.1909, in: ebd., S. 156f. 39 F. Gundolf an A. Verwey v. 18.9.1909, in: ebd., S. 157f. 40 „dann stellte ich S[hakespeares] Natur als eine nach außen wirkende Spannkraft derjenigen Georges gegenüber: einem Streben nach Verinnerlichung und Vereinfachung“; A. Verwey an F. Gundolf v. 21.9.1909, in: ebd., S. 158. 41 Albert H. Rausch, Shakespeares Sonette, in: Frankfurter Zeitung v. 11.2.1912. 42 Ebd.

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Die Mitglieder der Tafelrunde zu gegenseitiger Beweihräucherung wollen uns glauben machen, es hätte keine günstigere Verbindung stattfinden können als zwischen dem göttlichen William und Stefanus Optimus Maximus. In Wahrheit läßt sich kaum eine ungleichere Ehe denken.43

Preisend und kritisch zugleich fiel die Würdigung Gustav Landauers aus. Er stellte 1920 fest: [StG] hat den Geist und die Musik, hat das Formprinzip dieser Kunstwerke nicht nur erfaßt, sondern in sich; überdies ringt er ergreifend und fast tragisch um Treue […] um der treuen Nachbildung der Form willen vergewaltigt er die Möglichkeiten der deutschen Sprache oft unerträglich.44

Dieser Vorwurf der Gewaltsamkeit findet dann seine bekannteste Formulierung 1932 in der Fackel. Karl Kraus bezeichnet StG als „Verwörtlicher“ und fasst nach heftiger grundsätzlicher Kritik sowohl an der „philologischen Verdeutschung“ der Sonnette als auch an den „Nachdichtern“ zusammen: Einen Sonderfall aus doppeltem Antrieb bildet das Experiment Stefan Georges: durch eine Vergewaltigung zweier Sprachen, der des Originals und derjenigen, die die Übersetzung erraten lässt, eine Einheit des dichterischen wie des philologischen Mißlingens zu erzielen.45

Doch hat sich bis heute weder das Urteil von Karl Kraus durchgesetzt noch hat dessen eigene Übersetzung der Sonette, die 1933 erschien, StGs Übertragung verdrängen können. Viele weitere Versuche sind bis zum heutigen Tage unternommen worden, metrisch, gereimt und in Prosa, ohne dass letztlich StGs Übertragung an Bedeutung verloren hätte. 2.10.3.3. Forschung StGs Übertragungen der Sonette stehen bis heute nicht im Zentrum der George-Forschung. Ein Grund dafür ist sicher ganz allgemein der fragliche Werkstatus der Übersetzungen von Dichtern. Zwar weist StGs eigene Terminologie Schwankungen auf – oder sollte man von Differenzierungen sprechen? –, bezeichnet er doch seine Baudelaire- und Shakespeare-Übersetzungen als „Umdichtungen“, jene Dantes und der meisten Zeitgenössischen Dichter als „Übertragungen“, die der Niederländer gar als „umschreibungen ins hochdeutsche“. Aber die eigene Einschätzung der Bedeutung seiner Übersetzungen innerhalb des Gesamtwerkes belegt die Gesamt-Ausgabe der Werke, in welcher die Übersetzungsbände gleichberechtigt in der Werkmitte stehen. Eine weitere Ursache für die wissenschaftliche Zurückhaltung dürfte sein, dass die Beschäftigung mit literarischen Übersetzungen lange Zeit nur ein Randphänomen der Literaturwissenschaften darstellte. 43 Max Meyerfeld, Shakespeare-Nachdichtungen, in: Das literarische Echo 12/1909/10, Sp. 1657–1666, hier: 1663. 44 Gustav Landauer, Shakespeare, dargestellt in Vorträgen, Bd. 2, Frankfurt/M. 1920, S. 318–370, hier: 334. 45 Karl Kraus, Sakrileg an George oder Sühne an Shakespeare?, in: Die Fackel 34/1932, 885/887, S. 45–64, hier: 47, 49.

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I. Stefan George und sein Kreis

Am Beginn stehen zwei breiter angelegte Dissertationen, ein Versuch einer literarischen Typologie der deutschen Sonett-Übersetzungen (1935)46 und eine erstaunlich umfassende Studie zu StGs Beziehungen zur englischen Dichtung, die Arbeit eines Australiers in deutscher Sprache.47 Ziel dieser stilkritischen Untersuchung ist es, „die sprachlichen und stilistischen Beziehungen zwischen George und den Präraphaeliten“ festzulegen.48 Den Sonnett-Übertragungen sind nur knapp 20 Seiten gewidmet, die sich als Ergänzung und Kritik der Ausführungen Kahns verstehen. Sie gehören bis heute zum Besten, was in knapper Form zu den Shakespeare-Übertragungen StGs geschrieben wurde. Seinen Detailuntersuchungen stellt Farrell eine maßgebliche These voraus: „Er [StG] ist sich bewußt, daß man den Geist nicht bewahren kann, wenn man auf die Form verzichtet. Aus dieser Erkenntnis erwachsen Georges Genauigkeitsbestrebungen, die einen großen, wenn auch nicht schlechthin zu bejahenden Erfolg gezeitigt haben.“49 Ende der 60er-Jahre, StG und seine Gedichte waren gerade Gegenstand der Ideologiekritik geworden, der Dichter als Präfaschist verpönt, erschien Olga Marx’ zweiteiliger Kommentar zu Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung, dessen zweiter Band 1970 den Shakespeare-Sonnetten gewidmet war.50 Die Verfasserin hatte 1943 bei Pantheon Books in New York unter dem Pseudonym Carol North Valhope zusammen mit Ernst Morwitz einen Band mit Übersetzungen von Gedichten StGs ins Englische herausgebracht. Ungefähr gleichzeitig setzte eine vergleichende Philologie der Shakespeare-Übertragungen wieder ein, die bis heute fortdauert. 1970 erschien Raimund Borgmeiers sehr gründliche Bochumer Dissertation Shakespeares Sonett ,When forty winters …‘ und die deutschen Übersetzer, die die Übersetzungen Eschenburgs, Bodenstedts, Gildemeisters, StGs und Saengers behandelt und Strophe für Strophe mit Paul Celans Umdichtungen endet.51 Eines von Borgmeiers in detaillierten Analysen fundierten Urteilen sei stellvertretend zitiert: George zeigt sich also im couplet wieder als Übersetzer, der zwar ohne Rücksicht auf die ,verwöhnten‘ Erwartungen sentimentaler Leser entschlossen dem Original folgt, der sich aber auch im Interesse des Originals nicht scheut, ändernde Eingriffe mit Überlegung durchzuführen, und dabei fast immer die übrigen Versionen übertreffen kann.52

Es folgen in den Jahren danach Aufsätze zu StG und Kraus, StG und Celan53 sowie Übersetzungsvergleiche zu einem einzelnen Sonett.54 Leider einer breiteren Rezeption 46 Vgl. Ludwig W. Kahn, Shakespeares Sonette in Deutschland. Versuch einer literarischen Typologie, Bern 1935. Die Dissertation umfasst für die damalige Zeit ungewöhnliche 239 Seiten. 47 Vgl. Farrell, Georges Beziehungen. 48 Ebd., S. 8. 49 Ebd., S. 205. 50 Marx, Shakespeare-Sonette. 51 Borgmeier, Shakespeares Sonett ,When forty winters …‘. 52 Ebd., S. 203. 53 Vgl. Lengeler, Shakespeares Sonette; Kranner, Kraus contra George; Ludwig Lehnen, George und Celan als Übersetzer Shakespeares, in: Celan-Jahrbuch 9/2003/2005, S. 273–300. 54 Vgl. Horst Albert Glaser, Shakespeares Sonett 129 und seine deutschen Übersetzer, in: Poetica 22/1990, 1/2, S. 195–212; Rudolf Stamm, „A cup of alteration“. Shakespeares Sonett 66, deutsch von Stefan George, Karl Kraus und Hanno Helbling, in: Ders., Spiegelungen, Tübingen 1991, S. 48–65; Ulrich Erckenbrecht, Shakespeare Sechsundsechzig. Variationen über ein Sonett, Göttingen 1996.

2. Stefan George: Werk – Shakespeare. Umdichtung

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entzogen ist die Dissertation von Audrey G. Barlow von 1961, da sie nur in wenigen maschinenschriftlichen Exemplaren überliefert ist.55 Einer ihrer Vorzüge ist, dass die Verfasserin Muttersprachlerin ist. Beste Voraussetzungen bringt auch Ulrich K. Goldsmith mit, der mit StGs Werk sehr vertraut ist und Ausgangs- wie Zielsprache perfekt beherrscht.56 Vergleichend nähert sich auch Friedmar Apel StGs Übersetzungen im Kapitel „Die Sehnsucht nach Sprachergänzung“ seiner bis heute grundlegenden Arbeit Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens. Wieder ist auf kaum 20 Seiten unter der sprechenden Überschrift „Die eigene Sprache als fremde: Übersetzung und Dichtung bei George und Kraus“ alles Wichtige zu StGs Poetologie des Übersetzens gesagt. Am Beispiel von Shakespeares 113. Sonett vergleicht Apel anschließend die Übersetzungspraxis von StG und Kraus. Apel fasst zusammen: „Eben die Aufhebung der Grenzen des Eigenen gegen das Fremde ist die Intention Georges“57 und er schließt: George dagegen legt in seiner Übertragung den Schwerpunkt auf das Sinnliche, versucht […], die Willkürlichkeit der Zeichen aufzuheben und die Beziehung zwischen Original und Übersetzung als eine zu ergänzende faßbar zu machen. Weniger läßt er den Leser teilhaben an seinem Sinnverständnis Shakespeares, vielmehr an der sprachlichen Bewegung, die von Shakespeares gestalteter Sprache als einem ,Mittel künstlerischer Erregung‘ ausgeht.58

Von eigener Übersetzungspraxis ausgehend, legte Kathrin Volkmann 1996 eine übersetzungswissenschaftliche Untersuchung zu den deutschen Sonett-Übersetzungen einschließlich ihrer eigenen vor, in welcher StGs Übertragungen nur eine Nebenrolle spielen.59 Dies trifft erst recht auf Jan-Mirko Maczewskis Computergestützte Übersetzungsforschung am Beispiel von Shakespeares Sonetten im Deutschen zu.60 2008 erschien schließlich die kritische Ausgabe von StGs Shakespeare-Übertragungen: Shakespeare Sonnette. Umdichtung. Vermehrt um einige Stücke aus dem Liebenden Pilgrim in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Literatur Apel, Friedmar, Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982, S. 192–209. Barlow, Audrey G., A Critical Study of Stefan George’s Translations from English, Considered in the Light of his own Poetic Style, Diss., Univ. of Manchester 1961. Borgmeier, Raimund, Shakespeares Sonett ,When forty winters …‘ und die deutschen Übersetzer. Untersuchungen zu den Problemen der Shakespeare-Übertragung, München 1970. Farrell, Ralph, Stefan Georges Beziehungen zur englischen Dichtung, Berlin 1937. Goldsmith, Ulrich K., Shakespeare and Stefan George. The Sonnets, in: Ders., Studies in Comparison, New York 1989, S. 31–54. 55 Barlow, A Critical Study. 56 Goldsmith, Shakespeare and Stefan George. 57 Apel, Sprachbewegung, S. 206. 58 Ebd., S. 209. 59 Kathrin Volkmann, Shakespeares Sonette auf deutsch: Übersetzungsprozesse zwischen Philologie und dichterischer Kreativität, Diss., Heidelberg 1996. 60 Jan-Mirko Maczewski, „Every Bit Doth Almost Tell My Name“. Computergestützte Übersetzungsforschung am Beispiel von Shakespeares Sonetten im Deutschen, Frankfurt/M. 2002.

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I. Stefan George und sein Kreis

Gundolf, Friedrich, Shakespeares Sonette, in: Die Zukunft 18/1910, 41, S. 65–68. Kranner, Georg, Kraus contra George. Kommentare zu den Übertragungen der Sonette Shakespeares, Wien 1994. Lengeler, Rainer, Shakespeares Sonette in deutscher Übersetzung. Stefan George und Paul Celan, Opladen 1989. Marx, Olga, Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung. Bd. 2: ShakespeareSonette, Amsterdam 1970 (CP 92). Vallentin, Berthold, Übersetzungskunst der Gegenwart, in: Die Grenzboten 69/1910, 12, S. 552–555. Ute Oelmann

2.11. Baudelaire · Die Blumen des Bösen. Umdichtungen (SW XIII/XIV) 2.11.1. Entstehung und Überlieferung Als Grenzgänger zwischen den Sprachen und Erbe des Französischen muss der angehende Dichter sich schon im Bewusstsein seiner Herkunft und Abstammung gefühlt haben, auch wenn die langlebige Legende seiner „Zweisprachlichkeit“ noch von ihm selbst korrigiert wurde.1 Die Paris-Reise von 1889 hat dem Studenten der Philologie dann die Gelegenheit gegeben, seine Kenntnisse der französischen Literatur zu vertiefen. Der Dichter Albert Saint-Paul, dessen Bekanntschaft ihm sein ehemaliger Französischlehrer und Reisebegleiter Gustav Lenz vermittelt hatte, las ihm jeden Morgen „einige Stunden aus den Werken des französischen Schrifttums“ vor, vermittelte die Einladung zu Ste´phane Mallarme´s Dienstagabenden und lieh ihm Charles Baudelaires 1857 erstmals veröffentlichten Gedichtband Les fleurs du mal.2 Erst unter dem Eindruck der Begegnung mit Mallarme´ hat StG seinen französischen Vornamen E´tienne ins Deutsche übersetzt und damit dem des bewunderten ,Meisters‘ angenähert; das Lob der Pariser Symbolisten für seine ersten Gedichte, in denen Saint-Paul „die Sichtweise eines der Unseren“ erkennen wollte, hat er allerdings mit Verweis auf Novalis und die deutsche Romantik als die „urquellen“ der neuen Dichtung korrigiert und „das grundverschiedene seines verfahrens von den Franzosen (insonderheit Baudelaire’s)“ betont.3 Tatsächlich haben die skandalträchtigen Verse Baudelaires mit ihrer Affinität zum Hässlichen und Ekelhaften, ihrer Koketterie mit blasphemischem und satanistischem Vokabular und den sorgfältig ausgemalten Spielarten verfemter Sexualität auf den ersten Blick mit StGs früher Dichtung nichts gemein. Seine Abneigung gegen die „abschreckenden und widrigen bilder die den Meister eine zeit lang verlockten“ (XIII/XIV, Vorrede) mag auch die Auswahl der Gedichte für seine beiden publizierten Teilübersetzungen bestimmt haben, deren Anfänge offenbar bis in die Zeit des ersten Paris-Aufenthalts zurückreichen.4 Eine erste Teilübersetzung von 40 1 Vgl. Karlauf 2007, S. 31; G/W, S. 309, Anm. 473. 2 Karlauf 2007, S. 79. 3 Carl August Klein, Über Stefan George, eine neue kunst, in: BfdK 1/1892, 2, S. 45–50, hier: 47. 4 Im StGA wird ein Pergament-Umschlag aufbewahrt, „auf den George […] wie ein Titelblatt geschrieben hatte: umdichtungen / Aus Charles Baudelaire’s Fleurs du Mal / Berlin / 1890“; die

2. Stefan George: Werk – Baudelaire. Umdichtungen

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Gedichten war bereits im Dezember 1891 fertiggestellt; sie wurde in der handschriftlichen Fassung Carl August Kleins in 25 zinkographisch vervielfältigten Exemplaren „freunden und verehrern überreicht“ (GA, 198) und ist mit einer neuen Vorrede im Anhang des Baudelaire-Bandes der Gesamtausgabe (1930) als Faksimile wiedergegeben. Die knappe unbetitelte Vorrede spricht von einer „vor-ausgabe der Blumen des Bösen deren meiste gedichte später eine andere fassung erhielten“ und nennt auch die bis dahin erfolgten Einzelveröffentlichungen von „Segen“, „Don Juan in der Hölle“, „Das Haar“, „Die kranke Muse“ und „Eine Erscheinung“ im ersten Heft der zweiten Folge der BfdK, „deren zwei erste teile auch das Tombeau de Ch. Baudelaire Paris 1896 gebracht hat.“5 Weitere zwölf Gedichte wurden in der Folge an unterschiedlichen Orten veröffentlicht; schon StGs sich auf den Vorabdruck in den BfdK beziehende Seitenangaben in der Vorrede zeigen, dass es sich bei dieser Gruppe nicht um geschlossene Zyklen oder Abteilungen, sondern um nahezu willkürlich ausgewählte Einzelbeispiele handelte.6 StG hat von den 151 durchgezählten, je nach Ausgabe bis zu 167 Versgedichten der Fleurs du mal insgesamt 117 Gedichte übersetzt, davon 109, die wie bei Baudelaire im Titel in römischen Zahlen nummeriert sind. In geschlossener Reihe sind dies die Nummern I–XXVI, wobei StGs Zählung der erweiterten Ausgabe von 1868 folgt (XIII/XIV, 164). In verschiedenen Handschriften sind zudem unterschiedliche Gruppen von Gedichten erhalten, die früheste stammt wohl aus den Jahren 1890/91 und enthält sechs Gedichte. Auf einem weiteren Doppelblatt aus dem Frühjahr 1891 findet sich neben eigenen Gedichten auch eine Übersetzung von „Le Balcon“. Ein rot eingeschlagenes Heft diente offenbar der fortwährenden Erweiterung der Übertragungen. Für diesen Befund spricht, „daß das Heft ursprünglich nur sieben Bogen umfaßte, in die George 1892 und 1893 fortlaufend die neuen Übersetzungen eintrug, und daß er die andern sieben Bogen erst allmählich nach Bedarf hinein- und herumlegte“ (XIII/XIV, 166). Zwei beigegebene Verzeichnisse ermöglichen zudem Rückschlüsse auf den Inhalt von sechs Bogen, die je zur Hälfte ausgeschnitten wurden. Auf den Seiten des ursprünglichen Hefts und den hinzugelegten bzw. gewickelten Bogen finden sich jeweils Gruppen von 2 bis 14 Gedichten; da der rote Umschlag mit dem Titel Charles Baudelaire Blumen des Bösen versehen wurde, liegt die Vermutung nahe, dass StG aus diesem Konvolut und der ersten KleinAbschrift ein neues Buch zusammenstellen wollte. Von den 29 Übersetzungen, die zur 1901 erschienenen Buchausgabe hinzukamen, sind keine Handschriften überliefert, früheste erhaltene Handschrift von 1890/91 enthält auch eine Übertragung von sechs BaudelaireGedichten, nummeriert nach der Ausgabe von 1868: „IV Einklänge“, „VII Die kranke Muse“, „XXIII Fremdländisches Parfüm“, „XXIV Das Haar“, „XLIII Was erzählst du heut“, „CLI Die Reise“ (vgl. SW XIII/XIV, S. 164). In einer Handschrift aus dem Frühjahr 1891 findet sich zudem zwischen eigenen Versgedichten und Prosastücken eine weitere Baudelaire-Umdichtung: „XXXVII Der Balkon“ (vgl. SW XIII/XIV, S. 165). Vgl. hierzu und zum Folgenden Georg Peter Landmann, Anhang, in: SW XIII/XIV, S. 164–184, hier: 164f. 5 GA XIII/XIV, S. 198. Dieser Sammelband wurde 1896 von der Pariser Zeitschrift La Plume herausgegeben, mit dem Erlös sollte ein Denkmal für Baudelaire finanziert werden. Im August 1899 veröffentlichte die Wiener Rundschau wohl unautorisiert StGs Übersetzung der Nummern II, XIII, XXXVII, XXIII, XXVIII und LXVII; vgl. SW XIII/XIV, S. 168f. 6 BfdK 2/1894, 2 enthielt „Lesbos · die V.F. Abendeinklang (s. 70) Der Mensch und das Meer (s. 30) Moesta et Errabunda (s. 86) Berthas augen (s. 116) Sammlung (s. 123) · die Allgemeine Kunst Chronik 1894 heft 23: Don Juan in der Hölle · Der Duft (s. 58) Das Haar · Der Balkon (s. 55) Verdammte frauen (s. 161).“ GA XIII/XIV, S. 198.

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I. Stefan George und sein Kreis

sodass ihre zeitliche Abfolge nicht rekonstruiert werden kann (XIII/XIV, 168). Die spätesten Erstdrucke sind die der Nummern XXVI, XXXII und CXXXVIII; sie wurden erst 1930 in der Gesamtausgabe veröffentlicht (XIII/XIV, 169). Eine Liste der beiseitegelassenen Texte gibt einige Aufschlüsse über StGs Auswahlverfahren.7 So hat StG aus naheliegenden Gründen die ,Gelegenheitsgedichte‘, die häufig bereits im Titel an bestimmte Personen adressiert sind, nicht übersetzt, aber auch nicht eine große Zahl von Gedichten, die ihm offenbar wegen ihrer Darstellung obsessiver Erotik („Sed non satiata“), aggressiver Melancholie („Le Gouffre“), sadistischer Freuden („Danse Macabre“) oder masochistischer Selbst-Qual („L’He´autontimoroume´nos“) missfielen.8 Für die Verwerfung anderer Gedichte, die zu den berühmtesten der Sammlung gehören, mögen stärker poetologische Gründe ausschlaggebend gewesen sein: So entwirft „La Pipe“ eine kleine Poetik des Drogenrauschs mit derselben Variation umgekehrter Allegorisierung wie das gleichfalls nicht übersetzte „Le Flacon“, die beide an den Ausgangspunkt der Bilderketten die Auflösung personaler Identität setzen.9 Auch das viel gedeutete „Une charogne“, in dem die Anrede der Geliebten von der Betrachtung der obszönen Haltung eines verwesenden Aases am Straßenrand motiviert wird, dürfte einerseits wegen seiner drastischen Körperlichkeit, andererseits wegen seiner poetologischen Schlussverse ausgeschlossen worden sein.10 Für eine solche stillschweigende poetologische Korrektur spricht auch die Entscheidung gegen das Gedicht „Le Soleil“, das zwar den sonnengleichen Dichter beim Herabsteigen zur Menge zeigt, ihm eingangs aber beim Durchstreifen zweifelhafter Stadtviertel, „über Worte stolpernd wie über Pflastersteine“ gefolgt war.11 Dass auch „Reˆve parisien“, eines der berühmtesten Baudelaire-Gedichte überhaupt, nicht in die Sammlung aufgenommen ist, muss mit Blick auf StGs Algabal besonders erstaunen, doch auch hier ist die tote Pracht glitzernden Gesteins und spiegelnder Wasserflächen das Produkt eines delirierenden Traums und voll von „berauschender Eintönigkeit“ (enivrante monotonie); beide Gedichte entwerfen also den poetischen Akt in einer Weise, die der angehende Dichter StG sich nicht zu eigen machen wollte. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass StG dem ,symbolistischen‘ Baudelaire den Vorzug vor dem ,dekadenten‘ gibt, dass er tendenziell schon durch die Auswahl der übersetzten Gedichte geradezu zensiert, zumindest aber filtert, bereinigt und vergeistigt; offenbar mit dem Ziel einer gewissen ,Veredelung‘ von Werk und Dichter.12 Da für die lange Dauer seiner Übersetzungsarbeit jedoch nach wie vor nicht zweifelsfrei feststeht, zu welchem Zeitpunkt StG welche Baudelaire-Ausgabe benutzt hat, lässt sich dieser allgemeine Befund nicht zuverlässig spezifizieren. StG selbst gibt an, im Laufe der Zeit mit allen drei verfügbaren Ausgaben, also auch mit unterschied7 Vgl. Furst, Georges Die Blumen des Bösen, S. 206. 8 Vgl. ebd. 9 Vgl. Cornelia Ortlieb, Poetische Prosa. Beiträge zur modernen Poetik von Charles Baudelaire bis Georg Trakl, Stuttgart 2001, S. 41f. 10 Das Gedicht endet mit dem Versprechen, Form und göttliche Essenz der von Würmern gegessenen Geliebten bewahren zu wollen, enthält also in gewisser Weise sein eigenes Programm: „Dann, o meine Schönste! sage dem Gewürm, das küssend dich verspeisen wird, daß ich die Form, den göttlichen Gehalt bewahrte meiner Liebe, die in dir zerfällt!“ Baudelaire, Sämtliche Werke, Briefe, Bd. 3, S. 113. 11 Ebd., S. 223. 12 Vgl. Furst, Georges Die Blumen des Bösen, S. 207.

2. Stefan George: Werk – Baudelaire. Umdichtungen

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lich umfangreichem Textmaterial, gearbeitet zu haben.13 Dass StG sich zu einem bestimmten Zeitpunkt, also etwa 1901, nach dem Erscheinen der Buchausgabe seiner Blumen des Bösen, von Baudelaire abgewandt haben soll, können neben den distanzierenden Stellen im Vorwort der Blumen auch einige unmutige Briefäußerungen zu seiner vermeintlichen ,Schülerschaft‘ bei Autoren wie Baudelaire, Mallarme´ und Verlaine belegen.14 Mit dem neuen Vorbild Dante und dem Beginn der Übersetzung von dessen Divina Commedia endet die mehr als zehn Jahre fortgeführte Arbeit an den Fleurs du mal-Gedichten und zugleich jede Bezugnahme auf Baudelaire als dichterisches Vorbild. 2.11.2. Aufbau, Übersetzungsprinzipien und Formales StGs Sammlung der Fleurs du mal-Gedichte folgt der Einrichtung des Buches von 1868 nur in der ersten Abteilung und auch hier sind nur die ersten 26 Gedichte in lückenloser Folge wiedergegeben. Aus dem Abschnitt Tableaux parisiens sind nur neun Gedichte übernommen, Le vin ist reduziert auf vier Beispiele, und das Buch schließt mit drei weiteren Abschnitten, die acht, eins und sechs Gedichte enthalten. Da StG Nummern und Titel von Baudelaire übernimmt, fallen diese Kürzungen einem Kenner der französischen Ausgabe auf den ersten Blick ins Auge; Leser, die zum ersten Mal einen Blick auf die Sammlung werfen, können zumindest die Asymmetrie der einzelnen Teile feststellen, spätestens dort, wo unter der Überschrift Aufruhr nur ein einziges Gedicht zu finden ist (XIII/XIV, 188). Das Vorwort zum Anhang des Baudelaire-Bandes der Gesamtausgabe zitiert den ,Vorspruch‘ der Baudelaire-Übertragungen aus den BfdK und gibt damit auch die Leserichtung für die folgende Sammlung vor: Die Blätter führten die übertragungen mit diesem vorspruche ein: ,Dies sind auszüge aus der ersten deutschen Baudelaire-übertragung die anfangs in geringer auflage verbreitet bald einer grösseren gesellschaft übergeben wird. Ohne Charles Baudelaire ist ein verständnis der neuesten französischen literatur undenkbar · wer ihn aber heute noch zur nachahmung empfehlen will · dem rufen wir zurück dass dieser dichter zur zeit des Zweiten Kaiserreiches gelebt hat.‘ (GA XIII/XIV, 198)

Mit dieser Historisierung des ersten Dichters der Moderne15 ist zugleich dessen Bedeutung festgeschrieben; der Titel der handschriftlichen Sammlung setzt entspre13 Vgl. Roussel, Fleurs maladives, S. 184f. Die erste Ausgabe von 1857 wurde mit Gerichtsurteil vom 20.8.1857 verboten, die zweite von 1861 war um die sechs verbotenen Gedichte gekürzt, aber vermehrt um 35 neue Gedichte, die postume dritte von 1868 erschien als erster Band der Gesammelten Werke, hat wiederum 25 Gedichte mehr als die zweite. Auch hier fehlen wiederum die sechs ,verdammten‘ Gedichte. Einzig Letztere findet sich in einer späteren Auflage von 1888 noch heute in StGs nachgelassener Bibliothek (im StGA). Vgl. zur Publikationsgeschichte Baudelaire, Sämtliche Werke, Briefe, Bd. 3, S. 359ff. 14 Vgl. Karlauf 2007, S. 286f. 15 Stellvertretend für die vielen anonymisierten Belege dieses Topos der neueren Literaturgeschichtsschreibung sei hier Wuthenows Bemerkung zitiert: „[M]it Baudelaire wächst die französische Poesie über den Rahmen der französischen Nation und der angrenzenden Sprachgebiete weit hinaus. Sie wird nun, was erst in der modernen Welt möglich geworden ist, in allen Ländern der

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I. Stefan George und sein Kreis

chend unter den Dichternamen (mit falsch apostrophiertem Genitiv-s) den deutlich größer geschriebenen, aufsehenerregenden Titel ohne Artikel in Versalien und, um einiges kleiner, wenn auch weiterhin durchgehend in Versalien, als Titelzusatz Umgedichtet von Stefan George. Betont diese Fassung mit dem vorangestellten Verb noch den Prozess, so stellt der spätere Buchtitel mit dem substantivierten Verb Umdichtungen dessen Ergebnis und mithin die Gedichte als quasi eigenständige Produkte der Übersetzung in den Vordergrund. Ohne ihre römische Nummerierung und ohne die Titel der Abteilungen, denen sie im Original zugeordnet sind, folgen in Kleins ordentlicher, gut lesbarer Schreibschrift und der später charakteristischen Kleinschreibung die ausgewählten Gedichte, beginnend mit dem solchermaßen geradezu programmatisch klingenden „Segen“, dessen Eingangsverse lauten: „Wenn nach den allerhöchsten urteilssprüchen / Der dichter auf die trübe erde steigt / So schaudert seine mutter und mit flüchen / Bedroht sie gott der selber mitleid zeigt“.16 Nicht die blasphemische Wendung der letzten beiden Verse, sondern das Bild der anderen Niederkunft des Dichters und seiner Bestimmung zum Ausharren in allzu irdischen Verhältnissen, die mit dem eigentümlichen Epitheton – „trübe erde“ ersetzt Baudelaires „monde ennuye´“ – mehr evoziert als benannt werden, dürfte das Interesse des Adepten geweckt haben, der in seiner Verdrängung des Widrigen dieser Dichtung später ein Signum des Zeitalters sehen wird. Zumindest behauptet das Vorwort zur Buchausgabe von 1901, es bedürfe „heute wol kaum noch eines hinweises“, dass nicht diese Bilder „ihm die grosse verehrung des ganzen jüngeren geschlechtes eingetragen haben sondern der eifer mit dem er der dichtung neue gebiete eroberte und die glühende geistigkeit mit der er auch die sprödesten stoffe durchdrang“ (XIII/XIV, Vorrede). Die zweite viel zitierte Bemerkung, die „verdeutschung“ der Gedichte verdanke sich „der ursprünglichen reinen freude am formen“ (ebd.), hat ebenfalls entscheidend zu dieser Neutralisierung der anstößigen Stellen und Texte beigetragen und die bis heute übliche Einordnung Baudelaires in die Vorgeschichte des Symbolismus befördert. Das in mehrfacher Hinsicht herausragende Beispiel der Übertragung von „A une passante“ und der Gebrauch, den StG von diesem Text macht, zeigt jedoch, dass ihm die Eigenart der doppelten Natur der Baudelaireschen Dichtung sehr wohl bewusst war. Wie manche Stellen in StGs eigener früher Lyrik, die erst in der historischen Distanz „eine klassizistische Patina gewonnen [haben]“,17 waren Baudelaires Großstadtgedichte von unerhörter Modernität, und ihre eigentümliche Machart lässt es gerade nicht zu, vermeintlich abstoßende Bilder und anstößige Inhalte zu entfernen und der reinen Formkunst in einer bloßen ,Stilübung‘18 zu huldigen. „A une passante“, das Gedicht, das an eine flüchtig geschaute Passantin im Menschengewirr des Straßenverkehrs adressiert ist, wird von StG zwar geradezu zeitenthoben ,verdeutscht‘ als „Einer Vorübergehenden“ (XIII/XIV, 119), betont aber mit der Wahl des Titels eben jenes Moment des Transitorischen und Flüchtigen, das in Baudelaires Ästhetik und Erde gelesen und wird eben als ,Poesie der Moderne‘ erkannt. Tatsächlich datieren wir von Baudelaire an eine neue Epoche, die der modernen Poesie.“ Ralph-Rainer Wuthenow, Das fremde Kunstwerk. Aspekte der literarischen Übersetzung, Göttingen 1969, S. 127. 16 Charles Baudelaire’s Blumen des Bösen, umgedichtet von Stefan George, Faksimile in: GA XIII/XIV, S. 199–259, hier: 201. 17 Kemp, Wirkung, S. 31. 18 Zur Baudelaire-Übersetzung als „excercise de style“ vgl. David, George et Baudelaire, S. 168.

2. Stefan George: Werk – Baudelaire. Umdichtungen

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Poetik von entscheidender Bedeutung ist. Anders als die Mehrzahl der zeitgenössischen Übersetzungen fügt StG die Ergänzung der anderen, klassischen oder klassizistischen Seite dieser doppelten Ästhetik zu einem einzigen Bild: „mit einer statue knie“ blitzt unter dem Rocksaum der Dame zugleich der nackte Körperteil und seine künstlerische Veredelung auf. Eben diesen Saum hat StG wiederum als einziger Übersetzer seiner Zeit als ein zeittypisches modisches Accessoire identifiziert; nur bei ihm ist, wie im Original, modehistorisch korrekt zwischen „kleidbesatz und saum“ („le feston et l’ourlet“) unterschieden und somit die „Selbstverständlichkeit des schneider-handwerklichen Vokabulars“ erhalten geblieben.19 Augenblick und Ewigkeit, wie sie im Blitzschlag der plötzlichen Liebe in Baudelaires Gedicht zusammenfallen, arbeitet StGs Übersetzung als die zentralen Elemente dieser doppelten Ästhetik heraus, indem er gleichermaßen der Formstrenge des Sonetts wie der eigentümlichen Folge einander rasch ablösender Bilder und akustischer Eindrücke bei Baudelaire gerecht wird. Deren widerständige Fügung, die auch in StGs bildtreuer ,Umdichtung‘ an manchen Stellen nah an der Katachrese liegt – das ,Tosen‘ der Straße, das Auge als ,Heimat der Orkane‘ – hat StG kongenial nachgebildet, indem er die einzelnen Satzteile wie in assoziativer Reihung fast ohne Satzzeichen aneinanderhängt. Erst mit dem plötzlichen Einfall des Liebesblicks im ersten Terzett wird diese parataktische Folge auch typographisch nachdrücklich unterbrochen: „Ein strahl … dann nacht! o schöne wesenheit / Die mich mit einem blicke neu geboren“, um dann mit der abschließenden Frage: „Kommst du erst wieder in der ewigkeit?“ zur Ruhe zu kommen. Dieselbe Zweiteilung weist auch das zweite Terzett auf; hier trennt und verbindet der von StG konzipierte Hochpunkt die einzelnen Sequenzen der plötzlichen Erkenntnis des immer schon und für immer Verlorenen – „Verändert · fern · zu spät · auf stets verloren! / Du bist mir fremd · ich ward dir nie genannt · / Dich hätte ich geliebt · dich die’s erkannt“. Die durchgehend antithetische Struktur des Gedichts, ein Erbe der SonettTradition seit Petrarca, ist hier bei Baudelaire wie bei StG bis in die Antithese selbst verlängert und trägt entscheidend zum Eindruck radikaler Modernität bei. Der „Chock“ lustvoller Überwältigung, den Walter Benjamin in diesem Gedicht exemplarisch inszeniert fand, mitsamt dem „tiefe[n] Bruch zwischen den Vierzeilern, die den Vorgang dartun, und den Terzinen, die ihn verklären“,20 ist auch in StGs Übersetzung ungemildert, die Formstrenge des Sonetts zugleich unübertrefflich gewahrt. Nicht nur gelingt es StG, im regelmäßig alternierenden jambischen Versmaß in den beiden Quartetten das verlangte Reimschema abba, cddc bei fast wortgetreuer Übersetzung einzuhalten und entsprechend männliche und weibliche Kadenz abwechseln zu lassen; seine Verse halten darüber hinaus ohne sichtbare Mühe, also ohne sonst übliche Kürzungen und Elisionen, den Wechsel von zehn und elf Silben durch. Ebenso streng geformt sind, bei aller Auflösung von Satz- und Bildzusammenhang, die beiden Terzette mit der gleichfalls mustergültigen Reimfolge efe, fgg bei entsprechend alternierenden Kadenzen bis hin zur betont ausklingenden Schlusspointe der letzten beiden Verse.

19 Jürgen Stackelberg, Weltliteratur in deutscher Übersetzung. Vergleichende Analysen, München 1978, S. 207. 20 Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, hrsg. v. Rolf Tiedemann, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1990, S. 44.

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I. Stefan George und sein Kreis

Als Liebesbotschaft an ein flüchtig geschautes Gegenüber hat StG zudem offenbar das Gedicht auch in der vielleicht bedeutsamsten Episode seiner jungen Jahre, der Bekanntschaft mit Hugo von Hofmannsthal im Jahr 1892, eingesetzt. Von Paris war StG über Verona und Venedig nach Wien gereist, wo er u. a. die Gedichte Baudelaires übersetzte. In einem Cafe´ trafen schließlich Mitte Dezember 1891 der zumindest vom Hörensagen bekannte Dichter und der 17-jährige Gymnasiast aufeinander, wobei die Berichte über den Ablauf dieser ersten Kontaktaufnahme auseinandergehen.21 Schon einen Monat später, beim erzwungenen Abbruch der Beziehung, hat StG ihre einmalige historische Bedeutung in einem Brief an Hofmannsthals Vater formuliert: für mich bleibt er immer die erste person auf deutscher seite die ohne mir vorher näher gestanden zu haben mein schaffen verstanden und gewürdigt – und das zu einer zeit wo ich auf meinem einsamen felsen zu zittern anfing es ist schwer dem nicht-dichter zu erklären von wie grosser bedeutung das war.22

Dieses Urteil muss sich auch auf die eben fertiggestellte Teilübersetzung der Blumen des Bösen bezogen haben, auf die auch StGs briefliche Bemerkung deutet, dass er „Ihnen verschiedene schriftsachen zu zeigen oder geben versprach“, weshalb sich trotz anderer Bedenken seine eigene Wohnung als Treffpunkt anbiete.23 Der fatale Briefwechsel der folgenden Tage, der fast zum Eklat einer Duellforderung und mit dem Eingriff des Vaters zum vollständigen Abbruch des Kontakts führte, ist nach dem Baudelaireschen Muster der plötzlichen und unmöglichen Liebe zu einer/eines ,Vorübergehenden‘ modelliert: Mit diesem Titel unterzeichnet StG sein längstes und eindringlichstes Schreiben, nachdem Hofmannsthal ihm das Gedicht mit noch doppeltem Namen gewidmet hat: „Herrn Stefan George / einem, der vorübergeht“ (G/H, 7). Sind für diese Apostrophe und StGs halb-kokette Rückfrage „aber bleibe ich für Sie nichts mehr als ,einer der vorübergeht‘?. .“ (G/H, 8) trotz der vielsagenden Punkte noch mehrere Quellen denkbar, so steht doch die wechselseitige Adressierung im Zeichen des erotischen Erkennens, dem StG in seiner Übersetzung eine zeitlosere und sublimere Fassung gegeben hatte. So wiederholt StGs elliptische Evokation dieses Augenblicks die konvulsivische Zuckung des Baudelaireschen Liebes-Krampfs mitsamt dem Moment des Erkennens und der Hoffnung auf Dauer, „Und endlich! wie? ja? ein hoffen – ein ahnen – ein zucken – ein schwanken – o mein zwillingsbruder –“, in eben dem Schreiben, das er als „Einer der vorübergeht“ unterzeichnet hat (G/H, 13); und Hofmannsthal antwortet, indem er ihm als einem zweiten Baudelaire dessen Liebe zum ,Abgrund‘, den in den Fleurs du mal omnipräsenten ,gouffre‘, attestiert.24 StGs Antwort auf die Gabe des Gedichts gibt entsprechend die doppelte Re21 Während Hofmannsthal schildert, wie StG an seinen Tisch getreten sei und ihn angesprochen habe, ist einem früheren Bericht Hermann Bahrs zufolge umgekehrt Hofmannsthal an den Tisch StGs getreten, nachdem dieser ihm „ein paar Worte [herüber schickte]“, vgl. den Brief H. v. Hofmannstahls an Walther Brecht v. 20.1.1929, in: RB II, S. 226f.; vgl. Gotthart Wunberg (Hrsg.), Hofmannsthal im Urteil seiner Kritiker, Frankfurt/M. 1972, S. 429. Die ,Tragödie‘ dieser Begegnung und des anschließenden ,quälenden‘ Briefwechsels bildet den „Prolog“ bei Karlauf 2007, S. 9–27. Vgl. ¤ Hugo von Hofmannsthal. 22 StG an Dr. Hugo von Hofmannsthal v. 16.1.1892, in: G/H, S. 242; Karlauf 2007, S. 26. 23 StG an H. v. Hofmannsthal v. [22.12.1891], in: G/H, S. 8. 24 H. v. Hofmannsthal an StG v. [10.1.1892]: „ich möchte Sie gern halten können, Ihnen zu danken, daß Sie mir Tiefen gezeigt haben aber Sie stehen gerne, wo Ihnen schwindelt, und lieben stolz den Abgrund den wenige sehen können“ (G/H, 14).

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miniszenz zu erkennen; die Formel „nur wer bewundern kann vermag wunderbares zu schaffen“ (G/H, 8) lässt sich ebenso auf den Schüler und angehenden Dichter Hofmannsthal wie auf den adressierten Dichter-Übersetzer StG beziehen. Ausdrücklich stellt StG nochmals beide Künstler in die Nachfolge Baudelaires, wenn er den jüngeren Adepten über den Zusammenhang von ,Trübsinn‘ und Künstlertum belehrt.25 Mit diesen Briefzitaten ist berührt, was die aneignende Übersetzung vorgezeichnet hatte: Der poetologische Anschluss an das Baudelaire-Modell von Dichtkunst und Künstlertum erhält bei aller Wiedererkennbarkeit eine eigentümliche Prägung, ist aber zu diesem Zeitpunkt keineswegs das Experiment mit einer reinen Formkunst, sondern der geradezu existenziell beglaubigte einzige Weg zu einer solchen literarischen Produktivität. Mit einem kongenialen „Trübsinn und Vergeistigung“ wird StG die beiden großen Abteilungen und Tendenzen der Baudelaireschen Versdichtung überschreiben, wo das französische „Spleen et Ide´al“ mit dem naheliegenden deutschen ,Ideal‘ eine allzu platonisch-idealistische Note bekommt und der Unterschied zwischen den „Spleen“- und den „Ennui“-Zuständen und -Haltungen in der Übersetzung verloren geht, wenn beides mit dem griechisch-deutschen Erbe der ,Melancholie‘ beladen wird. Auch wenn der Verdacht der Stilisierung naheliegt und mit Blick auf die Übersetzung von „A une passante“ zu Recht konstatiert wurde, dass scheinbar geringe Abweichungen des Wortlauts bewirken, dass dem Gedicht „verloren [geht], was nicht zuletzt seine Besonderheit ausmacht: die Schlichtheit, der Bezug zur unmittelbaren Erfahrung“, ja, geradezu das, was doch im Original „ohne große Umschweife benannt wird“, die „konkrete Distanz überwindende erotische Beziehung“,26 zeigt schon dieses prominenteste aller Beispiele doch, wie nahe StG in seiner Auffassung Baudelaires an dessen lyrische Sprache heranrückt. Noch StGs Entscheidung, seine erste eigene Gedichtsammlung mit dem programmatischen Gedicht „Weihe“ (II, 10) zu eröffnen, kann als Beleg für die Omnipräsenz dieses Vorbilds gelten. Sein „dichtwerk“ versteht der junge Autor insgesamt als „gebilde“, für dessen Genuss das zeitgenössische Publikum noch nicht bereit gewesen sei.27 Die Erprobung des hymnischen Tons28 und der „Spannung zwischen Begehrlichkeit und Weihe“29 in der frühen Lyrik verbindet sich hier mit „eine[r] Zusammenschau der abendländischen Inspirationssemantik“, die „Weihe“ auch in den Kontext der ,Werkpolitik‘ StGs stellt.30 Bereits die ersten Verse eröffnen dabei einen 25 „Ganz verstehen können Sie zum glück noch nicht da Sie die grosse Trübnis nicht kennen. Sie werden dieselbe noch kennen lernen da Sie ein wahrer künstler sind später – viel später das wünsche ich Ihnen von herzen“ (G/H, 12). 26 Angelika Corbineau-Hoffmann, Einführung in die Komparatistik, Berlin 2000, S. 164. 27 Vgl. Ute Oelmann, Das Gedicht als „Gebilde“. Zur Poetik des jungen Stefan George, in: „Sinnlichkeit in Bild und Klang“. Festschrift für Paul Hoffmann zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Hansgerd Delbrück, Stuttgart 1987, S. 317–325, hier: 319. 28 Vgl. Kai Kauffmann, Loblied, Gemeindegesang und Wechselrede. Zur Transformation des Hymnischen in Stefan Georges Œuvre bis zum ,Stern des Bundes‘, in: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 34–47. 29 Arbogast, Erneuerung, S. 89–105. 30 Vgl. Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin u. a. 2007, S. 535.

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Raum des Dichtens, der Elemente der Bildsprache Mallarme´s, der Vokaltheorie Rimbauds und eines Baudelaireschen Pathos vereint: „Hinaus zum strom! wo stolz die hohen rohre / Im linden winde ihre fahnen schwingen“ (II, 10). Wie in Mallarme´s poetologischem Gedicht „Brise marine“, das StG mit dem Titel „Seebrise“ übersetzt hat,31 ist der typographisch hervorgehobene Ausruf gleichermaßen an den Dichter selbst und an sein künftiges Publikum gerichtet, wie nach Rimbauds Erfindung der poetischen Qualität isolierter Vokale wird in der Entgegensetzung der dunklen o- und der hellen i-Laute die Tiefe der Sehnsucht mit der hochgestimmten Feier des Aufbruchs verbunden. In den kaum entworfenen und sogleich wieder zurückgenommenen Bildern einer kultivierten Natur, die beispielsweise nicht üppige Wiesen, sondern einen offenbar gestutzten „rasen“ zum „rasten“ anbietet, lässt sich ebenso eine Reminiszenz an Baudelaires Dichtung erkennen wie in der halb ironischen Reihung der topoi abendländischer Inspirationstheorie. Unverkennbar ist die Adaption des Vorbilds dort, wo eine andere Regression angesprochen ist als die der Poetik Rimbauds. Hatte dieser, in StGs Übersetzung, versprochen: „A schwarz E weiss I rot U grün O blau – vokale / Einst werd ich euren dunklen ursprung offenbaren“, so gibt die vokallastige „Weihe“ mit einem anderen Ursprung auch zugleich ihre Adaption von Baudelaires Poetik zu erkennen: „Im rasen rastend sollst du dich betäuben / An starkem urduft · ohne denkerstörung · / So dass die fremden hauche all zerstäuben. / Das auge schauend harre der erhörung“ (II, 10). Es sind somit die von Baudelaire in die Dichtung eingeführten fremden, archaischen Düfte, die den gleichfalls Baudelaireschen Dichter-Rausch auslösen sollen, eine mehr erotische als mystische Phantasie, die ihre Entsprechung in der Andeutung eines latent gewaltsamen Musenkusses in der Schlussstrophe findet. Nicht untergründiger Einfluss oder halb unbewusste Aneignung eines bewunderten Vorbilds lässt sich also diesem Programmgedicht ablesen, sondern die kalkulierte Modellierung des eigenen Dichtungsprojekts als überbietende Nachfolge, in deren Zeichen das lyrische Werk mindestens zwischen 1890 und 1900 gestellt wird. Seine frühe Lyrik erhält entsprechend „das für Georges Baudelaire-Übersetzung allgemein kennzeichnende Gepräge einer fast gewaltsam gerafften, innovativen und doch zugleich an älteres poetisches Inventar gebundenen Sprache“.32 Denn „der gewollte Stil bildete sich aus bei der Wiedergabe des Fremden; die Wiedergabe des Fremden wurde zur ersten gültigen Leistung im eigenen Stil“.33

31 SW XVI, S. 31. Das Gedicht beginnt mit den Versen: „Das fleisch ist trauernd ach! und alle bücher las ich. / O fliehen dorthin fliehn! ich weiss dass vögel trunken / Inzwischen unbekanntem schaum und himmel sind“. „Vokale“ ist eine von nur drei Rimbaud-Übersetzungen in der Sammlung der Zeitgenössischen Dichter (XVI, 43). 32 Keck, Baudelaires ,Correspondances‘, S. 94. 33 Arbogast, Erneuerung, S. 74.

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2.11.3.

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Rezeption und Deutung

2.11.3.1. Zeitgenössische Rezeption Viele Jahrzehnte der ideologisch oder völkerpsychologisch motivierten Polemik gegen StGs Affinität zu Frankreich machen es nahezu unmöglich, deren zeitgenössische Einschätzung einigermaßen neutral zu rekonstruieren. Exemplarisch lässt sich am Beispiel zweier Texte Ernst Robert Curtius’ zeigen, wie folgenreich die Festlegung StGs auf einzelne Äußerungen zu Frankreich oder zur französischen Dichtung gewesen ist. Curtius, geborener Elsässer und deutscher Professor für Romanistik in zunehmend prekärer Lage,34 nimmt selbst eine mehrfach ambivalente Position ein, die sich teilweise auch seiner Beschreibung StGs ablesen lässt. So beginnt sein Vorwort zur Buchausgabe seiner Kritischen Essays zur europäischen Literatur mit den programmatischen Sätzen: „Meine ersten Arbeiten galten der französischen Literatur. Was Dichtung sein kann, lernt man an der Antike, an Spanien, England, Deutschland besser. Aber was Literatur ist, lernt man nur an Frankreich.“35 Und wie StG, so gibt auch Curtius dieser frühen Vorliebe eine Begründung nach Herkunft und Geburt; ihm, dem im Elsass geborenen Deutschen, sei Frankreich „die notwendige Ergänzung“ gewesen.36 In einem Text von 1950 rekonstruiert Curtius, gestützt auf seine alten Tagebuchaufzeichnungen, die mehr als vierzig Jahre zurückliegende erste Begegnung mit StG im Haus des Ehepaars Lepsius in Berlin. Der StG des Winters 1906/07 sei „heiter und von völliger Natürlichkeit“ gewesen, „ganz anders als die damalige Berliner Legende ihn schilderte.“37 StGs im gemütlichen rheinhessischen Dialekt gesprochenen Kommentare zur zeitgenössischen Dichtung und zu den Arbeiten seiner Schüler werden bis heute nach dieser Überlieferung Curtius’ wieder und wieder zitiert. Curtius vermerkt auch, dass StG es „liebte“, gelegentlich „französische Worte einzumischen wie dangerös und ähnliche Entlehnungen“,38 und befindet es für notwendig, nun über „Georges Verhältnis zu Frankreich“ nachzudenken, mit Blick auf „die Selbstaussage im Gedicht Franken (1907 erschienen)“. Das Gedicht, das im Rückblick die Erstickungsgefühle des 20-Jährigen in den deutschen „gaue[n]“ schildere, bestehe durch das „lob des ahnen“ auf der französischen Herkunft seines Autors: Dem Enkel hatte er [der Großvater] eingepflanzt: das großmütige Frankreich ist Mutter und Zuflucht für Fremde, für Verkannte, für Verbannte. Als Stefan George 1889 nach Paris ging, war er fremd und unerkannt, aber zugleich empfand er sich als Erben, heimkehrend ins mütterliche Land.39

Curtius’ anschließende Untersuchung dieser angemaßten Herkunft entlarvt allerdings zwar die vorurteilsbeladene Diskussion der Frage bei Wolters als historisch fehlerhaft, trägt aber ihrerseits dazu bei, die bis heute nachwirkende Frage der Richtigkeit einer 34 Vgl. ¤ Ernst Robert Curtius. 35 Curtius, Kritische Essays, S. 7. 36 Ebd. 37 Ernst Robert Curtius, Stefan George im Gespräch, in: Ders., Kritische Essays, S. 138–157, hier: 139. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 140.

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I. Stefan George und sein Kreis

solchen Wahl der Heimat in den Raum zu stellen, als müsse der Elsässer das Verhältnis von Deutschtum und Frankreichliebe des Lothringers StG berichtigen. Wie StGs spätere Biographen, so überführt auch Curtius die Frage nach StGs französischem Erbe in die etwas präzisere der Sprachkompetenz: StGs Familie habe „im Laufe zweier Menschenalter eine Assimilation an französische Kultur erfahren“, er selbst „diese erworbene und vererbte Teilhabe gepflegt und sie bis in die 90er-Jahre hinein als wohltätig empfunden.“40 Mit Verweis auf sein andernorts ausführlicher entfaltetes Argument schließt Curtius diesen bemerkenswerten Exkurs jedoch, indem er StGs politische Abkehr von Frankreich und dem kaiserlichen Deutschland herausstellt; nach 1909 habe er wiederum die zwischenzeitliche Hinwendung zum „fränkische[n] Mittelreich“ – dem ,Lotharingien‘ des Siebenten Rings – aufgegeben und an dessen Stelle ,Germanien‘ gesetzt.41 Die weitere kursorische Schilderung seiner Beziehung zu StG ist von diesem Motiv des Wechsels von Hinwendung und Abkehr geprägt: Seine Freunde habe StG stets erst um sich geschart, dann abgestoßen; Curtius selbst habe sich „als ergriffener Verehrer“ genähert, wiewohl er weder den Maximin-Kult teilen noch auf seine schwärmerische Liebe zum Griechentum verzichten mochte.42 Am Ende heißt es jedoch wiederum, sich für die richtige von zwei Seiten zu entscheiden: George war mir der größte lebende Dichter. Aber ich bewunderte auch einige lebende Franzosen, plante über sie zu schreiben. Für beides erhoffte ich Georges Duldung. Ich erhielt sie nicht. In einer Gundolf diktierten Botschaft suchte er mir meine Franzosen auszureden. ,Was versteht so ein Französlein vom Dichterischen?‘ hieß es. Am Rande stand in Georges eigener Hand: mit dennoch viel liebe St.G.43 (Herv. i. Orig.)

Aus diesem anekdotischen Zusammenhang gerissen, dient der Satz bis heute dazu, StGs grundsätzliche Abneigung gegen französische Literatur zu belegen. Curtius’ sorgfältige Unterscheidung von eigener und fremder Hand macht jedoch auch bei dieser zweifach geschriebenen doppeldeutigen Botschaft das Paradox deutlich, dass eine solche Entscheidung für das ,Eigene‘ oder das ,Fremde‘, für Liebe oder Dichtung im Rahmen der Beziehung und der Arbeit dieser beiden Deutsch-Franzosen gar nicht möglich ist. Entsprechend zitiert Curtius in den langen Passagen, die vorgeblich George-Originalton wiedergeben und der George-Literatur einiges an Zitatmaterial bereitgestellt haben, auch die beiden Sätze, in denen eine solche Entscheidung benannt, aber auf einen biographischen Augenblick reduziert wird: „Ich habe fünf oder sechs Gedichte auf Französisch gemacht und dann ins Deutsche übertragen. Es gab einen Moment, da stand ich vor der Entscheidung, ob ich deutscher oder französischer Dichter werden wollte.“44 In seinem Essay George, Hofmannsthal und Calderon von 1934 hatte Curtius dagegen noch „Frankreich, Italien, Spanien“ als „ein großes gemeinsames Wesen“ beschrieben; der „Blick des deutschen Volks“ sehe hier „eine dreifache Ausprägung des Romanentums“, eine „sprachliche und geistige Romania“.45 Nicht Lebensentscheidungen sind hier gefordert, sondern ein solcher Blick 40 Ebd., S. 144. 41 Ebd., S. 145. 42 Ebd., S. 152. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 154. 45 Ernst Robert Curtius, George, Hofmannsthal und Calderon, in: Ders., Kritische Essays, S. 172–201, hier: 172.

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wird zur „Berührung mit der Romanität“, immer wieder in der Geschichte der großen deutschen Dichter, und der junge StG in Paris „empfing“ die „belebende Wirkung einer künstlerischen Atmosphäre, in der er atmen konnte“, wiederum in der „Berührung mit Mallarme´ und Verlaine“.46 Neben einer solchen quasi sakralen Initiation schildert Curtius hier jedoch auch die profane Seite dieser Aneignung; der Student der romanischen Philologie habe sich die Romania gewaltsam angeeignet: „So bekundet sich schon in der Begegnung Georges mit den Sprachen der romanischen Welt ein geistiger Machtwille, der ihn treibt, das aus innerer Wahlverwandtschaft Ergriffene umzuformen bis an die Grenze der Vergewaltigung.“47 Ein „Grundzug in Georges geistiger Gestalt, alles Fremde nach seinem eigenen Gesetz zu prägen und zu beherrschen“, werde hier sichtbar; noch allgemeiner heißt es abschließend: „Er verfuhr mit allen Elementen der Bildung als Diktator“.48 Die beiden Essays von Curtius zeigen exemplarisch, welch diffuse Mischung aus Dichter-Psychologie, politisch-ideologischen Vorannahmen und eigener Involviertheit bei der vorgeblich neutralen Bewertung des Umgangs StGs mit den romanischen Sprachen oft am Werk ist; die Baudelaire-Umdichtungen wären hier nur ein geradezu beliebiger Beleg für eine insgesamt verdächtige Haltung des Übersetzers. Die frühe George-Forschung hat sich eine solche Betrachtungsweise gleichfalls zu eigen gemacht. Auch hier geht es bei der Darstellung StGs als Übersetzer nicht in erster Linie um Fragen technisch-künstlerischer Virtuosität, sondern um die geistesgeschichtliche Einordnung des Dichters, dessen Übersetzungen ihm „Mittel der geistigen Eroberungen und der künstlerischen Erziehung“ gewesen seien, gespeist aus einem „starken Willen sich allem einzuprägen und alles zu beherrschen“.49 Sein „Geist“ sei aber „ganz anders als der des Franzosen veranlagt“ gewesen.50 2.11.3.2. Forschung StGs deutsche Fassungen der Fleurs du mal-Gedichte werden „gewöhnlich zu den Spitzenleistungen der deutschen Übersetzungsliteratur gezählt“, freilich mit der gleichfalls stetig wiederkehrenden Einschränkung, es sei StG als Übersetzer nicht gelungen, „Baudelaire auf Deutsch sprechen zu lassen“.51 Für die Würdigung dieser Leistung müsste auch die Chronologie der Übertragungen, die Auswahl der Gedichte und zumal das Prinzip des stillschweigenden Ausschlusses einzelner Texte und ganzer Gruppen berücksichtigt werden.52 Auf einen ebenso naheliegenden wie wenig beachteten Aspekt hat Claude David nachdrücklich hingewiesen: Das Vokabular der Fleurs du mal stellt auch sprachmächtige Kenner der französischen Sprache vor teilweise unlösbare Schwierigkeiten, da inmitten der scheinbar profanen alltäglichen Rede seltene Wörter und idiosynkratische Wendungen stehen; sinnentstellende Missverständ46 Ebd., S. 173. 47 Ebd., S. 175. 48 Ebd. 49 San Lazzaro, George, S. 205. 50 Ebd., S. 206. 51 Kulcsa´r-Szabo´, Spleen, S. 92. 52 Eine solche umfassende Darstellung steht bis heute aus. Sämtliche Arbeiten beziehen sich ihrerseits mehr oder weniger explizit auf eine Teil-Auswahl der Umdichtungen.

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nisse seien daher ,unvermeidlich‘.53 Entsprechend wird in neueren Arbeiten eher versucht, diesem Umstand durch den Vergleich der alternativen Lösungen verschiedener Übersetzungen Rechnung zu tragen.54 Gelegentlich ist der Übergang zwischen lexikalischem Verfehlen und gewollter Umdeutung fließend, wie sich bei StG besonders an der nahezu stillschweigenden Tilgung dessen zeigt, was als ,Le Mal‘ aufgrund seiner Mehrdeutigkeit quasi unübersetzbar ist: das Kranke, das Schlechte, das Übel, das Böse.55 Zumal der letzte Aspekt, die im Grunde krypto-theologische Überzeugung von einem satanischen Ursprung des Bösen in der Welt, passt offensichtlich nicht zu StGs Auffassung aristokratisch-düsterer Weltverachtung, wie sie fast zeitgleich sein Algabal entfaltet, mit einem durchaus Baudelaireschen ennui und ebensolcher Realitätsabwendung.56 Offensichtlich gilt das Interesse der Übertragung nicht einer skandalisierten Bild- und Gedankenwelt blasphemisch-obszönen Aufruhrs, sondern deren Bändigung nach den rigoros eingehaltenen Maßgaben ungewöhnlicher Formstrenge. Hierin, in der strikten Einhaltung von Gattungsvorgaben, Versmaßen und Reimschemata, folgt StG dem französischen Vorbild in unnachahmlicher Konsequenz. Den Effekt dieser Detailtreue kann ein Blick auf ein vergleichsweise wenig beachtetes Element erhellen: die konsequente Gestaltung der Kadenzen nach dem Baudelaireschen Muster, das zumeist eine regelmäßig alternierende Folge von betonten und unbetonten (männlichen und weiblichen) Versendungen vorgibt.57 Bereits früh ist festgestellt worden, dass „der Baudelairesche Vers in der Übertragung Georges die gleichen Umrisse und das gleiche Gewicht, die gleichen Pausen und die gleiche Verteilung der helldunklen Farben [behält]“.58 Die „sattsam bekannte relative Armut an deutschen Reimwörtern“59 kompensiert StG durch unvergleichlichen lexikalischen Erfindungsreichtum, so findet er betonte Reimwörter wie „zeh, benzoё, fe´e“ und unbetont endende wie „krankenstube, karobube“, um der strengsten Anforderung an solche Formtreue zu genügen.60 Allerdings tendiert auch StG, wie die meisten Übersetzer, zum „Rückgriff auf erlesen-poetisches, gesucht originelles oder altertümlich wirkendes Vokabular“, um den Preis, dass „das angestrengte übersetzerische Bemühen um lexikalische Originalität hart an den Rand der Komik [gerät]“.61 Lässt sich ein solcher Befund noch teilweise empirisch stützen – z. B. mit gezielter Überprüfung der fragwürdigen Ausdrücke am Wörterbuch – so sind für andere Einschätzungen der übersetzerischen Leistung solche Kriterien schwerer zu finden. So kommen beispielsweise Interpreten unterschiedlicher Generationen mit Blick auf das besondere Verdienst StGs zu genau entgegengesetzten Ergebnissen: Während die eine Partei findet, StGs Übersetzung ,verbessere‘ Baudelaires Text, bringe also dessen Eigenheiten stärker zur Geltung, sieht die andere hier nur die bekannten ,tics‘ seiner eigenen Dichtung wiederkehren,62 bis hin zu 53 Vgl. David, George et Baudelaire, S. 171f. 54 Vgl. z. B. Nies, Dichter. 55 Entsprechend unübersetzbar, hat David konstatiert, sei das, was den Blumen des Bösen am meisten fehle: die „pre´sence du Mal“, also, mit Bezug auf den zitierten Titel, wohl die Gegenwärtigkeit des Bösen. David, George et Baudelaire, S. 174. 56 Vgl. ebd. 57 Vgl. ebd., S. 169. 58 San Lazzaro, George, S. 206. 59 Nies, Dichter, S. 236. 60 David, George et Baudelaire, S. 169. 61 Nies, Dichter, S. 239. 62 Vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen Roussel, Fleurs maladives, S. 181: Proble`mes de traduction.

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dem Befund, man habe es hier mit dem seltsamen Fall einer unbefriedigenden Übersetzung zu tun, bei dem nicht poetisches Unvermögen, sondern der Überschuss an dichterischer Eigenleistung zuungunsten des Texts gewirkt habe.63 Diese Behauptung lässt sich mit Blick auf eines der wirkungsmächtigsten Baudelaire-Gedichte überhaupt präzisieren: „Correspondances“ eröffnet nicht nur die erste deutsche Ausgabe der Blumen des Bösen, die Auswahlübertragung Paul Wieglers von 1900, sondern wird zwischen 1900 und 1930 zum meist übertragenen Baudelaire-Text überhaupt.64 Als Programmgedicht des französischen Symbolismus, der seinerseits nicht zuletzt durch die Vermittlung Baudelaires Bild- und Gedankenwelten der deutschen und französischen Romantik übernimmt, hat das Gedicht mit seinem Entwurf einer „Poetik der Synästhesie“ eine „literarische Schlüsselfunktion“.65 Der Zusammenklang der Sinneswahrnehmungen, den schon E.T.A. Hoffmann in musikalischen Termini als rauschhaftes Delirieren beschrieben hatte, übersetzt Baudelaire in eine Bildsprache des ,surnaturalisme‘, hier als möglicherweise ironisch gebrochene Evokation eines „idealen, poetischen Sprechens“.66 StGs Übertragung der als „Einklänge“ übersetzten „Correspondances“ im „getragenen fünfhebigen Jambus“ gibt „ein durchaus eindrucksvolles, aber doch recht vages Bild von Baudelaires Text“,67 ein Effekt, der noch verstärkt wird, wo das Original selbst von der Unverständlichkeit der „confuses paroles“ („wirren worte“) handelt. Hier „korreliert die spezifisch verstärkte Aussage der Unverständlichkeit mit einer ebenfalls verstärkten Unverständlichkeit der Aussage“, auch, weil StG die Syntax des Gedichts entscheidend verändert.68 In den Versen „Weit wie die nacht und wie die helligkeit / Parfüme farben töne rede tauschen“ (XIII/XIV, 14) sind es gerade die „harten elliptischen Fügungen“, in denen „der ästhetische Reiz der George-Fassung und auch ihr spezifischer Abstand zur Vorlage liegt.“69 Auch solche Stellen können zum Beleg dafür dienen, dass zu den Tendenzen der Umdichtungen StGs nicht nur die häufig genannte Abstraktion, Vergeistigung und Veredelung des ,klassizistischen‘ Baudelaire gehören,70 sondern auch „eine Straffung und Aufrauhung, deren die deutsche Verssprache dringend bedurfte“; hier werden „bereits die Risse und Kanten sichtbar […], an denen das Sprachgefüge sich im Expressionismus lockern wird.“71 Strategien der syntaktischen und metaphorischen Verrätselung können wiederum als Versuch gesehen werden, eine ähnliche Form der ,Kryptonymie‘ zu finden, wie sie zumindest einige Gedichte Baudelaires auszeichnet.72 Andererseits ist unlängst eben StGs „Correspondance“-Übersetzung 63 Vgl. Furst, Georges Die Blumen des Bösen, S. 217. 64 Vgl. Keck, Baudelaires ,Correspondances‘, S. 75f. 65 Ebd., S. 76f. 66 Ebd., S. 85. 67 Ebd., S. 92. 68 Ebd., S. 93. 69 Ebd., S. 93f. 70 „George has imposed his own artistic will upon Baudelaires work, and in doing so has done perfect justice to what one can only call Baudelaire’s classicism – the unparalleled formal elegance, the classical restraint, the lapidary diction.“ Patrick Bridgwater, Baudelaire’s German Cousins. The Impact of Baudelaire on German Poets and Poetry, in: Forum for Modern Language Studies 31/1995, S. 326–344, hier: 330. 71 Kemp, Wirkung, S. 31. 72 Vgl. Nicholas Rand, Le cryptage et la vie des œuvres: e´tude du secret dans les textes de Flaubert, Stendhal, Benjamin, Baudelaire, Stefan George, Edgar Poe, Francis Ponge, Heidegger et Freud, Paris 1989, S. 83ff.

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zum Gegenstand einer in Teilen polemischen Darstellung des ,deutschen Sonderwegs‘ geworden; sie nimmt die zitierten Verse sieben und acht zum Beleg dafür, „wie George den französischen Text umgeht“. Die titelgebende Korrespondenz und auch Baudelaires Synästhesien gingen hier mit der Ersetzung von „se confondre“ (sich vermischen) und „se re´pondre“ (antworten) durch StGs „zusammenrauschen“ und „tauschen“ verloren: „Georges Rede geht fehl und ist so allgemein wie im Kontext des Gedichtes unsinnig.“73 Wie in den meist komparatistischen Untersuchungen, in denen StGs Baudelaire-Umdichtungen häufig nur ein Beispiel unter anderen sind, spielen offensichtlich noch in diesem vorläufig letzten Beitrag zur Debatte um das ,Eigene‘ und das ,Fremde‘ der Übersetzung prinzipielle Annahmen zur Eigentümlichkeit literarischer Übersetzung eine Rolle. Entsprechend gelangt eine Untersuchung des Spezialfalls StG zu anderen Bewertungen, wenn sie davon ausgeht, dass Dichtung generell unübersetzbar ist und entsprechend StGs Variante als „meisterhafte Schöpfung“ feiern kann74 oder aber die Übersetzung als eine unter vielen konkurrierenden Lektüren sieht,75 als wenn sie als „der unabschließbare Versuch“ gefasst wird, „Verständigung zwischen Irrtum und Gelingen zu ermöglichen.“76 Geradezu klassisch argumentieren Untersuchungen, die vom Übersetzer die Fähigkeit zu ,reproduzieren‘ verlangen, ,Selbstverleugnung‘ und ,Bescheidenheit‘.77 Moderater fallen die Urteile immer dort aus, wo Übersetzung eher als „Sprachbewegung“ gefasst wird,78 bis hin zu der großzügigen Lizenz, die der Übersetzer der deutschen Gesamtausgabe der Werke Baudelaires Übersetzungen generell erteilt, der meint „es könne auf dem Felde der Übersetzung nicht bunt, nicht verwegen und abenteuerlich genug zugehen.“79 Diametral entgegengesetzt ist dieser Überzeugung die unlängst vertretene These, StGs Übersetzung habe die Lektüre Baudelaires in Deutschland geradezu blockiert. Diese These schließt allerdings an eben jene Tendenz zur Diffamierung der Leistung StGs an, die schon in Curtius’ Porträt angelegt war: Poseur und Mystagoge, blockiert er [StG] mit seiner Übersetzungspraxis im Falle Baudelaires beispielhaft den Weg der modernen Lyrik nach Deutschland. Genuine literarische Fremdheit kennzeichnet sein Verhältnis zu Baudelaire. Sie manifestiert sich in den Umdichtungen.80

Literatur Arbogast, Hubert, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges. Eine stilgeschichtliche Untersuchung, Köln u. a. 1967.

73 Hogues, Deutsche Sonderwege, S. 309. 74 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1993 (Gesammelte Werke 1), S. 390. 75 Vgl. Kulcsa´r-Szabo´, Spleen. 76 Fritz Paepcke, Übersetzen als Hermeneutik, in: Peter Lutz Lehmann (Hrsg.), Das Stefan-GeorgeSeminar 1978 in Bingen am Rhein. Eine Dokumentation, Heidelberg 1979, S. 96–114, hier: 96. 77 Vgl. Roussel, Fleurs maladives, S. 179. 78 Friedmar Apel, Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982. 79 Friedhelm Kemp, Einige Anmerkungen zu Problemen der Übersetzung von Gedichten, in: Poetica 22/1990, S. 143–154, hier: 146. 80 Hogues, Deutsche Sonderwege, S. 312.

2. Stefan George: Werk – Zeitgenössische Dichter

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Baudelaire, Charles, Die Blumen des Bösen. Umdichtungen von Stefan George, Berlin 1901. Ders., Sämtliche Werke, Briefe, in acht Bänden, hrsg. v. Friedhelm Kemp u. Claude Pichois, Bd. 3: Les fleurs du mal / Die Blumen des Bösen, München, Wien 1975. Curtius, Ernst Robert, Kritische Essays zur europäischen Literatur, Frankfurt/M. 1984. David, Claude, George et Baudelaire, in: E´tudes germaniques 43/1988, S. 163–178. Furst, Lilian R., Stefan Georges Die Blumen des Bösen: A Problem of Translation, in: Revue de litte´rature compare´e 84/1974, S. 203–217. Hogues, Dirk, Deutsche Sonderwege oder im Westen nichts Neues? Baudelaire in Deutschland: George-Rilke-Nietzsche und die Blockade der Moderne in Literatur und Geschichte, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 32/2008, S. 299–342. Keck, Thomas A., Der deutsche Baudelaire, Heidelberg 1990. Ders., Baudelaires ,Correspondances‘ zwischen Romantik und Moderne. Eine Studie zur übersetzerischen Rezeption eines symbolistischen Paradigmas, in: Willi Huntemann (Hrsg.), Fremdheit als Problem und Programm. Die literarische Übersetzung zwischen Tradition und Moderne, Berlin 1997, S. 75–119. Kemp, Friedhelm, Die Wirkung französischer Dichtung in Deutschland, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1959, S. 23–35. Kulcsa´r-Szabo´, Zolta´n, „Spleen“ und Ideal. Übersetzung als Figuration der Lektüre(n) von Baudelaires Spleen II, in: Arcadia 37/2002, S. 85–99. Melenk, Margot, Die Baudelaire-Übersetzungen Stefan Georges – Original und Übersetzung in vergleichender Stilanalyse, München 1974. Nies, Fritz, Dichter der Modernität „in alter Tracht“. Fünf Eindeutschungen von Baudelaires ,Recueillement‘, in: Marion Steinbach (Hrsg.), „La poe´sie est dans la vie.“ Flaˆnerie durch die Lyrik beiderseits des Rheins, Bonn 2000, S. 231–240. Roussel, Genevie`ve, Des fleurs maladives a` la chanson simple. Stefan George entre Baudelaire et Verlaine, in: Revue des sciences humaines 40/1975, 158, S. 179–210. San Lazzaro, Clementia di, Stefan George als Übersetzer, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 28/1940, S. 203–211. Cornelia Ortlieb

2.12. Zeitgenössische Dichter (SW XV, XVI)* 2.12.1. Entstehung und Überlieferung Übersetzungen machen zusammengenommen etwa die Hälfte von StGs Gesamtwerk aus. Noch nachdrücklicher als die Übertragungen aus Dante, Shakespeare und Baudelaire, die auch eine literarische Genealogie repräsentieren, legt vor allem die zweibändige Anthologie Zeitgenössische Dichter Zeugnis von Umfang, Vielfalt und Vielseitigkeit dieser übersetzerischen Tätigkeit ab. Erschienen seit 1905 bei Georg Bondi in drei Auflagen (1. Aufl. 1905, 2. Aufl. 1913, 3. Aufl. 1923) und 1929 als Band XV und XVI in die Gesamtausgabe aufgenommen, förderte sie wesentlich die ästhetische Identität des George-Kreises. Für die Sammlung, die eine Auswahl zeitgenössischer Lyrik aus dem europäischen Ausland vereinigt, übertrug StG Gedichte von insgesamt 13 Dichtern aus sechs verschiedenen Sprachen (Bd. 1: Rossetti, Swinburne, Dowson, * Dieser Beitrag wurde vor Erscheinen von SW XV und XVI fertiggestellt. Die Nachweise wurden von der Redaktion nach SW vereinheitlicht.

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Jacobsen, Kloos, Verwey, Verhaeren; Bd. 2: Verlaine, Mallarme´, Rimbaud, de Re´gnier, D’Annunzio, Rolicz-Lieder). Mit der Anthologie wollte StG „eine Anzahl Werke der wichtigsten Geister [zusammenstellen] denen man das Wiedererwachen der Dichtung in Europa verdankt“.1 Bereits im Februar 1896 schrieb StG aus Paris an Albert Verwey, er habe die dortigen Dichter für den Plan gewonnen, ein „album zeitgenössischer (in übertragung) ausländischer Reim-Künstler herauszugeben das womöglich mit einem album der neuen deutschen dichter erscheinen soll“.2 Als Grundlage für dieses Album sollten die Übertragungen fremdsprachiger Lyrik dienen, die StG seit 1892 in den BfdK veröffentlichte. Damit wollte er gleichzeitig seinen Jugendtraum von einer ,internationalen Mappe‘ in die Tat umsetzen.3 In den Folgejahren bis 1904 wuchs die Zahl der Übertragungen beträchtlich an, sodass StG für die Zeitgenössischen Dichter aus einem reichen Fundus schöpfen konnte. Das Korpus aus den BfdK vermehrte er noch um zahlreiche bislang unveröffentlichte Übertragungen (Rimbaud, Verhaeren). In den Anhang der Gesamtausgabe nahm StG auch diejenigen Übersetzungen aus den BfdK auf, die nicht von ihm selbst stammten, sondern nur unter seiner „aufsicht und mithilfe“ (XV, 102) entstanden waren. Hintergrund für StGs frühe ,kosmopolitische‘4 Ausrichtung war eine tief empfundene Unzufriedenheit mit dem Niveau der deutschen Literatur seiner Zeit, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in „Innerlichkeit oder in tönendem Pathos leergelaufen“ hatte.5 In der Lyrik dominierten epigonale Dichter und Naturalisten das Feld. Andere europäische Länder übernahmen nun die Funktion von Leitliteraturen: Russland auf dem Gebiet des Romans, Skandinavien für das Drama und schließlich Frankreich für die Lyrik.6 Der junge StG orientierte sich deshalb zunächst an den Literaturen der europäischen Nachbarländer, in denen die ästhetische Moderne – anders als in Deutschland – bereits ihren Durchbruch gefeiert hatte. Sein Ungenügen an den poetischen Ausdrucksmöglichkeiten der deutschen Sprache trieb ihn zur Erfindung von Geheimsprachen, zum Dichten in fremder Sprache und eben auch zum Übersetzen. Ziel dieser Bemühungen war zunächst, zum Stilniveau der romanischen, vor allem französischen Dichtung aufzuschließen: Wenn wir erst formell so weit wie die Romanen vorgeschritten sind wenn unser verfeinertes ohr sich lange genug an vollster metrischer und klanglicher reinheit geweidet und gesättigt: dann erst dürfen wir an eine auflösung und zersetzung der sprache denken und dann erst können unsre freien rhythmen logisch sein musikalisch wirkungsvoll und künstlerisch,7

hieß es 1893 in C. A. Kleins Unterhaltungen im grünen Salon. Die Übertragungen spielten dabei eine wichtige Rolle als „Vehikel der Erneuerung“:8 Sie stellten poetische Muster und gelungene Beispiele bereit, an denen sich die deutschen Dichter zu bilden 1 Vorrede zur ersten Ausgabe, SW XV, S. 5. 2 Albert Verwey en Stefan George, S. 16. 3 Vgl. RB II, S. 29, 205; StG an A. Stahl v. 1.12.1888, in: ZT, S. 9. 4 Im August 1888 schrieb StG aus London an Arthur Stahl, er werde in England „immer kosmopolitischer“, zit. nach ZT, S. 8. 5 Paul, Skandinavienschwelle, S. 1628. 6 Vgl. ebd., S. 1627f. 7 BfdK 1/1893, 3, S. 85. 8 Apel/Kopetzki, Literarische Übersetzung, S. 120.

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und zu messen hatten. So sollte die deutsche Dichtung auf die Höhe derjenigen der Nachbarländer gehoben werden. Auf seinen ausgedehnten Reisen durch Europa hatte sich StG mit der zeitgenössischen Literaturszene vertraut gemacht, etliche Dichter persönlich kennengelernt und Abschriften fremdsprachiger Gedichte angefertigt, von denen sich über 365 erhalten haben, die meisten von französischen Dichtern (vor allem von Gustave Kahn, Henri de Re´gnier, Arthur Rimbaud und Paul Verlaine). Dieses Bündel von Abschriften, das außerdem Verse aus dem Englischen, Italienischen, Spanischen und anderen Sprachen enthält und das heute im Stefan George Archiv aufbewahrt wird, stellte bereits eine Art ,Privatanthologie‘9 des jungen StG dar. Nicht alles davon hat StG indes übersetzt. StG war in der europäischen Literaturszene gut vernetzt, so wie die meisten Vertreter des Symbolismus und Ästhetizismus in den urbanen Zentren Wien, Paris, Brüssel, London und Kopenhagen voneinander wussten und einander kannten. Bekannte und Freunde vermittelten StG relevante Kontakte, sie wiesen ihn auf bedeutende neue Dichtungen hin: Albert Saint-Paul führte StG 1889 in Paris in den Kreis um Mallarme´ ein, und im darauffolgenden Jahr brachte ihm der dänisch-polnische Slawistik-Professor Stanisław Roz˙niecki in Kopenhagen die Lyrik von Jens Peter Jacobsen näher.10 In Wien verständigte sich StG mit Hugo von Hofmannsthal über die ästhetische Avantgarde Europas. Rückblickend erinnerte sich Hofmannsthal an seine erste Begegnung mit StG im Jahre 1891: Wir kamen dann einige Male zusammen: die Namen Verlaine, Baudelaire, Swinburne, Rossetti, Shelley wurden dabei in einer gewissen Weise genannt – man fühlte sich als Verbündete; auch der Name d’Annunzio kam schon vor und natürlich Mallarme´.11

In Holland machte Albert Verwey StG 1895 mit der „Bewegung von Achtzig“ um Willem Kloos und Herman Gorter vertraut und weckte StGs Neugier für den englischen Dichter Ernest Dowson. Die gegenseitige Anerkennung und zum Teil auch freundschaftliche Verbundenheit schlug sich in einem Geflecht von Dedikationen sowie Preis- und Widmungsgedichten nieder.12 So enthält StGs nachgelassene Bibliothek zahlreiche Werke zeitgenössischer europäischer Dichter, teilweise mit handschriftlicher, die persönliche Hochachtung ausdrückender Widmung. Die Anthologie Zeitgenössische Dichter bildet den Schlusspunkt von StGs intensiver, produktiver Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Lyrik aus dem Ausland und ist im Kontext weiterer Kanonisierungsprojekte zu verorten, die StG zu Beginn des 20. Jahrhunderts realisierte. 1901 war eine erste öffentliche Ausgabe seiner Baudelaire-Umdichtungen erschienen, die den fulminanten Auftakt seiner Übersetzungstätigkeit gebildet hatten (eine erste Teilübersetzung hatte StG bereits 1891 zinkogra9 Zum Begriff der ,Privatanthologie‘ vgl. Dietger Pforte, Die deutschsprachige Anthologie. Ein Beitrag zu ihrer Theorie, in: Joachim Bark/Dietger Pforte, Die deutschsprachige Anthologie. Bd. 1: Ein Beitrag zu ihrer Theorie und eine Auswahlbibliographie des Zeitraums 1800–1950, Frankfurt/M. 1970, S. XXXII. 10 Vgl. RB II, S. 41, 274. 11 H. v. Hofmannsthal an Walther Brecht v. 20.2.1929, in: G/H, S. 235. 12 Vgl. beispielsweise in Zeitgenössische Dichter I: Swinburnes „Widmung“ an E. Burne-Jones (XV, 27–31); in Zeitgenössische Dichter II: Rolicz-Lieders „Erinnerung an Paul Verlaine“ (XVI, 85–86), „Widmungen I–VIII“ an StG (XVI, 93–97); vgl. auch StGs Gedicht „Franken“ (VI/VII, 18–19).

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phisch vervielfältigt). Parallel dazu kanonisierte die von StG und Karl Wolfskehl herausgegebene dreibändige Anthologie Deutsche Dichtung (1900–1902) das deutsche dichterische Erbe. Nun sollten auch die Übertragungen zeitgenössischer Dichter, die bisher nur verstreut in den BfdK publiziert und dadurch lediglich einem exklusiven Abonnentenkreis vorbehalten waren, gesichtet und gebündelt werden, um sie in öffentlichen Ausgaben allgemein zugänglich zu machen. Den Schritt an die Öffentlichkeit begründete StG in der Vorrede zur ersten Ausgabe mit der Mittelmäßigkeit der bestehenden Übersetzungen: Dass sie jezt erscheinen wurde zum Teil veranlasst durch den Unwillen über die Entstellungen die als Wiedergabe der verehrten Meister bei uns eben sich anbieten: Weder die verjährte Breite der biedern Nachfahren noch der täuschende Schwung der hurtigen Lehrlinge lassen den neuen Geist durchbrechen. (XV, 5)

In der Tat hatten sich auch andere Übersetzer an den Werken der von StG übertragenen Autoren versucht. Um 1900 florierte das Übersetzungswesen, gestützt von Zeitschriften und Verlagen wie Schuster & Loeffler, Insel und Diederichs, die eine Schlüsselrolle in der Verbreitung zeitgenössischer fremdsprachiger Lyrik spielten. Vor allem die Lyrik der französischen und belgischen Symbolisten wurde vielfach übersetzt, u. a. von Johannes Schlaf, Richard Dehmel, Richard Schaukal und Sigmar Mehring. In besonderem Maß profilierten sich die Österreicher Otto Hauser und Stefan Zweig als Vermittler zeitgenössischer europäischer Literatur. Schon vor Erscheinen der Zeitgenössischen Dichter 1905 lagen also Übersetzungen von Texten Rossettis, Verlaines, Jacobsens, Verhaerens, Kloos’, Verweys und anderen in Buchform vor.13 Bei einigen dieser Autoren konnte StG jedoch zu Recht für sich in Anspruch nehmen, sie „in den früheren Jahrgängen der Blätter für die Kunst zum erstenmal nach Deutschland eingeführt“ zu haben (XV, 5). Seitdem war die Rezeption fortgeschritten und hatte breitere Kreise erfasst. Zutreffend ist deshalb auch StGs Beobachtung, dass die damals noch unbekannten Dichter „heute sich einer ziemlichen Berühmtheit erfreuen“ (XV, 5). StG befand sich somit in einer Konkurrenzsituation. Er hatte den Anspruch, die inzwischen vorgelegten Übersetzungen zu überbieten. Dabei setzte er auf eine Strategie von Exklusivität und qualitativer Hochwertigkeit: Statt auf „gewerbsmässige Vollständigkeit“ – das „Ganze in Fälschung“ – legte StG Wert auf den 13 Vgl. Italienische Lyrik seit der Mitte des 13. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart, in deutschen Übertragungen hrsg. u. mit biographischen Notizen vers. v. Fritz Gundlach, Berlin 1897; Jens Peter Jacobsen, Gesammelte Werke, 3 Bde., aus dem Dänischen v. Marie Herzfeld, Florenz, Leipzig 1898–1899; Europäische Lyrik, hrsg. u. übers. v. Robert Franz Arnold, Leipzig 1899 (Anthologie mit Übersetzungen von Werken u. a. von Jacobsen, Swinburne, Kloos, Verlaine und D’Annunzio); Sigmar Mehring, Die französische Lyrik im 19. Jahrhundert, mit eigenen Übertragungen von S. M., Großenhain, Leipzig 1900; Dante Gabriel Rossetti, Das Haus des Lebens. Eine Sonettenfolge, Übers. u. Nachw. v. Otto Hauser, Leipzig 1900; Otto Hauser, Die niederländische Lyrik von 1875 bis 1900. Eine Studie und Übersetzungen, Großenhain 1901; Otto Hauser, Belgische Lyrik von 1880 bis 1900. Eine Studie und Übersetzungen, Großenhain 1902; Stefan Zweig (Hrsg.), Gedichte von Paul Verlaine. Eine Anthologie der besten Übertragungen, mit 1 Holzschnittporträt v. F. Valloton, Berlin 1902; Französische Lyrik seit der Großen Revolution bis auf die Gegenwart, in Übertragungen hrsg. v. Fritz Gundlach, Leipzig 1904; Otto Hauser, Dänische Lyrik von 1880 bis 1900. Eine Studie und Übersetzungen, Großenhain 1904; E´mile Verhaeren, Ausgewählte Gedichte, in Nachdichtung von Stefan Zweig, Berlin 1904.

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„echten wenn auch kleinen Teil“ in einer „Auslese“, also auf Qualität statt Quantität (XV, 5). Die Anthologie Zeitgenössische Dichter sollte zwar eine größere Leserschaft als den Abonnentenkreis der BfdK ansprechen, war aber dennoch in Aufmachung und Anlage nicht für den Massenmarkt konzipiert, sondern richtete sich mit einer Auflagenhöhe von zunächst rund 1.000 Exemplaren an ein erlesenes Publikum.14 Zeitgleich erschienen in kleiner Anzahl Sonderausgaben mit Übertragungen aus den Werken von Verwey, Mallarme´, Verlaine und Rolicz-Lieder, für deren Herstellung teilweise die Druckbögen der Zeitgenössischen Dichter genutzt werden konnten.15 Titel und Textauswahl standen ein Jahr vor Drucklegung der Anthologie noch nicht endgültig fest. Das Verzeichnis der Erscheinungen der Blätter für die Kunst für das Jahr 1904 kündigte einen Band von StG unter dem Titel Zeitgenössische Europäische Dichtung: Übertragungen aus Rossetti · Swinburne · Dowson · Verlaine · Mallarme´ · More´as · Regnier · d’Annunzio · Jakobsen · Verwey · Lieder an. Der Titel der Erstausgabe von 1905 sowie der Folgeauflagen lautete dann schlicht Zeitgenössische Dichter · übertragen von Stefan George.16 Durch die Streichung der Herkunftsbezeichnung ,europäisch‘ gewann der Titel an Universalität, und durch die Ersetzung des Abstraktums ,Dichtung‘ durch ,Dichter‘ verlagerte sich der Fokus vom Gesamtphänomen zur einzelnen Autorenpersönlichkeit. Das Titeladjektiv ,zeitgenössisch‘ vermied von vornherein jegliche stilistische oder literaturgeschichtliche Etikettierung (weder ,modern‘ noch ,symbolistisch‘ o. ä.), wie es bereits 1892 in den BfdK geheißen hatte: Zwar werden wir auch belehrend und urteilend die neuen strömungen der literatur im inund ausland einführen, uns dabei aber so sehr wie möglich aller schlagworte begeben die auch bei uns schon auftauchen und dazu angethan sind die köpfe zu verwirren …17

Auch bei der Autorenauswahl, die nur teilweise mit der Auswahl in den BfdK identisch war,18 ergaben sich ein Jahr vor Drucklegung noch Änderungen: Jean More´as wurde gestrichen, dafür wurden Willem Kloos, E´mile Verhaeren und Arthur Rimbaud hinzugenommen.

14 Wohl auch deshalb hatte Georg Bondi zunächst Bedenken gehabt, die Anthologie zu verlegen. Offenbar schätzte er deren Absatzchancen zu Anfang eher gering ein. 15 Übertragungen aus den Werken von Albert Verwey [v. Stefan George u. Friedrich Gundolf], Berlin: Verlag der Blätter für die Kunst 1904; Paul Verlaine [Ausgewählte Gedichte, übers. v. Stefan George], Berlin: Verlag der Blätter für die Kunst 1905; Ste´phane Mallarme´, He´rodias. Umdichtung von Stefan George, Ausschmückung v. Melchior Lechter, Berlin: Verlag der Blätter für die Kunst 1905; Übertragungen aus den Werken von Wacław Rolicz-Lieder, Berlin: Verlag der Blätter für die Kunst 1905. 16 In der Gesamtausgabe änderte StG den Untertitel zu Übertragungen, da er für die Gedichte im Anhang nicht eigene Autorschaft beanspruchen konnte. 17 BfdK 1/1892, 1, S. 1. 18 Aus den BfdK fehlten die Übertragungen von John Ruskin, vermutlich aus Gattungsgründen. Erst im Anhang zur Gesamt-Ausgabe wurden Jean More´as, Stuart Merrill, Francis Viele´-Griffin und Albert Saint-Paul aufgenommen.

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2.12.2. Aufbau, Übersetzungsprinzipien und Formales Die in den Zeitgenössischen Dichtern versammelten Gedichte sind nach formalen und chronologischen Prinzipien angeordnet. Der Aufteilung in zwei Bände – einen „mehr germanischen“ (XV, 102) und einen „mehr romanischen“ (XVI, 108) – lag die Unterscheidung nach Sprachgruppen bzw. Kulturräumen zugrunde, wobei StG die Zugehörigkeiten großzügig auslegte. Den französisch schreibenden Belgier E´mile Verhaeren stellte er den Dichtern aus England, Dänemark und Holland an die Seite; den Polen Wacław Rolicz-Lieder ordnete er dem „mehr romanischen“ Band zu, womöglich da Rolicz-Lieder dem Kreis um Mallarme´ nahestand und die Zuordnung zu den prominenteren Symbolisten für den weniger bekannten Polen vorteilhaft war. Innerhalb der Bände rubrizierte StG zunächst formal nach Ländern, dann chronologisch nach Autoren in der Reihenfolge ihres Geburtsdatums und schließlich nach Werken der Autoren in der Reihenfolge ihres Erscheinens. Bei der Abfolge der Länderkapitel wechselte StG jeweils zwischen einem stärker und einem schwächer repräsentierten Land ab. Der erste Band umfasst 41 Gedichte: England (18) – Dänemark (4) – Holland (16) – Belgien (3); der zweite Band 55 Gedichte: Frankreich (28) – Italien (5) – Polen (22).19 Die gestalterische Aufmachung der Zeitgenössischen Dichter strahlte Gediegenheit und Exklusivität aus.20 Jede Abteilung erhielt eine eigene Kapitelüberschrift (Länder, Autoren) auf einer Doppelseite mit darauffolgender Vakatseite. Jedes Gedicht begann auf einer neuen Seite, sodass meist ein Gedicht pro Seite abgedruckt wurde. Das einzelne Gedicht blieb damit weitgehend autonom und konnte für sich wirken. Als lebendige Kolumnentitel liefen in der Kopfzeile links die Autorennamen und rechts die deutschen Titel des jeweiligen Gedichtbandes mit, in denen die Gedichte zuerst erschienen waren. Die ursprüngliche Quelle blieb somit jederzeit präsent, ohne jedoch bibliographisch nachgewiesen zu werden – weder fanden sich Hinweise auf die benutzten Ausgaben noch auf die fremdsprachigen Originaltitel oder die Erscheinungsdaten der Werke. Ein Inhaltsverzeichnis und ein Impressum am Schluss der Bände stellten die einzigen Benutzungshilfen dar. Bemerkenswert ist auch, dass StG alle Texte in StG-Type, in der von ihm praktizierten Kleinschreibung und mit Hochpunkten als Satzzeichen abdrucken ließ, womit er bereits auf typographischer Ebene „den eigenen Stilwillen“ vorgab.21 Anders als die kommentarlosen ersten drei Auflagen der Zeitgenössischen Dichter machte die Gesamtausgabe von 1929 Zugeständnisse an die Erfordernisse einer wissenschaftlich-kritischen Rezeption. Die beiden Bände Zeitgenössische Dichter wurden jeweils mit einem Anhang ausgestattet, der neben zusätzlichen Gedichten ein Nachwort und die einleitenden Sätze zu den Übersetzungen aus den BfdK umfasste. Die Gesamtausgabe – die von StG autorisierte ,endgültige Fassung‘ – erhielt dadurch eine Rahmung, die vordergründig philologischen Ansprüchen entgegenkam: Das jeweilige Nachwort stellte die Publikationsgeschichte dar und gab Fundstellennachweise an, zählte die neu hinzugekommenen Gedichte auf und problematisierte die 19 Die Zahlen beziehen sich auf die ersten drei Auflagen. Ergänzungen in der Gesamt-Ausgabe siehe unten 2.12.2.1. („Auswahl“). 20 Zur Beschreibung der Ausstattung vgl. GPL, S. 64. 21 Paul, Bild – Dichtung – Übersetzung, S. 91.

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Frage der Autorschaft der Gedichte im Anhang, die zwar „unter aufsicht und mithilfe [des Übersetzers, d. h. StGs] entstanden · jedoch nicht ganz als eigene arbeit anzusprechen“ seien (XV, 102; vgl. XVI, 108). Die Zeitgenössischen Dichter zielten darauf ab, das „Wiedererwachen der Dichtung in Europa“ (XV, 5) anhand ausgewählter Proben zeitgenössischer Lyrik zu illustrieren, welche für den zunächst nicht weiter definierten ,neuen Geist‘ repräsentativ sein sollten. Die Autoren wurden somit als Träger einer transnationalen ästhetischen Bewegung und als Symbolfiguren der Moderne vorgestellt. Diese Zielsetzung erforderte eine Synchronisation und Homogenisierung der Texte, die StG zum einen durch ihre Neukontextualisierung in der Anthologie und zum anderen durch das Übersetzungsverfahren leistete. Die einzelnen, durchaus heterogenen Texte wurden so dem höheren Ziel unterworfen, die neue Kunstströmung in Europa in Erscheinung treten zu lassen. Unter dem Begriff ,zeitgenössisch‘ versammelte die Anthologie Übertragungen von Gedichten aus nahezu vier Jahrzehnten (Swinburne und Rossetti bis Verwey) und inkorporierte diese vielgestaltigen Texte in ein neues Bezugssystem, das auf StGs eigenes Werk hin ausgerichtet war. Die fremden Dichter waren für StG „nicht um ihrer selbst willen, sondern nur im Hinblick auf das eigene Werk, in Funktion zur künstlerischen und menschlichen Selbstverwirklichung, von Belang“.22 Generell suchte StG in der Dichtung der Vergangenheit und Gegenwart vor allem einen ihm „vernehmbaren Seelen-ton“,23 wobei „der Geschmack, mit dem er das ihm wesensverwandte Neue suchte und aufzufinden glaubte, […] aber präjudiziert und keineswegs objektiv“ war.24 Am 1. Januar 1900 schrieb StG an Melchior Lechter, der ihn für den Plan einer Anthologie französischer Prosadichtung gewinnen wollte: „Für mich als übertrager kommt in betracht dass ich nur geben kann was geist von gleicher höhe ist – nicht was eine stufe weiter unten steht“.25 StGs dichterischer Instinkt und seine eigenen poetischen Prinzipien gaben also den Ausschlag dafür, welche Texte er für übersetzungswürdig hielt. Von ästhetischen Affinitäten und einer prinzipiellen Ablehnung der epigonalen und naturalistischen Kunst des späten 19. Jahrhunderts abgesehen, folgte aber StGs Auswahl weder inhaltlich noch formal klar umrissenen Kriterien. Vielmehr weist die Anthologie Zeitgenössische Dichter einen großen Variantenreichtum an Motiven und Tönen auf. Schon das rein quantitative Verhältnis der aufgenommenen Gedichte gibt Aufschluss über StGs Präferenzen und Wertungen: Von den insgesamt 41 Gedichten aus dem ersten Band der Zeitgenössischen Dichter stammen 18 Gedichte von englischen Dichtern (Rossetti, Swinburne, Dowson) und fast ebenso viele, 16 Gedichte, von holländischen Lyrikern (Kloos, Verwey). Die holländische Literatur erhält damit einen auffallend privilegierten Platz neben der in Deutschland traditionell stark rezipierten englischen Literatur. Dieses Bild verstärkt sich durch die Beigaben in der Gesamtausgabe. Die Gedichte des Dänen Jacobsen, der den Engländern und Niederländern nicht an Bedeutung nachsteht, und des Belgiers Verhaeren – von dem als 22 Gsteiger, Französische Symbolisten, S. 73. 23 So StG gegenüber Karl Wolfskehl im Zusammenhang mit dessen gemeinsam mit Friedrich von der Leyen herausgegebenen Ältesten deutschen Dichtungen (1909), vgl. EL, S. 187. 24 Kohlschmidt, Georges Jacobsen-Übertragungen, S. 581. 25 StG an M. Lechter v. 1.1.1900, zit. nach KTM, S. 194.

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einzigem ,germanischen‘ Dichter zuvor keine Gedichte in den BfdK erschienen waren – nehmen dagegen weniger Raum ein.26 Eine ähnlich eigenwillige Gewichtung zeigt sich im zweiten Band der Zeitgenössischen Dichter, der insgesamt 55 Gedichte enthält: Die polnische Dichtung ist mit 22 Gedichten (alle von Rolicz-Lieder) fast genauso stark vertreten wie die französische Dichtung mit 28 Gedichten (Verlaine, Mallarme´, Rimbaud, de Re´gnier). Italien ist mit nur fünf Gedichten von D’Annunzio dabei.27 2.12.2.1. Auswahl Zeitgenössische Dichter I: England – Dänemark – Holland – Belgien England 1893 hatte StG in der ersten Folge der BfdK „Frankreich und England, die in der lyrischen dichtung eine neue ära beginnen“, zu Vorbildern der eigenen neuen Bewegung ernannt.28 Als Vertreter Englands stellte StG in den Zeitgenössischen Dichtern I drei Dichter vor: den Präraffaeliten Dante Gabriel Rossetti (1828–1882), den De´cadence-Dichter Algernon Charles Swinburne (1837–1909) und den früh verstorbenen Symbolisten Ernest Dowson (1867–1900).29 Dante Gabriel Rossettis dicht komponierte, selbstreflexive Lyrik, sein Schönheitskult und seine Sakralisierung der Liebe übten großen Einfluss auf Symbolismus und Ästhetizismus aus.30 Von Rossetti, „der sowol in malerei als in dichtung eine neue zeit begann“,31 brachte StG in den Zeitgenössischen Dichtern 13 Sonette: 12 aus Rossettis Hauptwerk, der Sequenz The House of Life, und das Gedicht „The wine of circe“ („Der Wein der Circe“, zu einem Bild von Edward Burne-Jones) aus dem Zyklus Sonnets for Pictures.32 Knapp die Hälfte dieser Gedichte war 1894 bereits in der zweiten Folge der BfdK erschienen. Die andere Hälfte veröffentlichte StG erstmals in den Zeitgenössischen Dichtern. Edgar Salin berichtet, StG habe dabei Gundolfs Rossetti-Übertragungen von 1899 „hier und da als Unterlage“ verwendet (ES, 315f.). Übersetzungsvorlage war eine 1873 bei Tauchnitz erschienene Ausgabe von Rossettis Poems.33 Spuren von StGs Rossetti-Rezeption finden sich vor allem in seinem Teppich des Lebens.34 26 In der Gesamtausgabe (GA XV) ergänzte StG den ersten Band der Zeitgenössischen Dichter um jeweils ein Gedicht von Rossetti und Verwey im Hauptteil sowie im Anhang um vier Gedichte von Jacobsen, Verwey und dem neu hinzugenommenen Herman Gorter. 27 In die Gesamtausgabe (GA XVI) wurden zusätzlich jeweils ein Gedicht von Verlaine und RoliczLieder im Hauptteil sowie im Anhang zwei Gedichte von Jean More´as und jeweils ein Gedicht von Stuart Merrill, Francis Viele´-Griffin und Albert Saint-Paul aufgenommen. 28 BfdK 1/1893, 4, S. 113. 29 Vgl. II, 4.3. 30 Neben StG und anderen setzten sich Swinburne, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt produktiv mit Rossetti auseinander. 31 BfdK 2/1894, 4, S. 123. 32 In GA XV ergänzte StG seine Rossetti-Auswahl noch um ein Gedicht aus The House of Life. 33 In StGs Bibliothek (StGA): Dante Gabriel Rossetti, Poems, Leipzig 1873. 34 Laut Ute Oelmann im Anhang zu SW V, S. 91. Verwey erinnert sich, StG habe bei seinem Aufenthalt in Noordwijk im Sommer 1898 am Teppich des Lebens gearbeitet und Werke von Rossetti und Swinburne gelesen, vgl. ZT, S. 77.

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Außerdem nahm StG in den ersten Band der Zeitgenössischen Dichter fünf Gedichte aus Algernon Charles Swinburnes skandalumwobenem Gedichtband Poems and Ballads (1866; 2. Aufl. 1878, darin neu das von StG übertragene „A Ballad of Dreamland“; 3. Aufl. 1889) auf. Davon war eine Übersetzung (die an Edward BurneJones gerichtete „Widmung“) bereits im August 1896 in den BfdK erschienen. StG hat Swinburne nicht persönlich gekannt. Im Dezember 1891 hatten sich StG und Hugo von Hofmannsthal u. a. über Swinburne und D’Annunzio unterhalten. Am 5. Januar 1893 erschien in der Deutschen Zeitung in Wien ein Essay Hugo von Hofmannsthals über den englischen Dichter; StG bedankte sich umgehend für den „herrlichen aufsatz“ (G/H, 57).35 Vielleicht gab dieser Essay den Impuls für die Veröffentlichung einer Übertragung von Swinburnes „A Ballad of Dreamland“ im März 1893 in der ersten Folge der BfdK, die mit einem langen Zitat aus besagtem Artikel eingeleitet wurde. Diese Übersetzung stammte allerdings nicht von StG selbst, sondern von Georg Edward, einem Kommilitonen Wolfskehls. Von StG erschien nur eine einzige Swinburne-Übertragung in den BfdK.36 Dieses und vier weitere Gedichte nahm er in die Zeitgenössischen Dichter auf – die Auswahl zeigt Swinburnes souveränen Einsatz vielfältiger Strophenformen und komplexer Metren. Swinburnes teilweise laszive und obszöne Inhalte dürften StG eher abgeschreckt haben – solche „sinnlichen Ausbrüche“ hat StG in seinen Übertragungen gemildert.37 StGs Distanz zu Swinburne wurde mit den Jahren größer. Als Melchior Lechter im Dezember 1918 mit der Bitte um eine Swinburne-Übersetzung an ihn herantrat, antwortete StG: Dass ich aber heute noch zu einer umformung solcher verse tauge glaube ich kaum, es ist ein wahrer sturzbach von klängen und bildern – ohne als ganzes bildhaft zu sein . . wie mir deucht eher die stufe eines idealen Hofmannsthal (wenns den gäbe!) als die meine . .38

Von den drei englischen Dichtern war Ernest Dowson der einzige, den StG persönlich kennenlernte. Dowson war Mitglied des Rhymers’ Club, einer 1890 ins Leben gerufenen Londoner Dichtergruppe, zu der u. a. William Butler Yeats und Ernest Rhys gehörten. Die Dichter des Rhymers’ Club trafen sich regelmäßig zum Essen und Rezitieren und brachten in den Jahren 1892 und 1894 zwei Anthologien auf den Markt. Im Frühjahr 1897 war Verwey in London auf Dowsons Lyrik aufmerksam geworden und hatte StG auf den Autor hingewiesen. Daraufhin lieh sich StG im Herbst 1897 von Verwey ein Exemplar von Dowsons Verses (1896) aus, das Verwey ihm später als Geschenk überließ.39 Auch wenn StG noch im Januar 1898 bei Dowson „den Grossen Zug“ vermisste,40 suchte er ihn im Sommer desselben Jahres persönlich in London auf und berichtete Verwey, Dowson sei „sehr seltsam, hochgradig fühlsam, an unnatürlich gedrehte gesichter Aubr. Beardsleys erinnernd und – etwas leben-los!“41 StGs Übertragungen von Dowsons Gedichten „To one in Bedlam“ („An einen in Bedlam“) 35 Am 9. März 1893 bat C. A. Klein Hofmannsthal für die BfdK um einen „artikel über Englisches woran wir mangel haben“ (G/H, 59). 36 „Widmung“, in: BfdK 3/1896, 4, S. 123–127. 37 Marx, Übertragungen englischer Dichtung, S. 10. 38 StG an M. Lechter v. 12.1.1919, in: Melchior Lechter/Stefan George, Briefe, kritische Ausg., hrsg. v. Günter Heintz, Stuttgart 1991, S. 320. 39 In StGs Bibliothek (StGA): Ernest Dowson, Verses, London 1896. 40 Albert Verwey en Stefan George, S. 48. 41 Ebd., S. 56.

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und „Seraphita“ in der vierten Folge der BfdK 1899 waren die ersten Übersetzungen Dowsons ins Deutsche überhaupt. In der begleitenden Notiz führte StG Dowson als „Freund und Kunstgenosse[n] Beardsleys“ ein, da einige Gedichte Dowsons in der von Aubrey Beardsley graphisch gestalteten Zeitschrift The Yellow Book (1894–1897) erschienen waren. Für die Zeitgenössischen Dichter übertrug StG 1902 noch ein weiteres Gedicht „Dregs“ („Hefe“) aus den Verses. Den verzweifelten, nihilistischen Ton von Dowsons dekadent gestimmter Lyrik milderte StG in seiner Übertragung ab.42 Dänemark StG war der erste deutsche Übersetzer von Jens Peter Jacobsens (1847–1885) Lyrik,43 auch wenn seine Beschäftigung mit dem „grössten modernen dänischen stylisten“44 eher temporär und oberflächlich blieb. Kurz nach einem Aufenthalt in Kopenhagen 1890 übertrug StG fünf Gedichte von Jacobsen.45 Vier davon publizierte er in den Zeitgenössischen Dichtern, zwei waren zuvor bereits in der ersten Folge der BfdK erschienen („Arabeske zu einer Handzeichnung Michelangelos“, „Im Garten des Serail“, „See-Stück“, „Lass frühling kommen“). In den Anhang der Gesamtausgabe nahm er auch das fünfte Gedicht mit auf („Irmelin Rose“; XV, 105). Als Referenzausgabe benutzte StG die Jacobsen-Edition von Edvard Brandes aus dem Jahre 1888, auf die er auch in den BfdK verwies.46 Beim Verständnis des Dänischen halfen StG seine Norwegisch-Kenntnisse, die er schon zu Schulzeiten erworben hatte, um Ibsen im Original lesen zu können.47 Von Jacobsen wählte StG diejenigen Gedichte aus, die seinen eigenen Bildwelten am nächsten kamen; Gedichte, die ins Romantisch-Balladeske tendierten, ließ er beiseite.48 Holland Der niederländischen Dichtung stand StG besonders nahe. Die holländische „Bewegung von Achtzig“, die vor allem durch Willem Kloos, Albert Verwey und Herman Gorter repräsentiert wurde,49 besaß für StGs eigene Bestrebungen starke Vorbildfunktion. In der sechsten Folge der BfdK sprach er von der „ruhmvollen für uns vorbildlichen kunsterhebung der 80er jahre“ und charakterisierte sie als „bewegung zu gunsten der wiedererwachten und verinnerlichten kunst“ (XV, 103). Die jungen holländischen Lyriker betrachtete StG als Wahl- und Geistesverwandte, die niederländische Dichtung als „nächste und glorreichste schwester der deutschen dichtung“ (XV, 103). Von Willem Kloos (1859–1938) nahm StG vier Sonette – impressionistisch-sensitive Liebesgedichte – aus dem Gedichtband Verzen (1894) in die Zeitgenössischen Dichter auf, die zuvor bereits in der dritten Folge der BfdK erschienen waren. Auf 42 Vgl. Emig, Übertragene Dekadenz, S. 331. 43 Vgl. Paul, Bild – Dichtung – Übersetzung, S. 81. Zum Jacobsen-Kult um die Jahrhundertwende vgl. ders., Skandinavienschwelle, S. 1630f. 44 BfdK 1/1893, 5, S. 152. 45 Vgl. Kohlschmidt, Georges Jacobsen-Übertragungen, S. 578. 46 In StGs Bibliothek (StGA): Jens Peter Jacobsen, Samlede skrifter, 2 Bde., København 1888. 47 Vgl. Kohlschmidt, Georges Jacobsen-Übertragungen, S. 578f. 48 Vgl. ebd., S. 581f. 49 In die Zeitgenössischen Dichter I nahm er Gorter zunächst nicht mit auf; erst im Anhang zu GA XV druckte er die Übertragung aus Gorters berühmtestem Gedicht „Mai“ wieder ab (XV, 111–112).

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Willem Kloos, der die Achtziger-Bewegung mitbegründet hatte und mit seiner Kunst einen elitären ästhetischen Individualismus vertrat,50 wurde StG durch Albert Verwey aufmerksam. Kloos war Verweys dichterisches Vorbild und Mentor gewesen. Die homoerotisch grundierte Freundschaft zwischen den beiden holländischen Dichtern zerbrach im Jahr 1888, als Verwey sich mit Katharina von Vloten verlobte. Seine Trauer über den Verlust des geliebten Freundes verarbeitete Verwey in seinem Gedichtzyklus Van de Liefde die Vriendschap heet (Von der Liebe die Freundschaft heißt) (1889 in Verzamelde gedichten), aus dem StG seine ersten Verwey-Übersetzungen anfertigte. Albert Verwey (1865–1937) war 1894 auf die BfdK aufmerksam geworden und hatte daraufhin Kontakt mit StG aufgenommen. Die beiden Dichter verband seit 1895 eine intensive Freundschaft, die von gemeinsamen Zielen und dem beiderseitigen Interesse an literarischem Austausch getragen war. Edgar Salin meinte, in der Dichtung StGs und Albert Verweys einen verwandten Ton zu hören.51 Albert Verwey war in den Zeitgenössischen Dichtern zunächst mit einer umfangreichen Auswahl von 13 Gedichten aus vier Gedichtbänden vertreten, darunter das lange szenische Gedicht „Nacht in der Alhambra“.52 Die Erscheinungsdaten der vier Gedichtbände liegen zwischen 1889 und 1903 (Verzamelde gedichten [1889]; De Nieuwe Tuin [1898]; Het brandende braambosch [1899]; De kristaltwijg [1903]). Verweys Schaffen ist somit breiter repräsentiert als das Werk der übrigen zeitgenössischen Dichter, bei denen sich StG zumeist auf das Frühwerk oder die bekanntesten Stücke konzentrierte. Aufgrund der engen persönlichen Verbindung war StG stets über Verweys laufende Produktion im Bilde und konnte sogar noch ein Gedicht aus Verweys damals aktuellster Publikation De kristaltwijg (1903) für die Zeitgenössischen Dichter auswählen, nämlich das an Ludwig Derleth gerichtete Gedicht „Michael“.53 In der Gesamtausgabe fügte StG noch das Gedicht „An Friedrich Nietzsche“54 sowie im Anhang das Gedicht „Der schöne Schein“ und die Fortsetzung von „Sterne I“ hinzu; im Nachwort würdigte er Verwey ausführlich und verwies eigens auf die Sonderausgabe mit Verwey-Übertragungen von 1904 (XV, 102). Anlässlich des Abdrucks von „An Friedrich Nietzsche“ in der neunten Folge der BfdK 1910 schrieb Verwey an seine Frau Kitty: „Mein Nietzsche erscheint verdeutscht, von mir selbst unterzeichnet, eine ehrenvolle Einverleibung“.55 Belgien Zu Belgien hatte der junge StG durch seine Freundschaft mit Edmond Rassenfosse und Paul Ge´rardy enge Beziehungen. Beide sind jedoch nicht in den Zeitgenössischen Dichtern vertreten: Von Rassenfosse hat StG nichts übersetzt, und Ge´rardys Gedichte erschienen in den BfdK als deutsche Originalbeiträge. Als Repräsentant

50 Vgl. Herbert van Uffelen, Moderne niederländische Literatur im deutschen Sprachraum 1830–1990, Münster 1993, S. 29. 51 Vgl. Albert Verwey, Ausgewählte Gedichte, übertragen u. eingeleitet v. Edgar Salin, Düsseldorf, München 1954, S. 18. 52 Zuerst in: BfdK 4/1899, 5, S. 151–155. 53 Auch in: BfdK 7/1904, S. 147. 54 Zuerst in: BfdK 9/1910, S. 44–45. 55 A. Verwey an Kitty Verwey v. 23.1.1910, zit. nach Goldschmidt (Hrsg.), George und Holland, S. 70f.

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Belgiens nahm StG E´mile Verhaeren (1855–1916)56 mit drei Übertragungen auf. Verhaerens Name war zuvor weder in den BfdK noch im Verzeichnis der Erscheinungen der Blätter für die Kunst für das Jahr 1904 erwähnt worden. Die von StG übersetzten drei Gedichte „Le cri“ („Der Schrei“), „Les arbres“ („Die Bäume“) und „Le moulin“ („Die Mühle“) stammten aus Verhaerens frühem Gedichtband Les soirs (1888), der noch im Zeichen von Dekadenz und Symbolismus stand, während Verhaerens späteres Werk sich der modernen Industrie- und Großstadtwelt widmete. Nach eigenen Angaben hatte StG Verhaerens Gedichte bereits 1889 kennengelernt; Mitte der 1890er-Jahre waren sich die beiden wohl in Tilff oder Brüssel persönlich begegnet.57 In StGs Nachlass befindet sich eine Nummer der Zeitschrift Anthologie contemporaine des e´crivains franc¸ais et belges aus dem Jahr 1888 mit Gedichten von Verhaeren, u. a. „Le moulin“. 1895 waren in der Münchner Zeitschrift Allgemeine Kunstchronik zwei Verhaeren-Gedichte („Le cri“, „Les arbres“) erstmals in deutscher Fassung von einem anonymen Übersetzer erschienen, in derselben Spalte, in der StGs Übersetzung aus Albert Saint-Pauls Pe´tales de Nacre abgedruckt wurde.58 Auf diese Übersetzungen verwies StG in einem Brief an Verhaeren vom Januar 1896, in dem er sich für die Zusendung von dessen Gedichtband Les Villes Tentaculaires (1895) bedankte. Von beiden Gedichten fertigte StG dann eigene Übersetzungen für die Zeitgenössischen Dichter an. Zeitgenössische Dichter II: Frankreich – Italien – Polen Frankreich StGs Begegnung mit den französischen Symbolisten war sowohl für sein eigenes Werk als auch für die Rezeption des Symbolismus in Deutschland von großer Bedeutung.59 StG war zwar nicht der einzige Dichter im deutschsprachigen Raum, der sich rezeptiv und produktiv mit dem französischen Symbolismus auseinandersetzte, jedoch nimmt er eine Sonderstellung ein, da er „von allen deutschen Autoren die tiefsten und umfassendsten […] Einsichten in das Wesen des französischen Symbolismus besaß“.60 StGs Übertragungen von Verlaine, Mallarme´ und de Re´gnier waren die ersten im deutschsprachigen Raum überhaupt.61 In den zweiten Band der Zeitgenössischen Dichter nahm StG neben Verlaine und Mallarme´ noch Arthur Rimbaud auf und komplettierte damit das „symbolistische Dreigestirn“.62 Die aus heutiger Sicht eher zweitrangigen Mallarme´-Schüler Francis Viele´-Griffin, Stuart Merrill, Jean More´as und Albert Saint-Paul, aus deren Werken in der ersten Folge der BfdK Übertragungen erschienen waren, nahm StG nur in den Anhang der Gesamtausgabe auf. In den Zeitgenössischen Dichtern veröffentlichte StG zunächst 18 Übertragungen aus drei Gedichtbänden von Paul Verlaine (1844–1896): sechs Gedichte aus dessen 56 In der Gesamtausgabe gibt StG Verhaerens Todesjahr irrtümlich mit 1917 an (XV, 95). 57 Vgl. ZT, S. 28, 42, 53. In StGs Bibliothek (StGA): E´mile Verhaeren, Les moines, Bruxelles [1888]. 58 Allgemeine Kunstchronik 19/1895, 4, S. 119. Vgl. Gsteiger, Französische Symbolisten, S. 91. 59 Vgl. Gsteiger, Französische Symbolisten, S. 73. 60 Ebd., S. 45. 61 Vgl. II, 4.2. Eine intensive Rezeption des französischen Symbolismus allgemein setzte in Deutschland erst nach dem Tod Verlaines im Jahr 1896 ein, vgl. Gsteiger, Französische Symbolisten, S. 79, 131. 62 Ebd., S. 5.

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früher Sammlung Feˆtes Galantes (1869) mit ihren von Watteau inspirierten, melancholisch grundierten, bukolischen Rokoko-Szenerien (u. a. „Mondenschein“; XVI, 11, „Gefühlsames zwiegespräch“; XVI, 16), neun Gedichte aus dem autobiographisch geprägten Gedichtband Romances sans Paroles (1874) (u. a. „Es tränet in mein herz“; XVI, 19) und drei Gedichte aus dem religiösen Spätwerk Sagesse (1881) (u. a. „Vermummter guter reiter“; XVI, 26). Nur acht dieser Gedichte waren zuvor bereits in der ersten und zweiten Folge der BfdK erschienen. In die erste Auflage der Zeitgenössischen Dichter nahm StG zehn weitere Übertragungen auf und in die Gesamtausgabe schließlich noch zwei Neuübersetzungen aus Verlaines frühestem Gedichtband Poe`mes saturniens (1866), darunter „Chanson d’automne“ („Herbstlied“; XVI, 10), eines der am häufigsten übersetzten Gedichte Verlaines.63 Diese erhebliche Aufstockung ist vermutlich der Tatsache geschuldet, dass die Bekanntheit Verlaines in Deutschland seit StGs ersten Übertragungen 1892 stark zugenommen hatte und Verlaine für die meisten Deutschen mittlerweile die „zentrale Erscheinung der modernen französischen Lyrik“64 war. Auch StGs Bild von Verlaine hatte sich mit den Jahren offenbar gewandelt. Hatte er kurz nach Verlaines Tod 1896 noch notiert: „Verlaine zuletzt das haupt der Decadenten galt in seiner umgebung als ein bedeutendes genie. Auch die gunst des publikums blieb ihm nicht versagt. und doch haben seine Dichtungen die grossen hoffnungen die man auf den Dichter setzte nie ganz erfüllt“,65 so schrieb er 1903 in seiner Lobrede auf Verlaine: Was aber ein ganzes dichtergeschlecht am meisten ergriffen hat das sind die Lieder ohne Worte – strofen des wehen und frohen lebens . . hier hörten wir zum erstenmal frei von allem redenden beiwerk unsre seele von heute pochen: wussten dass es keines kothurns und keiner maske mehr bedürfe und dass die einfache flöte genüge um den menschen das tiefste zu verraten. (XVII, 49)

Von Ste´phane Mallarme´ (1842–1899) nahm StG insgesamt drei Gedichte in die Zeitgenössischen Dichter auf: „Brise marine“ („Seebrise“),66 „Apparition“ („Erscheinung“) und einen längeren Ausschnitt aus dem szenischen Gedicht „He´rodiade“ („Herodias“),67 alle drei aus der Sammlung Poe´sies (1887), die Mallarme´s zweiter, sogenannter ,dunkler‘ Werkphase angehört. Über Albert Saint-Paul hatte StG 1889 Zugang zu Mallarme´s berühmten Dienstagstreffen in der Rue de Rome gefunden. Mallarme´s exklusives Literaturkonzept hatte StG stark beeindruckt;68 in den BfdK heißt es:

63 Vgl. ebd., S. 200, 208f. 64 Ebd., S. 197. 65 Notiz aus dem Nachlass v. 8.1.1896 (zwei Tage nach Verlaines Tod), datiert auf den 10.1.1896, zit. nach RB II, S. 223. 66 Zuerst in: BfdK 1/1892, 2, S. 55. Hier diente als Übersetzungsvorlage eine Nummer der Zeitschrift Anthologie contemporaine des e´crivains franc¸ais et belges (10/1887, 1) mit Gedichten von Mallarme´ (Album de vers et de prose), wie das Exemplar in StGs Bibliothek belegt (StGA). 67 Obwohl Mallarme´ über 30 Jahre an der „He´rodiade“ arbeitete, blieb das Werk Fragment. Nur der mittlere der drei Teile wurde zu Mallarme´s Lebzeiten veröffentlicht („Sce`ne: La nourrice – He´rodiade“, in: Le Parnasse Contemporain 1869) – und genau diese Szene übersetzte StG. 68 Vgl. Gsteiger, Französische Symbolisten, S. 71.

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Deshalb o Dichter nennen dich genossen und jünger so gerne meister weil du am wenigsten nachgeahmt werden kannst und doch so grosses über sie vermochtest, weil alle in sinn und wolklang nach der höchsten vollendung streben damit sie vor deinem auge bestehen, weil du für sie immer noch ein geheimnis bewahrst und uns den glauben lässest an jenes schöne eden das allein ewig ist.69

Sinnbild für die Verehrung Mallarme´s im George-Kreis ist die von Melchior Lechter gestaltete Prachtausgabe der Herodias (1905), die in nur neun Exemplaren erschien und heute ein Rarissimum ist (KTM, 195). StG dankte Melchior Lechter im April 1905 für „die wunderbare Herodias für deren erdenferne nichts besser passen konnte als die blauundgoldnen buchstaben und der sagenhafte blauundgoldne vogel des stolzes!“ (KTM, 196) Von Arthur Rimbaud (1854–1891),70 Verlaines jugendlichem Freund und Geliebten, nahm StG nur drei Gedichte aus dem Band Poe´sies (1871) auf. Die RimbaudÜbertragungen erschienen in den Zeitgenössischen Dichtern zum ersten Mal. 1904 lieh sich StG von Verwey eine Rimbaud-Ausgabe, da er keine eigene besaß. Wie die meisten deutschen Übersetzer der Jahrhundertwende konzentrierte er sich auf das Jugendwerk des frühreifen Dichters, das in klassisch-romantischer Tradition steht und in dem sich Rimbaud noch konventioneller metrischer Formen bediente.71 StG übertrug mit „Le dormeur du val“ („Der schläfer im tal“) und „Voyelles“ („Vokale“) zwei der damals schon bekanntesten Gedichte Rimbauds. Das formal avancierte Gedicht „Teˆte de faune“ („Faunskopf“) übersetzte StG erstmals ins Deutsche. Von Henri de Re´gnier (1864–1936) gab StG in den Zeitgenössischen Dichtern vier Übertragungen, zwei Gedichte aus Erste Verse,72 die zuvor bereits in den BfdK veröffentlicht worden waren – die ersten deutschen Re´gnier-Übersetzungen überhaupt –,73 und zwei Gedichte aus Tel qu’en songe (1892). Unter den jungen Dichtern, die StG 1889 im Kreis von Mallarme´ kennenlernte, soll Henri de Re´gnier den größten Eindruck auf ihn gemacht haben (ZT, 11). De Re´gniers suggestive Lyrik integrierte zugleich parnassische und symbolistische Einflüsse. 1911 wurde er in die Acade´mie Franc¸aise gewählt. Italien StG nahm insgesamt fünf Gedichte des italienischen Ästhetizisten Gabriele D’Annunzio (1863–1938) in die Zeitgenössischen Dichter auf, die zuvor bereits in den BfdK erschienen waren (1893) und eine motivische Nähe zu Gedichten aus StGs Algabal und dem Jahr der Seele aufwiesen.74 Die Gedichtauswahl hatte StG aus der 69 BfdK 1/1893, 5, S. 137. 70 StG gab Rimbauds Geburtsjahr irrtümlich mit 1855 statt mit 1854 an. 71 Vgl. Gsteiger, Französische Symbolisten, S. 214f. 72 Es ist unklar, welcher Band StGs Übersetzung zugrunde lag: Er besaß Exemplare von Episodes (1888) und Poe`mes (1895) mit handschriftlicher Widmung de Re´gniers. 73 Vgl. die Bibliographie der deutschen Übersetzungen bei Gsteiger, Französische Symbolisten, S. 307f. 74 Vgl. Hans Hinterhäuser, D’Annunzio und die deutsche Literatur, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 201/1965, S. 241–261, hier: 248. Die ersten deutschen Übersetzungen waren 1888 in einer Anthologie von Julius Litten erschienen (Julius Litten, Panzacchi, Stecchetti, d’Annunzio. Neuere italienische Lyrik, Leipzig 1888). Ab Mitte der 1890er-Jahre avancierte D’Annunzio zum Kultautor des Ästhetizismus. Seine Romane, Dramen und Gedichte wurden zeitnah ins Deutsche übersetzt; vgl. Elisabeth Arend-Schwarz, Die Literatur und ihr Gedächtnis: Zur deutschsprachigen Anthologie italienischer Literatur vom 18. Jahrhundert bis

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italienischen Zeitschrift Nuova Antologia übernommen, die 1891 einen Vorabdruck von fünf Gedichten aus dem späteren Zyklus Poema paradisiaco (1893) gebracht hatte: „Ai lauri“ („An die Lorbeeren“), „Consolazione“ („Trost“), „L’inganno“ („Der Betrug“), „Un ricordo“ („Eine Erinnerung“) und „Un sogno“ („Ein Traum“).75 Im selben Jahr 1891 hatten sich StG und Hofmannsthal über D’Annunzio unterhalten. Einige Monate nach der Veröffentlichung von StGs Übertragungen in den BfdK 1893 erschien ein ausführlicher Artikel von Hofmannsthal über D’Annunzio in der Frankfurter Zeitung (9. August 1893).76 StG und D’Annunzio sind sich nie persönlich begegnet, sie versicherten sich aber schriftlich ihrer gegenseitigen Hochachtung und sandten sich ihre neusten Werke zu. D’Annunzio hatten StGs Übertragungen seiner Gedichte sehr gefallen77 und so hatte er 1902 angefragt, ob StG sein Drama Francesca da Rimini ins Deutsche übersetzen wolle; StG lehnte jedoch ab, die Übersetzung besorgte schließlich Karl Gustav Vollmoeller. Polen Der polnische Dichter Wacław Rolicz-Lieder (1866–1912) war in den Zeitgenössischen Dichtern mit 22 Gedichten aus fünf Gedichtbänden78 der am stärksten vertretene Dichter. Alle Gedichte waren zuvor bereits als Originalbeiträge in den BfdK erschienen.79 In der Gesamtausgabe fügte StG noch drei zusätzliche Gedichte hinzu („Widmungen VI, VIII“, „Hier ist die bei nacht“), eines davon als Erstveröffentlichung. StG übertrug die Gedichte seines engen Freundes Rolicz-Lieder, den er in Paris im Kreis um Mallarme´ kennengelernt hatte, anhand von französischen und/oder deutschen Interlinearversionen, die Rolicz-Lieder zu diesem Zwecke anfertigte.80 Für die Übersetzungen machte sich StG mit dem Klang der polnischen Sprache vertraut. Durch seine Transkriptionen traf Rolicz-Lieder bereits eine Vorauswahl der zu übersetzenden Gedichte; über die endgültige Auswahl entschied StG.81 Rolicz-Lieder strebte nach einer exklusiven, hermetischen Kunst, die sich in dunklen Gedichten mit komplexer Syntax und Wortwahl äußerte.82 In der Überhöhung der Dichterrolle traf sich seine Einstellung mit der StGs.83 Mit seinen extremen ästhetischen Positionen manövrierte Rolicz-Lieder sich in Polen ins dichterische Abseits: Nachdem seine ersten Publikationen auf scharfe Kritik gestoßen waren, veröffentlichte er nur noch im heute, in: Dies./Volker Kapp (Hrsg.), Übersetzungsgeschichte als Rezeptionsgeschichte. Wege und Formen der Rezeption italienischer Literatur im deutschen Sprachraum vom 16. bis 20. Jahrhundert, Marburg 1993, S. 81–106, hier: 94. 75 Vgl. Vignazia, D’Annunzio-Übersetzungen, S. 13. Auf die Anthologie als Quelle verwies StG auch in der ersten Folge der BfdK 1893. 76 Vgl. Vignazia, D’Annunzio-Übersetzungen, S. 14. 77 Am 13. Oktober 1898 schrieb Hugo von Hofmannsthal an StG: „In Florenz hatte ich ein kurzes mir sehr erfreuliches Zusammentreffen mit Gabriele d’Annunzio, der sich Ihrer Theilnahme, Ihrer Übertragungen mit Freude erinnert und von dem wir viel überaus erfreuliches zu erwarten haben“ (G/H, 137). 78 Poezje I, Krako´w 1889; Poezje II, Krako´w 1891; Wiersze III, Paris u. a. 1895; Moja Muza, Krako´w 1896; Wiersze V, Krako´w 1898. 79 Rolicz-Lieder wurde somit eher als Mitglied des Kreises denn als ausländischer Dichter präsentiert, vgl. K, S. 89. 80 Vgl. Rolicz-Lieder/George, Gedichte, Briefe, S. 127. 81 Vgl. ebd., S. 128. 82 Vgl. ebd., S. 133. 83 Vgl. ebd., S. 129f.

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Selbstverlag.84 Rolicz-Lieder gehörte somit zur Gruppe der „kaum bekannten“ Autoren, die StG in der Vorrede zu den Zeitgenössischen Dichtern angekündigt hatte (XV, 5). StGs Vorhaben, solchen wenig bekannten Dichtern in Deutschland zu größerer Berühmtheit zu verhelfen, ging im Falle Rolicz-Lieders auf: Indem StG ihn den prominenten Namen Verlaine, Mallarme´, Rimbaud und D’Annunzio an die Seite stellte, sicherte er ihm eine sonst schwer zu erlangende Aufmerksamkeit. Die Gedichte Rolicz-Lieders profitierten nicht zuletzt auch vom Prestige des Übersetzers StG. Dank dieser Übertragungen fand Rolicz-Lieder Eingang in die deutschsprachigen Anthologien des 20. Jahrhunderts.85 2.12.2.2. Übersetzungsprinzipien Als ,Übertragungen‘ kennzeichnete StG den Inhalt der Zeitgenössischen Dichter im Untertitel.86 Dem Anspruch nach sollten seine Übertragungen keine bloße Vermittlung von der einen in die andere Sprache leisten, sondern kongeniale Nachschöpfungen „aus dem Geist des Originals“ sein.87 Im Vorwort zu den Baudelaire-Umdichtungen nannte StG denn auch die „ursprüngliche[] […] freude am formen“ als wesentlichen Impuls für die Anfertigung von Übersetzungen – und eben nicht den „wunsch[] einen fremdländischen verfasser einzuführen“ (XIII/XIV, 5). Damit distanzierte er sich von dem traditionellen Übersetzungsanliegen, sprachunkundigen Lesern die Lektüre ausländischer Literatur zu ermöglichen.88 Die Ende des 19. Jahrhunderts dominierende Übersetzungspraxis, die von Persönlichkeiten wie Wilamowitz, Bodenstedt, Heyse und Geibel mit durchaus großem kommerziellen Erfolg ausgeübt wurde, lehnte StG vehement ab.89 1896 hieß es in den BfdK: Mit grosser vorsicht haben wir die ausländischen hervorragenden meister eingeführt, die hochverehrten helfer und ergänzer damals als unsere einheimischen erzeugnisse an zahl wol noch gering waren. vor nichts aber hüteten wir uns mehr als vor einem sinnlosen blossen herübernehmen und brachten nur das was durch die art der übertragung eigenster besitz geworden für unsere sprache unser schrifttum und unser Werk im einzelnen natürlich und zuträglich war.90 84 Vgl. Ulrike Jekutsch, Zur Rezeption polnischer Lyrik in deutschsprachigen multilateralen Anthologien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Birgit Bödeker/Helga Eßmann (Hrsg.), Weltliteratur in deutschen Versanthologien des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 170–194, hier: 177. 85 Vgl. ebd., S. 178, 180; vgl. Rolicz-Lieder/George, Gedichte, Briefe, S. 127. 86 In den BfdK waren die Übertragungen noch mit unterschiedlichen Benennungen versehen worden: Zumeist firmierten sie unter dem Terminus ,Übertragungen‘ (1/1892, 2; 1/1893, 3; 1/1893, 4; 1/1893, 5; 2/1894, 2; 2/1894, 3; 3/1896, 3; 4/1899, 4; 4/1899, 5; 6/1902/03), daneben fand sich aber auch die Bezeichnung ,Nachbildungen‘ (Verlaine, BfdK 2/1895, 5; Swinburne, Ruskin, BfdK 3/1896, 4); der Großteil der Gedichte von Rolicz-Lieder sowie ein Gedicht von Mallarme´ wurden in den BfdK sogar zu den Originalbeiträgen gestellt, ohne als Übertragungen kenntlich gemacht zu werden (1/1893, 5; 3/1896, 2; 3/1896, 3; 3/1896, 5; 5/1900/01); vgl. K, S. 88f. 87 Kohlschmidt, Georges Jacobsen-Übertragungen, S. 577. 88 Vgl. Apel, Sprachbewegung, S. 192. 89 Vgl. Apel/Kopetzki, Literarische Übersetzung, S. 95; Kai Kauffmann, Kulturelle Aneignung und Ausschließung. Die Funktion der Übersetzung für die nationale Identitätsbildung in Deutschland um 1800 und 1900, in: Michael Böhler/Hans Otto Horch (Hrsg.), Kulturtopographie deutschsprachiger Literaturen. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Differenz, Tübingen 2002, S. 117–137, hier: 133. 90 BfdK 3/1896, 5, S. 131.

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Da es StG nicht um die „adäquate Eindeutschung der Vorlage“ ging, sondern um „deren ,Einverleibung‘ ins eigene Werk“ (K, 89),91 verfuhr er mit den Ausgangstexten eigenmächtig und autonom. Er formte die Vorlagen seinem Stil und seiner Sprache gemäß um, passte sie seinen ästhetischen Wert- und Weltvorstellungen an.92 Zahlreiche komparatistische Studien zu einzelnen Übersetzungen StGs haben dies bis ins Detail hinein nachgewiesen.93 Fasst man die wichtigsten Beobachtungen zusammen, so kristallisieren sich folgende Merkmale heraus: (1) Reim und Rhythmus waren für StG von wesentlicher Bedeutung; wo immer möglich, bemühte er sich um Wahrung der ursprünglichen rhythmischen Gestalt.94 (2) Für die ausländischen, vor allem die romanischen Versmaße (intonatorische Prosodie) suchte er passende Äquivalente unter den deutschen Versmaßen (akzentuierende Prosodie), welche die gleiche Stimmung erzeugen; ebenso verfuhr StG mit dem Tempus.95 (3) Teilweise griff StG durch Auslassungen und Streichungen in die Textgestalt ein und setzte damit andere Akzente: Beispielsweise kürzte er aus Jacobsens „Arabeske zu einer Handzeichnung Michelangelos“ 16 Verse und aus Swinburnes „Fragoletta“ zwei Strophen heraus.96 (4) Auf syntaktischer Ebene prägte StG den Gedichten den für ihn charakteristischen brachylogischen Stil auf (Asyndeta, Reduktion hypotaktischer Satzstrukturen, Wortkontraktionen etc.).97 Stilfiguren wie Parallelismen stellte er noch deutlicher heraus, z. B. in Verhaerens „Der Schrei“.98 Gerade diese „Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax“,99 die Walter Benjamin zum obersten Prinzip der Übersetzung erhoben hatte, unterstrich die fremdartige Modernität der zeitgenössischen Lyrik, sodass StG hier innovative Übersetzungsleistungen gelungen sind. Das einzelne Wort erhielt dadurch stärkeres Gewicht. (5) Im Bereich des Vokabulars zeigt sich, dass StG zum einen die Übernahme von Fremdwörtern ins Deutsche vermied: Verlaines Ausdruck „melancoliques pe`lerins“ (in „Le faune“) übersetzte StG durch „wanderer mit trübem geist“ (XVI, 14), Mallarme´s „exotique nature“ (in „Brise marine“) wird zu einer „fremden heissen erde“ (XVI, 31). Zum anderen wählte StG – vor allem bei den germanischen Sprachen – bevorzugt klangähnliche Worte, beispielsweise übersetzte er das dänische „sorg“ auf Deutsch mit „Sorge“ (in Jacobsens „Arabeske“; XV, 54).100 Dadurch kommt es oft zu ,etymologischen‘ Übersetzungen, die ebenso wie die Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax, den Effekt von Fremdheit und Ausgesuchtheit erzeugen.101 (6) Vor allem durch die Wortwahl griff StG auch sinnverändernd in die Se91 Vgl. Bauer, Zur Übersetzungstechnik Stefan Georges, S. 160, 166. 92 Vgl. Paul, Bild – Dichtung – Übersetzung, S. 93. 93 Vgl. Wittmer, George als Übersetzer, S. 368–373; Kohlschmidt, Georges Jacobsen-Übertragungen, S. 576–591; Farrell, Georges Beziehungen zur englischen Dichtung; Marx, Übertragungen englischer Dichtung, S. 8–14, 37–50; Emig, Übertragene Dekadenz, S. 323–332. 94 Vgl. Kohlschmidt, Georges Jacobsen-Übertragungen, S. 590. 95 Vgl. Wittmer, George als Übersetzer, S. 372. 96 Vgl. Kohlschmidt, Georges Jacobsen-Übertragungen, S. 583f.; Marx, Übertragungen englischer Dichtung, S. 10. 97 Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth, Autor oder Übersetzer oder Autor als Übersetzer? Überlegungen zur editorischen Präsentation von ,Übertragungen‘ am Beispiel Stefan Georges, in: editio 14/2000, S. 88–103, hier: 93. 98 Vgl. Wittmer, George als Übersetzer, S. 372. 99 Gsteiger, Französische Symbolisten, S. 228f. 100 Vgl. Kohlschmidt, Georges Jacobsen-Übertragungen, S. 590; vgl. Apel, Sprachbewegung, S. 202. 101 Vgl. Paul, Bild – Dichtung – Übersetzung, S. 89.

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I. Stefan George und sein Kreis

mantik der Gedichte ein: Manche Begriffe gab er konkreter, manche abstrakter als das Original wieder und verengte somit die Bedeutung.102 Beispielsweise konkretisierte er Dowsons Ausdruck „dull world“ (in „To one in Bedlam“), wahrscheinlich um des Klanges willen, zu „das dumpfe volk“ (XV, 43).103 Generell milderte StG unliebsame Aspekte ab: In der Tendenz lässt sich eine Glättung und Dämpfung von exzessiven, überschwänglich-sinnlichen (z. B. bei den Präraffaeliten) und dezidiert romantischen Elementen (z. B. bei Jacobsen) beobachten.104 StG nahm sich also bei der Übertragung weitgehende Freiheiten heraus, die sich nicht nur auf den Stil, sondern, vor allem aufgrund der Berücksichtigung des Klangs, auch auf die Semantik der Gedichte auswirkten – seine Übertragungen sind zugleich „Umdeutungen“.105 Es kam ihm nicht primär auf die inhaltliche Treue zum Original an: Generell bemaß sich für StG der Wert einer Dichtung und damit auch der Wert der Übertragung vor allem an Form, Rhythmus und Klang.106 Damit lag er schließlich auch im Zeittrend, denn das Primat der Form, die Betonung des Geformtseins und die immanente Selbstreflexivität sind Kennzeichen moderner, ästhetizistischer Poesie und Poetik überhaupt.107 Allerdings war StG auch vor Übersetzungsirrtümern nicht gefeit, wie der Briefwechsel mit Albert Verwey kurz vor der Drucklegung des ersten Bandes der Zeitgenössischen Dichter zeigt.108 Die Fehler sind auch auf den unterschiedlichen Grad von StGs Beherrschung der einzelnen Sprachen zurückzuführen: Während StG sich in den romanischen Sprachen zu Hause fühlte, hatte er sich das Dänische und Holländische als junger Mann autodidaktisch angeeignet, vom Polnischen hatte er lediglich Kenntnisse im Bereich der Lautung. Beim Dänischen und Holländischen kam für die Übertragung erschwerend hinzu, dass es aufgrund der orthographisch-phonetischen Ähnlichkeit von bedeutungsverschiedenen Wörtern leicht zu Interferenzfehlern kommen konnte.109 Dies schmälert jedoch in keiner Weise die poetische Übersetzungsleistung StGs, sein Potenzial, die deutsche Lyrik zu erneuern, und seine epochengeschichtliche Bedeutung, die vor dem Hintergrund „der unzähligen epigonalen Übersetzungen erstklassiger fremdsprachiger Lyrik in Deutschland vor und um 1900“ erst in rechtem Licht erscheint.110 102 Farrell beobachtet eine „Verflachung von Sinnstrukturen“, Farrell, Georges Beziehungen zur englischen Dichtung, S. 203. Vgl. Apel, Sprachbewegung, S. 203f. 103 Vgl. Emig, Übertragene Dekadenz, S. 325, 331. 104 Vgl. Marx, Übertragungen englischer Dichtung, S. 10; Emig, Übertragene Dekadenz, S. 326, 330f. (zu Rossetti, Swinburne und Dowson); Kohlschmidt, Georges Jacobsen-Übertragungen, S. 590; Bauer, Zur Übersetzungstechnik Stefan Georges, S. 171 (aus der Diskussion im Anschluss an den Vortrag, Beitrag von Rasch); vgl. Gsteiger, Französische Symbolisten, S. 186. 105 Gsteiger, Französische Symbolisten, S. 126. 106 Vgl. K, S. 90; Apel/Kopetzki, Literarische Übersetzung, S. 95. 107 Vgl. Apel/Kopetzki, Literarische Übersetzung, S. 98. 108 Vgl. Albert Verwey en Stefan George, S. 131. 109 Vgl. Kohlschmidt, Georges Jacobsen-Übertragungen, S. 586; vgl. die Hinweise auf Fehler in der polnischen Übersetzung in Rolicz-Lieder/George, Gedichte, Briefe, S. 128f.; dazu die generelle These von Fritz Paul: „Fehllesungen und Fehlübersetzungen werden mühelos in die durch Übersetzung geschaffene Interpretation integriert und stiften neue Bezüge. Der Offenheitsgrad und die Deutungsbedürftigkeit moderner Lyrik werden dadurch hervorgehoben und verstärkt“, Paul, Bild – Dichtung – Übersetzung, S. 94. 110 Paul, Bild – Dichtung – Übersetzung, S. 86.

2. Stefan George: Werk – Zeitgenössische Dichter

2.12.3.

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Rezeption und Deutung

2.12.3.1. Kreisinterne und zeitgenössische Rezeption Die Rezeption der Zeitgenössischen Dichter ist bisher noch nicht aufgearbeitet. Einen ersten Anhaltspunkt liefern die Auflagenhöhen: Die erste (1905) und zweite Auflage (1913) erschienen jeweils in 1.000 bzw. 1.100 Exemplaren, Band XV der Gesamtausgabe (1929) in 3.000 Exemplaren und Band XVI der Gesamtausgabe sogar in 4.000 Exemplaren (GPL, 129). Die Tatsache, dass es überhaupt mehrere Auflagen gab, spricht zumindest für einen kontinuierlichen Absatzerfolg, wenn auch auf zahlenmäßig vergleichsweise niedrigem Niveau. Die öffentliche Ausgabe der Zeitgenössischen Dichter war die Voraussetzung dafür, dass StGs Übertragungen „in die Breite wirken“ konnten.111 In der literarischen Öffentlichkeit wurde StGs neuartiger Übersetzungsstil mit großer Aufmerksamkeit wahrgenommen. StGs Übertragungen setzten Maßstäbe, die eine grundlegende Umgestaltung des deutschen Übersetzungswesens initiierten, auch wenn viele spätere Übersetzungen noch hinter ihnen zurückblieben.112 Namhafte Übersetzer wie Rainer Maria Rilke, Richard Schaukal und Friedrich von Oppeln-Bronikowski schulten und maßen sich an StGs Übertragungen.113 Die Zeitgenössischen Dichter stellten einen Meilenstein in der Rezeption insbesondere der französischen symbolistischen Lyrik in Deutschland dar: Sie vermittelten ein Bild der symbolistischen Lyrik, das spätere Darstellungen nur noch geringfügig modifizierten.114 StG gehörte neben Rilke, K. L. Ammer (d. i. Karl Anton Klammer), Rudolf G. Binding und Richard Dehmel zu denjenigen prominenten Übersetzern des frühen 20. Jahrhunderts, deren Vermittlungsleistung im Bereich der Anthologien stark rezeptionssteuernd wirkte.115 Ihre Übertragungen wurden vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg – in den Jahren 1945 bis 1960 – besonders häufig und gerne in Anthologien aufgenommen.116 Manche Gedichte wurden erst durch StGs Zeitgenössische Dichter kanonisiert, beispielsweise die Lyrik von Rolicz-Lieder – was die Funktion der Anthologie als ,Talentarium‘ unterstreicht. Die wenigen verfügbaren, verstreuten Rezeptionszeugnisse zeigen Momentaufnahmen der Rezeption der Zeitgenössischen Dichter im George-Kreis, in der literarischen Fachwelt und im akademischen Umfeld des Kreises. StG rezitierte zu mehreren Gelegenheiten aus den Zeitgenössischen Dichtern: Robert Boehringer berichtet eindrücklich über einen Abend im Frühjahr 1905 in Basel, an dem StG Gedichte von Verwey, Kloos und Dowson vortrug (RB II, 8). Auch Ludwig Thormaehlen erinnert sich an Lesungen, vor allem von Übertragungen Swinburnes und Rossettis im Herbst 1913 in der Berliner Geisbergstraße, wo sich StG eine Wohnung mit Ernst Morwitz teilte (LT, 102).

111 112 113 114 115

Gsteiger, Französische Symbolisten, S. 131. Vgl. ebd., S. 185. Vgl. ebd., S. 186; vgl. Paul, Bild – Dichtung – Übersetzung, S. 84. Vgl. Gsteiger, Französische Symbolisten, S. 165. Vgl. Udo Schöning, Der Corpus und die romanische Lyrik, in: Birgit Bödecker/Helga Eßmann (Hrsg.), Weltliteratur in deutschen Versanthologien des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 118–146, hier: 135f. 116 Vgl. ebd., S. 135.

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I. Stefan George und sein Kreis

Der junge Oskar Loerke, der 1907 mit seiner Erzählung Vineta debütierte und sich ab 1911 als Lyriker profilierte, las während seiner Studienzeit in Berlin in den Zeitgenössischen Dichtern. Am 17. Juli 1905 trug er in sein Tagebuch ein: „Verlaine, Mallarme´, Rimbaud, de Re´gnier kennen und lieben gelernt in der wundervollen Übersetzung Stefan Georges.“117 Am 7. Oktober desselben Jahres hielt er seinen Lektüreeindruck fest: Mallarme´s Herodias übersetzt v. St. George ist sprachlich noch unendlich viel schöner und weist einzelne Stellen allertiefster Poesie [auf], das Ganze aber widerspricht meinem Geschmacke, weil es nicht stilvolle Nachahmung der Natur ist, sondern ein höchster Typus von Manier im Goetheschen Sinne.118

Kurz nach Erscheinen haben Alfred Kerr und Hans Bethge die Zeitgenössischen Dichter rezensiert. Der Journalist und einflussreiche Kritiker Kerr widmete sich der Anthologie in einer zweiteiligen Artikelfolge, die im Winter 1905 in der Berliner Illustrierten Zeitung Der Tag abgedruckt wurde.119 Kerr besprach die beiden Bände grundsätzlich positiv. In seinem ersten Artikel Stefan Georges Vettern stellt Kerr StG und die von ihm übertragenen 13 zeitgenössischen Dichter als „Glieder desselben Maurerbundes“ vor. Er bezeichnet die ausländischen Dichter als „Amoralisten“ und „Liebhaber von Reizen“, die weder durch ein „gemeinsames Weltgefühl“ noch durch gemeinsame Themen oder eine gemeinsame stilistische Ausrichtung verbunden seien. Für alle jedoch gelte, dass sie nach „neuen Ausdrucksformen“ suchten und in ihrer Gesamtheit „zukunftsträchtig“ seien – deshalb habe StG eine „ferne Bruderschaft“ zu ihnen erkennen können. Der Folgeartikel vom 6.12.1905 beinhaltet eine detaillierte Analyse der Übersetzungen. Kerr kommt hier zu einem differenzierten Werturteil: „Fast alles der Übersetzung ist meisterlich, wo das übersetzte Urbild malerisch ist, – und fast alles schwächer, wo das Urbild anfängt, liedhaft zu werden.“ Die Übersetzungen der Engländer (Rossetti, Swinburne, Dowson) seien besser geglückt als die der Franzosen, insbesondere Verlaines. Kerr erkennt jedoch auch die grundsätzliche Problematik der Übersetzung symbolistischer und parnassischer Lyrik, in der die „Klangmalerei“ über den Inhalt herrsche. Obwohl Kerr mit großer Detailfreude StG einige Übersetzungsirrtümer in Gedichten Verlaines, Rimbauds und de Re´gniers nachweist, beurteilt er die Zeitgenössischen Dichter insgesamt positiv: „Alle Fehler ins Auge gefaßt, stellen die zwei Bände das gleiche dar: eine Kette gedämpft leuchtender Perlen.“ Hans Bethge, der selbst als Herausgeber von Anthologien hervorgetreten war und seit 1907 vor allem mit seinen Nachdichtungen orientalischer Lyrik große Erfolge feierte,120 besprach 1906 in der Zeitschrift Die Gegenwart StGs Zeitgenössische Dich117 Zit. nach KTM, S. 195. 118 Zit. nach ebd. 119 Alfred Kerr, Stefan Georges Vettern, in: Der Tag Nr. 530 v. 25.10.1905; ders., Übersetzungen, in: Der Tag Nr. 606 v. 6.12.1905. 120 Im Verlag Schuster & Loeffler veröffentlichte Bethge 1905 eine Monographie über J. P. Jacobsen (Hans Bethge, Jacobsen, Berlin, Leipzig 1905), im gleichen Jahr eine sehr erfolgreiche Anthologie deutscher Lyrik seit Liliencron, die bis 1927 zehn Auflagen mit insgesamt fast 100.000 Exemplaren erreichte (Hans Bethge [Hrsg.], Deutsche Lyrik seit Liliencron, mit 8 Bildnissen, Leipzig 1905) und zwei Jahre später eine Anthologie fremdsprachiger Lyrik (Hans Bethge [Hrsg.], Die Lyrik des Auslandes in neuerer Zeit, Leipzig 1907).

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ter zusammen mit den Baudelaire-Umdichtungen.121 Treffend erkennt Bethge, dass „Baudelaire, Verlaine und alle die anderen […] sozusagen […] in das Gefühl Georges hinein“ umgedichtet worden seien.122 Die künstlerisch ambitionierte Übersetzungstechnik wertet er als Vorzug, wendet jedoch ein, dass mancher Leser sich wohl eine wörtlichere Übersetzung gewünscht hätte. Von den Übertragungen aus den Zeitgenössischen Dichtern hebt er die Gedichte Verhaerens, Mallarme´s und Rossettis als „besonders gelungen“ hervor und erklärt StGs Leistung damit, dass diese Autoren StG „innerlich mannigfach verwandt“ seien.123 Diese stilistische Verwandtschaft sieht er bei Verlaine und StG nicht gegeben und hält, ebenso wie Kerr, StGs Übertragungen des „liedhaft-naiv[en]“ Verlaine für weniger geglückt.124 Am Schluss des Artikels druckt Bethge noch das Gedicht „Hefe“ des damals in Deutschland fast unbekannten Ernest Dowson ab, um diesem somit die seiner Ansicht nach verdiente Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Schließlich wurden StGs Übertragungen auch sehr rasch in der Wissenschaft rezipiert. Der Germanist Friedrich von der Leyen, der mit Karl Wolfskehl bekannt war, beförderte die literaturwissenschaftliche Erforschung von StGs Verlaine-Übertragungen.125 Norbert von Hellingrath, der durch die Entdeckung von Hölderlins PindarÜbersetzungen 1909 Zugang zum George-Kreis fand, hatte bei von der Leyen in München Germanistik studiert. Im Sommer 1907 schrieb er eine vergleichende Seminararbeit über StGs Übertragungen aus den Werken von Verlaine und Dante. Von Hellingrath kam darin zu dem Schluss, dass die Verlaine-Übertragung StG vor eine schwerere Aufgabe gestellt habe, da er hier „aus der cultivierten Sprache in die weniger fein gebildete zu übertragen [hat], was ein Mann geschaffen hat, der ihm in der Kunst der Worte zum mindesten nicht nachstand“, und es sich bei Verlaine im Gegensatz zum gedanklich gehaltvollen Dante „von vornherein um die Übertragung von Formschönheiten“ handle.126 Je nachdem, welche Position man im Spannungsfeld von ,genauer‘ Übersetzung und Nachdichtung vertritt, fällt die Bewertung von StGs Übertragungen unterschiedlich aus; in Einzelfällen waren und sind sie durchaus umstritten – unumstritten aber ist die Bedeutung der Impulse, die von StGs Übertragungen für die Rezeption ausländischer moderner Lyrik in Deutschland ausgegangen sind. Literatur K, S. 88–92 (zu den Übersetzungen in den BfdK). Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap, hrsg. v. Mea NijlandVerwey, Amsterdam 1965. 121 122 123 124 125

Hans Bethge, Stefan George als Übersetzer, in: Die Gegenwart 18/1906, S. 281–282. Ebd., S. 282. Ebd. Ebd. Vgl. von der Leyens literaturgeschichtliche Darstellung Deutsche Dichtung in neuer Zeit, in welcher er das Kapitel über StG mit einem ausführlichen Vergleich der verschiedenen deutschen Verlaine-Übertragungen einleitet: Friedrich von der Leyen, Deutsche Dichtung in neuer Zeit, Berlin 1922. 126 Zit. nach KTM, S. 199.

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Apel, Friedmar, Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982. Ders. / Kopetzki, Annette, Literarische Übersetzung, 2., vollständig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2003. Bauer, Roger, Zur Übersetzungstechnik Stefan Georges, in: Stefan George Kolloquium, hrsg. v. Eckhard Heftrich, Paul Gerhard Klussmann u. Hans Joachim Schrimpf, Köln 1971, S. 160–177 (inkl. Diskussion). Bietenhader, D., Die Verwey-Übertragungen von Stefan George, in: Niederlandistik in Entwicklung. Vorträge und Arbeiten an der Universität Zürich, hrsg. v. Stefan Sonderegger u. Jelle Stegemann, Leiden 1985, S. 127–191. Emig, Rainer, Übertragene Dekadenz. Rezeption britischer Literatur bei Stefan George und Hugo von Hofmannsthal, in: Beiträge zur Rezeption der britischen und irischen Literatur des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, hrsg. v. Norbert Bachleitner, Amsterdam, Atlanta 2000, S. 317–343, insbes. S. 323–332. Farrell, Ralph, Stefan Georges Beziehungen zur englischen Dichtung, Berlin 1937. Goldschmidt, Manuel R. (Hrsg.), Stefan George und Holland. Katalog der Ausstellung zum 50. Todestag, Amsterdam 1984 (CP 161/162), S. 70–73. Gsteiger, Manfred, Französische Symbolisten in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende (1869–1914), Bern, München 1971. Kohlschmidt, Werner, Georges Jacobsen-Übertragungen, in: Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Hermann Meyer zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Alexander von Bormann u. a., Tübingen 1976, S. 576–591. Marx, Olga, Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung, Amsterdam 1967 (CP 77), insbes. S. 8–14, 37–50. Neumann, Markus, Die ,englische Komponente‘. Zu Genese, Formen und Funktionen des Traditionsverhaltens im Werk Rudolf Borchardts, Göttingen 2007, insbes. S. 35–40. Paul, Fritz, Bild – Dichtung – Übersetzung. J. P. Jacobsens ,Michelangelo-Arabeske‘ in den Übertragungen Georges und Rilkes, in: Skandinavistik 21/1991, S. 81–99. Ders., Die übersetzerische Entdeckung europäischer Literaturen: Skandinavienschwelle, in: Harald Kittel u. a. (Hrsg.), Übersetzung – Translation – Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, Bd. 2, Berlin 2007, S. 1625–1634. Rolicz-Lieder, Wacław / George, Stefan, Gedichte, Briefe, hrsg. v. Annette Landmann u. Georg Peter Landmann, Stuttgart 1996 (Drucke der Stefan-George-Stiftung). Vignazia, Adriana, Die deutschen D’Annunzio-Übersetzungen. Entstehungsgeschichte und Übersetzungsprobleme, Frankfurt/M. 1995. Wittmer, Felix, Stefan George als Übersetzer. Beiträge zur Kunde des modernen Sprachstils. Zum 60. Geburtstag des Dichters, in: Germanic Review 3/1928, S. 361–380. Jutta Schloon

2.13. Tage und Taten. Aufzeichnungen und Skizzen (SW XVII) 2.13.1. Entstehung und Überlieferung Der Prosaband Tage und Taten. Aufzeichnungen und Skizzen umfasst Texte StGs aus mehr als zwei Jahrzehnten. Die ersten Texte „in loser rede“ gehen bis auf den Winter 1890/91 zurück; ein Großteil entstand in den 1890er-Jahren und erschien erstmals in den BfdK, dort allerdings noch ohne Nennung des Verfassers. Die erste Ausgabe des Prosabandes mit einem Umfang von 56 Seiten erschien im Oktober 1903 als Privat-

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druck im Verlag der Blätter für die Kunst in einer Auflage von 300 Exemplaren. Sie umfasste die Prosastücke Sonntage auf meinem Land, Tage und Taten, Träume sowie die – verschiedene Gattungstraditionen aufgreifenden – Briefe des Kaisers Alexis an den Dichter Arkadios, Altertümliche Gesichte, Bilder und Lobreden. Die erste Ausgabe endete mit der Lobrede auf Friedrich Wasmann. Die öffentliche zweite Ausgabe erschien 1925 bei Georg Bondi. Sie wurde um mehrere Texte erweitert, u. a. den Kindlichen Kalender, dessen Entstehungszeit nicht bekannt ist, die um 1910 entstandene Lobrede auf Hölderlin sowie insbesondere die Vorrede zu Maximin, die nach dem Tod Maximilian Kronbergers 1904 entstand und im Gedenkbuch für Maximin Ende 1906 erstmals publiziert wurde. Gerade mit dieser Erweiterung, als neunter von elf Teilen auch in eine markante Position gerückt, erhält die zweite Ausgabe eine neue Struktur. Mit ihr treten die Texte des Bandes in eine neue Konstellation ein: vor allem die Rollenprosa der fingierten Briefe und die Altertümlichen Gesichte fungieren nun als Vorausdeutungen oder Spiegelungen in andere Kulturen. Ähnliches gilt für die Konstellation Maximin – Hölderlin, deren Nebeneinander erst die wir-Rede des Hölderlin-Textes auffällig macht.1

Die Maximin-Gestalt wird damit auch für die Tage und Taten zu einem Kulminationsund Wendepunkt, wie sie es für das ganze Werk StGs ist.2 Von Maximin aus kommen nicht nur die Texte der ersten Ausgabe der Tage und Taten, die eine Nähe zu den frühen Gedichtbänden wie Hymnen Pilgerfahrten Algabal oder Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte aufweisen, neu in den Blick. Auch die der Vorrede zu Maximin folgenden wenigen, gnomischen Betrachtungen und Übertragungen erhalten im unterschwelligen Bezug auf die und dem Vergleich mit der Maximin-Gestalt ihre besondere Wertigkeit, sodass Ute Oelmann für die Betrachtung von Kunst und menschliches Urbild (XVII, 70) feststellt, dass sie „über die in ,Tage und Taten‘ abgeschlossene Dichtungsepoche Georges hinaus[weist], indem [sie] auf das in der Dichtung geschaffene ,urbild‘ Maximin als höchste Verkörperung menschlicher Möglichkeiten hindeutet, freilich ohne es zu nennen.“3 Der auch in der zweiten Ausgabe von Tage und Taten von Maximin aus geordnete dichterische Kosmos umfasst Formen lyrischer Prosa und nutzt Textsorten ganz unterschiedlicher Traditionen und Funktionen. Der Titel des Bandes macht dies auch bereits in mehrfacher Hinsicht deutlich. Sein Haupttitel verweist auf Hesiods Lehrgedicht Werke und Tage (Erga kai hemerai). Ein Motto aus diesem Lehrgedicht war der Textgruppe Tage und Taten bei ihrem Erstdruck in den BfdK vorangestellt. Unmittelbar mit Hesiods Lehrgedicht verknüpfen lassen sich die kalendarische Struktur und der Gestus der Betrachtung. An die Traditionen der Antike knüpfen des Weiteren die Gattungen der Lobrede, der fiktive Briefwechsel zwischen Alexis und Arkadios und die Altertümlichen Gesichte an. Der Untertitel des Bandes führt demgegenüber moderne Aspekte ein, zum einen das reflektierende und auch historisch argumentierende (notwendige ,Aufzeichnungen‘ vornehmende) Subjekt und zum anderen das Skizzenhafte einer locker geformten, impressionistisch anmutenden lyrischen Prosa, wie sie die Träume und Bilder bieten. Haupt- und Untertitel bauen so ein Spannungs1 Oelmann, Anhang, S. 100. 2 Vgl. II, 7.3. 3 Oelmann, Anhang, S. 101.

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I. Stefan George und sein Kreis

verhältnis zwischen antikisierendem, heroischem Anspruch und moderner, flüchtigmomenthafter und leichter Formung auf. Dieses besondere Spannungsverhältnis prägt die Texte und deren gesamtes Arrangement. Und als Spannung zwischen individuellem Interesse der Darstellung und überzeitlicher Gültigkeit stand es auch am Beginn und Ende der Komposition von Tage und Taten. Ausgangspunkt von Tage und Taten waren kurze Prosatexte, die StG im Frühsommer 1891 zusammen mit neuen Gedichten und einer Übertragung von Baudelaire an Carl August Klein schickte und im Begleitbrief so erklärte: „Die ,lagen‘ in loser rede sind wenn sie wollen tagebuchblätter.“4 Das individuelle Moment und das subjektive Interesse sind mit der Gattung des Tagebuchs angesprochen. Für diejenigen Texte von Tage und Taten, die sich auf die Freundschaft mit Ida Coblenz beziehen lassen (Sonntage auf meinem Land, Pfingsten und Ein lezter Brief), gilt dies in besonderer Weise. Die Bezeichnung „lagen“ verweist hingegen auf den symbolistischen Begriff der Seelenlage (l’e´tat d’aˆme) und rückt das Individuelle ins Ästhetische. Insofern sind die in Tage und Taten versammelten lyrischen Prosatexte StGs – neben seinen Gedichten und seinen Übertragungen aus dem Französischen – ein genuiner Beitrag zur Literatur des europäischen Ästhetizismus bzw. Symbolismus. In ihm hatte das Prosagedicht einen besonderen Stellenwert. Dessen wurde sich StG im Kreis von Mallarme´ bewusst; und dies zeigt sich auch an seinem Interesse an Aloysius Bertrand. Auf ihn führten Baudelaire und Mallarme´ das französische Prosagedicht neuer Prägung zurück.5 Übertragungen von Texten Bertrands nahm StG denn auch in die zweite Ausgabe von Tage und Taten auf. Wenn der öffentlichen Ausgabe diese Arbeiten der 1890er-Jahre hinzugefügt werden, prägt die Spannung zwischen individuellem Interesse und überzeitlichem Anspruch, wie er sich gerade in den Betrachtungen zeigt, auch den Abschluss der Komposition von Tage und Taten Mitte der 1920er-Jahre. Anders als Max Kommerell vorgeschlagen hatte, beschränkte sich StG darauf, nur sechs Betrachtungen aufzunehmen.6 Die Bedeutung jeder einzelnen Betrachtung konnte damit noch gesteigert werden. Die Vorrede der zweiten Ausgabe legt dar, dass die Tage und Taten. Aufzeichnungen und Skizzen nicht alle Prosatexte StGs enthalten: „Die vorliegende erweiterte ausgabe enthält alles vom verfasser in ungebundener rede geschriebene mit ausnahme jedoch aller vorworte aller einleitungen und merksprüche.“ Vorworte und Einleitungen werden damit den Gedichtbänden selbst zugeordnet. Die „merksprüche“ hingegen werden auf ein Modell sozial situativer Autorschaft verpflichtet, aufgrund derer es StG schwierig erscheint „sein eigenes anteil herauszulösen · es würde auch eine ungebührende beladung sein für dieses im wesentlichen dichterische werk“ (XVII, 7). Damit wird die skizzierte Spannung zwischen Individuellem, Persönlichem, ja Biographischem einerseits und Kunstanspruch andererseits zugunsten der Kunst aufgelöst.

4 StG an C. A. Klein v. 1.6.1891, StGA. 5 Vgl. Oelmann, Anhang, S. 95. 6 Vgl. ebd., S. 100.

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2.13.2. Aufbau und Formales Die Sonderstellung des vorletzten Bandes der Gesamt-Ausgabe besteht darin, dass er das einzige Werk StGs mit Prosatexten ist. Dass zum Gesamtwerk des Dichters auch Texte „in ungebundner rede“ (XVII, 7) gehören, ist ebenso bedeutsam wie der Untertitel Aufzeichnungen und Skizzen, der auf ein anderes Medium und eine andere Kunstform verweist, auf Malerei und Zeichnung. Der Band Tage und Taten. Aufzeichnungen und Skizzen wird damit in zweifacher Weise als Grenzen überschreitend inszeniert: Er greift über die Gattungsgrenze von Lyrik und Epik und über die mediale Grenze von Sprache und Bild. Entsprechend haben ,Bilder‘, ,Betrachtungen‘ sowie eigene und übertragene Prosagedichte einen besonderen Stellenwert im Rahmen und der Komposition des ganzen Bandes. Sie lassen auch an eine eigene Rezeptionsweise denken, die der (Bild-)Meditation. Die in der ersten Ausgabe sieben, in der zweiten Ausgabe elf Textgruppen von Tage und Taten weisen unterschiedliche Strukturen auf. Die sieben Textgruppen der ersten Ausgabe haben die sieben Briefe des Kaisers Alexis an den Dichter Arkadios als Zentrum. Die Siebenzahl verweist darauf, dass StG auch „dieses im wesentlichen dichterische werk“ der Tage und Taten in einer strengen Ordnung gefasst hat. Um das Zentrum des fiktiven Briefwechsels sind die Träume und die Altertümlichen Gesichte gelagert. Den Träumen vorangestellt sind die Sonntage auf meinem Land und Tage und Taten, auf die Altertümlichen Gesichter folgen die Bilder und Lobreden. In der zweiten Ausgabe ist zwischen den Sonntagen auf meinem Land und Tage und Taten Der kindliche Kalender eingeschoben, nach den Lobreden folgen die Vorrede zu Maximin, die Betrachtungen und Übertragungen. Die Betrachtungen und Übertragungen waren bereits – bis auf Kunst und menschliches Urbild und Die Untergehenden – in den BfdK erschienen, aber nur die Übertragungen waren schon in der ersten Ausgabe von Tage und Taten enthalten. Die sechs Betrachtungen, die in der zweiten Ausgabe neu hinzukamen, sind für die Komposition der Gesamt-Ausgabe in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Denn zum einen bestimmen sie die MaximinGestalt als Ausgangspunkt dichtungsästhetischer bzw. poetologischer ,Betrachtungen‘. Zum anderen traf StG eine überaus strenge Auswahl der Texte, die für diesen neu eingefügten Teil infrage kamen; er berücksichtigte bei weitem nicht alle Vorschläge von Max Kommerell. Wenn StG also in Kunst und menschliches Urbild, entstanden zwischen 1908 und 1915, die Notwendigkeit eines „urbild[s]“ für die menschliche „lebensfliessung (rhythmus)“ feststellt, bestimmt dies die Kunst und ihre Deutung, die nicht „spielerei der ausleger“ sein soll (XVII, 70), ganz wesentlich. Der Mensch bedarf der „verkörperung“ des „urbild[s]“. Es ist die Leistung und der „zeit- und näherungsweise“ Ort der Kunst, dies darzustellen und somit die platonische Kritik der Kunst als eines Abbilds von Bildern und doppelte Entfernung vom Urbild der Idee umzuwerten und zugleich zu überbieten, indem auf eine tiefere Seinsschicht bzw. Wesensqualität des Bildes hingewiesen wird: Die Kunst verkörpert das ,menschliche Urbild‘; als Verkörperung soll es, wie in der Forderung nach dem ,plastischen Gott‘, zugleich präsent und entrückt sein. Das ist die besondere Leistung der Kunst, wie sie dann mit der Konzeption des Maximin-Kults verwirklicht werden soll. Dementsprechend lenkt der Schluss des Prosastücks Hölderlin den Blick auf Maximin, der von der Dichtung und Gestalt Hölderlins präfiguriert und verkündet wird: „Durch aufbrechung und zusam-

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menballung ist er der verjünger der sprache und damit der verjünger der seele . . mit seinen eindeutig unzerlegbaren wahrsagungen der eckstein der nächsten deutschen zukunft und der rufer des Neuen Gottes“ (XVII, 60). Das Disharmonieren der Bilder von ,Aufbrechen‘ und ,Zusammenfallen‘ und vom ,Eckstein‘ und dem Ruf nach dem neuen Gott macht diesen als neuen ästhetischen Versöhner wohl umso nötiger. Auch die Aufnahme des Prosastücks Die Untergehenden ist von ähnlicher programmatischer Bedeutung für die Gesamtkonzeption von Tage und Taten. Denn dieser zwischen 1911 und 1915 entstandene Text bezieht sich auf die mit der MaximinKonzeption überwundene Kunstauffassung der 1890er-Jahre und implizit auf die Position Hofmannsthals, zu der StG damit abschließend Stellung nimmt.7 Als neues Zentrum der Anordnung werden zahlenmäßig (als sechster von elf Teilen) und strukturell die Altertümlichen Gesichte hervorgehoben, als neues konzeptuelles und ästhetisches Zentrum aber die Vorrede zu Maximin. Die beiden Altertümlichen Gesichte, Eine Erinnerung des Sophokles und die Altchristliche Erscheinung, korrespondieren auch stark mit der Vorrede zu Maximin. Denn sie verbinden – die ästhetische Maximin-Religion des jungen schönen Gottes präludierend – die antikheidnische Verehrung des „junge[n] flötenspieler[s]“ Charilaos und die „bewunderte“ Erscheinung der „von plötzlichen himmlischen feuern erhellte[n] bildsäule des gottes der frohen jugend“ (XVII, 36) mit der antik-christlichen Segnung „des knaben Elidius […] mit seiner sündigen schönheit“, bei der ein pfingstlicher Jubel, Orgelschall und Donnerhall ausbrechen: „es sprengte die türen ging wie ein donner durch unabsehliche pfeiler und durch die unabsehliche menge wo keiner sich mehr hörte und fühlte in einem überirdischen und rasenden jubel“ (XVII, 37). Zur zentralen Gestalt Maximins treten mit Hölderlin und Jean Paul, Mallarme´, Verlaine und John Ruskin zentrale Figuren der europäischen Moderne. Zusammen mit dem in den anderen Texten entworfenen, differenzierten Bild der Antike verleihen sie StGs Prosasammlung Tage und Taten ihren besonderen Charakter einer Vermittlung von Antike und Moderne in den Grenzgängen zwischen „ungebundener rede“ und Dichtung, aber auch zwischen Bild und Literatur. Moderne und antike Welt werden im Medium der ,Aufzeichnungen‘ der Tage und Taten, die die Textgattung des Tagebuchs oder den Titel von Rilkes Aufzeichungen des Malte Laurids Brigge (1910) assoziieren lassen, neu zusammengebracht, wobei die moderne Welt und vor allem ihr neuer ästhetischer Gott Maximin das ordnende, Sinn stiftende Zentrum darstellen. 2.13.3. Rezeption und Deutung Mit der Gattung Prosa, ihrer ,losen‘ bzw. ,ungebundenen‘ Rede, signalisieren die Tage und Taten eine geringere formale Strenge und weniger aufwendige sprachliche Durcharbeitung als die Lyrik, was der Untertitel Aufzeichnungen und Skizzen noch unterstreicht. Dementsprechend spielte der Band in der Rezeption, die primär an den Gedichten und den Übersetzungen StGs orientiert gewesen ist, und auch in der Forschung bisher eine eher untergeordnete Rolle. Claude David urteilt harsch: „Vielleicht muß man sogar diese vorübergehende Vorliebe für die Prosa als ein Zeichen der

7 Vgl. ebd., S. 101, 126.

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Lähmung interpretieren: Vielleicht ließ sich George zu diesen weniger anspruchsvollen Werken herab, um die Monate der Dürre zu überbrücken.“8 Einzelne Teile fanden aber Interesse, weil sie sich in Zusammenhänge mit anderen Texten und Fragestellungen bringen ließen. Aufgegriffen worden ist dabei die Schaffenskrise der Jahre 1892/93, bedingt durch Hofmannsthal (EM II, 26)9 bzw. Ida Coblenz.10 Friedrich Thiel diskutiert Sonntage auf meinem Land, Der kindliche Kalender und Tage und Taten vor dem Hintergrund der Beziehung zu Ida Coblenz: In this disquisition the three prose works have and will continue to be viewed primarily as an expression of the Ida Coblenz experience. But this does not preclude broader perspectives, and the mythological nature of KK [Kindlicher Kalender] allows one set of such perspectives to emerge. Taken as a whole the three works illustrate two starkly contrastive, wholly irreconcilable representations of time.11

Zum Charakter der Prosa in diesen drei Beispielen äußert er sich eher vorsichtig: George thus stands at a fork in the development of narrative technique. Coming from the chronological perspective of the nineteenth century, he remains in part indebted to that tradition. But at the same time he anticipates two of the directions most characteristic of the literary age to come. And just as interior monologue and myth both attempt to find coherence in chaos, so do George’s three prose works.12

Differenzierter argumentiert zur Qualität der Prosa die jüngere Studie Cornelia Ortliebs. Für sie „ist die semantische Mehrdeutigkeit, die durch die Kombinatorik der verschiedenen Techniken entsteht, das entscheidende Charakteristikum des Georgeschen Prosastils.“13 Das erläutert sie an Beispielen aus den Träumen, die auch das Interesse von Theodor W. Adorno, Claude David,14 Willi A. Koch,15 Werner Kraft16 und Sabine Spingler17 gefunden haben, sowie am Kindlichen Kalender und Reden mit dem Wind aus Tage und Taten. Ortlieb stellt fest: Die skandierende Prosa Georges mit ihren markanten Pausen kombiniert in ähnlicher Weise lautlich verbundene Elemente zu einem rhythmischen Ganzen, das – wie im Beispiel ,Reden mit dem wind‘ – in einen spannungsvollen Kontrast zur Lektüre ,von oben‘ tritt: wird in dieser die Aufhebung der Melancholie in jenem sublimierten reinen Schmerz des Schlusses als Sinn des Prosagedichts suggeriert, so lässt die gegenläufige Betonung der lautlichen Verbindungen die Melancholie vielmehr gegen die semantische Intention beharren. Während das Prosagedicht ,Reden mit dem wind‘ durch diese Kombination eine semantische Zweideutigkeit erhält, ist das Eingangsgedicht der ,Tage und Taten‘, ,Sonntage auf meinem land‘, durch ein deutlich komplexeres Verfahren zu einer mehrdeutigen allegorischen Struktur erweitert.18

8 David, Stefan George, S. 105. 9 Vgl. ebd., S. 105f. 10 Vgl. Thiel, The Ida Coblenz Problem; Spingler, Lyrische Prosa. 11 Thiel, The Ida Coblenz Problem, S. 102. 12 Ebd., S. 103. 13 Ortlieb, Poetische Prosa, S. 259. 14 Vgl. David, Stefan George, S. 107, 422 Anm. 28. 15 Vgl. Koch, Weltbild, Naturbild, Menschenbild, S. 4–8. 16 Vgl. Kraft, Stefan George, S. 234ff. 17 Vgl. Spingler, Lyrische Prosa, S. 55. 18 Ortlieb, Poetische Prosa, S. 255.

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Die Konzentration auf die Lyrik StGs und die allzu enge Verbindung der Prosa mit der Schaffenskrise der Jahre 1892/93 haben dazu geführt, dass neben den zitierten Arbeiten zur Bestimmung des Prosastils StGs19 und zu seinem Verhältnis zum Prosagedicht20 eine Gesamtdeutung des Bandes noch nicht vorliegt. Sie scheint allerdings auch nicht so leicht möglich. Denn eine umfangreichere Deutung müsste sich der Gattungsproblematik, der Gesamtanordnung des Bandes, dem poetologischen Stellenwert des Bandes insgesamt und einzelner Texte und Teile für das Gesamtwerk, der Problematik des Verhältnisses von Bild, literarischer Bildlichkeit und Literatur und den besonderen Qualitäten dieser Erzählprosa in Einzelanalysen widmen. Dabei wäre auch ganz grundlegend und systematisch weiterführend der Stellenwert einer Prosa zu diskutieren, die im engeren Sinn nicht erzählt und nicht erzählen will. Darin zeigt sich eine Grundlinie modernen Erzählens, die vom französischen Prosagedicht bis in die Gegenwartsliteratur reicht. In dieser Erzähltradition steht z. B. das erzählerische Werk Undine Gruenters (Epiphanien, abgeblendet, 1993). Wie für das Gesamtwerk so sind auch für die Deutung von Tage und Taten folgende Einzelaspekte aufschlussreich: die Antike-Rezeption, die für die Titelwahl und einzelne Textgruppen von Bedeutung ist (u. a. für den Briefwechsel zwischen Alexis und Arkadios oder die Erinnerung des Sophokles); das Verhältnis von Dichtung und Religion, das Wolfgang Braungart am Beispiel des Kindlichen Kalenders im Zusammenhang mit StGs ästhetischem Katholizismus beleuchtet hat;21 dann die Bedeutung und Funktion der BfdK für das dichterische Werk und die Durchsetzung der ästhetischen Programmatik StGs, die sich auch im Wandel der Erstveröffentlichungen der Texte von Tage und Taten in den BfdK zu den späteren Gesamtkonzeptionen in den beiden Ausgaben von Tage und Taten zeigt;22 der biographische Hintergrund derjenigen Texte, die das Verhältnis zu Ida Coblenz (u. a. Pfingsten, Ein lezter Brief) oder die Auseinandersetzung mit Hofmannsthal reflektieren (Die Untergehenden); schließlich die Übersetzungen und die literarischen Rezeptionen StGs. Im Folgenden sollen zwei Aspekte herausgegriffen werden: zum einen die AntikeRezeption, weil sie in Tage und Taten einen besonderen Charakter aufweist, der die spätrömische Welt Algabals modifiziert; und zum anderen das Verhältnis von Bild und (literarischer) Bildlichkeit, das in den Prosatexten der Träume und Bilder poetologisch aufschlussreich ist. Die Briefe des Kaisers Alexis an den Dichter Arkadios sind als Gattung eines fiktiven Briefwechsels im Werk StGs singulär. Von den sieben Briefen entstanden die ersten vier 1892/93 und wurden Mitte August 1893 in der ersten Folge der BfdK veröffentlicht. Der fünfte und sechste Brief erschienen in der ersten Ausgabe von Tage und Taten 1903, der siebte erst in der zweiten Ausgabe von 1925. Der Briefwechsel wird also sukzessive erweitert. Inhaltlich spiegelt sich dies darin, dass StG die spätrömische Algabal-Welt, die werkgeschichtlich ebenfalls in das Jahr 1892 gehört, in die spätantike Bildungswelt versetzt, wie sie für das Drama Manuel Fürst von Trapezunt 19 Kraft, Stefan George, S. 236, beklagt den „Verlust“, dass StG nicht mehr Prosa verfasst habe. 20 Vgl. Roger Bauer, Stefan George übersetzt Aloysius Bertrand, in: Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens. Festschrift für Bernhard Böschenstein, hrsg. v. Ulrich Stadler, Stuttgart u. a. 1996, S. 237–246, hier: 240, 246. 21 Vgl. Braungart 1997, S. 194ff. 22 Vgl. zu den BfdK I, 3.

2. Stefan George: Werk – Tage und Taten

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charakteristisch ist (EM II, 26ff.). David will dagegen keinen Unterschied zum Algabal-Zyklus sehen: Es ist hier das gleiche dekadente Altertum, die gleiche wollüstige Hypochondrie wie im ,Algabal‘, jedoch ohne Sarkasmus und Leidenschaftlichkeit. Eine kühle, schöne Sprache läßt kein Pathos zu und bringt durch ihre Trägheit den Überdruß an einer Welt zum Ausdruck, in der Macht und Dichtung in getrennten Verbannungsorten leben.23

Die ersten vier Briefe wechseln zwischen dem Kaiser Alexis und dem vom Hof entfernten Dichter Arkadios ab. Alexis berichtet vom machtpolitisch determinierten Leben am Hof, bei dem ihm Arkadios’ Gedichte ein notwendiger Ausgleich sind: „Deine nänien geliebtester Arkadios die ich überallhin bei mir führe sind mir eine unversiegliche quelle der lust und sie werden mich an dich erinnern bis ich zum beginne der opora [Hundstage] in deine abgeschiedenheit dich zu begrüssen eile“ (XVII, 30). Der vierte Brief endet aber mit der Ermordung des schönen Jünglings Eumenes, nicht mit dem Wiedersehen von Herrscher und Dichter. Die Ankündigung des Wiedersehens ist erst dem siebten, spät angefügten Brief vorbehalten. Er stammt, wie der sechste Brief, der die Möglichkeit von einer Aufhebung der Verbannung aufzeigt, auch von Alexis, womit der Briefwechsel am Schluss zu einer Brieffolge des Alexis an Arkadios wird. Alexis spricht im letzten Brief von seinem bevorstehenden Aufbruch zu Arkadios und beklagt „eine ungewöhnlich bedrückende verlassenheit“ des Palastes und zudem seine Entfremdung von den Gefährten Seleukos, der an Eumenes’ Ermordung beteiligt war, und Hilarios, der „seine ganze sorge der Mya und der Mitta [widmet] · zwei jungen buhlerinnen aus der kleinasiatischen stadt Klazomenai“ (XVII, 33).24 Die eigentümliche Anordnung der Brieffolge deutet Morwitz damit, „dass der Dichter eine Zeitlang die Briefe fortzusetzen geplant und deshalb Ansatzmöglichkeit bietende Teile zurückgehalten hat. Hierfür könnte auch das Fehlen eines engeren Zusammenhanges zwischen dem sechsten und dem siebten Brief sprechen“ (EM II, 26f.) Der Dichter Arkadios äußert sich also im fünften Brief des Briefwechsels zum letzten Mal: Melancholisch beklagt er die Ferne von Alexis. Dieser Melancholie setzt Alexis das Bild von einem „ausgleich so unerhörter schönheit und so unermesslicher reichtümer“ entgegen, in dem ihm „fast eine fügung des schicksals zu liegen“ scheint (XVII, 32). Das Verstummen des Dichters im fünften und das hoffnungsvolle Bild des Kaisers im sechsten Brief bilden den spannungsreichen Zusammenklang, der den Abschluss des Briefwechsels in der ersten Ausgabe von Tage und Taten darstellt. In der zweiten Ausgabe erhält diese Verbindung von Ästhetischem und Politischem eine Zuspitzung durch die resignative Sicht auf die politische Welt. Die Erweiterungen des Briefwechsels zeichnen damit eine Entwicklung nach von der negativ-düsteren Welt Algabals hin zu einem Ausgleich von Schönheit und Politik, der dann – so wird das Schweigen des Dichters bedeutsam – wieder infrage gestellt wird. Damit lässt sich der Briefwechsel zwischen Dichter und Kaiser auch als ein Sinnbild der Werkentwicklung StGs insgesamt lesen. Ein zweiter interessanter Aspekt von Tage und Taten zeigt sich an einem für StGs Werk ungewöhnlichen Bildbereich, wie er in den Träumen dargestellt wird, und im Verhältnis von Bild, (literarischer) Bildlichkeit und Literatur.25 Vier Träume erschie23 David, Stefan George, S. 105f. 24 Vgl. EM II, S. 27–30. 25 Vgl. II, 2.1.2.

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I. Stefan George und sein Kreis

nen schon in der ersten und zweiten Folge der BfdK im März 1893 und im Juli 1894. Der fünfte, Der redende Kopf, wurde erst in der Buchausgabe von 1903 publiziert. Ihnen eignet dadurch, dass sie sich einer dunklen Traumwelt widmen, ein besonderer Charakter, den auch Theodor W. Adorno hervorgehoben hat. Adorno bestimmt sie als „Gesichte des Untergangs, in denen mythische und moderne Momente in Konstellation treten wie manchmal bei Proust und dann im Surrealismus.“26 Düstere Alpträume – Night-Mare war der Titel der ersten beiden Träume in den BfdK – aber haben in StGs Lyrik keinen Platz, insofern sie Baudelaires ästhetizistisch-dekadenter Welt des ,spleens‘ zuzurechnen sind. Am deutlichsten wird dies im fünften Traum Der redende Kopf. David rückt diesen Traum in den Zusammenhang von StGs Auseinandersetzung mit den Kosmikern.27 Der Alptraum handelt von einer „thönerne[n] maske“, der der Erzähler zu sprechen gebietet. Als die Maske den Befehl befolgt und den Namen eines der Anwesenden nennt, löst dies bei allen Grauen aus: „Wir verliessen alle entsezt das zimmer und ich wusste dass ich es nie mehr betreten würde“ (XVII, 27). Insofern ist der Traum auch allgemein als eine Absage an diese Art von Bildlichkeit und Ästhetik zu sehen. Man kann aber aus der Tatsache, dass ,man‘ dem Erzähler diese „thönerne maske gegeben und an meiner zimmerwand aufgehängt“ hatte (XVII, 27), den Schluss ziehen, dass hier auch zur Zuschreibung einer bestimmten Autorschaftskonzeption Distanz genommen werden soll: Es ist ein Ablegen der „thönerne[n] maske“ und ein Heraustreten ins Offene, wie es an der Gestalt und Dichtung Hölderlins in den Lobreden gesehen wird: Er bedurfte keines äusserlichen hinweises: ihm half das innere gesicht. Er riss wie ein blitz den himmel auf und zeigte uns erschütternde gegenbilder wie Herakles-Christos: vor seinen weitesten einigungen und ausblicken aber stehen wir noch verhüllten hauptes und verhüllter hände … Viel war die rede vom liebenswürdigen schwärmer und klangreichen lautenschläger · nicht aber vom unerschrocknen künder der eine andre volkheit als die gemeindeutliche ins bewusstsein rief · noch vom unbeirrten finder der zum quell der sprache hinabtauchte · ihm nicht bildungs- sondern urstoff · und heraushob zwischen tatsächlicher beschreibung und dem zerlösenden ton das lebengebende Wort. (XVII, 59)

Das „innere gesicht“ des „unerschrocknen künder[s]“ ist der Grund des „lebengebende[n] Wort[s]“ und damit der Gegenentwurf zur „thönerne[n] maske“ und ihrem grauenhaften, tödlichen Wort. Willi A. Koch bestimmt dies als Erfahrung des tremendum: „Hier tritt die wirksame Eigenschaft des ,Anderen‘ in einer zerstörerischen Form auf. Das Ungestalte bricht als Bedrohung in das Gestaltete ein und verletzt es.“28 Werner Kraft sieht es als Ausdruck schwarzer Magie.29 Neben dieser ,Reinigung‘ der literarischen Bildlichkeit vom Ästhetizistisch-Dekadenten und magisch Düsteren wird in den Texten der Bilder auch das Verhältnis von Bild, Sprache und Literatur einer Klärung unterzogen. 1892 setzte StGs Lektüre von John Ruskins Modern Painters ein, sein Interesse an bildender Kunst war in dieser

26 Theodor W. Adorno, George (1967), in: Ders., Noten zur Literatur, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1997 (Gesammelte Schriften 11), S. 523–535, hier: 534. 27 Vgl. David, Stefan George, S. 422. 28 Koch, Weltbild, Naturbild, Menschenbild, S. 8. 29 Vgl. Kraft, Stefan George, S. 236.

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Zeit groß;30 die Bilder entstanden 1893/94 und erschienen dann in den BfdK. Deren Herausgeber C. A. Klein sandte im Juli 1894 Exemplare der BfdK bzw. einen Hinweis auf sie an Klinger, Böcklin, Thoma und wohl auch Stuck, um auf „Ihrer Kunst verwandte Bestrebungen“ aufmerksam zu machen.31 An den Bildern in Tage und Taten lässt sich mit David feststellen: Jene Beschreibungen von Bildern sind auch eine Art Stilübung. Sie berücksichtigen weder Maltechnik noch den Sinn: Im Werk von Dierick Bouts wählt George nur einige Schmucktrachten aus. Farben und Linien werden mit äußerster Genauigkeit festgehalten. Der Dichter bemüht sich, nicht die Intention des Künstlers, sondern nur die malerischen Werte herauszustellen.32

Und auch Spingler nimmt ausgehend von den Texten zu den Skizzen Max Klingers eine spezifische Qualität dieser Prosastücke wahr: „George zeichnet nicht mehr die einzelnen Bildmotive detailgetreu nach, sondern entwirft, inspiriert durch die Bildthemen kleine Textskizzen mit erzählendem Charakter.“33 Diese haben einen „Charakter der Nachempfindung“, der die Transformation vom Bild in Prosa bedingt: „Die souveräne Behandlung der Bildinhalte macht die Texte zu eigenständigen literarischen Produkten und zeichnet sie eindeutiger als die vorangegangenen Bildbeschreibungen als Prosagedichte aus.“34 Sie stehen dabei auch offenbar in Zusammenhang mit „einer Wahrnehmungs- und Versprachlichungsübung an Bildern“35, der sich StG unterzog: Im Stefan George Archiv werden – bisher unpublizierte – Notate StGs mit überaus knappen, skizzenhaft pointierten Bemerkungen aufbewahrt, die eventuelle Gefühlsregungen eines Betrachters, den ,Schimmer von Subjectivität‘ rigoros vermeide[n]. Die meist knappen Charakterisierungen des Dargestellten konzentrieren sich auf die Figurenkonstellation, auf Gewänder, die Leiblichkeit und, besonders hervorstechend, die Farbigkeit.36

Auf den zwei Seiten der Notate finden sich folgende sehr konzentrierte Beispiele: „B de Br〈u〉yn / Porträt eines jungen mannes mit einer Nelke. mit fragend und sehnsüchtig aufgeschlagenem blick, den mund etwas zusammengekniffen in vornehmen ansich halten. Braunem pelz.“37 Die Konzentration auf ganz wenige Attribute und Bildelemente, auf einzelne Gesten und Körperelemente sowie auf die Farben ist auffallend. An einem Heiligen Stephanus nimmt StG Ähnliches wie das „vornehme[] an-sich halten“ wahr: „St. Stephanus. In rotgelbem gewand edel aufgerichtet ausblickend. in dem schurzartig gehalten [sic] überwurf hält er die anzeichen seines martertums“.38 Auch an der Madonna mit der Bohnenblüte des Meisters Wilhelm differenziert er die Farbigkeit als „verschwiegen“ und als „das helle braun des Kleides, das 30 Vgl. Oelmann, Anhang, S. 97. 31 C. A. Klein an Arnold Böcklin u. a. v. 15.5.1894, StGA. 32 David, Stefan George, S. 107. 33 Spingler, Lyrische Prosa, S. 59. 34 Ebd. 35 Oelmann, Anhang, S. 97. 36 Ebd. 37 Stefan George, Notate, 2 Bl., StGA. Bei den Einfügungen in spitzen Klammern handelt es sich um Korrekturen StGs. Die Umlaute fehlen zum Teil in der Handschrift und wurden nachträglich ergänzt. 38 Ebd.

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I. Stefan George und sein Kreis

Kaummerkliche grün […] dunkel, von überwurf und Kopfhülle.“39 Die Flüchtigkeit des Eindrucks und die Präzision im Ringen um seine Fassung charakterisiert das sprachlich Tastende, mit dem die Beschreibung zuvor einsetzt: „Zartheit würde 〈marmorn〉 schönheit den derzeitigen Italienern ebenbürtig, leichte 〈gesuchte〉 proportionenveränderung“. An der Heiligen Barbara des Meisters Stefan schließlich erkennt er in Farben und Attributen ganz konzentriert das Wesentliche ihres Antlitzes: „St. Barbara in zeisig-grünem mantel, glühende + weisse rosen umkränzen ihr antlitz aus unschuld + Schmerz.“40 Nimmt man diese Notate und setzt sie mit den ausführlicheren Bildern von Tage und Taten in Beziehung, werden auch an diesen die Farbigkeit, die gestische Prägnanz und der konzentrierte Ausdruck noch deutlicher als besondere Qualitäten wahrnehmbar, um die es StG in diesen Bilder beschreibenden Prosastücken ging. So wird tatsächlich eine Nähe zu Hofmannsthals Idee einer „Entstehung des Kunstwerks aus dem Erlebnis des Sehens“41 nachvollziehbar, wie Ute Oelmann hervorhebt.42 Man erhält aber vor allem auch einen der sehr seltenen Einblicke in StGs Arbeitsprozess. Dieses Beispiel zeigt: Eine genauere Analyse der Prosaarbeiten, auch und gerade in ihrem Verhältnis zur dichterischen Sprache StGs und ihrer Genese, könnte sehr reizvoll und ertragreich sein. Denn sie könnte aus der gattungsästhetisch konstitutiven Spannung zwischen Poesie und Prosa und aus den Prozessen der ,Übertragung‘ zwischen den Künsten, mithin ihren medialen Aspekten und Besonderheiten, indirekte Bestimmungen für StGs ästhetisch-stilistische Praxis liefern. Literatur David, Claude, Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967, S. 105–108. Koch, Willi A., Stefan George. Weltbild, Naturbild, Menschenbild, Halle/S. 1933. Kraft, Werner, Stefan George, München 1980. Oelman, Ute, Anhang, in: SW XVII, S. 93–130. Ortlieb, Cornelia, Poetische Prosa. Beiträge zur modernen Poetik, Stuttgart, Weimar 2001. Spingler, Sabine, ,Tage und Taten‘. Lyrische Prosa bei Stefan George, masch. Zulassungsarbeit, Freiburg/Br. 1983. Thiel, Friedrich, Vier sonntägliche Strassen. A Study of the Ida Coblenz Problem in the Works of Stefan George, New York 1988. Lothar van Laak

39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ursula Renner, Das Erlebnis des Sehens. Zu Hofmannsthals produktiver Rezeption bildender Kunst, in: Dies./Gisela Bärbel Schmid (Hrsg.), Hugo von Hofmannsthal. Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen, Würzburg 1991, S. 285–305, hier: 287. 42 Vgl. Oelmann, Anhang, S. 97.

3.

Geschichte der Blätter für die Kunst

3.1.

Vorgeschichte der Blätter für die Kunst

Bereits während seiner Schulzeit nutzte StG das Medium ,Zeitschrift‘ als Publikations-, Kommunikations- und Organisationsplattform eines abgeschlossenen Kreises. Gemeinsam mit Freunden, die sich für Literatur interessierten und selbst schriftstellerisch tätig waren, gründete er auf dem Darmstädter Gymnasium die Schülerzeitschrift Rosen und Disteln. Die einzige Nummer der Zeitschrift erschien am 20. Juni 1887.1 Dem Programm nach handelte es sich um ein im Zweiwochenrhythmus erscheinendes Periodikum zur internen Verständigung zwischen den Beiträgern. Die Zeitschrift sollte die ersten Dichtungen der beteiligten Autoren sammeln („Rosen“) und die Urteilsfähigkeit durch Kritik und Satire schärfen („Disteln“). Dies verbindet die Rosen und Disteln ebenso mit den BfdK wie der zentrale Stellenwert der Dichtung in ihren unterschiedlichen Gattungen und die Ergänzung der literarischen Interessen durch andere Künste (die Zeitschrift war mit Illustrationen versehen). Hinzu kommt die soziale Funktion der Kreisbildung: Das Einleitungsgedicht empfiehlt einerseits, sich zum „Heilungsquell der Musen“ zu begeben, und rät andererseits, an „der Freunde ewigtreuen Busen“ zu fliehen (K, 14). Das weitere Programm formuliert ein Vorwort „An die Leser“: Die Zeitschrift, die mit dem heutigen Tage ins Leben tritt, spricht ihren Zweck in ihrem Titel aus. Artikel religiösen und politischen Inhalts streng ausscheidend, wird sie in Form von Romanen, Novellen, Aufsätzen (verschiedenen Inhalts) epischen lyrischen und dramatischen Gedichten ihre Leser zu unterhalten und zu belehren suchen. Um auch dem Geschmack an Witz und Humor Rechnung zu tragen, werden [wir] in einem besonderen Teil Anekdoten und illustrierte Witze veröffentlichen. Da unser Blatt dem Bedürfnis entsprungen ist, gegen die oft ermüdende und abstumpfende Thätigkeit in der Schule eine anregende und erfrischende Beschäftigung einzutauschen, wird manchmal diese Stimmung ihren Ausdruck finden; sollte hie und da eine locale Färbung unverkennbar sein, so bitten wir dies dem Wohnort und der Bildung der Verfasser zu gute halten zu wollen, zumal wir stets bestrebt sein werden, unsern Lesern das Beste zu bieten. Indem wir hiermit dieses Blatt erscheinen lassen, übergeben wir es der gütigen Gewogenheit der Geehrten Leserinnen und Leser. (RB II, 24)

Zwar wenden sich die Rosen und Disteln ebenso wie die BfdK auf den ersten Blick von ,gesellschaftlichen‘ Themen ab, was in der Schülerzeitschrift auch oder sogar primär publikationsrechtlich begründet sein mag. Aber bereits hier formuliert StG seinen umso tiefer gehenden Anspruch, gerade auf diese Weise das ,Leben‘ neu zu organisieren und von Grund auf zu reformieren. 1 Als Faksimile in: KTB, S. 185–188.

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I. Stefan George und sein Kreis

Vom Personal her sind Rosen und Disteln mit den BfdK durch StG sowie seine Schulfreunde Carl Rouge und Arthur Stahl verbunden. Rouge und Stahl publizierten in der ersten Folge der BfdK, und zwar in direktem Bezug auf die Schülerzeitschrift.2 Damit sollte in den BfdK offiziell dokumentiert werden, dass sich die ,alte‘ Dichtung von der ,neuen‘ qualitativ unterscheidet. Tatsächlich war StG dazu gezwungen, auf die Juvenilia zurückzugreifen, weil es an anderen publikationsfähigen Beiträgen mangelte (K, 14). Dennoch passt diese Publikationsstrategie sehr gut in das Selbstbild, das StG auch in den BfdK formt und das er bis zu seiner Werkausgabe letzter Hand beibehält – auch dort veröffentlichte StG Gedichte aus der Zeit vor den Hymnen. StG selbst arbeitete in Rosen und Disteln unter dem Namen ,Ed. Delorme‘; aus der Schülerzeitschrift übernahm er keinen seiner Beiträge in die BfdK. Allerdings zeichnete er die Texte, die aus dieser Phase später in den BfdK publiziert wurden, mit ,Edmund Lorm‘ sowie mit ,Rochus Herz‘. Es handelt sich um „Legenden“, „Erkenntnis“3 und „Frühlingswende“4 sowie um das Drama Manuel.5 Im Anschluss an die Rosen und Disteln entwarf StG immer wieder neue Zeitschriften-Pläne (K, 15f., 18). Anders gesagt: Weder wollte StG als Solitär auf dem literarischen Feld erscheinen noch wollte er sich einer bereits bestehenden Gruppierung anschließen. StG verfolgte zielstrebig das Projekt, am Kopf einer ,Bewegung‘ zu stehen. Diese Selbstpositionierung gehört zum Programmbestand der BfdK und wird später durch die Darstellung von Friedrich Wolters in der ,Blättergeschichte‘ Stefan George und die Blätter für die Kunst als ,geistesgeschichtliche‘ Einordnung StGs in seiner Zeit sanktioniert (z. B. FW, 29). Für die weitere Vorgeschichte der BfdK waren vier Impulse ausschlaggebend: Zum Ersten entdeckte StG auf seinen Reisen ,Internationalität‘ als ästhetischen Wert; zum Zweiten gewann er Einblicke in die künstlerischen Konzepte, Organisations- und Publikationsformen des französischen und belgischen Literaturfelds; zum Dritten führte ihn das Studium an der Berliner Universität in den philologischen Umgang mit Literatur ein; zum Vierten profilierte er seine Position im Blick auf das naturalistische Gruppenmarketing: Nach seiner England-Reise im Sommer 1888 begriff StG sich als Teil einer internationalen Avantgarde. Dies hatte auch Folgen für das Zeitschriften-Projekt. Zunächst verfolgte StG den sogenannten ,mappe-plan‘ eines Periodikums mit Originalbeiträgen aus verschiedenen Nationalliteraturen. In einem Brief vom 1. Dezember 1888 schreibt er aus Montreux an Stahl: Kommen wir rasch zu dem punktum importantum zu dem ,mappe-plan‘. Was denkst du davon und glaubst dass in der form in der ich ihn Rouge mitgeteilt habe, er auszuführen ist? […] Ich könnte vielleicht auch hier einige französische poeten anwerben, ich will mir wenigstens alle mühe geben. Auch meinen freund in England will ich um beiträge bitten so dass unsere mappe sozusagen die erste ,Internationale‘ einrichtung dieser art würde. (RB II, 29)

2 Vgl. BfdK 1/1892, 5, S. 147–151. 3 BfdK 1/1892, 1, S. 27–30. 4 BfdK 1/1892, 2, S. 33–36. 5 BfdK 1/1893, 3, S. 72–78; 2/1894, 2, S. 56–57; 2/1895, 5, S. 147–149.

3. Geschichte der Blätter für die Kunst

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StG verfolgte diesen Plan nicht weiter. Aber die ausführlichen Rubriken mit Übersetzungen führen das Konzept der Internationalität in den BfdK im Ansatz weiter (K, 16f.). Bei seinem Paris-Aufenthalt von Mai bis August 1889 nahm StG – vermittelt über Albert Saint-Paul – direkt Kontakt zu Dichtern der französischen Literaturavantgarde auf. Vor allem der Kreis um Mallarme´, der sich ebenfalls um einen Dichter und um eine Zeitschrift sammelte, belegte für StG die Funktionsfähigkeit jener sozialen Figuration, wie er sie projektierte. Wichtig ist: Die BfdK und ihr Programm lassen sich angesichts der verwandten vorangegangenen Konzeption der Rosen und Disteln nicht ursächlich auf die Pariser Erlebnisse zurückführen. Zugleich informierte sich StG in Paris über ein breiteres Spektrum von französischen und belgischen Zeitschriften wie La Wallonie, La Plume, Mercure de France, L’Ermitage sowie E´crits pour l’Art – mit Rene´ Ghil, dem Redakteur der zuletzt genannten Zeitschrift, wurde StG persönlich bekannt; die E´crits pour l’Art waren für den Titel der BfdK ein Vorbild, konnten aber programmatisch nicht langfristig Orientierung bieten, da sie sich im Laufe der Zeit gegen Mallarme´ positionierten.6 In einigen dieser Zeitschriften publizierte StG selbst bzw. erlaubte Übersetzungen seiner Werke. Mehrfach erschienen Artikel seiner Mitstreiter, die das Ausland über den Zustand der deutschen Literatur aus StGs Perspektive aufklärten und Werbung für den Kreis der BfdK machten. Die BfdK wurden dabei zur einzig bedeutenden Bewegung in Deutschland erklärt. Typisch dafür ist der Aufsatz La litte´rature allemande contemporaire, der 1892 im Oktober-Heft von L’Ermitage unter Carl August Kleins Namen veröffentlicht wurde – es handelt sich dabei um eine Vorlage für den ersten Teil eines Beitrags, der im zweiten Band der ersten Folge der BfdK erschien.7 Umgekehrt stellte StG sich selbst und die BfdK als Sachwalter der europäischen Avantgarde-Bewegung vor. So kündigt er beispielsweise am Ende des ersten Bandes der BfdK eine Spendensammlung für ein Baudelaire-„denkmal“ an, die auf Anregung „unsrer geehrten schwester ,La plume‘ in Paris“ veranstaltet werde, und markiert jenes künstlerische Beziehungsgefüge, in dem er sich als einzigen deutschen Vertreter neben Künstlern wie Mallarme´, Swinburne, Maeterlinck oder den „vertreter[n] der jungen zeitschriften Plume, Ermitage, Mercure“ platziert.8 Im Anschluss an die Paris-Reise nahm StG das Studium der Französischen Philologie in Berlin auf. Dort lernte er Carl August Klein kennen, der in den ersten Bänden nicht zuletzt die literaturhistorischen Perspektiven bestimmte, aus denen die BfdK wahrgenommen werden sollten. Klein übernahm in der Anfangszeit insbesondere die organisatorische Redaktionsarbeit der BfdK und zeichnete als Herausgeber auf dem Titelblatt der Einzelbände alleinverantwortlich. Auf dem Titelblatt für die zusammengebundenen Folgen wird dann zusätzlich zur Herausgeberschaft Kleins bemerkt: „Begründet von Stefan George“. Vom November 1892 liegt eine Visitenkarte Kleins vor, auf der er als „Herausgeber der Blätter für die Kunst“ firmiert.9 Allerdings waren 6 Vgl. FW, S. 20; K, S. 17f.; Karlauf 2007, S. 91f.; Duthie, L’influence, S. 390ff.; vgl. zur Titelgebung auch: Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 51. 7 BfdK 1/1892, 2, S. 45–50; GPL, Nr. 16; zur Verfasserfrage vgl. ZT, S. 31. Abdruck in: Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 46ff. Vgl. zur umwegigen Blätter-Wirkung in Frankreich: ebd., S. 68. Weitere französische Beiträge von Klein: ebd., S. 73ff. 8 BfdK 1/1892, 1, S. 32. 9 StGA. Für die Materialien aus dem StGA gilt mein Dank Dr. Ute Oelmann.

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I. Stefan George und sein Kreis

die Rollen noch nicht fest verteilt. Am 16. Oktober fragte er bei StG nach: „Wer soll vom 1 dez. ab die leitung haben, Sie? dann bin ich abgesezt“ (StGA). In der Studienzeit erwähnte StG in einem Brief an Stahl vom 2. Januar 1890 erneut, er habe „so eine art plan“, und zwar „den plan einer poe¨tischen und kritischen mappe“. Der „plan“ sollte offenbar dazu geeignet sein, StGs eigene poetische Produktivität, die ins Stocken geraten war, wieder zu stimulieren.10 Diese werkgenealogische Funktion der geplanten Zeitschrift gilt auch für die BfdK, die StG als eigenständiges Produktions- und vor allem Organisationsfeld nutzte. Mit dem Periodikum füllte er Lücken in seiner nicht immer kontinuierlich fortlaufenden Tätigkeit. Allerdings kanzelte er Klein im September 1890 schroff ab, als dieser an die Pläne zu einer Zeitschriftengründung anknüpfen wollte: „Meine worte ,ich wolle einen druck leiten‘ haben Sie von einer nicht gewollten seite aufgefasst. Einen druck leiten hiess ein buch dem druck übergeben. An zeitschriftereien habe ich nämlich am letzten lust. Lassen wir das andern!“11 Symptomatisch ist schließlich, dass StG die eigenen Ambitionen profilierte, als er in Berlin über die Freie Bühne und deren Wochenschrift Freie Bühne für modernes Leben (ab März 1894 unter dem Titel Neue Deutsche Rundschau) die naturalistische ,Bewegung‘ beobachtete und damit den Konkurrenten seines ästhetizistischen Dichtungsprogramms identifizierte. Klein schrieb am 26. Juli 1892 an Hofmannsthal: „würden Sie bitte die güte haben sich einmal bei Weiss [Buchhändler in Wien] […] zu erkundigen was er für den druck einer in form der ,freien bühne‘ etwa erscheinenden schrift von 32 seiten mit gutem papier in 200 exemplaren berechnet?“ (G/H, 32f.) Noch in Wolters’ ,Blättergeschichte‘ konzentriert sich das Kapitel zur Gründung der BfdK ganz auf die Abgrenzung zu allem anderen, was die Zeit zu bieten hat, und somit auf die „Wandlung des ganzen dichterischen Bereiches“, die StG als seine Leistung beanspruchte.12 Den Hintergrund für diese Konkurrenz bildet unter anderem ein vergleichbarer Innovationsanspruch, der auf die enorme Expansion des Zeitschriftenbetriebs im Deutschen Kaiserreich zwischen 1875 und 1914 und auf die Ausbildung von Suböffentlichkeiten um gruppenorientierte Zeitschriften reagiert.13 1890 aber stellte StG seine Zeitschriftenpläne zunächst zurück. Stattdessen entstanden die ersten Gedichte der Hymnen, mit denen StG die BfdK später literarisch eröffnete, und er begab sich erneut auf Reisen, um ein Netzwerk von Beziehungen zu knüpfen und zu stabilisieren. Mit den Hymnen, den Pilgerfahrten und Algabal lagen dann 1892 die drei Gedichtbände vor, die die literarische Grundlage der BfdK bilden. Zugleich endete StGs produktive Phase erneut, und genau zu diesem Zeitpunkt realisierte er den ersten Band der BfdK.14 Wie im Folgenden gezeigt, gehören die Produktion und die Verwaltung des Werks für StG gerade im Blick auf die BfdK aufs Engste zusammen.

10 Vgl. RB II, S. 37f.; K, S. 18. 11 StG an C. A. Klein v. 30.9.1890, StGA. 12 FW, S. 43, 45, 47; K, S. 18f., 179f. Vgl. dazu: Dieter Mettler, Stefan Georges Publikationspolitik. Buchkonzeption und verlegerisches Engagement, München u. a. 1979, S. 95f.; Dimpfl, Zeitschriften, insbes. S. 149. 13 Vgl. Groppe 1997, S. 81. 14 Vgl. K, S. 19f.; Karlauf 2007, S. 105f.

3. Geschichte der Blätter für die Kunst

3.2.

305

Gründung der Blätter für die Kunst

Die konkrete Umsetzung der Zeitschriftenpläne datiert auf Mai 1892: Innerhalb weniger Wochen brachte StG gemeinsam mit Klein die BfdK auf den Weg und versuchte dabei insbesondere, Hugo von Hofmannsthal zur Mitarbeit zu bewegen – Klein unterrichtete Hofmannsthal am 24. Juni 1892, dass er in dem „zeitungsplan […] vorläufig das geschäftliche“ übernommen habe, und erinnerte daran, „dass die wenigen persönlichkeiten die sich beteiligen gegeneinander die grösste offenheit und rückhaltlosigkeit bekunden: das einzige mittel den streng exclusiven charakter der sache zu wahren“. Zwar sollen in den BfdK kein „fixes programm“ formuliert und „keine schule“ gegründet werden: „jeder der das anrecht auf den namen künstler hat soll seine stimme hier haben“. Aber die feste Mitarbeit bedeutet gleichwohl vor allem, das „bedürfnis“ zu kultivieren, nicht „in jenen abgeschmackten befleckenden (so genannten modernen) zeitschriften“ (G/H, 21) mitzuwirken.15 StG und Klein planten mithin ein exklusives Periodikum für den internen Austausch von Autoren, das sich von allen etablierten Zeitschriften durch die Abschottung von der diffusen und anonymen literarischen Öffentlichkeit unterscheiden sollte. Die genauen Konturen des Projekts lagen nicht von Anfang an fest. Auf konkrete Rückfragen Hofmannsthals erklärte Klein in einem Brief vom 27. Juni / 7. Juli: „Es scheint aber dass Sie sich die sache viel gereifter vorstellen als sie in der that ist“. Noch immer stand der nun leicht veränderte ,mappen-plan‘ im Hintergrund, denn Klein stellte in Aussicht, dass als einfachste Lösung möglicherweise „die einzelnen beiträge […] in regelmässigen zeitabständen zu einer mappe vereinigt und den mitgliedern zugesandt“ werden (G/H, 23). Vor allem das Maß an ,Exklusivität‘, das man den Lesern zumuten wollte, war noch verhandelbar. So mahnte Rouge am 16. August und im September 1892 Klein, „daß wir ebenso exclusiv in der Auswahl der Produktion wie in der Auswahl der Mitglieder sein müssen“ (StGA) und „daß wir etwas Neues und Anderes geben sollen als die übrigen Zeitschriften ähnlicher Art“.16 Im August 1893, also nachdem die ersten Bände der BfdK erschienen waren, erklärte Klein gegenüber Hofmannsthal, man werde sich noch mehr fanatisch abschliessen und wahrscheinlich unsere Blätter in form einer litterarischen mappe die dichtungen aufsätze auch entwürfe und zeichnungen enthält an unsere freunde im inland versenden zur gegenseitigen anregung. (G/H, 69)

Hofmannsthal war von Anfang an zur Mitarbeit bereit, wenngleich er die BfdK dann doch nicht wirklich engagiert mit Beiträgen versorgte.17 Bereits vor der Publikation des ersten Bands der BfdK forderte Klein von Hofmannsthal eine Erklärung, weil dieser das Vertrauen StGs „ins wanken gebracht“ habe durch die Koalition mit „Namen […] die wir doch unmöglich mit in unser unternehmen einführen könnten“ – Hermann Bahr hatte in einem Aufsatz in der Wochenschrift Die Nation zwei Gedichte Hofmannsthals publiziert.18 Die Auseinandersetzungen zwischen Hofmannsthal und 15 Dazu insgesamt: Alt, Hofmannsthal. 16 So im September 1892 an C. A. Klein, StGA. 17 Eine Auflistung inklusive der Beiträge für die Auslese-Bände der BfdK findet sich in G/H, S. 232f. 18 G/H, S. 25f., 246, 150ff.

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I. Stefan George und sein Kreis

StG bzw. Klein sind symptomatisch für den Anspruch, den StG mit den BfdK verband. Dies gilt für zwei umstrittene Momente: Die Autoren der BfdK sollten sich der Zeitschrift unter- und zuordnen und bei ihrem Publikationsverhalten die Zeitschrift StGs deutlich privilegieren, also andere Medien nicht oder zumindest deutlich nachrangig bedienen. Zugleich sollten die Beiträger der BfdK die Redaktionsprinzipien, vor allem StGs Recht zum Eingriff in die eingereichten Texte, akzeptieren. Diese Forderungen schlossen ein, dass sich die Mitglieder des Blätter-Kreises der Gemeinschaft auch insofern verpflichtet fühlten, als Kritik an den künstlerisch durchaus dürftigen Beiträgen nicht dazu führen sollte, das Unternehmen als Ausdruck einer ,Bewegung‘ in Frage zu stellen. Insgesamt begannen die BfdK technisch und organisatorisch durchaus dilettantisch. An die konkreten Publikationsbedingungen erinnert sich Carl August Klein in seinen Memoiren: […] mit der Gründung einer Zeitschrift verbundener Nebenumstände, als da sind Betriebskapital und dergleichen, konnten wir füglich entraten. Die nicht erheblichen Druckkosten bestritten die Mitarbeiter aus ihrer eigenen Tasche. Autorenhonorar war uns eine unbekannte Vokabel. Keiner von uns beanspruchte welches. Inseratenakquisition kam nicht in Frage. […] Auch eines Verlegers glaubten wir entraten zu können. Zu unserer ganz aus den herkömmlichen Geleisen tretenden reformatorischen Bewegung […] paßte ein Verleger nicht, und hätten wir einen suchen wollen, wir hätten trotz eifrigsten Bemühens keinen aufzustöbern gewußt. […] Wir genügten uns also selbst, und ich nahm die Zeitschrift in eigenen Verlag. Der Widerwärtigkeiten waren mancherlei. Indessen unsre flammende Begeisterung und unser lauteres Streben überwand alles spielend. Wohl waren wir mit unsern knappen Wechseln auf einen billigen Drucker angewiesen. Einen solchen ließ mich nun ein Zufall in der Person des betriebsamen Druckereibesitzers Friedrich Cynamon, Chauseestraße 4a, entdecken, in demselben Stadtteil, im Norden Berlins zwischen Rosenthaler Thor und Alexanderplatz, wo auch, und zwar in der Lothringer Straße 9 III, meiner bescheidenen Junggesellenbude, die ,Schriftleitung‘ der Blätter für die Kunst ihr Domizil aufgeschlagen hatte. (CAK, 35–39)

Die konkrete Situierung des Unternehmens ist nicht zuletzt deswegen wichtig, weil die erste öffentliche Bezugnahme auf die BfdK in Deutschland genau darüber die Position der Zeitschrift auf dem literarischen Feld bestimmt: Als Julius Hart in einem sehr flüchtig und polemisch geschriebenen Artikel in der Freien Bühne für den Entwicklungskampf der Zeit vom Dezember 1892 auf die deutschen ,Symbolisten‘ eingeht, entziffert er die für Deutschland originelle äußere Erscheinungsform der BfdK als Werbemaßnahme zur Erregung von ,Aufmerksamkeit‘ und führt weiter aus: Der Symbolismus oder sollen wir nicht sagen die Phantasiekunst im Gegensatz zur naturalistischen Beobachtungskunst, lebt zur Zeit noch in Berlin N., wo es sich viel billiger lebt als in Berlin W. Berlin N. ist die Heimat des echten Poeten, Berlin W., – ach, du lieber Gott! Die Chambregarnies zu 20 Mark pro Monat, das ist der Boden, auf dem die litterarischen Revolutionen erwachsen. Auf der Lothringerstraße hat August Klein sein Feldherrnzelt aufgeschlagen, um seine ,B l ä t t e r f ü r d i e K u n s t ‘ in die Welt hinausflattern zu lassen […].19

Nicht weniger zufällig als die Drucklegung verlief die Mitarbeiterwerbung (K, 21). Die erste Folge wird von einer Kerngruppe bedient: StG, Hugo von Hofmannsthal, 19 Zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 58.

3. Geschichte der Blätter für die Kunst

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Paul Ge´rardy, Carl Rouge und Carl August Klein. Da das Interesse weiterer Autoren an den BfdK gering blieb, publizierte StG auch Beiträge, die nicht seinen Idealvorstellungen entsprachen, etwa von Fritz Koegel,20 den Ida Coblenz vermittelte, oder von dem Münchner Maler Karl Bauer, der mit seinen Porträts zur Bekanntheit StGs wesentlich beigetragen hat.21 Als weitere Mitarbeiter wirkten mit: Georg Edward (d. i. Georg Geilfus),22 den Rouge empfohlen hatte und der die Beziehung zu Wolfskehl herstellte, und Max Dauthendey,23 den Hofmannsthal als einzigen Beiträger nach Anfrage Kleins empfohlen hatte und den Klein und StG im März 1893 persönlich kennenlernten24 – sein Billett vom 3. Oktober 1892 lautet: „Werther Herr hätte gerne Ihre Bekanntschaft gemacht. Ich bin Schriftsteller u. erhielt Ihr Blatt ,für die Kunst[‘] zugesandt. Wollen Sie vielleicht eine Stunde bestimmen wann ich Sie sprechen kann“.25 Eine gewisse Beliebigkeit in der Auswahl der Mitarbeiter lässt sich nicht übersehen. StG stellte anfangs das ästhetische Programm durchaus zurück, wenn er einen Autor zu gewinnen hoffte, der nicht völlig unbekannt war, so etwa im Fall von Maurice Reinhold von Stern, der 1885 Proletarier-Lieder veröffentlicht hatte (2. Aufl. 1888 unter dem Titel Stimmen im Sturm). Immerhin stammt von Stern die erste Besprechung der BfdK im deutschsprachigen Raum, die allerdings nicht uneingeschränkt positiv ausfiel (s. u.).26 Um einen breiteren Fundus von Autoren zumindest zu simulieren, bestand neben der pragmatischen Mitarbeiterwerbung die zweite Maßnahme darin, dass StG in den BfdK anonym oder pseudonym unter den Namen Edmund Lorm (1/1892, 1) und Rochus Herz (1/1893, 4) publizierte (in der Regel signierte StG nur seine lyrischen Texte mit seinem Namen und setzte damit einen deutlichen Akzent auf die von ihm privilegierte Gattung). Und auch die Übersetzungen, die regelmäßig seit dem zweiten Band der ersten Folge der BfdK erschienen, dienten nicht zuletzt dazu, die einzelnen Bände gleichmäßig und personell verhältnismäßig breit zu füllen. Zu den wichtigsten literarischen Beiträgern der Anfangszeit gehörte Paul Ge´rardy aus Lüttich. Dessen Bekanntschaft wurde StG wie die Beziehung zu Edmond Rassenfosse über Albert Mockel,27 den Herausgeber von La Wallonie, vermittelt. Von der ersten bis zur siebten Folge ist Ge´rardy mit 54 Beiträgen nach StG am häufigsten in den BfdK vertreten. In ihm und seinen belgischen Freunden fand StG jenen publizistischen Rückhalt, den er dringend benötigte: Ge´rardy protegierte StG mit der Zeitschrift Flore´al, die 1892 das Erbe von Mockels La Wallonie antrat und zu den Vorbildern der BfdK gehörte – 1892 warb als Erstes Flore´al in dem im Oktober erschienenen September-Heft für die neue Zeitschrift.28 Zudem setzte Ge´rardy der Redaktion seiner Gedichte durch StG keinen Widerstand entgegen, obwohl die Eingriffe biswei20 In: BfdK 1/1893, 3. 21 Vgl. BfdK 1/1893, 5; 2/1894, 4; 5/1900/01; KTM, S. 80f. 22 Vgl. BfdK 1/1892, 2 u. 2/1894, 1. 23 Vgl. BfdK 1/1893, 3; 2/1894, 1; 4/1899, 4. 24 Vgl. G/H, S. 25, 27ff.; ZT, S. 34f. 25 StGA; vgl. dazu die Materialien in: KTM, S. 74ff. 26 Vgl. Karlauf 2007, S. 129f. 27 Zu Mockel vgl. Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 23ff. 28 Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 11, 44f. Zu Ge´rardy und dem Zitations- und Werbungsnetzwerk der Zeitschriften, in die die BfdK einbezogen wurden, vgl. ebd., insbes. S. 13ff.

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I. Stefan George und sein Kreis

len erheblich waren. So strich StG etwa aus den fünfzeiligen Strophen von „Krancke ritter sah ich fahren“ jeweils eine Zeile.29 Und schließlich vermittelte Ge´rardy den Kontakt zu bildenden Künstlern, die zur zweiten Folge der BfdK ihre Werke beisteuerten (s. u.).30 In Wolters’ ,Blättergeschichte‘ wird Ge´rardy nicht umsonst als Beispiel für die ideale Umsetzung der von StG geforderten Haltung angeführt (FW, 35ff.).31 Anfang Oktober 1892 lag die erste Folge der BfdK im Selbstverlag von Carl August Klein vor. Die Auflage betrug 200 Exemplare, für deren Druck der Berliner Drucker Friedrich Cynamon 66 Mark berechnete.32 Im Januar 1894 wurden weitere 100 Exemplare des ersten Bands mit Verbesserungen nachgedruckt.33 Der Reprint der BfdK aus dem Jahr 1967/68 bringt die verbesserte Fassung; im zweiten Band der Sämtlichen Werke (1987) wird auf die erste Fassung zurückgegriffen. Bis August 1893 folgten vier weitere Bände mit einer Auflage von jeweils 200 Exemplaren34 und komplettierten die erste Folge. Die Kurzbeschreibung von Wolters trifft zumindest in diesem Fall das Kuriose des Zeitschriftenauftritts: Drei junge katholische Dichter, ein Deutscher, der nur in Paris bekannt war, ein Österreicher, dessen Name man kaum über Wien hinaus wußte, ein rhein-preußischer Wallone, der eben in Lüttich seine ersten Verse veröffentlicht hatte, dazu ein ebenfalls katholischer Schulfreund Georges mit Namen Carl Rouge, vereinigten in einem dünnen Heft von zwei Bogen ihre Dichtungen und es wird immer eine der seltsamsten Erscheinungen unseres Schrifttums bleiben, mit welchem Anspruch sie auftraten und wie dennoch weit darüber hinaus ihre Hoffnungen und Wünsche erfüllt wurden. (FW, 42)

Ebenso schwierig wie die Drucklegung und die Autorenwerbung verlief die Suche nach der geeigneten Leserschaft. Auf dem Titelblatt kündigen die BfdK an: „Diese zeitschrift im verlag des herausgebers hat einen geschlossenen von den mitgliedern geladenen leserkreis“. In einem Brief vom 19. August 1892 konkretisiert Klein gegenüber Hofmannsthal das Leserprogramm: Es erscheint gut dass wir der zeitschrift vorläufig einen etwas privaten charakter lassen. darum wird ganz ausdrücklich an die mitarbeiter das ersuchen gerichtet in ihrem kreise für die anwerbung verständnisvoller leser möglichst zu wirken und deren adressen der redaktion zu überweisen. jedem steht es frei einen kleinen beitrag für die erste serie von Lieferungen zu geben. denn gewissen personen können wir – da honoris causa – keine bezahlung abfordern. so wird der abgeschlossene charakter der ganzen sache gewahrt. (G/H, 35f.)

29 Paul Ge´rardy, Die Ritter II, Ms., StGA; BfdK 2/1894, 2, S. 43; längere Fassung in: BfdK 3/1896, 1, S. 14. 30 Vgl. Karlauf 2007, S. 147ff., 154f. 31 Vgl. Paul Ge´rardy, S. 6f., 11ff.; Duthie, L’influence, S. 450ff.; Nivelle, Paul Ge´rardy. 32 Nicht auszuschließen ist, dass dabei der Druck von ,Karten‘ mit einem Preis von sechs Mark einkalkuliert war. Denn die folgenden Rechnungen (s. folgende Anm.) beziffern den Druck von 200 Exemplaren auf regelmäßig 60 Mark; und in der Rechnung vom 3. März 1894 werden zusätzlich „200 Karten“ mit „6 Mark“ berechnet (StGA). 33 Vgl. G/H, S. 71. Kluncker gibt die Erstauflage ohne Beleg mit 100 Stück an. Die Rechnung von Cynamon vom 30. September 1892 nennt jedoch 200 Exemplare (StGA). Für die Höhe der zweiten Auflage vgl. den Hinweis in G/G, S. 251. 34 So nach den Rechnungen von Cynamon im StGA (hier handelt es sich um 206 Exemplare).

3. Geschichte der Blätter für die Kunst

309

Das Programm der Publikumsbeschränkung sanktioniert jedoch lediglich das faktische Desinteresse der Leserschaft (s. u.). Um sich von anderen Zeitschriftenprojekten zu unterscheiden, verzichten die BfdK ostentativ auf finanzielle Gewinnbestrebungen, wie Kleins oben zitierte Erinnerungen festhalten (K, 61, 83). Die Zeitschrift lag aber in ausgewählten Buchhandlungen aus (K, 21): in Berlin bei „Behr’s buchhandlung Unter den Linden“, in Wien bei „Leopold Weiss Tuchlauben“ sowie in Paris bei „Le´on Vanier 19 Quai St. Michel“.35 StGs Auflistung der verkauften Exemplare der ersten Folge von Mitte 1894 verzeichnet, dass an Behr vom ersten und zweiten Band neun Exemplare, vom zweiten Band sechs Exemplare, vom dritten Band sieben Exemplare und vom vierten und fünften Band jeweils drei Exemplare geliefert wurden. In Wien war die Aufmerksamkeit ein wenig größer: Weiss erhielt vom ersten Band 15 Exemplare, vom zweiten Band 13 Exemplare, vom dritten und vierten Band jeweils zehn Exemplare und vom fünften Band fünf Exemplare. Wie zu erwarten, konnten die Leser in Paris am wenigsten mit den BfdK anfangen. An Vanier wurden von den ersten beiden Bänden jeweils zwei Exemplare geliefert, von den folgenden drei Bänden noch jeweils ein Exemplar. Während der Herausgabe der ersten Folge nahm das Interesse also ab, insgesamt aber stieg es an, wenngleich nicht exorbitant. Am 10. Oktober 1899 orderte die Buchhandlung Asher & Co., die wie Behrs Geschäft in Berlin Unter den Linden situiert war, von den ersten Bänden der vierten Folge „je 20 Stück sofort nach Erscheinen“ und fügte hinzu: „Also von jedem neuen Hefte 20 Stück!“ (StGA) Einen Monat später orderte Asher vom dritten Band der vierten Folge der BfdK noch einmal weitere acht Exemplare.36

3.3.

Überblick

StG strebte einen regelmäßigen Publikationsrhythmus an, der nicht einmal in der ersten Folge eingehalten wurde. Die genannten Probleme bei der Konzeption, bei der Autoren- und Leserwerbung sowie bei der technischen Umsetzung des Zeitschriftenprojekts führten dazu, dass die BfdK unregelmäßig erschienen. Bereits die Nachrichten am Ende des dritten Bandes der zweiten Folge gestehen offen ein: „Eine grössere Regelmäßigkeit im erscheinen dieser ,Blätter‘ ist darum vorläufig nicht zu erreichen weil unsrer mitarbeiter nur wenige sind und wir die genügende zahl verwendbarer einsendungen abwarten müssen“.37 Im Folgenden kommt es zu teils erheblichen Verzögerungen von mehreren Jahren. Insgesamt erscheinen 12 Folgen der BfdK (ein genaues Gesamtinhaltsverzeichnis bei K, 190ff.):

35 BfdK 1/1892, 1, Titelblatt. 36 Vgl. StGA. Zu weiteren Nachbestellungen vgl. A. Asher & Co. an M. Lechter v. 2.2.1900, 7.2.1900, StGA – jeweils drei Exemplare von den ersten vier Bänden der vierten Folge der BfdK; vom fünften Band beläuft sich die Bestellung auf 17 Exemplare (A. Asher & Co. an M. Lechter v. 10.2.1900, StGA). Im Februar gibt es die Abrechnung für eine Nachlieferung von „20 Nummern von älteren Jahrgängen und 20 Nummern von IV 1 u 2“ (A. Asher & Co. an M. Lechter v. 8.2.1900, StGA). Auch im Folgenden gibt es weitere Bestellungen. 37 BfdK 2/1894, 3, S. 96.

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I. Stefan George und sein Kreis

1. Folge I. Bd. Oktober 1892 II. Bd. Dezember 1892 III. Bd. März 1893 IV. Bd. Mai 1893 V. Bd. August 1893 Beiträger: Karl Bauer, Max Dauthendey, Georg Edward [d. i. Georg Geilfus], StG, Paul Ge´rardy, Hugo von Hofmannsthal, Carl August Klein, Fritz Koegel, Carl Rouge, Arthur Stahl Übertragungen: Gabriele d’Annunzio, Jens Peter Jacobsen, Ste´phane Mallarme´, Stuart Merrill, Jean More´as, Henri de Re´gnier, Albert Saint-Paul, Paul Verlaine, Francis Viele´-Griffin 2. Folge I. Bd. Januar 1894 II. Bd. März 1894 III. Bd. August 1894 IV. Bd. Oktober 1894 V. Bd. Februar 1895 (recte: März 1895; ZT, 46) Beiträger: Leopold von Andrian, Karl Bauer, Paul Cassirer, Max Dauthendey, Georg Edward [d. i. Georg Geilfus], Georg Fuchs, StG, Paul Ge´rardy, Hugo von Hofmannsthal, Ludwig Klages, Carl August Klein, Richard Perls, Karl Wolfskehl Übertragungen: Charles Baudelaire, Aloysius Bertrand, Wacław Lieder, Dante, Paul Verlaine Bildbeilagen: August Donnay, Fernand Khnopff, Leo Samberger, Hermann Schlittgen Notenbeilagen: Karl Hallwachs, Kurt Peters 3. Folge I. Bd. Januar 1896 (recte: Dezember 1895; ZT, 51) II. Bd. März 1896 III. Bd. Juni 1896 (recte: August 1896; ZT, 61) IV. Bd. August 1896 V. Bd. Oktober 1896 Beiträger: StG, Paul Ge´rardy, Hugo von Hofmannsthal, Ludwig Klages, Max Koblinsky, Melchior Lechter, Richard Perls, Oscar A. H. Schmitz, Emil Rudolf Weiß, Karl Wolfskehl Übertragungen: Herman Gorter, Willem Kloos, Wacław Lieder, A. Ch. Swinburne, John Ruskin, Albert Verwey Bildbeilagen: Melchior Lechter, Paul Herrmann Notenbeilagen: Clemens Franckenstein, Karl Hallwachs 4. Folge I.–II. Bd. III. Bd. IV. Bd. V. Bd.

November 1897 1899 (Oktober; ZT, 93) 1899 (Oktober; ZT, 93) 1899 (Dezember; ZT, 96)

Beiträger: Leopold von Andrian, Max Dauthendey, StG, Paul Ge´rardy, Friedrich Gundolf, Ernst Hardt, Hugo von Hofmannsthal, Gert. Pauly (d. i. Gertrud Kantorowicz), Ludwig Klages, August Oehler (d. i. August Mayer), Richard Perls, Karl Gustav Vollmoeller, Karl Wolfskehl, Oscar A. H. Schmitz Übertragungen: Ernest Dowson, Wacław Lieder, Albert Verwey Bildbeilage: Melchior Lechter

3. Geschichte der Blätter für die Kunst

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Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1892–1898 1898 (November; ZT, 82) Beiträger: Leopold von Andrian, Max Dauthendey, StG, Paul Ge´rardy, Ernst Hardt, Hugo von Hofmannsthal, Ludwig Klages, August Oehler, Richard Perls, Oscar A. H. Schmitz, Karl Gustav Vollmoeller, Karl Wolfskehl 5. Folge I.–V. Bd. (in einem Buch) 1900/01 (recte: Mai 1901; ZT, 111) Beiträger: Leopold von Andrian, Karl Bauer, StG, Paul Ge´rardy, Friedrich Gundolf, Ernst Hardt, Ludwig Klages, Felix Maltz, August Oehler, Lothar Treuge, Karl Gustav Vollmoeller, Karl Wolfskehl Übertragungen: Charles Baudelaire, Dante, Wacław Lieder, Paul Verlaine 6. Folge I.–V. Bd. (in einem Buch) 1902/03 (recte: Mai 1903; ZT, 140) Beiträger: Ludwig Derleth, StG, Paul Ge´rardy, Friedrich Gundolf, Henry Heiseler, Hugo von Hofmannsthal, Ludwig Klages, Lothar Treuge, Karl Wolfskehl Übertragungen: Dante, Albert Verwey Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1898–1904 1903 (Dezember; ZT, 146) Beiträger: Leopold von Andrian, Ludwig Derleth, StG, Paul Ge´rardy, Friedrich Gundolf, Henry Heiseler, Hugo von Hofmannsthal, Ludwig Klages, August Oehler, Richard Perls, Lothar Treuge, Karl Gustav Vollmoeller, Karl Wolfskehl 7. Folge I.–V. Bd. (in einem Buch) 1904 (März; ZT, 154) Beiträger: Ludwig Derleth, StG, Paul Ge´rardy, Ernst Gundolf, Friedrich Gundolf, Henry Heiseler, Hugo von Hofmannsthal, Melchior Lechter, Rudolf Pannwitz, Alfred Schuler, Lothar Treuge, Walter Wenghöfer, Karl Wolfskehl Übertragungen: Dante Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1904–1909 1909 (Februar; ZT, 197) Beiträger: Ludwig Derleth, StG, Paul Ge´rardy, Friedrich Gundolf, Henry Heiseler, Carl August Klein, Lothar Treuge, Walter Wenghöfer, Karl Wolfskehl, Friedrich Wolters, „Einige jüngere Dichter“ (Robert Boehringer, Ernst Morwitz, Saladin Schmitt) 8. Folge I.–V. Bd. (in einem Buch) 1908/09 (recte: Februar 1910; ZT, 209) Beiträger: Ludwig Derleth, StG, Friedrich Gundolf, Carl August Klein, Maximilian Kronberger, Lothar Treuge, Walter Wenghöfer, Karl Wolfskehl, Friedrich Wolters, „Jüngere Dichter“ (Robert Boehringer, Ernst Morwitz, Saladin Schmitt) Übertragungen: Shakespeare 9. Folge I.–V. Bd. (in einem Buch) 1910 (Februar; ZT, 209)

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I. Stefan George und sein Kreis

Beiträger: Robert Boehringer, Ludwig Derleth, StG, Friedrich Gundolf, Friedrich Hölderlin, Lothar Treuge, Walter Wenghöfer, Karl Wolfskehl, Friedrich Wolters, „Jüngere Dichter“ [Ernst Bertram, Ernst Morwitz, Saladin Schmitt, Berthold Vallentin] Übertragungen: Pindar, Albert Verwey 10. Folge I.–V. Bd. (in einem Buch) 1914 (November; ZT, 254) Beiträger [alle anonym]: Ernst Bertram, Robert Boehringer, StG, Ernst Gundolf, Friedrich Gundolf, Ernst Morwitz, Saladin Schmitt, Berthold Vallentin, Karl Wolfskehl, Friedrich Wolters 11./12. Folge I.–X. Bd. (in einem Buch) 1919 (Dezember; ZT, 301) Beiträger [alle anonym]: Robert Boehringer, StG, Friedrich Gundolf, Ernst Morwitz, Saladin Schmitt, Bernhard von Schweinitz, Ludwig Thormaehlen, Bernhard Uxkull, Woldemar Uxkull, Berthold Vallentin, Karl Wolfskehl, Friedrich Wolters Übertragungen: Dante Reprint der Auslese-Bände 1929

Bei allen Veränderungen innerhalb der langen Geschichte der BfdK (s. u.) gibt es eine Reihe von nur wenig variierten Merkmalen: Zu den Strategien der Exklusivität gehört zunächst, dass StG seine Zeitschrift ,außerhalb des Marktes‘ situiert. Auf einer zweiten Stufe kann dies wiederum als Teil des Konkurrenzkampfes auf dem Buchmarkt gedeutet werden.38 Die Finanzierung der BfdK erfolgte, wie erwähnt, zunächst durch ihre Beiträger – aus den ersten beiden Bänden von 1892 sollte für den „,geladenen leserkreis‘ keinerlei geldverpflichtung“ entstehen (G/H, 44). Die Beiträger weisen potenzielle Leser auf die Publikation hin. In einigen Buchhandlungen liegen die BfdK aus. Primär suchen und finden die BfdK anfangs Anschluss an die literarischen Öffentlichkeiten in Frankreich und vor allem in Belgien, die von ähnlichen Vorstellungen und Organisationsformen ausgingen wie StG. Insgesamt besetzen die BfdK eine „halböffentlich[e]“ Position, die verhältnismäßig flexibel, aber für manche Beobachter auch unklar definiert ist.39 Aufschlussreich ist Hofmannsthals Irritation: Die financielle Seite unsres Unternehmens ist mir unverständlich; in welcher Weise kann ich etwas für seine Erhaltung thuen? soll ich (verständige) Abonnenten, oder Abnehmer einzelner Nummern suchen? jedenfalls, auch wenn ich in der Wahl geladener Leser noch so exclusiv bin, muß ich doch noch um 4 weitere Exemplare bitten. Oder wird die Auflage wirklich nur für Mitarbeiter berechnet? Bitte orientieren Sie mich ein bischen. (G/H, 45f.)

Klein sendet die gewünschten Exemplare, verbunden mit der Versicherung, es sei ihm „um so angenehmer je mehr (geeignete) leser“ Hofmannsthal werbe. Zudem erklärt er, dass „vorläufig […] jeder mitarbeiter eine nummer auf seine kosten herstellen“ 38 Vgl. Dimpfl, Zeitschriften, S. 130, 175. 39 Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 16f.

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und ein Abonnent von 1893 an „halbjährlich drei mark“ zahlen solle (G/H, 47). Angaben über den Preis einer Folge der BfdK schwanken in den folgenden Jahren zwischen 3 Mark und 4,50 Mark; die abschließende Doppelfolge 11/12 wurde an Privatkäufer für 20 Mark vertrieben.40 Bei der Festlegung des Preises blieb den Herausgebern Gestaltungsspielraum, weil die jeweils neuen Hefte mit der Zeit durch die Erträge des vorangegangenen Verkaufs finanziert werden konnten und die BfdK weder auf Gewinn spekulierten noch ihren Autoren Honorare zahlten.41 Insgesamt waren die Preise daher nicht prinzipiell festgelegt, sondern wurden immer wieder ad personam und nach Marktlage bestimmt.42 Die Auflagen der BfdK liegen zwischen 200 Exemplaren der Erstauflage des ersten Bands und 1.000 Exemplaren der zweiten Auflage der elften/zwölften Folge,43 die jedoch eine Ausnahme darstellt. Kluncker berechnet eine mittlere Auflagenhöhe von ungefähr 300 Exemplaren (K, 62). Als Indizien sind zu nennen: Für die Mitarbeiter eines Bandes waren jeweils zehn Exemplare reserviert (G/H, 70), wobei über die Modalitäten Unstimmigkeiten bestanden. Karl Bauer beschwerte sich am 31. August 1893 bei Klein: „Gestern kamen 10 Exemplare der ,Blätter‘ von Cynamon, wobei 5 M Nachnahme zu zahlen war, obgleich ich Cyn. geschrieben, dass ein Mitarbeiter nach Ihrer (+ auch Herrn George’s Angabe) 10 Freiexemplare beanspruchen koenne“ (StGA). Nicht genau kalkulieren lässt sich der Vertrieb über den allgemeinen Buchhandel, für den oben bereits ein Beispiel für die Berliner Buchhandlung Asher & Co. gegeben wurde. Im Nachlass Gundolfs findet sich ein ,Mitglieder‘-Verzeichnis für den Kreis der BfdK mit 151 Eintragungen von 1903.44 In derselben Zeit wurde eine Werbebroschüre in einer Auflage von 300 Stück gedruckt. Weitere Aufstellungen für die Verteilung der ersten Bände in den Blätter-Materialien im StGA bestätigen die Zahlen.45 Eine Rechnung für Melchior Lechter vom 10. Juli 1900 von der Druckerei Otto von Holtens, der den Druck der BfdK von 1901 an übernahm, nennt 175 Exemplare. Für die sechste Folge der BfdK stellte die Druckerei am 25. Mai 1903 eine Rechnung für 300 Exemplare aus, eine Liste für den Vertrieb dieser Folge kalkuliert mit rund 250 verteilten Exemplaren. Auch die siebte Folge ging einer Rechnung vom 8. Juni 1904 zufolge mit 300 Exemplaren in den Druck, wobei Aufstellungen vom 18. August und 12. November 1904 zufolge 66 Exemplare von Subskribenten und 108 Exemplare von Buchhandlungen gekauft wurden. Die neunte Folge wurde in einer Auflage von rund 400 Exemplaren gedruckt, wovon am 26. September 1910 385 Exemplare ausgeliefert wurden. Für die zehnte Folge bestand ein 40 Vgl. Rechnung von O. v. Holten v. 30.11.1920, StGA. 41 Dauthendey schrieb jedoch am 14.11.1899 an C. A. Klein: „Herr Stefan George sprach im vorigen Winter zu mir in Berlin davon, dass die Blätter f. d. Kunst jetzt wahrscheinlich Honorar zahlen würden“, StGA. 42 Vgl. K, S. 61; Dimpfl, Zeitschriften, S. 152. 43 Kluncker war sich nicht sicher, ob schon die erste Auflage im Umfang von 2000 Exemplaren hergestellt wurde (K, 83). Nach der Rechnung v. 30.11.1920 durch von Holten wurden die erste und die zweite Auflage jeweils mit 1000 Exemplaren gedruckt (StGA). 44 Ediert in: Stefan George. Dokumente seiner Wirkung. Aus dem Friedrich Gundolf Archiv der Universität London, hrsg. v. Lothar Helbing u. Claus Victor Bock mit Karlhans Kluncker, Amsterdam 1974 (CP 111/113), S. 296ff. 45 Vgl. die Adressen-/Abonenntenlisten für die erste, zweite und sechste Folge der BfdK, StGA.

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Angebot für den Druck von 500 Exemplaren vom 20. Oktober 1914. Weiterhin liegen Einzeichnungszettel für die fünfte und siebte Folge vor sowie Einzelbestellungen für andere Bände.46 Tendenziell stiegen die Verkaufszahlen mit den Jahren an, wobei die Erstauflagen anfangs deutlich unter, später deutlich über 300 Exemplaren lagen. Wichtig war für StG, dass es kein Überangebot gab. Wie im Fall seiner eigenen Werke legte er großen Wert darauf, dass eine Ausgabe nach Möglichkeit komplett vertrieben wurde und damit u. a. – wie im Fall insbesondere der ersten Bände der BfdK – zum Rarissimum avancierte. Die Nachrichten am Ende der letzten Folge der BfdK schließen daher mit der Feststellung, dass sämtliche Folgen der Zeitschrift vergriffen seien.47 Die BfdK erschienen bis zuletzt im Selbstverlag Carl August Kleins. Aus diesen Bänden wurden drei Auswahlausgaben hergestellt: Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1892–1898 sowie 1898–1904 und 1904–1909. Diese Auslese-Bände wurden im Verlag Georg Bondi veröffentlicht. 1929, also zeitgleich mit Wolters’ ,Blättergeschichte‘ und parallel zu den Bänden von StGs Gesamt-Ausgabe der Werke, wurden sie noch einmal als Reprint aufgelegt. Die Auslese-Bände hatten durchgehend vergleichsweise hohe Auflagen. Bondi gibt 4.000 Exemplare für den Band von 1899 an, 2.500 für den Band von 1904 und 2.800 für den Band von 1909 (GB, 28). Für die Auslieferung der BfdK waren anfangs Klein und der Berliner Drucker Cynamon zuständig. Ab der fünften Folge von 1901 übernahm Otto von Holten, der Drucker Bondis, Druck und Vertrieb. Gleichzeitig fiel der Hinweis auf die Buchhandlungen, in denen die BfdK gesondert auslagen, auf dem Titelblatt weg. Neben den bereits genannten Buchhandlungen ist dabei Littauer’s Kunstsalon in München zu nennen, der ab 1896 von der dritten Folge an die Pariser Buchhandlung von Le´on Vanier auf dem Titelblatt ersetzte und schon zuvor für den Vertrieb der BfdK in München zuständig war48 – bereits im Februar 1894 weist die Allgemeine KunstChronik darauf hin, dass die BfdK, „die für einen intimen Leserkreis bestimmten Veröffentlichungen der deutschen Symbolisten“, bei Littauer ausliegen und für „1 M. pro Band erworben werden“ können.49 StG lieferte qualitativ und quantitativ den wichtigsten Beitrag zu den BfdK mit einer repräsentativen Auswahl aus seinem Werk von rund 200 Texten, darunter zum größten Teil Lyrik, dann aber auch Prosa sowie wenige dramatische Versuche. Hinzu kommen weitere 120 übersetzte Stücke, wobei die Übersetzungen teilweise nur unter seiner „aufsicht und mithilfe“ entstanden.50 Bei StG lag zudem die letzte Entscheidung über eine Publikation anderer Autoren. Er begutachtete eingehende Beiträge und redigierte gegebenenfalls die für die Publikation in den BfdK vorgesehenen Texte. So erklärt Klein auf Nachfrage Andrians am 2. Januar 1894, er habe „bereits die ehre [gehabt] Ihnen zu sagen dass die einrückung in die ,Blätter‘ nicht allein von mir sondern auch von unsren andren mitgliedern besonders unsrem gründer ab46 Alle Unterlagen im StGA. 47 BfdK 11/12/1919, S. 320. 48 Vom 26.6.1894 liegt eine Aufstellung der bei Littauer vorrätigen Exemplare der BfdK vor (StGA) – danach folgen weitere. 49 Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 12, 91. 50 Vgl. z. B. SW XV, S. 102 oder SW XVI, S. 108. Ein Stück der Gorter-Übersetzungen wird direkt Max Koblinsky zugewiesen (BfdK 3/1896, 3, S. 94).

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hängt […]“.51 Die genauen Redaktionsverläufe lassen sich heute nur noch in einigen Fällen genauer nachvollziehen.52 Für Autoren blieb das Verfahren vielfach undurchsichtig: Sie erfuhren oft erst durch die Publikation, dass ihre Gedichte akzeptiert worden waren; StG verweigerte eindeutige Worte und verschob die Klärung auf das persönliche Gespräch; nur ausnahmsweise versandte er Druckfahnen und griff ohne Rücksprache mit den Autoren in deren Texte ein.53 Gerade über diesen Teil der Redaktionspraxis kam es in einigen Fällen zu harten Auseinandersetzungen, etwa – wie erwähnt – mit Hofmannsthal, aber auch mit Andrian.54 Teile der Redaktionsarbeit, etwa die Korrespondenz mit Beiträgern, delegierte StG zunächst an Klein, dann Mitte der 1890er-Jahre zunehmend an Wolfskehl55 und Melchior Lechter und später an Friedrich Gundolf (K, 8f., 50, 55). Die Bekanntschaft mit StG oder einem anderen ,Mitglied‘ des Blätter-Kreises bildete in der Regel die Voraussetzung dafür, in den BfdK publizieren zu können (K, 29, 51f.) – im Januar 1901 etwa trug StG Gundolf auf, sich „sofort“ mit einem potenziellen Beiträger „in verbindung“ zu setzen und mit ihm über eingesandte Gedichte „zu reden“, da er selbst verhindert sei (G/G, 76). StG nutzte also mit gezielten Einschränkungen die Möglichkeiten, die ihm die fernkommunikative Organisation einer Zeitschrift bot, weil die Funktion der BfdK nur in zweiter Linie in der Publikation von Artikeln für Leser bestand. Vielmehr verfolgte StG pädagogische und soziale Ziele im Blick auf die Beiträger, deren Verhältnis zur Zeitschrift daher von ihm genau beobachtet und gegebenenfalls gemaßregelt oder sanktioniert wurde. Unter den Autoren, die den BfdK ihre Beiträge angeboten haben, aber abgelehnt wurden, finden sich einige wenige renommierte Namen, etwa die Brüder Hart,56 Oskar Loerke oder Rainer Maria Rilke (K, 55f.). Die Beiträger waren in der Regel verhältnismäßig jung – StG war bei der Gründung der BfdK 24 Jahre alt, Hofmannsthal 18, Ge´rardy 22, Rouge 24. Im Vergleich der ersten sieben Bände der BfdK mit den alternativen Angeboten im Kunstwart und der Freien Bühne bzw. der Neuen Deutschen Rundschau in den Jahren 1887 bis 1905 wird dies noch deutlicher: Während der Anteil der zwischen 1871 und 1885 geborenen Autoren im Kunstwart bei 14 % und bei der Freien Bühne / Neuen Deutschen Rundschau bei 19 % liegt, beträgt der Anteil dieser jüngeren Generation in den BfdK 36 %.57 Das symbolische Kapital bezieht StG zunächst aus der marktfernen Positionierung sowie aus dem Anschluss an den literarischen Standard im Ausland: Die Übersetzungen bestimmen in unterschiedlicher Gewichtung und in wechselnder nationaler und historischer Ausrichtung das Profil der BfdK wesentlich mit (K, 88ff.). 51 Leopold Andrian, S. 25. 52 Vgl. hierzu und zum Folgenden exemplarisch die Materialien in: Leopold Andrian, insbes. die Varianten: ebd., S. 62ff., sowie die bei den BfdK eingesandten, aber nicht abgedruckten Gedichte: ebd., S. 82ff. Eine Fülle von eingesandten Originalen findet sich, soweit erhalten, im StGA. Dabei beschränken sich Varianten zum gedruckten Gedicht nicht auf die in den Manuskripten eingetragenen Korrekturen. 53 Vgl. Alt, Hofmannsthal, S. 35. 54 Z. B. Leopold Andrian, S. 39ff. 55 Vgl. Oelmann, „Petrus“, S. 45. 56 Julius Hart rezensierte die BfdK im Dezember 1892 für die Freie Bühne herablassend; vgl. dazu: Dimpfl, Zeitschriften, S. 151. 57 Vgl. Dimpfl, Zeitschriften, S. 127, 196.

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Ein Dichter wie Hofmannsthal war somit in den BfdK die Ausnahme, und gerade bei ihm ergaben sich Probleme bei der Bindung an die Zeitschrift. Zwar publizierte auch StG bis 1899 an anderen Orten. Aber er selbst stellte die BfdK immer über andere Publikationsorgane und forderte diese Hierarchisierung auch von den Autoren seiner Zeitschrift. Der Anteil von Autoren, die in den BfdK debütierten, ist wiederum relativ hoch. Das typische Profil des noch nicht oder nicht etablierten Autors tritt insbesondere im Kontext der Kreisbildung in den nach der Jahrhundertwende erschienenen Folgen der BfdK immer deutlicher hervor. Hier konnte StG auch strikter auf der Bindung an die BfdK bestehen, setzte sich allerdings der Konkurrenz auf dem Zeitschriftenmarkt aus. So schrieb er beispielsweise am 18. November 1899 über Gundolf: Was mich offen gestanden nicht sehr angenehm berührte war dass ich den Friedrich Gundolf noch ganz warm aus den ,Blättern‘ kommend in diese neusüchtige misch-zeitschrift Wiener Rundschau einspringen sah. ich hätte ihm mehr ,keuschheit‘ zugetraut … Sobald wir irgend einen neuen namen haben strecken diese leute sofort ihre klebrigen finger danach aus … (G/G, 44)

Irritierend musste für Beobachter von außen sein, dass StG 1898 und 1899 selbst in der Wiener Rundschau publizierte (GPL, Nr. 97, S. 109). Bei der Einschätzung eines Beiträgers war für StG eine ausreichende Menge insbesondere an Gedichten wichtig. Sowohl beim einzelnen Produktionszusammenhang als auch in der Zeitschrift insgesamt setzte er auf das Qualitätskriterium der Dauer und der Werkförmigkeit. Deswegen gab er beispielsweise selbst kleinen Gedichtgruppen Überschriften, die auf ein größeres Werk als Basis einer ,Auswahl‘ schließen ließen (K, 51ff., 80). Weiterhin legte er Wert darauf, dass junge Autoren mit einer umfangreicheren Gruppe von Gedichten in den BfdK debütierten (z. B. G/G, 120). Auch diese Prinzipien führten dazu, dass die Bände der BfdK in unregelmäßigen Abständen erschienen. Bei aller Diskontinuität markieren die BfdK gleichwohl – wie schon die erste Vorrede ankündigt (s. u.) – ein einheitliches ,wollen‘. StG blieb mit wenigen Verbesserungen beim Erscheinungsbild der Zeitschrift. Klein schreibt dazu in seinen Erinnerungen: Ein weiteres Kuriosum bildeten die Setzkästen des biederen Druckers. In ihnen herrschte, wie es eben in einer Winkeldruckerei nicht anders sein konnte, ein wahres Tohuwabohu der unglaublichsten Letternarten und der ausgedientesten Drucktypen, die sich in friedlichem Beisammensein herumsielten, ohne zu ahnen, dass sie Gegenstand meines fassungslosen Grauens wurden. Wenn ich mich auch lediglich auf meine eigene sondierende Funktion als ,Faktor‘ verlassen konnte, so war es doch unsre größte Genugtuung, dass wir in unsrem jugendlichen Ungestüm aller Unzulänglichkeiten spotteten und leicht alle Hindernisse nahmen. Jeder, dem wie uns eine künstlerische Besessenheit eignet, vermag uns das stolze Bewußtsein nachzuempfinden, das unsre Herzen höher schlagen ließ, als ausgehend aus jener verwahrlosten Druckerei und jener armseligen Studentenbude die Blätter für die Kunst ihren Siegeszug durch die Welt antraten. (CAK, 40)

Ein korrigiertes Titelblatt des ersten Bandes im StGA belegt, dass mit den bescheidenen Mitteln der Druckerei von Cynamon bis ins Detail an der Gestaltung gearbeitet wurde. Im Laufe der Zeit vereinheitlichte StG die verwendeten Buchstabentypen und reduzierte die Ausschmückung mit Zierleisten. Dies gilt bereits für die unterschiedli-

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chen Drucke des ersten Bands der ersten Folge der BfdK (teilweise werden die Zierleisten herausgenommen; teilweise ersetzt der zweite Druck die Ornamente der ersten Fassung durch einfache Linien). Als Vorbilder lassen sich die französischen Zeitschriften anführen, an denen StG sich auch programmatisch orientiert hat. Insbesondere das Titelblatt der Zeitschrift L’Ermitage, in deren Oktober-Nummer von 1891 zwei Gedichte StGs mit einer Übersetzung Albert Saint-Pauls erschienen, erinnert an das Titelblatt zu den Einzelbänden der BfdK: In beiden Fällen werden verschiedene Buchstabentypen (mit und ohne Serifen) verwendet; das Inhaltsverzeichnis ist ähnlich formatiert; unter dem Obertitel findet sich eine kleine Zierleiste. Mit StGs durchgestalteten Gedichtbänden dieser Zeit verbinden aber die BfdK typographisch lediglich die Kleinschreibung sowie die eigenwillige Zeichensetzung (K, 65ff.). Man kann nur mutmaßen, wie StG die BfdK gestaltet hätte, wenn der ursprüngliche Plan, die Zeitschrift bei Vaillan-Carmane, dem Verleger der Pilgerfahrten und des Algabal, drucken zu lassen, nicht aus finanziellen Gründen gescheitert wäre.58 Die BfdK bleiben jedenfalls anfangs unter dem Niveau, das Kleins Theorie der Buchgestaltung im fünften Band der ersten Folge unter der Überschrift Das doch nicht Äusserliche entwirft.59 Konsequent setzt sich jede Folge der BfdK aus fünf Bänden zusammen. Dies gilt selbst im Fall der extrem langen Publikationsdauer der vierten Folge, deren Bände zwischen November 1897 und Mai 1900 erscheinen, sowie für die Produktion ab der fünften Folge, bei der die Bandeinteilung nur noch virtuell von Bedeutung ist, weil die Folgen jeweils komplett in einem Buch erscheinen. Jeder fünfte Einzelband der ersten vier Folgen enthält ein vollständiges Inhaltsverzeichnis, das von den Inhaltsverzeichnissen auf den jeweiligen Titelblättern im Übrigen regelmäßig abweicht, sowie ein gesondertes Titelblatt für die Bindung der Gesamtfolge, das dann ab der fünften Folge das Modell für die Titelblätter der als Buch herausgegebenen Folgen ist (K, 66f.). Die Folgen bestehen anfangs aus broschierten Einzelbänden mit 32 Seiten; insgesamt haben die Folgen jeweils einen Umfang von 156 Seiten (mit Ausnahme von BfdK 11/12 mit 320 Seiten). Für die Bände der Folgen eins bis sieben hat Thomas Theodor Heine 1895 eine Zeichnung für den Umschlag gestaltet, der in verschiedenen Farben getönt wurde (s. u.) – nachdem Heine sich für StG als Mitarbeiter von Zeitschriften wie Die Jugend oder Simplicissimus disqualifiziert hatte, verwendete StG die Umschlagszeichnung nicht mehr (K, 66f., 70, 84). StG demonstrierte mithin im äußeren Erscheinungsbild, soweit es für ihn vertretbar war, den programmatischen Anspruch auf Kontinuität und die einheitliche Linie, auch wenn bei der Definition der Ausgangsbedingungen viel Zufall im Spiel gewesen ist. Die Einzelbände sowie Gesamtfolgen sind inhaltlich klar geordnet: Nach einem Vorwort bzw. den sogenannten Merksprüchen (seit BfdK 2/1894, 2; s. u.) stehen in der Regel zunächst Beiträge von StG. Diese sind nicht immer namentlich ausgewiesen: Teilweise publizierte StG anonym, teilweise pseudonym, teilweise lieferte er Übersetzungen – die Spitzenstellung der von StG übertragenen Gedichte Wacław Lieders in der dritten Folge der BfdK (Band 2, 3 u. 5) erklärt sich durch StGs Übersetzungskonzept, das ,fremde‘ Werke gewissermaßen ins Korpus des ,eigenen‘ Werks überführt. Ausnahmen machte StG lediglich im Fall von drei toten Dichtern: Richard Perls (BfdK 4/1899, 3), Maximilian Kronberger (BfdK 7/1904) und Hölderlin (BfdK 9/1910). 58 Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 11. 59 BfdK 1/1893, 5, S. 144–146.

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I. Stefan George und sein Kreis

Die Einleitungen und Merksprüche stammen zwar nicht immer von StG (K, 93), sind aber als programmatische Verlautbarungen in seinem Sinn zu beurteilen. Auf die Beiträge StGs folgen dann jeweils nach Maßgabe seiner Wertschätzung die weiteren Autoren: Hofmannsthal etwa steht in den ersten Folgen in der Regel auf Platz zwei, danach rangieren Ge´rardy und Klein. Den Abschluss der Einzelbände bzw. Gesamtfolgen bilden häufig Übertragungen. Bisweilen schließt StG mit eigenen Beiträgen einen Band ab. In beiden Fällen folgte StG dem Prinzip der Rahmung, da auch die Übersetzungen zu seinem ,Werk‘ gehören. Auf der letzten Seite eines Bands bzw. einer Folge finden sich häufig Nachrichten in einer kleineren Type. Die sozialorganisatorische Funktion der Anordnung der Autoren in den BfdK wird auch daran deutlich, dass StG mit Vorliebe Beiträger gruppiert, die persönlichen Kontakt hatten (K, 75f.). Kluncker hat darüber hinaus gezeigt, inwiefern die BfdK als eine Art Stilschule StGs gelten können (K, 108ff.). So bemerkt StG über eine „vor-blätterliche“ ShakespeareÜbertragung Gundolfs, er habe daran gedacht, sie „blätterfähig“ zu machen (G/G, 58). Auf diese Weise tragen die BfdK sozial, inhaltlich und formal zur Homogenisierung einer literarischen Gemeinschaft bei. Nach wie vor gilt Karlhans Klunckers Diktum: „Von der Zeitschrift bzw. ihrem künstlerischen Inhalt gehen kaum literarhistorisch relevante Einflüsse aus. Die Zeitschrift hat keine Wirkung, sie ist eine Wirkung Georges“ (K, 181).

3.4.

Der erste Band der Blätter für die Kunst: Programm und Durchführung

Nach wie vor fehlen detaillierte inhaltliche Untersuchungen zu den BfdK, die die einzelnen Beiträge im Kontext der jeweiligen Bände, Folgen sowie des Gesamtprojekts analysieren. Am Eröffnungsband soll exemplarisch gezeigt werden, wie komplex das strategische Arrangement der Zeitschrift angelegt ist und wie sich aus einer eigentümlichen Kombination von Planung und Zufall ein stimmiges Projekt entwickelt: 1895 fertigte Thomas Theodor Heine eine Einbanddecke für die BfdK mit einer Illustration im Jugendstil an – irritierenderweise findet sich in den Nachrichten der zweiten Folge der BfdK (1895) der Hinweis: „Die Einbanddecke sowohl für diese Folge (1894/95) als für die vorhergehende (1892/93) ist von Thomas Theodor Heine entworfen“.60 Das Umschlagbild zeigt unter der Überschrift „Blätter für die Kunst“ eine gerahmte Hirtenfigur mit einer Flöte neben einer rankenden Pflanze in einer Art Rahmen – möglicherweise spielt „Das Zeitgedicht“ auf diese Figur an, wenn es dort heißt: „der heut eifernde posaune bläst / Und flüssig feuer schleudert weiss dass morgen / Leicht alle schönheit kraft und grösse steigt / Aus eines knaben stillem flötenlied“ (VI/VII, 7). Es ist unklar, inwieweit Heine, der später als Zeitschriften-Illustrator (vor allem des Simplicissismus sowie der Fliegenden Blätter und der Jugend) und als Gebrauchsbzw. Werbegrafiker berühmt wurde, mit dem Programm und der Ausrichtung der BfdK vertraut war. Zudem ist bemerkenswert, dass mit dem gleichen Umschlagmotiv 60 BfdK 2/1895,5, S. 156. Vgl. Ute Oelmann, „Das doch nicht äusserliche“. Die Schrift- und Buchkunst Stefan Georges, Ausstellungskatalog, Stuttgart 2009, S. 28.

3. Geschichte der Blätter für die Kunst

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Entwürfe für Einbände der Gedichtsammlungen Pilgerfahrten, Algabal und Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten vorliegen.61 Der Einband führt somit in das Zeitschriften-Konzept ein, das zugleich für StGs Werk insgesamt von Bedeutung ist: Der Hirte verweist bereits auf die bukolischen Motive von StGs Einleitungsgedicht „Weihe“ (II, 10) und ruft damit eine Ur-Szene der Erfindung von Dichtung auf, die traditionell in der Hirtendichtung situiert ist. Das umfassende Kunstprogramm der BfdK, die in den ersten Folgen mehrfach mit Bild- und Notenbeilagen erscheinen (s. u.), greift Heine auf, indem er in das Bild die Titelschrift integriert und dem Hirten ein Musikinstrument in die Hand gibt. Die lebensphilosophische Dimension der BfdK bringt Heine schließlich dadurch zum Ausdruck, dass er den Hirten in auffälliger Weise den Rahmen, der ihn umgibt, transzendieren lässt: zum einen in Richtung des Betrachters, da die Figur sich über den Rahmen lehnt, zum anderen in die entgegengesetzte Richtung, denn der Hirtenstab wird hinter dem Rahmen hindurch aus dem umgrenzten Bildbereich geführt. Indem Heine eine Pflanze auf die Überschrift zuranken lässt, weist er wie StG, der immer wieder die Elemente der Dichtung in die Bilder von Pflanzen sowie Natur- bzw. Parkszenerien fasst, darauf hin, dass die titelgebenden „Blätter“ durchaus sinnbildlich für das organische „Leben“ stehen. Aus diesem Grund erklärt das Vorwort der BfdK auch, „der name dieser veröffentlichung“ sage schon „zum teil was sie soll“, und dies gilt eben nicht nur für den zweiten Teil des Titels, also für das ästhetizistische Programmelement. Noch in einer weiteren Hinsicht liefert Heines Einbandbild das passende Bildprogramm für die BfdK: Es vermittelt einen Eindruck von der gestalterischen Unbekümmertheit, die das Erscheinungsbild der Zeitschrift weitgehend bestimmt, zunächst pragmatisch aus Kostengründen, dann als programmatische Entscheidung. So kombiniert das Titelblatt unterschiedliche Drucktypen; zudem fehlt jedes individuelle Gestaltungselement. Auf das mögliche Vorbild der französischen Zeitschrift L’Ermitage wurde bereits hingewiesen. Das Design passt insofern zum extremen Anspruch an die Kunst, als es das Engagement für die Sache signalisiert, und zwar unabhängig von finanziellen Erwägungen. Daher hält StG durchgehend, obgleich ihm andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, an den Gestaltungsprinzipien fest. Dass StG die Herausgeberschaft offiziell Carl August Klein überlässt und die Verantwortung damit an einen Strohmann delegiert, befreit ihn von der Verantwortung für die ästhetisch unbefriedigende äußere Aufmachung. Die pragmatische Seitengestaltung unterstützt somit das exklusive Programm der Leserwerbung, das auf dem Titelblatt der ersten Folge der BfdK mit dem eigentlich paradoxen Hinweis formuliert wird: „Diese zeitschrift im verlag des herausgebers hat einen geschlossenen von den mitgliedern geladenen leserkreis“ – wenn der ,Mitgliederkreis‘ tatsächlich ,geschlossen‘ wäre: Für wen sollte dieser Hinweis dann gedacht sein? Diese Formulierung deutet daher zunächst auf das Format einer Zeitschrift hin, in der primär Autoren für Autoren schreiben. Im ersten Band erscheinen folgende Beiträge:

61 Vgl. Oelmann, „Das doch nicht äusserliche“ (Anm. 60), S. 29.

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BfdK: [Einleitung] – S. 1–2 StG: Aus62 Hymnen Pilgerfahrten Algabal – S. 3–11 Hugo von Hofmannsthal: Der Tod des Tizian – S. 12–24 Paul Ge´rardy: Die Kreuze – S. 25–26 Edmund Lorm [d. i. StG]: Legenden – S. 27–30 Carl Rouge: Gedichte63 – S. 31 Nachrichten – S. 32

An der Spitze steht somit wie in den BfdK insgesamt StG, hier gefolgt von Hugo von Hofmannsthal und Paul Ge´rardy. Während diese Gruppe das ,Neue‘ des Kunstanspruchs repräsentiert, verbinden StGs „Legenden“, die er unter dem Pseudonym seiner Schülerzeit veröffentlicht, sowie die Beiträge von Carl Rouge die BfdK mit den Rosen und Disteln. StG signalisiert auf diese Weise für die Eingeweihten, dass die BfdK Teil eines Lebensprojekts sind. Zu Recht bekennt StG in einem Brief an Arthur Stahl vom 2. Januar 1890, dass das Planen sein ,genre‘ sei (RB II, 37). Zugleich deutet sich hier eine werkpolitische Funktion der BfdK an: StG benutzt sie, um seinem Werk eine eigene Vorgeschichte zu geben. So werden die „Legenden“ später von StG in der Fibel veröffentlicht, also im Rahmen der Juvenilia, in denen er – wie es dort im Vorwort heißt – „die ungestalten puppen aus denen später die falter leuchtender gesänge fliegen“ sieht (I, 7). Die auf dem Titelblatt vermerkte Auslage der BfdK in drei Buchhandlungen in Berlin, Paris und Wien gehört – wie an den oben genannten Verkaufszahlen zu sehen – weniger zum erfolgreichen Vertrieb als vielmehr zur Praxis der nationalen Exklusivität, die sich über internationale Verbreitung einstellt: StG markiert den Anspruch auf Internationalität, und zwar als Strategie, um sich auf dem literarischen Feld Deutschlands zu positionieren – bereits der ,mappen-plan‘ zielte auf dieses Alleinstellungsmerkmal. Schließlich haben die drei Hauptstädte symbolische Bedeutung für StG: Paris steht für das symbolistische Kunstprogramm und die Kreisbildung um Mallarme´; Wien steht für die Koalition mit Hofmannsthal, mit dem StG – wie er später erklärt – eine „heilsame diktatur“ hatte stiften wollen (G/H, 150); Berlin steht für das Redaktionszentrum der BfdK sowie für den naturalistischen Gegner, den das Kunstprogramm der BfdK angreift. Auf diese Weise grenzt StG die Kontexte ein, in deren Rahmen das zwar klar programmatische, aber auch sehr knappe und daher nur andeutende Vorwort der BfdK gelesen werden muss: Der name dieser veröffentlichung sagt schon zum teil was sie soll: der kunst besonders der dichtung und dem schrifttum dienen, alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend. Sie will die Geistige Kunst64 auf grund der neuen fühlweise und mache – eine kunst für die kunst – und steht deshalb im gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang. sie kann sich auch nicht beschäftigen mit weltverbesserungen und allbeglückungsträumen in denen man gegenwärtig bei uns den keim zu allem neuen sieht, die ja sehr schön sein mögen aber in ein andres gebiet gehören als das der dichtung. 62 Im zweiten Druck kleingeschrieben: „aus“. 63 Im zweiten Druck ohne diese Überschrift – auf diese Weise passen die Gedichte auf eine Seite und die Nachrichten stehen, wie sonst auch in den BfdK, gesondert auf dem letzten Blatt. 64 Im zweiten Druck in Großbuchstaben: „GEISTIGE KUNST“.

3. Geschichte der Blätter für die Kunst

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Wir halten es für einen vorteil dass wir nicht mit lehrsätzen beginnen sondern mit werken die unser wollen behellen und an denen man später die regeln ableite. Zwar werden wir auch belehrend und urteilend die neuen strömungen der literatur im inund ausland einführen, uns dabei aber so sehr wie möglich aller schlagworte begeben [Anm. i. Orig.: „Symbolismus Dekadentismus Okkultismus u. s. w.“] die auch bei uns schon auftauchten und dazu angethan sind die köpfe zu verwirren. Es sei hervorgehoben dass wir jeder fehde abgeneigt sind: wenn wir diese blätter verbreiten so geschieht es um zerstreute noch unbekannte ähnlichgesinnte zu entdecken und anzuwerben. Welche gestalt das unternehmen (ob einfacher ob vergrössert) gewinnt wird unsern lesern mitgeteilt. Enthalte man sich auch allen streites und spottes über das leben wobei – wie Goethe meint – nicht viel herauskommt. In der kunst glauben wir an eine glänzende wiedergeburt.65

Das Vorwort enthält in Andeutungen ein zwar rhetorisch strikt formuliertes, letztlich aber inhaltlich verhältnismäßig offenes Programm mit einer Vielzahl von Perspektiven für die folgende Entwicklung der BfdK: – Kunstprogramm:66 Das Vorwort nennt die ästhetischen Leitwerte einer „geistigen Kunst“ sowie einer „kunst für die kunst“. Damit wenden sich die BfdK gegen naturalistische Positionen, wie StG sie beispielsweise in Hermann Conradis „Unser Credo“ in der programmatischen Lyriksammlung Moderne Dichter-Charaktere (hrsg. v. Wilhelm Arent, 1884) oder auch in der Ankündigung der Freien Bühne für modernes Leben (1890) finden konnte:67 Der naturalistische Anspruch auf radikale Erneuerung wird nun im Rahmen einer Innovationsästhetik überboten, die primär auf künstlerische Perfektion setzt. – Publikationsprogramm: Zwar positionieren sich die BfdK in polemischer Konkurrenz zu anderen Zeitschriften und zu „jener verbrauchten und minderwertigen schule“. Indem sie ihr Kunstprogramm aber als Alleinstellungsmerkmal formulieren, zeigen sie sich gleichwohl „jeder fehde abgeneigt“. Implizit akzeptieren die BfdK somit, dass die Gesellschaft ebenso in autonome Teilbereiche zerfallen ist wie das literarische Feld. Diese Teilbereiche bleiben oppositionell aufeinander bezogen und eröffnen zugleich exklusive Freiräume, die StG im Rahmen des Projekts der BfdK als „ästhetizistische[] Gegen-Öffentlichkeit des esoterischen geschlossenen Zirkels“ okkupiert68 und dann sein Leben lang nach außen absichern und nach innen definieren und ausgestalten wird. – Verhaltensprogramm: Auf diese Weise erheben die BfdK zugleich – wiederum in direkter Konkurrenz mit dem Naturalismus – den Anspruch, mit der Kunst und durch sie die Defizite der Gegenwart zu beheben. Das Vorwort empfiehlt eine neue Haltung, die gleichermaßen mentale („geistig“) wie emotionale („fühlweise“) und körperliche („mache“) Einstellungen betrifft und auf diese Weise das Weltverhältnis radikal ver65 BfdK 1/1892, 1, S. 1f.; dazu: G/H, S. 32, 34f., 45. 66 Vgl. II, 1.2.1. 67 Zu Letzterem vgl. Dimpfl, Zeitschriften, S. 121, 123. 68 Ebd., S. 123.

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ändert. Daher darf man die Behauptung, „alles staatliche und gesellschaftliche“ werde aus den BfdK ausgegrenzt, nur mit Einschränkung im Sinn eines schlichten l’art pour l’art-Programms verstehen: Wenn StG fordert, der Kunst zu „dienen“, dann überträgt er eine staatsbürgerliche Haltung in sein Verhaltensprogramm. Die Absage an „weltverbesserungen und allbeglückungsträume[]“ schließt eben nicht aus, dass – wie es am Schluss heißt – „in der kunst […] eine glänzende wiedergeburt“ stattfindet. StG lässt allerdings offen, was oder wer wiedergeboren werden soll. – Leseprogramm: Die ,dienende‘ Haltung hat produktions-, aber vor allem auch rezeptionsästhetische Implikationen: StG fordert eine bestimmte Form der Beobachtung von Kunst und Künstlern, die das Einzelwerk im Kontext von „neuen strömungen der literatur im in- und ausland“ beobachtet, in die die BfdK „einführen“ wollen, und zwar ohne Rückgriff auf aktuelle „schlagworte“ wie „Symbolismus Dekadentismus Okkultismus u. s. w.“. Als privilegierten Kontext des Einzelwerks freilich legen die BfdK sich selbst nahe, indem sie einen älteren genieästhetischen Topos aufgreifen: „Wir halten es für einen vorteil dass wir nicht mit lehrsätzen beginnen sondern mit werken die unser wollen behellen und an denen man später die regeln ableite“ – mit anderen Worten: Erst im Verlauf einer zeitintensiven Beobachtung von „werken“ in ihrem Kontext wird die dahinterstehende Intention (das „wollen“) erkennbar. Insofern führen die knappen, teils enigmatischen Formulierungen des Vorworts im Vollzug bereits in das komplexe Programm der BfdK ein: Erst im sozial- und literaturgeschichtlichen Zusammenhang gelesen, erschließen sich die adressierten Gegner; nur im Kontext der in der Zeitschrift publizierten Texte gelesen, erhellen sich allmählich inhaltlich die Programmpunkte des Vorworts; und nur wer zu dieser intensiven Aufmerksamkeit bereit ist, wer sich aufgrund einer grundsätzlichen Affinität auf diese Art der dauerhaften Betrachtung einlässt, eignet sich diesem Programm zufolge als Rezipient und Autor. Daher erklärt das Vorwort, die BfdK werden publiziert, „um zerstreute noch unbekannte ähnlichgesinnte zu entdecken und anzuwerben.“ StG gesteht an dieser Stelle offen ein, dass es ihm bei aller Exklusivität um ,Werbung‘ geht, und dies gilt zunächst für sein eigenes Werk, das unter der Überschrift „aus Hymnen Pilgerfahrten Algabal“ mit folgender Anmerkung die BfdK einleitet: Wir beginnen mit diesen auszügen aus den dichtwerken Stefan George’s nach der neuen eben vorbereiteten ausgabe. die vorlezten verse der Pilgerfahrten werden hier zum erstenmal veröffentlicht, desgleichen alle des Algabal von dem gegenwärtig nur ein sonder-druck besteht. (der Herausgeber).69

StG deutet damit die folgende Werkpolitik an: Zum einen etabliert er einen Werkzusammenhang von drei Gedichtbänden als ,Frühwerk‘; zum anderen weist er generell darauf hin, dass das Einzelwerk als Teil des Gesamtwerks wahrgenommen werden soll. Die Auswahl der Gedichte aus den drei ersten Bänden folgt keinem einheitlichen Schema – generell müssen StGs Selektionsverfahren in den BfdK für jeden Fall im Einzelnen rekonstruiert werden: Aus den Hymnen greift er das erste und letzte Ge69 BfdK 1/1892, 1, S. 3. Vgl. zum Vorabdruck in Flore´al: Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 43f.

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dicht („Weihe“, „Die Gärten schliessen“) sowie zwei weitere Gedichte aus der Mitte der Sammlung heraus („Nachthymne“, „Gespräch“). Aus Pilgerfahrten wählt StG die Gedichte „Mahnung“ und „Neuer Ausfahrtsegen“ sowie das Abschlussgedicht („Die Spange“). Aus Algabal publiziert StG alle Gedichte der Rubrik „Im Unterreich“ („Ihr hallen prahlend in reichem gewande“, „Der saal des gelben gleisses und der sonne“, „Daneben war der raum der blassen helle“, „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“). Gerade durch diese variantenreiche Auswahl lenkt StG wiederum den Blick auf drei Verfahren der Werkbildung: Oftmals verweisen Anfangs- und Endgedicht einer Sammlung aufeinander, sodass durch das Verfahren der Rahmung konzeptionelle Einheit suggeriert wird. Typischerweise bezieht sich dabei das letzte Gedicht einer Sammlung bereits auf den nächsten Gedichtband und markiert die planvolle Konzeption eines Gesamtwerks (das Abschlussgedicht der Hymnen spielt beispielsweise überdeutlich auf die Pilgerfahrten an: „[…] Baust du immer noch auf ihre worte / Pilger mit der hand am stabe?“70). Schließlich demonstriert StG mit der Publikation des Subzyklus „Im Unterreich“, dass er mit Algabal das für die folgenden Gedichtbände prägende Prinzip der Zyklizität ausgebildet hat.71 Zyklische Strukturen machen das (in sich gestufte) Gesamtwerk zum privilegierten Kontext des Einzelwerks und umgekehrt. Die zyklische Ordnung ist damit eine Form der Werkbildung, die stufenweise vom einzelnen Gedicht über die einzelne Gedichtsammlung zum Gesamtwerk führt. Sie ist ein Verfahren, den Sinn für Zusammenhänge zu schärfen oder auszubilden, und prägt eine Form der relationalen Aufmerksamkeit, die den ,Stellenwert‘ des Gedichts in dessen Beobachtung einbezieht. Die BfdK lancieren insofern eine bestimmte Beobachtungshaltung und liefern zugleich mit Beiträgen anderer Autoren weitere Kontexte, auf die StGs Werk als Teil einer literarischen ,Bewegung‘ bezogen werden kann. Sie positionieren sich – wie bereits zitiert – als Alternative zum Naturalismus, also „im gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang“. Daher arbeiten sie mit bemerkenswerter Konsequenz an einer neuen „auffassung der wirklichkeit“, die die aktuell wahrgenommene Kunst in einem primär künstlerischen Beziehungsgefüge beobachtet. Dies kann kunst- oder literaturhistorisch geschehen, aber auch im Blick auf ein Werk. Die BfdK definieren damit zugleich ästhetische wie soziale Haltungen. Eben diese Aufmerksamkeitshaltung provoziert und exemplifiziert das Initiationsgedicht „Weihe“.72 Um dies nur anzudeuten: „Weihe“ thematisiert die Erwartung eines höchst enigmatischen Ereignisses, dessen Anbahnung als eine Art Wahrnehmungsexperiment abläuft („Siehst du im takt des strauches laub schon zittern […]? / Hörst du der elfen lied zum elfentanz?“73). Synästhesien („Das auge schauend harre der erhörung“ u. a.) und die Aufmerksamkeit für kleine Bewegungen („schwingen“, „zittern“ u. a.) markieren, dass es um die Totalokkupation geschärfter Sinne geht, und 70 BfdK 1/1892, 1, S. 5. 71 Vgl. Gabriel Simons, Die zyklische Kunst im Jugendwerk Stefan Georges. Ihre Voraussetzungen in der Zeit und ihre allgemeinen ästhetischen Bedingungen, Masch. Diss., Köln o. J.; Braungart 1997, S. 265ff. 72 Vgl. Martus, Werkpolitik, S. 527ff. 73 BfdK 1/1892, 1, S. 3.

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dies an einem Fluchtort („Hinaus zum strom!“), der der „Weihe“ zur Kunst optimalen Entfaltungsraum bietet. Wie im Vorwort der BfdK wird dabei „alles staatliche und gesellschaftliche“ aus- und zugleich eingeschlossen: Die Fluchtbewegung führt in eine zutiefst sozialisierte Natur, in der Disziplinierungskämpfe ausgetragen werden (die „hohen rohre […] neinen74 junger wellen schmeichel-chore / Zum ufermoose kosend vorzudringen“). Gleiches gilt für den Umgang mit Vorgängern und Traditionen: Dass die „Weihe“ nicht an der ,Quelle‘, sondern am ,Strom‘ stattfindet, ist im Zeitalter des Historismus nur konsequent; und ebenso konsequent ist es, dass die „rohre“ als Symbol der neuen Kunst ein Bollwerk gegen die Verführungen des ,Stroms‘ bilden – StG weiß, dass das Versprechen des ,Neuen‘ nur unter Bedingungen der Geschichte und gegen diese Vereinnahmung des Künstlers durch die Tradition eingelöst werden kann. Insbesondere mit den Übersetzungen zeigen die BfdK, inwiefern sie Vorgängern verpflichtet sind. Zugleich werden sie immer wieder ihre nationalliterarische Eigenständigkeit betonen. Daher wird dem Adressaten des Gedichts „Weihe“ befohlen, sich „an starkem urduft“ zu „betäuben“, „so dass die fremden hauche all zerstäuben“: Mit „hauch“ übersetzt StG hier das französische ,souffle‘, das bei den Parnassiens als Chiffre für ,Dichtung‘ steht.75 Und tatsächlich imitiert StG mit „Weihe“ den Eröffnungscoup von Baudelaires Les Fleurs du Mal, die mit der „Be´ne´diction“ einsetzen. Allerdings bezieht sich StG so auf Vorgänger, dass dabei die „segnung“, die im Gedicht explizit genannt wird, gleichsam intertextuell „zerstäubt“ und auf alle möglichen Topoi der Dichterinitiation anspielt. Die Ansammlung intertextueller Bezüge, von der bukolischen Erfindung der Poesie bis zum Musenkuss, subvertiert gerade die Zuschreibung des Gedichts an bestimmte Vorgänger und führt auf die Frage, wie die neue Dichtung mit dem Material umgeht, das der ,Strom‘ der Literaturgeschichte an ihr Ufer spült – kurz: Das Gedicht lenkt durch die Fülle seines Gehalts die Aufmerksamkeit auf die von den BfdK betonte ,mache‘ und es lenkt die Aufmerksamkeit auf die eigens arrangierten Bedingungen seiner selbst: Daher wechselt StG in der letzten Strophe, die eine verquere Musenkuss-Szene darstellt,76 ins Präteritum und stellt die vorangegangenen Strophen des Gedichts unter die Bedingung seines Endes, das jedoch selbst nicht ohne die Anbahnung der Initiation gedacht werden kann. Das Gedicht ist die Bedingung seiner eigenen Entstehung, so wie die BfdK die Voraussetzungen ihrer ,Bewegung‘ selbst bestimmen. Die lyrische Initiation in die BfdK mit „Weihe“ korrespondiert mit anderen Gedichten, die StG für die BfdK auswählt, insbesondere mit dem Zyklus „Im Unterreich“ aus Algabal. Auch dort geht es um die Totalokkupation der Sinne durch die kostbare Ausstattung des Innenreichs; auch hier werden atmosphärische Szenen aufgebaut; auch hier wird offensiv mit „gesamter städte ganzer staaten beute“77 so gearbeitet, dass das Material für die souverän ausgestalteten Räume des schöpferischen Tyrannen im „Unterreich“ zwar aus der Oberwelt genommen wird, sich aber in sei74 Im zweiten Druck „wehren“. 75 Vgl. Hubert Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges. Eine stilgeschichtliche Untersuchung, Köln, Graz 1967, S. 91, 156. 76 Vgl. Ralf Simon, Hymne und Erhabenheit im 19. Jahrhundert, ausgehend von Stefan Georges ,Hymnen‘, in: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, hrsg. v. Steffen Martus, Stefan Scherer u. Claudia Stockinger, Bern u. a. 2005, S. 357–385, hier: 358f. 77 BfdK 1/1892, 1, S. 10.

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nem Arrangement autonomisiert. Das Schlussgedicht „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“ leitet diese Aufmerksamkeit dann wiederum auf die materielle und mediale Grundlage von Dichtung: Die geschilderte Szenerie des leblosen Gartens spielt damit, dass der Gegenstand, sein Darstellungsmedium und die technischen Voraussetzungen vexierbildartig zugleich thematisiert werden: Der Vers „von kohle die stämme von kohle die äste“ deutet an, dass es sich um eine Kohlezeichnung handelt – Kohle ist also zugleich Objekt, Medium und Werkzeug der schöpferischen Aktion; Licht erscheint daher wie auf einer Kohlezeichnung als ein „grauer schein“; „staubige dünste“ sind das Material, aus dem das Bild besteht. Die abschließende Frage „Wie zeug ich Dich aber im heiligtume […] / Dunkle grosse schwarze blume“ steigert diese Vexierbildstruktur, die die von den BfdK betonte ,mache‘ von Kunst in den Blick rückt, auf zweifache Weise: Zum einen deutet StG an, dass alles Wesentliche bereits im Gedicht zu finden ist, denn die „schwarze blume“ steht faktisch als Schriftbild vor den Augen des Lesers. Zum anderen demonstriert StG, dass sich sein Werk nicht gegen, sondern gewissermaßen im Zweifel ereignet. Denn die Frage, wie die „schwarze blume“ erzeugt werden könnte, wird in ihrer schriftbildlichen Formulierung bereits beantwortet. Damit deutet StG zugleich an, wie gerade die schlichte Aufmachung der BfdK gleichwohl die Aufmerksamkeit des Lesers in Beschlag nimmt: Eine intensive Aufmerksamkeit betrachtet die Elemente des Gedichts bis hin auf seine ,mache‘; eine extensive Aufmerksamkeit versucht den Ort des Einzelgedichts im Gesamtzusammenhang des Werks sowie der BfdK als Lebensprojekt zu beobachten. Das Programm der BfdK, das im Umschlagbild, im Titelblatt, im programmatischen Vorwort und im Einleitungsgedicht variiert wird, zielt damit auf einen sich selbst stimulierenden Zusammenhang (von Autoren, lyrischen Werken, Zeitschriftenbeiträgen u. a.), der auf Vorleistungen referiert, sich aber gerade dadurch verselbstständigt. Von besonderer Bedeutung sind die Strukturhomologien, die zwischen der sozialen Gemeinschaft der Mitarbeiter der BfdK, den sich wechselseitig erhellenden Beiträgen innerhalb der Zeitschrift und der (Gesamt-)Werkpolitik StGs bestehen. Wie riskant dieses komplexe und voraussetzungsreiche Projekt war, lässt sich im Folgenden an vielen Stellen sehen: Bereits die auslösende Motivation für die Zeitschriftenpublikation lag in der schöpferischen Krise StGs, die er durch die Verwaltung seines Werks in den BfdK bewältigen wollte. Aber der Nachschub an hochwertigen Beiträgen wird – wie erwähnt – immer wieder zum Problem der BfdK werden. Schließlich erweist sich auch die soziale Funktion der BfdK als labil. Dies gilt, wie angedeutet, für Hofmannsthal, der sich StGs Zugriff entzieht, sowie für die sich immer wieder neu gruppierenden Mitarbeiterkreise. Die BfdK, die sich selbst ein striktes Programm verordnen, bleiben in der Durchführung anfällig für Störungen und demonstrieren, dass StG das Risiko des Scheiterns geradezu provoziert. Auch dies gehört ins Profil der Autorfigur ,Stefan George‘, wie sie bereits im ersten Band der BfdK aufgebaut wird. Denn die Gedichte aus den Hymnen und Pilgerfahrten zeigen vor allem das leidende, scheiternde lyrische Ich, das gleichwohl seine Sehnsucht weiter verfolgt und am Lebensprojekt festhält. StG greift damit einmal mehr auf das Vorbild Mallarme´s zurück – der französische Dichter repräsentiert die Figur des Autors, der sich für sein Werk opfert. Die Beiträge von Paul Ge´rardy und von Carl Rouge zum ersten Band der BfdK demonstrieren, wie akzeptiert diese Figur des leidenden Ich ist: Ge´rardys Gedichte unter dem Titel „Kreuze“ stellen den Bezug zu christologischen Figurationen her; Rouges Gedichte thematisieren zwischenmenschliche Beziehungen.

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I. Stefan George und sein Kreis

Dazwischen aber steht das längere Gedicht „Erkenntnis“ als erste von StGs „Legenden“, das ein erotisches Desaster schildert und das Verhältnis von Mann und Frau als „schandthat“ verbucht. Am Ende der „Legende“ wird das lyrische Ich in die „verdamnis“ entlassen.78 Entscheidend ist publikationsstrategisch, dass StG dieses Gedicht unter dem Pseudonym Edmund Lorm publiziert, um eine breitere Basis der sozialen Akzeptanz für den vorgestellten Typus des leidenden Ich zu simulieren. In den BfdK findet sich nur ein einziger Beitrag einer Frau: Im vierten Band der vierten Folge veröffentlicht Gertrud Kantorowicz 1899 unter dem Geburtsnamen ihrer Mutter und mit abgekürztem Vornamen ,Gert. Pauly‘,79 wobei StG auf weitere Beiträge von ihr gehofft hat.80 Zwischen den Gedichten der Leitfigur ,George‘ und den Mitarbeitern vermittelt im ersten Band der BfdK Hofmannsthals Der Tod des Tizian. Das Dramenfragment sollte eigentlich in der Berliner Allgemeinen Theater-Revue veröffentlicht werden, die aber im Juni 1892 ihr Erscheinen eingestellt hat.81 Tatsächlich fügt es sich bei allen Differenzen zwischen StG und Hofmannsthal82 überraschend gut in die Exposition der BfdK ein, weil es unter dem Eindruck der Begegnung mit StG entstanden ist und sich auf die Gedichte StGs bezieht, also jene Mischung aus persönlichen und literarischen Interessen dokumentiert, auf die das Kunst- und Verhaltensprogramm der BfdK zielt. Das „Bruchstück“ thematisiert nicht umsonst das Verhältnis des ,Meisters‘ zu seinem Gefolge und formuliert dabei viele Punkte, die später im fünften Band der ersten Folge von StG in seiner Mallarme´-Hommage wieder auftauchen:83 Der große Künstler stimuliert eine spezifische Form der Weltwahrnehmung. Er okkupiert die Aufmerksamkeit, auch wenn seine Aussagen unverständlich sein mögen und er fordert dazu auf, sein Gesamtwerk zu beobachten: Tizian lässt sich ältere Werke bringen, um das aktuelle Werk in deren Licht zu beurteilen. Wie im Fall des Rückgriffs auf die Phase der Rosen und Disteln in den BfdK dient dieser Vergleich hier vor allem dazu, den Unterschied zwischen dem Früh- und dem Spätwerk festzustellen. Das im Drama entwickelte Kunstkonzept stimmt in vielen Punkten mit StGs Programmtexten der BfdK überein. Um dies nur anzudeuten: Gerade im Angesicht des Todes, also unter der Bedingung der größten Infragestellung des Subjekts, nimmt Tizians Schöpferkraft nicht ab, sondern steigert sich ultimativ. Auch hier also wird die Figur des leidenden Künstlers als herausragende produktionsästhetische Kategorie bestätigt. Wie StG bezieht sich Hofmannsthal auf Mallarme´, auf dessen „L’apre`s midi d’un faun“ er mit dem Ausruf „es lebt der grosse Pan“ anspielt84 (StG hatte Hofmannsthal eine Abschrift des Gedichts am 9. Januar 1892 zukommen lassen; G/H, 11, 240). Dass das Dramenfragment im Licht von StGs erster Gedichtsammlung zu 78 BfdK 1/1892, 1, S. 30. 79 Vgl. BfdK 4/1899, 4, S. 119–124. 80 Vgl. Robert E. Lerner, Poetry of Gertrud Kantorowicz: Between ,Die Blätter für die Kunst‘ and Theresienstadt, in: GJb 5/2004/2005, S. 98–109, hier: 98f. – allerdings mit der falschen Angabe, es handle sich um ein „male pseudonym“. Lerner unterschlägt die Abkürzung. 81 Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen 1, hrsg. v. Götz Eberhard Hübner u. a., Frankfurt/M. 1982 (Sämtliche Werke 3), S. 335f. 82 Vgl. zum Eingriff StGs in das Drama sowie generell zu den Unterschieden: G/H, S. 234, 247, sowie Alt, Hofmannsthal, S. 34f., 38ff. 83 BfdK 1/1893, 5, S. 134–137. 84 BfdK 1/1892, 1, S. 16.

3. Geschichte der Blätter für die Kunst

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lesen ist, verdeutlicht der Prolog: Denn hier bezieht sich Hofmannsthal auf das Gedicht „Der Infant“ aus den Hymnen, das bei StG in der Rubrik „Bilder“ zu finden war – der Page im Dramenprolog betrachtet unter den „alte[n] bilder[n]“ in einem „schloß“ vor allem das eines „Infant[en]“.85 StG wollte das Gedicht in den BfdK abdrucken, verzichtete aber nach Kenntnisnahme des Tizian-Prologs darauf. Möglicherweise vermutete er, die Leser könnten die Abhängigkeiten nicht angemessen rekonstruieren (G/H, 42).86 Zugleich reflektiert Hofmannsthal die scheiternde Beziehung zu StG, indem er den Dichter als „zwillingsbruder“ des Pagen einführt, so wie StG in einem Brief vom Januar 1892 Hofmannsthal als „zwillingsbruder“ apostrophiert hatte (G/H, 13). Mit der Reflexion über eine augenblickshafte Begegnung „beim vorübergehen“87 spielt er auf sein Gedicht „Einem, der vorübergeht“ an. Dort wiederum nimmt er jene Wahrnehmungsform für die atmosphärische Stimmung vorweg („du warst für die saiten der seele / der nächtige flüsternde wind“), die im Tizian-Drama Gianino in einer längeren Naturbeschreibung reflektiert.88 Das Verhältnis des ,Meisters‘ zu seinem Gefolge verbindet Sinngebung und Verunsicherung. Zwar hat Tizian in seiner nächsten Umgebung eine tief greifende Wahrnehmungsveränderung herbeigeführt, die die Welt als Schauplatz des ,Lebens‘ erscheinen lässt. Zugleich stürzt er aber sein Gefolge in Zweifel: Weder wissen sie, ob sie seinem Vorbild gerecht werden, noch können sie entscheiden, ob sie „künstler“ sind.89 Wie in StGs „Weihe“90 alludiert auch Hofmannsthal als lebensphilosophisches Bezugssystem Nietzsches Theorie des Tragischen, in dem ,Grausen‘ und ,Verzückung‘ zwei Seiten einer Medaille sind. Die pessimistische Grundhaltung in den Leidensfigurationen, die die BfdK vorstellen, entspricht insofern jenem „Pessimismus der Stärke“, den Nietzsche im „Versuch einer Selbstkritik“ in der Geburt der Tragödie als Effekt der „Fülle des Daseins“ entwirft.91 So sensibilisiert der ,Meister‘ in Der Tod des Tizian für die Kunst und schraubt dadurch die Anforderungen so hoch, dass die Bewunderer an diesen Anforderungen leicht scheitern. Dies gilt auch deswegen, weil vieles an seinen Lehren im Unaussprechbaren als „geheimnis“ verborgen bleibt und verborgen bleiben muss: Das, was der Welt ihren „sinn“ verleiht, kann selbst nicht wieder ,sinnvoll‘ sein. Es drückt sich aus in menschlichen Beziehungen, als Medium des Sichtbaren oder in Reflexionen, in denen sich der Einzelne als Teil des Ganzen erahnt.92 So bleibt auch das letzte Bild Tizians unsichtbar, wird aber als „haltung“ von den weiblichen Modellen vorgeführt. Eben diese Inkorporation einer bestimmten Art und Weise zu ,leben‘ ist das eigentliche Vermächtnis des Künstlers: „Die aber wie der Meister sind, die gehen / Und schönheit wird und sinn wohin sie sehen“.93 85 Ebd., S. 13; G/H, S. 30. 86 Zu diesem und den folgenden Bezügen vgl. auch Alt, Hofmannsthal, S. 38ff. – Alt fokussiert auf Algabal. 87 BfdK 1/1892, 1, S. 14. 88 BfdK 1/1892, 1, S. 17f. 89 Ebd., 1, S. 21. 90 Vgl. Martus, Werkpolitik, S. 581ff. 91 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Bd. 1, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 12. 92 BfdK 1/1892, 1, S. 22f. 93 Ebd., S. 24.

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I. Stefan George und sein Kreis

Zusammenfassend: Die BfdK verfolgen ein striktes Kunstprogramm, das den daran beteiligten Autoren und den interessierten Lesern eine bestimmte Haltung dem ,Leben‘ gegenüber einprägt. Die Beiträge selbst, ihre Zusammenstellung und ihre Einbettung in weitere Kontexte (z. B. die Zeitschriftenlandschaft Belgiens oder Frankreichs) vermitteln einen Eindruck davon, inwiefern die „mitglieder“ des BlätterKreises „ähnlichgesinnt“ sind. Sowohl die privilegierte Wahrnehmungsform als auch das soziale Programm der Zeitschrift zielen darauf, Zusammenhänge wahrzunehmen, das einzelne Element als Teil eines Beziehungsgefüges zur Geltung zu bringen. Dies gilt künstlerisch für das Verhältnis von Einzelwerken und Gesamtwerk, für die Beziehung eines Beitrags zum Konzept der Zeitschrift oder für die Einbettung aktueller Poesie in den Traditionsraum der Kunst- und Literaturgeschichte; gleichermaßen gilt dieses für den sozialen Zusammenhang, den die BfdK stiften wollen. Von ihren „mitgliedern“ fordern die BfdK dabei nicht zuletzt, Lebenszeit in die Produktion und/oder Rezeption der Zeitschrift und in das Werk StGs zu investieren. Das von allen Beiträgern des ersten Bands ausführlich verhandelte Motiv vom scheiternden Subjekt zeigt insofern, wie hoch der Anspruch der BfdK ist. Dabei nutzen sie die Strukturen des modernen Literaturbetriebs ebenso aus wie die Spielräume einer modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft, deren Strukturen sie zugleich vehement bekämpfen – die ,Flucht‘ aus der Gesellschaft bedeutet nicht, dass die BfdK darauf verzichten, das Gesellschaftliche in ihr Programmarsenal aufzunehmen. Im Gegenteil: Ausgeschlossen sein soll lediglich die Beliebigkeit einer Massenkultur, die das ,Leben‘ nicht mit einer bestimmten ,Haltung‘ zur Kenntnis nimmt. Unschärfen in der Programmatik kann sich die Zeitschrift vor allem deswegen erlauben, weil sie auf die Ausbildung eines Habitus und damit auf ein bestimmtes Textumgangsverhalten zielt, also weniger auf explizite Regeln als auf eine bestimmte Lebenspraxis, deren Maximen durchaus als implizites Wissen geheimnisvoll bleiben dürfen. Daher muss StG die einzelnen Artikel nicht bis ins Letzte inhaltlich aufeinander abstimmen. Es genügt, wenn ausreichend viele Resonanzen vorhanden sind. Auch hier können Übereinstimmungen und leichte Abweichungen durchaus dem Zufall überlassen bleiben. Zugespitzt könnte man sagen: Gerade eine gewisse Uneinheitlichkeit trainiert jenen Einheitssinn, den StG bis hin zum Maximin-Kult immer weiter herausfordern wird. So behauptet StG auch über alle Positionsveränderungen der BfdK hinweg im Vorwort zur letzten Folge, dass sich die Zeitschrift über ein Vierteljahrhundert hinweg treu geblieben sei und nach wie vor „die geleitsätze der früheren bände“ gelten.94 Und selbst im Typoskript der ,Blättergeschichte‘, das unter Aufsicht StGs verbessert wurde, trägt Wolters am Ende des Kapitels zur Gründung der BfdK nach dem Zitat aus den Programmtexten der ersten Folge nach: „Und diese Leitsätze des Anfangs gelten auch heute noch“.95 Wie StG sein Werk als Lebenswerk anlegt, so entwickeln sich die BfdK, die das Werk von den Anfängen bis zum Ende begleiten, als Lebensprojekt – „Du schlank und rein wie eine flamme“, das letzte Gedicht der BfdK, ist das letzte Gedicht des Neuen Reichs. Im Werk StGs wie in den BfdK soll gelten: „Ihr sehet wechsel doch ich that das gleiche“ („Das Zeitgedicht“96).

94 BfdK 11/12/1919, S. 5. 95 Typoskript, S. 83, StGA. 96 BfdK 6/1902/03, S. 2.

3. Geschichte der Blätter für die Kunst

3.5.

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Entwicklung der Blätter für die Kunst bis 1899

Mit den BfdK etablierte und profilierte sich StG als Autor. Diese Funktion kommt der Zeitschrift vornehmlich in den 1890er-Jahren zu. Die BfdK verweigern sich dabei ostentativ den Verwertungsinteressen des Buchmarkts, behaupten jedoch eine Form der Exklusivität, die vom Gedanken des Markts beherrscht wird. Immer wieder konstatiert StG die Normalisierung und Popularisierung der von seiner Zeitschrift vertretenen Werte und Normen und sucht deswegen regelmäßig nach neuen Strategien der Abgrenzung. Bei aller Marktferne lassen sich die BfdK nur im Blick auf das Marktgeschehen verstehen. Zunächst aber bereitete es StG keine Probleme, den elitären Status zu bewahren. Im Gegenteil: Anfangs wiesen, wie bereits erwähnt, lediglich französische und belgische Zeitschriften auf die BfdK hin. Insbesondere Ge´rardy behandelte als Mitarbeiter von La Jeune Belgique oder als Herausgeber von Flore´al StG und die BfdK. In seinen Artikeln feierte er Autor und Zeitschrift als entscheidenden Einschnitt in der Literaturgeschichte. Gemeinsam mit den Bemühungen unter anderem Albert Verweys97 (ab 1896) kann man von einer regelrechten ,Kampagne‘ sprechen, in der über Querverweise ein sich wechselseitig stimulierender und bestätigender Kommunikationszusammenhang erzeugt wurde.98 In Deutschland und Österreich blieb ein selbstständiges Interesse am ersten Band der BfdK aus. Lediglich in der Schweiz erschien in Stern’s Litterarischem Bulletin eine Rezension, die die „verschrobene Orthographie“ bemängelte und im übrigen Ge´rardys Gedichte besonders hervorhob.99 Sowohl auf diese negative Reaktion als auch auf die ausländischen positiven Kritiken beziehen sich die Nachrichten zum zweiten Band der BfdK: Den auswärtigen rundschauen die das erscheinen der blätter für die kunst angezeigt und uns mit warmen gefühlen entgegenkamen: ermitage, mercure de france, plume, wallonie, floreal, art moderne u. a. sind wir in hohem grad erkenntlich sowie allen stimmen die uns belobten ermunterten und ein gewissenhaftes eindringen in unsre absichten verrieten. Einige vaterländische amtsbrüder denen nichts als unsre rechtschreibung auffiel bedauern wir an dieser stelle nicht belehren zu können.100

Was Hofmannsthal aus Wien in einem Brief an StG vom 8. Dezember 1892 feststellt, lässt sich somit für die erste Zeit des Journals im deutschsprachigen Raum generalisieren: „Mit der Aufnahme der ,Blätter f. d. Kunst‘ finde ich in Wien nichts als Ärger; wir stehen wirklich einsamer, als ich je geglaubt hätte […]“.101 In der gleichen Zeit berichtet er über seine erfolglosen Werbemaßnahmen: Er habe den ersten Band der BfdK an rund „50 Menschen“ leihweise weitergereicht, von denen allenfalls vier oder 97 Vgl. zum Verhältnis StGs zu Verwey: Freundschaftsdichtung in den Niederlanden, S. 58ff.; Karlauf 2007, S. 178ff. 98 Zur Rezeption der BfdK vgl. III, 5.1. Außerdem Kolk 1998, S. 62f.; vgl. die Rezeptionsdokumente in Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 44ff. 99 GPL, Nr. 20; Abdruck: Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 55f.; vgl. weiterhin die bereits zitierte Polemik von Julius Hart gegen den deutschen „Symbolismus“ vom Dezember 1892, ebd., S. 57ff. 100 BfdK 1/1892, 2, S. 64. 101 G/H, S. 51; vgl. jedoch G/H, S. 56.

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I. Stefan George und sein Kreis

fünf als „mitgehende Leser“ zu gewinnen waren. Hofmannsthal hält dies für durchaus konsequent, da die BfdK augenscheinlich nicht darauf zielten, „ein Publikum von Theilnahmslosen zu gewinnen“. In einem Brief an Marie Herzfeld vom 26. Dezember 1892 betont er, daß hinter der ganzen manierierten und sonderbaren Unternehmung doch etwas ,anderes‘ und ,wirkliches‘ steckt. Mich besticht wenigstens diese eigentümliche Reinlichkeit daran, der vollständige Mangel an Rhetorik und die eigentümlich hochmütige Herbheit aller ihrer Enunziationen. (KTM, 69)

Umso irritierter zeigt sich Hofmannsthal über die Aufforderung Kleins, „in einem anderen öffentlichen Blatt unser Unternehmen zu besprechen“, und fügt hinzu: „[…] bitte sagen Sie mir klar, was Sie wollen und wozu Sie es wollen“ (G/H, 52f.).102 Offenbar bestehen für Hofmannsthal konzeptionelle Schwierigkeiten, weil er das Projekt einer elitären Zeitschrift nicht als Marktstrategie versteht, sondern als Strategie gegen den Markt. Hofmannsthals Irritation verwandelt sich bald in harsche Kritik am Verhalten der Herausgeber. So schreibt er beispielsweise im Februar 1894 an Leopold von Andrian über Klein und StG: „sie sind so pedantisch manierierte und gleichzeitig manierlose Menschen“ – zuvor wurde Hofmannsthal von Klein für Publikationen im Modernen Musenalmanach gerügt.103 Bei allem Pragmatismus brachte StG die Publikationsregeln fallweise sehr strikt zur Geltung. Zumindest versuchte er dies. Als Leopold von Andrian 1894, nachdem bereits Gedichte von ihm zur Publikation aufgenommen worden waren, um Aufnahme als ,Mitglied‘ in den Kreis der BfdK bat, teilte ihm Klein mit: „was die aufnahme in den mitgliederkreis der Blätter für die Kunst betrifft, so wurde sie immer nur persönlich vermittelt“.104 Kleins Antwort auf Hofmannsthals irritierte Rückfragen vom 22. Dezember 1892 ist symptomatisch für die flexible Handlungsanweisung und zugleich für das elitäre Selbstverständnis und Selbstmarketing der BfdK: grade weil diese ,menschen‘ wie Sie sagen den von Ihnen unterzeichneten worten ein grosses gewicht beilegen (oder Sie vielleicht nicht zu desavouieren wagen) so hätte ein grosser und erleuchteter aufsatz unter Ihrem bereits bekannten pseudonym (wenn auch ganz und gar nicht den zweck die verständnislosen zu bekehren) so doch den über ihren spöttischen mund die leichte gerte gleiten zu lassen um ihn zum ernst zu verleiten – und dann wenn über etwas nicht gesprochen wird so sieht es (selbst für intelligentere autoren) aus als ob es nicht wert wäre behandelt zu werden. derlei gedanken brachten auch mich dazu einen aufsatz über Stefan George (dessen ganzer schaffensgang vor mir liegt und in dem ich eine persönlichkeit erblicke die sich den ausländern würdig anreihen kann) in einem litteraturblatt einzureichen, einen aufsatz den man natürlich abgelehnt. verschnitten kommt er nun in die nächste nummer der Blätter. wenn Sie nun doch gelegenheit lust und mut haben in jüngeren blättern über ausländische litteraturerscheinungen zu schreiben so können Sie es ja auch über einheimische. warum wundert Sie mein vorschlag so sehr? das sagt durchaus nichts gegen die prin-

102 Vgl. auch G/H, S. 55f., 58, 72; ZT, S. 33. 103 Vgl. hierzu die Korrespondenz zwischen Hofmannsthal und Andrian: Leopold Andrian, S. 112ff. 104 Leopold Andrian, S. 28.

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zipien der Blätter die hauptsächlich k u n s t w e r k e die zu bedeutend sind um auf den grossen markt gebracht zu werden in sich vereinen. (G/H, 54f.)

Generell lehnen die BfdK es ab, sich an der literarischen Öffentlichkeit zu orientieren, verbuchen aber augenblicklich positive Reaktionen; sie wenden sich gegen die Institution ,Literaturkritik‘, lancieren aber selbst positive Kritiken. Diese und andere Inkonsequenzen gehören zum Profil der BfdK (K, 77). Für die Entwicklung der BfdK als Instrument der Selbstetablierung und -profilierung StGs bis zur Jahrhundertwende sind drei Momente charakteristisch: Zum Ersten profiliert StG die ,Bewegung‘, als deren repräsentatives Publikationsorgan die BfdK gesehen werden sollen; damit geht zum Zweiten der Versuch einher, auch Musik, bildende Kunst und Theater in das Reformprojekt einzubeziehen; zum Dritten öffnet StG die BfdK zunehmend gegenüber der Öffentlichkeit, sodass 1898 in einer konzertierten Aktion die ersten öffentlichen Gedichtausgaben sowie der erste Auslese-Band der BfdK im Verlag von Georg Bondi erscheinen (beide datiert auf 1899). 3.5.1. Die Blätter für die Kunst als künstlerische ,Bewegung‘ Während der Arbeit an der ersten Folge der BfdK lernte StG weitere Beiträger kennen, die teilweise durch die Zeitschrift auf die Bestrebungen StGs aufmerksam wurden (K, 22, 26f.). Der Umgang mit interessierten Autoren war dabei durchaus ruppig. Als Franz Evers, der Herausgeber der Zeitschrift Sphinx, nach Lektüre des ersten Bands der ersten Folge am 7. Oktober 1892 in völliger Selbstverkennung seiner literarischen Qualitäten Gedichte einsandte, verbunden mit dem Hinweis, dass er „eigentliche künstlerische Selbstständigkeit der einzelnen Mitarbeiter“ in den BfdK vermisse und „eine starke Abhängigkeit“ von französischer Dichtung feststelle, verlief der Kontakt wenig erfreulich. Am 23. Oktober schrieb er: „Am 7. Oktober sandte ich Ihnen 5 Gedichte […]. Ich verlange gegen einliegendes Rückporto sofort Rückstellung derselben, weil ich zu konventionellen Thorheiten keine Lust habe“. Auf diesen Brief notierte Klein mit Bleistift seinen Entwurf für eine Antwort: „An Evers! Wenn Sie in einer höflicheren form um die rückgabe Ihrer sachen gebeten hätten würde ich mir vielleicht die mühe genommen haben, sie in meinem papierkorb hervorzusuchen“.105 Solche Fehleinschätzungen bleiben die Ausnahme. Langfristig sind neben den bereits genannten Autoren vor allem Ludwig Klages (von der zweiten bis zur sechsten Folge)106 und Karl Wolfskehl (von der zweiten bis zur letzten Folge) von Bedeutung.107 Häufig vertretene Beiträger sind darüber hinaus Leopold von Andrian, Richard Perls und Oscar A. H. Schmitz. Im dritten Band der vierten Folge publiziert erstmals Friedrich Gundolf – er gehört aber bereits der neuen Generation der Blätter-Autoren an. Wichtig waren für StG weiterhin die Beiträge von Wacław Lieder – die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden 105 Alle Briefe StGA. 106 Die letzten Verse von Klages finden sich in der siebten Folge als Motto – aber darüber kommt es dann zur gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen ihm, StG und Gundolf (s. u.). 107 Vgl. Kolk 1998, S. 87ff.

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Gärten widmete er 1895 nicht umsonst Ge´rardy, Lieder und Wolfskehl: Lieder, ein erfolgloser polnischer Lyriker, den StG vermutlich 1891 über Saint-Paul kennengelernt hatte, verkörperte für StG die Rolle eines in Verbannung lebenden Herrschers. Wie im Fall Richard Perls, eines weiteren Mitarbeiters der BfdK, fand StG hier einen leidenden ,Außenseiter‘, der offen für die charismatische Entfaltung von Autorschaft war und damit jenen Typus repräsentierte, der in den Gedichten der frühen BfdK eine zentrale Rolle spielt.108 Seit 1894 wird damit ein fester Mitarbeiterstab erkennbar (K, 28), auf den sich StG zunehmend konzentriert – die ab der fünften Folge veranstalteten Buchausgaben der BfdK fördern diese Tendenz zur stabilen Kreisbildung. Nur Wolfskehl durchläuft dabei alle Phasen der Zeitschriftentwicklung. Er sollte Kleins Posten in der Redaktion der BfdK ersetzen, erfüllte diese Aufgabe aber nur unzulänglich. Sein Engagement war dabei nicht zuletzt finanzieller Art. So schreibt er im September 1895: „Erlauben Sie mir, mich an der Herausg. der Bll. auch pekuniär zu beteiligen“,109 und StG versichert, er werde von seinem „freundlichen anerbieten […] demnächst gebrauch machen“.110 Die Verbindung zwischen StG und Wolfskehl bestand seit Herbst 1893. Sie führte nicht nur zu Beiträgen für die BfdK,111 sondern auch zur propagandistischen Tätigkeit Wolfskehls in anderen Medien, die StG von ihm geradezu einforderte. Wolfskehl verantwortete dabei wesentlich die Sakralisierung StGs und stilisierte ihn zum ,Priester vom Geiste‘ (s. u.).112 Es ist symptomatisch, dass Verwey ihn als Autor einer Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts für die Socie´te´ de Mercure ins Spiel brachte, die nicht zuletzt den Status der BfdK definieren sollte: „Eine vom Mercure herausgegebene Geschichte von Ihrer Literatur des 19. Jahrh., so wie ihr meint dass sie gesehen werden muss, wäre ein ausgezeichnetes Mittel um euren Einfluß zu sichern“.113 Wolfskehls Beiträge rangieren relativ hoch – im dritten Band der dritten Folge, in der zehnten Folge sowie in der elften/zwölften Folge folgen sie direkt auf StGs Texte. Unabhängig von der Frage nach der Qualität seiner Beiträge symbolisiert Wolfskehl die personelle und programmatische Stabilität der ,Bewegung‘, auf die StG großen Wert legte.114 Dass Wolfskehl so lange an den BfdK mitarbeiten konnte, erklärt sich auch aus einer gewissen Irritationsresistenz. Zumal die ausbleibenden Reaktionen auf die BfdK störten sein Selbstbewusstsein als Blätter-Autor nicht. Als er 1910 in einem Brief an Verwey bemerkt, dass auf die neunte Folge der BfdK „nicht eine einzige Stimme in Deutschland hingewiesen hat“, fügt er hinzu, dass die „indirekte Wirkung“ 108 109 110 111 112

Vgl. Karlauf 2007, S. 158ff. K. Wolfskehl an StG v. 3.9.1895, StGA (vgl. auch an C. A. Klein v. 18.5.1894, StGA). StG an K. Wolfskehl v. 6.9.1895, StGA. Vgl. zu Wolfskehl als Beiträger der BfdK: Duthie, L’influence, S. 476ff.; Oelmann, „Petrus“. Bereits in einem frühen Schreiben an C. A. Klein v. 30.11.1892 bietet Wolfskehl „für den kritischen Teil Ihrer Zeitschrift ein[en] Aufsatz über die poetische Eigenart von Stefan George“ an (StGA). Am 21.10.1895 schreibt StG, dass im „nächsten monat wieder ,Blätter‘ gedruckt“ werden, wobei „die anzahl lesenswerter und überraschender dichtungen däucht mir gross genug doch meine ich dass im ersten heft ausser der hergebrachten kleinen einleitung einige betrachtende seiten nicht fehlen dürfen. Sie werden dieselben gewiss füllen“ (an K. Wolfskehl, StGA) – Wolfskehl verfasste daraufhin „der Priester vom Geiste“ (BfdK 3/1896, 1, S. 20f.; vgl. auch „der Künstler der Heiland“, BfdK 4/1897, 1/2, S. 26–29; Kolk 1998, S. 45; Karlauf 2007, S. 168ff.). 113 A. Verwey an K. Wolfskehl v. 5.10.1906, in: W/V, S. 42f. 114 So in einem Brief an A. Verwey v. 14.8.1902, in: W/V, S. 28.

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der Zeitschrift sich „an vielen Orten spüren“ lasse (W/V, 89f.). Genau diese Deutung des unterschwelligen historischen Einflusses der ,Bewegung‘, die Wolfskehl im Übrigen erstmals unter den Begriff vom ,geheimen Deutschland‘ fasst (s. u.), gehört zum festen Programmbestand der Blätter-Werbung und wird von Wolters später im Auftrag StGs in der ,Blättergeschichte‘ festgeschrieben. Die Erweiterung des Autorenspektrums begleitet StG seit dem zweiten Band der ersten Folge mit dem Ausbau der generischen Bandbreite der Beiträge: Während das erste Heft „ausschliesslich dem künstlerischen schaffen unsrer mitarbeiter gewidmet war“, wie die Nachrichten erklären, „wird im folgenden auch literarischen aufsätzen raum gegönnt“.115 Erneut reagierte StG damit auf das Problem der gleichmäßigen Auffüllung der Hefte. Gleiches gilt im Übrigen für den erneuten Rückgriff auf das eigene Jugendwerk (im zweiten Band werden beispielsweise die „Legenden“ von „Edmund Lorm“ fortgesetzt) sowie für den erheblichen Anteil an Übertragungen (im zweiten Band beginnt die Serie der Übersetzungen mit Werken von Mallarme´, Verlaine, More´as und Re´gnier, die StG über seine Pariser Kontakte zugänglich waren). Diese pragmatischen Entscheidungen haben aber zugleich programmatische Qualität. Denn mit allen drei Textsorten kontextualisiert StG sein Werk auf eine spezifische Weise: – Die Essays, die mit Carl August Kleins Beitrag Über Stefan George, eine neue kunst116 einsetzen und von Klein mit den Unterhaltungen im grünen salon fortgesetzt werden,117 geben ästhetische Leitlinien vor und rücken das Bild, das StG von sich vermitteln will, auch literaturhistorisch zurecht. Auf diese Weise inszeniert Klein zumindest am Anfang eine rege Diskussion um einen unbekannten Autor. – Das Frühwerk stellt eine eigene Geschichte zur Verfügung, auf die StGs Werk bezogen werden kann – in der kurzen Vorbemerkung zu den Gedichten aus der Zeit der Rosen und Disteln (darunter StGs „Die Najade“, „Der Blumenelf“, „Die Rose“ und „Ikarus“) im fünften Band der ersten Folge erklärt StG, der Abdruck von Gedichten aus „frühester schaffenszeit“ diene dazu, „den unterschied älterer und heutiger dichtweise klarer“118 zu machen. – Die Übertragungen schließlich demonstrieren, dass StGs Werk und das Projekt der BfdK genau den Anforderungen einer neuen Zeit entsprechen, also Teil einer ,Bewegung‘ sind, ohne darauf reduzierbar zu sein. Zur Einführung dieser Rubrik erklären die BfdK: „hh. Ste´phane Mallarme´, Paul Verlaine, Jean More´as und Henri de Re´gnier sind wir sehr verpflichtet für ihre zustimmung zu unsrem plan und die gewogenheit mit der sie uns ihres rates teilhaftig machten“.119

115 BfdK 1/1892, 1, S. 32. 116 BfdK 1/1892, 2, S. 45–50. 117 BfdK 1/1893, 3, S. 83–85: Über das rein Formelle; 1/1893, 4, S. 112–116: Das Theatralische; 1/1893, 5, S. 144–146: Das doch nicht Äusserliche. 118 BfdK 1/1893, 5, S. 147. 119 BfdK 1/1892, 2, S. 53.

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Die programmatische Aufrüstung der BfdK markiert StG auch durch die sogenannten Merksprüche, die seit dem zweiten Band der zweiten Folge die Einleitungen und Aufsätze als anweisende, erläuternde und kritische Texte ergänzen. In ihnen finden sich einige der wichtigsten Äußerungen zum Selbstverständnis StGs und seines Kreises. Sie stammen zum Teil von StG, zum Teil von Wolfskehl oder Gundolf, wobei sich die Urheberrechte im Rückblick nicht einmal mehr von den Autoren in jedem Fall genau bestimmen ließen (K, 93). Wichtig ist daher, dass die BfdK die Autorschaft StGs zumindest suggerieren: Der erste „Merkspruch“ findet sich als Motto zur ersten Folge von Kleins Unterhaltungen im grünen salon, und zwar als Anweisung StGs: „Wenn du dichtest sing und male. wenn du redest gieb kurze gedanken und in guter reihe. ausweitung und verknüpfung besorgen w i r schon“120 – diese Anweisung greifen die Merksprüche auf, wenn sie das Ideal der ,brevitas‘ verkünden: „Drittens die kürze – rein ellenmässig – die kürze“,121 lautet eine ihrer Regeln. Die Merksprüche spielen formal auf kollektive Überlieferungsformen an, etwa in Sprüchen oder Sprichwörtern, und greifen damit einen Gedanken aus StGs Mallarme´Hommage auf, in der es um die kollektive Bindungskraft von „sinnlosen sprüche[n] und beschwörungen“, „alte[n] gebete[n]“ und „lieder[n] und reime[n] aus grauer vorzeit“ geht.122 Generell deutet die knappe Formulierung der Programmatik auf einen – wie auch immer fiktiven – vorgängigen Konsens der Mitarbeiter, der nicht ausführlich expliziert werden muss.123 Tatsächlich aber reagieren sie oftmals auf die genau gegenteilige Situation. Denn die Einleitungen und Merksprüche entgegnen immer wieder der Kritik, die an StG aus den eigenen Reihen herangetragen wurde.124 Kleins oben erwähnter Beitrag Stefan George, eine neue kunst verbindet die genannten Leitlinien, die eine ,Bewegung‘ beschreiben. So spielen bereits die beiden Aufsatz-Motti auf die spezifische Form der Konstitution einer kollektiven Kraft an, als deren Teil StG sich präsentiert: Horaz’ „Odi profanum“ bezieht sich auf den exklusiven Kurs einer sakralen Kunst; das Zitat aus Goethes Aufsatz Deutsche Sprache akzentuiert dabei das nationalliterarische Moment einer ,deutschen Kunst‘, die sich im internationalen Rahmen situiert. Beide Referenzen bedienen darüber hinaus bildungsbürgerliche Erwartungshorizonte und gehören zu jener Strategie einer esoterischen Popularität, die StGs allmählich steigenden Erfolg sozialgeschichtlich begründet.125 Klein selbst betont entsprechend die isolierte Position StGs in Deutschland und unterstreicht, dass StG zwar einer internationalen „gegenströmung“ zum Naturalismus sowie einer „jungen bewegung“ angehöre, dass diese Zugehörigkeit aber keine Abhängigkeit bedeute – man solle, so Klein, „besser von einem zusammentreffen der geister auf demselben weg als von einem nachgehen“ sprechen. Gerade im Vergleich mit Frankreich werde das „grundverschiedene seines verfahrens“ deutlich.126 In den 120 121 122 123 124

BfdK 1/1893, 3, S. 83. BfdK 2/1894, 2, S. 34. BfdK 1/1893, 5, S. 135; zu weiteren Vorbildern vgl. K, S. 96. Vgl. Kolk 1998, S. 48. Vgl. exemplarisch für Hofmannsthal z. B. G/H, S. 68, 250f.; BfdK 2/1895, 5, S. 129; G/H, S. 103; BfdK 3/1896, 5, S. 131. 125 Vgl. Groppe 1997, S. 45ff. passim; zum Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Naturalismus durch Anschluss an bildungsbürgerliche Interessen: ebd., S. 81ff. 126 BfdK 1/1892, 2, S. 46.

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BfdK kündigt sich also schon sehr früh die Nationalisierung der eigenen Position an, die StG nach der Jahrhundertwende insbesondere mit seinen Anthologien zur deutschen Dichtung betreibt. Drei Momente sind in Kleins Ausführungen Über Stefan George, eine neue kunst für die Publikationsstrategie der BfdK charakteristisch: – Anstelle von kausalgenetischen Abhängigkeiten setzt StG – wie Goethe in dem als Motto zitierten Aufsatz Deutsche Sprache – auf eher diffuse, aber umso zwingendere historische Lagen, die von Kollektiven (,Strömungen‘, ,Bewegungen‘) repräsentiert werden und die der einzelne Autor nicht strikt dirigieren kann. Dieser kann sich allenfalls als privilegierten Teil einer Gemeinschaft präsentieren und Alternativen anbieten, die – wie es im nächsten Beitrag Kleins im dritten Band heißt – dem „richtigen gang der entwicklung“127 entsprechen. Insofern verweist StG in der Vorrede zum letzten Band der BfdK zu Recht auf „die geleitsätze der früheren bände“ und erinnert abschließend noch einmal an eines der Ziele seiner Zeitschrift, dass nämlich „über das einzelne gelungene versgebild hinaus immer mehr der wert grösserer dichterischer zusammenhänge empfunden wird […]“.128 Was im Kleinen für das Werk eines Autors galt, sollte auch für den Zusammenhang mehrerer Werke von unterschiedlichen Autoren gelten. – Dieser Konstruktion von historischen Epochen entspricht die Selbstvervielfältigung StGs, der unter seinem offiziellen Namen sowie unter diversen Pseudonymen publiziert. Auch die Ersetzung von Fremd- durch Selbstkontextualisierung konstruiert eine in sich vervielfältigte Einheit: „Wer die werke und den entwicklungsgang unseres dichters genau besieht dem wird seine ursprünglichkeit klar werden“.129 StG schafft von Anfang an, um noch einmal den Schlussband zu zitieren, „eine überlieferung“,130 und zwar für sich selbst. Genau damit legt er das Fundament jener Tradition, auf die sich der George-Kreis und seine ,Jünger‘ nach der Jahrhundertwende stützen. – Das Verfahren der Selbstkontextualisierung gilt schließlich auch, wie bereits im Vorwort angekündigt, für die BfdK, deren Bände als Teil der Gesamtfolgen geplant wurden (K, 79): Klein greift so z. B. die Bildlichkeit von StGs Initialgedicht „Weihe“ auf: Er spricht von ,Strömungen‘ und einer ,jungen Bewegung‘ und erklärt so unter der Hand, dass und wie die erste Strophe, die das lyrische Ich an einen „strom“ versetzt und der „jungen wellen schmeichelchore“ abwehrt, als Teil eines Traditionsverhaltens zu deuten ist – „handelnde person“ der Gedichte StGs, so erklärt Klein, sei „überall die seele des modernen künstlers“.131 Dieses Deutungsmodell greift dann wiederum StG in seinem Rat für Schaffende (XVII, 68) in einem Teilstück der Tage und Taten auf, die einleitend auf die erste Folge dieser Prosaserie in der ersten Folge der BfdK verweisen,132 und er kommt darauf zurück in der Vorrede zu den Büchern 127 128 129 130 131 132

BfdK 1/1893, 3, S. 85. BfdK 11/12/1919, S. 5. BfdK 1/1892, 2, S. 46. BfdK 11/12/1919, S. 5. BfdK 1/1892, 2, S. 49. BfdK 2/1894, 3, S. 68, 74.

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der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten.133 Auf diese Weise spiegeln sich die BfdK, die darin enthaltenen Werke StGs und seine gesondert publizierten Werke wechselseitig wider. Von diesen und anderen Konstellationsverfahren her provoziert die Zeitschrift also jene Haltung, die StG in Über Dichtung fordert: „die zusammenstellung das verhältnis der einzelnen teile zu einander die notwendige folge des einen aus dem andern kennzeichnet erst die hohe dichtung“.134 Ein weiteres Beispiel für die Verfahren, mit denen die BfdK solche Resonanzen inszenieren, ist die Art, wie das Prinzip der „auswahl“ als grundlegendes Programmelement der BfdK eingeführt wird: Mit dem Prinzip der „auswahl“ suggeriert StG generell eine Überfülle, aus der die BfdK auswählen können und müssen (K, 77, 79f.). Das gilt zum einen für das Personal: So betonen die Nachrichten am Ende des zweiten Bands der ersten Folge, dass unverlangt eingereichte Beiträge nicht zurückgesendet und nicht alle Einsendungen ohne Verzögerung bearbeitet werden könnten.135 Die Merksprüche im zweiten Band der zweiten Folge erklären dann „auswahl“ zum zentralen ästhetischen Verfahren der Stimmungskunst.136 Als solches stellt StG es im Zyklus Nach der Lese als Vorabveröffentlichung aus dem Jahr der Seele vor.137 Wenig später wird das Verfahren von Ludwig Klages in einem Beitrag aus einer Seelenlehre des Künstlers poetologisch ausformuliert:138 Die Gegenwart, so Klages, sei von der typisch spätzeitlichen Verfeinerung der Aufmerksamkeit geprägt,139 also von genau jener Form der Aufmerksamkeit, die die Herbstgedichte aus Nach der Lese in Szene setzen. „Künstlerische[] form“ sei entsprechend zu verstehen als „auswahl im sinne eines einheitlichen eindrucks“, als „gruppierung des stoffs (komposition)“ und als eine „bis ins kleinste fühlbare a r t u n d w e i s e der verarbeitung des stoffs“140 – das Einleitungsgedicht „Komm in den totgesagten park und schau“ (IV, 12) fordert entsprechend dazu auf, aus den Elementen der literarischen Natur141 einen Kranz zu flechten, und Klages gibt dafür Interpretationsperspektiven vor: „sie [die „heutigen“] haben begriffen dass der gegenstand tot ist wenn ihn nicht die persönlichkeit in belebende lichter taucht“.142 3.5.2. Bildende Kunst, Musik und Theater in den Blättern für die Kunst Das Projekt der Konstituierung einer ,Bewegung‘ erklärt auch, warum StG Musik und bildende Kunst als Beilagen (sogenannte ,Inlagen‘) in die BfdK integriert.143 Am Ende von Kleins Beitrag Stefan George, eine neue kunst heißt es: 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143

Vgl. BfdK 2/1894, 4, S. 97. Ebd., S. 122. Vgl. BfdK 1/1892, 2, S. 64. Ebd., S. 34. Vgl. BfdK 2/1895, 5, S. 130–135. Wobei bei der Redaktion des Manuskripts das Beispiel Byrons, das von StG abgelenkt hätte, gestrichen wird (StGA). Vgl. BfdK 2/1895, 5, S. 139. BfdK 2/1895, 5, S. 140f. Vgl. dazu: Martus, Werkpolitik, S. 608ff., insbes. 614ff. BfdK 2/1895, 5, S. 130, 143f. Vgl. II, 2.3.1.

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Wir haben auch vertreter einer neuen kunst und brauchen uns nicht ans ausland anzulehnen. sie ist ganz andrer art als die Zola’s und der Norweger und ganz bei uns zu haus. ihre hauptstützen Richard Wagner der komponist Friedrich Nietzsche der orator der maler Arnold Böcklin und der zeichner Max Klinger. zu ihnen tritt ein dichter.144

Und später kündigen die Nachrichten an, dass die BfdK die „neuen bestrebungen in der dichtung […] auch den verwandten ton- und bildenden künstlern […] erschliessen“ wollen.145 In der zweiten bis vierten Folge der BfdK erscheinen folgende ,Inlagen‘, die aber nicht regelmäßig mit den betreffenden Bänden ausgeliefert wurden:146 – Bilder:147 Hermann Schlittgen: Porträt StGs (BfdK 2/1894, 1) August Donnay: Mater amabilis (BfdK 2/1894, 3) Fernand Khnopff: Eine tote Stadt (BfdK 2/1894, 3) Leo Samberger: Appassionata (BfdK 2/1894, 4) Melchior Lechter: Zeichnung für ein Glasfenster (BfdK 3/1896, 1) Paul Herrmann: angekündigte, aber nicht erschienene ,inlage‘ (BfdK 3/1896, 4)148 Melchior Lechter: Inspiration (Entwurf zu einem Wandteppich) (BfdK 4/1897, 1/2) – Vertonungen: Karl Hallwachs: „Aus den knospen quellen sacht“ (aus dem Buch der Sagen und Sänge von StG) (BfdK 2/1894, 2) Kurt Peters: „Entführung“ (aus dem Jahr der Seele von StG) (BfdK 2/1895, 5) Clemens Franckenstein: „Vorfrühling“ (von Hugo von Hofmannsthal) (BfdK 3/1896, 3) Karl Hallwachs: „Zum weissen berg“ (von Karl Wolfskehl) (BfdK 3/1896, 5)

Wenn sich StG später für die ungleichmäßige literarische Qualität damit entschuldigt, dass mangelhafte Werke als Hintergrund für die vorbildlichen Beiträge ihre Bedeutung haben können (s. u.), so gilt dies auch für die Bild- und insbesondere für die Notenbeilagen. Musikgeschichtlich handelt es sich durchgängig um unbedeutende Kompositionen im zeitgenössischen Liedstil (K, 73f.). Der Versuch, Maler wie Böcklin, Klinger oder auch Franz von Stuck zur Mitarbeit zu bewegen, scheiterte.149 Die Bildbeilagen lassen keinen klaren programmatischen Willen erkennen. Das stilistische Spektrum reicht vom Jugendstil des Titelblatts über Vertreter des Symbolismus (Khnopffs Eine tote Stadt) bis hin zu protoexpressionistischen Bildern (Sambergers Appassionata) und Anleihen bei den Präraffaeliten (Lechters Beiträge). Im Typoskript von Wolters’ ,Blättergeschichte‘ weist StG daher in einem Nachtrag darauf hin, dass er keinesfalls „mit den wenigen eingeschalteten Kunstbeilagen ähnlich wie mit den 144 BfdK 1/1892, 2, S. 50. 145 BfdK 2/1894, 3, S. 96. 146 Karl Bauer „erlaubt sich“ nach Lieferung eines Bands der BfdK auf einem undatierten Billet „zu fragen, warum mit Ausnahme von Lechter’s Blatt wiederum die Inlagen fehlen“ (StGA). Vgl. auch den entsprechenden Hinweis in den Nachrichten: BfdK 4/1897, 1/2, S. 64. 147 Die letzte Bildbeilage, die allerdings nicht mehr in die Reihe der Kunstbeilagen gehört, ist die Dichtertafel mit Porträts wichtiger Autoren in der siebten Folge der BfdK, die „dem engsten freundeskreis“ der BfdK überreicht wurde (G/H, 213). Der Plan für ein Sammelbild reicht bis 1893 zurück (s. u.). 148 Das George-Porträt im Reprint der BfdK ist nicht die Original-,inlage‘ (vgl. ¤ Paul Herrmann). 149 Vgl. Karlauf 2007, S. 218.

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Dichtungen ein Muster für die Umordnung des Malerischen zu geben meinte“, sondern „dass er allgemein auf die Einheit der verschiedenen Künste hinweisen wollte“.150 Immerhin lassen sich alle Bildbeilagen locker zu Gedichten StGs in Bezug setzen. Die Bilder verbindet zudem, dass sie auf je eigene Weise „Möglichkeiten der ,neuen Kunst‘“ demonstrieren (K, 71). Entscheidend, so scheint es, war nicht die Qualität der präsentierten Kunstwerke. Diese sollten keine Konkurrenz für StGs Lyrik sein, sondern vor allem bestätigen, dass StG als Teil bzw. Kopf einer hochaktuellen ,Bewegung‘ zu gelten hatte. Auf die Austauschbeziehungen zwischen der Literatur und den anderen Künsten verweisen daher in den ersten Folgen eine ganze Reihe von Gedichten und Prosastücken, die sich auf Bilder beziehen, etwa Max Dauthendeys „Vision“ auf ein „gemälde von Munch“151 oder StGs Eine Pieta` des Böcklin (XVII, 42).152 Dass das erste der „Gedichte zu Bildern“ von Karl Bauer im fünften Band der ersten Folge der BfdK „Adagio in cis-moll“ überschrieben ist, entspricht zudem der synästhetischen Ästhetik, mit der StG zumal in seiner frühen Lyrik arbeitet. Die Kunstbeilagen hatten zudem werbende Funktion und zielten darauf, „unsre jüngeren deutschen meister“153 auf die BfdK aufmerksam zu machen und zur Mitarbeit zu bewegen. Sie boten somit Referenzen, um das Projekt der BfdK auf eine breite Basis zu stellen. Und nicht zuletzt trugen sie weiter dazu bei, soziale Netzwerke zu knüpfen. So arbeitete beispielsweise Donnay auch als Illustrator für die Zeitschrift Wallonia, die Mockels La Wallonie beerbte und für die Ge´rardy zwischen 1895 und 1898 Artikel beisteuerte. Donnays Mater Amibilis154 war eigentlich als Illustration für eine Ausgabe von Baudelaires Fleurs du Mal gedacht. Die Vorlage für die Abbildung befand sich im Besitz Ge´rardys.155 Auch Khnopffs Engagement deutet in diese Richtung: Khnopff erlaubte die fotografische Reproduktion seiner Pastell- und Tuschzeichnung Une ville morte, nachdem Ge´rardy in der Art moderne positiv über die Münchner Sezession berichtet hatte, wo das Bild nach Präsentationen in Brüssel und London ausgestellt worden war. Ge´rardy wiederum reagierte damit auf die Bitte StGs, ihn bei der Akquise von Illustrationen zu unterstützen. Dass StG ein gutes Gespür für den Provokationswert von Kunst hatte, kann man dem Kommentar zu Une ville morte in der Besprechung der Münchner Sezession in der Allgemeinen Kunst-Chronik vom August 1894 entnehmen: Fernand Khnopffs symbolistische Zeichnungen erregen bei der Mehrzahl des Publikums argwöhnisches Kopfschütteln. Zwar kann sich niemand der ernsten Wirkung des gewaltigen ,Engels‘ entziehen, aber die überaus zarten, frauenhaften und fremdartigen Reize einer ,Ville Morte‘, ,Venus renascens‘ u. s. w. – denen müssen wir Deutsche erst entgegenwachsen, sie sind für überreife Geister bestimmt, indessen unsere Aesthesie noch in der Knospe verschlossen zur Sache drängt.156

150 151 152 153 154 155 156

Typoskript, S. 142, StGA. BfdK 2/1894, 3, S. 81; K, S. 166. BfdK 2/1894, 4, S. 119. BfdK 2/1894, 3, S. 96. BfdK 2/1894, 3. Vgl. Paul Ge´rardy, S. 47, 55. Ebd., S. 47.

3. Geschichte der Blätter für die Kunst

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Auch bei den Notenbeilagen stehen Allianzen im Hintergrund. Karl Hallwachs, mit dem StG den Kontakt hielt,157 beschränkte sein Engagement für StG nicht auf Notenbeilagen für dessen Zeitschrift. Er publizierte auch in dem den BfdK gewidmeten Heft der Allgemeinen Kunst-Chronik vom November 1894 die Vertonung eines George-Gedichts („Lilie der auen!“).158 Im Februar des folgenden Jahres erschien dort StGs Die Herrin betet, das die BfdK im März 1894 mit folgender Anmerkung veröffentlichten: „Die ton-begleitung zu den stummen teilen der handlung ist von Karl Hallwachs gesezt worden“.159 Anders gelagert war die Beziehung zu Clemens Franckenstein: Dieser schrieb am 21. April 1894 an Klein: „Mit freudigem Erstaunen habe ich die Musikinlage der letzten Nummer der Blätter für die Kunst wahrgenommen; ich kann Ihnen gar nicht sagen wie lieb es mir war zu sehen, dass auch die Bestrebungen moderner Musiken in Ihrer werten Zeitschrift aufnahme finden“ – er bot daraufhin die Vertonung zweier George-Gedichte an („Das lied des zwergen“, „Lilie der auen!“).160 Später bat StG jedoch um die Vertonung eines Gedichts von Hofmannsthal, der mit Franckenstein befreundet war. Die Vertonung eines George-Gedichts durch Franckenstein hatte StG vor allem wegen des nachlässigen Umgangs mit dem Text „nicht angenehm“ berührt.161 Zwar erweiterten die BfdK somit gezielt ihr Spektrum, lehnten es jedoch ab, den „erklärenden teil unseres unternehmens“ auch auf die Musik oder die bildende Kunst hin zu erweitern, zumal für alle Künste weniger der ,Gehalt‘ als eine bestimmte ,Haltung‘ verbindlich sein sollte.162 Auf diese Weise konnte StG eine Koalition mit anderen Künsten über das Habitus-Programm seiner Zeitschrift begründen, ohne den Fokus auf die Literatur aufzugeben. Dieses allgemeine Kunstprojekt gab er gegen Ende des Jahrhunderts auf und entwickelte dabei insbesondere zur Musik ein kritisches Verhältnis. Die veränderte Wertung spiegelt sich in den BfdK ansatzweise wider. StG zufolge sollte die Musik dem Text dienen. So erklärte er 1899 in einem Gespräch, das sich anlässlich Lechterscher Bildentwürfe entspann: „Verse, die Musik schon in sich trügen, sollte man mit anderen Tönen nicht belasten“. Die Vertonung seiner Gedichte wollte er allenfalls als Umsetzung des Rhythmus akzeptieren, „wie er aus seinen Versen klingt, und wie er ihn – diese Verse sprechend, festlegt“.163 Entsprechend kritische Äußerungen zur Musik finden sich in der siebten und achten Folge der BfdK.164 Im Bereich der bildenden Kunst entsprach dieser programmatischen Neuorientierung gegen die Musik die Konzentration auf statische Konzepte im Umfeld der ,Gestalt‘-Ästhetik und -Ethik und damit eine Annäherung an die Kunst der Plastik.165 157 So zu entnehmen aus einem Schreiben von K. Hallwachs an C. A. Klein v. 22.3.1894, in dem er seine Komposition für die Herstellung der ,Inlage‘ sendet (StGA). 158 Vgl. GPL, Nr. 44; vgl. auch ebd., Nr. 135–137. 159 BfdK 2/1894, 2, S. 36. 160 StGA; vgl. auch KTM, S. 77. 161 G/H, S. 91f., 93f., 97ff., 103f., 107, 128f.; vgl. auch GPL, Nr. 101. 162 Vgl. BfdK 2/1895, 5, S. 129. 163 So in den persönlichen Erinnerungen von Richard Wintzer; zit. nach ZT, S. 94. 164 Vgl. BfdK 7/1904, 4; 8/1908/09, 5. 165 Vgl. K, S. 73f., 85f.; vgl. insgesamt zur Musik-Kritik: G. R. Urban, Kinesis and Stasis. A Study in the Attitude of Stefan George and his Circle to the Musical Arts, The Hague 1962, S. 18f., 40ff., 115ff. Zu StGs Verhältnis zur Malerei vgl. Stefan George im Bildnis, Auswahl bearb. v. Walther

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I. Stefan George und sein Kreis

Als dritte Kunstform neben Musik und bildender Kunst spielt das Theater in den BfdK eine große Rolle. Wie in der Literatur setzen die BfdK auch hier auf ein revolutionär neues Konzept. Immerhin publizierte StG Auszüge aus seinem ManuelDrama, gezeichnet mit ,Rochus Herz‘ bzw. mit anonymisierter Autorschaft.166 Darüber hinaus finden sich rund 60 Beiträge in dramatischer Form in den BfdK, wobei viele Stücke als Teilabdruck angekündigt wurden, aber nie in einer vollständigen Fassung vorlagen. Besonders in den letzten Folgen werden die dramatischen Fragmente von lyrischen Dialogformen abgelöst (K, 102ff.). Wolfskehl erklärt entsprechend Über das Drama, dass aktuell lediglich „in altertümlichem geschmack gearbeitete spiele oder – meistens – in gesprächsform gegossene lyrismen“167 überhaupt akzeptabel seien. Bereits im zweiten Band der zweiten Folge geben die Merksprüche Leitsätze für die „neubelebung der Bühne“ aus, darunter auch die zentrale Botschaft aller theatertheoretischen Texte der BfdK: „Eine neubelebung der B ü h n e ist nur durch ein völliges in-hintergrund-treten des schauspielers denkbar“.168 Im vierten Band der ersten Folge beschäftigen sich Kleins Unterhaltungen im grünen salon mit dem „Theatralische[n]“ und kanzeln die etablierte Bühnenkunst als ,untheatralisch‘ ab. Auch hier bemängeln die BfdK, dass sich die Schauspieler nicht in den Dienst des Dramas stellten und sich stattdessen durch Virtuosität in den Vordergrund spielten.169 Der erste „versuch eines ganz originellen dramas“, so Klein weiter, „kommt von Belgien“, und zwar von Maeterlinck.170 Freilich betont Klein, dass auch diese Dramen nicht in die Zukunft weisen: „Im anfang der kommenden epoche wird das lyrische Element vorherrschen“, und dafür muss der gesamte Theaterapparat renoviert werden. Als Beispiel nennt Klein StGs Drama Phraortes, ohne den Urheber zu entlarven – der Wunsch nach einem Auszug in den BfdK erfüllt sich nicht.171 Im fünften Band der vierten Folge kündigt die Einleitung eine „Bühne der Blätter für die Kunst“ an172 und entwirft das umfassende Programm einer Renovierung der Bühnenkunst, auf das auch weitere Stücke immer wieder zu sprechen kommen:173 Gefordert wird ein gleichmäßiger Vortragsstil, der auf eigene Interpretationen des Textes verzichtet bzw. sich ganz in dessen Dienst stellt und nicht auf die Illudierung des Zuschauers zielt. Für StGs Kunsttheorie ingesamt von Bedeutung sind dabei die Ausführungen zum Begriff des ,gebildes‘ (s. u.):174

166 167 168 169 170 171 172 173 174

Greischel u. Michael Stettler, Düsseldorf, München 1976, S. 19ff.; zur Kritik an der ,unendlichen Melodie‘ vgl. Wolfgang Osthoff, Stefan George und ,Les deux musiques‘. Tönende und vertonte Dichtung im Einklang und Widerstreit, Stuttgart 1989, S. 48. BfdK 1/1893, 3, S. 72–78; 2/1894, 2, S. 56f.; 2/1895, 5, S. 147–149. BfdK 7/1904, S. 65. BfdK 2/1894, 2, S. 34. BfdK 1/1893, 4, S. 112f., 116. Ebd., S. 113. Vgl. ebd., S. 116. Vgl. BfdK 4/1899, 5, S. 129f. BfdK 7/1904, S. 61–65; 8/1908/09, S. 5–7, 62f. Dazu: David, Stefan George, S. 205ff.; K, S. 100ff. Vgl. Ute Oelmann, Das Gedicht als „Gebilde“. Zur Poetik des jungen Stefan George, in: „Sinnlichkeit in Bild und Klang“. Festschrift für Paul Hoffmann zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Hansgerd Delbrück, Stuttgart 1987, S. 317–325; Martus, Werkpolitik, S. 624ff.

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Wir halten in diesen vorführungen zuvörderst auf die abrichtung der stimme zum hersagen der neuen rhythmischen gebilde – das hervortreten der körperlichkeit in einem schönen licht – das beschränken der bewegungen als strenge begleiter des wortes – vorläufig in kleinen auftritten mit möglichst einfachen gegenüberstellungen.175

Da danach mit „Noch ein Goethe-Spruch“ das erste der späteren Zeitgedichte aus dem Siebenten Ring erscheint (dort als „Goethe-Tag“), wird mit dem angeprangerten Festtagspublikum der Gegner dieser Bühnenkunst profiliert. Bei Zusammenkünften des Blätter-Kreises wurde der Versuch unternommen, diese Theaterreform umzusetzen (vgl. etwa „Maskenzug 1904“176). Durch seine Vorlesungen gab StG dafür gewissermaßen Leitmelodie und -rhythmus vor. So vermerken die Nachrichten zum fünften Band der vierten Folge der BfdK: Wie in den vergangenen jahren werden wir heuer eine reihe von vorlesungen und aufführungen abhalten. Eine angenehme vermehrung der möglichkeiten danken wir unseren ausländischen freunden die durch das hersagen in ihrer vers-sprache über das unsre vielleicht noch manche lehre geben können. Vortrag und bewegung stehen auch diesmal unter der leitung der dichter und bühnen-ausschmükkung und anordnung werden ausschliesslich durch unsre bildenden künstler bestimmt. Die einladungen an unsere mitglieder ergehen wieder durch Reinhold und Sabine Lepsius.177

Bis zur achten Folge hält StG am Theaterprojekt fest, nach der Jahrhundertwende nicht zuletzt stimuliert durch die Erfolge von Theaterautoren wie Ernst Hardt oder Karl Gustav Vollmoeller, die in den BfdK ihre Karriere begonnen hatten.178 3.5.3. Annäherung an die Öffentlichkeit StG situiert die BfdK an der Grenze von privater und öffentlicher Kommunikation. Die Gewichtungen wechseln immer wieder, wobei sich StG zur Jahrhundertwende zunehmend dem konventionellen Buchmarkt annähert und damit auch die Position seiner Zeitschrift verändert: Schon in der Einleitung zum ersten Band der zweiten Folge kündigt er die „weitere verbreitung“ für die Zukunft an, bezieht in den Adressatenkreis über die Kunstproduzenten hinaus auch die Kunstrezipienten ein („arbeiterund leserschaft“) und stellt das pädagogische Anliegen heraus („forderungen der dichterischen erziehung und des geschmackes“).179 Die pädagogische Dimension als Leitmotiv der späteren Kreisbildung wird auch in Gedichten wie „Der Auszug der Erstlinge“ verhandelt: Hier äußert sich ein jugendliches Kollektiv, das sich von seinen familiären Bindungen befreit, um sein ganzes Leben dem „schöne[n] ziel“ zu widmen180 – noch fehlt die hierarchische Gliederung, die die Struktur des George-Kreises wesentlich auszeichnet.181 Paul Ge´rardys Beitrag Geistige Kunst, der explizit auf die 175 BfdK 4/1899, 5, S. 130. 176 BfdK 7/1904, S. 148–155. 177 BfdK 4/1899, 5, S. 156. Vgl. zum Salon von Lepsius: Groppe 1997, S. 130ff.; Karlauf 2007, S. 226ff. 178 Vgl. Karlauf 2007, S. 439f.; KTM, S. 81f. 179 BfdK 2/1894, 1, S. 1. 180 BfdK 2/1894, 4, S. 98f. 181 Vgl. Kolk 1998, S. 39.

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Vorrede zum ersten Band der BfdK verweist und auch von außen als zentrales Manifest der BfdK wahrgenommen wurde,182 konkretisiert den Adressatenkreis im Blick auf jene soziale Gruppe, die später im Zentrum von StGs pädagogischen Bemühungen stehen wird: Er spielt auf die Abgänger des humanistischen Gymnasiums an, die von der Diskrepanz zwischen der „geahnten pracht des Altertums“ und der Realität „in den strassen und auf den öffentlichen plätzen“ enttäuscht sind.183 Zu Beginn der dritten Folge im Januar 1896 verbuchen die BfdK die erfolgreiche Ausweitung ihres Wirkungshorizonts. Damit beginnt das dialektische Spiel, das die Programme der BfdK von nun an beschäftigen wird: Auf der einen Seite legen sie Wert darauf, eine Breitenwirkung zu entfalten; auf der anderen Seite führt dies zu immer neuen Varianten der Anspruchssteigerung, um den esoterischen Status der Zeitschrift zu erhalten. So geht es nun nicht mehr allein darum, einen bestimmten Begriff von Kunst zu vermitteln, sondern zusätzlich darum, dass „die laue teilnahme welche die ernste kunst und dichtung in diesen tagen hierorts findet wärmer und tiefer werde“.184 Das symbolische Kapital, das die BfdK akkumuliert haben, droht durch Inflation entwertet zu werden.185 Die BfdK deuten daher die Melancholie des Scheiterns aus den Anfangsbänden im Licht Nietzsches neu als Zeichen der Stärke:186 „kunst“, so erklärt StG in Über kraft, „ist nicht schmerz und nicht wollust sondern der triumph über das eine und die verklärung des andern“.187 In den darauf folgenden Merksprüchen konkretisieren die BfdK ihr politisches Programm, greifen das „schrifttum“ im „kaiserlichen Deutschland“ als „bildungsstaat zweiter ordnung“ an und präsentieren sich als Sachwalter der Tradition des „Heiligen Römischen Reich[s] Deutscher Nation“.188 Der nationalpolitischen Profilierung entspricht die Entdeckung Jean Pauls: Neben Goethe akzeptieren ihn die BfdK als Traditionsbezug.189 Im dritten Band der dritten Folge (Juni 1896) formulieren die Merksprüche dann jene Interpretationsvorgaben insbesondere für das Frühwerk StGs, die bereits auf die Zeitgedichte des Siebenten Rings vorausdeuten: „Seid ihr noch nicht von dem gedanken überfallen worden dass in diesen glatten und zarten seiten vielleicht mehr aufruhr enthalten ist als in all euren donnernden und zerstörenden kampfreden?“190 Am Ende der dritten Folge erreichen die BfdK einen Scheidepunkt und kündigen an, dass „dieses unternehmen bald aus seinen schranken heraustreten“ dürfe, wenngleich sie noch immer eine „umkehr i n d e r k u n s t“ als ihre Mission begreifen. Zugleich gestehen sie offen ein, dass es „minder starke[] beiträge“ gibt, die „zur bildung des nötigen hintergrundes zugelassen“ wurden.191 Damit reagiert StG auch auf die immer wieder geäußerte interne Kritik an der Qualität der Beiträge.192 Zu182 Er erschien auch in den Heften der Allgemeinen Kunst-Chronik, die 1894/95 den BfdK gewidmet waren (Paul Ge´rardy, S. 47). Vgl. zu dem Essay: Nivelle, Paul Ge´rardy, S. 133ff. 183 BfdK 2/1894, 4, S. 110; Groppe 1997, S. 45f. 184 BfdK 3/1896, 1, S. 32. 185 Vgl. Kolk 1998, S. 55, 60f. 186 Vgl. David, Stefan George, S. 189f.; Kolk 1998, S. 235. 187 BfdK 3/1896, 1, S. 31. 188 BfdK 3/1896, 2, S. 33, 35. 189 Z. B. BfdK 3/1896, 2, S. 59–62. 190 BfdK 3/1896, 3, S. 98. 191 BfdK 3/1896, 5, S. 129, 131. 192 Vgl. Kolk 1998, S. 64.

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gleich aber steht StG nun offiziell die Möglichkeit zur Verfügung, die bislang auf den ersten Blick als egalitäre Autorenvereinigung strukturierten BfdK zu hierarchisieren. Dass die Autoren der BfdK untereinander oft wenig Kontakt haben und über ihren Bezug zu StG bzw. zu den BfdK integriert werden, ist für die Machtverteilung zugunsten StGs von Vorteil; zugleich aber sorgt diese Disparität auch dafür, dass die Struktur des Mitarbeiterkreises noch immer labil bleibt.193 In der vierten Folge erscheinen StGs Gedichte aus dem Teppich des Lebens und den Liedern von Traum und Tod, also jenem Gedichtband, mit dem StG seine Berufung der Direktive des „schöne[n] leben[s]“ unterstellt. Damit, so die opinio communis der Forschung,194 schaffte StG die Voraussetzungen für die Ausbildung des George-Kreises im engeren Sinn. Die Merksprüche fordern entsprechend den einen „grosse[n] schönheit-finder“,195 weisen auf die lange Ausbildungszeit künstlerischer Kompetenz hin und betonen nachdrücklich die Funktion einer intern hierarchisierten Kreisbildung: Es ist ein irrtum dass nur grosse geister ein unternehmen mit grossem gedanken zu fördern vermöchten. von aller wichtigkeit ist es die kleineren zu erziehen und hinzuleiten auf dass sie die luft bilden in denen der grosse gedanken atmen kann. Wir wissen wohl dass der schönste kreis die grossen geister nicht hervorrufen kann, aber auch dies dass manche ihrer werke nur aus einem kreis heraus möglich werden. Bedeutender trost für die kleineren: wenn ihr das höhere leben eurer führer begriffen habt so seid ihr nicht nur dazu nötig das feld frisch und locker zu erhalten sondern ihr sammelt gar oft blumen und früchte die – wenn ihr es selber nicht vermögt – ein grösserer später in seinen kranz flicht.196

StG selbst hat die Möglichkeit, seine Werke einer mehr oder weniger unsortierten Leseöffentlichkeit zu präsentieren, im Rückblick von einer Voraussetzung abhängig gemacht. Im Vorwort zu den Hymnen, die ja nicht nur die Gedichtsammlung bilden, mit der StG sich erstmals namentlich einem ausgewählten Publikum präsentiert, sondern die auch – gemeinsam mit den Pilgerfahrten und Algabal – die Phase der öffentlichen Ausgaben eröffnen, legitimiert er diesen Schritt durch eine veränderte Rezeptionslage: Die „lesende menge“ vermag gegen Ende des Jahrhunderts ein „dichtwerk als gebilde zu begrüssen“ (II, 5). Eben diese Forderung fand sich in den Merksprüchen im einleitenden Doppelband der vierten Folge der BfdK: „kunstverständnis ist nur da zu finden wo ein kunstwerk als gebilde (rytmisch) ergreift und ergriffen wird“.197 Als Antidot gegen die drohende Trivialisierung des neuen Kunstverständnisses, das sich – wie die vielen Abwehrreaktionen in den BfdK zeigen – zunehmend als ein Normalkonzept von Kunst durchsetzt, potenziert das Programmgedicht „Der Teppich“ daher die Exklusivität der Anforderungen („Die lösung […] wird den seltnen selten im gebilde“198). Die Nachrichten weisen umgekehrt darauf hin, „dass noch keinen ernst193 Vgl. ebd., S. 67f. 194 Vgl. die Überblicke bei David, Stefan George, S. 174ff.; Winkler, Stefan George, S. 40ff.; Kolk 1998, S. 234ff. 195 BfdK 4/1897, 1/2, S. 1. 196 BfdK 4/1897, 1/2, S. 3. 197 Ebd. 198 BfdK 4/1899, 3, S. 69.

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haften uns wertvollen teilnehmer die mühe verdross sich den weg zu uns zu bahnen“199 – damit steht weiteren Kreisen der Zugang zu den BfdK prinzipiell offen. Und in den Merksprüchen heißt es: Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel: dass unsre jugend jezt das leben nicht mehr niedrig sondern glühend anzusehen beginnt: dass sie im leiblichen und geistigen nach schönen maassen sucht: dass sie von der schwärmerei für seichte allgemeine bildung und beglückung sich ebenso gelöst hat als von verjährter lanzknechtischer barbarei: dass sie die steife gradheit sowie das geduckte lastentragende der umlebenden als hässlich vermeidet und freien hauptes schön durch das leben schreiten will: dass sie schliesslich auch ihr volkstum gross und nicht im beschränkten sinne eines stammes auffasst: darin finde man den umschwung des deutschen wesens bei der jahrhundertwende.200

Nun beginnt die Zeit „seit der Ankunft des Engels“, wie in den BfdK die anschließende Rubrik mit Gedichten StGs überschrieben ist. Wie kalkuliert StG den Jahrhundertwechsel und die Werkmitte inszeniert, sieht man bereits daran, dass das Jahr der Seele und der Teppich des Lebens gleichzeitig entstehen, StG aber bereits bei den Vorabpublikationen in den BfdK die Gedichte der Sammlungen auseinanderhält (V, 91f.). Dabei zitiert StG das erste Gedicht des Vorspiels („Ich forschte bleichen eifers nach dem horte“), das er bereits im Anschluss an Gedichte aus dem Jahr der Seele in der vorangegangenen Folge der BfdK publiziert hatte,201 als Motto zum zweiten Gedicht („Gieb mir den grossen feierlichen hauch“). Falls die Leser dennoch nicht verstanden haben sollten, dass StG sich keinem ,Engel‘ unterstellt, sondern die Inspirationsmacht wie in „Weihe“ erneut selbst autorisiert, klärt Karl Wolfskehl in seinem Beitrag der Künstler der Heiland umgehend noch im selben Band die Strukturen: „da du in farb und formen allselber zu dir eilest kannst du in liebenden umschlingen zeugend dich zeugen lassen“.202 Klages fügt dem in einem Beitrag Vom schaffenden jene Poetik der Formgebung hinzu, an deren Stellenwert sich StGs Verhältnis zu den Kosmikern entscheiden wird: „der schaffende […] wandelt […] ü b e r den verwirrungen des lebens und schlägt ihr bild in die fesseln lächelnder schönheitsform“.203 Dass im dritten Band der vierten Folge erstmals Friedrich Gundolf Gedichte publiziert, der über Wolfskehl zu StG kam, passt ins Bild: An ihn delegiert StG von nun an das Redaktionsgeschäft der BfdK (K, 35); Gundolf entwickelt sich – neben Friedrich Wolters und konkurrierend zu ihm – in den folgenden Jahren zu einem der wichtigen programmatischen Köpfe des George-Kreises.204 Im Hintergrund dieser programmatischen Verschiebungen stehen eine Reihe von institutionellen Neuerungen, die die BfdK betreffen: Zum einen wird die Zeitschrift über eine Artikelserie in der Allgemeinen Kunst-Chronik gezielt einer breiten literarischen Öffentlichkeit in Deutschland nahegebracht; zum anderen schließt StG an seine Zeitschrift einen Verlagszweig an; zum Dritten plant er die grundsätzliche Neuausrichtung der BfdK als kunst- und kulturkritisches Periodikum. 199 200 201 202 203 204

BfdK 4/1897, 1/2, S. 64. Ebd., S. 4. BfdK 3/1896, 1, S. 8. BfdK 4/1897, 1/2, S. 26f. BfdK 4/1897, 1/2, S. 34. Vgl. Groppe 1997, S. 274ff., 290ff. passim.

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Am 17. November 1894 schreibt StG Ida Coblenz, dass „wichtige veränderungen“ bevorstünden: „diesen winter soll ich mit der öffentlichkeit in berührung kommen. die ,Münchener Allgem. Kunst-Chronik‘ hat sich erboten meinen und meiner freunde bestrebungen zwei hefte zur verfügung zu stellen die dieser tage herausgegeben werden“ (G/C, 47). Dieses Anerbieten wurde nicht ganz von selbst an StG gerichtet, sondern von Wolfskehl vermittelt, der Georg Fuchs, den Herausgeber der KunstChronik, kannte: Im März durfte Fuchs in der zweiten Folge publizieren. Am 31. Juli 1894 meldet Wolfskehl an Klein: „Fuchs, der wirklich unermüdlich ist hat schon tausend Eisen im Feuer – unsere Sache steht glänzend“.205 Am 19. August 1894 berichtet er StG: Wahrscheinlich gelangt Fuchs in den Vollbesitz einer Kunstzeitschrift ! ! Ich glaube fast dass wir nach diesem Winter einen festen archimedischen Punkt bekommen – nur von uns wird es dann abhängen, die Welt aus ihren Angeln zu heben. (StGA)

Und in einem undatierten Brief schreibt Fuchs an Klein: „Im Einverständnis mit Herrn Stefan George gebe ich in diesen Monaten zwei Hefte der ,Allg. Kunst-Chronik‘ als Sammelbände heraus, welche alle der neueren Aesthetik Zugehörigen umschließen sollen“. Auch Klein solle dazu „selbstverständlich[]“ beitragen: „Herr George ist der Ansicht, daß eine Darstellung aus Ihrer Feder, welche das seitherige Wirken der ,Bl. f. d. K.‘ in kurzen Zügen schildert, unserer Sammlung nur zur Zierde gereichen könnte“ (StGA). Die Kunst-Chronik räumt den BfdK im November 1894 und im Februar 1895 ausführlich Platz zur Selbstdarstellung ein: Abgedruckt werden im ersten Heft Vorreden vom ersten und fünften Band der ersten Folge der BfdK sowie vom ersten Band der zweiten Folge Ge´rardys Aufsatz Geistige Kunst, Wolfskehls Aufsatz Stefan George neben einem George-Porträt von Gebhard Fugel (das im Original auf der Münchner Jahresausstellung 1894 im „Kgl. Glaspalast“ zu sehen war), sechs Seiten Auszüge „aus den Werken Stefan Georges“, die mit einem George-Profil abgeschlossen werden,206 sowie „Übertragungen“ aus den BfdK. Für die Verfahren der Netzwerkbildung ist aufschlussreich, dass im Anschluss an die Blätter-Werbung ein Abschnitt über Wallonische Künstler folgt, wo August Donnay von Ge´rardy behandelt wird. Am Anfang des zweiten Blätter-Hefts der Kunst-Chronik von 1895 steht ein Aufsatz von Georg Fuchs über Leo Samberger, der wenige Monate zuvor zum vierten Heft der zweiten Folge der BfdK eine ,Inlage‘ beigesteuert hatte. Weiter finden sich darin Ein Sendschreiben von Klein, der das Projekt der BfdK noch einmal gesondert erläutert,207 Die Herrin betet von StG, ein Auszug aus Der Tod des Tizian von Hofmannsthal sowie weitere Gedichte aus den BfdK von Ge´rardy, Edward und Wolfskehl. StG präsentierte also nicht nur sein Werk, sondern die ,Bewegung‘ der BfdK. Dabei verhalten sich die internen Verknüpfungen seines Werks und die externen Verknüpfungen des Werks mit der künstlerischen Umgebung homolog zueinander. Wolfskehl 205 StGA. Vgl. dazu die Artikel von Fuchs, beginnend mit den Ausführungen über Symbolistische Kunst und die Renaissance in Flandern im Juni-Heft der Allgemeinen Kunst-Chronik: Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 91ff., 96ff., 262ff.; auch K, S. 29. 206 Eine Fotografie von etwa 1892 (im Tafelband bei RB II, Nr. 34). 207 Wiederabdruck in: Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 133f.

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expliziert dies in seinem Beitrag, der StG als „königliche[n] Priester“ einführt, wenn er über die ersten Gedichtbände schreibt: jedes dieser Bücher bildet ein in sich geschlossenes Ganze. Alle drei aber lassen sich wiederum in eine Einheit zusammenfassen, und in einem gewissen Verstande bezeichnen sie heute den Mittelpunkt seines Schaffens, wenn auch klärlich die Fäden erkennbar sind, die von diesen Werken nach den anderen Phasen seiner Entwickelung sich hinüberziehn.208

Darauf folgen Verweise auf das Frühwerk „Legenden“ in den BfdK. Diesen Resonanzraum weitet Wolfskehl auf andere Künste aus: In der musikalisch-malerischen Strömung, die seit R i c h a r d Wa g n e r und B ö c k l i n der deutschen Kunst eine schönheitstrunkene Umformung schuf, ist es G e o r g e , welcher der Poesie mit neuen Fähren und einem glänzenden Gewand auch die neue Innigkeit giebt, sodass erst durch ihn sie die ebenbürtige Genossin der Schwesterkünste wird.

Abschließend weist er dann auf den „gewaltigen Eindruck[]“ hin, „welchen seine [StGs] Werke in den jüngern Dichtern hinterliessen“, und belegt dies mit Auszügen aus Hofmannsthals Der Tod des Tizian, „in dem G e o r g e s Dichten in glänzender Neugestaltung wiedertönt“.209 Wie wichtig StG die Präsentation einer Bewegung war, sieht man auch in der Reaktion auf den Pan (1895–1900) – am 2. August 1894 schreibt StG an Wolfskehl: „Ueber die veröffentlichung Pan die die unsere nachahmt hat mir Paul Ge´rardy des weiteren geschrieben: erfreuen wir uns dass wir so rasch einwirkten!“ (StGA) Als StG über die Vermittlung von Ida Coblenz die Möglichkeit sieht, sich im Pan zu präsentieren, stellt er in einem Brief vom 20. August 1895 seine Bedingungen: Doch werde ich nur im ,Pan‘ erscheinen können wenn die haupt-mitarbeiter der Blätter f. d. Kunst als: Hofmannsthal Ge´rardy und Wolfskehl dabei erscheinen. die nicht zu verwechselnde eigenart dieser dichter hat das eine gemeinsame dass ihre werke nicht neben den andern deutschen dichterischen beiträgen in ,Pan‘ sich sehen lassen. (G/C, 57)

Präsentiert werden sollten mithin die Autoren einer ,Bewegung‘, um in einem Kontext Alleinstellungsmerkmale zu signalisieren, der vom künstlerischen Programm her durchaus auf einer Linie mit StG lag – Coblenz bemerkt zu Recht in einem Brief an StG, „[d]aß der Pan nicht das geworden ist was Sie dachten, eine Sammelstätte des Naturalismus […]“.210 Nach dem Austritt Dehmels aus der Redaktion des Pan wurde der Plan nicht in die Realität umgesetzt. Im Pan erscheinen jedoch immerhin Beiträge von Autoren der BfdK (Hofmannsthal, Dauthendey, Derleth, Oscar A. H. Schmitz, Ernst Hardt, Karl Gustav Vollmoeller, August Oehler), Illustrationen von Heine sowie ein großer Essay Wolfskehls Zum Erscheinen der öffentlichen Ausgaben von StGs Werken, der auch als Sonderdruck vertrieben wurde.211

208 Wolfskehl, Stefan George, S. 672 (Wiederabdruck in: Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 104ff.). 209 Ebd., S. 676. 210 G/C, S. 56. Zur Vergleichbarkeit der BfdK und des Pan vgl. auch Hofmannsthal an Harry Graf Kessler v. 16.8.1901 in: KTM, S. 70. 211 Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 369ff.; K, S. 30f., 60, 67f.

3. Geschichte der Blätter für die Kunst

347

Parallel zur Marketingaktion in der Kunst-Chronik definierte StG sein Verhältnis zur Verlagswelt neu: Bereits Ende 1894 schloss er an die BfdK einen Selbstverlag an: Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten erschienen mit dem Druckvermerk „im Verlag der Blätter für die Kunst“.212 StG folgte damit einem zeitgenössischen Erfolgsrezept, durch das sich auch die Freie Bühne unter dem Titel Neue Deutsche Rundschau (ab März 1894)213 in Kooperation mit dem Fischer-Verlag durch wechselseitige Stabilisierung von Verlag und Zeitschrift die Existenz sicherte. 1898 übergab StG dann die Verlagsarbeit an Georg Bondi, der seine Werke und die Bücher aus seinem Kreis mit dem Signet „Blätter für die Kunst“ verlegte und ihnen auf diese Weise einen eigenen Platz in seinem Programm zugestand. Die BfdK selbst blieben eigenständig. Nur im Fall der von Bondi verlegten Auslese-Bände kam es zu der skizzierten Fusion von Zeitschrift und Verlag. Eine Neuauflage der BfdK lehnte Bondi ab.214 Auf diese Weise erschienen die erste, für die Öffentlichkeit gedachte Auslese (Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1892–1898, datiert auf 1899) und die öffentlichen Ausgaben von StGs Werken zeitgleich mit dem Monstranz-Signet der BfdK von Melchior Lechter – offenbar war StG auch hier an der Selbstkontextualisierung durch seine Zeitschrift gelegen: 1898 fand sich die Anzeige, dass der erste Band der Auslese „gleichzeitig mit der ersten vollständigen ausgabe der werke von Stefan George“ bei Bondi veröffentlicht werde (StGA). Die Auslese enthält ein lückenhaftes Inhaltsverzeichnis der bislang erschienenen Bände der BfdK, sodass dem Leser wieder Einblicke in die Auswahlprinzipien ermöglicht werden. Die Gedichte StGs sind chronologisch geordnet, wobei auch zuvor anonym erschienene Beiträge nun namentlich zugeordnet werden. Weiterhin enthalten sind (in der Reihenfolge ihres Erscheinens) Beiträge von Hofmannsthal, Ge´rardy, Wolfskehl, Klages, Leopold von Andrian, Richard Perls, Max Dauthendey, Oscar A. H. Schmitz (zwei noch nicht in den BfdK erschienene Strophen; vgl. GPL, Nr. 92), Ernst Hardt, Karl Gustav Vollmoeller und August Oehler. Im Vorwort der Auslese begründet StG den Schritt an die Öffentlichkeit: nach und nach wurde ihnen [den BfdK] zu teil auch ausserhalb ihres kreises viele freunde zu erwerben und anregend und umgestaltend zu wirken. Jezt mussten sie sich entschliessen mit dieser auslese aus sämmtlichen jahrgängen den weg der öffentlichkeit zu beschreiten weil sie durch die zahlreichen bedeutungsvollen besprechungen der lezten zeit ohnehin ihre schranken verlassen und in unsere dichtung und unser schrifttum so fühlbar eingegriffen haben dass das verlangen aller teilnehmenden nach einer zusammengefassten und erreichbaren ausgabe gerecht zu sein schien. (S. 5f.)

Der Auswahl lag Richard Moritz Meyers großer Aufsatz Ein neuer Dichterkreis bei:215 Meyers Artikel, der zunächst in den Preußischen Jahrbüchern erschienen war, unternimmt die erste umfassende literaturhistorische Einordnung StGs. Damit hatte Georg Bondi auf StG aufmerksam gemacht und bewegte zugleich – gemeinsam mit 212 K, S. 31; Dimpfl, Zeitschriften, S. 176. 213 Zur Kritik der Rundschau (Januar 1895) an den BfdK und ihrer ,Bewegung‘ vgl.: Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 129ff. 214 Vgl. K, S. 32; Dimpfl, Zeitschriften, S. 126f., 141, 163; Karlauf 2007, S. 245. 215 Wiederabdruck in: Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 283ff.; dazu K, S. 34f.

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I. Stefan George und sein Kreis

einer Studie von Max Dessoir – Georg Simmel dazu, seinerseits über StG zu publizieren.216 An diese akademische Nobilitierung durch den Universitätsnachwuchs schließen Beiträge wichtiger Germanisten (Gustav Roethe, Erich Schmidt) und Philosophen an (Wilhelm Dilthey, Karl Joe¨l, Heinrich Rickert).217 Zwar erschien 1897 Das Jahr der Seele, aber für einige Beobachter war etwas anderes auffällig. Am 20. Oktober 1897 schrieb Verwey an seine Frau über StG: „Er hatte schon seit langem wenig gemacht und auch das von wenig Bedeutung. Eigentlich ist er ganz von Zeitschriftenplänen eingenommen“ (W/V, 17). Tatsächlich wurden die programmatischen Veränderungen in den BfdK begleitet von intensiven Überlegungen StGs über die Zukunft seiner Zeitschrift. Im Vorfeld der öffentlichen Ausgaben seiner Gedicht-Bände spielte er seit 1895 mit dem Gedanken, die BfdK neu auszurichten und sie zu einer „zeitschrift künstlerischer wie beschreibender art“ zu erweitern (G/H, 77, 79). Ausführlicher äußerte sich StG am 11. September 1896 gegenüber Hofmannsthal: Ich machte Ihnen bereits andeutungen über eine erweiterung unsrer ,Blätter für die Kunst‘ und durch viele aufmunterungen gestärkt glaube ich dass der augenblick bald genaht ist um eine monatliche deutsche Rundschau zu veröffentlichen welche wie Sie begreifen noch nicht besteht. Allerdings treten wir dann an die masse heran. Die künstlerische leitung bliebe wol dieselbe doch würde durch das hinzuziehen einiger wirklich bedeutender junger gelehrten der kunstwissenschaftliche teil sich um ein beträchtliches vermehren. So würde sich auch die schriftleitung aus zwei dichtern und einem gelehrten zusammensetzen. für unerlässlich erachte ich es nun Ihnen vorzuschlagen sich als den einen dieser dichter zu stellen. Ich wende mich an Sie als an den Ersten. Da diese zeitschrift sowol für mich wie für Sie eine lebensbedeutung bekommen kann, so bitte ich Sie sich eindringlich zu erforschen eh Sie eine gegenrede senden. Da es sich hier um ein ernsthaftes zusammenwirken aller kräfte dreht so wäre Ihre gelegentliche mitarbeiterschaft (die Sie wol anbieten könnten) bedeutungslos. Ihre stelle müssen wir alsdann durch einen andren auszufüllen trachten, doch will ich an diesen schweren verlust lieber nicht denken. (G/H, 110f.)

Die Zeitschrift sollte zu einem Forum für künstlerische, kunst- und kulturkritische Diskussionen werden. Als weiteres Mitglied der „schriftleitung“ war Max Dessoir vorgesehen, der StG ausführlich in einem von April bis Mai 1896 in Westermanns illustrierten deutschen Monatsheften erschienenen Essay zum Kunstgefühl der Gegenwart behandelt hatte.218 Mit dieser Wende seiner Zeitschriftenpolitik hätte StG den bislang relativ strikt durchgehaltenen Exklusivitätsvorbehalt gegen das Publikum aufgeben müssen. Nach Hofmannsthals Absage setzte StG diese neue Konzeption vorerst nicht um und realisierte eine dezidiert kritische Zeitschrift erst mit dem von Gundolf und Wolters herausgegebenen Jahrbuch für die geistige Bewegung in den Jahren 1910 bis 1912.219

216 217 218 219

Vgl. Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 324ff. Vgl. Groppe 1997, S. 131ff., 156ff.; Karlauf 2007, S. 231ff. Vgl. G/H, S. 255; Abdruck des Essays in: Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 187ff. Vgl. G/H, S. 53; K, S. 32f.; Dimpfl, Zeitschriften, S. 178; Alt, Hofmannsthal, S. 35f.

3. Geschichte der Blätter für die Kunst

3.6.

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Entwicklung der Blätter für die Kunst von 1901 bis 1919

Mit neuen Autoren wie Karl Gustav Vollmoeller oder Oscar A. H. Schmitz trat seit der zweiten Hälfte der 1890er-Jahre eine neue Generation in den BfdK auf. Ihr galt StG, wie es in Vollmoellers Gedicht „Für S. G.“ heißt, als der „grosse[] strom“ und der „sitten strasse lebens quell und ader“.220 Selbst ein durchaus unabhängiger Autor wie Ludwig Derleth, von 1902/03 bis 1910 mit rund 40 Gedichten in den BfdK vertreten, orientierte sich am Stil StGs.221 Den BfdK gelang der Aufbau einer „Überlieferung“, wie StG es im letzten Band der BfdK stolz formuliert, und dazu gehörte auch das nun insgesamt ausgestellte Traditionsverhalten,222 mit dem StG sich als Erfüllung einer genuin deutschen Literaturtradition inszenierte. Dies dokumentieren nicht zuletzt die gemeinsam mit Karl Wolfskehl herausgegebenen Anthologien Jean Paul (1900), Goethe (1901) und Das Jahrhundert Goethes (1902).223 In den BfdK aber hatte sich diese nationalliterarische Einordnung schon längere Zeit angekündigt. Parallel dazu veränderte sich der Blätter-Kreis organisatorisch immer mehr von einer eher losen Gruppe zu einem festen Bündnis und von einer Dichtergruppe zur pädagogischen Institution, die sich weniger der Kunst- und mehr der Kulturpolitik widmete.224 Am Ende dieser Entwicklung steht die anonymisierte Autorschaft der letzten Folgen der BfdK, die den einzelnen Autor ganz der Kreisbildung unterordnet. Das geschlossene Erscheinungsbild wurde nicht zuletzt dadurch unterstützt, dass die BfdK ab der fünften Folge (1900/01) nicht mehr in einzelnen Bänden, sondern in Buchform erschienen. Das war anfangs noch nicht als festes Publikationsprinzip gedacht,225 aber es korrespondierte mit der zunehmenden Bedeutung, die StG den eigenständigen, werkförmigen Publikationen beimaß (K, 35). Zwar wurde dieses Ziel bereits im ersten Band der zweiten Folge in der Einleitung als Ziel der „höchsten freiheit der bewegung“ formuliert, „woraus erst das Werk entsteht“;226 und Klages griff das Motiv in seinen Aphorismen Vom schaffenden auf: „nur weil er dem werke es zum opfer bringt hat das leben ihm wert. das ist s e i n ehrgeiz: der u m d e s w e r k e s w i l l e n“.227 Symptomatisch aber ist, dass StG die achte Folge der BfdK aus den Publikationen des Verlags der Blätter für die Kunst zusammenstellte und die neunte Folge lediglich deswegen veranstaltete, um die fast zeitgleiche Publikation von Hölderlins Pindar-Übersetzungen zu begleiten. Dem entspricht die längere Pause zwischen 1910 und 1914, in der die BfdK vom Jahrbuch für die geistige Bewegung als Publikationsmedium des George-Kreises abgelöst wurden. Die Merksprüche der fünften Folge verschieben den Fokus der ,Bewegung‘ in diesem Sinn von der Kunst- zur Kulturpolitik. Sie diagnostizieren die Entstehung einer „geistige[n] und künstlerische[n] gesellschaft“ in „unsern deutschen mittelpunkten“ 220 BfdK 5/1900/01, S. 94f. 221 Vgl. Dominik Jost, „Du hast des adlers blick“. Ludwig Derleths Dichtungen: Von den Gedichten in den ,Blättern für die Kunst‘ zum Haupt- und Lebenswerk in sechzehn Teilen ,Der Fränkische Koran‘, in: Neue Beiträge zur George-Forschung 20/1994, S. 34–50, hier: 38f. 222 Im Überblick vgl. dazu Winkler, Stefan George, S. 40ff. 223 Vgl. SW V, S. 90f.; Karlauf 2007, S. 285ff. 224 Vgl. K, S. 123; dazu generell Kolk 1998, S. 94ff., 123ff. 225 Vgl. BfdK 5/1900/01, S. 156. 226 BfdK 2/1894, 1, S. 1. 227 BfdK 4/1897, 1/2, S. 35.

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I. Stefan George und sein Kreis

als Basis der favorisierten „kunstschöpfungen“ und eines „neue[n] bildungsgrad[s] (kultur)“.228 Zugleich enttrivialisieren die BfdK die Zuwendung zur Öffentlichkeit, indem sie den Anspruch erhöhen und das Projekt der Lebenserneuerung vom Verdacht des bloß Politischen befreien. Unter der Überschrift „Die Deutsche geste“ verkünden die Merksprüche: „Dass der Deutsche endlich einmal eine geste: die Deutsche geste bekomme – das ist ihm wichtiger als zehn eroberte provinzen“. Entsprechend fordert das Kunstprogramm von den Akteuren der „deutsche[n] litteratur“, auf „falschen originalitätsstolz“ zu verzichten und ihre „scheu vor der einordnung“ abzulegen.229 Zum Abschluss werden in der fünften Folge die „neue[n] träume“ der BfdK verkündet: Die jugend die wir vor uns sehen gestattet uns den glauben an eine nächste zukunft mit höherer lebensauffassung vornehmerer führung und innigerem schönheitsbedürfnis. Sollten aber grosse umwälzungen und ausbrüche entstehen so wissen wir dass diese ganz anderer art sein müssen als die staatlichen und wirtschaftlichen plänkeleien die heute die gemüter erfüllen.230

Bei dieser Orientierung zwischen Kreis- und Kulturpolitik übernehmen StGs Zeitgedichte, die von ersten Auszügen aus der „Dante-Übertragung“231 begleitet werden, ihre spezifische Funktion: In der fünften Folge erscheint „Nietzsche“;232 in der sechsten Folge, die keine weitere programmatische Innovation bringt, findet sich dann eine größere Gruppe, darunter auch das später die Rubrik einleitende Programmgedicht „Das Zeitgedicht“.233 Gerade diese Gedichte appellieren weniger an die breite ,Masse‘, die für StG ohnehin keine Rolle spielt („Blöd trabt die menge drunten · scheucht sie nicht!“234), sondern hierarchisieren das an StG interessierte Publikum: die „zeit Genossen“.235 Auch im ,Weihespiel‘ Die Aufnahme in den Orden, im Anschluss an die „DanteÜbertragungen“ publiziert, stellt StG jene Sozialisationsformen vor, die dem George-Kreis eine eigene Struktur geben werden.236 Dabei fällt in den BfdK generell die Neigung zu dramatischen bzw. gesprächsförmigen Texten auf, die quantitativ immer häufiger vertreten sind (s. o.) und die Zeitschrift formal als Teil einer spezifischen Art der Geselligkeit weiter profilieren – allein von den 156 Seiten der fünften Folge nehmen 68 Seiten dramatische Beiträge ein. Entsprechend wird insbesondere ab der siebten Folge das Verhältnis der Jünger zueinander im Kreis bzw. zum ,Meister‘ auch thematisch immer wichtiger (K, 82). Das ,Weihespiel‘ Die Aufnahme in den Orden präludiert diese Beiträge zur Konstitution des George-Kreises. Darin tritt eine Leitfigur auf (der „Grossmeister“). Ihr zur Seite stehen arrivierte Ordensmitglieder und der anonyme „Chor der Brüder“. Zu 228 229 230 231 232 233 234 235 236

BfdK 5/1900/01, S. 1. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 24–35. Ebd., S. 5f. BfdK 6/1902/03, S. 1–14. BfdK 5/1900/01, S. 5. BfdK 6/1902/03, S. 1; ZT, S. 154; vgl. dazu Martus, Werkpolitik, S. 634ff. StG kam nach der siebten Folge der BfdK im Kontext der engeren Bindung des Kreises wieder darauf zurück; vgl. Karlauf 2007, S. 439ff.

3. Geschichte der Blätter für die Kunst

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ihnen kommt der „um aufnahme bittende jüngling“.237 Dabei werden Anforderungen und Angebote genauer definiert: Der „Orden“ verspricht als Männerbund dem Heilbedürftigen eine Erlösung von seinen bisherigen gesellschaftlichen Verpflichtungen. Er wird Teil eines Kollektivs ohne ,Eigensucht‘, das sich gegen die Anonymität der modernen Zivilisation stellt. Selbst das Aufnahmeritual entspricht in seiner Psychodynamik von Erniedrigung und nachfolgender Erhöhung den Modalitäten, von der später die Erinnerungsliteratur des George-Kreises berichtet. Anfang Dezember 1903 erscheint der zweite Auslese-Band mit Texten aus der Zeit von 1898 bis 1904. In ihm finden sich zusätzlich bereits die Mehrzahl der Merksprüche der siebten Folge der BfdK (1904), Szenen aus Hofmannsthals Das gerettete Venedig und Elektra sowie vier „Sonette“ von Lothar Treuge. Das Vorwort dokumentiert vor allem, wie sich allmählich die Strukturen des George-Kreises anbahnen: Den BfdK liege nach wie vor „der gedanke einer verbreitung der kunst in die massen“ fern. Der Eindruck von „wandlungen“ im Verhältnis der Zeitschrift zur Öffentlichkeit sei ein „irrtümliche[r] glaube“. Gleichwohl konstatiert die Auslese, dass sich „der kleine kreis zu einer geistigen und künstlerischen gesellschaft erweitert“ habe, „die sich verbunden fühlt durch ein besonderes lebensgefühl“, und dass in einer „naturgemässe[n] erweiterung immer grössere kreise einbezogen wurden“. Zugleich etabliert die Auslese sich selbst gegenüber eine historische Beobachtungshaltung: Mittlerweile sei die Position der BfdK „innerhalb der ganzen kunstentwicklung“ genau bestimmbar – unter den „sonder-erscheinungen“ waren und sind die BfdK „die einzige dichterische und künstlerische B e w e g u n g“.238 Das veränderte Selbstverständnis und das neue Verhältnis zum Umfeld, mit dem die BfdK nun rechnen, skizziert das begleitende Verzeichnis der Erscheinungen der Blätter für die Kunst vom November 1904.239 In der „Vorrede“ dazu heißt es: „Mehrfache bedürfnisse verlangten ein nach guten quellen bearbeitetes verzeichnis dieser hefte und bücher von denen die meisten so selten sind dass sie weder im buchhandel noch in einer öffentlichen bücherei aufliegen“. Geboten werden kurze Hinweise auf den Inhalt der Publikationen, die Beschreibung der Buchausstattung sowie Preisangaben (soweit die Publikationen nicht ohnehin ,unverkäuflich‘ waren, wie der Prospekt bei mehreren Werken notiert). Damit verbindet sich eine weitere Funktion des Verzeichnisses: „Bei einer ausstellung dient dieses büchlein zugleich als führer“ – gemeint ist möglicherweise eine Buchausstellung im Berliner Kunstgewerbe-Museum, die im Dezember 1904 eröffnet wurde.240 Damit deutet sich bereits früh eine Tendenz an, die für die späteren Folgen der BfdK immer deutlicher in den Vordergrund tritt: Die BfdK musealisieren sich selbst. Das Verzeichnis erklärt noch einmal genau, wie der Blätter-Kreis historisch einzuordnen ist: Es handle sich bei der „Gesellschaft der Blätter für die Kunst“ keinesfalls um einen „geheimen bund“, sondern um einen „lose[n] zusammenhang künstlerischer und ästhetischer menschen“ und zugleich um eine geistesgeschichtlich relevante „be237 BfdK 5/1900/01, S. 10. 238 Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1898–1904, Berlin 1904, Vorwort. 239 Vgl. ZT, S. 145; Inhalt vgl. GPL, Nr. 170 (s. auch KTM, S. 88). Das hier verwendete Exemplar befindet sich im Besitz des StGA. 240 Verzeichnis der Erscheinungen der Blätter für die Kunst, unpag.; ZT, S. 162.

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I. Stefan George und sein Kreis

wegung“: Der Blätter-Kreis präsentiert sich als willentlich unkontrollierte Erscheinung des Zeitgeistes auf den Gebieten der Literatur (StG und Hofmannsthal) und der bildenden Kunst (Hofmann, Lechter und Lepsius). Die Selbstepochalisierung plausibilisiert sich negatorisch: Das gemeinsame Merkmal der „künstlerische[n] und ästhetische[n] menschen“ bestehe darin, dass sie als „anhänger[] der dem naturalismus entgegengesezten auf eine tiefere geistigkeit gerichteten neuen bewegung“ auftreten. Kurz: Der Blätter-Kreis bietet sich dem oppositionellen Denkstil der Geistesgeschichte, ihrem Drang zur Synthese und ihrem Willen zur Analyse elementarer Strukturen als idealer Gegenstand an. Zudem offeriert diese „bewegung“ neben Lesungen auch noch „künstlerische ausgaben der alten und neuen dichter“, liefert also gleichsam ihre eigene Tradition mit. Bei der Planung der siebten Folge stand StG – bereits zahlensymbolisch begründet – klar vor Augen, dass zumindest eine bestimmte Phase in der Entwicklung der BfdK zu Ende ging. Noch aber waren vor allem die Probleme die alten: Erneut bereitete es StG einige Schwierigkeiten, den Band zu füllen – sogar während der Drucklegung musste produziert und nachgeliefert werden, wobei Wolfskehl von StG regelrecht zum Dichten ,gezwungen‘ worden sein soll. In Gemeinschaftsarbeit mit StG entstehen so in kürzester Zeit „Ursprünge“241 und „Maskenzug 1904“.242 Was die zweite Auslese und das Verzeichnis andeuten, bestätigt die Einleitung zur siebten Folge: Auch hier werden sich die BfdK selbst historisch. Die Rhetorik der zunehmend populären und doch hermetischen Randständigkeit hat sich zunehmend aufgezehrt. Wirkliche Innovationen sind vorerst nicht in Aussicht. Die Funktionsstelle ,Maximin‘, über die StG nach dem Streit mit den Kosmikern den Zugang zu seinem Kreis erschweren und regeln wird, ist noch unbesetzt. In der siebten Folge verweist nur das Motto zu StGs „Der Minner“ mit dem Kürzel „M. K.“ direkt auf Kronberger – StG zitiert Kronbergers „Tiefe Augen“. Am 16. Februar 1904 hatte er den Autor darüber unterrichtet.243 Der Zeitschrift bleibt in dieser Situation nur der Rückblick: Nachdem die Blätter für die Kunst ihre siebente folge abgeschlossen haben kehren sie zu ihrem ausgangspunkt zurück: wol hat sich der kleine kreis zu einer geistigen und künstlerischen gesellschaft erweitert die sich verbunden fühlt durch ein besonderes lebensgefühl doch liegt uns der gedanke einer verbreitung der kunst in die massen noch ebenso fern wie vorher. in den lezten jahren war der irrtümliche glaube entstanden dass wandlungen eintreten sollten wenn aber durch die naturgemässe erweiterung immer grössere kreise einbezogen wurden: niemals wurde das ursprüngliche ziel aus den augen gelassen und stets nur das gesehen was vom selben heiligen strom getragen und mitgerissen wird. heute ist es leichter unsere dichterischen bestrebungen innerhalb der ganzen kunstentwicklung zu verfolgen zumal ihr einfluss auf das werdende dichtergeschlecht unverkennbar ist. das süssliche bürgertum der nachfahren wurde verdrängt durch das formlose plebejertum der wirklichkeitsapostel und dieses durch die dichterische und schönheitliche wiedergeburt.244

241 242 243 244

BfdK 7/1904, S. 145f. Ebd., S. 148–155; vgl. ZT, S. 152; der „Maskenzug“ erscheint auch einzeln: GPL, Nr. 183. Vgl. BfdK 7/1904, S. 24; ZT, S. 152. BfdK 7/1904, S. 1.

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Wieder reklamieren die BfdK für sich, dass sie die europäische Avantgarde nach Deutschland gebracht und sich dann zunehmend auf die Ausbildung der deutschen Dichtung konzentriert haben. Sie merken an, dass sich eine Reihe von früheren Mitarbeitern inzwischen „in den dienst von unternehmungen gestellt“ habe, „die uns hier nichts angehen“. Und sie verwahren sich erneut gegen den Vorwurf eines lebensfernen Ästhetizismus. Der programmatische Aufwand dieser Selbstversicherung ist enorm, wie die extreme Ausweitung der Merksprüche beweist. Das kultur-, zivilisations- und zeitkritische Programm wird ausführlich entwickelt. Damit reagieren die Merksprüche auf externe wie interne Kritik, nicht zuletzt an der bisweilen mangelhaften Qualität der Beiträge, wie sie zuletzt Klages formuliert hatte. Im Sommer 1902 war StG in einer grundsätzlichen brieflichen Auseinandersetzung mit Hofmannsthal darauf noch einmal eingegangen: StG zeigte sich stolz darauf, dass gerade Minderbegabte „rein handwerklich“ solide Arbeit geleistet hätten (G/H, 160). Die Erziehungsleistung der Zeitschrift und ihres führenden Autors sollte freilich weit darüber hinausgehen, wie die Merksprüche zur siebten Folge am Beispiel des Verhältnisses von „Künstler und Kämpfer“ erläutern: Niemals war wie heute eine herrschaft der massen niemals daher die tat des einzelnen so fruchtlos · wol sind zeiten und gelegenheiten denkbar wo auch der Künstler es für nötig hält das schwert des kampfes zu ergreifen: über allen diesen welten- staats- und gesellschaftswälzungen steht er aber als bewahrer des ewigen feuers.245

Damit leiten die BfdK eine weitere Folge der Zeitgedichte ein (u. a. „Das Zeitgedicht“, „Die tote Stadt“). Die siebte Folge bedeutete für StG einen Einschnitt. Auch aus diesem Grund bemühte er sich darum, alle wichtigen Mitarbeiter von früher noch einmal einzubeziehen (K, 72f.) und sie nicht nur schriftlich, sondern auch bildlich zu dokumentieren: Die Folge wird von der sogenannten ,Dichtertafel‘ begleitet, auf der sich neben StGs Porträt weitere 12 Dichterfotos finden. Die Tafel wird bereits vor der endgültigen Fertigstellung der siebten Folge der BfdK an enge Mitarbeiter verteilt, wobei Gundolf an Lechter auch fünf Exemplare verschickt: Er darf sie für zwei Mark an Freunde verkaufen, die das Versprechen abgeben, die Tafel nicht weiterzugeben. Die Dichtertafel versammelt Autoren der ersten (z. B. Hofmannsthal, Klein, Ge´rardy, Wolfskehl) und zweiten Generation (Gundolf, Lechter, Treuge, Heiseler, Perls) sowie die Kosmiker (Klages, Schuler, Derleth). StG erwähnt dieses Projekt bereits in einem Brief an Hofmannsthal vom 28. Juni 1893: ich vermittle Ihnen schnell den anschlag mehrerer mitarbeiter der ,Blätter‘ der zur ausführung kommt wenn er allseits billigung findet: einem nächsten heft ein blatt beizugeben das in holz oder stahl die bildnisse unserer sämmtlichen dichter trägt. (G/H, 65)

Damit folgt er einem für Zeitschriften durchaus üblichen Verfahren der Autorenpräsentation. Entsprechend bemerkt Hofmannsthal, er interessiere sich nicht für die „Gesichter“ von Dichtern, zumal „dergleichen so sehr von den uns durchaus fernstehenden reclamesüchtigen Journalen gepflegt“ werde (G/H, 66). StG bringt für 245 Ebd., S. 11.

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diese Begründung kein Verständnis auf, da es sich für ihn lediglich um das „verteilen eines andenkens an unsre mitglieder als mitglieder einer familie dreht“ (G/H, 66f.). Drei Momente machen diese Folge zu einem Einschnitt für StG: Zum Ersten steuern wichtige Beiträger der ersten Phase der BfdK wie Hofmannsthal, Ge´rardy oder Lechter letztmals Artikel bei. Zum Zweiten fällt in die Veröffentlichungsphase der siebten Folge der Tod Maximilian Kronbergers am 15. April 1904, der für StG zum Anlass für dessen Deifizierung wird. Zum Dritten eskaliert der Streit mit den Kosmikern, insbesondere mit Klages, darüber hinaus mit Schuler und Schmitz. Der Merkspruch „Urgrundschwärmer“ dürfte dem chtonischen Element in der kosmischen Mystik gelten.246 Klages’ letzter Beitrag zu den BfdK findet sich unautorisiert als Motto zu Gundolfs Gedicht „Für Ludwig Klages“247 und führt zur gerichtlichen Auseinandersetzung: Klages zeigt StG, Klein und Gundolf wegen „Vergehen gegen das Urhebergesetz und das Gesetz zum Schutze der Photographien“ an, weil die BlätterRedakteure ohne Autorisierung das genannte Motto sowie sein Bild auf der Dichtertafel abgedruckt haben – wegen des Mottos müssen StG und Gundolf je 50 Mark zahlen; die andere Klage wird eingestellt. Ein Antrag der Verurteilten auf Revision wird abgelehnt.248 Die besondere Bedeutung der siebten Folge betont StG durch den Maskenzug zur siebenten Wiederkehr der Blätter für die Kunst, der am 24. März 1904 im Haus der Wolfskehls aufgeführt wurde. Darin verkündet Dionysos den anbrechenden Tag, worauf Figuren aus älteren Bänden der BfdK sich unterhalten (u. a. Algabal mit Gianino aus Hofmannsthals Der Tod des Tizian). Nach einem Frauenchor, der Rede des „rote[n] Kind[s]“ und einem weiteren Auftritt von Dionysos singt der „Gesamtchor“: Komme du komme gebadet im heiligen strahle Siehe wir harren auf dich beim opfermahle! Deine vögel die hütenden tönenden schwäne Siehe sie halten ob uns in der flammen mähne! Sie gesegnet dein suchen irr und blind Siehe wir alle dir mutter: glühendes kind!249

Als das Drama entstand, war Maximilian Kronberger noch nicht tot. Die Funktionsstelle allerdings war bereits eingeräumt und wird in der achten Folge besetzt. Planungen zur achten Folge lassen sich bis August 1907 zurückverfolgen. Im September 1908 benachrichtigte Gundolf Wolfskehl, dass „vorläufig keine Blätter erscheinen“ würden und dass StG stattdessen einen neuen Auswahlband plane, der „aus den seit der siebten Folge im Blätterverlag erschienenen oder für nächste Zeit vorbereiteten Einzelbändchen der Mitarbeiter“ zusammengestellt werden solle (G/G, 188). Die dritte Auslese erschien im Februar 1909, und zwar in der 1904 eingeführten StGSchrift. Nach der Entdeckung von Hölderlins Pindar-Übersetzungen durch Norbert von Hellingrath plante StG für den Vorabdruck eine neue Blätter-Folge. Er überführte den dritten Auswahlband in die achte Folge, die er lediglich um einige wenige Stücke erweiterte und gemeinsam mit der neunten Folge im Februar herausbrachte. Die achte 246 247 248 249

BfdK 7/1904, S. 11; K, S. 37; ZT, S. 122, 153. BfdK 7/1904, S. 97. Vgl. ZT, S. 155, 166, 172, 176. BfdK 7/1904, S. 155.

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Folge wurde nur an die „mitglieder des engeren kreises“ gereicht, blieb also dem Verkauf entzogen. Die Nachrichten erläutern: Die achte folge der Blätter für die Kunst wurde bereits in dem dritten Ausleseband des Bondischen Verlages gedruckt, so dass ihr erscheinen für weitere kreise unnötig wurde. Sie enthält hier nur noch die nachträge zu Maximin die nicht für die öffentlichkeit bestimmt sind. Der vorliegende abdruck ist nur als beigabe zur neunten folge für die mitglieder des engeren kreises gedacht.250

Die Einleitung zur achten Folge (1908/09) markiert erneut und mit Nachdruck eine neue Funktion der BfdK, die nun zurückstehen zugunsten „von büchern der mitarbeiter“ – vom „einzel-beitrag“ werde „das auge mehr auf ein ganzes werk gelenkt“. Zugleich konstatiert die Einleitung noch einmal, dass die von den BfdK privilegierte Ästhetik sich durchgesetzt habe: „alles was heute unsre jüngste dichtung ausmacht“, habe „hier seinen ausgang genommen oder seine anregung empfangen“. Damit freilich stellt sich mehr als zuvor das Problem, wie „bei aller wertschätzung der schule“ eine „gewisse[] geläufigkeit […] die das echte überwuchert“ vermieden werden könne.251 Dieses Problem löst StG mit der Funktionsstelle ,Maximin‘: Der ,vergottete‘ Gymnasiast wird zum Medium, das den Zugang zum George-Kreis reguliert. Denn nur derjenige, der in einem toten Gymnasiasten eine göttliche Figur zu sehen vermag, der mithin eine höchst anspruchsvolle Wahrnehmungsleistung erbringt, qualifiziert sich als Teil der Kreisbildung – indem StG ,Maximin‘ seinem Werk inkorporiert, überträgt er diese Herausforderung auch auf die Betrachtung seiner Gedichte bzw. auf das „Hersagen von Gedichten“, mit dem sich die Merksprüche neben einer neuerlichen Bestimmung des Verhältnisses von „Künstler“ und „Allgemeinheit“ sowie Ausführungen „Über das Drama“ beschäftigen. Beim „Hersagen“ soll der Sprecher auf jede ,Selbstherrlichkeit‘ verzichten und eine „maasvolle lebensbewegung in versen“ realisieren.252 In dieser Folge gibt StG aus dem Kontext der Maximin-Dichtungen Nachträge zu Maximin. Aus einem frühen Zyklus heraus und adressiert auf diese Weise einen informierten Leser – nur derjenige, der die Maximin-Gedenkschrift zur Kenntnis genommen hat, wird diese Nachträge überhaupt angemessen einordnen können. Gleiches gilt für die Vorrede zu Maximin, die insgesamt herausstellt, wie wichtig ,Maximin‘ für eine tief greifende Veränderung der Wahrnehmung ist: „was uns not tat war Einer der von den einfachen geschehnissen ergriffen wurde und uns die dinge zeigte wie die augen der götter sie sehen“.253 Zugleich betont die Vorrede, dass ,Maximin‘ seine Funktion nur als Teil des George-Kreises erfüllen kann, denn „das tiefste seines wirkens wird erst sichtbar aus dem was unsren geistern durch die kommunion mit seinem geiste hervorzubringen vielleicht vergönnt ist“.254 Zwischen den MaximinGedichten und der Vorrede vermittelt StGs Übersetzung von Shakespeare-Sonetten.255 Sie verhandeln eine Variante jener Liebesbeziehung, die die intimen Bindungen 250 251 252 253 254 255

BfdK 8/1908/09, S. 156. Ebd., S. 1. Ebd., S. 3f. Ebd., S. 29. Ebd., S. 30f. Ebd., S. 17–27.

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des George-Kreises bestimmt und deren sakrale Dimension Saladin Schmitt in „Das hohe Amt unserer Liebe“ ausgestaltet.256 Auf diese Weise wird die Veränderung im „ganze[n] getriebe unsrer gedanken und handlungen“,257 wie es in der Maximin-Vorrede heißt, zum Prüfstein für die Tauglichkeit zum George-Kreis, der sich nach dem Tod Maximilian Kronbergers konstituiert – unter der Rubrik „jüngerer“ bzw. „jüngere Dichter“ tritt in der achten Folge nicht zufällig erstmals ein Kollektiv anonymer Autoren auf, für die nicht mehr Autorschaft, sondern Kreiszugehörigkeit an erster Stelle steht.258 Die beiden letzten Folgen der BfdK von 1914 und 1919 führen dann gar keine Autorennamen mehr an. Damit prallt die vehemente Kritik an den George-Epigonen, wie sie in dieser Zeit formuliert wird (KTM, 220), an den BfdK ab. Der Maximin-Mythos wirkt im Verlauf der Blätter-Folgen wie eine Art Filter: Der bruchlose Übergang zur neuen Gemeinschaftsform des George-Kreises gelingt von den älteren Mitarbeitern nur Wolfskehl, Gundolf und Treuge. Klein ist lediglich noch mit einer Grußadresse in der achten Folge vertreten, Ludwig Derleth hat ohnehin eine Sonderrolle, Wenghöfer ist in der siebten Folge und Wolters in der dritten Auslese bzw. in der achten Folge der BfdK zum ersten Mal vertreten. ,Maximin‘, so zeigen also auch die BfdK, wird zum Integrationsmedium des Blätter-Kreises, der sich in den George-Kreis verwandelt.259 Diese Integration geschieht nicht zuletzt wieder über das interne Verweissystem, das die BfdK aufbauen. Man sieht dies etwa an Beiträgen von Lothar Treuge, der zwischen 1901 und 1910 rund siebzig Gedichte in den BfdK veröffentlichte.260 Darunter befindet sich in der achten Folge „Triadische Totenmesse“.261 In diesem Gedicht zitiert Treuge aus StGs „Landschaft I“ den Vers „Es fallen blüten auf ein offen meer“ – StG hatte das Gedicht in der siebten Folge der BfdK publiziert, also vor dem Tod Maximilian Kronbergers, und später in den Zyklus Traumdunkel in den Siebenten Ring integriert. Auf diese Weise zeigt Treuge, dass die Deifizierung Kronbergers kein nachgeholter Akt war, sondern immer schon in der Logik von StGs Projekt lag. Verstärkt wird dies durch intertextuelle Referenzen auf Gedichte von Kronberger in den Gedichten Treuges als „Zeichen einer geistigen Verbundenheit mit Menschen und Geschehnissen“.262 Es fügt sich daher ins Bild, dass Wolters in der ,Blättergeschichte‘ am Beispiel Treuges das Idealbild eines George-Jüngers entwirft: Treuge, so Wolters, war in Einem unerbittlich streng, peinlich, sauber, arbeitsam von unermüdlicher Ausdauer: nämlich im dichterischen Handwerk. Seine ersten wie seine letzten Gedichte sind im ganzen Aufbau von der grössten Sorgfalt und in jeder kleinsten Mache von gewissenhafter Feilung. (FW, 234)

Mit Friedrich Gundolfs Gefolgschaft und Jüngertum und Friedrich Wolters’ Herrschaft und Dienst bringt die achte Folge zudem die Leittexte für die Kreisbildung: 256 Ebd., S. 150–154; vgl. auch „Priestertum der Liebe“, in: BfdK 9/1910, S. 145–148; KTM, S. 228ff. 257 BfdK 8/1908/09, S. 31. 258 Ebd., S. 147–155. 259 Vgl. I, 4.6. 260 Lothar Treuge, S. 8. 261 BfdK 8/1908/09, S. 121–124. 262 Vgl. Lothar Treuge, S. 26.

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Gundolf konzentriert sich in seinen „8 – 10 Seiten sonderbarer Prosa für die neuen Blätter“ (G/G, 189) vor allem auf die Wahrnehmung der „gestalt“ des „führer[s]“ und des „jüngers“.263 Das fügt sich in zweifacher Weise in das Programm der BfdK: Zum einen deutet das „gestalt“-Konzept auf die Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Zeitschriftenbeitrag zum „werk“, und damit eben unter anderem auf die Produktion der Gestalt-Monographien. Diese „Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“ übernehmen von der Zeitschrift nicht nur aus Gründen der Markenwerbung den Reihentitel, sondern auch aus konzeptionellen Gründen: Die BfdK haben von Anfang an die Leser darin trainiert, im Unterschiedenen das Gleiche zu sehen. Eben dies verlangen die Gestalt-Monographien als „Krypto-Biographie[n] Stefan Georges“ den Lesern ab, indem sie ihren Gegenständen die Verlaufsfigur des Maximin-Erlebnisses einblenden.264 Dass StG den eigenen Anteil in den BfdK nach der Maximin-Vorrede mit dem Gedicht „Goethes lezte Nacht in Italien“ abschließt, das später das Neue Reich eröffnet, markiert die Anforderung: StG delegiert hier die von ihm geforderte Wahrnehmungsleistung an einen Dichter, der als Präfiguration auf StG und auf die ,Vergottung‘ Kronbergers verweist.265 Die BfdK insgesamt legen es ihrer Struktur nach als Resonanzraum von StGs Werk darauf an, in den Werken anderer Autoren die Spuren der Anregung durch StG zu entdecken. StG wird auch dort zum ungreifbaren Zentrum einer ,Bewegung‘, die er ebenso erzeugt, wie er von ihr erzeugt wird – die BfdK halten letztlich immer offen, ob StG zu den Propheten der neuen Kunst und ihren Verhaltensnormen gehört, ob er diese neue Kunst privilegiert vertritt oder ob er die Instanz ist, die mit der Kraft des autonomen Schöpfers die neue Kunst erzeugt. Auf diese Weise provozieren die BfdK wie StGs Werk insgesamt eine bestimmte Lesehaltung, die größtmögliche Aufmerksamkeit in ihren Gegenstand investiert und auf die Wahrnehmung von Relationen setzt. Entsprechend bestimmt Gundolf die Figur des „jüngers“ vor allem über seine Bereitschaft zur Selbstaufgabe und Unterordnung – auf diese Weise wird der „jünger“ selbst zum „werk“ des „meister[s]“.266 Wolters sekundiert diesen Ausführungen in der Kurzfassung von Herrschaft und Dienst, macht aber bereits im Titel die stärker politische Ausrichtung seiner Idee von Kreisbildung deutlich. Damit ist ein Grundkonflikt im George-Kreis angelegt. Auch Wolters stellt den Kerngedanken der Gestalt-Wahrnehmung ins Zentrum seiner opaken Ausführungen: Die sinnlich wahrnehmbare Welt ist demnach Ausdruck einer ,höheren‘ Wirklichkeit. Zugleich deuten Gundolf und Wolters damit die zentrale Botschaft der Sammlung Stern des Bundes an. Die neunte Folge der BfdK setzt die Tendenzen der beinahe zeitgleich erscheinenden achten Folge fort. Die Merksprüche geben als Ziel der Kunstbemühungen eine „geis-

263 BfdK 8/1908/09, S. 106–112, hier: 106f. 264 Ernst Osterkamp, Das Eigene im Fremden. Georges Maximin-Erlebnis in seiner Bedeutung für die Konzeption der ,Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst‘, in: Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990. Begegnung mit dem ,Fremden‘. Grenzen – Traditionen – Vergleiche, hrsg. v. Eijiro¯ Iwasaki, Bd. 10, München 1991, S. 394–400, insbes. 394f. 265 Insbes. BfdK 8/1908/09, S. 36f. 266 Ebd., S. 110.

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tige haltung ja eine lebensführung“ an und erheben den Anspruch auf die Vorbildfunktion des George-Kreises und seiner Zeitschrift: Wenn eine ganze gruppe von deutschen menschen · ob auch in beschränkter zahl und auf beschränktem gebiet · jahrzehnte hindurch trotz aller anfeindungen und misskennungen in diesem sinne spricht und handelt · ja ihr höchstes bestreben sieht · so kann daraus für die gesamte bildung und für das gesamte leben mehr wirkung ausströmen als aus einer noch so staunenswerten sachlichen entdeckung oder einer neuen ,weltanschauung‘.267

Die folgenden Merksprüche schließen an das Goethe-Bild an, das StG in „Goethes lezte nacht in Italien“ in der achten Folge vorgegeben hatte, mithin an den MaximinMythos mit der zentralen Botschaft: „der leib sei der gott“.268 So wie Goethe hier als Überbringer der geheimen Botschaft des Maximin-Mythos eingesetzt wird, so sind auch die anschließenden Pindar-Übersetzungen Hölderlins für StG ein Exempel, dass gerade im Unverständlichen oder zumindest schwer Verständlichen Heil bringende Energien geschützt und bewahrt werden. Zugleich exemplifiziert die Hölderlin-Edition ein bestimmtes Traditionsverhalten, das StG für seinen Kreis reklamiert: Die ganze Folge wird ja nur wegen der Hölderlin-Texte veranstaltet, die Norbert von Hellingrath im Oktober 1909 in der Stuttgarter Landesbibliothek wiederentdeckt hatte.269 An beides erinnert im letzten Band der BfdK noch einmal die „Lobrede“ auf Hölderlin.270 So beweisen die BfdK am literaturhistorischen Modellfall, dass es eine zwar unterschwellige, aber umso intensivere Wirkung gibt. Schon längere Zeit zuvor hatte StG Jean Paul als Beispiel für einen der „grössten und am meisten vergessenen“ Dichter der „heimat“ in den BfdK präsentiert.271 Da sowohl Jean Paul als auch Hölderlin wiederum Präfigurationen StGs darstellen, bilden sie Glieder in der Kette jener deutschen Dichter, zu der auch Goethe gehört. Die Merksprüche formulieren diese historische Perspektive so, dass gleichermaßen StG, die BfdK, Maximin, Goethe oder Hölderlin gemeint sein können: „Die erträumte wirkung kann nur von einem ding ausgehen das jahrzehntelang ja vielleicht ein jahrhundert lang davor gesichert ist einen gegenstand fürs allgemeine warenhaus abzugeben“.272 Um den Anspruch der BfdK mit Wolfskehls „Vom neuen Lose“ zu formulieren: „Wir sind erwählt das geheimnis zu hüten“.273 Damit erklären die BfdK zugleich die Funktion der Gedichte aus dem Stern des Bundes, die auf die Pindar-Übersetzungen folgen, also der Texte jenes Gedichtbands, den StG selbst als „geheimbuch“ bezeichnet hat (VIII, 5) und der den „Herr[n] der Wende“ feiert.274 Analog zur achten Folge schließt auch hier eine Rubrik mit Texten, die namentlich nicht identifizierten „jüngere[n] Dichtern“ zugewiesen werden. StG schmuggelt bereits hier, wie in der letzten Folge der BfdK, ein „Lied“ von sich selbst ein („Es fuhr ein knecht hinaus zum wald“, BfdK 9/1910, S. 152f.).

267 268 269 270 271 272 273 274

BfdK 9/1910, S. 1. Ebd., S. 2. Vgl. K, S. 44, 47; Karlauf 2007, S. 406ff. BfdK 11/12/1919, S. 11–13. BfdK 3/1896, 2, S. 59. BfdK 9/1910, S. 4. Ebd., S. 64. BfdK 9/1910, S. 35.

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Am Ende der achten Folge formulieren die BfdK die „grosse frage“: „Stehen wir vorm untergang des bis heute gültigen menschtumes · des tragischen · des heldisch gehobenen menschtumes?“275 Diese Frage wird in den folgenden vier Jahren in einer anderen Zeitschrift beantwortet: im Jahrbuch für die geistige Bewegung, das Gundolf und Wolters herausgeben.276 Für den Übergang von der alten in die neue Zeitschrift sorgt im Jahrbuch der Eröffnungsartikel von Wolfskehl über Die Blätter für die Kunst und die neueste Literatur: Neben der literaturhistorischen Situierung als einer genuin ,deutschen‘ Literaturbewegung, die die BfdK schon oft für sich reklamiert haben, hebt Wolfskehl insbesondere hervor, dass der „Kreis der Blätter für die Kunst die einzige organisch verwachsene einheit von menschen, werken und wünschen“ darstelle. Er zeigt dabei, wie die Gemeinschaft, die Zeitschrift und die Werkeinheiten auf eine homologe Weise gedeutet werden können: Nur wer diese immer und überall strömende einheit spürt, kann den sinn der Blätter-gemeinschaft verstehen, denn wie in den Blättern selbst jeder band eine in sich verschweisste einheit bildet, dann jedes zu einer folge zusammengefasste gefünft von bänden einen weiteren ring organisch füllt, endlich die reihe der folgen selber untereinander in unlöslicher beziehung steht, so verhält es sich mit dem menschentum dessen ergebnis sie sind.277

Wolfskehl spielt in seinem Aufsatz mit der für den George-Kreis typisch ambivalenten Haltung gegenüber der Wissenschaft, die zugleich kritisiert und als verlässlicher Partner adressiert wird. Denn die historische Bedeutung und unterschwellige Wirkung der BfdK, darin ist sich Wolfskehl sicher, wird später einmal von den „literaturgeschichtslehrlinge[n]“ und von der „forschung“ behandelt.278 Auf diese Weise transformiert Wolfskehl erstmals explizit die Blätter-Bewegung ins Format des „geheimen Deutschland“, das für die weitere Entwicklung des George-Kreises von zentraler Bedeutung sein sollte: „Denn was heute unter dem wüsten oberflächenschorf noch halb im traume sich zu regen beginnt, das g e h e i m e D e u t s c h l a n d , das einzig lebendige in dieser zeit, das ist hier, nur hier zu wort gekommen“. So werden die BfdK zum Teil einer „bewegung aus der tiefe“, die, wenn in Europa dergleichen noch möglich ist, nur von Deutschland ausgehen kann, dem geheimen Deutschland, für das jedes unserer worte gesprochen ist, aus dem jeder unserer verse sein leben und seinen rhythmus zieht, dem unablässig zu dienen glück, not und heiligung unseres lebens bedeutet.279

Da die Jahrbücher sich an die Öffentlichkeit wandten, lag die Verwechslung des ,geheimen‘ mit dem offiziellen Deutschland nahe, besonders im Blick auf den sich anbahnenden Ersten Weltkrieg.280 An die Stelle des vierten Bands der Jahrbücher trat daher 1914 eine neue Folge der BfdK: Die Fertigstellung der zehnten Folge wurde von intensiven Diskussionen über den Weltkrieg innerhalb des Kreises begleitet.281 Gun-

275 276 277 278 279 280 281

Ebd., S. 156. Vgl. K, S. 44; vgl. II, 8.1. Wolfskehl, Die Blätter für die Kunst, S. 9. Ebd., S. 3, 14. Zu StGs Anschluss an das akademische Feld vgl. Groppe 1997, insbes. S. 624f. Wolfskehl, Die Blätter für die Kunst, S. 14f., 18. Vgl. II, 8.2. Vgl. Groppe 1997, S. 254ff.

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dolf, der in seinen Briefen begeistert über den Krieg geschrieben hatte, bemerkte im Oktober 1914: Die Nachricht dass die Blätter erscheinen sollen überrascht mich, aber freilich wenn sie nicht für den Tag sind ist es gleich an welchem Tag sie erscheinen. Ich habe die Hoffnung dass unter soviel ephemerem Gered und Gesing ein ewiges, den Tag überdauerndes Wort, das unsterbliche Wort über den grössten Tag des deutschen Volks, über dies Volk selbst (sei es nun Stoff oder Ergebnis) ertönen wird, und es kann nicht besser als durch dich ertönen: wenn in der x. Folge, so hat 1914 nicht nur die tat sondern auch das zugehörige wort gebracht. (G/G, 262)

StG war vor allem daran gelegen, die Unabhängigkeit der leitenden Idee seines Kreises von den kontingenten Zeitläuften darzulegen: Er deutete gezielt auf die auch für ihn negativen Seiten des Konflikts, die den Krieg als Symptom der modernen Welt und damit als Teil der Krise auswiesen (z. B. G/G, 263f.). Angesichts von Verlautbarungen der Intellektuellen zum Krieg schrieb er am 12. Oktober an Gundolf: „Ich aber halt es auf all das um so nötiger dass bald die x. Folge erscheint!“ (G/G, 267) Freilich blieb er nicht strikt bei dieser Linie (G/G, 269f.) und so findet sich auch in den BfdK ein „Kriegsgedicht“ (G/G, 273) von Gundolf, in dem er das „menschtum das deutsches wesen schafft“ feiert.282 Anders als die Nachrichten behaupten,283 sind die Beiträge zur zehnten Folge nur zum größten Teil vor dem Ersten Weltkrieg fertiggestellt. Von nun an erscheinen alle Texte bis zur letzten Folge der BfdK anonym, wobei die Autorenwechsel im Inhaltsverzeichnis durch einen etwas vergrößerten Abstand zwischen den Titelgruppen markiert werden.284 Wie in der vorangegangenen Folge schließt auch hier StG die Gedichtfolge mit einem Lied ab („Schifferlied“, BfdK 10/1914, S. 155). Die Beiträgerschaft bilden mit Ausnahme von StG, Wolfskehl und Gundolf nur solche Autoren, die erst in den letzten Folgen neu zu den BfdK hinzugestoßen waren: Ernst Bertram, Robert Boehringer, Ernst Gundolf, Ernst Morwitz, Saladin Schmitt, Berthold Vallentin und Friedrich Wolters. Ingesamt aber setzt die zehnte Folge auf Kontinuität. Die Einleitung konzentriert sich daher auf den ursprünglichen Impuls einer künstlerischen ,Bewegung‘. Damit ziehen sich die BfdK, die mit 500 Exemplaren gerade zu diesem Zeitpunkt die bis dato höchste Auflage erreichen, ins Reservat einer „warte für die dichtkunst“ zurück, betonen aber selbstverständlich, „dass in zeiten eines kräftigen gesamtlebens die Dichtung keine gelegenheits- mache und spielerei · sondern innerste seele des volkes ist“.285 Diese Folge bedeutete für StG offenbar einen erneuten Einschnitt: In einem Prospekt vom Juni 1914 wird für 1915 Wolters’ Geschichte der Blätter für die Kunst angekündigt und bereits im November 1914 liest Wolters aus einem ersten Kapitel. Ein neues Stadium der Selbstmusealisierung ist erreicht. Wesentliche Neuerungen sind von den BfdK nicht mehr zu erwarten. Sie sind das Publikationszentrum des George-Kreises und verwalten diesen Status nur noch. Mit dem Druck der abschließenden Doppelfolge 11/12 beginnt von Holten Ende Oktober 1919. Das Buch erscheint im Dezember 1919 in einer Auflage von 1.000 282 283 284 285

BfdK 10/1914, S. 51. Vgl. ebd., S. 156. Vgl. BfdK 11/12/1919, S. 320. BfdK 10/1914, S. 2.

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Exemplaren, auf die unmittelbar eine zweite Auflage in derselben Höhe folgt. StG datiert die Einleitung fälschlicherweise auf das 25. Erscheinungsjahr der BfdK.286 Im November 1919 hatte Glöckner an Thormaehlen geschrieben: „Der Meister hat viel und unerhörtes gearbeitet. Wir sind voller Erwartung auf die ,Blätter‘. Sie werden reich, sehr einheitlich, und bekommen eine grosse Architektur“.287 Die Deutung dieser ,Architektur‘ steht noch aus und wurde für die Zeitgenossen nicht zuletzt dadurch erschwert, dass selbst aufmerksame Beobachter hier wie in der zehnten Folge nicht alle anonymisierten Gedichte ihren Autoren zuweisen konnten.288 StG setzte alles daran, dass die letzte Folge zwar auch die aktuellen Geschehnisse kommentiert – StG selbst hatte schließlich viele Verluste zu beklagen und rückte eine Reihe Gedichte An die Toten ein,289 so wie viele Texte dieser Folge in Erinnerungen oder Widmungen primär Zeugnis der internen Kreiskommunikation ablegen. In dieser konkreten Bewältigung der Krisensituation sollten sich die BfdK jedoch bei Weitem nicht erschöpfen. Noch immer tritt die Zeitschrift als Gegenkraft zu den beherrschenden Mächten der Gegenwart auf: Jüngst erging an uns die mehrfache mahnung dass in diesen gelockerten führungslosen zeiten es geboten sei · die ausschliessende haltung aufzugeben und an weiteste kreise sich zu wenden. Freilich ist vieles von dieser stelle aus seit jahrzehnten gesagte heut fasslicher. Doch scheint es dass unbelehrt durch die furchtbaren ereignisse das jezt dahintreibende geschlecht eher alles andre möchte als auf seine drei oder vier lieblingsgötzen aus dem vorigen jahrhundert verzichten – die es so schmählich im stich gelassen haben.290

Wie wichtig StG diese Positionierung war, sieht man an den Kommentaren zu Wolters’ ,Blättergeschichte‘. Im Typoskript finden sich beispielsweise zu „Der Brand des Tempels“ Nachträge von der Hand Kommerells mit Verbesserungen von StG. Die Einschübe versetzen das dramatische Gedicht, das als Anmerkung zum Ersten Weltkrieg verstanden werden konnte, genau in jene Zwischenlage, in der sich auch die BfdK positionieren. „Die Schicksalsluft des Krieges und der darauffolgenden Erschütterungen“, so lässt StG hinzufügen, „mag man im ,Brand des Tempels‘ verspüren, obwohl die hier getane Sicht weit darüber hinausreicht“.291 Wenig später unterstreicht er diesen Interpretationsansatz: „Kein Hinweis auf noch so vernichtende Gewalten der Gegenwart genügt, um das Gedicht auszuschöpfen: etwas fern Drohendes, rätselhaft Unerdenkliches blickt uns aus den kühlen Augen des Heunenführers an“.292 Daran schließt sich der bei Wolters zunächst nicht vorgesehene Einschub zu den Gedichten Bernhard von Uxkulls an,293 gefolgt von dem Hinweis, dass am Schluss der Folge die „Lieder des Meisters“ stehen. 286 Vgl. BfdK 11/12/1919, S. 320. 287 L. Thormaehlen an E. Glöckner v. 13.11.1919, StGA. 288 Vgl. für die zehnte Folge: W/V, S. 135; vgl. in Bezug auf die elfte/zwölfte Folge Verweys Mutmaßungen: ebd., S. 158. 289 BfdK 11/12/1919, S. 14–20. 290 BfdK 11/12/1919, S. 5f. 291 Friedrich Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst, unvollständiges Typoskript mit Annotationen von StG u. Max Kommerell, StGA, S. 947 (mit Bleistift korrigiert von „944“); FW, S. 447. 292 Letzteres korrigiert aus „blickt uns an mit den Augen dieses Heunenführers“, Typoskript der ,Blättergeschichte‘, StGA, S. 949 (mit Bleistift korrigiert von „946“); FW, S. 448. 293 Vgl. Typoskript der ,Blättergeschichte‘, StGA, unpag.; FW, S. 448f.

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Mit beiden Einschüben versucht StG die Zukunftsfähigkeit der BfdK und seiner Dichtung unter Beweis zu stellen: Die Gedichte Uxkulls vermitteln „Muster und Beispiel der neuen jugendlichen Haltung […], die durch das sichere und freie Ebenmaß dieser Verse hindurch körperhaft fühlbar wird“,294 und die „Lieder des Meisters“ sind „Vorzeichen einer noch verhangenen Wirklichkeit“, die erst beim Neuen Reich angemessen behandelt werden könne.295 Sollte das finale Gedicht der BfdK („Du schlank und rein wie eine flamme“) tatsächlich durch den Tod Uxkulls angeregt worden sein,296 dann würde dies die Pointe der eigentümlichen ,Architektur‘ der abschließenden Blätter-Folge sein. Ähnliche Tendenzen lassen sich auch bei der Redaktion der Beiträge für die elfte/zwölfte Folge feststellen. So streicht StG in Wolfskehls Gedicht „Abschied“ nach dem Vers „Weil du dich umsahst findender gefundner“ den Vers „Standen wir Dichter bei Dir. Du und wir“ und fügt folgende Zeilen ein: Sahst du uns tiefrer doch verwandter schickung Uns dichter eines volks das sich verriet Das gleich den andren völkern götzen diente . . Doch einzig darin297 dass in dunkler zelle Heimliche glut die priester wahrten · einzig Darin dass unter allen es D i c h sah.298

Nationalpolitisch, so das Deutungsmuster, lässt sich StG nicht im Blick auf den Ersten Weltkrieg, sondern nur im Blick auf das schon lange Zeit vorgegebene Ziel der ,Bewegung‘ verstehen. So kehrt StG mit dem letzten Gedicht der BfdK wieder an den Beginn seiner Laufbahn zurück und deutet zugleich aufs Ende seines Werks hin: Auch im Neuen Reich wird „Du schlank und rein wie eine flamme“ an letzter Stelle des Gedichtbands stehen und damit ein Gedicht, das auf der Abschrift einer französischen Vorlage aus den frühen Pariser Jahren gründet. Mit anderen Worten: Nur in den Gedichten StGs findet sich jenes „Neue Reich, das sie als das Andere der Geschichte beschwören“.299 Die BfdK dokumentieren einen Rückzug auf das Gebiet der Dichtung, der nichts von dem großen Anspruch preisgibt, den StG verfolgt hat. Denn in der „dichtung eines volkes“, so erklärt es die Einleitung der letzten Blätter-Folge, enthüllen sich „die lezten schicksale“.300 Wie eng StG die Geschichte ,seiner Zeit‘, seiner Zeitschrift und seines Werks aneinanderkoppelte, bezeugt der Reprint der Auslese-Bände aus dem Jahr 1929, der beinahe zeitgleich mit Wolters’ ,Blättergeschichte‘ erschien (November, spätestens Dezember 1929 mit dem Datum 1930).301 Hier stehen Stefan George und die Blätter für die Kunst für die Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, wie es bei Wolters im Titel ebenso lapidar wie anmaßend heißt. Der letzte Satz der BfdK deutet somit auf die 294 FW, S. 448 – in den Zusätzen gibt es wiederum zwei Varianten dieses Passus, was auf die Bedeutung des Einschubs verweist. 295 Typoskript der ,Blättergeschichte‘, StGA, S. 951 (mit Bleistift korrigiert von „953“); FW, S. 449. 296 Vgl. Karlauf 2007, S. 473. 297 Im Druck: „darin einzig“. 298 Karl Wolfskehl, „Ein Abschied: A. V.“, Ms., StGA; BfdK 11/12/1919, S. 289. 299 Osterkamp 2002, S. 33, 50. 300 BfdK 11/12/1919, S. 6. 301 Vgl. ZT, S. 365; vgl. dazu Martus, Werkpolitik, S. 666ff.

3. Geschichte der Blätter für die Kunst

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Ambivalenz eines Erfolgs, der ganz in seiner Zeit aufgeht: „Sämtliche folgen sowie die werke der einzelnen dichter im Verlage der Blätter für die Kunst sind vergriffen“.302 Literatur Braungart 1997; CAK; FW; GB; G/G; G/H; GPL; Groppe 1997; K; Karlauf 2007; Kolk 1998; KTB; RB II; W/V; ZT. Alt, Peter-Andre´, Hofmannsthal und die ,Blätter für die Kunst‘, in: Klaus Deterding (Hrsg.), Wahrnehmungen im Poetischen All. Festschrift für Alfred Behrmann zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1993, S. 30–49. David, Claude, Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967. Dimpfl, Monika, Die Zeitschriften ,Der Kunstwart‘, ,Freie Bühne / Neue Deutsche Rundschau‘ und ,Blätter für die Kunst‘: Organisation literarischer Öffentlichkeit um 1900, in: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Einzelstudien. Teil II, hrsg. im Auftrag der Münchener Forschergruppe „Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770–1900“ v. Monika Dimpfl u. Georg Jäger, Tübingen 1990, S. 116–197. Duthie, Enid Lowry, L’influence du symbolisme franc¸ais dans le renouveau poe´tique de l’Allemagne. Les ,Blätter für die Kunst‘ de 1892 a` 1900, Paris 1933 (Repr. Gene`ve 1974). Fechner, Jörg-Ulrich (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“. Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der ,Blätter für die Kunst‘ 1890–1898, Heidelberg 1998. Freundschaftsdichtung in den Niederlanden. Jacques Perk, Willem Kloos, Albert Verwey (1880–1935), aus dem Niederländischen übertragen u. mit e. Einführung versehen durch Rudolf Eilhard Schierenberg, Heidelberg 1996. Hemecker, Wilhelm, Oscar A. H. Schmitz und die ,Blätter für die Kunst‘, in: CP 45/1996, 225, S. 62–76. Klein, Carl August, Die Sendung Stefan Georges, Berlin 1935. Leopold Andrian und die Blätter für die Kunst, hrsg. u. eingeleitet v. Walter H. Perl, Hamburg 1960. Lothar Treuge. 1877–1920. Ein Dichter der ,Blätter für die Kunst‘, Werk und Nachlaß eingeleitet u. ausgewählt v. Karlhans Kluncker, Amsterdam 1971. Martus, Steffen, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007. Nivelle, Armand, Paul Ge´rardy im George-Kreis, in: Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch, hrsg. v. Robert Leroy u. Eckart Pastor, Bern u. a. 1991, S. 127–143. Oelmann, Ute, „ich will dein Petrus sein“. Karl Wolfskehl und Stefan George, in: „O dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln!“ Leben und Werk von Karl Wolfskehl (1869–1948), hrsg. v. Elke-Vera Kotowski u. Gert Mattenklott, Hildesheim u. a. 2007, S. 41–52. Paul Ge´rardy. 1870–1933. Der Freund Stefan Georges. Ein belgisch deutscher Mittler. Katalog zur Ausstellung im Belgischen Haus, Köln, vom 22. Nov. bis zum 21. Dez. 1985, bearb. v. Jörg-Ulrich Fechner, Köln 1985. Stefan Georges ,Blätter für die Kunst‘. Ausstellung zum 50. Todestag, hrsg. v. Hans-Peter Althaus, Trier 1983. Verzeichnis der Erscheinungen der Blätter für die Kunst. Mit einer Inhaltsangabe sämtlicher Hefte, Berlin 1904. 302 BfdK 11/12/1919, S. 320.

364

I. Stefan George und sein Kreis

Winkler, Michael, Stefan George, Stuttgart 1970. Wolfskehl, Karl, Stefan George, in: Allgemeine Kunst-Chronik 18/1894, S. 672–676. Ders., Die Blätter für die Kunst und die neueste Literatur, in: Jb 1/1910, S. 1–18. Steffen Martus

4.

Die ,Kreise‘

4.1.

Zum ,Kreis‘-Begriff

Der Begriff ,George-Kreise‘ bedarf einer Vorbemerkung: Es scheint präziser, die Pluralform zu verwenden, weil das nähere Umfeld StGs über einen Zeitraum von gut vierzig Jahren einem vielfältigen Wandlungsprozess unterlag. Diese Dynamik schließt allerdings nicht aus, dass es Phasen gibt, in denen der Kern des George-Kreises sich nach außen hin um einen möglichst homogenen Eindruck bemüht. Eine solche Intention tritt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hervor, als sich der George-Kreis mit dem Jahrbuch für die geistige Bewegung erstmals programmatisch an eine breitere Öffentlichkeit wandte. Derselben Absicht dient auf dichterischem Gebiet die Weglassung der Verfassernamen in der zehnten (1914) und elften/zwölften Folge (1919) der BfdK, die suggerieren soll, alle Beiträger würden mit einer Stimme sprechen. Der Plural ,Kreise‘ findet seine Rechtfertigung zudem darin, dass der Kreis um StG sich synchron wie diachron in voneinander teilweise geschiedene lokale oder generationsmäßige Personengruppen gliedern lässt. Mit der Altersstruktur verändert sich der Charakter des Kreises um StG erheblich. Aus einer losen Assoziation etwa gleichaltriger Dichter ab 1888 geht um die Jahrhundertwende mit dem Hinzutreten einer jüngeren Generation eine Veränderung der Binnenstruktur einher. StG als ,Meister‘ avancierte zum Zentrum, um das sich die neuen Jünger scharten, ohne immer zugleich untereinander in persönlichem Kontakt zu stehen. Einige der Jünger schufen in ihrem häufig akademischen Umfeld nach diesem Modell ihrerseits ab 1913 um die eigene Person zentrierte Kreise, deren Angehörige in Beziehung auf StG ,Enkel‘ genannt wurden. Die Kreise waren wechselseitig durchlässig. So ging aus den Enkelkreisen der 1920er-Jahre eine ganze Reihe von jungen Männern hervor (z. B. Max Kommerell oder Johann Anton), die in ein enges persönliches Verhältnis zu StG traten und teilweise über Jahre zu seinen Lebensbegleitern wurden. Auch die um einzelne ,Jünger‘ sich scharenden personalen Kreise sind als dem gesamten Phänomen zugehörige Subsysteme zu betrachten. Diese komplexe Konstellation gilt es zu rekonstruieren. Dennoch wird im Folgenden vorwiegend der Singular ,Kreis‘ benutzt werden, insofern der Begriff zur Kennzeichnung einer jeweils spezifischen historischen Phase des Gesamtphänomens dient.

4.2.

Von der Schülerzeitschrift zur ,Internationale der Dichter‘

Für eine Rekonstruktion der Entstehung des Phänomens George-Kreis empfiehlt es sich, die frühesten biographischen Zeugnisse über StG zu konsultieren, denn die Bildung eines Kreises mit ihm als Zentrum ist integraler Bestandteil von StGs Persönlich-

366

I. Stefan George und sein Kreis

keit. In diesem Punkt besteht eine auffällige Parallele zu seiner Intention einer ,Erneuerung der deutschen Dichtersprache‘.1 Auch sie entspringt nicht erst der bewussten Auseinandersetzung mit einem als unpoetisch empfundenen herrschenden Literaturcode, sondern hat ihre Wurzeln in seiner Kindheit, in dem kindlichen Trieb, sich eine eigene künstliche Sprache zu schaffen. Die ersten Spuren dieses Versuchs reichen bis in das Alter von acht oder neun Jahren zurück. Das in einem retrospektiven Gedicht im Jahr der Seele angesprochene Bedürfnis, den Dingen ,eigne Namen zu erfinden‘, und die Gewissheit, in ihnen die „heilge zunge“ (IV, 51) zu vernehmen, indiziert auf spielerische Weise den Anspruch, Schöpfer einer eigenen Welt zu sein und in ihr die Rolle eines Herrscherpriesters einzunehmen. Die mit der Schaffung einer künstlichen Sprache verbundene Ambivalenz von Isolation und Souveränität kehrt auf der Ebene von StGs Sozialverhalten wieder. Aus dem ersten Schuljahr am Darmstädter Ludwig-Georg-Gymnasium hält der Mitschüler Georg Fuchs die Erinnerung fest: Im Hofe stand er meistens vereinsamt an der Mauer, blass, fröstelnd, mit verschränkten Armen, über die lärmende Menge hinweg ins Unnennbare starrend […]. Außer mir traten nur noch drei oder vier Mitschüler zu ihm in ein näheres Verhältnis; aber nicht aus eigenem Antrieb, sondern […] weil er sie sich aussuchte und willensmächtig an sich heranzog.2

Zu Fuchs’ Erinnerung passt der Bericht von StGs Schulkamerad Carl Rouge, dass StG trotz seiner Außenseiterstellung sehr bald bemüht war, eine eigene Gemeinschaft um sich zu sammeln.3 Sie diente StG zur Verwirklichung eines ersten literarischen Projekts und schlug sich in der einzigen Nummer der Schülerzeitschrift Rosen und Disteln nieder. Das gleichnamige Titelgedicht wendet sich mit dem Zusatz „an unsre Mitarbeiter“ nicht an ein beliebiges Publikum, sondern – wie später die BfdK – primär an den Kreis der Beiträger und signalisiert somit Exklusivität. Mit der Schülerzeitschrift machte sich StGs Streben nach einem literarischen Organ, in dem sich das künstlerische Engagement eines Freundeskreises manifestiert, erstmals geltend. Nach Erscheinen von Rosen und Disteln und vor Gründung der BfdK trug sich StG ständig mit Zeitschriftenplänen und Ideen eines Kreises befreundeter oder künstlerisch gleichgesinnter Menschen, die seine literarischen Vorhaben stützen könnten. StGs Schulabschluss im März 1888 bedeutete daher zunächst kein Ende seiner Verbindung mit den Mitarbeitern der Rosen und Disteln. Schon Ostern lud er die ehemaligen Schulkameraden und Beiträger Carl Rouge und Arthur Stahl zu einem ,Dichtercongress‘ nach Bingen ein, dem im Herbst eine weitere Zusammenkunft folgen sollte. Der zwischenzeitliche Aufenthalt StGs in London im Sommer 1888 bewirkte eine ,Internationalisierung‘ seiner literarischen Pläne. Im August schreibt er August Stahl, dass er „in England immer kosmopolitischer werde“ (RB II, 28). Dieser Wendung verdankt der sogenannte ,mappe-plan‘ seine Existenz, dessen Intention StG in einem Brief vom 1. Dezember aus Montreux an Stahl skizziert: 1 Vgl. dazu Hubert Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges. Eine stilgeschichtliche Untersuchung, Köln, Graz 1967. 2 Georg Fuchs, Sturm und Drang in München um die Jahrhundertwende. Mit 58 zeitgenössischen Bildern und Karikaturen, München 1936, S. 125f. 3 Vgl. Carl Rouge, Schulerinnerungen an den Dichter Stefan George, in: Volk und Scholle 8/1930, 1, S. 20–25, hier: 22.

4. Die ,Kreise‘

367

Kommen wir rasch zu dem punktum importantum zu dem ›mappe-plan‹. […] Ich könnte vielleicht auch hier einige französische poeten anwerben, ich will mir wenigstens alle mühe geben. Auch meinen freund in England [Thomas Wellsted] will ich um beiträge bitten so dass unsere mappe sozusagen die erste ,Internationale‘ einrichtung dieser art würde. (RB II, 29)

Von der durchgängigen Kleinschreibung sticht das großgeschriebene und in Anführungszeichen gesetzte Wort ,Internationale‘ ab. Es dürfte sich um eine bewusste Anspielung auf den Namen der 1864 in London gegründeten ersten sozialistischen Internationale handeln. Die von StG gegenüber Stahl propagierte „Berührung mit anderen völkern“ (RB II, 30) sollte die ,Mappe‘ durch die Präsentation zeitgenössischer deutscher, englischer und französischer Dichtungen in den Originalsprachen realisieren. Das Projekt kam über die Planungsphase nicht hinaus, ging aber in modifizierter Form in das Konzept der BfdK ein, die zahlreiche Übertragungen enthalten.4 Als StG im Frühjahr 1889 erstmals in Paris weilte, kam ihm bei der Verwirklichung seiner Idee der Zufall in Gestalt des französischen Symbolisten Albert Saint-Paul zu Hilfe. Gleich nach seiner Ankunft in Paris wurde StG Saint-Paul durch seinen Darmstädter Französischlehrer Gustav Lenz vorgestellt, der StG auf der Reise begleitet und ihm die Pension empfohlen hatte, in der auch Saint-Paul logierte. Saint-Paul machte StG mit der literarischen Szene in Paris persönlich bekannt. Er brachte ihn mit Albert Mockel zusammen, der mit Henri Re´gnier und Pierre Olin die symbolistische Zeitschrift La Wallonie herausgab. Außerdem kam StG in Kontakt mit den Zeitschriften La Plume, Mercure de France und Ecrits pour l’Art, die offenbar für den Namen der BfdK Patin gestanden hat. Die wichtigste Bekanntschaft jedoch, die Saint-Paul StG vermittelte, war diejenige mit Ste´phane Mallarme´. An den berühmten Dienstagabenden bei Mallarme´ lernte StG zahlreiche symbolistische Schriftsteller kennen und begegnete einer Auffassung von Kunst, die mit der Idee einer absoluten Poesie seinen Intentionen nahestand. Nachhaltiger als die symbolistische Poetik mag indes der zeremonielle Charakter dieser Jours auf StG gewirkt haben. Er selbst hat gegenüber dem Berliner Universalhistoriker Kurt Breysig rückblickend davon gesprochen, dass die Beeinflussung weniger auf dem Gebiet der Sprache als „auf das tiefste in der Gebärde des Lebens“5 bestanden hätte. Tatsächlich dürfte der Ablauf der Dienstagabende in der Rue de Rome StG in seinem Impuls zur Bildung eines Kreises bestärkt haben. Es wurde dort vor allem aus eigenen Werken gelesen und über Fragen der Kunst diskutiert. Zugleich hatten diese Gespräche einen beinahe ritualisierten Charakter. So stand jedem Teilnehmer nach einer Lesung Mallarme´s nur eine Frage zu, und bei aller Übereinstimmung im dichterischen Selbstverständnis war Mallarme´ der unbestrittene ,maıˆtre‘. StG stieß hier auf das Modell eines ,cenacle‘, der im Zeichen ästhetischer Autonomie soziale Exklusivität und ritualisierte Durchformung des Habitus verband und seiner Binnenstruktur nach auf dem Prinzip des primus inter pares beruhte. Der Verwirklichung dieses Modells in seiner eigenen ,heimischen‘ Umgebung einen Schritt näher zu kommen, gestattete StG das Zusammentreffen mit Carl August Klein im Herbst 1889 kurz nach seiner Immatrikulation in Berlin. Dass StG sich bewusst 4 Vgl. I, 3.1. 5 Kurt Breysig, Begegnungen mit Stefan George. Tagebuchblätter, in: Ders./Stefan George, Gespräche, S. 9–32, hier: 16.

368

I. Stefan George und sein Kreis

war, durch seine Begegnung mit dem Kreis um Mallarme´ und dem Symbolismus einen qualitativen Schritt in seiner Entwicklung vollzogen zu haben, belegt ein Brief vom Oktober 1890 an Stahl, der sich als Abschiedsbrief von der eigenen Jugend und den Jugendfreunden interpretieren lässt. Er beginnt mit den Worten: Liebe – ehmals – freunde! Ihr seid geblieben wie Ihr wart, was Ihr macht machten wir schon ebenso vor einigen jahren Euch muß ich also nicht erforschen Als ich aus England zurückkam erinnert Euch begann ich eine umwälzung durchzuringen Wenn ich nun sage […] ich suche andere bahnen wie kann geringer Eure aufgabe sein als: hören denken fragen? (RB II, 40)

Hier spricht sich erstmals ein rücksichtsloses Selbstbewusstsein aus, das persönliche Beziehungen in dem Moment aufzukündigen für notwendig und legitim hält, wenn sie künstlerisch fruchtlos geworden sind. Der Begriff „Eure aufgabe“ ersetzt ein partnerschaftliches Verhältnis durch ein Lehrer-Schüler-Verhältnis. Damit kündigt sich eine Haltung an, die später als Organisationsform die George-Kreise bestimmt. Die ,Forschungsreisen im Dienste der Literatur‘ nahm StG nach Abbruch seines Studiums im Februar 1891 wieder auf. In den folgenden anderthalb Jahren führten ihn Reisen nach Oberitalien, Belgien und London und mehrfach nach München, Wien und Paris. Überall bemühte sich StG um literarische Verbindungen mit und persönlichen Kontakt zu Autoren, die dem Symbolismus nahestanden. Die im Oktober 1892 erstmals erscheinenden BfdK bringen die Ernte dieser Reisen ein. In der ersten Folge sind viele französische Symbolisten in den Übertragungen StGs vertreten, daneben der Belgier Paul Ge´rardy und als wichtigster Autor neben StG Hugo von Hofmannsthal. StG hatte Hofmannsthal im Dezember 1891 in Wien aufgespürt und war, wie dieser noch 1929 Walter Brecht mitteilte, mit den Worten an ihn herangetreten, er habe einen Aufsatz von mir gelesen, und auch was man ihm sonst über mich berichtet habe, deute darauf hin, daß ich unter den wenigen in Europa sei (und hier in Österreich der einzige), mit denen er Verbindung zu suchen habe: es handle sich um die Vereinigung derer, welche ahnten, was das Dichterische sei. (G/H, 235)

Der 17-jährige Hofmannsthal entzog sich zwar nur wenige Tage später der ihm in geradezu herausfordernder Form von StG angetragenen Freundschaft, ohne aber seine Mitwirkung an den BfdK zu verweigern, auch wenn ihm der nach außen abgeschottete Charakter der Zeitschrift nicht behagte.6

4.3.

Die Blätter für die Kunst: Dialektik des Privaten und Öffentlichen

Auf dem Umschlag des ersten Heftes der BfdK heißt es, sie habe „einen geschlossenen von den mitgliedern geladenen leserkreis.“ Unter scheinbar völliger Ignoranz des literarischen Marktes sollte sich ein hermetisch gegen die Öffentlichkeit abgeriegeltes Kommunikationsnetz etablieren. Doch ist eine solche Praxis der Verweigerung zu6 Zur Beziehung StG – Hofmannsthal vgl. allgemein Rieckmann, Hofmannsthal und George; vgl. ¤ Hugo von Hofmannsthal.

4. Die ,Kreise‘

369

gleich von raffiniertem Kalkül, und tatsächlich bemühte sich StG darum, dass in den öffentlichen Literaturzeitschriften, die ihm nahestanden, auf das Erscheinen der BfdK hingewiesen wurde. Der inneren Geschlossenheit des Beiträgerkreises sollte die gezielt gesteuerte Aufmerksamkeit einer zumindest potenziellen Leserschaft korrespondieren. Diese Absicht verfolgte StG schon deshalb, weil er schnell erkannte, dass er die Zahl der Beiträger vermehren musste. In den ersten drei Bänden machte er noch von dem bereits in Rosen und Disteln erprobten Mittel Gebrauch, parallel unter seinem richtigen Namen und unter mehreren Pseudonymen zu veröffentlichen, um über den schmalen Kreis der Autoren hinwegzutäuschen. Doch schon im Sommer 1893, der Beiträgerkreis hatte sich um Max Dauthendey, Georg Edward und Fritz Koegel erweitert, trug StG Hofmannsthal eine Idee vor, die eine tief reichende Differenz in ihren Auffassungen offenlegt und ein bezeichnendes Licht auf StGs Verständnis vom Charakter der Autorengruppe wirft. Es geht um den Plan, „einem nächsten heft ein blatt beizugeben das in holz oder stahl die bildnisse unsrer sämmtlichen dichter trägt“ (G/H, 65). Hofmannsthal lehnte dieses Ansinnen ab und begründete dies mit einem Vergleich, der StG verletzen musste. Er antwortet am 1. Juli 1893: Dem Plan eines Sammelbildes möchte ich für meinen Theil mich nicht anschließen; an Dichtern interessieren mich gerade die Gesichter recht wenig; auch wird dergleichen so sehr von den uns durchaus fernstehenden reclamesüchtigen Journalen gepflegt […]. (G/H, 66)

In StGs enragierter Antwort vom 9. Juli heißt es: In sachen des unglücklichen bildes bedaure ich keinen Ihrer gründe begreifen zu können am wenigsten aber dass Sie das wort ›reclame‹ einflechten wo es sich nur um verteilen eines andenkens an unsre mitglieder als mitglieder einer familie dreht. […] Unser dichterkreis hat sich nach gegenseitiger rückhaltloser aussprache gebildet und wird weiter sein. wer sich derselben entzieht wird unklar und unheimlich Jede gesellschaft auch die kleinste und loseste baut sich auf verträge […]. (G/H, 66f.)

An dieser Stelle treten die unterschiedlichen Konzeptionen der dichterischen Persönlichkeit deutlich zutage. Während Hofmannsthal die gemeinsame Abbildung der Blätter-Autoren auf ihre Wirkung nach außen hin bezog und sie damit in die Nähe von Verlagsanzeigen rückte, betonte StG den rein privaten, nach innen gerichteten Verwendungszweck. Seine Formulierung „mitglieder einer familie“ illustriert die Vorstellung eines intimen Verhältnisses zwischen wesensverwandten Künstlern. Aufschlussreich ist StGs Vergleich mit der Familie im Hinblick auf die allmähliche Konstituierung eines selbst geschaffenen Personenkreises mit ihm als Mittelpunkt, als pater familias. Hofmannsthals vorläufiger Rückzug aus dem Unternehmen der BfdK wurde mit der Belehrung quittiert, es sei „durch den charakter der gründung keinem mitarbeiter verstattet nur insofern es ihm angenehm dünke mitzuwirken. […] wir andern werden uns noch mehr fanatisch abschliessen“ (G/H, 69). Dies ist zugleich ein frühes Plädoyer für Fanatismus, sozialpsychologisch betrachtet eine typische emotionale Fundierung von Sekten und Gemeinschaften mit hohem inneren Bindungsgrad. Die innere Bindung tritt an einer weiteren Kontroverse im Briefwechsel zwischen StG und Hofmannsthal zutage, die erstmals im Februar 1893 an dessen Äußerung, er fände „wenig wirklich wertvolles“ (G/H, 58) in den BfdK, greifbar wird. In den folgenden Jahren stellte Hofmannsthal noch mehrfach die Qualität von Beiträgern in

370

I. Stefan George und sein Kreis

Abrede. In den Merksprüchen der vierten Folge findet sich zu diesem Aspekt eine aufschlussreiche Stellungnahme. Die Möglichkeit des Auftritts eines ,großen schönheit-finders‘ wird an die Bedingung eines geeigneten Umfelds geknüpft: Es ist ein irrtum dass nur grosse geister ein unternehmen mit grossem gedanken zu fördern vermöchten. von aller wichtigkeit ist es die kleineren zu erziehen und hinzuleiten auf dass sie die luft bilden in denen der grosse gedanken atmen kann. Wir wissen wohl dass der schönste kreis die grossen geister nicht hervorrufen kann, aber auch dies dass manche ihrer werke nur aus einem kreis heraus möglich werden.7

In diesen Sätzen wird die innere hierarchische Struktur und der Funktionszusammenhang des späteren Kreises antizipiert und legitimiert. Nicht zuletzt lässt sich auch in StGs ästhetischer Orientierung eine Antizipation kreisinterner Strukturen entdecken. In seinen Notizen Über Dichtung schreibt er: „Freie rhythmen heisst so viel als weisse schwärze […]. Strengstes maass ist zugleich höchste freiheit.“8 Mit dieser Position wird die Unterwerfung unter das Formgesetz dialektisch als Weg zur höchsten Freiheit interpretiert. Was hier im Kontext der Kunst formuliert wird, weist auf die Konzeption des Kreises voraus. Die Entwicklung des Mitarbeiterstabs machte in der Zeit von Herbst 1893 bis Herbst 1895 entscheidende Fortschritte. 1893 gewann StG gleich drei wichtige und zeitweise produktive Mitarbeiter, nämlich den Wiener Leopold von Andrian, der fast zeitgleich zum Freund von Hugo von Hofmannsthal wurde und 1895 die von StG hochgeschätzte Erzählung Der Garten der Erkenntnis schrieb, Ludwig Klages, den StG zufällig in einer Münchener Pension getroffen hatte, und Karl Wolfskehl, der 1892 über Georg Edward StGs Dichtung kennengelernt und sogleich Kontakt mit ihm aufgenommen hatte. 1894 trat der polnische Symbolist Wacław Rolicz-Lieder, mit dem StG ebenfalls durch Vermittlung von Saint-Paul 1891 in Paris in Verbindung gebracht worden war, in den Kreis der Beiträger zu den BfdK ein, 1895 kamen Richard Perls, ein in München lebender Freund von Klages, und der symbolistische holländische Dichter Albert Verwey hinzu. StG stellte zu ihnen allen einen persönlichen Kontakt her, um auf diese Weise die Grenzen des von ihm verpönten ,BloßLiterarischen‘ zu überwinden. Die Verbindung mit Verwey, der in seiner Tweemaandelijk Tijdschrift über StG geschrieben hatte, führte zu einer langjährigen Freundschaft, während der beide sich wechselseitig neue Texte für ihre Zeitschriften überließen. 1895 kam die persönliche Bekanntschaft mit Melchior Lechter hinzu, dessen Buchgestaltung im folgenden Jahrzehnt das äußere Erscheinungsbild der Publikationen aus dem Umkreis von StG prägte. Lechter war 1893 durch Hofmannsthal auf die BfdK aufmerksam gemacht worden und kurz darauf mit Carl August Klein in Verbindung getreten, um die Werke StGs zu erwerben. München und Berlin bildeten sich in dieser Zeit als neue Zentren für StGs persönliche und künstlerische Beziehungen heraus. Während die Reiseaktivitäten allmählich abnahmen, spielte sich ein Lebensrhythmus ein, der im Wesentlichen im Wechsel zwischen diesen beiden Städten mit Bingen als Ruhepunkt bestand.

7 BfdK 4/1897, 1/2, S. 3. 8 BfdK 2/1894, 4, S. 122.

4. Die ,Kreise‘

4.4.

371

Berlin: Salon mit Fenster

In Berlin verbrachte StG ab 1895 regelmäßig die letzten drei Monate des Jahres. Im Frühjahr hatte er Lechter dort kennengelernt, nun kam die Bekanntschaft mit den Ehepaaren Lepsius und Simmel hinzu. Bei den Porträtmalern Reinhard und Sabine Lepsius führte StG sich auf Empfehlung von Richard Perls im Herbst 1896 ein. Dort lernte er im Herbst 1897 den Philosophen Georg Simmel und dessen Frau Gertrud kennen. Georg und Gertrud Simmel waren anregende intellektuelle Gesprächspartner; Simmel schrieb in dieser Zeit mehrere kunstphilosophische Essays über StG. Das Malerpaar Lepsius unterhielt eine Art literarischen Salon und bot StG die Bühne für Lesungen im privaten Raum. Bislang hatte StG Lesungen im Kreise von Autoren initiiert, wie etwa im Juli 1892 mit Edmond Rassenfosse, Paul Ge´rardy und Le´on Paschal im nahe Lüttich gelegenen Tilff, oder war als Botschafter des neuen Kunstverständnisses am 28.3.1896 in Den Haag im ,Kunstkring‘ aufgetreten. Die Lesungen im Hause Lepsius am 14.11.1897, am 4.12.1898 und am 12.11.1899 boten die Chance, vor einem handverlesenen Publikum aus Freunden und sympathisierenden Autoren und Gelehrten einen Auftritt zu inszenieren, der die Exzeptionalität der eigenen Person und Dichtung ins rechte Licht rückte. Auch in diesem Fall verfolgte StG die Doppelstrategie, der Lesung einen exklusiven Charakter im privaten Ambiente zu verleihen und zugleich die literarisch interessierte Öffentlichkeit durch geladene Gäste (Marie von Bunsen, Lou Andreas-Salome´)9 informieren zu lassen. Die Lesungen waren weitgehend ritualisiert. Der Raum wurde festlich hergerichtet, damit eine weihevolle Atmosphäre entstand. StG las eigene und Gedichte anderer in einem gleichmäßigen, quasi psalmodierenden Ton. Die spezifische Vortragsweise wurde später von Robert Boehringer im zweiten Jahrbuch für die geistige Bewegung als Kunst des ,Hersagens‘ theoretisch begründet. Kommentare des Vortragenden oder gar eine Aussprache mit den Zuhörern unterblieben. StG zog sich in der Regel nach der Lesung in einen benachbarten Raum zurück und empfing einzelne Gäste seiner Wahl. Lesungen von George-Gedichten im öffentlichen Raum fanden nur höchst selten statt. Die Rezitatorin Ria Schmujlow-Claassen trug Anfang März 1900, kurz vor ihrer ersten persönlichen Begegnung mit StG, im Akademisch-dramatischen Verein in München vor ca. 200 Zuhörern u. a. Gedichte von StG vor und wiederholte dies am 8.4.1902 im Festsaal des Bayrischen Hofes in Anwesenheit StGs. Im Mai 1901 hatte StG in Den Haag selbst öffentlich gelesen. Zuvor, im Wintersemester 1899, hatte StG sogar in einer Vorlesung des Kunstphilosophen Max Dessoir an der Berliner Universität Gedichte vorgetragen. Parallel zu diesen Lesungen ist StGs seit 1896 betriebener Plan zu sehen, die BfdK in eine monatliche deutsche Rundschau zu verwandeln, zu deren Schriftleitung neben ihm Dessoir und Hofmannsthal gehören sollten. In einem Brief an Hofmannsthal vom September 1896 trägt StG ihm die Idee vor und mahnt ihn, sich dieser Aufgabe nicht 9 Andreas-Salome´ und von Bunsen waren bei der Lesung am 14.11.1897 zugegen. Ihre daraus hervorgegangenen Texte sind wieder abgedruckt in: Jörg-Ulrich Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“. Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der ,Blätter für die Kunst‘ 1890–1898, Heidelberg 1998, S. 317–323 (M. v. Bunsen), S. 354–366 (L. Andreas-Salome´).

372

I. Stefan George und sein Kreis

zu entziehen. „Für Sie aber wäre es als menschen wie als dichter ein jammer wenn Sie in einer engherzigen wiener oder österreichischen seitenpolitik erstarrten“ (G/H, 111). Aufhorchen lässt hier der Begriff der ,Politik‘. Er markiert den Moment, da die literarischen Aktivitäten die Sphäre des Familiären überschreiten und ins Gesellschaftliche ausgreifen. StGs rückblickender Brief vom Mai 1902 lässt die Intention, die hinter dieser Idee stand, noch einmal scharf hervortreten. „Ich war des festen glaubens dass wir · Sie und ich · durch jahre in unsrem schrifttum eine sehr heilsame diktatur hätten üben können · dass es dazu nicht kam dafür mach ich Sie verantwortlich“ (G/H, 150). Die Formel von der ,heilsamen diktatur‘ zeigt, dass StG den Schritt in die literarische Öffentlichkeit gewissermaßen als einen Eroberungsfeldzug verstand. Es ging nicht darum, das eigene Werk und das seiner Mitstreiter bloß als neue Strömung der Gegenwartsliteratur sichtbar werden zu lassen, sondern es als Richtmaß einer Erneuerung der Dichtungssprache zu etablieren. Freilich hatten sich StG in der Zwischenzeit neue strategische Möglichkeiten erschlossen. 1898 hatte StG den Verleger Georg Bondi kennengelernt, den er für den Plan gewann, einen Auswahlband aus den Blätter-Jahrgängen 1892 bis 1898 zu publizieren. Der Band erschien im Herbst 1898, ebenso mit der Jahreszahl 1899 versehen wie die gleichfalls noch im November 1898 erschienenen jeweils zweiten Auflagen von Hymnen. Pilgerfahrten. Algabal, der Bücher der Hirten- und Preisgedichte und des Jahrs der Seele. Alle trugen als Signet eine von Melchior Lechter gezeichnete Monstranz, die StG für seine Publikationen bis einschließlich der Gesamt-Ausgabe beibehielt. Außer seinen eigenen Werken erhielten nur Wolfskehls Gesammelte Dichtungen und Der Umkreis sowie vier dichterische Veröffentlichungen von Wolters und Vallentins Heroische Masken dieses Signet. Bei Bondi erschien mit der Schrift Stefan George von Ludwig Klages im November 1901 die erste selbstständige Publikation über StGs Kunstauffassung und Dichtung. Auch wenn Klages der angesprochenen Strategie scheinbar entsprechend versicherte, er sei in seinem Buch „nur ,Stimme‘ und redende Zunge eines ganzen ,Kreises‘“ (G/G, 100), war seine Broschüre Dokument des Konkurrenzkampfs in der ,Kosmischen Runde‘.

4.5.

München: Kosmische Runde

Ab 1895 hielt sich StG häufig in den ersten Monaten des Jahres in München auf, seit 1901 jährlich als Gast im Hause Wolfskehl. Schon im Herbst 1893 hatte StG unabhängig voneinander Ludwig Klages und Karl Wolfskehl getroffen, die sofort zu wesentlichen Beiträgern der BfdK wurden. Zu Beginn des Jahres 1897 kam er in Kontakt mit Alfred Schuler. Diese drei bildeten den Kern der sogenannten ,Kosmischen Runde‘, die um die Jahrhundertwende einer der Angelpunkte des geistigen Lebens in ,Wahnmoching‘ war, wie Schwabing in dem von Franziska Gräfin zu Reventlow verfassten Schlüsselroman Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil genannt wird. Mit allen dreien stand StG in einem engen geistigen Austausch, mit Schuler und Klages auch in einem sich verschärfenden Konkurrenzverhältnis. Eine wesentliche Grundlage des kosmischen Denkens lieferte die 1861 erschienene Studie Das Mutterrecht des Schweizer Rechtshistorikers und Altertumsforschers Johann Jakob Bachofen. Bachofen „war ein, vielleicht sogar der geis-

4. Die ,Kreise‘

373

tige Heros von Schwabing“.10 Seine Rekonstruktion einer frühgeschichtlichen gynaikokratischen Phase verbindet sich mit einem „Mysterium der chthonischen Religion“,11 womit die Verehrung des Erdschoßes als Symbol der Fruchtbarkeit gemeint ist. Bachofen entwirft das Bild eines schöpferischen Chaos, das durch die Emanzipation des männlichen Geistes von der weiblichen Stofflichkeit überwunden und ins historisch fortschrittliche, rationale Vaterrecht überführt wurde. Die Kosmiker nahmen dieses Modell einer in Permanenz gebärenden Urlandschaft auf, verkehrten allerdings die Wertungsperspektive. Sie suchten nach einem Weg der kulturell-religiösen Wiedergeburt dieses ursprünglichen Zustands, und in dieser Intention auf eine radikale Wende stand StG ihnen nahe. Der Philosoph Paul Stern, der unter dem Namen ,Dr. Sendt‘ in Reventlows Roman als eine Art weltanschaulicher Cicerone dient, klärt den Protagonisten Herrn Dame über diesen Anspruch auf: „Wahnmoching [Schwabing] ist eine geistige Bewegung, ein Niveau, eine Richtung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Versuch, aus uralten Kulten wieder neue religiöse Möglichkeiten zu gewinnen“.12 Der Alltag in diesem Milieu war kultisch überformt, das Selbstverständnis, ,enorm‘ zu sein, verlangte eine Existenzform jenseits der Norm, eine permanente Grenzüberschreitung. Zugleich war das Schwabing dieser Zeit geprägt von Künstlerfesten. Die Welt des Festes ist definiert durch die Grenzüberschreitung. So erscheint ein Fest in Schwabing als Übersetzung der alltäglichen Grenzüberschreitung in eine allegorische. Deshalb entbehren diese Feste auch weitgehend spielerischen Charakter. Die Kostümierungen sind bewusste Entstellungen zur Kenntlichkeit. Wenn StG auf den Maskenbällen 1903 als Cäsar und 1904 als Dante auftrat, inszenierte er damit seinen Anspruch auf imperiale Herrschaft. Die Kostüme waren so ernst gemeint wie diejenigen von Schuler, der sich als Römer oder Magna Mater drapierte. Zugleich markieren sie eine entscheidende Differenz zwischen dem Kosmiker Schuler und StG. Schuler überführte Bachofens Konzeption der Kulturstufen in ein quasi archäologisches Modell der Kultursubstanzen, d. h. jeder kulturellen Entwicklungsstufe entsprach eine für sie spezifische seelische Substanz. In einzelnen Individuen oder in Krisenzeiten können Seelensubstanzen, die früheren Kulturstufen angehörten, durchbrechen und die Gegenwart völlig überlagern. Dieses Phänomen der Emanation einer älteren Seelensubstanz nannte Schuler ,Blutleuchte‘. Das Blut war für ihn Träger der seelischen Substanz. In diesem Sinne verkörperte er selbst eine römische Blutleuchte.13

10 Richard Faber, Männerrunde mit Gräfin. Die „Kosmiker“ Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow. Mit einem Nachdruck des ,Schwabinger Beobachters‘, Frankfurt/M. u. a. 1994, S. 37. 11 Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, eine Auswahl hrsg. v. Hans-Jürgen Heinrichs, Frankfurt/M. 1975, S. 22. 12 Franziska Gräfin zu Reventlow, Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil, mit e. Nachw. v. Walter Rösler, Berlin 1990, S. 36. 13 Vgl. dazu Gerhard Plumpe, Alfred Schuler. Chaos und Neubeginn. Zur Funktion des Mythos in der Moderne, Berlin 1978; Wolfgang Frommel, Alfred Schuler. Spuren heidnischer Gnosis, in: CP 34/1985, 168/169, S. 5–23; Michael Pauen, Alfred Schuler: Heidentum und Heilsgeschichte, in: CP 42/1993, 209/210, S. 21–54.

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I. Stefan George und sein Kreis

Trotz des großen Eindrucks, den Schuler auf StG machte, war von Beginn an eine Distanz vorhanden. Klages überliefert, dass StG nach einer Rezitation von Schulers Fragmenten „in wachsende, schließlich kaum noch beherrschte Erregung“ geraten war und nach dieser ,Performance‘ auf der Straße zu ihm gesagt habe: „Das ist Wahnsinn! Ich ertrage es nicht!“14 Die heftige Reaktion StGs wird sich allerdings auch daraus herleiten, dass er in Schuler mit einer Macht konfrontiert war, die seinen eigenen Führungsanspruch gefährdete und über eine nicht geringere ,magische Potenz‘ zu verfügen schien. Wesentliche Differenzen bestanden wohl in zwei Aspekten. Zum einen betrachteten Schuler und Klages die Kunst nur als eines unter zahlreichen gleichrangigen kulturellen Medien, in denen die verschütteten seelischen Ursubstanzen in symbolischer Form sich präsent halten können. Schuler und Klages warfen StG vor, er würde ,nur Kunst‘ machen. Außerdem erschien StG die Deutung der Gegenwart als bloße Weltfinsternis zu einseitig. 1901 hat er Wolfskehl gegenüber geäußert: „Schuler in seiner Konsequenz ist die Elimination alles Schönen, alles Lebendigen, aller Kräfte zugunsten eines blutleeren Gespensterwortes“ (ES, 191). Damit war gemeint, dass Schuler der fixen Idee der Blutleuchte alle produktiven Impulse aufopfere und einer zu undifferenzierten, manichäischen Sicht zuliebe alles verleugne oder übersehe, was als kultureller Neubeginn wirken könnte. Zum anderen ging Schuler in seiner Ablehnung patriarchaler Rationalität so weit, auf aktive Gestaltgebung des Lebensvollzugs zu verzichten. Er kultivierte die Empfindung, ,gelebt zu werden‘. Darin überbot ihn noch der Antirationalismus von Klages, der in seiner rückwärtsgewandten Utopie hinter den Hetärismus Bachofens zurückgriff. Seine Ursprungsutopie ist überhaupt transhuman, sie phantasiert eine Vereinigung mit den Elementen selbst, in der sich „Allmachtsträume und Depersonalisationserlebnisse“15 durchmischen. Solche Positionen mussten auf StG befremdlich und überspannt wirken. Die konzeptionellen Unterschiede hinsichtlich des Weges zu einer kulturellen Neugeburt gewannen an unmittelbarer Brisanz, als Karl Wolfskehls Judentum ihn zu einer persönlich gefärbten Spielart der Kosmik inspirierte. Er stellte die These auf, dass es auch eine semitische Blutleuchte geben könne. Wolfskehls Spekulationen über die Möglichkeit einer zionistischen Blutleuchte sind zwar nicht schriftlich, sondern nur sekundär überliefert,16 waren aber wohl der auslösende Faktor für den Bruch unter den Kosmikern. Schuler und Klages, die den Juden eine kosmische Seele absprachen, interpretierten diese Haltung als Blasphemie und Verrat. Wolfskehl wandte sich, als Klages von ihm einen Widerruf verlangte, hilfesuchend an StG. Dieser erkannte aber die Unversöhnlichkeit der Ansichten und ergriff Partei für Wolfskehl. Friedrich Wolters dürfte die tiefer liegenden Ursachen für die notwendige Trennung StGs von den Kosmikern im Wesentlichen zutreffend benannt haben, wenn er schreibt: Es war mehr als ein Kampf um Leben und Tod, den er mit den Kosmikern zu führen hatte, nämlich ein Kampf um sein dichterisches Sein […]. Der Bund mit ihnen war um so bedrohlicher je tiefer er in den Bann ihres andersgerichteten Wollens geriet, um so verlockender als sie seinem eigenen drängenden Tatwillen eine schnelle Verwirklichung seiner Wunschträume 14 Ludwig Klages, Einführung, in: Alfred Schuler, Fragmente und Vorträge aus dem Nachlaß, Leipzig 1940, S. 73. 15 Breuer 1995, S. 102. 16 Vgl. Oscar A. H. Schmitz, Dämon Welt. Jahre der Entwicklung, München 1926, S. 294.

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zu bieten schienen, um so verwirrender als eben ihr dionysisch-erotisches Element auch ein notwendiges seiner Welt war, um so gefährlicher als sie zur Vollendung ihres Tuns gerade seiner unvergleichlichen Erdkraft zu bedürfen meinten. (FW, 265)

Zudem weist Wolters darauf hin, dass für StG in dieser Phase „das Magische […] geschehen, der Zauber wirklich geworden“ (FW, 270) war, d. h. die umwandelnde Tat, die die Kosmiker von ihm erwartet hatten, war für ihn Wirklichkeit geworden in der Gestalt des Knaben Maximilian Kronberger.

4.6.

Friedrich Gundolf: der erste Jünger / Maximin als Gründungsmythos

Die Trennung von den Kosmikern markiert eine wesentliche Station auf dem Weg zu einer Gestaltwerdung des George-Kreises als hierarchisch strukturiertes Gebilde. Bis hierher hatte StG zumeist Verbündete aus der eigenen Generation an seiner Seite gehabt. Er war mit ihnen Allianzen, teilweise auf Zeit, eingegangen, ohne ihnen Gesten der Unterwerfung abzuverlangen. Melchior Lechter und Georg Simmel etwa waren als ,Meister‘ in ihrem jeweiligen Metier akzeptiert, Albert Verwey oder Wacław Rolicz-Lieder als verbündete Herrscher in einem anderen Sprachgebiet. Der nicht domestizierbare Karl Wolfskehl genoss den Sonderstatus einer gewissen Narrenfreiheit, da an seiner Treue kein Zweifel bestand.17 An dem Versuch, Hofmannsthal, den gefühlten „zwillingsbruder“ (G/H, 13), zum Freund oder ihm wenigstens persönlich Verbundenen zu machen, war StG gescheitert. Einzig Carl August Klein hatte sich von Beginn an rückhaltlos in den Dienst von StG gestellt und damit ein Verhalten präfiguriert, das ab 1900 zum Modell für die jüngere Generation werden sollte. Noch bevor StGs Ringen mit den Führungsansprüchen von Schuler und Klages eskalierte, war ihm durch Wolfskehl im Frühjahr 1899 mit Friedrich Gundolf der erste Jünger zugeführt worden, der diese Rolle geradezu prototypisch ausfüllte. StG lud Gundolf im August zu sich nach Bingen ein und stellte ihm die Aufgabe, seine Übertragungen von Shakespeare-Sonetten fortzusetzen und an der Drucklegung des Jean Paul-Stundenbuchs mitzuwirken. Diese Zuweisung bestimmter Aufgaben wurde zu einem Merkmal der Beziehung zwischen Meister und Jünger. Umgekehrt wurde das Werk des Jüngers dem des Meisters inkorporiert. StG hatte für diese Beziehung mit dem Gedicht „Der Jünger“ (V, 47) aus dem im selben Jahr erschienenen Teppich des Lebens das Modell literarisch antizipiert. Das Wirken für ein gemeinsames Ziel fungierte als Medium, in dem sich die persönliche Beziehung festigte und eine weitere geistige Dimension gewann. Der Intensivierung der persönlichen Bindung dienten gemeinsam unternommene Reisen, u. a. nach Oberitalien, zu Verwey und in die Schweiz. Darüber hinaus hielt sich Gundolf häufig für Tage oder Wochen in Bingen bei StG auf, um bestimmte Projekte voranzutreiben. Vor allem seit der Aufnahme seines Studiums in Berlin zum Sommersemester 1901 wuchs Gundolf in die Rolle 17 Vgl. zum Verhältnis StG – Wolfskehl etwa Ute Oelmann, „ich will dein Petrus sein“. Karl Wolfskehl und Stefan George, in: Elke-Vera Kotowski/Gert Mattenklott (Hrsg.), „O dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln!“ Leben und Werk von Karl Wolfskehl (1869–1948), Hildesheim u. a. 2007, S. 41–52.

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eines Sekretärs für StG hinein. Er übernahm einen Großteil der Korrespondenz zwischen StG und der ,Außenwelt‘, filterte Anfragen und Kontaktversuche und übermittelte StGs Antworten. Sofern sie am selben Ort waren, diktierte StG ihm sogar Briefe an nahestehende Kreismitglieder. Gundolf avancierte auf diese Weise zu einer Art ,Kanzler‘, der sich als Vollstrecker von StGs Willen verstand. Bald nach der Bekanntschaft mit Friedrich Gundolf war StG im Hause Gundelfinger, wie der bürgerliche Name Friedrichs (bis 1927) lautete, ein- und ausgegangen. Er lernte dort Ernst Gundolf kennen, der sich ab 1900 ebenfalls in den Dienst StGs stellte; er half etwa bei der Anthologie Das Jahrhundert Goethes mit. Auch Ernst verbrachte vor dem Ersten Weltkrieg die Sommermonate ab 1905 meist in den Schweizer Bergen und traf dort mit StG zusammen. Gelegentlich waren dabei Sabine Lepsius, Karl Wolfskehl, Ernst Morwitz und Robert Boehringer anwesend. Mit den beiden Letztgenannten unternahm StG ebenfalls Reisen. Ernst Morwitz hatte sich 1905 aus eigener Initiative StG genähert und ihm Gedichte geschickt. Es entwickelte sich allmählich ein enges persönliches Verhältnis zwischen ihnen. Morwitz begleitete StG im Frühjahr 1908 nach Paris und bei seinen Besuchen in Meudon bei Auguste Rodin. Zu Robert Boehringer nahm StG im Frühjahr 1905 selbst Kontakt auf, nachdem ihm der Basler Zoologe Rudolf Burckhardt von dessen stadtbekannter George-Begeisterung berichtet hatte. Auch zu Boehringer baute StG eine enge Beziehung auf und nahm ihn im April 1908 auf eine Italienreise mit. Ernst Gundolf betreute gemeinsam mit Melchior Lechter die Drucklegung des Maximin-Gedenkbands. Die Begegnung StGs mit Maximin beziehungsweise die ästhetische Transfiguration, der StG den 1904 knapp 16-jährig verstorbenen Maximilian Kronberger unterzog, kann als eigentlicher Gründungsmythos des George-Kreises betrachtet werden. Kronberger war StG Anfang 1902 in München wegen seiner äußeren Erscheinung ins Auge gesprungen, aber erst ein Jahr später kam er mit ihm in persönlichen Kontakt. Die Beziehung folgte trotz der Anerkennung von Kronbergers dichterischem Talent dem Muster eines Meister-Schüler-Verhältnisses im Zeichen des pädagogischen Eros. Bei aller Intensität und Zuwendung war sie nicht frei von Spannungen und Zwist, das heißt: die historische Person Maximilian Kronberger wurde von StG keineswegs als ein ,verleiblichter Gott‘ behandelt (VI/VII, 53). Sein Tod im Jünglingsalter prädestinierte ihn jedoch dafür, das literarische Modell des kindlichen Königtums zu beglaubigen, das in StGs Werk eine Konstante bildet. Dieses Modell gewinnt durch die ,Gnade des frühen Todes‘ an mythischer Gewalt. Die Unschuld, blühende Jugend und Schönheit dieser Toten bilden die Voraussetzung für einen Literarisierungs- und Mythisierungsprozess, der in diesem Fall aus Maximilian Kronberger Maximin zu machen erlaubte. Mit der Umformung zu einer Kunstfigur war die Voraussetzung geschaffen, dass Maximin als „identitätsstiftende Mitte der Gemeinschaft“18 der Kreismitglieder fungieren konnte; eine Kunstfigur, die freilich ohne die leibliche Erscheinung von Maximilian Kronberger nicht denkbar ist. Im Siebenten Ring heißt es mit Blick auf München explizit: „Preist eure stadt die einen gott geboren!“ (VI/VII, 99) StG nennt ihn einige Jahre später in einem Brief an Gundolf einen „plastischen Gott“ (G/G, 202).

18 Groppe 1997, S. 223.

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Wolfgang Braungart betont, dass man die Stilisierung der Maximin-Gestalt „nicht wirklich im engeren Sinn als Religionsstiftung interpretieren“ dürfe, da Maximin „nicht als Erlöser im christlichen Sinne [erscheine], sondern als kultisches Zentrum der ästhetischen Rituale“.19 Man wird von Religionsstiftung schon deshalb nicht sprechen können, weil Maximilian Kronberger keine Lehre hinterlassen hat. Im Mittelpunkt steht vielmehr das, was Maximin verkörpert: die Schönheit. Wo aber keine Lehre existiert, sondern nur eine Person verehrt wird, ist es wohl angebracht, statt von ,Religion‘ von ,Kult‘ zu sprechen, oder anders gesagt: einem Element heidnischer Religiosität. Das Entscheidende, worin dieser Kult der Schönheit von jedem Ästhetizismus absticht, liegt darin, dass er an die leibliche Erscheinung eines Menschen gebunden, nicht allein im Medium der Kunst selbst angesiedelt ist. Es ist zudem der Leib eines Jünglings, der über diese göttliche Schönheit verfügt. Hierin könnte man höchstens als eine Art Lehre erblicken: Maximin als Gott der Jugend wird kultisches Zentrum des George-Kreises und Maßstab für die Umgestaltung der Kultur in Deutschland. Der schöne Leib der Jugend ist das reale Äquivalent des ästhetischen Gebildes und der ästhetischen Gebärde. In ihm ergreift die Form das Leben. Wenn StG sich im Maximin-Zyklus in programmatischer Weise eines kerygmatischen Sprachduktus bedient, um die Deutung Maximins als Gott mittels autoritativer Rhetorik zu installieren, so macht er die von ihm allegorisch verkörperte Idee jugendlicher Schönheit zum Richtmaß einer kulturkritischen Mission und rückt selbst in die Rolle des Propheten.

4.7.

Kulturkritik I: Konstitution des Kreises

Der kulturkritische Diskurs hatte schon seit Langem in den Positionsbestimmungen der BfdK eine Rolle gespielt, zum Teil in Überschneidung mit Motiven, wie sie zeitgenössisch auch bei Paul de Lagarde und Julius Langbehn formuliert sind. Die Kritik galt ebenso dem saturierten wilhelminischen Bürgertum, das in geistiger Indolenz befangen einem epigonalen klassizistischen Geschmack anhing, wie dem preußischen Militarismus mit dem kunstfeindlichen Kaiser an der Spitze, verschonte aber auch die Sozialdemokratie und die ihr nahestehenden Naturalisten nicht. Nach der Schaffung des Maximin-Mythos war der Zeitpunkt reif, die schon von den BfdK anvisierte nationale Wiedergeburt im Zeichen der Schönheit und im expliziten Rückbezug auf die griechische Antike in Angriff zu nehmen. 1904 erhielt StG in Bingen Besuch von dem jungen Juristen Berthold Vallentin, den er im Dezember 1902 in Berlin zufällig bei Kurt Breysig kennengelernt hatte. Breysig hatte zu den Gästen bei der Lesung StGs im Salon von Lepsius im November 1899 gehört. Vallentin erzählte StG vom sogenannten ,Pankower Kreis‘, der sich aus Schülern des Historikers und Kulturphilosophen Breysig zusammensetzte. Neben Vallentin waren die wichtigsten Angehörigen dieses Kreises der Wirtschaftshistoriker und Dichter Friedrich Wolters und der Medizin- und Philosophiestudent Kurt Hildebrandt. Sie hatten mit einigen anderen, darunter Friedrich Andreae (später stieß auch dessen jüngerer 19 Braungart 1997, S. 237.

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Bruder Wilhelm hinzu), den „Freien Bund bauender Forscher“ gegründet, der „an die Stelle der bloss registrierenden eine bauende Wissenschaft“20 setzen wollte. Dieser Bund hatte sich um Breysig geschart, weil sein Selbstverständnis als Historiker darauf abzielte, „die ganze Geschichte der Menschheit als einen großen von einheitlichen Gesetzen durchwalteten Vorgang zu betrachten“ (FW, 354), und damit als lebensphilosophische Alternative zu der erstarrten akademischen Geschichtswissenschaft erschien. Der neue Geist dokumentierte sich auch in neuen Lebensformen. Mehrere Mitglieder des Bundes bewohnten mit ihren Freundinnen ein Gartenhaus in Niederschönhausen in Berlin-Pankow, das zum Schauplatz geselliger Zusammenkünfte und heiterer Feste wurde. Carola Groppe spricht davon, dass die Mitwirkenden „durch eine emphatische Literaturrezeption und eigene Dichtungen eine spezifische – akademisch-jugendliche – Identität“21 ausbildeten. Wolters und Vallentin waren die dominierenden Gestalten dieses Kreises, der auf der Suche nach verehrungswürdigen Ideen und Menschen war. 1907 zogen die beiden gemeinsam mit den Brüdern Andreae in eine Villa in Lichterfelde um, wo sie private Theateraufführungen und Lesungen veranstalteten. Als StG im Herbst 1905 in Berlin war, stattete er diesem Kreis einen Besuch ab. Die Konstellation hätte für StG nicht günstiger sein können. Er traf auf eine Gruppe junger Männer, die aus eigenem Impuls nach einer ästhetischen Steigerung ihres Lebens strebten. Der quasi objektlose Enthusiasmus des Niederschönhausener Kreises prädisponierte ihn, sich StGs charismatischer Herrschaftsgeste zur Verfügung zu stellen. Erst durch den Kontakt StGs mit dieser Gruppe konstituierte sich im strengen Sinne der ,George-Kreis‘ als literatursoziologisches Phänomen. Seine Ressourcen entstammten durchweg „etablierten bildungsbürgerlichen Familien.“22 Mit der Rekrutierung des Niederschönhausener Kreises für StGs kulturkritische Offensive gewann für die innere Hierarchie der Gedanke der Führerschaft an Aktualität, der in StGs Werk von Anfang an präsent war. Er begegnet zuerst in Gestalt der Auserwähltheit des Künstlers, aber früh auch im Sinne eines sozialen Aristokratismus, der sich ästhetisch rechtfertigt. In Gedichten wie „Irrende Schar“ (III, 50–51) aus den Büchern oder „Templer“ (VI/VII, 52–53) aus dem Siebenten Ring entwarf StG das Bild eines geistigen Ritterordens, der von seiner Gegenwart verkannt einem nur ihm offenbarten Ziel dient. Der sich ab 1905 in Berlin um StG scharende Kreis kann als bewusste Nachbildung eines solchen Ordensmodells interpretiert werden. Bereits 1901 war in der fünften Folge der BfdK StGs ,Weihespiel‘ Die Aufnahme in den Orden erschienen. Es ist ein Rollengedicht, in dem ein Jüngling in einer Klosterkirche den Großmeister und die Brüder um Aufnahme bittet. In seinem ersten Sprechakt sagt der Großmeister: Wir lösten von uns sterblich weh und heil Hier bist du nicht dir selbst hier ist dein teil: Im kreise fühlen wirken nach dem platze. Hier ist verbannt wer eigensüchtig wolle – (GA XVIII, 63) 20 Michael Landmann, Um die Wissenschaft, in: Breysig/George, Gespräche, S. 65–90, hier: 76; vgl. auch Groppe 1997, S. 215f. 21 Groppe 1997, S. 216. 22 Ebd., S. 45.

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Befragt nach seinem Lebensgang und dem Grund seines Begehrens um Aufnahme sagt der Jüngling: „Ein weib war meines frühen unheils schuld“ (GA XVIII, 65). Hier tritt das explizit Männerbündische zutage, das sich bereits am Handlungsort des Klosters zeigt. Zu Beginn des Jahres 1909 ist dieses Weihespiel mehrfach mit verteilten Rollen und unter Beteiligung StGs – der den Großmeister sprach – in Lichterfelde aufgeführt worden. Im selben Jahr lieferten Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters das theoretische Konzept für die neue Organisationsform.

4.8.

Kulturkritik II: Der Binnendiskurs: Gundolf und Wolters

Sowohl Gundolfs Gefolgschaft und Jüngertum als auch Wolters’ Herrschaft und Dienst sind programmatische Texte, die als Beschreibungen der idealtypischen inneren Struktur des Kreises zu verstehen sind. Gundolfs Aufsatz erschien zuerst 1909 im dritten Ausleseband der BfdK und erst im Februar 1910 in der verspätet ausgelieferten achten Folge der BfdK. Er geht von der Beobachtung aus, dass der Gegenwart „gestalt und begriff des ,jüngers‘ fremd und fast lächerlich“23 geworden seien. Statt dem Fetisch ,Persönlichkeit‘ nachzujagen, empfiehlt er die Umschau nach einem Meister, dem man „diener oder jünger sein“24 könne. Gundolf nimmt im Weiteren eine Differenzierung innerhalb einer möglichen Gefolgschaft vor. Er unterscheidet drei Typen: die Gecken, die Pfaffen und die echten Jünger. Für Gundolf sind die ersten beiden Typen nicht rein negativ, er deutete ihre Funktion sozusagen strategisch. Die Gecken „bereiten die luft zum schwirren der geschosse und leisten ohne auftrag arbeit die der echte ruhige schreiter · der glaubende und wirkende nie auf sich nehmen darf.“25 Der Eifer der Pfaffen „zwingt auch den führer zu verdichtung oder zum gegenstoss · er bedarf ihrer um den heiligen krieg zu entzünden.“26 Den dritten Typus charakterisiert Gundolf folgendermaßen: Wem der führer nur die sache vertritt der hat ihn nicht begriffen: wem er nur eine person ist der kann ihm nicht dienen. Wessen sehnsucht nach dem Ewigen in diesem sterblichen menschen und dem wort das er bringt erfüllt wird · wer in ihm gränzenlosen gehalt begränzte gestalt werden sieht und wem dieser meister unersetzbar ist der darf sich Jünger nennen. Er ist an ihn geknüpft · denn der inhalt seiner seele wird kein andres sinnbild finden. […] Nicht nachahmung ist die pflicht der jünger: ihr stolz ist dass der meister einzig ist. Seine bilder sollen sie nicht machen · sondern sein werk sein · nicht seine erstarrten züge und gebärden aufstellen und herumtragen sondern sein blut und seinen hauch […]. Wo sie die Notwendigkeit erkennen da löschen sie gern ihr Ich aus und freuen sich brennstoff zu sein für die höhere flamme.27

In dieser Konzeption beziehen die Jünger ihre Daseinsberechtigung aus dem Status, Attribute des Meisters zu sein. Ihre geistige Formbarkeit qualifizierte sie für die Aufgabe, als leibhaftige Schöpfungen sein Werk zu beglaubigen und mit ihrem Leben dafür 23 Gundolf, Gefolgschaft und Jüngertum, S. 114. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 116. 27 Ebd., S. 116f.

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einzustehen. In einem wohl 1909 entstandenen Gedicht aus dem Stern des Bundes heißt es bündig: „Neugestaltet umgeboren / Wird hier jeder“ (VIII, 83). Die verpflichtende Orientierung an einer vom ,Meister‘, d. h. StG selbst verkörperten Lebensnorm, lässt sich mit Rainer Kolk als Prinzip „einer personalistischen Ethik“28 bezeichnen. Gundolf schließt den Gedanken mit einem aufschlussreichen Vergleich: Sie sollen wissen dass sie nur stoff und mittel sind und sollen wieder opfern lernen. Verlacht man sie aber um ihrer wenigkeit willen: so können sie des obersten sinnbilds sich erinnern: von Christi jüngern war keiner ein genius und ausser Judas keiner im heutigen verstand eine persönlichkeit · aber weil sie – arme fischer – treu und voll dienst · glaube und liebe waren · […] rinnt ihr blut mit in der grossen Liebesquelle.29

Das Verhältnis von Meister und Jünger wird hier in ein religiöses Licht gerückt und verlangt somit auch eine Art Glaubensentscheidung. Den Aspekt der Herrschaft, der bei Gundolf nur implizit thematisiert wird, rückte Friedrich Wolters in seiner Schrift Herrschaft und Dienst, die 1909 als Opus 1 von Lechters Einhorn-Presse erschien, in den Mittelpunkt. Wolters griff hier auf Kategorien zurück, die er im Jahr zuvor in seinem Aufsatz Über die theoretische Begründung des Absolutismus im siebzehnten Jahrhundert in der Schmoller-Festschrift entwickelt hatte.30 In Herrschaft und Dienst tritt unverhohlen zutage, dass das beschriebene Modell sozusagen am lebenden Objekt, an StG gewonnen und auf seine Selbstdeutung zugeschnitten worden war. Das einleitende Kapitel entwirft das Bild eines „Geistigen Reiches“, das sich in der Formung von Natur und Seele manifestiert und latent vorhanden, in seiner Erscheinungsweise aber historischem Wandel unterworfen ist. Der Haupt- und Mittelteil befasst sich mit dem Herrscher als demjenigen, der „die Geistige Tat vollbringt“,31 wobei geistige Tat als „bildwerdung des blutes durch den geist“32 bestimmt wird. Der Herrscher erhält auf diese Weise überpersönliche Züge, die dadurch unterstrichen werden, dass Wolters die Dichtung in die Nähe des Sakralen rückt: „Es erscheint also das innere gesicht in der sprache durch die dichterische form in unauflöslicher dreieinigkeit.“33 Wolters eigene Sprache gleicht sich dem an. Sie kann nur mitvollzogen, gläubig und rauschhaft aufgenommen werden wie ein mystisches Gebet. Sie ist nicht an verstandesmäßigen, sondern an ästhetischen Kriterien orientiert. Im Kapitel „Der Dienst“ unterscheidet Wolters die Stufen der Ehrfurcht, der Verehrung und der Selbsthingabe. Ihnen folgt, als vierte und letzte Stufe des Dienstes, die Einung, d. h. der Eintritt „in einen gültigen kreis des daseins“34 und dessen kultische Manifestation im einheitlichen Willen und Tun. Wolters versäumt nicht, darauf hinzuweisen, dass der Herrscher im Geistigen Reich „selber das reinste urbild des Dienenden [sei], indem er das göttliche feuer, das in ihm brennt, zum stern seines himmels macht“.35 Auch in Herrschaft und Dienst figuriert Maximin als dieses „leibgewordene 28 Kolk 1998, S. 161. 29 Gundolf, Gefolgschaft und Jüngertum, S. 118. 30 Vgl. Groppe 1997, S. 229. 31 Wolters, Herrschaft und Dienst, S. 17. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 20. 34 Ebd., S. 66. 35 Ebd., S. 65.

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Göttliche“,36 für das „der Erste der Dienenden […] den Mythos schafft.“37 Dieser künstlich geschaffene Mythos ist gewissermaßen die vorgeschobenste ,Position‘, die der negativ gezeichneten Gegenwart entgegengehalten wird. Die Schrift von Wolters stellt damit auf ihre Weise ebenso ein Vorspiel zu den Jahrbüchern dar wie der Aufsatz Gefolgschaft und Jüngertum von Gundolf. Beide Texte haben von ihrem Publikationscharakter her noch einen exklusiven Status. Die Wendung nur an Eingeweihte (und nur an Knaben und Männer) kommt auch darin zum Ausdruck, dass Wolters trotz der zahlreichen Zitate aus StGs Werken im Mittelteil dessen Namen nicht ein Mal nennt. In seiner George-Biographie hat Thomas Karlauf Gundolfs Aufsatz in scharfer Opposition zu der Schrift von Wolters gesehen und die Ausführungen über „die wortgläubigen eiferer“ als implizite Kritik an der Begeisterungsfähigkeit des Niederschönhausener Kreises gedeutet.38 Es mag zutreffen, dass in Gundolf zu Beginn des Jahres 1909, während er sich in Darmstadt an der Shakespeare-Übersetzung abmühte und StG in Berlin über Wochen Abend für Abend in Lichterfelde verbrachte, eine Art Eifersucht aufflackerte, aber sein Aufsatz trägt eher den Charakter einer modellhaften Beschreibung der Wirkungsgeschichte einer attraktiven neuen Botschaft. Dass die spätere Entwicklung von Wolters zu einer dogmatischen Position geführt hat, wie Gundolf sie hier im Bild des ,Pfaffen‘ entwirft, ist sicher richtig, aber seine Ablehnung der ,Blättergeschichte‘ als Ausdruck des „Woltersschen Schranzen- und Pfaffentum[s]“ (G/G, 390) auf die Konstitutionsphase des von Gundolf und Wolters gemeinsam herausgegebenen Jahrbuchs für die geistige Bewegung zurückzuprojizieren, erscheint unhaltbar. Dagegen sprechen auch die dokumentierten wechselseitigen Reaktionen. StG brachte Ende Januar 1909 das Manuskript von Gundolfs Aufsatz Gefolgschaft und Jüngertum zu seinen abendlichen Treffen mit Vallentin und Wolters mit, die der Text „geradezu enthusiasmierte mit seiner resoluten Angrifflichkeit“ (BV, 38). Gundolf seinerseits erhielt im April das Manuskript von Wolters’ Herrschafts-Kapitel und antwortete dem Verfasser am 1. Mai, er „bewundere gleichermassen die durchdringende einsicht und den hingebenden glauben“ (FG/W, 38) seiner Ausführungen. Er wiederholte sein hohes Lob drei Wochen später nach Erhalt des Dienst-Kapitels, das er „schlechthin endgültig und ,rund‘“ (FG/W, 40) nennt. Die vollkommene Übereinstimmung Gundolfs mit den Positionen von Wolters dokumentiert sich in einem Brief, den er am 3. März 1910 an Wiesi de Haan, die Schwägerin von Karl Wolfskehl, in freudiger Erwartung des wenige Tage später erfolgenden Erscheinens des ersten Bandes des Jahrbuchs für die geistige Bewegung schrieb. Der Brief ist ein einziger Panegyrikus auf Wolters: Wolters war hier . . Ich bin doch ganz erstaunt über dieses Wunder von Mensch: wir haben alle eine bedingungslose Verehrung für ihn, er weiss, wagt, wirkt alles, was ein geistiger Deutscher unsrer Tage Höchstes wirken kann, jedesmal wenn man ihn wiedersieht, verwandelt und gewaltiger. Seine Sätze im Jahrbuch sind das tiefste Wort des Zeitalters […]. Sie

36 Ebd., S. 46. 37 Ebd. 38 Karlauf 2007, S. 436f. Karlaufs These geht auf die ausführliche Diskussion bei Groppe 1997, Kap. 6 u. 7, bes. S. 243–247 u. 310–314, zurück.

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sehen, ich bin voll von Wolters – er hat mir neue Hoffnungen und Aussichten eröffnet, neue Wirklichkeiten hingestellt […]. (G/G, 200f.)

Der Ton des 2009 veröffentlichten Briefwechsels zwischen Friedrich Gundolf und Wolters, in dem von Beginn an die beiderseitige Anrede ,Lieber Freund‘ benutzt wird, unterstreicht die menschliche und geistige Nähe der zwei in ihrem Naturell gegenstrebigen Kreismitglieder. Die folgenden Jahre des gemeinsamen Engagements für das Jahrbuch bezeugen die Übereinstimmung ihrer Intentionen.

4.9.

Kulturkritik III: Das Jahrbuch für die geistige Bewegung

Die Idee, sich mit den kulturkritischen Positionen in einer programmatischen Form an die Öffentlichkeit zu wenden und direkt auf die kulturelle Situation in Deutschland einzuwirken, realisierte StG mit dem von ihm initiierten Jahrbuch für die geistige Bewegung, das in drei Bänden zwischen dem Februar 1910 und dem November 1911 erschien. Der Gedanke, ein kritisches Periodikum herauszugeben, war bereits im Jahre 1895 im Briefwechsel mit Hofmannsthal aufgetaucht (G/H, 79). Als StG im Juni 1904 zu Besuch bei seinem holländischen Freund und Dichterkollegen Albert Verwey war, erhielt die Idee einer eigenen kritischen Zeitschrift neue Nahrung. Verwey berichtete StG von seiner Absicht, an die Stelle der seit 1895 von ihm herausgegebenen Tweemaandelijk Tijdschrift ein anderes Periodikum treten zu lassen, das den Namen De beweging tragen sollte. StG war von dem Titel begeistert und übernahm ihn für das Jahrbuch für die geistige Bewegung, das formell von Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters herausgegeben wurde. StG tritt zwar als Autor in den drei Jahrbüchern kein Mal in Erscheinung, aber es ist klar, dass er hier spricht, dass er sich bloß „durch getrennte Medien […] an die Nation wendet“.39 Diese Konzeption folgt einem Gedanken aus der fünften Folge der BfdK, wo es heißt: „der urgeist wirkt nicht durch seine lehre sondern durch seinen rhythmus: die lehre machen die jünger.“40 Der Titel des Jahrbuchs bedarf insofern noch einer Erläuterung, als im kulturkritischen Diskurs dem Begriff der ,Bewegung‘ eine zentrale Funktion zur Kennzeichnung des Modernisierungsprozesses zugeschrieben wurde. Ist es da nicht ein Widerspruch, wenn sich die Kritiker der Moderne selber unter dem Etikett der ,Bewegung‘ versammeln? Es ist wohl so, dass durch diese Selbstapostrophierung die Zugehörigkeit des George-Kreises zur Moderne zutage tritt. Die Moderne-Kritik des George-Kreises trägt selbst moderne Züge, insofern sie einen genuin utopischen Impetus hat. Die im Jahrbuch entfalteten Positionen gehören zu jenem Ensemble von Orientierungsversuchen und Suchbewegungen in der Moderne, die zwar dem von Aufklärung und Liberalismus geprägten mainstream opponieren, dabei aber so tief von dem für die Moderne typischen Voluntarismus und Ästhetizismus durchdrungen sind, daß von Konservatismus im historisch-spezifischen Sinne keine Rede mehr sein kann.41 39 Ernst Bertram, Das ,Jahrbuch für die geistige Bewegung‘ (Stefan George II), in: Mitteilungen der Literarhistorischen Gesellschaft Bonn 8/1913, 1, S. 3–23, hier: 6. 40 BfdK 5/1900/01, S. 1. 41 Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, 2., durchges. u. korr. Aufl., Darmstadt 1995, S. 5.

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Die entschiedene Betonung des Moments der Bewegung und der notwendigen ,Umgeburt‘ des Einzelnen legen es nahe, den George-Kreis in den größeren ideologiegeschichtlichen Kontext der Konservativen Revolution zu rücken.42 Es sei daran erinnert, dass Hofmannsthal in seiner Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation von 1926 bei Einführung des Begriffs der Konservativen Revolution unausgesprochen StGs Porträt entworfen hat.43 Wie durchdacht die Konzeption der Jahrbücher für die geistige Bewegung ist, zeigt nicht allein der skizzierte innere Aufbau des ersten, sondern auch die geschickte Verzahnung untereinander. Vergleicht man die Inhaltsverzeichnisse, so zeigt sich, dass sie eine feste Struktur haben. Der Eröffnungsbeitrag sollte jeweils von Wolfskehl stammen, der zweite Beitrag jeweils von Friedrich Gundolf, der dritte von Berthold Vallentin, der vierte von Kurt Hildebrandt und der letzte von Friedrich Wolters. In dem Zwischenraum zwischen Hildebrandt und Wolters wurden die Beiträge von wechselnden Mitarbeitern platziert.44 So folgt schon der äußerliche Aufbau der Jahrbücher einer Kreisstruktur, einer Kreisstruktur im doppelten Sinn. Nicht nur die Form des Kreises kehrt als Ordnungssystem wieder, die Reihenfolge der Beiträge dürfte zugleich etwas über die innere Hierarchie des Kreises aussagen. Wolfskehl wird als gleichaltriger Freund StGs sozusagen als Frontispiz vorangestellt, die Herausgeber und ,Chefideologen‘ Gundolf und Wolters umschließen den Kreis, innerhalb dessen Vallentin als der ältere Freund Hildebrandt vorangeht. Allerdings treffen diese Überlegungen nur auf die ersten beiden Jahrbücher und die Ankündigung des dritten zu. Als das dritte erscheint, sind die Texte etwas anders angeordnet. Mit diesem Projekt trat der Kreis als erkennbare Einheit, die auf StG als ihr geistiges Zentrum verpflichtet war, an die Öffentlichkeit. Wenn irgendwann, dann gilt für diese Phase, dass der George-Kreis ein weltanschaulich annähernd monolithisches Gepräge hatte. Nicht zu Unrecht betont Wolters, dass es sich beim Jahrbuch für die geistige Bewegung „um eine Lebensgemeinschaft und nicht um eine ,Zeitschrift‘ handelt“ (FG/W, 73).

42 Ich verwende den Begriff ,Konservative Revolution‘ hier im Sinne von Rolf Peter Sieferle zur Beschreibung einer ,weltanschaulichen Haltung‘ (Rolf Peter Sieferle, Die Konservative Revolution und das ,Dritte Reich‘, in: Dietrich Harth/Jan Assmann [Hrsg.], Revolution und Mythos, Frankfurt/M. 1992, S. 178–205). Sieferles Definitionen von ,konservativ‘ als „Orientierung auf eine ewige, unveränderliche Wirklichkeit des Lebens“ und von ,revolutionär‘ als Willen, „einen radikalen Bruch mit einer schlechten Wirklichkeit vorzunehmen“ (ebd., S. 193), treffen auf Fundament und (utopische) Intention der Kulturkritik StGs zu. Trotz bestehender Bedenken gegenüber der Verwendung des Begriffs ,Konservative Revolution‘ wegen seiner fehlenden Kohärenz spricht die Tatsache, dass er als „zeitgenössische Selbstbezeichnung einer politisch-ideologischen Position“ (ebd., S. 181) diente, für seine Beibehaltung. Gerade weil der Begriff ,Konservative Revolution‘ keine analytische Trennschärfe besitzt, hat er den Vorzug, ein diffuses mentalitätsgeschichtliches Syndrom unter eine übergreifende Perspektive zu bringen. 43 Vgl. Breuer 1995, S. 145ff. 44 Wenn man von den beiden Beiträgen Ernst Gundolfs absieht, dessen Bergson-Kritik im dritten Band des Jahrbuchs nicht nur der umfangreichste in den Jahrbüchern veröffentlichte Text ist, sondern zudem auf StGs nachdrücklichen Wunsch geschrieben wurde (vgl. dazu Jürgen Egyptien, Versuch über Ernst Gundolf. Beobachtungen zur Kunst des Verschwindens, in: Ernst Gundolf, Werke, S. 16), standen die übrigen Beiträger Paul Thiersch (Jb 2/1911 u. 3/1912) und Erich Kahler (Jb 3/1912) eher an der Peripherie bzw. wie Hugo Eick (Jb 2/1911) ganz außerhalb des Kreises.

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Die Präambel schlug mit der Wendung gegen das Interessante und Reizvolle – zwei Kategorien der literarischen Moderne – deutlich vernehmbare antimodernistische Töne an und setzte altdeutsche Tugenden dagegen. Eröffnet wurde das erste Jahrbuch 1910 von Karl Wolfskehls Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur, einem literaturgeschichtlichen Text, der vor allem das Autochthone von StGs Erscheinung behauptet. Wolfskehl bestreitet die Deutung von StGs Kunst als Reaktion auf den Naturalismus und ihre Abhängigkeit vom französischen Symbolismus. Er unterstreicht die utopische Kraft des George-Kreises, indem er ihn erstmals als ,Geheimes Deutschland‘ apostrophiert und die Erwartung äußert, dass die Deutschen sich im Gegensatz zu allen übrigen Völkern Europas noch erfüllen könnten. Wolters stellt in seinem das erste Jahrbuch beschließenden Aufsatz Richtlinien der Idee des ,Geheimen Deutschlands‘ diejenige des esoterischen Kreises an die Seite. Nimmt man die ästhetische Qualität des Kreises hinzu, so erkennt man, dass dieses ,Geheime Deutschland‘ das Modell eines ,schönen Staates‘ ist. Wolters spricht dem politischen Staat, der Kirche und der Wissenschaft jede Fähigkeit zur kulturellen Erneuerung ab, da eine solche immer nur das Werk von „gemeinschaften von begeisterten“45 gewesen sei. Der zentrale positive Gegenbegriff heißt ,Gestalt‘. Gestalt ist auch der das zweite Jahrbuch wiederum programmatisch abschließende Beitrag von Wolters überschrieben. Er besitzt denselben hymnischen Stil wie Herrschaft und Dienst, womit er sich zum Teil überschneidet. ,Gestalt‘ ist für Wolters eine „urseinsform“,46 die er als „eine in sich ruhende einheit lebendiger bewegungen“47 definiert. Die Gestaltbildung geht von einem schöpferischen Kern, einer Mitte aus, sie ist sozusagen das Sichtbarwerden der schaffenden Kraft, durch die hindurch das Göttliche selbst wirkt. Kolk definiert den Gestalt-Begriff zutreffend „als Synonym für substantielle Ganzheit von metaphysischer Dignität.“48 Friedrich Gundolf übertrug in seinem Aufsatz Vorbilder die Ausführungen von Wolters über die ästhetische Gestalt auf das Gebiet der Geschichte. Hier wird der „grosse mensch“ als schöpferischer Gestalter, letztlich als Künstler vorgestellt. Konsequent greift Gundolf zu seiner angemessenen Beschreibung auf einen Terminus zurück, den er selbst in einem ästhetischen Kontext benutzt hatte: den des ,mythus‘. Im Begriff „mythische bildwerdung“49 fasst Gundolf den Gattungsbegriff ,mythus‘ mit der Kategorie des ,Bildes‘ zusammen, die er in seinem Aufsatz Das Bild Georges50 als Pendant zu dem Werkideal des Gebildes als Dichterideal entwickelt hatte. Der „grosse mensch“ ist für Gundolf der Hüter des „gesamtmenschlichen“ im geschichtlichen Prozess, „die verkörperung des unsterblichen lebens in der konkreten zeit, die immer neue leibwerdung göttlicher kraft“, im Unterschied zum ,allgemeinmenschlichen‘ als einer „abstraktion, die begrifflich aus tausend wirklichen fällen ein gemeinsames herauslöst“ und auf der „grundsätzlichen trennung von leib und geist, ewigem und zeitlichem“ beruht.51

45 Jb 1/1910, S. 138. 46 Jb 2/1911, S. 144. 47 Ebd., S. 145. 48 Kolk 1998, S. 378. 49 Jb 3/1912, S. 6. 50 Vgl. Jb 1/1910, S. 19–48. 51 Jb 3/1912, S. 10f.

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Auf dieser Gegenüberstellung basiert auch der Aufsatz Mensch und Gattung von Wolters, der das dritte Jahrbuch beschließt. Mit der Kritik an der Chimäre eines Allgemeinmenschlichen bewegt Wolters sich wie Gundolf in den von Nietzsche vorgezeichneten Bahnen. Der modernen Nivellierung setzt er als Maßstab den „schaffenden Mann“ als den besonderen Menschen entgegen, der durch seine Schöpferkraft legitimiert ist, seiner Umgebung und Zeit sein Gepräge aufzudrücken. Zugleich unternimmt er den folgenschweren Gedankenschritt, dieses Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten, das man wohlwollend noch als symbiotisch, als Form einverständiger Bindung interpretieren könnte, auf das Verhältnis von Staaten untereinander zu übertragen: Im staate also […] muss es herrschende männer […], auf erden muss es herrschende völker, nicht nur vertreter des gleichgewichtes geben. Staaten und völker, die keine herrschenden, schaffenden männer mehr erzeugen, sind sterbende gebilde und ein lebenskräftiger nachbar tut recht, die entarteten aufzulösen und seine reste zu knechten.52

Wo Wolters konkreter wird, tritt die eigene ideologische Position deutlich hervor, so etwa bei der Bestimmung der Rolle der Frau. Er zeichnet ein perhorreszierendes Bild der „lady“ – wohl nicht zufällig den englischen Begriff wählend –, die die natürliche „herr-gewalt“ des Mannes breche und im Namen „der fortgeschrittensten kultur“53 ihn ganz zu ihrem Genuss und Gebrauch umforme. Der Aufsatz wechselt an dieser Stelle den sprachlichen Gestus. Wolters verlässt das rhetorische Terrain der Schriftsprache und geht zu einer oratorischen Sprechhaltung über. Die letzten Seiten seines Textes beginnen mit den Worten: „An euch also, knaben und jünglinge, ergeht unser ruf, soweit in euch noch die reinen feuer des lebens brennen.“54 Die Absicht der Rede zielt auf die Etablierung einer männlichen Gemeinschaft und richtet sich gegen die weibliche Verweichlichung, die Wolters als „untergang der männlichen welt“55 interpretiert. Seine Rede reißt ihn zu einer fanatischen Verpflichtung der Angerufenen auf den „grossen Mann“ hin. Wolters schrei(b)t: Nur dem lebendigen gebührt euer opfer, dem manne, der männlichen gemeinschaft […]: durch das opfer an den freund, den führer, den herrscher nimmt euer bester wille teil am stolz eines abgegrenzten sonderen seins, erwächst euch mit dem inneren recht die innere pflicht des kreises, mit der gebärde des leiblichen adels das gesetz der geistigen tat.56

Wirft man von diesem Aufsatz her einen Rückblick auf die Einleitung der Herausgeber, so wird deutlich, dass dieser zwar eine extreme Position markiert, aber nur die äußersten Konsequenzen aus den skizzierten Haltungen zieht. Die Aufsätze der verschiedenen Beiträger stehen durchaus in einem organischen Verhältnis zueinander und unterscheiden sich nur in Temperament und Stil. Der assertorische gedankliche Gestus, mit dem sie die kulturelle Neugeburt Deutschlands an die Verpflichtung auf die von StGs Person und Werk gesetzten Werte knüpfen, lässt sie als „monologisierende Manifeste einer radikal enthistorisierten Geschichtsphilosophie“57 erscheinen, und ihre aggressive Rhetorik macht sie zu Zeugnissen desselben Fanatismus. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 150. 54 Ebd., S. 151. 55 Ebd., S. 153. 56 Ebd. 57 Kolk 1998, S. 382.

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4.10. Vermehrung der ,Pfalzen‘: Heidelberg und Basel In der Jahrbuch-Zeit wurden die Beiträge in der Runde vorgelesen und leidenschaftlich diskutiert. Zur Kerngruppe dieser Zusammenkünfte gehörten Wolters, Vallentin, Hildebrandt, Robert Boehringer, Ernst und Friedrich Gundolf, gelegentlich auch Ludwig Thormaehlen, der 1909 durch Vallentin zu StG gekommen war, und Ernst Morwitz. Lesungen von Gedichten StGs und anderer, an denen auch Diana Vallentin und Erika Schwartzkopff (ab Anfang 1915 Erika Wolters) aktiv teilnahmen, flankierten diese Treffen. In Berlin hatten sie ihren Schwerpunkt bei Berthold und Diana Vallentin in Charlottenburg und bei Kurt Hildebrandt in Dalldorf, seltener fanden sie bei Friedrich Wolters in Steglitz, bei Paul und Fanny Thiersch in Lichterfelde und 1913 in der Wohnung von Ernst Morwitz in der Geisbergstraße statt. Aber auch in München wurden regelmäßig Lesungen und Diskussionen im Zeichen der JahrbuchOffensive durchgeführt. Als prädestinierter Ort diente dafür das sogenannte ,Kugelzimmer‘ in der Römerstraße 16, wohin Wolfskehls Anfang 1909 umgezogen waren. In den Jahren ab 1901 hatte StG in Wolfskehls Wohnung in der Leopoldstraße ein separates Zimmer benutzt, in das während der Jours privilegierte Gäste bestellt werden konnten. Das ab Ende 1909 verfügbare Kugelzimmer war ganz nach StGs Vorstellung gestaltet und bot den Rahmen für abendliche Lesungen in festlichen Gewändern. Pfingsten 1913 war das Kugelzimmer der Schauplatz des sogenannten ,großen Symposiums‘, bei dem StG Gedichte aus dem späteren Stern des Bundes vortrug, der zuerst „Lieder an die heilige Schar“ heißen sollte. Die Besonderheit dieses Symposiums bestand darin, dass StG selten einen so großen Personenkreis um sich versammelte. Er praktizierte in der Regel das für Sekten typische Prinzip der ,Segmentation‘,58 nach dem die direkte personale Bindung zwischen ,Meister‘ und Jünger Priorität vor allen Querverbindungen der Jünger untereinander besaß. Wenn das Pfingsttreffen 1913 auch nicht die „vollzahl“ zusammenführte, so vermittelte es doch das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein, das das einzelne Dasein steigert. Teilnehmer waren Ernst und Friedrich Gundolf, Robert Boehringer, Friedrich Wolters, Berthold Vallentin, Ludwig Thormaehlen, Ernst Morwitz, Karl Wolfskehl und Ernst Glöckner, den StG erst fünf Wochen zuvor als Lebenspartner von Ernst Bertram in München kennengelernt und mit dem er kurz darauf bereits eine Reise nach Bamberg und zum Schloss Banz unternommen hatte. Auf dem Pfingsttreffen wurde Ernst Glöckner dem Kreis der Freunde vorgestellt. Durch Friedrich Gundolfs Habilitation im Frühjahr 1911 trat für StG mit Heidelberg ein weiterer wichtiger Ort der Kreisaktivität neben München und Berlin. Gundolfs akademische Karriere eröffnete zwei neue Perspektiven. Auf der einen Seite bot der Beruf des Hochschullehrers die Möglichkeit, nach jungen Männern Ausschau zu halten, die sich durch musische Sensibilität, einen wohlgestalteten Körper, Schönheitssinn und geistige Bildsamkeit für eine Aufnahme in den George-Kreis empfahlen. StG richtete an die wachsende Zahl von Universitätslehrern in seinem näheren Umfeld die Erwartung, dichterischen Nachwuchs zu rekrutieren. Es kam darauf an, die ausgewählten Kandidaten an das Werk StGs und die als ,unbedingt‘ erachtete Lite-

58 Vgl. Breuer 1995, S. 79.

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ratur59 heranzuführen und ihre Eignung für eine direkte Kontaktaufnahme mit StG zu prüfen. Im positiven Falle wurde ein Treffen mit StG arrangiert, bei dem die Rezitation von Gedichten StGs durch den Aspiranten den ersten Schritt bildete. Wurde dieser Test bestanden, schlossen sich daran intensive Einzelgespräche, in denen StG für den neuen Jünger eine (Lebens-)Aufgabe entwickelte.60 Die andere Perspektive bestand in einem Zugewinn an Einfluss auf das geistige Leben in Deutschland. Nicht wenige Angehörige der George-Kreise begaben sich auf einen Marsch durch die Institutionen, der die deutsche Universität in der Weimarer Republik, auch über die geisteswissenschaftlichen Kernfächer hinaus, zu einem relevanten Aktionsfeld werden ließ.61 Friedrich Gundolf machte bald von beiden Möglichkeiten Gebrauch. Seine erweiterte Habilitationsschrift Shakespeare und der deutsche Geist galt ihm „neben Wolters ,Herrschaft und Dienst‘ als das Hauptpronunziamento theoretischer ,Reichs‘natur“, mit dem er „dem ,Staat‘ einen der grössten Dienste geleistet habe, der ihm geleistet werden konnte“ (G/G, 206f.). Seine Briefe vom Oktober 1910 sind im Binnendiskurs des George-Kreises aufschlussreiche Dokumente für den semantischen Austauschvorgang zwischen den Begriffen ,Reich‘ und ,Staat‘. Wolters hatte Herrschaft und Dienst mit dem Kapitel „Das Reich“ begonnen und durchgehend vom „geistigen Reich“ gesprochen. Gundolf übernahm die Bedeutung des Begriffs, gab ihm aber durch den synonymen Gebrauch des Begriffs ,Staat‘ eine Wendung nach außen. Der Gebrauch der Anführungszeichen indiziert, dass diese Termini metaphorisch verwendet wurden und sich ihre kreisinterne Semantik in statu nascendi befand. Entscheidend ist, dass sich in ihnen das begriffliche Streben nach einer „Profilierung gegeninstitutionellen Selbstbewussteins“62 manifestierte. Ende 1913 konnte Gundolf mit Edgar Salin und den Brüdern Wolfgang und Gustav Richard Heyer StG die ersten Studenten zuführen (ES, 16ff.). Sie gehörten zu den Initiatoren einer Aufführung von Shakespeares Wie es euch gefällt auf dem Königsstuhl anlässlich von Gundolfs Geburtstag 1914 und waren zugegen, als StG mit Norbert von Hellingrath, einem Freund Gundolfs, Hölderlin-Gedichte las. Hellingrath hatte 1909 Hölderlins Pindar-Übertragungen und die Hymne „Wie wenn am Feiertage“ entdeckt und in der neunten Folge der BfdK erstveröffentlicht. StG nahm sie 1910 in die zweite Auflage der Anthologie Das Jahrhundert Goethes auf. Salin und die Gebrüder Heyer waren indes nicht die ersten Enkel. Schon 1907 hatte Ernst Morwitz die noch halbwüchsigen Brüder Bernhard und Woldemar von Uxkull-Gyllenband StG erstmals vorgestellt, zu denen sich ebenfalls ab 1913 ein kontinuierlicher Kontakt zu entwickeln begann. Friedrich Gundolf hatte den von StGs Gedichten begeisterten Schüler Herbert Steiner, der seit Anfang 1908 mit ihm im Briefwechsel stand, bereits 1909 zu einer direkten Kontaktaufnahme mit StG motivieren dürfen.63 StG begutachtete den 16-Jährigen im März 1909 in Wien, im Februar 1910 kam Steiner zu einem Gegenbesuch nach München, dann versandete die Beziehung jedoch. 59 Eine Liste der – außer dem Werk StGs – zwei Dutzend als ,unbedingt‘ qualifizierten Titel legte auf StGs Wunsch Ernst Glöckner an; vgl. EG, S. 219. 60 Vgl. II, 6.3. 61 Vgl. dazu allgemein Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, und weiter unten Abschnitt 4.14. 62 Kolk 1998, S. 178. 63 Vgl. Friedrich Gundolf, Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, eingel. u. hrsg. v. Lothar Helbing u. Claus Victor Bock, Amsterdam 1963.

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Für einen der vielversprechendsten Zugänge dieser Jahre vor dem Ersten Weltkrieg sorgte StG mit der Entdeckung des 14-jährigen Percy Gothein selber. Da er Sohn des Kulturhistorikers Eberhard Gothein war, der zusammen mit Alfred Weber und Arthur Salz Gundolfs Habilitation befördert hatte, fiel StG der Zugang ins Hause Gothein nicht schwer. Im Frühjahr 1911 lud er Percy Gothein zu sich nach Bingen ein. Die intensive Beziehung, die sich daraus entwickelte, fand ihren Niederschlag in Gotheins sogenanntem Opus Petri, einem lange als klandestiner Schlüsseltext über den gleichsam intimen Charakter des Meister-Schüler-Verhältnisses dem ,inner circle‘ vorbehaltenen Manuskript.64 Es ist, an die Form eines Bildungsromans angelehnt, Zeugnis einer geistigen Initiation. Ebenfalls noch in die unmittelbare Vorkriegszeit fiel eine Bekanntschaft, die für StG weitreichende Folgen hatte und der Physiognomie des Kreises eine neue Nuance hinzufügte. Es war der erste Besuch bei Julius und Edith Landmann, die Ende 1899 bei StGs Lesung in einer Lehrveranstaltung von Max Dessoir im Auditorium gesessen hatte. StG war dem Ehepaar bereits 1908 im Atelier von Lechter begegnet, hatte aber zunächst Abstand gehalten, weil er von ihrer Verbindung mit dem ihm verhassten Rudolf Borchardt wusste. Ab StGs erstem Besuch im Januar 1913 am Rheinweg in Basel gehörte das Haus Landmann bis zuletzt zu seinen wichtigsten Anlaufstellen. Edith Landmann war wohl die Frau, die den intensivsten geistigen Austausch mit StG gepflogen hat. Zwar dürfte StG in die Beziehung zu ihr emotional weniger investiert haben als in die ,Jugendliebe‘ zu Ida Coblenz oder in die Freundschaft zu seiner gelegentlichen Berliner Gastgeberin Gertrud Kantorowicz, über die er im Scherz gesagt haben soll, er sehe nicht ein, warum er sie nicht heiraten könne, aber Edith Landmann qualifizierte sich durch ihr fanatisches Eintreten für seine Dichtung und Wertsetzungen in besonderer Weise.65 Ihre Transcendenz des Erkennens erschien 1923 als einziges Buch einer Frau mit Signet im Bondi-Verlag. Mit Edith Landmann und ihrem Wohnort Basel gewann der George-Kreis einen außerhalb Deutschlands gelegenen Stützpunkt, der sich bald als höchst vorteilhaft erweisen sollte. StG hielt sich dort nämlich im Sommer 1914 auf und hob gegenüber seinen zumeist von der Auguststimmung angesteckten Jüngern die „schöne sachlichkeit“ (G/G, 258) dieses Standorts hervor. Sie kehrt als Blick von höherer Warte am Anfang des „Krieg“-Gedichts wieder: Sie kamen zu dem Siedler auf dem berg: ›Liegst du noch still beim ungeheuren los?‹ Der sprach: dies frösteln war das edelste!. . Was euch erschüttert ist mir lang vertraut · […] Dies sind die flammenzeichen · nicht die kunde. Am streit wie ihr ihn fühlt nehm ich nicht teil. (IX, 22f.)

64 Vgl. die Teilabdrucke in den frühen Jahrgängen des Castrum Peregrini: Percy Gothein, Erste Begegnung mit dem Dichter. Aus einem Erinnerungsbuch, in: CP 1/1951, 1, S. 5–14; ders., Die halkyonischen Tage. Aus einem Erinnerungsbuch, in: CP 3/1953, 11, S. 7–61; ders., Das Seelenfest. Aus einem Erinnerungsbuch, in: CP 5/1955, 21, S. 7–55. 65 Vgl. dazu Egyptien, „Schwester, Huldin, Ritterin“.

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4.11. George-Kreis und Erster Weltkrieg Aus den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs sind Äußerungen StGs überliefert, die eine Ahnung des bevorstehenden Kriegs bezeugen. So berichtet Sabine Lepsius, StG habe auf eine erbarmungslose Weise vom kommenden Krieg „wie von einer Notwendigkeit, die Deutschland aus seiner geistigen Misere retten würde, kurzum wie von etwas Willkommenen“ (SL, 89) gesprochen. Auf einem Gang durch Berlin habe er zu ihr und Gertrud Kantorowicz gesagt, dass all diese Bauten bald in Trümmern liegen würden. Wenn im Stern des Bundes die Verse zu lesen waren: „Ihr sollt das morsche aus dem munde spein / Ihr sollt den dolch im lorbeerstrausse tragen / Gemäss in schritt und klang der nahen Wal“ (VIII, 92), so kann man zumindest nachvollziehen, dass die Mehrzahl der Mitglieder des George-Kreises den Ausbruch des Weltkriegs als Ruf auf diese Walstatt verstanden hat. StG selbst widersprach dieser Deutung. Die nach Kriegsbeginn erfolgenden Ausgaben des Sterns des Bundes ergänzte er um eine Vorrede, in der er ausdrücklich von dieser Lesart Abstand nahm. Sie beginnt mit den Worten: „Um dies werk witterte ein missverständnis […]: der dichter habe statt der entrückenden ferne sich auf das vordergründige geschehen eingelassen ja ein brevier fast volksgültiger art schaffen wollen . . besonders für die jugend auf den Kampf-feldern“ (VIII, 5). Allerdings räumt StG ein, dass „die sofort nach erscheinen sich überstürzenden welt-ereignisse die gemüter auch der weiteren schichten“ für dieses „geheimbuch“ empfänglicher gemacht hätten. Noch im März 1916 sprach StG über „die schwere Gefährdung der vielen Kriegsfreiwilligen, die dieses Geheimbuch missverstehend als Kriegsdichtung mit sich führten“ und der irrigen Ansicht seien, „dieses Gemetzel [sei] der heilige Krieg“ (ES, 28). Dennoch identifizierten selbst die StG nächststehenden Kreismitglieder wie Friedrich Gundolf, Wolters, Wolfskehl, Vallentin, Thormaehlen und Hildebrandt teilweise noch bis 1916 den prophezeiten heiligen Krieg mit dem Ersten Weltkrieg. In der Kriegsbegeisterung waren sie ununterscheidbar von den deutschen Intellektuellen geworden, die sie bislang so energisch attackiert hatten und die der nationale Fanatismus nicht weniger ergriff. Mit ihnen teilten sie die kulturphilosophische Interpretation des Weltkriegs auf der Folie von Fichtes Reden an die deutsche Nation, die ihn als Chance erscheinen ließ, mit dem Sieg des deutschen Geistes die kulturelle Wiedergeburt Europas herbeizuführen. Gundolf erklärte Wolfskehl am 2. August 1914 in München: „Es ist unser Krieg, der Krieg wider das Gesindel“66 und flocht in mehrere Briefe Verse aus dem Stern des Bundes ein, woraus hervorgeht, wie sehr er die historischen Ereignisse in die Nähe der Prophezeiungen in StGs Dichtung rückte. Am 30. August etwa schrieb er: Ich lebe und webe in der Grösse der deutschen Taten die ihresgleichen nicht in der Welt haben und ein neues Weltalter heraufführen müssen. Aber was auch folgen mag (selbst wenns Barbarei wäre), schon dieser Augustmonat selbst ist eine Erfüllung, den grössten deutschen Zeiten ebenbürtig über alle Hoffnungen hinaus – ,die Tat ist aufgerauscht in irdischem jubel‘ die Aufgabe des deutschen geistes ist ungeheuer gesteigert mit dieser Bewährung deutscher Kraft […]. (G/G, 258f.) 66 Wolfskehl und Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897–1946, hrsg. v. Mea NijlandVerwey, Heidelberg 1968, S. 133.

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Auch Wolters und Wolfskehl sahen im Weltkrieg die Erfüllung des im Stern des Bundes Prophezeiten. Für StG ging es schon bald darum, zu einem Waffenstillstand zu kommen, damit der Substanzverlust an deutscher Jugend, mit der er sein zukünftiges geistiges Reich erbauen wollte, möglichst gering blieb. In seiner ersten Antwort auf Gundolfs seit Kriegsbeginn drängende Briefe schrieb er: „ich rufe euch allen zu: ob es gut oder schlecht ausgeht: – das schwierigste kommt erst hintennach“ (G/G, 258). Wo StG zu einem Zeitpunkt, da der Krieg längst in die Phase der Materialschlachten und zähen Stellungskämpfe eingetreten war, noch auf eine metaphysische Deutung des Krieges stieß, da reagierte er allergisch. Edgar Salin berichtet, StG habe mit heftigem Zorn seine Schrift Volk und Heer verworfen, in der er an dem Gedanken der ,Bildwerdung‘ des deutschen Volkes im Krieg festgehalten hatte.67 StG war der Überzeugung, dass der Kriegsdienst eine Pflicht sei, der sich zu entziehen seinen Anhängern nicht gezieme. Entsprechend entrichtete auch der George-Kreis einen hohen Blutzoll. Am 20.2.1915 fiel Heinrich Friedemann, der 1911 über Friedrich Gundolf Anschluss an StG gesucht hatte und der Verfasser des von StG sehr geschätzten ersten Platon-Buchs des Kreises war. Im selben Jahr wurden Percy Gothein und Ludwig Thormaehlen verwundet, später auch Erich Boehringer und Hans Bernhard von Schweinitz, ein Kommilitone von Thormaehlen, der seit Herbst 1913 an Zusammenkünften in Berlin teilgenommen hatte. Am 14.12.1916 starb Norbert von Hellingrath vor Verdun. Im Oktober 1917 wurde Wolfgang Heyer vermisst und wenig später für tot erklärt, im Mai 1918 erlitt Balduin Waldhausen, ein jüngerer Freund von Friedrich Wolters, eine Verletzung mit späterer Todesfolge. Ihm widmete StG noch zu dessen Lebzeiten einen der Sprüche an die Toten, die in der letzten Folge der BfdK 1919 erschienen. Der schwerste Schlag für StG war indes der Doppelsuizid des Freundespaares Adalbert Cohrs und Bernhard von Uxkull-Gyllenband am 28.7.1918 in der Nähe der holländischen Grenze, wo ihre versuchte Desertion scheiterte.68 Cohrs, der sich mit dem Morwitz-Zögling Bernhard von Uxkull-Gyllenband angefreundet hatte, war im Herbst 1915 in persönliche Verbindung zu StG getreten. StG, der sich bei der Todesnachricht fühlte, als seien ihm „beide Beine abgeschossen“ (EL, 187), verarbeitete dieses Ereignis in dem Zwiegespräch „Victor * Adalbert“ (IX, 94–96). Durch die Parallelisierung ihres Schicksals mit dem der Dioskuren unterzog StG „die schlimmste menschliche Katastrophe, die er in den vier Jahren des Krieges erleben musste“,69 einer heroisierenden und mythologisierenden Deutung. Nur wenig später vollzog Walter Wenghöfer ebenfalls die Selbsttötung. Er hatte 1903 aus eigenem Antrieb Gedichte an StG geschickt, die sogleich Aufnahme in der siebten Folge der BfdK fanden. Der in Magdeburg Lebende kam regelmäßig nach Berlin, um an den Lesungen und Zusammenkünften bei Morwitz, Thormaehlen und Vallentins teilzunehmen. Nach seinem Freitod sagte StG, er „sei einmal drin gewesen im engsten Kreis“ (EL, 69). Es war nicht der letzte Suizid im Kreis. Zu StGs Lebzeiten folgten der 67 Vgl. Jürgen Egyptien, Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg, in: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 197–212, bes. S. 204f. 68 Vgl. Leo Peters, Zum Freitod von Bernhard Graf Uxkull-Gyllenband und Adalbert Cohrs, zwei namhaften Mitgliedern des Stefan-George-Kreises, 1918 in Kaldenkirchen, in: Heimatbuch des Kreises Viersen 55/2004, S. 152–170. 69 Karlauf 2007, S. 479.

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dem Marburger Kreis um Wolters entstammende Johann Anton, Julius Landmann, Diana Vallentin und Hans Bernhard von Schweinitz.

4.12. Von Gundolfs Goethe bis zu Wilhelm Steins Raffael Nicht nur diese menschlichen Tragödien erschütterten den George-Kreis, auch die politischen Umbrüche am Ende des Ersten Weltkriegs führten zu Spannungen. So sympathisierte Berthold Vallentin mit den neu installierten Arbeiter- und Soldatenräten, während Robert Boehringer konservative Positionen vertrat. Zu nachhaltigen politischen Kontroversen kam es aber erst in der Spätphase der Weimarer Republik. Dass StG bereits während des Ersten Weltkriegs ein Bewusstsein von der Einmaligkeit der menschlichen und weltanschaulichen Geschlossenheit des Kreises hatte, bezeugt eine Äußerung aus dem Sommer 1916, die Edith Landmann überliefert: Der Sinn aber unseres Staates ist dieser: dass für eine vielleicht nur kurze Zeit ein Gebilde da sei, das, aus einer bestimmten Gesinnung hervorgegangen, eine gewisse Höhe des Menschtums gewährleistet. Auch dies ist dann ein ewiger Augenblick wie das griechische Jahrhundert. (EL, 40)

StG versuchte nach 1918 zunächst erfolgreich, die innere Geschlossenheit des Kreises zu bewahren. Die Pläne für eine Fortsetzung der Jahrbücher ließ er zwar ebenso fallen wie den vorherigen der Herausgabe eines Kriegs-Jahrbuchs, aber nach einigen Mühen konnte Ende 1919 die elfte/zwölfte Folge der BfdK erscheinen, die wie bereits die zehnte von 1914 auf die Namensnennung der Verfasser verzichtete. Diese Anonymisierung lässt sich als äußeres Indiz für die Dokumentation innerer Geschlossenheit verstehen. Ihre symbolische Beglaubigung findet diese Geschlossenheit im sogenannten ,Seelenfest‘, das Pfingsten 1919 in der Villa Lobstein bei Friedrich Gundolf in Heidelberg stattfand. Teilnehmer waren Erich Boehringer, Glöckner, Percy Gothein, die Brüder Gundolf, Morwitz, Vallentin, Thormaehlen und Woldemar von UxkullGyllenband. Die Beteiligten empfanden die Zusammenkunft als eine Art Wiederbelebung des platonischen Symposiums. Insofern das Treffen vor allem im Zeichen des Dichterischen stand, orientierte es sich an der programmatischen Einleitung der elften/zwölften Blätter-Folge, „dass in der dichtung eines volkes sich seine lezten schicksale enthüllen.“70 Sie knüpft damit an den Nachtrag zur Einleitung der zehnten Folge an, die erst nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschien. „Auf den verweis dass es jetzt nicht der augenblick für gedichte sei antworten wir mit Jean Paul dass vielleicht keine zeit den dichter nötiger hat als die ihn am ehesten entbehren zu können glaubt.“71 Auch wenn 1919 die Dichtung noch immer als entscheidender Schicksalsund Auskunftsort gilt, so liegt doch zwischen den beiden Orientierungen eine strategische Zäsur. Neben die dichterischen Werke sind inzwischen die ersten wissenschaftlichen getreten. In der Einleitung heißt es dazu: „Auch die zweite stufe unsrer wirkung ist inzwischen sichtbarer geworden – durch bedeutsame weithin bestaunte

70 BfdK 11/12/1919, S. 6. 71 BfdK 10/1914, S. 156.

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I. Stefan George und sein Kreis

bücher des wissens und der überschau.“72 Damit wird auf die ersten wissenschaftlichen Werke von Mitgliedern des George-Kreises oder ihm Nahestehender angespielt, besonders auf Friedrich Gundolfs viel beachtete Goethe-Monographie von 1916, außerdem auf Platon. Seine Gestalt (1914) von Heinrich Friedemann und Nietzsche. Versuch einer Mythologie (1918) von Ernst Bertram. Die folgende Reihe der sogenannten ,Geistbücher‘ schließt an die weltanschauliche und methodologische Position der Jahrbücher an und wendet deren begriffliches Instrumentarium auf den konkreten Einzelfall an. In diesem Sinne haben alle diese Schriften demonstrativen und programmatischen Charakter. Der wesentliche Unterschied zu den Jahrbüchern besteht darin, dass sie von innen her die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen umzugestalten versuchen. Diese Funktion kommt auch darin zum Ausdruck, dass sie als Beiträge zum wissenschaftlichen Diskurs deklariert wurden. Sie erschienen in zwei Reihen, die beide wie schon die Jahrbücher das Swastika-Signet trugen. Die eine kürzere Reihe erschien unter dem Titel „Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“ beim Ferdinand Hirt Verlag in Breslau, die andere bei Bondi nur unter dem Titel „Blätter für die Kunst“, wobei einige der späteren Werke noch den Zusatz „Geschichtliche Reihe“ trugen. Schon die bloßen Buchtitel lassen die Tendenz dieser Schriften deutlich werden: Goethe, Nietzsche, George, Napoleon, Raffael, Friedrich II., Winckelmann, Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, Das Schicksal der Musik, Wagner und Nietzsche, Platon. Es fehlt von den ,Vorbildern‘ einzig Dante. Gundolfs Goethe versucht die Einheit von Leben und Werk im Begriff der Gestalt73 zu fassen. In der Einleitung heißt es: „Es gibt keine Zeile von Goethe die nicht näher oder ferner, mittelbar oder unmittelbar, positiv oder negativ seiner Selbstgestaltung zu dienen hätte, die nicht Gestalt wäre oder erstrebte.“74 Goethe habe für diese Schicksalhaftigkeit selbst den Begriff des Dämonischen verwendet. Gundolf schuf mit seiner Monographie das Modell der Geistbücher, die man auch als Gestaltbücher bezeichnen könnte, da ihnen die zitierte Auffassung von der Einheit von Leben und Werk gemeinsam ist. Das gilt auch für den Zug zur Mythisierung des jeweils behandelten ,großen Mannes‘. Ein erklärtes Beispiel dafür ist Ernst Bertrams Werk Nietzsche, dessen Untertitel Versuch einer Mythologie an die Verfahrensweise von Gundolfs Goethe anschließt. Nach Fertigstellung des Manuskripts hatte Bertram es in den ersten Monaten des Jahres 1918 StG in München kapitelweise vorgelesen. Bertrams Nietzsche-Deutung kann als Explikation von StGs Zeitgedicht „Nietzsche“ (VI/VII, 12–13) gelesen werden. An diese Physiognomie der geistigen Gestalt Nietzsches knüpften 1923 Ernst Gundolf und Kurt Hildebrandt mit ihrem Buch Nietzsche als Richter unsrer Zeit an. Auch sie zitieren im Vorwort aus einem Gedicht StGs, setzen dabei allerdings einen anderen Akzent. Es ist kein Zitat aus dem Nietzsche-Gedicht, sondern aus einem der radikal zeitkritischen Gedichte im ersten Buch des Sterns des Bundes. Damit ist die Stoßrich72 BfdK 11/12/1919, S. 5. 73 Vgl. dazu Michael Rißmann, Literaturgeschichte als Kräftegeschichte. Friedrich Gundolfs Beitrag zur Methodik geistesgeschichtlicher Literaturbetrachtung, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 42/1997, 1, S. 63–105, wo der Gestalt-Begriff mit demjenigen der ,Kräftekugel‘ verbunden wird (S. 79ff.). 74 Friedrich Gundolf, Goethe, Berlin 1916, S. 9.

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tung ihres Buches angedeutet. Sie wenden sich in aggressivem Ton gegen die nihilistischen ,Endschaftskünder‘, Staatsmänner und Pädagogen der Gegenwart. Im gleichen Jahr erschien ein kritisch orientiertes, thematisch ausgerichtetes Gemeinschaftswerk von Erich Wolff und Carl Petersen: Das Schicksal der Musik. Von der Antike zur Gegenwart. Beide gehörten dem Freundeskreis von Wolters an. Petersen hatte vor dem Ersten Weltkrieg mit den Brüdern Andreae zusammengewohnt und ab 1912 an Treffen in Berlin teilgenommen. Das von Petersen verfasste Schlusskapitel „Anarchie“ beschreibt die Entwicklung der zeitgenössischen Musik als einen Verfallsprozess, der zur vollständigen Formauflösung führe. Diesen offenen Anarchismus spreche „die expressionistisch überhelle Logik der ,Philosophie der Musik‘ von Ernst Bloch zum ersten Male vollkommen deutlich aus.“75 Petersens Deutung der modernen Musik erscheint als Erfüllung der Untergangsprophetie, mit der Karl Wolfskehl seinen Essay Über den Geist der Musik im dritten Jahrbuch abgeschlossen hatte. Stellt dieses Werk einen ideologischen Extremfall dar, so der Raffael des Kunsthistorikers Wilhelm Stein, der Ende 1918 auf Vermittlung von Ludwig Thormaehlen zu StG stieß, einen methodologischen. Ernst Osterkamp hat eindrucksvoll gezeigt, dass die emphatische Schilderung von der Wiedergeburt der Kunst in der Renaissance keinem anderen Zweck diente, als eine ästhetische Präfiguration des George-Kreises zu zeichnen. Mit den Mitteln der Typologie betrieb Stein „Bildlektüre als arkane Kreispolitik“76 und schuf, wie Friedrich Gundolf bemerkte, „ein Stück angewandter ,Geheimlehre‘“.77 Die George-Monographie Gundolfs von 1920 situierte sich explizit als „den archimedischen Punkt außerhalb des Zeitalters“,78 von dem aus das Erneuerungswerk in einer von Individualismus, Relativismus, zersetzendem Protestantismus und Vermassung gekennzeichneten Zeit unternommen werden könne. Damit schließt sie an den kulturkritischen Diskurs an und optiert für die ordnende Kraft des ,großen Menschen‘. Wolfgang Braungart hat in seiner Analyse von Gundolfs George gezeigt, dass Gundolf „den entscheidenden Zug an Georges Leben und Werk“ in der Ausbildung einer „Ästhetik des Rituals“79 gesehen habe. Das Ritual verfüge über eine ästhetische und zugleich soziale Bindungskraft, die besonders in Krisenzeiten dem Bedürfnis nach Orientierung entgegenkomme. Braungart resümiert: „Soziologisch gesehen läßt sich diese wissenschaftliche Perspektive Gundolfs mit dem sozialen Ordnungsbedarf des Kreises und seiner inneren Verfaßtheit nach dem Prinzip der ,charismatischen Führung‘ in Zusammenhang bringen.“80

75 Erich Wolff/Carl Petersen, Das Schicksal der Musik. Von der Antike zur Gegenwart, Breslau 1923, S. 258. 76 Ernst Osterkamp, Wilhelm Stein (1886–1970), in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 225–238, hier: 233. 77 F. Gundolf an W. Stein v. 20.12.1922, zit. ebd., S. 237. 78 Friedrich Gundolf, George, Berlin 1920, S. 22. 79 Wolfgang Braungart, Gundolfs George, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 43/ 1993, 4, S. 417–442, hier: 418. 80 Ebd., S. 419.

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4.13. Gundolf-Krise und Enkelkreise / Rolle der Frauen Gundolf hatte die George-Monographie um die Jahreswende 1918/19 begonnen. In der Zeit der Niederschrift nahm ein existenzieller Konflikt zwischen ihm und StG Kontur an. Es ging um die Intensivierung von Gundolfs Beziehung zu Elisabeth Salomon, die ihn Anfang 1918, als er an einer schweren Lungenentzündung laborierte, aufopferungsvoll gepflegt hatte. StG war die Annäherung der beiden gar nicht recht. Er hatte Gundolf 1917 eine ,Kriegstrauung‘ mit der Pianistin Agathe Mallachow, die ein Kind von ihm erwartete, regelrecht verboten. Etwa zur selben Zeit verärgerten ihn auch die Heiratspläne von Robert Boehringer. In der Auseinandersetzung um Elisabeth Salomon kulminierten StGs grundsätzliche Vorbehalte gegenüber Frauen in seinem ,Staat‘.81 Freilich hatte es von Anbeginn Frauen gegeben, die die Nähe zu ihm und seinem Kreis gesucht hatten. Ida Coblenz hat sich im Nachhinein als „die erste [Georgianerin], die es gab“ (G/C, 78), bezeichnet, und StG sagte, er habe in seiner Binger Jugend niemanden gehabt „ausser Einer, und die war meine Welt“ (SL, 37). Später kamen Hanna Wolfskehl, Sabine Lepsius, Gertrud Simmel, Gertrud Kantorowicz, Diana Vallentin, Erika Wolters, Edith Landmann und Clotilde Schlayer hinzu. Sie erfüllten durchaus unterschiedliche Funktionen für StG und verkörperten die ganze Bandbreite weiblicher Existenzentwürfe von der im Hintergrund wirkenden Gastgeberin bis zur geistig selbstständigen oder künstlerisch tätigen Frau.82 Dichterisch traten die Frauen deutlich weniger in Erscheinung. In die BfdK fanden nur Gedichte von Gertrud Kantorowicz Eingang (im vierten Band der vierten Folge 1895), und auch diese erschienen nicht unter ihrem richtigen Namen, sondern dem maskulinierten Pseudonym ,Gert. Pauly‘, um das Bild des homogen männlichen Mitarbeiterstabs nicht zu ,verunzieren‘. Als Mitgestaltende an der Außendarstellung des ,Geistigen Reichs‘ war nur Edith Landmann zugelassen, die sich durch ihre glühende Bekenntnisschrift Georgika (1920) den Ehrentitel einer ,Ritterin‘ erworben hatte. Während diese Schrift noch anonym camoufliert war – wobei der Eingeweihte unschwer ,Georgika‘ in ,Landmännin‘ übersetzen konnte –, erschien ihre Transcendenz des Erkennens 1923 als einziges Werk einer Frau mit der Blättermarke bei Bondi. Edith Landmann stellte auch im Gegensatz zu Sabine Lepsius, Gertrud Simmel oder Marianne Weber das in den Kreisschriften propagierte Frauenbild mit der scharfen Ablehnung emanzipatorischer Ideen nicht infrage. Wo sich ein weiblicher Anspruch auf Autonomie erhob, wie in Gertrud Simmels pseudonym erschienenem Buch Realität und Gesetzlichkeit im Geschlechtsleben von 1910, wies StG ihn in seine Schranken. Aber wesentlicher als die Frage der weiblichen Existenzbestimmung war für ihn der Störeffekt, den Frauen überhaupt für seine männliche Gemeinschaft bildeten. Das wird schon daran deutlich, dass das die persönliche Beziehung zwischen Meister und Jünger stiftende Modell des pädagogischen Eros ausschließlich auf männlicher Geistzeugung beruht. Ein weiblicher Jünger – der Begriff lässt daran keinen Zweifel – ist eine contradictio in adiecto. Ernst Osterkamp hat die Entwicklung des Diskurses über Weiblichkeit in StGs Werk in den Horizont von deren sukzessiver Auslöschung ge81 Zum ,Staats‘-Begriff vgl. unten Abschnitt 4.16. 82 Vgl. dazu den Sammelband George und die Frauen, hrsg. v. Ute Oelmann u. Ulrich Raulff, Göttingen 2010.

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rückt. Auf die Bedrohung durch das gestaltlose Weibliche lässt StG sein männliches Idealbild mit einer frauenabweisenden Körperpanzerung reagieren. In Übernahme der klischeehaften Standards des Fin de sie`cle spaltet er das Weibliche in das perhorreszive Bild der lüsternen ,Hure‘ und die körperlose Ikone der Madonna. Konsequent substituiert StG nach der Stiftung des Gottes der männlichen Jugendschönheit Maximin den geschlechtlichen Zyklus natürlicher Reproduktion durch das „Phantasma ideeller Vaterschaft.“83 So unstrittig Osterkamps These von der zunehmend ideologischen Bewältigung des Skandalons Frau und des „Annihilierungsblick[s] auf alles Weibliche“84 zutrifft, ist doch daran zu erinnern, dass allein schon die exzeptionelle poetologische Stellung der vom Dichter als Autorität eingesetzten ,norn‘ in dem Gedicht „Das Wort“ (IX, 107) vor einer monolithischen Darstellung der Auslöschung alles Weiblichen warnen sollte. Freilich ist Osterkamp darin zuzustimmen, dass für das Konzept einer partnerschaftlichen, mit sinnlichen Qualitäten ausgestatteten ,braut‘ kein Platz in StGs Repertoire an tolerierten Frauenrollen war. Das gilt in der Realität nicht minder als im dichterischen Werk. Auf frauenbewegte Argumentationen bei Sabine Lepsius, Gertrud Simmel oder Marianne Weber reagierte StG gereizt. Die nicht wenigen Frauen, die StG ein Leben lang umgaben, waren nur so lange willkommen, wie sie die vorgeprägten Rollen nicht sprengten. Seine wichtigste intellektuelle Partnerin Edith Landmann dürfte zugleich diejenige sein, die trotz Mutterschaft dem Ideal männlicher Geistigkeit nahezukommen suchte. Als äußerer Anlass für den Bruch mit dem einstigen Lieblingsjünger Friedrich Gundolf diente dessen 1922 erschienenes und mit dem Blätter-Signet versehenes KleistBuch, das ohne StGs Wissen eine Widmung an Elisabeth Salomon trug. Friedrich Wolters, der die Aufgabe übernommen hatte, Gundolf die Position StGs zu vermitteln, belehrte den Freund darüber, dass „der Meister nur die bewusste Verheimlichung einer Handlung in Staatsdingen darin sehen kann, eine absichtliche Täuschung des Führers und eine offne Treulosigkeit gegen den Freund.“ Es handle sich um „keine private Sache, weil er [StG] sie durch die Blättermarke gleichsam mitunterzeichnet“ (FG/W, 233) und Gundolf sich damit die Verfügung über etwas angemaßt habe, „was Ihnen nicht gehört, sondern seinem Werke und seinem Schaffen“ (FG/W, 240). Auf Eigenmächtigkeiten oder unerfüllt bleibende Erwartungen reagierte StG mit Disziplinierungsmaßnahmen. Das begann, wie gesehen, mit der Verabschiedung der dichtenden Schulkameraden, es folgten u. a. die Aufkündigung der Freundschaft mit Ida Coblenz wegen ihrer Heirat mit Richard Dehmel, die 1915 zeitweise und 1925 dauerhafte ,Entlassung des Schülers‘ Percy Gothein, die Abwendung von Albert Verwey, die jahrelange Sistierung der Freundschaft mit Robert Boehringer und selbst mitten in der Gundolf-Krise die Verstoßung von Edgar Salin und Josef Liegle.85 Fast immer sind diese Trennungen von Abschiedserklärungen begleitet, deren Übermittlung privat oder öffentlich inszeniert wird. Symptom für eine Veränderung im Verhältnis zwischen StG und Gundolf mag auch sein, dass Ernst Kantorowicz im Frühjahr 1919 der letzte Student war, der als Schüler 83 Ernst Osterkamp, Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010, S. 272. 84 Ebd., S. 248, vgl. auch S. 269. 85 Liegle war 1914 von Robert Boehringer StG vorgestellt worden. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte er seine altphilologischen Studien in Heidelberg fort, wo ihn StG gelegentlich traf. Im Frühjahr 1922 trennte sich StG von ihm, vgl. EL, S. 119f.

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I. Stefan George und sein Kreis

Gundolfs bei StG eingeführt wurde. Die Gundolf später auffallenden Studenten Max Kommerell und Rudolf Fahrner empfahl er jeweils weiter an Wolters nach Marburg, wo dieser seit 1920 lehrte. Mit dem Beginn von Wolters’ Tätigkeit in Marburg setzte eine neue Phase in der Entwicklung des George-Kreises ein, als nun quasi Kreise zweiter Ordnung entstanden. Wolters scharte 1921 den Freundeskreis Walter Elze, Ewald Volhard, Max Kommerell und Johann Anton um sich, von denen die beiden Letzteren ab 1922 zu StG selbst in ein engeres Verhältnis traten. Nach seiner Berufung nach Kiel 1923 setzte Wolters dort seine Bemühungen um einen eigenen Freundeskreis fort.86 Ins selbe Jahr fiel der Ursprung eines neuen Phänomens. Percy Gothein hatte in Heidelberg seinen Freund Wolfgang Frommel zu StG geführt, der von dem neuen Adepten aber nicht angetan war. Das hielt Frommel indes nicht davon ab, auch ohne ,meisterliche Lizenz‘ einen StGs Dichtung und Denken verpflichteten Freundeskreis aufzubauen, der noch zu dessen Lebzeiten mit dem Gedichtband Huldigung (1931) ein öffentliches Bekenntnis zu StG ablegte.87 Wilhelm Stein schließlich scharte nach seinem Umzug von Berlin nach Bern im Jahr 1925 mehrere Freunde um sich, von denen er Robert von Steiger und den Bildhauer Max Fueter mit StG in Kontakt brachte. Ihre Zusammenkünfte fanden bis auf einen Besuch StGs in Bern im Juni 1928 allerdings vorwiegend in Berlin statt, wo Steiger zeitweise studierte und Fueter ein Atelier unterhielt. Zu Steins Freundeskreis stieß der junge Michael Stettler, dessen Gedichte von StG als Zeugnisse einer ,dichterischen Begabung‘ (LT, 253) freudig begrüßt wurden. Auf Steins Empfehlung lernte er als Letzter der Enkelgeneration StG im November 1931 in Minusio persönlich kennen.

4.14. Ernst Kantorowicz und Max Kommerell Ernst Kantorowicz und Max Kommerell sorgten mit ihren 1927 und 1928 erschienenen Werken für den größten öffentlichen Widerhall der aus dem Kreis hervorgegangenen ,Geistbücher‘. Dem historiographischen Werk Friedrich II. von Kantorowicz war Ende 1922 Vallentins Napoleon vorangegangen, das dem Gestalt-Modell von Gundolfs Goethe-Monographie folgte. Kantorowicz verleiht seinem Werk von Beginn an einen mythischen Charakter, indem er in der Vorbemerkung darauf hinweist, er habe 1924 am Sarkophag des Stauferkaisers in Palermo einen Kranz mit der Inschrift „Seinen Kaisern und Helden Das Geheime Deutschland“88 vorgefunden, der ihm „in unkaiserlicher Zeit“ als Zeichen der Teilnahme an den „großen deutschen Herrschergestalten“ gelte. In seiner monumentalen Darstellung entwirft Kantorowicz das Bild eines „Renaissance-Genie[s] auf dem Kaiserthron“,89 das bereits „das Dantesche Staatsbild“ antizipierte. Es 86 Zu ihm gehörten etwa Roland Hampe und Fritz Cronheim, die von diesem Kieler Freundeskreis um Wolters später Zeugnis ablegten, vgl. Roland Hampe, Kieler Erinnerungen. Stefan George und Friedrich Wolters, in: CP 30/1980, 143/144, S. 43–49; Fritz Cronheim, Deutsch-Englische Wanderschaft. Lebensweg im Zeichen Stefan Georges, Heidelberg 1977, S. 77f. Die Berührung mit StG selbst war jedoch in beiden Fällen nur ganz peripher. 87 Vgl. zur Huldigung und zu Frommel allgemein: Günter Baumann, Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Würzburg 1995. 88 Kantorowicz, Friedrich der Zweite, S. 7. 89 Ebd., S. 612.

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spricht einiges dafür, dass Kantorowicz bei dieser Konzeption der Sicht StGs folgte, für den „Der Grösste Friedrich“, wie er im Gedicht „Die Gräber in Speier“ (VI/VII, 22–23) genannt wird, für die Symbiose zwischen Nord und Süd, zwischen weltumgreifendem Sehnen und antikem Formbewusstsein stand. Kantorowicz’ Heroisierung gipfelt in der Bezeichnung Friedrichs als „Gottessohn Weltenrichter Widerchrist zugleich“,90 der „der erste Gottlose und der erste von sich aus göttliche, nicht durch die Kirche heilige Mensch“ sei. Kantorowicz ließ 1931 die Publikation eines umfangreichen Materialbandes folgen, um zu dokumentieren, dass seine mythisierende Deutung von Friedrich II. auf historischen Quellen basiere.91 Kommerell behandelt in seinem Buch Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik von 1928 in fünf umfangreichen Kapiteln Klopstock, Goethe, Schiller, Jean Paul und Hölderlin. Im Untertitel wird als sechster Name noch Herder genannt, dessen persönliches Wirken sich gewissermaßen wie ein roter Faden durch das ganze Buch hindurchzieht. Man schlägt dieses Buch so auf, wie man einen griechischen Tempel betritt. Den vorderen Einband schmücken zwei ionische Säulen, zwischen ihnen stehen der Haupttitel und das Blätter-Signet. Die Ikonographie dieses Einbands lässt sich als symbolische Abbreviatur des Inhalts deuten. Ihm geht es um den Eintritt in die griechische Welt, deren Wiedergeburt in Deutschland von der klassischen Literatur ihren Ausgang nahm und – so darf man ergänzen – in der Gegenwart die Mission StGs und der Seinen bildet. Kommerell betont in seiner knappen Vorbemerkung, dass es ihm um das Aufzeigen des „ungeheure[n] deutsche[n] Kräftestrom[s]“92 ginge, der eine bislang unerkannt gebliebene Gemeinsamkeit der bedeutenden Dichter um 1800 gewesen sei. Treffend hat Walter Benjamin in seiner 1929 geschriebenen Rezension mit dem Titel Wider ein Meisterwerk Kommerells Buch „eine Heilsgeschichte der Deutschen“93 genannt. Damit begründe Kommerell „eine esoterische Geschichte der deutschen Dichtung“,94 die die „unerforschlichen Bahnen des deutschen Aufstiegs“ aus der „Verwandtschaft des deutschen und des griechischen Ingeniums“ ableite. Kommerell gehe es dabei nicht um ,historische Gerechtigkeit‘, sondern um eine teleologische Konstruktion. Am krassesten trete das im Hölderlin-Kapitel zutage, welches Benjamin als „Bruchstück einer neuen vita sanctorum“95 bezeichnet. Wenn Kommerell von der Fügung spricht, dass „gerade der Einsamste den Keim der Volkwerdung hütet“,96 so liest sich das zugleich als geheimes Porträt StGs als dem ,Hüter des göttlichen Feuers‘.

90 Ebd., S. 613. 91 Vgl. Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite. Ergänzungsband. Quellennachweise und Exkurse, Berlin 1931. 92 Kommerell, Der Dichter, S. 7. 93 Walter Benjamin, Wider ein Meisterwerk. Zu Max Kommerell, ,Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik‘, in: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. 3: Kritiken und Rezensionen, hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M. 1972, S. 252–259, hier: 254. 94 Ebd. 95 Ebd., S. 259. 96 Kommerell, Der Dichter, S. 461.

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4.15. Dissoziationen und ,Blättergeschichte‘ Thomas Karlauf schreibt in seiner George-Biographie: „Mit Max Kommerell begann die schleichende Desintegration des Kreises, die allmähliche Auflösung in einzelne, miteinander rivalisierende Gruppen.“97 Kommerells vife Persönlichkeit wirkte offenbar polarisierend. So suchte etwa Morwitz nach der ersten Begegnung mit ihm jedes weitere Zusammentreffen zu vermeiden. Morwitz gehörte zu den älteren Freunden, die unter dem Generationenwechsel in StGs Umgebung besonders litten. Er war StG für lange Jahre ,der Nächste Liebste‘ und als Erster für seine Erbwaltung vorgesehen gewesen, weil StG in ihm die Fähigkeit, Menschen zu formen, am vollendetsten ausgeprägt fand. Nach den Brüdern Uxkull-Gyllenband hatte er Hans Brasch, Bernhard von Bothmer und Silvio Markees zu StG gebracht. Morwitz erwog im Sinne der Verse „Neuen adel den ihr suchet / Führt nicht her von schild und krone! / […] / Stammlos wachsen im gewühle / Seltne sprossen eignen ranges“ (VIII, 85) sogar die Möglichkeit, ob nicht das Gesetz und der Zwang der Stände übersprungen und durchbrochen werden könnte, so daß unmittelbar aus einer volkhaften, bäuerlichen oder städtischen Substanz kommende, mit Intelligenz und Willen ausgestattete jugendliche Kräfte zu einer höheren Form von Geistigkeit geführt werden könnten. (LT, 198)

StG sah darin zwar einen Verstoß gegen die „Gesetze geistiger Stufen“, tolerierte aber Morwitz’ Bemühungen um Zöglinge, deren Entwicklungspotenzial er selbst skeptisch einschätzte. Groppe betont, dass Morwitz aufgrund seiner erfolgreichen Erziehertätigkeit seine Position im Kreis festigen konnte.98 Aus dieser privilegierten Stellung wurde Morwitz nun verdrängt, und auch ältere Freunde wie Lechter oder Wolfskehl verloren die enge Bindung an StG. Ernst Gundolf durfte zwar, wie es seit Friedemanns Platon Usus war, bei vielen ,Geistbüchern‘ die Rolle eines kritischen Lektors übernehmen, aber der Konflikt zwischen seinem Bruder Friedrich und StG hatte auch seine Marginalisierung zur Folge.99 Kommerell reicherte die sachlichen Auseinandersetzungen mit persönlichen Attacken an, wie etwa bei einer Lesung aus Gotheins Opus Petri in Heidelberg. StG wohnte dort nun auch seltener bei Gundolf im Schloßberg 55. Im Juni 1923 war er erstmals Gast bei Ernst Kantorowicz im Wolfsbrunnenweg. In München war durch Wolfskehls Umzug nach Kiechlinsbergen das Kugelzimmer 1919 verloren gegangen, erst im Frühjahr 1926 schaffte Johann Anton mit einer Wohnung in München-Solln Ersatz. Ab 1924, als Marburg als ,Pfalz‘ nach Wolters’ Umzug nach Kiel nicht mehr zur Verfügung stand, begann StG eine Art Wanderleben in häufiger Begleitung von Max Kommerell und Johann Anton. Die beiden besorgten als neuen Aufenthaltsort das Pförtnerhäuschen in Berlin-Grunewald. In Berlin hatte StG seit 1915 regelmäßig die letzten Monate des Jahres bei seinem Verleger Bondi gewohnt (GB, 13). Für Treffen und Lesungen in größerer Runde dienten in Berlin die Ateliers von Ludwig Thormaehlen, von 1914 bis 1927 das ,Pompeianum‘ in der Neuen Ansbacher Straße und danach das ,Achilleion‘ in der Albrecht Achilles-Straße. 97 Karlauf 2007, S. 532. 98 Vgl. Groppe 1997, S. 473. 99 Vgl. dazu die Zeugnisse in: Ernst Gundolf, Werke.

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Im Achilleion fand im November 1928 anlässlich des Erscheinens von StGs Gedichtband Das Neue Reich eine Zusammenkunft von fünfzehn Kreismitgliedern statt, die noch einmal Vertreter der verschiedenen Generationen vereinte. Anwesend waren Ernst Morwitz mit seinen Zöglingen Bernhard von Bothmer und Silvio Markees, die drei Brüder Alexander, Berthold und Claus von Stauffenberg, Frank Mehnert, Albrecht von Blumenthal, die Brüder Johann und Walter Anton, Max Kommerell, Erich Boehringer, Hans Bernhard von Schweinitz, Alexander Zschokke und Ludwig Thormaehlen.100 Als weiterer Treffpunkt diente das Atelier des Bildhauers Alexander Zschokke in der Fasanenstraße, den StG 1922 bei Thormaehlen kennengelernt hatte. Die Berliner Ateliers spielten eine wesentliche Rolle für das Projekt, von den Angehörigen des Kreises Porträtbüsten zu fertigen. Man kann darin den Versuch sehen, den George-Kreis in Anlehnung an die griechische Antike in einen petrifizierten plastischen Thiasos zu überführen. In den gleichen Kontext gehört die inszenierte Bildregie der fotografischen Autodokumentation des Kreises, der derselbe Zug zur Selbststilisierung eignet.101 In der ersten Hälfte der 20er-Jahre war StGs Gesundheit latent angeschlagen. Von 1922 bis 1924 hatte er sich jährlich einer Operation unterziehen müssen und verbrachte nicht wenig Zeit in Kliniken und Kuren. Nicht zuletzt aus diesem Umstand ergab sich die Notwendigkeit einer ständigen Begleitung durch Jüngere. Die Lebensgemeinschaft mit Kommerell und Anton gestaltete sich als „eine perfekte, bis zum Herbst 1929 reibungslos funktionierende Dreiecksbeziehung.“102 Die persönliche Wertschätzung für die beiden drückte sich auch darin aus, dass StG Kommerell den Übernamen ,Maxim‘ und Anton den Übernamen ,Prinz‘ verlieh. Dann setzte der Ablösungsprozess von Kommerell ein, der schließlich in der Katastrophe des Selbstmords von Johann Anton im Februar 1931 gipfelte. Eine nicht unerhebliche Rolle für Kommerells Trennung spielte die sogenannte ,Blättergeschichte‘, die von StG selbst initiierte und bis zu ihrer Vollendung begleitete quasi offizielle Selbstdarstellung des George-Kreises, die Friedrich Wolters noch kurz vor seinem Tod abschließen konnte. Das knapp 600 Seiten umfassende Werk Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890 erschien nach langer Entstehungszeit im Herbst 1929. Seine Anfänge reichen bis 1909 zurück. Damals äußerte StG den Wunsch, dass einmal jemand „auf Grund seiner Dokumente eine Geschichte der Blätter für die Kunst zu schreiben“ (BV, 34) unternähme. Ab 1913 war Wolters mehr oder weniger kontinuierlich mit der Sichtung des Materials und der Niederschrift beschäftigt.103 Wolters’ Buch ist eine Apotheose StGs, die in einem pastoralen Tonfall die deutsche Geistesgeschichte als teleologischen Prozess konstruiert, der in StGs Gestalt und Werk seinen vollendeten Abschluss findet. StG fungiert als Richtgröße für die Gegenwart, und Wolters bekennt selbst in seiner Vorrede, dass er seine Aufgabe darin gesehen habe, „im ungeheueren Wirrwarr der Zeit 100 Thormaehlens Erinnerung nach nahm auch der Gymnasiast Willi Dette, in dieser Zeit sein Modell, an der Lesung teil (LT, 241), was aber von Morwitz später bestritten wurde (ZT, 359). 101 Vgl. Ulrich Raulff, Plastische Passbilder. Stefan George, die Fotografie und die Skulptur, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 1/2, Berlin 2003, S. 28–36; ders./Lutz Näfelt, Das geheime Deutschland. Eine Ausgrabung. Köpfe aus dem George-Kreis, Marbach/N. 2008. 102 Karlauf 2007, S. 537. 103 Vgl. dazu G/W, passim, sowie die Einleitung des Herausgebers Michael Philipp.

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ein einheitliches Bild aufzurichten“ (FW, 6). Das ist das methodische Apriori, das den Kreisschriften seit Friedemanns Platon ihren monumentalisierenden Charakter gibt. Friedrich Gundolf nannte das Buch ,jesuitisch‘ und mit „Fanatismus“ (G/G, 387f.) gemacht. Es gleicht einer orthodoxen Kirchengeschichte, die entsprechend gnadenlos mit allen als Häretiker Stigmatisierten verfährt. Zwar enthält das Werk viel Quellenmaterial, aber der Filter, den dieses Material durchdringen musste, zeitigte eine schroffe Vereinseitigung. Auch die nationale Gesinnung von Wolters macht sich in der ,Blättergeschichte‘ bemerkbar. Diese Tendenz zeigt sich bereits im ersten Satz: „Stefan George entstammt einem deutschen Geschlecht“ (FW, 7). So beginnen genealogische Darstellungen adliger Familien. Das Motiv der Einheit von Dichtung, Tat und Gemeinschaft gibt die typologische Struktur des weiteren Entwicklungsganges vor. Wolters lässt sein Werk in einem hymnischen Dreiklang münden, der StG als Dichter, Herrscher und Meister feiert. Kommerell konnte die Vollendung der ,Blättergeschichte‘ aus nächster Nähe verfolgen, denn er war bei StGs Besuchen in Kiel, die der gemeinsamen Arbeit an dem Text galten, häufig anwesend und las mit Korrektur. Wenige Wochen vor ihrem Erscheinen hatte er, ohne StG darüber zu informieren, Kontakte zur Frankfurter Universität geknüpft, um sich dort zu habilitieren. Seine zeitliche Beanspruchung diente ihm in der Folgezeit als Vorwand, um mehreren Zusammenkünften des Kreises fernzubleiben. Im Juni 1930 schrieb Anton triumphierend an Kommerell, der als Erbwalter StGs neu installierte Stiftungsrat solle sich aus Robert Boehringer und ihnen beiden zusammensetzen, sodass sie beide „die absolute Mehrheit“ hätten und „der bisherige Universalerbe und Vollstrecker Ernst [Morwitz] nunmehr ausgeschaltet ist.“104 Kommerell teilte daraufhin StG und Anton sofort mit, dass er für diese Funktion nicht zur Verfügung stehe, weil er „nicht mehr derselbe“105 sei. Seinem Brief an StG fügte er die Bemerkung bei, dass zu dieser Bewusstwerdung auch Wolters’ „im Einzelnen für mich doch furchtbare[s] Buch“106 beigetragen habe. StG räumte ihm Bedenkzeit zur Revision seines Entschlusses ein, aber Kommerell bekräftigte seine Absage. Anfang November 1930 hielt er seinen Habilitationsvortrag in Frankfurt über Hofmannsthal. Schon die Themenwahl signalisierte seine Abwendung von StG. In den folgenden Monaten spitzte sich der Konflikt zwischen Kommerell einerseits und StG und Anton andererseits zu. Die hin und wider gehenden Briefe sind Dokumente eines intellektuellen Emanzipationsprozesses versus einer dogmatischen ,Staatsräson‘. Als Kommerells Trennung definitiv war, beging Johann Anton im Februar 1931 am 29. Geburtstag seines Freundes in Freiburg Suizid. In der zweiten Hälfte der 20er-Jahre dringt die Politik spürbar in den Binnendiskurs der George-Kreise ein. Der sich anbahnende Konflikt ist weitgehend einer zwischen den Generationen. Entscheidender Probierstein war die Haltung zum Nationalsozialismus, mit dem einige aus StGs Nähe sympathisierten. Es spielte sicher auch eine Rolle, dass unter StGs jüngeren Freunden im Gegensatz zur älteren Generation kaum noch Juden waren.107 StG entzog sich einer eindeutigen Stellungnahme und 104 105 106 107

Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen, S. 172. Ebd., S. 170. Ebd., S. 171. Vgl. zum Anteil von Juden am George-Kreis: Mattenklott u. a. (Hrsg.), „Verkannte brüder“; allgemein zur jüdischen George-Rezeption: Geret Luhr, Ästhetische Kritik der Moderne. Über das Verhältnis Walter Benjamins und der jüdischen Intelligenz zu Stefan George, Marburg 2002.

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versuchte, die Positionen zu vermitteln. Von der älteren Generation waren es vor allem Albrecht von Blumenthal, Ludwig Thormaehlen und Kurt Hildebrandt, die Sympathien für den Nationalsozialismus hegten. Bei Vallentins Beerdigung im März 1933 kam es zwischen Boehringer und Hildebrandt zu einer hitzigen politischen Auseinandersetzung. Hildebrandt wollte seinen Parteieintritt im Mai quasi absegnen lassen, aber StG verweigerte ihm das Placet.

4.16. Platon-Schriften / ,Staats‘-Begriff Kurt Hildebrandts Platon, der Kampf des Geistes um die Macht, das im Frühsommer 1933 mit dem Blätter-Signet erschien, war das letzte ,Geistbuch‘, an dessen Entstehung StG großen Anteil nahm. Es steht am Ende einer beachtlichen Reihe von Platon gewidmeten Schriften aus dem George-Kreis.108 Den Anfang machte ebenfalls Hildebrandt mit der umfangreichen Einleitung zu seiner Neuübersetzung von Platons Gastmahl 1912. Hildebrandt begreift diese Schrift als einen Mythos, weil in ihr „die momentane Wirklichkeit in die Sphäre einer ewigen Wirklichkeit emporgehoben“109 sei. Platons Gastmahl will daher „nicht begrifflich analysiert, es will gefeiert sein“.110 Der Mythos, an dem dieser Text arbeitet, ist das sinnlich-übersinnliche Erlebnis des Eros. In ihm sieht Hildebrandt die Verknüpfung Platons mit StG. Ein Bezug zwischen Platon und StG lässt sich auch darin erkennen, dass beide sich von der öffentlichen Sphäre fernhalten, weil sie erkennen, dass der gesellschaftliche Verfall zu weit fortgeschritten ist, um noch aufgehalten werden zu können. Sie antworten auf diese Diagnose jeweils mit utopischen Gegenmodellen. Schließlich gemahnt das auf den Eros gegründete Verhältnis zwischen Sokrates und seinen Jüngern, wie das Gastmahl es hervortreten lässt, an dasjenige zwischen StG und den Kreismitgliedern.111 Hier knüpft Heinrich Friedemann mit seiner 1914 erschienenen Schrift Platon: Seine Gestalt unmittelbar an, indem er die geradezu kultische Verehrung der großen Persönlichkeit Platon zum verpflichtenden Bestandteil der von ihm erweckten Gemeinschaft machte. Der gemeinschaftliche Kreis fungiert als Modell des Staats auch in Platons Politeia. Bei seiner Beschreibung greift Friedemann auf die Kategorien zurück, die Wolters 1909 aus StGs dichterischem Werk extrahiert hatte. Für Friedemann steht fest, „dass nur die spannung von herrschaft und dienst den geistigen leib des reiches zu bilden vermag“.112 Das Staatsgebilde kann so letztlich „selber das kunstwerk darstell[en]“.113 Die ästhetische Perspektive, unter der die Bildung des Reichs gesehen wird, kommt auch darin zum Ausdruck, dass Friedemann „in der kreisbewegung das symbol der Sokratisch-Platonischen sendung“114 erblickt. Damit wird das zentrale Form-Symbol, das die ästhetische und soziale Idealgestalt kennzeichnet und dessen prominente Stellung die Jahrbuch-Beiträge von Gundolf und Wolters begründet hatten, durch das Leben und Werk Platons beglaubigt. 108 109 110 111 112 113 114

Starke, Plato-Bild, S. 9, nennt insgesamt 26 Schriften zu Platon von sieben Verfassern. Hildebrandt, Einleitung, S. 1. Ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 34. Friedemann, Platon, S. 116. Ebd., S. 134. Ebd., S. 131.

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I. Stefan George und sein Kreis

Die Einheit von Leben und Werk zur Basis einer Gesamtdeutung von Platons Dialogen zu machen, unternimmt Hildebrandt mit seiner Monographie von 1933. Er bemerkt in seinem Vorwort, dass sein Buch auch den Titel „Platons Schicksal in seinen Werken“115 hätte tragen können, und schreibt, die Aufgabe seiner Ausführungen bestehe darin, „die einzelnen Werke zu verstehen aus der Gesamtpersönlichkeit.“116 Der rein historischen Auffassung Platons in der Nachfolge Hegels stellt er das Erlebnis Platon und seine formende Kraft gegenüber. Wenn Hildebrandt eingangs über Platon sagt: „er wandelt und bildet den, der ihn als Bild in sich aufnimmt: er ist stärker als wir“,117 so muss man das auf dem persönlichen Hintergrund des Erlebnisses StG lesen, von dem die gleiche verwandelnde Strahlkraft ausging. In Hildebrandts Deutung Platons „ist an ganz reale, politische Macht gedacht, keineswegs mehr nur an die Herrschaft über eine Jüngergemeinde.“118 In der Linie dieser Platon-Interpretation liegt auch das Buch Dion. Die platonische Staatsgründung in Sizilien von Renata von Scheliha aus dem Jahr 1934, in dem das Praktisch-Werden von Platons Erziehungswerk gezeigt werden soll. Renata von Scheliha war mit Vallentin und Hildebrandt, der sie zu dem Thema angeregt hatte, befreundet gewesen. Die Parallelführung von Platon und StG, die in allen genannten Schriften mehr oder weniger verdeckt spürbar ist, wirft noch einmal die Frage nach der Binnenstruktur des George-Kreises auf. Die Anknüpfung an Platons soziale Vorstellungen drückt sich u. a. darin aus, dass ungefähr seit Beginn der näheren Beschäftigung mit Platons Schriften der Begriff ,Staat‘ von den Kreismitgliedern selbst gebraucht wurde und die StG Nächststehenden ,Staatsstützen‘ hießen. Von Platon übernommen erscheint auch das Konzept der sogenannten ,Pflanzschulen‘, d. h. der Bildung eigener Kreise seitens der Älteren und StG Näheren. Nicht zuletzt wird mit dem Anschluss an Platon der Anspruch erhoben, vom Geistigen her auf das Gebiet des Staatlichen einzuwirken, geistige Führung in politische Herrschaft zu verwandeln. Der George-Kreis entlehnt dem Modell der platonischen Akademie das Bild einer Herrscherelite, deren Formkraft als „Schule der zukünftigen kulturellen und politischen Führer“119 fungiert.

4.17. 1933: Das Ende des George-Kreises Die Diskussionen um die von StG beeinflussten Kreisbücher und das Erscheinen der ersten Bände der 18-bändigen Gesamtausgabe im Jahre 1927 hatten dazu geführt, dass StG aus seiner Schattenexistenz heraustrat, zwar nicht in dem Sinne, dass er öffentlich aufgetreten wäre, aber in dem Sinne, dass die Öffentlichkeit von ihm Kenntnis nahm und ihn als prägende geistige Kraft der Gegenwart wahrzunehmen begann. Äußeres Zeichen dafür waren die Verleihung des neu gestifteten GoethePreises der Stadt Frankfurt an StG im Jahr 1927, den er nicht persönlich entgegennahm, und die zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel zu seinem 60. Geburts115 116 117 118 119

Hildebrandt, Platon, S. 12. Ebd., S. 11. Ebd., S. 5. Starke, Plato-Bild, S. 16. Groppe 1997, S. 250.

4. Die ,Kreise‘

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tag 1928. Robert E. Norton erinnert am Beginn seiner George-Biographie an eine Fotografie im Illustrierten Blatt von 1929, in der StG u. a. neben Gandhi, Hindenburg und Lenin gestellt wird. StG wird hier zu den ,lebenden Legenden‘ gerechnet.120 1933 bemühte sich der neue nationalsozialistische Staat um StG als Repräsentanten. Schon vor der Etablierung des ,Dritten Reichs‘ hatte Oskar Benda in der ideologiekritischen Studie Die Bildung des Dritten Reiches von 1931 die Vorgeschichte des ,Dritten Reichs‘ mit den Ideen des sogenannten ,Dritten Humanismus‘ verknüpft. Darunter ist eine auf Werner Jaeger und Eduard Spranger zurückgehende pädagogische Theorie zu verstehen, die auf der Bindung an geistige Urmotive, auf religiöser und nationaler Identität und dem Glauben an die Notwendigkeit geistiger Führerschaft in der Erziehung beruhte. Benda rückte den George-Kreis in den Kontext des Dritten Humanismus und interpretierte ihn als „spätkapitalistische Erscheinungsform des humanistischen Bildungsgedankens.“121 Er sah als dessen Quintessenz „die pädagogische Aussonderung einer bildungsaristokratischen Oberschicht aus dem Volkskörper als ideologischen Träger einer antidemokratischen Herrschaftsform.“122 Benda identifizierte das Programm des Dritten Humanismus mit dem Georgeschen „neuen Reich des Geistes“123 und kam zu der These, dass „der George-Kreis […] bewußter Schrittmacher des ,Dritten Reiches‘“ sei. Tatsächlich bestanden im Denken StGs und seines Kreises starke antidemokratische Tendenzen. Vor allem in der Generation der Jüngsten war eine Neigung zum Putschismus im Sinne der gewaltsamen „Beseitigung bürgerlicher Politik überhaupt mitsamt ihren Repräsentativorganen“124 verbreitet, die eine Allianz mit nationalsozialistischen Strömungen nicht ausschloss. Zu nennen wären hier Johann Antons radikale Abrechnung mit der Weimarer Verfassung125 und die von Woldemar von Uxkull-Gyllenband am 12. Juli 1933 vor der Tübinger Studentenschaft gehaltene Rede Das revolutionäre Ethos bei Stefan George. Auch Frank Mehnert und die Brüder Stauffenberg hegten starke Sympathien für das neue Regime. In unmittelbarer Reaktion auf die Reichstagswahl vom 31. Juli 1932, bei der die NSDAP zur stärksten Partei wurde, verfasste Walter Anton eine sechsseitige ,Denkschrift‘ (StGA), in der er das Verhältnis der ,geistigen Bewegung‘ zum Nationalsozialismus zu bestimmen versuchte. Anton argumentiert, wie Rainer Kolk, der als Erster diese Quelle ausführlich kommentierte, zu Recht feststellt, „strategisch.“126 Von der Beobachtung ausgehend, dass „in diesem [dem NS-] Parteiprogramm manche uns 120 Vgl. Robert E. Norton, Secret Germany. Stefan George and his Circle, Ithaca, London 2002, S. IX. 121 Oskar Benda, Die Bildung des dritten Reiches. Randbemerkungen zum gesellschaftsgeschichtlichen Sinnwandel des deutschen Humanismus, Wien, Leipzig [1931], S. 10. 122 Ebd., S. 11. 123 Ebd., S. 14. 124 Franz Karl von Stockert, Stefan George und sein Kreis. Wirkungsgeschichte vor und nach dem 30. Januar 1933, in: Beda Allemann (Hrsg.), Literatur und Germanistik nach der ,Machtübernahme‘. Colloquium zur 50. Wiederkehr des 30. Januar 1933, Bonn 1983, S. 52–89, hier: 70. 125 Gemeint ist das 45-seitige Manuskript Die Reichsverfassung von 1919 – Ein Rückblick aus dem Jahr 1926 (StGA); vgl. dazu Frank Schirrmacher, Die Herrschaft der Poeten über die Welt: Johann Antons Hass auf Weimar; ein unbekanntes Dokument aus dem George-Kreis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 28.12.1985. 126 Kolk 1998, S. 488. Zuletzt hat Ulrich Raulff diese beiden Dokumente ausführlich diskutiert, vgl. Raulff 2009, S. 65ff.

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I. Stefan George und sein Kreis

verwandte [Positionen]“ enthalten seien, vertritt Anton die Ansicht, dass sich eine Machtübernahme durch den ,wütenden Österreicher‘ – wie er Hitler bezeichnet, ohne einmal seinen Namen zu nennen – im Interesse der ,geistigen Bewegung‘ instrumentalisieren lasse. Anton begrüßt ausdrücklich den „Kampf gegen den gemeinsamen Feind“, wie er sich in den beiden Prinzipien des ,Ewig Weiblichen‘ und ,Ewig Jüdischen‘ verkörpere. Er scheut sich nicht, die Anstachelung des ,uralten Volkshasses‘ auf den ,Weltjuden‘ zu sanktionieren, wenn sie nur der Festigung der ,völkischen Identität‘ nütze. Zwar zieht Anton eine quasi ästhetische Trennlinie zwischen den ,kläffenden Kerlen‘, die Hitler folgen, und der jungen Garde des George-Kreises, aber Gerda von Puttkamer merkt in ihrer Entgegnung (StGA) auf Anton mit treffender Süffisanz an, dass er sich dem Jargon der kläffenden Kerle „schon mit viel Geschick anzugleichen gewusst hat.“ In ihrer kurzen schriftlichen Replik wirft sie Anton ,reine Demagogie‘ und eine ,Schändung des Menschlichen Geistes aller Zeiten‘ vor. Auffällig ist die eingeschobene Bemerkung, StG habe Antons Pamphlet ,halb entschuldigend‘ als eine ,für keine Art Öffentlichkeit geschriebene‘ Meinungsäußerung qualifiziert. StGs Haltung war ambivalent. Zum einen räumte er ein, dass zum ersten Mal „Auffassungen, die er vertreten habe, ihm von aussen widerklängen“ (EL, 209), zum anderen insistierte er auf der klaren Trennung der politischen und der geistig-dichterischen Sphäre. Diese Ambivalenz kommt deutlich in seinen Reaktionen auf die Annäherungsversuche der Funktionsträger des ,Dritten Reichs‘ zum Ausdruck. Anfang Mai 1933 war der Kultusminister Rust an Morwitz herangetreten, um StG einen Ehrenposten in der Sektion Dichtung der Preußischen Akademie der Künste anzubieten. Morwitz referierte am 5. Mai StG die Anfrage Rusts, „ob Du irgendwie an der – umzugruppierenden oder gleichzuschaltenden – Dichterakademie teilnehmen würdest.“127 Am 10. Mai, am Tage der Bücherverbrennung, ließ StG Morwitz brieflich seine Antwort zugehen, die er ihn „wortgetreu“ zu übermitteln bat. Sie lautet: [I]rgendwelchen posten – auch ehrenhalber – der sogenannten akademie kann ich nicht annehmen ebenso wenig einen sold. […] ich habe seit fast einem halben jahrhundert deutsche dichtung und deutschen geist verwaltet ohne akademie. ja hätte es eine gegeben wahrscheinlich gegen sie. die ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung leugne ich durchaus nicht ab und schiebe auch meine geistige mitwirkung nicht beiseite. Was ich dafür tun konnte habe ich getan […]. Die gesetze des geistigen und des politischen sind gewiss sehr verschieden. wo sie sich treffen und wo geist herabsteigt zum allgemeingut das ist ein äusserst verwickelter vorgang.128

Aber dem Wunsch einiger seiner jüdischen Freunde nach einer öffentlichen Stellungnahme gegen das ,Dritte Reich‘ und zumal gegen dessen antisemitische Propaganda kam StG nicht nach.129 Das Leid der Juden war für ihn nur ein Element in einem größeren Katastrophenzusammenhang. Seiner jüdischen Freundin Edith Landmann sagte er im März 1933: „wenn ich an das denke, was Deutschland in den nächsten fünfzig Jahren bevorsteht, so ist mir die Judensach im Besonderen nicht so wichtig“ (EL, 209).

127 Zit. nach von Stockert, Stefan George und sein Kreis, S. 74; vgl. dazu Raulff 2009, S. 52f. 128 Zit. nach ebd., S. 75f. 129 Vgl. allgemein Jürgen Egyptien, Georges Haltung zum Judentum, in: Mattenklott u. a. (Hrsg.), „Verkannte brüder“, S. 15–29.

4. Die ,Kreise‘

405

Die existenzielle Frage nach der eigenen Zukunft in einem nationalsozialistischen und antisemitischen Deutschland sprengte das brüchig gewordene Gebilde George-Kreis endgültig auseinander. Die unter den älteren Freunden zahlreich vertretenen Juden waren durchweg akkulturiert gewesen und verstanden sich als Deutsche. Sie reagierten sehr unterschiedlich auf die Herausforderung durch den NS-Staat. Wolfskehl, ebenso ein Verehrer Odins wie aktiver Zionist, verließ am Tag nach dem Reichstagsbrand Deutschland und nahm zu der veränderten Situation der Juden in seinem Gedichtband Die Stimme spricht Stellung. Er legte darin ein stolzes Bekenntnis zu seinem Judentum und zum Glauben der Väter ab. Er ging über Italien ins Exil nach Neuseeland. Andere jüdische Kreismitglieder folgten im Lauf der 30er-Jahre und gelangten in die USA (Morwitz), nach Australien (Kurt Singer) oder England (Ernst Gundolf). Nicht wenige der im Reich Verbliebenen glaubten, den neuen Staat im georgianischen Geist von innen (mit) gestalten zu können. Die Zäsur der Machtergreifung wurde in einzelnen Fällen auch zur Zäsur in den persönlichen Beziehungen unter den Kreismitgliedern. Albrecht von Blumenthal, der am Kriegsende beim Anrücken der Roten Armee seine Frau und sich tötete, kündigte die langjährige Freundschaft mit Erich Berger auf, Jüngere wie Frank Mehnert verhöhnten Morwitz’ Buchmanuskript Die Dichtung Stefan Georges, und selbst nach der Beisetzung StGs, die noch einmal etwa zwei Dutzend ,Freunde‘ zusammenführte,130 brachen die weltanschaulichen Differenzen auf, als einige der Jüngeren wie Mehnert oder Karl Josef Partsch beim Abschied den deutschen Gruß gebrauchten. Zur Gruppe der mit dem Nationalsozialismus Sympathisierenden gehörten zunächst auch die Brüder Stauffenberg. StG hatte die Zwillingsbrüder Alexander und Berthold und den etwas jüngeren Claus im Frühjahr 1923 kennengelernt und schon ihres Namens wegen großes Interesse an ihnen. Die Bekanntschaft fiel in die Anfangsphase der Staufer-Studien von Ernst Kantorowicz. Die Brüder stellten StG im Jahr darauf auch den jungen Frank Mehnert vor, der bereits im Herbst 1928 Kommerell als ständigen Begleiter StGs abzulösen begann. ,Umgetauft‘ in Victor Frank wurde er zum wichtigsten Betreuer StGs in dessen letzten Lebensjahren. Diesem Freundeskreis schloss sich Anfang der 30er-Jahre noch der etwas ältere Rudolf Fahrner an. In der Spätphase des George-Kreises gehörten sie zu denjenigen, die dafür optierten, dem Nationalsozialismus eine Chance zu geben. In den Jahren nach StGs Tod nahmen sie von dieser Sichtweise sukzessive Abstand, entschiedener seit der Reichspogromnacht und dem Kriegseintritt. Nach Stalingrad wurde die Gruppe zu einer Keimzelle des 20. Juli. In den aktiven Widerstand mündete auch die Tätigkeit der sogenannten ,Griechen-Freundinnen‘ um Gertrud Kantorowicz und Renata von Scheliha. Sie bildeten einen rein weiblichen Kreis, der im Berlin der 30er-Jahre den Gedanken an die Wiedergeburt der Antike aus georgianischem Geist lebendig hielt. Nach der Reichspogromnacht bauten sie ein Netz zur Rettung Bedrohter auf. Gertrud Kantorowicz agierte so lange als Fluchthelferin, bis es für sie selbst zu spät war. Sie starb kurz vor Kriegsende im KZ Theresienstadt. 130 Im Einzelnen handelte es sich um Walter Anton, Albrecht von Blumenthal, Erich und Robert Boehringer, Ernst Kantorowicz, Walter Kempner, Helmut Küpper, Edith und Georg Peter Landmann, Silvio Markees, Frank Mehnert, Ernst Morwitz, Karl Josef Partsch, Clotilde Schlayer, Alexander, Berthold und Claus von Stauffenberg, Robert von Steiger, Wilhelm Stein, Michael Stettler, Hanna und Karl Wolfskehl.

406

I. Stefan George und sein Kreis

Damit ist bereits das Nachleben des George-Kreises berührt. Der Kreis um Wolfgang Frommel und den Verlag Die Runde wäre der Gruppe um die Stauffenbergs und Fahrner insofern an die Seite zu stellen, als er ebenfalls den Weg aus anfänglicher Sympathie mit dem Nationalsozialismus in den Widerstand bzw. ins Untertauchen gegangen ist. Aus ihm ging schließlich das Castrum Peregrini hervor, das von 1951 bis 2007 die dem Geist StGs verpflichtete gleichnamige Zeitschrift herausgab. Die Stefan George Stiftung wurde von dem verbliebenen Alleinerben Robert Boehringer 1959 begründet und gibt bis in die Gegenwart Stiftungsdrucke und die Sämtlichen Werke StGs heraus.

Literatur Braungart 1997; Breuer 1995; BV; EG; EL; ES; FG/W; FW; G/C; G/G; G/H; Groppe 1997; G/W; K; Karlauf 2007; KH; Kolk 1998; LT; Raulff 2009; RB II; SL; ZT. Bertram, Ernst, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918. Böschenstein, Bernhard / Egyptien, Jürgen / Schefold, Bertram / Vitzthum, Wolfgang Graf (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005. Breysig, Kurt / George, Stefan, Gespräche – Dokumente, hrsg. v. Gertrud Breysig, Amsterdam 1960 (CP 42). Egyptien, Jürgen, „Schwester, Huldin, Ritterin“: Ida Coblenz, Gertrud Kantorowicz und Edith Landmann – Jüdische Frauen im Dienste Stefan Georges, in: Zions Töchter. Jüdische Frauen in Literatur, Kunst und Politik, hrsg. v. Andrea M. Lauritsch, Wien 2006, S. 149–184. Friedemann, Heinrich, Platon: Seine Gestalt, Berlin 1914. Fügen, Hans Norbert, Dichtung in der bürgerlichen Gesellschaft. Sechs literatursoziologische Studien, Bonn 1972. Grünewald, Eckhart, Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk ,Kaiser Friedrich der Zweite‘, Wiesbaden 1982. Gundolf, Ernst / Hildebrandt, Kurt, Nietzsche als Richter unsrer Zeit, Breslau 1923. Gundolf, Ernst, Werke. Aufsätze, Briefe, Gedichte, Zeichnungen und Bilder, hrsg. v. Jürgen Egyptien, mit e. Beitrag v. Michael Thimann, Amsterdam 2006 (Figuren um Stefan George 2). Gundolf, Friedrich, Gefolgschaft und Jüngertum, in: Blätter für die Kunst. Auslese für die Jahre 1904–1909, Berlin 1909, S. 114–118 (wieder in: BfdK 8/1908/09, S. 106–112 u. GK, S. 78–81). Hildebrandt, Kurt, Einleitung, in: Ders., Platons Gastmahl, übertragen u. eingel., 6. Aufl., Leipzig 1922, S. 1–42. Ders., Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht, Berlin 1933. Kantorowicz, Ernst, Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927. Köster, Roman u. a. (Hrsg.), Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis, Berlin 2009. Kommerell, Max, Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock Herder Goethe Schiller Jean Paul Hölderlin, Berlin 1928. Ders., Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944. Aus dem Nachlass, hrsg. v. Inge Jens, Olten, Freiburg/Br. 1967. Mattenklott, Gert u. a. (Hrsg.), „Verkannte brüder“? Stefan George und das deutsch-jüdische Bürgertum zwischen Jahrhundertwende und Emigration, Hildesheim u. a. 2001.

4. Die ,Kreise‘

407

Mettler, Dieter, Stefan Georges Publikationspolitik. Buchkonzeption und verlegerisches Engagement, München 1979. Oelmann, Ute, Der George-Kreis. Von der Künstlergesellschaft zur Lebensgemeinschaft, in: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, hrsg. v. Kai Buchholz u. a., Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 459–464. Rieckmann, Jens, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer ,Episode‘ aus der Jahrhundertwende, Tübingen, Basel 1997. Schlieben, Barbara / Schneider, Olaf / Schulmeyer, Kerstin (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004. Schmitz, Walter / Schneider, Uwe, Völkische Semantik bei den Münchner ,Kosmikern‘ und im George-Kreis, in: Uwe Puschner u. a. (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München u. a. 1996, S. 711–746. Starke, Ernst Eugen, Das Plato-Bild des George-Kreises, Diss. masch., Köln 1959. Stockert, Franz Karl von, Stefan George und sein Kreis. Wirkungsgeschichte vor und nach dem 30. Januar 1933, in: Literatur und Germanistik nach der ,Machtübernahme‘. Colloquium zur 50. Wiederkehr des 30. Januar 1933, hrsg. v. Beda Allemann, Bonn 1983, S. 52–89. Vallentin, Berthold, Napoleon, Berlin 1923. Winkler, Michael, George-Kreis, Stuttgart 1972. Wolters, Friedrich, Herrschaft und Dienst, Berlin 1909. Jürgen Egyptien

5.

Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung

5.1.

Einführung und Quellensituation

Die Buchhandels- und Verlagsgeschichte der Jahrhundertwende ist geprägt von einer konstruktiven, häufig auch streitbaren Auseinandersetzung des Autors mit seinen Verlegern. In zahlreichen Essays reflektierten Autoren Selbstverständnis und Verantwortung des Literaturverlegers, der sein Verlagsgeschäft als Mission, nicht als Industrieprojekt (so das Credo des Leipziger Verlegers Otto Spamer) führen und somit sein unternehmerisches Handeln nicht allein auf Gewinnoptimierung ausrichten möge. Während Autorinnen wie Else Lasker-Schüler vor dem Hintergrund von Wirtschaftskrise und Inflation verbittert eine Verlegerabrechnung publizierten,1 sahen sich andere Autoren veranlasst, ihre Verleger sogar zu würdigen. Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal strichen beispielsweise die positive Verflechtung von Freundschaft und Geschäft in ihrer Beziehung zu Anton Kippenberg heraus, Hans Fallada verfasste eine anrührende Hymne an seinen Verleger Ernst Rowohlt, der ihm nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis eine Anstellung im eigenen Verlag verschaffte, Stefan Zweig und Alfred Döblin setzten sich mit dem Profil des Kultur- und Programmverlegers, dem Förderer der modernen schöngeistigen Literatur, auseinander. In dieser Phase der Herausbildung eines neuen unternehmerischen Selbstverständnisses auf beiden Seiten, die einherging mit einer Gründungswelle schöngeistiger Verlage, entschied sich StG für den Schritt in die literarische Öffentlichkeit und beauftragte Carl August Klein mit der Suche nach einem geeigneten Verlag für die professionelle Durchsetzung seines Werks auf dem deutschen Buchmarkt. Diesen fand StG mit dem 1895 gegründeten Literaturverlag Georg Bondi in Berlin. Es entstand eine vertrauensvolle, konstruktive Geschäftsbeziehung, die über dreißig Jahre bis zum Tod des Schriftstellers halten sollte. StGs Wertschätzung gegenüber seinem Verleger spiegelt sich in der umfänglichen Korrespondenz, die wichtige Einblicke in das Verlagsgeschäft um 1900 bietet. Stefan Zweig würdigte in seinem Zeitungsartikel Lob der deutschen Verleger aus dem Jahr 1912, dass sich „heute eine Reihe deutscher Verleger aus der Enge des Geschäftlichen in die ganz wachsende Weite der deutschen Kultur gehoben hat“ und dieses neue Selbstverständnis müsse „mit mehr Zustimmung und Bewunderung anerkannt werden.“2 Autor und Verleger kooperierten als Geschäftspartner, arbeiteten 1 Vgl. Else Lasker-Schüler, Ich räume auf! Meine Anklagen gegen meine Verleger, in: Dies., Gesammelte Werke in 3 Bden. Bd. 2: Prosa und Schauspiele, hrsg. v. Friedhelm Kempf, Frankfurt/M. 1996, S. 507–555. 2 Stefan Zweig, Lob der deutschen Verleger, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 80/1913, 13, S. 573–574, hier: 573.

5. Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung

409

sich zu und waren neben ihren geschäftlichen Transaktionen freundschaftlich verbunden. Der Autor engagierte sich verstärkt als literarischer Agent, warb junge, auf dem Markt noch wenig bekannte Schriftsteller für seinen Verleger, informierte diesen über wichtige literarische Strömungen gerade im europäischen Ausland und initiierte Verlagsprojekte; der Verleger verstand sich als Förderer seines Autors, als freundschaftlicher Partner und Vermittler zwischen Schriftsteller und Lesepublikum. Die Beziehungen zwischen Autor und Verleger hatten seit der Jahrhundertwende meist über viele Jahrzehnte Bestand und waren geprägt von einem konstruktiven Verhältnis. Vor dem Hintergrund der Herausbildung eines industrialisierten Literaturbetriebs und Massenbuchmarkts im Laufe des 19. Jahrhunderts, hauptsächlich geprägt von internationalen Pressekonzernen wie Rudolf Mosse, Adolf Scherl und Leopold Ullstein in Berlin, hatte sich ein neuer Verlegertypus herausgebildet: der Kultur- und Programmverleger, der sich der modernen zeitgenössischen Literatur zuwandte, literarische Bewegungen förderte und jungen Autoren eine erste literarische Anlaufstelle bot, oftmals finanzielle Unterstützung gewährte und Schriftstellerkarrieren überhaupt erst begründete. Prototypen des Industrieverlegers waren die großstädtischen Presseunternehmen, die mit ihren Zeitungen, Zeitschriften, Illustrierten und preiswerten Buchreihen spätestens in den Jahren der Weimarer Republik den Kultur- und Programmverlegern ernsthaft Konkurrenz machten, denn Verlage wie Ullstein, Scherl oder auch der in den 20er-Jahren gegründete Verlag Theodor Knaur warben literarischen Traditionsverlagen verstärkt ihre Hausautoren ab, die es sich mit Blick auf ihre eigene wirtschaftliche Notlage praktisch nicht erlauben konnten, diese attraktiven Offerten auszuschlagen. Verleger wie Samuel Fischer hatten hierfür sogar Verständnis, warnten ihre Autoren aber davor, dass sie an symbolischem Kapital verlieren konnten, wenn Einzelwerke erst einmal in den Billigbuchreihen eines Ullstein-Verlags oder Scherl-Verlags vermarktet würden.3 Die unterschiedlichen Interessen des schöngeistigen und des Industrieverlags brachte nicht zuletzt Louis Ullstein nach einem Besuch bei Samuel Fischer pointiert zum Ausdruck, wenn er nach dieser Begegnung feststellte, dass ein rechtes Gespräch nicht zustande gekommen sei, denn „die intellektuelle Atmosphäre des Hauses sei ihm zu fremd gewesen“.4 Um 1900 kam es zu einer Gründungswelle kleiner moderner Literaturverlage, die sich das Verlegen von schöngeistiger Literatur zur Aufgabe machten, also von Literaturartikeln, die nicht für den Massenabsatz bestimmt waren. Zur Gruppe der Kulturverleger zählten auch die kleinen Individualverleger, eine Besonderheit der Jahrhundertwende. Es handelte sich gewöhnlich um junge Verlagsgründer (oft nicht älter als 30 Jahre) aus großbürgerlichem Milieu, wohlhabend und gebildet, die eine starke Affinität zur Literatur und Kunst der Moderne besaßen. Sie hatten meist keine Buchhandels- und Verlagserfahrung oder eine lange Verlagstradition innerhalb der Familie; sie entstammten Bankiers- und Handelsfamilien, häufig jüdischer Herkunft, und gründeten ihre Verlage durch Erwerb von attraktiven Verlagsrechten, die sie professionell vermarkteten. Diese Gründergeneration des Literaturbetriebs sah eine wich3 S. Fischer begründete seine Position vor dem Hintergrund der Abwerbungsbemühungen des Ullstein-Verlags, der Erfolgsstücke Gerhart Hauptmanns in seiner Ullstein-Taschenbuchreihe aufnehmen wollte; vgl. Mendelssohn, S. Fischer, S. 917–928. 4 Ebd., S. 919.

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tige Aufgabe in der Gewinnung neuer und bereits gut vernetzter Autoren, sodass sich ihre Verlage zu wichtigen literarisch-geselligen Treffpunkten entwickelten. Diese Individualverleger konzentrierten sich auf die Durchsetzung von ,Nischenprodukten‘, wie etwa moderne Lyrik, Anthologien oder bibliophile Produkte. Insbesondere Berlin erwies sich als idealer Standort für junge Verlagsgründer. Zu den repräsentativsten und für die Beförderung der modernen deutschen Literatur wirkungsmächtigsten Verlagen zählte neben Axel Juncker (Berlin) und Alfred Kippenberg (Leipzig) auch der Verlag Schuster & Löffler (Berlin), der hauptsächlich Lyrik verlegte; zu seinen bedeutendsten Autoren zählten Adolf Donath, Detlev von Liliencron und Otto Julius Bierbaum sowie der junge Stefan Zweig. Auch Georg Bondi gehörte zu dieser jungen, innovativen Verlegergruppe.5 In diesem literarisch-kulturellen Kontext muss auch die Gründung des Verlags Georg Bondi in Berlin gesehen werden, der sein Unternehmen 1890 nach Aufkauf der Verlagsrechte am Gesamtwerk von Max Halbe gegründet hatte und sich auf die Suche nach Autoren begab, um seinem Literaturverlag ein unverwechselbares Profil zu verleihen. Der Zeitpunkt war gut gewählt, weil die Autoren zu dieser Zeit verstärkt auf der Suche nach einem Hausverlag waren, der ihr Werk zusammenführte. Hatten sich die Vertreter des Berliner Naturalismus hauptsächlich um den Verleger Samuel Fischer gruppiert, fanden Autoren wie Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal und Stefan Zweig ihren Hausverleger jetzt in Anton Kippenberg, der seinen Verlag auf der avantgardistischen Kulturzeitschrift Die Insel begründet hatte. Die Verlagsgründung Bondis und seine Suche nach einem Hausautor, mit dem er seinen Verlag auf dem deutschen Buchmarkt einführen wollte, fiel zeitlich mit den Überlegungen StGs zusammen, den Schritt in die literarische Öffentlichkeit zu wagen und sich einen Verleger für den professionellen Vertrieb seiner Werke zu suchen. Die Zusammenarbeit zwischen Georg Bondi und StG währte vom Abschluss des Verlagsvertrags im Jahr 1898 bis zum Tod des Autors im Jahr 1933. StG war ein exzellenter Kenner der materiellen Seite der Buchherstellung, wusste um die Wirkung und Bedeutung der Buchausstattung, kannte sämtliche Papiersorten und Einbandmaterialien und verfolgte den typographischen Diskurs der Zeit mit größter Aufmerksamkeit. Für Bondi war StG ein fachlich kompetenter Gesprächspartner und Verlagsmitarbeiter. StG übernahm im Verlag Bondi die Aufgabe eines Pressesprechers und konzentrierte sich hier auf die Gestaltung der Paratexte. Er schrieb die Vorreden, Widmungen und Anzeigentexte, gestaltete die Verlagsprospekte, verschickte Rezensions- und Freiexemplare sowie Prospektmaterial und organisierte Lesungen, ein immer wichtiger werdendes Werbeinstrument des Buchhandels. Bereits 1891 interessierte sich StG für die Techniken moderner Reklame und beauftragte sogar Carl August Klein, Erkundigungen über moderne Reklamestrategien Berliner Verleger einzuziehen. StG betätigte sich aber auch als Lektor und Korrektor, arbeitete penibel die Manuskripte seiner Schüler durch – monierte häufig deren Fehlerträchtigkeit, so entdeckte er nach eigener Aussage noch „Hunderte von Fehlern und Auslassungen“ (G/G, 10) – und erteilte schließlich das Imprimatur, ohne welches kein Werk im Verlag der Blätter für die Kunst erscheinen durfte.

5 Vgl. Birgit Kuhbandner, Unternehmer zwischen Markt und Moderne. Verleger und die zeitgenössische deutschsprachige Literatur an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2008.

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Bondi war für StG nicht nur der Verleger, sondern zugleich Verwalter seiner Finanzen; Bondis Adresse diente als Hauptwohnsitz. StG besaß keinen festen Wohnsitz, schließlich meldete er sich polizeilich bei Bondi an, damit wenigstens das Finanzamt eine Anschrift hatte. Bondi regelte StGs Steuererklärungen, tätigte Banküberweisungen, da der Autor ohnehin kein eigenes Bankkonto besaß.6 StG erteilte seinem Verleger im Gegenzug alle Vollmachten: eine kluge Entscheidung, weil sich StG häufig auf Reisen befand. Diese geschäftlich-freundschaftliche Beziehung zwischen StG und Bondi gilt es im Folgenden zu rekonstruieren und dabei Entstehungsprozesse und Publikationsgeschichte von StGs Werk herauszuarbeiten. Die wichtigste Materialbasis stellt das umfängliche Verlagsarchiv Georg Bondi dar, das im Stefan George Archiv in Stuttgart verwahrt wird. Das Quellenmaterial reicht von der sehr ausführlichen Korrespondenz bis hin zu Geschäftsbüchern, Verlagsverträgen und akribisch geführten Absatz- und Umsatzstatistiken. Autor-Verleger-Briefwechsel gehören zweifelsohne zu den bedeutendsten Quellen der Buchhandels- und Verlagsgeschichtsschreibung und bieten eine Fülle von Detailinformationen über Buchherstellung, Vertrieb, Reklame und Honorarabrechnungen sowie über die immer wichtiger werdende Frage der Nebenrechteverwertung. Die Autor-Verleger-Briefe dokumentieren minutiös den Herstellungsprozess einzelner Verlagsartikel und zeigen Verlagspolitik und verlegerisches Alltagsgeschäft auf. Ein durchgängiges Problem für Bondi war die nur schwere Erreichbarkeit StGs, der häufig auf Reisen und ohne festen Wohnsitz so manchen Produktionsprozess verzögerte, zumal der Verleger ohne vorherige Rücksprache mit seinem anspruchsvollen Autor kein Werk auf den Markt bringen durfte. Gleichwohl: Ein unschätzbarer Vorteil der Kommunikation zwischen Bondi und StG war die Entscheidung für den schriftlichen Austausch. Bondi selbst nutzte zwar häufig das Telefon, um seine Drucker, insbesondere Otto von Holten, zu instruieren; allerdings berichtete er über diese Telefonate detailliert in seinen Briefen an StG. Den Briefen beigelegt wurden Schriftmuster der Druckereien, Einband- und Papierproben der Buchbinder und Papierlieferanten, denn StG entschied selbstverständlich auch über die Buchgestaltung. Der Autor schien sich der Marktpreise für Satzherstellung, Einbandmaterial und Papier für Bücher durchaus bewusst zu sein, denn er bestand selten auf der Verwendung besonders teuren Materials, sofern er seine ästhetischen Ansprüche an ein ,ideales Buch‘ erfüllt sah. Die vertraglich festgelegte Einbindung StGs auch in die Buchgestaltung und der intensive Austausch darüber haben somit wichtige und in der Verlagsgeschichtsschreibung eher selten überlieferte Detailinformationen über die verschiedenen Schriftmuster und Papiersorten und ihre Herstellungspreise um die Jahrhundertwende erhalten. Ungeduldig und in der Tat marktfern zeigte sich StG lediglich während des Ersten Weltkriegs, wenn er hartnäckig auf der 6 Von seinem Verleger gedrängt, sich doch ein privates Bankkonto einzurichten, bat StG Karl Wolfskehl um Eröffnung eines Bankkontos in Darmstadt und autorisierte ihn ausdrücklich, seine Unterschrift doch nachzuahmen, um die ihm offenbar lästigen Bankgeschäfte nicht selbst erledigen zu müssen. Die Eröffnung des Bankkontos kam nicht zustande, weil die Bank dieses Vorgehen nicht zu akzeptieren bereit war. So blieb Bondi der Finanzverwalter StGs und die regelmäßige Berichterstattung über Einnahmen und Ausgaben erlauben es heute, die ökonomische Situation StGs, die gerade zur Zeit der Inflation immer schwieriger wurde, sehr genau zu rekonstruieren; vgl. StG an G. Bondi, 1920–1927, StGA.

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Einhaltung von Erscheinungsterminen bestand, ohne Rücksichtnahme auf die kriegsbedingten Einschränkungen im gesamten Buchgewerbe, über die der Verleger doch häufig klagte. Bondi versuchte StG immer wieder zu erklären, dass allein schon die Militärpflicht des männlichen Personals im Verlags- und Druckgewerbe zu einer beträchtlichen Verlangsamung der Arbeitsabläufe führe und sich außerdem die Beschaffung von Papier und Einbandmaterial ausgesprochen schwierig gestalte. Die Autor-Verleger-Briefe geben Auskunft über die Kalkulation und Bewerbung einzelner Verlagsartikel, über Auflagenhöhe, Ausstattung und nicht zuletzt über Honorarregelungen. Insbesondere die Abwägung von Handsatz oder maschinellem Satz, eine Entscheidung, die maßgeblich auf die Herstellungskosten Einfluss nahm, durchzieht den Briefwechsel in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als die prekäre Wirtschaftslage und die Inflationsfolgen auch den Bondi-Verlag in wirtschaftliche Bedrängnis brachten. Oftmals votierte der Verleger für den Handsatz, weil in diesem Fall nachträgliche Autorenkorrekturen ohne zusätzliche Kosten berücksichtigt werden konnten, eine Entscheidung, die aber von der Auflagenhöhe eines Werks abhing. Bondi bestand – im Verlagsgeschäft seiner Zeit durchaus üblich – häufig auf einer Risikoverteilung zwischen Verlag und Autor und vereinbarte Staffelhonorare, die eine Ausbezahlung des vereinbarten Resthonorars vom Verkauf der Erstauflage abhängig machten. StG übernahm aber auch häufig die Druckkosten privat, wenn Bondi gegenüber einem Verlagsprojekt zögerlich schien, und trug damit das finanzielle Risiko allein. Die Informationen in den Autor-Verleger-Briefen korrespondieren mit den Geschäftsbüchern, die eine Rekonstruktion des profanen Verlagsgeschäfts von der Gründung des Bondi-Verlags bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten ermöglichen. Das von StG und Bondi vereinbarte Geschäftsmodell einer Form von ImprintVerlag, als solcher fungierte der Verlag der Blätter für die Kunst, sah vor, dass die ökonomischen Entscheidungen und buchhalterischen Aufgaben allein von Bondi verantwortet wurden.7 Allerdings war in den Verlagsverträgen vereinbart worden, dass StG jederzeit dazu berechtigt war, einen unabhängigen Sachverständigen zur Überprüfung der Bücher zu bestellen, sicherlich ein Grund für die ausgesprochen akribische Buchführung des Verlegers. Die systematische Auswertung der Geschäftsbücher des Bondi-Verlags erlaubt eine sehr genaue Rekonstruktion der Zusammenarbeit auch zwischen dem Verleger und seinen Druckern, Schriftgießern, Buchbindern und Papierlieferanten. Erhalten ist die komplette Buchhaltung des Verlags der Blätter für die Kunst.8 Die Zusammenstellung seiner Zulieferer offenbart das internationale Beziehungsgeflecht Bondis, der Druckaufträge wegen der herausragenden Qualität auch häufig an ausländische, vornehm7 Imprint-Verlage sind finanziell nicht selbstständig, doch ihre Abhängigkeit von einem anderen Verlag soll inoffiziell bleiben. Insofern handelt es sich bei dem Geschäftsmodell des Verlags der Blätter für die Kunst nicht um einen klassischen Imprint-Verlag im heutigen Sinne, allerdings – dies dokumentiert die Korrespondenz zwischen StG und Holten – die spezielle Geschäftsbeziehung blieb von der literarischen Öffentlichkeit unbemerkt. Ein Vorzug dieses Geschäftsmodells war zweifellos, dass StG mit dem buchhalterischen Bereich des Unternehmens nichts zu tun hatte. Die ökonomische unternehmerische Entscheidung oblag dem Verleger Bondi. 8 Die einzelnen buchhalterischen Instrumentarien eines Verlags zu dieser Zeit (Auftragsbücher, Cassa-Buch, etc.), die für den Bondi-Verlag sämtlich erhalten sind, werden im Abschnitt 5.4. genauer beschrieben.

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lich an belgische Firmen vergab. Die Arbeitsabläufe und Auftragsvergaben sind mit Datum versehen und geben Aufschluss über den Zeitaufwand der einzelnen Arbeitsvorgänge, über Transportwege und Versandzeiten. Der George-Nachlass enthält darüber hinaus Absatzstatistiken, sodass der Verkauf von Einzelwerken StGs und seines Kreises sowie der Gesamtausgabe praktisch über den gesamten Zeitraum nachgezeichnet werden kann. Die Absatzstatistiken erklären z. B. auch die Ungeduld des Autors in den Kriegsjahren, weil vor allem seine Gedichtbände mit Kriegsbeginn eine besondere Konjunktur erlebten. Bondi beteiligte sich zwar nicht an dem sehr einträglichen Geschäft mit Feldausgaben, doch preiswerte Sonderausgaben für Soldaten wurden von seinem Autor selbst gewünscht. Wichtige Vergleichsdaten gerade in Honorarfragen lassen sich aus den AutorVerleger-Korrespondenzen Rainer Maria Rilkes und Hugo von Hofmannsthals mit Anton Kippenberg oder aber aus dem Briefwechsel Samuel Fischers, Kurt Wolffs oder Ernst Rowohlts mit ihren Autoren gewinnen. Die vergleichende Lektüre dieser Autorenkorrespondenzen illustriert recht nachdrücklich, dass sich die Geschäftsbeziehung zwischen StG und Georg Bondi zu keinem Zeitpunkt atypisch gestaltete. Im Gegenteil: Die Verlagsverträge entsprechen völlig den Standards dieser Zeit, die Modelle zur Berechnung der Honorare, die Rechteverwertung sowie die vielfältigen Aufgabenbereiche eines Kultur- und Programmverlegers, wie auch Georg Bondi einer war, verweisen zwar auf sehr komplexe Beziehungsstrukturen, offenbaren aber dennoch ein recht einheitliches Bild in der Beziehungsgestaltung. Auch trafen die namhaften Kultur- und Programmverleger der Jahrhundertwende diesbezüglich brancheninterne Absprachen und förderten dadurch die Standardisierung von Verlagsverträgen auf nationaler Ebene.9 So zeigt sich auch in der Beziehung zwischen StG und Georg Bondi, dass bei den Autoren die ökonomischen Interessen stets vital waren, sie sich häufig sogar als die kompetenteren Geschäftspartner erwiesen und ihren Marktwert auch über eine sogenannte ,Umwegrentabilität‘ zu pflegen verstanden, also durch Verzicht auf Einkünfte zugunsten des symbolischen Kapitals, ein Verfahren, das gerade StG besonders häufig praktizierte, wenn Bondi wegen der möglicherweise schlechten Absatzfähigkeit eines neuen Verlagsartikels zögerte.10 Die Geschäftsbücher, die umfängliche Verlagskorrespondenz, der Schriftverkehr zwischen StG und seinen Druckern (hier sind auch die Briefwechsel zwischen StG und 9 Eine wichtige Studie zur Entwicklung des gesamtdeutschsprachigen Buchmarkts bietet Ernst Umlauff (Beiträge zur Statistik des Deutschen Buchhandels, Leipzig 1934), der für die Zeitspanne von 1920 bis 1932 weitreichende Firmen-, Produktions- und Gewerbestatistiken erarbeitete. Wichtige statistische Darstellungen des Buchmarkts zwischen der Reichsgründung und der Machtübernahme der Nationalsozialisten liefern auch die Untersuchungen von Barbara Kastner (Kastner, Buchverlag; dies., Statistik). Die Studie von Britta Scheideler Zwischen Beruf und Berufung. Zur Sozialgeschichte der deutschen Schriftsteller von 1880–1933 (1997) beschreibt die soziale Stellung des Autors in der Gesellschaft. Ute Schneider widmet sich in ihrem Beitrag Lektürebudgets in Privathaushalten der zwanziger Jahre (in: Gutenberg-Jahrbuch 1996, S. 341–351) dem Lektürebudget von Privathaushalten in der Weimarer Republik, gestützt von einer Auswertung der Statistik des Reichs; so gelingen erstmals verlässliche Einblicke in die Einkommensverhältnisse des neuen Mittelstandes, der Angestellten, aber auch der intellektuellen Elite Deutschlands. 10 Vgl. zu Autor-Verleger-Beziehungen als verlagshistorische Quelle den vorzüglichen Beitrag von Ernst Fischer: „… diese merkwürdige Verbindung als Freund und Geschäftsmann“, in: Leipziger Jahrbuch für Buchgeschichte 15/2006, S. 245–286.

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seinen belgischen und französischen Partnern zu berücksichtigen) und Verlagsverträge geben somit erschöpfende Auskunft einerseits über die nicht-kommerzielle Publikationsphase und andererseits über die kommerzielle Verwertungsphase der Werke StGs und seines Kreises. Die systematische Ordnung des Georg-Bondi-Verlagsarchivs in Stuttgart legt nahe, das literarische Schaffen StGs in eine nicht-kommerzielle und eine kommerzielle Publikationsphase zu gliedern. Die erste Phase dauerte von StGs literarischen Anfängen bis zur Vertragsunterzeichnung bei Georg Bondi 1899, die öffentlich-kommerzielle Phase endete mit StGs Tod im Jahr 1933. Die Zwischenkriegsjahre stellten eine wichtige Zäsur im gesamtdeutschen Verlagsgewerbe dar, sodass die Vorkriegsjahre und die Jahre der Weimarer Republik gesondert betrachtet werden müssen. Die Rekonstruktion der literarischen Netzwerke in der nicht-öffentlichen Publikationsphase StGs gelingt (neben der erwähnten Korrespondenz mit den Druckern) hauptsächlich über den Briefwechsel StGs mit Hugo von Hofmannsthal, aber auch über den jüngst erschienenen Briefwechsel zwischen Friedrich Gundolf und Wolters. Aufschluss über Distributionsdichte und Rezeptionsgrad des Frühwerks StGs gibt die Korrespondenz StGs mit seinem Mitarbeiter Carl August Klein, seinem Drucker Otto von Holten und den vielen kleineren in- und ausländischen Druckereien, mit denen StG anfangs zusammenarbeitete. Diese Geschäftskorrespondenz offenbart, dass die frühen Werke StGs und seines Kreises sowie die BfdK keinesfalls nur innerhalb eines kleinen geschlossenen Zirkels rezipiert wurden, sondern die Zahl der Subskribenten und Abonnenten sich durchaus an konkurrierenden Projekten wie den Zeitschriften Die Insel und Pan messen lassen. Die Effizienz dieses teilöffentlichen Vertriebssystems und das Bestellverhalten der Leser werden hier erstmals aufgearbeitet und vor dem Hintergrund der Frage nach dem Kommerzialisierungs- und Wirkungsgrad des symbolistischen Literaturmarkts behandelt, denn eine längst noch nicht erschöpfend beantwortete Frage ist die nach den Zusammenhängen zwischen symbolistischer Literaturvermittlung und kommerziellem Buchmarkt um 1900. So scheinen zwar die Kommunikations- und Vertriebskanäle des internationalen Buchmarkts mit seinen wichtigsten Kommissionsplätzen, u. a. Leipzig, Berlin, Wien, Paris, Lüttich und Brüssel, deckungsgleich mit den literarischen Netzwerken der Symbolisten. Gleichwohl funktionierte der Austausch nahezu ausschließlich über das Medium der literarischen Zeitschriften und durch Privatdrucke, welche dezidiert außerhalb des kommerziellen Marktgeschehens kommuniziert wurden. Eine besondere Rolle nahm allerdings ein besonderer Typus von Sortimentsbuchhandlung ein, der sich seit der Jahrhundertwende zunehmend etablierte: die Bücher- und Lesestube. Bücher- und Lesestuben entwickelten sich zu literarischen Kristallisationspunkten einer Stadt, hier verkehrten Literaten und Bibliophile, es fanden Lesungen und Diskussionsrunden statt. Die Aktivitäten des ambitionierten Münchner Buchhändlers Heinrich Jaffe lassen sich z. B. allein schon über die vielfältigen autobiographischen Äußerungen Thomas Manns und Rainer Maria Rilkes über die Literaturszene in München erschließen.11 Die Werk- und Publikationsgeschichte StGs und seines Kreises muss daher für beide Produktions- und Rezeptionsabschnitte, sowohl für die nicht-kommerzielle als auch für die kommerzielle Phase, vor dem Hintergrund der fortschreitenden Internationalisierung der Buchmärkte und deren wirkungsmächtigen Medien (u. a. Über11 Vgl. Dirk Heißerer, Im Zaubergarten. Thomas Mann in Bayern, 2., verb. Aufl., München 2005.

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setzungsserien, Anthologien und Zeitschriften) um 1900 gesehen werden. Der Rückzug in einen nichtöffentlichen, gleichwohl international funktionierenden Literaturaustausch, die bewusste Marktferne, konnte nur vor dem Hintergrund der globalen Wirtschafts- und Handelsgeflechte der Jahrhundertwende und der damit einhergehenden Standardisierung und Normierung der wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen gelingen.

5.2.

Globalisierung der Buchmärkte um 1900 – Normierung von Distributionssystemen und rechtlichen Rahmenbedingungen

Um 1900 wandelte sich der gesamte Buchmarkt, seine Netzwerke, die Produktion, Distribution und Konsumtion von Druckwerken, gravierend. Die Buchwirtschaft war im Zeitraum zwischen der Reichsgründung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs von einer gewaltigen Umorganisation des buchhändlerischen Geschäftsverkehrs, von einer massiven Expansion und Umschichtung der Titelproduktion, von einer fortschreitenden Dynamisierung des Marktgeschehens und Herausbildung buchhändlerischer Nebenmärkte geprägt. Es bildeten sich neue Publikationsmedien heraus, u. a. Lieferungswerke, Buchserien, Anthologien, wichtige buchhändlerische Instrumentarien zur Durchsetzung neuer Autoren auf dem Markt. Dieser Dynamisierungsprozess wurde flankiert von der Herausbildung eines Massenbuchmarkts und einem enormen Modernisierungs- und Professionalisierungsprozess, dessen entscheidende Impulse von der Leipziger Messestadt ausgingen, u. a. die Professionalisierung des Zwischenbuchhandels, der einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf den transnationalen Literaturaustausch um 1900 besaß. Zu den führenden Verlagsstädten des Deutschen Reichs zählten Berlin, Leipzig, Stuttgart, München und Dresden, wobei Berlin und Leipzig mit Abstand zu den bedeutendsten literarischen Umschlagplätzen in dieser Zeit gehörten. Allein diese beiden Städte verbuchten 20 Prozent der Gesamtverlagsproduktion auf sich. Je nach Verlagsstandort variierten die Verkaufspreise für Bücher; während sich Berlin durch recht moderate Buchpreise auszeichnete, stieg in München die Jahresproduktion zwar stetig an, doch ein großer Teil der Bücherproduktion in Süddeutschland konzentrierte sich auf sehr teure Kunstbücher.12 Die zahlenmäßig stärksten Programmsparten waren neben der schönen Literatur (Romane, Gedichte, Novellen, Erzählungen und Theaterstücke) Werke der Philologie und der Geschichte. Insbesondere Geschichtsbücher erlebten in den Vorkriegsjahren einen regelrechten Produktionsboom – eine Entwicklung, an der auch Georg Bondi partizipierte. Der Programmbereich der schönen Literatur verzeichnete zwischen 1897 und 1900 jährlich etwa 3.000 Neuerscheinungen, in den Vorkriegsjahren stieg die Zahl auf über 5.000 Titel. Über die Hälfte der Publikationen der schönen Literatur entfiel auf Romane und Erzählungen. Lyrik und Bühnendichtungen machten dagegen nur 20 Prozent der Gesamtproduktion in diesem Segment aus.13

12 Vgl. Kastner, Statistik [II], S. 361. 13 Vgl. ebd., S. 310–316.

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Es wird zu zeigen sein, wie sehr sich auch Georg Bondi an den literarischen Trends und Moden des Literaturmarkts orientierte. Der intensive Austausch Bondis mit StG über neue Marktphänomene und deren Wirkungskraft bei der Durchsetzung von moderner Literatur auf dem europäischen Buchmarkt zeigt, dass StG nicht nur ein sehr aufmerksamer Beobachter des Literaturbetriebs war, sondern auch selbst Impulse für neue Reklametechniken und Vertriebsformen oder Publikationsmedien, z. B. Sonder- und Volksausgaben, lieferte. Der Verleger der Moderne – neue Formen unternehmerischen Handelns und unternehmerischen Selbstverständnisses um 1900 Das Verlagsgewerbe hatte seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung genommen. Der Kultur- und Programmverleger, zu deren prominentesten Vertretern Wilhelm Friedrich, Samuel Fischer, Albert Langen und Anton Kippenberg gehörten, distanzierten sich dezidiert vom Industrieverleger, gleichwohl handelten Kulturverleger als professionelle moderne Unternehmer, führten international präsente Verlagshäuser mit hohem Personalstatus und effizienter Bürokommunikation. Komplexität und Professionalität der kaufmännischen Leitung eines Verlagshauses spiegelte sich im Verlagskontor, das sich um die Jahrhundertwende zu einem modernen Büro entwickelte. Das ausgereifte buchhalterische System (seit 1910 die Kameralbuchführung) mit exakten Aufzeichnungen der Einnahmen und Ausgaben bietet einen Eindruck der Geldbewegungen innerhalb des Verlags, das ,Cassabuch‘ nennt Einnahmen und Ausgaben, das ,Auslieferungsbuch‘ nennt die Daten der Auslieferung und ihre Konditionen, das ,Debitoren-Journal‘ verzeichnet die direkt belieferten Privatkunden, das ,Creditoren-Journal‘ ist ein Verzeichnis der an der Herstellung beteiligten Firmen (Papierlieferanten, Druckereien, Buchbindereien) und das ,Hauptbuch‘ führt alle Informationen der Einzelbücher zusammen und weist die Jahresbilanz aus, offeriert also ein Gesamtbild der Geschäftsumsätze und ermöglicht die Ermittlung eines monatlichen Durchschnittsgewinns.14 Die Führung diverser Geschäftsbücher wurde flankiert von einer differenzierten Erfassung der Investitionen in einen einzelnen Buchtitel, die von den Herstellungskosten, also Materialaufwendungen, über den Vertrieb bis zur Werbung reichten. Das Verlagsarchiv Georg Bondi verwahrt diese buchhalterischen Instrumentarien, sodass allein über das Hauptbuch ein exzellenter Einblick in das Verlagsgeschäft des Berliner Verlegers gelingt und sich ein Gesamtbild des jährlichen Umsatzes, der Gewinnmargen und Absatzzahlen sowie die Funktionalität moderner Bürokommunikation in einem Verlagsunternehmen beschreiben lässt. Diesem wirtschaftlichen Wandel trug das Verlagsgewerbe durch neue Unternehmensformen Rechnung. Dominierten im Buch- und Verlagshandel bislang uneingeschränkt inhabergeführte Familienbetriebe, so stieg seit der Jahrhundertwende die Zahl von Neugründungen in Gestalt von Aktiengesellschaften. Eine der ersten Verlagsgründungen in Form einer GmbH war die 1901 gegründete Insel. Bei Verlegern ohne eigenen Herstellungsbereich war die Zusammenführung von Geschäfts- und 14 Vgl. Jäger, Verleger, S. 283f.

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Wohnbereich obligatorisch. Wohlhabendere Verleger erwarben eine Villa außerhalb des Stadtgebiets, z. B. im Muldental, in Markkleeberg oder im Grunewald, wo sie ein gastfreundliches Haus führten und häufig ihre Autoren über Wochen beherbergten, so auch Georg Bondi im Grunewald in der Nähe Berlins.

5.3.

Symbolistische Literaturvermittlung und kommerzieller Buchmarkt um 1900 – Georges nicht-kommerzielle Publikationsphase

Kein Buchhändler oder Verleger des 19. Jahrhunderts war in der Lage, ohne Partizipation an den internationalen Distributionssystemen wirtschaftlich zu existieren. Auch Kleinverleger wie beispielsweise die Gründer der Zeitschrift Die Insel entschieden sich für die Abgabe des kaufmännischen Bereichs an einen professionellen Verleger. Mit diesem Schritt ersparten sich die Herausgeber einerseits den arbeitsintensiven Vertrieb und die damit verbundene umfängliche Korrespondenz (Kontakt zu den Sortimentsbuchhändlern, Bearbeitung von Bestellungen, Auslieferung und Fakturierung), andererseits waren die Vertriebsstrukturen so komplex geworden, dass Fachkenntnisse erforderlich waren, u. a. über internationale buchhändlerische Geschäftsusancen, postalische Verfahren und Rabattierungen, aber auch Kenntnisse über das internationale Urheberrecht gerade bei Wiederabdruck von Werken ausländischer Zeitschriften oder Übersetzungen, ein Aufgabenbereich, den seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts spezielle literarische Agenturen übernommen hatten. So verwundert es nicht, dass sich StG mit der verstärkten Rezeption des Symbolismus auch in Deutschland Ende der 1890er-Jahre vom Selbstverlag abwandte und sich auf Verlegersuche begab. Persönliche Freundschaften, Briefkorrespondenzen und Reisen durch ganz Europa spielten für StG und seinen Kreis eine wichtige Rolle und ersetzten vor seinem Schritt in die literarische Öffentlichkeit die literarische Kommunikation. Vor allem die Reiseaktivitäten förderten die Verdichtung dieser Netzwerke. StG gelang es, in den wichtigsten europäischen Zentren Zugang zu literarischen Gesellschaften und Zirkeln zu erhalten. Er traf sich mit Dichterkollegen und erhielt die Gelegenheit, aus seinem Werk zu lesen. Aus Brüssel schrieb StG an Hofmannsthal, er habe eine Einladung für den Haag’schen Kunstkring erhalten, um aus eigenen Texten zu lesen: „Ich liebe dies land sehr: es ist bereits so glücklich einen geistigen adel zu besitzen“ (G/H, 87). Diese nicht-kommerziellen Kommunikationssysteme dienten der Verbreitung neuer literarischer Strömungen. Die Beiträger für die Zeitschriften, u. a. für die BfdK, wurden meist im schriftlichen Kontakt rekrutiert. StG und Hofmannsthal legten etwa ihren Briefen Manuskripte, Broschüren und Bücher bei. Innerhalb dieses literarischen Netzwerks praktizierten die Autoren ein wirkungsvolles Verweis- und Widmungssystem, das – obgleich dieses nicht als gezielte Publikationsstrategie zu verstehen ist – auf längere Sicht eine Eigendynamik entfaltete und das Interesse an den Werken StGs allein deshalb stimulierte, weil die Kommunikationspraxis mit dem Nimbus des Verborgenen versehen war. Stern’s Literarisches Bulletin der Schweiz glaubte hinter diesem Verfahren 1892 sogar noch eine gewisse Schalkhaftigkeit zu erkennen: „Die ganze Unternehmung hat übrigens einen Beigeschmack von Mystifikation. Wer weiß,

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welch ein Schalk dahinter steckt.“15 Carl August Klein widersprach und versuchte mit der Offenlegung der literarischen Ambitionen des Kreises, der sich um die BfdK herausgebildet hatte, das Bild vom verborgenen Wirken der symbolistischen Bewegung zu relativieren: Die blätter für die kunst zogen einen kreis von künstlern heran die fern von der menge weiter nichts wollten als sich leben, frei von allen geschäftlichen und journalistischen nebengedanken und sie gaben zuerst die anregung alle gleiches erstrebenden vertreter der verwandten ton und bildenden künste zu vereinigen, deren hand-in-hand-gehen in andren kulturstaaten eine beispiellose kunstblüte erzeugen half, eine kunstblüte nach der wir noch vergeblich schmachten.16

Klein bemerkte aber auch die zunehmende Eigendynamik, die zu einer verstärkten Aufmerksamkeit der literarischen Öffentlichkeit für die symbolistische Bewegung führte: Was die wirkung der ,blätter‘ im weiteren publikum angeht so wurden sie wie sehr wir das auch zu vermeiden strebten vielfach einer besichtigung unterzogen und man hat lezthin bemerken können wie hie und da unser programm nachgeahmt und ideen von uns herübergenommen wurden.17

5.3.1. Literarische Akteure: Drucker, Verleger, Kunstbuchhändler Das Frühwerk StGs erschien im Selbstverlag und wurde in verschiedenen Druckereien hergestellt, wobei StG gewöhnlich auf kleine Druckereien zurückgriff, die dem Typus der Akzidenzdruckerei zuzurechnen waren. So gab StG die Hymnen in die Berliner Druckerei Wilhelm & Brasch (1890); die Pilgerfahrten und Algabal wurden 1891 bzw. 1892 bei Vaillant-Carmanne in Lüttich gedruckt; Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten druckte Friedrich Cynamon 1895 in Berlin; Das Jahr der Seele erschien 1897 im Verlag der Blätter für die Kunst, gedruckt wurde es bei Otto von Holten in Berlin. Der Ausschluss der Öffentlichkeit fand seinen Ausdruck in einem Vermerk des Herausgebers der BfdK auf dem Umschlag. Hier wurde nochmals mit Nachdruck hervorgehoben: „Diese zeitschrift im verlag des herausgebers hat einen geschlossenen von den mitgliedern geladenen leserkreis“.18 Die BfdK sollten also ausschließlich über Mitglieder des Kreises bzw. Mitarbeiter der Zeitschrift innerhalb des persönlichen Freundeskreises weitergereicht werden. Doch mit der allmählichen Durchsetzung des literarischen Symbolismus in Deutschland wurden die Werke StGs und seines Kreises stärker nachgefragt, und der Drucker Holten war immer wieder gezwungen, diesbezügliche Anfragen von Lesern an den Autor weiterzuleiten. Eine entscheidende Funktion in der transnationalen Literaturvermittlung übernahmen zweifelsohne literarische Zeitschriften, die StGs Lyrik im Original und in Über15 Stern’s Literarisches Bulletin der Schweiz 1/1892, 6 v. 1.12.1892, S. 54f., zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 56. 16 Carl August Klein, Ein Sendschreiben, in: Allgemeine Kunst-Chronik 19/1895, 4, S. 99, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 133. 17 Ebd., S. 134. 18 Zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 10.

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setzung abdruckten oder auf neue Werke aufmerksam machten. StGs erste drei Gedichtbände erschienen in den wichtigen literarischen Zentren und Kommissionsplätzen Europas, nämlich in Berlin, Wien und Paris. StG lebte Kosmopolitismus und Internationalismus, er reiste viel und schloss transnationale Kooperationen, insbesondere mit den Vertretern der französischen und belgischen Literaturkultur. Er suchte zwar dezidiert großstädtische literarische Zentren auf, dennoch hielt er das städtische Publikum für die angemessene Rezeption von Kunst nicht befähigt. So beklagte er in einem Brief vom 20. März 1893 an Ida Coblenz: „Hier in Berlin […] verstehen die leute nicht. ich halte diese ganze börsen und zeitungsgesellschaft für unfähig wahr einen kunsteindruck aufzunehmen“ (G/C, 42). StG lehnte das journalistische Gewerbe von Grund auf ab und verband seine Kritik an der Tagesschriftstellerei zugleich mit seinem Widerwillen gegen den Berliner Naturalismus: Und nun die höhere tagesschriftstellerei die Sie rühmen und die sehr zu billigen ist – erfordert nicht die lauliche reizbarkeit und weichtierhafte eindrucksfähigkeit die heut ,Berliner naturalismus‘ morgen ,Wiener symbolismus‘ untergeht – sondern das gegenteil: das strenge sichaufeinenpunktstellen … (G/H, 158f.)

StG hatte wichtige Freunde in Belgien, die sich als Vermittler zwischen dem frankophonen und deutschen Sprachraum verstanden. Eine ausgesprochen wichtige Vermittlerrolle übernahm Paul Ge´rardy, der seine literarische Zeitschrift Flore´al, die in kleiner Auflage im Selbstverlag erschien, für StG und seinen Kreis öffnete. Die Literaturzeitschriften verweigerten sich zwar einer werbenden Funktion, so erschienen gemeinhin keine Rezensionen, gleichwohl wurden Neuerscheinungen erwähnt, die Zeitschriften für Teilvorabdrucke zur Verfügung gestellt – Flore´al druckte Auszüge aus StGs Algabal – und, ungleich wichtiger, die Herausgeber und Beiträger der verschiedenen Literaturzeitschriften standen in engem Austausch. In den BfdK wurde diese Vermittlungsfunktion der belgischen Zeitschriften 1892 anerkennend hervorgehoben: Den auswärtigen rundschauen die das erscheinen der blätter für die kunst angezeigt und uns mit warmen gefühlen entgegenkamen: ermitage, mercure de france, plume, wallonie, floreal, art moderne u. a. sind wir in hohem grad erkenntlich sowie allen stimmen die uns belobten ermunterten und ein gewissenhaftes eindringen in unsre absichten verrieten. Einige vaterländische amtsbrüder denen nichts als unsere rechtschreibung auffiel bedauern wir an dieser stelle nicht belehren zu können.19

Werke oder Werkauszüge, die in den Zeitschriften genannt waren, wurden der Korrespondenz mit Gesinnungsfreunden beigelegt. StG machte Hofmannsthal in einer Briefsendung im Januar 1892 ein Werk von Bruno Wille und von Mallarme´ zum Geschenk, weil, so mutmaßte StG, Hofmannsthal „ja doch wahrscheinlich keine zeit zum abschreiben habe[]“ (G/H, 13): ein Hinweis auf die in diesen kleinen literarischen Zirkeln praktizierte handschriftliche Kopie wichtiger Bücher. Innerhalb dieser persönlichen Netzwerke wurden aber auch konkrete Verlagsgeschäfte abgehandelt, Beziehungen genutzt, um Drucker, Verleger und Buchhändler für die eigene literarische Produktion zu finden. So bat Carl August Klein im Juli 1892 19 BfdK 1/1892, 2, S. 64, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 14.

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Hofmannsthal, ob er denn einen Kostenvoranschlag für den Druck einer 32-seitigen Schrift auf gutem Papier in 200 Exemplaren bei dem Wiener Verleger und Buchhändler Leopold Weiss besorgen könne. Bereits im selben Brief hatte Klein angedeutet, dass er alternativ eine Druckerei in Lüttich zur Hand habe, die den Band drucken würde, damit sie anschließend bei Weiss in Verlag gegeben werden könne. Als dritte Option schlug Klein schließlich den Selbstverlag vor und bot an, die aufwendige Versendung der Exemplare zu übernehmen. Das Druckgewerbe in Lüttich wurde wegen seiner besonderen Qualität im George-Kreis sehr geschätzt (G/H, 32f.). An seinen weitreichenden Kontakten ließ Klein auch Hofmannsthal partizipieren, als er ihm anbot, den Tod des Tizian in einer neuen künstlerischen Ausgabe und in einer kleinen Auflage von etwa dreißig bis fünfzig Exemplaren gleichfalls in Lüttich herstellen zu lassen (G/H, 59f.). Die Durchsicht des Briefwechsels zwischen StG, seinem Mitarbeiter Klein, mit Druckereien, Buchhändlern und privaten Förderern aus den Jahren 1896/97 offenbart schnell, dass die frühen Werke StGs und die BfdK keinesfalls nur in einem exklusiven, geschlossenen Kreis zirkulierten. StG stand in Kontakt mit einem ganzen Netzwerk von Druckern, Verlegern und Buchhändlern, die Abonnements auf die BfdK abgeschlossen hatten und an Kunden vor Ort weitergaben. Die BfdK hatten eine stimulierende Wirkung auf den Absatz des Frühwerks StGs. Melchior Lechter hielt den Kontakt zu Berliner Kunstbuchhandlungen, die – vor allem wegen der Buchgestaltung – zu den regelmäßigen Abnehmern des Frühwerks StGs gehörten. Über den Briefwechsel StGs lassen sich die Drucker, Verleger und Buchhändler erschließen, die im Vertrieb involviert waren: Drucker, Verleger, Buchhändler Ackermann’s Nachfolger, Karl Schüler, Hof- und Kunsthandlung, München Amsler & Ruthhardtz, Berlin Asher & Co., Berlin Friedrich Baumgartner, Buchhandlung, Bingen Breslauer & Meyer, Buchhandlung und Antiquariat, Berlin Behr’s Buchhandlung, Berlin N. J. Beversen, Arnheim, Holland Hofbuchhandlung H. Burdach, Inhaber Georg Lehmann, Bingen Paul Cieslar, Buchhandlung, Graz Buchhandlung J. Cikot, Den Haag Friedrich Cynamon, Kunst-, Buch- und Steindruckerei, Berlin Buchhandlung S. C. Van Doesburgh, Leiden Hofbuchhandlung Wilhelm Frick, Wien Buchhandlung Gilhofer & Ranschburg, Wien Buch- und Kunsthandlung Goepper & Lehmann, Bern Johann Chr. Hermann’sche Buchhandlung, Frankfurt am Main Otto von Holten, Berlin Buchhandlung Axel Juncker, Berlin Keller & Reiner, Kunsthandlung und Permanente Kunstausstellung, Berlin H. A. Kramer & Sohn, Rotterdam Buch- und Kunsthandlung & Antiquariat Hermann Lazarus, Berlin Kunstsalon J. Littauer, München Münchner Kunst- und Verlagsanstalt Dr. E. Albert & Co. Verlags- und Antiquariatsbuchhandlung Neufeld & Henius, Berlin

5. Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung

421

P. H. Reyers, Utrecht J. Ricker’sche Universitätsbuchhandlung, Alfred Töpelmann, Gießen Der Verlag deutscher Phantasten, Inhaber Paul Scheerbart, Berlin Scheltema & Holkema’s Boekhandel, Amsterdam Buchhandlung Schneider & Co., Leipzig Verlagsbuchhandlung Schuster & Löffler, Berlin Friedrich Sensenhauser’sche Buchhandlung, Berlin Sulpkesche Buchhandlung (A. Dupont), Amsterdam Hofkunstbuchhandlung J. Velten, Karlsruhe Leopold Weiss, Buchhandlung, Verlag der Modernen Rundschau, Wien Buchdruckerei Wilhelm & Brasch, Berlin

Das höchste Bestellvolumen brachten die Drucker und Buchhändler in Berlin auf, wobei denjenigen Unternehmen, die sich zugleich als Kommissionshändler beschäftigten und das internationale Ausland versorgten, ein besonderes Gewicht zukam. Asher & Co. hatten etwa 30 Abonnements auf die BfdK laufen und bestellten auch regelmäßig Neuerscheinungen des Verlags der Blätter für die Kunst, z. B. 50 Exemplare von der Deutschen Dichtung. Zu den wichtigen Abnehmern gehörte auch der Münchner Buchhandel, hier bestellte etwa der Littauer’sche Kunstsalon größere Mengen und förderte damit die symbolistische Literatur nachdrücklich.20 In das teilöffentliche Vertriebssystem waren auch Bahnhofsbuchhändler eingebunden, ein besonders effizienter Zweig des verbreitenden Buchhandels, der erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Expansion des Eisenbahnnetzes entstanden war. Bahnhofskioske wurden besonders stark von Laufkunden frequentiert und die Reisesaison gehörte zur umsatzstärksten Verkaufsphase. Aber auch das Berliner Warenhaus KaDeWe zählte zu den Abnehmern und legte das Werk StGs in seiner Buchabteilung aus. Die Subskribentenliste – nach Städten geordnet – verweist auf knapp 150 regelmäßige Abnehmer: Stadt/Region Zahl der Subskribenten 70 Berlin 15 München 7 Darmstadt 7 Wien 3 Hamburg 4 Leipzig 2 Heidelberg 1 Pforzheim 2 Freiburg 2 Bonn 1 Peine, Provinz Hannover 2 Lemberg 2 Paris 5 Holland

20 Vgl. unten 5.3.2. „Bücher- und Lesestuben“.

422 Stadt/Region Florenz Schweiz Stockholm Lettland

I. Stefan George und sein Kreis Zahl der Subskribenten 1 2 1 1

Der nicht exklusive, geschlossene Austausch der Werke StGs und seines Kreises zeigte aber auch schnell die Grenzen des nicht professionellen Vertriebs auf. Es mehrten sich die Klagen von Lesern, dass Bezugsadressen wechselten, Preisnachfragen nicht beantwortet und Bestellungen nicht bestätigt oder ausgeliefert würden. Inbesondere die Auslieferung über Landesgrenzen hinweg gestaltete sich aufwendig. Beversen aus Arnheim drängte Carl August Klein: Sehr geehrter Herr, vorläufig möchte ich von Ihnen empfangen den letzten Jahrgang und Mitte dieses Jahres das neue Werk Stefan Georges Hirtengedichte. Ich erlaube mir noch einige Fragen und bitte im Voraus um Verzeihung dass ich Sie so belästige. Wo wohnt George, wissen Sie vielleicht ob er dieses Jahr noch nach Holland zu kommen gedenkt? Wann und bei wem erscheint ,Das Jahr der Seele‘. Wohnt Lechter in Berlin? Werden die Anlagen nur wenigen auserkorenen zugeschickt? Ich habe ein Ex. gesehen in welchen die Anlage (z. B. Lechters Glasgemälde) fehlten. Hoffentlich empfange ich auch diese? Zum zweiten Male Verzeihung für meine Unbescheidenheit. Hochachtungsvoll Ihr Dr. N. J. Beversen.21

Doch Klein blieb eine Antwort schuldig und im Februar 1898 reagierte Beversen schon gereizter: Sehr geehrter Herr, einige Wochen her schickte ich Ihnen eine Karte. Bis jetzt habe ich weder das Jahr der Seele noch die neuen Lieferungen der Blätter f.d.K. noch nicht empfangen. Vielleicht waren Sie auf Reise, oder es liegt ein Irrthum vor. Mit der Zusendung dieser Sache werden Sie verpflichtet, sehr ergeben Ihr Dr. N.F. Beversen.22

Die Buchhandlung Breslauer & Meyer (Berlin) mahnte wiederum bei Lechter die subskribierten Werke an, hier den Jean Paul-Band der Deutschen Dichtung, von dem sie zehn Exemplare dringend benötigte. Breslauer & Meyer hatten sich auf „seltene Werke jeder Art, Pergamentmanuscripte, Incunabeln, frühe Holzschnittbücher, kostbare Einbände, Ex-Libris sowie auf Erstausgaben deutscher und ausländischer Klassiker“ spezialisiert. Sie warben für ihr „reiches Lager kunsthistorischer Werke“, aber auch für ihren Service, über ein „großes Lager der neuesten Erscheinungen des in- und ausländischen Büchermarktes“ zu verfügen, „Abonnements auf Zeitschriften aller Länder“ abschließen und Agenten in England, Frankreich und Italien beauftragen zu können – umso ärgerlicher, dass der Buchhändler seine Kunden nun warten lassen musste. Die Buchhandlung J. Cikot aus Den Haag erkundigte sich bei Klein nach den Bestellmöglichkeiten der Werke StGs: Geehrter Herr, da ich gehört habe, die Werke von Stefan George sind bei Ihnen zu haben, so möchte ich gern wissen welche noch zu haben sind, und wieviel bar ich zu beziehen habe, damit ich diese Werke frachtfrei bekomme. Abwartend hochachtungsvoll Cikot.23 21 N. J. Beversen an C. A. Klein v. 27.1.1897, StGA. 22 N. J. Beversen an C. A. Klein v. 14.2.1898, StGA. 23 Buchhandlung J. Cikot an C. A. Klein v. 7.9.1897, StGA.

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Wiederum antwortete Klein erst nach neuerlicher Mahnung und lieferte die gewünschte Bestellung nach Den Haag aus. Offenbar hatte Cikot interessierte Abnehmer, denn er bat Klein, die Bestellungen doch über den Leipziger Kommissionär Friedrich Koehler ausliefern zu lassen.24 Es entstanden somit immer wieder Lieferengpässe, vor allem dann, wenn die Besteller sich im Ausland befanden. Zu den wichtigsten Distribuenten der Werke StGs und der BfdK in Berlin gehörte der Buchhändler Friedrich Cynamon, der immer wieder bis zu 200 Exemplare der BfdK orderte, also regelmäßige Abonnenten zu versorgen hatte.25 Der Verleger des Frühwerks Rilkes, Axel Juncker, berichtete Klein, dass er fortwährend die BfdK verkaufen könne, würden ihm nur genügend geliefert.26 Auch die Berliner Sortimentsbuchhandlung Hermann Lazarus, die „erste Buchhandlung für Moderne Literatur“, so die Werbung auf dem Briefkopf, ging von einem guten Verkauf der BfdK aus und bot an, stets 50 Ausgaben der jeweils aktuellen Nummern auszulegen, sofern Lazarus denn in seinen Katalogen auf diesen Service hinweisen dürfe.27 Lazarus gewann auch immer wieder Subskribenten für die Schriften StGs.28 Klein und Lechter gelang es immer weniger, die steigende Nachfrage und das erhöhte Bestellvolumen logistisch zu bewältigen. Georg Fuchs war einer der aufmerksamsten Beobachter des schrittweisen Übergangs von einer nicht-kommerziellen Verbreitung hin zu einer kommerziellen Vermarktung. Bereits 1894 stellte er fest, dass „der ,unbewusste Symbolismus‘ […] bereits herrschend in Deutschland“ sei29 und wenige Monate später analysierte er die immer weniger befriedigende Situation: So sehr man auch bemüht sein mochte, vor der Öffentlichkeit und dem Markte zurückzuhalten, zwingt der gegen Erwarten neuerdings immer dichter werdende Kreis derer, welche begehren und geniessen, was wir darbringen können, unsere Pforten wenigstens Pilgern zu eröffnen, welche bis zu den Schwellen gelangt sind. Wir können ja nur mit solchen verhandeln, die ihrer ganzen Geistes- und Lebensartung nach zu uns gehören.30

Karl Wolfskehl hatte die Wechselwirkung zwischen dieser ,Mystifizierung‘ und der steigenden Nachfrage rückblickend durchaus richtig erkannt, wenn er schreibt: Außerdem waren einzelne seiner Bücher in ein paar hauptstädtischen – Berliner, Münchener, Wiener – Buchhandlungen zu erwerben, freilich nur in wenigen Exemplaren, die heiß begehrt und rasch in festen Händen waren. Langsam, wie er aus seiner selbstgewählten Zurückgezogenheit heraustrat, ist die Zahl seiner Anhänger und Bewunderer gewachsen, heute wird, als ein freudiges litterarisches Ereignis, die Nachricht begrüßt werden, daß seine Dichtungen demnächst auf dem gewöhnlichen buchhändlerischen Wege erhältlich sind.31

24 Vgl. J. Cikot an C. A. Klein v. 15.10.1897, StGA. 25 Vgl. Friedrich Cynamon an C. A. Klein v. 16.3.1893, 3.3.1894, 7.6.1894, StGA. 26 Vgl. Axel Juncker an M. Lechter v. 6.3.1901, StGA. 27 Hermann Lazarus an M. Lechter v. 9.10.1899, StGA. 28 Vgl. Hermann Lazarus an M. Lechter v. 15.11.1899, StGA. 29 Georg Fuchs, Symbolistische Kunst und die Renaissance in Flandern, in: Allgemeine KunstChronik 18/1894, 12, S. 337–341, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 93. 30 Allgemeine Kunst-Chronik 18/1894, 23, S. 660, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 96. 31 Karl Wolfskehl, Stefan George, in: Darmstädter Tagblatt Nr. 235 v. 7.10.1898, S. 4912f., zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 348.

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I. Stefan George und sein Kreis

Die Ausweitung der symbolistischen Netzwerke und die verstärkte Rezeption der Werke StGs im deutschsprachigen Raum funktionierten nun nicht mehr allein über die Verflechtung der verschiedenen Literaturzeitschriften, die über einen Zeitraum von beinahe zehn Jahren über die belgischen Grenzen hinaus nach Europa gewirkt hatten. Das belgisch-deutsche Beziehungsgeflecht hatte jedoch überhaupt erst die Voraussetzungen für StGs Überlegungen, den Schritt in die Öffentlichkeit vorzunehmen, geschaffen. Ein erstes Zugeständnis an den literarischen Markt war die Einbeziehung ausgewählter, dem Kreis verbundener Sortimentsbuchhändler in den wichtigsten europäischen Zentren, die die Werke StGs und Einzelausgaben der BfdK in ihren Sortimentsgeschäften für interessierte Leser bereithielten. Zu diesen handverlesenen Sortimentsbuchhandlungen zählten u. a. die Firmen Gnuse´ in Lüttich, Behr’s Buchhandlung in Berlin, Leopold Weiss in Wien, Le´on Vanier in Paris, Heinrich Jaffe, Jakob Lindauer und Littauer’s Kunstsalon in München. Le´on Vanier in Paris gehörte zu den engagiertesten Beförderern der symbolistischen Bewegung in Frankreich, hier war 1891 der Gedichtband von StGs französischem Freund Albert Saint-Paul Pe´tales de nacre erschienen. Der Verlag wurde 1884 von Pierre Le´on Vanier (1847–1896) gegründet, die Zeitschrift Paris moderne gab Vanier bereits von 1882 bis 1883 heraus. Das erste Buch des neu gegründeten Verlags Jadis et Nague`re erschien 1884 in einer Auflage von 500 Exemplaren. Vanier entwickelte sich zu einem Spezialverlag für internationale Lyrik, u. a. mit den Werken Rimbauds und Mallarme´s. Seine Sortimentsbuchhandlung war zugleich literarischer Salon und gut frequentierter Treffpunkt.32 Der Lütticher Buchhändler Gnuse´ unterstützte die Symbolisten wiederum durch die Vermittlung von französischem und belgischem Schrifttum, indem er dieses zu ermäßigten Preisen an die entsprechenden literarischen Zirkel lieferte. Die bislang kaum erforschte Bedeutung der Bücher- und Lesestube für die Vermittlung symbolistischer Literatur in Europa soll am Beispiel München dargestellt werden, wo sich Buchhändler wie z. B. Heinrich Jaffe, bei dem Autoren wie Rainer Maria Rilke und Thomas Mann regelmäßig verkehrten, dezidiert für die Werke des Symbolismus einsetzten, und wo sich der Sortimentsbuchhandel um 1900 durch seine Vielzahl an internationalen Buchhandlungen, Kunstbuchhandlungen und Lesestuben auszeichnete. In diesen verkehrten auch Schüler und Freunde StGs regelmäßig. 5.3.2. Bücher- und Lesestuben als Vermittlungsinstanz symbolistischer Literatur – das Beispiel München Das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel publizierte in den Vorkriegsjahren eine Serie über die Situation des Buchhandels in verschiedenen Städten Deutschlands. 1911 erschien auch ein Bericht über München, in dem der Eindruck eines Reisenden geschildert wird, der am Münchner Bahnhof ankommend die vielfältigen Buchauslagen der verschiedenen Geschäfte studiert:33 Ihm sticht sofort die Präsenz von inter32 Vgl. David Arkell, Le´on Vanier. Publisher of Poets, in: PN Review 6/1979/80, 6, S. 66–68. 33 Vgl. Münchner Briefe. I, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 1911, S. 6972f.; vgl. auch Wittmann, Buchkultur, S. 48. Vgl. Georg Jäger (mit Beiträgen v. Angelika Eyselein u. Christine

5. Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung

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nationaler Literatur ins Auge und die vielen Bücher über Malerei und Maler. Die Reisesaison war für den Münchner Sortimentsbuchhandel zweifelsohne die umsatzstärkste Zeit, die Hauptumsätze generierte der Münchner Einzelhandel über den Fremdenverkehr.34 In München profilierten sich hauptsächlich der Kunstsalon Littauer sowie die Sortimentsbuchhändler Heinrich Jaffe, Horst Stobbe und Jakob Lindauer in der symbolistischen Literaturszene. Bei diesen Sortimentsbuchhandlungen handelte es sich um einen neuen Typus von Ladengeschäft, das seit der Jahrhundertwende zunehmend an Bedeutung gewann. Das Adreßbuch des Deutschen Buchhandels weist 1900 zahlreiche Neugründungen von sogenannten ,Bücher- und Lesestuben‘ auf, meist zusätzlich zum bestehenden Sortimentsgeschäft eingerichtet. Bücher- und Lesestuben zeichneten sich durch die Verbindung von Lese- und Ausstellungsraum und ihr ausgewähltes künstlerisch-literarisches Programm aus, aber auch durch die Gestaltung der Verkaufsräumlichkeiten. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein dominierte im Sortimentsgeschäft die Ladentheke, d. h. die Kunden erfragten ihre Bücherwünsche direkt beim Buchhändler. Die Bücher- und Lesestuben ermöglichten es dem Kunden dagegen, sich selbst im Ladengeschäft umzusehen, im Bücherangebot zu stöbern, in Buchnovitäten oder in ausliegenden Zeitschriften zu lesen. Bücher- und Lesestuben boten Sitzgelegenheiten und Tische und entwickelten sich allein wegen dieser nicht ausschließlich auf Verkauf ausgerichteten Ladengestaltung zu frequentierten literarischen Kristallisationspunkten einer Stadt. In München hatten sich die Buchhandlungen Heinrich Jaffe, Horst Stobbe und der Kunstsalon Littauer zu wichtigen literarischen Treffpunkten auch für den Münchner George-Kreis entwickelt. Hier verkehrten die Intellektuellen der Stadt, Universitätsgelehrte, Literaten, Schriftsteller und Verleger. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte auch die Lesestube „Bücherkiste“ in Schwabing zu einem dieser literarischen Treffpunkte. Die „Bücherkiste“ entwickelte sich seit 1919 unter der Leitung von Wilhelm von Schramm zu einem Zentrum expressionistischer Literatur, hier verkehrten Oskar Maria Graf, aber auch Karl Wolfskehl regelmäßig.35 Über die Aktivitäten der einzelnen Buchhändler existieren zahlreiche autobiographische Berichte Münchner Schriftsteller. Zu den prominentesten Beobachtern der Münchner Literaturszene gehörte zweifelsohne Thomas Mann. Der Kunstsalon Littauer zählte zu den wirkungsmächtigsten Propagatoren der symbolistischen Bewegung im süddeutschen Raum. Die Allgemeine Kunst-Chronik wusste 1894 zu berichten, dass Littauer ein vielfältiges Angebot internationaler Literatur- und Kunstzeitschriften, u. a. The Yellow Book (London), L’Ermitage, La Plume (Paris), Le Re´veil (Gent), L’art moderne, La jeune Belgique, La socie´te´ Nouvelle (Brüssel), Flore´al (Lüttich) oder Taarnet (Kopenhagen) vorrätig hatte: In Littauers Kunst-Salon Odeonsplatz München liegen die meisten der in unserem Hefte angeführten Bücher und Rundschauen aus. Auch können dort weitere Zeichnungen und Bilderreproduktionen der besprochenen Maler jederzeit eingesehen werden.36 Haug), Der Sortimentsbuchhandel, in: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1, Teilbd. 3, S. 78–176. 34 Vgl. Wittmann, Buchkultur, S. 82. 35 Vgl. Wilhelm von Schramm, Die Bücherkiste. Das literarische München 1919–1924, München 1979. 36 Allgemeine Kunst-Chronik 18/1894, 23, S. 694, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 111.

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I. Stefan George und sein Kreis

Littauer war der erste Buchhändler, der auf seinen Vorrat an StGs Werken und den BfdK explizit hinwies: In der Littauerschen Hofkunstbuchhandlung liegen von jetzt ab auch die Blätter für die Kunst, die für einen intimen Leserkreis bestimmten Veröffentlichungen der deutschen Symbolisten, auf. Dieselben können in der genannten Kunsthandlung nach Belieben eingesehen und auch zum Preise von 1 M. pro Band erworben werden. Buchhändlerischer Vertrieb findet nicht statt. Der letzte Band enthält Gedichte von Stefan George, dem hervorragendsten symbolistischen Lyriker in Deutschland, hochinteressante Übersetzungen aus Baudelaire und einige andere formvollendete Beiträge von Georg Edward u. a.37

Allein der Hinweis auf den Verkaufspreis von einer Mark verdeutlicht die partielle Durchbrechung des geschlossenen Leserkreises, denn mit dieser – obgleich eher symbolischen – Preisangabe in einer öffentlichen Literaturzeitung schlug der Buchhändler die Brücke zum kommerziellen Handel. Eine nicht weniger bedeutsame Rolle spielte der Buchhändler Heinrich Jaffe (1862–1922), der seine Sortimentsbuchhandlung 1902 in der Brienner Straße eröffnet hatte. Das Geschäft lag direkt gegenüber dem populären Cafe´ Luitpold, in dem die Münchner Literaturszene angesiedelt war. Der Buchhändler achtete allein deshalb darauf, dass seine Schaufensterauslagen stets moderne zeitgenössische Literatur präsentierten und gerade in den Abendstunden, als die Schaufenster beleuchtet waren, blieben Passanten und die Besucher des Cafe´ Luitpold stehen und studierten die literarischen Novitäten. Einen Schwerpunkt legte Jaffe auf internationale Literatur und unterhielt einen speziellen „English and American book-store“. Thomas Mann schilderte diese abendliche Atmosphäre gerade zur Winterzeit vor dem Schaufenster in seinem persönlichen Glückwunsch an einen Buchhändler (1912) anlässlich des zehnjährigen Firmenjubiläums: Sie fingen damit an, Ihre Auslagen so glänzend, so modern, so unterhaltend, so einladend zu gestalten, wie kein dem reinen Buchhandel (nicht auch dem Kunsthandel) gewidmetes Geschäft in München das je verstanden hatte. […] Und zu den städtischen Dingen, auf die man sich freut, wenn der Winter kommt, gehört auch Ihr Schaufenster. Bald gehe ich wieder um Mittag, nach der Arbeit, oder gegen Abend, wenn das elektrische Licht die eleganten Anerbietungen der Läden noch glänzender, noch verlockender macht, durch die Briennerstraße und spreche bei Ihnen ein.38

Mann würdigte das vielfältige Sortiment und die exzellente Beratung des Buchhändlers Jaffe: „Was sehr wichtig ist: Sie hatten immer alles auf Lager. Wie Sie das anfangen, ist Ihre Sache, aber es ist so, und es ist nicht überall so“.39 Jaffe arbeitete eng mit den lokalen Literatur- und Kunstvereinen zusammen, u. a. mit dem AkademischDramatischen Verein, für dessen Veranstaltungen der Buchhändler die Eintrittskarten verkaufte. Deshalb hatte Jaffe auch stets die Neuerscheinungen der Münchner Verlage Georg Müller, Hans von Weber und anderer Kunstverlage vorrätig. Die Zusammenarbeit mit den Münchner Kunsthandlungen und Galerien „half, Ihren Laden zu 37 Allgemeine Kunst-Chronik 18/1894, 3, S. 43, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 12. 38 Thomas Mann, Glückwunsch an einen Buchhändler (1912), in: Ders., Essays I. 1893–1914, Kommentar v. Heinrich Detering unter Mitarb. v. Stephan Stachorski, Frankfurt/M. 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 14.2), S. 663–665, hier: 664. 39 Ebd.

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einem Treffpunkt der literarisch interessierten Leute zu machen“ – so Mann weiter in seiner Glückwunschadresse.40 In der Buchhandlung Jaffe verkehrten neben Thomas Mann auch Rainer Maria Rilke, Ludwig Klages und Karl Wolfskehl, die dem Buchhändler schnell ihre eigenen Druckwerke, die Werke StGs und die BfdK anvertrauten. Am 17. September 1919 eröffnete Jaffe außerdem eine Lesestube, in deren Räumen er Gemälde- und Graphikausstellungen, Literaturlesungen und Vortragsreihen organisierte. Über die literarischen Aktivitäten der Buchhandlung informierten Literarische Kataloge und Almanache, die Jaffe regelmäßig an seine Kunden ausgab. Eine nicht weniger bedeutsame Buchhandlung führte Horst Stobbe (1884–1974) unter dem Namen „Bücherstube am Siegestor“. Stobbe tauschte sich mit Hans von Weber und Ernst Rowohlt über die Gründung eines neuen Typs von Buchhandlung aus, dessen eigentlicher Erfinder er zu sein beanspruchte: „Dort sollten sich Bücherfreunde in kultivierter Umgebung bequem sitzend über Novitäten informieren können.“41 Neben den großen Sortimentsbuchhandlungen mit ihren Lesestuben entstanden aber auch Nischengeschäfte, die sich hauptsächlich als literarische Treffpunkte verstanden, also weniger kommerziell ausgerichtet waren. Zu ihnen gehörte Hans Goltz, der in seinem kleinen Geschäft Künstlern, Literaten und Bibliophilen einen „geistigen Raum“ schuf. Goltz engagierte sich in der Kunstszene und organisierte zwischen 1912 und 1927 im „Goltz-Eck“ und in einer Niederlassung am Odeonsplatz 165 Kunstausstellungen. 1914 gründete Goltz einen Kunstverlag, in dem er die Reihe Künstler-Goltz-Bände in Kleinstauflagen herstellte.42 Die Bücher- und Lesestuben, die kleinen Kunstbuchhandlungen und Kunstanstalten mit ihrem schöngeistigen Ambiente trugen somit nicht unerheblich zur Verbreitung symbolistischer Literatur bei und stimulierten damit auch die Nachfrage nach den Werken StGs und seines Kreises.

5.4.

Georges Schritt in die literarische Öffentlichkeit – Suche nach einem kommerziellen Verleger

StGs Entscheidung, sein Werk schrittweise der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, resultierte aus drei Erfahrungen: Erstens wurde StG für die Unzugänglichkeit seiner Werke zunehmend kritisiert, zweitens sah er sich nicht mehr in der Lage, die BfdK unter gänzlichem Verzicht auf eine effiziente buchhändlerische Infrastruktur im Selbstverlag herauszugeben, und drittens schien ihm nun der richtige Zeitpunkt für den Schritt an die Öffentlichkeit gekommen, da er an eine für seine Lyrik günstigere Rezeptionssituation nun auch in Deutschland glaubte. Bereits Ende des Jahres 1892 informierte StG Hofmannsthal, dass er einige seiner Werke in den Verlag der Blätter für die Kunst gegeben habe: Ich habe einen teil (mit den andern büchern) in den ,blättern f. d. K.‘ in verlag gegeben damit man sich nicht mehr über meine ,unerhältlichkeit‘ beklagt haben Sie die ,Ermitage‘ und 40 Ebd., S. 665. 41 Zit. nach Wittmann, Buchkultur, S. 95. Die Bezeichnung „Bücherstube“ stammt aus dem Druckhandwerk. Bücherstube hieß der Raum in Druckereien, wo die feuchten Bogen getrocknet wurden. Ebd., S. 95. 42 Vgl. ebd., S. 93ff.

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,Flore´al‘ auch nicht bekommen? […] Anfang des jahres geh ich nach München und komme dann ein paar tage nach Wien um mit Weiss zu verhandeln. (G/H, 49)

1895 berichtete StG Hofmannsthal, dass ihn wenige Tage zuvor ein Verleger angesprochen habe, seine BfdK doch professionell zu vertreiben: Ein verleger hat mich vor einigen tagen aufgesucht um das unternehmen in seine hand zu bringen. ich neige jedoch nur schwach dazu. Herr C. A. Klein wird mir vorläufig noch behilflich sein und mit zuthun sämmtlicher freunde wird es wol gelingen ein so durchaus eigenartiges und neues werk in alter reinheit weiterzuführen. (G/H, 80f.)

StG war sich offenbar bewusst geworden, dass jegliche Form des Selbstverlags wenigstens finanziell vor dem Hintergrund der komplexen Strukturen des globalen Buchmarkts scheitern musste. 5.4.1. Orientierungsphase auf dem deutschen Buchmarkt – Kontaktaufnahmen mit J. A. Stargardt, Eugen Diederichs, Max Spohr und Georg Bondi Erstmals hatte StG 1892 darüber nachgedacht, seine BfdK bei Vaillaint-Carmanne in Lüttich herauszugeben, doch schnell wurde offensichtlich, dass diese kleine Druckerei nicht in der Lage war, die für den Vertrieb erforderliche Infrastruktur bereitzustellen.43 Die Druckerei war weder für den internationalen Versand der Zeitschrift gerüstet noch in der Lage, die periodischen Erscheinungstermine einzuhalten oder gar die beträchtlichen Versandkosten (vor allem die hohen Bahngebühren) aufzubringen. StG hatte jedenfalls schon früh die Erfahrung gemacht, dass eine Druckerei oder ein Verlag wenigstens partiell am internationalen Buchhandel beteiligt sein musste, um seine Werke auf dem kommerziellen Buchmarkt durchzusetzen. Anfang Oktober 1897, noch vor dem Kontakt zu Georg Bondi, hatte StG selbst die Initiative ergriffen, einen kommerziellen Verleger für seine Werke zu finden, und Richard M. Meyer beauftragt, Erkundigungen über den Verlag Kreisende Ringe einzuholen. Hierbei handelte es sich um einen Imprint-Verlag des in Leipzig ansässigen Max Spohr-Verlags, wo unter der Leitung von Franz Evers hauptsächlich Bücher mit homosexueller Thematik gedruckt wurden. Der Verleger Max Spohr hatte sich 1891 mit einer kleinen biographischen Schrift über den Parapsychologen Lazar Freiherr von Hellenbach von Wilhelm Hübbe-Schleiden im Umfeld des spiritistisch-okkultistischen Kreises um die Zeitschrift Sphinx positioniert. Hier kam Spohr offenbar in Kontakt mit Franz Evers, der zunächst Redakteur der Sphinx war und schließlich zum Vorstandsmitglied der Theosophischen Vereinigung in Berlin avancierte. Evers gründete 1893 als Imprint des Spohr-Verlags den avantgardistischen Verlag Kreisende Ringe, wobei Spohr darauf drängte, dass der Autorenkreis langfristig über das Themenfeld der Theosophie hinausgehen solle, zumal die ersten fünf Verlagsartikel des neu gegründeten Verlags von Evers selbst stammten. Für die beiden Verleger lag es nahe, StG als ihren Verlagsautor zu gewinnen, und die Verhandlungen hatten offen43 Vgl. Hermann Vaillant an StG v. 27.8.1892, StGA; auch Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 11.

5. Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung

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bar auch vielversprechend begonnen, weil StG bereits in einem Verlagsverzeichnis 1896 als Autor des Verlags geführt wurde.44 Dies erwies sich allerdings als zu voreilig, denn StG entschied sich gegen den Verlag Kreisende Ringe. StG schien mit seinem Rückzug gut beraten, denn der Verlag hatte bereits zwei Jahre später seinen Höhepunkt überschritten und wurde 1905 im Adreßbuch des Deutschen Buchhandels als „erloschene Firma“ geführt. Gleichwohl verwundert es nicht, dass StG auf diesen kleinen esoterischen Verlag aufmerksam geworden war. So gehörte zu Evers wichtigsten Mitarbeitern der Maler und Graphiker Hugo Höppner (1868–1948) alias Fidus, den StG vermutlich bereits in seinen Münchner Jahren persönlich kennengelernt hatte.45 Höppner war der Buchgestalter Max Spohrs und gestaltete auch nach der Schließung des Imprint-Verlags noch verschiedentlich Bücher für Spohr. Die Publikationen des Verlags Kreisende Ringe galten hinsichtlich ihrer typographischen und buchkünstlerischen Gestaltung in ihrer Zeit als herausragend. Den Druck übernahm die Leipziger Druckerei Drugulin, eine der renommiertesten Druckereien nicht nur in Deutschland, mit der auch Georg Bondi, Schuster & Löffler, Samuel Fischer und Eugen Diederichs regelmäßig und über viele Jahre hinweg zusammenarbeiteten. Im November 1897 nahm StG Kontakt mit dem Berliner Verlag J. A. Stargardt auf, ein Kontakt, der offenbar über Lechter zustande gekommen war. Der Verlag Stargardt hatte sich durch seine Buchgestaltung profiliert, die künstlerische Ausstattung seiner Geschichte der rheinischen Städtekultur von Boos erregte Aufmerksamkeit in buchgestalterisch ambitionierten Kreisen. Mitinhaber des Stargardt-Verlags war Wolfgang Mecklenburg, der StG offenbar gerne als Autor gewinnen wollte. StG schrieb am 21. Januar 1898 an die Stargardtsche Verlagsbuchhandlung. Aus dem Schreiben geht hervor, dass StG entschlossen war, bei Stargardt seine Übertragung von Baudelaires Blumen des Bösen zu veröffentlichen: Im anschluss an meine unterredung mit Herrn W. Mecklenburg im hause des Herrn M. Lechter erlaube ich mir das fertige werk – Blumen des Bösen von Charles Baudelaire in meiner Übertragung – Ihnen zu senden, zugleich mit dem album das wir, eine anzahl französischer und ausländischer schriftsteller, vor einigen Jahren zu ehren des Dichters herausgaben. Ich bitte Sie die beiden bücher nach durchsicht dem Herrn Melchior Lechter übermitteln zu wollen, der soviel ich höre, bereits mit dem ornamentalen teil begonnen hat. Sehr verbunden wäre ich, wenn Sie mir bald einen kurzen entwurf schicken wollten auf grund dessen unsre beiderseitigen bedingungen sich feststellen lassen.46

Es ist nicht mehr zu klären, warum der Vertragsabschluss nicht zustande kam, die Baudelaire-Übertragung erschien jedenfalls 1901 bei Georg Bondi. StG lehnte zwar die modischen Verlagsprodukte des zeitgenössischen Buchmarkts kategorisch ab – im Fokus seiner Kritik standen die Übersetzungsanthologien und -buchreihen – und er wehrte sich gegen die „Übersetzung des Buchmarkts“ und die

44 Vgl. zu diesem Verlag Mark Lehmstedt, Bücher für das „dritte Geschlecht“. Der Max Spohr Verlag in Leipzig. Verlagsgeschichte und Bibliographie (1881–1941), Wiesbaden 2002, S. 31. 45 Vgl. ebd., S. 31ff. 46 StG an Wolfgang Mecklenburg v. 21.11.1897, unveröffentlicht (im Besitz von Günther Mecklenburg), hier zit. nach Renate Scharffenberg, Der Beitrag des Dichters zum Formenwandel in der äusseren Gestalt des Buches um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, masch. Diss., Marburg 1953, S. 84 (StGA).

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Flut von Anthologien, die ihm einer „lyrischen Sündflut“47 gleichkamen, dennoch entschied er sich mit seinem Ausleseband der BfdK für diese marktgängige Publikationsform. StG war sich seines Marktwertes durchaus bewusst, denn als Bondi auf diese erste gemeinsame Verlagsidee aus absatzstrategischen Gründen zunächst sehr zurückhaltend reagierte, beauftragte StG Melchior Lechter damit, dieses Verlagsprojekt doch Eugen Diederichs vorzutragen. Allerdings galt Diederichs als sehr selbstbewusster Verleger, der es vorzüglich verstand, seinen weltanschaulichen Verlag durch die geschickte Kombination von Sendungsbewusstsein und kaufmännischen Interessen auf dem Buchmarkt zu positionieren. Das Interesse Diederichs, StG für seinen Verlag zu gewinnen, lag auf der Hand, weil StGs Adressatenkreis eine jugendliche Zielgruppe war, die – wie auch der Verleger Diederichs selbst – stark in der Jugendbewegung verankert war.48 Diederichs hatte an Lechters Gestaltung des Jahrs der Seele großen Gefallen gefunden und den Buchkünstler auch mit der Gestaltung von Maeterlincks Schatz der Armen beauftragt. Maeterlincks Werk galt um 1900 als ein Meilenstein in der Entwicklung der neuen Buchkunst. Ein Verlagsvertrag zwischen Diederichs und StG kam schlussendlich nicht zustande, vermutlich auch deshalb, weil Diederichs nicht gewillt war, sich von einem als schwierig geltenden Autor domestizieren zu lassen. Eine alleinige Ausrichtung seines Verlagsprogramms an einem Autor kam für Diederichs sicherlich nicht infrage. Mit Georg Bondi hatte StG schließlich ein Verlagshaus gefunden, das sich einerseits nicht der industriellen Massenproduktion verpflichtet fühlte, sich andererseits mit seinem vielfältigen literarischen wie auch wissenschaftlichen Programm eine solide Geschäftsgrundlage aufgebaut hatte. Bondi bewegte sich innerhalb eines transnationalen literarischen Beziehungsgeflechts, das ihm eine solide verlegerische Existenz in Deutschland gewährleistete. Carl August Klein war von StG beauftragt worden, die Vorverhandlungen mit Georg Bondi zu führen. Im Juni 1898 wandte sich Klein daher an den Verleger und bat um Übermittlung der Vertragsbedingungen. Als erstes Verlagsprojekt schlug Klein Auswahlbände der BfdK vor, „da unsre ganze auflage erschöpft ist und gerade in der lezten zeit das interesse für unsre bestrebungen sehr rege geworden ist“.49 Bondi hatte sich gezielt auf die Suche nach einem Hausautoren begeben, den er zu einem Markenzeichen seines jungen Verlags aufzubauen beabsichtigte. Weder dem Autor noch dem Verleger war an einer kurzfristigen erfolgreichen Vermarktung eines Verlagsartikels gelegen. StG verzichtete oftmals auf sein Honorar, reagierte Bondi zögerlich auf einen Vorschlag seines Autors, im Gegenzug war Bondi stets bereit, einen nur schwer absatzfähigen Verlagsartikel innerhalb seines Verlags querzufinanzieren. Die Zusammenarbeit zwischen StG und Bondi währte drei Jahrzehnte und stellte eine funktionierende Sozialbeziehung dar, die auf dem „Wechselspiel von vertrauensvoller Vorleistung und fairen Nachleistungen“ (als solche bezeichnet E. Fischer die Autor-Verleger-Beziehung) beruhte. StG war es wichtig, seine Werke in einem Verlag zu sammeln – ein originäres Anliegen eines Autors dieser Zeit. So artikulierte z. B. Rainer Maria Rilke in seinem Brief an Anton Kippenberg vom 8. November 1905 seine Erwartungen recht konkret: 47 Martus, Werkpolitik, S. 560. 48 Vgl. ebd., S. 515. 49 C. A. Klein an G. Bondi v. Juni 1898, StGA.

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„mir liegt viel daran, meine kommenden Sachen in einem einzigen Verlage zu versammeln“.50 Doch an seinen zukünftigen Verleger hatte er auch besondere Anforderungen: „Nur müßte es jener sein, der außer allen Idealen, ein gewisses (nicht über normales) geldliches Entgegenkommen erwiese, auf das zu verzichten, meine Verhältnisse mir leider verwehren“.51 Vergleichbare Erwartungen und Ansprüche formulierte auch StG an seinen neuen Verleger. Nachdem er mehrere Jahre als Selbstverleger tätig war, der seine Drucke selbst finanzierte und vertrieb, entschied er sich für Georg Bondi. Bondi war durch die Zusammenarbeit mit StG in seiner unternehmerischen Entfaltung durchaus eingeschränkt, denn ohne Zustimmung des Autors war er nicht in der Lage, verlegerische Entscheidungen zu treffen, freilich nur bezogen auf den Verlag der Blätter für die Kunst. Daher schien die Idee eines eigenen Verlags innerhalb des Bondi-Verlags, das Geschäftsmodell eines Imprint-Verlags, eine glänzende Idee, die Bondi unternehmerische Gestaltungsfreiheit für seinen eigentlichen Verlagsbereich gewährleistete und es ihm zugleich ermöglichte, StG und seinen Schülerkreis an den Verlag zu binden. Bondi und StG verständigten sich also auf eine vollständige Trennung der beiden Verlagsbereiche. Lechter wurde beauftragt, für den Imprint-Verlag Blätter für die Kunst ein eigenes Verlagssignet zu entwerfen. Der Buchkünstler entschied sich für eine gotische Monstranz, mit der fortan alle Werke, die im Verlag der Blätter für die Kunst bei Bondi erschienen, versehen wurden. Das Geschäftsmodell und der Verlagsvertrag sahen eine akribische Dokumentation des Buchabsatzes vor. Die penibel geführten Absatzstatistiken geben Aufschluss über den Absatz der Einzelwerke und des Gesamtwerks StGs. Bondi spekulierte darauf, über seinen neuen Autor weitere wichtige Kontakte zu den Vertretern der europäischen Moderne aufzubauen. Bereits in der Planungsphase einer langfristigen Zusammenarbeit mit StG wurde der neue Geschäftspartner zur Akquise neuer Autoren einbezogen. 5.4.2. Die Zusammenarbeit Georges mit Bondi Georg Bondi hatte sein Unternehmen im Jahr 1890 mit dem Aufkauf von Restauflagen der Werke seines Freundes Max Halbe aus dem S. Fischer-Verlag gegründet. Halbes Romane verkauften sich ausgesprochen gut, sein Erfolgsstück Jugend hatte eine Auflage von 25.000 Exemplaren erreicht, und die Rechte an diesem Erfolgsautor schienen ein gutes Startkapital. Das Verlagsprogramm des noch jungen Verlegers war schmal, neben den Werken Max Halbes führte es noch je einen Titel von Otto Erich Hartleben und Alfred Kerr sowie eine deutsche Literaturgeschichte, die aber bereits in 22. Auflage vorlag, sich also zu einem Longseller entwickelt hatte. So galt Bondis Augenmerk dem schrittweisen Ausbau seines Verlagsprogramms. Neben seinem belletristischen Programm richtete er eine Programmsparte mit Wissenschaftsliteratur ein, um sich unternehmerischen Spielraum zu verschaffen und weniger gut verkäufliche Titel über sein Sachbuchprogramm finanzieren zu können. Er verlegte die Werke Wilhelm Bölsches und Kurt Breysigs und startete eine zehnbändige Reihe „Das Neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung“.

50 Siegfried Unseld, Der Autor und sein Verleger, Frankfurt/M. 1978, S. 172. 51 Ebd., S. 173.

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Eine Eintragung im Handelsregister des Amtsgerichts Berlin-Mitte aus dem Jahr 1927 attestiert Bondi eine seriöse Unternehmensführung und bescheinigte ihm finanziell geordnete Verhältnisse, sogar in den Jahren der Inflation. Das Verlagshaus wurde als mittelgroßes Unternehmen eingestuft, das sich speziell dem Verlag der Werke StGs und seines Kreises widme. Georg Bondi habe von seinem Vater Josef Bondi, Kommerzienrat in Dresden, ein größeres Vermögen geerbt und dieses sei durch die Inflation nur geringfügig verringert worden. Zudem sei Bondi Eigentümer des Villengrundstücks Berlin-Grunewald, dessen Wert auf etwa 80.000 bis 90.000 RM veranschlagt wurde. So lebe der Verleger in soliden Verhältnissen. Auch ein gutes Branchenrenommee wird Bondi zugestanden: Zu den Verhältnissen der Firma und der Geschäftsführung besteht Zutrauen, wenn auch nicht verkannt werden darf, dass die finanzielle Lage des Buchhandels nicht besonders günstig genannt werden könne. Die Firma ist aber in Branchenkreisen geachtet und bekannt.52

StG hatte es seinem Sekretär Carl August Klein überlassen, die Vorverhandlungen mit Bondi zu führen. Anfang 1897 unterbreitete der Verleger Klein einen ersten Verlagsentwurf. Das Angebot sah eine Teilung des Reingewinns und ein auflagenabhängiges Honorar von 20 Prozent vom Ladenpreis vor. Die erste Hälfte sollte bei Erscheinen eines Werks ausbezahlt werden, die zweite Hälfte nach Verkauf der halben Auflage: Ich ersehe aus Ihrem Briefe mit Freuden, dass Herr Stephan [sic!] George, an dessen Dichtungen (so wenig ich auch bisher davon kenne) ich schon seit einiger Zeit regen Anteil nehme, daran denkt, den freiwilligen Ausschluss der Öffentlichkeit aufzugeben. Ich bin, wie Sie wissen, gern bereit, diese Gedichte in meinem Verlag zu veröffentlichen u. freue mich aufrichtig, dass Herr Stephan George meinem Wunsche sympathisch gegenübersteht. Was die geschäftlichen Abmachungen betrifft, so möchte ich in erster Linie die Teilung des Reingewinns vorschlagen. Dieser Modus, der in England vielfach gewählt wird, ist allerdings in Deutschland nicht der übliche. Ich habe jedoch, da es meines Erachtens der Billigkeit am meisten entspricht, schon eine ganze Reihe von Verträgen auf dieser Grundlage abgeschlossen u. mir wiederholt den Dank der betreffenden Autoren durch diesen Vorschlag verdient. Aber natürlich giebt es auch andere Wege, um zu einem für beide Teile befriedigenden Resultate zu kommen. Nur vor einem Wege möchte ich warnen, das ist nämlich der Modus, nach welchem der Verfasser sein Autorrecht ein für alle mal verkauft; denn hierbei wird gewöhnlich der eine Teil im Verkauf der Sache benachteiligt: wenn das betr. Buch viel gekauft wird, der Autor; im andern Fall der Verleger. Viel richtiger scheint mir daher die Vereinbarung zu sein, dass jede Auflage ein gewisses Honorar bedingt, z. B. 20 % vom Ladenpreis der gesammten Auflage, d.i. ca. 1/3 vom Buchhändlerpreis (der Buchhändlerrabatt beträgt in der Regel 33 1/3 % gegen bar u. auf 8 Expl. ein Freiexemplar). Die Hälfte dieses Honorars könnte dann bei Erscheinen, die andere Hälfte nach Verkauf der halben Auflage zahlbar sein. Was Ihren Vorschlag betrifft, einen Auszug aus den ,Blättern für die Kunst‘ zu veröffentlichen, so stehe ich diesem Plane sehr sympathisch gegenüber. Auch hier würde ich Teilung des Reingewinns vorschlagen. Falls die Kosten nicht gedeckt werden, so wird das Defizit von uns allen getragen.53

Der erste handschriftliche Verlagsvertrag wurde 1898 unterzeichnet.54 StG übertrug dem Verlag die Rechte an allen Texten, die im geplanten Sammelband der BfdK er52 Auszug aus dem Handelsregister, 12.3.1927. Material zu Verlagsvertrag: Gesamtausgabe 6.10.1927, StGA. 53 G. Bondi an C. A. Klein v. 7.6.1898, StGA. 54 Vgl. Verlagsvertrag v. 19.9.1898, StGA.

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scheinen sollten. Der Verleger erwarb sich zugleich das Verlagsrecht an den Bänden Hymnen Pilgerfahrten Algabal, Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte und Das Jahr der Seele für die erste und alle nachfolgenden Auflagen. Auch über die Höhe der Auflage entschied der Verleger, lediglich die Beschränkung, dass sie nicht unter 500 und nicht über 1.000 Exemplaren betrage, wurde festgehalten. Bei jeder Auflage wurden 150 Exemplare Überschuss für Autorenfreiexemplare vereinbart. Als Honorar wurde die Hälfte des jährlichen Reingewinns aus dem Verkauf der Sammelbände vereinbart, wobei die Errechnung des Reingewinns auf der Grundlage der Geschäftsbücher und buchhändlerischen Usancen erfolgte. Lediglich in § 5 wurde eine Besonderheit geregelt, weil sich der Verlag der Blätter für die Kunst mit einer eigenen Vignette vom Verlag Bondi unterscheiden sollte. Während sich StG verpflichtete, diese Vignette „niemals außerhalb des Bondi’schen Verlages anzunehmen“, bedurfte jede Publikation im Verlag der Blätter für die Kunst der Zustimmung StGs.55 Der Vertrag konnte von jedem Vertragspartner mit einer zwölfmonatigen Frist aufgekündigt werden, wobei die Kündigung keine rückwirkende Kraft hatte, sodass die Rechte an den erworbenen Werken auch nach der Trennung von StG beim Verlag verbleiben sollten. Genau diese Regelung wurde in einem neuen Vertrag vom 3. Februar 1909 nachgebessert. In § 4 hieß es nun: „Herr George behält sich Kündigungsrecht für neue Auflagen vor und übergiebt immer nur das Verlagsrecht einer einzelnen Auflage.“56 Kommt es zur Trennung der beiden Geschäftspartner, erhält StG die Matern zum Herstellungspreis zurück.57 StG schien mit seinem ersten Verlagsvertrag zufrieden und brachte in einem Brief an Hofmannsthal am 22. September 1898 seine Wertschätzung für seinen neuen Verleger zum Ausdruck: bei Georg Bondi erscheint noch diesen herbst ein Sammelband aus allen jahrgängen der ,Blätter‘ auch ist wahrscheinlich dass die neuen bände im selben verlag herauskommen sobald das vertrauen des geschäfts-mannes noch mehr bestärkt ist. dann hat G. Bondi mich ersucht Ihnen (auf grund seiner bekanntschaft mit Ihnen) seinen verlag auch für Ihre gesammelten werke anzubieten. Ich stehe ihm nun persönlich näher und kann ihn ebenso als vornehmen verleger wie als entgegenkommenden menschen empfehlen und als einzigen den ich weiss hierzulande der auf eine geschmackvolle ausstattung wert legt auch sind seine bedingungen für die verfasser die denkbar günstigsten. er bittet vorerst nur um Ihre worte wie Sie sich grundsätzlich zu seinem vorschlag stellen. (G/H, 135)

Hofmannsthal reagierte auf diesen Vorstoß schon wenige Tage später mit einem konkreten Manuskriptangebot und äußerte Interesse, Georg Bondi zum Jahresende seine gesammelten Gedichte unter dem Titel Die Betrachtungen, die geschnittenen Steine und die redenden Masken zu überlassen (G/H, 135). Im Zeitraum von 1898 bis 1929 wurden über zwanzig Verträge abgeschlossen, die meist die bereits getroffenen Regelungen spezifizierten, Vertragsvorstufen oder aber Änderungsverträge darstellten. Allein ein Drittel dieser Verträge widmete sich der Gesamtausgabe der Werke StGs. Zu beobachten ist dabei, dass sich die Rechtsposition Bondis sukzessive verschlechterte, sich StG also für den Verlag der Blätter für die 55 Ebd. 56 Verlagsvertrag v. 3.2.1909, StGA. 57 Vgl. ebd.

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Kunst immer mehr Rechte herausnahm. Der Änderungsvertrag vom 22. März 1912 übertrug zwar Bondi die Rechte weiterer Werke StGs, u. a. des Teppichs des Lebens, der Baudelaire- und Shakespeare-Übertragungen, der Zeitgenössischen Dichter, des Siebenten Rings sowie der drei Bände Deutsche Dichtung, doch der Vertrag wurde jeweils über nur eine Auflage geschlossen. StG behielt sich für jede Neuauflage ein Kündigungsrecht vor. Ein Zugeständnis konnte Bondi für sich erwirken, zumal StG viel reiste und daher häufig nicht erreichbar war. § 4 regelte jetzt u. a., „falls Herr George binnen vier Wochen keinen Einspruch erhebt, so gilt der Verlagsvertrag auch für die neue Auflage“.58 Eine Vertragsergänzung vom 6. Oktober 1908 erforderte noch, dass Bondi vier Wochen vor Beginn der Herstellung einer Neuauflage seinen Autor mit einem eingeschriebenen Brief zu informieren habe, dem Verleger also den aktiven Passus zuwies und mehr bürokratische Umstände bereitete.59 Die Qualität der Beziehung zwischen StG und Bondi, die Form ihrer Zusammenarbeit, Meinungsverschiedenheiten, gelegentliche Missstimmungen, Honorarfragen und verlegerische Erfolge lassen sich sehr genau an der Korrespondenz aus dem Zeitraum vom Vertragsabschluss im Sommer 1898 bis zu StGs Tod im Jahr 1933 ablesen. Die Drucklegung der Werke StGs gestaltete sich über diesen langen Zeitraum für Bondi sehr arbeits- und zeitintensiv – dies dokumentiert der Briefwechsel sehr eindrucksvoll: Der Verleger verfolgte aufmerksam den Absatz der Werke StGs und seines Kreises, informierte StG rechtzeitig über die Notwendigkeit von Neuauflagen, unterbreitete ihm akribisch seine Vorschläge – aber auch seine finanziellen Möglichkeiten – bei der Buchgestaltung und berichtete geradezu minutiös über die einzelnen Arbeitsschritte bei der Drucklegung eines Werks. Mit seinem Vertragsangebot an StG orientierte sich Bondi an den branchenüblichen Standards. Um die kaufmännische Qualität der Verlagsführung, seine Verlagskalkulationen, Auflagenhöhen und nicht zuletzt die Honorierung seines wohl prominentesten Autors beurteilen zu können, gilt es zunächst, die branchenüblichen verlegerischen Gepflogenheiten kurz zu skizzieren. So gewinnt man Vergleichsdaten, die überhaupt erst Aufschlüsse über den ökonomischen Stellenwert des Werks StGs geben können. Folgt man den einschlägigen Lehrbüchern des deutschen Buchhandels, so liegt das Ziel einer jeden Kalkulation in der Ermittlung eines Preises für das einzelne Exemplar des Werkes, der beim Verkauf der mutmaßlich oder schätzungsweise abzusetzenden Anzahl von Exemplaren soviel Gesamterlös erbringt, daß die Kosten der Herstellung dadurch gedeckt werden, und außerdem noch ein entsprechender Gewinn für den Verleger verbleibt.60

Eingang in die Kalkulation finden somit alle für die Herstellung und für den Vertrieb anfallenden Kosten: Papier, Abbildungen einschließlich der erforderlichen Klischees, Druckstöcke, Platten, Satz und Korrektur, Druck und Bindung, Umschläge und Schutzumschläge. Getrennt abgerechnet werden nach Abschluss des Herstellungsverfahrens die Buchbinderkosten. Die Vertriebskosten fassen weit mehr als nur Rundschreiben, Prospektmaterial, Anzeigen und Beilagen. Als Vertriebskosten schlagen 58 Verlagsvertrag v. 22.3.1912, StGA. 59 Vgl. Verlagsvertrag v. 6.10.1908, StGA. 60 Max Paschke/Philipp Rath, Lehrbuch des Deutschen Buchhandels, 6. Aufl., Leipzig 1922, S. 245.

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auch anteilig die laufenden Geschäftskosten zu Buche wie z. B. Gehälter, Miete, Heizung und Beleuchtung und nicht zuletzt das Honorar für den Autor. Die Berücksichtigung jedes einzelnen Postens hätte die Kalkulation eines Buchtitels und die Veranschlagung eines Autorenhonorars allerdings zu aufwendig gestaltet, sodass die Verleger seit der Jahrhundertwende zunehmend dazu übergingen, die Verlagskalkulation zu standardisieren. Ein übliches Verfahren, das auch von Georg Bondi praktiziert worden ist, war die hälftige Teilung des Gewinns nach Deckung der Herstellungskosten, denen noch 15 Prozent Gemeinkosten zugeschlagen wurden. Im belletristischen Verlag wurde der Autor am Umsatz seines Werks beteiligt. Der Autor erhielt einen – in der gesamten Verlagsbranche üblichen – Prozentsatz in Höhe von fünfzehn bis zwanzig Prozent vom Ladenpreis der abgesetzten Exemplare. In den Verlagsverträgen wird als Bezugsgröße gewöhnlich die broschierte Ausgabe gewählt, eine fiktive Größe, weil die Einzeltitel meist in mehreren Bindungen und zu differenten Verkaufspreisen auf den Markt kamen, u. a. Pappband, Leinenband, Halbleder oder Leder.61 Der Nettopreis eines Verlagsartikels errechnet sich aus den Gesamtkosten der Herstellung zusätzlich der Gemeinkosten und eines Verlegergewinns und dies in Relation zur Zahl der zur Kostendeckung abzusetzenden Exemplare. Der Verleger gibt seinen Verlagsartikel nur an Wiederverkäufer, also an den verbreitenden Buchhandel, zum Nettopreis ab, daher sind bei der Berechnung des Nettopreises die Konditionen für den Sortimentsbuchhandel und den Zwischenbuchhandel wie Extrarabatte, Freiexemplare, Partiepreise und Rabatte an das Barsortiment entsprechend zu berücksichtigen. Der Verlagsvertrag vom 22. März 1912, der die ursprüngliche Vereinbarung, den Reingewinn zu teilen, aufrecht erhielt, führte in einem Beispiel die Rechengrundlage an: Bei einem Buche von 8 Bogen Umfang, das in einer Auflage von mindestens 2000 Expl. gedruckt ist, wird der nach Verkauf der Auflage erzielte Reingewinn etwa 50 % des Ladenpreises der broschierten Auflage betragen. Falls die Auflage von Platten gedruckt war, so erhöht sich der voraussichtliche Reingewinn auf etwa 55 % des Ladenpreises der broschierten Auflage. Hierbei ist die Ausstattung des ,Dante‘ sowie der Ladenpreis von M. 3.– für das broschierte Expl. vorausgesetzt.62

Viele Verlage regelten die Höhe des Autorenhonorars in einem standardisierten Generalvertrag, dem je nach Bedarf zusätzliche Klauseln beigefügt wurden. Eine Richtgröße, die bald auch von anderen Verlegern übernommen wurde, lieferte Samuel Fischer, der seinen Autoren ausnahmslos 20 Prozent Tantieme von jedem verkauften Exemplar zugestand. Die Höhe des Vorschusses war von den Erfolgsaussichten eines Werks abhängig, wobei Erfolgsautoren wie Thomas Mann auf einer Erhöhung auf 25 Prozent insistierten. Die Autoren protestierten inzwischen vermehrt gegen die bisherige Regelung, Verkaufspreis und Honorar über die Kalkulationsgröße der fiktiven broschierten Ausgabe zu veranschlagen und unterstellten ihrem Verleger ein ungebührliches Verdienst am Einband, obgleich die Broschur kaum preiswerter war als der üblich gewordene Verlegereinband. Verleger wie S. Fischer hatten insbesondere nach dem Ersten Welt61 Vgl. ebd., S. 290. 62 Verlagsvertrag v. 22.3.1912, StGA.

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krieg mit den Abwerbungsmaßnahmen anderer Verlage zu kämpfen. Nicht zuletzt lockten Verlage wie Ullstein mit attraktiven Honoraren und wirkungsvollen Reklamefeldzügen für ihr Verlagsprogramm. Eine Gefahr, der sich Georg Bondi nicht ausgesetzt sah. Bondi konzentrierte sich auf die Sicherstellung der Dauerpräsenz von StGs Werken im deutschen Buchhandel. Es galt, den Absatz der einzelnen Werke sorgfältig zu beobachten und rechtzeitig Neuauflagen vorzubereiten, um zu vermeiden, dass einzelne Werke vorübergehend nicht lieferbar waren. 1903 drängte Bondi seinen Autor, Neuauflagen des Jahrs der Seele, des Teppichs des Lebens und der Hymnen auf den Weg zu bringen und unterbreitete ihm detaillierte Vorschläge zu Buchausstattung, Auflagenhöhe und Honorierung, nicht ohne StG stets auf die Materialkosten aufmerksam zu machen: Da das neue Papier fast doppelt so viel kostet als das frühere, so lässt sich der Preis von M 2,50 für das broschierte Expl. doch nicht halten. Ich will ihn bei der neuen Auflage des ,Jahres der Seele‘ auf M. 3.– erhöhen. Hingegen kann der Preis des geb. Expl. M. 4.50 bleiben. ,Der Teppich des Lebens‘ kann dann in der neuen Auflage zum gleichen Preis verkauft werden, so dass hier das brosch. Expl. um 50 Pf., das geb. Expl. um M. 1.– billiger würde, als bisher. Den gleichen Einheitspreis sollen dann Ihre andern Dichtungen in den ,dritten Auflagen‘ bekommen. Ich hoffe, dass Sie hiermit einverstanden sind und wünsche Ihnen nochmals glückliche Reise.63

Der Produktionsprozess zog sich gut zwei Jahre hin und im März 1905 erinnerte Bondi seinen Autor ein weiteres Mal, doch an die Vorbereitung einer Neuauflage der Hymnen zu denken: Es ist jetzt an der Zeit, von den ,Hymnen‘ und ,den Büchern der Hirten‘ neue Auflagen zu drucken. Sind Sie einverstanden, dass die alte Auflage unverändert zum Abdruck kommt? Für die Ausstattung wäre ,Das Jahr der Seele‘ maassgebend. Für Lesung der Correctur würde ich Sorge tragen.64

Das im George Archiv erhaltene Auflagenbuch des Verlags erlaubt zunächst eine Aufstellung der Auflagenhöhen aller Verlagswerke für den Zeitraum von 1898 bis 1925. Die Werke von Max Halbe erschienen mit Startauflagen bis zu 3.000 Exemplaren, Longseller wie Gotthold Klees Grundzüge der deutschen Litteraturgeschichte (Berlin 1898) mussten in nur kurzen Zeitabständen immer wieder nachgedruckt werden. 1922 erschien die 22. Auflage in 9.000 Exemplaren. Auch Theobald Zieglers Die geistigen und sozialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts (Berlin 1899) und Georg Kaufmanns Politische Geschichte Deutschlands im Neunzehnten Jahrhundert (Berlin 1900) erfreuten sich großer Resonanz. Während Zieglers Werk 1911 als völlig neu bearbeitete Volksausgabe mit einer Auflage von 20.000 Exemplaren neu auf den Markt gebracht werden konnte, erschien Kaufmanns Politische Geschichte Deutschlands in der erfolgreichen historischen Buchreihe „Das Neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung“. Mit den Autoren war vertraglich vereinbart worden, dass Zuschussexemplare als Freiexemplare an die Verfasser gehen sollten. Im Vergleich zum Verlagsprogramm Bondi waren die Auflagenzahlen und Auflagenhöhen 63 G. Bondi an StG v. 2.12.1903, StGA. 64 G. Bondi an StG v. 20.3.1905, StGA.

5. Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung

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des Verlags der Blätter für die Kunst deutlich niedriger zu veranschlagen. Die Auflagenhöhen betrugen selten mehr als 1.000 bis 1.500 Exemplare. Nur bei stark gefragten Bänden, z. B. Der Stern des Bundes, Der Teppich des Lebens oder Das Jahr der Seele, entschied sich Bondi für Folgeauflagen mit 5.000 Exemplaren.65 Neuerscheinungen/Neuauflagen mit Auflagenhöhen der Werke StGs (1898–1905)66 Jahr

Titel

Auflagenhöhe

1898

Hymnen Pilgerfahrten Algabal (2. Ausg.)

1898

Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte… (2. Ausg.)

1898

Das Jahr der Seele

1898 1900 1901 1903 1904 1904 1905 1905

Die Blätter für die Kunst I Der Teppich des Lebens Die Fibel Die Blätter für die Kunst II Das Jahr der Seele (3. Aufl.) Der Teppich des Lebens (3. Aufl.) Zeitgenössische Dichter I Zeitgenössische Dichter II

750 Ex. + 46 Ex. Zuschuss + 10 Ex. auf holländischem Bütten 850 Ex. + 37 Zuschuss + 10 auf holländischem Bütten 1.000 Ex. + 10 auf holländischem Bütten 1.100 Ex. + 97 Zuschuss 700 Ex. 900 Ex. + 3 Defekte 1.200 Ex. 1.000 Ex. + 2 Zuschuss 1.000 Ex. + 70 Zuschuss 1.000 Ex. + 6 auf Japanpapier 1.000 Ex. + 3 Zuschuss + 6 auf Japanpapier

Neuerscheinungen mit Auflagenhöhen der Werke StGs (1906–1914) Jahr 1906 1907 1907 1907 1908 1908 1909 1909 1910 1911 1912 1913 1913 1913

Titel Hymnen Pilgerfahrten Algabal (3. Ausg.) Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte… (3. Ausg.) Das Jahr der Seele (4. Aufl.) Baudelaire, Blumen des Bösen (2. Aufl.) Der Teppich des Lebens Der Siebente Ring (2. Ausg.) Blätter für die Kunst III Shakespeare, Sonnette Deutsche Dichtung (2. Aufl.) Das Jahr der Seele (5. Aufl.) Der Teppich des Lebens (5. Aufl.) Das Jahr der Seele (6. Aufl.) Zeitgenössische Dichter I (2. Aufl.) Zeitgenössische Dichter II (2. Aufl.)

Auflagenhöhe 1.000 Ex. + 11 Zuschuss 1.000 Ex. 1.000 Ex. + 14 Zuschuss 1.000 Ex. + 13 Zuschuss 1.000 Ex. + 7 Zuschuss 2.250 Ex. + 11 Zuschuss 1.560 Ex. minus 51 Defekte 2.200 Ex. 1.150 Ex. + 7 Zuschuss 900 Ex. + 20 Zuschuss 1.200 Ex. + 30 Zuschuss 1.100 Ex. + 15 Zuschuss 1.100 Ex. + 24 Zuschuss 1.100 Ex. + 24 Zuschuss

65 Zum Vergleich: Im Insel-Verlag erschienen die Gedichte von Hans Carossa 1910 mit einer Startauflage von 600 Exemplaren, Rilkes frühe Gedichte ein Jahr zuvor mit einer Auflage von 1.300 Exemplaren. Deutlich höhere Startauflagen erzielte die Insel-Bücherei, wo Rilkes Werke in einer Startauflage von 10.000 Exemplaren erneut vermarktet wurden. Bei einem Verkaufspreis von nur 2 Mark profitierte der Autor allerdings nur von der besseren Verbreitung, nicht von höheren Honoraren; vgl. Sarkowski, Insel-Verlag, S. 98–107. 66 Zusammenstellung aus Geschäftsunterlagen. Verlagsarchiv Nr. 1, 1895–1927. Geschäftsbuch. George-Bondi IV, S. 30.

438 Jahr 1914 1914 1914 1914 1915 1915 1916 1916 1917 1917 1918 1918 1918 1918 1918 1918 1919 1919 1919 1919 1920 1920 1920 1920 1920 1921 1921 1921 1921 1922 1922 1922 1923 1923 1923 1923 1924 1925 1927

I. Stefan George und sein Kreis Titel Der Stern des Bundes Baudelaire, Blumen des Bösen (3. Aufl.) Der Stern des Bundes (2. Aufl.) Der Siebente Ring (3. Aufl.) Hymnen Pilgerfahrten Algabal (4. Aufl.) Der Teppich des Lebens (6. Aufl.) Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte… (4. Aufl.) Das Jahr der Seele (7. Aufl.) Der Krieg Der Krieg (2. Aufl.) Der Teppich des Lebens (7. Aufl.) Das Jahr der Seele (8. Aufl.) Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte … (5. Aufl.) Baudelaire, Blumen des Bösen (4. Aufl.) Hymnen Pilgerfahrten Algabal (5. Aufl.) Der Teppich des Lebens (8. Aufl.) Der Stern des Bundes (3. Aufl.) Der Siebente Ring (4. Aufl.) Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte … (6. Aufl.) Der Teppich des Lebens (9. Aufl.) Blätter für die Kunst I Hymnen Pilgerfahrten Algabal (6. Aufl.) Der Stern des Bundes (4. Aufl.) Der Siebente Ring (5. Aufl.) Baudelaire, Blumen des Bösen (5. Aufl.) Das Jahr der Seele (10. Aufl.) Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte … (7. Aufl.) Der Teppich des Lebens (10. Aufl.) Drei Gesänge Hymnen Pilgerfahrten Algabal (7. Aufl.) Der Stern des Bundes (5. Aufl.) Der Siebente Ring (6. Aufl.) Das Jahr der Seele (11. Aufl.) Büttenausgabe Deutsche Dichtung I (3. Aufl.) Deutsche Dichtung II (3. Aufl.) Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte… (8. Aufl.) Der Teppich des Lebens (11. Aufl.) Tage und Taten (2. Aufl.) Gesamtausgabe I (Die Fibel)

Auflagenhöhe 2.200 Ex. + 47 Zuschuss 1.100 Ex. + 10 Zuschuss 1.000 Ex. + 13 Zuschuss 2.700 Ex. 1.000 Ex. + 13 Zuschuss 1.200 Ex. + 9 Zuschuss 625 Ex. 1.200 Ex. + 24 Zuschuss 3.400 Ex. + 32 Zuschuss 3.150 Ex. + 38 Zuschuss 1.200 Ex. + 19 Zuschuss 2.200 Ex. 1.000 Ex. + 17 Zuschuss 1.200 Ex. 1.000 Ex. 1.370 Ex. 2.000 Ex. 1.975 Ex. 2.000 Ex. + 22 Zuschuss 4.000 Ex. + 68 Zuschuss 1.500 Ex. 3.100 Ex. + 76 Zuschuss 5.000 Ex. + 119 Zuschuss 5.925 Ex. + 259 Zuschuss 3.200 Ex. + 24 Zuschuss 5.000 Ex. + 152 Zuschuss 3.000 Ex. + 197 Zuschuss 4.465 Ex. + 86 Zuschuss 6.000 Ex. + 530 Zuschuss 4.800 Ex. + 160 Zuschuss 5.000 Ex. + 120 Zuschuss 6.500 Ex. + 247 Zuschuss 4.200 Ex. + 99 Zuschuss 4.400 Ex. 4.400 Ex. 3.000 Ex. + 77 Zuschuss 5.370 Ex. + 280 Zuschuss 7.000 Ex. 6.000 Ex. + 525 Zuschuss + 82 auf Japanpapier

Die Auflagen von StGs Werken in der Weimarer Republik erreichten freilich nicht annähernd die Auflagenhöhen der sogenannten ,Bestseller‘, eine aus den USA importierte Vermarktungsstrategie. Im Rahmen eines multimedialen Marketings (also einschließlich der Nebenrechtverwertung in Rundfunk und Film) erreichten Werke wie Hermann Sudermanns Der tolle Professor (1926), Rudolf Herzogs Kornelius Vanderwelts Gefährtin (1928) oder Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929) Startauflagen zwischen 30.000 und 60.000 Exemplaren. Remarques Im Westen nichts Neues überschritt 1930 schließlich die Millionengrenze. Auch die Startauf-

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lagen von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) und Hermann Hesses Steppenwolf (1929) betrugen zwischen 35.000 und 40.000 Exemplaren.67 Obgleich der nüchterne Geschäftsmann Bondi immer wieder StGs Verlagsprojekte rundweg ausschlug – schienen sie ihm doch von vornherein finanziell wenig rentabel – und trotz zahlreicher, immer wieder auftretender Konflikte hielt die Verlagsbeziehung. Eine erste Bewährungsprobe galt es zu bestehen, als Bondi den Vorschlag StGs und Wolfskehls ablehnte, die Anthologie Deutsche Dichtung auf den Markt zu bringen. Während die beiden Autoren vom Erfolg dieses Verlagsprodukts überzeugt waren, weigerte sich der Verleger, den ersten Band mit einer Auswahl aus Jean Pauls Werk unter Vertrag zu nehmen. Diese Weigerung hätte „beinah den verlagsbund zerrissen“,68 doch StG löste den Konflikt durch seine Bereitschaft, den Band auf eigene Rechnung drucken zu lassen. Auf diese Vereinbarung ließ sich Bondi ein und praktizierte dieses Verfahren in der Folge häufiger. So zögerte er auch, einen Sammelband der von StG übersetzten europäischen Dichter in seinen Verlag aufzunehmen. StG, zunächst verärgert, beauftragte Wolfskehl, Kontakt mit dem Insel-Verlag aufzunehmen, doch kaum hielt er dessen aktuelles Verlagsverzeichnis in Händen, kehrte er auch schon wieder zu Bondi zurück. Empört äußerte sich StG gegenüber Wolfskehl über die minderwertige Gestaltung des Katalogs: Ein klebeheftchen mit so schamlosen so unsäglich schmierigen anpreisungen dass dagegen ein s-fischer noch vornehm erscheint. Es ist ein zeichen dafür dass den schreibenden menschen von heute das lezte gefühl für adel und würde abhanden kam.69

Die Mobilität StGs, seine nur schlechte Erreichbarkeit, erforderte einen Mitarbeiterkreis, der die kontinuierliche Kommunikation zwischen Autor und Verleger gewährleistete. Bondi beklagte immer wieder die Verzögerungen in der Drucklegung, die ihm häufig Terminschwierigkeiten bei den Druckereien einbrachten. Vor allem der Austausch über technische Probleme nahm viel Zeit in Anspruch, wenn die Briefe StG nicht erreichten und erst an ihn weitergeleitet werden mussten. In solchen Fällen wandte sich Bondi oftmals an Friedrich Gundolf. Einmal war das von StG favorisierte Papier ungünstig, weil es wegen der Stärke beim Falzvorgang Schwierigkeiten zu bereiten drohte: Wie s. Z. besprochen, ist ein Bogen des Papiers an Holten gesandt worden, der das Papier sowohl auf seine Falz- als auf seine Druckfähigkeit hin geprüft hat. Eingedenk unserer Besprechung schrieb ich an den Rand: Holten empfiehlt das Papier. Ich meinte, dass Holten nach keiner Richtung hin Bedenken hatte. Holten zog das Papier sogar jenem andern (teureren) Papier vor, mit dem Sie sich ebenfalls einverstanden erklärt hatten. Das Papier macht beim Falzen nicht mehr Schwierigkeit, als jedes Papier in dieser Dicke machen würde. Für alle Fälle aber werde ich veranlassen, dass die Bogen vor dem Falzen ein Mal aufgeschnitten werden.70

Bei der Drucklegung des Siebenten Rings hingegen erwies sich das Einfärben der neuen Leinwand als problematisch, und wiederum musste Bondi StG vorab infor67 Vgl. Kornelia Vogt-Praclik, Bestseller in der Weimarer Republik 1925–1930. Eine Untersuchung, Herzberg 1987, bes. S. 30–47, 54–55. 68 StG an K. Wolfskehl v. 5.10.1899, StGA. 69 StG an K. Wolfskehl v. 16.12.1903, StGA. 70 G. Bondi an StG v. 14.12.1910, StGA.

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I. Stefan George und sein Kreis

mieren, dass eine wichtige Entscheidung zu treffen sei, die sich auf die Produktionskosten auswirke: Das Einfärben der neuen Leinwand für die Einbände des ,Siebenten Ringes‘ geschah nur gegen die Verpflichtung, dass ich nach und nach 1000 Einbände bestelle; denn der Fabrikant färbt kleinere Stücke dieser Leinwand nicht ein. Da ich gar keinen andern Ausweg fand, so habe ich schliesslich eingewilligt, obgleich für die jetzige Auflage des ,Ringes‘ voraussichtlich nur etwa 700 – 800 Einbände gebraucht werden.71

Massive Verzögerungen konnten Bondi beträchtliche Mehrkosten verursachen, daher drängte er StG immer wieder auf schnelle Antwort, nicht ohne auf die potenzielle Höhe dieser Mehrkosten dezidiert hinzuweisen. Die zeitliche Abstimmung zwischen Papierlieferanten, Druckereien und Buchbindereien stellte Bondi immer wieder vor neue Herausforderungen, wenn er StG nicht erreichen konnte: Die Papierbestellung unter den jetzigen Umständen könnte bereits eine Schädigung von einigen hundert Mark bedeuten. Das will ich Ihnen gern mündlich vorrechnen. Bei den an sich schon enormen Druckpreisen kann ich das nicht riskieren. Um jedoch jede Verzögerung zu vermeiden habe ich mit der Papierfabrik vereinbart: der Stoff wird bereitgestellt, die betr. Tage werden für mich reserviert, so dass, wenn ich Anfang Sept. das Format angebe, binnen 10 Tagen das Papier bei Holten ist. Sollte trotzdem schon vorher Papier gebraucht werden, so beziehe ich das betr. kleine Quantum von der Lagersorte. Holten kann also drucken so bald er will; wenn nötig schon jetzt. Aber da ich bisher noch nicht einmal einen Kostenvoranschlag erhalten habe, glaube ich nicht, dass das Papier vor etwa dem 10. Sept. gebraucht wird. Voraussetzung ist, dass Sie mir einige Tage vor Ihrer Ankunft in Berlin Nachricht geben u. dass wir am Tage Ihrer Ankunft das richtige Format, das dann nicht mehr zu beschneiden ist, festsetzen. Die Benachrichtigung vorher muss ich haben, damit die Fabrik sich rechtzeitig die Tage nach Angabe des Formats freihält. Meinen Vorschlag, die Sonette auf das gleiche Papierformat zu drucken, hatten Sie noch nicht definitiv angenommen. Natürlich muss ich das bei der Bestellung genau berücksichtigen. Am bequemsten u. am vorteilhaftesten ist es, dasselbe Format auch für die Sonette zu nehmen. Aber es könnte auch der für die Sonette bestimmte Teil der Papieranfertigung in einem anderen Format bestellt werden. Dieses wird hoffentlich am Tage Ihrer Ankunft geregelt werden.72

StG arbeitete auch intensiv an der Druckvorbereitung des Jean Paul-Bandes mit und beauftragte Lechter mit der Buchgestaltung. Allerdings weigerte sich Bondi, die Finanzierung für diesen Band zu übernehmen, und StG entschied sich, diesen auf eigene Kosten herstellen zu lassen. Mitte des Jahres 1900 wurde die Auflage auf riskante 400 Exemplare festgesetzt, obgleich zu diesem Zeitpunkt lediglich 100 Subskriptionen eingegangen waren. Der Ladenpreis wurde auf drei Mark veranschlagt. Bondi setzte sich dafür ein, dass der Band Deutsche Dichtung. Jean Paul. Ein Stundenbuch für seine Verehrer Anfang Juli 1900 – kurz vor StGs Geburtstag – auf den Markt kam. Trotz der gelegentlichen Missstimmungen dankte es der Verleger seinem Autor, dass dieser als Lektor fungierte. So suchte Bondi beispielsweise nach Erscheinen des Shakespeare-Bandes Rat bei Gundolf, wollte er sich doch bei StG für dessen Engagement erkenntlich zeigen: 71 G. Bondi an StG v. 29.11.1911, StGA. 72 G. Bondi an StG v. 19.8.1909, StGA.

5. Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung

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Ich möchte mich gern Stefan George gegenüber erkenntlich zeigen für die Mühe und Arbeit, die er zum Besten unseres ,Shakespeare‘ übernommen hat, und die er übernehmen wird, wenn er seinem Vorhaben gemäss den Band Macbeth-Hamlet-Lear fördert. Um meine Dankbarkeit zu substanzieren möchte ich ein Honorar für Stefan George in Vorschlag bringen, dessen Höhe ich mir etwa zwischen M. 1500 und 2000 denke. Ich bemerke hierbei, dass meine Dankbarkeit grösser ist, als die Möglichkeit sie zu bestätigen, da der ,Shakespeare‘, so ausgezeichnet er auch geht, doch noch nicht sämtliche Herstellungskosten gedeckt hat, die ganz unverhältnismäßig gross sind. Um ein Honorar im gewöhnlichen Sinne kann es sich ja so wie so nicht handeln. Kein Honorar könnte George ,locken‘. Und ich glaube, dass es in der ganzen Welt nicht Gold genug giebt, um George zu einer Arbeit zu veranlassen, die er nicht auch ohne Honorar tun würde. Ich bitte um Ihre Ansicht und bin mit herzlichem Gruss Ihr G. Bondi.73

Inzwischen war StG in Deutschland zu einer öffentlichen Person geworden, sodass die Verfasser von Literaturgeschichten StG und sein Werk in ihre Darstellungen aufnehmen wollten. Die Öffentlichkeitswirksamkeit StGs lag natürlich im Interesse des Verlegers, der diese Art Anfragen zum Bestandteil seiner Pressearbeit machte. So nutzte Bondi die Gelegenheit, denn in den Vorkriegsjahren erlebten Literaturgeschichten eine besondere Nachfrage. Einen guten Absatz fanden diese insbesondere dann, wenn sie als preiswerte Sonderausgaben angeboten wurden, die sich in gut verständlicher Darstellung, flankiert von Illustrationen und verbraucherfreundlichen Verkaufspreisen, an eine breite Leserschicht wandten. Da der Markt in diesem Segment hart umkämpft war, war Eile geboten. Bondi drängte StG, die Drucklegung der Literaturgeschichte von Richard Moritz Meyer tatkräftig zu befördern. Kurz vor Drucklegung der Volksausgabe von Die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts (Berlin 1912) wurde Bondi nach einer Abbildung von StG gefragt, die diese illustrieren sollte. Doch der Autor reagierte wieder einmal nicht auf Anfragen seines Verlegers. Nach drei Wochen Warten drängte Bondi StG massiv, doch unverzüglich eine Fotografie zur Verfügung zu stellen: Ihr Bild von Hilsdorf kommt. Nur habe ich bis jetzt noch keine Antwort u. bin in heller Verzweiflung: Das Buch ist zu Ende gedruckt; nur der Druck des Bildes kann erst vorgenommen werden, wenn das Cliche´ Ihres Bildes da ist. Das Clichieren und das Drucken der 12000-Auflage erfordert 16 Tage, so dass das Erscheinen wesentlich verzögert wird. Bitte geben Sie mir umgehend Antwort.74

Zu einer ernsten Verstimmung kam es während des Krieges, da StG die mit dem Krieg verbundenen Einschränkungen im Buchgewerbe nicht wahrzunehmen schien. Die gesamte Buchbranche litt unter einem massiven Mangel an männlichem Personal, das zum Kriegsdienst eingezogen worden war. So konnten Liefertermine nicht eingehalten werden und die Arbeitsabläufe in der Buchproduktion verlangsamten sich. Unter den kriegsbedingten Einwirkungen litt auch Bondi. Im Juli 1917 wandte sich der Verleger, selbst vorübergehend nach Garmisch-Partenkirchen abkommandiert, hilfesuchend an Gundolf: Lieber Herr Doktor! Nach meiner Abreise traf im Grunewald eine Depesche von George ein, die ich leider erst gestern Nachm. hier erhalten habe. Sie lautete: ,Falls Heft nicht sofort erscheint, veröffentliche ich anderswo. Brief folgt. George‘. Ich habe sofort George telegra73 G. Bondi an F. Gundolf v. 18.10.1911, StGA. 74 G. Bondi an StG v. 4.9.1912, StGA.

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phisch nach Darmstadt geantwortet, dass das Gedicht wenn unbedingt nötig, gleich nach meiner Rückkehr erscheinen kann, u. dass George schon vorher Exemplare bekommen kann. Gegen eine Veröffentlichung ausserhalb meines Verlages muss ich natürlich Protest einlegen: dieses ist rechtlich ausgeschlossen, nachdem mir das Mskr. übergeben u. nachdem die Drucklegung u. die Papierbeschaffung bewirkt sind. Ich bitte Sie hiervon George Kenntnis zu geben u. ihm mitzuteilen, dass ich die Dichtung so schnell wie irgend möglich herausgeben werde, dass aber die Schwierigkeiten wirklich sehr gross sind, da mein Prokurist u. alle meine andern bisherigen Angestellten (der letzte wurde vor 8 Tagen eingezogen) Militärdienst tun. Ich habe jetzt nur 2 Damen, die in meinem Bureau arbeiten. Anfang August hoffe ich wieder zu Hause zu sein. Dann kann das Gedicht sofort erscheinen. Wenn unbedingt nötig, kann George schon vorher Expl. haben. Wie ich schon mündlich erläuterte tue ich das sehr ungern, da ich vom Buchhandel dann wieder angepöbelt werde. Ich hoffe also, dass George auch mit diesen Expl. bis Anfang August warten kann. Ich richte diesen Brief an Sie, da Sie die mündlichen Verhandlungen geführt haben, habe aber natürlich nichts dagegen, dass Sie diesen Brief an George einsenden.75

Doch wie so oft reagierte StG auf weitere Telegramme und Depeschen seines Verlegers nicht. Gleichwohl schien Bondi gewillt, seinem Autor bei der schnellstmöglichen Veröffentlichung des fraglichen Gedichts entgegenzukommen. Wiederum fand die Kommunikation über Gundolf statt, den Bondi von Garmisch-Partenkirchen detailliert in die besonderen kriegsbedingten Vertriebsbestimmungen einwies, denn es durfte kein Verlagsartikel ohne vorherige Zustimmung der Generalkommandantur in Berlin ins Ausland verschickt werden.76 Obgleich sich die wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkriegs dramatisch auf das deutsche Verlagsgewerbe auswirkten, konzentrierte sich Bondi darauf, das Werk StGs auf dem Buchmarkt präsent zu halten, ohne seine anderen Programmbereiche zu vernachlässigen, die oftmals die eigentliche ökonomische Basis seines Verlagsgeschäfts darstellten. Immer häufiger versuchte Bondi seinen anspruchsvollen Autor für neue literarische Trends des Buchmarkts zu gewinnen und warb um Unterstützung, die Werke StGs und seines Schülerkreises, insbesondere historische Werke, in speziellen Buchreihen oder als Sammelwerke zu vermarkten. 5.4.3. Der Verlag Bondi in den Jahren der Weimarer Republik Der Buchmarkt der Weimarer Republik war geprägt von den Folgewirkungen des Ersten Weltkriegs. Die jährliche Titelproduktion war rückläufig und mit der Inflation erlebte der Buchmarkt in Deutschland einen enormen Konjunktureinbruch. Das Produktionsniveau sank kontinuierlich und erst die Einführung der Rentenmark stimulierte auch das Verlagsgewerbe, sodass der Buchmarkt in den Jahren 1925 bis 1927 wieder auf eine Spitzenproduktion von jährlich über 30.000 Neuerscheinungen verweisen konnte. In den frühen 20er-Jahren dominierten noch Neuauflagen das Verlagsgeschäft, eine Trendwende gelang erst mit Stabilisierung der Wirtschaft.77 Das Verlagsgewerbe hatte in den Jahren der Weimarer Republik mit dem dramatischen Währungsverfall zu kämpfen. S. Fischer bezeichnete diese Phase als „aufreibende 75 G. Bondi an F. Gundolf v. 16.7.1917, StGA. 76 Vgl. G. Bondi an F. Gundolf v. 22.7.1917, StGA. 77 Vgl. Kastner, Buchverlag, S. 15f.

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Hetzjagd“, denn die Verlage waren zu stetiger Produktion gezwungen, ohne hierfür die erforderlichen Mittel aus dem Erlös generieren zu können.78 Der Unmut der Autoren wuchs in den Nachkriegsjahren und die zehn großen Kulturverleger Deutschlands, unter ihnen Georg Bondi, Bruno Cassirer, Eugen Diederichs, Samuel Fischer, Kurt Wolff, Anton Kippenberg und Ernst Rowohlt sowie der Cotta-Verlag, die Deutsche Verlagsanstalt und der Kröner-Verlag, entschieden sich zu einem Zusammenschluss und formulierten „Richtlinien für die Honorierung schöngeistiger und wissenschaftlicher Bücher“. Diese empfahlen die Berechnung des Autorenhonorars vom jeweiligen Bruttoerlös des Verlegers; im Allgemeinen sei ein Anteil von 15 Prozent des Verkaufserlöses beim gehefteten und von zehn Prozent beim gebundenen Exemplar „die Grenze des zur Zeit möglichen“.79 Da die meisten Verlagsverträge eine Auszahlung des Honorars erst nach erfolgtem Absatz eines bestimmten Kontingents der Auflage vorsahen, entschieden sich Verlage, dieses zu reduzieren. Der Insel-Verlag halbierte wegen des dramatischen Währungsverfalls die Absatzahlen von 1.000 auf 500 Exemplare.80 Während mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs die schöne Literatur explosionsartige Steigerungsraten verzeichnete, erlebten nach dem Kriegsende vor allem historische Werke eine starke Nachfrage. Die hohen Herstellungskosten nach dem Ersten Weltkrieg, die allgemeine Wirtschaftskrise und vor allem die Inflationsjahre belasteten auch das Verlagsunternehmen Georg Bondi. Bondi konzentrierte sich – wie viele seiner Geschäftskollegen auch – auf die Produktion von Neuauflagen von bereits auf dem Markt etablierten Verlagswerken. Gerade in den von Bondi gepflegten Programmsparten Neuere Sprach- und Literaturwissenschaft war die Anzahl von Erstauflagen drastisch zurückgegangen, eine Wende zeichnete sich erst 1927 ab.81 Bondi reagierte auf die veränderte soziale Zusammensetzung der Leserschichten mit einem neuen Buchtyp, der sich besonders schnell auf die veränderten Lesepräferenzen eines gebildeten Publikums einzustellen vermochte – das populäre Sachbuch, ein Programmbereich, der neben populärwissenschaftlichen Abhandlungen Kunstbücher, Biographien und historische Werke umfasste.82 Das populäre Sachbuch war in den Zwischenkriegsjahren als neuer Buchtyp entstanden, der das Informationsbedürfnis breiter Leserschichten zu bedienen suchte. Das populäre Sachbuch demokratisierte die Wissensvermittlung und Bildung war kein schichtenspezifischer Standard mehr.83 Zu den erfolgreichsten Sachbüchern avancierten Ernst Haeckels Welträtsel (1899), Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918) oder Klabunds Literaturgeschichte in einer Stunde (1922). Der 78 Mendelssohn, S. Fischer, S. 911f. 79 Ebd., S. 915. Ein kaum lösbares Problem für die Verleger stellten die explodierenden Herstellungskosten dar, die eine Verlagskalkulation immer schwieriger gestalteten. Die Papierkosten waren Anfang März 1923 auf das 10.000fache, die Druckkosten auf das 5.000fache, die Buchbinderkosten auf das 6.000fache des Friedenssatzes gestiegen. Die rapide Inflation führte zu einer Vervielfachung des Buchpreises, und die Festsetzung der Schlüsselzahlen erfolgte in immer kürzeren Abständen. Betrug die Schlüsselzahl im Juni 1923 noch 6.300, erhöhte sich diese bis November 1923 auf 100 Milliarden. 80 Vgl. Sarkowski, Insel-Verlag, S. 204–209. 81 Vgl. ebd., S. 128. 82 Vgl. ebd., S. 264. 83 Vgl. Michael Schikowski, Geschrieben und verkauft. Das Sachbuch und sein Markt. Einige Anmerkungen, in: Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen 1/2006, 1, S. 47–60, hier: 51.

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neue Buchtyp – eines der wesentlichsten Merkmale – orientierte sich am Markt, und Bondi warnte vor einer zu starken Popularisierung, um die Werke des George-Kreises nicht zu diskreditieren. Bondi hatte Erfahrung auf dem Gebiet des populären Sachbuchs, verlegte er doch den Klassiker Wilhelm Bölsche, dessen Bücher unzählige Neuauflagen verzeichneten und ein ebenso zuverlässiges wie unverzichtbares Einkommen für den Verlag darstellten. Schon in der Vorkriegszeit klagten Kritiker dieses Popularisierungstrends über die „Bölscherei“ auf dem Buchmarkt.84 Eine besondere Nachfrage erlebten nun populäre Geschichtswerke, die als Buchreihe erschienen. Ähnlich dem Insel-Verlag, der von 1923 bis 1929 ein neunbändiges Sammelwerk unter dem Titel Deutsche Vergangenheit auf den Markt brachte, schlug Bondi die Herausgabe von Ernst Kantorowicz’ Kaiser Friedrich II. in einer eigens zu gründenden Buchreihe vor, eine Idee, der StG nicht abgeneigt war. Die historische Reihe sollte im Verlag der Blätter für die Kunst erscheinen und StG allein über die Aufnahme neuer Werke entscheiden. Bondi wünschte, dass der erste Band der neuen Reihe noch vor Weihnachten 1926 auf den Markt kommen solle, ein Erscheinungstermin, von dem er sich eine besonders starke Nachfrage erwartete. Doch StG ließ sich – wie so oft – nicht drängen.85 Bereits wenige Tage später sandte Bondi einen Kostenvoranschlag der Druckerei Hesse & Becker an StG. Der Umfang des Manuskripts sollte 37 Bogen a` 16 Seiten betragen, die Auflagenhöhe veranschlagte Bondi auf 2.600 Exemplare: Kostenvoranschlag: Hesse & Becker (148.40 x 37) Papier Umschlag 500 Broschuren 1000 Einbände Anzeigen und Fakturen

5.500 M. 1.660 M. 90 M. 150 M. 1.200 M. 400 M. 9.000 M.86

Dankbar griff der Verleger das neuerliche Angebot seines Autors auf, die Hälfte der Herstellungskosten zu übernehmen, denn die Inflation machte es Verlegern schier unmöglich, Kredit zu erhalten.87 Zum Abschluss eines Verlagsvertrags über die Herausgabe der historischen Reihe kam es erst 1931, obgleich der Entwurf bereits Ende des Jahres 1926 vorlag: §1. Herr Stefan George nimmt in Aussicht, im Verlage Georg Bondi eine historische Serie herauszugeben, welche die für die Werke der Wissenschaft vorgesehene Verlagsmarke erhalten soll. Alle früheren Vereinbarungen über diese Marke bleiben in Kraft. § 2. Die Serie wird eröffnet durch das Werk ,Kaiser Friedrich II‘, dessen Mskr. sich bereits in Händen des Herrn G.B. befindet. Herr Stefan George steht dafür ein, dass er zu jeder ihm gut scheinenden Form der Herausgabe dieses Werkes durch dessen Verfasser ermächtigt ist. Herr G.B. erklärt sich damit einverstanden, dass das Werk, je nach den zwischen dem Herausgeber 84 Safia Azzouni, Wilhelm Bölsche und die poetischen Grundlagen naturwissenschaftlichen Popularisierens, in: Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen 1/2006, 1, S. 93–97, hier: 93. 85 Vgl. G. Bondi an StG v. 8.8.1926, StGA. 86 G. Bondi an StG v. 14.8.1926, StGA. 87 Vgl. G. Bondi an StG v. 14.8.1926, StGA.

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und dem Verfasser getroffenen Vereinbarungen, pseudonym oder unter Nennung des Verfasser-Namens erscheint. § 3. Mit Hinblick auf die zwischen Herrn St.G. und Herrn G.B. noch schwebenden Verhandlungen über den Abschluss eines Gesamt-Verlagsvertrages wird das Verlagsrecht für ,Kaiser Friedrich II‘ nur für eine Auflage übertragen. Die Auflage soll nicht kleiner sein als 2000 und nicht grösser als 3000 Expl. Innerhalb dieser Grenzen wird die Höhe der Auflage durch den Verleger bestimmt, der verpflichtet ist die von ihm festgesetzte Auflage spätestens bei Beginn des Druckes Herrn St.G. mitzuteilen. […] Die Abrechnung erfolgt nach Schluss dieses Kalenderjahres, spätestens bis zum 10. März. Das Honorar ist dann sofort zahlbar. […] § 5. Herr St.G. übernimmt zu seinen Lasten die Hälfte der Herstellungskosten bis zum Höchstbetrage von RM 4.500.–, zahlbar bei Fälligkeit und erwirbt dafür Anspruch auf die Hälfte des Verlegergewinns. Er verfügt hiermit über diesen Anspruch auf einen Gewinnanteil zu Gunsten des Verfassers. Zur Errechnung des Verlegergewinns wird ausgegangen von den Herstellungskosten und der Bruttoeinnahme. Als Herstellungskosten gelten die für Satz, Druck, Papier, Einbände, Umschläge, notwendige Propaganda u. s. w. bezahlten Beträge, als Bruttoeinnahme der unter zu Grundelegung des Buchhändler-Nettopreises berechnete Erlös der verkauften Expl. […]. Aus der Nettoeinnahme ist zunächst der Kostenanteil des Verlages zu decken. Nach dessen Deckung werden die Nettoeinnahmen verwendet zur Deckung des Kostenanteils des Herausgebers. Nach erfolgter Kostendeckung gelten die Nettoeinnahmen als Reingewinn […]. Berlin, den 12. Oktober 1926.88

Bondi führte auch in den Zwischenkriegsjahren Umsatz- und Absatzstatistiken, die Einblick in die Marktverhältnisse und das Aufnahmevolumen des Markts gewähren. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten standen die Verleger aber auch zu ihrer Verantwortung und bemühten sich um eine bestmögliche Förderung ihrer Autoren, um ihnen den erforderlichen Rahmen für schöpferische Arbeit zu gewährleisten. Nicht unüblich war deshalb die Praxis der monatlichen Rente, die dem Autor als finanzielle Absicherung diente, normalerweise aber später mit dem Honorar verrechnet wurde. Eine Regelung, die StG offenbar nicht in Anspruch nahm, konnte er doch von seinem Guthaben leben, das Bondi für ihn verwaltete. 5.4.4. Verlagskalkulationen, Auflagenhöhen, Honorarberechnungen in den Zwischenkriegsjahren Vergleicht man die von Bondi vorgeschlagenen Auflagenhöhen für Einzelwerke StGs und die Absatzzahlen, wird schnell deutlich, wie erfahren der Verleger zu kalkulieren verstand. Im Jahr 1922 wurden insgesamt 21.050 Exemplare verkauft. Die Zusammenstellung führt außerdem den Absatz der verschiedenen Buchausgaben auf. Während Broschur und Leinen nur jeweils ein Drittel des Gesamtabsatzes ausmachten, erfreuten sich die Halbleinenbände in den Zwischenkriegsjahren großer Beliebtheit.

88 Verlagsvertrag zwischen StG und G. Bondi 1931, StGA.

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Absatzaufstellung für das Jahr 1922 Titel Hymnen Pilgerfahrten Algabal Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte… Das Jahr der Seele Der Teppich des Lebens Der Siebente Ring Der Stern des Bundes Der Krieg Drei Gesänge Baudelaire, Blumen des Bösen Dante, Göttliche Komödie Shakespeare, Sonnette Blätter für die Kunst I Gesamt

Brosch.

Hlwd.

108 62

1.398 1.273

174 155 3 3 552 2.796 10 1 40 298 4.202

2.527 2.001 1.997 1.855 – – 1.117 1.850 1.063 – 15.081

Lwd. 65 200

Absatz/gesamt 1.571 Ex. 1.535 Ex.

288 2.989 Ex. 800 2.456 Ex. 331 2.331 Ex. 77 1.935 Ex. – 552 Ex. – 2.796 Ex. 34 1.161 Ex. 421(+17Hfz) 2.289 Ex. 84 1.137 Ex. – 298 Ex. 1.750 21.050 Ex.

Eine Zusammenstellung des Absatzes von Einzelwerken zwischen 1923 und 1926 zeigt, dass die Jahre 1924/25 wenigstens für StGs Werke die umsatzstärksten waren. Absatzaufstellungen 1923–1926 nach Einzeltiteln Titel Baudelaire, Blumen des Bösen Blätter für die Kunst I Blätter für die Kunst II Blätter für die Kunst III Dante, Göttliche Komödie Deutsche Dichtung I Deutsche Dichtung II Deutsche Dichtung III Hymnen Pilgerfahrten Algabal Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte… Das Jahr der Seele Der Teppich des Lebens Der Siebente Ring Der Stern des Bundes Der Krieg Drei Gesänge Zeitgenössische Dichter I Zeitgenössische Dichter II Shakespeare, Sonnette Tage und Taten Gesamt

1923 213 Ex. 26 Ex. – – 178 Ex. 557 Ex. – – 332 Ex. 281 Ex.

1924 817 Ex. 33 Ex. – – 324 Ex. 102 Ex. 2 Ex. 113 Ex. 417 Ex. 383 Ex.

1925 279 Ex. 59 Ex. 1 Ex. 2 Ex. 619 Ex. 90 Ex. – 77 Ex. 361 Ex. 324 Ex.

493 Ex. 478 Ex. 478 Ex. 483 Ex. 5 Ex. 285 Ex. 557 Ex. 576 Ex. 213 Ex. – 5.255 Ex.

949 Ex. 835 Ex. 949 Ex. 848 Ex. – 455 Ex. 174 Ex. 170 Ex. 356 Ex.

846 Ex. 733 Ex. 823 Ex. 713 Ex. – 177 Ex. 136 Ex. 148 Ex. 284 Ex. 2.995 Ex. 7.131 Ex.

6.927 Ex.

1926 – 46 Ex. – – 231 Ex. 51 Ex. – 61 Ex. 195 Ex. 227 Ex. 669 Ex. 577 Ex. 581 Ex. 582 Ex. – 2 Ex. 78 Ex. 91 Ex. 187 Ex. 806 Ex. 4.384 Ex.

In einem weiteren Änderungsvertrag vom 29. November 1924 war Bondi gezwungen, seine Honorarvereinbarungen mit StG den Zeitumständen entsprechend nachzubessern. Dem Verlag war es aufgrund der Wirtschaftskrise nicht mehr möglich, die ur-

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sprünglich favorisierte Regelung, den Reingewinn hälftig zu teilen, aufrechtzuerhalten. § 1 des neuen Vertrags legte fest: Die Vertragsabschliessenden sind übereingekommen, dass vom 1. Januar 1924 ab an Stelle des halben Reingewinns das Honorar 15% des Umsatzes betragen soll, bei Leder- oder Pergamentbänden 10%. Unter Umsatz verstehen die Vertragsschliessenden die gesamte Bruttoeinnahme ohne jeden Abzug. Die Abrechnung erfolgt nach Abschluss des Kalenderjahres.89

Die Reduzierung des Prozentsatzes wirkte sich auf das Honorar spürbar aus, gleichwohl verdiente StG 1925 noch knapp 4.200 M. Die wirtschaftlichen Probleme der Buchbranche hemmten auch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs das Verlagsgeschäft Bondis. Der Verleger sah sich vor dem Hintergrund der schwierigen Wirtschaftslage gezwungen, sein Verlagsprogramm besser zu vermarkten und mit Buchserien den Absatz zu steigern. Er achtete verstärkt darauf, dass Verlagsartikel als Geschenkbücher und rechtzeitig zur Weihnachtszeit auf den Markt kamen. Im Spätsommer 1926 verschlechterte sich die finanzielle Situation Bondis um ein Weiteres.90 In seinen Briefen an StG beklagte er den schlechten Absatz von Büchern und bat darum, die Produktionskosten – somit auch den Umfang der Werke – so niedrig wie nur möglich zu halten. Bei seinen Verlagskalkulationen schlug er immer öfters Kompromisse bei der Schrift und äußeren Gestaltung des Buches vor, nicht ohne die Zustimmung StGs einzuholen: An sich habe ich gegen die Type des kleinen Napoleon, die ich ja schon oft verwendet habe, keine Bedenken. Nur läuft sie sehr breit und zwar um mehr als 10% breiter gegenüber der Nordisch-Antiqua, in der der grosse Napoleon gedruckt ist. Der Band würde dadurch um ca. sechzig Druckseiten an Umfang zunehmen, was nicht sehr erwünscht ist. Ausserdem ist diese Schrift eine Zeilengiessemaschinen-Schrift, was wegen der Korrekturkosten nicht ohne Bedenken ist. Ich habe sie daher immer nur bei Büchern nicht zu grossen Umfangs angewendet, bei denen so gut wie keine Verfasserkorrekturen zu erwarten waren. Ich werde mich bemühen noch eine andere, geeignetere Schrift ausfindig zu machen. Auf Ihre Frage nach der Zeit in der der Satz zu bewerkstelligen ist erwidere ich: ungefähr zwölf Wochen. […] Bei den Herstellungskosten müssen auch die notwendigen Propagandakosten, an denen ich allerdings sehr spare, gerechnet werden. So kann ich z. B. auf die Anzeigen im Buchhändler-Börsenblatt nicht verzichten. Auch sonst könnten noch einige Anzeigen unerlässlich nötig sein. Was die allgemeinen Geschäftsunkosten betrifft so ist es leider bei den völlig veränderten Zuständen nicht mehr möglich mit 10% auszukommen. In Wirklichkeit waren in den letzten Jahren diese allgemeinen Geschäftsunkosten bei mir über 25%, und zwar buchmässig genau berechnet. Bei anderen Verlegern meiner Bekanntschaft waren sie sogar über 30%.91

Bondi geriet Ende der 20er-Jahre regelmäßig mit dem Zeitplan unter Druck, auch deshalb, weil der postalische Verkehr immer zeitraubender wurde. Die Klagen über die wirtschaftlich außerordentlich problematische Situation des Unternehmens, die 89 Verlagsvertrag v. 29.11.1924, StGA. 90 Nicht nur bei Bondi waren die Umsätze rückläufig. Auch Anton Kippenberg verzeichnete erhebliche Umsatzeinbrüche. Erwirtschaftete das Unternehmen 1924 noch 2,464 Millionen M., sanken die Jahresumsätze bis 1932 schrittweise auf nunmehr 1,212 Millionen Mark; vgl. Sarkowski, Insel-Verlag, S. 289. 91 G. Bondi an StG v. 4.9.1926, StGA.

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Notwendigkeit, die Herstellungskosten möglichst niedrig zu halten und gegebenenfalls mehrere Kostenvoranschläge einzuholen, stets Kompromisse bei der Buchgestaltung machen zu müssen, deprimierten den Verleger zusehends. Das ständige Warten auf Antwort seitens StGs wurde zu einem äußerst kostspieligen Unterfangen, und im Oktober 1926 war Bondi gezwungen, erstmals eine verlegerische Entscheidung zu treffen, ohne StGs Zustimmung abzuwarten: Was die Zeichnung betrifft so war ich in einer schwierigen Lage. Sie hatten mir bei Uebersendung der Zeichnung geschrieben ,von sachkundiger Seite müsste entschieden werden, ob die Zeichnung sich in dieser Form zum Clichieren eignet‘. Es war mir nicht ganz leicht zu entscheiden wer dieser Sachkundige sein sollte. Keinesfalls konnte es Meisenbach sein; denn das Clichieren an sich, rein technisch, hatte nicht die geringste Schwierigkeit. Es konnte sich nur darum handeln ob die Zeichnung in künstlerischem Sinne als genügend anzusehen war. Meiner Meinung nach war es nicht der Fall, schon wegen der vielen geknickten Linien in den unteren Bogen. Da Sie aber darüber einen Sachkundigen hören wollten, so nahm ich an, es müsse einer sein, zu dem auch Sie Vertrauen haben. Und da wusste ich wirklich keinen andern als Lechter. Es vergingen nun einige Tage Zeit bis ich Lechter erwischen konnte. Das war der Grund der Verzögerung um vier Tage. Ich sende Ihnen nun heute nochmals 2 Pausen.92

Zu weiteren Verzögerungen kam es, weil offenbar Druckfahnen verloren gegangen waren; außerdem kam es nochmals zum Austausch über die Zeichnung: Zu der Zeichnung bemerke ich folgendes: ich habe nur gesagt, dass mir die Verlagsangabe bei einem Werke der Wissenschaft spielerisch erscheint. Sie schreiben selbst, was selbstverständlich auch meine Meinung ist, dass das Buch jeder wissenschaftlichen Prüfung natürlich standhalten könne. Darum halte ich es für höchst bedenklich, wenn das Titelblatt den Eindruck erweckt, dass eins der sogenannten ,populär-wissenschaftlichen‘ Werke vorliegt. Ich brauche wohl kaum zu sagen welches schauderhafte Zeug auf diesem Gebiet in den letzten Jahrzehnten wie Unkraut gewachsen ist. Stünde nun etwa Gundolfs Namen auf dem Titelblatt so wäre diese Art der Verlagsangabe weniger gefährlich, da Gundolfs wissenschaftlicher Charakter anerkannt ist. Bei einem völlig unbekannten Autor muss diese Art als irreführend angesehen werden. Ich kann mir z. B. denken dass ernsthafte Leute der Meinung sind, sie brauchen von einem derartig ,populären‘ Werke keine Kenntniss zu nehmen.93

Offenbar war Bondi zunehmend gereizt. Die Korrespondenz des Verlegers funktionierte praktisch ausschließlich über StG, und trotz mehrfacher Bitte Bondis, der Autor möge ihn in Berlin aufsuchen, kam kein persönlicher Kontakt zustande. Allerdings äußerte StG immer wieder neue Wünsche, sodass Bondi den anvisierten Erscheinungstermin schließlich nicht mehr einhalten konnte.94 Vor dem Hintergrund der sich zunehmend verschärfenden wirtschaftlichen Situation des Verlegers bat dieser StG immer wieder, mit besonders absatzträchtigen Sonderdrucken auf den Markt zu gehen.95 Wichtiger Bestandteil der Verlagspolitik war die genaue Planung von Erscheinungsterminen, die sich häufig an besonderen Ehrentagen, insbesondere an StGs Geburtstag, orientierten. Geburtstage eigneten sich vorzüglich für besondere Werbeaktionen, denn die Buchhändler entschieden sich oft92 G. Bondi an StG v. 28.10.1926, StGA. 93 G. Bondi an StG v. 24.1.1927, StGA. 94 Vgl. G. Bondi an StG v. 24.2.1927, StGA. 95 Vgl. G. Bondi an StG v. 23.8.1927, StGA.

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mals für Sonderfenster oder Sonderauslagen und begleiteten das Erscheinen eines Werks mit Lesungen und gezielter Pressearbeit. StG verwehrte sich aber gelegentlich gegen diese Vermarktungsstrategie, vor allem wenn er befürchtete, dass wegen des Zeitdrucks die Qualität des Drucks leide. Ende Oktober 1928 erschien – zeitgleich mit Max Kommerells Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik – als neunter Band der Gesamtausgabe Das Neue Reich. Eigentlich arbeitete Bondi daraufhin, diese zu StGs 60. Geburtstag auf den Markt zu bringen: Ich halte es für dringend wünschenswert, dass wenigstens die neue Ausgabe der Hymnen zu Ihrem 60sten Geburtstag vorliegt. Mit Rücksicht auf die Urlaubsverhältnisse im Verlag (mein Auslieferer hat seinen Urlaub im Juni) kann ich es kaum anders einrichten, als dass die Hymnen Anfang Juni erscheinen. Daher bitte ich sie mir womöglich in den nächsten Tagen wegen des Anhangs und wegen der noch schwebenden Fragen Bescheid zu geben.96

Und vier Wochen später, als er noch immer kein Lebenszeichen von StG erhalten hatte: I. Ich bin in grosser Verlegenheit, da ich alles darauf eingerichtet habe die ,Hymnen‘ im Juni erscheinen zu lassen, aber von Ihnen noch kein Mskr. für den Anhang erhalten habe; auch habe ich Bogen 7 und 8 noch nicht von Ihnen zurück bekommen. Hoffentlich haben Sie meine Briefe vom 5. u. 26. Mai richtig erhalten, ebenso die 7 Klischee-Abzüge sowie den Abdruck des Titels ,Hymnen‘. II. Der Stern des Bundes in seiner jetzigen Gestalt geht seinem Ende entgegen. Ich bitte es so einzurichten, dass die neue Ausgabe in etwa 4–6 Monaten erscheinen kann. III. Ferner bitte ich um eine Mitteilung, wann der Druck des neuen Gedichtbandes beginnen kann. Ich muss dies bei Zeit wissen, da die Papierfabrik mir jüngst mitteilen lies, dass sie jetzt 3 Monate Zeit für eine Anfertigung beansprucht (es ist eine kleine Fabrik, nicht sehr leistungsfähig).97

Die Verlagstätigkeit Ende der 20er-Jahre entwickelte sich geradezu hektisch. Vor allem Werke aus dem Schülerkreis galt es, rechtzeitig auf den Markt zu bringen. Da StG die Drucklegung der Wissenschaftswerke seines Kreises sehr genau verfolgte und die Texte akribisch lektorierte, verdichtete sich die Korrespondenz in den Jahren 1925 bis 1930 beträchtlich. Bondi gab StG Druck- und Erscheinungstermine vor, die aber oftmals gar nicht einzuhalten waren. Im September 1928 bereitete der Verleger das Buch Kommerells vor: Mit Komerells [sic!] Buch schlage ich mich in Gedanken dauernd herum, selbst Nachts verfolgt es mich in meinen Träumen. Das Buch hat offenbar etwas Aufregendes. Ich konnte noch zu keiner definitiven Stellungnahme kommen und weiss nur soviel: wenn K. das alles richtig gesehen hat, dann ist er genial. Aber wie weit er richtig gesehen hat, das weiss ich oft nicht. Uebrigens setzt er ziemlich viele Kenntnisse voraus, für die junge Generation, auf die das Buch doch vor allem wirken soll vielleicht zu viele; denn die junge Generation ist meist nicht sehr gebildet.98

Auch bei diesem Buchprojekt wurde der Briefverkehr immer dichter, denn die letzten Details mussten mit StG besprochen werden, sei es die neue Titelzeile, die Frage von Sperrungen oder anderen Hervorhebungen, die Frage, ob ein Doppelpunkt hinter den 96 G. Bondi an StG v. 5.5.1928, StGA. 97 G. Bondi an StG v. 5.6.1928, StGA. 98 G. Bondi an StG v. 20.9.1928, StGA.

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Namen des Autors gesetzt werden solle oder ein einfacher Punkt gewünscht sei. StGs Wünsche kollidierten häufig mit dem typographischen Regelwerk der Zeit, und Bondi musste seinen Autor davon überzeugen, von einer Idee wieder Abstand zu nehmen. Schriftmuster und Textilproben wurden hektisch hin- und hergeschickt. Die Druckvorbereitungen bedurften einer fein abgestimmten Logistik und eines exakt einzuhaltenden Zeitplans, den StG oft genug durchkreuzte. In der Schlussphase des Druckes schrieb Bondi bis zu drei Briefe am Tag an StG, so auch wegen der Einbandgestaltung von Kommerells Buch.99 Die politisch unruhigen Zeiten in Berlin, die Wirtschaftslage in Deutschland und der enorme Zeitdruck, dem alle an der Drucklegung eines Werks beteiligten Personen ausgesetzt waren, führte immer wieder zu ärgerlichen Fehlern, die Bondi Zusatzkosten bescherten: Ende dieser Woche wird die Fortsetzungsausgabe ,Der Stern des Bundes‘ erscheinen; bei Erscheinen geht ein Expl. an Sie ab (ein Expl. der Einzelausgabe gab ich Ihnen bereits, da die Einzelausgabe diesmal früher erschienen ist). Leider hat Holten wieder grosse Fehler gemacht; am störendsten ist die falsche Seitenzahl ,51‘ statt ,15‘ in einem grossen Teil der Auflage. Die Zahl war in der Korrektur richtig, hat sich während des Druckes gelockert und ist dann falsch zusammengesetzt worden.100

5.4.5. Druck, Ausstattung und Absatz der Gesamtausgabe der Werke Georges Ein wichtiger Bestandteil der Vermarktungsstrategie und Autorenbindung war die Herausgabe einer Gesamtausgabe von namhaften Hausautoren, deren Einzelwerke sich ohnehin so gut verkauften, dass praktisch jährlich Neuauflagen vorbereitet werden mussten. Anton Kippenberg schlug 1924 seinem Autor Rilke vor, doch eine Gesamtausgabe in Angriff zu nehmen: „Gesamtausgaben sind heute an der Tagesordnung, und werden stark gekauft“.101 Kippenberg regte dieses Verlagsprojekt auch deshalb an, weil er von den Plänen S. Fischers wusste, mit Gesamtausgaben der Werke Gerhart Hauptmanns und Thomas Manns auf den Markt zu gehen. Eine Gesamtausgabe war einerseits die Würdigung der literarischen Leistung eines Autors, andererseits sorgte eine Gesamtausgabe für die endgültige Etablierung eines Schriftstellers und seines Werks auf dem Markt. Unterschieden wurde zwischen Gesammelten Werken und Sämtlichen Werken. Der Druck einer Werkausgabe wurde häufig flankiert von Autobiographien oder Biographien über den Autor, die als Einführungsband der Gesamtausgabe erschienen. Der Erscheinungstermin einer Gesamtausgabe wurde, sofern möglich, auf Ehrentage des Autors gelegt, also Geburtstage oder Preisverleihungen, um eine maximale Medienwirksamkeit zu erreichen. Es war üblich, dass die Gesamtausgabe auch in Einzelbänden abgegeben wurde, solange das Gesamtwerk noch nicht abgeschlossen vorlag. Die Verlagsverträge für Gesamtausgaben waren meist sehr komplex und umfangreich, bedurften häufiger Ergänzungen und Änderungen. Die Verträge zwischen Bondi und StG allein wegen der Herausgabe einer Gesamtausgabe füllen drei umfängliche Aktenkonvolute und verweisen auf den be99 Vgl. G. Bondi an StG v. 20.9.1928, StGA. 100 G. Bondi an StG v. 28.1.1929, StGA. 101 Anton Kippenberg an Rainer Maria Rilke v. 8.12.1921, in: Rilke, Briefwechsel, S. 243.

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trächtlichen bürokratischen Aufwand, der mit einem solchen verlegerischen Großprojekt einherging. Die ideelle und ökonomische Bedeutung einer Gesamtausgabe formulierten Bondi und StG in den Vorbemerkungen zur Gesamtausgabe: Mit der Überlassung der Gesamtausgabe an den Verlag vergibt sich der Autor seiner letzten Wertobjekte. Er muss also entweder beanspruchen eine Sicherung durch eine entsprechende Vorauszahlung oder die Garantie eines Minimums in wertbeständiger Währung. Es müsste dafür gesorgt sein, dass nicht wieder eine einseitige Bevorzugung des einen der Vertragskontrahenten eintritt. Wenn diese Minimalsumme von seiten des Verlags aus irgendwelchen Gründen nicht ausgezahlt werden kann, muss damit eine Kündigung von seiten des Verfassers möglich sein. Dem Verleger bleibt als Vorteil, dass diese Vereinbarung nur für den Verfasser persönlich gilt, nicht aber auf Erben übertragen wird. Zur Herausgabe der Gesamtausgabe bleibt noch zu bemerken, dass ausser den neu hinzukommenden Werken es sich nicht nur handelt um den nochmaligen genauen Abdruck der schon erschienenen Bücher, sondern fast jeder Band der Gesamtausgabe neue Stücke oder unveröffentlichte Anhänge enthält. In ganz besonders hervorragender Weise hat der Autor durch seine persönliche Haltung und Sachführung zum äusseren Erfolg beigetragen, mit verhältnismäßig geringer Zuhilfenahme der üblichen Mittel des Geschäftsbetriebs. Die vertraglich ausbedungene Sonderstellung seines und seiner Freunde Werke durch eine eigene Verlagsvignette und durch ein besonderes Verhalten bei der Anführung in Katalogen und anderen Anzeigen wird für ein wesentliches Moment auch bei einem neuen Vertrag angesehen werden müssen.102

Eine nachträgliche Einfügung am Schluss der Vorbemerkungen zur Gesamtausgabe unterstrich nochmals, dass StG weniger aus kommerziellen Erwägungen als aus literarischen Ambitionen heraus handelte: Dass der Verfasser für seine und seiner Freunde Werke nicht aus geschäftlichen Gründen, sondern im Interesse der Sache diese Verfügungen traf. Dass bei der besonderen Prägung, die jeder Verlag durch die bei ihm erscheinenden Werke erhält, gewisse Verlage nie in Betracht kommen können.103

Erste vertragliche Absprachen über den Druck der Gesamtausgabe wurden bereits im Verlagsvertrag vom 22. März 1912 getroffen.104 Hier wurde in § 10 vereinbart, dass die Gesamtausgabe bei Bondi erscheinen solle und die genauen Vertragsmodalitäten noch verhandelt würden. StG behielt sich das Recht vor, im Falle einer Nichteinigung die Gesamtausgabe einem anderen Verlag zu übertragen. Bondi bestand wenigstens auf der Festlegung von Grundbedingungen, die seitens des Verlags zu erfüllen seien, um auch die Gesamtausgabe im eigenen Verlag zu behalten. Drei Voraussetzungen wurden vertraglich fixiert: a) Kein Band dieser Gesamtausgabe darf vor 1919 erscheinen. b) Die einzelnen Bände dürfen nur denSubskribenten der Gesamtausgabe verkauft werden, wie das Usus ist, und dürfen nie getrennt verkauft werden, sobald alle Lieferungen vorliegen. c) Der Verkaufspreis der broschierten Gesamtausgabe darf keinesfalls billiger sein als die Hälfte der Summe der Einzelausgaben. Die Einbände dürfen nicht billiger sein, als die der Einzelausgaben. Herr George 102 Vorbemerkungen zur Gesamtausgabe, vermutlich 1912, StGA. 103 Ebd. 104 Vgl. Verlagsvertrag v. 22.3.1912, StGA.

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verpflichtet sich jedoch, bevor er die Gesamtausgabe einem anderen Verleger übergiebt, Herrn Bondi die von dem anderen Verleger eingeräumten Bedingungen bekannt zu geben. Falls Herr Bondi diese Bedingungen ebenfalls annimmt, so soll er das Vorrecht haben.105

Auch eine mögliche Auflagenhöhe wurde bereits ins Auge gefasst, so sollte der Band der jeweils ersten Auflage in einer Auflage von 1.500 bis 2.000 Exemplaren erscheinen, jede spätere Auflage zwischen 1.000 und 1.800 Exemplaren betragen.106 Nach diversen Vorüberlegungen und Vertragsentwürfen entstand zunächst ein Entwurf letzter Hand vom 2. Juli 1927; schließlich folgte mit geringfügigen Nachjustierungen das rechtsverbindliche Vertragswerk, datiert vom 6. Oktober 1927, das alle bis zu diesem Zeitpunkt getroffenen Vereinbarungen für ungültig erklärte.107 Die Gesamtausgabe wurde auf insgesamt achtzehn Bände veranschlagt, wobei StG unmissverständlich festlegen ließ, dass das Gesamtwerk ausschließlich im Verlag Bondi zu erscheinen habe und selbst Einzelausgaben nicht mehr ohne Zustimmung des Autors erscheinen dürften. Eine Übertragung der Verlagsrechte könne nur stattfinden, wenn Bondi seinen gesamten Verlag an einen Dritten übertrage, doch solange StG lebe, „dürfen die Werke auf keinen Fall unter einer anderen Verlagsfirma als ,Georg Bondi Berlin‘ erscheinen.“108 Der Erscheinungsturnus der einzelnen Bände wurde auf Abstände von höchstens einem Jahr festgelegt, die Auflage der Einzelbände sollte 5.000 Exemplare nicht überschreiten. Wie im Buchhandel üblich erhielten Buchhändler Partieexemplare, d. h. bei Bestellung von zehn Exemplaren erhielten sie ein zusätzliches Freiexemplar. Aus dieser Regelung (und unter Berücksichtigung der Autorenexemplare) vereinbarten StG und Bondi, dass 500 Exemplare, also zehn Prozent der Gesamtauflage, als Freiexemplare zusätzlich gedruckt werden sollten. Dem Verleger wurde die Festlegung der Auflagenhöhe zwar eingeräumt, aber er habe umgehend StG darüber zu informieren. Auch die Gestaltung der Paratexte (Kommentare, Anmerkungen, Vorworte, Briefe und Bilder), ein unverzichtbares Werbeinstrument des Verlags, lag ausschließlich in der Verantwortung StGs. Bondi verpflichtete sich im Gegenzug, die Bände der Gesamtausgabe auch einzeln und vor allem in zwei Ausstattungen abzugeben, also auch in broschierter Form. Die broschierte Ausgabe war wiederum ein Zugeständnis an den Buchhandel der Zeit, denn zunehmend drängten seriell produzierte Taschenbücher auf den Markt, eine Publikationsform, die längst nicht mehr populären Lesestoffen vorbehalten war. Neuauflagen, Nachdrucke und Reprints waren dem Verleger untersagt, auch die Makulatur von Restbeständen. Auch StG arbeitete mit dem verlegerischen Konzept der Sonderausgabe, einem Novum des Buchmarkts Ende der 20er-Jahre, gleichfalls elementarer Bestandteil moderner Verlagswerbung. Bondis verlegerischer Handlungsspielraum wurde vor allem durch den fünften Passus des Verlagsvertrags eingeschränkt, denn:

105 Ebd. 106 Vgl. ebd. 107 Wiederabdruck des Vertrags zwischen StG und dem Verlag Georg Bondi über die Gesamtausgabe der Werke vom 6.10.1927, mit den Anlagen I, II, und III in: Fünfzig Jahre Stefan George Stiftung 1959–2009, für die Stefan George Stiftung hrsg. v. Christoph Perels, Berlin, New York 2009, S. 74–84. 108 Ebd., S. 74.

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5. Nach dem Abschluß dieses Vertrages entstehende Werke von George bilden einen Bestandteil der Gesamtausgabe, gleichviel, ob sie in der Aufstellung der Anlage I angeführt sind oder nicht. George ist berechtigt, von solchen neuen Werken zuerst eine Sonderausgabe im Verlag der Blätter für die Kunst erscheinen zu lassen. Spätestens nach Ablauf eines Jahres vom Erscheinen einer solchen Sonderausgabe ab fällt das Werk jedoch in die Gesamtausgabe. Macht George von dem vorbehaltenen Rechte einer Sonderausgabe nicht Gebrauch, so ist Bondi verpflichtet, vor Erscheinen des Werkes in der Gesamtausgabe, außer dem in Artikel 4 vorgesehenen Honorar, ein Sonderhonorar von Goldmark 1000.– für den betreffenden Band zu bezahlen.109

Die Bedeutung des dichterischen Werks von StG definierte sich mehr als bei allen anderen Verlagsprodukten des Bondi-Verlags über die äußere Gestaltung der Einzelbände. Marktzugeständnisse, u. a. die Bereitstellung von broschierten und Sonderausgaben, durften nicht zulasten der buchgestalterisch anspruchsvollen Ausstattung gehen. So verwundert es nicht, dass im Verlagsvertrag den Fragen des Drucks, der Ausstattung und der Werbemaßnahmen eine besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde: 1. Da die Wirkung der George’schen Werke zum Teil auf der Art ihres Erscheinens beruht und da der Verfasser daran stets bestimmend Anteil genommen hat, wird vereinbart: 2. Druck und Ausstattung jeder Auflage bedürfen der Zustimmung von George, ebenso etwaige Preisänderungen. […] 3. Jeder von Bondi verlegte Band der Werke von George muß, wie bisher, auf dem Titelblatt eine von George zu bestimmende Vignette […] mit der Inschrift ,Blätter für die Kunst‘ tragen. Auf anderen Werken des Verlages Georg Bondi darf diese Vignette nur mit Zustimmung von George angebracht werden. George verpflichtet sich, die Verwendung der gleichen Vignette außerhalb des Verlages Georg Bondi nicht zuzulassen, auch nicht nach Auflösung dieses Vertrages. 4. Zurzeit ist diese Vignette die von Melchior Lechter gezeichnete; sie ist und bleibt Eigentum des Herrn Stefan George. Für diese gotische Vignette und für die von Melchior Lechter gezeichnete, zuerst auf dem Titelblatt des Gundolf ,Goethe‘ angewandte Erkennungsmarke, die ebenfalls Eigentum von George ist und bleibt, gelten die in dem Briefwechsel der Herren George und Bondi vom 18. und 31. Dezember 1919 getroffenen Vereinbarungen.110

Grundsätzlich bedurften Druck und Ausstattung einer jeden Auflage der Zustimmung des Autors, ja selbst Preisänderungen – zweifelsohne Bestandteil unternehmerischer Kompetenz, war die Festlegung des Ladenpreises doch unverzichtbares Element der Verlagskalkulation – waren Bondi nicht gestattet. Gleichfalls getrennt vom Gesamtprogramm des Bondi-Verlags waren die Verlagsankündigungen und das Prospektmaterial zu gestalten. Auch die Gestaltung von Verlagskatalogen, die das Werk StGs und seines Kreises separat ankündigten, unterlag strengen gestalterischen Kriterien. Ausgenommen war lediglich die routinemäßige Ankündigung der Neuerscheinungen im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, die für einen Verlag einerseits unverzichtbar war, andererseits dem Verleger aber keinerlei Möglichkeiten ließ, die Gestaltung der Ankündigung zu beeinflussen. Ein wichtiger Faktor der Buchgestaltung war die Qualität des Papiers. Im Vertrag wurde festgelegt, dass das Werk auch nach dem Tod des Autors nicht auf wesentlich schlechterem Papier gedruckt werden durfte. Die Aufnahme dieser Regelung war wiederum der allgemeinen Wirtschaftssituation in Deutschland geschuldet, denn für die Verleger wurde es immer schwieriger, hochwertiges und dabei erschwingliches Papier zu erwerben. StG be109 Ebd., S. 75. 110 Ebd.

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stimmte bereits zu Lebzeiten einen literarischen Nachlassverwalter, der über die Einhaltung dieser Vereinbarungen wachen sollte. So konnten auch keine Nachdrucke erscheinen, ohne vorab dem Nachlassverwalter Korrekturbogen zur Prüfung und Erteilung der Imprimatur zu übersenden. Selbst nach Ausscheiden des von StG benannten Nachlassverwalters bedurfte es eines notariell bestimmten Nachfolgers, der die Interessen StGs wahrzunehmen hatte. StG sicherte sich mit Konventionalstrafen gegen Verstöße gegen das Vertragswerk – auch nach seinem Tod – ab: 7. Für jeden vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verstoß gegen die Bestimmungen des Absatzes 5 dieses Artikels unterwirft sich der Verlag Georg Bondi einer Vertragsstrafe von Goldmark 100.–, für jeden solchen Verstoß gegen die Bestimmungen des Absatzes 6 Satz 1 dieses Artikels unterwirft er sich einer Vertragsstrafe von Goldmark 1000.–, beide zahlbar an George bezw. den Verwalter des literarischen Nachlasses; der Anspruch auf Unterlassung wird durch Zahlung der Strafe nicht berührt.111

Artikel 4 des Verlagsvertrags regelte die Honoraransprüche des Autors sowie die Abrechnungsmodalitäten. Die Vertragsdetails zeigen, dass beide Vertragsparteien den Vertragsabschluss juristisch begleiten ließen. Um eine Rechengrundlage für die Einkommenssituation StGs zu haben (vgl. unten I, 5.5.) soll an dieser Stelle der Passus vollständig wiedergegeben werden: 1. Bondi zahlt George bezw. seinem Erben oder sonstigen Rechtsnachfolger vom 1. Januar 1928 ab bis zum Ablauf des auf den Todestag folgenden Kalenderquartals 15% der Bruttoeinnahmen aus Einzelausgabe und Gesamtausgabe der Werke George’s, von den jetzt vorhandenen Auflagen von ,Tage und Taten‘ und ,Dante‘ jedoch nur 10%. Von da ab vermindert sich diese Abgabe auf 7 1/2% […]. 2. Die Bezüge, welche George aus der 15%igen bezw. 10%igen Abgabe erhalten wird, garantiert Bondi ihm bis zum Ablauf des dem Todestag folgenden Kalenderquartals mit jährlich 4.800.– Goldmark. […] 3. Die Garantiesumme eines Jahres darf nicht auf Bezüge aus einem andern Jahr aufgerechnet werden. Artikel 5: Abrechnung 1. Die Bruttoeinnahmen des Verlages Bondi aus Einzelausgaben und Gesamtausgabe der Werke George’s umfassen die sämtlichen Geldeingänge des Verlages dafür, ohne jeden Abzug. 2. Bondi ist verpflichtet, alljährlich Rechnung zu legen. Die Rechnung soll jeweils bis zum 31. März für das abgelaufene Kalenderjahr gelegt sein. […] George ist berechtigt, diese Rechnung durch einen Sachverständigen, der nicht im Verlagsgeschäft interessiert sein darf, an Hand der Rechnungen und Geschäftsbücher nachprüfen zu lassen. Können sich die Vertragsteile nicht über den Sachverständigen einigen, so ersuchen sie die Handelskammer Berlin um Bezeichnung einer geeigneten Person. Bondi verpflichtet sich, dem Sachverständigen Einblick in sämtliche zur Nachprüfung erforderlichen Unterlagen zu gewähren. Die Kosten der Nachprüfung trägt George. […] 3. Die Garantiesumme von Goldmark 4.800.– ist in vier Teilen von je 1.200.– Goldmark postnumerando am Letzten jedes Kalendervierteljahres fällig. 4. Ein Überschuß der Jahresrechnung über die Garantiesumme ist jeweils am letzten März fällig.112

Am 16. März 1927 bat sich StG schriftlich die Überlassung des Vertragswerks für einige Stunden aus und im Juni 1927 – nach einer juristischen Prüfung und Einholung diverser Informationen – listete StG nach einer Beratung mit J. Landmann seine Einwände auf. Interessant ist zweifelsohne die geschäftsmäßige Herangehensweise: Der 111 Ebd., S. 76. 112 Ebd., S. 77.

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Vertrag über die Gesamtausgabe hatte für StG einen hohen Stellenwert, sicherte dieser doch auf lange Sicht sein finanzielles Auskommen. So monierte StG auch die Honorierung und berief sich dabei ausgerechnet auf den Generalvertrag des Verlagshauses S. Fischer: Nachdem durch die bei S. Fischer eingezogene Information festgestellt ist, dass im deutschen Verlagsbuchhandel in Fällen, in welchen das Honorar des Verfassers in einem Anteil am Verkaufserlös bemessen wird, dieser Anteil sich auf 20% des Ladenpreises beläuft, verstehe ich absolut nicht, weshalb im vorliegenden Vertragsentwurfe auf 20% der G.B.’schen Roheinnahmen zurückgegangen wird. Ich verstehe dies umso weniger, als nach der S. Fischer’schen Information 20% des Ladenpreises als Normalsatz gelten; ,grosse Kanonen‘ beziehen mehr; weshalb soll St.G. in weniger einwilligen? Der Unterschied ist recht erheblich und, von seinen unmittelbaren geschäftlichen Konsequenzen auch ganz abgesehen, für St.G. relevant. Denn meines Erachtens kann es nicht im Interesse von St.G. liegen, wenn G.B. allzu häufig in die Lage käme, auf Grund der Garantie in Art. 3, Ziff. 2, mehr leisten zu müssen, als er auch ohne Garantie zu leisten hätte. Je tiefer man aber in Art. 3, Ziff. 1, den St.G. zustehenden Anteil an der Einnahme bemisst, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass solche Mehrleistungen notwendig werden. Ich würde durchaus dafür votieren, dass vom Verlag G.B. unnachgiebig gefordert wird, was nach den von S. Fischer erhaltenen Informationen allgemeine Usance ist.113

In seiner Erwiderung kommt Bondi seinem Autor in vielen Punkten entgegen, widerspricht aber der vorgeschlagenen Honorarregelung, u. a. unter Verweis auf die wirtschaftliche Krisensituation und den jederzeit möglichen Währungsverlust. Den Vorschlag, den Ladenpreis als Bezugsgröße zu wählen, lehnt Bondi ab, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass dieser noch wenige Jahre zuvor mit täglich wechselnden Schlüsselzahlen allenfalls symbolisch stabilisiert worden war: Der nächste Einwand ist mir nicht ganz klar. Der Umsatz ist die tatsächlich erzielte BruttoEinnahme, die der Verkauf der Werke des St.G. gebracht hat. Welche nähere Bestimmung soll hier beigefügt werden? Prozente des Ladenpreises anzugeben ist bei einem derartigen Vertrage, dessen Wirkung sich auf viele Jahrzehnte erstrecken wird, nicht ratsam. Ich habe bereits Herrn St.G. mündlich erläutert, dass dies wegen der ausserordentlich schwankenden Rabattverhältnisse untunlich ist.114

StG notierte allerdings am Rand handschriftlich die Frage nach Verpackung und Versand – wohl nach den hieraus entstehenden Kosten. Eine weitere Unstimmigkeit betraf den möglichen Neudruck der BfdK. Bondi erklärte sich zum Neudruck der BfdK in einer maximalen Auflage von 2.000 Exemplaren zwar bereit, bestand aber auf der vorherigen Abklärung der diffizilen urheberrechtlichen Situation. Er beharrte darauf, dass die Rechtslage geklärt werden müsse, „indem eine Autorität ersten Ranges um ein Gutachten über diese Frage des Urheberrechtes gebeten wird“.115 Während StG am Rand danach fragte, ob Bondi denn überhaupt ein Recht an den BfdK habe, notierte Bondi gleichfalls handschriftlich und lapidar: „nein, aber d. Risico“.116 Bondi, ohnehin von seinem Autor in maßgeblichen Verlegerrechten beschnitten, verwies nochmals darauf, dass die Festsetzung des Ladenpreises „sowohl nach Gesetz als nach 113 114 115 116

StG an G. Bondi v. Juni 1927, Material zu Verlagsvertrag: Gesamtausgabe 6.10.1927, StGA. Material zu Verlagsvertrag: Gesamtausgabe 6.10.1927, StGA. Ebd. Ebd.

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Gebrauch zu den Rechten des Verlegers“ gehöre, bot aber an, StG ein Mitbestimmungsrecht einzuräumen. Wiederum hakte StG in einer Randnotiz nach, ob die Ladenpreisfestlegung durch den Verleger auch die Gesamtausgabe betreffe und was denn Mitbestimmung heiße.117 Bondi unterstrich zudem ein weiteres Mal, dass StG die Rechte an der Gesamtausgabe „für die erste und alle folgenden Auflagen auf die ganze Dauer des Urheberrechtes“ dem Verlag übertrage. Diese Festlegung reizte StG schließlich zur Randbemerkung „Schlauberger“.118 In die Durchsicht des Verlagsvertrags mischten sich Freunde und Schüler ein, sodass auch Kommentare und Warnhinweise von Robert Boehringer vorliegen. In einer umfänglichen Stellungnahme vom 18. März 1927 rät er StG sogar, die Verhandlungen gegebenenfalls als gescheitert zu erklären und mit einem anderen Verlag in Verhandlung zu treten.119 StG und seine Berater hatten den Eindruck, dass der Verlagsvertrag über die Gesamtausgabe zu viele Klauseln berge, die dem Autor zum Nachteil gereichten. Boehringer hielt gegenüber Morwitz fest, dass die Gesamtausgabe schließlich ein Novum darstelle und Bondi seinem Autor daher auch angemessene Vertragskonditionen bieten müsse: Bondi will die Gesamtausgabe behandeln wie jedes einzelne Buch, das er bisher verlegt hat, und will nichts Besonderes dafür leisten. Er sagt, dass er auf das Urheberrecht keinen Wert lege und zieht damit sein indiskutables Garantie-Angebot zurück. Er zieht aber auch sein Garantie-Angebot für die Verlagsrechte an der Gesamtausgabe zurück, weil dieses Angebot durch den Gang der Verhandlungen überholt sei und will das Verlagsrecht für die ganze Dauer des Urheberrechts an der ersten und allen folgenden Auflagen der Gesamtausgabe lediglich mit 15 % von seiner Bruttoeinnahme erkaufen. Dieses Angebot ist ungenügend. D.M. wird auf einer genügenden Jahresgarantie bestehen, wenn Bondi das Verlagsrecht auf die erste und alle folgenden Ausgaben haben will. Vielleicht muss auch die prozentuale Abgabe höher bemessen werden. Darüber suchen wir uns noch zu unterrichten.120

Boehringer kritisierte hauptsächlich das in seinen Augen zu niedrige Honorar und riet StG dringend davon ab, mit dem Angebot von jährlich 2.400 Mark einverstanden zu sein, zumal sich die nur zweijährige Abrechnungsperiode auch zum Nachteil des Autors auswirke.121 Gegenüber Morwitz führte er ein Kalkulationsbeispiel eines anderen deutschen Verlags an, der für den Druck eines wissenschaftlichen Werks mit dem Verfasser folgende Vereinbarungen getroffen habe: 80 Bogen kosten je 300 Mark, also die Auflage Mk. 24.000.–. Dazu rechnet der Verleger 10% Generalia, sodass die Gesamtkosten für 5000 Exemplare von je 80 Bogen Mk. 26.400.– betragen. Das Exemplar wird zu Mk. 40.– verkauft; somit werden erlöst 5000 x 40 = Mk. 200.000.–. Davon bekommt 40% der Sortimenter = Mk. 80.000.–. Dem Verleger bleibt eine Bruttoeinnahme von Mk. 120.000.–. Dem Verfasser bezahlt er bei Ablieferung des Manuskriptes Mk. 24.000.– aus. Diese Mk. 24.000.– und die Mk. 26.400.– = Mk. 50.400.– sind der ,Einstandspreis‘ der zunächst von den Bruttoeingängen abgezogen wird. Der Rest wird zwischen dem Verleger und dem Verfasser halbiert.122

117 118 119 120 121 122

Vgl. ebd. Ebd. Vgl. R. Boehringer an E. Morwitz v. 18.3.1927, StGA. Ebd. Vgl. Boehringers Notizen. Material zu Verlagsvertrag: Gesamtausgabe 6.10.1927, StGA. R. Boehringer an E. Morwitz v. 18.3.1927, StGA.

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Da sich StG bei einer solchen Kalkulation deutlich besser stellen würde, empfahl Boehringer, bei Bondi hinsichtlich der Honorarfrage nochmals zu intervenieren. Vor allem monierte Boehringer deren Formulierungen. Er wollte sehr genau zwischen Urheberrecht und Verlagsrecht unterschieden wissen, denn nur das Verlagsrecht sei Gegenstand des Verlagsvertrags mit Bondi. Eine mögliche Übertragung der Urheberrechte am Werk StGs an eine Stiftung werde davon nicht tangiert. Boehringer riet zur genaueren Definition des Begriffs ,Sämtliche Werke‘ bzw. ,Gesamtausgabe‘, denn dies berühre die Autorenrechte für alle noch erscheinenden Werke: Wird es neben der Gesamtausgabe noch Einzelausgaben der verschiedenen Werke geben? Oder müssen die Leser einzelne Bände der Gesamtausgabe kaufen, sobald die Auflagen, welche jetzt vorliegen, erschöpft sind? Oder ist dann überhaupt nur noch die Gesamtausgabe erhältlich? Das kann nicht die Absicht Georges sein.123

Alle beteiligten Diskutanten forderten die rechtzeitige Klärung der Vertragskonditionen auch im Falle des Ablebens Bondis oder der Übertragung seines Unternehmens an Dritte. Auch nach einem Inhaberwechsel im Bondi-Verlag müsse schließlich gewährleistet sein, „dass das Werk des Meisters so lang wie möglich in würdigem Gewand erscheint und in nicht zu schlechter Umgebung“.124 Um hier Vorsorge zu treffen, wurde am 29. Oktober 1932 ein Nachtrag zum Verlagsvertrag vom 6. Oktober 1927 ausgehandelt, in dem nochmals unmissverständlich die Rücktrittsrechte StGs festgelegt wurden, sobald sich die Zusammensetzung der Geschäftsführung im Bondi-Verlag ändere. So wurde StG darum gebeten, Mira Koffka und Eva Bondi 1932 als Teilhaberinnen des Verlags (nach dem Tod von Dora Bondi) zu akzeptieren.125 Die Frage der Teilhaberschaften im Bondi-Verlag und des Rücktrittsrechts des Autors von allen Verträgen beschäftigte Boehringer so intensiv, dass er in einem vertraulichen Brief bei der Rechtsanwältin Maria Plum um Rat suchte. Seine ärgste Befürchtung war, dass sich durch unbedachte Teilhaberschaften Dritte Einfluss auf den Verlag verschaffen könnten.126 Maria Plum beantwortete die vertrauliche Anfrage Boehringers am 22. März 1932 und riet, Bondi taktisch geschickt ein wenig unter Druck zu setzen. Sie schlug StG die Aufnahme folgender Formulierung in den Verlagsvertrag vor: Ich kann heute die Auswirkungen der von Ihnen mitgeteilten Veränderungen auf die Art der Willensrichtung im Verlag noch nicht übersehen. Ich möchte von meinem Rücktrittsrecht wenn möglich nur und erst dann Gebrauch machen, wenn sich durch diese Veränderungen andere, meinen Wünschen entgegengesetzte Einflüsse im Verlag geltend machen.127

Eine weitere Komplikation ergab sich aus der Rechtsform des Verlagshauses Bondi, denn der Vertrag über die Gesamtausgabe werde jetzt mit der O.H.G geschlossen, die aber später in eine GmbH umgewandelt werden solle. Während bei einer Offenen Handelsgesellschaft jeder Gesellschafter uneingeschränkt mit seinem gesamten Vermögen für die Verpflichtungen des Unternehmens hafte, würden die Gesellschafter bei einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung lediglich mit dem Gesellschaftsvermögen 123 124 125 126 127

Boehringers Notizen. Material zu Verlagsvertrag: Gesamtausgabe 6.10.1927, StGA. Ebd. Vgl. Nachtrag zum Verlagsvertrag: Gesamtausgabe 6.10.1927–1932, StGA. Vgl. R. Boehringer an Maria Plum v. 1932, StGA. Maria Plum an R. Boehringer v. 22.3.1932, StGA.

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I. Stefan George und sein Kreis

haften. Diese Umwandlung wirke sich einerseits auf das Rücktrittsrecht StGs aus, andererseits stelle sich die Frage, ob der Verlag der Blätter für die Kunst nach Überführung des Verlags in die Handelsform der GmbH überhaupt noch unter diesem Namen firmieren könne. Wiederum bat Boehringer die Rechtsanwältin Plum um eine Rechtsauskunft, die er am 19. November 1932 schließlich erhielt, obgleich diese nicht befriedigend ausfiel, denn hier kollidierten Handelsrecht und Verlagsrecht und die wirklichen Auswirkungen für StG und den Verlag seiner Werke war schlussendlich nicht abzusehen, geschweige denn rechtlich abzusichern: Ich kann nach Ihren Mitteilungen vom Standpunkt des praktischen Juristen aus nur ausserordentlich bedauern, dass das allgemeine und ständige Rücktrittsrecht, das jetzt auf Grund der vorhandenen Tatsachen erzielbar ist, nicht behalten, sondern in so erheblicher Weise beschränkt werden soll. Allerdings ist mir nicht bekannt, ob und welche Kompensationen dagegen geboten werden und ob diese die Aufgabe der jetzt so guten Rechtsposition rechtfertigen.128

In einer abschließenden Bewertung, die nur noch geringfügige Änderungsvorschläge beinhaltet, empfahl Maria Plum am 17. Dezember 1932 schließlich die Unterzeichnung des Verlagsvertrags über die Herausgabe der Gesamtwerke StGs. Die Vertragsunterzeichnung hatte sich somit über mehrere Jahre hingezogen, doch die Komplexität des Vertragswerks auf der einen Seite und die besondere Situation eines Imprint-Verlags auch im Falle einer Umwandlung der Geschäftsform seitens des Verlags erforderten eine kompetente Auseinandersetzung, um StG und seinen Erben eine bestmögliche vertragsrechtliche und damit finanzielle Absicherung auf lange Sicht zu garantieren. Die Gesamtausgabe stellte zugleich ein Verlagsprojekt mit beträchtlichem symbolischen Kapital für Verlag und Autor dar. Sie war die Impulsgeberin für eine dauerhafte Auseinandersetzung mit StG, seinen Schülern und seinem Werk. Die Ankündigung StGs, mit der Gesamtausgabe einen Schlusspunkt unter sein dichterisches Schaffen zu setzen, zielte auf eine zusätzliche Stimulation der Nachfrage: Der Dichter hält die Zeit für gekommen, mit der Herausgabe seines 18bändigen Gesamtwerks die Epoche seines persönlichen Wirkens abzuschließen; damit treten Werk und Träger in die Historie ein und wollen allein noch faktisch und im Zusammenhang der deutschen Geistesgeschichte gewürdigt werden.129

Da die Gesamtausgabe pünktlich zu seinem 60. Geburtstag am 12. Juli 1928 auf den Markt kommen sollte, versprachen sich Autor und Verleger eine große Presseresonanz: Ich meine, dass die Gesamtausgabe im nächsten Jahr einen grossen Erfolg haben würde, und die Presse würde es sich ja nicht nehmen lassen, den Meister auf alle mögliche weise zu berühmen. Der Meister war auch dieser Meinung. Ich äusserte darauf, der Meister würde schon dafür sorgen, dass die Presse unrecht behalte. Er würde sein bewährtes Mittel anwenden, ein Schritt vorwärts und zwei Stück zurück. Worauf der Meister ergänzte: und dann kommt etwas ganz anderes aus einer ganz anderen Ecke, woran niemand denkt. Ich bin viel moderner als die jungen. Ich habe immer gefürchtet, dass ich sie im Alter nicht mehr ver128 Maria Plum an R. Boehringer v. 19.11.1932, StGA. 129 Walther Petry, Schriften um Stefan George [Rez.], in: Literatur-Beilage der Magdeburgischen Zeitung v. 16.3.1930, zit. nach Martus, Werkpolitik, S. 684.

5. Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung

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stehen würde und heute sehe ich, ich bin ihnen noch immer voraus. Alles was die jungen machen, ist in zehn Jahren veraltet. (BV, 97)

Das Erscheinen der Werke StGs und seines Schülerkreises wurde begleitet von öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen, u. a. öffentlichen Lesungen, Übersetzungen in ausländischen Zeitschriften sowie Werbeannoncen in Zeitschriften und der buchhändlerischen Branchenpresse. Die Verlagsanzeigen waren sorgfältig komponiert, an der Anordnung der Werktitel und Werkangaben durfte nichts nachträglich verändert werden. In das Gesamtensemble gehörten Friedrich Wolters’ ,Blättergeschichte‘, ein Kommentar zu StGs Gedichten von Ernst Morwitz, Überlegungen Bondis zu einer ,Ikonographie‘ StGs und gezielte Maßnahmen zur Sicherung des Nachlasses. Der Verlag arbeitete professionell mit Werbemitteln, damit die Gesamtausgabe zum Zeitpunkt ihres Erscheinens größtmögliche Resonanz in der literarischen Öffentlichkeit erfahre. Im Kommentar von Ernst Morwitz wurde für Wolters’ ,Blättergeschichte‘ geworben. Mit der Gesamtausgabe sollte eine Neuauflage von Friedrich Gundolfs George-Buch erscheinen, im Grunde ein konkurrierendes Buchprojekt zu Wolters’ ,Blättergeschichte‘, vom Verleger Bondi aber so lanciert, dass beide Werke ihren gegenseitigen Absatz stimulieren sollten: Wer vom literarischen und geistigen zugang zu einer dichterischen gestalt zu finden weiss, wird in Gundolfs erschöpfender deutungsarbeit ein forschen begrüssen, das an seinem gegenstande zu unerhörter neuigkeit und präzision gereift ist. Wer aber den dichter in lebendiger wechselwirkung mit den menschen seiner zeit erblicken möchte, wer die befreiende tat des herrscherlichen menschen sucht, liebe, hass und abwehr der widerstrebenden zeit, wird sich Friedrich Wolters zum führer wählen.130

Mit dieser Werbestrategie gelang es Bondi einerseits, das Gesamtwerk StGs in unmittelbarem Umfeld der Kreisschriften zu präsentieren, andererseits auf seine einträgliche Programmsparte der Wissenschaftsliteratur, insbesondere aber auch auf Gundolfs literaturwissenschaftliche Werke, zu verweisen.131 1934 plante Bondi schließlich ein ,ikonographisches Werk‘, das die beliebtesten Bildnisse StGs beinhalten sollte. Das Projekt wurde zwar wieder aufgegeben, aber die Idee zeigt, dass Bondi seinen berühmtesten Autor im Rahmen eines Gesamtmarketingkonzepts auf dem Markt einzuführen gedachte. Weil der Bildband wieder aufgegeben werden musste, entschied sich Bondi wenigstens für Bildbeilagen in Wolters’ ,Blättergeschichte‘. Offenbar plante Bondi die ,Blättergeschichte‘ als Geschenkausgabe herauszubringen, daher votierte er dafür, dass der Bildteil nicht als Anhang erscheine, sondern in den Text integriert werden solle: Ich hoffe dass sehr viele George-Interessenten das Buch als Weihnachtsgeschenk bekommen werden. […] Wenn die Bilder hinten zusammen sind, so riecht das nach ,Fachwissenschaft‘. Die Bilder haben dann als einziges Ergebnis dass sie den Verkaufspreis verteuern, denn die werbende Kraft dieser zusammengeballten Bilder ist gleich Null.132

130 Ernst Morwitz, Die Dichtung Stefan Georges, Berlin 1934, unpag., hinterer Klappentext. 131 Vgl. Martus, Werkpolitik, S. 657f. 132 G. Bondi an F. Wolters v. 7.10.1929, StGA.

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I. Stefan George und sein Kreis

Letztendlich gaben StG und Bondi mit der Gesamtausgabe und den begleitenden Werbemaßnahmen den Startpunkt für eine Historisierung StGs. Diese verlagspolitische Entscheidung wurde von StG mitgetragen, der in den Vorworten und Informationen im Anhang weiterführende Hinweise zu platzieren gedachte. Die von StG geplante Gesamtausgabe werde „alles Reden und Schreiben der Darsteller und Biographien auf einmal überflüssig mach[en]. Denn die nötigen Angaben liefert StG in kurzen Vorworten oder in Hinweisen im Anhang selbst.“133 Damit wurde auch offensichtlich, dass keine historisch-kritische Ausgabe geplant war, sondern im Grunde eine verlagspolitisch klug durchdachte Selbstinszenierung des Autors. Die Gesamtausgabe wurde mit persönlichen Notizen, Porträts und Abbildungen von Büsten StGs geschmückt, ein regelrecht vom Autor selbst komponierter Anhang beigegeben. 5.4.6. Die Bewahrung des literarischen Erbes – Einsetzung eines literarischen Nachlassverwalters Die Frage seines literarischen Nachlasses beschäftigte StG bereits mit Unterzeichnung seines ersten Verlagsvertrags im Jahr 1898. Er wollte einerseits im Falle seines Todes eine klare Regelung über die Verwaltung seines literarischen Nachlasses getroffen haben, es beschäftigte ihn aber auch, wie mit den Verlagsrechten von den möglichen Erben oder Nachfolgern des Verlegers Bondi verfahren werde. Bondi sah sich Ende des Jahres 1904 veranlasst, eine entsprechende schriftliche Vereinbarung mit StG zu treffen. Bondi sicherte StG zwar zu, dass auch die Rechtsnachfolger den von ihm eingegangenen Verpflichtungen nachkommen würden, doch sollte StG diesen Eindruck nicht teilen, so räume er ihm das Recht ein, binnen sechs Monaten nach Verlagsübertragung an einen Dritten die Verlagsrechte zurückzukaufen, wobei die Verlagsrechte selbst nicht gesondert berechnet werden würden, die Bestände aber zu einem Drittel des Ladenpreises von StG erworben werden müssten. Dieses Rückkaufrecht räumte Bondi allerdings nur seinem Autor StG ein, nicht dessen möglichen Erben.134 Anfang der 1930er-Jahre, wenige Jahre vor dem Tod StGs, verdichtete sich die Korrespondenz zwischen dem Autor und seinem Verleger, galt die Sorge dem Fortbestand des Verlags und damit dem Werk StGs. StG war über den Verlag der Blätter für die Kunst auch an den Entscheidungen über neue Teilhaberschaften in der Verlagsführung beteiligt und er schien nach dem Tod von Dora Bondi über eine Neuregelung der Besitzverhältnisse, die möglicherweise seine Handlungsfreiheit gefährdeten, besorgt. Auf der einen Seite drohte mit Ableben Georg Bondis ein Wandel des Verlagsprofils, auf der anderen Seite hätte ein Rückzug StGs aus dem Verlag dessen Weiterbestand gefährdet. Die Frage nach der Leitung des Verlags nach dem Tod Bondis stellte für StG die empfindlichste Lücke in den ansonsten akribisch formulierten Verlagsverträgen dar, doch Bondi weigerte sich, verbindliche Absprachen für den Fall seines Ablebens zu treffen. StG drängte seinen Verleger zu einer vertraglichen Nachlassregelung und spielte mögliche Szenarien durch, die sämtlich Auswirkungen auf 133 Siegfried Lang, Gesamtausgabe der Werke von Stefan George, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 207 v. 5.2.1928. 134 Vgl. Verlagsvertrag v. 5.11.1904, StGA.

5. Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung

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sein Mitspracherecht gehabt hätten: Eintritt Eva Bondis in den Verlag, Eintritt Mira Koffkas in den Verlag und Ableben Georg Bondis. Umstritten war offenbar die geplante Teilhaberschaft von Mira Koffka. Am 6. Oktober 1927 verständigten sich Autor und Verleger auf eine Nachtragsklausel im Vertrag. StG erklärte sich einverstanden, dass Mira Koffka und Eva Bondi zu 1/6 an der Handelsgesellschaft Bondi beteiligt würden. StG wurde ein Rücktrittsrecht eingeräumt, sobald einer der Teilhaber aus dem Unternehmen ausschied oder die Gesellschaftsform der Offenen Handelsgesellschaft aufgelöst bzw. eine vierte Person an der OHB beteiligt würde. Der Verlag verpflichtete sich im Gegenzug, bis zu zehn Jahre nach StGs Tod dessen Werke in der vertraglich vereinbarten Form weiterzuführen.135 StG und Bondi verständigten sich zudem darauf, dass der Verlag nach einem möglichen Rückzug StGs weiterhin als Kommissionär der Werke StGs und seines Kreises zur Verfügung stehe.136 Im April 1932 stimmte StG schließlich dem Eintritt von Mira Koffka und Eva Bondi in die Geschäftsführung zu, bedingte sich aber eine Befristung des Vertrags auf zunächst drei Jahre aus, jeweils um ein Jahr verlängerbar.137 Zweifelsohne wirkte die Machtübernahme der Nationalsozialisten als Katalysator in dieser Auseinandersetzung um den Fortbestand des Verlags nach dem Tod eines der Vertragspartner, zumindest akzeptierten beide, dass eine vertragliche Festlegung unvermeidbar war. Gleichwohl war StG an einer angemessenen Präsentation seines literarischen Werks gelegen. Wenige Jahre vor seinem Tod führte er Gespräche mit Robert Boehringer und Johann Anton über den Plan einer Stiftung, die sein literarisches Erbe nach seinem Tod verwalten sollte. Ernst Morwitz hatte das Thema bereits Ende des Jahres 1926 angesprochen, weil ihm diese Stiftung nötig schien, um das Urheberrecht von der Person StGs zu trennen, damit sich dieses nach dessen Tod verselbstständige und nicht an die Erben übergehe. Morwitz war im Verlagsvertrag seit 1927 zum potenziellen literarischen Nachlassverwalter bestimmt worden, sodass es ihm durchaus zustand, dieses Thema aufzugreifen. Daher war die Gründung einer Stiftung bereits Gegenstand des Vertrags über die Gesamtausgabe. Passus 9 regelte die möglichen Aufgaben einer Stiftung: George kann seine Urheberrechte auf eine Stiftung oder eine andere Rechtsperson übertragen, für die Zeit nach seinem Tode auch einen literarischen Verwalter einsetzen. Von einer solchen Übertragung hat er Bondi mit eingeschriebenem Brief Kenntnis zu geben. Bondi verpflichtet sich, die Stiftung bezw. den Rechtsnachfolger oder literarischen Verwalter nach erfolgter Übertragung der Urheberrechte als Vertragsteil anstelle von George anzuerkennen, mit der einzigen Einschränkung, daß diese Rechtspersonen Rechte, die auf Lebzeiten von George begrenzt sind, auch nur zu Lebzeiten von George ausüben dürfen.138

Das Thema einer Stiftung zur Nachlassverwaltung war eingebettet in die Vorbereitung der Gesamtausgabe der Werke StGs, flankiert von großen Studien über StG. So erschien Anfang November 1929 Friedrich Wolters’ umfangreiches 600-Seiten-Werk Stefan George und die Blätter für die Kunst. Diese verlagspolitischen Maßnahmen

135 Vgl. Nachtrag zum Verlagsvertrag v. 6.10.1927, StGA. 136 Vgl. Memorandum zum Vertrag Bondi zwecks Klärung. F. 22.2.1932, StGA. 137 Vgl. Verlagsvertrag Bondi zu Lebzeiten Stefan Georges. Entwurf zum Vertrag und Bemerkungen dazu, StGA. 138 Verlagsvertrag über die Gesamtausgabe.

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I. Stefan George und sein Kreis

waren sämtlich Bestandteil einer forcierten Historisierung StGs, seines Werks und seines Kreises.139

5.5.

Zur Einkommenssituation des Schriftstellers Stefan George

Will man StG in seiner speziellen Rolle als Akteur des literarischen Feldes, als Berufsschriftsteller um 1900, erfassen, so drängt sich die Frage nach seiner realen Einkommenssituation geradezu auf, die bislang nicht im Fokus der George-Forschung stand. Seit den 1880er-Jahren reflektierten Autoren immer häufiger ihre Einkommenssituation und ihre Stellung als Berufsschriftsteller.140 Die erste sozialwissenschaftliche Studie über das Berufsschriftstellertum erschien 1922 unter dem Titel Freies Schriftstellertum und Literaturverlag. Während Tagesschriftsteller in den Vorkriegsjahren hauptsächlich vom Feuilleton lebten und auf diesem Gebiet Jahreseinkommen bis zu 6.000 M. erzielen konnten, war das Einkommensgefälle bei schöngeistigen Autoren augenfällig.141 Spitzenverdiener im Deutschen Reich waren z. B. Hermann Sudermann, Paul Heyse und Gottfried Keller. Sudermann nahm allein für sein Stück Die Ehre (1889) bis 1903 300.000 M. Tantiemen ein; aber auch Gustav Freytag gehörte zu den Bestverdienern. Sein Romanzyklus Die Ahnen (1873–1881) brachte ihm bis zu seinem Tod 1895 etwa 420.000 M. ein.142 Über die verschiedenen Regelungen der Honorarauszahlungen, die von Gewinnbeteiligung, Erfolgshonorar bis hin zu monatlichen Zahlungen reichten, gelang es Schriftstellern wie Rilke oder StG, immerhin auf ein durchschnittliches Jahreseinkommen zwischen 3.000 und 4.000 M. zu kommen. Häufig gewährten Verleger zusätzlich Prämien, die ausbezahlt wurden, entwickelte sich ein Titel außergewöhnlich erfolgreich. Die Vereinbarung eines monatlichen Fixums schuf den Autoren ein regelmäßiges Einkommen, das ihnen schriftstellerisches Arbeiten überhaupt erst ermöglichte. Mit dem monatlichen Fixum trat der Verleger in Vorlage und gewöhnlich wurde dieses nach Erscheinen des Werks mit dem Honorar verrechnet. Daher richtete sich die Höhe der monatlichen Überweisung nach Bekanntheitsgrad und Erfolgschancen eines Autors, bewährte Hausautoren wie Thomas Mann oder Hermann Hesse waren in der Situation, sich bei ihrem Verleger Samuel Fischer ungewöhnlich lukrative Honorarregelungen auszuhandeln. Thomas Mann erhielt im Oktober 1907 für den Vorabdruck seines Romans Königliche Hoheit in der Neuen Rundschau 6.000 M., für die Buchausgabe, die im Herbst 1909 folgte, 12.500 M.143 Die Ausbezahlung eines monatlichen Fixums in Verbindung mit Prämienzahlungen war in der Verlagsbranche um 1900 durchaus Standard. Anton Kippenberg stellte seinem Autor Rainer Maria Rilke 139 Vgl. Martus, Werkpolitik, S. 610. 140 Die Auswertung von Autor-Verleger-Korrespondenzen, hier konkret der Briefe Rainer Maria Rilkes, Hugo von Hofmannsthals, Stefan Zweigs, Hans Falladas oder Karl Kraus’, dokumentieren sehr anschaulich, wie sich die Einkommenssituation des literarischen Autors zwischen Reichsgründung und Machtübernahme der Nationalsozialisten darstellte. Vgl. dazu auch Josef R. Ehrlich, Der Professions-Schriftsteller und seine soziale Stellung, in: Deutsche Worte 18/1898, S. 232–237. 141 Vgl. Scheideler, Beruf, S. 12. 142 Vgl. ebd., S. 34. 143 Vgl. Mendelssohn, S. Fischer, S. 368f.

5. Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung

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(nach dem Erfolg der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die im Mai 1910 in zwei Bänden und einer Erstauflage von 5.000 Exemplaren erschienen waren) eine vierteljährliche Zahlung in Höhe von 500 M. in Aussicht; allein aus dem Verkauf der Aufzeichnungen des Malte erhielt Rilke Tantiemen in Höhe von 2.700 M. Die Zusatzverwertung von Rilkes Werken in der Insel-Bücherei sorgte nicht nur für die endgültige Durchsetzung des Autors auf dem deutschen Buchmarkt, sondern sicherte diesem auch auf lange Sicht beträchtliche Tantiemen.144 Trotz dieser befand sich Rilke in ständigen Geldschwierigkeiten, und Kippenberg überwies ihm mehrmals im Jahr zusätzliche Beträge. Die Frage, ob dieses Jahreseinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhaltes genügte, kann nur mit Blick auf die allgemeinen Lebenshaltungskosten der Zeit beantwortet werden. Hohe Einkommen blieben im Kaiserreich einem nur geringen Bevölkerungsanteil vorbehalten, und in den Arbeiterhaushalten rangierten gesellschaftliche, kulturelle und literarische Bedürfnisse ohnehin ganz unten.145 Ende der 1930er-Jahre erschienen vermehrt statistische Erhebungen über die Lebenshaltungskosten in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg, wobei im Fokus der Untersuchung gewöhnlich die Angestellten standen. Die Studie von Otto Suhr Die Lebenshaltung der Angestellten (1928) bietet beispielsweise Orientierungswerte für die durchschnittlichen Jahreseinkommen von Angestellten, einer Berufsgruppe, bei der Ausgaben für kulturelle Bedürfnisse selbstverständlicher waren als in Arbeiterfamilien.146 Während für Zeitungen, Zeitschriften und Bücher rund 5 RM im Monat ausgegeben wurden, entfielen auf Theater und Kino rund 7 RM. Gab eine Angestelltenfamilie im Monat überhaupt 5 RM für kulturelle Bedürfnisse aus, so bedeutete das, dass neben einem Zeitungsabonnement kaum noch ein Buch erworben werden konnte.147 Die durchschnittlichen Jahreseinkommen und Lebenshaltungskosten erlaubten also weder vor noch nach dem Ersten Weltkrieg ein übermäßiges Budget für literarische Interessen. Vergleicht man diese Daten mit den durchschnittlichen Jahreseinkommen von Schriftstellern, so verwundert es nicht, dass sich die meisten Verleger ständigen Bücherwünschen ihrer Autoren ausgesetzt sahen, die sie aber gewöhnlich auch zu erfüllen bereit waren. In den Zwischenkriegsjahren führten Wirtschaftskrise und Inflation zu einer regelrechten Proletarisierung der Schriftsteller. Ein generelles Problem waren die Vertragsbrüche und Rücknahmen von Verlagsangeboten, beides nun an der Tagesordnung im Verlagsgeschäft. Die Autoren waren von den erhobenen Teuerungszuschlägen zwar unmittelbar betroffen, das obligatorische Zustimmungsrecht wurde ihnen 144 Vgl. Sarkowski, Insel-Verlag, S. 97f. 145 Vgl. Dieter Langewiesche, Entwicklungsbedingungen im Kaiserreich, in: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1, Teilbd. 1, S. 42–86, hier: 68ff. 146 Folgt man Suhrs Ergebnissen, dann lagen die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten in einem Techniker-Haushalt bei monatlich 308,75 RM im Jahr 1907, 260,50 RM im Jahr 1912 und 330 RM im Jahr 1926. Die Lebenshaltungskosten eines kaufmännischen Angestellten-Haushaltes betrugen 1907 etwa 4.800 RM. In den Zwischenkriegsjahren kamen Angestelltenfamilien (Rechengrundlage war eine vierköpfige Familie) auf Lebenshaltungskosten in Höhe von etwa 4.500 RM. Auf Nahrungsmittel entfielen etwa 1.600 RM, auf Miete 630 RM, Kleidung 550 RM, Heizung und Beleuchtung 150 RM. Der größte Posten von knapp 1.500 RM entfiel auf ,sonstige Ausgaben‘, die neben unkontrollierten Nebenkosten, Lohnsteuer, Sozialversicherung etc. auch Kulturausgaben umfassten. 147 Vgl. Otto Suhr, Die Lebenshaltung der Angestellten. Untersuchungen auf Grund statistischer Erhebungen des Allgemeinen freien Angestelltenbundes, Berlin 1928, S. 20–24.

464

I. Stefan George und sein Kreis

aber verweigert. Die Verleger erhoben den Teuerungszuschlag auf den Verkaufspreis, ohne den Autor an den Mehreinnahmen prozentual zu beteiligen.148 Ungleich attraktiver war für die Schriftsteller daher die Nebenrechtverwertung im Theaterbetrieb, an dem aber Autoren wie StG nicht partizipierten. Ein anonymer Verfasser klagte in seinem Beitrag Warum wir hungern in der Zeitschrift Schriftsteller 1933: „Wir leben nicht mehr, wir vegetieren nur noch“.149 Als nur ein Beispiel sei Hans Fallada genannt, der, im Sommer 1928 aus der Haft entlassen, praktisch mittellos in Neumünster lebte. Ernst Rowohlt holte die Familie Fallada nach Berlin und bot seinem Hausautor eine halbe Stelle in seinem Verlag an, doch zuerst bat er Fallada: „Sie müßten mir zunächst einmal umgehend mitteilen, wie ungefähr Ihr Existenzminimum sein muß, d. h. also, welchen Mindestbetrag Sie monatlich verdienen müssen.“150 Fallada antwortete – auch vor dem Hintergrund, dass seine Frau Nachwuchs erwartete: „Was das Existenzminimum angeht, so leben wir hier von 250.– RM. Und so viel müßten wir in Berlin, wo wir drei sein werden, wo Wohnung und Leben teuerer ist, auch haben.“151 Rowohlt stellte Fallada eine Halbtagsstelle in seinem Verlag ab dem 15. Januar 1930 in Aussicht und war bereit, die erforderlichen 250 RM Monatsgehalt zu bezahlen. So begnügte sich die dreiköpfige Familie Fallada mit einem Jahreseinkommen von 3.000 RM. Neben seiner Verlagsstelle war Fallada angehalten, schriftstellerisch tätig zu sein um sein monatliches Salär durch Honorare aufzubessern. Die Geschäftsbücher Georg Bondis erlauben aussagekräftige Einblicke in die Jahreserträge StGs. Der Verlagsvertrag sah vor, dass Bondi seinem Autor jährliche Zusammenstellungen zukommen ließ, aus denen Reingewinne und Honorare eines Jahres hervorgingen. StGs jährliche Erträge aus seiner schriftstellerischen Tätigkeit lagen häufig deutlich über dem Jahreseinkommen der Vergleichshaushalte, wie sie Otto Suhr ausgewertet hatte: Reingewinn für StG 1901:

Blätter für die Kunst Gedichte I–III152 Teppich des Lebens Fibel

114,70 M. 210,65 M. 138,95 M. 30,75 M.

Reingewinn für StG 1905:

Blätter für die Kunst 47,15 M. 401,05 M. Gedichte I–III Teppich des Lebens 82,90 M. Baudelaire, Blumen des Bösen 179,75 M. 127,68 M. Zeitgenössische Dichter I–II

148 Vgl. Scheideler, Beruf, S. 119. 149 Warum wir hungern, in: Schriftsteller 21/1933, 2/2, S. 13–15, hier: 13, zit. nach Scheideler, Beruf, S. 207. 150 Ernst Rowohlt an Hans Fallada v. 14.11.1929, in: Hans Fallada, Ewig auf der Rutschbahn. Briefwechsel mit dem Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 57. 151 Hans Fallada an Ernst Rowohlt v. 15.11.1929, in: ebd., S. 58. 152 Es handelt sich dabei um die Hymnen, um Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte und um Das Jahr der Seele.

5. Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung

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Führt man die jährlichen Gutschriften aus dem Verkauf seiner Bücher zusammen, ergibt sich für die Jahre 1913 bis 1921 folgendes Bild: Jahr

Gutschriften aus Verkauf von Büchern

1913 1914 1915 1916 1918 1919 1920 1921

5.486,85 M. 6.017,10 M. 6.228,60 M. 7.228,60 M. 13.712,50 M. 11.455,60 M. 14.269,75 M. 23.313,90 M.

Bondi war aufgefordert, auf Anweisung StGs alle notwendigen Überweisungen an Freunde und Schüler zu tätigen bzw. Geldtransfers an die stets wechselnden Aufenthaltsorte StGs zu organisieren. In den Nachkriegsjahren schmolz das Vermögen StGs einerseits wegen der Wirtschaftskrise und andererseits wegen der häufigen Geldentnahmen StGs zusehends. Bondi erfuhr allerdings erst über Wolfskehl, dass StG über die aktuellen Kontoauszüge sehr irritiert war. Erschwerend hinzu kam der eklatante Währungsverfall, der die jährlichen Kontoauszüge immer schwieriger gestaltete. So belief sich StGs Guthaben Ende September 1923 auf 205.000.000 M. Während sich Wolfskehl der Inflationsfolgen bewusst war, reagierte StG misstrauisch, schienen ihm doch die überwiesenen Honorarauszahlungen zu gering. StG habe sich beschwert, so der Bericht Wolfskehls: „Für den tatsächlichen Lebensunterhalt bedeutet ja auch diese Summe so gut wie nichts und Herr George meint, dass wenn Ihr Geschäftsgewinn ebenso wäre wie sein Anteil, sie ebenso bankrott gehen müssten wie er“.153 StG erbat sich erstmals Einblick in die Geschäftsbücher und forderte in immer kürzeren Abständen die Zusendung von Kontoauszügen, schien aber auch nicht bereit, seinen Lebensstandard zu reduzieren, denn Bondi sah sich immer häufiger Geldforderungen seines Autors in Höhe von etwa 500 M. gegenüber, die er für seine ausgedehnten Reisen benötigte. Die Rechnungsbücher aus den Nachkriegsjahren dokumentieren, dass StGs Geldabhebungen von seinem Guthabenkonto bei Bondi in recht kurzen Zeitabständen erfolgten. Die Jahresabrechnungen Bondis zeigen aber auch, dass StGs Einkünfte durchaus nicht besorgniserregend zurückgegangen waren. Die regelmäßigen Geldforderungen und das verstärkte Misstrauen StGs gegenüber seinem Verleger belasteten allmählich die freundschaftliche Autor-Verleger-Beziehung in den Jahren 1925/26. Die Komplexität der Verlagsorganisation in den Inflationsjahren, die täglich neuen Schlüsselzahlen, die der Börsenverein des Deutschen Buchhandels herausgab, um die Buchpreisbindung weiterhin zu erhalten, und die dazu führten, dass ein Band der „Reclam Universalbibliothek“ mehrere Billionen Mark kostete, blieben StG letztendlich fremd. Gleichwohl dokumentieren die Kontoauszüge, die übrigens auch die Höhe der jährlichen Steuerabführungen an das Finanzamt enthalten, dass StG zu Geldabhebungen in einer Höhe in der Lage war, die – um beim Beispiel Hans Falladas zu bleiben – zwei bis drei Monatsgehälter dieses Autors betragen konnten. 153 K. Wolfskehl an G. Bondi v. 8.9.1915, StGA.

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I. Stefan George und sein Kreis

Absatz- und Honoraraufstellung für das Jahr 1925 Verkaufte Titel Exemplare 279 59 1 2 90 77 361 324 846 733 823 713 186 148 177 284 2.995 619

Einnahme

Baudelaire, Blumen des Bösen 953,50 M. Blätter für die Kunst I 193,60 M. Blätter für die Kunst II Blätter für die Kunst III Deutsche Dichtung I Deutsche Dichtung III 625,05 M. Hymnen Pilgerfahrten Algabal Bücher der Hirten- und Preisgedichte … Jahr der Seele 5.355,95 M. Teppich des Lebens 2.514,30 M. Siebenter Ring 3.696,88 M. Stern des Bundes 2.498,35 M. Zeitgenössische Dichter I 733,12 M. Zeitgenössische Dichter II Drei Gesänge 121,33 M. Shakespeare, Sonnette 884,05 M. Tage und Taten 11.322,76 M. Dante, Göttliche Komödie 4.137,95 M. Gesamthonorar

}

Honorar StG

% vom Umsatz

143,00 M. 29,05 M.

15% 15%

93,75 M.

15%

803,40 M. 377,15 M. 554,55 M. 374,75 M.

15% 15% 15% 15%

109,95 M.

15%

18,20 M. 132,60 M. 1.132,80 M. 413,80 M. 4.182,50 M.

15% 15% 10% 10%

Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg belasteten immer wieder die Beziehung zwischen StG und seinem Verleger. 1923/24 kam es zu einer neuerlichen Auseinandersetzung wegen zu geringer Honorarzahlungen, die nochmals die wirtschaftlich prekäre Situation des Verlags unterstreicht: Dass Sie sich auf den Vertrag berufen, den ich nicht abgeändert hätte und den Sie nicht hätten abändern können, hat nur sehr bedingte Bedeutung, denn Sie haben, wie aus Ihrem letzten Brief hervorgeht, aus unternehmerischen oder anderen Gründen den Vertrag gar nicht eingehalten oder einhalten können. Die Hälfte des Reingewinns ist gar nicht zu ermitteln gewesen, folglich mir auch nicht ausbezahlt worden (höchstens buchmässig), sondern eine weit geringere Summe.154

StG schien sich von der ihm vorgelegten Abrechnung für das Jahr 1923 regelrecht provoziert zu fühlen: Fühlen Sie nicht die ganze Lächerlichkeit eines solchen Angebots? Um das Gehässige zu vermeiden, habe ich ihn nicht gleich zurückgesandt. […] Ihr Angebot von 2 Milliarden kann ich auch nicht ohne Weiteres annehmen, denn wer weiss, wie im nächsten Jahr bei der jetzigen Streckung der Absatz sich gestaltet so dass ich wieder als Resultat unserer gemeinsamen Geschäftsführung in Ihrer Schuld stünde. Das sind unmögliche Verhältnisse. Mögen sie von Ihrer Seite zur Erklärung sagen was Sie wollen = soviel steht unumstösslich fest, dass kein Autor in keinem Verlag den ich kenne, auch wenn er sein erstes Buch erscheinen liess, sich so ungünstig stellt wie ich bei Ihnen.155

Der gereizte Umgangston und die gegenseitigen Vorwürfe bringen hier beispielhaft die finanzielle Notlage von Autoren und Verlegern in den Inflationsjahren nach dem 154 StG an G. Bondi v. 15.10.1923 [Briefentwurf], StGA. 155 Ebd.

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Ersten Weltkrieg zum Ausdruck. Das prominenteste Beispiel ist sicherlich Else LaskerSchüler, die sich von ihren Verlegern Paul Cassirer, Alfred Flechtheim und Kurt Wolff um ihr Honorar betrogen fühlte. So dramatisch stellte sich die finanzielle Situation StGs freilich nicht dar. Da sich Bondi bereit erklärt hatte, sich auch um die Steuererklärungen seines Autors zu kümmern, stellen die Steuerbescheide eine wichtige Quelle zur Einschätzung der Einkommenssituation StGs – zumindest ansatzweise in den Jahren der Weimarer Republik – dar.156 Aus dem Einkommenssteuerbescheid des Kalenderjahres 1925 vom 26. Mai 1926 geht hervor, dass StG mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 1.940 RM veranschlagt wurde.157 Für das Kalenderjahr 1926 setzte das Finanzamt eine Steuerschuld in Höhe von 322 RM fest.158 Eine Einkommenssteuer-Voranmeldung vom 13. April 1926 nannte für StG als Bruttoeinkommen aus freiem Beruf 1.145 RM, von diesem zog StG noch 200 RM Werbekosten ab, sodass die Steuerfestsetzung auf der Grundlage eines Jahreseinkommens von 845 RM erfolgte.159 Für das Jahr 1928 nahm das Finanzamt am 18. Januar 1929 eine Vermögensfeststellung vor, aus der hervorging, dass StGs steuerpflichtiges Gesamtvermögen für den 1. Januar 1928 auf 29.500 RM festgesetzt worden war. Auf diesen Betrag hatte er 88,40 RM Vermögenssteuer zu entrichten.160

5.6.

Buchgestaltung und Typographie bei Stefan George (Wulf D. v. Lucius)

Seit dem 18. Jahrhundert sind zahlreiche mehr oder weniger intensive – wenn auch nicht immer durchgesetzte – Gestaltungswünsche von Autoren hinsichtlich Typographie, Ausstattung oder Illustration überliefert – von Lessing bis Schiller, von Goethe bis Hofmannsthal und vielen anderen.161 In den meisten Fällen ging es aber eher um ,Korrektheit des Drucks‘, insbesondere die Vermeidung störender Druckfehler, um Lesebequemlichkeit, deretwegen etwa Goethe zu Frakturschriften neigte, oder die Ablehnung dominanten, störenden Buchschmucks, den Verleger oder Drucker dem Text zur Verschönerung hinzugefügt hatten. Über solche korrigierenden oder nur abwehrenden Gestaltungswünsche ging StG von Anfang an weit hinaus: Er konzipierte und verwirklichte Buchgestaltungen, die seinen strengen poetischen Formvorstellungen entsprachen, ohne dass dabei vordergründig eine Parallelität von poetischem Material – üppig oder streng reduziert – mit der Buchgestaltung seiner Werke beobachtet werden kann. Die sehr unterschiedlichen Phasen der Buchgestaltung können nicht mit Phasen seiner dichterischen Entwicklung in Übereinstimmung gebracht werden,162 zumal schon in den frühen Gedichtbänden 156 157 158 159 160 161

Vgl. Steuer- und Finanzamtunterlagen. Konvolut Einkommenssteuerbescheide, StGA. Einkommenssteuerbescheid, Kalenderjahr 1925 v. 26.5.1926, StGA. Einkommenssteuerbescheid, Kalenderjahr 1926 v. 5.4.1927, StGA. Einkommenssteuer-Voranmeldung für das Jahr 1926 v. 13.4.1926, StGA. Vermögensfeststellungs- und Vermögenssteuerbescheid 1928 v. 18.1.1929, StGA. Vgl. Heinz Sarkowski, Wenn Sie ein Herz für mich und mein Geisteskind haben. Dichterbriefe zur Buchgestaltung, Frankfurt/M. 1965. 162 Eine genau entgegengesetzte Position vertritt Kurz, Teppich, S. 164. Sie ist aber schon deshalb zumindest für die frühen Gedichtbände nicht schlüssig, weil diese zu Lebzeiten StGs in drei sehr

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naturnahe Einfachheit neben symbolistischer Bildüppigkeit steht. Vielmehr ist wohl von einer Offenheit StGs gegenüber alternativen Gestaltungsmöglichkeiten zu sprechen, die angesichts der auf Führerschaft angelegten Strenge StGs gegenüber seiner Umgebung (nicht nur dem Kreis) auf eine Bipolarität auch im Gestalterischen hinweist. Dass StG so ungewöhnlich stark die Gestaltung seiner Publikationen bestimmte, liegt bis 1898 vor allem auch daran, dass bis zum ersten Vertrag mit einem professionellen Verleger, Georg Bondi, alle Veröffentlichungen als Privatdrucke, auch privat finanziert, erschienen. An die Einflussmöglichkeit gewöhnt und im Lauf der Jahre in herstellerischen Fragen – technisch wie gestalterisch – sehr erfahren, bedang sich StG auch gegenüber Bondi aus, dass die Gestaltung der Verlagsausgaben in allen Details seiner Zustimmung bedürfe. Nach 1898 gibt es dann die Parallelität der Privatdrucke (betreut von C. A. Klein bzw. F. Gundolf als Kontaktpersonen zur Druckerei O. v. Holten) und der Verlagsausgaben bei Bondi. Nachfolgend werden drei Phasen der Buchgestaltung der Georgeschen Werke nachgezeichnet, ergänzt um eine Darstellung zur StG-Schrift.163 Dabei offenbart sich – insbesondere in der mittleren, fruchtbarsten Phase von 1897 bis 1907 – eine Vielfalt von Gestaltungsvarianten, die eine allzu straffe interpretatorische Verknüpfung von Inhalt und Buchgestalt, wie sie in der George-Literatur oft begegnet, eher zweifelhaft erscheinen lässt. 5.6.1. Die frühen Publikationen 1890 bis 1895 Als StG 1890 als gerade einmal 22-jähriger, noch gänzlich unbekannter Dichter sein erstes Werk im Selbstverlag mit der Angabe „Berlin“ herausbrachte, wählte er eine Gestaltung von äußerster Strenge: Grotesk-Schrift für Umschlag, Titelblatt und Überschriften, sowie eine Antiqua (in Art der Buch-Bodoni) für die Gedichte. Keine Zierlinie, keine Vignette (Abb. 6). Hinzu tritt der völlige Verzicht auf Farbigkeit: ein chamois getönter Karton für die Broschur, die mit Pergamin-Papier umlegt wurde, sowie ähnlich gefärbtes Druckpapier. Eine weiter gehende Reduktion ist kaum denkbar, der Band steht in erheblichem Gegensatz zu allem, was an Lyrikbänden in diesen Jahren in Deutschland erschien und war gänzlich vom Autor vorgegeben,164 da es sich ja um einen Privatdruck handelte. Woher kam dieses Konzept? Ganz offenbar aus Frankreich, wo StG im Mai 1889 zum ersten Mal gewesen und bald in Nähe zum Kreis der Symbolisten, zu Mallarme´

unterschiedlichen Gestaltungen erschienen: den Erstausgaben als Privatdrucke, den Ausgaben bei Georg Bondi ab 1899 und schließlich in der StG-Schrift ab 1905. 163 Eine reich mit Text- und Briefzitaten angereicherte Darstellung aller Werke StGs findet sich in KTM. Bezüglich aller differenzierten technischen Angaben und Einbandvarianten vgl. Raub, Lechter, S. 59–109. 164 C. A. Klein schreibt in den BfdK im fünften Band der ersten Folge 1893, S. 144, unter der Abschnittsüberschrift „Das doch nicht Äusserliche“ dazu: „[…] Sogar für das technische eines buches ist der verfasser mit verantwortlich, und man darf es ihm nicht als eitelkeit vorwerfen, wenn er druck und papier der landläufigen markterzeugnisse verschmäht und für sein geschöpf eine standesgemäße kleidung beansprucht.“

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und Verlaine, gekommen war.165 Wie sehr ihn diese Dichter beschäftigten und beeindruckten, zeigten 15 Jahre später seine Übersetzungen in den zwei Anthologiebänden Zeitgenössische Dichter von 1904 (s. u.). Die viel schlichtere, viel stärker auf Helligkeit der Druckseite angelegte Typographie der Franzosen (im Gegensatz zu Deutschland und den dort vorherrschenden Frakturschriften) wurde sein Vorbild (Abb. 7 links). Wie sehr, kann man an ähnlich gestalteten Umschlägen französischer Lyrik dieser Jahre sehen. Die bewusste Annäherung an diese Vorbilder ist eindrücklich belegt durch eine lockere, im Stefan George Archiv bewahrte Skizze StGs von einem Umschlag zu Verlaines Paralle`lement (Abb. 7 rechts).

Dass derartige Gestaltungen in Deutschland vereinzelt auch vorkamen, dafür gibt es ein eindrucksvolles Beispiel, nämlich bei den Erstausgaben von Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883/84), die ebenfalls ausschließlich den Titel in markanter Grotesk-Schrift tragen. Auch ohne dass sich eine Kenntnis StGs von diesem Umschlag schon im Jahr 1890 schlüssig belegen ließe – unmöglich ist sie nicht. Jedenfalls passt die Strenge der Gestaltung zum Rang der beiden Werke und der späteren Beschäftigung des George-Kreises mit Nietzsche.

165 1892 schrieb StG an S. F. Merrill: „Autrefois on m’appelait disciple de Baudelaire aujourd’hui je suis celui de Verlaine demain je serai celui de Mallarme´“, zit. nach KTM, S. 56.

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Die Berliner Druckerei Wilhelm & Brasch produzierte im Jahr 1890 für StG 100 Exemplare der Hymnen. Nur wenige Exemplare wurden verbreitet, sodass er später noch den Zusatz „Im Verlag der Blätter für die Kunst“ hinzusetzen ließ. Wie schleppend die Verbreitung des reinen Privatdrucks verlief, erweist das Verzeichnis der Erscheinungen der Blätter für die Kunst, in dem 1904 noch immer Exemplare dieses Erstlings sowie der beiden nachfolgenden Bände als lieferbar ausgewiesen werden (zum selbstbewussten Preis von je 50 M.). In exakt gleicher Aufmachung folgten die Bände Pilgerfahrten (1891) mit der Ortsangabe Wien und Algabal (1892) mit der Ortsangabe Paris, beide gedruckt bei Vaillant-Carmanne in Lüttich. Als nächste Publikation folgt im Oktober 1892 das erste Heft der BfdK, gedruckt in der Berliner Druckerei F. Cynamon. Die Gestaltung dieses Heftes, das für StG ja wie der Nukleus der Bildung eines Kreises von Gleichgesinnten war,166 ist von typographischer Beliebigkeit geprägt: einem Alltags-Mischmasch von neun (!) verschiedenen, allesamt unharmonischen Auszeichnungsschriften für die 32 Heftseiten und bescheidenen Fleurons aus dem Setzkasten einer belanglosen Druckerei (Abb. 8 oben). Das ist angesichts der bewussten Formstrenge der drei ersten Gedichtbände kaum verständlich, man muss vermuten, dass StG sich – aus welchen Gründen auch immer – in diesem Fall um Gestalterisches überhaupt nicht gekümmert hat. Ein Grund könnte darin liegen, dass ausschließlich Carl August Klein167 als Herausgeber zeichnet und das Heft ja auch nicht eine Publikation StGs im engeren Sinne ist, obzwar es Nachdrucke von Gedichten aus den ersten drei Gedichtbänden enthält, als Hauptstück aber den Tod des Tizian von Hugo von Hofmannsthal sowie Gedichte von Paul Ge´rardy und Carl Rouge. Diese Typographie blieb unverändert bis zur vierten Folge (1898). Ab der fünften Folge (1901) wird der Druck von Otto von Holten in ,geglätteter‘ verbesserter Typographie übernommen, auch der Umschlag ,entrümpelt‘, aber mit unveränderter Titelzeile. Die nächste eigene Publikation von StG weist, obwohl ebenfalls bei F. Cynamon gedruckt, wieder die strenge Reduktion auf. Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten, erschienen im Verlag der Blätter für die Kunst, Berlin 1895, sind in Antiqua und schmalhalbfetter Grotesk als Auszeichnungsschrift gedruckt. Umschlag und Papier sind wieder ,unfarbig‘.168 Das stilistische Schwanken in diesen Jahren zeigt sich andererseits an einem Umschlagentwurf von Thomas Theodor Heine für die BfdK aus dem Jahr 1893 (Abb. 8 166 Auf dem Umschlag dieses Heftes steht der Hinweis: „Diese Zeitschrift im Verlag des Herausgebers hat einen geschlossenen, von den Mitgliedern geladenen Leserkreis.“ 167 Klein schildert in Rückerinnerung die engen finanziellen Grenzen, innerhalb derer das Projekt der BfdK verwirklicht werden musste – das hatte eben auch gestalterische Konsequenzen: „Die nicht unerheblichen Druckkosten bestritten die Mitarbeiter aus ihrer eigenen Tasche. Autorenhonorar war uns eine unbekannte Vokabel […]. Wohl waren wir mit unsern knappen Wechseln auf einen billigen Drucker angewiesen. Einen solchen ließ mich nun ein Zufall in der Person des betriebsamen Druckereibesitzers Friedrich Cynamon, Chausseestraße 4a, entdecken“ (CAK, 36f., 39). Der Druck der BfdK blieb bis einschließlich Folge vier in dieser Druckerei und wechselte ab Folge fünf (1900/01) zu Otto von Holten. Die BfdK wurden immer in Antiqua gedruckt, während der dritte Auswahlband (vor der eigentlichen Blätter-Ausgabe erschienen) in StGSchrift gesetzt war. 168 Lechter besaß lt. Georg Peter Landmann ein Exemplar auf Japan in Pergament gebunden; vgl. GPL, S. 49.

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unten), der allerdings erst ab der sechsten Folge für die Leineneinbände verwendet wurde, während die Kartonumschläge bis 1919 ihr leicht revidiertes Erscheinungsbild beibehielten, auch in der ,Unfarbigkeit‘ von mattem Grau (teils Graugrün). Die Farbangaben für die Leinenbände im Verzeichnis von 1904 (rosa, violett, malvenfarben) gelten offenbar nur für die im Verzeichnis als ,unverkäuflich‘ gekennzeichneten Exemplare – es finden sich auch Exemplare in naturfarbenem bzw. blassgelbem Leinen (z. B. im Stefan George Archiv). Farbvarianten gibt es auch bei den Umschlägen der Auswahlbände. Offenbar hat sich StG Mitte der 90er-Jahre von der äußersten Strenge des Beginns gelöst, ohne schon eine dezidierte Vorstellung davon zu haben, was denn das neue Gestaltungskonzept für seine Veröffentlichungen sein könnte. Ein weiterer Beleg für das tastende Suchen nach neuen bzw. von historischer Formensprache geprägten Gestaltungen ist die 1894 von StG zweifarbig in Purpur und Violett kalligraphierte Handschrift des Buchs der Sagen und Sänge, die für seine Schwester Anna bestimmt war (Bildtafel B). Sie mag schon von den Begegnungen mit Melchior Lechter beeinflusst sein oder eine vorwegnehmende Annäherung an dessen Formensprache darstellen. 5.6.2. Die Jahre mit Melchior Lechter 1895 bis 1907169 Angesichts dieser buchgestalterischen Zwischenphase nicht gänzlich überraschend, aber in der Entschiedenheit des Strebens nach einem totalen Kontrapunkt doch erstaunlich ist es, wenn StG am 22. August 1896 in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal von dem Plan spricht, „nach art der Kelmscott Press nicht nur die neueren dichter, sondern auch die Alten Guten in einer geschmackvollen (mehr menschenwürdigen als bislang) ausgabe zu zeigen“ (G/H, 109) (Abb. 14). Es war die Begegnung mit Melchior Lechter im Herbst 1894 in Berlin, die zu diesem totalen Paradigmenwandel in StGs buchgestalterischen Vorstellungen führte. Lechter war damals bereits ein angesehener, viel beschäftigter Gestalter, der Innenräume, Möbel, Gerätschaften und auch Publikationen gestaltete. Lechters Stil war ein ganz persönliches Amalgam von Jugendstil, gotisierenden Elementen und reicher Symbolik. Lechter – ebenso wie StG aufgewachsen in einer provinziellen, tief katholisch geprägten Welt mit all ihrer Symbolik – hatte zudem einen Hang zu orientalischer Mystik, Kabbala und Ähnlichem. Die magische Wirkung von edlen Steinen und Materialien, die in StGs Dichtungen eine so wichtige Rolle spielt, durchdringt sein Denken und reales Gestalten: also reichlich Anknüpfungspunkte für eine rasch wachsende Sympathie der beiden Männer, der eine Poet voll symbolisch aufgeladener Bilder, der andere ein ,Werker‘ im Sinne mittelalterlicher Tradition und Bezüge.170 Schließlich mag eine Rolle die Nähe von Malerei und Dichtung im französischen und 169 Eine detaillierte Beschreibung aller von Melchior Lechter gestalteten Buchausgaben samt späteren Auflagen und Einbandvarianten findet sich in Raub, Lechter. Zu den Einzelheiten des persönlichen Zusammenwirkens vgl. insbesondere Kluncker, Dichtung, sowie den Briefwechsel zwischen Melchior Lechter und StG, der zu einigen Werken sehr intensiven, zum Teil auch kontroversen, Gedankenaustausch belegt, generell aber einen von gegenseitiger Bewunderung getragenen Ton widerspiegelt. 170 Vgl. Schütze, Ein Gotiker im George-Kreis.

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belgischen Symbolismus gespielt haben, von dem StG bei seinem Paris-Aufenthalt so entscheidend geprägt worden war.171 Lechters völlig von ihm mit reich geschmückten Möbeln selbst gestaltete Wohnung wurde bald zu einem, teilweise zu ,dem‘ Zentralort des Kreises um StG in Berlin.172 Die erste von StG und Lechter gemeinsam konzipierte Veröffentlichung ist Das Jahr der Seele, 1897 im Verlag der Blätter für die Kunst erschienen (Abb. 9).173 Es stellt eine eigenartige Mischung von gestalterischen Vorgaben StGs und der bildnerischen Erfindung Lechters dar. Letztere beschränkt sich auf den Umschlag (und das damit identische Titelblatt): der berühmte orgelspielende Engel kombiniert mit einer jugendstilgeprägten, von Lechter gezeichneten Titelschrift, die künftig bei allen Veröffentlichungen StGs in ähnlicher Form verwendet wurde, später in Form von Zinkklischees als sogenannte ,Otto von Holten-Schrift‘ (Abb. 15).174 Das Innere folgt (in Rot, Blau und Schwarz gedruckt) bis in die Zierleisten zwischen den Gedichten exakt einem Autograph StGs, in dem er erstmals eine Frühform seiner stilisierten Schrift verwendet, aus der acht Jahre später die StG-Schrift als Druckschrift hervorgeht (Bildtafel C). Der in sich versunkene Engel mag in StG Erinnerungen an seine Gänge mit Albert Saint-Paul im Louvre geweckt haben, bei denen ihn Bilder von Fra Angelico tief beeindruckten, sodass er 1899 der zweiten Auflage der Hymnen das Gedicht „Ein Angelico“ (II, 27) hinzufügte – Nachklang der Pariser Zeit und Beleg einer Faszination durch gotische Kunst. Das Buch erregte sofort bei Erscheinen erhebliche Aufmerksamkeit, wie eine Rezension in Deutsche Kunst und Dekoration (also einer dem Gestalten, nicht der Poesie gewidmeten Zeitschrift) beweist: Die deutsche Druckerkunst hat seit langer, langer Zeit nichts hervorgebracht, was sich diesem Buche vergleichen liesse. Lechter wünscht für das Buch ein zwar reiches, aber dennoch durchaus struktives Dekor. […] Die Seiten haben nur ganz schmale Ränder: so wirkt das Ganze durchdrungen, harmonisch geschlossen, künstlerisch Blatt für Blatt, nur durch geschmackvolle Behandlung des Nothwendigen, ohne Schnörkel, ohne Bild; ein neuer Meisterdruck.175

Gedruckt wurden vom Jahr der Seele 206 Exemplare, davon 200 auf holländischem Bütten, 3 auf Japan und 3 auf van Gelder Bütten. Der Preis der Normalausgabe betrug 50 M. Wenn auch die dreifarbige Gestaltung beim Jahr der Seele auf der handschriftlichen Vorlage StGs beruhte, so wurde die Schriftwahl, wie bereits erwähnt, von Melchior Lechter beeinflusst: Anstelle der bisher verwendeten Buch-Bodoni, einer damals sehr gängigen Schrift, kam die von Lechter oft verwendete Römische Antiqua mit starker 171 Albert Saint-Paul nannte ihn „le petit symboliste d’Allemagne“. 172 Vgl. Georg Fuchs, „Meister Lechter“. Ein Versuch in neun Kapiteln, in: Melchior Lechter, S. 94–123. 173 Zum Entstehen dieses Buches gibt es im Briefwechsel von Lechter und StG keinerlei Hinweise außer einer Fotografie Lechters mit folgender Widmung (im Original alles versal): „An Stefan George in den Tagen der Druck-Legung von ,Das Jahr der Seele‘ Berlin den 10. October 1897 Melchior Lechter.“ 174 Diese Schrift ist sehr zeittypisch, wie ein Vergleich zur ähnlich angelegten dekorativen Auszeichnungsschrift von Otto Eckmann erweist; vgl. Riegger-Baurmann, Schrift, S. 221. 175 Georg Fuchs, Melchior Lechter, in: Deutsche Kunst und Dekoration 1/1897/98, S. 172.

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Schwarzwirkung zum Einsatz. Durch Lechter begann auch mit diesem Buch die nun Jahrzehnte andauernde Zusammenarbeit mit der Berliner Druckerei Otto von Holten, die hohen qualitativen Ansprüchen gerecht zu werden vermochte.176 Erwähnung verdient schließlich noch der Umschlag: ein filzartiger, grau-grüner Karton, der Lechters Streben nach ungewöhnlichen Materialien belegt. Wie intensiv die Mitwirkung StGs bei allen Arbeitsschritten regelmäßig war, zeigt eine briefliche Äußerung einige Jahre später an Lechter vom 3.9.1906, bei der es um die Terminplanung der Drucklegung des Siebenten Rings und des Maximin geht. StG drängt: „Ohne meine anwesenheit ist das drucken unmöglich.“177 Alle die genannten Tendenzen – gotischer Formvorrat, ungewöhnliche Materialien, Mitplanung der typographischen Gestalt durch StG – wurden gut ein Jahr später in unübertrefflicher Weise umgesetzt in der monumentalen, nun noch viel stärker von Melchior Lechter geprägten Erstausgabe von Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel, in dem die eingangs erwähnte Verschmelzung von Jugendstilelementen mit gotischen Formen ihren vollkommenen Ausdruck findet (Bildtafel D). Das Werk wurde im Dezember 1899 fertiggestellt, also dem Jahr, in dem StG mit den 2. Auflagen von Hymnen Pilgerfahrten Algabal sowie dem Jahr der Seele und den Büchern der Hirten- und Preisgedichte im Verlag Georg Bondi für die öffentliche Verbreitung bestimmte Ausgaben herausbrachte, die den bisher reklusiven, selbst begrenzten Kreis der BfdK überschritten. Auch die erste Auslese aus den Blättern für die Kunst 1892–1898 erschien in diesem Jahr bei Georg Bondi. Für diese öffentlichen Ausgaben hatte Lechter auf Wunsch StGs das Monstranz-Symbol geschaffen, das nun jahrzehntelang ohne Veränderung alle Titelblätter der Georgeschen Veröffentlichungen bei Bondi zierte (Abb. 10).178 176 Nur in wenigen Fällen wurden noch andere Drucker eingesetzt: so weiterhin F. Cynamon für die BfdK und R. Boll für die zweite Auflage der Hymnen (1899) und Die Fibel (1901). 177 Lechter/George, Briefe, S. 263. 178 Dazu hatte StG am 16.9.1898 an Lechter geschrieben: „Ich bedarf nämlich Ihres rates in so manchen dingen: die ausgabe meiner bücher im verlag von G. Bondi steht bevor, ebenso eine sammlung der ausgewählten beiträge Bl. f. d. Kunst. Vorerst handelt es sich nur darum, eine geeignete buch-marke zu bekommen für alle werke die aus unserem kreise in den genannten verlag treten. An wen als an Sie soll ich mich da bittend wenden?“ (Lechter/George, Briefe, S. 49f.) Er betont die Wichtigkeit, dass eine solche Marke „auf irgendeine gut sichtbare weise die worte ,Blätter für die Kunst‘ trägt“ und auch auf rauhem Papier gedruckt werden kann.

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Das Jahr 1899 war also janusgesichtig: StG veröffentlichte die prunkvollste Erstausgabe eines lyrischen Werks überhaupt in Deutschland exklusiv im Privatverlag der Blätter für die Kunst und tat zugleich den Schritt an eine breitere Öffentlichkeit durch die dann Jahrzehnte dauernde Verbindung mit Georg Bondi. Die dort erscheinenden Ausgaben weisen innen deutliche Gestaltungselemente der vorausgegangenen Werke auf und zeichnen sich ab 1904 durch Verwendung der damals fertiggestellten StGSchrift aus. Einheitliches Gestaltungsmerkmal sind von Anfang an die von Lechter gestalteten Titelblätter mit seiner Jugendstilschrift und dem Monstranzsymbol. Es war StG ein großes Anliegen, auch die öffentlichen Ausgaben in die Tradition der BfdK zu stellen. Doch zunächst zurück zum Teppich des Lebens: Das Werk ist geprägt durch die Dominanz von Dekor und Material, gesteigert durch das ungewöhnlich große Format (38x36 cm). Die schweren Einbanddeckel mit abgeschrägten Kanten sind mit lindgrünem, blau geprägtem Leinen bezogen, der Inhalt auf sehr schweres, zart grüngrau getöntes Bütten179 in Rot und Schwarz gedruckt. Mit reicher Symbolik (Engel, Harfen, weihrauchdampfende Urnen) gestaltete Zwischentitel leiten die drei Teile ein, deren jeder die Gedichte in ein gotisierendes Diptychon stellt180 – für jeden der drei Teile in abweichender Gestalt. Unübersehbar ist bei diesem Buch Lechters Berufsausbildung 179 Auch diese Papierwahl wird Anfang 1899 in der Korrespondenz angesprochen. 180 Vgl. Treffers, Lechter, S. 16.

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als Glasmaler.181 Treffers spricht in diesem Zusammenhang von einem „sakralen Raum“.182 Höchst ungewöhnlich gerade für einen so selbstbewussten Dichter wie StG ist, dass Dreiviertel der bedruckten Fläche jeder Seite nicht dem Text, sondern den markanten architektonischen Umrahmungen dienen, die Gedichte treten in ihrer optischen Erscheinung deutlich zurück (Abb. 11 oben). Dass StG dies aber nicht etwa nur hinnahm, sondern aktiv mit geplant hat, erweist das dem Druck zugrunde liegende Manuskript, in dem StG sorgfältig alle Initialen und die kleinen typographischen Zierstücke schon berücksichtigte, ebenso kleineren Schriftgrad für besonders lange Verse. Ob deren zarte Skizzierung in Bleistift ebenfalls von StG oder von anderer Hand stammt, ist ungeklärt (Abb. 12).183 Die Gestaltung dieses Buches liegt zeitgleich mit der Gestaltung des PallenbergSaales für Köln, der auf der Weltausstellung 1900 in Paris gezeigt wurde und höchste Anerkennung und eine Goldmedaille errang (Abb. 11 unten). Der monumental architektonische Charakter des Saales wie des Buches ließen Maximilian Rapsilber 1904 von einem „Buch wie ein Palast“184 schwärmen, während Rudolf Alexander Schröder dagegen abwertend von „Gusseisen-Gotik und der unsäglich gespreizten Trivialität“ sprach. StG aber war vom Buch wie vom Saal tief beeindruckt und schrieb am 4.8.1898 an Lechter: „ich bitte Sie uns mitzuteilen wann Ihr Saal in Köln der einweihung entgegensieht. vielleicht auch die art des eintritts, wir ziehen dann nach der heiligen Stadt in einem ganzen pilgerschwarme.“185 Neben den Rahmungen jeder Seite schuf Lechter die zahlreichen Initialen, die im Vorspiel und im Teppich die Höhe der vierzeiligen Verse haben (zum Teil in einer schmaleren Variante), während in den Liedern von Traum und Tod eine große Vielfalt an variierenden Gestaltungsdetails herrscht: große Initialen wie in den ersten Teilen, bei anderen Gedichten diverse kleine, eine oder zwei Zeilen hohe oder gar keine Initialen, dafür aber kleine, den Zeilen 3 oder 3/4 vorangestellte Zierstücke. Die Überschriften des dritten Zyklus sind ganz in Rot gedruckt. Die Gedichte des Vorspiels haben nur rote römische Ziffern, keine Überschriften, dafür ist die erste Zeile jeweils rot gedruckt. Insgesamt wird Rot also sehr sparsam verwendet, es dominiert das feierliche Schwarz. Die Schrift ist wieder die Römische Antiqua. Gedruckt wurden diesmal 300 Exemplare, ein Hinweis auf die wachsende Resonanz von StG. Der Verkaufspreis betrug 100 Goldmark. Schon im Mai 1900 folgte der erste Band der dreiteiligen Anthologie Deutsche Dichtung, Jean Paul. Ein Stundenbuch für seine Verehrer, mit reichem buchkünstlerischem Schmuck in Schwarz, Blau und Rot (Bildtafel E). Hier erscheint zum ersten Mal das Urnensignet, das StG besonders schätzte und, ebenfalls in hellem Blau gedruckt, als Kopfstück auf Briefbögen verwendete. Wie intensiv die gemeinsame Pla181 Diese sakrale Gestimmtheit bringt Lechter in einem Brief an StG vom 7.2.1899 zum Ausdruck: „ich bin innerlich und äußerlich in Weihrauch gehüllt und träume und bete an dem Entwurf zum ,Mysterium der Kunst‘“, Lechter/George, Briefe, S. 64. 182 Treffers, Lechter, S. 8. 183 Vgl. George, Teppich des Lebens, hrsg. v. Elisabeth Höpker-Herberg; Oelmann, Vom handgeschriebenen Buch, S. 73f. 184 Zit. nach Melchior Lechter, S. 15; Kluncker, Dichtung, S. 45, meint, der Teppich sei „gleichsam als ,Evangeliar‘ für den Pallenberg-Saal konzipiert“. 185 Lechter/George, Briefe, S. 47.

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nung in Gestaltungsfragen war, zeigt hier die eingehende Diskussion zwischen StG und Lechter, ob StGs Vorwort in Versalien gedruckt werden solle oder nicht. Wie oft, setzte Lechter sich durch, und StG räumte in einem Brief vom 21.6.1900 ein: Lieber Melchior, eben bekomme ich das J-P Probebuch und will Ihnen unverzüglich etwas von meinem staunen und meiner bewunderung mitteilen. nun hat sich nach langem zaudern und harren alles erfreulich gelöst und manches mit dem ich nicht einverstanden war erweist sich jezt als eine herrliche notwendigkeit sogar die stolzen buchstaben der vorrede. Das werk ist gross und einfach: das Schlussstück der einleitung das sich auf der lezten seite in blau wiederholt gehört zu den freisten und schönsten verzierungen, die Sie ersonnen haben: die gehobene urne und das eigentliche Jean-Paul-blatt sind kühn und ein vorspiel zu unsrem ganz einzigen Dichter.186

Die beiden weiteren Bände Goethe und Das Jahrhundert Goethes folgten 1901 und 1902; sie wurden in 300 Exemplaren (bzw. 400 von Bd. 1) zuzüglich je 3 Exemplaren auf Japanpapier gedruckt. Die Ausgaben haben unterschiedlich mit dekorativer Schrift und dem Urnensignet geschmückte Kartoneinbände (blau/rot für Bd. 1, gold für Bd. 2, grau/gold für Bd. 3). Festlich einstimmend sind die dekorativen Doppeltitel in schwarz/rot (Bd. 1 und 2) bzw. schwarz/blau in Bd. 3. Bordüren und Zierleisten wechseln von Band zu Band, gedruckt wurde in einer Art römischer Antiqua. Die erste öffentliche Ausgabe der Baudelaire-Übertragungen (1901) war wiederum schmucklos: ganz in Antiqua auch die Überschriften, ein dunkelgrauer Umschlag, schwarz bedruckt. 1903 erschien die Erstausgabe des Prosawerks Tage und Taten (Auszüge davon hatte schon zehn Jahre zuvor der dritte Band der ersten Folge der BfdK enthalten) wieder ohne jeden Buchschmuck, abgesehen vom goldgeprägten Urnensignet auf dem Pappeinband; der Text zweifarbig schwarz/rot in der Neuen Elzevir in großem Schriftgrad (Cicero). Doch auch dieser schlichte Band war von Lechter gestaltet worden.187 1905 wurde in starkem Gegensatz zu dieser Schlichtheit als besonders exklusive Ausgabe StGs Übertragung von Mallarme´s Herodias in nur sieben Exemplaren veröffentlicht, in großer, kräftiger Antiqua gesetzt, in Blau und Gold gedruckt mit zwei großen, von Lechter handgemalten Vignetten, ebenfalls in Gold und Blau. Darüber hinaus existieren zwei auf Pergament ebenfalls in Gold und Blau gedruckte Exemplare. Die Herodias spiegelt in herausragender Weise den von Lechter bevorzugten Materialluxus. Auf dem Pergamentband und dem Titel ist das Urnensignet (in großer Variante) in Gold geprägt bzw. gedruckt.188 Wieder ganz anders im typographischen Konzept ist das Verzeichnis der Erscheinungen der Blätter für die Kunst von 1904: in kleinen Graden der Römischen Antiqua in Blau und Rot mit Linienrahmen – ein bibliophiler Prospekt, der aber in nichts den Stil der angezeigten Publikationen widerspiegelt. Die Vielfalt der buchgestalterischen Konzepte für Werke StGs ist also in den Jahren 1897 bis 1907 außerordentlich groß, ein einheitlicher Auftritt offenbar nicht beabsichtigt: Jeder Band steht solitär für sich. 186 Ebd., S. 136. 187 Vgl. Raub, Lechter, S. 49, 78, 94. 188 In der deutschen Buchkunst dieser Jahre finden sich nur sehr wenige ähnlich luxuriöse Ausgaben. Erwähnt seien Herbert Eulenbergs Deutsche Sonette, ebenfalls in großem Format in Blau und Gold, gedruckt als 7. Drugulin-Druck (1910).

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5.6.3. Exkurs: Die StG-Schrift Zur Entstehung der StG-Schrift gibt es keine überlieferten Dokumente; im Schriftwechsel Lechter/George findet sich dazu nichts, das Archiv der Druckerei Otto von Holten verbrannte im Zweiten Weltkrieg, ebenso das der Schriftgießerei Berthold. Wenn auch mehr auf Vermutungen über die einzelnen Entstehungsphasen und die Anteile der einzelnen Beteiligten gestützt, lässt sich doch Folgendes festhalten: Die Schrift entstand in der Absicht, StGs seit Jahren sich deutlicher entwickelnde, von Buchstaben in Sonderformen geprägte Handschrift in eine Satzschrift zu übertragen. Als Basis diente die Akzidenz Grotesk der Berliner Schriftgießerei Berthold, eine Beteiligung des erfahrenen Gebrauchsgraphikers Lechter ist unbezweifelbar. Wie weit diese aber ging, welchen Anteil die Entwerfer und Stempelschneider der Firma Berthold am Endergebnis hatten, ist bis heute nicht zu klären. Die Entwicklung der Schrift erfolgte in Stufen, es dauerte Jahre, bis sie in ausgebauter Form in mehreren Schriftgraden vorlag.189 Auch ist eine Wechsel- bzw. Rückwirkung der Druckschrift auf die Handschrift StGs, die sich dadurch noch stärker ausprägte, konstatiert worden.190 Keineswegs kann aber von einer sehr großen Nähe der federgeschriebenen Handschrift StGs und der strengen (technischen) Druckschrift gesprochen werden: Diese grundsätzliche Differenz sowohl in der Genese des Schriftbildes wie in der deutlich verschiedenen visuellen Wirkung wird manchmal vernachlässigt. Die von Stephan Kurz zusammengestellte Vergleichstafel der Akzidenz-Grotesk zur StG-Schrift zeigt, dass im Grunde nur wenige Buchstaben entscheidend von der Ausgangsschrift abweichen. Wesentliche Änderungen weisen nur das a, e, s, t und k auf sowie die Versalien A, М, S, T, V und W, insgesamt also gerade einmal zwölf Typen in einem Satz von 52.191 Die andersartige Wirkung der StG-Schrift beruht nicht nur auf den wenigen abweichenden Typen, sondern auch wesentlich auf den dadurch weniger häufig vorkommenden Oberlängen; ein Effekt, der durch die konsequente Kleinschreibung sehr verstärkt wird. Wichtig für den Eindruck der Schrift ist des Weiteren die insgesamt kräftigere (schwärzere) Erscheinung, man darf hier wohl die Vorliebe Lechters für kräftige Schrifttypen als Einfluss vermuten. Schließlich wird der gleichmäßige Zeilenfluss (der wohl bewusst in Analogie steht zu dem rhapsodisch gleichmäßigen Lesen von Gedichten im Kreis) noch gesteigert durch den weitestgehenden Entfall von Interpunktionszeichen. Es sind also drei Elemente, die die Wirkung der StG-Schrift in StGs Publikationen prägen: Schriftschnitt mit reduzierten Oberlängen, minimierte Interpunktion und weitestgehender Entfall der Versalien (Abb. 13 links). Schon beim Einsatz von Versalien in der StG-Schrift entsteht ein anderes (konventionelleres) Satzbild, wie sich an den Versalien einsetzenden Flechtheim-Drucken erweist. Roland Reuß fasst die Bedeutung der StG-Schrift wie folgt zusammen:

189 Vgl. dazu Pawlowsky, Küpper, S. 19f.; ausführlich Riegger-Baurmann, Schrift, S. 230ff.; Reuß, Manufaktur, S. 168ff. In diesen Darstellungen wird manches, was nur vermutet werden kann, als Tatsache dargestellt, insbesondere auch was den schöpferischen Anteil der einzelnen Beteiligten angeht (sehr eigenwillig z. B. Reuß, Manufaktur, S. 173f.). 190 Vgl. Martus, Werkpolitik, S. 687ff. 191 Vgl. Kurz, Teppich, S. 74.

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Sie ist die einzige Druckschrift, deren Schnitt und Zurichtung direkt auf die Initiative eines namhaften Schriftstellers zurückgeht und die für die Außendarstellung seines Werkes mehr oder weniger unverhüllt essentielle Geltung beansprucht hat.192

Allerdings war die Schaffung neuer Schriften um 1900 sehr weit verbreitet und Deutschland darin absolut führend. In diesen Jahrzehnten entstanden Hunderte von neuen Schriftschnitten, die zum Teil kaum je zum Einsatz kamen.193 Das Einzigartige an der StG-Schrift bleibt aber der Anstoß durch eine dekorative Zierschrift eines Autors. Verfügbar war die Schrift ausschließlich in der von Holtenschen Druckerei, was vermuten lässt, dass sie (im Blick auf künftige Aufträge) den Schnitt der Schriften finanzierte (RB II, 296).194 Erstmals verwendet wurde die Schrift bei der Publikation 192 Reuß, Manufaktur, S. 168. 193 Vgl. Neumann, Buchgestaltung, S. 186. 194 Die Schrift wurde im Schriftmusterkatalog der Druckerei Otto von Holten von 1904 ohne jeden Hinweis auf eine Beschränkung der Verwendung angezeigt. Tatsächlich ist die Schrift – obwohl im George-Kreis ehrfurchtsvoll gemieden und nur den Publikationen von StG selbst vorbehalten – in den 20er-Jahren mehrfach anderweitig verwendet worden, so insbesondere für drei Drucke von Paul Flechtheim. Während Pawlowsky, Küpper, das Urheberrecht der StG-Schrift Melchior Lechter zuweist und der Druckerei Otto von Holten nur ein einfaches Nutzungsrecht, schreibt Stephan Kurz die Rechte an der Schrift der Druckerei zu (Kurz, Teppich). Die im Stefan George Archiv überlieferte Akte eines Prozesses des Verlages Bondi gegen Holten um die Rechte an der Schrift aus dem Jahr 1941, die mit einem Urteil des Kammergerichts Berlin zugunsten des Verlags endete, hat unabhängig von einer Reihe falscher Tatsachenbehauptungen der Prozess-

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von Hofmannsthals Ausgewählten Gedichten (2. Aufl. 1904)195 sowie der dritten Auflage vom Jahr der Seele im selben Jahr. Ein Jahr später folgten 1905 die beiden Bände Zeitgenössische Dichter mit den Übertragungen StGs von Gedichten von Mallarme´, Rimbaud, Verwey, Rolicz-Lieder, Verlaine u. a. Der Druckvermerk im ersten Band erwähnt ausdrücklich die StG-Schrift und nennt die Erscheinungsdaten November 1904 für Bd. 1, Januar 1905 für Bd. 2. Die Gestaltung dieser Bände steht fast konträr zum monumentalen Teppich des Lebens: schlanke Oktavbände, gebunden in zart fliederfarbene, reich silbergeprägte Papp- (zum Teil Leinen)-Bände, die Satzschrift im kleinen Grad (Petit) der StG-Schrift, gedruckt auf fein geripptes, gelbliches Maschinenbütten. Am Kopf der Seiten steht eine dezente Dekorleiste. Sechs Exemplare wurden auf Japanpapier gedruckt und in Pergament gebunden. Nahezu zeitgleich erschienen, ebenfalls in StG-Schrift gesetzt und in gleicher Typographie bis hin zur Kopfleiste, Einzelausgaben von Verwey (1904) und RoliczLieder (1905), die farbigen Umschläge und Titelblätter identisch in kräftiger GroteskSchrift gesetzt; versehen waren beide Ausgaben mit dem Urnensignet (im Gegensatz zu den zwei Sammelbänden, bei denen das Monstranz-Signet mit Schriftgestaltung in Otto von Holten-Schrift verwendet wurde). 5.6.4. Das Jahr 1907 Im Jahr 1907 erschienen zwei weitere von Melchior Lechter reich ausgestattete Werke als Erstausgaben im Verlag der Blätter für die Kunst: Maximin und, im Oktober 1907, Der Siebente Ring. In reicher Symbolik, mit üppig ausgestatteten Doppel- und Zwischentiteln entfaltet Lechter noch einmal seine reiche Form- und Bilderfindung, während die Textseiten bereits mit deutlich weniger üppigen Zierrahmen umgeben sind (Bildtafel F). Es gibt (mit einer Ausnahme im Maximin) auch keine Zierinitialen mehr. Insgesamt zeigt sich eine Tendenz zu zurückhaltender Ruhe, die wohl einer sich anbahnenden Skepsis StGs gegenüber zu prachtvollem und dominantem Buchschmuck zu verdanken ist. Lechter und StG korrespondierten intensiv und kontrovers über Papier- und Einbandvarianten beim Siebenten Ring, bei denen der in reichen Materialien denkende Lechter sich schließlich durchsetzte. Gedruckt wurde die Normalausgabe auf Bütten in violettem Leinen oder rotem Leder und 35 Exemplare auf parteien kaum Beweiskraft: Wie hätte sich die Druckerei 1943 auf die ungehinderte Verwendung der Schrift zwanzig Jahre zuvor für ,jüdische‘ Publikationen berufen können? Diese Argumente waren ihr praktisch verwehrt, und so verlor sie den Rechtsstreit (vgl. ausführlich Haug, Usurpation). Auch wäre es wohl, hätten StG oder Lechter über die Verwendung der StGSchrift bestimmen können, nie dazu gekommen, dass diese Schrift für die satirische Lady Hamilton von A. R. Meyer (1923) mit den derb-erotischen Illustrationen eines George Grosz verwendet wurde – und dies in deutlich parodierender Absicht. 195 StG hatte sich schon unmittelbar nach der Begegnung in Wien mit Hofmannsthal über buchgestalterische Dinge unterhalten und Hofmannsthal am 3. Oktober 1904 erste Proben der StGSchrift zugeschickt mit der Bemerkung „meiner eignen an deren besserung ich schon lang arbeite“ (G/H, 220). Darauf antwortete Hofmannsthal am 7. Oktober: „Die Schrift erscheint mir überaus schön, durch den Zusammenhang mit Ihrer lebendigen ist sie mir aufregend und bedeutend“ (G/H, 221). Hofmannsthal sieht also sehr pointiert nur einen „Zusammenhang“ der Druckschrift mit der „lebendigen“ Handschrift, keineswegs eine Übereinstimmung.

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Japanbütten in violetter Seide – alle Varianten mit reicher dekorativer Goldprägung. Der Text und die Titel sind in Schwarz und Rot gedruckt, ein feierlicher, gebändigter Stil in dem großen Schriftgrad der StG-Schrift. Schon im Januar 1907 war das Gedenkbuch für den früh verstorbenen Maximilian Kronberger erschienen,196 in dem StG eine Verkörperung geistiger Zukunft sah.197 Dessen Tod erschütterte StG und war Anlass für das Gedenkbuch, gedruckt wieder in Schwarz und Rot im großen Grad (Cicero) der StG-Schrift. Auch hier gab es wieder einen Dissens zwischen Lechter und StG zur Gestaltung: StG wünschte die Verwendung eines Fotos von Kronberger auf dem Titel, Lechter wollte einen Holzschnitt. Diesmal setzte sich StG durch: Es ging um das Gedenken an diesen einen Menschen und nicht um ein dekoratives Konzept.198 Das Endergebnis ist eine der überzeugendsten Gestaltungen Lechters; das stark querformatige Foto, eingespannt in den dekorativen Rankenrahmen, ist sehr einprägsam – gut als Gegengewicht die typographische Titelseite in der Otto von Holten-Schrift (Bildtafel G). StG dankte Lechter für das erste Exemplar am 26.12.1906 mit den Worten: „ein würdiges und wahrhaft festliches buch“.199 Mit diesen beiden Publikationen im Jahr 1907 waren aber offenbar die Gemeinsamkeiten zwischen StG und Lechter, was Buchgestaltung betrifft, erschöpft, die intensive gegenseitige Anziehung und Begeisterung abgekühlt, allerdings mehr auf StGs Seite als auf der Lechters. Eine Rolle mag dabei gespielt haben, dass StG, der sich ja immer als ,Moderner‘ empfand, die Abwendung der Künstler und des Publikums von Historismus und Jugendstil spürte und nicht in eine veraltende ästhetische Formsprache eingebunden bleiben wollte. In diesem Zusammenhang hat es wohl mehr als nur symbolische Aussagekraft, dass im Jahr 1907 mit der Janus Presse die erste deutsche Privatpresse von Carl Ernst Poeschel und Walter Tiemann gegründet wurde. Diese Presse nahm die von CobdenSanderson, einem ursprünglichen Weggefährten von William Morris, neu konzipierte, völlig ornamentlose Typographie auf, die in Deutschland rasch viele Nachfolger fand (Abb. 14 rechts). StG hatte schon kurz nach der Gründung der Kelmscott-Press im Jahre 1891 deren Neuartigkeit erfasst und diesen Stil als vorbildlich empfunden; gut ein Jahrzehnt später spürte er nun, dass abermals ein neuer Stilwille (nicht nur in der Typographie) sich Bahn brach. Die zweimalige Stilwende in den Publikationen StGs spiegelt also weit über das Biographische der Begegnung mit Melchior Lechter hinaus jeweils eine Neuorientierung in der Buchkunst generell. Lechter blieb aber weiterhin seinem dekorativen Stil treu200 und hing zugleich in unveränderter Bewunderung an StG, war jedoch durch die entstandene Distanz sehr

196 Laut Melchior Lechter waren zu Weihnachten 1906 schon fünf Vorab-Exemplare fertiggestellt; vgl. M. Lechter an Anna Lechter v. 23.12.1906, DLA Marbach. 197 Vgl. zur Bedeutung Maximins für StG seine Vorrede zu Maximin (XVII, 61–66) sowie I, 1.9.2. u. 1.9.3. 198 Vgl. dazu Kluncker, Dichtung, S. 55. 199 Lechter/George, Briefe, S. 265. 200 Nach der Trennung begründete Lechter seine Einhorn-Presse, in der er seinen reich ornamentalen Stil und den Materialluxus noch steigerte. Der erste Band dieser Reihe war ein Text aus dem George-Kreis: Friedrich Wolters’ Herrschaft und Dienst (1909).

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enttäuscht.201 Allerdings trafen sich beide weiterhin, StG besuchte Lechters Ausstellungen und verteidigte ihn im Kreis stets gegen geäußerte Kritik. In allen Ausgaben des Teppichs blieb die Widmung an Lechter erhalten, die StG der zweiten (der ersten öffentlichen) vorangestellt hatte: Da diese allgemeine ausgabe den schmuck der ersten entbehren muss: zu den kostbaren einfassungen die bilder des über wolken thronenden engels der lebenergiessenden blumen und der harfe in der hand der lezten leidenschaft: so sei es mir vergönnt den erlauchten namen vor diese seiten zu schreiben der mit ihnen so eng verbunden ist und der sie auf immer ziere. (V, 7)

Sehr anschaulich ist diese Spannung von Anziehung und Distanz im Untertitel der Publikation von Bert Treffers zur Buchkunst Lechters formuliert: „Eine Kunst für und wider Stefan George“. 5.6.5. Nach 1907 – die letzten Werke und die Gesamtausgabe Auch nach dem Maximin blieb Lechter stets in den Drucken StGs präsent: durch das Monstranz-Signet, die Titelseiten und Einbände in der von ihm gestalteten Otto von Holten-Schrift202 (Abb. 15) sowie die von ihm mitgeprägte StG-Schrift für den Text.203 201 Vgl. Treffers, Gott, S. 75ff. 202 Diese Schrift ist bereits in fünf Schriftgraden im Schriftkatalog von 1907 enthalten – Detailvergleiche erweisen, dass noch zahlreiche Varianten von Lechter geschaffen wurden – ob für Mehrfachverwendung als klischierte Einzelbuchstaben oder als gesamte Titelzeilen, bleibt offen. 203 Eine Ausnahme davon sind z. B. die Baudelaire-Übertragungen, die immer – auch in späteren

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Die Zahl der bis zu StGs Tod noch erscheinenden neuen Werke war deutlich geringer als in den ersten 17 Jahren von 1890 bis 1907. In den letzten 25 Jahren erschienen nur noch vier Werke, ansonsten zahlreiche Neuauflagen in wachsenden Stückzahlen. Der breite Erfolg StGs fiel in die Jahre geringerer dichterischer Produktivität. Einen buchgestalterischen Sonderfall stellt die Erstausgabe der Dante-Übersetzung dar, die 1909 im Verlag der Blätter für die Kunst als klischiertes Faksimile eines George-Autographs in Rot und Blau bei Otto von Holten gedruckt wurde. Ansonsten kehren die Textseiten (nun in StG-Schrift gesetzt) zur äußersten Strenge und Schmucklosigkeit der ersten Publikationen zurück. Der erste Band in diesem Stil war 1914 die Erstausgabe von Der Stern des Bundes, gedruckt auf ein festes japanähnliches Papier. Die Strenge der Textseiten ist hier noch gesteigert durch das Fehlen von Gedichtüberschriften. Es folgten Der Krieg (1917),204 Drei Gesänge (1921) sowie – bereits als neunter Band der Gesamtausgabe ohne vorangehende Separatpublikation – Das Neue Reich (1928), alle ohne jeden Buchschmuck. Hinzu kamen die Übertragungen der Sonnette Shakespeares (1909) und von Teilen der Göttlichen Komödie (1912) in entsprechender Typographie.

Ausgaben – in Antiqua gesetzt sind. Erst in der Gesamtausgabe kommt auch Baudelaire in StGSchrift. 204 Dazu einige Exemplare in größerem Format auf Japan in hellem Umschlag mit blauem Aufdruck.

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In solcher Gestaltung erschien dann auch das letzte zu StGs Lebzeiten publizierte Werk, die von ihm selbst intensiv betreute 18-bändige Gesamtausgabe (1927–1934). Die Titelzeilen sind nochmals reduziert und weniger dekorativ,205 alle Texte nun einheitlich in StG-Schrift gesetzt. Die Ausgabe erschien kartoniert (ziegelroter Aufdruck auf chamoisfarbenem Karton206), in Leinen (nachtblau mit Goldprägung und chamoisfarbenen, dunkelblau bedruckten Schutzumschlägen) und in 90 Exemplaren auf Japan in Pergament (ebenfalls mit Goldprägung) gebunden (Bildtafel I). Die übrige Auflage wurde auf glattem japanähnlichen Bütten gedruckt, das eine wertvolle Anmutung vermittelt. Ein wichtiges Merkmal der Gesamtausgabe sind die beigefügten Faksimile-Tafeln von Handschriften StGs, gleichsam um die authentische Herleitung des Druckbildes von diesen Vorlagen zu belegen. Der Dichter StG positioniert sich betont auch als Gestalter des Schrift- und Druckbildes. Mit dem Erscheinen der Gesamtausgabe liefen die bisherigen einzelnen Ausgaben der Werke aus – jeder Band der Gesamtausgabe war auch einzeln zu beziehen.207 Die Gesamtausgabe war damit die letztgültige, quasi kanonische Verkörperung (gerade auch buchgestalterisch) der Georgeschen Werke. Zwei Themen sind abschließend noch kurz anzusprechen: die Signets und der Einsatz von Farben und Materialien bei den Veröffentlichungen StGs. Es gibt insgesamt vier Signets: das Monstranz-Signet (von 1898) für alle Publikationen im Verlag Georg Bondi, das seltener verwendete Urnensignet (von 1900) sowie das SwastikaSignet, das seit 1910 gelegentlich verwendet wurde, seit 1916 für die wissenschaftlichen Werke des Kreises. Schließlich ist noch ein viertes Signet, ebenfalls für Erscheinungen im Verlag der Blätter für die Kunst überliefert (Rosensignet) (Abb. 16 rechts).

In einem Prospekt aus den 20er-Jahren werden etwaige Missverständnisse hinsichtlich des Swastika-Symbols in aller Klarheit ausgeräumt. Als dieses uralte (indische) Zeichen im Oktober 1918 ,Hakenkreuz‘ benannt wurde und seinen heutigen Sinn bekam, konnte der Kreis der Blätter für die Kunst sein seit vielen Jahren eingeführtes Signum nicht abschaffen. 205 Hierzu hatte StG Lechter im Sommer 1927 als Berater beigezogen. In einem Brief vom 31.8.1927 legte er zwei Blätter bei, auf die er seine Vorstellungen skizziert hatte; vgl. Lechter/ George, Briefe, S. 327 (dort auch Reproduktion der zwei Seiten). 206 Landmann erwähnt auch Exemplare mit blauem Aufdruck (GPL, 128). Die Auflage der Bände schwankte zwischen 2.000 und 5.000 Exemplaren. 207 Bei einigen Bänden wurden sehr hohe Verkaufszahlen erreicht, vgl. oben Abschnitt 5.4.4.

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Wer die unter diesem Zeichen veröffentlichten Bücher auch nur flüchtig kennt, dürfte wissen, dass sie mit Politik nichts zu tun haben.208

Eine eindeutige Regel für den Einsatz des Monstranz- bzw. des Urnensignets lässt sich nicht erkennen. So wird bei den Übersetzungen etwa bei den Zeitgenössischen Dichtern das Monstranz-Signet verwendet, bei den beiden Sonderausgaben (Verwey und Rolicz-Lieder) aber das Urnensignet, das auch Mallarme´s Herodias schmückt. Die Baudelaire- sowie die Shakespeare- und Dante-Übertragungen sind wiederum mit der Monstranz versehen. Ähnliches gilt für eigene Werke StGs: Ab 1899 weisen sie meist das Monstranz-Symbol auf, die erste Auflage von Tage und Taten jedoch das Urnenmotiv. Dennoch gehören alle genannten Beispiele in den Verlag der Blätter für die Kunst.209 Für den Zeitraum von 1901 bis 1905 kann man einen relativ häufigen Einsatz des Urnensignets ausmachen (allerdings nie in Kombination mit der Otto von Holten-Schrift): StG war diesem Signet unmittelbar nach seiner Erfindung durch Lechter im Jahr 1900 offenbar besonders zugeneigt, während später nur noch das Monstranz-Signet verwendet wird. Materialien und Farben spielen bei jeder Buchgestaltung eine entscheidende Rolle. Auch hier kann man bei den Publikationen StGs analog der geschilderten Entwicklung in Typographie und Buchschmuck eine Entwicklung karg – üppig – karg, also drei Phasen, unterscheiden: die nahezu unfarbige der ersten Publikationen, danach, wesentlich beeinflusst durch Melchior Lechter, die Hinwendung zur Farbe, sowohl in handschriftlichen Fassungen StGs als auch in der reichen subtilen Farbpalette von Umschlägen und Papieren (Bildtafel H) oder der Farbvielfalt der Einbände der Verlagsausgaben. Auch der Druck von Vorzugsexemplaren auf Japanpapier (beim Jahr der Seele und dem Siebenten Ring) geht sicher auf Lechters Hang zu exklusiven Materialien zurück, ebenso das ganz ungewöhnliche Papier für den Teppich des Lebens, das Lechter gefunden hatte. Eine differenzierte, sehr exklusive Materialauswahl zeigt sich auch in den Einbandmaterialien: samtartiger Karton (Jahr der Seele), kräftig strukturiertes Leinen (Teppich des Lebens), drei Materialvarianten bei den Einbänden des Siebenten Rings (Leinen, genarbtes Leder und grobfädige Seide), alle drei in aparten Violetttönen, und schließlich der Materialluxus goldgeprägter Ganzpergamentbände für die gesamte Auflage des Maximin.210 Mit dem schlichten Weiß dieser Maximin-Einbände ist wieder eine Einfachheit erreicht, aber auf höherer Stufe als am Beginn, also ganz in Analogie zu den buchkünstlerischen Elementen des Inneren.

208 Prospektblatt des Georg Bondi Verlags, eingelegt in diversen Publikationen Anfang der 20erJahre. 209 Lothar Treuges Huldigungen, 1908 im Verlag der Blätter für die Kunst erschienen, zeigen das Urnensignet (in Rot), sind aber nicht in der StG-Schrift, sondern der Akzidenz Grotesk in Kleinschreibung gedruckt (Abb. 13). Der dekorative Doppeltitel von Lechter lässt auf eine weitere, hier indirekte Zusammenarbeit mit StG schließen, dem ,Verleger‘ des Verlags der Blätter für die Kunst. 210 Nur ein Exemplar dieses Buches (heute im StGA) ließ Lechter in leuchtend türkises Maroquin binden: Es war das unikale Pergamentexemplar, das er für sich selbst (nicht etwa StG!) in einer Variante mit Gold- und Purpurdruck hatte herstellen lassen. Bezeichnenderweise trieb Melchior Lechter den Materialluxus bei Büchern nach der Trennung von StG in den Drucken seiner Einhorn Presse ab 1909 noch weiter – bis hin zu vergoldeten Metalleinbänden mit farbigem Cloisonne´-Email und Amethyst-Cabochons.

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In jeder der Phasen der buchkünstlerischen Gestaltung seiner Erstausgaben wie auch der später folgenden Auflagen traf StG so tief greifend wie kein anderer Dichter vor und nach ihm Entscheidungen hinsichtlich von Typographie und Buchschmuck. Man darf der Tatsache wohl hohen Symbolwert zumessen, dass aus der Vorbereitungszeit des ersten und des letzten Werks je eine zarte Bleistiftskizze von seiner Hand überliefert ist: die Erinnerungsskizze von Paul Verlaines Paralle`lement für die Hymnen (Abb. 7 rechts) und die dem Brief an Lechter beigefügte Skizze für die Titelei der Gesamt-Ausgabe (Abb. 17).

Die große Vielfalt an unterschiedlichen Ausgaben und Gestaltungskonzepten, die im Verlauf von über 40 Jahren unter StGs Regie und strenger Aufsicht erschienen, lässt eine direkte interpretierende Zuordnung von Dichtwerk und dessen typographisch-buchgestalterischer Darbietung kaum zu. Die sehr große Spannweite zwischen reicher Üppigkeit und strengster Reduktion findet ihre Entsprechung in StGs Dichtungen, aber nicht als Phasengleichheit oder Phasenabfolge, sondern als Ausdruck zweier widerstreitender Prinzipien, die von Anfang bis Ende sein Werk bestimmen, wie etwa im Schlussgedicht der Pilgerfahrten „Die Spange“ ausgedrückt: Er wünscht sie sich aus „kühlem eisen“, doch wird es „eine grosse fremde dolde / Geformt aus feuerrotem golde / Und reichem blitzendem gestein“ (II, 54). Dichtung ist bei StG in allen Phasen und Varianten – ob streng wie Eisen oder goldschimmernd – nicht nur Text, sondern (wie für Lechter) ein Gesamtkunstwerk, bei dem Inhalt und Erscheinung, das heißt Wort und Buchgestalt („das doch nicht äusserliche“), ein unverwechselbares Ganzes, „ein dichtwerk als gebilde“, sein sollen, wie es StG 1899 in der Vorrede zur zweiten Auflage von Hymnen Pilgerfahrten Al-

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gabal formuliert hat. An dieser Stelle bezieht sich StG auf das Wortkunstwerk als Gebilde; aber es ist eben kennzeichnend für seine intensive Beschäftigung mit dem Bildkunstwerk der gedruckten Seite, dass er lebenslang auch dessen Gestaltung bestimmend mitbedachte.

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5. Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung

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Lechter, Melchior / George, Stefan, Briefe, kritische Ausg., hrsg. v. Günter Heintz, Stuttgart 1991. Lucius, Wulf D. v., Buchgestaltung und Buchkunst, in: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2, Teilbd. 1, S. 315–340. Martus, Steffen, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007. Melchior Lechter, der Meister des Buches: 1865–1937. Eine Kunst für und wider Stefan George, 2. Aufl., Amsterdam 1987 (CP 179/180). Mendelssohn, Peter de, S. Fischer und sein Verlag, Frankfurt/M. 1970. Neumann, Peter, Buchgestaltung, in: Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1, Teilbd. 1, S. 182–196. Oelmann, Ute, Vom handgeschriebenen Buch zur Erstausgabe. Schrift- und Buchkunst Stefan Georges, in: CP 56/2007, 276/277, S. 63–76. Pawlowsky, Peter, Helmut Küpper vormals Georg Bondi 1895–1970, Düsseldorf, München 1970. Raub, Wolfhard, Melchior Lechter als Buchkünstler. Darstellung, Werkverzeichnis, Bibliographie, Köln 1969. Reuß, Roland, Industrielle Manufaktur. Zur Entstehung der ,Stefan-George-Schrift‘, in: Stardust. Post für die Werkstatt, hrsg. v. Doris Kern u. Michel Leiner, Frankfurt/M., Basel 2003, S. 166–191. Riegger-Baurmann, Roswitha, Schrift im Jugendstil in Deutschland, in: Jugendstil, hrsg. v. Jost Hermand, Darmstadt 1971, S. 209–257. Rilke, Rainer Maria, Briefwechsel mit Anton Kippenberg 1906 bis 1926, 2 Bde., hrsg. v. Ingeborg Schnack u. Renate Scharffenberg, Frankfurt/M. 1995. Roos, Martin, Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, Düsseldorf 2000. Sarkowski, Heinz, Der Insel-Verlag 1899–1999. Die Geschichte des Verlags 1899–1964, Frankfurt/M. 1999. Scheideler, Britta, Zwischen Beruf und Berufung. Zur Sozialgeschichte der deutschen Schriftsteller von 1880 bis 1933, in: Archiv für Geschichte des Buchhandels 46/1997, S. 1–337. Schmidt, Rudolf, Deutsche Buchhändler. Deutsche Buchdrucker. Beiträge zu einer Firmengeschichte des deutschen Buchgewerbes, 6 Bde. in 1 Bd., Hildesheim, New York 1979 (Reprint der Ausg. v. 1902). Schneider, Ute, Buchkäufer und Leserschaft, in: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2, Teilbd. 1, S. 149–196. Schütze, Sebastian, Ein Gotiker im George-Kreis. Melchior Lechter und die Erneuerung der Kunst aus dem Geist des Mittelalters, in: Barbara Schlieben/Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004, S. 147–182. Stefan George, München 2005 (Text und Kritik 168). Stottmeister, Jan, Pythagoreische Elemente in Stefan Georges Maximin-Kult, in: GJb 6/2006/2007, S. 122–149. Treffers, Bert, Melchior Lechters Buchkunst. Eine Einführung, in: Melchior Lechter, S. 5–19. Ders., „Gott und die Träume“: eine Kunst für und wider Stefan George, in: Melchior Lechter, S. 61–78. Welle, Dagmar, Deutsche Schriftgießereien und die künstlerischen Schriften zwischen 1900 und 1930, Regensburg 1997. Wittmann, Reinhard, Hundert Jahre Buchkultur in München, München 1993. Christine Haug mit Wulf D. v. Lucius

II. Systematische Aspekte

1.

Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

1.1.

Einführung, Forschungssituation, Forschungsfragen

StG ist ein Dichter der ästhetischen Moderne. Wann man diese ästhetische Moderne beginnen lassen will, ist heftig umstritten. Dies wird wohl auch so bleiben. Vieles spricht aber dafür, in den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nicht nur die ,Sattelzeit‘ der geschichtlichen Moderne zu sehen (R. Koselleck), sondern ebenso die ,Sattelzeit‘ der ästhetischen Moderne. In diesen Jahrzehnten bildet sich nämlich das Konzept der Autonomie, der Selbstbezüglichkeit und der Sakralisierung der Kunst heraus, das weitreichende Konsequenzen hat. Es ermöglicht ein symbolisches Kunstverständnis, dessen Sinn-Zentrum die Kunst selbst ist.1 In der Frühromantik kann man eine erste Avantgarde-Bewegung sehen, die sich auch selbst entschieden als modern verstanden hat. Allgemein kennzeichnet es die ästhetischen Avantgarden seit der Romantik, forcierte Manifeste und Programme zu formulieren. Intensive poetologische Selbstreflexivität, die ein ganzes Werk bis ins Innerste hinein prägen kann, gehört zur ästhetischen Moderne. StG macht darin keine Ausnahme.2 Priorität hat für ihn dennoch immer das poetische Werk selbst, nicht die Programmatik. „[W]ir loben euch“, so wenden sich die BfdK mit nicht zu überhörender Ironie an ,einige dichter‘, „dass ihr uns wenig von euren schönen ansichten und viel von euren schönen liedern gegeben habt. denn eure schönen ansichten werden sich ändern eure schönen lieder aber werden bleiben.“3 In der Poetik StGs sind aber auch zugleich eine eigene Rhetorik („ansichten“) und eine hermeneutische Praxis angelegt. Deshalb ist es sinnvoll, Poetik, Rhetorik und Hermeneutik in einem Zusammenhang zu diskutieren. Das ist der Leitfaden für den folgenden Versuch eines Überblicks. Wegen möglicher Missverständnisse sei aber sogleich festgehalten: Rhetorik und Hermeneutik werden bei StG nicht systematisch konzipiert. Skizziert werden soll darum hier nur, wie sie sich aus der Poetik mit einer gewissen Konsequenz ergeben. Unter ,Poetik‘ soll das grundlegende Konzept der Dichtkunst verstanden werden, ihre implizit erkennbare, aber auch explizit vorgetragene Produktionslogik und Reflexion; unter ,Rhetorik‘ ihre grundlegende Gerichtetheit, welche die poetische Form bestimmt, ihren Bezug auf einen (fiktiven oder empirischen) Adressaten, der zwar nicht unbedingt von etwas überzeugt (,persuasio‘), dem aber doch etwas verdeutlicht 1 Vgl. Wolfgang Braungart, „Alle Kunst ist symbolisch“ – Und alle Religion auch. Kunstreligiöse Anmerkungen mit Blick auf Kafka und Wackenroder, in: Sprache und Literatur 40/2009, 103, S. 13–45. 2 Das Folgende basiert auf meinen eigenen Publikationen über StG, vgl. bes. Braungart 1997; ders., Georges performative Poetik; ders., Georges Poetik der Entschiedenheit. 3 BfdK 3/1896, 2, S. 35.

1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

497

war. Auch StG weiß das ganz genau, und er forciert es. Rhetorische Poesie ist An- und Hinsprache. Sie will immer, wie jede rhetorisch gerichtete Äußerung, beim Adressaten etwas bewirken: aufmerksam machen auf etwas, überzeugen, kritisieren, schmähen und verwerfen – also: Einstellungen verändern. Mit der Verschränkung von Poetik und Rhetorik ist insofern ebenso die Verschränkung von poetischem und sozialem ,Werk‘ angesprochen, von Poesie und Ethos, die für StG und für seine Rezeption größte Bedeutung hat. Darum kann die Frage, die inzwischen auch die öffentlichen Debatten erreicht hat, nach dem Verhältnis StGs und des Kreises zum Nationalsozialismus, zum Antisemitismus und zur Knaben- und Jünglingsliebe eben keine Marginalie und der Dichtkunst keineswegs äußerlich sein, weil sie durch das Konzept des Werks selbst herausgefordert wird. StG muss sich am rigorosen Ethos seines eigenen Werks messen lassen, vor allem an dem des späteren. Nur wenige detaillierte Untersuchungen zu einzelnen Kategorien der Poetik liegen bislang vor. Hervorheben muss man die Studie Renate Birkenhauers, die 1983 die Reimpoetik StGs untersucht und dabei auch ein Reimwörterbuch erarbeitet hat,11 das Auskunft darüber gibt, welche ,Reim-Spiele‘ StG selbst ,wiederholt‘ hat.12 Von der Forschung ist es erstaunlicherweise bisher nicht intensiver genutzt worden. Ich selbst habe 1997 den bei StG offensichtlichen und durchgängigen Bezug auf ,das Kultische‘, den 1960 Hansjürgen Linke schon detailliert dargestellt hat,13 in seiner poetischen Relevanz und poetologischen Reichweite zu zeigen versucht. Dabei habe ich die These entwickelt, die bereits im Kreis selbst und später etwa von HansGeorg Gadamer vertreten wurde,14 dass StG stark von der rituellen Ästhetik des Katholizismus angeregt worden sei. Das war gewiss überspitzt. Ich behauptete damit aber nicht, StG sei im engeren Sinne ein religiöser Dichter; schon gar nicht ist er das in konfessioneller und institutioneller Hinsicht. StG ist kein katholischer Dichter. Poetik und Ästhetik des Rituals, um die es mir allein geht, sind jedoch, wie die verschiedenen Rezeptionswege zeigen, in beide Richtungen offen: in die einer zunehmenden religiösen Orientierung, eines zunehmenden religiösen Anspruchs StGs bzw. einer solchen Inanspruchnahme, und in die zur ästhetischen Moderne. StG realisiert eine Poetik des Rituals, die auch das Soziale integrieren, sich in das Soziale hineinverstricken will, und es als Teil des Werks begreifen kann, weil sie eine bestimmte Rezeptionshaltung fordert. Man muss meines Erachtens versuchen, das Problem des Religiösen und Kultischen bei StG mit seiner poetischen und ästhetischen Konzeption zu verbinden, und dabei auch zeigen, wie ästhetisches und soziales Ritual miteinander zusammenhängen. Der eucharistische Ritus, der für StG besonders wichtig ist als Modell poetischer Selbstauslegung und als Modell sozialer Gemeinschaft, belegt diesen Zusammenhang. Die Bedeutung, die StG der Form beimisst, darf dabei nicht als Formalismus verkannt werden. Der Kult der Schönheit, der in den ersten Jahrgängen der BfdK

Georges poetische Kulturkritik in den ,Zeitgedichten‘ des ,Siebenten Rings‘, in: GJb 6/2006/2007, S. 31–54; ders., Stefan Georges Erinnerungsorte in den ,Tafeln‘ des ,Siebenten Ring‘, in: Ders./ Wolfgang Braungart/Kai Kauffmann (Hrsg.), „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900, Frankfurt/M., New York 2007, S. 166–187. 11 Vgl. Birkenhauer, Reimpoetik. 12 Vgl. BfdK 2/1894, 2, S. 35. 13 Vgl. Linke, Das Kultische. 14 Vgl. Gadamer, Der Dichter Stefan George.

498

II. Systematische Aspekte

betrieben wird, zielt auf „das höhere Leben“, in dem sich die spätere Formel vom ,schönen Leben‘ bereits ankündigt.15 Oft schon hat man beobachtet, dass die ästhetische Anmutung des Gemachten, Künstlichen, Inszenierten, Kontrollierten, Beherrschten das Werk StGs von seinem Beginn an kennzeichnet. Steffen Martus hat dies 2007 als Ausdruck einer umfassenden, nichts dem Zufall überlassenden ,Werkpolitik‘ rekonstruiert und erstmals in einen großen, bis in die frühe Neuzeit zurückführenden literaturgeschichtlichen Zusammenhang eingeordnet.16 Vor ihm haben – neben anderen – schon Martin Roos17 und Ernst Osterkamp18 den umfassenden Inszenierungscharakter von Leben, Werk und Kreis nachgewiesen und damit den Anspruch StGs, eine Gesamtgestalt zu formen. Gadamer nennt das den „Einformungsanspruch, der von George ausging“ und der eben auch die soziale ,Einformung‘ einschloss; eine sehr treffende Formulierung.19 Auch Erziehen heißt für StG Formen. Seinen Prinzipien von Form und Gestalt ist das Pädagogische, das Soziale immanent. Die implizite Poetik des Gesamt-Werks ,George‘, die das im engeren Sinne Poetische und das Rhetorische, das Pädagogische und das Soziale umfasst, lässt sich als eine performative Poetik beschreiben. Viele Aspekte und Kategorien einer ,Ästhetik des Performativen‘20 lassen sich bei StG und seinem Kreis ausbuchstabieren. Der konsequent durchgehaltene Aufführungscharakter von Leben und Werk ist unverkennbar. Nie erlaubt diese Poetik naive Versenkung, nie die Erfahrung differenzloser Authentizität. Sie wäre eine Illusion. StG äußert sich sowohl implizit, in den Gedichten selbst, als auch explizit zur Poetik des literarischen Werks: in Gesprächen und Briefen, in den Vorreden und Vorbemerkungen zu den einzelnen Gedichtbänden und besonders in den BfdK. Gerade diese explizit poetologischen Äußerungen in den BfdK dürfen sogar dann StGs Poetik zugerechnet werden, wenn sie nicht selbst von ihm verfasst wurden. Denn die BfdK wurden von StG ausdrücklich mit dem Anspruch begründet, sein tief greifendes poetisches Reformprojekt ins Werk zu setzen. Die BfdK reflektieren und integrieren Problemstellungen, die aus der Grundlegung der modernen Ästhetik im späten 18. Jahrhundert und aus dem europäischen Symbolismus kommen, besonders aus Frankreich. StG formt ein Konzept von Poesie, das seine eigene Handschrift trägt und dabei konsequent auf die Misere eingeht, die gerade für die deutsche Lyrik um 1890 nicht mehr zu übersehen ist. Das werde ich später ein wenig illustrieren. Schon in der ersten Folge der BfdK wird gefordert, diese Poesie, wie sie in den BfdK zum Abdruck kommt, immer auch poetologisch zu lesen: „Wir halten es für einen vorteil dass wir nicht mit lehrsätzen beginnen sondern mit werken die unser wollen behellen und an denen man später die regeln ableite.“21 Explizite ,Lehrsätze‘ und ,Regeln‘ der Dichtkunst soll es also später durchaus einmal geben; implizit liegen sie aber den literarischen Texten der BfdK jetzt schon zugrunde. Der zitierte Satz scheint den Prozess der poetisch-sozialen Identitäts- und Strukturbildung von Werk und Kreis vorwegzunehmen. 15 Ge´rardy, Geistige Kunst, S. 113. 16 Vgl. Martus, Werkpolitik; zu StG Kap. 6. 17 Vgl. Roos, Georges Rhetorik. 18 Vgl. Osterkamp 2002. 19 Gadamer, Der Dichter Stefan George, S. 20. 20 Zu dieser Konzeption des Ästhetischen vgl. grundlegend: Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004. 21 BfdK 1/1892, 1, S. 1.

1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

499

StGs Gedichte sind immer hochgradig selbstbezüglich und selbstreflexiv, was nicht dasselbe ist. Die Autonomie der Dichtkunst, der er sich unbedingt und immer verpflichtet fühlt, bedeutet nicht die Inanspruchnahme des Rechts auf völlige Freiheit des poetischen Subjekts, bedeutet schon gar nicht eine genialische, womöglich bis zur poetischen Willkür führende Attitüde – kaum etwas hätte StG mehr gehasst. Sie bedeutet vielmehr strengstes Kunst- und Formbewusstsein und verschärft nur den Anspruch an den Dichter, seines Amtes mit höchster Verantwortung gegenüber der Kunst zu walten. Das Subjekt in seiner partikulären Individualität und in seinem Drang zur individuellen Selbstaussprache interessiert StG nicht, auch nicht das AutorSubjekt in seiner Subjektivität. Etwas anderes ist aber das große Individuum, etwas anderes sind die ,Dichter und Helden‘.22 In diesem Sinn ist das Werk nicht subjektiv und expressiv, selbst dann nicht, wenn die Töne weicher und zugänglicher werden. Das kann schon in einigen frühen Gedichten der Fall sein (etwa „Mühle lass die arme still“; II, 34). Dass dieses bewusst Gemachte, Künstliche, sich gar nicht Einschmeichelnde und Anschmiegende durch das gesamte Werk so überdeutlich wahrnehmbar ist, macht vielleicht die größte Irritation aus, die es bis heute hervorruft. In der Lobrede auf Verlaine zitiert StG ein Gedicht des Franzosen, in dem Formeln des Mündlichen vorkommen, die bei StG selbst ganz selten sind, weil es nie Verwechslungen mit der alltäglichen Sprache geben darf. Bei Verlaine heißt es, in StGs Übertragung: „Wir müssen – siehst du – uns versöhnlich einen“. Und der letzte Vers aus derselben Strophe: „Sind wir doch immer – nicht wahr? zwei die weinen“ (XVII, 50; Herv. d. Verf.). Wenn man solche Verse im Ohr hat, spürt man, wie weit sich StG selbst zum Beispiel in „Im windes-weben“ aus seiner Poetik der Künstlichkeit hinauswagt. Etwa mit Versen wie den folgenden, von denen sich Adorno besonders fasziniert gezeigt hat: „Nun muss ich gar / Um dein aug und haar / Alle tage / In sehnen leben“ (VI/VII, 137; Herv. d. Verf.). Das so überdeutlich Inszenatorische dieses Werks betont das Anderssein, den Rang, ja auch die Würde der Poesie, nicht aber genieästhetisch den Dichter. Das schließt dessen Stilisierung zum großen Einsamen, der seines Amtes zu walten hat, jedoch nicht aus: „Er hat den griffel der sich sträubt zu führen“ („Im Park“; II, 11). Die Lieder Eichendorffs etwa, ihrerseits vertrackt genug in ihrer Einfachheit, sind eben etwas wirklich anderes als Verse wie diese: Die jugend (So bedäucht es dich) Heischet ein heisses band · (II, 37)

Selbst in einem Gedicht aus der Zeit um 1900 klingt das gespreizt. Aber beim jungen Rilke und selbst bei Hofmannsthal finden sich ebenfalls genug Verse, die sich für das heutige Ohr geschmäcklerisch anhören. Die „Ballade des äußeren Lebens“ von Hofmannsthal ist durchaus sentimentaler Jugendstil, am deutlichsten in ihren Schlussversen („Und dennoch sagt der viel, der ,Abend‘ sagt, / Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt // Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben“).23 StGs Gedichte stellen 22 Vgl. Friedrich Gundolf, Dichter und Helden, Heidelberg 1921. 23 Hugo von Hofmannsthal, Ballade des äußeren Lebens, in: Ders., Gedichte. Dramen I 1891–1898, hrsg. v. Bernd Schoeller, Frankfurt/M. 1979 (Gesammelte Werke 1), S. 23.

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II. Systematische Aspekte

sich, man sieht es hier schon, in ihrem Anderssein als die ,normale Sprache‘ förmlich aus. Sie fordern nicht nur Exklusivität für sich, sondern wollen auch in eine neue, exklusive Welt der Kunst und des Sozialen führen. Die Widmung an Melchior Lechter im Teppich des Lebens (1899/1900) schließt mit der Huldigung: „so sei es mir vergönnt den erlauchten namen vor diese seiten zu schreiben der mit ihnen so eng verbunden ist und der sie auf immer ziere“ (V, 7). Eine Sprache, die ähnlich geschraubt daherkommt wie Lechters neugotisches Kunstgewerblertum. Dabei hat StG seine Position im literarischen Feld schon gefunden; er muss sie nicht mehr erkämpfen. Er will das aber unbedingt so: diese unübersehbare Markierung der Kunst als Kunst, welche die Grenze zu dem, was nicht Kunst ist, immer neu bekräftigt. Derartige Beispiele aus dem Werk StGs sind keine Ausnahmen. Archaismen, kostbare und auffallende, sich unterscheidende, ja affektierte Wörter und Wendungen, die irritierende Kleinschreibung, die zu Mehrdeutigkeiten führt („feiern fest“; VI/VII, 51), die Stilisierung der Schrift,24 die ausgestellte Bewusstheit und Feierlichkeit der Gesamtinszenierung: All dies prägt StGs Werk von den frühen Gedichten bis zum Spätwerk. Die ,Schönheit‘, der sich die BfdK programmatisch verpflichten, ist nichts als „die schönheit die schönheit die schönheit“ der Kunst.25 Sie hat nichts mit einem populären Verständnis ,natürlicher‘ Schönheit zu tun, sie ist allein eine Schönheit der Kunst. Dieser Poetik der Unterscheidung bleibt StG treu durch das gesamte Werk. Zwei Beispiele; zuerst „Hexenreihen“: Euch stach man nie den star · Ihr wandelt blöd und dumpf. Wir feiern fest am sumpf Am wasen der kafiller . . Im giftigen fosforschiller Sehn wir das wesen klar. (VI/VII, 51)

„[K]afiller“, sagt der Kommentar zu den Sämtlichen Werken, sei der „Abdecker, der Wasenmeister“.26 Den auf „fosforschiller“ (Herv. d. Verf.) zu reimen, ist sicher risikoreich (tatsächlich ist die Bildwelt des Gedichts nicht so inhomogen). Oder die Schlussstrophe des Ernest Dowson gewidmeten Gedichts „Juli-Schwermut“: Nichts was mir je war raubt die vergänglichkeit. Schmachtend wie damals lieg ich in schmachtender flur Aus mattem munde murmelt es: wie bin ich Der blumen müd · der schönen blumen müd! (V, 67)

Wie aus einem Lehrbuch für Jahrhundertwendelyrik. Die poetologische Anspielung („blumen“) ist längst im Werk StGs eingeführt, wie im literarischen Diskurs überhaupt. Die Strophe ist poetisch überinstrumentiert; sie will den Leser mit Macht in ihre Schwermut und Trauer hineinziehen. Benn, der StG viel verdankt, beherrscht diese poetische Strategie ähnlich geschickt.

24 Vgl. II, 5.3.2. 25 Ge´rardy, Geistige Kunst, S. 113. 26 Ute Oelmann, Kommentar, in: SW VI/VII, S. 210.

1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

501

Mit einer tautologischen Formel: Diese Kunst ist radikal künstlich. Nichts an ihr soll ,natürlich‘ klingen, nichts so, als ergäbe es sich von selbst. Das gilt sogar für die Gedichtgruppe, die StG etwas irreführend als ,Lieder‘ bezeichnet. Nie sind es wirklich welche, sofern man Einfachheit, simulierte Mündlichkeit und Singbarkeit als poetologische Kernkriterien des Liedes anlegt. Autorschaft heißt bei StG immer: Zurücktreten des empirischen Autors mit seinen individuellen Ausdrucksbedürfnissen hinter seine Aufgabe. Sie muss darum zu allererst bestimmt werden. In diesem Sinne kann man hier vielleicht sogar einmal mit einem gewissen Recht vom Verschwinden des Autors reden.27 Damit hat sich gerade die Literatur zu StG, die im Gestus der Verehrung verharrt, von jeher schwergetan. Robert Boehringers Mein Bild von Stefan George ist, wie in der Gegenwart Thomas Karlaufs Biographie, an der charismatischen Person interessiert; Ernst Morwitz’ Werk-Kommentar sucht mit geradezu methodischer Konsequenz die Rückbindung des Werks an die Biographie, an das, was StG vermeintlich erlebt, gedacht und gesagt habe. So mildert ausgerechnet die Literatur, die aus dem engsten Kreis um StG kommt (Boehringer, Morwitz), die eigentlichen Herausforderungen dieses Werks und unterschätzt es damit fundamental.28 Drei Fragenkomplexe haben die George-Forschung und die essayistische und literaturkritische Auseinandersetzung mit seinem Leben und Werk von Anfang an beschäftigt: a) Wie lässt sich StGs poetologische Position im literatur- und poetikgeschichtlichen Zusammenhang beschreiben? Kann man eine Einheit des Werks aus seiner inneren Intentionalität heraus rekonstruieren? Warum ist das hier überhaupt eine relevante Frage, die sich nicht nur einem – womöglich latent klassizistischen – Wunsch der Interpreten nach Ganzheit und Geschlossenheit eines Werks verdankt? (Poetik) b) Oder gibt es zwischen dem Werk vor der Jahrhundertwende, das sich vor allem von seinem Beginn im Zeichen des L’art pour l’art her verstehen lässt, und dem Werk nach der Jahrhundertwende, wenn es mehr und mehr rhetorisch und pädagogisch wird, einen Bruch? In welchem Verhältnis stehen Leben und Werk bei diesem Dichter, der selber das eigene Leben in seinen sozialen Kreisen und seinen vielfältigen und differenzierten sozialen Bindungen als ,sein Werk‘ begriffen hat, das nicht nur entsteht, sondern das er selbst mit größter Konsequenz gestaltet? Welcher ,Wirkungswille‘ realisiert sich in diesem Werk,29 welche Autor-Rolle ist nach seiner eigenen poetischen Logik impliziert und auf sein Publikum hin ausgerichtet? (Rhetorik) c) Welche Konsequenzen soll es haben? Welche Haltung, welche Einstellung gegenüber dem Werk ist gefordert; welche Zugänge erwartet es? Welches Verstehen strebt es an? (Hermeneutik)

27 Vgl. Marx, Heilige Autorschaft? 28 Ich benutze ganz bewusst dieses Attribut, das Stefan Breuer in die Forschung eingeführt hat, um die Radikalität von StGs Ansatz zu charakterisieren. Vgl. Breuer 1995. 29 Vgl. Würffel, Wirkungswille und Prophetie.

502

1.2.

II. Systematische Aspekte

Poetik

1.2.1. Poe´sie pure StG ist ein Autor des europäischen Symbolismus. Das gilt in jedem Fall für die erste Werkphase bis etwa zum Teppich des Lebens. Sein Projekt ist von einem entschiedenen „Willen zur Kunst“ geprägt,30 zu einer neuen „geistige[n] kunst auf grund der neuen fühlweise und mache – eine kunst für die kunst“, wie es gleich zu Beginn der ersten Folge der BfdK heißt.31 Was aber könnte ,geistige Kunst‘ meinen? Gibt es auch eine ,körperliche Kunst‘? Könnte das später der Maximin-, der Jünglings- und Schönheitskult sein? Eros und Schönheit gehören in der griechisch-platonischen Tradition, die für StG und den Kreis bekanntlich so wichtig war, aufs Engste zusammen. Hier, am Beginn des Werks, hat StG jedoch noch etwas anderes im Blick: „[S]ie kann sich“, so die BfdK weiter, „auch nicht beschäftigen mit weltverbesserungen und allbeglückungsträumen“.32 Sie soll nicht auf die empirische, geschichtliche und gesellschaftliche Wirklichkeit, auf das ,Materielle‘ ausgehen. Man spürt sofort den fundamental kritischen Impuls.33 Das ,Geistige‘ wird, erinnert sei nur an Kandinskys Schrift Über das Geistige in der Kunst von 1912, eine durchaus verschieden besetzbare Formel des Kunstdiskurses bleiben, die dem Kunstwerk einerseits Spielraum verschafft und es andererseits ungeheuer aufwertet. Denn in der ,geistigen Kunst‘ findet etwas Ausdruck, was sonst nicht erfahrbar wäre. Insofern lässt sich die ästhetische Praxis grundsätzlich als eine Art von religiöser Praxis begreifen. Darum kann aber auch die konkrete Repräsentation dieses ,Geistigen‘ in einer besonderen Buchkunst und Buchkultur nicht nebensächlich sein.34 Das kostbare Buch bildet seit der Zusammenarbeit mit Melchior Lechter den ,Schrein‘35 für das Geheimnis der ,geistigen Kunst‘. In den Anfängen StGs soll eine besonders schlichte Form gewährleisten, dass nichts vom Geistigen ablenkt. Damit sich in dieser neuen ,geistigen Kunst‘ eine eigene Wahrheit offenbaren kann, muss sie sich selbstzweckhaft, ohne praktischen Nutzen anzustreben, und in einer ganz „neuen fühlweise und mache“ realisieren. Es geht nicht darum, dass sich ein subjektiver Ausdruckswille verwirklicht, sondern dass sich der Autor auf das ,Technische‘, die neue ,Machart‘ konzentriert.36 In der Poetik der Moderne wird dies immer wieder ähnlich formuliert: ,Gedichte werden gemacht‘ (Benn). StG steht in der Linie, die man mit Hölderlins Vorstellung einer ,poetischen Logik‘, eines ,poetischen Kalküls‘ beginnen lassen kann37 und in der Edgar Allan Poe im 19. Jahrhundert einen 30 Gadamer, Der Dichter Stefan George, S. 22. 31 BfdK 1/1892, 1, S. 1. 32 Ebd.; vgl. auch Ge´rardy, Geistige Kunst. 33 Vgl. Breuer 1995. 34 Vgl. bes. I, 5.6. 35 Vgl. Ute Oelmann, Vom handgeschriebenen Buch zur Erstausgabe. Schrift- und Buchkunst Stefan Georges, in: CP 56/2007, 276/277, S. 63–77. Außerdem GJb 9/2012/2013; Stephan Kurz, Der Teppich der Schrift. Typografie bei Stefan George, Frankfurt/M., Basel 2007. 36 Ich entlehne den Begriff von Gerhard Kurz, Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit, Göttingen 1999. 37 Vgl. ders., Poetische Logik. Zu Hölderlins ,Anmerkungen‘ zu ,Oedipus‘ und ,Antigonae‘, in: Christoph Jamme/Otto Pöggeler (Hrsg.), Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804–1806), Bonn 1988, S. 83–101.

1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

503

zentralen Platz einnimmt. Die beiden Paradigmen – Poesie als Geheimnis und Poesie als gleichsam mathematische Struktur und als Technik – schließen einander keineswegs aus. Auch das religiöse Ritual muss mit größter Sorgfalt ,gemacht‘ werden. In der zweiten Folge der BfdK heißt es noch deutlicher: „In der dichtung – wie in aller kunst-bethätigung ist jeder der noch von der sucht ergriffen ist etwas ,sagen‘ etwas ,wirken‘ zu wollen nicht einmal wert in den vorhof der kunst einzutreten.“38 Und auch: „Gedicht ist nicht wiedergabe eines gedankens sondern einer stimmung. zum ersteren genügt das gewöhnliche wort zum zweiten bedürfen wir noch auswahl“.39 Dichtkunst unterscheidet sich grundsätzlich vom „gewöhnlichen wort“; sie ist präziseste und strengste Arbeit an der Sprache. „stimmung“ ist hier nicht das subjektive Gefühl, sondern das Nicht-Begriffliche und darum nicht völlig Deutbare. Die Abwehr des Wirken-Wollens richtet sich gegen jede Legitimation der Kunst, die nicht aus der Kunst selbst kommt, besonders gegen naturalistische Sozialkritik. Wirken will StG jedoch schon: In der Entwicklung des Werks wird das immer deutlicher. Diese neue „mache“ des Gedichts wird noch näher bestimmt: Das Gedicht schaffe durch „auswahl klang maass und reim“ eine Prägnanz, ein „gebilde“,40 eine sprachliche Gestalt, die nicht in einen anderen Diskurs übersetzbar ist und selbst auch nicht aus einem anderen Diskurs übersetzt. „gebilde“ ist das letzte, abschließende Wort des poetologischen Gedichts „Der Teppich“ (V, 36).41 Kunst muss deshalb immer sein: ,Kunst für die Kunst‘, ,reine Poesie‘. StGs Poetik steht in der Tradition dieser Vorstellung einer ,poe´sie pure‘.42 Dennoch kann auch Sprache nie nur Material für Poesie sein. Das poetische Kunstwerk gehört als sprachliches „gebilde“ immer auch einer sprachlich-kulturellen Ordnung an, die sich der Verfügungsgewalt des Dichters entzieht. Sprache partizipiert immer und unvermeidlich an kultureller Semantik und damit kulturellem Wissen. Jede sprachliche Äußerung bedeutet immer etwas; also spricht auch das Gedicht immer von etwas. Diesem Dilemma kann auch StG nicht entkommen. Eine ,poe´sie pure‘, die sich radikal versteht, müsste sich letztlich selbst aus der Sprachgemeinschaft hinaus- und ins Verstummen hineinmanövrieren. Selbst Mallarme´s „Coup de de´s“ („Würfelwurf“), Paradigma reiner poetischer Sprachkunst der literarischen Moderne, kann nicht asemantisch mit dem Sprachmaterial operieren, sondern schlägt semantische Akkorde an, die nicht ohne Sinn und Bedeutung sind, auch wenn sie die syntaktischen Strukturen völlig aufbrechen und sich zu einer ,zweiten Musik‘ erklären.43 So weit wie der verehrte französische Meister, den StG schon 1889 in Paris aufsuchte, geht StG in der Formauflösung nie. Noch nicht einmal seine frühen Versuche in einer seltsamen, von ihm erfundenen und an das Lateinische und Spanische deutlich erinnernden Kunstsprache sind einfach unverständlich. Mit den frühen programmatischen Äußerungen StGs deutet sich schon dieses sprachtheoretische Problem an, das grundlegend ist und letztlich erst in der Maximin-Konzeption gelöst wird: durch ein mythisches Zentrum der Poesie, das sie aber eben selbst 38 BfdK 2/1894, 4, S. 122. 39 BfdK 2/1894, 2, S. 34. 40 BfdK 4/1897, 1/2, S. 3. 41 Vgl. auch I, 2.5.3.3.; Martus, Werkpolitik, S. 624ff. 42 Jürgen Brokoff hat jüngst StGs Konzeption detailliert dargestellt und in die ,Geschichte der reinen Poesie‘ eingeordnet; vgl. Jürgen Brokoff, Reine Poesie, Kap. IX. 43 Zu diesem Topos der ,zwei Musiken‘ vgl. Wolfgang Osthoff, Stefan George und „Les Deux Musiques“. Tönende und vertonte Dichtung im Einklang und Widerstreit, Stuttgart 1989.

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II. Systematische Aspekte

hervorbringt. So widerspricht sich diese ,poe´sie pure‘ in Maximin keineswegs selbst.44 Das poetische Kunstwerk muss, um ,rein‘ zu bleiben, geschützt und kontrolliert werden. Der Zugang zu ihm und der Umgang mit ihm sind so zu regeln, dass das Geistige, das in ihm seinen Ausdruck finden soll, nicht missbraucht und beschädigt wird. Es ist „kein schatz der gilde“. Die poetische „lösung“ „wird den vielen nie und nie durch rede / Sie wird den seltnen selten im gebilde“ („Der Teppich“; V, 36; Herv. d. Verf.).45 StGs Verhältnis zum Kunstwerk ist das von ,Herrschaft und Dienst‘ zugleich – so Wolters’ Formel für das Verhältnis zwischen Jüngern und ,Meister‘.46 In der oft herrisch wirkenden, bis heute so irritierenden Attitüde StGs drückt sich auch ein Anspruch aus, das hervorzubringen, wodurch er sich selbst bindet. Norbert von Hellingrath wurde gerade dort scharf kritisiert, wo er den wissenschaftlichen Ansprüchen einer kritischen Ausgabe zu genügen suchte, etwa durch Wahrung der ursprünglichen Orthographie. Das war für StG kein „Dienst am Dichter“ (ES, 20). Gegenüber Hofmannsthal, mit dem er „in unsrem schrifttum eine sehr heilsame diktatur“ über lange Jahre auszuüben hoffte (G/H, 150), klagte StG nach Erscheinen des Algabal-Zyklus, es sei ihm ganz unmöglich zu sagen, was er nun überhaupt noch schreiben solle (G/H, 12). Er sieht damit ganz scharf, wohin er sich mit Algabal selbst gebracht hat. Einerseits war Algabal so neu, dass eine solche Dichtung nicht gesteigert oder überboten werden konnte. Andererseits lassen sich Verse wie „,Ich sterbe gern weil mein gebieter schrak‘ / Ein breiter dolch ihm schon im busen stak · / Mit grünem flure spielt die rote lache“ (II, 66) doch nicht umstandslos in die reine Kunstimmanenz zurückdrängen. Sie können nicht selbstgenügsam immer so fortgesetzt werden. „In dem winde kalt und klar“ (II, 85) ,wiegen‘ sich die Algabal-Gedichte. Sie sind im Hinblick auf das Grundproblem StGs, das des Ethos der Poesie, zutiefst fragwürdig. Sie wiegen sich ,um eine ethisch leere Mitte‘.47 Der letzte Vers des Schlussgedichts von Algabal, „Vogelschau“, fasst die eisige Selbstgenügsamkeit dieser Kunstwelt und dieser Kunstarbeit bündig zusammen.48 Der Garten dieser Kunst, der „nicht luft und nicht wärme“ (II, 63) braucht, ist ein Totenreich.49 Die ästhetische Praxis einer ,Kunst für die Kunst‘ kann sich einerseits, Gert Mattenklott hat es gezeigt, umso mehr als ,ästhetische Opposition‘ erweisen, je rigoroser sie realisiert wird.50 Andererseits droht sie, sich in Selbstherrlichkeit tautologisch nur zu wiederholen. Die Kunst ist die Kunst ist die Kunst für die Kunst. Nur über die radikale ästhetische Opposition führt der

44 Vgl. dazu den Abschnitt 1.4.2. ,Maximin‘. 45 Vgl. dazu bes. den Abschnitt 1.4. ,Hermeneutik‘. 46 Vgl. Friedrich Wolters, Herrschaft und Dienst, Berlin 1909. 47 Ich borge hier den Titel von Ernst Osterkamps Studie, die sich freilich auf das Neue Reich bezieht; vgl. Ernst Osterkamp, Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010. 48 Es scheint nicht sehr gewagt, in den ,weissen schwalben‘ von „Vogelschau“ Symbole für das Gedicht selbst zu sehen. So heißt es etwa im Gedicht „Indes in träumen taten mir gelungen“ des Buches der Hängenden Gärten in der Schlussstrophe: „Ich muss mein schönes land gebeugt betrauern · / Dieses sei allein mein trost: / Der sänger-vogel den zertretne fluren · mauern / Und dächer · züngelnd wie ein feuerrost · / Nicht kümmern singt im frischen myrtenhage / Unablässig seine süsse klage“ (III, 93). 49 Vgl. Bernhard Böschenstein, Garten und Tod in Gedichten Georges, Rilkes und Trakls. Eine Skizze, in: Compar(a)ison 1/2007, Themenheft ,Le jardin et la mort‘, S. 29–36. 50 Vgl. Mattenklott, Bilderdienst.

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Weg zurück ins Leben. Das ist völlig anders als bei Hugo von Hofmannsthal. Der grundlegende Abstand zum Banalen und Trivialen bleibt bei StG immer gewahrt. Mit dem folgenden Gedichtband der Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten sprengt StG bereits diese Poetik einer radikal selbstbezüglichen ,poe´sie pure‘ und wendet sich den Bildungswelten der Antike, des Orients und des Mittelalters zu. Sie werden als Resonanzräume des Subjekts eingeführt. Sie sollen nun den „spiegelungen einer seele“ dienen und wollen darum nicht als „bild eines geschichtlichen oder entwickelungsabschnittes“ verstanden werden (Vorwort; III, 7); also nicht als historistische Vergegenwärtigungen vergangener Zeiten oder als Stufen eines sich in geschichtsphilosophischer Logik vollziehenden Prozesses. So wird das Gedicht zum Medium der Selbstbegegnung. In der zunehmenden Ethisierung des Werks, in der zunehmenden Bedeutung von Widmungsgedichten (vgl. schon Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, Zyklus „Preisgedichte auf einige junge Männer und Frauen dieser Zeit“), von Ansprachen, die sich an die „schar“ und die „[g]espielen“ wenden (V, 54, 56), in der Kreisbildung via Poesie (Das Jahr der Seele, Zyklus „Verstattet dies Spiel“), in der sich mehr und mehr explizit artikulierenden Kulturkritik und schließlich in der poetischen Konstitution des jungen Gottes Maximin entfernt sich das Werk immer weiter von der Konzeption des Anfangs und bleibt doch auf ihn bezogen.51 Denn der Rang, den StG der Poesie zuspricht, bleibt immer einzigartig. Nie geht es ihm um Mimesis bloß subjektiver Erlebnisse oder Gefühle, nie um ,dargestellte Wirklichkeit‘.52 1.2.2. Abgrenzungen, Zäsur, Umkehr Mit großer Entschiedenheit formuliert StG als junger Dichter seinen Anspruch, eine Zäsur in der Geschichte der deutschen Poesie zu setzen, die Umkehr und Wendung zu etwas ganz Neuem zu vollziehen. Diese Behauptung, es sei unbedingt notwendig, völlig neu zu beginnen, ist für die ästhetischen Avantgarden allerdings nicht ungewöhnlich.53 Die Umkehr kann ästhetisch, aber auch geschichtlich, politisch, sozial und allgemein kulturell begründet werden.54 Die Umkehr ist grundsätzlich ein wichtiges biographisches und kulturelles (Selbst-) Deutungsmuster, das auch der Selbstverständigung und Selbstdeutung dient und häufig religiös aufgeladen ist.55 Auch für StG und den Kreis hat es hohe Bedeutung. Umkehr, ,conversio‘, bedeutet einen besonders starken Innovationsanspruch, der für die Moderne seit ihren Anfängen charakteristisch ist (so schon in der Querelle des 51 Maurizio Pirro nennt dies den Prozess der ,Semantisierung‘; vgl. Maurizio Pirro, Come corda troppo tesa. Stile e ideologia in Stefan George, Macerata 2011. 52 Vgl. Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946. 53 Vgl. Walter Fähnders, Avantgarde und Moderne, Stuttgart, Weimar 1998, S. 11. 54 Die Nullpunkt-Diskussion in der Literatur der ersten Jahre nach Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg mag dafür ein Beispiel sein. Die Künstlergruppe Zero (Uecker, Mack, Piene) nimmt die Metapher bei ihrer Gründung 1958 programmatisch wieder auf, versteht sie aber nur noch ästhetisch. 55 Vgl. Christian Heidrich, Die Konvertiten. Über religiöse und politische Bekehrungen, München 2002.

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II. Systematische Aspekte

Anciens et des Modernes, die noch ins 19. Jahrhundert hineinreicht). Aber Innovation ist ebenso eine Hypothek, mit der sich die Moderne von vornherein selbst belastet. StG versucht darauf zu antworten, indem er das Ästhetische selbst re-ethisiert. Von Beginn an zielt er genau darauf; er zielt von vornherein auf ein Werk, das einen wirklichen Neuansatz bringen soll. Es geht ihm nicht nur um besonders gelungene einzelne Gedichte. Schon im frühen Zyklus Prinz Indra von 1886 heißt es: „Wahre arbeit musst du finden / Geist und leib musst du verbinden // Um sie auf dein werk zu lenken“ (GA XVIII, 102).56 Die Werk-Intention hat gravierende poetologische Konsequenzen. Auf ein Werk zu zielen, ist eine sehr moderne Vorstellung von Kunst, weil ihr eine Idee des Autor-Subjekts zugrunde liegt. Über das Werk in seinem Prozess kann nur sein Urheber einen wirklichen Überblick behalten. Er ist die organisierende Mitte. Das tritt auch in der Entwicklung von StGs Werk immer mehr zutage – bis hin zur abschließenden und endgültigen ,Gesamtausgabe‘, die er als seine letzte große Aufgabe ansieht.57 Seine „Autorschaft ist Werkherrschaft“;58 die Werk-Idee, der durchgehaltene „Entwurfcharakter“ von StGs Dichtung,59 widerspricht aller Erlebnishaftigkeit. Für dieses Konversionsprojekt mussten die deutsche Lyrik und ihre Poetik am Ende des 19. Jahrhunderts zur europäischen Moderne, besonders zur französischen Moderne hin geöffnet werden.60 „Die zahlreichen äußeren und inneren Bezüge Georges zu den französischen Dichterschulen sind so evident, dass die Literaturhistoriker von Anfang an darauf hingewiesen haben.“61 StG selbst hat es getan, besonders mit seinen Übertragungen zeitgenössischer Dichter.62 Sein Leben und Werk versteht er als ein großes poetisches und damit auch kulturelles Konversionsprojekt, das er von Anfang an mit großer Entschlossenheit realisiert gegen den Niedergang der Dichtkunst im 19. Jahrhundert, wie er ihn schon in der ersten Folge der BfdK konstatiert hat. Auch davon sprechen die Gedichte selbst; und dies ebenfalls schon früh. Ihr eigenartig künstlicher und kontrollierter, oft kühler, oft geschraubter, oft angestrengt wirkender, jede Erfahrung von Erlebnishaftigkeit und Authentizität verweigernder Charakter lässt sich auch von dieser Konversionsidee her verstehen: Hier muss etwas Neues geleistet und eine große Aufgabe bewältigt werden.63 Dazu braucht es eine neue 56 Vgl. auch Arbogast, Erneuerung, S. 29. 57 Siehe dazu Martus, Werkpolitik, S. 655ff., 685ff. 58 Vgl. Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn u. a. 1981. 59 Ulrich Schödlbauer, Traum und Tod. Gegenpoetik im ,Teppich des Lebens‘, in: GJb 2/1998/1999, S. 1–21, hier: 6. 60 Vgl. Bernhard Böschenstein, Wirkungen des französischen Symbolismus auf die deutsche Lyrik der Jahrhundertwende, in: Ders., Studien zur Dichtung des Absoluten, Zürich 1968, S. 127–170; ders., Hofmannsthal, George und die französischen Symbolisten, in: Ders., Leuchttürme. Von Hölderlin zu Celan. Wirkung und Vergleich. Studien, Frankfurt/M. 1977, S. 224–246; Braungart 1997, bes. I, 1. 61 Paul Gerhard Klussmann, Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und des Dichters in der Moderne, Bonn 1961, S. 3. 62 Vgl. I, 2.12. 63 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Stefan George (1868–1933), in: Hans-Joachim Zimmermann (Hrsg.), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium, Heidelberg 1985, S. 39–49; ders., Hölderlin und George, in: Ders., Gedicht und Gespräch. Essays, Frankfurt/M. 1990, S. 39–63.

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Sprache. Wie nötig das war, hat wohl zuerst in aller Deutlichkeit Hubert Arbogast detailliert und ebenfalls schon an konkreten Beispielen gezeigt. Seine Analysen verdeutlichen, wie sehr es hier um ein modernes Bewusstsein von der Kunstarbeit, vom Kunst-Werk geht.64 Den frühen, poetologisch verstehbaren Gedichten hat sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die hermeneutische Aufmerksamkeit bisher noch kaum intensiver zugewandt. Ich versuche, an drei poetischen Beispielen kurz zu erläutern, wie sich StGs Intention darstellt, eine Zäsur setzen und ein neues poetisches Repertoire etablieren zu wollen: Verwandlungen Abendlich auf schattenbegleiteten wegen Über brücken den türmen und mauern entgegen Wenn leise klänge sich regen: Auf einem goldenen wagen Wo perlgraue flügel dich tragen Und lindenbüsche dich fächeln Herniedertauche Mit mildem lächeln Und linderndem hauche! Unter den masten auf rüstig furchendem kiele Über der wasser und strahlen schimmerndem spiele In glücklicher ferne vom ziele: Auf einem silbernen wagen Wo lichtgrüne spiegel dich tragen Und schaumgewinde dich fächeln Herniedertauche Mit frohem lächeln Und kosendem hauche! Lang ist nach jauchzendem tode die sonne verschollen · Mit den planken die brausenden wogen grollen Und dumpfe gewitter rollen: Auf einem stählernen wagen Wo lavaschollen dich tragen Und grell lohe wolken dich fächeln Herniedertauche Mit wildem lächeln Und sengendem hauche! (II, 18)

Das Gedicht ist 1890 in Kopenhagen entstanden; es ist das achte der Hymnen, also des ersten Zyklus. Von den Hymnen sagte StG selbst: „Das ist von ebensolcher Bedeutung für die deutsche Literaturgeschichte wie das Büchlein von der deutschen Poeterei“ (EL, 153f.). Mit diesem Hinweis auf Opitz und dessen epochale kleine Schrift von 1624 bestimmt StG den eigenen Anspruch: Jetzt, mit ihm, beginne die deutsche Lyrik noch einmal neu wie seinerzeit mit Martin Opitz. Aber nicht bloß 64 Vgl. Arbogast, Erneuerung.

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II. Systematische Aspekte

programmatisch, sondern aus der poetischen Praxis selbst heraus, die nun einen neuen Standard setzt. Man kann das Gedicht „Verwandlungen“, das mit seinem Titel die antike wie die christliche ,Bildungswelt‘ evoziert, auf das Einleitungsgedicht des Zyklus, „Weihe“ (II, 10), beziehen und so auf die Muse, durch die die Initiation in die Dichtkunst geschieht. Das angesprochene ,Du‘ lässt sich aber ebenso als Selbstansprache verstehen, was nicht viel verändert. Denn die Muse ist mythisch-allegorische Figuration für das, was dem widerfährt, den die poetische Inspiration erfasst, und damit für seine höchste Legitimation. Das dreigliedrige Gedicht spricht von einem Verwandlungsprozess; in ihm vollzieht sich eine ,Metamorphose‘ des Subjekts: Dreimal soll das angesprochene ,Du‘ „herniedertauchen“ (in dieser schwierigen Metapher deutet sich an, wie ambitioniert das poetische Konversionsprojekt ist), soll sich ganz einlassen auf etwas und ganz in ihm aufgehen: in der milden Abenddämmerung, in der sich „leise klänge […] regen“; im Lichtfest der im „jauchzenden tode“ untergehenden „sonne“; schließlich im nächtlich-gefährlichen, apokalyptischen Gewitter. Das Gedicht spricht also von einer Steigerung bis hin zum Untergang. Es geht aus von der Geborgenheit und Vertrautheit der städtischen Lebenswelt, entwickelt sich über den Aufbruch zur Schifffahrt noch „in glücklicher ferne vom ziele“ (Herv. d. Verf.) und gipfelt in der tödlichen Gefahr: vom Goldenen und (Ver-)Trauten hin zur „stählerne[n]“ Härte und zu äußerster Lebensfeindlichkeit („lavaschollen“, „sengendem hauche“). Die eisige Kunstwelt Algabals kündigt sich an. Reise („wagen“) und besonders Schifffahrt sind antike und um 1900 längst konventionell gewordene Topoi für das Leben und Dichten. Auch die drei Zeitalter, auf die hier unübersehbar angespielt wird, sind nicht gerade ein originelles Motiv, poetisch und geschichtsphilosophisch strukturbildend etwa bei Hölderlin. Dieser Weg sich steigernder Absonderung führt in ein extremes, ausgesetztes und äußerst riskantes Leben: Das ist die Zarathustra-Pose. Hier zeichnet sich jene radikale ,ästhetische Opposition‘ gegenüber aller bürgerlich-etablierten und konventionellen Kultur ab (vgl. den Beginn des Gedichts), die als Erster Gert Mattenklott an StG deutlich herausgearbeitet hat.65 Viele haben sie mit dem ersten öffentlichen Auftreten StGs sofort an ihm gespürt. Diese Opposition ist schon Kulturkritik, allerdings implizit vorgebracht: im Modus des radikal verstandenen Ästhetischen selbst. Im Ästhetischen wird eine Haltung eingeübt, die auch für das Religiöse und Soziale grundlegend sein kann: die Entschiedenheit für eine neue Existenz. Es gibt nur das Dafür- oder Dagegen-Sein. Das Laue, Indifferente, Mittelmäßige taugt gar nichts.66 Das dichterische Subjekt beansprucht, aus dem Kontinuum der Geschichte herauszutreten und eine neue Ordnung zu konstituieren, in der es selbst souverän herrscht. So wird StG mit seinem Werk auch vom Kreis gesehen. Zusammen mit Dante, Shakespeare und Goethe ist StG für Friedrich Gundolf ein großer „gestalter“; er „beleibt“ den „bloße[n] stoff“.67 Am Schlussgedicht der Pilgerfahrten, also des mittleren Zyklus des ersten Gedichtbandes, entstanden wohl noch in Wien im Juni 1891 und damit im Kontext der so 65 Vgl. Mattenklott, Bilderdienst. 66 Dante verachtet „Die Lauen“, so eine Überschrift in StGs Übersetzung der Göttlichen Komödie (X/XI, 16). 67 Friedrich Gundolf, Vorbilder, in: Jb 3/1912, S. 1–20, hier: 20.

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schwierigen Begegnung mit Hofmannsthal,68 wird das Skizzierte noch deutlicher. Das Gedicht wurde auch in der ersten Folge der BfdK von 1892 abgedruckt:69 Die Spange Ich wollte sie aus kühlem eisen Und wie ein glatter fester streif · Doch war im schacht auf allen gleisen So kein metall zum gusse reif. Nun aber soll sie also sein: Wie eine grosse fremde dolde Geformt aus feuerrotem golde Und reichem blitzendem gestein. (II, 54)

Nach der Initiation des poetischen Subjekts in die Dichtkunst, die die Hymnen darstellen, folgt nun sein Aufbruch. Es folgen mit dem nächsten Zyklus poetische ,Pilgerfahrten‘, die schließlich in die Kunstwelt Algabals führen. Eine Spange verbindet immer zwei Teile, so wie das Gedicht „Die Spange“ diese Zyklen zusammenhält, die Pilgerfahrten und den Algabal-Zyklus. Dieser Anspruch auf Durcharbeitung, auf eine Gesamtstruktur und poetische Ordnung, die dem Einzelgedicht einen genauen Platz zuweist und keinen Ausbruch des individuellen Gedichts will, ist StG besonders wichtig. Man kann ihn sogar am Einzelgedicht selbst nachvollziehen. Das möchte ich poetische Ritualität nennen; sie ist bei StG grundlegendes formales Prinzip. Sogleich spürt man das soziale Potenzial dieser Konzeption: Ein ,zyklos‘ ist eben ein Kreis. Erst im Kreis finden das Einzelne und der Einzelne ihre eigentliche Bestimmung. Die Eröffnungs- und Schlussgedichte der lyrischen Zyklen sind bei StG immer besonders markiert: „Weihe“, das Eröffnungsgedicht der Hymnen, führt in den Zyklus ein, weiht auch den Leser ein, vollzieht den Übergang in die andere Sphäre der Poesie: „Nun bist du reif“ (II, 10). Das Schlussgedicht des Zyklus, „Die Gärten schliessen“, ist das ,Ite, missa est‘.70 Es wirft aber mit seinem Schlussvers auch den Blick voraus auf den folgenden Zyklus der Pilgerfahrten und fragt nach dem Sinn, der Kraft und dem Fortwirken dieser poetischen Liturgie: „Baust du immer noch auf ihre worte / Pilger mit der hand am stabe?“ (II, 28) Die Kraft dieser Spange, zusammenzuhalten, geht allein aus einem Willensakt des poetischen Subjekts hervor. Das „kühle eisen“ wäre eigentlich das richtige Material, sofern es geformt ist zum „glatten festen streif“ der neuen Kunst. Die Zeit für die kriegerische Eisen-Kunst, die Asketen-Kunst, ist aber offenbar noch nicht reif. Der Kreuzreim der ersten Strophe bildet, anders als der Paarreim der zweiten, noch keine Klammer. Das völlig geeignete Material ist jetzt noch nicht da. Das gilt auch für die sozialen Verbindungen. Zu Platons und Dantes Zeiten habe es mehr brauchbare Jugend gegeben, sagt StG später einmal.71 Das ,Material‘ für die soziale ,Spange‘, für

68 Vgl. ¤ Hugo von Hofmannsthal; Breuer 1995, S. 128ff.; Rieckmann, Hofmannsthal und George. 69 Kurze Hinweise zum werkgeschichtlichen Zusammenhang bei Arbogast, Erneuerung, S. 129f., und im Kommentar Ute Oelmanns zu SW II. 70 Vgl. Reinhard Meßner, Einführung in die Liturgiewissenschaft, Paderborn u. a. 2001, S. 221f. 71 Vgl. EG/EB, S. 80.

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II. Systematische Aspekte

diesen sozialen ,zyklos‘, beginnt er schon in der Schulzeit zusammenzubringen.72 Das Kostbare, Prächtige, Prunkende dieser Spange ist also zwar schon das Andere, das Fremde („fremde dolde“). Aber es ist doch auch noch voller dekadenter Pracht und unnützem Glanz. Darum kann es noch nicht das eigentliche Ziel sein. So kühl, rein, asketisch, streng, elitär, wie das Kunstwerk der Spange, der ersten Strophe zufolge, sein sollte, geht es dann auf der alten „stille[n] veste“ des Zeitgedichts „Die tote Stadt“ (VI/VII, 30–31) in der Lebenspraxis zu. Dort verachtet man all die moderne Pracht – „die steine / Wie fracht von hundert schiffen kostbar · spange / Und reif vom werte ganzer länderbreiten!“ (Herv. d. Verf.), die aus der Handelsstadt drunten am Hafen angeschleppt werden, wo „[d]ie menge tages feilscht und abends tollt“ (VI/VII, 30). Die Grenzen der ästhetizistischen Prunk-Kunst werden durch asketische Elite markiert. Die Algabal-Kunst-Welt, die sich mit dem folgenden Gedicht-Zyklus auftut, erscheint aus der Perspektive des Schlussgedichts der Pilgerfahrten von vornherein als Not- und Zwischenlösung. „Die Spange“ antizipiert geradezu die lebensfeindliche Hermetik der Algabal-Welt. Man sieht hier, wie komplex StG seine Poetik als ,Arbeit am Zyklus‘ versteht. Auch dieses Verbindungsgedicht, diese verbindende ,Spange‘ in ihrer ganzen Pracht, unterliegt völlig dem Herrschaftsanspruch des poetischen Subjekts. Das Gedicht gibt keinerlei weitere Begründung für diese ästhetische Konzeption; sie ist eine Setzung des poetischen Subjekts. Sie ist ,Dictum‘.73 „Nun aber soll sie also sein“ (Herv. d. Verf.): So heißt es am Beginn von StGs Werk in hartem rhythmischen Stakkato. So kantig wird es auch am Ende heißen: „Kein ding sei wo das wort gebricht“ („Das Wort“; IX, 107; Herv. d. Verf.).74 Auch der mythopoetische göttliche Jüngling, auf den unten noch eingegangen wird (1.4.2.), ist ,Dictum‘ – und wohl das wichtigste – des poetischen Subjekts. „Ich seh in dir den Gott / Den schauernd ich erkannt / Dem meine andacht gilt“: weil ,ich‘ ihn in dir sehen will. So heißt es von Maximin (VI/VII, 90; Herv. d. Verf.). Das Frühwerk kennt aber auch schon einen anderen Ton; er ist und bleibt für StG genauso grundlegend. Nur wenig später als das eben zitierte Gedicht entstand: Erinna Sie sagen dass bei meinem sang die blätter Und die gestirne beben vor entzücken · Dass die behenden wellen lauschend säumen · Ja dass sich menschen trösten und versöhnen. Erinna weiss es nicht · sie fühlt es nicht. Sie steht allein am meere stumm und denkt: So war Eurialus beim rossetummeln So kam Eurialus geschmückt vom mahle – Wie mag er sein bei meinem neuen liede? Wie ist Eurialus vorm blick der liebe? (III, 24) 72 Vgl. I, 4.2. 73 Ulrich Raulff ist der Geburt des Künstlerstaates aus den poetischen und rhetorischen Dicta nachgegangen; vgl. Ulrich Raulff, Der Traum vom ästhetischen Staat und die Diktatur der Dichter, in: Ders., Vom Künstlerstaat. Ästhetische und politische Utopien, München, Wien 2006, S. 7–17. 74 Das Prädikat ist freilich komplexer zu deuten; zu einer umfassenden Interpretation dieses schwierigen und oft diskutierten Gedichts vgl. Nina Herres, Namhafte Bilder, wörtliche Verben. Zu Stefan Georges ,Das Wort‘, in: GJb 6/2006/2007, S. 100–121.

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„Blick der Liebe“ und ,neues Lied‘: Das sind nun neue Formeln. Ein eigenartig anrührender Ton ist das; ein fragender, offener Ton am Ende dieses Gedichts, das schon dem ersten Zyklus der Hirten- und Preisgedichte angehört, also dem Gedichtband nach der Algabal- und Hofmannsthal-Krise.75 Reimlos und antikisierend wirkt das Gedicht auch klassizistisch. Der Name ,Erinna‘ könnte auf zwei Frauen der griechischen Antike verweisen: auf die jugendliche Freundin Sapphos (7. Jh. v. Chr.) und auf die Dichterin (4. Jh. v. Chr.). Die Erinna dieses Gedichts, die zu Beginn wohl selbst redet, weiß nicht, dass man ihrem Gesange orphische, verwandelnde Kraft zuspricht: wiederum eine poetologische Anspielung auf die spezifische Leistung der Poesie. Erinnas Gedanken gelten dem Geliebten, der der männlichen Sphäre angehört, der Welt der Tat. Was bedeutet ihm das neue Lied, was ist er vor ihm, wie betrifft es ihn? Hier werden die Welt der Liebe und die Welt der männlichen Tat – man könnte auch sagen: die sapphische und die pindarische Welt – miteinander konfrontiert. Sie repräsentieren die beiden Paradigmen griechischer Lyrik und in gewisser Weise der Lyrik überhaupt.76 Pindar steht dabei für den kriegerischen, pathetischen, hohen, erhabenen, schroffen, männlichen Ton; Sappho, so wenig und so wenig Sicheres von ihr erhalten ist,77 für den der Unmittelbarkeit und Einfühlsamkeit, der Liebe, der Zuwendung. – Beide Sprechweisen gibt es im Werk StGs und dies bis zum letzten Zyklus Das Lied im Neuen Reich: wenn man so will die sapphische und die pindarische. Beide Formen der Zuwendung zu den Jünger(e)n kennt StG, wie besonders die Briefwechsel belegen. – Sapphos Leben und Werk haben noch die Literatur des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Wohl der wichtigste Mittler war Mörike. Einige seiner großartigsten Gedichte haben Wolfskehl und StG in ihre Anthologie Das Jahrhundert Goethes aufgenommen, obwohl er (wie Jean Paul) so ganz anders als StG selbst ist, so auch Mörikes „Erinna an Sappho“.78 Von Rilke gibt es ebenfalls Erinna-Sappho-Gedichte, die sich allerdings von dem StGs völlig unterscheiden. StG stellt sich manchmal fast unbemerkt und unbeschadet seiner explizit proklamierten Poetik der Umkehr und des Neubeginns in große Traditionsbezüge. Er kann dabei aus der Tradition mehr gelten lassen, als man vielleicht vermuten würde; wie eben den so eigenartigen, manierierten Jean Paul. „Sich bannen in den kreis den liebe schliesst“, das habe Nietzsche versäumt. So StG im Nietzsche-Gedicht des Siebenten Rings (VI/VII, 12–13). „Sich bannen“, das ist noch einmal etwas anderes, ist schroffer und fordernder als die sanfte, orphische Kraft, die Erinnas Lied innewohnt. Solche semantischen Verschiebungen zeigen, wie der Ton der Entschiedenheit und Deutlichkeit im Werk zunimmt. Zu den Wesenszügen, Modi und Prozessen des Dichterischen, die mit den beiden zuerst zitierten Ge75 Freilich gibt es auch vor Algabal Momente des Zweifels, ob das Werk gelingen kann; vgl. etwa „Die Gärten schliessen“: „Heisse monde flohen aus der pforte. / Ward dein hoffen deine habe? / Baust du immer noch auf ihre worte / Pilger mit der hand am stabe?“ (II, 28) – Oder braucht es ganz andere, neue „worte“? 76 Vgl. Winfried Menninghaus, Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik, Frankfurt/M. 2005. 77 Als Übersicht vgl. den Artikel von Emmet Robbins, Sappho, in: Der Neue Pauly, hrsg. v. Hubert Cancik u. Helmuth Schneider, Bd. 11, Stuttgart, Weimar 2001, Sp. 46–49. 78 DD III, S. 173f. Zu Mörikes Gedicht vgl. Wolfgang Braungart, Tod und Kunst, Geist und Bewußtsein: Zu Eduard Mörikes ,Erinna an Sappho‘, in: Oxford German Studies 36/2007, 1, S. 76–96.

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dichten beispielhaft angedeutet werden sollten, tritt nun mit dem „Erinna“-Gedicht die verwandelnde, verbindende und bindende Kraft des Eros hinzu. Ohne sie ist das Werk überhaupt nicht zu denken. – Aber im Gewand der Frage! Das Zweifelnde, Melancholische gehört auch zum Charismatiker StG. Viele Berichte über Begegnungen mit ihm zeigen es. Es rückt ihn in eine geheimnisvolle Distanz und entzieht ihn dem allzu schnellen und profanierenden Verstehenwollen. StG äußerte gegenüber Sabine Lepsius in einem Brief vom April 1905: Was ich darum streite und leide und blute dient keinem zu wissen. Aber alles geschieht ja auch für die freunde. Mich so zu sehen wie sie mich sahen ist ihr stärkster lebenstrost. So streit und duld und schweig ich für sie mit. Ich gehe immer und immer an den äussersten rändern – was ich hergebe ist das lezte mögliche … auch wo keiner es ahnt.79

Edith Landmann weist in ihren Erinnerungen mehrfach auf das von tiefem Gram gezeichnete Gesicht StGs hin. Die Fotografien der Brüder Hilsdorf machen das seelische Leiden sichtbar und damit leidensmystischer Verehrung zugänglich.80 Das ist so schon in der mittelalterlichen Frömmigkeit mit ihrer oft ins Exzessive gehenden Darstellung der Passion Jesu. Denkt man daran, liest man vielleicht auch „Kolmar: Grünewald“ anders: „Dein wunder leib erträgt der henker klaue · / Der ungeheuer huf und ekle härung / Sein lebtag […]“ (VI/VII, 177). Grundlegende Verfahren zur Konstitution von ästhetischem und sozialem Sinn werden bereits in diesen frühen Gedichten und in StGs früher Praxis, seine Kunst zu organisieren und durchzusetzen, sichtbar. Sie zeigen, wie differenziert sich ein rigoroser Form- und Gestaltungswille hier schon artikuliert. Diese verschiedenen Verfahren werden mehr und mehr zusammengeführt, und in genau dieser Verbindung ist das Gesamtphänomen StG so wirksam geworden: die geradezu dezisionistische Entschlossenheit für die radikal andere Kunst und das radikal andere Leben, zunächst noch im Zeichen der Kunst, später dann mehr und mehr im Zeichen der geistesaristokratischen Elite; die rituelle Konsequenz, mit der die neue ästhetische und soziale Ordnung geschaffen wird; das Charismatische, das menschliche Beziehungen hierarchisiert und so zur sozialen Ordnungsbildung beiträgt; und schließlich doch auch das Integrierende, Gesellige, Vergesellschaftende der Liebe. Max Scheler hat den George-Kreis eine „gnostische Sekte“ genannt.81 Gnostische Züge hat man auch bei anderen Autoren der Moderne ausgemacht (Gottfried Benn, Botho Strauß). Der falschen Kunst und mit ihr der falschen bürgerlichen Welt in ihrer ,Finsternis‘ stellt StG eine gänzlich neue Kunst gegenüber. Avantgardebewusstsein, das StG ohne Zweifel von Beginn an auszeichnete, kann sich leicht mit kulturellem Sendungsbewusstsein verbinden. Die neue Kunst wird gleichsam zur ,Gegenschöp79 Zit. nach der Faksimilebeilage in SL. 80 Vgl. Wolfgang Braungart, „Dies gewaltige Gesicht“. Die Brüder Hilsdorf und Stefan George, in: Hans-Michael Koetzle/Ulrich Pohlmann (Hrsg.), Münchner Kreise – Der Fotograf Theodor Hilsdorf 1868–1944. Katalog zur Ausstellung im Fotomuseum des Münchner Stadtmuseums, Bielefeld 2007, S. 85–90 u. 269f. 81 Max Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, 2., durchges. Aufl., Bern, München 1960 (Gesammelte Werke 8), S. 156. Vgl. Stefan Breuer, Zur Religion Stefan Georges, in: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 225–239, bes. S. 234ff.; Michael Pauen, Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne, Berlin 1994.

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fung‘, die sich, wenigstens zunächst, nur an die geheime Schar richtet, an eine ästhetische Elite.82 Wie sehr dieser Gedanke für StG und den Kreis bestimmend ist, muss nicht noch einmal dargestellt werden. StGs Konversionspoetik entspricht also nicht dem Typus transformierender, das Bestehende nur umdeutender Konversion, sondern dem entschiedener Ablehnung des Bestehenden.83 Dass diese Poetik alles andere als unbegründet war, ahnt man, wenn man einen kurzen Blick auf die zeitgenössische deutsche Lyrik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wirft. Wiederum seien drei Gedichte kurz kommentiert. Ihnen gegenüber ist StGs Ton wirklich völlig neu. Zunächst ein Frühlingslied (1864) von Emanuel Geibel, dem, neben Goethe, meistgelesenen und, nach Heine, meistvertonten Lyriker des 19. Jahrhunderts:84 Ich bin gegangen Den Mai empfangen, Doch bracht’ er keinen Gruß für mich; Die Wolken zogen, Die Schlossen flogen, Ein eis’ger Hauch vom Flusse strich. Wer mag der Blüten Im Garten hüten, Wenn also weht der scharfe Wind? Um den ich bange, Wie schweigt er lange Und räth es keiner, was er sinnt! Wer mag den Segen Im Herzen pflegen, Wenn Zweifel kühl die Brust beschlich! Ich bin gegangen Den Mai empfangen, Doch bracht’ er keinen Gruß für mich.85

Das ist ohne Zweifel gekonnt gemacht, auch in der ungewöhnlichen Strophenform. Aber mit seinem Wilhelm-Müller-Ton („Wenn also weht der scharfe Wind?“) ist das Gedicht auch epigonal und in Bildlichkeit und Symbolik auf eine das Banale nicht nur streifende Weise konventionell. Wie sehr, das zeigt sich, wenn man einmal versucht, StGs von Adorno zu Recht gerühmtes „Im windes-weben“ (VI/VII, 137) als Antwortgedicht auf Geibel zu lesen. Aus dem Volkslied macht Geibel, kunstgewerblich sehr geschickt, ein neuromantisches Kunstlied. Davon setzt sich StG völlig ab. Selbst die Gedichte, die er ,Lieder‘ nennt und die zum Teil auch vertont wurden, schreiben nicht einfach die Tradition fort.86 82 Vgl. George Steiner, Der Garten des Archimedes. Essays, aus dem Engl. v. Michael Müller, München, Wien 1997. 83 Vgl. Hubert Knoblauch, Religionssoziologie, Berlin, New York 1999, Kap. XI. 84 Vgl. die Hinweise (auch zu Vertonungen der Lieder StGs) in: Axel Bauni u. a., Reclams Liedführer, 6., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2008. 85 Emanuel Geibel, Mädchenlieder, in: Ders., Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. 3, Stuttgart 1893, S. 214–215. 86 Generell zu den Strophenformen, die StG aufnimmt, vgl. Horst Joachim Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, 2., durchges. Aufl., Tübingen, Basel 1993. Wie sich in diesem Zu-

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II. Systematische Aspekte

Ein zweites Gedicht, Otto Erich Hartlebens sozial vermeintlich engagiertes und gesellschaftskritisches „Wohin Du horchst“ (1885): Wohin Du horchst … Wohin Du horchst, vernimmst Du den Hülferuf Der Noth! Wohin Du blickest, erschrecken Dich Gerungene Hände, bleiche Lippen, Welche des Todes Beschwörung murmeln! Wohin Du helfend schreitest, versinkt Dein Fuß Im Koth der Lügen. – Selbstischer Dummheit voll Schreit dort ein Protz nach ,Ordnung‘, ihm ja Füllte der ,gütige Gott‘ den Fleischtopf. ,Reformation‘, so heulen die Pfaffen rings. ,Es muß die Kirche wieder im Geisterreich Als Herrin thronen: ihre Lehren Scheuchen das Sorgen um weltlich Wohlsein!‘ Des Staates Herren hoffen des Staates Heil Vom sichren Maulkorb, welcher das Beißen wehrt, Sogar das unbequeme Bellen Wissen sie knebelgewandt zu dämpfen … In diesem dunkelflutenden Wogenschwall Wo ist der Boden, welcher den Anker hält? Wann naht der Gott im Sturm fahrend, Der die verpesteten Lüfte reinigt? Wo blitzt ein Lichtstrahl kommenden Morgenroths An diesem nachtbelasteten Horizont? Wo sieht der Jugend Thatensehnsucht Flattern die Wimpel des fernen Zieles?87

Nichts wird hier konkret. Niemand muss sich hier wirklich angesprochen fühlen, noch nicht einmal Kirche und Staat, weil man nicht weiß, wogegen sich das Gedicht richten will. Man könnte die letzten beiden Strophen leicht in parodistischer Weise poetologisch umschreiben. Genau diese Lyrik hatte StG im Visier, als er die BfdK 1892 mit der programmatischen Forderung nach einer neuen Kunst eröffnete, die „im gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang“, stehen müsse.88 Welches ,Horchen‘ dagegen StG selbst später im Sinn hat, verrät das suggestive Gedicht „Horch was die dumpfe erde spricht“ (IX, 103) aus dem Neuen Reich. StGs ,geistige Kunst‘ richtet sich an eine andere, „kleine arbeiter- und leserschaft“.89 Der Anti-Naturalismus kann in seiner Bedeutung für StG kaum überschätzt werden. Er ist grundlegend.90 sammenhang Traditionsbezug und Innovation bei StG zueinander verhalten, wäre systematisch zu untersuchen. 87 Otto Erich Hartleben, Wohin Du horchst …, in: Ralph-Rainer Wuthenow, Gedichte 1830–1900, 2. Aufl., München 1975 (Epochen der deutschen Lyrik 8), S. 305. 88 BfdK 1/1892, 1, S. 1. 89 BfdK 2/1894, 1, S. 1. 90 Vgl. schon Eckhard Heftrich, Stefan George, Frankfurt/M. 1968, S. 10ff.

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Schließlich noch Detlev von Liliencrons „Schöne Junitage“ (1894): Schöne Junitage. Mitternacht, die Gärten lauschen, Flüsterwort und Liebeskuß, Bis der letzte Klang verklungen, Weil nun alles schlafen muß – Flußüberwärts singt eine Nachtigall. Sonnengrüner Rosengarten, Sonnenweiße Stromesflut, Sonnenstiller Morgenfriede, Der auf Baum und Beeten ruht – Flußüberwärts singt eine Nachtigall. Straßentreiben, fern, verworren, Reicher Mann und Bettelkind, Myrtenkränze, Leichenzüge, Tausendfältig Leben rinnt – Flußüberwärts singt eine Nachtigall. Langsam graut der Abend nieder, Milde wird die harte Welt, Und das Herz macht seinen Frieden, Und zum Kinde wird der Held – Flußüberwärts singt eine Nachtigall.91

Der Reim ist unvergleichlich: „Liebeskuß […] schlafen muß“ (Herv. d. Verf.). Es ist wirklich so, wie StG in den BfdK sagt: „ R e i m ist ein teuer erkauftes Spiel“. Auf diese poetische Kategorie ist StG schon im Frühwerk besonders aufmerksam. Reime verbrauchen sich schnell. Wie leicht werden sie konventionell und tragen zur bequemen Eingängigkeit eines Gedichts bei: „[H]at ein künstler einmal zwei worte miteinander gereimt so ist eigentlich das spiel für ihn verbraucht und er soll es nie oder selten wiederholen.“92 Liliencron drängt es sogar zur plattesten Allegorie (Strophe 3 u. 4). Sentimentale Effekthascherei wird nicht gescheut („Reicher Mann und Bettelkind, / Myrtenkränze, Leichenzüge“). Ein zitathafter Kehrvers mit diesem poetischen Lieblingsvogel allein macht auch noch kein (neu-)romantisches Gedicht, das irgendetwas zu sagen hätte.93 Das ist also zeitgenössische Lyrik um 1890, und es ist keineswegs die schlechteste. In seiner harschen Kritik hatte StG vollkommen recht. Keiner dieser drei Lyriker hat natürlich Eingang gefunden in den dritten Band der von StG und Wolfskehl herausgegebenen Anthologie der Deutschen Dichtung. Dafür aber so ganz unterschiedliche wie Novalis, Eichendorff, Platen, Heine, Lenau, Hebbel, Mörike und C. F. Meyer. Man sieht, wenn man sich solcher Gedichte, wie der eben zitierten, erinnert, wie neu StGs Lyrik ist; und man versteht die vollmundige Einführung in die BfdK. Vieldeutig, 91 Detlev von Liliencron, Schöne Junitage, in: Ders., Werke, hrsg. v. Benno von Wiese, Bd. 1, Frankfurt/M. 1977, S. 33. 92 BfdK 2/1894, 2, S. 35. 93 Dem impressionistischen Lyriker Liliencron können, das ist zuzugeben, diese Bemerkungen natürlich nicht gerecht werden.

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II. Systematische Aspekte

gerade wenn man an die weitere Entwicklung StGs und seines Kreises denkt, schließt deren erste Vorrede: „In der kunst glauben wir an eine glänzende wiedergeburt“,94 also an die radikale ,Verwandlung‘. Aber als was, in was? ,Verwandlung‘: Das ist der Anspruch, den StGs Projekt von Anfang an erhebt. Die neue Poesie StGs will eine einzige radikale Konversion einleiten und bereits selbst sein. Sie verlangt diese Konversionsbereitschaft von jedem, der Zugang zu ihr haben will. ,Wiedergeburt‘: Dieses Modell ist, wie schon in der Romantik, sogar offen für die nationale Option, auch wenn sie hier nicht ins Auge gefasst wird. Genauso wird die Begegnung mit dem Werk und StG selbst erfahren: als eine Situation der Entscheidung und der Meta´noia, der Umkehr hin zur einzig rechten neuen Kunst und zum einzig rechten neuen Leben. Die Konversion, die in aller Entschiedenheit vollzogen wird, ja, die sich an denen vollzieht, die StG wirklich begegnen, ist deshalb ein strukturbildendes Moment in den Berichten über die ersten Begegnungen mit StG selbst und mit seinen Gedichten. StG macht die Konversion von Anfang an zu einer Grundfigur seiner Selbstinterpretation. Georg Simmel sieht in seinem George-Aufsatz von 1901 in StG eine „grundsätzliche Wendung“ in der Geschichte der deutschen Lyrik.95 Die poetische Umkehr zu vollziehen ist von Anfang an poetologische Intention des Werks; sie impliziert aber auch die kulturelle und soziale Umkehr: StG sieht sich mehr und mehr als einer, der „[e]in Drüben schuf durch umkehr eures Hier . . / Der euren wahnsinn so lang in euch schrie / Mit solcher wucht dass ihm die kehle barst“ (VIII, 34). Diese brachiale Rhetorik ist in der Poetik der Umkehr und des Neubeginns angelegt. 1.2.3. Die zwei Rollen des Dichters: Priester und Prophet StG ist ein Dichter der Moderne – selbst da, ja besonders da, wo er sie in bestimmten Erscheinungsformen scharf kritisiert. Denn Kritik der Moderne und ihrer Kultur gehört zu dieser Epoche seit Rousseau, Hölderlin und Schiller. Als einen radikalen Zivilisationskritiker versteht sich StG jedoch keineswegs. Das unterscheidet ihn auch von manchen Spielarten der Lebensreformbewegung um 1900, zu der er deutlich Abstand wahrt.96 In Selbstinszenierung und Rollenbewusstsein äußert sich nicht bloß StGs subjektivistische Willkür, sondern drückt sich sichtbar und erfahrbar eine spezifische Problemlage der Poetik und Ästhetik der Moderne aus, die nun weiter zu erläutern ist. StGs Poetik realisiert zwei Rollenmuster, die aus der religiösen Welt kommen: das des Dichter-Priesters und das des Dichter-Propheten.97 Beide Rollen scheinen sich zu 94 Den religiös konnotierten Begriff der ,Wiedergeburt‘ benutzt auch Langbehn am Ende von Rembrandt als Erzieher (1890), dort ausdrücklich unterschieden von dem der ,Renaissance‘. 95 Georg Simmel, Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie (1901), in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen. 1901–1908, Bd. 1, hrsg. v. Rüdiger Kramme u. a., Frankfurt/M. 1995 (Gesamtausgabe 7), S. 21–35, hier: 22. 96 Vgl. Kai Buchholz u. a. (Hrsg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001. 97 Vgl. hierzu auch Breuer 1995, bes. Kap. 1 u. 2; Hinck, Gedicht als Spiegel, S. 12ff. Zum weiteren Zusammenhang vgl. Gabriela Lucia Wacker, Poetik des Prophetischen. Studien zum prophetischen Kunstverständnis in der klassischen Moderne, Diss., Tübingen 2011 (erscheint voraussichtlich 2013).

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widersprechen. Doch sie hängen aufs Engste miteinander zusammen und lassen sich mit weiteren Rollen- und Selbstdeutungsmustern verbinden, die StG ebenfalls für sich in Anspruch nahm und die seiner Selbstcharismatisierung dienten: etwa mit der schon angesprochenen Rolle des Melancholikers, des Opfers, des für die Jünger und für seine Aufgabe Leidenden, des Erlösers und Erziehers, des Lehrers und Führers. In der Gestalt Jesu Christi, wie sie das Neue Testament vorstellt, sind alle diese Rollen angelegt, so auch die des Meisters im Kreis seiner Jünger. Der moderne Künstler als Postfiguration Jesu: Das ist eine grundlegende Selbstauslegungsfigur der ästhetischen Moderne, wohl die semantisch differenzierteste.98 Von der Priester- und Prophetenrolle bei StG zu sprechen, scheint auf den ersten Blick nur zwei Stereotypen zu wiederholen, die die Rezeption StGs schon sehr früh geprägt haben. Trivial ist das dennoch nicht, weil man hier ins Zentrum von StGs Poetik kommt. StG durchdachte und entfaltete diese beiden Rollen konsequent in ihrem Bezug aufeinander. Um 1900 blieb er auch keineswegs allein mit seiner Inanspruchnahme der Rolle des Priesters der Poesie.99 1.2.3.1. Der Dichter-Priester Zwei Ausprägungen dieses modernen Selbstverständnisses des Dichters und seiner Kunst kann man schon im 18. Jahrhundert grundsätzlich unterscheiden. Beide werden sie für StG wichtig: Mit der frühneuzeitlichen Bibeldichtung (Milton, Klopstock) wird die Dichtkunst zum eigentlichen Organ, zum Medium einer höchsten Wahrheit, die nun durch den Dichter, nicht durch tradierte Institutionen und Medien der Religion, zugänglich wird.100 Diese Auffassung von der ,heiligen Poesie‘ kann sich mit einer vor allem von der platonischen Tradition beeinflussten Inspirationspoetik verbinden. Mit Karl Philipp Moritz und der frühen Romantik entsteht das Konzept der Kunstreligion. Kunst ist jetzt nicht allein dadurch geheiligt, dass sie als Medium und Organ der Offenbarung eines transzendenten Sinns aufgefasst und in ihr die Bibel literarisch transformiert wird. Das Kunstwerk gilt nun selbst als Heiliges, und die Künstler werden sogar zu ,Kunstheiligen‘ (so im Schlüsseltext romantischer Kunstreligion, in Wackenroders und Tiecks Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders von 1796). „Doch ist mir einst das Heilige, das am / Herzen mir liegt, das Gedicht gelungen, / […] / […] mehr bedarfs nicht“, heißt es in der Ode „An die Parzen“ (1798) von Friedrich Hölderlin, der für StG und seinen Kreis eine besondere Bedeutung hatte – und dies nicht erst dank der Vermittlung Norbert von Hellingraths, sondern schon wesentlich früher.101 98 Vgl. Gerhard Kaiser, Christus im Spiegel der Dichtung. Exemplarische Interpretationen vom Barock bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Freiburg u. a. 1999; Friedhelm Marx, „Ich aber sage Ihnen …“. Christusfigurationen im Werk Thomas Manns, Frankfurt/M. 2002. 99 Vgl. Ulrike Haß, Militante Pastorale. Zur Literatur der antimodernen Bewegungen im frühen 20. Jahrhundert, München 1993, bes. S. 163ff. – Anders als viele Autoren, die Haß anführt, legte StG die Priester-Rolle meines Erachtens nicht völkisch aus. 100 Vgl. Joachim Jacob, Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997. 101 Norbert von Hellingrath promovierte 1910 über Hölderlins Pindar-Übertragungen. StG und

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II. Systematische Aspekte

StG selbst bezeichnete einige seiner Werke als „Heilige Bücher“ (den Teppich des Lebens, den Siebenten Ring, den Stern des Bundes).102 Wer aber das Heilige hervorbringt und vollzieht, ist in seiner Aufgabe und seinem Tun auf unvergleichliche Weise legitimiert. Der Dichter-Priester ist nicht nur der ,Verwalter‘ des Heiligen; er ist auch nicht nur der Dichter-Pastor, der primus inter pares, sondern der Verwandler des profanen Wortes in die ,heilige Sprache‘ der Kunst. Nach der aufgeklärten Rationalisierung von Mythos und Religion gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird durch das neue Verständnis des Kunstwerks als autonome, in sich selbst sinnvoll organisierte Totalität, die sich nicht durch externe Funktionen, Zwecke und Brauchbarkeiten rechtfertigen kann und darf, die Inthronisation der Kunst als ein neues und in jedem wirklichen Kunstwerk neu erfahrbares Heiliges ermöglicht. Eine höhere Legitimation kann es nicht geben. Im Konzept der Kunstreligion beansprucht das autonome Kunstwerk, der Ort zu sein, an dem sich eine eigene, begriffslose, also nicht weiter ableitbare, nicht mehr hintergehbare und in ihrer Tiefe nicht ausschöpfbare, nur ästhetisch realisierbare Wahrheit ereignen soll. Nur in der Kunst soll sie erfahrbar sein.103 Man sieht leicht, wie hier ein symbolistisches Kunstkonzept bereits antizipiert wird. Nicht nur bei StG sind der tiefe Brunnen, das Wasser, der Quell wichtige Symbole für diese tiefe, geheimnisvolle, unausschöpfbare Poesie (vgl. etwa „Das Lied“; IX, 100–101).104 Die europäische Moderne setzt diese Rolle des Dichter-Priesters mit ihren zwei Wurzeln – Bibeldichtung und Kunstreligion – immer wieder in Szene, besonders und in forcierter Weise der Symbolismus.105 Stets besteht dabei die Gefahr, dass sich der Dichter-Priester selbst wichtiger nimmt als den Dienst an der Poesie, den er zu leisten beansprucht, und als das Werk, das durch ihn realisiert wird und das er vollzieht. Das ist in institutionalisierter religiöser Praxis bekanntlich nicht anders. „Er wollte für sich das alles haben, was die Kunst zum Opfer fordert“, heißt es schon in Karl Philipp Moritz’ Roman Anton Reiser (1785–1790) kritisch über den Titelhelden.106 Auch Wackenroder und Tieck werfen diesen kritischen Blick auf ihre Renaissance-Künstler. Dieses ,Opfer‘ wäre jedes bloß individuelle, bloß partikuläre Interesse. Alles bloß Subjektive muss aber zurückgedrängt werden. StG verpflichtet sich diesem Gedan-

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Hellingrath haben intensiv gemeinsam an Hellingraths Hölderlin-Ausgabe gearbeitet. Vgl. Henning Bothe, „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992. BV, S. 51; vgl. auch ebd., Anm. 74. Im Zusammenhang mit seinem Gedicht „Der Krieg“ (IX, 21–26) soll StG ebenfalls von ,heiligen Büchern‘ gesprochen haben; vgl. Ernst Robert Curtius, Stefan George im Gespräch, in: Ders., Kritische Essays zur europäischen Literatur, Bern 1950, S. 138–157, hier: 157; Erich von Kahler, Stefan George. Grösse und Tragik, Pfullingen 1964, S. 28. Vgl. Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006. Früh ist der Hang zum Geheimnisvollen in der Dichtung StGs von Max Dessoir kritisiert worden; vgl. Max Dessoir, Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaften in kritischer Betrachtung, unveränderter Nachdr. der 6. Aufl. der Ausg. Stuttgart 1918, Stuttgart 1967, S. 401–403. Dessoir hatte 1895 in seiner Vorlesung in Berlin über StG gesprochen und 1896 Interesse und vage Zustimmung signalisiert, bei der Ausweitung der BfdK zu einer monatlich erscheinenden Rundschau mitzuarbeiten; vgl. G/H, S. 255. Belege bei Braungart 1997, bes. I, 1 (etwa: Baudelaire, Verlaine, Claudel). Karl Philipp Moritz, Anton Reiser, in: Ders., Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde, hrsg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier, Frankfurt/M. 1999, S. 85–518, hier: 442.

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ken, wenn er sein Leben lang an die Aufgabe erinnert, die das Subjekt zu leisten hat: an das Amt, das angemessen auszuüben ist, an „die flamme“, deren „trabant“ man zu bleiben hat, sofern man sie „je […] umschritt“ (VIII, 84). „Sein [des ,Sehers‘] amt ist lob und fem · gebet und sühne · / Er liebt und dient auf seinem weg“ („Der Krieg“; IX, 23). Dass aus den Gedichten selbst freilich auch etwas anderes sprechen kann: die Sehnsucht nach Nähe, auch nach der körperlich erfahrenen Liebesbegegnung, nach Glück, scheint mir allerdings unstrittig und verrät nur, wie rigoros StG selbst sich seinem Amt unterwarf.107 StG 1919 im Gespräch mit Ernst Robert Curtius: Um das Leben zu retten, kommen die Ingenien und geben Gesetze. Alle diese Gesetze enthalten Einschränkungen, Unbequemlichkeiten, Waschungen [!]. Aber man muss das alles mitnehmen und mitbejahen. Das Wichtige ist: dass Gesetze seien, gleichgültig, ob sie dem Individuumchen passen oder nicht.108

Semantisch bleibt das leer.109 Die geforderte Haltung ist Affirmation gegenüber dem, was man mit Entschiedenheit zu tun hat, nicht kritische Distanz. Diese völlige SelbstZurücknahme des „Individuumchen[s]“ gilt auch für die dramatische Kunst, die doch aus der Interpretation des Textes durch den Schauspieler erst zu leben beginnt: „Eine neubelebung der Bühne ist nur durch ein völliges in-hintergrund-treten des schauspielers denkbar“, heißt es 1894 in den BfdK, wohl auch beeinflusst von Nietzsches Kritik des Schauspielers, in dem er den Prototypen des modernen Menschen sieht.110 Aus dem Dichter-Priester wird dann der Schauspieler, wenn er nur noch zu simulieren scheint, das Heilige im Gedicht und als Gedicht zugänglich zu machen. Aber wer vermag das zu entscheiden, in der Religion wie in der Kunst? Es ist also alles eine Frage der ästhetischen Überzeugungskraft, der Glaubwürdigkeit der ästhetischen Anmutung, der Qualität der Inszenierung. In der Kunst kann Inszenierung kein pejorativer Begriff sein, sondern ist genau das, worauf es ankommt. Der Vorwurf des Inszenatorischen und Stilisierten, den man gegen StGs Leben und Werk immer wieder vorgebracht hat, verfehlt das Wesen von Kunst, indem er sie nach dem Kriterium der Authentizität beurteilt, das aus dem 18. Jahrhundert kommt. Der größte Teil der Dichtung des Kreises aber mutet tatsächlich wie bloße Simulation der Dichtung StGs an, wie schlechte Re-Inszenierung des Meisters, wie nachgemacht. Das Konzept autonomer Poesie verlangt also, sich vom Alltäglichen und Profanen zu lösen, auch von allen bloß individuellen Neigungen und Interessen, sich auf die große Erfahrung der Kunst angemessen vorzubereiten und immer zu wissen, wie man sich ihr zu nähern hat: „Die lämmer für den dienst der götter seien rein von flecken“ („An Menippa“; III, 31). Der Gedanke der Reinheit und der angemessenen Vorbereitung („So war das reine opfer ihnen teuer / So lächelten und winkten sie mit gnade“; „Nachthymne“; II, 20) spielt in StGs Werk eine wichtige Rolle.111 In einem der bekanntesten Gedichte StGs, „Komm in den totgesagten park und schau“, dem Eröffnungsgedicht des Jahrs der Seele (IV, 12), ergeht an denjenigen, der den Park der 107 Vgl. I, 1.4., S. 19f. 108 Zit. nach Lothar Helbing [d. i. Wolfgang Frommel], Zur Einführung, in: Friedrich Gundolf. Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, eingel. u. hrsg. v. Lothar Helbing u. Claus Victor Bock, 2. Aufl., Amsterdam 1968, S. 11–70, hier: 64; Herv. d. Verf. 109 Vgl. auch David, Stefan George, S. 395. 110 BfdK 2/1894, 2, S. 34. Vgl. Hinck, Gedicht als Spiegel, S. 50ff. 111 Vgl. Brokoff, Reine Poesie.

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II. Systematische Aspekte

Poesie betreten soll, auch die Aufforderung, der „reinen wolken unverhofftes blau“ (Herv. d. Verf.) zu schauen, das „die weiher und die bunten pfade“ „[e]rhellt“, und aus dieser Erfahrung der herbstlichen Natur nur die „reinen“ Farben herauszulösen. So kann das visionäre Gesicht-Gedicht ,leicht‘ gestaltet und zugleich der herbstliche Niedergang – „was übrig blieb von grünem leben“ – ertragen werden: „Verwinde leicht im herbstlichen gesicht“. Das Verb ist doppeldeutig (,ertrage‘ und: ,bringe in einen wirklichen Zusammenhang‘); der Vers hat einen melancholischen Unterton. Der modernen „menge“ oder Masse aber ist das heilige „wort“ nicht zugänglich. Sie ,befleckt‘ es nur: „Dann fleckt auf jedem wort der menge stempel / Der toren mund macht süsse laute schal“ (V, 20). Die „menge“ ist das Amorphe, Chaotische, Ungebändigte, Unreine. Sie wird nur dann „schön“, wenn „das wunder sie ergreift“ und ordnet („Leo XIII“; VI/VII, 20–21). Der Kult der Form im George-Kreis ist auch ein Kult der wenigen „Reinen“ gegen die Formlosigkeit der Masse, an die in „Der Verworfene“ derjenige zurückverwiesen wird, der sich mit ihr gemein macht: Du fandest seltne farben schellen scherben Und warfest sie ins wirre blinde volk Das überschwoll von preis der dich berauschte . . Doch heimlich weinst du – in dir saugt ein gram: Beschämt und unstät blickst du vor den Reinen Als ob sie in dir läsen . . unwert dir So kamst du wol geschmückt doch nicht geheiligt Und ohne kranz zum grossen lebensfest. (V, 49)

Dass sich das dichterische Subjekt von der lockenden Sinnlichkeit des vitalen Lebens zu lösen hat, um seines poetischen Amtes walten und „den griffel der sich sträubt“ überhaupt „führen“ zu können, weiß schon das frühe Gedicht „Im Park“ (II, 11). Nur so, in dieser asketischen Distanz zur sinnlichen Unmittelbarkeit, kann sich der Dienst am poetischen Wort vollziehen. Die Melancholie des Verzichts und der notwendigen Einsamkeit der poetischen Aufgabe durchzieht das ganze Werk und findet sich auch in den Selbstäußerungen StGs, soweit sie durch die Kreisschriften dokumentiert sind.112 Dieser Habitus des Melancholikers trägt sicher auch zur Charismatisierung StGs bei. Der schwarze Rock mit Stehkragen, den StG so gerne trug, konnotiert das Priesterliche, den geistigen Abstand zur „menge“, die nur ,blöd drunten trabt‘ („Nietzsche“; VI/VII, 12–13); aber auch Trauer und Melancholie. Schwarz ist bis heute die Farbe der Künstler und Intellektuellen und derjenigen, die sich für solche halten: eben das Problem der Simulation, das in der modernen Warenästhetik sinnfällig wird. Der Umgang mit dem Heiligen vollzieht sich in angemessenen Ritualen, die sorgfältig eingehalten werden müssen. Bei den Lesungen, zu denen StG seine Jünger zusammenrief, stehen, wie sich Thormaehlen erinnert, „Brot, Früchte und Wein“ bereit (LT, 54). Das Essen wird zum einfachen, feierlich-sakralen Mahl stilisiert: „Auf dem niederen Tisch zwischen den Liegebänken stehen Zinnschalen mit Broten, Feigen, Orangen. Dazwischen liegen Lorbeerkränze und Reiser, steht eine Karaffe mit Wein“

112 Viele Belege dafür bei Braungart 1997, S. 288–298; vgl. unten 1.3.2.

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(KH, 67f.). Hildebrandt schildert diese Lesung, kennzeichnend für die Erinnerungsbücher überhaupt, ohne jeden Anflug von Ironie und Distanz. Es ist nicht so sehr wichtig, ob hier stilisiert und überhöht wird.113 So soll es für Hildebrandt gewesen sein: Die Lesungen sind für ihn sakramentale „Feier der Dichtungen“ (KH, 62).114 Das auf diese Weise rituell gesprochene Wort ist Wirkung, nicht Mitteilung; es ist Geschehen. Es ereignet sich. Das laute Lesen soll den schriftlichen Text in seine erfahrbare Präsenz zurückholen und ihn als wirksamen und gültigen wieder neu einsetzen. Es kontrolliert die Deutungsoffenheit des Schrift-Textes.115 Die Vorstellungswelt des Sakralen, Kultischen und Rituellen ist wichtig für viele Gedichte dieser ,heiligen Poesie‘ StGs wie für die europäische Moderne überhaupt.116 Der Spott, den StG selbst und sein ganzer Kreis früh schon auf sich zogen, zielte nicht zuletzt auf den gewählten, ja weihevollen Ton vieler Gedichte – „O schwester nimm den krug aus grauem thon · / Begleite mich! denn du vergassest nicht / Was wir in frommer wiederholung pflegten“ („Jahrestag“; III, 11) – und auf die gesamte kunstreligiöse, ,sektenhafte‘ und inszenatorische Aura. Mit seinen Selbstinszenierungen hat StG schon immer befremdet; früh schon hat man sie verhöhnt. Brecht etwa mokierte sich seltsam missvergnügt, ja missgünstig 1929 in seiner Antwort auf eine Umfrage der Literarischen Welt aus Anlass des 60. Geburtstags StGs, als fürchte er, der sich ein Leben lang zwar anders, aber nicht weniger konsequent in Szene zu setzen wusste, Konkurrenz: So bietet er den Anblick eines Müßiggängers, statt den vielleicht erstrebten eines Schauenden. Die Säule, die sich dieser Heilige ausgesucht hat, ist mit zuviel Schlauheit ausgesucht, sie steht an einer zu volkreichen Stelle, sie bietet einen zu malerischen Anblick.117

,Volkreich‘ sollte schon der Platz sein, den Brecht sich selbst suchte … Walter Benjamin, der für sein Konzept der Aura ohne Zweifel viel von StG gelernt hat, distanzierte sich deutlich von dessen „Priesterwissenschaft der Dichtung“,118 die StG freilich mit großen Teilen der europäischen Moderne teilte. StGs Erfolg hatte genau mit dieser sichtbaren und zugleich geheimnisvollen, religiös anmutenden Inszenierung von Leben und Werk zu tun. Kulturelle und auch soziale und politische Neuansätze sind generell umso erfolgreicher, je stärker sie sich an Religion koppeln, sich religiös ausstaffieren oder gar selbst religiös aufladen.119 Weil diese Anmutung des Inszenatorischen bei StG so stark war, notierte man in den Begegnungen mit ihm besonders, wenn er sich leutselig und zugänglich gab, wenn er Rheinhessisch sprach und wenn er ganz ,normale‘ Wünsche und Bedürfnisse äußerte.120 113 Hildebrandt weist selbst auf Unterschiede zur Darstellung Boehringers hin (KH, 61, Anm. 20). 114 In mimetischer Annäherung an StG ließ Hildebrandt selbst solche Gewänder fertigen, um einmal eine derartige Lesung zu wiederholen. Doch er musste feststellen: „das war nur möglich in Gegenwart des Meisters, im Kugelzimmer“ (KH, 69): am heiligen Ort, zur heiligen Zeit und unter charismatischer Führung. 115 Zu diesem Problem ausführlicher 1.4.1.1. u. 1.4.1.2. 116 Vgl. Linke, Das Kultische; Braungart 1997. 117 Ralph-Rainer Wuthenow (Hrsg.), Dokumente zur Wirkungsgeschichte. Bd. 1: Stefan George in seiner Zeit, Stuttgart 1980, S. 202. 118 Benjamin, Über Stefan George, S. 623. 119 Vgl. Hermann Lübbe, Heilserwartung und Terror. Politische Religionen des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1995. 120 Viele Berichte belegen das; vgl. zuletzt den ,Minusio-Roman‘ Clotilde Schlayers, Minusio.

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II. Systematische Aspekte

1.2.3.2. Der Dichter-Prophet Die andere, ebenso wichtige Rolle, nach der man StGs Verständnis seines Amtes deuten kann, ist die des Dichter-Propheten. Er steht bewusst in Opposition zur eigenen ,dürftigen Zeit‘ (Hölderlin) und spricht aus ihrer scharfen Kritik heraus; er ,singt‘ nicht (vgl. „Nietzsche“; VI/VII, 12–13), er tendiert dazu, das Poetische zu sprengen.121 In der schwierigen Begegnung zwischen Hofmannsthal und StG wurde die Prophetenrolle StG durch Hofmannsthal selbst mit einem Gedicht zugesprochen („Der Prophet“, 1891).122 Zum Propheten gehört, erfasst zu werden, beauftragt und angesprochen zu werden von einer anderen Stimme. Das kann man als eine Variante des inspirationspoetischen Modells verstehen, das noch für die Dichtkunst der Moderne außerordentlich wirksam ist: Als Prophet spricht der Dichter in eines ganz Anderen Auftrag; durch ihn spricht es – und das noch in der poetischen Moderne von Baudelaire bis Gottfried Benn.123 Die poetologisch grundlegende Bedeutung des Gedichts „Weihe“ (II, 10), das die Hymnen eröffnet, also die erste selbstständige Publikation StGs überhaupt, und das Inspirationsmodell neu interpretiert, ist von der Forschung vielfach gezeigt worden.124 Grundsätzlich ist die prophetische Rede immer auf Gegenwart und Zukunft bezogen. Mit der prophetischen Kritik der eigenen Zeit und Kultur steht immer auch das Verhältnis zur Zukunft zur Debatte. Es kann utopisch, ja eschatologisch, oder sozial (Liebe, Freundschaft, ,schönes Leben‘), aber auch politisch gedacht sein („Geheimes Deutschland“; IX, 45–49, „Die Tat“; III, 45). Der Prophet sagt, was sich sonst keiner zu sagen traut und was sonst keiner so deutlich wahrnimmt; er sagt das Unerhörte und sagt es, womöglich seherisch, vorher: „was kommt ist qual“ (IX, 77). Die Prophetenrolle des Dichters kann auch als die eines poeta vates ausgelegt werden. Er spricht aus innerer Notwendigkeit heraus, auch wenn er unverstanden bleibt und sich weiter isoliert: „Des sehers wort ist wenigen gemeinsam“ (IV, 51). Mit der autonomen Kunst als neuem Heiligen ist auch für StG ein neuer, unhintergehbarer und nicht mehr weiter ableitbarer Wert gewonnen und damit ein Maßstab für ihren Gegenwartsbezug und für die Beurteilung einer „welt die birst“ („Leo XIII“; VI/VII, 20): einer Welt, die sich dem Banalen und Trivialen hingibt, die sich geschäftig und umtriebig in unsinnige Funktionszusammenhänge einbindet und der dabei nichts mehr wirklich heilig ist. Schon mit Hölderlin und Schiller beginnt diese poetisch-ästhetisch fundierte Kulturkritik in Deutschland.125 Ob man sich dem Kunstwerk wirklich öffnen kann, ob man sich an der freien, sich selbst Gesetz gebenden Kunst entwickeln kann und ihrem Anspruch standhält, wird zugleich kritischer Maßstab für den Bildungsprozess des bürgerlichen Subjekts wie einer Kultur, die eine solche ,Bildung‘

121 122 123 124 125

Chronik aus den letzten Lebensjahren Stefan Georges, hrsg. v. Maik Bozza u. Ute Oelmann, Göttingen 2010 (CP N.F. 4). Zu diesem Problem vgl. Braungart, Georges Nietzsche. Vgl. auch Rieckmann, Hofmannsthal und George, S. 17ff.: „Der Prophet“. Vgl. Eike Barmeyer, Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationstheorie, München 1968. In jüngster Zeit von Martus, Werkpolitik; siehe auch Ralf Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes. Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke, Paderborn, München 2011, S. 231ff. Vgl. Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders, München 2007.

1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

523

entweder ermöglicht und fördert oder auch verhindert. ,Bildung‘, das große bürgerliche Konzept des 19. Jahrhunderts, ist entscheidend ästhetisch-kulturelle Selbst-Bildung an Kunst und Bildung zur Kunst.126 Julius Langbehn, einer der wirkungsmächtigsten und trivialsten Kulturkritiker des 19. Jahrhunderts, dessen Pamphlet Rembrandt als Erzieher von 1890 bis in den Nationalsozialismus hinein immer wieder, auch in sogenannten ,Volksausgaben‘, aufgelegt wurde, sieht „von jeher“ eine ,Verwandtschaft‘ zwischen Prophet und Künstler.127 „Ich euch gewissen · ich euch stimme dringe / Durch euren unmut der verwirft und flucht“ („Das Zeitgedicht“; VI/VII, 32): Diese andere Rolle des Mahners, Kritikers, Sehers und Propheten zeichnet sich ebenfalls schon ganz früh, in der ersten Folge der BfdK ab, wenn sich das Projekt einer gänzlich neuen „kunst für die kunst“ von vornherein im Gegensatz sieht „zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang“.128 Hier schon wird schroff gewertet. Mit der falschen Kunst wird zugleich eine ganze falsche Kultur verworfen. Der Prophet ist ein sozialer Störenfried, ein Unruhestifter. Die alte Welt wird in der prophetischen Rede abgestoßen. Dem falschen Bestehenden muss man sich radikal verweigern, sonst kann das Neue nicht kommen. „Das gut was euch vor allem galt ist schutt. / […] / Geht mit dem falschen prunk der unsren knaben / Zum ekel wird!“ (VI/VII, 31) Mit der prophetischen Weltsicht kann sich also die apokalyptische besonders leicht verbinden, auch bei StG, in seinen Gedichten wie seinen Gesprächsäußerungen.

1.3.

Rhetorik

1.3.1. Die Entwicklung der rhetorischen Intention Priester- und Prophetenrolle verlangen eine eigene Stil-Lage. Sie begünstigen das genus grande, die große poetische Sprach-Geste. Sie ist kontrolliert, streng, feierlich, sakral, auch oratorisch: kündend und verwerfend. Lyrische Sprachregister, die seit der Romantik der Poesie angemessener scheinen, kontrastieren dazu scharf.129 In der Lyrik, so unterstellt man noch immer leicht (und setzt deshalb den lyrischen Sprecher mit dem Autor besonders schnell gleich), spreche sich das Autor-Subjekt wirklich selbst aus. StG sucht aber geradezu den Kontrast zu Einfühlung und Versenkung. Er setzt sich zwar auch mit dem liedhaften und einfachen poetischen Sprechen von Beginn an in den Gedichten selbst auseinander, fortdauernd durch das gesamte Werk (etwa „Schweige die klage“; II, 44, „Das Lied“; IX, 100–101); aber er schreibt kaum ,lyrische‘ Lyrik. Das gilt, scheint mir, sogar für das Jahr der Seele und die Liebeslyrik. Die grundlegende poetische Intention des Dichter-Priesters ist der gültige Vollzug der Kunst in der rechten Weise und als Amt, das er ausüben muss. Die grundlegende 126 Vgl. Wilhelm Voßkamp, „Ein anderes Selbst“. Bild und Bildung im deutschen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts, Göttingen 2004; ders., Der Roman des Lebens. Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin 2009. 127 Marx, Heilige Autorschaft?, S. 109, Anm. 7. 128 BfdK 1/1892, 1, S. 1; Herv. d. Verf. 129 Vgl. Dieter Lamping, Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen 1989. – Auf das Rhetorische stellt ganz ab: Roos, Georges Rhetorik.

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II. Systematische Aspekte

poetische Intention des Dichter-Propheten ist Hinsprache, ist belehrende, erziehende, mahnende, wütende, verfluchende – kurz: sozial wirksame Rede, ist Rhetorik: Ihr jauchzet · entzückt von dem teuflischen schein · Verprasset was blieb von dem früheren seim Und fühlt erst die not vor dem ende. Dann hängt ihr die zunge am trocknenden trog · Irrt ratlos wie vieh durch den brennenden hof . . Und schrecklich erschallt die posaune. („Der Widerchrist“; VI/VII, 57)

Hier wagt sich ein Autor weit vor und riskiert viel. StGs Konzeption des Dichters als Prophet ist implizit Subjektivitätskritik: „Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer / Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme“ („Entrückung“; VI/VII, 111). So stilisiert sich das poetische Subjekt selbst zum Sprachrohr eines Höheren. Der Prophet spricht das „mahnwort“ (IX, 49). Er ist der „warner“, der polarisiert: „Einer stand auf der scharf wie blitz und stahl / Die klüfte aufriss und die lager schied“ (VIII, 34). Die eingreifende, intentionale ,rhetorische‘ Rede ist also nicht Abfall von der ,reinen Poesie‘, nicht Verrat, sondern ihr genaues und aus der Logik der Kunstreligion sich ergebendes Komplementärkonzept.130 So ist es schon bei der berühmten Scheltrede an die Deutschen in Hölderlins Hyperion-Roman. Darum finden sich Mahnung und Belehrung auch bei StG schon früh im Werk: „Bescheide dich wenn nur im schattenschleier / Mild schimmernd du genossene fülle schaust“ (IV, 118; Herv. d. Verf.). Beide Rollen, die im Religiösen voneinander unterschieden werden müssen, die des Priesters und die des Propheten – Johannes kündigt Christus an –, gehören bei StG unauflösbar zusammen: „dass auf erden / Kein herzog kein heiland wird der mit erstem hauch / Nicht saugt eine luft erfüllt mit profeten-musik“ (VIII, 18). Beide Rollen konstituieren seine Poetik, die also zwei grundlegende Schreibhaltungen kennt: die poetische einer ,Kunst für die Kunst‘ in sakraler Würde und die rhetorische, die auf eine Kunst für ein ,richtiges Leben im falschen‘ hinauslaufen soll, das durch sie möglich und eröffnet wird – bzw. durch den ,Meister‘, der die Kunst vollzieht. So wie es schon dem jungen StG um seine soziale Wirksamkeit im Zeichen der Kunst geht, weshalb er auch bereits in der Gymnasialzeit beginnt, Gleichgesinnte um sich zu versammeln, so beginnt er auch schon früh, sich Freunden und Gefährten schreibend zuzuwenden und auf sie einzuwirken. Wo die Idee autonomer Kunst selbst ein höchster Wert ist und deshalb als ein ästhetischer Maßstab poetischer Kulturkritik immer gelten kann, reduziert sich die Gefahr, dass sie vollständig in kulturkonservative, womöglich rechte Ideologie in Versform und sich überschätzende ,ästhetische (Selbst-)Ermächtigung‘ übergeht.131 Die Konsequenz eines Kultes des Ästhetischen ist überhaupt nicht 130 Dirk von Petersdorff hat auf die grundlegende Bedeutung hingewiesen, die die frühe Romantik mit der für sie zentralen Idee der Kunstreligion durchgängig für das Selbstverständnis der ästhetischen Moderne hatte; vgl. Dirk von Petersdorff, 200 Jahre deutsche Kunstreligion!, in: Ders., Verlorene Kämpfe. Essays, Frankfurt/M. 2001, S. 15–25, bes. S. 21ff. 131 In einem großen Durchgang wird dieses hier nur angedeutete Problem ausführlich entwickelt bei Uwe Hebekus, Ästhetische Ermächtigung. Zum politischen Ort der Literatur im Zeitraum der Klassischen Moderne, München 2009; zu StG und dem Kreis bes. Kap. IV u. V. Zum weiteren Zusammenhang vgl. vor allem die Studien Stefan Breuers, bes.: Ders., Die radikale Rechte in Deutschland 1871–1945, Stuttgart 2010.

1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

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notwendigerweise die ästhetische Ermächtigung in der Sphäre des Politischen, auch nicht der des Nationalsozialismus. Antidemokratisches Denken im George-Kreis, die durch Kult und Ritual hierarchisierte und „schön“ werdende „menge“ („Leo XIII“; VI/VII, 21), ästhetisches Elite-Denken: Daraus gehen keineswegs zwingend Antisemitismus und Rassismus, die industriell organisierte Ermordung von Millionen hervor. Gewiss, die Forschung hat es oft und eindringlich gezeigt: Der Nationalsozialismus war auch ein ästhetisches System; und er bezog aus seiner Ästhetik auch einen Teil seiner Durchsetzungskraft. Aber auch wenn nichts, bis in den Rassenwahn hinein, seinem ,Durchformungsterror‘ entgehen sollte, so kann man die sogenannte ,Machtergreifung‘ von 1933 kaum als letztlich ästhetische Ermächtigung interpretieren. Die Rassenideologie des Nationalsozialismus ist eine fürchterliche ethische Depravation, ungeachtet aller ,ästhetischen‘, selbst rassistisch begründeten Implikationen. Dass StGs poetische Kulturkritik nicht vollständig in ästhetische Ermächtigung der Politik mündet, lässt sich besonders gut an den Zeitgedichten des Siebenten Rings (1907) zeigen, die umstritten sind und umstritten sein wollen. Geliebt werden wollen sie gewiss nicht. Sie suchen die kritische Konfrontation mit der profanen, heillosen Welt; unverkennbar im „Zeitgedicht“ (VI/VII, 6–7) selbst, in „Die tote Stadt“ (VI/VII, 30–31) oder in „Porta Nigra“ (VI/VII, 16–17).132 Dennoch geben auch sie im Ganzen ihren Kunstanspruch nicht preis. Man muss, um das zu sehen, aus der Suada rhetorischer Verkündigung und Verwerfung heraustreten und auch hier ,fragwürdige Stellen‘ aufsuchen, die dennoch ,Glück haben‘ (Adorno). StG schreibt nun mit den Zeitgedichten politische Lyrik; nun gelten deren Gattungskonventionen. ,Zeitgedichte‘ sind eine lyrische Untergattung, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt.133 Den spröden, kompromisslosen Ton poetisch-rhetorischer Prophetie beherrscht StGs bedeutendes und umstrittenes Lang-Gedicht „Der Krieg“ meisterhaft. Eine Passage daraus: Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein · Nur viele untergänge ohne würde . . Des schöpfers hand entwischt rast eigenmächtig Unform von blei und blech · gestäng und rohr. Der selbst lacht grimm wenn falsche heldenreden Von vormals klingen der als brei und klumpen Den bruder sinken sah · der in der schandbar Zerwühlten erde hauste wie geziefer . . Der alte Gott der schlachten ist nicht mehr. Erkrankte welten fiebern sich zu ende In dem getob. Heilig sind nur die säfte Noch makelfrei versprizt – ein ganzer strom. Wo zeigt der Mann sich der vertritt? das Wort Das einzig gilt fürs spätere gericht? Spotthafte könige mit bühnenkronen · Sachwalter · händler · schreiber – pfiff und zahl. (IX, 24) 132 Vgl. Wolfgang Braungart, Archäologische Imagination als poetische Kulturkritik. Stefan Georges Gedicht ,Porta Nigra‘ und sein ,kosmischer‘ Kontext (Alfred Schuler), in: Eva Kocziszky (Hrsg.), Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, S. 293–309. 133 Vgl. Jürgen Wilke, Das ,Zeitgedicht‘. Seine Herkunft und frühe Ausbildung, Meisenheim am Glan 1974.

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II. Systematische Aspekte

Großgeschrieben werden hier nur der „Gott“, „der Mann“ und „das Wort“. Auf sie kommt es an. Gefallen will solche Lyrik nicht und niemandem. Sie gibt sich nicht anschmiegsam und eingängig. Dass dies aber einfach nur schlechte Lyrik sei, kann man schwerlich behaupten, trotz ihrer massiven Rhetorik und trotz der Ideologie heroischer Selbstbewahrung im Opfer („Heilig sind nur die säfte / Noch makelfrei versprizt – ein ganzer strom“). Andere Autoren der Moderne haben diese Ideologie auch vertreten – und es sind nicht nur die unbedeutenden. Hölderlins Ode „Der Tod fürs Vaterland“ (1799) ist dafür ein besonders prominentes Beispiel. Eine ,Weltanschauung‘ wird in StGs „Der Krieg“ dennoch nicht wirklich geäußert. Die Autonomie der Literatur wird nicht preisgegeben.134 Anders kann das jedoch in den Gesprächsäußerungen und in den Briefen StGs sein; anders ist es vor allem in vielen poetischen Versuchen der Kreismitglieder. Hinter einem solchen poetischen Ton, wie er nicht nur das Gedicht „Der Krieg“ prägt, werden bei StG eine große Ernsthaftigkeit und Entschiedenheit, ja ein moralischer Anspruch wahrnehmbar und damit eine Ernsthaftigkeit und Entschiedenheit, die dem Leben selbst gilt: „Wo zeigt der Mann sich der vertritt? das Wort / Das einzig gilt fürs spätere gericht?“ (IX, 24) Wie man zu diesem ethischen Ernst des poetischen Wortes, auf den StG im Verlauf seines Werks immer mehr zu arbeitet, wie man zu solcher Lehrhaftigkeit ohne wirkliche Lehre steht, ist also nicht nur ein poetisches Problem, sondern durchaus auch eine Frage der Kunstauffassung und des eigenen Selbst-Verständnisses, das hier bewusst herausgefordert ist. Die „[s]potthafte[n] könige mit bühnenkronen“ ,führen sich‘ ganz und gar falsch ,auf‘. Hinter allen Inszenierungen, seinem elitären Habitus, erscheint ein Anspruch der Dichtkunst, der größer nicht sein könnte. In einer Welt, die „[d]es schöpfers hand entwischt“ ist – eine glänzende Wendung, in der noch die wieder rhetorisch gewordene Poesie ihre Freiheit behauptet! –, kommt dem poetischen „Wort“ ein neuer, besonderer Rang zu. Das poetische Wort selbst soll die neue Mitte schaffen. Ihm wird viel zugemutet. Vielleicht zu viel. Es verlangt auch dem Leser viel ab in diesem seinem Ethos ästhetischer Lebensgestaltung. „Blöd trabt die menge drunten · scheucht sie nicht! / Was wäre stich der qualle · schnitt dem kraut!“ („Nietzsche“; VI/VII, 12) Oder: „Schon eure zahl ist frevel“ („Die tote Stadt“; VI/VII, 31).135 Äußerst harsch und schroff bis hin zum elitärsten Zynismus kann die poetische Kulturkritik StGs gerade deshalb ausfallen – wie bei anderen Autoren der literarischen Moderne auch –, weil sie ihren Kern in einem emphatischen Kunstbegriff hat, nicht aber, wie bei Moritz, Schiller und Hölderlin, die diesen Kunstbegriff so fundieren, zugleich in einem emphatischen Begriff des Subjekts. Darin unterscheidet sich StG von der Ästhetik des deutschen Idealismus. Dort ist das autonome Kunstwerk das größte Symbol für das Subjekt in seiner Freiheit; und das äs134 Eine wirkliche Gattungsbezeichnung für solche – in poetischer Hinsicht – rhetorisch-intentional wirkende Lyrik gibt es nicht. Horst Thome´ hat den Terminus ,Weltanschauungsliteratur‘ geprägt, um ein wichtiges Segment der Literatur des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende zu charakterisieren; vgl. Horst Thome´, Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp, in: Lutz Danneberg/Fritz Vollhardt (Hrsg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 338–380. Aber Weltanschauungslyrik im engeren Sinn ist das hier nicht. 135 Zu StGs Verachtung der modernen Masse schon Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 94–103.

1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

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thetische Spiel ist Einübung in das freie Subjekt-Sein (Schiller). An der Kunst vor allem ,bildet‘ sich das Subjekt, weil beide nicht funktionalistisch reduziert werden dürfen und ,Zweck an sich selbst‘ sein müssen. In diesem Sinne ist StGs Poetik nicht ,human‘. StGs Projekt einer Neubegründung der deutschen Poesie ist strukturell offen, weil dieser emphatische Subjekt-Begriff fehlt. Das spiegelt sich später in der Differenzierung des politischen Spektrums, das im George-Kreis vertreten ist. Als poeta vates, als seherischer, kündender und verwerfender Dichter, wendet StG sich zunächst denjenigen zu, die es wert sind, angesprochen zu werden und sich angesprochen zu fühlen. Seine Gedichte sind zuerst auf die engere Gemeinschaft, auf die wenigen, die „gilde“ („Der Teppich“; V, 36), bezogen. Der Sprachgestus StGs wird am Ende schließlich immer häufiger thetisch, verkündigend, fordernd oratorisch. Das betrifft auch die Wahl der Gattung (Sprüche an die Lebenden; IX, 71–88): „Freu dich an dem wert der gabe“ (IX, 73); „Liebe freilich nennt kein maass“ (IX, 73). „Aufschriften“ und „Widmungen“ stellt StG schon den Zyklen Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal voran. Das Jahr der Seele (1897) enthält als Mittelteil Überschriften und Widmungen mit einer Gruppe von Gedichten, die StG als „Erinnerungen an einige Abende innerer Geselligkeit“ verstanden wissen wollte (IV, 57–67). Im dritten und letzten Teil der Überschriften und Widmungen werden die Freunde in Widmungsgedichten direkt angesprochen; an sie wird erinnert, sie werden charakterisiert. Dabei werden sie freilich auch in die Sammlung des erinnernden Subjekts eingereiht, in Schrift gefasst, mortifiziert: „verstattet dies spiel: eure flüchtig geschnittenen schatten zum schmuck für meiner angedenken saal“ (IV, 69) – ein poetisches Mausoleum zum „Angedenken“. Aber an wen? Nur an das poetische Subjekt?136 Im Teppich des Lebens sind die ersten zehn Lieder von Traum und Tod den Freunden und Weggefährten gewidmet: Reinhold und Sabine Lepsius, Albert und Kitty Verwey, Cyril Meir Scott, Ernest Dowson, Ludwig von Hofmann und anderen. Es handelt sich allerdings auch hier nicht um wirkliche Lieder; es gibt auch hier keine Zugeständnisse an ein einfaches, leichtes Singen. Die Tafeln, der Schlussteil des Siebenten Rings, beginnen ebenfalls mit einer Reihe von Widmungsgedichten: An Melchior Lechter, Karl und Hanna Wolfskehl, Friedrich Gundolf und andere. Die Sprüche an die Lebenden bilden schließlich den Mittelteil des Neuen Reichs. Etliche dieser ,Sprüche‘ – ,dicta‘ – richten sich an die Freunde, die anhand der Initialen nicht schwer zu identifizieren sind. Gnomische Dichtung, Weisheitsdichtung: Sie gehören zu den ältesten Formen der Dichtkunst. In die poetischen Charakterisierungen, welche die typischen „züge“ (IX, 98) der Angesprochenen festschreiben wollen, mischen sich auch – wie schon im dritten „Nacht-Gesang“ der Lieder von Traum und Tod (V, 84: „Nur meide was stört“ – wem wird das gesagt?) – Ermunterungen, Mahnungen, Kritik. Aus den Tafeln des Siebenten Rings: An Derleth Du fälltest um dich her mit tapfrem hiebe Und stehst nun unerbittlicher verlanger. Wann aber führt dich heim vom totenanger Die täglich wirksame gewalt der liebe?. . 136 Vgl. I, 2.4., S. 154f.

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II. Systematische Aspekte

In unsrer runde macht uns dies zum paare: Wir los von jedem band von gut und haus: Wir einzig können stets beim ersten saus Wo grad wir stehn nachfolgen der fanfare. (VI/VII, 172)137

An diesen Widmungsgedichten wird deutlich, wie sehr die poetische Zyklen-Bildung für StG zugleich und schon früh die soziale Kreisbildung im Blick hat. Sozialer Kreis und poetisches Werk: Sie gestalten sich nach demselben Prinzip. Sie gelingen mehr oder weniger; sie sind mehr oder weniger geschlossen und homogen. Es gibt nicht den George-Kreis; es gibt nur verschiedene Kreise und Gruppierungen mit unterschiedlichen sozialen Gewichtungen und Rollen. Die neuere Forschung hat dies mehrfach betont.138 Es gibt nicht den poetischen Zyklus; es gibt nur verschiedene, mehr oder weniger rigide und konsequente zyklische Kompositionsformen, aus denen die mehr oder weniger durchstrukturierten Gedichtbände aufgebaut sind. Die Dichtung soll also nicht bloß ins soziale Leben hineinwirken. Sie vollzieht es selbst. StG ist dies so wichtig, dass ihm die poetische Qualität, wie hier in dem Derleth gewidmeten Gedicht, fast nebensächlich werden kann. „Die täglich wirksame gewalt der liebe?. .“ – dass sich StG derart semantisch flache Verse leistet in einem derart matten Gedicht („verlanger“/„totenanger“; „beim ersten saus“; und auch der Schlussvers), gewidmet einem der dürftigsten Dichter im Umkreis StGs und der Literatur des 20. Jahrhunderts: Das zeigt nur, wie drängend das sozio-poetische Interesse StGs ist. Insofern ist es ein mimetisches Gedicht für einen, der mit seinem Werk aus dem „totenanger“ nicht mehr herauskommen wird. 1.3.2. Werk-Intention Die Intention auf ein Werk hin, die StG von Beginn an verfolgt, verlangt, nach dem inneren Zusammenhang des Werks zu fragen, trotz aller Metamorphosen, die sogar in der Buchgestaltung anschaulich werden.139 Einige Argumente dafür habe ich schon zusammengestellt. StG hält an seiner Werk-Intention auch nach der Jahrhundertwende fest und formuliert sie nun explizit. Der Siebente Ring wird durch den Zyklus der Zeitgedichte eingeleitet, dieser wiederum durch das poetologisch lesbare „Zeitgedicht“, das StGs bisheriges Werk bilanziert. Es ist auf seine individuelle Zeit als Dichter und zugleich auf die geschichtliche Zeit bezogen.140 Die erste Strophe des „Zeitgedichts“ lautet: Ihr meiner zeit genossen kanntet schon Bemasset schon und schaltet mich – ihr fehltet. Als ihr in lärm und wüster gier des lebens Mit plumpem tritt und rohem finger ranntet: Da galt ich für den salbentrunknen prinzen 137 138 139 140

Zu Derleth vgl. Breuer 1995, S. 118ff. Vgl. I, 4.; Groppe 1997; Kolk 1998. Vgl. I, 5.6. Ausführlich und mit vielen neuen Hinweisen hat Dirk von Petersdorff das Gedicht interpretiert; vgl. Dirk von Petersdorff, Wie viel Freiheit braucht die Dichtung?

1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

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Der sanft geschaukelt seine takte zählte In schlanker anmut oder kühler würde · In blasser erdenferner festlichkeit. (VI/VII, 6)

Konstatiert wird hier ein Gegensatz zwischen denen, die sich in „lärm und wüster gier“ (vgl. auch „Die tote Stadt“; VI/VII, 30–31), also auf eine ganz und gar falsche Weise, einem falschen „leben“ hingeben (,plump‘, ,roh‘: d. h. unästhetisch), und dem lyrischen Subjekt, das sich einst in ,kühler Distanz‘ zu jenen anderen selbstgenügsam, aber auch in ,Anmut oder Würde‘ der ästhetizistischen Feier der Kunst gewidmet habe. Die deutliche Anspielung auf Schillers Abhandlung von 1793 zeigt, wo sich StG schon mit seinem Ästhetizismus der frühen Jahre eingeordnet sehen will.141 Dass sich die Konjunktion von ,und‘ in ,oder‘ verändert, ist allerdings nicht nebensächlich. Es geht StG nicht um ,freie Schönheit‘, sondern um zwei sehr unterschiedliche Aspekte seines Werks, den körperästhetischen und den geistesaristokratischen. Der „blasse[n] erdenferne[n] festlichkeit“ des Dichters wohnt die Melancholie unaufhebbarer Einsamkeit inne. Das lyrische Subjekt, ja StG selbst beansprucht, unendlich viel mehr zu tragen zu haben als die, von denen es und er sich abgrenzen. Über dem gesamten Werk StGs liegt diese Aura der Melancholie.142 Das ist nicht neu. Für einen Dichter der Moderne muss das so sein; er will und muss grundsätzlich einsam und unverstanden sein. Leid und Melancholie adeln und heben aus der profanen Menge heraus. Nicht ohne eine gewisse Ironie weist das lyrische Subjekt die ,Zeitgenossen‘ der frühen Jahre, die zu wissen glaubten und doch naiv waren, zurecht. Leid und Melancholie gehören zur Strategie der Selbst-Charismatisierung des modernen Dichters und realisieren sich in einer hochkonventionalisierten Ikonographie, wie die MelancholieForschung der Warburg-Schule sehr deutlich gemacht hat: „ich bin / Allein – ich bin der lezte meines volkes . .“ (IX, 82). Leid und Melancholie können aber kunstvoll stilisiert werden: Aufschrift Also brach ich auf Und ein Fremdling ward ich Und ich suchte einen Der mit mir trauerte Und keiner war. (II, 30)143 141 Welche große Bedeutung StG nicht dem Dichter Schiller, aber dem „schönheitslehrer und erzieher“, dem „verfasser der Ästhetischen Erziehung · der seinem volk auch heute noch fremd ist und vermutlich noch lange bleibt“, zuspricht, zeigen seine Auswahl der Gedichte im dritten Band der Deutschen Dichtung und die Vorrede zur zweiten Ausgabe. In der Vorrede wird Schiller eine „glänzende auferstehung“ vorhergesagt: „In diesen schriften [der Ästhetischen Erziehung] hat die grössere gedankenwissenschaftliche bildung der Deutschen den flug seines geistes die höhe erreichen lassen. Sie enthalten so endgültige dinge über form und inhalt · kunst und volk wie sie dem strenggläubigsten schönheitseiferer genügen würden und wie sie dem heutigen durchschnittlichen Schillerverehrer unannehmbar sind. Nach dieser erklärung kann wohl nicht gezweifelt werden an unserer bewunderung für diese glühende deutsche seele“ (DD III, 7). 142 Vgl. Braungart 1997, bes. S. 118–153, 288–306; Kolk 1998, bes. S. 14–22. 143 Ute Oelmanns Kommentar (II, 110) weist auf Psalm 69,21 hin: „Umsonst habe ich auf Mitleid gewartet, / auf einen Tröster, doch ich habe keinen gefunden.“ – Man fühlt sich auch an Höl-

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II. Systematische Aspekte

,Auf‘ allem, was StG schreibt, steht diese ,Schrift‘, die von weit her und aus fernen Zeiten zu kommen scheint, wie eine Gedenk-, ja eine Grabinschrift. Getragen, archaisch, rituell wie diese klingen viele seiner Verse. Der Zyklus der Zeitgedichte des Siebenten Rings vollzieht insgesamt eine rabiate poetische Kulturkritik, und kulturkritisch scharf ist auch der Ton des ersten „Zeitgedichts“ selbst, das den Gedichtband des Siebenten Rings eröffnet und nicht mehr poe´sie pure, sondern poetische Zeitgenossenschaft realisieren will. In der vierten und letzten Strophe behauptet der Sprecher dann aber: Ihr sehet wechsel · doch ich tat das gleiche. Und der heut eifernde posaune bläst Und flüssig feuer schleudert weiss dass morgen Leicht alle schönheit kraft und grösse steigt Aus eines knaben stillem flötenlied. (VI/VII, 7)

Der kulturkritisch „eifernde“ Ton dieses Eröffnungsgedichts und der ganzen poetischen Kulturkritik des Siebenten Rings diente demnach vor allem der Reinigung und Vorbereitung einer neuen Poesie und eines neuen Lebens, die klassizistisch geläutert sind. Hier zeichnet sich eine Selbstkritik StGs ab, aber auch eine Entwicklungslinie der poetischen Gesamt-Konzeption. Man darf in diesem Schlussvers mit seinem Oxymoron („Aus eines knaben stillem flötenlied“; Herv. d. Verf.) sicher auch eine Anspielung auf den neuen Gott Maximin sehen, dem dann der innere ,Ring‘ gewidmet ist. Mit dem „Zeitgedicht“ wird also ein poetisches Werk überblickt, wie es bislang vorliegt, und eine grundlegende poetologische Idee formuliert, wie dieses Werk weitergeführt werden könnte. Bei aller gebotenen Vorsicht kann man doch sagen: Der, der hier spricht, ist StG selbst. Das scheint hier die hermeneutische Perspektive, die am ehesten Sinn ergibt. StG beansprucht eine substanzielle Einheit des Werks und eine Einheit seines poetischen Tuns, gerade indem sich deren äußere Gestalt wandelt und entwickelt. Der kulturkritische poetische Rhetor ist auch kein anderer als der „salbentrunkne prinz“, der einem einstmals die „takte“ seiner reinen Poesie hergezählt hat (VI/VII, 6). Dieser Gedanke des Bleibenden im Wechsel – man könnte auch einfach sagen: der Identität – hat StG fasziniert: „nur gleich im wechsel blieb / Was sie ergreift was sie noch immer sucht“ (V, 78).144 Leben und Werk StGs wollen eine große Gesamt-Gestalt, ein Gesamt-Werk bilden. Selbst die ästhetizistischen, mit der De´cadence liebäugelnden Anfänge („Da galt ich für den salbentrunknen prinzen / Der sanft geschaukelt seine takte zählte“; Herv. d. Verf.145) sind darum nicht bloß artistisches Spiel: derlins Hyperion erinnert, der seine Trauer ähnlich kultiviert und aus ihr Selbstwertgefühl bezieht und sich selbst aufwertet. 144 Dies ist der Schlussvers aus „Flutungen“ der Lieder von Traum und Tod. Morwitz in seiner Neigung, Bedeutung zu konkretisieren und lebensweltlich festzulegen, versteht das Pronomen ,sie‘ als die „Seele“, deren „Entwicklungsgeschichte“ das Gedicht nachzeichne (EM I, 210). Vgl. zur Einheit im Wechsel auch Martus, Werkpolitik. 145 „Da galt ich für den salbentrunknen prinzen“ (Herv. d. Verf.) – Dirk von Petersdorff hat auf die Ironie dieser etwas schiefen Metapher hingewiesen; vgl. Dirk von Petersdorff, Wie viel Freiheit braucht die Dichtung?

1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

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Sei rebe die blümt Sei frucht die betört Dir lieb und gerühmt . . Nur meide was stört Was siecht und vermorscht Was hastet und brüllt . . Von seltnen erforscht Der menge verhüllt („Nacht-Gesang III“; V, 84)

„Nur meide was stört“: Die rhetorische Intentionalität des Gedichts richtet sich auch auf den poetischen Sprecher selbst. Seine Identität kommt aus der Abgrenzung; dann schafft sie selbst für das ,Betörende‘ Raum. Das wird StG nach der Jahrhundertwende so zwar nicht mehr sagen. Das poetische Wort, das sich vom profanen unterscheiden soll („Nur meide was stört // […] / Was hastet und brüllt . .“), ist aber eben auch hier schon und als solches soziale Geste. Es ist immer, sei es in der Selbstreflexivität, Hinsprache auf den andern zu; und dieser andere kann auch das poetische Subjekt sich selbst gegenüber sein. Es bewahrt, was vielleicht irgendwann einmal gebraucht wird; es unterscheidet; es formt und ordnet – zuweilen in einer Metaphorik, die einen schaudern lässt. Aus dem viel späteren Gedicht „Der Dichter in Zeiten der Wirren“: Der Sänger aber sorgt in trauer-läuften Dass nicht das mark verfault · der keim erstickt. Er schürt die heilige glut die über-springt Und sich die leiber formt · er holt aus büchern Der ahnen die verheissung die nicht trügt Dass die erkoren sind zum höchsten ziel Zuerst durch tiefste öden ziehn dass einst Des erdteils herz die welt erretten soll . . (IX, 29f.)

Wer eifert und zürnt, greift bekanntlich sprachlich schnell daneben. Man möchte gar nicht wissen, wie sich die überspringende „heilige glut“ selbst „die leiber formt“. Wohl doch nur zu Asche. Oder sie brennt alles Überflüssige weg und legt die eigentliche Form frei. Kann diese die Leiber ,formende Glut‘ das innere ,heilige Feuer‘ sein? „was ich noch sinne und was ich noch füge / was ich noch liebe trägt die gleichen züge“ (IX, 98): Dieses Motto stellt StG seinem letzten Zyklus Das Lied im Neuen Reich voran. StG bilanziert damit noch einmal und legt sich, wie ein Vermächtnis, auch noch einmal selbst aus. Er gibt eine ganz grundsätzliche Leseanweisung, wie er das Heterogene (und das Neue Reich ist, neben dem Siebenten Ring, der heterogenste Gedichtband StGs), den Gedanken, das poetische Wort und das Soziale verstanden wissen will. Sein ,Sinnen‘ und ,Fügen‘ und ,Lieben‘ tragen „die gleichen Züge“. ,Liebe‘ ist StGs zentraler Begriff dafür, wie das Soziale sein soll. Die George-Forschung hat für diese Liebe viele Paraphrasen gefunden: religiöse, platonische, (homo-)erotische, sexuelle. Jede hat ihre Berechtigung. Dass Nietzsche, nur Rhetor, nicht auch zugleich Sänger wie StG, sich nicht „in den kreis den liebe schliesst“, ,gebannt‘ habe, wirft ihm das Zeitgedicht „Nietzsche“ vor (VI/VII, 13).146 Diese im146 Zu StGs Nietzsche-Rezeption vgl. Heinz Raschel, Das Nietzsche-Bild im George-Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mythologeme, Berlin, New York 1984; Frank Weber, Die

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II. Systematische Aspekte

mer wieder, von Anfang an drängende, ins Erzieherische gehende Intentionalität konstituiert den Werkzusammenhang entscheidend mit: Belehrung Um welchen preis gibst du mir unterricht? ›Lass mich den sinn der in dir ist erfahren Dass du dich in der wahren schönheit zeigst – Dein rechter lehrer bin ich wenn ich liebe . . Du musst zu innerst glühn – gleichviel für wen! Mein rechter hörer bist du wenn du liebst.‹ (IX, 87)

Jetzt ist die ,innere Glut‘ angesprochen, doch „gleichviel für wen!“ Wird die ,Liebe‘ ausreichen, um diese strukturelle semantische Offenheit eines solchen Willens zur Affirmation zu bändigen? Man muss diese Frage stellen dürfen. Denn was ist ,Liebe‘? Auf welche Vorstellung vom Subjekt bezieht sie sich? Die Einheit von Werk und Person, wie sie StG immer wieder für sich selbst auch in Gesprächsäußerungen behauptete,147 ist kein klassizistisch-humanistisches Überbleibsel. Schon gar nicht ist sie Selbstzweck. Alles (poetische) Sprechen und Schreiben, und sei es noch so sehr weltverneinend und entzöge es sich noch so sehr der Gesellschaft, hat etwas zu sagen und konstituiert Sinn. Man kann keinen fundamentalen Gegensatz, nur eine Spannung zwischen Performanz und Hermeneutik, zwischen Inszenierung im und für den Augenblick und tieferem Sinn, konstruieren. Auch das poetische Sprechen legt Welt immer durch Sprache auf seine Weise aus. Das Wesen der Sprache ist grundsätzlich An-Sprache, Hin-Sprache, vielleicht sogar im schönsten Fall: ,Gespräch‘ (Hölderlin), nicht mehr oder weniger willkürliches Spiel der Zeichen, schon gar nicht bloße Information. Beide Extreme der (poetischen) Sprache kennt StG aber und reflektiert sie: die Selbstherrlichkeit des Algabal-Künstlers, diese ungeheure poetische Inszenierung der Kälte der Moderne, aus der nichts hervorgehen kann („Wie zeug ich dich aber im heiligtume / – So fragt ich wenn ich es sinnend durchmass / In kühnen gespinsten der sorge vergass – / Dunkle grosse schwarze blume?“; II, 63), und die so strenge und überdeutliche Kritik und Belehrung, dass der leisere poetische Ton, das ,Sapphische‘, im Rhetorischen und Pragmatischen, in der Härte des ,Pindarischen‘, bisweilen sogar ganz zu verschwinden droht.148 StG wollte immer handeln, wirken, etwas bewirken, selbst wenn er Abstand hielt und schwieg.149 Er wollte das Feld der Literatur in einer Weise umgestalten, die weit über die Literatur allein hinausging. Denkt man an den gescheiterten Versuch einer Freundschaft mit Hugo von Hofmannsthal, an den frühen Kreis, den er schon in seiner Darmstädter Gymnasialzeit anfing, um sich zu scharen, an die Entstehung der Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis, Frankfurt/M. 1989; Peter Trawny, George dichtet Nietzsche. Überlegungen zur Nietzsche-Rezeption Stefan Georges und seines Kreises, in: GJb 3/2000/2001, S. 34–68; Braungart, Georges Nietzsche. 147 Weitere Belege in Braungart 1997, S. 77–117. 148 Vgl. auch Brokoff, Reine Poesie, S. 488ff. 149 Zur sozialen und pädagogischen Wirksamkeit StGs grundlegend: Groppe 1997; Kolk 1998 – zwei Bücher, denen die George-Forschung sehr viel verdankt. Die reflektierte Sachlichkeit, die Belegdichte, die Sorgfalt in der Aufarbeitung der Quellen, die methodische Umsichtigkeit dieser Bücher kann man kaum genug rühmen.

1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

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BfdK, die 1892 zu erscheinen begannen, so stellt sich dieser Wille zum literarischen Handeln von Beginn an auch und davon nicht ablösbar als soziales Handeln dar. An Hofmannsthal schrieb er 1897: „doch Sie wissen wenn wir überhaupt ein amt haben dass es gewiss nicht dies ist an alten verknorrten bäumen den geringsten ausschlag zu preisen sondern dies: jungen noch biegbaren stämmen unsre sorge zuzuwenden“ (G/H, 123f.). Ist das schon Erziehung? Die Trennung zwischen Ästhetik und Ethik, die doch seit dem 19. Jahrhundert konstitutiv sein soll für die ästhetische Moderne, will StG aufheben. StGs Werk ist ethisch-ästhetischer Lebensvollzug. Darin ist er den Avantgarden näher, als man vielleicht glauben mag. Bei StG lernt man begreifen, dass ästhetischer Konservatismus und ästhetische Anti-Moderne Teil der Moderne selbst sind, nicht einfach ihre Verweigerung. Man verkürzte die Moderne, fixierte man sich nur auf einen ästhetischen Avantgardismus der Subversion und der ästhetischen Normdurchbrechung. Selbst in der Kritik, selbst in der Melancholie und im Zweifel ist StG ein Dichter der Affirmation. Das ist wohl die stärkste Provokation, die von ihm bis heute ausgeht.150 In dieser Bereitschaft zur Bejahung – Bau- und Architekturmetaphern spielen in der Poetik StGs eine große Rolle, sein Kreis ist ihm im letzten Lebensdrittel sein ,staat‘ – liegt eine mögliche Antwort auf die Frage, warum er denn teilweise so schlechte Gedichte seiner ,Jünger‘ zur Veröffentlichung zulassen konnte.

1.4.

Hermeneutik

1.4.1.

Lesen und Vorlesen, Hören und Verstehen

1.4.1.1. Lesen und Vorlesen als rituelle Performanz Der emphatischen und entschiedenen Poetik StGs entspricht eine nicht weniger emphatische, ja sogar religiös, existenziell und lebensphilosophisch aufgeladene Konzeption des Verstehens, die ihren Ausdruck auch in einer rituellen Rezeptionspraxis findet, im Lesen und Vorlesen, im Hören und Verstehen. Sie muss solcher Dichtkunst angemessen sein und darf diese deshalb auch nicht einem trivialisierenden, profanierenden Verstehen preisgeben. Dichtkunst muss vielmehr in der rechten Weise vollzogen werden. Das allein ist die rechte Hermeneutik. Wirkliches „kunstverständnis“, heißt es in den BfdK, „ist nur da zu finden wo ein kunstwerk als gebilde (rytmisch) ergreift und ergriffen wird“.151 Damit ist viel mehr gemeint, als sich vom Kunstwerk gelegentlich ein wenig ansprechen oder rühren zu lassen. Verstehen wird vielmehr zur religiösen Handlung. Das wird im Folgenden noch deutlicher werden. Die Jünger sollen, so Gundolf 1908/09 in den BfdK mit einer furchtbaren Metaphorik, sein werk sein · nicht seine erstarrten züge und gebärden aufstellen und herumtragen sondern sein blut und seinen hauch · sein licht und seine wärme · seine musik und seine bewegung aufnehmen in ihr dasein und weitergeben in die noch starre oder leere welt · wandelnde öfen 150 Allgemein zu diesem Problem vgl. Wolfgang Braungart, Tabu, Tabus. Anmerkungen zum Tabu ,ästhetischer Affirmation‘, in: Ders./Klaus Ridder/Friedmar Apel (Hrsg.), Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie, Bielefeld 2004, S. 297–327. 151 BfdK 4/1897, 1/2, S. 3.

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II. Systematische Aspekte

die er geheizt hat · stoff den er beseelt: seines grossen atems umsetzung · verkörperung · vervielfältigung . .152

Also keine „erstarrten“, bloß formalisierten Rituale, kein „aufstellen und herumtragen“, sondern lebendige Praxis. StG selbst ist für den Lieblingsjünger Gundolf leiblich und spirituell, in „blut und hauch“, der charismatische ,Meister‘, den sich die Jünger ,einverleiben‘ und den sie „weitergeben“ sollen an die, die seiner würdig sind („vervielfältigung“). Hermeneutik dieses Werks und mit ihm des ,Meisters‘ fasst Gundolf hier demnach als Inkarnation, als ,poetische Eucharistie‘ auf, die sich der Grenze zum Profanen vollkommen bewusst zu sein hat.153 Sie muss darum, wie die neue Dichtkunst selbst, im Verstehen „alles […] ausscheiden“, was zur profanen Welt zählt.154 Mit den zeitkritischen Gedichten des Siebenten Rings wird sich das ändern: Man kann sie als eine Art poetisches Reinigungsritual verstehen. Aber es ist selbst schon angelegt in der Logik dieser Konzeption. Das ist der innere Widerspruch der Poetik StGs von Anfang an. Darum wird die sakrale Aura der Lese- und Verstehensrituale auch in der Zeit kultiviert, als sich StGs ,staat‘ längst konstituiert hat, der sich nun auch dem „staatliche[n] und gesellschaftliche[n]“ ausdrücklich zuwendet.155 Lesungen gab es freilich längst, bevor es einen ,staat‘ gab (1897, 1899, 1902). Thormaehlen berichtet in einem Brief aus Berlin an StG vom 28.1.1919 über eine Lesung: Nachdem alle da waren wurden von Wolters einige aus den Zeitgedichten gelesen, dann las ich aus Dante und Ernst Stücke des Teppichs, alles unpersönliche dinge. Etwas später las Woldemar [von Uxkull-Gyllenband] auf wunsch eine Hölderlinhymne und zum schluss Vallentin Roberts beide Hölderlinoden. Eine Unterhaltung oder gesellschaftliche ausbreitung wurde nicht zugelassen, man ging so gut wie unmittelbar nach dem Lesen gemeinsam auseinander, niemand hatte gesagt bekommen · wer kommt.156

Auf die große Bedeutung und die Eigentümlichkeit des Vorlesens im George-Kreis ist schon von den Kreismitgliedern selbst und oft hingewiesen worden. Wie für die Konversionsschilderungen der Begegnungen mit StG gilt auch hier: Es ist gar nicht so wichtig, ob die vielen Berichte in den Erinnerungsbüchern und Korrespondenzen tatsächlich im Detail den Tatsachen entsprechen. Wichtiger ist das hermeneutische Grundverständnis, das sich hier zeigt. „Endlich“, berichtet Edith Landmann, „las […] er selbst die ,Lieder‘ […], singend, manchmal mit leiser Kadenz am Schluss des Verses, bannend wie Zaubersprüche“ (EL, 115). Dichtkunst wird konsequent wie ein heiliger Wert inszeniert und vom Profanen getrennt: Das Zimmer ist nur „matt erleuchtet“. Es sind „Blumen in Kübeln aufgestellt“. Nach den Lesungen schweigt man zunächst und nimmt dann die „Gespräche erst in gedämpftem Tone“ wieder auf.157 Hildebrandt 152 Friedrich Gundolf, Gefolgschaft und Jüngertum, in: BfdK 8/1908/09, S. 106–112, hier: 110 (Herv. d. Verf.); Zu Gundolfs George-Deutung vgl. Braungart, Gundolfs George. 153 Vgl. Wolfgang Braungart, „Durch Dich, für Dich, in Deinem Zeichen“. Stefan Georges poetische Eucharistie, in: GJb 1/1996/1997, S. 53–79. 154 BfdK 1/1892, 1, S. 1. 155 Ebd. 156 L. Thormaehlen an StG v. 28.1.1919, StGA. Der ganze Brief versucht, die Lesungen als aus dem Geiste StGs und in seinem Sinne vollzogen zu rechtfertigen. 157 So SL, S. 22f.; vgl. KH, S. 60: „Der Zauber dieser Stimmung [nach einer Lesung mit StG und einem ,ganz schlichten Essen‘] läßt sich nicht beschreiben, nicht erklären: ein Auslöschen des Profanen. Niemand mag in Gegenwart Georges Triviales sagen“.

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bezeichnet Wolfskehls ,Kugelzimmer‘ (das Zimmer hatte seinen Namen von einer kugelförmigen Lampe), in dem sich StG aufhält, als „heiligen Raum“, vor dem „jeder die Schuhe ablegen und mit Sandalen tauschen“ muss.158 „Dieser Raum, diese gesteigerte Schlichtheit, schloß alle Profanität des Herkömmlichen und für den Bereiten alle trivialen Gedanken aus, wenn er in Sandalen die Schwelle betrat.“ Man legt ein „Festgewand“ an, aber „ohne Prunk, talarartig“; StG bekränzt sich „mit einem Lorbeerreis“ (KH, 67f.). Über StGs eigene, in der Vortragstechnik möglicherweise von Mallarme´ beeinflusste Lesungen, die stilbildend und normsetzend waren für den Kreis, liegen viele Berichte vor. Sabine Lepsius sah einen Zusammenhang zwischen StGs Art zu lesen und seiner katholischen Herkunft: der Ton seiner Stimme wechselte seine Höhe und Tiefe nur in ganz seltenen Abständen, wurde dann streng beibehalten, fast wie eine gesungene Note, ähnlich dem Responsorium in der katholischen Kirche, und trotzdem bebend vor Empfindung und wiederum hart, dröhnend. Es war der Zusammenhang mit seiner Kinderzeit zu spüren, da er einst während der Messe das Weihrauchgefäß schwingen durfte. Auch die Endzeilen verharrten auf dem gleichen Ton, so daß nicht nur der übliche Schlußeffekt völlig vermieden wurde, sondern es schien, als sei das Gedicht nicht ein einzelnes in sich abgeschlossenes, sondern ohne Anfang, ohne Ende, wie herausgegriffen aus dem Reiche großer Gedanken und erhöhter dichterischer Vorstellungen.159

Diese dichte sakrale und geheimnisvolle Atmosphäre reizte natürlich zu den verschiedensten Gerüchten, zu Spott, und förderte Profanierungsgelüste und Satire wie in Thomas Manns Erzählung Beim Propheten (1904), die sich allerdings wohl auf Derleth bezieht.160 Kolportiert wurde etwa, dass bei einer Lesung StGs das Buch „von zwei schönen nackten Knaben gehalten worden sei.“161 Max Dessoir erinnert sich an Lesungen StGs im Hause Lepsius, „im feierlich geschmückten, verdunkelten Saal, nur von Kerzen beleuchtet“: Ein Spötter flüsterte mir dabei einmal ins Ohr: ,Jetzt möchte ich ganz laut ,Blutwurscht‘ rufen‘, und ich selber muß bekennen, daß es mir einige Zeit hindurch eine teuflische Lust bereitete, mit Georges Lichtbild, das eine starke Pappe zur Unterlage hatte, die Seiten wüster Kriminalromane aufzuschneiden.162

Lautes Lesen ist hier als soziale zugleich rituelle Performanz. Grundsätzlich ist es vor allem sinnvoll als Lesen vor und für den andern. Es ist Literatur als soziale sprachliche 158 KH, S. 66; vgl. auch EL, S. 62, Anm. 1; vgl. II, 5.4.1. 159 SL, S. 17. Herbert Steiner, Begegnungen mit Dichtern, o. O. 1957, S. 8f., berichtet über eine Lesung StGs. StG liest „Goethes lezte Nacht in Italien“ (IX, 7–10): „Es war ein fast skandierender, klanglos-starrer Zaubersang, allzu hart auf den Rhythmus gestellt, jede Zeile ein Ganzes, jedes Wort gebunden in die Zeile, gewiß allem Schauspielerischen entgegen, aber kaum bewegt, kaum moduliert.“ 160 Vgl. ¤ Ludwig Derleth. 161 SL, S. 23. Das Gerücht geht vielleicht auf ein George-Bild von Sabine Lepsius zurück (III, Abb. 2), das sie selbst so beschreibt: „In den Herbst 1898 fielen die Porträtsitzungen, die Stefan George mir gönnte. Ich hatte ein Riesenbild entworfen in Form eines Tryptichons, auf welchem in der Mitte George in ganzer Figur saß, hinter ihm Architektur, die der Villa Aldobrandini in Rom glich. Die beiden Felder rechts und links waren ausgefüllt mit nackten musizierenden Knaben und harferührenden weiblichen Gestalten“ (ebd., S. 37). 162 Max Dessoir, Buch der Erinnerung (1947), zit. nach Tgahrt (Hrsg.), Dichter lesen, S. 330.

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II. Systematische Aspekte

Handlung, in der sich die Gegenwart und der Bezug zum andern bekräftigen: „zu einem Abwesenden kann man nicht sprechen“ (EL, 141). Im lauten Lesen äußert sich notwendig das Verständnis des Lesenden für Rhythmus und Klang. Lautes Lesen ist eine gemeinschaftliche Praxis, in der die subjektive Versenkung in den Text wie in sich selbst, wie sie zum stillen Lesen gehört, zurücktritt. „Auch ich mußte wieder lesen“, erinnert sich Thormaehlen.163 Bei den Initiationsritualen, mit denen der neue Jünger sich des Meisters und seines Kreises würdig erweisen musste, spielte das laute Lesen eine entscheidende Rolle. Im Lesen offenbarte sich unweigerlich die Eignung des „Adepten“164 für den Kreis. Das „Hersagen von Gedichten“ wurde, so Wolters, „für George eines der untrüglichen Zeichen für die Artung des Menschen, ein Mittel des Urteils vor dem kein Verstellen hilft und jeder Täuschungsversuch versagt: alles verrät sich an ihm, man muß hersagen wie man ist“ (FW, 194). „Hersagen“ verlangt für Wolters die „Einschmelzung ihres [der Lesenden] Eigenwillens“, „,Bändigung der Kräfte‘ und das Opfer des ,Musikrauschs‘“ (FW, 194f.). Boehringer hält fest: Bei den Zusammenkünften in Berlin war das Lesen von Gedichten recht eigentlich die Kulthandlung165 des Freundeskreises, in der jeder Einzelne sein Bestes gab, die Verse der Dichter richtig erklingen zu lassen. Sinn und Rhythmus, Sprachmelodie und Reim sollten dabei als Einheit im Gedicht laut werden. Und wie die Stimme, wunderbares Phänomen aus Seele und Leib, die besondere Art eines jeden erkennen läßt, so war auch das Lesen der Gedichte, bei aller Stilisierung, für einen jeden bezeichnend.166

Boehringer ist hier sichtlich darauf bedacht – andere waren darin weniger vorsichtig –, die Grenzen der Anpassung des Individuums an die überindividuelle Norm bei dieser Sozialisierung durch Lesen deutlich zu machen.167 Das Lesen ist – neben der körperlichen Schönheit der Adepten – die Bewährungsprobe für die Aufnahme in den Kreis.168 Die Individualität des Lesenden brauchte für Boehringer nicht preisgegeben zu werden. Der Lesende muss sie aber in den Kreis hineintragen und sich mit ihr als geeignet für die höhere Aufgabe des Kreises erweisen: Sie wird dort ,aufgehoben‘. Kommerell berichtete StG um 1928/29, wie er Willi Dette durch gemeinsames Lesen im Geiste StGs zu erziehen versuchte: Nun lass ich ihn abendlich 8 uhr kommen […] und lesen […] auch wird er schon etwas gebissen und arbeitet an meinem vortrag mit. Er ist geistiger und dichterischer als ich je geglaubt hätte · und folgt meinen winken so blindlings · vertraut sich mir bewusst und unbedingt an und schneidet alles andere ab · dass die lage für mich sehr ernst wird. […] als mensch ist er noch recht viel rohstoff! Es ist mir beinah unheimlich · so absolut die existenz eines menschen in der hand zu haben.169 163 LT, S. 29. Vgl. auch Salins Bericht über seine und Wolfgang Heyers Begegnung mit StG bei Gundolf in Heidelberg (1913). Beide wurden von StG examiniert, bis sie zum Schluss schließlich „sagen sollten, ob wir Gedichte immer laut lesen und warum. ,Weil dies der einzige Weg ist, in den Geist eines Gedichtes einzudringen‘, – diese Antwort gab der Geist des Raumes ein. ,Das lässt sich hören. Dann wollen wir mal gleich die Probe machen.‘ Die leicht gesprochenen Worte klangen uns wie ein Todesurteil. Wir Armen sollten vor dem Dichter Gedichte lesen … Wir zitterten vor Angst“ (ES, 17). 164 So bezeichnet sich Ludwig Thormaehlen selbst: LT, S. 8. 165 Vgl. auch EA, S. 57: „Lesen ist die letzte kulthandlung.“ 166 RB II, S. 137. Vgl. KH, S. 28: „das laute Lesen war meist festliche Krönung und wurde uns unbewußt zum Kult.“ 167 Vgl. EA, S. 57: „Beim lesen, sagt der Meister, kommt das wesen dessen der liest heraus.“ 168 Vgl. II, 6.3.

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Das Lesen sollte Dette an StG und den Kreis binden. Durch regelmäßiges Lesen – „Mein allabendliches drama“ – wollte ihn Kommerell auch „aus der gefahrzone“ der Jugendbewegung „retten“.170 Die Angst, Dette an die Jugendbewegung zu verlieren, zeigt auch, wie nahe sich George-Kreis und Jugendbewegung waren. Nicht nur die ,Wahrheit‘ des Menschen sollte das laute Lesen an den Tag bringen, sondern auch die ,Wahrheit‘ des Textes: Bei den Versuchen, die späten Texte Hölderlins zu konstituieren, wurde immer wieder laut gelesen, was „die einzige wirkliche Gewähr“ für die gültige Gestalt des Textes bieten sollte.171 Berthold Vallentin berichtet über eine Lesung von Ernst Hardts Tantris: Ich sollte lesen. Fürchterlich war der Banalism. Wir mussten uns winden. […] Nach dem 2. Akt scherzte er [StG]: dass es so schlecht sei, sei meine Art zu lesen schuld. So las er denn, wie ich ihn nie habe lesen hören, ganz sachlich referierend. Es war nichts, nachher las ich wieder. Soviel schlecht-gemachter Kitsch beieinander ward lang nicht gesehn. (BV, 44)

Im Lesen soll sich, bei aller individuellen Verschiedenheit, aber nicht die Subjektivität des Interpreten zeigen. Michael Stettler schränkt zwar ein: Er [StG] hatte für das Lesen von Gedichten keine Doktrin. Er wünschte, daß man die Silben nicht verschlucke, sondern die Worte, die Zeile voll ausklingen lasse, so daß es keine Überdeckungen gab. Man sprach auch darüber, wie andere gelesen, wie verschieden jeder vom andern, wie dramatisch schwellend etwa Max Kommerell. Es ist ja nicht wahr, daß er nach starren Regeln band und lenkte und eigene Entwicklung nicht förderte, dafür stehen viele Namen – jeder von ihnen hat auch anders gelesen, in der Verlautbarung einer Strophe tat die Art eines jeden sich kund, und so hieß er den, der zu ihm kam, sogleich lesen, und sie taten es, furchtbar aufgeregt, mit trockenem Gaumen wie ich . .172

Laut gelesen wurde im George-Kreis aber dennoch nicht primär subjektiv verstehend und interpretierend, „nicht sinnbetonend, sondern rhythmisch skandierend“,173 „liturgisch psalmodierend“174 – wie es in den BfdK heißt, nicht in der dramatischen „art des lesens vom schauspieler“, zu der „freilich jeder gezwungen [ist] der nicht aus dem blut dem rhythmus sondern aus der bildung dem begriff dem geschmack also aus abgeleiteten (sekundären) kräften schafft.“175 Blut und Rhythmus sind bei StG kul169 170 171 172

M. Kommerell an StG v. 15.6.1929, StGA. M. Kommerell an StG v. 21.6.1929, StGA; vgl. auch M. Kommerell an StG v. 2.5.1929, StGA. ES, S. 102; vgl. auch ebd., S. 98f. Michael Stettler, Erinnerung an Stefan George. Geschrieben zum 4. Dezember 1958, o. O., o. J., S. 6. 173 Michael Landmann, Erinnerungen an Stefan George. Seine Freundschaft mit Julius und Edith Landmann, 2. Aufl., Amsterdam 1980, S. 18. 174 Gothein, Eberhard Gothein, S. 204: Für StG dürfe „nur der Rhythmus und die Musik der Sprache selbst […] Trägerin des Vortrags sein – eine Bewahrung der Tradition sah er in dem Psalmodieren der katholischen Kirche“; Manuel R. Goldschmidt, Ernst Morwitz im Gespräch mit Wolfgang Frommel. Aufzeichnungen und Erinnerungen, in: CP 43/1994, 213, S. 7–46, hier: 33: „[…] wie George gelesen habe. Das habe geklungen ,wie eine hölzerne Glocke‘. Er habe ohne Rücksicht auf den Sinn fast skandierend monoton gelesen, es sei unnachahmlich. […] Bei Lesungen mit Stefan George und seinen Freunden gab es keine Zuhörer: Jeder musste aufstehen und auch ein Gedicht lesen.“ 175 BfdK 8/1908/09, S. 3. Vgl. auch EA, S. 58; Rudolf auf die Frage, wie „man richtig liest“: „In schmalem Intervall, also zwischen zwei tönen, die nicht zu weit auseinander liegen, einem tiefsten und einem höchsten. Die wirkende kraft ist grösser, wenn die modulation kleiner ist, das

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II. Systematische Aspekte

turkritisch verwendete Kategorien des gültigen, nicht abgeleiteten Lebens, die auf die Bedeutung Nietzsches für StG verweisen und mögliche Ansprüche auf bloß individuelles Verstehen unterlaufen. In der fünften Folge der BfdK heißt es: Neuer Bildungsgrad (Kultur) / entsteht indem ein oder mehrere urgeister ihren lebensrhythmus offenbaren der zuerst von der gemeinde dann von einer grösseren volksschicht angenommen wird . der urgeist wirkt nicht durch seine lehre sondern durch seinen rhythmus: die lehre machen die jünger.176

Das Zitat zeigt, wie eine für StG zentrale poetologische Kategorie, die des Rhythmus, lebensphilosophisch verstanden und auf die pädagogische Wirkung hin erweitert wird, ohne den Anspruch des Poetischen selbst preiszugeben. Dieses so verstandene, rhythmische Lesen, das ähnlich auch Baudelaire praktiziert haben soll,177 „ist ein intonieren, nicht gesang aber auch nicht rede, es ist dazwischen. […] Es ist heiliger ernst“ (EA, 61). Robert Boehringer kritisiert in seinem Aufsatz Über Hersagen von Gedichten (1911) scharf die „abgeschmacktheit des schauspielerischen deklamierens“, weil sie verhindere, dass „das gedicht nach seinem gesetze hergesagt wird“. Denn so verliere es seine Macht und werde profanisiert. Das Gedicht „entzieht sich“ jedoch durch seine „runde geschlossenheit begrifflichen und gefühlsmässigen annäherungsversuchen“. Und nur so „legt sich der fruchtbare bann auf die Seelen der hörer, der sie aus dem chaotischen einzeldasein in ein geordnetes grösseres leben reisst.“178 Jede subjektive Einfühlung ins Gedicht wird hier zurückgewiesen. Der rechte Umgang mit dem Gedicht wird gerade so konzipiert, wie es auch den Umgang mit dem Heiligen kennzeichnet: Das Gedicht geschieht an seinem Leser oder Hörer. Es ereignet sich. Boehringers Aufsatz bestimmt das Lesen funktional so, dass die „sprachliche[n] gebilde als einheiten ohne psychologische tiefe oder zergliederung“ erfahren werden sollen, also ohne individuelle Vertiefung und Auslegung. Benjamin, bekanntlich auf das Rituelle zeitlebens besonders aufmerksam, betont, welche Wirkung gerade dieser Aufsatz von Boehringer auf ihn gehabt habe.179 Boehringer schließt ein späteres genaueres Verstehen des rituellen Textes keineswegs aus, auch nicht, dass natürlich immer etwas am Text verstanden wird. Er betont nur, dass es darauf im rituellen Vollzug nicht unbedingt ankomme, weil das Gelingen des Gedichts als Vollzug ästhetischer Erfahrung davon nicht abhänge. StG hat sein Werk mit Gedichten in einer selbst erfundenen Sprache begonnen, die zwar auch rudimentär verstanden werden konnte, vor allem aber lautlich-rhythmisch zu vollziehen war. StG bezeichnete diese Sprache als ,IMRI‘, fast eine homonyme Bildung zur Kreuzesinschrift ,INRI‘. In dem Gedicht „Des sehers wort ist wenigen gemeinsam“ spielt StG auf diese Sprache an: „Des sehers wort ist wenigen gemein-

176 177 178 179

heisst: wenn die stimme nur niedere stufen hinauf und hinab steigt. Nur selten dürfen die tongrenzen überschritten werden. Die tonhöhen müssen im rhythmus des verses, nicht nach dem metrum aufeinanderfolgen, unterbrochen von der cäsur und dann weiterfliessend, wies die natur des gedichtes verlangt.“ BfdK 5/1900/01, S. 1. Vgl. Bruno Adriani, Baudelaire und George, Berlin 1939, S. 52f. Robert Boehringer, Über Hersagen von Gedichten, in: Jb 2/1911, S. 77–88, hier: 87f.; Herv. d. Verf. Vgl. Benjamin, Über Stefan George, S. 623.

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sam: / Schon als die ersten kühnen wünsche kamen / In einem seltnen reiche ernst und einsam / Erfand er für die dinge eigne namen –“ (IV, 51). „Des sehers wort“ ist zwar nur „wenigen gemeinsam“. Aber es ist eben den „wenigen gemeinsam“ (Herv. d. Verf.). Es formt die „wenigen“ zur Gemeinde, an der die moderne Masse nie teilhaben könnte. – Zudem hat StG Gedichte in seiner romanischen Kunstsprache und in anderen europäischen Sprachen geschrieben und so einen Abstand für zu rasches und selbstverständliches Verstehen zu schaffen versucht.180 Das war allerdings nicht der einzige Grund dafür. 1.4.1.2. Verstehen als Anerkennung des poetischen ,Gebildes‘ Die Frage der Bedeutung literarischer Texte und ihrer Deutung spielt im George-Kreis eine auffallend große Rolle, wie an den zitierten Belegen schon zu sehen war. Früh wird in den BfdK betont, dass das „Gedicht […] nicht wiedergabe eines gedankens“ sei.181 Noch deutlicher in einer etwas späteren Formulierung: Den wert der dichtung entscheidet nicht der sinn (sonst wäre sie etwa weisheit gelahrtheit) sondern die form d. h. durchaus nichts äusserliches sondern jenes tief erregende in maass und klang wodurch zu allen zeiten die Ursprünglichen die Meister sich von den nachfahren den künstlern zweiter ordnung unterschieden haben.182

Hierarchisiert wird bis in die Schreibung (groß/klein) hinein. Das laute Lesen realisiert auch den Klangkörper („jenes tief erregende in maass und klang“). Im „Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann“ entgegnet der ,Herr‘ dem Hauptmann auf dessen Frage, ob „denn die weihn“ irren, weil der ,Herr‘ den ,reigen‘ noch nie geschlungen habe: „Du irrst nicht sie“, und er verweist ihn so auf die Gültigkeit der „weihn“ vor allen subjektiven Ansprüchen und gegen sie: […] Ich schlang ihn [den ,reigen‘] nach dem liebesmahl Mit aller schar: doch schweigen herrscht wo deutung weit. Mein wesen brauchen sie nicht ganz – nur meine glut. Des Sohnes banner mag im erdrund siegend wehn Äonenlang sein sinnbild ob den völkern stehn Eh wer des bundes fülle schaut: den Christ im tanz. (IX, 59)

Die Erfahrung des Göttlichen würde also durch „deutung“ geradezu verhindert. Richtig zu ,deuten‘ hieße demnach vielmehr: zu schweigen. Der ,Herr‘ ,spricht‘ dort gerade nicht, wo „weit“, womöglich redselig gedeutet wird. Aber durch das „liebesmahl“ wird der „reigen“ geschlungen. Das Ritual verbindet den ,Herrn‘ mit seinen Jüngern zum gemeinschaftlichen Kreis. Dann kann am Ende der Zeit der „Christ im tanz“ erscheinen, eine Vorstellung, die aus den neutestamentlichen Apokryphen stammt.183 Solche Deutungsabwehr macht den poetischen Text zum heiligen in zeitloser Gültigkeit. 180 Vgl. Leonhard Forster, Stefan George und Rainer Maria Rilke, in: Ders., Dichten in fremden Sprachen. Vielsprachigkeit in der Literatur, München 1974, S. 79–109. 181 BfdK 2/1894, 2, S. 34. 182 BfdK 2/1894, 4, S. 122. 183 Vgl. Robert Wolff, Der Gott und sein Künder. Zur religiösen Ortung der Dichtung Stefan

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II. Systematische Aspekte

Von dem Gedicht „Ihr tratet zu dem herde“ (IV, 114) sagt Gundolf, es sei „in jedem ,Sinn‘ unverständlich“: „Weder was man hier sieht noch hört noch denken kann ist das Geheimnis und doch steckt es auch nicht dahinter. Es ist es selbst: die Gegenwart überseelischer Natur- und Schicksalsmächte in der Seelenwelt durch das augenblickliche Wort“.184 Zweifellos ist das von Gundolf zitierte Gedicht nicht „in jedem ,Sinn‘ unverständlich“, gerade auch für ihn nicht, wie seine eigene Deutung zeigt. Das dichterische Wort soll aber dennoch für sich selbst und als solches gelten. Es soll außersprachlich referenzlos sein. Das ist der Anspruch. Es soll seine Kraft und seinen Sinn in seinem So-Sein, wie es ist, in seiner Form, seinem Vollzug als phatischer Akt haben. Das ist viel mehr als bloßer ästhetizistischer Genuss, nämlich tiefe rituelle Erfahrung. Genau das zu erfassen, wäre die eigentliche hermeneutische Kunst. Poetik und Hermeneutik sind also bei StG konsequent aufeinander bezogen. Die Formstrenge der Lyrik konzentriert und kontrolliert auch das Verstehen, das sich mit seinen subjektiven Interessen ungebührlich breit machen könnte. Die Gedanken sind bekanntlich frei und so auch die Vorstellungen der Einbildungskraft. „Das Gedankliche, der sogenannte Sinn“, schreibt Boehringer über StGs eigene Art zu lesen, „sprach mit, verlautete aber nicht allein. Bild und Begriff, die beiden Naturen der Sprache, waren gebunden in der Form.“185 Darum ist das Gedicht nicht durch Deutung ersetzbar, sondern nur erfahrbar und vollziehbar im Kunstwerk selbst.186 Skeptisch warnt Wolters den Kreis vor philosophischen „Lingual-Orgien“, wie Hildebrandt berichtet (KH, 37). Gertrud Simmel, die das Interesse an religiösen Phänomenen mit ihrem Mann teilte und 1919 ein Buch Über das Religiöse publizierte,187 hat das Interpretationsverdikt gegenüber dem Werk StGs wie gegenüber Dichtung überhaupt besonders nachdrücklich formuliert. Für sie ist „das Erklären […] ein heikles Handwerk und man hat wohl nie Dichtung erklärt.“188 Erklärende Interpretation ist für Gertrud Simmel Usurpation des Textes. Sie sagt das möglicherweise mit Bezug auf Dilthey, dessen Beziehung zu StG noch genauer zu erforschen

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Georges, in: Blätter der Carl-Zuckmayer Gesellschaft 9/1983, 4, S. 1–32, hier: 25f.; Martin Leutzsch, Der tanzende Christus, in: Marion Keuchen u. a. (Hrsg.), Tanz und Religion. Theologische Perspektiven, Frankfurt/M. 2008, S. 101–143. Gundolf, George, S. 143. RB II, S. 8. – Natürlich sind die theoretischen Schwierigkeiten, die diese Trennung zwischen Form und Sinn bringt, nicht zu übersehen. Dass aber im Kreis so unterschieden wird, darauf kommt es gerade an. Vgl. Margarete Susman, Stefan George, in: Dies., Gestalten und Kreise, Zürich 1954, S. 200–219, hier: 205: „Niemals könnte George jenes Qualwort Nietzsches auf die Lippen kommen: ,Nur Narr, nur Dichter.‘ Niemals könnte er das Wort Nietzsches nachsprechen: ,Die Dichter lügen zu viel.‘ Sondern von früher Jugend an besass ja George die Gewissheit, als Dichter ein Berufener, ein Auserwählter des Lebens und der Wahrheit zu sein. Da er nur im Bild, im Gebilde überhaupt die Wahrheit erfasst, da das Leben selbst in seiner Geformtheit ihm das ursprünglich Sinnvolle ist, fehlt ihm die tiefe denkerische Skepsis Nietzsches. Denn er will ja gar nicht denken, nur schauend und bildend die seiende Wahrheit ergreifen. Völlig fremd ist ihm darum der pessimistische Wahrheitsnihilismus, den auszusprechen und zu überwinden Nietzsches Lebenswerk war.“ (Herv. d. Verf.) Unter ihrem Pseudonym Marie Luise Enckendorff. Vgl. zu Gertrud Simmel: Ute Oelmann, Das „protestantische erblaster“ und die Frauenfrage. Gertrud Simmel im Gespräch mit Stefan George, in: Dies./Ulrich Raulff (Hrsg.), Frauen um Stefan George, Göttingen 2010 (CP N.F. 3), S. 143–155. Enckendorff, Interpretation von Gedichten, S. 168.

1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

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ist.189 Erklären lässt sich an StGs Werk nur das, „was er meint, wenn er von seiner Zeit spricht“, das „Dichterische“ jedoch nicht: „Man kann den Dichter nicht anders interpretieren, als indem man ihn klingen läßt, ihn spricht, wie George selbst es getan hat.“190 Erklärung und Interpretation sind für Simmel Verstellung und Verbergung des Dichters. Der Sinn des Werks erschließt sich entweder im leiblich-lautlichen Vollzug oder in der einsamen, meditativen Versenkung: „Schweig gedanke! seele bete!“ (VIII, 70) Die Interpretation ist allenfalls Vorbereitung, „um mich dahin zu bringen, daß ich willig bin mich aufzutun.“191 Simmel formuliert eben dieses eucharistische Verständnis von Kunst, das für StG und seinen Kreis generell wichtig war und höchster Ausdruck der Würde, die dem poetischen Kunstwerk zugesprochen werden kann: „Den Dichter kann man nicht erklären; der Dichter kann nur auf seiner Unerklärbarkeit bestehen und wenn die Menschen den Weg nicht zu ihm finden auf seiner Unverständlichkeit. Er ist nur zu empfangen, er ist nicht zu erkennen“ (Herv. d. Verf.). Verstehen heißt demnach auch für Simmel, den Dichter in der verwandelten ,Gestalt‘ seines Textes zu inkorporieren. Denn der Dichter „ist nur durch sich selber zugänglich“. Alle Interpretation ist dagegen nur „Urwald“, den man „durchschlagen“ oder „umgehen“ muss.192 Gundolf, auf dessen George-Buch sich Gertrud Simmel kritisch bezieht, war über ihren Angriff auf ihn ,bestürzt‘,193 wohl auch weil er sich missverstanden fühlen musste. Denn seine Annäherung an StG will sich genau dies nicht anmaßen, was Gertrud Simmel ihr vorwirft: Sie schiebe sich zwischen Leser und Werk. Freilich ist Simmels Vorwurf an Gundolf – „Er kann von der Wirkung sprechen, er kann nicht machen, daß ich die Wirkung empfange“194 – in gewisser Weise auch banal: Natürlich kann die Deutung nicht die konkrete Erfahrung mit dem Werk ersetzen. Das zu behaupten läge Gundolf auch völlig fern. Für Simmel ist das Werk StGs der heilige Text, und als solcher ist er tabu für alle Deutung. Man kann sich ihm nur aussetzen und überantworten: StGs Vers „hat seinen Sinn, sein Wesen nur da und nirgends sonst. Er ist nur da eben das, was er ist“.195 So spricht schon der alttestamentliche Gott: „Ich bin der ich bin“ (Exodus 3,14). In Simmels Formel klingt aber auch die negative Theologie, als die sich die Poetik des L’art pour l’art verstehen lässt, noch einmal an. Doch diese Formel bedeutet bei StG, Simmel macht das deutlich, gerade nicht Sinnentzug, sondern rückhaltlose Affirmation einer unhintergehbaren und unausschöpfbaren Sinnerfahrung, wie sie nur im Kunstwerk möglich sein soll. Die Geschichte der Religion und die Geschichte der Literatur zeigen allerdings, dass derartige Interpretationsverbote, auch die selbst auferlegten, wie sie aus einem solchen Willen zum fraglosen Einverstandensein sprechen, nie dauerhaft durchsetzbar sind. Eine solche Skepsis gegenüber der Deutung und dem ,Gedanklichen‘, die verwunderlich ist angesichts der vielen Wissenschaftler im Kreis, hängt auch mit der Skepsis 189 Vgl. aber Lothar van Laak, „Dichterisches Gebilde“ und Erlebnis. Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Wilhelm Dilthey und dem George-Kreis, in: GJb 5/2004/2005, S. 63–81. 190 Enckendorff, Interpretation von Gedichten, S. 168. 191 Ebd. 192 Ebd., S. 168f. 193 Vgl. ebd., S. 169. 194 Ebd., S. 172. 195 Ebd., S. 172f. Das ist im Übrigen von Gundolf gar nicht so verschieden; vgl. Braungart, Gundolfs George.

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II. Systematische Aspekte

gegenüber ,Wissen‘ und ,Wissenschaft‘ im Kreis zusammen.196 Gertrud Simmel gehörte nicht zu den Kreiswissenschaftlern im engeren Sinne, war aber natürlich über die Kreiswissenschaft im Bilde. Kommerell am 16. Juli 1922 an StG: Ich weiss zu viel · habe zu viel gesehen vom dienst an der innern flamme · so mit zu dienen · als das [!] ich glaubte · durch wissen und wissenmachen erfüllen zu können. Ich meine freilich nicht das wissen das ein sehen und nehmen und haben durch liebe ist · und nicht das wissenmachen das lieben selber ist.197

Das literarische Kunstwerk wird im George-Kreis als der legitime Ort der sich ereignenden Wahrheit begriffen, die der Leser und Hörer an sich erfährt, sofern er nur bereit ist, sich zum „gefäss“ der Wahrheit zu machen:198 „Nimm und weih mich zum gefässe! / Fülle mich: ich lieg und lausche!“ (VI/VII, 128) Jede Interpretation muss dagegen unweigerlich den Text verfehlen. Es ist frappierend, wie sehr diese Position, die im Kreis insgesamt Konsens war, auf ästhetische und literaturtheoretische Konzepte des 20. Jahrhunderts vorausweist. Heidegger hat StGs berühmtes Gedicht „Das Wort“ ins Zentrum seiner Aufsätze Das Wesen der Sprache und Das Wort gestellt. Diese Aufsätze sind vor allem eine Exegese der letzten beiden Verse des Gedichts: „So lernt ich traurig den verzicht: / Kein ding sei wo das wort gebricht“ (IX, 107). Nach der Exegese des Gedichts, die „Dichten und Denken“ als „ein ausgezeichnetes Sagen“ begreift, „insofern sie dem Geheimnis des Wortes als ihrem Denkwürdigsten überantwortet und dadurch seit je in die Verwandtschaft miteinander verfugt bleiben“, schließt Heidegger mit einer Emphase, die der Gundolfs und Simmels nicht nachsteht und radikal auf den poetischen Text als allein gültige Instanz zurückverweist. Das Gedicht bleibt letztlich von allen exegetischen Anstrengungen unerreicht, unverfügbar und so gültig, wie es ist. Es ist und bleibt das Heilige:

196 Dazu grundlegend: Kolk 1998; Bernhard Böschenstein/Jürgen Egyptien/Bertram Schefold/Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005; Barbara Schlieben/Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004. 197 M. Kommerell an StG v. 16.7.1922, StGA. Vgl. auch M. Kommerell an StG v. 20.5.1927, StGA: In diesem Brief äußert sich Kommerell zum Streit um die Hölderlin-Ausgaben: „Die Zinkernagelsche H:ausgabe ist ein pfuscherhaftes machwerk und · was das tolle ist · völlig unwissenschaftlich literatenhaft. So dass Hellingrath ihm gegenüber auch der eigentliche philologe ist.“ Der Dichter-Philologe ist der bessere, der eigentliche Philologe. So urteilt auch Eberhard Gothein über Gundolfs Habilitationsschrift: „Ich habe kaum je eine literaturhistorische Abhandlung gelesen, die nicht nur selber so Kunstwerk, sondern auch vor allem Ausdruck einer starken Persönlichkeit ist, und dabei von ganz solider aber nie prunkender Gelehrsamkeit.“ Gothein, Eberhard Gothein, S. 199f. Ebd., S. 200: „Und daß jeder Historiker ein Stück Dichter sein muß – er ist ja wohl mehr als ein Stück – zeigt sich bei ihm auf das Schönste.“ 198 Theodor W. Adorno, Rede über Lyrik und Gesellschaft, in: Ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt/M. 1975, S. 73–104, hier: 101, wendet in einem, gerade im Blick auf den Kreis, nicht unproblematischen dialektischen Kunstgriff die Gefäß-Metapher auch auf StG an: „[…] das Subjekt muß aus sich heraustreten, indem es sich verschweigt. Es muß sich gleichsam zum Gefäß machen für die Idee einer reinen Sprache. Ihrer Errettung gelten die großen Gedichte Georges.“ Man sieht an solchen Formulierungen, die der Gundolf-Sprache so fern nicht sind, wie sehr Adorno selbst in gewisser Weise Georgianer ist.

1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

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Damit wir diesem Denkwürdigen, wie es sich dem Dichten zusagt, auf eine gemäße Weise nach- und vordenken, überlassen wir alles jetzt Gesagte einer Vergessenheit. Wir hören das Gedicht. Wir werden jetzt noch nachdenklicher im Hinblick auf die Möglichkeit, daß wir uns im Hören um so leichter verhören, je einfacher das Gedicht in der Weise des Liedes singt.199

„Anerkennen statt Erkennen“, Geltenlassen, was aus innerer Notwendigkeit ist und sein soll, solche Vorstellungen rücken StGs Hermeneutik ein in die Geschichte des Konservatismus.200 Bereit zu sein zur „Anerkennung“ ist grundsätzlich ebenso die notwendige Haltung zur Teilnahme am (religiösen) Ritual. In der Lobrede auf Mallarme´ mahnt StG selbst, an den rituellen Zusammenhang der Poesie zu denken, um den möglichen Einwand gegen Mallarme´ abzuweisen, seine Verse seien „nur eine spielerei die zusammenstellung tönender silben und die schweren glitzernden satzgefüge“: Denken wir an jene sinnlosen sprüche und beschwörungen die von unbezweifelter heilkraft im volke sich erhalten und die hallen wie rufe der geister und götter · an alte gebete die uns getröstet haben ohne dass wir ihren inhalt überlegt · an lieder und reime aus grauer zeit die keine rechte klärung zulassen […]. (XVII, 46)201

So wurden StGs Gedichte auch aufgefasst. Kassner erinnert sich an eine Lesung StGs wie an einen magisch-rituellen Akt: „murmelnd Wort an Wort reihend, jedes Pathos vermeidend, als läse er Zauberformeln, Gebete vor in einer Sprache, die niemand zu verstehen brauche, weil sie heilig und zu rein magischen Wirkungen bestimmt sei.“202 Als magisch vollzogenes poetisches Wort soll das Gedicht zugleich sozial wirksam sein. Kommerell notiert: George: als Kult-Repräsentant, schafft ein Lesen. // Sie lesen zusammen. Er sitzt darunter. Zwischen Erzpriester und Medizinmann. / Magische Urfunktion der Sprache. Versuch, so eine in George verkörperte Weltwende zu vollziehen. / Dichtung Nebensache. // Kreisdichtung genau wie Gedichte-Lesen Lebensfunction.203

199 Martin Heidegger, Das Wort, in: Ders., Unterwegs zur Sprache, 8. Aufl., Pfullingen 1986, S. 217–238, hier: 238; vgl. ders., Das Wesen der Sprache, in: ebd., S. 157–216. 200 Vgl. Kurt Lenk, Deutscher Konservatismus, Frankfurt/M., New York 1989, S. 45f. 201 Vgl. auch die Bemerkung Gadamers, Der Dichter Stefan George, S. 25, mit der er „die Anwendbarkeit des Begriffes des Magischen auf den dichterischen Wortgebrauch Georges“ rechtfertigt: „Im magischen Gebrauch des Wortes ist das Verständnis der Worte offenkundig nicht ganz ferngehalten, aber es ist sekundär gegenüber den eigentlichen Wirkungsfaktoren. Im magischen Sprechen liegt eine ungewöhnliche Konzentration von Wille, und in der Tat ist auch George in seinem Werk ganz Wille. Das magische Wort ist ferner ein Wort, das verwandelt, das nicht nur gehört und verstanden wird, ja das überhaupt nicht primär verstanden wird, sondern das im Hören ergreift wie die Beschwörung von Geistern.“ (Herv. d. Verf.) Gadamers Überlegung, die die Wirkung des poetischen Wortes ebenfalls sakramental versteht, zeigt auch, welche Herausforderung Werk und Poetik StGs für den Hermeneutiker darstellen müssen. Die Beschreibung von StGs poetischem Sprechen als ,magisch‘ versucht, sowohl StG gerecht zu werden, als auch den hermeneutischen Anspruch nicht ganz preiszugeben. 202 Rudolf Kassner, Buch der Erinnerung (1938), zit. nach Tgahrt (Hrsg.), Dichter lesen, S. 332. 203 Max Kommerell, Essays, Notizen, Poetische Fragmente, aus dem Nachl. hrsg. v. Inge Jens, Olten, Freiburg 1969, S. 232.

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II. Systematische Aspekte

Dem religiösen Gebet und der liturgischen Feier nicht unähnlich konstituiert sich StGs ,Gemeinde‘ im gemeinsamen Wort-Gottesdienst. StG selbst hat diese Nähe zum Gottesdienst und die Gefahr einer naiven Verwechslung gesehen. So lässt sich seine Kritik an Thormaehlen verstehen, der für StGs Begriffe „allzu liturgisch“ gelesen habe (LT, 275). Denn dies muss immer deutlich sein: Es geht um literarische Kunst. Am gesprochenen Wort muss man sogleich teilhaben. Insofern integriert es den Zuhörer in die Gemeinschaft. So sollte Max Kommerell durch gemeinsame Treffen und Lesungen noch im Kreis gehalten werden.204 Nicht zuzuhören bedeutet, sich aus der Gemeinschaft – wenigstens für den Augenblick des Lesens, Sprechens, Hörens – auszuschließen. Deshalb können sich auch soziale Gruppen durch lautes Lesen und Zuhören konstituieren und regulieren. Fritz Klatt, Reformpädagoge und eine der zentralen Gestalten der deutschen Jugendbewegung, berichtet in seinem Tagebuch von einer jugendbewegten Fahrt im Juni 1916: Am Kaputher See endlich machten wir ein Feuer, kochten Tee, aßen Abendbrot, saßen ums Feuer und sahen hinein. Ich las dann aus meinen Kriegssachen vor, zum Schluß die letzten Gedichte aus dem Stern des Bundes, welche uns vier zur wahren Gemeinschaft höhten.205

Auch wenige Tage später „sammelten wir uns zu Stefan George“. Im Zeichen der Gedichte StGs verbindet sich die Gruppe zur sakralisierten Gemeinschaft, zur Kommunion des Wortes: „Wenn wir im lesen vereint sind, sind wir eins“ (EA, 57). StGs Verzicht auf das laute Lesen wurde im Kreis des Jahrbuchs für die geistige Bewegung als Auflösungserscheinung begriffen – so jedenfalls Hildebrandts Perspektive. Er erinnert sich: „Im Jahre 1913 bestand also der eigentlich vom Jahrbuch belebte Kreis nicht mehr im alten Sinne. Daß George mit uns nicht Gedichte las, war das Zeichen dafür“ (KH, 99f.). Die Situationsbezogenheit des gesprochenen Wortes und die gemeinsame, gegenwärtige Erfahrung des Sinns kann „menschliche Wesen in zusammengehörende Gruppen“ verwandeln.206 Deshalb ist in religiösen Handlungen und Gottesdiensten besonders wichtig, dass gemeinsam gesprochen oder gesungen wird. StG hat, wie Hildebrandt berichtet, auch das gemeinsame „Sprechen im Chor“ in seinem Kreis geübt, weniger mit der „Absicht einer Aufführung“ als um dieser Übung selbst willen (KH, 204 Vgl. ders., Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, aus dem Nachl. hrsg. v. Inge Jens, Olten, Freiburg 1967, S. 170ff. Kommerell wurde zur Entscheidung gegen die weitere Mitgliedschaft im Kreis genötigt, weil StG ihn, neben Robert Boehringer und Johann Anton, als Stiftungsrat für die „Stiftung zur Fortführung des Werkes von Stefan George“ einsetzen wollte. 205 Fritz Klatt, Biographische Aufzeichnungen, aus dem Nachl. hrsg. v. Lis Klatt u. Günter Schulz, mit einer Vorbemerkung zu den Briefen von Gertrud Breysig und der Bibliographie seiner Schriften und Beiträge von Ursula Schulz, Bremen [1968], S. 107f. Von der George-Lektüre ist mehrfach die Rede. Schon am 20.11.1915 notiert Klatt: „Stefan George, die neuen Staatsgedichte vorgelesen. […] Gepackt von diesem einzigen Werk, das die Größe der neuen Zeit der Wende in sich faßt. Durch das Sprechen wirkten sie noch viel eherner“ (ebd., S. 90). Auch S. 81, 8.9.1915: „Wir lagen im Rasen. Ich las dem kaum vertraut Gewordenen [Georg Martert] Stefan Georges Gedichte vor, aus dem Stern des Bundes: Wer je die Flamme umschritt …“. Klatt, der 1922 ein Buch über Lebensrhythmus und Erziehung, 1923 über Neue Religiosität veröffentlichte, 1924 über Das Bild des Führers, außerdem zahlreiche Aufsätze zu Erotik usw., hielt 1934 einen George-Vortrag (Bericht darüber im StGA). 206 Walter J. Ong, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 78.

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60). Die rituell vollzogene Lesung potenziert die situativ und gemeinschaftlich erfahrbare Sinnhaftigkeit des poetischen Rituals überhaupt. In dieser unmittelbaren Erfahrung des gesprochenen Textes wird seine lautliche Gestalt aufgewertet, weil das Wort in seinem Klang vollzogen, d. h. skandierend und phonetisierend gelesen wird. Es hat deshalb nicht nur mnemotechnische, onomatopoetische oder selbstreferenzielle Gründe, wenn in der Literatur des George-Kreises die klanglichen Qualitäten der Sprache eine besondere Geltung bekommen (Alliterationen, Assonanzen, Reime, Stimmführung, Rhythmisierungen). Auch für Dada und die Konkrete Poesie ist dieser Bezug auf den mündlichen Vortrag zentral. Die Konkrete Poesie verdankt StG tatsächlich mehr, als es auf den ersten Blick scheinen mag.207 StGs eigene Lesung ,hypnotisiert‘. Die Zuhörer werden „in die Stimmung hineingebannt“ und überwältigt.208 Seine Gedichte brauchen offenbar den Vortrag; sie verwirklichen sich für StG erst ganz in ihrem rituellen Vollzug. Dies führt ins Zentrum von StGs Poetik. Die Realisierung von Poesie soll nicht nur das poetische ,gebilde‘ selbst zum Leben erwecken. Sie soll auch den erwecken, der sich von ihr erfassen lässt. Sie soll den Kairos – ein im George-Kreis und in der George-Rezeption zentraler Begriff,209 der auch auf den Dezisionismus der Epoche verweist – heraufführen: „Für mich“, schreibt Lou Andreas-Salome´ 1898 mit sakramentaler Anspielung, „hat ein Gedicht noch niemals eine solche siegreiche und überwältigende Umwandlung erlebt, wie Stefan Georges Gedichte in seinem mündlichen Vortrag“.210 1.4.2. Maximin Freilich sah StG auch, dass es kein Hören und Lesen von Texten ohne ein individuelles Verstehen gibt. Das ist ein Grund dafür, dass die Kreisbildung für ihn so wichtig wurde. Die Mitglieder des Kreises sollten auch kompetente Deuter sein. Die Deutung sollte durch den Kreis kanonisiert und die Wirkung der Texte so stabilisiert werden.211 Edith Landmann notiert von einer Begegnung mit StG 1919 dessen Bemerkung: „Fortlaufende Erklärung der Zeitgedichte und Gestalten: ,Dann sind Sie später einmal eine Autorität für die Auslegung. Jeder ein Buch, einer muss es wissen‘“ (EL, 77). Der Satz lässt sich mehrdeutig lesen: Jedes Mitglied des Kreises soll eine kompetente Autorität für ein Buch StGs sein. Jedes Mitglied des Kreises ist aber auch selbst ein eigenes Buch – StGs sozialer ,Text‘. StGs Poetik lässt sich auch als eine SozioPoetik rekonstruieren, in der mit dem Siebenten Ring Maximin, StGs göttlicher Jüngling, eine zentrale Rolle einnimmt. Die Werk-Idee erstreckt sich auch in das soziale

207 Günter Heintz, Stefan George. Studien zu seiner künstlerischen Wirkung, Stuttgart 1986, hat nachdrücklich darauf hingewiesen. Helmut Heißenbüttel hat z. B. Max Kommerells Gedichte, Gespräche, Übertragungen mit einem ausführlichen Essay herausgegeben. 208 Marie von Bunsen, Stefan George: ein Dichter und eine Gemeinde, in: Vossische Zeitung v. 9.1.1898, zit. nach KTM, S. 143. 209 Vgl. II, 4.4.5.2.; Susanne Kaul, Kairos bei George, in: GJb 7/2008/2009, S. 1–19. 210 Lou Andreas-Salome´, Grundformen der Kunst (1898), zit. nach Tgahrt (Hrsg.), Dichter lesen, S. 330 (Herv. d. Verf.). 211 Vgl. EL, S. 73: „,Die Auslegung kann falsch sein, aber Auslegung muß sein.‘“

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II. Systematische Aspekte

Werk hinein und erfüllt sich letztlich in ihm.212 In der Maximin-Konzeption werden Poetik, Rhetorik und Hermeneutik zusammengeführt. Sie zentriert das Werk thematisch; sie begründet den rhetorischen Anspruch; sie richtet das Verstehen aus. Geschichte und Konzept der Kunstreligion und der heiligen Poesie, die für StG große Bedeutung haben, legen nahe, Maximin auch poetologisch aufzufassen und in einem solchen Verständnis keinesfalls nur eine Relativierung der Irritation, ja Provokation zu sehen, die der sogenannte Maximin-Kult bis heute darstellt. Die Formel von der ,Vergottung des Leibes‘ und der ,Verleibung des Gottes‘ („Templer“; VI/VII, 53), die für Gundolfs George-Deutung so wichtig ist, wurde in der kreisnahen Interpretation gerne (und bis heute) ,graecophil‘213 verstanden oder allgemeiner mit Bezug auf das Konstrukt ,Antike‘, „auf das gesamte klassische Altertum von Homer bis Augustus“, ausgelegt.214 Aber sie lässt sich natürlich ebenso als christologische Formel verstehen. Dann wird noch deutlicher, wie ambitioniert StGs Versuch eines die Dichtkunst und den Kreis zentrierenden, aber durch ihn selbst hervorgebrachten Mythos tatsächlich ist. Schon Hölderlin blendet synkretistisch Dionysos und Christus ineinander. Diesem mythopoetischen und poetologischen Gott ,Maximin‘ ist der zentrale Zyklus des Siebenten Rings gewidmet. Dieser Zyklus bildet den innersten ,Ring‘ der sieben ,Ringe‘ des Bandes. StG arrangiert die Gedichte. Er sieht die einzelne poetische Äußerung immer eingebunden in einen zyklischen Zusammenhang, auch wenn die Gesamtkomposition des Siebenten Rings bei der Entstehung einzelner Gedichte noch nicht intendiert gewesen sein kann.215 Diese offensichtliche Struktur bedeutet nicht, dass der gesamte Band poetisch homogen und formal konsequent durchgearbeitet wäre. Im Gegenteil: Hier gibt es eine besonders auffällige Vielgestaltigkeit der Formen und Klein-Zyklen. Ähnlich formal differenziert ist das Neue Reich. Allein der Stern des Bundes (1914), der die poetische Konstitution des neuen Gottes zur Voraussetzung hat und sich durchgängig auf ihn bezieht, zeigt sich formal sehr geschlossen. Aber die poetische Kraft wächst damit nicht. „Schwärmer aus zwang weil euch das feste drückt / Sehner aus not weil ihr euch nie entfahrt / Bleibt in der trübe schuldlos die ihr preist – / Ein schritt hinaus wird alles dasein lug!“ (VIII, 39) Welche „Schwärmer“, welche „Sehner“ aus welcher „not“, welcher „zwang“, welche „trübe“? Die Verse bleiben seltsam abstrakt. Sicher muss man bei Maximin auch an den um 1900 weitverbreiteten Mythos des ,Göttlichen Kindes‘ denken, des Vergilschen ,puer‘.216 Im geschichtlichen Kontext von Theosophie, Lebensreform, Jugendbewegung und neopaganer Tendenzen verschiedenster Art, die sich in Literatur, Kunst und Kultur um 1900 vielfach finden, verliert Maximin auch religions- und kulturgeschichtlich seine Seltsamkeit fast vollständig. In poetologischer und hermeneutischer Hinsicht ist aber wichtiger, was schon die Schlussstrophe des „Zeitgedichts“ deutlich macht: ,Maximin‘ ist eine mytho-poeti212 Mit dem Begriff ,Sozio-Poetik‘ arbeitet das Bielefelder DFG-Forschungsprojekt Christian Oestersandforts zu StG, das 2012 abgeschlossen wird. 213 Vgl. Esther Sophia Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945, Berlin 2004. 214 Gundolf, George, S. 39f. 215 Vgl. hierzu I, 2.6. und den Kommentar Ute Oelmanns zu SW VI/VII. 216 Vgl. Richard Faber, Die Verkündigung Vergils: Reich – Kirche – Staat. Zur Kritik der ,Politischen Theologie‘, Hildesheim, New York 1975.

1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

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sche Konstruktion für eine erneuerte, „stille“, zugleich ,schöne, starke und große‘ Lyrik, die dann einmal wieder liedhaft sein könnte und die „posaune“ des zürnenden und strafenden Propheten dann nicht mehr bräuchte (VI/VII, 7). Maximin ist StGs eigene poetische Geburt, durch die er sich selbst nun bindet („Ich geschöpf nun eignen sohnes“; VI/VII, 109, „Ergeben steh ich vor des rätsels macht / Wie er mein kind ich meines kindes kind . .“; VIII, 14 – eine mystische Vorstellung; vielleicht eine DanteAnspielung217). In der „Einverleibung“ (VI/VII, 109) dieses poetischen Gottes – also des geläuterten, neuen, reinen, semantisch zentrierten Gedichts selbst, das durch die Kulturkritik der den Gedichtband einleitenden Zeitgedichte hindurchgegangen ist – vollzieht sich auch die ,Communio‘ des sozialen Kreises. Kulturkritische Ausfälle und Grobheiten enthalten sogar noch die Maximin-Gedichte selbst: „das dumpfe volk“ (VI/VII, 91); „Eh blöd der menschen sinn“ (VI/VII, 92); „Schau wie er hienieden wirke / Durch den staub mit feuer fahre!“ (VI/VII, 93).218 Durch Maximin soll sich wahre Gemeinschaft herstellen. Aus dem Maximin-Mythos spricht das Bedürfnis nach Konkretion, Erfahrbarkeit und Anschaulichkeit dieser Mitte, die StG für seinen Kreis zu brauchen glaubt und die er selbst stiftet. Diese Produktion eines eigenen poetologischen Mythos ist so bizarr nicht, wenn man nur auf die Parallelen zur Frühromantik aufmerksam wird, die kaum zu übersehen sind.219 Im sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus von 1796, das vermutlich von Hölderlin, Hegel und Schelling gemeinsam verfasst worden ist, wird eine Neue Mythologie gefordert. Sie soll die Vernunft sinnlich machen, zu einem „ästhetischen Akt“. Die „Ideen müssen ästhetische d. h. mythologisch“ werden, so wie die „Mythologie“, man könnte auch sagen: die „Religion“, selbst „vernünftig“, „philosophisch“ werden muss.220 Für sich allein wäre Religion demnach zwar sinnlich, aber unvernünftig; und für sich allein wäre Vernunft bloß abstrakte Ideenlehre, die niemanden erreichte – außer vielleicht die Philosophen selbst. Wirkliche Legitimation der eigenen gesellschaftlichen und politischen Gegenwart gibt es in der anbrechenden Moderne also nicht mehr aus Genealogie und religiöser Tradition heraus. Die Moderne muss sich in einer Neuen Mythologie, die auf der vernünftigen Einsicht beruht, dass eine gemeinsame, kollektiv verbindliche Anschauung notwendig ist, genuin selbst begründen. So nicht viel anders bei StG. Die Epoche der Moderne, für deren Selbstverständnis seit der Aufklärung zentral ist, dass sie sich kommunikativ, d. h. aus der allen gemeinsamen, geselligen Vernunft heraus selbst konstituieren will und dies auch zu können meint, versucht sich mit der Frühromantik mythisch anschaulich, also in einer kollektiv verbindlichen, gesellschaftli217 Vgl. den Kommentar in SW VIII, S. 129f. 218 Viel stärker als Liebesdichtung deutet Margherita Versari die Maximin-Gedichte; und diese Deutung hat gewiss auch ihre Berechtigung: Dies., Strategien der Liebesrede in der Dichtung Stefan Georges, Würzburg 2006, bes. Kap. 3, S. 67ff. 219 Vgl. Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie 1, Frankfurt/M. 1982; ders., Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie 2, Frankfurt/M. 1988, darin: Gerhard Plumpe, Alfred Schuler und die ,Kosmische Runde‘, S. 212–256; Christoph Jamme/Helmut Schneider (Hrsg.), Mythologie der Vernunft. Hegels ,ältestes Systemprogramm‘ des deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 1984. 220 Friedrich Hölderlin, Hyperion, Empedokles, Aufsätze, Übersetzungen, hrsg. v. Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katharina Grätz, Frankfurt/M. 1994 (Sämtliche Werke u. Briefe in drei Bden. 2), S. 575–577, hier: 576f.

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II. Systematische Aspekte

chen Imagination, zu ergänzen, ja sogar zu begründen. Das aber ist die eigentliche Aufgabe der Poesie. Ja, die Poesie ist eigentlich nichts anderes als Mythologie. Bei dieser Forderung nach einer Neuen Mythologie ist es freilich weitgehend geblieben. Die Poesie hat diese mythisch-sinnliche Verbindlichkeit nie hervorgebracht und ist selbst nie wirklich Neue Mythologie geworden. Wohl aber wenden sich nicht wenige der intellektuellen Frühromantiker bekanntlich bald dem Katholizismus zu. Und es beginnt die hohe Zeit nationaler Mythen, die an Tradierungen anschließen können (Hermann, Luther). Am Ende des 19. Jahrhunderts wird im französischen Renouveau catholique, der bald auch nach Deutschland ausgreift, der Katholizismus als Künstler- und Intellektuellenreligion von mythischer Kraft und Anschaulichkeit erneut wiederentdeckt.221 Auch Maximin soll nun, als poetischer Mythos, ein solcher moderner Gott, weil ,produzierter‘ Mythos sein.222 Nietzsche habe mit seiner Philosophie und seiner Kritik auf StG, so er selbst, „nie im aufbauenden Sinne gewirkt“, notiert Edith Landmann (EL, 100). Maximin ist dagegen eine ,aufbauende Konstruktion‘ für die Dichtkunst, den sozialen Kreis und StG selbst. In Maximin darf wohl auch der „Herr der Wende“ des Sterns des Bundes gesehen werden (VIII, 8; Herv. d. Verf.). Zu ihm eröffnet StG mit seiner Dichtung den Zugang, indem er ihn selbst schafft. StG produziert diesen sentimentalischen, weil aus einem tiefen Bewusstsein eines Mangels hervorgegangenen Mythos, den er selbst braucht zur Beglaubigung der eigenen Dichtung.223 Er besteht darauf wie kaum ein Dichter der Moderne sonst, dies sogar selbst genau zu wissen. Auch dies meint die Rede von seiner ,poetologischen Selbstreflexivität‘. Mit Maximin scheint aus der an sich bedeutsamen poetischen Rede einer Kunst für die Kunst nun endgültig eine Rede zu werden, die ein semantisches Zentrum hat und sich auf etwas anderes wirklich bezieht. Aber auf was? Maximin ist nicht Maximilian Kronberger. Der sentimentalische Mythos ist auch hier letztlich Metapher für die Poesie selbst. Sie bleibt, auch nach der poetischen Epiphanie des Siebenten Rings, darum noch immer selbst das Heilige. Und sie bekräftigt dies, indem sie, sogar mit Maximin, eben doch ständig von sich selbst redet. Die Poesie kann sich in der Geschichte der George-Verehrung als so heilig erweisen, dass sie sogar in ihren schrecklichen Beispielen Verehrung findet. Sie weiß, dass es auf ,Das Wort‘ eben wirklich ankommt. So redet sie von sich im Bewusstsein der sozialen Verbindlichkeit, ja der sozialen Heilkraft, die vom mythischen Sinn setzenden ,Wort‘ ausgehen soll. Ästhetisch-sozialer Sinn konstituiert sich in der umfassenden Performanz dieser Poesie. So ist es für manchen Lebenslauf im Zeichen StGs geblieben. Das poetische Wort ist alles andere als nur „Worte, Worte, Worte“.224 Wo das Wort aber nicht handelnder, sozialer Vollzug ist, ist es eben nur dies: „ein blosses wort“:

221 Vgl. Wilhelm Kühlmann/Roman Luckscheiter (Hrsg.), Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur, Freiburg/Br. u. a. 2008. 222 Dazu Claus-Artur Scheier, Maximins Lichtung. Philosophische Bemerkungen zu Georges Gott, in: GJb 1/1996/1997, S. 80–106. 223 Vgl. Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 133. 224 Hamlet, II, 2, Vers 192.

1. Poetik, Rhetorik, Hermeneutik

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Der Weisheitslehrer Seit dreissig jahren hast du gepredigt vor scharen Wer steht nun hinter dir? ›Kein einzelner – die welt.‹ O lehrer dann hieltest du besser die türen geschlossen Du hast für nichts gewirkt als für ein blosses wort. (IX, 87)

Mit diesem Verständnis des poetischen Wortes wird der Übergang von der MythoPoesie zu einer neuen sinnstiftenden Religion eröffnet, für die das dichterische „wort“ wirklich autoritative Geltung hat und neue Traditionsbildungen ermöglichen will. Das macht die Hypothek der George-Rezeption noch lange nach StGs Tod aus. Daran scheiden sich die Geister bis heute. Literatur Braungart 1997; Breuer 1995; BV; EA; EL; EM I; ES; G/H; Groppe 1997; KH; Kolk 1998; LT; Osterkamp 2002; RB II; SL. Arbogast, Hubert, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges, Köln, Graz 1967. Benjamin, Walter, Über Stefan George, in: Ders., Aufsätze, Essays, Vorträge, Bd. 2, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1977 (Gesammelte Schriften 2.2), S. 622–624. Birkenhauer, Renate, Reimpoetik am Beispiel Stefan Georges. Phonologischer Algorithmus und Reimwörterbuch, Tübingen 1983. Braungart, Wolfgang, Gundolfs George, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 43/1993, S. 417–442. Ders., Georges Nietzsche. „Versuch einer Selbstkritik“, in: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 2004, S. 234–258. Ders., „Was ich noch sinne und was ich noch füge / Was ich noch liebe trägt die gleichen züge“. Stefan Georges performative Poetik, in: Stefan George, München 2005 (Text und Kritik 168), S. 3–18. Ders., Meta´noia. Georges Poetik der Entschiedenheit, in: Ute Oelmann/Ulrich Raulff (Hrsg.), Frauen um Stefan George, Göttingen 2010 (CP N.F. 3), S. 59–83. Brokoff, Jürgen, Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde, Göttingen 2010. David, Claude, Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967. Enckendorff, Marie Luise [d. i. Gertrud Simmel], Interpretation von Gedichten, in: Die Kreatur 3/1929, 2, S. 167–174. Gadamer, Hans-Georg, Der Dichter Stefan George, in: Ders., Gedicht und Gespräch. Essays, Frankfurt/M. 1990, S. 12–38. Ge´rardy, Paul, Geistige Kunst, in: BfdK 2/1894, 4, S. 110–113. Gothein, Marie Luise, Eberhard Gothein. Ein Lebensbild. Seinen Briefen nacherzählt, Stuttgart 1931. Gundolf, Friedrich, George, Berlin 1920. Hinck, Walter, Das Gedicht als Spiegel der Dichter. Zur Geschichte des deutschen poetologischen Gedichts, Opladen 1985. Linke, Hansjürgen, Das Kultische in der Dichtung Stefan Georges und seiner Schule, 2 Bde., München, Düsseldorf 1960. Martus, Steffen, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007.

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II. Systematische Aspekte

Marx, Friedhelm, Heilige Autorschaft? ,Self-Fashioning-Strategien‘ in der Literatur der Moderne, in: Heinrich Detering (Hrsg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart, Weimar 2002, S. 107–120. Mattenklott, Gert, Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, München 1970. Petersdorff, Dirk von, Wie viel Freiheit braucht die Dichtung? Das ,Zeitgedicht‘ im ,Siebenten Ring‘, in: GJb 5/2004/2005, S. 45–62. Rieckmann, Jens, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer ,Episode‘ aus der Jahrhundertwende, Tübingen, Basel 1997. Roos, Martin, Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, Düsseldorf 2000. Tgahrt, Reinhard (Hrsg.), Dichter lesen. Bd. 2: Jahrhundertwende, Marbach/N. 1989. Wertheimer, Jürgen, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen, München 1978. Würffel, Stefan Bodo, Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978. Wolfgang Braungart

2.

Bildende Kunst

Deutschland hatte zwei Dichter, die ihr Amt in mehr als nur der Erneuerung der Dichtersprache erkannt haben: Goethe und StG. Beide Dichter sind auch als Bildungs-, Wissenschafts- und Kunstpolitiker angetreten und verfolgten das Ziel, Kunst, Literatur und Wissenschaft in Deutschland von Grund auf zu erneuern. Goethes Versuch, mit der Zeitschrift Propyläen und den Weimarer Preisaufgaben (1799–1805) normativen Einfluss auf die künstlerische Praxis zu nehmen, muss als gescheitert gelten. Die Erneuerung der Historienmalerei aus dem Geiste der griechischen Antike endete in ängstlich buchstäblicher Illustration der homerischen Epen; resigniert stellten Goethe und Meyer die Weimarer Preisaufgaben 1805 ein. Und in der Tat gibt es, wie Ernst Osterkamp formuliert hat, wohl kaum ein Werk der bildenden Kunst, das im Kontext der Preisaufgaben entstanden ist und „das sich nicht mühelos aus der deutschen Kunstgeschichte wegdenken ließe“.1 Ähnliches ließe sich auch für StG und sein Verhältnis zu den bildenden Künsten behaupten. Nicht dass StG von der bildenden Kunst unberührt geblieben wäre; sein enger Umgang mit bildenden Künstlern weist ihn sehr wohl als einen ausgesprochenen Freund der Maler aus. Doch spielte die bildende Kunst im ästhetisch-erzieherischen Programm des George-Kreises nur eine nachgeordnete Rolle. Um den Vergleich mit Goethes Kunstpolitik noch einmal aufzunehmen: Auch StG ist der Gründer eines Periodikums, der von 1892 bis 1919 erscheinenden BfdK, in denen er seine vor allem gegen den Naturalismus gerichteten ästhetischen Anschauungen verbreitete. Doch ist in den BfdK weniger von der bildenden Kunst als fast ausschließlich von der Dichtung die Rede. Bildende Künstler spielten in StGs Reformprojekt offenbar nur eine Nebenrolle. Muss daher als Arbeitshypothese gelten: Es gibt kaum ein Werk der bildenden Kunst aus dem Umfeld StGs, das sich nicht mühelos aus der deutschen Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts wegdenken ließe? Sich mit StG und der bildenden Kunst beschäftigen, heißt zunächst, sich dem Phänomen der George-Welt durch viele Erinnerungsschichten und von seinen Rändern her zu nähern. Auch ist die umfangreiche, jedoch kaum bekannte künstlerische Produktion des George-Kreises äußerst heterogen und den unterschiedlichsten Stilrichtungen, vom Symbolismus zur Neuen Sachlichkeit, vom Impressionismus zum Neuklassizismus, zuzuordnen. Eine eindeutige stilistische Standortbestimmung ist nicht möglich. StGs direkter Einfluss auf die Kunst äußert sich zudem in den eher ,kleinen‘ Gattungen wie Buchillustration und Zeichnung. Die wenigen monumentalen Werke – wie Melchior Lechters Weihe am mystischen Quell im Kölner Pallenbergsaal oder die 1 Ernst Osterkamp, „Aus dem Gesichtspunkt reiner Menschlichkeit“. Goethes Preisaufgaben für bildende Künstler 1799–1805, in: Goethe und die Kunst, hrsg. v. Sabine Schulze, Ausstellungskatalog Frankfurt am Main, Frankfurt/M., Ostfildern-Ruit 1994, S. 310–322, hier: 317.

552

II. Systematische Aspekte

späten, unter deutlich faschistischen Vorzeichen entstandenen öffentlichen Standbilder der bildhauerisch tätigen George-Schüler Mehnert und Thormaehlen – sind zerstört oder verschollen. Künstler und Kunstwerke aus dem Kreis um StG waren lange Zeit ausschließlich ein Thema der Ahnenpfleger und affirmativen Erinnerungsbücher.2 Die akademische Kunstgeschichte der Bundesrepublik nach 1945 hat die Kunstwerke des George-Kreises als einen konservativen Sonderweg der klassischen Moderne – insbesondere die Plastik – komplett ignoriert; erst jetzt, nachdem die beliebte Großerzählung von der einen ,guten‘ Moderne brüchig geworden ist, lässt sich ein gesteigertes Interesse an den Werken verzeichnen.3 Die in den Feuilletons geäußerte Kritik an der 2008 im Deutschen Literaturarchiv in Marbach gezeigten Ausstellung der Kreis-Plastik hat aber auch deutlich gemacht, dass eine sachlich-kritische Aufarbeitung scheitern muss, solange diese Sonderprovinz der Kunst- und Bildgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts an eingefahrenen Stereotypen des kunsthistorischen Moderne-Diskurses gemessen wird. Berechtigterweise wäre zu fragen, inwiefern die Kunst des George-Kreises überhaupt ein Teil der klassischen Moderne ist, gegen deren ästhetische Errungenschaften sie sich weitgehend verschließt. Dass StG die technischen und medialen Innovationen der Moderne trotzdem genutzt hat, um Bilder zu erzeugen und zu verbreiten, ist herausgearbeitet worden. Der Einfluss, den StG wiederum auf bildende Künstler außerhalb seines Kreises gehabt hat, ist kaum erforscht.4 Eine Ausnahme sind hier Erich Heckels Wandbilder der Lebensstufen im Erfurter Anger-Museum von 1922/23, auf denen StG als Erneuerer eines männlichheroischen Erziehungsideals erscheint. So heterogen die Personen, die StG in seinem Kreis an sich zog, so unterschiedlich sind auch die Ausdrucksformen und Bildkonzepte, mit denen sich Künstler innerhalb und außerhalb des Kreises mit StG und seiner poetisch-pädagogischen Sendung auseinandersetzten. Die jüngere, vornehmlich germanistische Forschung hat den Akzent deutlich auf die Mediengeschichte und die Inszenierung des Dichters mithilfe der Fotografie verschoben und dabei genuin kunsthistorischen Problemen weniger Beachtung geschenkt. Im vorliegenden Beitrag sollen, ausgehend vom Problem der bildenden Künste, auch allgemeine Fragen zu Funktion und Rolle des Bildes im George-Kreis erörtert werden. Dass dessen Sprachgebrauch reich ist an visuellen Metaphern wie ,Bild‘, ,Gebilde‘, ,Gestalt‘, ,Erscheinung‘ und ,Schau‘, muss nicht eigens betont werden. So wird die Bild- und Mediengeschichte des Kreises, wie sie sich in Buchillustration, Fotografie, Bildnissen, Denkmälern etc. äußert, ebenso thematisiert wie dessen Bildpolitik und Bildbenutzung.

2 Vgl. Stettler, Frank; Greischel/Stettler, George im Bildnis; LT; Karl Schefold, Bildnisse Georges, in: Das Stefan-George-Seminar 1978 in Bingen am Rhein. Eine Dokumentation, hrsg. v. Peter Lutz Lehmann u. Robert Wolff, Bingen 1979, S. 159–172; Schefold, Zu Alexander Zschokkes Bildnissen. Eine ältere Gesamtdarstellung zum Thema fehlt, die unkritische Dissertation Peter W. Guenthers liegt nicht im Druck vor, vgl. Guenther, George und die bildenden Künste. Ältere Materialsammlungen: KTM; Wolff, George in Darstellungen der bildenden Kunst; ders., Stefan George. 3 Vgl. Blume, Im Bannkreis; Doris Schuhmacher, Ludwig Thormaehlen – Bildhauer und Kunsthistoriker zwischen George-Kreis und Brücke-Künstlern, in: Georg Ahrens (Hrsg.), „Ihre Bindung beruht auf gegenseitiger Wertschätzung“. 50 Jahre Arbeitsgemeinschaft bildender Künstler am Mittelrhein, Bonn 1999, S. 29–55; Hauser, George und die bildenden Künste; Raulff, Plastische Passbilder; Raulff/Näfelt, Das geheime Deutschland; Meier, Neue Kalokagathoi. 4 Vgl. III, 3.

2. Bildende Kunst

2.1.

553

Bildende Kunst als Gegenstand der Dichtung Georges

2.1.1. Bildgedichte Als Dichter hat sich StG häufig und emphatisch Werken der bildenden Kunst zugewandt. Die drei „Bilder“ in den Hymnen (1890) sind allerdings keine genuin ekphrastischen Gedichte; allein dem Sonett „Ein Angelico“ (II, 27) liegt als identifizierbares Gemälde Fra Angelicos Marienkrönung im Louvre zugrunde (vgl. Bildtafel J). Hier dürfte die Rezeption des Bildes entschieden literarisch vermittelt worden sein, wie ein Blick auf den von The´ophile Gautier verfassten Louvre-Führer offenbart, den StG gekannt haben müsste.5 Christus erscheint vor Goldgrund und mit den Engeln „im glanze reinen königtumes“, wogegen Maria „voll demut aber froh“ die Krone empfängt. Die heilige Handlung verliert sich keineswegs in der poetischen Evokation kostbarer Materialien und seltener Farben, wie sie StG bei Gautier vorgeprägt fand. Vielmehr nimmt das Gedicht ein Gemälde der Frührenaissance zum Anlass, um eine Vision sakraler Herrschaft, weitgehend gelöst vom christlichen Dogma, vor Augen zu stellen. Heiligkeit und Schönheit sind in der formalen Erlesenheit des alten Gemäldes aufgehoben, das wie ein Bote aus Traumtiefen der Vergangenheit erscheint. Im Siebenten Ring eröffnen Nietzsche und Böcklin als Künstlerfiguren des 19. Jahrhunderts, die ihr Jahrhundert zugleich überwunden haben, den Abschnitt der Zeitgedichte. Das Gedicht „Böcklin“ (VI/VII, 14–15) dürfte um 1901/02, kurz nach dem Tod des Malers, entstanden sein; erstmals erschienen war es in der sechsten Folge der BfdK von 1902/03.6 StGs Verehrung für Arnold Böcklin (1827–1901) war eine der Konstanten seiner künstlerischen Vorlieben und korrespondierte mit dem um 1900 verbreiteten Kult des Malers im deutschen Bildungsbürgertum. Von Böcklin erhofften sich konservative Kreise eine Neugeburt der deutschen Kunst.7 StG bewunderte an ihm den Außenseiter seiner Zeit, der das Realismusgebot der Epoche mit seinen mythologischen Phantasien überboten hatte, der Bilder vom schönen Italien schuf – insbesondere von Florenz und der Toskana („Dir winken ruh die Schöne / Der städte und Toskanas treue fichten“; VI/VII, 14) – und die antike Welt der nackten Leiber in die prüde Kultur der Gründerzeit brachte. Böcklin entfloh der Hässlichkeit der eigenen Zeit und begab sich nach Italien, womit er zum letzten Exponenten eines deutschen Bildungstraumes wurde. Böcklin-Verehrung ist – hier steht StG keineswegs allein – wie so oft um 1900 auch implizite Zivilisationskritik: „Ja wirklicher als jene knechteswelt / Erschufst du die der freien warmen leiber / Mit gierden süss und heiss · mit klaren freuden“ (ebd.). StGs Bekenntnis zu Böcklin fällt in eine Zeit, in der der Maler jedoch keineswegs mehr als Avantgarde galt, sondern seine maltechnisch letzt5 Vgl. The´ophile Gautier, Guide de l’amateur au Muse´e du Louvre [1882], in: Ders., Œuvres comple`tes, Bd. 8, Genf 1978, S. 1–194, hier: 88–90. Vgl. dazu Rainer Nägele, Jenseits der Mimesis. Stefan George ,Ein Angelico‘ und Günter Eich ,Verlassene Staffelei‘, in: Neophilologus 59/1975, S. 98–108. Vgl. dazu auch den Kommentar von Ute Oelmann in SW II, S. 108. 6 Zur Entstehung siehe den Kommentar auf S. 202. Grundlinien der Deutung bei EM I, S. 223f. 7 Vgl. dazu Ingrid Koszinowski, Böcklin und seine Kritiker. Zu Ideologie und Kunstbegriff um 1900, in: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich, hrsg. v. Ekkehard Mai u. a., Berlin 1983, S. 279–292, hier: 285; Heinrich Brauer, Zeitgenössische Urteile über Böcklin, in: Kaleidoskop. Eine Festschrift für Fritz Baumgart zum 75. Geburtstag, hrsg. v. Friedrich Mielke, Berlin 1977, S. 218–231.

554

II. Systematische Aspekte

lich immer noch dem Realismus verhafteten mythologischen Phantasien ebenso wie sein individueller Symbolismus zum Gegenstand der Kritik der Befürworter des französischen Impressionismus wurden.8 Hier bezieht StG die Position des DeutschRömers und Klassizisten, dem Böcklins Bilder Visualisierungen der „urgebornen schauer“ sind, welche die Erinnerung an die Antike wachgehalten haben: „Du nur verwehrtest dass uns (dank dir Wächter!) / In kalter zeit das heilige feuer losch“ (VI/VII, 14f.). Der Künstler erscheint als Wächter im Heiligtum der Kunst, der ihre Flamme in der Zeit des Niedergangs beschützt hat – hier rufen die Eingangsverse mit „Trompetenstoss“ und „[u]mflitterte[m] popanz“ (VI/VII, 14) wohl die Geschmacksverirrungen der Gründerzeit und des Fin de sie`cle (wie des StG unsympathischen „bajuvarischen Bauern“9 Franz von Stuck) auf. Im exemplarischen Fall Böcklins scheint damit auch eine grundlegende Vorstellung vom Amt des Künstlers auf, nämlich allein seiner Bestimmung zur Kunst zu dienen und elementaren Gefühlen und Gewalten eine künstlerische Form zu verleihen, zugleich aber auch menschliches Leid edel und schön zu gestalten. Diese Fähigkeit akzentuiert die 1893 entstandene Bildbeschreibung eines verlorenen Gemäldes der Berliner Nationalgalerie Eine Pieta` des Böcklin (XVII, 42). Das christliche Bildthema wird hier zur Folie der Darstellung menschlicher Trauer. StG transformiert die Betrachtung des schmerzhaften Abschieds Mariens von ihrem toten Sohn durch Evokation der subtilen Farbigkeit in eine ästhetische Erfahrung, in einen Hymnus an die Schönheit der Kunst. Die Böcklin-Verehrung blieb im George-Kreis konstant, auch wenn die allgemeine Begeisterung für den Maler nach 1905 langsam abnahm. 1927 kuratierte Ludwig Thormaehlen als Mitarbeiter von Ludwig Justi an der Berliner Nationalgalerie eine monographische Böcklin-Ausstellung, deren Begleitpublikation StGs Gedicht „Böcklin“ vorangestellt ist.10 Angeblich sollte ursprünglich eine Ausstellung zu Ehren Wilhelm Leibls gezeigt werden, doch habe Thormaehlen Böcklin durchgesetzt.11 Auch wenn der Wahrheitsgehalt dieser Aussage nicht zu klären ist, bringt sie die umstrittene Einschätzung des Malers im frühen 20. Jahrhundert zum Ausdruck: Eine Parteinahme für Böcklin ist immer auch ein Bekenntnis gegen die eigene Zeit. In StGs Bildgedichten aus dem Siebenten Ring werden Werke der bildenden Kunst in vergleichbarer Form instrumentiert. Es sind vor allem Werke des deutschen Mittelalters, wie die Skulptur des Bamberger Reiters in „Bamberg“ (VI/VII, 180), die Madonna mit der Erbsenblüte des Kölner Meisters Wilhelm in „Kölnische Madonna“ (VI/VII, 176) und eine Abbildung des jüngsten Königs aus dem Liesborner Altarbild (Münster, Landesmuseum) in „Bild: Einer der 3 Könige“ (VI/VII, 176), der Maler Matthias Grünewald in „Kolmar: Grünewald“ (VI/VII, 177). Vorbereitet war die 8 Vgl. Julius Meier-Graefe, Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten, Stuttgart 1905; Adolf Grabowsky, Der Kampf um Böcklin, Berlin 1906. Zum Problem: Hubert Locher, Traumbilder und Asyl der Kunst. Arnold Böcklin und das „Problem der Form“, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 48/2003, S. 47–68; Markus Bernauer, Der Klang als Vorgang des Bildes. Die Diskussion über Modernität und Konservatismus in der Kunstkritik seit Meier-Graefes ,Der Fall Böcklin‘, in: „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900, hrsg. v. Jan Andres u. a., Frankfurt/M., New York 2007, S. 290–309. 9 Thormaehlen, Aufzeichnung, S. 679. 10 Gemälde und Zeichnungen von Arnold Böcklin ausgestellt zur Feier seines 100. Geburtstages, mit einer Einl. v. Ludwig Justi, Berlin 1927. 11 Vgl. u. a. LT, S. 231.

2. Bildende Kunst

555

Grünewald-Verehrung im GeorgeKreis durch die von religiösem Mystizismus geprägten Bildbeschreibungen des Dekadenzautors Joris-Karl Huysmans, auf die sich StG mit der akzentuierten Gegenüberstellung von der sich in physischer Qual vollziehenden Kreuzigung und der metaphysisch transzendierten Verklärung beziehen dürfte.12 StG war im Februar 1906 eigens nach Colmar gereist, um den Isenheimer Altar zu besichtigen. Die Bildwelt des Mittelalters wird von StG mit einer Betonung auf dem deutschen Mittelalter wahrgenommen, wie etwa an den Gedichten „Die Gräber in Speier“ (VI/VII, 22–23), „Aachen: Graböffner“ (VI/VII, 178), „Hildesheim“ (VI/VII, 178), „Quedlinburg“ (VI/ VII, 178) sichtbar wird. Auch die deutsche Grünewald-Rezeption war ja bereits entschieden ,nationalisiert‘ worden.13 Die Figur des mittelalterlichen Bildners, der anonym und um Gottes Lohn Werke schuf, ist dabei immer als Gegenfigur zum Ästhetentum der Gegenwart zu denken. Die „Kölnische Madonna“ erinnert den aus Paris oder Brüssel zurückkehrenden Dichter daran, dass auch sein Volk einst Kunstwerke von hoher Vollendung schuf, ist also eine Kritik an der unschöpferischen Gegenwart.14 Ähnlich verhält es sich mit dem anonymen Schöpfer des Bamberger Reiters aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (Abb. 1). Die erste Strophe des Gedichts „Bamberg“ beschäftigt sich mit dem Bild des mittelalterlichen Herrschers, nämlich des „königliche[n] Franke[n]“, und damit – entgegen den seinerzeit kurrenten Deutungsspekulationen – eines deutschen Herrschers, dessen Identität bis heute unbestimmt geblieben ist.15 Der Bamberger Reiter wird zum 12 Vgl. Achim Aurnhammer, Joris-Karl Huysmans’ ,Supranaturalismus‘ im Zeichen Grünewalds und seine deutsche Rezeption, in: Wilhelm Kühlmann/Roman Luckscheiter (Hrsg.), Moderne und Antimoderne. Der ,Renouveau catholique‘ und die deutsche Literatur, Freiburg/Br. 2008, S. 17–42, hier: 35f. 13 Vgl. Katharina Heinemann, Entdeckung und Vereinnahmung. Zur Grünewald-Rezeption in Deutschland bis 1945, in: Brigitte Schad/Thomas Ratzka (Hrsg.), Grünewald in der Moderne. Die Rezeption Matthias Grünewalds im 20. Jahrhundert, Köln 2003, S. 8–17. 14 Vgl. EM I, S. 325. 15 Es wurden zahlreiche Vorschläge der Identifizierung gemacht, unter denen Konstantin der Große,

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II. Systematische Aspekte

Sinnbild des Herrschers, der den Deutschen immer wieder erscheinen kann, ja der mit einigem Recht („Zur guten kehr“) erwartet werden darf. Ein Kunstwerk aus der mittelalterlichen Vergangenheit wird für StG damit zum Signum einer politischen Ikonographie der Zukunft. Dazu privilegiert es allein seine Schönheit, die von vergangener Größe zeugt und zugleich auf Zukünftiges („Streitbar und stolz“) verweist. Der Held der zweiten Strophe ist der auf dem Relief des Grabmals Heinrich II. von Tilman Riemenschneider dargestellte nachdenkliche Arzt, der einen Blasenstein in der Hand hält, von dem er den leidenden König der Legende nach auf dem Berg Athos befreit hatte. Er ist kein politischer Parteigänger („nicht mehr Waibling oder Welfe“), sondern der „stille[] künstler der sein bestes tat“ und sein Werk damit allein im Vertrauen auf Gottes Hilfe vollbracht hat. Ernst Morwitz hat darauf hingewiesen, dass StG sich selbst in dem Bild erkannt haben mag (EM I, 330). In „Bamberg“ begegnen damit im ekphrastischen Gedicht zwei Figuren künftiger Verheißung, der Täter und der Dichter: Einerseits der jugendliche Herrscher und Held, der Bewahrer des Reiches, der ein „Fremdester“ ist, da er seinem Volk, aus dem er hervorgehen wird, unbekannt bleibt; andererseits aber der unpolitische Künstler, der sein Bestes gibt und die Erfüllung der Prophetie erwartet. Die inhaltliche Zusammenführung der beiden aus unterschiedlichen Epochen stammenden Skulpturen, die das Gedicht mehr evoziert als beschreibt, ist damit hochkomplex, da sie der Artikulation eines Programms dient. Hier werden die mittelalterlichen Bildwerke zu Speichermedien der Verheißung einer besseren Zukunft des eigenen Volkes. Doch äußert sich dieser Gedanke nicht konkret, sondern in der bildlichen Sprache ekphrastischer Poesie. 2.1.2. Bildbeschreibung: Prosatexte über bildende Kunst Beschreiben war eine Übung, die in StGs Kreis häufig auf der Tagesordnung stand. StG legte großen Wert darauf, dass die Jünger in der Lage waren, Bilder, Ereignisse, Träume oder Landschaften im Medium einer klaren und schönen Sprache nachschaffen zu können, ohne in den Ton kritischer Analyse oder Ironie zu verfallen.16 Im Gegenteil, Beschreibung war plastisches Nachbilden um einen Wesenskern, der erkannt werden musste. Gemeinsame Museumsbesuche und Gespräche über Kunst dienten sowohl der kunsthistorischen Bildung wie auch der Schulung der Transformation des Seheindrucks in sprachliche Bilder. Die Wiedergabe von Gemälden und Graphiken in knapper sprachlicher Verdichtung lyrischer Prosa hatte StG selbst vorKaiser Heinrich II. oder der heilige König Stephan von Ungarn am längsten diskutiert wurden. Zu StGs Zeit dürfte die bereits im 19. Jahrhundert formulierte These, es handle sich um König Stephan von Ungarn, der Bamberg besucht und Gisela, die Schwester des Dom- und Bistumsgründers Heinrich II., geehelicht hatte, die größte Akzeptanz gefunden haben. StG macht sich von diesen konkreten historischen Bestimmungsversuchen mit den Bezeichnungen „Fremder“ und „königlicher Franke“ frei. Zur Geschichte der Deutungen vgl. Jörg Traeger, Der verschollene Name. Zur Deutungsgeschichte des Bamberger Reiters, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50/1995/96, S. 44–76; Heinz Gockel, Der Bamberger Reiter. Seine Deutungen und seine Deutung, 2. Aufl., München, Berlin 2007; vgl. auch Claus Victor Bock/Christophe Fricker, Gespräch in Stein: Die Begegnung von Kunst und Macht in Stefan Georges Gedicht ,Bamberg‘, in: Publications of the English Goethe Society 79/2010, 1, S. 5–17. 16 Vgl. Raulff, Steinerne Gäste, S. 21.

2. Bildende Kunst

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geführt. 1903 präsentierte er in Tage und Taten unter der Überschrift Bilder (XVII, 39–43) einen Zyklus früher ekphrastischer Prosatexte von 1893/94, die bereits in der ersten und zweiten Folge der BfdK erschienen waren. Dieser Zyklus ist als Wahrnehmungs- und Beschreibungsübung StGs zu verstehen, in der jegliche Gefühlsregung des Betrachters, jeglicher „Schimmer von Subjectivität“, vermieden werden soll.17 Das tiefste Verständnis der bildenden Kunst konnte nicht in der Sprache des kritischen Diskurses, sondern nur in gezielter Annäherung durch die Poesie geäußert werden. Die selbst gestellte Schwierigkeit lag dabei in der Übertragung der spezifischen Ausdrucksqualitäten der Malerei in ein anderes Medium, dasjenige der Sprache. StG hat erkannt, dass in der sprachlichen Reproduktion namentlich die farbliche Erscheinung mit den größten Verlusten zu rechnen hatte. So setzt er den Akzent seiner Beschreibungen auf die sprachliche Wiedergabe der Farbe und dekorativer Details. In dem Zyklus überwiegen wieder Werke des Mittelalters, nämlich Malereien von Cimabue, Quentin Massys und Dierick Bouts. Diese werden von den Gegenwartskünstlern Arnold Böcklin und Max Klinger, der seit 1892 zu den Empfängern der BfdK gehörte, flankiert.18 Wirkt die auf Goldgrund gemalte Madonna des Cimabue aus Santa Trinita` (heute Florenz, Uffizien) allein schon aufgrund ihrer monumentalen Größe und strengen, ja wenig gefälligen Gestaltung auf den Dichter wie eine Botin aus einer anderen Welt („halbgöttlich aber kaum menschlich“; XVII, 40), so reizen ihn an den spätmittelalterlichen Altarbildern von Massys und Bouts, die er 1894 in München und Brüssel sah, die schönen Oberflächen der Kostüme, Rüstungen, Waffen und Architekturen, deren subtile Farbklänge er in die Sprache überträgt. StGs Prosalyrik ist nicht deskriptiv, sondern überführt den poetischen Gehalt von Farben und Figurenkonstellationen in ungebundene Rede. Die Handlungsmomente in der Beschreibung der Schmucktrachten des Dierick Bouts werden vollkommen zurückgedrängt. Ganz dem Ästhetizismus des Fin de sie`cle scheint die Vernachlässigung des ikonographischen Gehalts geschuldet, wodurch das Kunstwerk aus entfernter Vergangenheit rein ästhetisch wahrgenommen wird, ohne es in seinen historischen Bedingungen zu verorten. Die visuellen Sensationen der feinmalerischen Details – ein goldener Mantelsaum oder ein mit einem großen Edelstein verzierter Schwertknauf – lassen den christlichen Gehalt der Darstellung vergessen. Das Kunstwerk vermittelt diesseits der Repräsentation der Heilsgeschichte eine rein sinnliche Erfahrung, die im Ton sachlicher, ja gänzlich emotionsloser Präzision als Nachschöpfung vorgebracht wird. Der Ton ändert sich hingegen in den Beschreibungen der modernen Werke. Den kurzen Texten Nach radierten Skizzen von Max Klinger liegen drei Radierungen aus dem Zyklus Skizzen von 1879 zugrunde. Hier werden, in Ermangelung von Farbe, neben der Gesamtstimmung eher die seelischen Befindlichkeiten der dargestellten Personen evoziert, vor allem deren Handlungsunfähigkeit aufgrund einer hoffnungslosen Situation (wie in Wanderers Ende) oder dem für die Jahrhundertwende typischen ennui (wie in Siesta und Dolce far niente).

17 Zit. nach dem Kommentar von Ute Oelmann, S. 97, dort auch zum Entstehungshintergrund. 18 Vgl. EM II, S. 35–37, sowie SW XVII, Kommentar von Ute Oelmann, S. 114–116; Hauser, George und die bildenden Künste, S. 81–85.

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2.2.

II. Systematische Aspekte

George und die Geschichte der Kunst

2.2.1. Georges Kenntnis der bildenden Kunst älterer Epochen Das Museum ist für den frühen StG der Ort des Rückzugs aus der Gegenwart, ein Refugium, das ihn aus dem Alltäglichen erhebt. Schon als junger Mann von zwanzig Jahren kannte er die großen Gemäldegalerien in London, Madrid, Paris und Mailand aus eigener Anschauung. Unter den frühen Gedichten, die er 1901 in der Fibel publizierte, findet sich das Gedicht „In der Galerie“ (I, 79) von 1889, das den Rückzug des Ästheten in die Kunstwelt des Museums zwar zum Ausgangspunkt nimmt („In der welt der farben beschloss ich / Vom staub des alltags mich zu befreien“), aber keineswegs von der Malerei selbst, sondern von der unverhofften Begegnung mit einer Fremden handelt, die ihm zugleich wieder in der Besuchermenge entgleitet. Der Eindruck der Kunstwerke bleibt diffus; sie sind lediglich ein farbiger Resonanzboden für die erotische Begierde des lyrischen Ichs, dessen Wunsch nach Vereinigung mit einer in gleicher Weise hochgestimmten Seele jedoch unerfüllt bleibt („Ich streife umher unfähig zu geniessen . . / In dem weiten hinguss / Von fleisch und blau und grün / Find ich dein antlitz nicht“). In dem frühen Gedicht bleibt es dem lyrischen Ich versagt, eine „einzige mauer von auserlesnem“ aus den Formen der Kunst zu errichten. Doch kann der Gedanke der Auswahl und der Auslese geradezu als paradigmatisch für StGs Umgang mit dem Universum der Kunstgeschichte gelten. Natürlich ist für den frühen StG, den Dandy und Ästheten, der Bildersaal der alten Kunst frei verfügbar, ohne auf historische Periodisierungen und wissenschaftliche Bestimmungen Rücksicht zu nehmen. Allein der sinnliche Reiz, ob von der formalen Gestaltung oder einem ansprechenden Bildgegenstand ausgehend, bestimmt die Intensität, mit der StG einem Gemälde oder einer Skulptur begegnet. Die bildende Kunst ist eine Gegenwelt zum Alltag, sie ist unverzichtbarer Bestandteil des ,schönen Lebens‘, dem sich der Dichter und sein Kreis hingeben. Über StGs kunsthistorische Bildung und seine aus dieser resultierenden Kunstkennerschaft gibt es nur wenige zusammenhängende Äußerungen. Aus den Briefen und den Erinnerungsbüchern lassen sich zahlreiche Bemerkungen zur bildenden Kunst zusammenstellen, die ein Geschmacksprofil erahnen lassen, ohne in letzter Instanz autorisiert zu sein. Ohne Frage war die bildende Kunst ein häufiges Gesprächsthema, das durch gemeinsame Museumsbesuche sowie das gemeinsame Betrachten von Abbildungen im Kreis institutionalisiert war. In StGs Nachlass haben sich zahlreiche Fotografien von Meisterwerken erhalten, die er wohl vor allem auf seinen Reisen in Italien erworben hatte. Wohl lassen sich Lieblingswerke und bevorzugte Künstler benennen – man denke hier an Rembrandts David vor Saul (Den Haag, Mauritshuis) und damit wiederum an ein Werk der bildenden Kunst, das von der Wirkung der Poesie auf die Menschen handelt, da der Gesang des göttlich begnadeten Knaben David die Melancholie des Königs vertreibt.19 Rembrandt wird 19 Vgl. G/G, S. 13, 91. Ende Mai 1901 hatte StG zusammen mit Gundolf und dem Maler Jan Toorop das Gemälde im Mauritshuis besichtigt; Gundolf berichtet Wolfskehl von der „völlig erschütternd[en]“ Wirkung, welche die Betrachtung hervorrief. Ein Echo davon möglicherweise in dem Gedicht „König und Harfner“ (VI/VII, 46–47) im Siebenten Ring. Es ist evident, dass sich dieses Zwiegespräch auf die biblische Episode von Saul und David bezieht, jedoch wird der Stoff von StG mit einer eigenen Pointe gestaltet: Die Rührung durch die Poesie untergräbt die Autorität des Herrschers: „Und schmilzest mein erhabnes königsleid / In eitlen klang durch dein verworfen spiel“ (VI/VII, 47).

2. Bildende Kunst

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auch im Gedicht „Nordischer Meister“ (VI/VII, 176), das als Reflex einer um 1900/02 geführten Auseinandersetzung mit Albert Verwey über den Maler und die Höherwertigkeit nordischer vor südlicher Kunst gedeutet wird (EM I, 326), wenn auch mit kritischem Unterton, als Ausnahmekünstler thematisiert. Doch fügen sich die Urteile nicht in ein deutlich umrissenes kunsthistorisches System. Hier sind die Aufzeichnungen von Ludwig Thormaehlen von 1911 und von Karl Josef Partsch von 1964 von außerordentlich hohem Wert.20 Thormaehlens Notizen geben in etwa wieder, was biographisch nach dem Maximin-Erlebnis (1904), der Abwendung vom Symbolismus und der Verfestigung von StGs Dichtersprache zu erwarten ist: ein deutliches Bekenntnis zur Klassik, zur griechischen Antike (der griechische Stil sei ,der Stil‘ schlechthin), die Ablehnung der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts, namentlich des Impressionismus, und eine strenge Kritik der sich im Formalen erschöpfenden Gegenwartskunst, die kein geistiges Prinzip mehr verfolge. Auch die Landschaftsmalerei wird abgelehnt, da sie im Gegensatz zu Figurenmalerei nicht Träger von ,Geistigem‘ sein könne. Präziser sind die Angaben von Partsch, der von dem Kunsthistoriker Peter W. Guenther anlässlich der Abfassung seiner Dissertation gebeten worden war, seine Erinnerungen an die Gespräche mit StG über Kunst aufzuschreiben.21 Auch wenn Partschs Aussagen wohl nur für den späten StG nach 1930 gelten und sie zudem der Erinnerungsliteratur zuzurechnen sind, in der authentische Aussprüche mit persönlichen Annahmen und Gemeinplätzen kontaminiert sind, sind sie wertvoll. Sie bestätigen in etwa, was bereits die Auswertung der Erinnerungsbücher und Korrespondenzen ergibt: StGs Verständnis der alten Kunst ist von deutlich hervortretenden Konstanten bestimmt. Zunächst lässt sich sein Geschmack als eurozentrisch beschreiben (dies ganz offenbar ein Gegensatz zum spielerischen Umgang mit asiatischer und afrikanischer Kunst in Symbolismus, Jugendstil und Expressionismus). Die Kunst beginnt für StG mit der griechischen Antike und besitzt dort ihren Höhepunkt in dem Zeitraum von der späten Archaik bis in die späte Klassik. Die Nennung der Giebelfiguren des Parthenon und des Apollon-Heiligtums in Olympia sind Ausweis einer deutlichen Vorliebe für das ,klassische‘ Menschenbild der Griechen. Bei den Römern wird die realistische Porträtkunst ebenso wie die Leistung der Kulturalisierung durch die provinzialrömische Kunst gelobt. Erstaunlicherweise wird in der späten Aufzeichnung das Mittelalter nahezu übergangen, was mit der vollends vollzogenen geschmacklichen Ablösung von der Jugendstil-Gotik Melchior Lechters zu diesem Zeitpunkt korrespondiert. Innerhalb der Renaissancekunst ragt Fra Angelico hervor. Nicht nur die attraktive Biographie des malenden Dominikaner-Mönches von San Marco, sondern auch die ausgesuchte Feinheit der sakralen Tafelmalerei auf Goldgrund war dem Ästhetizismus um 1900 ja äußerst willkommen. Hier spiegelt StGs Urteil auch einen allgemeinen Geschmack; es dürfte aber auch noch aus den Zeiten der engeren Verbindung zu Lechter herrühren, der ein großer Verehrer Fra Angelicos war, diesen nachahmte und seine Wohnung mit kostbar gerahmten Reproduktionen seiner Werke schmückte.22 StG lobt zudem den Vitalismus der Renais20 Vgl. Thormaehlen, Aufzeichnung; Ute Oelmann, Karl Josef Partsch. Politik und Kunstgeschichte im George-Kreis, in: GJb 3/2000/2001, S. 176–191. 21 Vgl. Guenther, George und die bildenden Künste. 22 Zu Lechters Vorliebe für das Mittelalter, Fra Angelico und alle Formen christlicher Mystik vgl. Schütze, Ein Gotiker im George-Kreis, S. 157; Melchior Lechters Gegen-Welten.

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II. Systematische Aspekte

sancemalerei, hier insbesondere den Realismus der Porträtkunst der altdeutschen Künstler. Die Verwurzelung im Leben, die Ähnlichkeit und Lebendigkeit scheinen die Kriterien für das Lob der Porträtkunst Hans Holbeins d. J. zu sein. ,Wahrheit‘ und ,Ähnlichkeit‘ sind Grundanforderungen an die Bildniskunst im George-Kreis, wie sich auch im Umgang mit den eigenen Bildnissen und den Porträtplastiken zeigen lässt: Ein Kunstwerk besitzt Leben, wenn es wahr und ähnlich ist. Diese recht konventionellen Anforderungen an ein Porträt werden in der kunsthistorischen Vorliebe für Holbein deutlich gespiegelt. Die Kunst der Spätrenaissance und des Barock ist mit der Ausnahme von El Greco und Poussin für den späten StG kaum von Interesse. Deutlichere Aussagen gibt es wieder zur Kunst des 19. Jahrhunderts, dem Jahrhundert der Epigonen. Der französische Neoklassizismus wird ebenso wie der Impressionismus abgelehnt. Die Vorliebe für Arnold Böcklin, der gegen Hans von Mare´es ins Feld geführt wird, ist eine Konstante, die ihren lyrischen Ausdruck schon in dem Zeitgedicht „Böcklin“ gefunden hatte. An Böcklin bewundert StG die Vitalität seiner mythopoetischen Schöpfungen. Das Fehlverständnis seines Gesprächspartners Karl Josef Partsch, der Böcklins Gemälde als Allegorien oder Stimmungsbilder missdeutet, weist StG schroff zurück. Für einen Künstler wie Böcklin sei der Mythos noch eine erfahrbare Gegenwart gewesen, die sich in der Drastik seiner mythologischen Schöpfungen wie Pan erschreckt einen Hirten ausgesprochen habe. Auf der Basis dieses Ganges durch knapp 2.500 Jahre Kunstgeschichte lässt sich StGs Kunstgeschmack charakterisieren. Er ist zunächst von einer radikalen Anthropozentrik gekennzeichnet. Die Repräsentation der Dingwelt, sei es in Gattungen wie dem Stillleben oder der Landschaftsmalerei, spielt überhaupt keine Rolle. Bei der Repräsentation des Menschen sind es wiederum verschiedene Modi, die StGs Aufmerksamkeit fesseln können: Sei es der schöne athletische Mensch (immer als männlich zu denken), wie ihn die griechische Antike hervorgebracht hat, sei es eine Sphäre sakraler Transzendenz, wie sie die Madonnenbilder Fra Angelicos evozieren. Als dritte Instanz tritt der realistische Blick auf den Menschen hinzu, wie ihn die Porträtmalerei der Renaissance bezeichnet: Die Darstellung des Menschen in seiner Lebenswelt wird hier durch das Kriterium des ,Wahren‘ beglaubigt. Das Bild- und Kunstverständnis des späten StG gründet sich deutlich auf dem ,Was‘ der Repräsentation, dem ikonographischen Sujet oder der dargestellten Person, weniger auf der formalen Umsetzung oder der Eigendynamik der Formen. Es verwundert vor dem Hintergrund eines weitgehend dem Gegenständlichen verhafteten Kunstbegriffs kaum, dass sich StG für die Abstraktion nicht interessierte und auch die Deformation des Figürlichen und Gegenständlichen in seiner kunsthistorischen Gegenwart (Expressionismus, Futurismus, Kubismus) gering schätzte. Die Überbetonung der formalen Mittel unter Vernachlässigung des Gegenstandes – nämlich der Darstellung des schönen (männlichen) Körpers – war für StG Zeitsymptom einer Epoche, in der sich die künstlerische Produktion vom ,Leben‘ auf unzulässige Weise entfernt hatte. Die Mimesis der Porträtplastik im George-Kreis dürfte, auch wenn sie selbst im Kontext einer Zeitströmung stand – nämlich den figürlichen Tendenzen der Neuen Sachlichkeit und verwandter neuklassischer Strömungen der 20er-Jahre –, mit der radikalen Wiedereinsetzung der Mimesis auch die restitutio in integrum von Kunst im emphatischen Sinne bedeutet haben, nämlich ihre Wiedereingliederung in das ,Leben‘, auch wenn ihre Rezeption nur auf das vergleichsweise hermetische Leben innerhalb des Kreises beschränkt blieb.

2. Bildende Kunst

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2.2.2. Georges Verhältnis zur zeitgenössischen Kunst Mit zahlreichen bildenden Künstlern in- und außerhalb seines Kreises hat StG nachweislich Kontakt gepflegt. In der symbolistischen Frühphase ist sein Geschmack ganz auf die Erzeugnisse der Art nouveau aus Frankreich und Belgien hin ausgerichtet. In Paris und Brüssel lernte er berühmte Maler kennen, aber auch zu Künstlern des deutschen Jugendstils knüpfte er Kontakte. So begründete die Begegnung mit Ludwig von Hofmann in Rom im April 1898 eine länger anhaltende Hochschätzung, als deren poetische Früchte die Gedichte „Feld vor Rom“ (V, 68) und „Südliche Bucht“ (V, 69) im Teppich des Lebens gelten.23 Hofmanns Traumlandschaften aus Mittelalter und Antike, in denen sich leicht bekleidete, wenn nicht nackte junge Menschen mit ideal geformten, androgynen Körpern ergehen, sind zum Inbegriff des Schönheitskults in Deutschland um 1900 geworden (Bildtafel K).24 Sie übten eine große Anziehung auf StG aus. In der Frühzeit besaß StG eine größere Affinität zur Malerei, auch seine Verehrung für Böcklin, dessen ortlose Antike ihm Zeichen einer antiintellektuellen Vitalität und allegoriefernen Bildkunst war, zeugt davon. Ikonographisch ist die Kunst Ludwig von Hofmanns davon nicht weit entfernt, auch wenn sie dem schöneren Fluss der Linien den Vorzug gibt. Der durch den Blick auf die Antike maßgeblich geformte schöne Leib in arkadischer Landschaft ist bei Hofmann immer schönlinig stilisiert. StG selbst bekam in Rom 1898 das Pastell Allegorie von Hofmann geschenkt.25 Zwei in StGs Nachlass überlieferte Kohlezeichnungen hatte Hofmann vermutlich für eine Veröffentlichung in den BfdK geschickt (StGA). Dies ist symptomatisch für StGs Erwerb von Kunstwerken, die er in der Regel nicht kaufte: Das Bild dient in hohem Maß als eine persönliche Gabe und ist nicht für das Publikum bestimmt.26 Es ist Teil der Freundschaftspraxis als einem geistigen Verkehr gleichgestimmter Seelen. Zugleich fällt ein Schlaglicht auf die ästhetischen Vorlieben StGs. Schönheit inkarniert sich im wohlgeformten menschlichen Körper, hier insbesondere – Göttliches indizierend – in der Schönheit des vollkommenen Jünglingskörpers, womit stimmungsmäßig die Antike und der Ephebenkult des Fin de sie`cle aufgerufen werden; man erinnere sich nur an Thomas Mann als einen weiteren prominenten 23 Vgl. dazu Ingo Starz, Die Spur des Leibes. Ästhetische Korrespondenz bei Ludwig von Hofmann und Stefan George, in: GJb 4/2002/2003, S. 137–162 (mit älterer Literatur); Bernhard von Waldkirch, Ludwig von Hofmann – Rainer Maria Rilke – Stefan George. Eine vergleichende Studie zum Verhältnis von Dichtung und Malerei um 1900, Typoskript, Genf 1978 (2. Fassung 1990), S. 29–51. Zum biographischen Kontext der Italienreise von 1898: Ernst Wiegand Junker, Stefan Georges erste Romfahrt mit Theodor Dienstbach im Jahre 1898. Schicksalslinien und Werkbezüge, in: Neue Beiträge zur George-Forschung 11/1986, S. 4–39. 24 Vgl. etwa Ingo Starz, Gebärden des Lebens. Zu den Werken des Malers Ludwig von Hofmann, in: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, hrsg. v. Kai Buchholz u. a., Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 241–245. 25 Bingen, Stefan-George-Museum, abgebildet in: Wolff, Stefan George, S. 24–25, Kat. Nr. 203. StG schenkte Hofmann ein Exemplar vom Jahr der Seele mit Widmung (StGA). Auch an Friedrich Gundolf hat Hofmann 1905 als Dank für die Übersendung der Zwiegespräche das wohl schon in den 1890er-Jahren entstandene Pastell vom Zweikampf des jungen Tristan mit Morolt (nach Karl Immermann) geschickt (University of London, Nachlass Friedrich Gundolf), vgl. Gundolf Briefe. Neue Folge, hrsg. v. Lothar Helbing u. Claus Victor Bock (CP 66/68), Amsterdam 1965, S. 30f. 26 So sind die meisten der in StGs Nachlass erhaltenen Kunstwerke als Geschenke der Künstler in den Besitz des Dichters gelangt und oft auch mit persönlichen Widmungen versehen, vgl. die Auswahl in: Wolff, Stefan George.

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II. Systematische Aspekte

Verehrer der Kunst Ludwig von Hofmanns.27 Die ,Feier des Leibs‘ als ein auf dem geistigen Erlebnis des Körperlichen basierender, maßgeblich durch den Blick auf die Antike geformter Jugendkult findet sich gleichermaßen bei Hofmann und StG. Hofmann hat erkannt, dass nach dem Ersten Weltkrieg die Zeit dieser schönheitstrunkenen Phantasien vorbei war. Bei StG aber blieb die Vorliebe für die Androgynität der Jünglingsfiguren bis zum Lebensende bestehen: Damit wird ein genuines Gestaltungselement der Jahrhundertwende, das zugleich aber auch Abbild des homoerotisch aufgeladenen Erziehungsideals des Kreises ist, zur ästhetischen Norm, welche die Produktion von Plastik im George-Kreis nachhaltig bestimmen wird. Kunsthistorisch müssen auf der Grundlage dieser Prämisse noch die Gestaltungskriterien herausgearbeitet werden, die Skulpturen wie Thormaehlens Kouros auf dem Sportfeld von Bad Kreuznach vom monumentalen Muskelpathos der faschistischen Bildhauerei möglicherweise doch eher trennen, als dass sie diesem ästhetisch beipflichten. Wenn auch als Avantgarde vom akademischen Kunstbetrieb gelöst, nimmt der sich um StG sammelnde Dichterkreis der BfdK mit seinen ästhetischen Vorlieben am regen Bilder- und Ideenverkehr der internationalen Art nouveau teil.28 Hierher gehört ganz generell die frühe Duldung, ja Schätzung der Malerei durch StG, der sich erst nach dem Maximin-Erlebnis vom lyrischen Dichter des Fin de sie`cle zum Geistpolitiker und Dichterseher wandelt. Vom lyrischen, maßgeblich vom französischen Symbolismus beeinflussten Frühwerk der Herbststimmungen, Parkszenen und antiken Traumlandschaften transformiert sich StG zum Programmdichter eines ästhetischen Staatsgebildes und Verwalter eines ortlosen Geisterreiches, dessen Kern die Pädagogik der Meister-Jünger-Konzeption ist. Die bildende Kunst ist nicht mehr integraler Bestandteil dieser Welt, aber doch das Bild und die Plastik. Zum frühen StG, der neben sich noch eigenständige künstlerische Positionen gelten ließ, führt kaum ein Weg von der Herrschaft über die Bilder zurück, wie sie sich im Vollzug der Geistpolitik noch bis zum letzten von den Erben angestrebten, aber unverwirklichten Projekt offenbart: einer ,Ikonographie‘ des Dichters als fotografischem Kanon.29

2.3.

Kunstproduktion im George-Kreis (Buchillustration, Graphik, Malerei, Fotografie, Plastik)

2.3.1. Mitarbeit bildender Künstler an den Blättern für die Kunst Seit 1892 wurden immer wieder Werke der bildenden Kunst den BfdK als Einlage beigegeben. Dies änderte sich erst ab der vierten Folge, mit der die BfdK ausschließlich zu einem Organ der Dichtkunst wurden. Die Beigaben von Reproduktionen nach 27 Vgl. Bernhard Böschenstein, Ludwig von Hofmann als Maler der Dichter. Erläuterungen und Spiegelungen: Rilke und Hofmannsthal, Thomas Mann und George, in: GJb 4/2002/2003, S. 112–136; Katharina Bedenig-Stein, Nur ein „Ohrenmensch“? Thomas Manns Verhältnis zu den bildenden Künsten, Berlin u. a. 2001, S. 49. 28 Vgl. KTS; Jost Hermand, Stefan George und der Jugendstil, in: Gestalt. Funktion. Bedeutung. Festschrift für Friedrich Möbius zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Franz Jäger u. Helga Sciurie, Jena 1999, S. 193–207. 29 Die kurz nach StGs Tod geplante Bildersammlung wurde nicht veröffentlicht; erst Robert Boehringer hat mit Mein Bild von Stefan George einen ikonographischen Kanon publiziert.

2. Bildende Kunst

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Gemälden und Graphiken von Hermann Schlittgen, August Donnay, Fernand Khnopff, Leo Samberger, Melchior Lechter und Paul Herrmann sollten die Zeitschrift vermutlich über den Kreis an Dichtung interessierter Leser hinaus interessant machen. Zugleich waren die Bilder mit ihrem hervorgekehrten Symbolismus (wie Khnopffs Tote Stadt) aber auch Teil des ästhetischen Programms. Wie in Belgien und Frankreich sollte auch die bildende Kunst an StGs Erneuerungsbestrebungen teilhaben. Doch gelang es nicht, wirklich bedeutende deutsche Künstler für die Mitarbeit an den BfdK zu gewinnen.30 Der von Thomas Theodor Heine gezeichnete Einband, der in unterschiedlichen Farben die Hefte bis zur siebten Folge schmückte, ist mit der dem Ornament verbundenen Figur eines Hirtenknaben mit Flöte dem Zeitgeschmack geschuldet. Nach 1895 rückte die bildende Kunst durch die Bekanntschaft und engere Zusammenarbeit StGs mit Melchior Lechter stärker ins Zentrum. Bildende Kunst hieß jetzt vor allem progressive Buchgestaltung als Kampfansage gegen den Naturalismus und die billige Druckindustrie, die das ,schöne Buch‘ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem geschmacklos gestalteten Massenartikel degradiert hatte. Dies bedeutete zugleich den Anschluss des deutschen Kunstgewerbes an die Innovationen und internationalen Standards des europäischen Fin de sie`cle in Belgien, Frankreich, Österreich und England. Man kann für den Zeitraum von 1897 bis 1907 annehmen, dass StG selbst die aufwendige Gestaltung der Publikationen des Verlags der Blätter für die Kunst in Richtung des buchkünstlerischen Gesamtkunstwerks, für die ausschließlich Lechter verantwortlich zeichnet, nicht nur gewollt, sondern auch ideell getragen hat.31 Bei der Einkleidung der Gedichte in ein gotisches Gewand wurde Lechter erstaunliche Freiheit gewährt. Lechters Vorliebe für William Morris, den Gründer der Kelmscott-Press (1891), und die englische Arts and Crafts-Bewegung, seine Sensibilität für die ästhetischen Reize der Formenwelt des gotischen Mittelalters und die Gestaltung von Handschriften und Frühdrucken, sein Hang zum nazarenisch inspirierten Mystizismus und zur Romantik32 sowie sein großes technisches Können und sein Selbstverständnis als Meister einer mit höchsten Ansprüchen arbeitenden Handwerkskunst haben die für StG gestalteten Publikationen vom Jahr der Seele bis zum Siebenten Ring zu herausragenden Werken der Buchkunst in Deutschland um 1900 gemacht. In ihrem progressiven Anspruch, für Deutschland den Anschluss an die internationale Formensprache der Art nouveau und Stilkunst herzustellen, können sie den Arbeiten Henry van de Veldes, den Publikationen der Insel und des Verlags Eugen Diederichs an die Seite gestellt werden.33 Gleichwohl war StGs Interesse an 30 Neben Melchior Lechter und Reinhold Lepsius standen vermutlich Max Klinger, der die Zeitschrift seit 1892 bezog, sicher aber Ludwig von Hofmann auf der ,Wunschliste‘ für eine Mitarbeit, wie dem Verzeichnis der Erscheinungen der Blätter für die Kunst (Berlin 1904) zu entnehmen ist, vgl. KTM, S. 88, Kat. Nr. 105. Hofmann gestaltete jedoch nur den Einband der Ausgewählten Gedichte Hugo von Hofmannsthals, die 1903 in 300 Exemplaren im Verlag der Blätter für die Kunst erschienen, vgl. KTM, S. 112, Kat. Nr. 112. 31 Die intensive Zusammenarbeit dokumentiert der Briefwechsel: Melchior Lechter und Stefan George. Briefe. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Günter Heintz, Stuttgart 1991; vgl. I, 5.6.2. 32 Vgl. Thimann, Geheiligte Überlieferung. 33 Vgl. dazu Wolfhard Raub, Melchior Lechter als Buchkünstler. Darstellung, Werkverzeichnis, Bibliographie, Köln 1969; Bert Treffers, Melchior Lechters Buchkunst, in: Melchior Lechter. Der Meister des Buches. 1865–1937, Amsterdam 1987 (CP 179/180), S. 5–19; Karlhans Kluncker, Dichtung und Buchschmuck. Melchior Lechter zum 50. Todestag, in: ebd., S. 20–60; Schütze, Ein Gotiker im George-Kreis, S. 164–180; Wolfhard Raub, Melchior Lechter als Buchkünstler, in:

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II. Systematische Aspekte

aufwendig gestalteten Büchern, die den Text der Dichtung in Bild- und Rahmenwerk einer dekadenten Phantasie-Gotik einbetten, intermittierend, sodass er bereits mit Tage und Taten von 1903 zu den Prinzipien äußerst schlichter, allein auf der Wirkung der serifenlosen Typen beruhenden Gestaltung zurückkehrte, welche schon die ersten Gedichtbände (vgl. z. B. das von StG wohl weitgehend selbst entworfene Titelblatt der Hymnen von 1890) als Ausweis der aufmerksamen Rezeption des französischen Symbolismus ausgezeichnet hatte. Lechters Projekt einer Bergung der Georgeschen Poesie in einer kostbaren und allumfassenden ,Buch-Kathedrale‘ als Gesamtkunstwerk, wie sie wohl vor allem der großformatige Teppich des Lebens (1899/1900) mit seinem Rahmenwerk von dezidiert sakraler Symbolik darstellt, war für StG abgeschlossen (vgl. I, Abb. 11 oben; Bildtafel D). Lechter lieferte lediglich noch die typographische Gestaltung sowie die Signets der Urne und der zunehmend anachronistisch wirkenden neugotischen Monstranz für die Publikationen der BfdK und des Verlags Georg Bondi, der StGs Dichtungen ab 1899 auch für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich machte. Von der direkten Mitarbeit an weiteren Buchprojekten StGs wurde Lechter ausgeschlossen. Den Motivschatz mit seinem sakralen Bezugsrahmen nutzte Lechter jedoch weiterhin für eigenständige Publikationen wie den Vier Büchern von der Nachfolge Christi des Thomas von Kempen (Berlin 1922), die im strengen Sinn nicht mehr zu den Publikationen des George-Kreises zählen. Die Zusammenarbeit mit Melchior Lechter markiert die Episode des höchsten Interesses StGs für die spezifischen Qualitäten bildender Kunst. Ansonsten blieb das ,öffentliche‘ Engagement für bildende Künstler eher marginal. StGs Geschmack blieb dem Symbolismus verhaftet, eine größere Sensibilität für die künstlerische Avantgarde, wie sie etwa Karl Wolfskehl als Freund, Mentor und Sammler der Münchner Künstler des Blauen Reiters – insbesondere Franz Marcs und Wassily Kandinskys – bewies, begegnet bei ihm kaum.34 So erstaunt es nicht, dass als einzige genuine Veröffentlichung zur bildenden Kunst unter dem Signet der BfdK – also mit ausdrücklicher Billigung StGs – im Jahre 1905 die Mappe mit zwölf Reproduktionen von Zeichnungen Ernst Gundolfs erschien.35 StG nahm Anteil an den künstlerischen Versuchen des Autodidakten Gundolf, der täglich zeichnete und bis zu seinem Tod 1945 Tausende von Arbeiten in Feder, Pastell, Öl und Radierung anfertigte, um diese gewöhnlich im privaten Kreis zu verschenken. StG, dem Gundolf eine Reihe von Blättern schenkte (StGA, vgl. Abb. 2), bedachte diese mit Lob und Kritik (so kritisierte er etwa die misslungene Nacktheit von Figuren, die denn auch recht bald aus dem Themenkreis der Zeichnungen Gundolfs verschwand). Im Siebenten Ring findet sich eine Widmung an Ernst Gundolf, die seine mit emsigem Fleiß betriebene Zeichenkunst als „werk aus nachtgesponnenen fäden“ (VI/VII, 171) charakterisiert. Doch stellt sich die Frage, warum die BfdK gerade mit diesen Zeichnungen abstrakt-menschenleerer Traum- und Urlandschaften aus dem Wirkungskreis eines privaten Nebenstundenkünstlers, der keineswegs auf öffentliche Wirkung aus war, heraustraten. Die Zeichnungen, deren dilettantische Züge unüberMelchior Lechters Gegen-Welten, S. 129–145; Ute Oelmann, Vom handgeschriebenen Buch zur Erstausgabe. Schrift- und Buchkunst Stefan Georges, in: CP 56/2007, 276/277, S. 63–76. 34 Vgl. Schütze, Wolfskehl und die bildende Kunst. 35 Zwölf Zeichnungen von Ernst Gundolf, Berlin: Verlag der Blätter für die Kunst 1905. Vgl. Thimann, Ernst Gundolf als Zeichner; Thimann, „werk aus nachtgesponnenen fäden“.

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sehbar sind, kann man nur mit sehr viel gutem Willen den abgründigen Phantasiegebilden Alfred Kubins vergleichen. Als Ausweis einer tatkräftigen Erneuerung der Bildsprache in Deutschland unter der Ägide StGs konnten die äußerst zart und zittrig gezeichneten Landschaften kaum durchgehen. Auch blieb, was sonst noch innerhalb des Kreises gezeichnet – wie Friedrich Gundolfs gekonnt witzige Karikaturen –,36 gedruckt, abgeschrieben, kalligraphiert und gebastelt wurde, auf den privaten Gebrauch beschränkt. In den Bildmedien war eine Wirkung über das Private hinaus anderen Gattungen vorbehalten: der Fotografie und der Plastik. 2.3.2. Bildnis und Image: George und die Fotografie In einem geradezu klassisch gewordenen Kapitel seines Buches Bilderdienst hat Gert Mattenklott sich ausführlich mit StGs Selbstinszenierung und dem Umgang mit dem Medium der Fotografie auseinandergesetzt.37 Das Bild StGs in materieller, literarischer und metaphorischer Sicht ist zentraler Bestandteil der Geschichte und Wirkung des Dichters und seines Kreises. Ja, über dem lyrischen Werk steht wie wohl bei kaum 36 Konvolute davon im StGA und University of London, Institute of Germanic and Romance Studies, Gundolf Archive. 37 Mattenklott, Bilderdienst, bes. S. 175–218.

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einem anderen Dichter sein Bild. In der jüngeren George-Forschung hat sich ein äußerst produktiver Zweig ausgebildet, der das inszenierte Bild des Dichters in medien-, publikations- und ideengeschichtlicher Perspektive untersucht.38 Die Fotografie wurde von StG als entscheidendes Medium für seine Selbstinszenierung genutzt.39 Tatsächlich beruhte seine mediale persona auf den beliebig vervielfachbaren Bildern der Fotografie, weniger auf der Plastik, deren Rezeption vor allem auf den inneren Kreis beschränkt blieb und erst mit Wolters’ ,Blättergeschichte‘ (1930), in der Abbildungen von Plastiken die Porträtfotografien von Kreismitgliedern ersetzen, nach außen drängte. Zugleich begegnete StG der Verbreitung eines unzutreffenden Image seiner selbst mit strenger Auswahl, Kontrolle und gelenkter Verbreitung der Bilder. 2.3.2.1. Fotografie und Wirklichkeit Es scheint, dass StG generell und im Gegensatz zu anderen künstlerischen Techniken den verbleibenden Realitätsrest in der Fotografie recht hoch eingeschätzt hat, obgleich man es in seinem Fall fast nur mit inszenierten Fotografien zu tun hat. Die abbildende und gewissermaßen naturalistische Qualität der Fotos wird im Kreis häufig gelobt. StGs Auffassung vom Porträt nimmt nicht an den ästhetischen Debatten der Moderne teil, die sich von dem Paradigma der abbildhaften Repräsentation durch die Autonomie der Mittel emanzipiert hatte; zugleich verhindert seine eigene starke Imagebildung eine komplementäre künstlerische Annäherung weitgehend.40 Auch das späte, wenn auch unrealisiert gebliebene ,ikonographische‘ Projekt von Kreis-Mitgliedern, eine Sammlung von verbindlichen, d. h. von allen Zufällen der Momentaufnahme gereinigten Bildnissen des Dichters zu veröffentlichen,41 deutet darauf hin, dass an die Auswahl der Bilder Wahrheitskriterien im Sinne ,echter‘ und ,getreuer‘ Abbilder angelegt werden sollten. Fotografie wurde dabei nicht als künstlerisches Bild eingestuft, sondern diente durch ihren „naturalismus“ als Beleg für Authentizität.42 In diesem Sinne hatte schon StG selbst veranlasst, eine Fotografie statt ein künstlerisches Porträt des verstorbenen Maximilian Kronberger in das Gedenkbuch Maximin (Berlin 1907) einzufügen. Sehr zum Ärger Melchior Lechters, der für den Buchschmuck verantwortlich zeichnete, wurde mit der ungeschönten Fotografie des verstorbenen Knaben die Sphäre der Kunst überschritten und die Präsenzerfahrung des leiblich 38 Vgl. Dieter Mettler, Stefan Georges Publikationspolitik. Buchkonzeption und verlegerisches Engagement, München, New York 1979; Braungart 1997, S. 118–153, Kap. II.2: „Das Haupt“; Blasberg, Charisma; Greischel/Stettler, George im Bildnis; Raulff, Plastische Passbilder; Martin Roos, Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, Düsseldorf 2002; Meier, Neue Kalokagathoi. 39 Vgl. II, 5.4.1. 40 In diesem Sinn Braungart 1997, S. 129. 41 Vgl. dazu Martus, Werkpolitik, S. 662–666; Raulff 2009, S. 102–104. Es gab in diesem Projekt zwei Positionen: Einerseits die von Mehnert und Stauffenberg vertretene, nur offizielle und feierliche ,Staatsporträts‘ zu verwenden, andererseits die liberalere Variante Boehringers, auch Schnappschüsse und private Fotografien einzubeziehen. 42 So Robert Boehringer in einem Brief an Mehnert und Stauffenberg v. 10.2.1937, StGA, zit. nach Martus, Werkpolitik, S. 664: „Fotografie ist naturalismus. Auch die sorgfältigste Auswahl schafft das nicht weg. […] Aber freilich: dies bleibt nicht-kunst. Immer fehlt der schutz mit dem das kunstwerk die person umgibt.“

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gewordenen Gottes medial reflektiert.43 Die Einfügung der Fotografie als Bildmedium von geringerer künstlerischer Dignität war ein deutlicher Bruch mit Lechters buchästhetischem Konzept, der mit dem wie ein Bilderrahmen wirkenden Ornament den Schaden zu begrenzen versuchte. Ein autorisiertes Bild StGs für die Nachwelt ist nicht mehr zu Lebzeiten und auch nicht unmittelbar nach dem Tod zustande gekommen; Robert Boehringers Buch Mein Bild von Stefan George (1951), dessen subjektive Sicht der Titel andeutet, ist als späte Realisierung des ,Ikonographie‘-Projekts zu verstehen. Der zugehörige Text ist in langen Partien ein Kommentar zu Fotografien. Der George-Kreis kultivierte in Parenthese zur intensiven Bildzirkulation eine physiognomische Praxis, die es verstand, aus einem Gesicht nicht nur die Qualität der Schönheit, sondern auch verborgene Charaktereigenschaften und Anlagen herauszuschauen. Die Gesichtsprosa nimmt daher einen großen Platz in der Kreisliteratur ein; ebenso waren die Anfertigung und der Austausch von Lichtbildern eine geläufige Bildpraxis. In deren Zentrum stand die Anwesenheit des Meisters in effigie, wie sie sich in Bildproduktion und -rezeption des Kreises äußert. 2.3.2.2. Hoffotografen StG wählte verschiedene Fotografen, bei denen die professionellen Atelierfotografen von den Künstlern zu differenzieren sind. So lichteten etwa Reinhold Lepsius oder Alexander Zschokke StGs Kopf zu Studienzwecken bei der Vorbereitung eines Gemäldes oder einer Plastik ab. Durch die Publikation von Sabine Lepsius von 1935 und die Wiederverwendung Boehringers sind auch diese für den privaten künstlerischen Gebrauch bestimmten Fotografien in die George-Ikonographie eingespeist worden.44 Auch der im zeit- und raumlosen Dunkel schwebende Kugelkopf StGs, 1909 ,in Simmels Bibliothek‘ vom Sohn des Philosophen aufgenommen, hat sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben und verschiedenste Deutungsspekulationen hervorgerufen, wonach sich gerade an dieser Fotografie Simmels Einfluss auf die Porträtauffassung StGs und seine Hinwendung zur Plastik offenbaren soll.45 In der Zeit nach 1900 galten zunächst Jacob, dann auch sein Bruder Theodor Hilsdorf als Hoffotografen des Kreises (Abb. 3).46 Ihre Bilder haben das Image StGs in der Öffentlichkeit geformt. Sie fertigten von StG, Gundolf und Lechter Porträtserien an, die zum Teil noch dem Typus des repräsentativ-bürgerlichen Künstler- und Ge43 So schon FW, S. 320. 44 Vgl. die Mappe mit Brief-Faksimiles und elf Bildnissen als Beigabe zu Sabine Lepsius, Stefan George. Geschichte einer Freundschaft, Berlin 1935. 45 Vgl. RB I, Taf. 115 (dort fälschlich auf 1911 datiert); Hauser, George und die bildenden Künste, S. 100–104; Raulff, Plastische Passbilder. 46 Vgl. G/G, S. 205 (anlässlich einer Fotografie von Percy Gothein): „Wenn unser Binger hoffotograf einmal wieder herüber kommt – so veranlass das nötige – denn ein gewöhnliches fotografen-bild bringt immer nur das vulgäre ans licht.“ Zum Kontext vgl. Braungart, Gesicht. Die HilsdorfFotografien der Sammlung Franz Toth wurden wiederholt in Ausstellungen gezeigt, vgl. z. B. Theodor Hilsdorf 1868–1944. Königlich-Bayerischer Hofphotograph, hrsg. v. Bertold Roland, Ausstellungskatalog, Mainz 1987. Vgl. die von Jacob und Theodor Hilsdorf aufgenommenen Fotos von Kreismitgliedern im Personenlexikon (¤ Percy Gothein, Friedrich Gundolf, Erich von Kahler, Berthold Vallentin, Albert Verwey, Friedrich Wolters).

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lehrtenporträts, wie es sich im späten 19. Jahrhundert als Gemäldeersatz herausgebildet hatte, zuzurechnen sind. Mit ihren malerischen Effekten und Retuschen, welche den distanziert und monumental gesehenen Personen ihre Aura als ein nicht-sichtbares Fluidum zurückgeben, orientieren sich diese Fotografien letztlich noch an Vorbildern der Porträtmalerei.47 Die Firma Hilsdorf hat die George-Ikonographie mit ihren kunstvoll ausgeleuchteten Profilbildnissen maßgeblich geprägt und auch die herrscherhaften Altersbildnisse aufgenommen. Friedrich Gundolf schreibt schon 1912 an StG, dass sein Kopf nun längst nicht mehr seine „Privatsache“ sei und wirbt für die Freigabe eines Hilsdorfschen Profilbildes an alle interessierten Besteller, da dieses am besten seine „Realität“ – hier scheinen alte Topoi von Bildmagie und dem stellvertretenden Bildnis auf – unter Beweis stellen könne (G/G, 236f.). Dabei versuchte StG, die Kontrolle über die reproduzierbaren Bilder zu behalten. Mit Jacob Hilsdorf bestand eine Absprache, derzufolge nur von StG ausdrücklich genehmigte Bilder zirkulieren durften.48 StG dürfte die Fotografien der Brüder Hilsdorf jedoch kaum als Kunst verstanden haben. Fotografie war vielmehr die Möglichkeit, ein möglichst ähnliches Abbild zu erlangen, das aber zugleich auch eine die Züge verallgemeinernde Erscheinung transportieren konnte. Fotografien wurden auch als Erinnerungshilfen angefertigt, wie es z. B. der Fall Percy Gotheins belegt, bei dem die nach der ersten Begegnung in Heidelberg 1910 bei Jacob Hilsdorf in Auftrag gegebene Fotografie wohl auch dazu dienen sollte, den verifizierenden Vergleich mit dem archaischen Relief durchzuführen, an das Percys Physiognomie StG erinnert hatte (G/G, 204f.). 2.3.2.3. Inszenierung Bemerkenswert sind StGs Strategien, das Zeitliche aus der Fotografie zu entfernen, sie hinsichtlich ihrer Wirkung auf das zeitlos Gültige hin zu transzendieren. Ziel war, das Charisma des Meisters, Sehers und Führers in effigie, und damit auch in körperlicher Abwesenheit, erfahrbar werden zu lassen, dem Gesicht eine sakrale Aura zu verleihen, 47 Vgl. Braungart 1997, S. 127. 48 Vgl. ebd., S. 133.

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die mit der quasi-religiösen Erfahrung des Bilderdienstes im George-Kreis korrespondierte. StGs Bildpolitik war auch Demonstration und Ausübung von Macht über die persönliche Anwesenheit hinaus. Sein bevorzugter Bildtypus war das Profil. Diese Wahl ist keineswegs nur den Eigentümlichkeiten seiner Physiognomie geschuldet, die das Frontalbildnis weniger vorteilhaft erscheinen ließen. In seiner strengen Distanzierung ist das Profilporträt seit der Antike der Prototyp des Herrscherbildes. StG übertrug diesen Typus, wie ihn schon Münzen und Medaillen zeigen, auf seine Ikonographie, die jede impressionistische Unbestimmtheit seiner Physiognomie, die er an den meisten Gemälden bemängelte, vermeidet. Es ist eine inszenierte Unnahbarkeit, die zugleich den Betrachter ausschließt.49 Zu diesem Bildnistypus kann sich der Betrachter nur in Ehrfurcht und Bewunderung verhalten; eine direkte Interaktion bleibt ihm versagt. Zudem legte sich StG auf den Typus des heroischen Bildnisses fest: Kein Lächeln, keine Bewegung der Mimik, keine Attribute und nahezu gänzlich retuschierte Hintergründe kennzeichnen die offiziellen Serien. Die Ästhetik des Schnappschusses rigoros vermeidend, erscheint StG priesterhaft inszeniert mit faltendurchfurchter Denkerstirn, wobei der Akzent ganz auf der Wirkung des Kopfes liegt. Die Ähnlichkeit mit dem leoninen Typus des Herrscherporträts steht in der Tradition antiker Vorbilder (z. B. Lysipps Bildnis Alexanders des Großen mit der Löwenmähne) des Mensch-Tier-Vergleichs, der in der Renaissance einen neuen Rezeptionsschub erhielt und in allen Spielformen der Physiognomik bis in die Moderne fortlebte.50 Dieser erlaubt Schlüsse vom Äußeren auf das Innere eines Menschen, dem etwa die Charaktereigenschaften des Löwen – Kraft und Milde – zugemessen werden. Das Bildnis StGs ist aber nicht nur vera effigies, sondern dient in der Rezeption dazu, den Typus des George-Menschen zu formen, wie er sich schon im frühen Kreis mit Varianten von Gundolf bis Wolters – zumindest in ihren Bildnissen – abbildet. In den nachfolgenden Kreisen wird die Stilisierung der physiognomischen Ähnlichkeit (auf StG hin, aber auch bei den Jüngern untereinander) immer größer, sodass die Identifizierung zunehmend schwerfällt. Was sich zuletzt aber nicht in der Fotografie, sondern – transzendiert im Kunstwerk – in der Bildnisplastik abbildet, ist der vollkommene George-Mensch, die geistige George-Jugend, die in ihrer neuklassischen Gestalt eine Form modernen Griechentums darstellt.51 Diese Beobachtungen zum Problem des Gesichts im George-Kreis verdichten sich in der berühmten Fotografie Im Pförtnerhaus, um 1924 im angemieteten Nebengebäude einer Villa im Berliner Grunewald aufgenommen (Abb. 4).52 In ihr wird die Ikonizität von StGs Gesicht als zentraler Glaubensinhalt des Kreises, und damit der Ziel- und Endpunkt der Produktion von Bildern, auf eine vieldeutige Spitze getrieben. Es handelt sich um Abbild und Bildallegorie zugleich. Vor einer geblümten Tapete sitzt der sichtlich von Krankheit gezeichnete Dichter mit fast geschlossenen Augen eher nach innen als nach außen blickend. Kaum scheint 49 Vgl. Mattenklott, Bilderdienst, S. 198. 50 Vgl. Evans, Das Antlitz Georges. Zum Fortleben der physiognomischen Praxis in der Moderne vgl. vor allem Claudia Schmölders, Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik, Berlin 1995; dies. (Hrsg.), Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, Berlin 1996; dies., Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, München 2000. 51 Vgl. dazu Meier, Neue Kalokagathoi. 52 RB I, Taf. 138. Zu dem Foto Mattenklott, Bilderdienst; Raulff, Bildungshistoriker, S. 131; Hoffmann, Stauffenberg; Blasberg, Charisma.

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er Kenntnis von zwei jungen Männern in der rechten Bildhälfte zu nehmen, von denen der eine, Claus von Stauffenberg, mit verehrungsvollem Blick zum abgewandten Dichter schaut, wogegen der zweite, sein Bruder Berthold, den Betrachter anblickt. Die Fotografie ist Dokument der Meister-Jünger-Pädagogik und Hierarchie im Dichterstaat und erhält ihre besondere Zuspitzung durch ein wohlinszeniertes ,Bild im Bild‘. Es ist das um 1910 entstandene Profilbild StGs an der Wand, das wie eine Ikone über der Szene zu schweben scheint und die unübersehbaren Spuren des körperlichen Verfalls im Antlitz des Dichters auf ein ,wahres‘, überzeitliches Bild hin transzendiert. Das Bild an der Wand ist eine der von StG für die Verbreitung sanktionierten Fotografien, deren er sich nach 1910 zunehmend bediente. Die Reproduktion zerstört dabei nicht die Aura, wie Walter Benjamin es formuliert hat,53 sondern im Sinne Hans Beltings, der dieses Phänomen an den Kopien christlicher Kultbilder exemplifiziert hat, potenziert und intensiviert sie die Macht des Urbilds.54 In gewollter Distanz zum Betrachter wird hier das Gesicht als eine makellose Oberfläche inszeniert. Man kann die Wiederverzauberung des technisch erzeugten Bildes wohl kaum so gut wie an dem Kult um die Fotografie im George-Kreis beschreiben. Die Fotografie, nicht das Gemälde, verleiht dem Augenblick Ewigkeit, sie fixiert die Schönheit und Ähnlichkeit des geliebten oder verehrten Gegenüber, ohne von der Lüge der ,Kunst‘ kontaminiert 53 Vgl. dazu Braungart 1997, S. 122–134; ders., Walter Benjamin. 54 Vgl. Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, 2. Aufl., München 1991.

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zu sein. Doch weniger die Augenblicksimpression als ein ,Herausschauen‘ der überzeitlichen Züge charakterisiert die von StG erstellten Porträts. StG nutzte, bei aller Ähnlichkeitsemphase, die zwar begrenzten, aber dennoch vorhandenen Mittel der Abstraktion durch die Fotografie und enthob diese damit wieder ihrer rein abbildenden Funktion. Seine Fotografien wirken kalt wie Stein,55 betrachtet man sie als Mittel der charismatischen Führung des Kreises. In ihrer strenger Kontrolle unterliegenden Nutzung und Weitergabe werden sie aber wieder zu auratischen Objekten, denen in der Praxis des Kreises gar bildmagische Qualität zukommen konnte. 2.3.3. Plastik im George-Kreis Nach dem Maximin-Erlebnis (1904) begann StGs Interesse an der Malerei zu schwinden. An ihre Stelle trat die Plastik. StG selbst verstand sich als Plastiker, der Wortgebilde formte und die Menschen seines Kreises neu erschuf. Einer apokryphen Überlieferung zufolge hat er selbst geäußert, dass er, wäre er nicht Dichter geworden, sich wohl zum Architekten oder Bildhauer berufen gefühlt hätte.56 Auch lässt sich die Wahl der Plastik als eine ästhetische Opposition gegen die klassische Moderne (insbesondere den Expressionismus) verstehen, in der die Malerei mit der Autonomisierung von Form und Farbe ihren größten Trumpf ausgespielt hatte. Zunächst interessierte sich StG für Rodin, den er persönlich aufsuchte und für „entschieden bedeutend“57 hielt. Vermutlich fand hier sein wachsendes Interesse für Plastik, der die Malerei zunehmend nachgeordnet wurde, eine erste Bestätigung. Auch der direkte Einfluss Georg Simmels, der sowohl über Böcklin als auch über Rodin und StG selbst geschrieben hatte, wurde für den offenkundigen Gesinnungswandel verantwortlich gemacht.58 Künstlerisch setzte sich StGs Vorstellung von der Plastik jedoch auf eine gänzlich andere Weise um, als dass Rodin als Vorbild namhaft gemacht werden könnte: Nicht in unvollendeter und impressionistisch-offener, sondern in hermetisch geschlossener Form von kugelförmigen Köpfen präsentierte sich die plastische Welt des George-Kreises ab 1913.59 2.3.3.1. Wie Caesar In der Erinnerungsgeschichte des Kreises gibt es eine Episode, die auf leichte Weise in das Problem der Plastik einführt, in dessen Zentrum immer StGs Kopf als Matrix plastischen Arbeitens stand, allerdings mit dem aller ,Kunst‘ enthobenen Unterschied, dass dieses Haupt nicht aus Gips, Holz oder Bronze, sondern vom Leben selbst, von des Dichters großen Leiden geformt worden war.60 In immer neuen Beschwörungen 55 Vgl. Raulff, Plastische Passbilder, S. 36. 56 Zitat bei Raulff, Steinerne Gäste, S. 7. 57 Zit. nach ZT, S. 263 (Aufzeichnung vom 4. März 1916, abends bei Ernst Glöckner). 58 Vgl. Hauser, George und die bildenden Künste, S. 86–99. 59 Zur jüngeren Diskussion um die Kreis-Plastik, die eine eigentliche Forschung erst inauguriert hat, siehe Raulff/Näfelt, Das geheime Deutschland; Raulff 2009, S. 201–204; Meier, Neue Kalokagathoi. 60 Vgl. FW, S. 572–586, Kap. 6: „Das Bildnis“.

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wurden zudem in StGs Gesicht nicht nur die Züge Dantes, sondern auch – was noch weniger Anspruch auf eine physiognomische Ähnlichkeit hatte – diejenigen Julius Caesars hineingesehen. Diese Geistesverwandtschaft von Dichter und Täter signalisierte der plastische Caesarkopf in Gundolfs Heidelberger Arbeitszimmer. Salin überliefert, dass der Gipsabguss der Caesarbüste aus dem British Museum ein Geschenk jüngerer Freunde von 1914 war. Die Präsenz des Gipsabgusses nahm in der Gegenwart StGs am 21. Februar 1914 geradezu bildmagische Qualität an, indem sich die Züge StGs über diejenigen Caesars legten und sich wundersam anglichen. In einem Moment erhöhter Wahrnehmung wurde für die Anwesenden der Dichter zur Plastik, der Täter wiederum durch StGs Gegenwart gleichsam lebendig und vergeistigt.61 Neben dem forcierten Antikenbezug, der in StGs Physiognomie Spuren höchsten Altertums aufdecken ließ, exemplifiziert die bildmagische Szenerie vom Februar 1914 Grundlegendes über den Bildbegriff des Kreises. Zunächst erscheint die körperliche Präsenz der Plastik dem ganzheitlichen Theorem der ,Gestalt‘ zugeordnet, mit dem die Wissenschaftler des Kreises vorzüglich operierten.62 Das Bild StGs verfestigt sich zu der petrifizierten Gestalt des strengen Herrschers und Propheten. Neben der Beschränkung auf das distanzierende Profilbildnis in der Fotografie, die sich erst spät mit der Wendung ins Dreiviertelprofil wieder dem Betrachter in pädagogischer Strenge zu öffnen scheint (so z. B. in den Hilsdorf-Porträts von 1928), trat nun die Plastik in die Bilderwelt des Kreises. Ist es im Fall der Caesarbüste ein Rest archaischen Bildzaubers, demzufolge dem Porträt die Kraft zuwachsen kann, Abwesende über das Bild, ja über den Tod hinaus präsent werden zu lassen, so erweist sich in der plastischen Produktion des Kreises auch die andauernde Produktivität eines anderen Topos der Porträttheorie: Bildnisse sind in engster Bindung an die Physiognomie durch Ähnlichkeit gekennzeichnet. Ulrich Raulff hat treffend das Prinzip der ,dreifachen Ähnlichkeit‘ beschrieben, auf welches die Bildnisköpfe hin justiert wurden: Zunächst auf die Ähnlichkeit zum Urbild StG hin, dann auf die Ähnlichkeit der Jünger untereinander als Ausprägungen des George-Menschen und zuletzt auf die Ähnlichkeit zu sich selbst, denn jedes ,abgeplastete‘ Kreismitglied soll trotz Stilisierung und Idealisierung sich selbst ähnlich sein, also als Individuum erkennbar bleiben.63

61 ES, S. 21f.: „In größerer Ruhe konnten wir diesmal Umschau halten. Das Zimmer war das gleiche; aber der Raum hatte einen neuen Ausdruck, einen nicht mehr nur durch seinen Bewohner geprägten Geist dadurch erhalten, dass auf dem Schreibtisch ein Abguss der Londoner CaesarBüste stand. Es war unser Dank an Gundolf gewesen, dass wir ihm die Nachbildung dieser späten Büste verehrten, in welcher dieser Caesar-Kenner die echten Züge des geliebten Heros der abendländischen Geschichte durchzufühlen vermochte. Nun hob sich Georges Kopf, ein wenig nach vorne über die Blätter geneigt, im Profil ab von dem Profil der Caesar-Büste, deren Blick durch das Fenster hindurch in die Ferne wies, und es war nicht nur unser Wissen um den gleichen Tag der Geburt, sondern die unentrinnbare Magie dieses Bildes, die zum Vergleich der Züge drängte. Nie hatten wir bis dahin geahnt, wie stark auch im Dichter die Kraft des Täters lag, – nie war uns die Geistigkeit des Römers so deutlich entgegengetreten.“ 62 Vgl. II, 3.2. u. 3.3. 63 Vgl. Raulff, Steinerne Gäste, S. 17.

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2.3.3.2. Atelier/Lapidarium: Der George-Kreis in der Versteinerung Ab 1913, der Entstehung der ersten Lindenholzporträts von Ludwig Thormaehlen (Köpfe von Morwitz, Wolters, StG, vgl. III, Abb. 3), entstand eine eigentümliche Kopfgalerie von Lebenden, deren Gegenwart sich gewissermaßen im plastischen Bild verdoppelte. Nicht ohne Grund wurde Thormaehlens Atelier ab 1914 zu einem bevorzugten Versammlungsort des Kreises, entstanden dort zunehmend Fotografien, die Menschen und Plastiken zugleich zeigten (Abb. 5).

Es ist dies die von Plastik geprägte Bilderwelt, die den späten StG umgibt und auch ins dichterische und pädagogische Werk mit seiner zunehmend sprachlichen Verfestigung und Neigung zu in Stein gemeißelten Aussprüchen und Lebensklugheiten zurückwirkt. In der literarischen Produktion des Kreises wird die Vorliebe für Plastik ebenfalls intensiver reflektiert, sei es in Vallentins Winckelmann oder in dem Michelangelo-Zyklus der Dichtungen Johann Antons.64 Schon zahlenmäßig ist die Produktion von weit über 200, schätzungsweise bis zu 400 Bildnisbüsten im George-Kreis bemerkenswert. Ein Teil dieser Bildnisse befindet sich heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, im Stefan George-Museum in Bingen und an anderen Orten; ein großer Teil ging bereits im Zweiten Weltkrieg während der Auslagerung in einem Salzbergwerk bei Magdeburg zugrunde.65 Die Köpfe stammten zum einen von 64 Johann Anton, Dichtungen, Berlin: Verlag der Blätter für die Kunst, 1935. 65 Zur Überlieferungslage vgl. Näfelt, Forschungsbericht.

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Autodidakten wie Ludwig Thormaehlen und Frank Mehnert (Abb. 6), später auch Rudolf Fahrner, zum anderen von ausgebildeten Künstlern wie Alexander Zschokke, der als Maler begann, und Urban Thiersch. Die Bildnisproduktion des Kreises ist in den 1920er-Jahren durch einen zunehmend monumentalen Klassizismus gekennzeichnet, in den sich deutlich neusachliche Züge (etwa in den zwar stilisierten, aber keineswegs idealisierten zeitgenössischen Frisuren) mischen. Als ideelles Vorbild ließe sich die archaische und klassische Plastik der Griechen benennen, doch erreichen die Resultate des plastischen Bemühens diese Höhe nicht, sondern bleiben glatt, statisch und seltsam ausdruckslos. Die geradezu zwanghafte Reduktion auf den Kopf ist keineswegs nur der Nichtbewältigung statuarischer Schwierigkeiten in der Ganzfigur geschuldet, sondern ästhetisches Programm, da sich die Abbildrelation zum lebendigen Gegenüber durch Ähnlichkeit und Schönheit des Gesichts definiert. Die bevorzugte Technik ist das plastische Modellieren in Gips, wobei wiederholt Bronzegüsse der Köpfe angefertigt werden. Bildnisse in Marmor, Holz und Ton bleiben Ausnahmen. Die plastische Produktion des Kreises kennt nicht viele Aufgaben: Sie lässt sich reduzieren auf das Bild StGs, das Bildnis der Jünger und gelegentlich auch auf Standfiguren. Sicher ist, dass StG auch die plastische Produktion in einem gewissen Rahmen kontrolliert und überwacht hat, er mitunter selbst gefragt werden musste, wenn ein Jünger porträtiert werden sollte, und er sich auch zustimmend oder ablehnend zu seinen eigenen Bildnissen äußerte: Zerstören bei Nichtgefallen war hier die Devise,66 obgleich dieser Ikonoklasmus wohl nur selten in die Tat umgesetzt worden sein dürfte. Dies berichtet Alexander Zschokke, dessen plastisches Werk ganz unter dem Einfluss StGs stand. Zwischen 1924 und 1973 hat er mehrere Dutzend George-Köpfe angefertigt.67 Diese oft nicht vollendeten Studien, deren geringerer Teil nach dem Tod StGs entstand, sind künstlerisch zweifellos auf einer höheren Stufe als die glatten und harten Konterfeis der Bildhauer-Dilettanten des Kreises. Doch bleibt auch Zschokke, trotz gekonnter sensualistischer Bewegung der Oberflächen, an die vordergründig abbildende Funktion des Porträts gebunden. 66 So Alexander Zschokke über die meisterliche Kritik an seinem fotografischen Konterfei, die jedoch die Plastiken Zschokkes nicht traf, vgl. Zschokke, Mosaik, S. 743. 67 Vgl. Hauser, George und die bildenden Künste, S. 104–111.

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StG gab 1933 die Zustimmung zur Anfertigung einer Hitlerbüste, die Frank Mehnert schuf und noch 1936 vervielfältigte, da sie über eine Münchner Kunsthandlung guten Absatz fand.68 Damit wird der schwierige politische Kontext der Kreis-Plastik offenkundig. Sowohl von den Bildthemen als auch von der formalästhetischen Bewältigung her sind die Grenzen zur offiziellen Kunstsprache des Faschismus in den 1930er-Jahren fließend, was mit der Begeisterung jüngerer Kreisangehöriger für den Nationalsozialismus, dessen Anhänger Mehnert war,69 konvergiert. Dieser fertigte 1939 für die zu einer Kaserne in Magdeburg führende Elbbrücke das Standbild eines Pioniers in Wehrmachtsuniform, für das Claus von Stauffenberg Modell stand (1942 von Unbekannten zerstört und in die Elbe geworfen). Auch Entwürfe zu einem SADenkmal (1934) und die Arbeit an einer Kolossalstatue Hindenburgs, deren bereits angefertigter Bronzeguss in einer zu diesem Zweck von Heinrich Tessenow in Magdeburg errichteten Ehrenhalle installiert werden sollte, aber zu Kriegsbeginn beschlagnahmt und wieder eingeschmolzen wurde, sind für Mehnert dokumentiert.70 Die stilistische Differenz dieser öffentlichen Werke zur Kunst des Nationalsozialismus ist nicht sonderlich groß, und es bleibt zu diskutieren, wie viel von StG noch in ihnen steckt. Entstanden sind die monumentalen Standfiguren zwar erst nach StGs Tod, doch ist zu vermuten, dass die jüngeren Kreis-Bildhauer in der politischen Kolossalplastik die Verwirklichung eines von StGs Geist beseelten deutschen Neugriechentums erkannten, das sich für sie im Nationalsozialismus realisiert hatte. Grundsätzlich verschieden ist allerdings noch der funktionale Kontext der Büsten, die zu StGs Lebzeiten entstanden. Der späte StG hat keinen direkten Einfluss auf den aktuellen Kunstbetrieb und Künstler genommen, die eine Außenwirkung suchten. Auch wenn Thormaehlens und Zschokkes Köpfe bereits 1922 in einer Ausstellung des Marburger Kunstvereins gezeigt wurden, waren sie als Freundschaftsgalerie auf die Kommunikation und Erinnerungskultur (auch den Totenkult, vgl. Mehnerts Grabherme für Johann Anton auf dem Friedhof in Freiburg im Breisgau) innerhalb des Kreises beschränkt. Sie sind plastisches Abbild einer lebendigen Gemeinschaft, die sich um den Dichter versammelt hat. Und sie sind Teil des kreisinternen Vollzugs einer Erneuerung der hellenischen Welt, denn den Griechen wurde die Verwirklichung des plastischen Prinzips in der Schöpfung der gottgleich schönen Jünglingsstatue (Kouros) zugeschrieben.71 Zugleich waren die Köpfe ganz modern, denn sie waren, so beschreibt es zumindest Wolters, die materielle Einlösung der Suche nach einem ,deutschen‘ Stil.72 Davon drang allerdings nur wenig nach außen. Die Masse der Büsten jüngerer Freunde ist im Hinblick auf ihre Erinnerungsfunktion innerhalb des Kreises geschaffen; es sind immer wieder von Neuem begonnene Studien über Schönheit und Geist in der Physiognomie junger Männer, die von der Erfahrung der Dichtung, besser: des Dichters ihre Beseelung erhalten haben.

68 Vgl. Hoffmann, Stauffenberg, S. 111. 69 Zur Persönlichkeit Mehnerts – freilich unter Ausblendung seiner nationalsozialistischen Gesinnung und seines Antisemitismus – vgl. die mit einer Auswahl seiner bildhauerischen Arbeiten versehene Edition Stettlers, Erinnerung an Frank; ¤ Frank Mehnert. 70 Vgl. Hoffmann, Stauffenberg, S. 111, 129–132, 161. 71 Vgl. dazu Meier, Neue Kalokagathoi. 72 FW, S. 572–586, Kap. 6: Das Bildnis.

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2.4.

II. Systematische Aspekte

George in Darstellungen der bildenden Kunst

2.4.1. Bildnisse Die Ikonographie des Dichters wurde zum Lebensende hin in der vom Verlag Bondi ab 1927 publizierten Gesamtausgabe der Werke ausgebreitet. Die Bildauswahl der Reproduktionen fotografischer, graphischer und plastischer Porträts korrespondiert mit den biographischen Phasen und Lebensaltern. Zugleich dokumentiert sie die physiognomische Veränderung der weichen Züge des jugendlichen Symbolisten und Dandys hin zum skulpturalen Ausdruckskopf des alten Dichtersehers. Das Werk spiegelt sich damit im Gesicht, und die Biographie des Autors geht einen untrennbaren Konnex mit der Werkgeschichte ein. Die Bedeutung des Gesichts wird auch in der kanonischen ,Blättergeschichte‘ von Wolters unterstrichen, die mit dem Kapitel „Das Bildnis“ schließt. ,Bildwerdung‘ als eine denkbare Form der Materialisierung von Geist ist eine zentrale Vokabel des Kreises.73 Was lag da näher, als die physiognomisch zweifellos interessanten Züge StGs und damit seine äußere Erscheinung zum Gegenstand der kontinuierlichen Reflexion und Nachschöpfung zu erheben? Bei Wolters wird dieses Gesicht geradezu rational vermessen und zugleich deskriptiv mit topischen Versatzstücken ausgeschmückt, nämlich dem Hinweis auf die dem Herrscher angemessene Ähnlichkeit mit dem Löwen und die Verwandtschaft mit den Zügen Dantes, die wiederum eine Genealogie des Dichters festschreibt. Schon lange vor Erscheinen der ,Blättergeschichte‘ reagieren in der Bildproduktion des George-Kreises die groß angelegten Unternehmungen der Gesichtsdokumentation auf diese Topoi der Wahrnehmung, wie sie die in großer Zahl entstehenden Fotografien und zuletzt die 1913 einsetzende bildhauerische Bewältigung von StGs Bildnis anzeigen. Dass sich erst mit dem Einsatz der Medien Fotografie und Plastik eine spezifische Ikonographie StGs ausgebildet hat, die in ihrer hieratischen Strenge und gewollten Klassizität das Bild des Meisters nachhaltig prägte, ist ausgiebig untersucht worden.74 Doch wie unterschiedlich waren die künstlerischen Bewältigungsversuche, bevor die Bildproduktion gänzlich der Steuerung StGs als dem Mittelpunkt seines Kreises unterlag. Die George-Ikonographie setzte schon im ausgehenden 19. Jahrhundert im Medium des gemalten, gedruckten oder gezeichneten Porträts ein.75 Sind es zunächst Freundschaftsbilder und Erinnerungszeichen, die mit StG persönlich bekannte Künstler wie Karl Bauer, Paul Herrmann (Henri He´ran), Jan Theodoor Toorop,76 Fernand Khnopff, Curt Stoeving oder Reinhold Lepsius in bereits erstaunlich hoher Zahl anfertigten (allein von Bauer gibt es mindestens 30 unterschiedliche Porträts), so bringt das öffentliche Verlangen nach dem Konterfei des Blätter-Dichters eine Anzahl

73 Diese Vokabel lag auch Gundolfs Konzeption des Caesar-Bildes und seiner Rezeption zugrunde, vgl. Thimann, Caesars Schatten, S. 104–143; Thimann, Vorbilder und Nachbilder. 74 Vgl. oben Abschnitte 2.3.2. u. 2.3.3. 75 Dazu grundlegend die Zusammenstellung bei Wolff, George in Darstellungen der bildenden Kunst; ders., Stefan George; Greischel/Stettler, George im Bildnis. 76 Das in mehreren Varianten überlieferte Doppelbildnis von Jan Theodoor Toorop (1896/1901 u. 1902) knüpft in der strengen Profilansicht vielleicht ganz bewusst an romantische Künstlerporträts an, die als Freundschaftsbilder gedeutet werden können. Abgebildet bei Wolff, George in Darstellungen der bildenden Kunst, S. 14–16, Kat. 4.1 u. 4.2.

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äußerst heterogener Darstellungsweisen – einschließlich der Karikaturen – hervor.77 Von diesen erzielten nur die wenigsten für StG befriedigende Resultate, auch wenn etwa die 1895 von Hermann Schlittgen angefertigte Radierung als graphische Beilage in den BfdK erschien.78 Die 1908 flüchtig hingeworfene Skizze von Max Klinger besaß für StG „eine Note ins Gewalttätige“ (FW, 581; Abb. 7).79 Das im spätimpressionistisch-sezessionistischen Stil gehaltene Gemälde von Reinhold Lepsius erinnerte ihn, Thormaehlen zufolge, gar an das Bildnis eines seinerzeit berühmten Intendanten und Schauspielers (hatte also sein Thema verfehlt).80 Reinhold und Sabine Lepsius haben jahrelang am Bildnis des Dichters gearbeitet, ohne zu einem so überzeugenden Resultat zu gelangen, dass die Malerei zum bevorzugten Medium der George-Welt privilegiert worden wäre; zu sehr blieben sie einem von Rembrandt befruchteten Spätimpressionismus und der Salonmalerei im Lenbachschen Stil verhaftet.81 StGs Präsenz, er war um die Jahrhundertwende ein häufiger Gast im Hause Lepsius, blieb eigentümlich folgenlos für die Bildnisproduktion des Malerehepaars, das den Stilvorlieben StGs äußerst kritisch gegenüberstand. Sabine Lepsius ist mit ihrem Versuch, der Freundschaft mit StG visuell zu begegnen, gescheitert. Als Kunstwerk berührt das als Triptychon angelegte Bildnis des Dichters, das nur als von der Malerin selbst verantwortetes Fragment überdauert hat, peinlich.82 Ohne Frage war StG auf der Suche nach 77 Vgl. etwa die George-Karikatur von Bruno Paul in: Martin Möbius (d. i. Otto Julius Bierbaum), Steckbriefe, erlassen hinter dreißig literarischen Uebelthätern gemeingefährlicher Natur. Mit den getreuen Bildnissen der Dreißig versehen von Bruno Paul, Berlin, Leipzig 1900 (Nachdruck mit e. Nachw. v. K. P. Muschol u. Kurzbiographien der Autoren, München, Heimeran 1960), S. 54. 78 Abgebildet in Wolff, George in Darstellungen der bildenden Kunst, S. 13, Kat. 3.1. Paul Herrmanns Zinkätzung von 1897 war nicht, wie von Wolff fälschlich angenommen (S. 23, Kat. 6.1), als Blätter-Beilage erschienen. 79 StG hatte Klinger 1908 in Leipzig besucht, wo dieser einen lebensgroßen Porträtkopf von ihm zeichnete (erhalten im StGA, Kohle, 42 x 71 cm). StG habe gesagt, er sehe darauf aus wie ,Vitzliputzli‘, woraufhin Klinger gelächelt und die Zeichnung in eine Mappe gesteckt habe, vgl. EM II, S. 37. Abgebildet in Wolff, George in Darstellungen der bildenden Kunst, S. 49, Kat. 9.1. Siehe auch LT, S. 26, 116; KH, S. 56 u. a. 80 Vgl. Thormaehlen, Aufzeichnung, S. 680. Zu dem Porträt vgl. Dorgerloh, Das Künstlerehepaar Lepsius, S. 254–256. 81 Vgl. Dorgerloh, Das Künstlerehepaar Lepsius. 82 Vgl. ebd., S. 245–250.

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II. Systematische Aspekte

einer geeigneten und gültigen Form der Stilisierung. Erstaunlicherweise gefiel ihm aber auch der um 1900 von Reinhold Lepsius geschaffene Porträtholzschnitt in seiner auf den Umriss reduzierten Linienhaftigkeit nicht sonderlich, obgleich dieser einen Grad der Stilisierung und Distanzierung aufweist, der den konventionellen Bildtypen der bis etwa 1910 entstandenen Porträts fast gänzlich fehlt (Abb. 8). Weder die akademische Malweise eines die Wirklichkeit verdoppelnden Realismus (vgl. das Ölgemälde von Gebhard Fugel von 1894)83 noch die impressionistische Auflösung der Person ins Stimmungshafte erkannte StG als angemessene Ausdrucksformen an. Auch die pathetische Stilisierung in den mit harten Realismen arbeitenden Bildnissen Karl Bauers (vgl. die Lithographie Dichterbildnis mit dem Colleoni von 1901; Abb. 9)84 ebenso wie die bildlichen Früchte des Jugendstil-Kitsches, man denke an das Profilbildnis Curt Stoevings,85 entsprachen auf Dauer nicht StGs Geschmack, der sich namentlich nach Erscheinen des Siebenten Rings und der Lösung von Melchior Lechter entscheidend wandeln sollte. Die sachliche Wiedergabe der Fotografie und die mimetische Verkörperung im Medium farbloser Plastik wurden die adäquaten Ausdrucksformen. Die Vernachlässigung der illusionistischen und mit dem Akzidenz der Farbe verbundenen Malerei zugunsten der mit Substanz und ,Gestalt‘ konnotierten Plastik wurde zum Signum der Arbeit am Bildnis des ,Meisters‘. 2.4.2. Das Gesicht als Allegorie: Verkörperungen des Dichtertums Neben der Masse der Porträtköpfe müssen allegorische Bildkonzepte eher als Seitenweg der George-Ikonographie bezeichnet werden. Hier sind zwei ganz unterschiedlich geartete Werkkomplexe zu erwähnen, in denen StG Teil einer komplexen und allegorisch aufgeladenen Bildhandlung wird. Zwischen 1897 und 1903 gestaltete Melchior Lechter im Kunstgewerbemuseum der Stadt Köln einen Festsaal, den sogenannten ,Pallenberg-Saal‘ (im Zweiten Weltkrieg zerstört), ein die Architektur mit den verschiedensten Bildmedien (Plastik, Wand- und Glasmalerei, Intarsien etc.) und 83 Wolff, George in Darstellungen der bildenden Kunst, S. 10f., Kat. Nr. 2.1. 84 Ebd., S. 33–35, Kat. Nr. 1.5. 85 Ebd., S. 20, Kat. Nr. 5.2.

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kostbarsten Materialien verbindendes Gesamtkunstwerk aus dem Geiste des Jugendstils, dessen Ikonographie und Inschriften ein Konzept zum Ausdruck brachten: Die sakral aufgeladene Verehrung von Kunst und Künstlertum als einer säkularen Heilslehre, für die sich Lechter von unterschiedlichen Quellen, allen voran Richard Wagner, Nietzsche und StG, inspirieren ließ.86 Das ornamentale Rahmenwerk war dabei integraler Bestandteil der Konzeption, indem es den untrennbaren Zusammenhang der Künste anschaulich machte. Das zentrale, als Triptychon gestaltete Wandbild, dessen Komposition kaum zufällig an eine Verkündigung Fra Angelicos erinnert, zeigte die Weihe am mystischen Quell. Eine Priesterin der im Heiligtum der Kunst entspringenden Quelle tränkte einen knienden Dichter, der eindeutig mit dem Profil StGs ausgestattet war, im Sinne eines Initiationsritus mit geweihtem Wasser. Die Inschrift betonte, alten Vorstellungen des furor poeticus folgend, das Rauschhafte der Inspiration, wie es Lechter wohl am ehesten durch die jüngste Apodiktik des Dionysischen bei Nietzsche vermittelt bekommen hatte.87 Eine Zeichnung des Wandgemäldes ist erhalten (Abb. 10). Die 1900 entstandene Vorzeichnung zu dem Gemälde (Westfälisches Landesmuseum Münster) wurde als Frontispiz in den 1932 erschienenen fünften Band der Gesamtausgabe der Werke (Der Teppich des Lebens) aufgenommen (vgl. III, Abb. 1).88 In Lechters Wandbild war StGs Porträt zwar deutlich identifizierbar – und es wurde als solches auch von den Zeitgenossen erkannt –, doch wurde seine Bedeutung als Erneuerer der deutschsprachigen Poesie und Überwinder des Naturalismus ins Allgemeine erhoben: StG war Inbegriff, ja Personifikation des Dichtertums, das wiederum im rauschenden Schönheits- und Materialkult des Lechterschen Jugendstils als einem Zusammenklang aller Künste aufging. Schon 1896 hatte Lechter in dem Gemälde des Orpheus den mythischen Sänger als Kryptoporträt mit den Zügen StGs ausgestattet. Die Dekoration des Pallenberg-Saals besaß aber einen darüber weit hinausgehenden programmatischen Charakter, der StG selbst in seiner zusammengele86 Zum Pallenberg-Saal vgl. Rapsilber, Melchior Lechter, S. 77; Treffers, Gott und die Träume; Krause, Melchior Lechters Pallenberg-Saal; Melchior Lechters Gegen-Welten (mit älterer Literatur). 87 Der Text der Inschrift lautet: „Berufen durch des mystischen Quelles Trank empfange den heiligen Rausch aus dem geboren geweihte Werke.“ 88 Die Verwendung der Porträtzeichnung ist auch eine Allusion: Lechter hatte die Erstausgabe des Teppichs (1899/1900) aufwendig ausgestaltet.

580

II. Systematische Aspekte

senen Schönheits- und Weisheitslehre und der Kontamination von christlichen Motiven mit einer eklektischen Kunstmetaphysik suspekt geblieben sein muss. Ganz anders gelagert ist das ikonographische Programm des Bildzyklus der Lebensstufen des Brücke-Künstlers Erich Heckel im Erfurter Anger-Museum (1922/23), der StG weniger als Dichter, sondern als Menschenfischer und Erzieher junger Männer ins Zentrum stellt. In Die Welt des Mannes wird StG als Erneuerer eines männlichheroischen Lebens gefeiert.89 Die expressionistische Formensprache und die malerische ,Gestaltlosigkeit‘ der Wandbilder im Anger-Museum, die das ,Dritte Reich‘ nur überstanden haben, weil der Zugang zu dem sie bergenden Raum verstellt wurde, hätten jedoch gewiss nicht die Billigung StGs gefunden; er hat die Fresken auch nie gesehen. Bekanntlich musste Ludwig Thormaehlen die Werke Heckels abhängen, wenn StG ihn in seiner Berliner Wohnung besuchte (LT, 229f.). Das dem gesamten Zyklus zugrunde liegende Motiv der Lebensalter-Allegorie wird in den Wandbildern expressionistisch (vgl. die von Zarathustra-Stimmung getragene Hochgebirgslandschaft) gedeutet. Das Grundthema der Welt des Mannes ist die geistige Erziehung der männlichen Jugend. Drei Figurengruppen sind in die Landschaft gesetzt. Im Zentrum steht der von Heckel verehrte Dichter selbst als pädagogischer Meister mit einem nackten Knaben, in dem Maximilian Kronberger zu erkennen ist. Als kultisches Zentrum der Georgeschen Kunst- und Heilslehre sowie als Sinnbild einer neuen Jugend macht diese Identifikation mit Maximin im Kontext des Bildprogramms Sinn. Umge89 Vgl. die vollständige Dokumentation zum Zyklus von Lucke/Hüneke, Erich Heckel; Philipp, Der Freund des Freundes; Dahlmanns, Die „innere Gemeinschaft“.

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ben wird StG von seinen engsten, allesamt nackten Schülern, deren Porträts identifizierbar sind. So ist in der linken Gruppe Heckels Freund aus Kriegstagen Ernst Morwitz zu erkennen, über den der Maler direkte Beziehungen zum George-Kreis unterhielt.90 Neben Josef Liegle ist der Kunsthistoriker Wilhelm Stein zu sehen, der mit seinem Raffael (1923) ganz dezidiert auf StG hin eine von der Kreis-Pädagogik angeregte Legende vom göttlichen Künstler für die „Werke der Wissenschaft aus dem Kreis der Blätter für die Kunst“ geschrieben hatte.91 Die Gruppe der Vorführung des Adepten auf der rechten Seite zeigt Thormaehlen mit einem Jüngeren. In dem Wandbild Die jungen Toten sind vermutlich Adalbert Cohrs und Bernhard von Uxkull dargestellt, die im letzten Kriegsjahr gemeinsam den Freitod gesucht hatten. Die Wandbilder sind das Dokument von Heckels großer persönlicher Verehrung für StG, der durch seine Freundschaft mit Walter Kaesbach, Morwitz und Thormaehlen in den Umkreis des Dichters gelangt war, ohne diesem jemals persönlich zu begegnen. Mit Die Welt des Mannes hat Heckel eine Interpretation der Welt StGs, die eine Welt der geistigen, vom pädagogischen Eros getragenen Erziehung ist, in der Formensprache des Expressionismus versucht, deren formales Pathos zwar dem Klassizitätsgebot des Kreises entgegenstand, als kongeniale bildliche Umsetzung der „Vorstellung von der Erscheinung des Dichters und seinem Wirken“ jedoch ein Kunstwerk von hohem Rang ist.92 Wie sehr Heckel von der Welt StGs affiziert war, legt – neben anderen Bildkonzepten – zudem das 1917/18 entstandene Gemälde Der Spaziergang (Privatbesitz) nahe, das StG und einen Jüngeren im Gespräch als Halbfiguren vor einer Landschaft zeigt und damit ein vergleichbares Thema der geistigen Erziehung anstimmt. Nach StGs Tod setzte ein Nach- und Fortleben der Effigies in mannigfacher Gestalt in den Figurengruppen von Alexander Zschokke ein, die zum Teil im öffentlichen Raum der Stadt Basel Aufstellung fanden (vgl. den Brunnen am Kunstmuseum von 1942 oder Saul und David von 1949).93 Hierbei handelt es sich nicht um als solche ausgewiesene Porträts (wie in dem Bronzerelief Stefan George lesend, das Dichtertum und Paideia thematisiert), sondern vielmehr um Kryptoporträts eines zur überzeitlichen Figur des Dichters und Lehrers transzendierten StG (z. B. Das Gespräch und Der Spaziergang): Das dominierende Bildnis StGs mit seinen unverwechselbaren Zügen wird gleichsam zum Urbild des Lehrers, das von Eingeweihten zu erkennen war, sich aber auch dem gewöhnlichen Betrachter aufgrund seiner markanten Züge einprägt. Die Paradoxie liegt in der zunehmenden Abstraktion der Formen bei gleichzeitigem Beharren auf der Ähnlichkeit des Dichtergesichts. Hier ist ansatzweise ein vom Namen gelöstes Nachleben in bildlicher Form und damit eine Form der Stilisierung zur überzeitlichen Verkörperung des Dichtertums schlechthin greifbar, die mit der Aus-

90 Vgl. Philipp, Der Freund des Freundes. 91 Vgl. Ernst Osterkamp, Wilhelm Stein (1886–1970), in: Bernhard Böschenstein/Jürgen Egyptien/Bertram Schefold/Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005, S. 225–238. 92 So Erich Heckel in einer späten Stellungnahme zu dem Werk von 1964, zit. nach Philipp, Der Freund des Freundes, S. 92. 93 Wolff, George in Darstellungen der bildenden Kunst, S. 64–79; vgl. auch Christoffel, Alexander Zschokke; Zschokke, Skulpturen-Katalog; Stettler, Bildnisse Stefan Georges; Schefold, Zu Alexander Zschokkes Bildnissen.

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II. Systematische Aspekte

nahme Dantes wohl kaum einer historischen Dichterpersönlichkeit, nicht einmal Goethe, widerfahren ist.94 Literatur Braungart 1997; EM I u. II; LT; Raulff 2009. Blasberg, Cornelia, Charisma in der Moderne. Stefan Georges Medienpolitik, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74/2000, S. 111–145. Blume, Eugen, Im Bannkreis des Meisters – Ludwig Thormaehlen, in: Überbrückt. Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus. Kunsthistoriker und Künstler 1925–1937, hrsg. v. Eugen Blume u. Dieter Scholz, Köln 1999, S. 50–58. Braungart, Wolfgang, Walter Benjamin, Stefan George und die Frühgeschichte des Begriffs der Aura. Anmerkungen mit Blick auf die Geschichte des fotografischen Portraits, in: CP 46/1997, 230, S. 38–51. Ders., „Dies gewaltige Gesicht“. Die Brüder Hilsdorf und Stefan George, in: Hans-Michael Koetzle/Ulrich Pohlmann, Münchner Kreise. Der Fotograf Theodor Hilsdorf 1868–1944, Ausstellungskatalog München Stadtmuseum, München, Bielefeld 2007, S. 85–89. Christoffel, Ulrich, Alexander Zschokke, München 1957. Dahlmanns, Janina, Die „innere Gemeinschaft“ – Erich Heckel und der Kreis von Stefan George, in: Magdalena M. Moeller (Hrsg.), Erich Heckel. Aufbruch und Tradition. Eine Retrospektive, Ausstellungskatalog Schleswig-Holsteinische Landesmuseen, Berlin Brücke-Museum, München, Berlin 2010, S. 132–141. Dorgerloh, Annette, Das Künstlerehepaar Lepsius. Zur Berliner Porträtmalerei um 1900, Berlin 2003. Evans, Arthur R., Das Antlitz Stefan Georges. Physiognomische Theorie und heroische Portraits, in: CP 18/1969, 89, S. 54–67. Greischel, Walther / Stettler, Michael, Stefan George im Bildnis, Düsseldorf, München 1976 (Drucke der Stefan-George-Stiftung). Guenther, Peter Wolfgang, Stefan George und die bildenden Künste, PhD, University of Texas, Austin 1968 [Typoskript im StGA]. Hauser, Stephan E., Stefan George und die bildenden Künste. Malerei – Plastik – Bildnis, in: GJb 4/2002/2003, S. 79–111. Hoffmann, Peter, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992. Krause, Jürgen, Melchior Lechters Pallenberg-Saal für das Kölner Kunstgewerbemuseum – Ein Kultraum der Jahrhundertwende im Zeichen Nietzsches und Georges, in: Wallraf-RichartzJahrbuch 45/1984, S. 203–230. Lucke, Mechthild / Hüneke, Andreas, Erich Heckel. Lebensstufen. Die Wandbilder im Angermuseum zu Erfurt, Amsterdam 1992. Martus, Steffen, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007. Mattenklott, Gert, Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, München 1970. Meier, Anika, „Neue Kalokagathoi“. Rezeption antiker Skulptur im George-Kreis, in: Antike – Lyrik – Heute. Griechisch-römisches Altertum in Gedichten von der Moderne bis zur Gegenwart, hrsg. v. Stefan Elit u. a., Remscheid 2010, S. 135–154. Melchior Lechters Gegen-Welten. Kunst um 1900 zwischen Münster, Indien und Berlin, hrsg. v. Jürgen Krause u. Sebastian Schütze, Ausstellungskatalog Westfälisches Landesmuseum, Münster 2006. 94 Zur bildkünstlerischen Rezeption StGs vgl. III, 3.

2. Bildende Kunst

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II. Systematische Aspekte

Zeller, Eberhard, Urban Thiersch. 28 Skulpturen, Düsseldorf, München 1974 (Drucke der Stefan-George-Stiftung). Zschokke, Alexander, Mosaik zu den Bildnissen Stefan Georges, in: Robert Boehringer. Eine Freundesgabe, hrsg. v. Erich Boehringer u. Wilhelm Hoffmann, Tübingen 1957, S. 743–755. Ders., Skulpturen-Katalog. 1921–1974, Ausstellungskatalog, Basel 1974. Michael Thimann

3.

Wissenschaft

„Von mir aus führt kein Weg zur Wissenschaft“ (ES, 249). StGs oft zitiertes, allerdings nur in Edgar Salins Erinnerungen bezeugtes Diktum markiert zunächst rigoros eine Trennlinie zu einer der markantesten gesellschaftlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts: der Dominanz wissenschaftlicher Weltdeutung. Dem kompromisslosen Ausspruch allerdings stehen die biographischen Daten des George-Kreises gegenüber: Fast alle Freunde StGs, die prominenten zumal, waren Akademiker, nicht wenige hatten Professuren an Universitäten im deutschsprachigen Raum inne: Friedrich Gundolf, der Heidelberger Neugermanist und weitaus bekannteste Wissenschaftler des Kreises ebenso wie sein Fachkollege Max Kommerell, die Historiker Friedrich Wolters, Albrecht von Blumenthal, Alexander von Stauffenberg und Ernst Kantorowicz, der Philosoph Kurt Hildebrandt und der Archäologe Erich Boehringer, um nur einige zu nennen. Die Erklärung dieses Befundes erfordert eine doppelte Perspektive: zum einen auf die Wissenschaftstradition des 19. Jahrhunderts, der sich auch die Anhänger StGs in Studium und Beruf zu stellen hatten (3.1.), zum anderen auf ihr Projekt einer heroisch-ästhetischen Lebensform, das auch wissenschaftliche Arbeit zu integrieren vermochte. Zunächst werden an exemplarischen Beiträgen zum Jahrbuch für die geistige Bewegung Grundlinien des Wissenschaftsverständnisses dargelegt (3.2.), dem die Gestalt-Monographien besonders Gundolfs eine in ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit singuläre Form gaben (3.3.). Den Abschluss bilden Hinweise zu anderen Disziplinen, in denen Freunde StGs arbeiteten (3.4.). Behandelt werden Entwicklungen bis zu StGs Tod 1933.

3.1.

Wissenschaft im 19. Jahrhundert

Zu den folgenreichsten Reaktionen auf die militärische Niederlage gegen Napoleon gehören am Beginn des 19. Jahrhunderts die preußischen Reformanstrengungen im Bereich des Bildungswesens, bis heute verbunden mit dem Namen Wilhelm von Humboldt. Insbesondere die ,Classischen Studien‘ rücken in Folge der enthusiastischen Rezeption antiker Lebensformen und Kulturgüter in den Mittelpunkt gymnasialer und universitärer Ausbildung; institutionell fördert dies maßgeblich die Emanzipation der Philosophischen Fakultät von ihrer propädeutischen Leistung für die ,oberen‘ Fakultäten der frühneuzeitlichen Wissenschaft: Der Ausbau der Philosophischen Fakultät steht exemplarisch für die Aus- und Innendifferenzierungsprozesse des modernen Wissenschaftssystems und seine Dynamik. Mit dem Aufstieg der Philologie, insbesondere der Gräzistik und Latinistik, zur Leitdisziplin der am Ende des Jahrhunderts von Wilhelm Dilthey so benannten Geisteswissenschaften und der Bedeutung

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II. Systematische Aspekte

der Geschichtswissenschaft als institutionalisierter Form der ,Geschichtskultur‘ (Hardtwig) des 19. Jahrhunderts sind charakteristische Entwicklungen benannt, die die deutsche Universität bis weit in das 20. Jahrhundert hinein prägen. Auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur, als deren Vertreter Gundolf maßgeblich die Wahrnehmung der ,neuen Wissenschaft‘ des George-Kreises befördern wird, lässt sich hier einordnen: Die ,Deutschen Studien‘ werden von der philologischen Ausrichtung auf Sprachgeschichte und Edition geprägt, nachdem die zwischen 1810 und 1830 herrschende Vielfalt der Zugänge, oft patriotisch oder antiquarisch akzentuiert, durch den Vorrang wissenschaftsinterner Standards und Motivationen abgelöst wird. Damit stellt sich die Deutsche Philologie an die Seite der etablierten Altphilologie, profitiert von ihrer unbezweifelten wissenschaftlichen Seriosität und kann sich, wenngleich nur langsam und mit diskontinuierlichem, lokal oft unterschiedlichem Erfolg an der Universität etablieren; die stärkere Berücksichtigung der gymnasialen Lehrerfordernisse nach der Mitte des Jahrhunderts trägt hierzu nicht unerheblich bei. Am Beginn des 19. Jahrhunderts werden die Freunde StGs ebendiese philologische Ausrichtung mit ihren Forderungen nach umfassender Quellenkenntnis, Genauigkeit, Arbeits- und Pflichteifer als bloßes Handwerk diskreditieren und allenfalls als Vorstufe wahrer Erkenntnis des Genius gelten lassen. Im Kaiserreich tritt neben die auch weiterhin dominante Beschäftigung mit mittelalterlicher Sprache und Literatur die Neuere deutsche Literaturgeschichte, auch eine Folge des intensivierten Deutschunterrichts an den Gymnasien der deutschen Staaten. Ihr als wissenschaftlicher Meilenstein hoch gelobtes wie als monströser Irrweg befeindetes Aushängeschild ist die umfangreiche Weimarer Ausgabe der Werke Goethes, die von 1887 bis 1919 in 133 Bänden erscheint. Bereits nach der Mitte des 19. Jahrhunderts und zunehmend in seinem letzten Drittel werden in den philologisch grundierten Disziplinen Zweifel am etablierten Expertentum und an der weitgehenden Ausblendung wissenschaftsexterner Zwecke und Motive laut: Bildung im emphatischen Sinne des Neuhumanismus und der Deutschen Klassik um 1800, zumindest in programmatischen Verlautbarungen deutscher Gymnasien und Universitäten das unbefragte Fundament ihres Selbstverständnisses, könne von mikrologischer Detailforschung und schierer Kumulation disperser Wissensbestände nicht erwartet werden. Weder die institutionell zunehmend erfolgreichen Natur- und Technikwissenschaften mit ihrem materialistischen Wissenschaftsbegriff noch die im überkommenen Forschungsprozess unvermeidliche progressive Häufung des historischen Wissens seien geeignet, dem ,Leben‘ sich anzunähern, seiner Verbesserung und individueller Vervollkommnung zu dienen, denen sie sich doch verschrieben hätten. Eine fundamentale Kritik, die in einer stark expansiven Phase der wissenschaftlichen Entwicklung in Deutschland formuliert wird: Der Ausbau der Hochschulen im Kaiserreich, steigende Zahlen bei den Immatrikulationen und beim wissenschaftlichen Personalbestand in Natur- und Geisteswissenschaften ebenso wie erfolgreiche, staatlich unterstützte Kooperationen mit der Industrie machen Adolf von Harnacks Diktum vom ,Großbetrieb der Wissenschaft‘ 1905 verständlich. In den öffentlichen Debatten um die Wiederbesetzung prominenter geisteswissenschaftlicher Lehrstühle lassen sich am Beginn des 20. Jahrhunderts, diesem Entwicklungstrend des modernen Wissenschaftssystems geradezu diametral entgegengesetzt, immer wieder die öffentlich erhobenen Forderungen nach einer ,lebensnahen‘ Wissenschaft finden, die sich nicht im traditionellen Selbstverständnis mit handwerklicher Solidität be-

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gnügen, sondern die Bereitschaft zu allgemein verständlichen kulturellen Kontextualisierungen und zur Darlegung größerer historischer Zusammenhänge mit philosophischem und ästhetischem Interesse verbinden, ,Synthesen‘ liefern solle. Diese Negation ehrwürdiger Elemente des wissenschaftlichen Ethos des 19. Jahrhunderts mündet in eine Dauerreflexion über Ziele und Aufgaben der Disziplinen in der Philosophischen Fakultät und steht im Zusammenhang mit der immer wieder als ,Krise‘ gedeuteten Grundlagendebatte in den Kulturwissenschaften insgesamt.1 Zu erinnern ist hier an die prinzipiellen Einwände Friedrich Nietzsches und Jacob Burckhardts gegen einen wissenschaftlich generierten Relativismus der Werte, chronischen Skeptizismus und den Verlust von Orientierungswissen, erzeugt durch die überzogenen historischen Objektivitätsansprüche einer nur sich selbst genügenden Geschichtswissenschaft,2 einer ,histoire pour l’histoire‘.3 Trivialisiert, aber öffentlichkeitswirksam verbreitet Julius Langbehns Bestseller Rembrandt als Erzieher die entsprechende Aversion gegen einen ,kranken‘, der deutschen Kultur angeblich entfremdeten Materialismus und Intellektualismus und fordert den Einbezug irrationaler historischer Kräfte. Die von Dilthey und den Neukantianern getroffene kategoriale Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften bildet eine Facette dieser Umakzentuierungen wie die Konflikte in der Nationalökonomie um deskriptive Verfahren; Friedrich Wolters’ Lehrer Gustav Schmoller ist daran beteiligt.4 In der Geschichtswissenschaft weitet sich vor der Jahrhundertwende der sogenannte ,Methodenstreit‘ aus: Zwischen dem Berliner Historiker Dietrich Schäfer und dem Heidelberger Kulturhistoriker Eberhard Gothein, der 1910/11 Gundolfs Habilitation nachdrücklich fördern wird, entsteht ein Disput über die Berechtigung sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Fragen in der Geschichtswissenschaft. Die einige Jahre später einsetzende Kontroverse Karl Lamprechts mit der institutionell dominanten Ranke-Schule setzt diese Grundsatzdiskussion bis zu persönlichen Beleidigungen fort.5 Erwähnung finden muss in diesem Zusammenhang auch der sogenannte ,Werturteilsstreit‘ um die Zulässigkeit von Wertaussagen in sozialwissenschaftlicher Argumentation, in dem sich Max Weber um 1910 exponiert; nach dem Weltkrieg wird er dezidiert politischen Messianismus und ethische Forderungen an die Wissenschaft ablehnen.6 Die von Ernst Troeltsch und Karl Heussi so genannte ,Krisis des Historismus‘ reicht allerdings, bei aller begrifflichen Diffusität vieler in apokalyptischem Vokabular formulierter Einlassungen, über die Konkurrenz wissenschaftlicher Fraktionen, die Reflexion von 1 Vgl. Holger Dainat, Ein Fach in der ,Krise‘. Die ,Methodendiskussion‘ in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, in: Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007, S. 247–272. 2 Vgl. Andrea Germer, Wissenschaft und Leben. Max Webers Antwort auf eine Frage Friedrich Nietzsches, Göttingen 1994, S. 20–61. 3 Vgl. Heussi, Krisis, S. 6. 4 Vgl. Volker Kruse, Von der historischen Nationalökonomie zur historischen Soziologie. Ein Paradigmenwechsel in den deutschen Sozialwissenschaften um 1900, in: Zeitschrift für Soziologie 9/1990, S. 149–165. 5 Vgl. Horst-Walter Blanke, Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 389–456. 6 Vgl. ausführlich Edith Weiller, Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnungen zweier Kulturen, Stuttgart, Weimar 1994, S. 90–131; Gerhard Lauer, Die verspätete Revolution: Erich von Kahler. Wissenschaftsgeschichte zwischen konservativer Revolution und Exil, Berlin, New York, insbes. S. 181–262.

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II. Systematische Aspekte

Arbeitsformen und erkenntnistheoretischer Grundlagen oder die Frage nach der Relevanz geschichtlichen Wissens weit hinaus. In den Diagnosen der ,Krise‘ wie den Postulaten einer ,Revolution‘ der Wissenschaft zwischen 1890 und 1930 geht es grundsätzlich um die Konstitution individueller Lebensformen und ihr Verhältnis zu Institutionen und sozialen Gruppierungen vor allem nach der Katastrophenerfahrung des Weltkriegs.7 Dies ist die Konstellation, in der sich die ,Wirkung‘ der an StG orientierten Wissenschaftler nach 1910, besonders dann in den 20er- und frühen 30erJahren, formieren kann.

3.2.

Frühe Wissenschaftsprogrammatik: Das Jahrbuch für die geistige Bewegung

Die vielfältigen Versuche einer Aktualisierung der zeitgenössischen geisteswissenschaftlichen Disziplinen durch Reform, durch gesteigerte methodologische Reflexion und Erschließung neuer Arbeitsfelder werden im Kreis um StG als, bei aller Seriosität einzelner Fachvertreter wie Max Weber, grundsätzlich vergebliche Bemühung gewertet: Das Übergewicht rationalistischer Weltdeutung verhindere die Einsicht in die tatsächlich die Kulturgeschichte bewegenden Faktoren; Arbeitsteilung und Spezialisierung seien Hemmnisse der ehrfürchtigen Annäherung an den Genius, von dem allein epochale Wirkungen ausgehen könnten; ,Bildung‘ sei nicht durch den Erwerb von Expertenwissen, sondern allein durch Bindung an menschliche Größe und die von ihr gesetzten, verkörperten Normen möglich. In vielerlei Hinsicht ist diese Position, die nicht wenige akademisch ausgebildete Publikumsgruppen durch ihre Radikalität zu faszinieren vermochte,8 den seit den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts von Nietzsche formulierten Invektiven gegen das szientistische Selbstmissverständnis einer materialistischen wilhelminischen Kultur verpflichtet. Nur der mythische Entwurf, so schon der Tenor der Geburt der Tragödie, mit der sich der Basler Professor vom traditionellen Selbstverständnis der Philologie verabschiedet, und die bewusste Absage an einfältige Tatsachengläubigkeit seien geeignet, der kulturellen Dekadenz der Gegenwart produktiv zu begegnen. Nicht einsinniges Fortschrittsdenken und Hoffnung auf die Segnungen der modernen Technik im Industriezeitalter seien Garanten einer lebenswerten Zukunft, sondern nur die Erziehung einer an wahrer historischer Größe geschulten deutschen Jugend, die auch die dunkle, dionysische Seite der Antike und des Lebens überhaupt zu erkennen in der Lage sei. Die Artikulation dieses kompromisslosen Widerspruchs gegen die Autorität der objektivistischen Wissenschaft erfolgt im George-Kreis zum einen durch StGs kontinuierlichen Verweis auf die Überlegenheit künstlerischer Weltdeutung in seiner Lyrik und den Merksprüchen der BfdK:

7 Vgl. Heussi, Krisis, S. 25. 8 Vgl. Groppe 1997.

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An Gundolf Warum so viel in fernen menschen forschen und in sagen lesen Wenn selber du ein wort erfinden kannst dass einst es heisse: Auf kurzem pfad bin ich dir dies und du mir so gewesen! Ist das nicht licht und lösung über allem fleisse? (VI/VII, 165)

Zum anderen erzeugt gerade die zeitgenössische Reputation der Wissenschaft die Attraktivität der scharfen Polemik gegen sie für die Profilierung der eigenen Position im intellektuellen Feld. Glaubwürdig aber ist eine solche publizistische Strategie nur dann, wenn die eigene wissenschaftliche Qualifikation unbezweifelbar ist, wenn die Polemik nicht als Nörgelei unzufriedener Randfiguren abgetan werden kann. Die unspektakulären wissenschaftlichen Laufbahnen mit Promotion, Habilitation und der Publikation in ausgewiesenen Fachzeitschriften vieler Freunde StGs entsprechen dem: In der ,Krise des Historismus‘ ist die Kenntnis seiner Prämissen ebenso unerlässlich wie die Diagnose seiner Defizite, zu denen die Häufung der Fakten „ins völlig Unübersehbare“ gehört, die deshalb einer „Verwurzlung in einer tieferen Schicht des Seins“ harren.9 Dies eben ist die Ambition der an StG orientierten Wissenschaftler, die mit dem Jahrbuch für die geistige Bewegung die zunächst unoriginell scheinende Form des Periodikums auch für die Wissenschaftskritik wählen. Konsequent erscheint sie allerdings im Kontext von fundamentaler Zeitdiagnostik, nicht zuletzt, um die mit ihrer Ambition einer geistigen Führerschaft konkurrierende Gruppierung um Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt publizistisch überbieten zu können; dies erklärt den durchgängig agonalen Tenor der Beiträge.10 Während die BfdK zunehmend zum Organ der Selbstverständigung der Freunde des Lyrikers werden, demonstriert das Jahrbuch die Kompetenz der Freunde des Lyrikers in den zentralen intellektuellen Debatten der Zeit, zu denen auch die über die Reichweite und besonders die Grenzen der modernen Wissenschaft gehören. Es ist damit Teil einer Selbstdarstellungsstrategie: Der erste Band liegt im Februar 1910 vor, gleichsam die polemische Abrundung der Publikationsoffensive des Kreises in Sachen kulturelle Traditionsbildung, zu der die Shakespeare-Ausgabe ebenso gehören wie die DanteÜbersetzungen 1909 und 1912, Wolters’ Apologie Herrschaft und Dienst, zwei neue Folgen der BfdK 1910 und die Anthologie ihrer herausragenden Beiträge aus den Jahren 1904 bis 1909. 1911 folgen zwei weitere Bände des Jahrbuchs und Gundolfs Monographie über Shakespeare. Erste Pläne für ein solches Jahrbuch-Projekt sollen 1907/08 bereits konkrete Züge angenommen haben; entscheidend ist der Anstoß durch den Hesperus, zumal die „pöbelhafte Besprechung“ des Siebenten Rings durch Borchardt (ES, 207). Die Konzeption als dezidiert polemische Publikation lässt ein Auftreten StGs als Herausgeber nicht zu; schließlich firmieren in Absprache mit ihm die Hochschuldozenten Gundolf und Wolters als Verantwortliche. Fast alle Freunde StGs arbeiten dem Jahrbuch zu: Karl Wolfskehl und Berthold Vallentin ebenso wie Kurt Hildebrandt, Robert Boehringer oder Ernst Gundolf. Das Themenspektrum reicht von der Emanzipation der Frau über den zeitgenössischen Theaterbetrieb bis zu philosophie- und kunstgeschichtlichen Abhandlungen. Dieser kulturkritische Nenner 9 Heussi, Krisis, S. 27f. 10 Vgl. Kolk 1998, S. 296ff.

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II. Systematische Aspekte

erlaubt auch die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Wissenschaftsbetrieb. Nicht, um dieser eigentlich sekundären Spielart der Weltdeutung Aufmerksamkeit zu verschaffen, sondern, um an ihrem Beispiel Fehlentwicklungen der Gegenwartskultur aufdecken und durch Unterscheidung die eigene Position kompromissloser Absage an Marktgängigkeit demonstrieren zu können. Bereits der erste Band enthält entsprechend zwei für diese Perspektive grundlegende Aufsätze, denen im Folgeband mit Wolters’ Abhandlung zum Gestalt-Konzept eine kategoriale Verdeutlichung der eigenen Programmatik folgt: Wissenschaftskritik und alternative ,Wissenschafts‘-Programmatik bedingen sich gegenseitig und gehören zu den wichtigen, wenn auch für StG selbst nicht zentralen Elementen in der Publizistik seiner Freunde. Wie nicht wenige Veröffentlichungen des Kreises verkünden Friedrich Wolters’ Richtlinien knapp und apodiktisch die Zielrichtung: Um die Fundierung einer neuen, nunmehr die Forderungen der Gegenwart realisierenden Form der Auseinandersetzung mit den „werten dieser zeit“11 und der kulturellen Überlieferung geht es in diesem streng gegliederten und argumentativ beinah schematisch aufgebauten Aufsatz. Zunächst wird die „Schaffende Kraft“ als einziger Bezugspunkt von Weltdeutung definiert; sie ist sinnlich und beruht auf dem unbegreifbaren Gottgrunde als dem leben verströmenden, leben formenden quell, aus dem ihre auswirkungen, unmittelbar und im ursprunge von ihrem menschlichen schöpfer selbst nicht begriffen, in das sichtbare dasein treten. Sie ist nicht die körperliche summe sondern die geistige einheit der sinne im menschen.12

Diese „geistige einheit“ fehle den Produkten der „Ordnenden Kraft“, dem nachfolgend charakterisierten Antipoden, eben der zeitgenössisch dominierenden Wissenschaft: Sie „ist logisch und besteht in der steten zerlegung der peripherie der daseinskugel in begriffene summen und ihrer ordnung nach vorgestellten einheiten, die in der sinnlichen schöpfung nicht erscheinen. Sie ist also unsinnlich und schafft keine seelischen werte“.13 Nicht das Zentrum, sondern die Peripherie, nicht die „daseinskugel“, sondern inhomogene Teilaspekte werden von Forschung und ihrer Methode, einem „netz der begriffe“,14 erreicht, dem das „mittel des schauens“ entgegengesetzt wird: „die Verkündigung“. Strikt dichotomisch wird dem Wissenschaftsbetrieb bescheinigt, „ordnung“ statt „schöpfung“, „rationalen dünkel“ statt „hingebendste vertiefung in die lehren der grossen verkünder“15 zu fokussieren und damit die „erziehung der jugend“ in die „dienstbarkeit des teilnutzens“ zu pressen.16 Die Bildungspostulate des 19. Jahrhunderts seien somit allenfalls rhetorisch noch präsent, weshalb nur die radikale Wende deren Ziele zu realisieren in der Lage sei: „Die zeit des logischen turnens ist vorbei und das ringen mit dem engel des lebens hat wieder begonnen. […] Dann schiessen die teile von selbst zu einer harmonischen bildungseinheit, einer kultur zusammen“.17

11 Wolters, Richtlinien, S. 161. 12 Ebd., S. 150. 13 Ebd., S. 151. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 161. 16 Ebd., S. 157. 17 Ebd., S. 161; die folgenden Zitate ebd.

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Den „schaffenden dienen“: Der Bezugspunkt dieser ,Wissenschafts‘-Konzeption, die eben keine Wissenschaft sein, sondern über sie hinausführen will – in den Verfahren der Gewinnung von Erkenntnis jenseits rationalistischer Verkürzungen ebenso wie in den pädagogischen Zielen –, markiert, auch hierin für Verlautbarungen des Kreises charakteristisch, eine epochale Zäsur. Axiome des seit der Aufklärung etablierten Wissenschaftsverständnisses wie die intersubjektive Überprüfbarkeit der Ergebnisse, die Kontinuität des Forschungshandelns in Rücksicht auf vorliegende Beiträge oder die Ausrichtung wissenschaftlicher Arbeit an wissenschaftsimmanenten Kriterien werden verabschiedet zugunsten einer Orientierung am schöpferischen Erzieher StG, der in dieser Programmschrift nicht erwähnt wird und doch ihr Telos ist. Eher gegen die erklärte Absicht zeigt sich allerdings Anschlussfähigkeit: Wenn von „selbstloser bescheidung und freiester selbsthingabe“ als Forderung an nicht selbst schöpferisch Tätige abschließend die Rede ist, dann wird hier das professionelle Ethos des Wissenschaftlers des 19. Jahrhunderts aufgerufen, das die Rücknahme der eigenen Person hinter die sachlichen Ansprüche der Forschung ebenso postuliert wie die respektvolle Anerkennung verdienter Autoritäten. Es ist diese Ebene berufsethischer Kongruenz, diese ,Haltung‘ der Opferbereitschaft jenseits individueller Interessen, die die Freunde StGs für die zeitgenössische Universität, neben der Übereinstimmung in einer deutschnational gefärbten politischen Überzeugung, akzeptabel erscheinen lässt. Die ästhetisch-heroische Lebensform des George-Kreises ist dem geforderten Habitus des wissenschaftlichen Experten an den Hochschulen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in ihren Normen und Wertvorstellungen inhaltlich und strukturell verwandt. Die entscheidende Differenz liegt darin, dass die in die Sozialprozesse des Wissenschaftssystems disziplinär eingebundenen Wissenschaftler wissenschaftliche Weltdeutung für die primäre Form der Wahrheitsfindung ansehen. Im George-Kreis gelten die überkommene Forschung und die in ihr geforderten Tugenden des Spezialisten als zweitrangig, letztlich als Irrweg einer instrumentellen Vernunft in der Moderne. Sie trifft jene ,Kritik des Fortschritts‘, die Vallentin im ersten Jahrbuch als Bezugsrahmen auch der Wissenschaftspolemik des Kreises formuliert. Kurt Hildebrandts Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen philologischen Antikerezeption – und damit einem Eckpfeiler der Kulturwissenschaften um 1900 – konzentriert sich auf Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, den um 1910 international führenden Gräzisten, die auch institutionell einflussreiche Leitfigur seiner Disziplin, den Repräsentanten der deutschen Altertumswissenschaft schlechthin. Es gehört zur publizistischen Offensive des Kreises, dass diese umfangreiche Abhandlung im selben Jahr gestrafft in einer profilierten Kulturzeitschrift, den Grenzboten, einem größeren Publikum vorgestellt wird: Die Geste der Absage an die geläufige Kommunikation eines unschöpferischen Expertentums – der Verzicht auf Nachweise ist für viele Veröffentlichungen, Monographien wie Aufsätze, schon äußerlich typisch – erfolgt im Medium bildungsbürgerlicher Selbstverständigung; es zeigt sich jene Mischung der publizistischen Darstellungsformen, von Verweigerung und Kontinuität, die für die Resonanz in bildungsbürgerlichen Publikumsgruppen, dem „weiteren Kreis von Laien“,18 unverzichtbar war. Als dessen Anwalt tritt Hildebrandt auf, wenn er Wilamowitz Versäumnisse und Versagen, besonders in seinen Übersetzungen anti18 Hildebrandt, Wilamowitz, S. 141; die folgenden Zitate ebd. Es handelt sich um die GrenzbotenFassung.

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II. Systematische Aspekte

ker Texte, vorwirft und damit seine Reputation angreift.19 Grundsätzlicher aber gilt die Polemik der „leichten Verständlichkeit“, dem „modernen proletarischen Geschmack“, an den Konzessionen gemacht würden, um „trivialste Verständlichkeit“ zu erzielen; die „Ausdrücke heroischer Größe“ seien der „bürgerlichen Tugend“ angepasst, es werde für „gewaltigen Donner ein gemäßigtes Säuseln“ eingefügt. Diese Technik der Trivialisierung schöpferischer Kraft in der Antike, der „Größe und Härte eines solchen Ethos“ auf das eigene moralisierende Mittelmaß,20 verfällt der Kritik, die in der undichterischen Übersetzung ein letztlich geschichtsphilosophisches Defizit sieht: „Die moderne Gelehrtenkultur sieht er als Ziel aller Weltentwicklung an und er verehrt in den alten Zeiten nur das, was er von seinem eigenen Wesen darin ahnt.“21 Nur vordergründig sind Fragen der angemessenen Übersetzung der Gegenstand der Ausführungen Hildebrandts, der vielmehr das Selbstverständnis der etablierten Wissenschaft, ihre angebliche Voraussetzungslosigkeit, attackiert und wegen dieser internen Widersprüche weitergehend ihren Anspruch auf geistige Führung der europäischen Kultur infrage stellt: Wer aber als Meister die höchste Kunst und Lebensweisheit verkünden will, der muß berufen sein, und nur wer die ganze Seele hingibt, darf in den Seelen das Schöne zeugen. An der Pforte von Hellas stehen Winckelmann, Herder, Goethe, Jean Paul, Hölderlin: In ihnen wirken Dionysos und Apollo selbst, und darum sollen uns noch ihre Irrtümer heiliger sein als unfromme Gelehrsamkeit.22

Es ist dies ein Grundzug der wissenschaftlichen Publikationen von Kreisangehörigen: Die Disqualifikation der traditionellen Forschung erfolgt nur ansatzweise auf der Ebene inhaltlicher, problembezogener Kontroverse; Wilamowitz kann als ,Meister der Historie‘, außerhalb also der künstlerischen Domäne im engeren Sinne, sehr wohl Anerkennung gezollt werden. In den Mittelpunkt rückt vielmehr die kulturelle Prominenz der Wissenschaft als des für ,Wahrheit‘ zuständigen gesellschaftlichen Bereichs. Die Formen ihrer Ermittlung – Methoden, Theorien, empirische Verfahren – verweisen in ihren Defiziten darauf, dass ihr Ziel für sie grundsätzlich nicht erreichbar ist, so das Argument: Es kann nur erlangt werden durch einen kompromisslosen Bruch, der die Bezugsgrößen austauscht. Nicht die Heroen der Wissenschaft, sondern die der Kunst können jene Bildung verbürgen, die der kulturellen Dekadenz der Zeit abzuhelfen vermag. Dennoch verzichten die Wissenschaftler um StG nicht darauf, auch auf der methodologischen Ebene Kompetenz zu demonstrieren. Gleichsam eine Spezifizierung seiner grundsätzlich ausgerichteten Richtlinien stellt der Beitrag Wolters’ im zweiten Jahrbuch dar, der die von Hildebrandt genannten Autoren – ihnen werden die Anstrengungen des Kreises sich zuwenden – im Kontext der Kritik modernen Entwicklungs- und Zweckdenkens als positive Gegenentwürfe verortet: Da die immer erneute schöpfung der welt, das lebendigwerden des geistes also in seinem sinnenhaften sichtbar-sein, in seinem leib-sein als Gestalt geschieht, so ist das anschaun einer welt erst möglich wenn ein besonderer menschlicher geist sie als Gestalt erschafft, die form 19 Vgl. III, 6.3. 20 Hildebrandt, Wilamowitz, S. 145. 21 Ebd., S. 147. 22 Ebd., S. 149, das folgende Zitat ebd.

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eines lebens erst möglich wenn ein besonderer menschlicher geist es als Gestalt verkörpert: nicht anschauung, nicht form ist zuerst gegeben sondern eine welt, ein geistiges leben als Gestalt durch Gestalt in einem Schaffenden Menschen.23

Diesem Gestalt-Konzept werden die Monographien von Kreisangehörigen über Goethe, Winckelmann, Raffael und andere sich verpflichten, bietet es doch die Möglichkeit, jenseits des den Biographien des 19. Jahrhunderts attestierten Vollständigkeitswahns die Aufmerksamkeit auf die Einheit von Leben und Werk, von Mensch und Kunst zu richten, und dabei eine vordergründig überprüfbare historische Empirie und allgegenwärtige Entwicklungsannahme hinter sich zu lassen. Im Kontext der zeitgenössischen Philosophie wird hier ebenso gegen die Bergsonsche Entwicklungs-Konzeption argumentiert, die Kontinuität des stromartigen Fließens von Zeit und Leben setzt,24 wie gegen neukantianische Positionen, die Gegenstands- und Ichbewusstsein an Denkleistungen und Kategoriengebrauch knüpfen, im Übrigen aber die Erkennbarkeit der nicht-empirischen Welt bestreiten. Die schon bei Kant erkenntnislogisch entwickelte Dichotomie von Naturwissenschaften, die sich der Erscheinungswelt zuwenden wie den apriorischen Anschauungsformen Raum und Zeit, und der den Bereich des Transzendenten behandelnden Metaphysik wird hier für ungültig erklärt: „Gestalt“ ist „in ihrer fülle schön“, das „schöne“ wiederum ist „ein begrenztes und unendliches, ein gegenwärtiges und ewiges, ein einziges und alles zugleich: Gestalt also, als das in sich schöne“, sei „ in jeder erscheinung ganz durchdrungen von den mischungen“: Ruhe/Bewegung, erscheinend/bleibend, „gebärde formend“/„im rausche gebend“.25 Solchen programmatischen Ausführungen, die, bedingt durch die Abneigung StGs gegen rationalistisches Klügeln und Abstraktion, eher am Rande der Publikationen aus dem Kreis zu finden sind, geht es nicht darum, am Begriffsinventar der zeitgenössischen Wissenschaften zu arbeiten, es zu reformieren, um zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Der Fluchtpunkt dieser Beiträge ist der künstlerische Genius, heißt George. Nicht um analysierendes Verstehen in hermeneutischer Tradition geht es, nicht um eine dialogische Verständigung von Subjekt und Kosubjekt, sondern um ein durch Intuition und Ehrfurcht angeleitetes Umkreisen des Genius, dessen vollständige Ergründung oder gar Erklärung per definitionem unmöglich ist: „Dunkelheiten, das Infinite, ist schöpferisch, das völlig Klare ist tot.“26 Die Ableitung der schöpferischen Persönlichkeit, der „Schaffenden Menschen“, der „Gestalt“, dies sei den ungezählten biographischen Versuchen in den Kulturwissenschaften des 19. Jahrhunderts abzulesen, sei zum Scheitern verurteilt. Nur die sinnbildliche Deutung vermöge der geistig-leiblichen Einheit gerecht zu werden. Nicht ein Aggregat kontingenter Faktoren sei zu benennen, sondern ein einheitliches geistiges Prinzip. Mit dieser Ausrichtung kommt dem George-Kreis allerdings keine Priorität zu. Bereits bei Platon und Goethe, dann aber zumal in verschiedenen Disziplinen am Ende des 19. Jahr23 Wolters, Gestalt, S. 146. 24 Vgl. Weigand, Nietzsche, S. 74ff. Gegen die vollständige Übernahme der Lebensphilosophie Bergsons argumentiert auch Ernst Gundolf, Die Philosophie Henri Bergsons, in: Jb 3/1912, S. 32–92. Abgelehnt wird besonders das Überwiegen dynamischer Prozesse. Wolters’ Richtlinien übernehmen aber Bergsons Dichotomie der zerlegenden bzw. verknüpfenden Erkenntnisweisen. 25 Wolters, Gestalt, S. 147ff. 26 George-Wort zit. nach EL, S. 76.

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II. Systematische Aspekte

hunderts (Psychologie, Ästhetik, Morphologie, Philosophie, Literaturwissenschaft) werden solche holistischen Konzepte diskutiert, fasziniert ihr „utopisches Potential, das von einem spezifischen Einheits- und Identitätsversprechen getragen wird.“27 Jenseits der Differenzierungs- und Spezialisierungsprozesse wird mit der Einführung dieser Kategorie des Gestalthaften mit ihrer „schillernden Semantik“ eine ganzheitliche Perspektive erhofft. Ihre begriffliche Diffusität wird als Vorteil deklariert, gilt als Garant metaphysischer Dignität.

3.3.

Seher, Täter, Gestalten: Monographien

Die von Wolters programmatisch geforderte Orientierung an der „daseinskugel“ des Genius wird exemplarisch von Gundolfs Goethe 1916 eingelöst. Dieses Buch zieht wissenschaftliche wie öffentliche Aufmerksamkeit in einem Maß auf sich, das von keiner anderen wissenschaftlichen Publikation aus dem Kreis erreicht wird.28 Zuvor hatte sich der Kreis bereits als Wegbereiter einer bis in die 20er-Jahre hinein erfolgreichen Strömung der Literaturwissenschaft erwiesen: Gundolfs Shakespeare und der deutsche Geist – ein Teil hatte der Heidelberger Philosophischen Fakultät als Habilitationsschrift vorgelegen – eröffnet 1911, zusammen mit Rudolf Ungers Hamann und die Aufklärung, die geistesgeschichtliche Forschung. Sie wendet sich gegen den ,Positivismus‘ der konventionellen germanistischen Untersuchungen, fordert eine philosophisch-ästhetische Perspektive als unverzichtbare Ergänzung der empirisch-induktiven Verfahren, um über die Diskussion wissenschaftsinterner Problemstellungen hinaus den Bildungsauftrag der philologisch-historischen Disziplinen erfüllen zu können. Eine solche Ausrichtung entspricht Postulaten des George-Kreises nach transzendenter Sinnbestimmung in universalgeschichtlicher Dimension, wenn Gundolf erklärt, dass den weltgeschichtlichen Bildungen und Konflikten, unbedingte letzte Triebe zu Grunde liegen, nicht allgemein psychologischer Natur oder logisch dialektischer (wie Hegel sie deutete), nicht einmal rein menschlicher, sondern eben göttlicher: wie man von einem Pantheismus der Natur redet, im Goethischen Sinn, so lässt sich auch von einem geschichtlichen Pantheismus reden (Herder ist sein Begründer), der in den Völkern und Menschen und Kulturen der Geschichte die individuellen Auswirkungen einer göttlichen Substanz erlebt . . Nur so kommt man über die blosse Deskription zur geistigen Durchdringung zur Darstellung des Ganzen in den Fakten.29

Dieser zeitgenössisch geläufigen lebensphilosophischen Grundorientierung entspricht die für Gundolf zentrale Kategorie der ,Kraft‘, die für das Vitale, Lebendige, Kreative steht. Ihr hat die Aufmerksamkeit des Historikers zu gelten, der ,sinnbildliche Deu27 Annette Simonis, Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur, Köln u. a. 2001, S. VII, das folgende Zitat S. 125. 28 Vgl. die Bibliographie der Rezensionen in GPL. 29 F. Gundolf an Leonie Gräfin Keyserling v. 10.6.1911, in: Friedrich Gundolf, Briefe. Neue Folge, hrsg. v. Lothar Helbing u. Klaus Victor Bock, 2. Aufl., Amsterdam 1965, S. 84; vgl. Michael Rissmann, Literaturgeschichte als Kräftegeschichte. Friedrich Gundolfs Beitrag zur Methodik geistesgeschichtlicher Literaturbetrachtung, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 42/1997, 1, S. 63–105, hier: 66ff.

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tung‘ der Geschichte unternimmt: „Alle einzelnen Zeugnisse und Inhalte, auch die Personen, sind die Träger und Ergebnisse von Lebensbewegungen, alle Stoff-, Ideenund Menschengeschichte ist Niederschlag der Kräftegeschichte“.30 Die Geschichte der Rezeption Shakespeares in Deutschland hat deshalb eine „Geschichte lebendiger Wirkungen und Gegenwirkungen statt einer Chronik literarischer Fakten oder einer Psychologie von Autoren“31 zu sein. Sie beschäftigt sich mit der Unterdrückung und den Auswirkungen, dem In- und Gegeneinander von Lebenskräften, zumal ihrer Auseinandersetzung mit rationalistischen Gegenströmungen, seit dem Ende des 16. Jahrhunderts. Der ,Schaffende Mensch‘ Shakespeare steht über der Geschichte, prägt ihr seine Formen ein. Schwerpunkte der Untersuchung sind die deutsche Aufklärung mit Lessing und Wieland, dann besonders die Goethe-Zeit; Schlusspassagen gelten der Verflachung der deutschen Geistesgeschichte im 19. Jahrhundert. Erst Goethe kann als derjenige namhaft gemacht werden, der den von Shakespeare übermittelten Impuls genuin aufzunehmen und sich anzuverwandeln in der Lage ist;32 als zeitgenössischer Fortsetzer ist StG zu denken. Der „antihistoristische Impuls des Translatiodenkens“33 richtet sich konsequent auf noch Wirksames, Lebendiges, eben nicht auf selbstgenügsame Faktenerklärung historischer Details ohne ,Symbolwert‘: Auf das symbolisch Entscheidende kommt es überall an, auf die Ergreifung alles Wesentlichen. […] Methode ist Erlebnisart, und keine Geschichte hat Wert, die nicht erlebt ist: in diesem Sinn handelt auch mein Buch nicht von vergangenen Dingen, sondern von gegenwärtigen: von solchen, die unser Leben noch unmittelbar angehen.34

Die traditionellen philologischen Forderungen nach der empirischen Vollständigkeit werden nicht als Ziel, sondern als ein Durchgangsstadium der eigentlich relevanten Arbeit verstanden: Erst mit der Einführung einer Kategorie wie der ,Kraft‘ kann die Ebene rein materialer Aussagen verlassen werden, um dem schöpferischen Prinzip des Genius zu entsprechen und seine bildende Wirkung für die eigene Gegenwart produktiv zu machen. Der von Gundolf apostrophierte „deutsche Geist“ ist das „Medium sowohl der bildend-vermittelnden als auch der schöpferischen Tätigkeit“.35 Nicht also auf die Gesamtheit dessen, was kulturgeschichtlich im deutschen Sprachraum ermittelbar ist, richtet sich Gundolfs Interesse, sondern auf als schöpferisch klassifizierte Prozesse. Die ,Kräftegeschichte‘ kennt deshalb keine völkische Orientierung, wie sie in den Kulturwissenschaften am Beginn des 20. Jahrhunderts an Zustimmung gewinnt, denn ein „Volk entsteht und besteht nicht durch biologische Bande“, sondern durch eine „Gesamtspannung, einen zentralen Willen, der durch all seine Glieder waltet“.36 Fügt sich die kategoriale Erweiterung literaturwissenschaftlicher und historiographischer Forschung durch die Perspektive auf ,Kräfte‘ noch in den Kanon der zeitgenössischen methodologischen Diskussionen, bestreitet die Klassifizierung der ,Me30 Gundolf, Shakespeare, S. 9. 31 Ebd. 32 Vgl. ebd., S. 197ff.; vgl. Jürgen Egyptien, Die Apotheose der Schöpferkraft. Shakespeare im George-Kreis, in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 159–185. 33 Kruckis, Abbild, S. 300. 34 Gundolf, Shakespeare, S. 10. 35 Zöfel, Wirkung, S. 105. 36 Gundolf, Shakespeare, S. 14.

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II. Systematische Aspekte

thode‘ als ,Erlebnisart‘ deren Prämissen. Grundsätzlich leisten Methoden eine Homogenisierung von Disziplinen, in denen sie generiert und verwendet werden, depersonalisieren die Wissenschaft, in der, unabhängig von individuellen Präferenzen, Verfahren zur Ermittlung von ,Wahrheit‘ gelten. Gundolf aber plädiert für Kongenialität, nur sie vermag die angestrebte ,sinnbildliche Deutung‘ zu leisten: Nicht um konkurrierende Interpretationen geht es, sondern um die Seinsqualität des Interpreten. Nicht die Ausbildungsverpflichtung staatlicher Institutionen, in denen die akademische Lehre methodisches Wissen vermittelt, und die Standards von Forschergemeinschaften sind die Bezugsgrößen dieser alternativen Wissenschaft, sondern die Verehrung des Genius. Goethe verdeutlicht deshalb bereits einleitend, dass „man niemals meinen darf mit einer begrifflichen Ordnung oder Deutung den lebendigen Goethe eingefangen oder eingereiht zu haben. […] Das kleinste Meistergebild ist immer unendlich mehr als der weiseste Traktat darüber.“37 Die literaturgeschichtliche Aufgabe besteht darin, Goethes „in Sprachform gegossene Gestalt als Denkform zu erfassen.“38 Der Konzeption Diltheys benachbart, begreift Gundolf primär Dichtung als wegweisende Weltdeutung, Sprache fungiert als das Medium der Weltaneignung des Menschen. Der Dichter, nicht der Schriftsteller oder der durchschnittliche Leser, der „nichtkünstlerische Mensch“,39 erschließt durch die sprachliche Formung neue Bereiche der Wirklichkeit: „vom Chaos zur Gestalt“.40 Voraussetzung solcher Gestaltung ist das „Urerlebnis“ Goethes, das Gundolf als „das religiöse, das titanische oder das erotische“ definiert; unterschieden ist es vom bloßen „Bildungserlebnis“, etwa der Antike- und Shakespeare-Rezeption oder der Gegenwartserfahrung.41 Gemäß dieser Hierarchisierung und der herkömmliches Entwicklungsdenken ersetzenden Raummetaphorik der ,Kräftekugel‘ verfolgt Gundolfs Monographie Werkgruppen als ,Schichten‘ oder ,Ringe‘, in denen sich Goethes Persönlichkeit in unterschiedlicher Intensität manifestiert. Lyrik gilt als unmittelbarste Selbstaussprache; symbolische Dichtung, die Goethes Fähigkeit zur Anverwandlung ursprünglich fremder Stoffe demonstriert, bildet die zweite ,Zone‘; allegorische Dichtung schließlich die dritte, periphere; in ihnen zeigt sich die reflektiert wahrgenommene Bildungswelt. Erhalten bleibt allerdings ein von den Vorläufern im 19. Jahrhundert bekanntes „chronologisch-biographisches Grundschema“ mit den drei Hauptteilen, deren Kapitelüberschriften Hauptwerke, Gattungen und einige für Goethes Werdegang wichtige Personen und kulturelle Gegebenheiten nennen.42 Gemäß dieser Polarität der Erlebniskategorien behandelt Gundolf Goethes Werke, die allererst über die Biographie Auskunft geben können; dies in deutlicher Differenz zur traditionellen Biographik wie auch in der Versicherung, nicht historisch-empirische, sondern eben symbolische Wahrheit zur Darstellung bringen zu wollen. Goethe erscheint, charakterisiert durch seine erotische und titanische Disposition,43 als derjenige deutsche Mensch, der seine Epoche zu formen vermag, der in der Lage ist, Natur und Kultur, Titanismus und Humanität, Bildnertrieb und Lebens-

37 Gundolf, Goethe, S. 7. 38 Ebd., S. 6. 39 Ebd., S. 2. 40 Ebd., S. 22; vgl. Zöfel, Wirkung, S. 82ff. 41 Gundolf, Goethe, S. 27. 42 Kruckis, Abbild, S. 305. 43 Vgl. Gundolf, Goethe, S. 106ff.

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trieb, Leidenschaft und Maß produktiv zu integrieren.44 Zur Verdeutlichung dieser epochalen Persönlichkeit werden Zeitgenossen als Negativfolien beschrieben: Bettina von Arnim mit ihrer „zweckbewusst lügnerischen, aber immer wallenden, verschwimmenden und vermischenden, gewissenlos romantischen Phantasie“ und Ludwig van Beethoven, der „mit Berufung auf seine Einzigkeit sich genialisch flegelhaft benahm“.45 Gegen Kunst und Leben im Zeichen der Form Goethes, die auch der George-Kreis für sich reklamierte, werden in kulturdiagnostischer Absicht fatale Entwicklungen der Moderne aufgeboten: Subjektivismus und Auflösung der Form; Gundolfs Heinrich von Kleist zeigt 1922 den Zeitgenossen Goethes ähnlich: als ,zerrissenes‘, dezentriertes, einsames Genie, das zur Rundung Goethes – in der Kunst wie im Leben – nicht in der Lage war, seine ,Mitte‘ nicht erreichen konnte. Goethe schließt mit der Aufzählung der „Goethischen Lebensmomente“, die im Alterswerk Faust II den Dichter allerdings nicht mehr als aus dem Erlebnis heraus kreativen „Sprachschöpfer“, sondern nur noch als „Sprachmeister“, als reflektierten Anwender der ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Möglichkeiten, zeigen: „Praktische Weltweisheit, wissenschaftliche Aperc¸us, metaphysische Erleuchtung, künstlerische Schaufreude, leidenschaftliche Sehnsucht, dekorativer Spieltrieb, idyllisches Behagen, landschaftliche Stimmung“. Das „in sich zurückkehrende Werk“ ergibt somit „das Gleichnis von Goethes Leben, der unendlichen Bewegung, und von Goethes Gestalt“.46 Wird Gundolfs Monographie zur deutschen Shakespeare-Rezeption in den Philologien noch als nicht unproblematische, letztlich aber doch anregende und weiterführende wissenschaftliche Leistung gesehen, so demonstriert sein Goethe mit dem rigorosen Rekurs auf dezidiert nichtwissenschaftliche Maßstäbe die grundsätzliche Problematik der kulturwissenschaftlichen Monographien aus dem George-Kreis, die sich nicht als Beiträge zu abgrenzbaren Forschungsproblemen verstehen lassen.47 Eine andere Irritation hält die Reihe der „Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“ bereit; sie erscheint parallel zu den „Werken der Dichtung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“ mit den Werken StGs, den Dichtungsanthologien und dichterischen Arbeiten der Freunde StGs.48 In dieser bei Bondi verlegten Reihe erscheinen mit dem Signet der Swastika bis 1933: Ernst Bertram, Nietzsche; Heinrich Friedemann, Platon. Seine Gestalt; Friedrich Gundolf, Caesar. Geschichte seines Ruhms; George; Goethe; Kleist; Shakespeare und der deutsche Geist; Shakespeare. Sein Wesen und sein Werk; 44 Vgl. ebd., S. 368ff. über die Italienreise. 45 Ebd., S. 545, 548. 46 Ebd., S. 785. 47 Ausführlich zur Gundolf-Rezeption: Kruckis, Abbild, S. 317ff.; Kolk 1998, S. 384ff. 48 Eine weitere Reihe legt der Ferdinand Hirt Verlag vor: „Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“. In ihr erscheinen zwischen 1921 und 1927 folgende Titel: Friedrich Wolters/Carl Petersen, Heldensagen der germanischen Frühzeit; Ernst Gundolf/Kurt Hildebrandt, Nietzsche als Richter unserer Zeit; Erich Wolff/Carl Petersen, Das Schicksal der Musik von der Antike zur Gegenwart; Wolfram von den Steinen, Staatsbriefe Kaiser Friedrichs des Zweiten; Friedrich Wolters/Walter Elze, Stimmen des Rheins; Kurt Hildebrandt, Wagner und Nietzsche; Friedrich Wolters, Vier Reden über das Vaterland. Diese Reihe verpflichtet sich unter der Leitung von Wolters rigoroser als die Bondi-Reihe auf scharfe Zeitkritik mit oft deutschnationaler Ausrichtung; vgl. G/W, S. 40ff.

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II. Systematische Aspekte

Kurt Hildebrandt, Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht; Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite; Max Kommerell, Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik; Edith Landmann, Die Transcendenz des Erkennens; Ernst Morwitz, Die Dichtung Georges; Wilhelm Stein, Raffael; Berthold Vallentin, Napoleon; Napoleon und die Deutschen; Winckelmann; Friedrich Wolters, Herrschaft und Dienst.

Zum einen erweist der George-Kreis mit der Vielzahl der selbstständigen Publikationen seine Kompetenz in wichtigen kulturwissenschaftlichen Disziplinen, von der Literaturwissenschaft über die Philosophie bis hin zur Geschichtswissenschaft und Kunstgeschichte. Sein Bildungskonzept wird durch diese Monographien exemplarisch verdeutlicht und in die außerwissenschaftliche Öffentlichkeit vermittelt, wenn sie nicht dem wissenschaftlichen Nachweis dienen, sondern das ,Leben‘ adressieren.49 Zum anderen aber vermerken schon zeitgenössische Beobachter die Serialität dieser Publikationen,50 die in der Beschreibung bedeutender Figuren der politischen und Kulturgeschichte „immer auch Züge einer Krypto-Biographie Georges“ aufweisen.51 Die geschichtsphilosophische Konzeption der über die Epochen hinweg wirksamen ,Kräfte‘ und ,Substanzen‘, von der Antike eines Caesar über Dante bis zur näheren europäischen Vergangenheit der Napoleon und Goethe und schließlich dem Zeitgenossen Nietzsche, mündet in der Person des verehrten Lyrikers, der als leibseelische Ganzheit den Tugendkatalog und die Wertelehre des Kreises buchstäblich verkörpert und erlebbar macht. Heinrich Friedemanns Platon. Seine Gestalt, die im Kreis gefeierte Deutung des philosophischen Gewährsmannes, nimmt die von Gundolfs Goethe-Monographie vorgezeichnete Argumentation auf, wendet sich gegen den zersetzenden Rationalismus und die Hochschätzung der Musik, preist die Eroskonzeption und, in den Passagen zu Sokrates, die organische Staatsauffassung des Philosophen, hierin dem von StG als Modell der Kreisbildung eingesetzten MaximinMythos folgend. Damit entsteht zugleich sowohl das Deutungsangebot des George-Kreises für eine angemessene Rezeption des antiken Autors als auch das Kompendium der „ideologischen Integration des Kreises“, indem „gedanklich die Herrschaft des Dichters aus dem Kult“ hergeleitet wird.52 Es ist deshalb konsequent, dass zu diesen auf den ,Meister‘ hin finalisierten Monographien Gundolf mit seinem George 1920 ein Buch hinzufügt, das den schöpferischen Menschen jenseits der Epochen nun in der eigenen thematisiert. Erneut begegnet die Identifikation von Leben und Werk, zu dem auch der Kreis der Jünger gerechnet wird. Seine ,Ästhetik des Rituals‘, die im Maximin-Zyklus des Siebenten Rings ihr Zentrum hat, wird der Dekadenz einer zur Ordnungsstiftung unfähigen, von der Herrschaft der Massen beeinflussten Zeit konfrontiert, in der allein das bewusste Außenseitertum des Dichters und seiner sprachschöpferischen Sendung zu jener Synthese der Lebensentwürfe, jener homogenen Ausgewogenheit des Lebensstils befähigt und die Dissonanzen der zentrifugalen Ge49 Vgl. Groppe 1997, S. 631. 50 Vgl. Kolk 1998, S. 402. 51 Osterkamp, Das Eigene, S. 394. 52 Ebd., S. 398. Zur Platon-Rezeption des George-Kreises vgl. auch den Abschnitt 3.4. sowie Ernst Eugen Starke, Das Plato-Bild des George-Kreises, Diss., Köln 1959.

3. Wissenschaft

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genwart zu neutralisieren vermag:53 Ein Buch eines Literaturwissenschaftlers über die Gegenwartsliteratur, das bis in die sprachlichen Mittel hinein die bekannten Topoi der Kulturkritik erneut zustimmend versammelt und zugleich als Rechtfertigung der eigenen Position im gespannten Verhältnis zum Gegenstand der Darstellung zu verstehen ist.

3.4.

Wissenschaftler aus dem George-Kreis in den Kulturwissenschaften

Die Hochschätzung von Dichtung im George-Kreis macht es verständlich, dass die Publikationen seiner Mitglieder in dieser Kunstform einen Schwerpunkt haben, auch Karl Wolfskehl, der älteste Freund StGs, war promovierter Germanist. Im Bereich der Literaturwissenschaft sind die Hochschulgermanisten Max Kommerell und die in der Öffentlichkeit vielfach dem Kreis zugeordneten Ernst Bertram mit seinem Nietzsche und Norbert von Hellingrath mit seinen Editionen zum Spätwerk Hölderlins hervorgetreten. Kommerells Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik entwickelt im Blick auf die Freundschaft Goethes mit Carl August die Vision vom gleichberechtigten, gegenseitig anregenden Miteinander von Künstler und Herrscher: Goethe überkam neben Carl August stehend […] ein Schmerz, daß er nur Dichter sei . . er wurde Weltmensch bis zur Selbstentäußerung – und vom Weltmenschen aus erst Weltdichter! […] Es stieg auf der Königswunsch des Dichters, mit dem Geiste Welten zu bewegen und mit dem Herrschaftsanspruch aus dem Traum in das Leben zu treten.54

Diese Vorstellung vom Übergreifen des Künstlerischen in das Politische wird im Schiller-Kapitel auf die Formel vom „ästhetischen Staat, gebildet von der Gemeinde der Schönheitsanbeter die das Gesetz in ihre Empfindung aufnehmen“ und den „Geist in Tat überführen“ wollen, gebracht.55 In Fortsetzung der Gestalt-Deutungen Gundolfs, aber mit deutlichem Akzent auf der angeblich von Hölderlin inaugurierten nationalen Wiederauferstehung, der „Geburt des neuen Vaterlands“,56 wird dem Dichter als Seher zugetraut, die kollektiven und naturhaften Mächte im deutschen Volk zu vereinigen und es in eine nunmehr vom Geist des ästhetisch-heroischen Lebens erfüllte Zukunft zu führen. Es ist dies eine Perspektive zumal auf das Werk Hölderlins, die Kommerell mit Hellingrath teilt, der Goethes Humanismus verabschiedet zugunsten 53 Vgl. Wolfgang Braungart, Gundolfs George, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 74/1993, S. 417–442, hier: 418ff. 54 Kommerell, Der Dichter, S. 152, 154. 55 Ebd., S. 252f.; vgl. Raulff, Der Dichter, S. 132ff.; zu Kommerells Monographie von 1928 auch: Ralf Klausnitzer, Mit gleichsam chinesischem Pinsel. Max Kommerell zwischen Kunst und Wissenschaft, in: Spielräume des Einzelnen. Deutsche Literatur in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, hrsg. v. Walter Delabar u. a., Berlin 1999, S. 71–104; Klaus Weimar, Sozialverhalten in literaturwissenschaftlichen Texten. Max Kommerells ,Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik‘ als Beispiel, in: Lutz Danneberg/Jürg Niederhauser (Hrsg.), Darstellungsformen der Wissenschaft im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie, Tübingen 1998, S. 493–508. 56 Vgl. die Schlusspassage des Buchs; Kommerell, Der Dichter, S. 483.

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II. Systematische Aspekte

einer Konzeption des ,Geheimen Deutschlands‘, das nicht nur geistige Traditionen meint, sondern auch die Wiedergewinnung nationaler Identität durch poetische Sprachmacht.57 Die religiös grundierte Konzeption des Dichters wird begleitet vom Wunsch nach charismatischem Führertum – auch und gerade im Politischen. Ähnlich konzipiert in der Kunstgeschichte Wilhelm Stein seine Monographie über Raffael, erschienen 1922 (mit der Jahreszahl 1923): als Legende von der autonomen, von Epocheneinflüssen unberührbaren Schöpferindividualität des Renaissance-Dichters, der damit zum ,Führer‘ seiner Zeit avanciert – eine nur auf die sympathisierende Intuition des Lesers vertrauende Darstellung, der es nicht um kunstwissenschaftliche Verifizierbarkeit, sondern um Werbung für die Mission des George-Kreises zu tun ist.58 Nicht die vorfindliche disziplinäre Struktur des Wissenschaftssystems seiner Zeit ist für den George-Kreis von Bedeutung, sondern die fundamentale Erneuerung der Kulturwissenschaften insgesamt durch die Vergegenwärtigung des Genius. Gundolfs Veröffentlichungen zu Caesar verdeutlichen die transdisziplinäre Ausrichtung vieler Arbeiten aus dem George-Kreis, wenn er es, im Gegenstandsbereich der Geschichtswissenschaft, unternimmt, das Nachleben des römischen Herrschers, ähnlich der Nietzsche-Interpretation Bertrams als ,Legende‘, nicht als Folge historisch bedingter Rezeptionsprozesse zu beschreiben, sondern entgegengesetzt: als Folge der Zeitlosigkeit des ,Täters‘, dessen Wirkungen sich nicht als zeitgebundene notwendig erschöpfen, sondern als ,ewige‘ immer neu erstehen: Sein „ganzes Wesen kommt erst zum Vorschein, indem die Jahrhunderte es erwidern.“59 Das Nachleben Caesars, seinen ,Ruhm‘, sieht Gundolf durch zwei Zäsuren strukturiert, das Ende der Antike und das Caesarbild des Hohenstaufers Friedrich II., der aus innerer Verwandtschaft mit dem römischen Heros heraus selbst zur wirkungsmächtigen Figur jenseits seiner historischen Epoche zu werden vermag.60 Der Stauferkaiser gehörte zu den von StG und seinen Freunden emphatisch gefeierten, ,normsetzenden‘ historischen Persönlichkeiten; in den Zeitgedichten des Siebenten Rings verherrlicht ihn „Die Gräber in Speier“ (VI/VII, 22–23). Das erste geschichtswissenschaftliche Werk mit dem Signet der „Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“, Wolfram von den Steinens Staatsbriefe Friedrichs des Zweiten,61 widmet sich 1923 ihm ebenso wie die weitaus bekannteste historiographische Leistung aus dem Kreis, Ernst Kantorowicz’ Kaiser Friedrich der Zweite, dessen erster Band 1928 erscheint. Erneut begegnet jene Kommerells Der Dichter als Führer beherrschende Konstellation von Kunst und Politik, die nicht als grundsätzlich getrennte Sphären, sondern in ihrer Affinität behandelt werden. Dichtung als Schreibkunst und Politik als Staatskunst gehen am Hof Friedrichs eine Ver57 Vgl. Pornschlegel, Souverän, S. 180ff. 58 Vgl. Ernst Osterkamp, Wilhelm Stein (1886–1970), in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 225–238, hier: 230ff. 59 Friedrich Gundolf, Caesar. Geschichte seines Ruhms, Berlin 1925, S. 8. 60 Vgl. Ines Stahlmann, Täter und Gestalter. Caesar und Augustus im Georgekreis, in: Karl Christ/Emilio Gabba (Hrsg.), Caesar und Augustus, Como 1989, S. 107–128, hier: 115ff.; vgl. auch Michael Thimann, Mythische Gestalt – magischer Name – historische Person. Friedrich Gundolfs Bibliothek zum Nachleben Julius Cäsars und die Traditionsforschung, in: Schlieben u. a. (Hrsg.), Geschichtsbilder, S. 317–329. 61 Vgl. Schneider, Geschichtswissenschaft, S. 329ff.

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bindung ein: Der Staat wird Kunstwerk.62 Dies auf der Grundlage eines streng organisierten Beamtenapparats und eines oft gewaltsamen persönlichen Regiments, das Kantorowicz facettenreich, teilweise drastisch beschreibt. Der Souverän des sizilianischen Königreichs und von päpstlicher Gnade unabhängige Kaiser gilt dem Historiker „zugleich als letzter mittelalterlicher Imperator und erster moderner Herrscher“.63 In „unkaiserlicher Zeit“ geschrieben, so die Vorbemerkung des Buchs, will es mehr sein als eine besonders auch literarische Quellen wie Legenden, Sagen und Anekdoten einbeziehende Überbietung historistischer Mediävistik durch eine sakrale Größe aufrufende ,Schau‘. Vielmehr ist ihm eine Gegenwartsorientierung eingeschrieben: „Heilung aller deutschen Zerrissenheiten nach Versailles und Sinnstiftung für die unendlich sinnlosen vaterländischen Leichenberge des Zweiten Reichs: das leistet die Figur Friedrichs II.“64 Die Kritik der Moderne, 1928 kein unbedingt originelles Unterfangen im George-Kreis mehr, wird durch ein imaginiertes Mittelalter geleistet, dessen Monumentalisierung mittels historischer Konstruktion aktualisiert ist: „,Wahrheit‘ wird durch ,Nation‘, ja durch ,Deutschheit‘ geschaffen.“65 Friedrich II. erscheint als Staatsgründer und Kreator eines homogenen Volks als „Einheit von Sprache und Blut, Glauben und Fest, Geschichte und Recht“.66 Die Sicht des George-Kreises auf den Dichter, zumindest die der Fraktion um Wolters, ist hier unschwer identifizierbar; in seinem 1933 erschienenen Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht legt Kurt Hildebrandt eine analoge Sicht auf den antiken Philosophen vor. Das Erscheinen von Kantorowicz’ Buch löste eine Kontroverse mit Vertretern der etablierten Geschichtswissenschaft aus, die an der ,Schau‘ des Verfassers die quellengestützte, empirisch überprüfbare Arbeit vermissten; das Erscheinen des zweiten, die Nachweise enthaltenden Ergänzungsbandes beseitigte solche Zweifel. Grundsätzlicher – Kantorowicz nutzt einen Vortrag auf dem Historikertag in Halle 1930 zur Verdeutlichung der kontroversen Prämissen – geht es um die Berechtigung und Reichweite neuer Verfahren der Geschichtsschreibung in der ,Krise des Historismus‘, die Kantorowicz von der traditionellen Geschichtsforschung strikt unterscheidet: Dieser gehe es um Lebensbezüge, um Rücksicht auf die Kunst, etwa in den Darstellungsformen, um dezidierte Ausrichtung auf die große deutsche Geistesgeschichte, jener um schlichte Tatsachenfeststellung ohne ethischen Anspruch, ablesbar aus ihrem kosmopolitischen Selbstverständnis.67 Diese Kontroverse wiederholt in vielen Facetten die Debatten über die frühen Monographien Gundolfs, wenn die Berechtigung kategorialer Innovation und außerwissenschaftlicher Referenzen diskutiert wird.68 Ger62 Vgl. Kantorowicz, Friedrich II., S. 232; Raulff, Der Dichter, S. 138; Daniela Gretz, Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation, München 2007. 63 Kay Schiller, Gelehrte Gegenwelten. Über humanistische Leitbilder im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2000, S. 42. 64 Pornschlegel, Souverän, S. 198. 65 Oexle, Geschichtswissenschaft, S. 203, im Blick sowohl auf Kantorowicz’ programmatischen Vortrag auf dem Historikertag in Halle 1930 als auch seine Monographie. 66 Kantorowicz, Friedrich II., S. 199. – Zum weiteren Freundeskreis gehören die Geschichtswissenschaftler Walter Elze, ein Militärhistoriker, und Carl Petersen, in den 20er-Jahren ein Protagonist der ,Volksgeschichte‘. 67 Vgl. Oexle, Geschichtswissenschaft, S. 200ff. 68 Vgl. Rainer Kolk, Von Gundolf zu Kantorowicz. Eine Fallstudie zum disziplinären Umgang mit Innovation, in: Jörg Schönert (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, Stuttgart, Weimar 2000, S. 195–208.

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II. Systematische Aspekte

manistik wie Geschichtswissenschaft reflektieren am Beispiel dieser irritierenden Publikationen die Grundlagen ihres Selbstverständnisses. Den Publikationen Gundolfs, Kommerells oder Kantorowicz’ lässt sich ablesen, dass die Prämissen ihrer wissenschaftlichen Arbeit sich dem Geschichtsbild und dem Wertekatalog StGs verdanken, auch wenn Kategorien wie die ,Gestalt‘, die Hochschätzung schöpferischer Individualität und des kulturell homogenisierten ,Staates‘ weitaus älteren Künstlerdiskursen und Traditionen des organischen Staatsdenkens und holistischen Konzepten entstammen. Die in der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung mehrfach diskutierte Frage nach der ,Wirkung‘ StGs auf die Kulturwissenschaften seiner Zeit kann deshalb nicht pauschal beantwortet werden, sondern nur im Blick auf einzelne Wissenschaftler; Bekanntschaft mit StG und seinen Freunden, Zugehörigkeit zum Kreis und die Inhalte und Formen wissenschaftlicher Arbeiten müssen sich nicht entsprechen. Tatsächlich werden mehrere Freunde StGs in den 20erJahren des 20. Jahrhunderts in ihren Disziplinen zu Professoren ernannt. Allerdings zeigen die Berufungsvorgänge, dass traditionelle akademische Qualifikationskriterien hierfür den Ausschlag geben, nicht die Nähe zu StG.69 Dies gilt exemplarisch für den Historiker Friedrich Wolters, der seinen ganz auf die ,Politik‘ des Kreises ausgerichteten Schriften Herrschaft und Dienst und Stefan George und die Blätter für die Kunst unspektakuläre geschichtswissenschaftliche Publikationen zur preußischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte an die Seite stellt.70 In den Altertumswissenschaften sind Albrecht von Blumenthal, Alexander von Stauffenberg und Woldemar von Uxkull zu nennen. Ihre Dissertationen und Habilitationsschriften gelten als solide philologische Leistungen, in denen die Wissenschaftsprogrammatik des Kreises keine Rolle spielt.71 Darüber hinaus allerdings lassen sich Publikationen finden, die nicht den wissenschaftlichen Experten adressieren, sondern eine interessierte Öffentlichkeit und deshalb auf Nachweise oder Quellenkritisches weitgehend verzichten. So 1927 in Blumenthals Griechischen Vorbildern mit einer Deutung des ,Heroischen‘ in der hellenischen Kultur, das männliche Tugenden und staatsbildende Kräfte meint. Nicht nur durch das unausgewiesene Zitat im Schlusssatz über den „Willen zur Verleiblichung des Gottes und Vergöttlichung des Menschen“ in Anspielung auf den Siebenten Ring wird Nähe zur Sicht StGs auf die Antike als einer Epoche ganzheitlicher Lebensform demonstriert. Ein „Nachwort“ führt zwar Schriften Goethes und Burckhardts, aber auch Hildebrandts und Friedemanns als Anregungen für diese Sichtweise auf.72 Uxkull bezeugt bereits in einer 1920 erschienenen Schrift über archaische griechische Plastik seine Nähe zum George-Kreis, wenn er zum einen emphatische Bekenntnisse zur Antike ablegt, zum anderen mit einem nicht belegten George-Zitat schließt. Eindeutiger fallen 1933 Reden des Tübinger Ordinarius aus, der die rationalistischen Fehlentwicklungen des 19. Jahrhunderts kritisiert und ihnen ein Bekenntnis zum heroischen Menschen entgegenstellt,

69 Vgl. Kolk 1998, S. 406ff. 70 Vgl. Groppe 1997, S. 213ff. 71 Vgl. insgesamt Schuller, Altertumswissenschaftler, sowie die biographischen Artikel in diesem Handbuch. 72 Albrecht von Blumenthal, Griechische Vorbilder. Versuch einer Deutung des Heroischen im Schrifttume der Hellenen, Freiburg 1927, S. 205f.

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dem der gegenwärtige politische Umbruch neue Gestaltungsräume eröffne:73 Verlautbarungen, wie sie von Alexander von Stauffenberg nicht bekannt sind. Er gebraucht zwar in seinen Arbeiten StGs Vokabular (,Herr der Wende‘, ,Täter‘ u. a.) und verrät auch durch die intensive Berücksichtigung künstlerischer Leistungen der Antike seine George-Nähe. Seine Monographien und Spezialstudien aus dem gesamten Gebiet der Alten Geschichte gründen aber auf philologischer Basis, ohne doch das Bemühen um einen persönlichen Stil zu verleugnen.74 Ähnlich ist für die Archäologie festgestellt worden, dass es zwar zum Teil intensive persönliche Bekanntschaften von Fachvertretern mit StG und dem Kreis gegeben habe, eine besondere Prägung bleibe aber unbestimmt.75 Die Krise der Kulturwissenschaften um 1900 erfasst auch diese Disziplin, sodass die vielfältigen Diskussionen über Reformen und neue Impulse, etwa durch die intensive zeitgenössische NietzscheRezeption, sich in neuen Fragestellungen niederschlagen: im Blick auf die archaische wie die spätantike Kunst und Kultur, einem besonderen Interesse an herausragenden Persönlichkeiten und dem religiösen Gehalt von Kunst.76 Hier sind mit Ernst Buschor, Ernst Langlotz und Erich Boehringer Wissenschaftler zu nennen, die Kontakt zum George-Kreis hatten. Langlotz’ Frühgriechische Bildhauerschulen steht mit der Erforschung von Körperidealen in der Tradition der Gestalt-Deutungen und auch sein Bekenntnis zur griechischen Klassik als einer Epoche der bis in die Moderne vorbildlichen Lebenshaltungen verrät Bekanntschaft mit entsprechenden Sichtweisen des Kreises. Ähnliches gilt für Erich Boehringer und seine Hochschätzung des schöpferischen Menschen in seinen Caesarstudien; ihm ist StGs Gedicht „Einem jungen Führer im ersten Weltkrieg“ (IX, 31–33) gewidmet. In der Nationalökonomie ist mit Edgar Salin, dem Verfasser eines wichtigen Erinnerungsbuchs zu StG, ein Wissenschaftler zu berücksichtigen, der die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkommende Frage nach einer hermeneutisch-geisteswissenschaftlichen oder naturwissenschaftlich-mathematischen Ausrichtung der Disziplin mit der Konzeption einer ,Anschaulichen Theorie‘ beantwortet: Im verstehenden Nachvollzug wirtschaftlichen Handelns wird sich verändernden historischen Konstellationen Rechnung getragen, nicht nur die rationale, intellektuelle Rekonstruktion hat den Forscher zu beschäftigen, sondern auch die kulturelle Kontextualisierung. Sie macht sich in seiner eigenen Gegenwart als Interesse an der Umgestaltung wirtschaftlicher und kultureller Wandlungsprozesse geltend.77 Ähnlich plädiert Arthur Salz, mit Gundolf befreundet, für die Berücksichtigung auch der irrationalen,

73 Vgl. Schuller, Altertumswissenschaftler, S. 214f. 74 Vgl. Karl Christ, Der andere Stauffenberg. Der Historiker und Dichter Alexander von Stauffenberg, München 2008, S. 84, 94. 75 Vgl. Adolf Heinrich Borbein, Zur Wirkung Stefan Georges in der Klassischen Archäologie, in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 239–257, 240f., 247f. zustimmend mit Blick auf vorliegende fachgeschichtliche Beiträge. 76 Vgl. Karl Schefold, Wirkungen Stefan Georges. Auf drei neuen Wegen der Klassischen Archäologie, in: CP 35/1986, 173/174, S. 72–97. Umfassend zur Epoche: Esther Sophia Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945, Berlin 2004. 77 Vgl. Schefold, Nationalökonomie, S. 315ff. Zu Salins ideengeschichtlichen Arbeiten vgl. Bertram Schefold, Salins Deutung der ,Civitas Dei‘, in: Schlieben u. a. (Hrsg.), Geschichtsbilder, S. 209–247.

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II. Systematische Aspekte

von Affekten und Interessen gesteuerten Aspekte der Wirtschaft.78 Auch für diese Disziplin ist konstatiert worden, dass „aus dem Georgekreis keine wirtschafts- oder gesellschaftspolitisch relevante Lehre hervorwuchs.“79 Philosophische Abstraktion, Psychologie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie oder systematische Ergründung moralischer Maximen gehören nach Einschätzung des George-Kreises zu den Fehlentwicklungen der Moderne, denen es durch normative Bindung an den Genius zu steuern gilt. Philosophie ist im Kreis entsprechend besonders durch Klassikerlektüre präsent: Zumal die ,Gestalt‘ Platons gerät immer wieder in den Blick, so in Friedemanns erwähnter Darstellung von 1914, deren Tenor sich die Schriften und Übersetzungen anderer Freunde StGs anschließen, zum größeren Teil allerdings Autoren in der Peripherie des Kreises wie Wilhelm Andreae. Sie partizipieren damit am intensivierten Platon-Interesse in den 20er-Jahren, das dem antiken Philosophen erlösendes Wissen in der ,Krise‘ der Gegenwart abzulesen hofft. Mit den Monographien Edgar Salins Platon und die griechische Utopie, Kurt Singers Platon der Gründer und schließlich Hildebrandts rückt der bereits von Friedemann betonte ,politische‘ Platon in das Zentrum der Rezeption. Nicht nur als Führer zu höherer Erkenntnis, sondern zur ,Tat‘ und zum neuen ,Staat‘ avanciert der Philosoph in diesen Deutungen. Die Politeia wird zum kanonisierten Text, der Einordnung in die neue ,Gemeinschaft‘ und entsprechenden Erziehungskonzepten gilt die Aufmerksamkeit.80 Eng verbunden mit der Rezeption platonischer Erziehungskonzepte ist das Interesse an rassenhygienischen Fragen, die der Mediziner und Philosoph Hildebrandt in mehreren Publikationen verfolgt und damit den Kreis auch in den vielfältigen zeitgenössischen Debatten über den ,starken‘ Staat und die sozialtechnologische Umsetzbarkeit evolutionsbiologischer Erkenntnisse repräsentiert. Mit ihrem Tenor stimmt Hildebrandt überein, wenn er fordert, den überkommenen Humanismus des 19. Jahrhunderts zu verabschieden und durch entschiedene Bekämpfung von ,Entartung‘ zu ersetzen.81 Differenzen zeigen sich, wenn die Belange der Nation über Postulate von ,Rassereinheit‘ gestellt und die Bevorzugung kleiner Funktionseliten im jenseits der bürgerlichen Gesellschaft zu schaffenden Staat gefordert werden. Insbesondere die von Wortführern der Rassenhygiene betriebene strikt naturwissenschaftliche Ausrichtung wird von Hildebrandt unterlaufen, wenn er seine Programmatik mit den im George-Kreis präsenten ideengeschichtlichen Traditionen, Platon, Hölderlin und Nietzsche zumal, begründet und in eine Kritik von Mechanisierung und Materialismus in der Moderne münden lässt.82 78 Vgl. Johannes Fried, Zwischen „Geheimem Deutschland“ und „geheimer Akademie der Arbeit“. Der Wirtschaftswissenschaftler Arthur Salz, in: Schlieben u. a. (Hrsg.), Geschichtsbilder, S. 249–298, bes. 265f. 79 Bertram Schefold, Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 1–33, hier: 30. Eingehende werkbiographische Überlegungen, auch zu erkenntnistheoretischen Grundlagen und disziplinären Kontexten (M. Weber, W. Sombart, E. Landmann u. a.), finden sich neuerdings bei Korinna Schönhärl, Wissen und Visionen. Theorie und Politik der Ökonomen im Stefan George-Kreis, Berlin 2009, bes. zu Salin, Salz, Singer und J. Landmann. 80 Vgl. Weigand, Nietzsche, S. 71. In StGs Werk selbst kommt Platon nur marginal vor. 81 Vgl. Breuer, Fundamentalismus, S. 296f. 82 Vgl. ebd., S. 297ff.; vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen zur rassenhygienischen und nordischen Bewegung in III, 7.3.

3. Wissenschaft

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Der einzige philosophische, nicht nur philosophiegeschichtliche Beitrag zu den „Werken der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“ stammt von Edith Landmann. Die Transcendenz des Erkennens greift 1923 die seit Descartes und Kant dominante Erkenntnistheorie mit ihrer zentralen Frage nach Wahr und Falsch an, die mit dem Neukantianismus auch die Schulphilosophie um 1900 dominiert. Landmann plädiert demgegenüber für einen Erkenntnisbegriff, der auch Irrationalität umfasst und besonders die Bedeutung der ästhetischen Gefühle einklagt. Erkenntnis wird somit nicht als rein rationaler Akt verstanden, sondern vielmehr als ein Verschmelzen der unserem Erkenntnisvermögen apriorisch innewohnenden Transzendenz mit einem Transzendieren der objektiven Welt auf uns hin. Transzendenz bedeutet für sie damit Überschreitung in ein Anderes und seine Assimilation/ Angleichung/ Aneignung zugleich.83

Die äußere, von unserem Erkenntnisvermögen unabhängige Welt, die aus diesem Grund a priori der Transzendenz unseres Erkennens bedarf, soll zum Gegenstand einer neuen Metaphysik werden.84 Die Ordnung der Welt ist für Landmann nicht in der reinen Erkenntnis verbürgt, sondern in der großen schöpferischen Persönlichkeit gegeben, in ihrer Zeit also durch StG. Dieser schon von den Zeitgenossen vernachlässigte und heute vergessene Entwurf fungiert im Kreis als erkenntnistheoretische Grundlage der Schriften des Nationalökonomen Salin und des Historikers von den Steinen.85 Literatur Groppe 1997; Kolk 1998. Berg, Christa u. a. (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, München 1987ff. Böschenstein, Bernhard / Egyptien, Jürgen / Schefold, Bertram / Vitzthum, Wolfgang Graf (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005. Breuer, Stefan, Ästhetischer Fundamentalismus und Eugenik bei Kurt Hildebrandt, in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 291–309. Busch, Walter / Pickerodt, Gerhart (Hrsg.), Max Kommerell. Leben, Werk, Aktualität, Göttingen 2003. Euphorion 75/1981, 2 [Aus Anlass von Friedrich Gundolfs 100. Geburtstag und 50. Todestag]. Goldsmith, Ulrich K., Wilamowitz and the Georgekreis: New Documents, in: William M. Calder III/Hellmut Flashar/Theodor Lindken (Hrsg.), Wilamowitz nach 50 Jahren, Darmstadt 1985, S. 583–612. Grünewald, Eckhart, Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk ,Kaiser Friedrich der Zweite‘, Wiesbaden 1982. 83 Johannes Riedner, Edith Landmann als philosophische Interpretin und Zeugin Stefan Georges. Zu Problemen der geistigen Assimilation im George-Kreis, in: Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart 3/2002, 4; nur als URL: 〈http://www.philosophia-online.de/mafo/heft2002–04/George.htm〉 (Zugriff am 20.9.2008). 84 Vgl. ebd. 85 Vgl. Wolfgang Christian Schneider, Geschichtswissenschaft im Banne Georges. Wolfram von den Steinen im Ringen um die gestalthafte ,Schau‘ der Vergangenheit, in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 329–356, hier: 346f.; Schefold, Nationalökonomie, S. 318.

606

II. Systematische Aspekte

Gundolf, Friedrich, Shakespeare und der deutsche Geist, 40. Aufl., München, Düsseldorf 1959. Ders., Goethe, Darmstadt 1963. Gundolf-Heft, Leipzig, Wien 1921 (Euphorion, 14. Ergänzungsheft). Heussi, Karl, Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932. Hildebrandt, Kurt, Hellas und Wilamowitz, in: GK, S. 141–149. Kantorowicz, Ernst, Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927. König, Christoph / Lämmert, Eberhard (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, Frankfurt/M. 1993. Dies. (Hrsg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt/M. 1999. Kommerell, Max, Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1982. Kruckis, Hans-Martin, „Ein potenziertes Abbild der Menschheit“. Biographischer Diskurs und Etablierung der Neugermanistik in der Goethe-Biographik bis Gundolf, Heidelberg 1995. Landmann, Michael, Um die Wissenschaft, in: CP 9/1960, 42, S. 65–90. Oexle, Otto Gerhard, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996. Osterkamp, Ernst, Das Eigene im Fremden. Georges Maximin-Erlebnis in seiner Bedeutung für die Konzeption der „Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“, in: Eijiro Iwasaki/Yoshinori Shichiji (Hrsg.), Begegnung mit dem »Fremden«. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. IVG-Kongresses Tokyo 1990, Bd. 10, München 1991, S. 394–400. Pornschlegel, Clemens, Der literarische Souverän. Studien zur politischen Funktion der deutschen Dichtung bei Goethe, Heidegger, Kafka und im George-Kreis, Freiburg 1994. Raschel, Heinz, Das Nietzsche-Bild im George-Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mythologeme, Berlin 1984. Raulff, Ulrich, Der Dichter als Führer: Stefan George, in: Ders. (Hrsg.), Vom Künstlerstaat. Ästhetische und politische Utopien, München, Wien 2006, S. 127–143. Schefold, Bertram, Nationalökonomie als Geisteswissenschaft. Edgar Salins Konzept einer Anschaulichen Theorie, in: List-Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik 18/1992, S. 303–324. Schlieben, Barbara / Schneider, Olaf / Schulmeyer, Kerstin (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004. Schuller, Wolfgang, Altertumswissenschaftler im George-Kreis: Albrecht von Blumenthal, Alexander von Stauffenberg, Woldemar von Uxkull, in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 209–224. Troeltsch, Ernst, Die Krisis des Historismus, in: Neue Rundschau 33/1922, S. 572–590. Weber, Frank, Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis, Frankfurt/M. u. a. 1989. Weigand, Kurt, Von Nietzsche zu Platon. Wandlungen in der politischen Ethik des George-Kreises, in: Eckhard Heftrich/Paul Gerhard Klussmann/Hans-Joachim Schrimpf (Hrsg.), Stefan George Kolloquium, Bonn 1971, S. 67–90. Wolters, Friedrich, Richtlinien, in: Jb 1/1910, S. 128–145 (zit. nach GPL, S. 150–161). Ders., Gestalt, in: Jb 2/1911, S. 137–158. Zimmermann, Hans-Joachim (Hrsg.), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium, Heidelberg 1985. Zöfel, Gerhard, Die Wirkung des Dichters. Mythologie und Hermeneutik in der Literaturwissenschaft um Stefan George, Frankfurt/M. u. a. 1987. Rainer Kolk

4.

Traditionsverhalten

4.1.

Deutsche Dichtung (DD I–III)

4.1.1. Entstehung, Veröffentlichung Sieht man von einer möglichen Anregung durch die zwischen 1893 und 1897 erschienene dreibändige Anthologie Nederlandsche Dichter behalve Vondel des George-Freundes Albert Verwey ab,1 so sind es zwei sehr unterschiedliche konzeptionelle Vorstellungen, die am Ursprung von StGs und Wolfskehls Deutscher Dichtung standen und deren Veröffentlichungsgeschichte bestimmten. Zum einen ist dies die im Rahmen der vielfältigen buchkünstlerischen Erneuerungsbemühungen um 1900 entwickelte Idee eines Gesamtkunstwerks Buch, zu dem sich Autoren und bildende Künstler gleichberechtigt verbinden sollten: „es liegen vorzügliche Pläne Karl Wolfskehls vor“, schreibt StG am 22.8.1896 an Hofmannsthal, „nach art der Kelmscott Press nicht nur die neueren dichter sondern auch die Alten Guten in einer geschmackvollen (mehr menschenwürdigen als bislang) ausgabe zu zeigen“ (G/H, 109). In Melchior Lechter, der 1897 Das Jahr der Seele ausgestattet und für Wolfskehls StG gewidmeten Gedichtband Ulais eine Einbandzeichnung geschaffen hatte, fanden die beiden Herausgeber einen Künstler, der, von ebenso hohem handwerklichen wie ästhetischen Ethos erfüllt und entsprechend selbstbewusst, bereit war, seinen Beitrag zu dem Gemeinschaftswerk zu leisten. Die zweite leitende Idee, deren Anfänge ebenfalls in die Mitte der 90er-Jahre fallen, ist der Gedanke eines auf das symbolische – ursprünglich als Erscheinungstermin aller drei Bände vorgesehene – Jahr 1900 zielenden Kanons für das neue Jahrhundert, der zunächst und vor allem auf den um die BfdK versammelten Kreis von „schönheitliebenden“ zielte und speziell den „künstlern“2 unter ihnen als poetisches Musterbuch dienen sollte. Dabei kam es im Zuge der Arbeit an den drei Bänden und ihrer Revision für die zweite Auflage zu gewissen Akzentverschiebungen, zunächst zwischen Jean Paul, dem der erste, und Goethe, dem der zweite Band gewidmet war, sodann zwischen dem Komplementärpaar Jean Paul / Goethe und Hölderlin, dem in der zweiten Auflage des dritten Bandes tendenziell eine noch weitergehende Bedeutung für die Gegenwart zuerkannt wurde, als deren zentrale vollendend-erneuernde Gestalt StG sich selber begriff. Jean Paul. Ein Stundenbuch für seine Verehrer erschien, nachdem sich Verhandlungen mit Bondi zerschlagen hatten, am 12.7.1900, dem Geburtstag StGs, in Berlin 1 Vgl. Speier, Ästhetik Jean Pauls, S. 52. 2 DD I, S. 5 („Gesamt-Vorrede zu Deutsche Dichtung“). Für die Neuausgabe der 3 Bände der Deutschen Dichtung zeichnete Ute Oelmann verantwortlich; vgl. ihre grundlegenden Nachworte in: DD I, S. 107–120; DD II, S. 105–115; DD III, S. 191–213.

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II. Systematische Aspekte

als Privatdruck im Verlag der Blätter für die Kunst in einer Auflage von 403 Exemplaren, davon drei in einer Vorzugsausgabe auf kaiserlich japanischem Papier. Die gegenüber der Titelseite stehende Angabe Deutsche Dichtung / Herausgegeben und eingeleitet von / Stefan George und Karl Wolfskehl ließ eine Fortsetzung vermuten, kündigte sie aber nicht schon durch eine Bandzahl mit Bestimmtheit an. Am 3.12.1901 folgte Goethe, am 8.11.1902 Das Jahrhundert Goethes, jeweils in einer Auflage von nur noch 303 Exemplaren, wieder als Privatdruck, mit dem Reihentitel und ohne Bandangabe, die wegen der offensichtlichen Zusammengehörigkeit der drei Bände nicht zwingend geboten erschien. Durchgezählt wurden die drei Bände von der 1910 erschienenen zweiten Auflage an, und zwar in der Reihenfolge ihres ursprünglichen Erscheinens. Noch zu Lebzeiten StGs und Wolfskehls kam eine gegenüber der zweiten textlich unveränderte dritte Auflage heraus (Bde. 1 und 3: 1923, Bd. 2: 1932). Eine vierte Ausgabe des dritten Bandes, 1964, in der Reihe der „Drucke der StefanGeorge-Stiftung“, ist StGs Nachlassverwalter Robert Boehringer zu danken, der zusätzlich Conrad Ferdinand Meyers Sonett „Der römische Brunnen“ aufnahm. Maßgeblich ist die von Ute Oelmann betreute, zwischen 1989 und 1995 bei Klett-Cotta erschienene vorläufig letzte dreibändige Ausgabe, der die zweite Ausgabe von 1910 zugrunde liegt. Der Erstausgabe des Goethe-Bandes war als Faltblatt die „Gesamt-Vorrede zu Deutsche Dichtung“ beigelegt, die von der zweiten Ausgabe an in allen drei Bänden wiederabgedruckt wurde. „Zunächst“, heißt es in der „Gesamt-Vorrede“, seien „folgende bände vorgesehen: 1. Jean Paul · 1900. 2. Goethe · 1901. 3. Das Jahrhundert Goethes · 1902. Daran sollen sich fügen eine lese aus der mittelalterlichen blütezeit · sowie gewöhnlich volkslieder genannte verse älterer unbekannter verfasser.“ Eine Fußnote vermerkt dazu 1910: „Inzwischen erledigt durch eigne ausgaben von mitgliedern des kreises“ (DD I, 6), womit auf Karl Wolfskehls und Friedrich von der Leyens Anthologie Älteste deutsche Dichtungen und Friedrich Wolters’ Übertragungen deutscher Minnesänger des 12. bis 14. Jahrhunderts, beide 1909,3 gezielt war. Die in einem Verlagsprospekt von 1905 angekündigten Bände „Deutsche Dichter. Herausgegeben von Stefan George (gedruckt in StG-Schrift): 1. Hölderlin, Hyperion; 2. Goethe, Westöstlicher Divan“ sind nie erschienen. Ute Oelmann, auf deren akribisch aus den Quellen (vielfach unveröffentlichte Briefe sowie die erhaltenen Ausgaben aus StGs Besitz) rekonstruierte Entstehungsgeschichte für nähere Informationen verwiesen sei, gelangt zu der Einschätzung, „daß die im Faltblatt von 1901 erwähnte mögliche Erweiterung der Reihe“ in StGs Konzeption „keine Rolle spielte“ (DD I, 118). Tatsächlich war die in der Vorrede zur ersten Ausgabe des Jean Paul genannte doppelte Traditionslinie – „formend-antik[]“ bzw. „begrifflich“ und „farbig[]“ bzw. „klanglich[]“ (DD I, 7) –, die auf StG als ihren weiterführenden Vollender zugeschnitten war, durch die Bände Jean Paul, Goethe und Das Jahrhundert Goethes hinreichend präsentiert;4 der gewollte Abstand zu den zahlreichen Anthologien des 19. Jahrhunderts war deutlich genug.5 3 Älteste deutsche Dichtungen, übers. u. hrsg. v. Karl Wolfskehl u. Friedrich von der Leyen, zweisprachige Ausg., Leipzig 1909; Friedrich Wolters, Minnelieder und Sprüche. Übertragungen aus den deutschen Minnesängern des 12. bis 14. Jahrhunderts, Berlin 1909. 4 Zur Bedeutung dieser doppelten Tradition für das Werk StGs vgl. M. Gerhard, George und die deutsche Lyrik. 5 Vgl. Jörg Schönert, Die populären Lyrik-Anthologien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

4. Traditionsverhalten

609

4.1.2. Bildkünstlerische und typographische Ausstattung Die zunächst im Privatdruck erschienenen drei Bände wurden zu Lebzeiten StGs und Wolfskehls je zweimal bei Georg Bondi wieder aufgelegt, 1910, in der ersten öffentlichen Ausgabe, dann 1923 (Bde. 1, 3) bzw., auch wegen des Goethe-Jubiläums zeitversetzt, 1932 (Bd. 2). Die beiden ersten Ausgaben unterscheiden sich teilweise in textlicher Hinsicht, die zweite und die dritte bringen den gleichen Text. Während die erste in der halbfetten römischen Antiqua gesetzt ist, greifen die zweite und die dritte auf die nach StGs Handschrift stilisierte Drucktype zurück, die seit den ersten öffentlichen Ausgaben von StGs Werk Verwendung fand. In allen Ausgaben werden die ausgewählten Texte durch konsequente Kleinschreibung und Reduktion von ,tzt‘ zu ,zt‘ symbolisch dem Georgeschen Werk einverleibt, ebenso, mit Ausnahme der ersten Ausgabe des Jean Paul, durch den auf Mitte gesetzten Punkt (Hochpunkt). Die ursprüngliche bildkünstlerische und ornamentale, in die Typographie hinüberspielende Ausstattung durch Melchior Lechter wurde schon in der zweiten Auflage bis zu ihrer nahezu vollständigen Aufhebung zurückgenommen. Angestoßen bzw. bestärkt durch die von William Morris begründete Kelmscott Press, in der von 1891 bis 1896 in dichter Folge anspruchsvollste, an der mittelalterlichen Buchkunst und dem frühen Buchdruck orientierte Liebhaberausgaben entstanden waren, hatte Lechter seit Mitte der 90er-Jahre das Projekt eines Buchgesamtkunstwerks verfolgt, wenn auch ohne die sozialutopischen Vorstellungen seines Vorbilds. Nachdem er 1898 bereits viel beachtet Maeterlincks Der Schatz der Armen in Friedrich von Oppeln-Bronikowskis Übersetzung vorgelegt hatte, konnte er es nun in der Deutschen Dichtung, mit Unterstützung und zunächst auch mit dem Beifall StGs und Wolfskehls, abermals verwirklichen.6 Im Einzelnen blieb er dabei zwar hinter den Vorlagen zurück, so, bezogen auf die berühmteste Edition der Kelmscott Press, den 1896 erschienenen Chaucer, im Format (Oktav statt Folio) und in den Bildbeigaben (jeweils nur ein Frontispiz anstatt der 87 von Burne-Jones geschaffenen Illustrationen); doch zeigte sich die anregende Wirkung des Morrisschen Vorbildes außer im Gesamtkonzept auch in konkreten Gestaltungselementen wie der besonderen Schrift („Chaucer“ bzw. „Troy type“ / eigens für Deutsche Dichtung geschaffene Initialen u. a.), den Marginaltiteln (Bd. 1) und im mehrfarbigen Druck (schwarz und rot wie in der Chaucer-Ausgabe [Bde. 1, 2], zusätzlich blau [Bd. 3]).7 Zum Zusammenhang von Anthologiewesen und Trivialliteraturforschung, in: Sprachkunst 9/1978, S. 272–299; vgl. auch Joachim Bark, Anthologie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1: A – Bib, Tübingen 1992, Sp. 683. 6 „eben bekomme ich das J-P-Probebuch und will Ihnen unverzüglich etwas von meinem staunen und meiner bewunderung mitteilen. Nun hat sich nach langem zaudern und harren alles erfreulich gelöst und manches mit dem ich nicht einverstanden war erweist sich jezt als eine herrliche notwendigkeit sogar die stolzen buchstaben der vorrede“ (StG an M. Lechter v. 21.6.1900, zit. nach KTM, S. 157). „bei dieser entsetzlichen Brut-glut dorren alle Worte in Hirn und Hand und Schreibgriffel – sodaß ich mit letztester Kraft nur noch das eine Ihnen zurufen kann: daß Sie ein Wunderbuch geschaffen haben – unsern Jean Paul aus ihm und uns herausgefühlt und zur Zierlinie gebildet und daß wir Ihnen – das wir so weit gefaßt als es fühlende sehnende giebt – Ihnen wieder und wieder Dank schulden der sich nun allbereits zum Himmel türmt“ (K. Wolfskehl an M. Lechter v. 17.7.1900, zit. nach KTM, S. 158). Vgl. Wolfskehls Lob der Ausstattung des dritten Bandes (K. Wolfskehl an M. Lechter v. 1902, zit. nach KTM, S. 163). 7 Für Einzelheiten zur Kelmscott Press vgl. H. Halliday Sparling, The Kelmscott Press and William

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II. Systematische Aspekte

Für die Frontispize der beiden ersten Bände ließ sich Lechter auf die besondere Sicht Jean Pauls (Abb. 12) und Goethes (Bildtafel E links) ein, die StG / Wolfskehl in ihren Textauswahlen präsentierten, und auch bei der bildlichen Inszenierung der zwölf Dichter um die dem Jahrhundert seinen Namen gebende Gipfelgröße Goethe (Abb. 13) orientierte er sich an Vorgaben der Editoren. Ungeachtet dessen verfolgte er die Tendenz, nicht als Illustrator oder gar bloßer Verzierer in die zweite Reihe zu treten, sondern sich gemäß der leitenden Idee vom Buch als Gesamtkunstwerk gleichberechtigt neben StG und Wolfskehl zu behaupten. Stärker noch als an den anspruchsvollen Frontispizen ist diese Tendenz an der übrigen Ausstattung der Anthologie ablesbar. Keine einzige Seite blieb ohne ornamentalen Schmuck. Im GoetheBand beispielsweise, für dessen Normalseite Lechter noch mehr Aufwand betrieb als im Jean Paul, sind alle Gedichte mit kunstvollen quadratischen Initialen versehen und durch vier Zierleisten, die die Textseiten rahmen, wie Reliquien in einem Schrein gefasst bzw. ,festgestellt‘. Selbst Zwischentitel wie „Balladen“ bleiben nicht ohne ornamentales Dekor. Ein Signet mit Weihrauch spendender Urne rahmt den Textteil. Gegen den ursprünglichen Willen StGs und Wolfskehls konnte Lechter erreichen, dass die gesamte Einleitung, wie schon im Jean Paul und später in Das Jahrhundert Goethes, in Versalien gesetzt wurde (Abb. 11). Selbst noch im Titelblatt macht sich die ornamentale Tendenz geltend, indem mehrere Spatien der geometrischen Proportion wegen dekorativ gefüllt werden, und vollends im Inhaltsverzeichnis führt der horror vacui durch typographische Zierzeichen, die wie Lettern gesetzt werden konnten,8 zu ornamentaler Überladung. Titelblatt und Frontispiz weisen unübersehbar durch das Monogramm ML auf Lechter hin, den das Impressum der letzten Seite auch mit vollem Namen nannte. In der zweiten und der ihr weitgehend folgenden dritten Auflage vollziehen StG und Wolfskehl eine entschiedene Abkehr von Lechters Gesamtkunstwerkidee Buch und setzen, wie es zumal in der Tradition des Wortarbeiters Mallarme´ schon vorher nahegelegen hätte, ganz auf die Sprache. Lechters Beitrag bleibt, abgesehen von einer möglichen Mitarbeit an der nach StGs Handschrift geschaffenen Drucktype,9 auf die Gestaltung des Titelblatts mit dem 1898 geschaffenen Monstranz-Signet der BfdK sowie der gegenüberliegenden Seite, auf der die „Werke von Stefan George“ aufgeführt sind, beschränkt. Im Geiste dieser durch die neuerliche Auseinandersetzung mit Hölderlin verstärkten Rückbesinnung auf die Sprache sind auch Ute Oelmanns Neuausgaben nach der zweiten Auflage von Deutsche Dichtung gehalten, in denen die jeweils im Anhang einfarbig reproduzierten Frontispize lediglich dokumentarischen Zwecken dienen. Morris master-craftsman, London 1924; Friedrich Adolf Schmidt-Künsemüller, William Morris und die neuere Buchkunst, Wiesbaden 1955; zu Lechter ebd., S. 123–128; Raub, Lechter als Buchkünstler; Melchior Lechter. Der Meister des Buches. 8 Dazu Lechter programmatisch 1917 in Das Buch als Kunstwerk und sein inneres Gesetz: „Jeder ornamentale Figuren- oder Landschaftsschmuck hat sich aus dem Charakter der jeweiligen Drucktype organisch zu entwickeln, das heisst, er soll nichts anderes als den Schriftspiegel schmückend ausklingen lassen; mit anderen Worten: zwei gegenüberliegende Druckseiten sollen sich zum organischen Flächenbilde, mehrere Seiten zum einheitlichen Buche zusammenschliessen.“ Zit. nach Raub, Lechter als Buchkünstler, S. 15. 9 Vgl. dazu Karlhans Kluncker, Dichtung und Buchschmuck, in: Melchior Lechter. Der Meister des Buches, S. 20–60, hier: 53.

4. Traditionsverhalten

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4.1.3. Band 1: Jean Paul. Ein Stundenbuch für seine Verehrer Die Auswahl des ersten Bandes oblag im Wesentlichen StG, im Unterschied zu den folgenden Bänden, für die weitgehend Wolfskehl verantwortlich zeichnete. In der auf Paris folgenden Zeit der Rückbesinnung auf die deutsche Tradition war StG zwar möglicherweise erst durch Wolfskehl auf Jean Paul aufmerksam gemacht worden, doch setzte er sich in den Jahren 1895 bis 1900 so intensiv und selektiv mit diesem Dichter auseinander, dass er vermutlich, abgesehen von Zuarbeiten und Unterstützung bei der Korrektur der Druckfahnen, fremder Hilfe weder zu bedürfen glaubte noch bereit war, sie zu dulden.10 In den BfdK war bereits im Januar 1896 nachdrücklich auf den „unsterblichen Meister des Titan“ hingewiesen worden, und zwei Monate später ließ StG, anonym, seine Lobrede auf Jean Paul folgen.11 Schon vier Jahre vor dem Stundenbuch hob er an dem als „reine[r] quell der heimat“ gepriesenen Jean Paul die „auffallende[] verwandtschaft“ mit den zeitgenössischen dichterischen Be10 An der Korrektur war Friedrich Gundolf maßgeblich beteiligt, auch bei den beiden folgenden Bänden. Vgl. StG an F. Gundolf v. 6.4.1900: „nun hab ich mich selbst ernster an die besserung der bögen gewagt und muss leider die undankbare bemerkung machen dass sowol Ihre als K. W.’s ganz bedenkliche lücken aufweist. […] Dass ich der ungelehrteste Ihnen den deutschen gelehrten: sorgsamkeit + gewissenhaftigkeit predige!!“ (G/G, 50) Zu Gundolfs Mitarbeit an Deutsche Dichtung vgl. auch dessen Interpunktionsprinzipien zum Goethe-Band (WG I, 140). 11 Wiederabdruck im Abschnitt Lobreden von Tage und Taten (1903), nun namentlich gezeichnet (XVII, 52–54).

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II. Systematische Aspekte

strebungen hervor, ja er stellte ihn geradezu als „ein[en] vater der ganzen heutigen eindruckskunst“ dar. Ebenfalls vorgezeichnet ist die spätere Gegenüberstellung mit Goethe: Während seine „hohen zeitgenossen“ ihre „befriedigung“ darin gefunden hätten, „empfundene und geschaute wirklichkeiten deutlich wiederzugeben“, sei es Jean Pauls „heiliges streben“ gewesen, „den zauber der träume und gesichte“ zu verwirklichen (XVII, 52); der Schlussabschnitt kommt auf die damit ausgesprochene Komplementarität mit den Worten zurück: Wenn Du höchster Goethe mit Deiner marmornen hand und Deinem sicheren schritt unsrer sprache die edelste bauart hinterlassen hast so hat Jean Paul der suchende der sehnende ihr gewiss die glühendsten farben gegeben und die tiefsten klänge. (XVII, 54)

Selbst das später im Stundenbuch konsequent befolgte Prinzip, „einige seiten […] von überraschender neuheit unveränderlicher pracht“ aus ihrem jeweiligen „zusammenhang“ zu lösen,12 ist schon 1896 erkennbar, lässt StG doch seinem Lobpreis eines „der grössten und am meisten vergessenen“ deutschen Dichters eine quasi-anthologische Auswahl von sechs aus dem Zusammenhang gerissenen Stellen aus dem Hesperus folgen, die, mit der Vorschule der Ästhetik zu sprechen, auf Kosten der „niederländischen“ die „italienische“ Seite Jean Pauls zur Geltung bringen13 und auch in der Abweichung von der ursprünglichen Textfolge – antirealistischen bzw. antinaturalistischen – aktuellen poetologischen Bedürfnissen folgen. Von ihnen spricht auch das 1899 im Teppich des Lebens veröffentlichte Gedicht „Jean Paul“. Mit der Apostrophe „Du voll vom drange der den Gott verbürgt“ und den nicht minder emphatischen Worten „In dir nur sind wir ganz“ wird auf eine gegenwärtige Verbindlichkeit Jean Pauls gezielt, die der Schluss metaphorisch aufnimmt und im gesteigerten Klangreichtum performativ bekräftigt: Du bist der führer in dem wald der wunder Und herr und kind in unsrem saatgefild. Du regst den matten geist mit sternenflören Dann bettest du den wahn auf weichem pfühl . . Goldharfe in erhabnen himmels-chören Flöte von Maiental und Blumenbühl! (V, 53)

Es ist dieser alles Bedrängende durch das Wort ins hochgestimmt Seelenhafte erhebende Jean Paul, den Lechter in seinem Titelblatt zum Stundenbuch ins Bild setzt, indem er den irdischen Vorder- und den kosmischen Hintergrund miteinander ver12 Wenn später in der „Gesamt-Vorrede zu Deutsche Dichtung“ von „jene[r] wählende[n] grausamkeit“ die Rede ist, „die ohne bedenken frühere säulen zerreibt um mörtel zu gewinnen fürs neue bauwerk“, so verweist diese Metaphorik auf die Autorität von Nietzsches historismuskritischer zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung. 13 „zur zeit in der man die edlen formen mit lächerlichen anhängen hässlichen schnörkeln und überflüssigen zierraten versah und wenn mitten im trauten gespräch der liebenden ihr des schlummernden vaters rohes gelalle hören und mitten in einem erhabenen sternen-chore bis auf die minute erfahren müsst wann der mond aufgeht: so ist dies ein jäher rückruf · der peinliche unvermeidliche schlag den der dichter sich und euch wiedergibt so wie ihn seine hehre seele in all den kleinen städten an all den kleinen höfen vom niederen leben empfing“ (XVII, 53).

4. Traditionsverhalten

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webt und die Kunst durch die zentral platzierte Harfe, unterstützt von sakraler Zahlensymbolik (3, 7, 12), zur höchsten, alles Getrennte zur Einheit umschaffenden Macht verklärt (Abb. 12). ,Stundenbuch‘ heißt ein Brevier mit Gebeten für die einzelnen Tageszeiten. Wenn Wolfskehl und StG in der zweiten Auflage des Jean Paul auf den Untertitel Ein Stundenbuch für seine Verehrer verzichteten, so nicht, weil sie sich von der damit ausgesprochenen Sakralisierung der Dichtung distanziert hätten, sondern möglicherweise wegen des darin mitschwingenden Ausschließlichkeitsanspruchs, der ja ihrer eigenen Überzeugung von der notwendigen Ergänzung „Jean Pauls“ durch „Goethe“ ebenso wie der Wertschätzung der zwölf für Das Jahrhundert Goethes ausgewählten Lyriker, besonders Hölderlins, widersprach. Die Vorrede zur ersten Ausgabe des Stundenbuchs stellt noch stärker als die Lobrede von 1896 heraus, dass es einer „teilung“ des Jean Paulschen Werks, des Verzichts nämlich auf „tatsachenschilderung“, „fabeln“, „launige[] und derbscherzhafte[] anfügsel“, bedürfe, um die „neue und hohe“ gegenwärtige Bedeutung des Dichters hervortreten zu lassen. Erst in solcher Einseitigkeit komme „das farbige und klangliche“ als zweite „ebenso bedeutsame[]“ Linie neben der „formend-antiken und begrifflichen“ Goethes zur Geltung, und nur aus dem „gleichmässige[n] erforschen und würdigen“ beider sei die „neueste entfaltung“ der deutschen Dichtung angemessen zu verstehen. Gegen kritische Einwände, wie sie Rudolf Alexander Schröder vorgebracht hatte,14 bekräftigte die Vorrede zur zweiten Ausgabe noch einmal, allein darum sei es gegangen, dass der noch ungesehene Jean Paul der töne und träume, durch diese seiten offenbart, zum erstenmal von einer gemeinschaft gesehen wurde und dass die grösste dichterische kraft der Deutschen (nicht der grösste dichter, denn der ist Goethe) nun nicht mehr gänzlich ungenuzt daliegen muss.

14 Zeitgenössische Besprechungen des Stundenbuchs: F[elix] P[oppenberg], in: Die Neue Rundschau 14/1903, 12 (Dez.), S. 1339–1340 (Auszug in: KTM, S. 160); S. [Rudolf Alexander Schröder], in: Die Insel 1/1900, 4 (August), S. 244–250 (Auszüge in: KTM, S. 159f.); W[alter] v[on] Z[ur] W[esten], in: Zeitschrift für Bücherfreunde IV/8 (Nov. 1900), S. 311. Nachweis dieser und der Rezensionen zur zweiten Ausgabe des Stundenbuchs wie auch derjenigen zu den bei Lebzeiten der Herausgeber erschienenen Auflagen der beiden weiteren Bände von Deutsche Dichtung bei Schlösser, Karl Wolfskehl, S. 39–42.

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II. Systematische Aspekte

Bei der Auswahl aus Jean Pauls Werk stehen die von StG auch ausdrücklich als maßgeblich hervorgehobenen Romane Die unsichtbare Loge, Hesperus und Titan im Vordergrund,15 während den Biographischen Belustigungen, dem als Blumen-, Fruchtund Dornenstücke angeführten Siebenkäs und den Flegeljahren jeweils nur wenige Passagen entnommen sind, die aber ebenfalls, wie die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei, fast ausschließlich den Traumvisionär, den Metaphernkünstler und den Klang- und Farbenzauberer Jean Paul zur Geltung bringen. Die Abfolge der herangezogenen Werke folgt der Chronologie der Erstveröffentlichungen, die der ausgewählten Stellen der jeweiligen Textfolge, wiederholt mit leicht veränderten oder eigens gewählten Titeln, gelegentlich mit Auslassungen innerhalb der anthologischen Stücke. Eine Sonderstellung nehmen die abschließenden „Streckverse“ ein, die Jean Paul u. a. auch als „Lang-Vers[e]“ oder „Polymeter“ bezeichnet hatte. Sie sind verschiedenen Werken entnommen, auch solchen, in denen sie nicht als Kleingattung eigenen Rechts unter einem entsprechenden Titel ausgewiesen waren, und stellen Jean Paul noch einmal als Verfasser von Prosagedichten als Vorläufer Baudelaires und späterer französischer Dichter heraus.16 In ihrer gesteigerten Selbstbezüglichkeit sind sie nicht mehr an der ursprünglichen Textfolge, sondern an thematischen Gesichtspunkten orientiert. Der erste Streckvers, „Der Widerschein des Vesuvs im Meer“, beispielsweise, feiert die „muse“, die es den „unglücklichen“ ermöglicht, den „schweren jammer der welt“ in ihrem „ewigen spiegel“ freudig zu ertragen, und der letzte, „Der Mensch ohne Poesie“, bekräftigt, damit korrespondierend: so hast du an der welt einen ewigen frühling; denn du hörst unter allen gipfeln und wolken gesänge, und selber wenn das leben rauh und entblättert weht, ist in dir ein stilles entzücken, von welchem du nicht weißt, woher es kommt; es entsteht aber, wie das ähnliche in den blätter- und wärmelosen vorfrühlingen des äusseren wetters, von den gesängen umher. (DD I, 103)

Im Jean Paul ist zwar durchaus von Trennung, Schmerz und Tod die Rede – selbst der zerrissene Roquairol aus dem Titan darf, wenn auch nur kurz, auftreten –, doch wird der Dichtung eine allversöhnende Kraft zugeschrieben, die letztlich zum weitgehenden Ausschluss des empirisch allzu Bedrängenden und existenziell unrettbar Verstrickten zugunsten des verklärenden Wortes führt. „Jean Pauls Blütenmeer, für ihn selbst nur Linderung angesichts der Erfahrung des Todes, wird George zum Raum seines Gottes, den er aus der Trostlosigkeit erschafft.“17 15 „Das Werk dieses Dichters (abgesehen von den Lehren der Weisheit des Schönen der Erziehung u. a.) heisst: ,Unsichtbare – Hesperus – Titan‘ die eins aus dem anderen kommend nicht getrennt werden dürfen. Alles andre ist angliederung (im buch daher kleinster teil)“ (Postkarte StGs v. 11.5.1900 an einen nicht genannten Freund [wohl K. Wolfskehl, vgl. KTM, S. 57], zit. nach ES, S. 180). 16 Zu Jean Pauls „Streckversen“ vgl. Peter Horst Neumann, Streckvers und poetische Enklave. Zu Entstehungsgeschichte und Form der Prosagedichte Jean Pauls, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 2/1967, S. 13–36. – In Bezug auf Baudelaires Spleen de Paris sprach StG von „Prosagedichten“, im Blick auf einschlägige eigene Texte in Tage und Taten von „ungebundner rede“ (XVII, 80, 7). 17 Böschenstein, Umrisse, S. 177; Speier, Ästhetik Jean Pauls, mit abweichender Akzentuierung: „Für George verbürgte die Ausdrucksgebärde der Jean Paulschen Begeisterungsstellen, die im ,Stundenbuch‘ gesammelt sind, das Nur-Göttliche jenes Dranges, der dionysisch hervorbricht,

4. Traditionsverhalten

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4.1.4. Band 2: Goethe Der zweite und der dritte Band der Anthologie bringen nach der Prosa bzw. den Prosagedichten des ersten Bandes ausschließlich Lyrik. Mit der Entscheidung für Goethe folgen StG und Wolfskehl dabei zwar, anders als im Falle Jean Pauls, dem Kanon des 19. Jahrhunderts, das Goethe und, mehr noch, Schiller als die deutschen Dichter schlechthin vereinnahmt hatte; doch ist die aktuell-poetologische Indienstnahme wiederum nicht zu übersehen. Sie zeigt sich in der – durch die Auswahl selbst nur bedingt gedeckten – programmatisch-einseitigen Festlegung Goethes auf das „formend-antike[] und begriffliche[]“. Sie kommt darin zum Ausdruck, dass die „teils liedhaften teils erzählenden kleineren gedichte“ als „eigenste[] und wesentlichste[] gebilde“ des Dichters ausdrücklich herausgehoben werden, die „zugleich den grundstoff aller seiner breiteren schöpfungen“ in sich trügen. Und auch in der aus Goethes Lyrik getroffenen, wiederum streng scheidenden Auswahl kommen der programmatischen Vorgabe zufolge aktuelle Bedürfnisse zum Ausdruck: „Bei unserer sammlung fällt jeder vergleich weg mit blütenlesen die das deutschtümlich derbe oder das weichlich empfindsame zusammentrugen: Wir wählten aus was uns die tiefsten lebensgluten in der schönsten bändigung zu enthalten schien“ (DD II, 6). Mit dem Ausschluss des „deutschtümlich derbe[n]“ zielen StG und Wolfskehl damit einerseits in die gleiche Richtung wie bei der Nichtberücksichtigung von Jean Pauls „launigen und derbscherzhaften anfügsel[n]“; andererseits stellen sie durch die Ablehnung des „weichlich empfindsame[n]“ zugunsten der „tiefsten lebensgluten in der schönsten bändigung“ die „formend-antike[]“ Gestaltungskraft Goethes heraus, derer die sich auf Jean Paul berufende Ausrichtung auf das „farbige und klangliche“ als Gegengewicht bedürfe. StG hatte in dem am 28.8.1899 entstandenen, 1907 im Siebenten Ring veröffentlichten Gedicht „Goethe-Tag“ dem vorherrschenden Goethebild des Zweiten Deutschen Kaiserreiches mit schneidender Schärfe entgegengehalten: Ihr nennt ihn euer und ihr dankt und jauchzt – Ihr freilich voll von allen seinen trieben

um den Zwiespalt durch Rausch und Klang zu überwinden und die zerstückte Welt wiederherzustellen: ,Der du uns aus der qual der zweiheit löstest‘“ (Speier, Ästhetik Jean Pauls, S. 130; „Begeisterungsstellen“ geht auf § 86 der Vorschule der Ästhetik zurück; George-Zitat: SW VIII, S. 9). Weitere kritische bzw. historisierende Stimmen: „Mit scharfer Konsequenz haben Stefan George und Karl Wolfskehl diesen einseitig seraphischen Gesichtspunkt durchgeführt […]. Diese merkwürdige Vereinseitigung und somit Verzeichnung des Bildes unseres Dichters hat in der Situation um die Jahrhundertwende sicher eine historische Aufgabe erfüllt und Wesentliches zur Jean-Paul-Renaissance beigetragen, aber heutzutage ist sie gänzlich überholt“ (Herman Meyer, Jean Pauls ,Flegeljahre‘ [zuerst 1963], in: Jean Paul, hrsg. v. Uwe Schweikert, Darmstadt 1974, S. 241f., Anm.). „Jean Paul als ätzender Satiriker, als Schüler Swifts und Blutsbruder Rousseaus, Naturenthusiast wie dieser und zugleich Rebell gegen die Knechtung des Menschen, flammender Ankläger der deutschen Misere seiner Zeit, Bedrückung und Dünkel oben, Elend und Servilität unten: das hat Stefan George bewußt übergangen, als er aus dem Werk nur die Träume herauslöste und die leicht erotisierten Jünglingsgestalten. Georges eigener Imperialismus – herrisch formulierter Abglanz einer aggressionsgeladenen Ära – hat wenig genug zu tun mit dem Humanitätsdenken Jean Pauls, das in der großen europäischen Tradition des 18. Jahrhunderts wurzelt, Aufklärung mit Enthusiasmus verbindet, die Menschenrechte heilig hält, Mitleid als höchste Tugend achtet“ (Robert Minder, Jean Paul oder die Verlassenheit des Genius [zuerst 1966], in: ebd., S. 272).

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II. Systematische Aspekte

Nur in den untren lagen wie des tiers – Und heute bellt allein des volkes räude … Doch ahnt ihr nicht dass er der staub geworden Seit solcher frist · noch viel für euch verschliesst Und dass an ihm dem strahlenden schon viel Verblichen ist was ihr noch ewig nennt. (VI/VII, 11)

Die maßgeblich von Wolfskehl getroffene, von StG geprüfte, autorisierte und mitverantwortete Auswahl aus Goethes Lyrik enthält zwar mit dem „Erlkönig“, „An den Mond“ oder den beiden Fassungen von „Wandrers Nachtlied“ eine Reihe von Gedichten, die zuvor schon in den Kanon aufgenommen worden waren und sich dort bis heute gehalten haben;18 doch setzt sie in dem, was sie aufnimmt, wie in dem, was sie weglässt, entsprechend den Schlussversen von „Goethe-Tag“ eigenwillige Akzente. Bei der Binnengliederung ihrer Zusammenstellung orientierten sich StG / Wolfskehl – bedingt – an der von Goethe 1815 bzw. 1827 vorgenommenen Ordnung seiner Gedichte in einzelne Gruppen. An den Beginn stellten sie „Zueignung“ mit den poetologischen Schlussversen „Aus morgenduft gewebt und sonnenklarheit · / Der dichtung schleier aus der hand der wahrheit“ (DD II, 9). Es folgten die unterschiedlich umfangreichen Abteilungen „Lieder“, „Aus Wilhelm Meister“, „Balladen“, „Elegien“, „Sonette“, „Hymnen und Oden“, „West-östlicher Divan“ sowie „Gott und Welt“. Diese Gruppentitel waren zwar mit Ausnahme der „Hymnen und Oden“19 Goethe entnommen, vermittelten aber schon durch den Wegfall von Abteilungen wie „Epigramme“ oder „Antiker Form sich nähernd“ ein anderes Bild von dessen Lyrik als der Autor selbst es hatte geben wollen. Umso mehr gilt dies, wenn man die getroffene Auswahl in quantitativer und qualitativer Hinsicht analysiert. Aus dem frühen Werk wurden u. a. „Willkommen und Abschied“, „Auf dem See“ oder die „Prometheus“- und die „Ganymed“-Hymne aufgenommen, nicht aber „Mailied“ und „Heideröslein“. Die mittlere Schaffensperiode ist mit Gedichten aus Wilhelm Meisters Lehrjahren, drei der „Römischen Elegien“ und nicht weniger als fünf der sonst nicht so sehr beachteten Sonette vertreten. Mit einem knappen Drittel nimmt der West-östliche Divan (ohne die Goethesche Binnengliederung) eine überragende Stellung ein, und auch die Auswahl des dritten und des achten Gedichts der Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten sowie der beiden Dornburger Gedichte von 1828 weisen auf die besondere Wertschätzung des lyrischen Spätwerks von Goethe hin. Damit vollziehen StG / Wolfskehl eine Abkehr von dem zu Beginn des Zweiten Deutschen Kaiserreiches vorherrschenden, auf das Frühwerk fixierten Goethebild und dem verbreiteten naiven Verständnis vom Gedicht als unmittelbarem Herzensausdruck.20 Zugleich sperren sie sich gegen das Derb-Humoristische („Hans Sachsens 18 Vgl. Braam, Die berühmtesten deutschen Gedichte, S. 283. 19 Oden im älteren Verständnis, nicht in dem des späteren Hölderlin. 20 Vgl. dazu H. v. Hofmannsthal an StG v. 24.7.1902: „Man sagte mir, sie hätten von Goethes Gedichten alle fortgelassen, denen der Volkston anhaftet. […] Auch mir erscheint der volksthümelnde Ton als eine der schlimmsten Verirrungen unserer Vorgänger: und doch wenn ich bedenke, wie ihn Goethe gleichsam als Hirtenpfeife brauchte, wenn ich Uhland, Mörike bedenke, werde ich schwankend und wünsche mir eine Belehrung von Ihnen.“ StG antwortete Ende Juli 1902: „Den Goethe der Bl. f. d. K. sende ich ihnen hier gern […]. [Daran] knüpf ich die erklärung dass mich Ihre frage wegen des ,volks-tons‘ etwas erstaunt. Es giebt in jeder dichtung alte weisen

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poetische Sendung“), die aggressive Epigrammatik (das die Auswahl beschließende Xenion „Wenn im unendlichen dasselbe“ ist ohne Schärfe), das Belehrende („Metamorphose der Pflanze“), das Bürgerliche („Der Bräutigam“), und es fehlen durchweg Gelegenheitsgedichte im engeren Sinn („Auf Miedings Tod“). Auffällig ist auch, dass nur drei Balladen aufgenommen werden und herausragende Gedichte wie „Harzreise im Winter“ oder „Alexis und Dora“ keine Berücksichtigung finden.21 Insgesamt ergibt sich ein Bild Goethes, das diesen aus persönlichen und pragmatischen Bindungen löst, das Spektrum seiner Lyrik stark reduziert, den Dichter als artistischen Formenkünstler und damit als Vorläufer des frühen StG vereinnahmt. Mit der Hervorhebung des West-östlichen Divans knüpfen StG / Wolfskehl an Nietzsches Äußerungen über Goethes Spätwerk an,22 dessen annähernd zeitgleiche wissenschaftliche Entdeckung u. a. Burdach, Simmel und Helene Hermann zu danken ist.23 Bernhard Böschenstein spricht von der „kreative[n] Einseitigkeit“ der George-Wolfskehlschen Goethe-Anthologie.24 Claude David resümiert: „Eine strenge Auswahl […], welche Tiefe und Formvollendung eher als Spontaneität und Frische hervorhebt: Von Goethes Schaffen wird das behalten, was dem Georgeschen Ton am nächsten entspricht.“25 Kritischer, mit verdeckt gegen den Nationalsozialismus gerichteter Tendenz argumentiert der wegen des Veröffentlichungsdatums 1937 in der neueren Forschung nicht mehr zur Kenntnis genommene Hans Gerhard: George will die Kunstreligion der Klassik erneuern, aber nicht die Humanität der Klassik. […] Die Lehren Nietzsches trennen George von Goethe. Nur Formales hat George mit dessen Humanität gemein: nur die Selbstzucht, der [!] Glaube an die Einheit der Begriffe Schön, Gut und Wahr, wobei noch einmal betont sei, dass Georges Vorstellung von Gut sich nicht mit der Goethes deckte.26

Wie im Frontispiz zu Jean Paul stilisiert Lechter in dem zu Goethe den Dichter ins Erhabene (Bildtafel E links). Während er dort aber kosmische Ferne und vegetabilische Nähe reizvoll verbindet, zeigt er hier, innerhalb eines streng begrenzten fensterunbekannter verfasser die weder durch ,volk‘ noch ,ton‘ irgendwie umschrieben sind. Einige davon erregen wunderbar, die meisten verdecken durch die verstümmelung der überlieferer ihre offenkundige albernheit. Wollten nun gar Spätere das nachahmen, so wär es abgeschmackt und lächerlich“ (G/H, 165–167). 21 Auch das Erotisch-Freizügige fehlt, für das die Anthologisten sich im Übrigen durchaus interessierten. Vgl. F. Gundolf an StG v. 5.8.1899 über das von Goethe sekretierte Gedicht „Tagebuch“, das damals nur in einem Privatdruck S. Hirzels von 1860 vorlag (G/G, 31). 22 „Nicht Individuen, sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Localfarben zum fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige Empfinden und die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedrängt, ihrer reizenden, spannenden, pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem artistischen Sinne wirkungslos gemacht; keine neuen Stoffe und Charaktere, sondern die alten, längst gewohnten in immerfort währender Neubeseelung und Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe später verstand, so wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen übten“ (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I und II, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980 [Kritische Studienausgabe 2], S. 184). 23 Vgl. Mandelkow, Goethe, S. 239. 24 Böschenstein, Umrisse, S. 177. 25 David, Stefan George und Goethe, S. 169. 26 H. Gerhard, George und die deutsche Dichtung, S. 52.

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II. Systematische Aspekte

artigen Rahmens, einen realistischen Aufbau der Raumelemente, die vom Vordergrund mit Weg und Wald über einen sich steil auftürmenden wolkenbedeckten Berg bis zum Sternenhimmel reichen. Dabei platziert er, anders als beim Frontispiz zum ersten Band, wo der Titeltext außerhalb des eigentlichen Bildes bleibt, den Namen Goethe genau an der Stelle, wo sich der wolkenverhangene Gipfel in die kosmische Unendlichkeit weitet. Die Entsprechungen zu der die Goethe-Anthologie eröffnenden „Zueignung“ bleiben äußerlich. Eine direktere – stärker monumentalisierende – und damit auch plattere Tendenz ist nicht zu verkennen. Wie in den Worten StGs und Wolfskehls erscheint Goethe als „der grösste“ aller deutschen „dichter“. 4.1.5. Band 3: Das Jahrhundert Goethes Auch die unter dem Titel Das Jahrhundert Goethes stehende Auswahl von zwölf Lyrikern zwischen Klopstock und Conrad Ferdinand Meyer ist an den mit Jean Paul und Goethe aufgerufenen Traditionslinien orientiert, deren produktive Weiter- und Zusammenführung die Vorrede zum ersten Band der Deutschen Dichtung gefordert hatte. Während Uhland nicht berücksichtigt wurde, wird dem im 19. Jahrhundert ebenfalls hochgeschätzten Hebbel27 ein bedeutender Platz eingeräumt, und auch im Verzicht auf die Droste bei gleichzeitiger Aufnahme des leichter eingänglichen Lenau zeigen sich die Herausgeber – wie im Falle des Goethe hatte im Wesentlichen Wolfskehl die Auswahl getroffen – noch dem überkommenen Kanon verpflichtet.28 Zugleich aber sprechen sie sich in ihrer Auswahl gegen den traditionellen Kanon für den als Lyriker bis dahin kaum beachteten Conrad Ferdinand Meyer und den trotz der ihm gewidmeten Vertonungen ebenfalls unterschätzten Mörike aus, gestehen dem Nationalheros Schiller nur noch eine bescheidene Rolle zu, lassen im Falle Eichendorffs die populäre Lyrik zugunsten der Sonette in den Hintergrund treten29 und 27 Beispielsweise findet sich das von StG und K. Wolfskehl aufgenommene Gedicht „Herbstbild“ in den zwischen 1844 und 1902 erschienenen Anthologien bei Bodenstedt (1867), Polko (6. Aufl. 1871), Storm (1875), Bartels (2. Aufl. 1897) und Sosnosky (1901); vgl. Alexander Reck, Gedichte von Friedrich Hebbel in Anthologien des 19. Jahrhunderts, in: Günter Häntzschel (Hrsg.), Gefühl und Reflexion. Studien zu Friedrich Hebbels Lyrik, Neuried 1998, S. 255–268. 28 Beispielhaft dafür die zwischen 1877 und 1903 nicht weniger als neunmal aufgelegte Auswahl Deutscher Gedichte. Im Anschluß an die Geschichte der deutschen National-Litteratur von Professor Dr. Hermann Kluge. Noch in der neunten Auflage, Altenburg 1903, fehlen Brentano, Mörike und C. F. Meyer. Die 1903 erschienene Auflage der Rausch-Echtermeyerschen Anthologie berücksichtigt zwar Mörike, doch mit keinem der bei StG und Wolfskehl wiedergegebenen Gedichte (Prawer, Mörike, S. 53). 29 „Im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts, in den Jahren also, in denen die Identifikation Eichendorffs mit der ,Volksseele‘ einen Höhepunkt erreicht, bieten Echtermeyers ,Deutsche Gedichte‘, Wolffs ,Poetischer Hausschatz des Deutschen Volkes‘ und Fränkels (Avenarius’) ,Hausbuch deutscher Lyrik‘ in ihren Eichendorff-Auswahlen jeweils mehr Gedichte in der vierzeiligen ,Volksliedstrophe‘ als in allen übrigen Strophen- und Versformen; im übrigen bevorzugen sie deutlich die bereits vertonten Gedichte. Profil gewinnt diese gemeinsame Vorliebe bei einem Vergleich mit der Eichendorff-Auswahl in der Sammlung ,Deutsche Gedichte‘, die Stefan George und Karl Wolfskehl 1902 veranstalteten. Dort wird in dem Bande ,Das Jahrhundert Goethes‘ bewußt ein anderer Eichendorff, dem man erst in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts wieder größere Aufmerksamkeit zukommen läßt […], hervorgekehrt, und dabei treten nicht nur die Sonette, sondern auch andere, kunstmäßigere Versfügungen so in den Vordergrund, daß der ,volksliedar-

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reagieren idiosynkratisch auf ein zwar auch von ihnen geschätztes, doch vermutlich – nicht zuletzt durch die Vertonungen – als „zu verbraucht“ eingeschätztes Gedicht wie Heines „Ich weiß nicht was soll es bedeuten“.30 Hölderlin ist schon in der ersten Auflage von Das Jahrhundert Goethes, vorzugsweise mit alkäischen und asklepiadeischen Oden, gut vertreten; auf „Andenken“, mit dem die Auswahl in der ersten Auflage schließt, folgt in der zweiten die Hymne „Wie wenn am Feiertage“, die mit den anderen von Hellingrath entdeckten, veröffentlichten und als „eigentliche[s] Vermächtnis“ gepriesenen späten Hymnen31 die überragende Rolle vorbereitet, die der Dichter im 20. Jahrhundert spielen wird. Gut vertreten sind auch Novalis, dem StG bereits mittelbar bei den französischen Symbolisten begegnet war32 und dem zwischen 1898 und 1907 nicht weniger als drei Werkausgaben gewidmet wurden (Meissner / Hille, Heilborn, Minor), sowie der um 1900 nicht übermäßig geschätzte Brentano, den Wolfskehl wiederholt Gundolf ans Herz gelegt hatte,33 und, außerordentlich breit, unmittelbar vor seinem scharfzüngigen Gegner Heine platziert, Platen, wie Eichendorff vorzugsweise mit Sonetten und mit Rücksicht auf die Zyklenbildung dieses Dichters. Von den Lyrikern, deren Aufnahme zunächst in Betracht gezogen worden war – nach Wolters nicht weniger als ein halbes Hundert (FW, 217) –, die dann aber ausgeschieden wurden,34 hat Wolfskehl später der Droste eine eigene Anthologie gewidmet.35 Die Zahl der nach ihren Geburtsdaten gereihten Lyriker ist sakraler Symbolik geschuldet: Wie um Christus beim Abendmahl sind um die Jahrhundertgestalt Goethe, gleichsam zum poetischen Abendmahl, zwölf Jünger versammelt. Wenn am Schluss der Klopstock-Auswahl „Der säemann säet den samen“ von Claudius steht, ohne dass dessen Name fiele, nur durch drei Sternchen von dem vorausgehenden Gedicht „Erinnerungen“ getrennt,36 so beruht das, wie Ute Oelmann nachweist, nicht auf StGs sonstiger Geringschätzung dieses Dichters, der keine namentliche Nennung verdiente,37 und ist ebenso wenig der zahlensymbolisch erwünschten Beschränkung auf

tige Vierzeiler‘ nurmehr in drei von 22 Gedichten anzutreffen ist“ (Eberhard Lämmert, Eichendorffs Wandel unter den Deutschen, S. 248f., Anm. 38; vgl. auch S. 44). 30 StG in seiner Antwort auf eine von Wolfskehl getroffene Vorauswahl; dort heißt es: „[Ich weiss nicht …] trotz allem gut! / nur unaufnehmbar / für heute“ (ES, 184f., zit. bei Oelmann, Nachwort, in: DD III, S. 197f.). 31 Norbert von Hellingrath, Vorrede, in: Friedrich Hölderlin, Gesammelte Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 4, besorgt v. N. v. Hellingrath, München, Leipzig 1916 (zit. nach GK, S. 117). 32 Vgl. Werner Vordtriede, Novalis und die französischen Symbolisten. Zur Entstehungsgeschichte des dichterischen Symbols, Stuttgart 1963. 33 Vgl. W/G I, S. 33, 40, 61. Gundolf machte sich diese Wertschätzung zu eigen, ja er steigerte sie noch und stellte Brentano mit Hölderlin über die anderen zehn in Das Jahrhundert Goethes versammelten Lyriker (S. 163f., 168), gerade auch den von Wolfskehl außerordentlich geschätzten C. F. Meyer (S. 168). 34 Unter anderem Chamisso, Daumer, Droste, Geibel, Grillparzer, Heyse, Keller, Kerner, Leuthold, Rückert, Storm, Tieck, Uhland. 35 Annette von Droste-Hülshoff, Gedichte, München 1923 (der Name des Herausgebers wurde irrtümlich vergessen, erschien aber in späteren Anzeigen). 36 Auch das Schiller zu Unrecht zugeschriebene Gedicht „Dass du mein auge wecktest zu diesem goldenen lichte“ wurde durch Asterisken abgesetzt. 37 „,Claudius, quelle adresse!‘“ soll StG Salin zufolge abfällig bemerkt haben (ES, 183).

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II. Systematische Aspekte

zwölf Lyriker geschuldet: Die zugrunde gelegte Reclam-Ausgabe hatte das Gedicht irrtümlich Klopstock zugesprochen (DD III, 221). Dass die Anthologie gerade mit Klopstock einsetzte, dürfte sich der Aufwertung dieses Dichters als poeta vates wie auch seiner gemeinschaftsbildenden Kraft und der auf Goethe, Hölderlin und Nietzsche vorausweisenden harten Fügung seiner Verse verdanken. Das Jahrhundert Goethes setzt schon im ersten Gedicht mit „Die stunden der weihe“ einen starken poetologischen Akzent, der sich u. a. über Schillers „Nenie“ [!] („Auch ein klaglied zu sein im mund der geliebten · ist herrlich · / Denn das gemeine geht klanglos zum Orkus hinab“), Hölderlins „Andenken“ („Was bleibet aber stiften die dichter“) und Mörikes „Auf eine lampe“ („Was aber schön ist · selig scheint es in ihm selbst“) bis zu Conrad Ferdinand Meyers „Chor der toten“ fortführt, der die Sammlung beschließt: Und was wir an gültigen sätzen gefunden · Dran bleibt aller irdische wandel gebunden · Und unsere töne · gebilde · gedichte Erkämpfen den lorbeer im strahlenden lichte · Wir suchen noch immer die menschlichen ziele – Drum ehret und opfert! Denn unser sind viele!

Als besonderer Typ des poetologischen Gedichts ist auch das Dichtergedicht durch Eichendorffs „An Fouque´“, Platens „Sophokles“ und „Jean Paul“, Heines „An A. W. Schlegel“, Hebbels „Kleist“ und Mörikes „An Sappho“ sowie Hölderlins „Empedokles“ – mit den Versen „Hättest du / Nur deinen reichtum nicht · o dichter · / Hin in den gärenden kelch geopfert!“ – gut vertreten. Die von StG und Wolfskehl aufgenommenen, erwogenen, dann aber ausgeschiedenen wie auch die seinerzeit bekannteren, doch nicht berücksichtigten Gedichte der zwölf Lyriker können hier nicht einzeln besprochen werden. Stattdessen sei auf Spezialliteratur wie Böschensteins Analyse der Meyer-Auswahl und, noch einmal, trotz gelegentlicher Korrekturbedürftigkeit, auf die in der neueren Forschung unbeachtet gebliebene Monographie von Gerhard verwiesen. Zusammenfassend ist, abgesehen von der mit Goethe / Jean Paul bezeichneten Doppeltradition, festzuhalten: 1. StG / Wolfskehl nehmen an den von ihnen zugrunde gelegten Texten zahlreiche Änderungen vor. Sie wählen Titel, wenn solche fehlen („Hymne“ für Hölderlins „Wie wenn am Feiertage“), und scheuen, wo sie Verbesserungschancen sehen, auch nicht vor Textänderungen zurück (in Schillers „Die Größe der Welt“ statt „Anzufeuren den Flug weiter zum Reich des Nichts, / Steur ich mutiger fort, nehme den Flug des Lichts, / Neblicht trüber / Himmel an mir vorüber, / Weltsysteme, Fluten im Bach / Strudeln dem Sonnenwandrer nach“: „Weltenkreise · fluten im bach“38). 2. Die Tendenz, die anthologisch zitierten Gedichte nicht nur formal – durch Interpunktion und Kleinschreibung –, sondern auch inhaltlich StGs Dichtungsverständnis zu inkorporieren, zeigt sich noch stärker in den auffälligen Kürzungen einzelner Gedichte. So ist von Hölderlins Elegie „Brot und Wein“ nur die erste Strophe, unter dem Titel ihres Erstdrucks von 1807, „Die Nacht“, übernommen.39 In Brentanos „Nachklängen Beethovenscher Musik“ sind die beiden letzten Strophen mit dem Be38 Oelmann, Nachwort, in: DD III, S. 201: „Die mechanistisch klingenden ,Weltsysteme‘ wurden durch eher platonisch anmutende Weltenkreise ersetzt.“ 39 Vgl. H. Gerhard, George und die deutsche Dichtung, S. 91.

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zug auf Beethoven, op. 91, „Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria“, weggelassen („Er spannt dir das Roß aus dem Wagen, / Und zieht dich mit Wunderakkorden / Durch ewig tönende Pforten. / Triumph, auf Klängen getragen! / Wellington, Viktoria! / Beethoven, Gloria!“). In Heines „Abenddämmerung“ aus dem ersten Zyklus der „Nordsee“ unterbrechen StG / Wolfskehl den Satz „Mir war, als hört ich verschollene Sagen, / Uralte, liebliche Märchen, / die ich einst, als Knabe, / von Nachbarkindern vernahm […]“ und lassen das Gedicht mit den Versen „Mir war · als hört ich verschollene sagen · / Uralte · liebliche märchen“ enden. Und in dem von Alfred Meißner aus dem Nachlass Heines unter dem Titel „Für die Mouche“ veröffentlichten Gedicht „Es träumte mir von einer Sommernacht“ lassen sie nicht weniger als 28 von 37 Strophen weg und reduzieren den scharf dissonantischen auf einen elegisch getönten Heine. Anstelle von dessen Schlussstrophe „Mit diesem I – A, I – A, dem Gewiehr / Dem rülpsend ekelhaften Mißlaut, brachte / Mich zur Verzweiflung fast das dumme Tier / Ich selbst zuletzt schrie auf – und ich erwachte.“ heißt es nun, mit der 29. Strophe endend: „Frag · was er strahlet · den karfunkelstein · / Frag · was sie duften · nachtviol und rosen – / Doch frage nie · wovon im mondenschein / Die marterblume und ihr toter kosen.“40 3. StG / Wolfskehl verzichten auf ironische oder sonst wie komisch getönte und betont sprachspielerische Gedichte, unterschlagen Dissonanzen, nehmen nichts Politisch-Zeitbezügliches, nichts Geselliges auf, ebenso wenig Balladen und Epigramme und lassen, abgesehen von wenigen Ausnahmen, den volksliedhaft schlichten Ton weg. Sie geben eine Auswahl von überwiegend betont kunstvollen Gedichten im hohen Ton.41 Hölderlin nimmt in der zweiten Auflage von Das Jahrhundert Goethes nicht nur insofern eine Sonderstellung ein, als er der einzige Dichter ist, von dem ein zusätzliches Gedicht, das 1909 von Norbert von Hellingrath gefundene „Wie wenn am Feiertage“, aufgenommen wurde, sondern vor allem, weil er mit dieser „Hymne“ im Anschluss an „Andenken“, das die Hölderlin-Auswahl in der ersten Auflage beschlossen hatte, radikal ästhetisches Neuland betritt. Quasi-anthologisch hat StG dann 1919 seiner Lobrede auf Hölderlin42 einzelne Verse aus „Germanien“, „Der 40 Zum „widerphilologischen Geist“ StGs und seines Kreises vgl. Walter Benjamin, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, in: Ders., Kritiken und Rezensionen, hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M. 1972 (Gesammelte Schriften 3), S. 289. 41 Zur Vielfalt der Metren und Gedichttypen vgl. Oelmann, Nachwort, in: DD III, S. 207f.: „Drei Linien werden gezogen und verfolgt: einmal, mit Klopstock beginnend, die Anverwandlung antiker Metren (Schiller, Hölderlin, Lenau, Mörike), zum anderen der romanischen Kunstform des Sonetts (Eichendorff, Platen, Lenau, Hebbel) und zum dritten die freiere deutsche Liedform (Novalis, Brentano, Lenau). Zusammengeführt und zugleich überwunden sind sie in der strengen Formkunst C. F. Meyers, die weder klassisch antiken noch romanischen festen Formen folgt, sondern Ergebnis eines Abstraktionsprozesses ist, der vom Goetheschen Erlebnisgedicht, dem romantischen Stimmungsgedicht zum komprimierten Symbolgedicht führt, wie es die Entstehungsgeschichte von Gedichten C. F. Meyers wie ,Schwarzschattende Kastanie‘ oder ,Zwiegespräch‘ […] belegt.“ 42 „Uns heisst es ein greifbares wunder wenn durch menschenalter nicht beachtet oder nur als zarter erträumer von vergangenheiten plötzlich der grosse Seher für sein volk ins licht tritt. Das sibyllinische buch lang in den truhen verschlossen weil niemand es lesen konnte wird nun der allgemeinheit zugeführt und den erstaunten blicken eröffnet sich eine unbekannte welt des geheimnisses und der verkündung. […] Durch aufbrechung und zusammenballung ist er der verjünger

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Mutter Erde“, „Wie wenn am Feiertage“, „Am Quell der Donau“, „Versöhnender, der du nimmer geglaubt“ und „Noch eins ist aber zu sagen“ vorangestellt.43 Lechters Frontispiz (Abb. 13) präsentiert die Namen der Lyriker auf zwölf Stelen oder Tafeln, die den Gesetzestafeln nachgebildet sind, auf denen Moses aus der Hand Gottes den Dekalog erhielt. Die zu einem Tempel führende menschenleere Erhebung lässt sich als Kontrafaktur des Berges Sinai, den allein Moses betreten darf, lesen, die Posaune blasenden Engel als Repliken gottgesandter Boten, die Versammlung der zwölf Lyriker um die durch die Schriftgröße herausgehobene Zentralgestalt Goethe als Gegenentwurf zu Christus und seiner Jüngerschar. Die traditionellen Bildelemente stehen nicht mehr für die alt- oder neutestamentliche Verkündigung, sondern für die grenzenlose Ermächtigung der Kunst als des in der Nachfolge Nietzsches begriffenen letzten Absoluten – dass dadurch einem Eichendorff, einem Heine oder einem Mörike anthologisch Gewalt angetan wurde, war der von StG / Wolfskehl ohne Zögern entrichtete Preis für ihre aktualisierende Inanspruchnahme der Tradition. 4.1.6. Rezeption / Wirkung Die zeitgenössischen Rezensionen, die Schlösser in seiner Wolfskehl-Bibliographie verzeichnet, fielen unterschiedlich aus. Rudolf Alexander Schröder schrieb im ersten Band der von ihm mit herausgegebenen Insel, Lechters Ausstattung des Jean Paul sei noch „abscheulicher als der ,Teppich des Lebens‘, der mit seiner Gußeisen-Gotik und der unsäglich gespreizten Trivialität schon widerlich genug war“. Über die Textauswahl urteilte er: In dem Augenblicke […], wo man uns sagt, diese Phantasien und Exkurse seien das einzige Bedeutende in den Werken des Dichters und daß deswegen er allein verdiene, von der Nachwelt bewundert und verehrt zu werden, müssen wir, die wir auch Verehrer Jean Pauls sind und an die sich die Herausgeber also auch mit ihrem Stundenbuch wenden, uns gegen eine der sprache und damit der verjünger der seele . . mit seinen eindeutig unzerlegbaren wahrsagungen der eckstein der nächsten deutschen zukunft und der rufer des Neuen Gottes“ (XVII, 59f.). 43 Vgl. H. Gerhard, George und die deutsche Dichtung, S. 84f.

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solche Vergewaltigung und Verstümmelung eines bedeutenden Autors und eines bedeutenden Werkes energisch verwahren.44

Felix Poppenberg hingegen schrieb 1903 in der Neuen Deutschen Rundschau: In das für unseren Geschmack zu dicht verstrickte Gestrüpp der Werke [Jean Pauls] hat ein feines Buch der Neigung eine Lichtung gebahnt, das ,Stundenbuch‘, das Stefan George gesammelt und Melchior Lechter als ein Stimmungsbrevier eingekleidet hat (Verlag der Blätter für die Kunst). Aus diesen Seiten geht die Erfüllung jener Lobrede auf, die vordem in diesen Blättern Jean Pauls Wesen besang.45

Auch die Urteile über die beiden Folgebände dürften unterschiedlich ausgefallen sein.46 Die weitere Rezeptions- und Wirkungsgeschichte mit ihren vielen feinen Verästelungen entzieht sich weitgehend unserer Kenntnis. Immerhin lassen sich für den George-Kreis, die anthologischen Komplementär- bzw. Gegenentwürfe Hofmannsthals, Borchardts und Benjamins sowie die Rückwirkungen auf die massenhaft verbreiteten Lyrik-Anthologien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einige Feststellungen treffen, wenigstens aber naheliegende Vermutungen anstellen. Ob speziell die ,Wahlverwandtschaft‘ zwischen StG und Platen tatsächlich, wie Jürgen Link behauptet,47 der Platenforschung einen „mächtige[n] Anstoß“ gab, bleibt zu prüfen. Im George-Kreis bewirkte der Zwang zu anthologischer Strenge eine Klärung des Verhältnisses zur deutschsprachigen Tradition und schärfte die Wahrnehmung einzelner Dichter, besonders Jean Pauls, Goethes und Hölderlins, aber auch Brentanos, Mörikes oder C. F. Meyers. An der Erneuerung der deutschen Dichtersprache, von der Hubert Arbogast mit Blick auf StGs Frühwerk, einschließlich der Übersetzungen, sprach,48 haben auch die drei Bände Deutsche Dichtung, mit Gedichten wie Brentanos „Nachklängen Beethovenscher Musik“ und, besonders, Hölderlins „Andenken“ und „Wie wenn am Feiertage“ einen nicht unerheblichen Anteil. Zwar hob Gerhard zu Recht hervor, der Expressionismus habe „unsere Sinne“ geschärft „für dichterische Werte, die die vorhergehende Literaturwissenschaft noch kaum“ erkannt hatte.49 Aber das schließt ja nicht aus, dass Autoren wie Heym, die sich an StG so polemisch wie produktiv rieben, aus Das Jahrhundert Goethes wichtige Impulse empfingen. Auch bei den Dichter-Germanisten Gundolf und Kommerell sind bedeutende Nachwirkungen des anthologischen Klärungsprozesses zu erkennen, im Goethe-Buch des Ersten mit seiner Wertschätzung der Divan-Lyrik50 und im Jean Paul des Zweiten, der seinem Werk StGs Worte „Und sind nicht alle etwas von unserem Fleische: seine Wesen, in denen wir nur die kämpfenden und versöhnenden Teile der eigenen Seele sehen …?“ aus der Lobrede auf Jean Paul voranstellt und in Kapiteln wie „Singende Prosa“, „Gedichte“ und „Träume“ Vorgaben des ersten Bandes der Deutschen Dich-

44 Zit. nach KTM, S. 159. 45 Zit. nach ebd., S. 160. 46 Vgl. die Auszüge aus Besprechungen des Goethe-Bandes durch Georg Witkowski und W. v. Zur Westen, in: KTM, S. 161f. 47 Jürgen Link, Artistische Form und ästhetischer Sinn in Platens Lyrik, München 1971, S. 11. 48 Hubert Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges. Eine stilgeschichtliche Untersuchung, Köln, Graz 1967. 49 H. Gerhard, George und die deutsche Dichtung, S. 158. 50 Friedrich Gundolf, Goethe, Berlin 1916.

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tung aufnimmt.51 Über Gundolf, Kommerell wie auch andere Dichter-Germanisten des George-Kreises und deren Schüler hat die Anthologie, auch abgesehen von Boehringers Neuauflage des dritten Bandes, noch nach dem Zweiten Weltkrieg u. a. den Brentano-Kanon der Germanistik bestimmt, bevor Enzensberger mit dem betont Sprachspielerisch-Experimentellen52 oder Frühwald mit der poetischen Religiosität des Spätwerks53 neue Akzente setzten. Besondere wirkungsgeschichtliche Bedeutung kommt dem Bild Hölderlins in der zweiten Auflage des Jahrhunderts Goethes zu, das mit der Lobrede von 1919 den großen Oden- und Hymnendichter als den Dichter der Dichter schlechthin herausstellte, wie ihn noch, u. a. durch Kommerell vermittelt, Heidegger feierte. Die vielfältig, meist untergründig aufeinander Bezug nehmenden Anthologien Hofmannsthals, Borchardts und Benjamins sind ohne das zu Ergänzung, Korrektur und Widerspruch herausfordernde Unternehmen StGs / Wolfskehls nicht zu denken. Wenn Hofmannsthal vom „,[…] Jahrhundert deutschen Geistes‘“ sprach54 oder Borchardt vom „deutsche[n] Jahrhundert“,55 so ist die Anlehnung an den Titel Das Jahrhundert Goethes gewollt, wie auch Benjamin schon im Titel Deutsche Menschen – kritisch – auf Deutsche Dichtung antwortet.56 Der hohe Anspruch StGs / Wolfskehls wird von Hofmannsthal wie von Borchardt und Benjamin übernommen, doch fallen ihre Antworten auf die anthologische Herausforderung der Deutschen Dichtung denkbar unterschiedlich aus. Hofmannsthal, der in der Goethe-Auswahl den volksliedhaften Ton vermisst hatte, stellt der Emphatisierung der Lyrik und der lyrischen Prosa durch StG / Wolfskehl in Deutsche Erzähler, Deutsches Lesebuch und Wert und Ehre deutscher Sprache ein im Zuge seiner sogenannten ,sozialen Wende‘ gewonnenes weiteres Verständnis von Dichtung bzw. Literatur entgegen.57 Dabei lässt er sich, auf der Suche nach einem orientierenden Halt in der krisenhaften Gegenwart, von einer idealistisch überhöhten Vorstellung deutschen Wesens leiten, die in den ausgewählten Stücken zum Ausdruck komme. Der Hofmannsthal-Freund Borchardt, ansonsten ein George-Gegner, hat StGs / Wolfskehls Anthologie Respekt gezollt und deren „wählerische grausamkeit“ etwa durch die berüchtigte Verstümmelung von Hölderlins 51 Max Kommerell, Jean Paul, Frankfurt/M. 1933. Wolfskehl seinerseits hat noch 1927 das im ersten Band der Deutschen Dichtung vermittelte Bild Jean Pauls bekräftigt: Dämon und Philister. Jean Paul – Friedrich Richter, in: KW II, S. 274–280 (zuerst in: Der Querschnitt 7/1927). 52 Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Brentanos Poetik, München 1961. 53 Vgl. Wolfgang Frühwald, Das Spätwerk Clemens Brentanos (1815–1842). Romantik im Zeitalter der Metternich’schen Restauration, München 1977. 54 Deutsches Lesebuch. Eine Auswahl deutscher Prosastücke aus dem Jahrhundert 1750–1850, Bd. 1, hrsg. v. Hugo von Hofmannsthal, 2., verm. Aufl., München 1926, S. VI (für die Formulierung verweist Hofmannsthal auf „einen bedeutenden Mann unter unseren Zeitgenossen“). 55 Der Deutsche in der Landschaft, besorgt v. Rudolf Borchardt, München 1927, S. 491. 56 Vgl. Benjamins Bemerkung in einer Rundfrage der Literarischen Welt vom 13.7.1928 zum Thema Stefan Georges Stellung im deutschen Geistesleben: „Eine Auswahl Jean Paulscher Stellen […] wurde auf dem schiefesten Weg meines Lebens ein Vademecum“ (Walter Benjamin, Aufsätze, Essays, Vorträge, Bd. 2, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1977 [Gesammelte Schriften 2.2], S. 624). 57 Auch im 1913 veröffentlichten Blick auf Jean Paul distanziert er sich von StGs / Wolfskehls „Blütenlese“: „Nach einer erhabenen Ferne strebt in Träumen und halben Träumen etwa auch ein zerrissenes und zweideutiges Gemüt, aber um das völlig Nahe in seiner Göttlichkeit zu erkennen, dazu bedarf es eines vor Ehrfurcht zitternden und zugleich gefaßten Herzens“ (Hugo von Hofmannsthal, Reden und Aufsätze I. 1891–1913, Frankfurt/M. 1979, S. 434–437, hier: 435f.).

4. Traditionsverhalten

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„Hälfte des Lebens“ in Ewiger Vorrat deutscher Poesie – ein Buch, das StG als „eine unsichtbare Summe“ enthalte –,58 noch gesteigert. Gleichzeitig verfiel er, stärker als in der Gedichtanthologie in Der Deutsche in der Landschaft, in eine idealisierende Verzerrung des deutschen Menschen, die Benjamin in seiner Rezension von Der Deutsche in der Landschaft wie auch in Deutsche Menschen zu entschiedenem Widerspruch herausforderte.59 Benjamins im Exil erschienene kommentierte Briefsammlung schließlich wandte sich sowohl von StGs / Wolfskehls Kunstreligion als auch von Hofmannsthals angesichts des heraufziehenden Nationalsozialismus illusionären Vorstellungen von den positiv gemeinschaftsbindenden Potenzen der weit gefassten deutschsprachigen literarischen Tradition und Borchardts hochgradig ideologischer Überhöhung des deutschen Menschen ab. Die Reihe der Briefzeugnisse, die er in Deutsche Menschen aufnahm, reicht von Lichtenberg, Kant und Forster bis zu Metternich, Keller und Overbeck; sie deckt sich damit annähernd mit dem auch von StG und Wolfskehl weit gefassten ,Jahrhundert Goethes‘, dem er nun freilich nicht mehr ästhetische Glanzstücke, sondern übersehene Zeugnisse einer unaufdringlichen Sittlichkeit entnahm.60 Angesichts der noch in den Anfängen stehenden Anthologieforschung schwer abzuschätzen ist die Rückwirkung des zweiten und dritten Bandes von Deutsche Dichtung auf massenhaft verbreitete Anthologien wie die vom Kaiserreich bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fast eine halbe Million mal aufgelegte Ernte des Nazibarden Will Vesper, die das Bild der Deutschen von ihrer lyrischen Tradition nicht unwesentlich mitgeformt haben wird. Man darf vermuten, dass Vesper in die erste Auflage von 190661 Gedichte wie C. F. Meyers „Schwarzschattende Kastanie“, „Schwüle“ und „Chor der Toten“ ohne den durch Das Jahrhundert Goethes empfangenen Anstoß nicht aufgenommen hätte.62

58 Ewiger Vorrat deutscher Poesie, besorgt v. Rudolf Borchardt, 4. Aufl., Stuttgart 1956, S. 435. 59 Zum Verhältnis der Anthologisten StG / Wolfskehl und Borchardt vgl. Knödler, Rudolf Borchardts Anthologien, S. 240–249. 60 Vgl. Walter Benjamins ,Deutsche Menschen‘, hrsg. v. Barbara Hahn u. Erdmut Wizisla, Göttingen 2008, darin besonders den Beitrag von Günter Oesterle, Erschriebene Gelassenheit. Kompositionsprinzipien (S. 91–111). Zu Benjamins lang anhaltender – distanzierter – Wertschätzung des dritten Bandes von Deutsche Dichtung vgl. auch: Walter Benjamin, Karl Wolfskehl zum sechzigsten Geburtstag. Eine Erinnerung (1929): „Wie gern würde ich nicht – und sei es auch nur zu ehren des großen Bücherkundigen und Bücherliebenden, der Wolfskehl ist – etwas mehr von dem Buche sagen, dieser Anthologie, die zum ersten Male 1902 im Verlag der ,Blätter für die Kunst‘ erschien. Es war die Zeit, da die Bücher noch ein Gewand hatten, dies hier natürlich eines von Lechter. Blaue Pausranken umgaben den Text (volle und immer die gleichen; daher der Name) und auf dem Titel stand das Signet des Verlages, die von steilen Fingern erhobene Urne, aus deren Mündung alle Locken und Spruchbänder der Präraffaeliten herausrieseln“ (in: Ders., Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, hrsg. v. Tilman Rexroth, Frankfurt/M. 1972 [Gesammelte Schriften 4.1], S. 366–368, hier: 366). 61 Die Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik, gesammelt v. Will Vesper, geschmückt v. Käte Waentig, Düsseldorf, Leipzig 1906. 62 Arnold Zweig spricht von Wolfskehl als demjenigen, „der mit George bei Georg Bondi die beste Auswahl älterer deutscher Gedichte herausgegeben hat, Vorbild aller späteren (auch des völkischen Literaten Will Vesper)“ (Bilanz der deutschen Judenheit 1933. Ein Versuch, Berlin 1998, S. 138).

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4.1.7. Zusammenfassung Mit angelsächsischer Nüchternheit bemerkte Robert E. Norton zum Projekt einer auf mehrere Bände angelegten Sammlung Deutscher Dichtung: „More than just anthologies, they were intended to stake out a territory that George and his collaborators wanted to claim for themselves. It would be a brazen act of cultural annexation, a conscious bid for literary expropriation.“ Und, zugespitzt, über den ersten Band: „It was to be the first strike in an all-out war of conquest.“63 Die von Norton gewählte militärische Bildlichkeit ist durchaus angebracht. Entgegen der Beteuerung, lediglich „[e]inem kreise von künstlern […] und schönheitliebenden […] seine verehrten meister-dichter […] in einer ausstattung“ geben zu wollen, „die dem gehobenen geschmack entspricht“, ging es StG / Wolfskehl nämlich um eine offensive Positionierung im literarischen Feld bzw., um mit einer anderen Metapher Bourdieus zu sprechen, um Mehrung ihres symbolischen Kapitals. Gegner waren nicht nur diejenigen, die nach 1870/71, gegen Nietzsches Warnungen, versuchten, die deutsche literarische Tradition dem Zweiten Deutschen Kaiserreich ideologisch dienstbar zu machen, sondern auch dessen Kritiker und Gegner, die in den Augen der um die BfdK Versammelten die als reine Kunst gepriesene Literatur in der Tradition aufklärerischer Parteilichkeit in den Dienst heteronomer Zwecke stellten. StG / Wolfskehl zielten mit der Deutschen Dichtung auf etwas Neues: die in der Tradition des l’art pour l’art aus der eigenen deutschsprachigen Tradition legitimierte Literatur als Kunst. Im Lichte dieser Zielstellung war es nur konsequent, dass sie die mit Lechter betriebene Idee eines Gesamtkunstwerks Buch schon in der zweiten Auflage preisgaben und ganz auf das dichterische Wort setzten, nicht ohne die zitierte Tradition typographisch wie auch durch Orthographie, Kleinschreibung und Zeichensetzung für das eigene Projekt zu vereinnahmen. In der Auswahl von Autoren und Texten knüpften StG / Wolfskehl noch bedingt an Kanonisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts an. Stärker aber setzten sie sich davon ab, teils in, retrospektiv erkennbarer, Parallelität zu zeitgenössischen Neubewertungen – wie der von Goethes Spätwerk –, teils im radikalen Bruch mit kanonischer Tradition und wissenschaftlicher Traditionspflege – wie im Falle des als Autor von Prosagedichten aufgewerteten Jean Paul oder des späten Hölderlin von „Andenken“ und „Wie wenn am Feiertage“, aber auch des vorzugsweise als Sonettdichter präsentierten Eichendorff oder des bis dahin in seiner spezifisch modernen Eigentümlichkeit verkannten C. F. Meyer. Wenn der Kanon der deutschsprachigen Lyrik zu Beginn des 21. Jahrhunderts in hohem Maße dem von StG und Wolfskehl im Blick auf die vorletzte Jahrhundertwende entworfenen entspricht, so ist das auch ihrem ästhetisch sicheren Urteilsvermögen geschuldet. Die Wirkungen von Deutsche Dichtung im Einzelnen nachzuzeichnen wird angesichts der weiten Verzweigung des George-Kreises und seiner bis in die jüngere Vergangenheit reichenden Filiationen64 kaum möglich sein. Gut sichtbar zeigen sich die produktiven Wirkungen der Deutschen Dichtung in Anthologien wie Hofmannsthals Deutsche Erzähler und Deutsches Lesebuch, Borchardts Ewiger Vorrat deutscher Poesie und Der Deutsche in der Landschaft sowie, im radikalen Wi63 Norton, Secret Germany, S. 278, 282f. 64 Vgl. Karlauf 2007; Raulff 2009.

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derspruch nicht nur gegen StG / Wolfskehl, sondern auch gegen Hofmannsthal und Borchardt, in Benjamins Deutsche Menschen.

Literatur ES, S. 174–189, 330–333; FW, S. 209–227; Karlauf 2007, S. 296–305, 690–692 („Ahnengalerie“ / 3); KTM, S. 153–163. Bauer, Roger, Stefan Georges Lobreden. Eine Skizze, in: Herbert Anton u. a. (Hrsg.), Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel zu seinem sechzigsten Geburtstag, Heidelberg 1977, S. 28–38. Böschenstein, Bernhard, Umrisse zu drei Kapiteln einer Wirkungsgeschichte Jean Pauls: Büchner – George – Celan, in: Ders., Leuchttürme. Von Hölderlin zu Celan. Wirkung und Vergleich. Studien, Frankfurt/M. 1977, S. 147–177. Ders., Arbeit am modernen Meyer-Bild: George und Hofmannsthal als Richter seiner Lyrik, in: Dreiundfünfzigster Jahresbericht der Gottfried-Keller-Gesellschaft 1984, Zürich 1985, S. 3–17. Ders., Von Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan, München 2006 (darin: Im Zwiegespräch mit Hölderlin: George, Rilke, Trakl, Celan, S. 78–92, Magie in dürftiger Zeit. Stefan George: Jünger – Dichter – Entdecker, S. 93–105). Bothe, Henning, „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992. Braam, Hans, Die berühmtesten deutschen Gedichte. Auf der Grundlage von 200 Gedichtsammlungen ermittelt und zusammengestellt, mit e. Vorw. v. Helmut Schanze, Stuttgart 2004 [Deutsche Dichtung nicht berücksichtigt]. David, Claude, Stefan George und Goethe, in: Goethe-Jahrbuch 103/1986, S. 168–172, 409–411 (Diskussion). Gerhard, Hans, Stefan George und die deutsche Dichtung, Gießen 1937. Gerhard, Melitta, Stefan George und die deutsche Lyrik des 19. Jahrhunderts, in: Preußische Jahrbücher 171/1918, Januar bis März, S. 205–225. Kaiser, Gerhard R., Anthologie: Kanon und Kanonskepsis. George / Wolfskehl, Hofmannsthal, Borchardt, in: Ders./Stefan Matuschek (Hrsg.), Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie, Heidelberg 2001, S. 107–138. Kalka, Joachim, „Meine Ahnung mit Mörike täuschte nicht“. Spuren auf dem Weg in den Kanon: Eduard Mörike bei Karl Kraus und Stefan George, in: Albrecht Bergold/Rainer Wild (Hrsg.), Mörike-Rezeption im 20. Jahrhundert. Vorträge des Internationalen Kongresses zur Wirkungsgeschichte in Literatur, Musik und Bildender Kunst, 8. – 11. September 2004, Tübingen 2005, S. 29–39. Knödler, Stefan, Rudolf Borchardts Anthologien, Berlin, New York 2010. Lämmert, Eberhard, Eichendorffs Wandel unter den Deutschen. Überlegungen zur Wirkungsgeschichte seiner Dichtung, in: Hans Steffen (Hrsg.), Die deutsche Romantik. Poetik, Formen und Motive, Göttingen 1967, S. 219–252. Mandelkow, Karl Robert, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. 1: 1773–1918, Bd. 2: 1919–1982, München 1980–1989. Melchior Lechter. Der Meister des Buches 1865–1937. Eine Kunst für und wider Stefan George, hrsg. v. Manuel R. Goldschmidt, Ausstellungskatalog, Amsterdam 1987 (CP 179/180). Norton, Robert E., Secret Germany. Stefan George and his Circle, Ithaca, London 2002, S. 278–291 („The Anthologies“). Prawer, S. S., Mörike und seine Leser. Versuch einer Wirkungsgeschichte. Mit einer Mörikebibliographie und einem Verzeichnis der wichtigsten Vertonungen, Stuttgart 1960.

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II. Systematische Aspekte

Raub, Wolfhard, Melchior Lechter als Buchkünstler. Darstellung, Werkverzeichnis, Bibliographie, Köln 1969. Schlösser, Manfred, Karl Wolfskehl. Eine Bibliographie, Darmstadt 1971. Speier, Hans-Michael, Die Ästhetik Jean Pauls in der Dichtung des deutschen Symbolismus, Frankfurt/M. 1979. Gerhard R. Kaiser

4.2.

Rezeption der französischen und italienischen Dichtung

4.2.1. Französische Dichtung StGs Rezeption der französischen Literatur ist von vornherein durch eine eigentümliche Gleichzeitigkeit von Aufnahme und Abgrenzung gekennzeichnet. Die ParisAufenthalte zwischen 1889 und 1892 sind gleichwohl in ihrer Bedeutung für seine dichterische Entwicklung kaum zu überschätzen. Angeleitet durch Albert Saint-Paul, studierte und übersetzte er neben den Werken Charles Baudelaires, Ste´phane Mallarme´s, Paul Verlaines, Arthur Rimbauds und Henri de Re´gniers weitere Dichter aus dem Umkreis des Symbolismus, die er in Paris kennengelernt hatte. Bezeichnenderweise aber reduzierte er für den zweiten Band der Zeitgenössischen Dichter den Kreis auf die genannten. Dass er zeitweilige Begleiter wie Jean More´as, Francis Viele´-Griffin, vor allem Albert Saint-Paul, der ihn für den Statthalter des Symbolismus in Deutschland hielt, symbolisch am Wegesrand zurückließ, erscheint als strategisch. Anklänge an Viele´-Griffins Poe`mes et Poe´sies zum Beispiel finden sich immer wieder und oft sogar an sehr prominenter Stelle. Noch „Du schlank und rein wie eine flamme“ (IX, 111), das letzte Gedicht in Das Neue Reich, antwortet auf Viele´-Griffins „Vous si claire et si blonde et si femme“, wenngleich in einer Weise, die der artistischen Verfahrensweise StGs zugehört. „George fand ein Vorbild, dessen lockere, oft zufällige Form sein Bedürfnis nach Straffung und Festigung erweckte.“1 Derart werden Texte auch minder bekannter Dichter selbst zum Material dichterischen Handwerks, zum Medium der Steigerung eigener Möglichkeiten. Wichtig für seine eigenen publizistischen und kulturationsstrategischen Pläne wurden die mehr oder minder exklusiven Zeitschriften im Umkreis Mallarme´s, vor allem La Plume und Ecrits pour l’art, denen die BfdK ihren Namen verdankten, mehr noch die Teilnahme am legendären Dienstagskreis in der Wohnung Mallarme´s. StG konnte sie als Nobilitierung begreifen, ob sie wirklich zu einer Erweiterung seiner Konzeption des Ästhetischen und des literarischen Lebens beitrug, ist schwer zu entscheiden. Die Idee einer Gemeinschaft gleichgesinnter künstlerischer Menschen hatte StG längst im Sinn. Offenbar aber lernte er hier ein „Modell kennen, das zur Grundlage seines eigenen Erfolgs werden sollte: Dichtung als Haltung.“2 Dass Dichtung zugleich als Handwerk und Verfahren verstanden werden sollte, dem die Sprache zum Material wird, an dem die Essenz der Dinge herausgearbeitet werden kann, war aber ebenfalls in seinen eigenen Vorstellungen schon angelegt. So kombiniert StG „die in Paris empfangenen Anregungen mit seit frühester Kindheit bestehenden eigenen Ansätzen“.3 1 Böschenstein, Wirkung, S. 379. 2 Karlauf 2007, S. 86.

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Entsprechend führten die Pariser Erfahrungen mehr zu einer Selbstfindung und zur Konzeption einer ,neuen Kunst‘ innerhalb einer deutschen Tradition als zur aneignenden Fortführung der Dichtungskonzeption des französischen Symbolismus. Dieser wird vielmehr unter Betonung der eigenen Ursprünglichkeit strategisch auf die „urquellen der ,Nouvelle Poe´sie‘“4 bei Friedrich von Hardenberg und der deutschen Romantik zurückgeführt. Schon 1891 hatte StG in einem, allerdings vermutlich nicht abgeschickten, Brief an Saint-Paul sehr deutlich die Unterschiede herausgearbeitet und beinahe brüsk die überlegene Vielfalt der deutschen Tradition der Dichtung geltend gemacht: „a´ toute e´poque nous avons fait des vers de toute forme, de toute longueur, avec ou sans rime, deux strophes a` deux cent lignes et douze, ce n’est pas nouveau pour nous“ (RB II, 218). Saint-Paul wollte denn auch 1894 nur noch von einer Parallele zwischen dem Symbolismus und der von StG repräsentierten Bewegung sprechen. „Mais ce qu’il faut surtout retenir de ce poe`te c’est qu’il renoue, dans son pays, la vraie tradition poe´tique en descendant directement des romantiques allemands“ (RB II, 221). 1895 verwies StG in einem Brief an Maurice Muret noch einmal auf die Bedeutung Goethes für die frühe Programmatik der BfdK und situierte sich im Ton des Dekrets in der klassischen deutschen Tradition: „Notre renaissance artistique, pre´cise´ment, renoue a` Goethe, a` la tradition classique“ (RB II, 225). Den von Jean More´as 1886 in seinem manifestartigen Artikel im Figaro formulierten Symbolbegriff, nach welchem die im Gedicht sich gestaltende Vorstellung in der Form eingeschlossen bleibt und sich jeglicher Entsprechung im Wirklichen und Begrifflichen verweigert, übernimmt StG von vornherein nicht. Vielmehr erscheint bei ihm die formale Durchbildung des Gedichts als Korrelat eines im Symbol vermittelten, zumindest dem Anspruch nach allgemein Gültigen im Sinne des Weimarer Klassizismus. „Hier kommt zweifelsohne eine Tradition des Symbolbegriffs ins Spiel, die nicht dem französischen Symbolismus verpflichtet ist, sondern auf Goethe zurückweist.“5 Während die Zeichnungen in Grau (1889) noch als Übungen in impressionistischer Imagerie betrachtet werden können, werden bereits die Hymnen (1890) „in dieser Hinsicht ein Zurückweichen sein und, so sehr sie auch von symbolistischen Einflüssen geprägt sind, die Festigung einer unabhängigen Persönlichkeit bedeuten.“6 Symbolistische Einflüsse sind vor allem in den „Neuerungen im Versbau und in der ihm unterworfenen Fügung“7 und in der elliptischen Verkürzung von Sätzen gesehen worden. Die emphatische Forderung nach Straffung und Kürze des Gedichts findet sich allerdings nicht erst im Symbolismus, sodass es sinnvoll sein könnte, „die Herkunft zentraler poetologischer Maximen Georges von Poe und nicht unmittelbar von Baudelaire und Mallarme´ abzuleiten“.8 Tatsächlich wehrt sich StG früh dagegen, als „abkömmling Baudelaire’s, Verlaine’s und Mallarme´’s“9 beschrieben zu werden

3 Böschenstein, Hofmannsthal, S. 169. 4 Klein, George, S. 50. Die Forschung ist sich mit Ute Oelmann einig, dass der Text von StG verfasst wurde. Vgl. Ute Oelmann, Notizen Stefan Georges zu Literatur und Kunst, in: GJb 1/1996/1997, S. 153–170. 5 Durzak, George, S. 85. 6 David, Stefan George, S. 30. 7 Böschenstein, Wirkung, S. 376. 8 Durzak, Symbolismus, S. 41. 9 Klein, George, S. 46.

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und macht „die verständlichkeit und die zusammenfassende beschränkung“10 als Abgrenzung seiner neuen Kunst gegen die symbolistische Tradition geltend. Die Parole, wir „brauchen uns nicht ans ausland anzulehnen“,11 berührt dabei nicht die früh gefasste Absicht, „die wunderbaren zarten wie vollen klänge der südlichen sprachen in der eigenen aufzufinden und wiederzugeben.“12 Allerdings beruft sich StG auch dafür auf Goethes Diktum, „dass wir in unsrer muttersprache oft ebenso dichten als ob es eine fremde wäre“.13 Das sollte bereits als Motto des eigenen Programms verstanden werden. In Algabal (1892) finden sich die offensichtlichsten Motiventsprechungen zu Symbolismus und De´cadence. So zum Motiv der künstlichen Landschaft in Baudelaires „Reˆve parisien“, der unberührbaren Schönheit in Mallarme´s He´rodiade, des einsam experimentierenden Künstlers in Huysmans’ A Rebours oder des dekadenten spätrömischen Herrschers in Robert de Montesquious „Le treizie`me Ce´sar“. Diese Motive verändern ihren Stellenwert aber entscheidend. Sie dienen nicht der hermetischen Abgrenzung einer Kunst- von der Lebenswelt, sondern gestalten das Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch auf Verwirklichung künstlerischer Individualität und Gesellschaftlichkeit. So stellt sich der Zyklus als „das sprachkünstlerische Korrelat seiner [StGs] spezifischen Vorstellungswelt“14 dar. Handelnde Person soll auch hier „die seele des modernen künstlers“15 sein. Ohnehin können die motivischen Anklänge nicht auf die französische Tradition reduziert werden, es lassen sich ebenso Bezüge zum englischen Ästhetizismus herstellen, und sei es auch als Dementi der Totsagung der emphatischen Poesie bei Algernon Charles Swinburne, wie es noch im Jahr der Seele (1897) programmatisch formuliert wird. Weniger untersucht sind Einflüsse, die über die Vermittlung bevorzugter ästhetischer Artefakte zustande kommen. So kann das Gedicht „Kolmar: Grünewald“ (VI/VII, 177) aus dem Siebenten Ring (1907) als Replik auf Huysmans’ Beschreibung von Grünewalds Kreuzigung in La`-bas (1891) gelesen werden.16 Die Übersetzung von 118 der 151 Gedichte von Baudelaires Fleurs du mal, an der StG seit 1891 gearbeitet hatte, zeigt zwar, dass „die überragende Bedeutung Baudelaires außer Zweifel“17 steht, sie zeigt aber ebenso, dass auch in diesem Fall keine bedingungslose Verehrung des Vorbilds vorlag. Intention und Komposition des Zyklus’ waren keineswegs sakrosankt. So wird auch Baudelaires Werk zumindest aspektweise zum Material einer Neuschöpfung, zum Objekt „der ursprünglichen reinen freude am formen“ (XIII/XIV, [5]) und der Ergründung der Möglichkeiten der eigenen Sprache. StG präsentiert sich im Vorwort der Blumen des Bösen 1901 mit demonstrativer Souveränität, wenn er einerseits Baudelaire als „Meister“ bezeichnet, 10 Ebd., S. 47. 11 Ebd., S. 50. 12 Ebd., S. 48. 13 Ebd., S. 45. 14 Durzak, Algabal-Dichtung. 15 Klein, George, S. 49. 16 Vgl. Achim Aurnhammer, Joris-Karl Huysmans’ ,Supranaturalismus‘ im Zeichen Grünewalds und seine deutsche Rezeption, in: Wilhelm Kühlmann/Roman Luckscheiter (Hrsg.), Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur, Freiburg/Br. u. a. 2008, S. 35–36. 17 Karlauf 2007, S. 88.

4. Traditionsverhalten

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ihn andererseits für „die abschreckenden und widrigen bilder“ (XIII/XIV, [5]) tadelt und apodiktisch über den Sinn der Anordnung entscheidet. Die Arbeit an der Baudelaire-Übersetzung kann sicherlich als „Schule für seinen eigenen Stil“18 betrachtet werden, die aber gleichwohl von vornherein in einer Distanz zur französischen Tradition des 19. Jahrhunderts absolviert wird. StG begegnet Baudelaires Texten von vornherein mit dem Willen zur Stilüberhöhung. Bildliche und thematische Kontinuitäten werden häufig aufgelöst, rhetorische Stilmittel der Antithetik weitgehend zurückgenommen, weitgespannte syntaktische Konstruktionen werden zugunsten der Betonung der Versform fragmentiert, prosodische Elemente dienen der Erhöhung der Ausdruckskraft, nicht der Vermittlung von Kontrasten. Insgesamt wird die Architektur des Baudelaireschen Werks vielfältig durchbrochen „zugunsten der Einzelbilder, die mit der formalen Einheit auch ihre Dissonanz verlieren“.19 Der Vergleich der Übersetzung mit den frühen Dichtungen StGs ergibt das komplexe Bild einer parallelen Entwicklung der formalen Möglichkeiten, die stilistisch gleichzeitig die Differenz zu Baudelaires Werk markieren. „Baudelaires und Georges Dichtungen sind so verschieden von einander, daß kaum ein gemeinsames Charakteristikum gefunden werden kann.“20 StG setzt sich von vornherein von einem historistischen Übersetzungskonzept ab, indem er das Formerlebnis vom Gehalt und dem historischen Kontext ablöst, um den einzelnen Text in seiner Ausdrucksqualität in den Rang des Allgemeinen zu setzen. „Die Form Georges entspringt dem Willen, den subjektiven Ausdruck vor der Vergängnis alles Natürlichen zu bewahren, ihm die Dauer des ,Denkmals‘ zu verleihen.“21 Die Idee der Schönheit wird bei StG von ihrem Verfallensein ans Hässliche und Vergängliche und an das bloß Kontingente der Zeitumstände im Paris des 19. Jahrhunderts abgelöst. Insbesondere werden die Anspielungen auf die Revolution von 1848 in der Übersetzung unkenntlich. Baudelaires „Au lecteur“, die Ansprache an den Leser und das wie immer zynische Paktieren mit ihm, ignoriert StG. Der Zutritt zu den Gedichten soll offenbar nicht „zu sehr als individueller Akt verstanden werden.“22 Stattdessen werden die Gedichte, ähnlich wie schon die Hymnen mit „Weihe“ (II, 10) anheben, durch die Eröffnung mit „Segen“ (XIII/XIV, 9–11) in eine gleichsam sakrale Distanz gesetzt, die dem individuellen Ausdrucksakt wie seinem Ergebnis von vornherein den Rang des Gültigen verleihen soll. Bei StG „weiß der Leser sogleich, daß er nun unübersehbar einen anderen, geweihten Raum betritt.“23 Die Intention der Sakralisierung bestimmt offensichtlich auch die Auswahl der übersetzten Gedichte, wodurch der Zyklus neu strukturiert wird. Auch in der Übersetzung einzelner Begriffe und Stellen werden religiöse, sakrale und rituelle Momente verstärkt.24 Friedrich Gundolf wird diese Übersetzungshaltung in der Kategorie der Sprachbewegung als Vermittlung der „allgemeinsten ewigen Inhalte“ mit dem „Ausdruck der individuellen, nie wiederkehrenden Bewegungen des Augenblicks“25 beschreiben. 18 Arbogast, Erneuerung, S. 63. 19 Melenk, Baudelaire-Übersetzungen. 20 Ebd., S. 103. 21 Tiedemann-Bartels, Versuch, S. 56. 22 Braungart 1997, S. 272. 23 Ebd. 24 Vgl. ebd., S. 269ff. 25 Friedrich Gundolf, Shakespeare und der deutsche Geist, München, Düsseldorf 1959, S. 304.

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II. Systematische Aspekte

So stellen sich die Baudelaire-Übersetzungen retrospektiv als Selbstmanifestation und Apotheose eines schöpferischen Menschen dar, der sich auf unverwechselbare Weise in die Tradition einschreibt. Nur scheinbar paradox markiert gerade das Erscheinen der Blumen des Bösen den Punkt, an dem StG unmissverständlich dokumentiert, dass er sich von der De´cadence befreit hat bzw. von ihr eben nicht beeinflusst wurde. Die Übersetzung aus dem Spracherlebnis heraus führt in für StGs Entwicklung charakteristischer Dialektik letztendlich dazu, dass die Rezeption der französischen Dichtung zu einer programmatischen Anknüpfung an die Sprachauffassung Goethes und der Romantiker führt. Obwohl auch Mallarme´ nicht „zum schwärmerisch verehrten Vorbild“26 wurde, unterscheidet sich StGs Verhältnis zu Person und Werk doch deutlich von dem zu den anderen Symbolisten. Schon Baudelaires Lebensweise kam für ihn nicht in Frage, umso mehr war Paul Verlaine „zeitlebens ein Schreckbild“,27 das aber zu einer christlichen Büßerfigur stilisiert wurde. StG tritt Mallarme´ auch in der Übersetzungshaltung mit deutlich mehr Respekt gegenüber. Dem Duktus der He´rodiade folgt er sehr weitgehend und wehrt sich auch weniger als bei ähnlichen Stellen Baudelaires gegen die Bildlichkeit grausamer und zugleich dem Leiden verfallener Schönheit. Vor allem hat Mallarme´ als Person und in seinem Auftreten zweifellos eine langfristige Wirkung gehabt. „Wie ein Dichter auftritt, redet, sich bewegt, wie er fast unmerklich Distanz herstellt und wie er, nicht zuletzt, sich vom allgemeinen Literaturbetrieb abgrenzt“,28 konnte sich allerdings als Modell erst mit der Konstitution des Kreises entfalten. Eine einseitige Rezeption hat Mallarme´ auf die Rolle des Priesters der reinen Poesie reduziert und dabei die „utopisch-politische Dimension der Mallarme´schen Poetik“29 übersehen. Die Ideen des dichterischen ,Staates‘ und der Metaphorik des ,Neuen Reichs‘ bei StG können jenseits von Sprache, Stil und Formgebung „als eine äußerste Fortführung von Mallarme´schen Prämissen und Möglichkeiten verstanden werden.“30 Die politische Dimension von Mallarme´s Poetik wie seiner Selbststilisierung hängt eng mit der sakralen Inszenierung des Kunstwerks zusammen. „Das religiöse Ritual ist für Mallarme´ offenbar Modell kontrollierter ästhetischer Prägnanz und Verbindlichkeit“.31 Als solches ist es dem rationalen Verständnis entzogen. Zwar gibt es auch bei StG die Abneigung gegen klügelnde Deutung, und nicht zufällig spielt die rationalistische Tradition der französischen Dichtung und Poetik in seinem Werk keine Rolle, jedoch wird er „später das Verstehen nicht derart schroff wie Mallarme´ zurückweisen, wenn er sich der Lehre und Erziehung seines Kreises zuwendet“.32 Charismatische Herrschaft bedarf der Aura des Geheimnisvollen, aber auch der Vermittlung eines gemeinsamen Verständnishorizonts. Hinsichtlich der Sakralisierung der Kunst bei StG ergibt sich ebenfalls die poetik- wie stilgeschichtliche Diagnose, dass die Rezeption französischer ästhetizistischer Konzeptionen zurückmündet in eine im 19. Jahrhundert vielfältig ausdifferenzierte deutsche Tradition der Kunstreli26 Karlauf 2007, S. 86. 27 Ebd., S. 89. 28 Ebd., S. 86. 29 Lehnen, Politik, S. 14. 30 Ebd., S. 35. 31 Braungart 1997, S. 29. 32 Ebd., S. 25.

4. Traditionsverhalten

633

gion seit Wackenroder, Tieck, Novalis und Hölderlin, die nicht lediglich auf inhaltliche Remythologisierung zielt, sondern auch auf die sprachbewegende Mobilisierung von Kreativität und Inspiration im Bereich „charismatischer, d. h. außeralltäglicher und genuin persönlicher Kräfte, in dem auch die großen Offenbarungsreligionen ihre Wurzeln haben“.33 Wenn sich diese Tendenzen im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Fundamentalopposition gegen eine technisch-ökonomisch funktionalisierte Wirklichkeit formieren, erscheint das nicht von ungefähr als ein spezifisch deutscher Antimodernismus, als Sonderweg. In der Perspektive einer europäischen Literaturgeschichtsschreibung ergibt sich ein dialektisches Bild von StGs Rezeption der französischen Literatur. Zweifellos hat sie den Anschluss der deutschen Dichtung an die europäische Moderne erheblich befördert, andererseits aber gleichzeitig zur Ausbildung von Wesenszügen, formalen Charakteristika und Kommunikationsformen des literarischen Lebens geführt, die sich nicht unter den herkömmlichen Begriff des Einflusses subsumieren lassen. In der George-Forschung zeigt sich das darin, dass vielfach eine erhebliche Wirkung des französischen Symbolismus auf die dichterische Entwicklung, Kunstauffassung und Gemeinschaftsvorstellung StGs konstatiert oder vorausgesetzt wird, in der Deutung des Einzelwerks aber regelmäßig der Befund erheblicher Unterschiede erhoben wird. Einerseits erscheint das Neue von StGs Lyrik in „seiner Durchtränktheit mit der französischen“,34 andererseits sind seine Übertragungen als „deutsche Gebilde“ bedeutend, „gerade vermöge der wörtlichen Versenkung in die andere Sprache.“35 Implizit hat ein großer Teil der Forschung, von der Wortwahl abgesehen, Friedrich Gundolfs Ansicht bestätigt, StG sei nie „Jünger der französischen Parnassiens und Symbolisten“36 gewesen, sie hätten nie als Muster gedient, wohl aber habe die artistische Auseinandersetzung mit Baudelaire, Verlaine und Mallarme´ „die Sonorität, Fülle und Pracht seiner angeborenen Sprache steigern helfen, unabhängig von fremden Inhalten“.37 Von allgemeinen rezeptionsästhetischen Untersuchungen ist daher keine wesentliche Differenzierung der Forschungslage zu erwarten. Wünschenswert wären dagegen Einzelanalysen auf der Basis einer vergleichenden Stilistik des Französischen und Deutschen. 4.2.2. Italienische Dichtung Obwohl StG schon als Schüler die italienische Sprache erlernte und sich in die italienische Literatur einlas, sind dauerhafte Wirkungen auf sein Werk kaum ersichtlich. Im Alter von vierzehn Jahren übersetzte StG Sonette von Petrarca, in der Fibel lassen sich noch Konstellationen der petrarkistischen Tradition finden. So die Motivik und Thematik der widersprüchlichen Struktur der Liebe wie der Schönheit. Die antinomische petrarkistische Liebesklage taugte noch zum Ausdruck der ersten Krise StGs38 und gleichzeitig zur Beschreibung der dichterischen Berufung. Wie bei Petrarca 33 Breuer 1995, S. 18. 34 Theodor W. Adorno, George, in: Noten zur Literatur IV, Frankfurt/M. 1981, S. 531. 35 Ebd. 36 Gundolf, George, S. 50. 37 Ebd., S. 51. 38 Vgl. David, Stefan George, S. 19f.

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II. Systematische Aspekte

erscheint die angebetete grausame Schöne als schwebendes „himmelsbild“, das den Dichter trotz „täuschung nur und schmerz“ schließlich „zu den sternen“ (I, 13) emporgehoben hat. Bereits in diesem frühen Text aber „modernisiert George die petrarkistische Haltung des Lyrischen Ichs“,39 um sie alsbald hinter sich zu lassen. Die vorübergehende Selbstinszenierung nach petrarkistischem Muster war von vornherein „von einer historisierenden und selbstbehauptenden Distanzierung begleitet“,40 die Züge einer Ironisierung an sich hat. Dante bildet im Rezeptionsverhalten StGs eine Ausnahme; nicht unbedingt, was die Übersetzungshaltung und sein Verfahren betrifft,41 sondern hinsichtlich der Genese seines Selbstbilds und seiner Vorstellung vom Amt des Dichters. Mit keinem anderen Werk hat sich StG länger und ausdauernder beschäftigt als mit der Divina Comedia. „Alles deutet darauf hin, dass George Dante schon während der Schulzeit kennenlernte.“42 Während er sich mit keinem anderen von ihm übersetzten Dichter identifizieren wollte oder konnte, hatte Dante unzweifelhaft Vorbildcharakter: „in Dante fand George das erhabene Gleichnis seines eigenen Berufs und bis ins Körperliche hinein der eigenen Art.“43 So stand Dante für den Dichter und das Dichterische überhaupt. StGs Identifikation mit Dante als dem über seiner Zeit stehenden Seherdichter ging bis in die Wahrnehmung der eigenen Physiognomie. Daher erscheint die erste Buchpublikation der Göttlichen Komödie 1912 in gegenüber der BaudelaireÜbertragung noch einmal gesteigerter Emphase als Apotheose des Dichters als Führer, der eine Epochenwende herbeiführt. Was die Übertragung vermitteln soll, ist „das dichterische“ selbst und damit „alles wodurch Dante für jedes in betracht kommende volk (mithin auch für uns) am anfang aller Neuen Dichtung steht“ (X/XI, [5]). Mit diesen Sätzen beansprucht StG unmissverständlich die Autorität des Dichteramtes: „nur dieser eine durfte sich zum Richter über seine Zeit aufschwingen.“44 Abgesehen von den Dante-Übertragungen und den eher propädeutischen PetrarcaVersionen, beschränkt sich die Präsenz der italienischen Dichtung im übersetzerischen Werk StGs im Prinzip auf die fünf Übersetzungen aus Gabriele D’Annunzios Poema paradisiaco in Zeitgenössische Dichter. „Accanto alle piu` impegnative versioni di Dante e Petrarca, le cinque liriche dannunziane (Ai lauri, Consolazione, L’inganno, Un ricordo, Un sogno) costituiscono l’unica presenza della poesia italiana nella cospicua attivita` del poeta tedesco.“45 Allerdings findet sich in der Fibel das Gedicht „Lukretia“ (I, 47) mit dem Vermerk „nach dem Italiänischen“, also ohne Angabe einer Vorlage. Es handelt sich dabei um eine sehr freie, die ursprüngliche Gedichtform auflösende Kontrafaktur des „Sonetto IV“ von Giambattista Zappi aus dem 18. Jahrhundert.46 StGs Dekonstruktion der Lukretia-Figur zeugt von der Spannweite früher Lektüre der italienischen Dichtung, ein manifester Einfluss lässt sich daraus jedoch schwerlich ableiten. Im Zyklus Traurige Tänze aus dem Jahr der Seele lassen sich einige thematische und motivische Ähnlichkeiten zu D’Annunzios Paradiesischem 39 Fitzon, Petrarca um 1900, S. 556. 40 Ebd., S. 561. 41 Dazu Michels, Dante-Übertragungen. 42 Karlauf 2007, S. 681, Anm. 10. 43 Gundolf, George, S. 53. 44 Karlauf 2007, S. 256. 45 Magris, Il ,Poema paradisiaco‘, S. 284. 46 Vgl. Rosenfeld, L’Italia, S. 127ff.

4. Traditionsverhalten

635

Gedicht herausarbeiten,47 die jedoch auf Atmosphärisches beschränkt bleiben. In einer vergleichenden Deutung treten eher die Unterschiede hervor.48 Auch die vergleichende Analyse von Originalen und Übertragungen führt auf das bekannte Muster zurück, dass die Übersetzung trotz starker Anlehnung in der Versstruktur, den Charakter eines eigenständigen Werks annimmt.49 Die ehrenvolle Position der D’Annunzio-Übertragungen in Zeitgenössische Dichter und Erwähnungen im Zusammenhang mit dem Programm der Erneuerung der Dichtersprache50 zeigen aber, dass die Leitfigur des italienischen Ästhetizismus eine Zeit lang als Pate und Bundesgenosse einer „neuen Poesie“ wie kulturnationsstrategischer Erwägungen geführt wurde. In der Sicht des Verhältnisses von Literatur, Staat und Gesellschaft unterscheiden sich StG und D’Annunzio jedoch grundlegend. Sie teilen zwar eine „fatale Denkfigur“, in der „aus der Annahme der ,Wiedergeburt‘ die Legitimation, ja die Verpflichtung zur Überwindung, das heißt zur Vernichtung des Bestehenden abgeleitet wird.“51 Im Gegensatz zu D’Annunzio aber hat StG eine „überpolitische Haltung“ eingenommen, die ihn zwar nicht „vor ideologisierender Vereinnahmung“52 geschützt, ihn selbst aber von jeglicher aktiver Parteinahme abgehalten hat. D’Annunzios zynischer Hedonismus war dem asketischen StG ohnehin fremd. Die Beziehung zu D’Annunzio bleibt jedenfalls ohne prägnante Folgen für seine Dichtung, Poetik und seine Sicht des Verhältnisses von Poesie und Politik. So gilt für StGs Verhältnis zur italienischen Literatur umso mehr, was für das zur französischen Literatur zu ermitteln ist. Im Bereich der Wirkungen auf Inhalte, Motive, Genres usw. erscheinen die Bezüge eher kontingent; Einflüsse auf die Entwicklung der dichterischen Sprache StGs sind jenseits von allgemeinen Kategorien wie „romanische Formstrenge“ und „Klangfülle“ und dergleichen nur schwer dingfest zu machen. Als poetologische Summe seines Verhältnisses zur symbolistischen und ästhetizistischen Tradition lässt sich „Komm in den totgesagten park und schau“ (IV, 12) lesen. Es ist ein Herbstgedicht in dieser Tradition und zugleich ein resümierendes Programm ihrer Überwindung zur Präsenz eines Neuen. Literatur Braungart 1997; RB II. Apel, Friedmar, Die eigene Sprache als fremde. Stefan Georges frühes Kunstprogramm, in: GJb 8/2010/2011, S. 1–18. Arbogast, Hubert, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges. Eine stilgeschichtliche Untersuchung, Köln, Graz 1967. Böschenstein, Bernhard, Wirkung des französischen Symbolismus auf die deutsche Lyrik der Jahrhundertwende, in: Euphorion 58/1964, S. 375–395. Ders., Stefan George und Francis Viele´-Griffin, in: Ders., Studien zur Dichtung des Absoluten. Wirkungen des französischen Symbolismus auf die deutsche Lyrik der Jahrhundertwende, Zürich, Freiburg 1968, S. 127–139. 47 Vgl. Magris, Il ,Poema paradisiaco‘, S. 285–295. 48 Vgl. ebd., S. 295. 49 Vgl. Rovagnati, D’Annunzio, S. 117. 50 Vgl. BfdK 7/1904, S. 19. 51 Wertheimer, Ästheten, S. 24. 52 Ebd., S. 22–23.

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II. Systematische Aspekte

Ders., Hofmannsthal, George und die französischen Symbolisten, in: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 10/1975, S. 158–170. Bowra, Cecil M., The Heritage of Symbolism, London 1943. David, Claude, Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967. Durzak, Manfred, Die Algabal-Dichtung und die Kunsttheorie des frühen Stefan George, Berlin 1963. Ders., Der junge George, München 1968. Ders., Zwischen Symbolismus und Expressionismus: Stefan George, Stuttgart, Mainz 1974. Ders., Ästhetizismus und die Wende zum 20. Jahrhundert. Gabriele D’Annunzio, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George, in: Silvio Vietta u. a. (Hrsg.), Das Europa-Projekt der Romantik und die Moderne. Ansätze zu einer deutsch-italienischen Mentalitätsgeschichte, Tübingen 2005, S. 143–157. Fitzon, Thorsten, Petrarca um 1900. Aneignung, Anverwandlung, Abkehr, in: Achim Aurnhammer (Hrsg.), Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik, Tübingen 2006, S. 539–562. Ders., Trost und Beispiel – Stefan Georges Petrarca-Rezeption, in: Francesco Petrarca 1304–1374. Zur 700. Wiederkehr des Geburtstages, hrsg. v. Gianfranco Granello, Trient 2011, S. 216–231. Gundolf, Friedrich, George, Berlin 1920. Klein, Carl August, Über Stefan George, eine neue Kunst, in: BfdK 1/1892, 2, S. 45–50. Lehnen, Ludwig, Politik der Dichtung: George und Mallarme´. Vorschläge für eine Neubewertung ihres Verhältnisses, in: GJb 4/2002/2003, S. 1–35. Magris, Claudio, Il ,Poema paradisiaco‘ del D’Annunzio e i ,traurige tänze‘ di Stefan George, in: Lettere italiane 12/1960, 3, S. 284–295. Matiussi, Laurent, Figuration du divin, figuration de Soi. Mythe et liturgie chez Mallarme´, George et Yeats, Tours 1996. Melenk, Margot, Die Baudelaire-Übersetzungen Stefan Georges. Die ,Blumen des Bösen‘ – Original und Übersetzung in vergleichender Stilanalyse, München 1974. Michels, Gerd, Die Dante-Übertragungen Stefan Georges: Studien zur Übersetzungstechnik Stefan Georges, München 1967. Rosenfeld, Emmy, L’Italia nella poesia di Stefan George, Milano 1948. Rovagnati, Gabriella, D’Annunzio nella traduzione di George: dal fascino dell’ambiguo al ritmo deciso della misura, in: Sulla traduzione letteraria: contributi alla storia della ricezione e traduzione in lingua tedesca di opere letterarie italiane, a cura di Maria Grazia Andreotti Saibene, Milano 1989, S. 97–117. Tiedemann-Bartels, Hella, Versuch über das artistische Gedicht: Baudelaire, Mallarme´, George, München 1971. Vordtriede, Werner, The Conception of Poet in the Works of Ste´phane Mallarme´ and Stefan George, Evanston 1944. Ders., Direct Echoes of French Poetry in Stefan George’s Works, in: Modern Language Notes 60/1945, S. 461–468. Ders., The Mirror as Symbol and Theme in the Works of Ste´phane Mallarme´ and Stefan George, in: Modern Language Forum 23/1947, S. 13–24. Ders., Novalis und die französischen Symbolisten, Stuttgart 1963. Wais, Kurt, Stefan George und Ste´phane Mallarme´. Zwei Dichter des Abseits, in: Werner Sohnle (Hrsg.), Stefan George und der Symbolismus, Stuttgart 1983, S. 157–182. Wertheimer, Jürgen, Ästheten? Aktivisten? Terroristen? D’Annunzio und Stefan George, in: Ders. (Hrsg.), Von Poesie und Politik. Zur Geschichte einer dubiosen Beziehung, Tübingen 1994, S. 15–27. Friedmar Apel

4. Traditionsverhalten

4.3.

637

Rezeption der skandinavischen, englischen und niederländischen Literatur

StGs Rezeption europäischer Literatur war durch seine Sprachbegabung bedingt. Er war zwar zu Hause nicht zweisprachig aufgewachsen, aber die französische Sprache war ihm auch als gesprochene aus dem Familienumfeld vertraut. Interesse an Sprachen und Begabung stellte er schon in jungen Jahren unter Beweis. Einmal durch das Erfinden einer Privatsprache, zum anderen dadurch, dass er sich in der Schulzeit neben Französisch, Latein und Altgriechisch im Selbststudium Italienisch und kurz darauf Dänisch beibrachte.1 Der Spracherwerb diente von vornherein dazu, bestimmte Werke der Weltliteratur in der Originalsprache lesen und aus ihr übersetzen zu können. Seine Italienisch-Studien dienten einem erstaunlich frühen Interesse an Petrarca,2 seine Dänisch-Studien, weit weniger überraschend, einer intensiven IbsenLektüre. StGs Korrespondenz mit den ehemaligen Mitschülern Carl Rouge und Arthur Stahl belegt aufs Schönste, dass das Interesse der Darmstädter Schüler vor allem dem Theater und der Oper galt. Das Darmstädter Hoftheater ermöglichte ihnen nicht nur deutsche Klassiker wie Goethe und Schiller in Aufführungen kennenzulernen, sondern auch Shakespeare und Ibsen. Angesteckt vom Ibsen-Fieber seiner Generation übertrug StG in den Jahren 1886/87 Ibsens Catilina und Haermaendene pa˚ Helgeland u. a. für die Freunde, weil die Werke in deutscher Übersetzung noch nicht vorlagen.3 Auszüge aus den Heermannen stehen im 1933 zusammengestellten Schlussband der Gesamt-Ausgabe und ergänzen zwei Szenen aus Catilina, sowie die schon 1901 in die Fibel aufgenommenen Chöre aus Ibsens Brand und der Komödie der Liebe. Zum öffentlichen Bild StGs gehören zwar seine Faszination durch Sprachen sowie seine vielfältigen Sprachkenntnisse, nicht aber steht StG als leidenschaftlicher Leser vor uns. Bekannt ist StG als Übersetzer aus fast allen westeuropäischen Sprachen. Die Kreisliteratur, aber auch die eigene Stilisierung, machten ihn zum Verächter der Vielleserei, vor allem der Lektüre von Romanen. StG aber las. Schon der Schüler besaß sämtliche Werke Ibsens in der Originalsprache. Seine Sprachkompetenz muss beträchtlich gewesen sein, und so nimmt es nicht wunder, dass er im Juli 1890 nach Kopenhagen reiste und dort einige Zeit bei einem Dänen polnischer Herkunft wohnte. Dieser machte ihn mit der jungen idealistischen Richtung des Schrifttums seines Landes bekannt, mit Jens Peter Jacobsen, Johannes Jørgensen und einigen anderen.4 So dürften die im August 1893 im fünften Band der ersten Folge der BfdK 1 Dänischkenntnisse benötigte StG für seine Ibsenlektüre und -übersetzungen. Erhalten hat sich das Sprachlehrbuch, das er benutzte: Den fuldkomne Dansker. Der perfekte Däne. Eine Anleitung in 14 Tagen Dänisch richtig lesen, schreiben und sprechen zu lernen, Berlin, Leipzig [1886]. 2 StG besaß sogar eine italienische Verslehre: Della versificatione italiana, Milano 1885. Die von Leopardi herausgegebene Ausgabe der Rime in StGs Besitz stammt allerdings erst aus dem Jahr 1888: Rime di Francesco Petrarca, con l’interpretazione di Giacomo Leopardi e con note inedite di Eugenio Camerini, 6. Aufl., Milano 1888. Zu StGs Petrarca-Rezeption vgl. Petrarca in Deutschland. Ausstellung zum 700. Geburtstag (20. Juli 2004) im Goethe-Museum Düsseldorf, hrsg. v. Achim Aurnhammer, Heidelberg 2004, S. 109–112. 3 Die nicht ganz vollständige Übersetzung des Catilina und die vollständige der Heermannen ist im Stefan George Archiv handschriftlich erhalten. 4 Briefe von Stanislaw Roszniecki liegen aus den Jahren 1890 bis 1893 vor. StGs Interesse an dem jungen Slawisten und an der dänischen Literatur zeigt noch eine als unzustellbar zurückgesandte Karte aus dem Jahr 1895, StGA.

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II. Systematische Aspekte

veröffentlichten Übertragungen der Gedichte Jacobsens schon in der Zeit nach der Reise entstanden sein.5 Auch zu Jørgensen bestand kurze Zeit Kontakt, der sich vor allem in dessen George-Übertragungen und einem Aufsatz über StG niederschlug; ein typisches Beispiel für die häufig gegenseitige Wahrnehmung und Übersetzung. Dass StGs Schätzung des Lyrikers Jacobsen nicht 1893 endete, zeigt noch die im Januar 1900 als ,Trostbüchlein‘ für Melchior Lechter angefertigte kleine Sammelhandschrift, die die Übertragung von „Irmelin Rose“ enthält (StGA). Begeisterte sich StG zu Beginn der 90er-Jahre für Ibsen und Jacobsen, so war das keineswegs außergewöhnlich. Der Roman Niels Lyhne wurde – zumal in Deutschland – breit rezipiert, und so befanden sich auch eine zweibändige Ausgabe von Jacobsens Samlede skrifter aus dem Jahr 1888 sowie Sechs Novellen in deutscher Übersetzung in der Reclam-Ausgabe von 1891 in StGs Bibliothek. Im fünften Band der ersten Folge der BfdK bezeichnete er Jacobsen als „grössten modernen dänischen stilisten“, seine Gedichte als „wenig bekannt“. Noch 1898 erklärte sich StG grundsätzlich bereit, Jacobsens Gurre-Lieder zu übersetzen, als der befreundete österreichische Komponist Clemens von Franckenstein sie zu vertonen gedachte.6 Es geschah nicht mehr: Die Übertragungen zeitgenössischer Dichter waren weitgehend abgeschlossen, StG war mit der Deutschen Dichtung, der Konstituierung einer deutschen Tradition, beschäftigt, das Verhältnis zu Franckenstein auch 1899 an ein Ende gekommen. In der Zwischenzeit hatte StG sich, mit Baudelaire 1889 beginnend, der französischsprachigen Dichtung zugewandt. Doch war seinen Aufenthalten in Paris und Brüssel und seiner damit verbundenen intensiven Beschäftigung mit französischer zeitgenössischer Dichtung ein längerer Besuch in England vorausgegangen. Kurz nach dem Abitur hatte er sich im April 1888 nach London begeben; dort wohnte er bis Anfang Oktober desselben Jahres bei einer Familie in Stoke Newington im nördlichen London. Seine Kenntnisse der englischen Sprache müssen zu diesem Zeitpunkt noch ziemlich eingeschränkt gewesen sein, hatte er doch nur zwei Jahre lang Englischunterricht an der Realschule in Bingen, d. h. im frühen Alter von 12 bis 14 Jahren (1880–1882) genossen. Ein Handbuch der englischen Umgangssprache von A. Matthias sollte diesem Mangel mit abhelfen. StGs Korrespondenz mit den ehemaligen Schulfreunden verrät nichts über seine Lektüre englischer Literatur. Ein junger Engländer, Thomas Wellsted, lieh ihm englische Bücher.7 Mit zeitgenössischen Dichtern kam StG wohl nicht in Berührung, seine Bezugspersonen gehörten nicht zum literarischen Feld. Dass er englische Literatur las und auch jetzt erst kennenlernte, belegen die erhaltenen Bücher aus seinem Besitz. Darunter befinden sich auch zahlreiche Romane, so Dickens und Thackeray, aber auch Bulwer-Lytton, vor allem jedoch die poetischen Werke englischer Romantiker: Byron, Shelley8 und Wordsworth. Hinzu 5 Es sind die Übersetzungen „Arabeske zu einer Handzeichnung Michelangelos“, „Irmelin Rose“ und „See-Stück“, 1905 aufgenommen in den ersten Band der Zeitgenössischen Dichter (SW XV). „Irmelin Rose“ wurde dabei ersetzt durch „Im Garten des Serail“. 6 Vgl. StG an C. von Franckenstein v. Nov. 1898, StGA. 7 Die Bekanntschaft hatte wohl der Darmstädter Lehrer Dr. Lenz vermittelt. Wellsteds Briefe an StG aus der Zeit nach dem Besuch 1888 erwähnen zwar Theater und Oper, vor allem Beschäftigung mit Ibsen, nicht aber englische Literatur. Zu Wellsted als Verleiher englischer Bücher vgl. RB II, S. 273, Anm. 2 u. 4. 8 Eine kleine Übertragung „Nach Shelley“ nahm er unter dem Titel „Zu einer indischen Weise“ 1901 in die Fibel auf (I, 50). Sie dürfte zwischen 1888 und 1890 entstanden sein. Unter StGs

4. Traditionsverhalten

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kamen die Schotten Robert Burns und Walter Scott, der Viktorianer Lord Tennyson und der Amerikaner Longfellow, aber auch Thomas Moore und Milton. Die von den Franzosen hoch geschätzten Poetical Works von Edgar Allan Poe (London 1888) lernte er ebenfalls schon damals kennen. Es waren Repräsentanten des bürgerlichen Kanons, mit dem ihn wohl seine junge Vermieterin Caroline Mess, eine Lehrerin, mit der ihn ein herzliches Verhältnis verband, bekannt machte.9 Alle diese Ausgaben stammen aus den Jahren vor 1888, dem Jahr seines ersten Aufenthaltes in London, oder sind 1888 erschienen. Sie sind sämtlich in einer Inventarliste Claus Graf Stauffenbergs aus dem Jahr 1940 verzeichnet: Inventarliste des Stefan George-Hauses in der Hinteren Grube zu Bingen am Rhein. Es fehlen erstaunlicherweise Werke der eigenen Generation sowie jener vor ihm: Werke der Präraffaeliten wie Dante Gabriel Rossetti, Algernon Charles Swinburne, Oscar Wilde, William Butler Yeats.10 Die Lyrik dieser Zeit begann StG aber ab 1893 zu übersetzen: Rossetti, Swinburne und – Jahre später – Ernest Dowson. 1888 war StG nach London gekommen, um seine Englischkenntnisse zu verbessern; im September 1891 endete ein zweiter Besuch in London abrupt nach nur sechs Tagen – der Grund ist unbekannt. StG mag auf Rossetti und Swinburne gar erst durch deutsche Übersetzer und Lobredner hingewiesen worden sein. So schickte ein Freund Karl Wolfskehls, Georg Edward, 1892 seine Übertragung von Swinburnes „Ballad of Dreamland“ für einen Abdruck in den vor Kurzem gegründeten BfdK, und Hugo von Hofmannsthal schrieb 1892 einen Aufsatz über den Engländer, der in der Wiener Deutschen Zeitung 1893 erschien. StG reagierte am 23.1.1893 freudig auf Hofmannsthals Lobpreis: „gestatten Sie flüchtigen Dank für Ihren herrlichen aufsatz über Swinburne: Sie haben eine art erhabenen schwärmens über einen dichter gefunden auf das Sie und er stolz sein dürfen“ (G/H, 56f.).11 Im März 1893 zitierte er unter der Überschrift Übertragungen. Algernon Charles Swinburne Hofmannsthal und kündigte „bald eine grössere sammlung von übertragungen dieses englischen Dichterfürsten“ an.12 Vorerst druckte er darauf folgend Georg Edwards Übertragung „Eine Ballade vom Traumland“ ab. Rossetti war 1882 gestorben, Swinburne hingegen lebte noch bis 1909. Nur eine umfangreiche Gedichtsammlung Rossettis, 1873 gedruckt, mag schon 1888 in StGs Besitz gelangt sein. Werke des berühmten Kunstschriftstellers Ruskin, seinerseits von eminenter Bedeutung für die englische Kunst vor und nach der Jahrhundertwende, lernte StG sicher in den frühen 90er-Jahren kennen,13 auch wenn seine Bewunderung nachgelassenen Büchern befinden sich The Poetical Works of Percy Bysshe Shelley, reprinted from the early editions, with memoir, explanatory notes, etc., London, New York [1890]. Das Gedicht trägt dort (S. 515) den Titel „Lines to an Indian Air“. 9 Zu seinem Geburtstag am 12.7.1888 erhielt StG von Edgar Mess Dickens’ Great Expectations. Caroline Mess mag ihm auch Gedichte der populären Dichterin Felicia Dorothea Hemans (1793–1835) nahegebracht haben, von denen viele vertont waren (I, 119). Die in der Fibel veröffentlichte Übertragung (I, 48f.) entstand vor Mitte April 1888. Ein umfangreicher Gedichtband befindet sich unter StGs nachgelassenen Büchern. 10 Erste Gedichte von Yeats waren 1887 erschienen. 11 Hofmannsthal hatte schon im Brief vom 19.12.1892 an StG angekündigt: „Ich werde übrigens nächstens versuchen, in Tagesblättern die uns verwandten Erscheinungen fremder Litteraturen (Verlaine, Swinburne, Oscar Wilde, die Praeraphaeliten etc.) zu besprechen […]“ (G/H, 53). 12 BfdK 1/1893, 3, S. 86f. 13 StG könnte die Ausgabe der Modern Painters von 1892 besessen haben. Vgl. auch sein Lob aus

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II. Systematische Aspekte

für dessen „schönheitslehre“ erst in den BfdK vom August 1896 durch seine Übersetzungen dokumentiert ist. Dort steht in den einleitenden Sätzen zu lesen: „Die folgenden stellen aus der grossen schönheitslehre John Ruskin’s werden hier zu übertragen versucht als meisterstücke malender und leidenschaftlicher rede.“14 Dass StG von dieser „malenden und leidenschaftlichen“ Prosa angetan war, lässt sich ohne Weiteres nachvollziehen, manches seiner eigenen Prosa scheint hier anzuschließen, wurde auch mutmaßlich in der Zeit der Übersetzung geschrieben, so z. B. Frühlingsfieber, Zwei Abende und Pfingsten (XVII, 20–22), aber auch die knappen Betrachtungen unter dem Titel Bilder (Mutter Gottes des Cimabue, Ein Quentin Massys u. a.; XVII, 40–43). Die in StGs Bibliothek befindlichen Vorlesungen Sesame and Lilies (1864–1865) weisen darauf hin, dass StG sich zudem für den Sozialtheoretiker Ruskin interessierte, hier für dessen Diskussion der Geschlechterrollen. Schließlich war Ruskin auch ein wichtiger Förderer der Präraffaeliten. Wie aber ist das starke Interesse StGs an Rossetti zu erklären, vorrangig an dem Sonettenzyklus The House of Life? In der Krisenzeit nach Algabal war – so meine These – nicht nur Ruskins Prosa Übungsstoff und Vorbild, sondern an Rossettis Sonetten übte StG jenen neuen Stil und Gedichttypus ein, der 1896 in „Der Besuch“, dem später – ohne Überschrift – als Einleitungsgedicht zum Vorspiel fungierenden Sechzehnvers-Gedicht („Ich forschte bleichen eifers nach dem horte“; V, 10), seine erste Verwirklichung fand. Auch die Liebesmystik der Gedichte mag StG fasziniert haben, mehr noch das komplexe Gefüge des Ineinanders von weitgespannter Syntax und strenger Sonettform. Auch mag, auf ganz anderer Ebene, mitgewirkt haben, dass Dante Gabriel Rossetti den großen Namensgeber Dante ins Englische übersetzt hatte.15 Dass Melchior Lechter noch im Jahr 1934 in seine Feier Zum Gedächtnis Stefan Georges dessen Übertragung „Der Liebe Erlösung“ aufnahm, verwundert wenig, stand Lechters eigene Kunstpraxis und Ästhetik doch den Präraffaeliten recht nahe. Auch Swinburnes „Eine Ballade vom Traumland“ findet sich in dieser Gedächtnisfeier wieder, jenes Gedicht, das schon 1893 in Edwards Übersetzung in den BfdK, noch vor StGs Rossetti-Übertragungen, erschienen war. Wie viele Gedichte Swinburnes ist es ein Beleg hoher Vers- und Reimkunst, kommen die 24 Verse doch mit nur 3 Reimen aus. Das abzubilden, ist StG zwar nicht exakt gelungen. Im Widerstreit der Übersetzungsziele, dem Vorrang der Wörtlichkeit, gelang ihm dennoch eine betörende Übertragung.16 Swinburnes großes Können, seine formalen Experimente waren für den Formkünstler StG beispielgebend. Thematisch muss der ,englische Baudelaire‘, müssen Gedichte wie die „Sapphischen Strofen“ den Übersetzer von Baudelaires „Lesbos“-Gedicht fasziniert haben. Auch war 1874 Swinburnes Bothwell erschienen, von dem Jahr 1899, überliefert von Kurt Breysig: „George lobte Ruskin sehr: es stehe dreissigmal mehr in seinen Büchern als in denen der Heutigen; Dinge, die sie jetzt wüssten, aber alle hätten lernen müssen.“ Kurt Breysig, Begegnungen mit Stefan George. Tagebuchblätter, in: CP 9/1960, 42, S. 9–32, hier: 10. 14 BfdK 3/1896, 4, S. 127. StG übersetzte zwei Partien aus „einleitung zur zweiten ausgabe der Modern Painters“ und „aus dem vierten band der Modern Painters“. Er nahm sie noch 1933 in die Gesamtausgabe, in Tage und Taten (XVII, 86–87), auf. 15 Auch berichtet Verwey, StG habe 1898 in Nordwijk noch spät in der Nacht Dante Gabriel Rossettis Dante and his Circle gelesen. Vgl. Verwey, Mein Verhältnis, S. 22. 16 Dazu trägt bei, dass sich jeweils Vers 6 und Vers 8 (Refrain) der Strophen desselben Reims bedienen.

4. Traditionsverhalten

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dessen Existenz der junge StG aber wohl keine Ahnung hatte, als er Bothwell. Schauspiel in 5 Aufzügen schrieb, dessen Text in handschriftlicher Fassung vorliegt.17 Verfasserpseudonym – Edmund Delorme – und Handschrift weisen in die Schulzeit StGs zurück, als er sich vor allem mit Dramatischem beschäftigte. Im Schlussband der Gesamt-Ausgabe findet sich das kleine Fragment einer Übertragung aus Robert Brownings lyrischem Drama The Blot on the Scutcheon (1843). Eine Übertragung von größerem Umfang ist im Nachlass nicht erhalten. Der dritte Band einer Werkausgabe von 1884 Lyrics. Dramas. Romances lässt aber größeres Interesse vermuten als die kleine Dialogpartie andeutet. Der handschriftliche Eintrag „2/3 93“, als 2. März 1893 gedeutet, belegt eine Beschäftigung mit Browning zu einem Zeitpunkt, als StG sich erneut der englischen Literatur zuwandte. Browning gilt als früher Vertreter eines lyrischen Dramas, in dem es gelang, ,soul-states‘, d. h. Seelenzustände oder e´tat d’aˆmes, mittels der Figurenrede in lebendige Poesie zu verwandeln. Es bleibt der Forschung überlassen zu untersuchen, ob die Umschreibungen aus Manuel, die im März 1894 und Februar 1895 in den BfdK erschienen, ihren neuen lyrischen Ton nicht auch der Browning-Übertragung verdanken.18 Zwar lebte Browning noch, als StG im Frühjahr 1888 nach London kam; er starb erst im Dezember 1889 in Venedig. Aber er gehörte einer früheren Dichtergeneration an. Nach heutigem Wissen übersetzte StG nur einen einzigen zeitgenössischen englischen Dichter, und dieser zählt gewiss nicht zu den bekannten. Ernest Dowson verkörperte den Decadent in der englischen Literatur;19 sein Werk ist schmal, sein Leben war kurz (1867–1900). Wie Yeats war er Mitglied des kurzlebigen Rhymers’ Club in London, und seine ersten Gedichte erschienen entsprechend 1892 und 1894 in The Book of the Rhymers’ Club. StGs erhaltene Korrespondenz scheint aber zu belegen, dass er erst Ende April 1897 durch Albert Verwey auf den englischen Dichter aufmerksam gemacht wurde.20 1896 war Dowsons Gedichtband Verses in London erschienen. Der Band wurde StG von Verwey leihweise überlassen und später – mit Brief vom 20.6.1902 – geschenkt, nachdem es dem holländischen Dichterfreund gelungen war, ein zweites Exemplar zu ergattern. Im April 1897 war Verwey in London gewesen, hatte Dowson nicht finden können, berichtete StG aber von seinem außergewöhnlichen Interesse für diesen Zeitgenossen und seinen Versen. In Verweys Tweemaandelijksch Tijdschrift vom September 1897 lernte StG dann einen Aufsatz über Dowson und einige Gedichte des Engländers in Verweys Übertragung kennen und war beeindruckt: „Ihr aufsatz über Dowson bringt viel neues und die übertragungen geben ein gutes bild. Sie haben gewiss die güte mir eins der bücher von D. zu leihen: vielleicht versuche ich mein glück und zeige den 17 Vgl. Stefan George, Phraortes. Graf Bothwell. Zwei dramatische Fragmente aus der Schulzeit, hrsg. v. G. P. Landmann, Düsseldorf, München 1975 (Drucke der Stefan-George-Stiftung), S. 35–55. 18 Dass Browning seinerseits viel Shelley verdankte, sei hier nur angemerkt. Die Shelley-Übertragung ist wie die Browning-Übersetzung nicht handschriftlich überliefert, sie steht nicht in der Londoner Sammelhandschrift vom Mai 1888, könnte also auch ins Jahr 1893 gehören. 19 Dowson lebte längere Zeit in Frankreich, war stark von der französischen Lyrik Baudelaires und der Symbolisten beeinflusst, kannte auch Verlaine persönlich. Vgl. Baudelaires Gedicht „Sur le Tasse en Prison D’Euge`ne Delacroix“ und Dowsons „To One in Bedlam“, das StG übersetzte (XV, 43). 20 Vgl. A. Verwey an StG v. 30.4.1897, in: Albert Verwey en Stefan George, S. 38.

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Deutschen etwas davon.“21 Kaum im Besitz des Gedichtbandes klingt erste leise Kritik an Dowson an. StG spricht dem „von Ihnen so gerühmten und von mir gewiss auch verehrten E. Dowson Den Grossen Zug“ ab und bezeichnet ihn allein als „unübertrefflich im kleinen“.22 Dennoch war es StGs Anliegen während seines letzten Aufenthalts in London, August 1898, neben anderen Männern „aus dem reiche der kunst“23 auch Ernest Dowson zu treffen. Es gelang, und er teilte Verwey noch aus London mit: aber ganz wichtig ist nur eines: mein mehrmaliges zusammentreffen mit E D darin war ich glücklich. als schreiben nur das wenige: sehr seltsam, hochgradig fühlsam, an unnatürlich gedrehte gesichter Aubr. Beardsleys erinnernd und – etwas leben-los! […] Er hat neu eine übertragung der berüchtigten Lettres dangereuses. (Herv. i. Orig.)24

Verwey war es auch, der StG die Nachricht vom Tode Dowsons überbrachte.25 Eine Charakterisierung der Dichtung liegt von StGs Hand nicht vor, sieht man davon ab, dass er ihn, die Übertragungen einleitend, als „hervorragendsten unter den jüngeren englischen dichtern“ und als „freund“ und „kunstgenossen von Aubrey Beardsley“ bezeichnet.26 Er übertrug zwei Gedichte aus den Verses, ein weiteres schrieb er ab („Nuns of the Perpetual Adoration“) und übersetzte noch einen Text („Dregs“) aus der postum erschienenen Sammlung Decorations (1900). Die beiden ersten Übertragungen gab er 1899 in die BfdK, die dritte war erst 1905 in der ersten Ausgabe der Zeitgenössischen Dichter zu finden. Doch lässt sich Dowsons Spur auch in StGs eigenem Werk nachweisen. Während eines Aufenthalts mit Albert Verwey in Bad Homburg im August 1899 entstand das Ernest Dowson gewidmete Gedicht „JuliSchwermut“ (V, 67), und geradezu als Parodie erschließt sich StGs Lied „Sieh mein kind ich gehe“ (III, 60) dem Kenner von Dowsons Gedicht „Ad Domnulam Suam“. Diese Tatsache aber widerlegt die These, Verwey habe StG erst auf Dowson aufmerksam gemacht. Das Gedicht aus dem Zyklus Sänge eines fahrenden Spielmanns erschien schon 1895 und ist zudem in einer Sammelhandschrift aus dem Jahr 1893 enthalten. StG muss es also aus einer Anthologie The Book of the Rhymers’ Club von 1892 gekannt haben.27 Die zentrale Bedeutung Shakespeares für StGs eigenes Werk, die Spuren der Begegnung in den Übersetzungen und Überarbeitungen der Dramen Shakespeares durch Friedrich Gundolf und StG, und jede andere Rezeption überragend, von Shakespeares Sonnetten, die StG zwischen 1907 und 1909 übertrug, kann hier nur angedeutet werden.28 Jahrelang, zwischen 1908 und 1914 vertiefte sich StG für ganze Tage und 21 StG an A. Verwey v. 13.9.1897, in: Albert Verwey en Stefan George, S. 43. Der Aufsatz ist überschrieben Een Tocht door Londen (Eine Wanderung durch London). Verwey nennt und charakterisiert hier auch die wenigen anderen Werke Dowsons, bezeichnet die Gedichte als Höhepunkt des Werks. 22 StG an A. Verwey v. 3.1.1898, in: Albert Verwey en Stefan George, S. 48. 23 StG an A. Verwey v. 5.8.1898, in: ebd., S. 54. 24 StG an A. Verwey v. 16.8.1898, in: ebd., S. 56. 25 Vgl. A. Verwey an StG v. 26.3.1900, in: ebd., S. 82. 26 BfdK 4/1899, 4, S. 127. 27 Vgl. Ute Oelmann, Anklänge. Stefan George und Ernest Dowson, in: Goethezeit – Zeit für Goethe. Auf den Spuren deutscher Lyriküberlieferung in die Moderne. Festschrift für Christoph Perels zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Konrad Feilchenfeldt, Tübingen 2003, S. 313–321. 28 Vgl. dazu I, 2.10.

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Wochen zusammen mit Friedrich Gundolf in die Tragödien, Historien und Komödien Shakespeares; von StG stammen, folgt man Andeutungen Friedrich Gundolfs, ganze Übersetzungspassagen in Coriolanus, Romeo und Julia sowie in Antonius und Cleopatra. Auch bei mehreren Liedeinlagen ist StG als Übersetzer zu vermuten. Die Sonnette aber, die StG sämtlich übertrug, sind für sein eigenes Werk von größter Bedeutung, fällt doch die hoch konzentrierte Arbeit an ihnen zusammen mit einer neuen Werkphase: der Niederschrift erster Gedichte der später Der Stern des Bundes betitelten Sammlung von 100 Gedichten.29 Wie stark StGs Rezeption fremdsprachiger Lyrik jeweils durch vermittelnde Freunde geprägt war, belegen Albert Saint-Paul für die französische Lyrik und Ge´rardy für die belgische,30 Verwey für die holländische und englische Dichtung. Verwey, der nicht nur Dichter war, sondern Rezensent, Herausgeber von Zeitschriften und Intellektueller, hatte Beziehungen zu englischen Autoren, gab StG 1898 Empfehlungsschreiben nach London mit. Vor allem aber machte er ihn ab 1895 mit seiner eigenen Dichtung und derjenigen ihm befreundeter Dichter bekannt: Willem Kloos, Herman Gorter, Frederik van Eeden. Er führte ihn auch in den Haagschen Kunstkring ein, wo StG am 28. März 1896 Gedichte von Hofmannsthal und Ge´rardy las und eigene Gedichte sprach. Vom Land und von seinen Künstlern war er begeistert: „Ich liebe dieses land sehr: es ist bereits so glücklich einen geistigen adel zu besitzen“ (G/H, 87). So finden sich im dritten Band der dritten Folge der BfdK vom Juni 1896 schon erste Übertragungen von Gedichten Verweys, Kloos’ und Gorters. Diese Übertragungen gehen wohl teilweise auf Stegreif-Übersetzungen Verweys zurück, der in seinen Erinnerungen festhält: „Ich legte ihm niederländische Dichtungen vor, machte ihn auf einige Gedichte aufmerksam und übersetzte sie. Sofort notierte er dann, was die Grundlage für einige seiner späteren Übertragungen in Versen geworden ist.“31 1895 konnte StG laut Verwey noch kein Holländisch. Das Lob im Brief an Hofmannsthal, die Einleitung in der sechsten Folge der BfdK 1902/03 und die Übersetzungen lassen vermuten, dass StGs Interesse, ja Bewunderung, einer ganzen Gruppe von Dichtern galt, so wie einst in Paris dem Kreis um Mallarme´, in Belgien den Dichtern um Ge´rardy und dem Salon Esthe´tique, so hier den sogenannten „Achtzigern“, also Willem Kloos, Albert Verwey, Herman Gorter und Frederik van Eeden, sowie dem Schriftsteller Lodewijk van Deyssel und dem Maler Jan Toorop. Doch täuscht der Anschein. StG rezipierte neben der frühen Freundschaftsdichtung der „Achtziger“ fast ausschließlich das allerdings sehr umfangreiche Werk Verweys. Ihm und seinen Gedichten galten vorrangig StGs Aufmerksamkeit und Übertragungseifer über viele Jahre hinweg. Schließlich wurden Gedichte Verweys auch von Friedrich Gundolf übersetzt. 1904 war die Zahl der Übertragungen so groß, ihre Bedeutung für StG so hervorragend, dass er beschloss, einen ,deutschen Verwey‘ der deutschsprachigen Welt zu präsentieren. 1901 waren schon 50 Gedichte übersetzt, sie sollten im Mittelpunkt des nächsten Heftes der BfdK (1904) stehen. So 29 Vgl. mein ausführliches Nachwort in SW XII, S. 166–179 sowie I, 2.7.1. 30 Verhaerens französischsprachige Gedichte hatte StG laut Brief vom Januar 1896 schon 1889, d. h. wohl in Paris, kennengelernt (StG an E´mile Verhaeren v. Januar 1896, StGA). StG dankte bei dieser Gelegenheit für die Zusendung des Gedichtbandes Le Villes Tentaculaires. Die Übertragungen nahm er trotz der Ausgangssprache Französisch unter die Übersetzungen aus dem Dänischen, Englischen und Holländischen auf. 31 Verwey, Mein Verhältnis, S. 12.

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II. Systematische Aspekte

äußerte sich StG in einem Brief an Verwey, um – von der eignen Vermittlerleistung überzeugt – fortzufahren: „Ich wäre glücklich wenn Sie durch diese umschreibung in eine weltsprache Weltdichter würden.“32 Es ist nicht gelungen: Verwey wurde auch durch die Sonderausgabe von 1904 weder deutscher noch ,Weltdichter‘. Die Ausgabe verkaufte sich kaum, vielleicht auch, weil sie ohne Übersetzernamen erschien, StGs Anteil nicht deutlich wurde. Dieser erschließt sich erst mit ziemlicher Sicherheit im Vergleich mit der Erstausgabe des ersten Bandes der Zeitgenössischen Dichter von 1905, der vermutlich nur Übertragungen StGs enthält. Gedichte, Übersetzungen, Aufsätze, Bemerkungen, Briefe sowie Verweys Erinnerungen dokumentieren aufs Schönste, wie sehr die beiden Dichter sich gegenseitig schätzten, wo sie Gemeinsames in ihrer Dichtung und ihrer Poetik sahen, aber auch, dass sie und worin sie schon früh ihre Gegensätzlichkeit ahnten und im Lauf der Zeit immer mehr erkannten. Schon der ersten Begegnung ging in StGs Sicht ein Missverständnis voraus, bezeichnete ihn Verwey doch in seinem ersten Aufsatz Twee Dichters, der StGs Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal galt, als ,Dekadenten‘ und zog sich damit StGs Kritik zu.33 Ein weiteres vielsagendes Beispiel ist in Briefen dokumentiert. Ende 1896 erhielt StG Verweys neuesten Gedichtband Aarde und lobte schon am ersten Weihnachtstag die „äussere geschmacksfeinheit […] und die verse: darunter ,Blindsein‘ […] und die spanischen erinnerungen.“34 Mit Letzteren war die Gruppe Spaanse Reis gemeint, Gedichte, die StG an seine eigenen spanischen Eindrücke und an die Gedichte in den Hymnen erinnerten und die ihn faszinierten. Einer der letzten Briefsätze deutet allerdings schon an, dass es auch Verstehensschwierigkeiten gab. StG hoffte auf ein längeres Beisammensein, auf „wochen […] in denen wir das neue in uns und um uns gegenseitig anvertrauen können. dann auch weiteres über Ihr neues werk das mir immer wieder sagt wie sehr man um Sie zu kennen Ihre erde kennen muss.“35 Das Zusammensein fand erst im Oktober 1897 in Berlin statt. Seiner Frau gegenüber bekannte Verwey noch von Berlin aus die Differenz: Er schätze nicht nur Böcklin, Wagner und Nietzsche nicht, was er StG nicht gestehen könne, sondern StG habe seinerseits nichts von seinem (Verweys) Gedichtband Aarde begriffen, den er ihm nun aufgeschlossen habe und zwar von der einzigen Seite, zu der StG von Natur aus Zugang habe, „die van het personlijke gevoel“ („die des persönlichen Gefühls“).36 Tatsächlich schätzte StG Verweys frühe Sonettenreihe Van de Liefde die Vriendschap heet (Von der Liebe die Freundschaft heißt), die Sonettenreihen Oorspongen (Ursprünge) und Mijn Huis (Mein Haus) wie das Widmungsgedicht für das in Kreuznach lebende alte Ehepaar Addens und die nächtlichen Stimmen „in der Alhambra“. Kein Zufall, dass die übersetzende Annäherung schließlich mit einem Porträt Ludwig Derleths („Michael“) und einem recht späten Nietzsche-Gedicht endet. StGs Interesse galt immer auch oder sogar vor allem dem Mann Verwey, dem Dichterfreund, zunehmend immer weniger der niederländischen Literatur, obwohl sich nicht nur Verweys Werke im Buchbestand StGs erstaunlich vollzählig erhalten haben, sondern 32 Brief v. 21.9.1901, in: Albert Verwey en Stefan George, S. 98. 33 Albert Verwey, Twee dichters, in: Tweemaandelijksch Tijdschrift 2/1895, 2, S. 215–222. 34 StG an A. Verwey v. 24.12.1896, in: Albert Verwey en Stefan George, S. 33. 35 Ebd. 36 A. Verwey an Kitty Verwey v. 23.10.1897, in: ebd., S. 45.

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auch die zahlreichen Jahrgänge der von Verwey herausgegebenen Zeitschriften Tweemaandelijksch Tijdschrift,37 De Beweging38 und XX. Eeuw.39 Wie lange und wie gründlich er diese las, wäre eine eigene Studie wert. Der Erste Weltkrieg und Missverständnisse um ihn zerstörten StGs Verhältnis zu Verwey. Davon zeugen u. a. StGs unter der Überschrift „A. Verwey“ versammelte Gedichte im Neuen Reich.40 Ein kurzes Wiedersehen mit StG und Gundolf in Heidelberg im Jahr 1919 erfreute vor allem Verwey, änderte aber nichts am Abschied, den Karl Wolfskehl in einem Langgedicht poetisch formte, das StG wiederum in der letzten Folge der BfdK von 1919 so platzierte, dass Verwey es auch für einen Text StGs halten konnte.41 Mitte der 90er-Jahre hatte StG den Niederländer um die humanistische Tradition seines Landes beneidet, den Freund als einen gesehen, der in einer Tradition stehen durfte, die ins 17. Jahrhundert, zum großen Dichter Vondel, zurückreichte, hatte ihn als glücklichen Erben einer Jahrhunderte alten „maatschapij“ (Gesellschaft) betrachtet und gleichzeitig als denjenigen, „der aus der ruhmvollen für uns vorbildlichen kunsterhebung der 80er jahre als der wesentliche dichter übrig geblieben“ war.42 Verwey wiederum, anerkannter Teil der avancierten Kunstbewegung seiner Zeit, verblüffte den deutschen Dichter, als er schon in einem Brief vom 16.8.1896 von zwei geistigen Möglichkeiten sprach: dem Wiedererwecken des Alten und dem Schaffen neuer Formen, und der dabei von sich selbst sagte: Naar mijn geestesrichting is er geen twijfel waar ik het zoeken moet. Ik ben een mensch meer van hoop dan gedenken en de vormen van een toekomstig leven hebben mij altijd aanlokkelijker geleken dan die van het vroegere, dat wel schoon was, maar onherroepelijk voorbij is gegaan („Meiner Geistesrichtung nach besteht kein Zweifel, worin ich es suchen muss. Ich bin eher ein Mensch der Hoffnung als des Gedenkens und die Formen eines zukünftigen Lebens schienen mir allzeit anziehender zu sein als die eines früheren, das zwar schön war, aber unwiderruflich vergangen ist“).43

Auch spricht er von zwei Anschlussmöglichkeiten: an die katholische Kirche und ans Volk. Hatte er 1895 in StGs Gedichten „het inluiden van een nieuwe, een europeesche dichtkunst“44 („das Einläuten einer neuen, einer europäischen Dichtkunst“) erkannt, so stellte er StG schon eineinhalb Jahre später auf die seinem Selbstverständnis entgegengesetzte Seite: die des Gedenkens, des Wiederbelebens alter Formen, des Anschlusses an den Katholizismus. Darauf weisen auch die Formeln hin, die er für StG findet: „Pilger“ und „Priesterkönig“.45 Die Begegnung zweier Dichterindividuen – 37 Tweemaandelijksch Tijdschrift voor letteren, kunst, wetenschap en politiek, Amsterdam 1894–1904. 38 De Beweging. Algemeen maandschrift voor letteren, kunst, wetenschap en staatkunde, Amsterdam 1905–1919. 39 De XXe [Twintigste] eeuw. Maandschrift voor letteren, kunst, wetenschap en politiek, Amsterdam 1902–1908. 40 Vgl. SW IX, S. 81f. und die Erläuterungen dazu. 41 Karl Wolfskehl, Ein Abschied. A.V., in: BfdK 11/12/1919, S. 289–293; in dieser letzten Folge der BfdK sind keine Verfassernamen angegeben. Vgl. auch Albert Verwey en Stefan George, S. 191ff. 42 BfdK 6/1902/03, S. 156; SW XV, S. 103. 43 Albert Verwey en Stefan George, S. 28 (diese und alle weiteren Übers. von d. Verf.). 44 Ebd., S. 223. 45 Albert Verwey, Erste Dichtungen, in: Ders./Ludwig van Deyssel, Aufsätze über Stefan George und die jüngste Dichterische Bewegung, mit Genehmigung der Verfasser übertragen von Friedrich Gundolf, Berlin 1905, S. 10.

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StG und Verwey – wird ihm zur Begegnung „zweier Ideen, die nie ohne einander sein werden“, sein „geistiger Bund“ mit StG „beruht auf Übereinstimmungen und Gegensätzen welche viel tiefer reichen als unser eigenes Wesen […] sie waren in uns, aber sie sind auch in der Zeit und sie werden auch in der Zukunft sein“.46 Auch noch nach StGs Tod reflektierte Verwey sein Verhältnis zum deutschen Freund dichterisch in Versen: Du bist der König der einzig sich selber singt: […] Ich mag der Freund sein, der gern meiner Erde leb.47

StG selbst begriff sich als ,Erbe‘ und Erneuerer, als ,Bewahrer‘ und Revolutionär, als Ende eines Jahrhunderts und als Anfang eines neuen.48 Emphatisch hatte er Mitte der 90er-Jahre die Anfänge der neuen Dichtung im benachbarten Holland verwirklicht gesehen, Verwey und die „Achtziger“ als Vorreiter für die neue deutsche Bewegung der BfdK; 1928 fand Verwey zu seinem großen Kummer in einem Gedicht StGs das Verhältnis völlig umgekehrt und als einseitige Abhängigkeit des Holländers interpretiert: Ihr habt vergessen dass ihr einst vor jahren Gelassen zu mir spracht: ich bin am end . . Bis frischer blutstrom kam der frisch euch schwellte: Der geister einbruch in ein enges heim – Sie wol im wesen fremd euch – all die schar. Ihr bliebt ihr selbst und wurdet durch sie neu Nun hehlet ihr mit reichem prunk von rede Das eine das euch weh tut dass wir nicht Bekennen dürfen so wie ihr: ich bin Allein – ich bin der lezte meines volkes . . (IX, 82)49

Darauf antwortend, sprach Verwey ihn als „Mijn arme koning“ an und sprach von seiner eigenen fortwährenden Liebe, seiner Bewunderung für StGs Größe und Haltung. Doch endet er: […] Niemand weet Hoezeer ge een kind zijt en hoe hulpeloos Gevangen in uw eensgekweekte waan Van onvernederbare majesteit.50 46 „[…] als een ontmoeting van twee denkbeelden, die nooit zonder elkaar zullen zijn.“ und „Ons verbond berustte op overeenkomsten en tegenstellingen die veel dieper reiken dan ons eigen wezen […]. Ze waren in ons, maar ze zijn ook in de tijd en ze zullen ook in de toekomst zijn.“, in: Albert Verwey en Stefan George, S. 219. 47 Albert Verwey, Sang, in: Ders., Ausgewählte Gedichte, übertragen u. eingeleitet v. Edgar Salin, Düsseldorf 1954, S. 39. 48 Vgl. Ute Oelmann, „die art wie ihr bewahrt ist ganz verfall“ – Stefan George und die Tradition, in: Bücher, Menschen und Kulturen. Festschrift für Hans-Peter Geh zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Birgit Schneider, München 1999, S. 63–71. 49 Das Gedicht lernte Verwey 1928 im Neuen Reich kennen. Der Band wurde ihm als „versandt vom Verfasser“ zugeschickt. 50 „Niemand weiß / Wie sehr Ihr ein Kind seid und wie hilflos / Gefangen in Eurem selbsterzeugten Wahn / Von nicht zu erniedrigender Majestät“; Albert Verwey, Mijn arme koning, ik bemin u zoo, in: Albert Verwey en Stefan George, S. 209.

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Das Schlusswort zur Rezeption Verweys durch StG und die Blätter-Dichter war 1930 in Friedrich Wolters’ Kreisgeschichte Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890 mit StGs Einverständnis zu lesen: „Kein verletzendes Wort ist zwischen den Freunden gefallen, sie trugen beide das NotwendigAuferlegte, und sowohl George wie die Dichter der Blättergemeinschaft verehren weiterhin in Albert Verwey den größten zeitgenössischen Dichter im außerdeutschen Raum“ (FW, 470). Literatur Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap, hrsg. v. Mea NijlandVerwey, Amsterdam 1965. Verwey, Albert, Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1895–1928, übers. aus dem Holländischen v. Antoinette Eggink, Leipzig u. a. 1936. Ute Oelmann

4.4.

Antike-Rezeption

4.4.1. Der George-Kreis und die Antike Der humanistische Bildungskanon, der sich in Deutschland als Folge der Humboldtschen Reformen im 19. Jahrhundert durchsetzte, machte Kunst und Kultur der Antike zum Gegenstand staatlicher „Standardbildung“.1 So wurde mit der Überlieferung der griechisch-römischen Antike um die Jahrhundertwende „ein breites Stoffreservoir für literarische Transformationen“ bereitgestellt, aus dem eine intensive Rezeption in der Moderne hervorging.2 So war auch für StG und den Kreis die griechisch-römische Antike, als eine der „drei grossen bildungswelten“ (III, [Vorrede]), eine der wichtigsten Quellen für ästhetisch-literarische und philosophisch-soziale Konzepte. Die Liste der ,Bibliothek eines jungen Menschen‘, die 1919 in Heidelberg auf dem Pfingsttreffen des George-Kreises zusammengestellt wurde, enthält auch die Namen von rund 40 als vorbildlich empfundenen antiken Autoren.3 Hierbei handelt es sich um den tradierten humanistischen Kanon großer griechisch-römischer Epiker (Homer, Hesiod), Tragiker (Aischylos, Sophokles), Lyriker (Theokrit, Horaz), Historiker (Herodot, Plutarch) und Philosophen (Platon, Aristoteles). Weniger bekannte Autoren und Werke waren auf der Liste nicht enthalten.

1 Peter Habermehl/Bernd Seidensticker, Art. ,Deutschland‘, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 13/1, Stuttgart, Weimar 1999, Sp. 760– 827, hier: 806. Dieser Beitrag ist während der Arbeit am DFG-Projekt ,Platon-Rezeption im George-Kreis‘ entstanden. 2 Ebd., Sp. 813; zur Antike-Rezeption um die Jahrhundertwende vgl. generell Esther Sophia Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945, Berlin 2004. 3 Gedruckt in Groppe 1997, S. 482.

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II. Systematische Aspekte

Neben wissenschaftlichen Werken der Altphilologie, die im fachwissenschaftlichen Diskurs unterschiedliche Bewertungen erfuhren – das Spektrum reicht von Standardwerk bis Kuriosum4 – gingen aus dem George-Kreis auch eine Reihe von Übersetzungen hervor (etwa Kurt Hildebrandt: Platon, Georg Peter Landmann: Homer, Karl Vollmoeller und Alexander von Stauffenberg: Aischylos). Diese Übersetzungen waren durchweg von dem programmatischen Anspruch geprägt, die Antike so wenig wie möglich zu ,modernisieren‘, nicht für das allgemeine Verständnis zu glätten, nicht die „griechischen Tragiker“ für „Pöbelohren zurechtzustutzen“ und „mit der Jämmerlichkeit heutigen Lebens zu vermischen“,5 wie es etwa Wilamowitz-Moellendorff mit seinem „Plato für Dienstmädchen“6 getan habe. Kein anderer antiker Autor beeinflusste das Werk StGs auf eine Weise wie Platon. Er gilt als „Kronzeuge“,7 und sein Eros ist die basale Kategorie, auf die StGs Poetik gründet. Daher nimmt die Rezeption der platonischen Dialoge in diesem Artikel den größten Raum ein. Über Platon, als dem philosophischen Referenzautor des Kreises, entstanden seit 1914 (Heinrich Friedemann, Platon. Seine Gestalt) so viele Schriften wie über keinen anderen Autor.8 Platons Ideenlehre als korrektive Gegenposition eines radikal gefassten Materialismus und eines wissenschaftlich zunehmend dominierenden Positivismus,9 die Demokratie-Skepsis seiner Schriften, seine elitären pädagogischen Konzepte oder seine konservative Staatsphilosophie10 ließen den attischen Philosophen zum „Kronzeugen“11 für die Entwicklung des George-Kreises und für seine soziologischen, pädagogischen und philosophischen Konzepte werden.12 Zu einem erklärten Vorbild für die Gestaltbiographien des Kreises (F. Gundolfs Caesar) wurden neben Platon auch Plutarchs Doppelbiographien, die Bioi paralleloi, da sie das vorbildlich „typische aus der Überlieferung […] gestalten“, weil sie – wie Albrecht von Blumenthal formulierte – Geschichte modellhaft zeigen an einer „Reihe heroisch gestimmter Menschen“.13 Allerdings galt hier die Ansicht, dass Plutarch aus der „Perspective des römischen Imperiums“ heraus nicht mehr die volle gestalterische Kraft des Hellenischen besessen habe und von den Kreisautoren daher in ihren historischen Monographien nun ,übertroffen‘ werden könne.14 4.4.2. Formen und Motive Der Einfluss der antiken Tragiker und Epiker auf das Werk StGs fiel nur gering aus. Zu nennen wären hier etwa Spuren des ,Tragödien-Chors‘ im Weihespiel Die Auf4 Vgl. III, 6.3. 5 Andreae, Platons Poikilia, S. 272. 6 F. Gundolf an K. Hildebrandt v. 22.7.1919, in: KH, S. 55, Anm. 11. 7 Kolk 1998, S. 263. 8 Vgl. Weigand, Nietzsche, S. 70; vgl. auch I, 4.16. 9 Vgl. II, 3.2. u. 3.3. 10 Vgl. Vittorio Hösle, Platon interpretieren, Paderborn 2004. 11 Kolk 1998, S. 465–482. 12 Vgl. hierzu II, 6.6. 13 Blumenthal, Vorbilder, S. 1. 14 Ebd.; vgl. auch Woldemar von Uxkull-Gyllenband, Plutarch und die griechische Biographie. Studien zu Plutarchischen Lebensbeschreibungen des V. Jahrhunderts, Stuttgart 1927.

4. Traditionsverhalten

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nahme in den Orden. Das lyrische Werk StGs enthält jedoch von Beginn an mannigfaltige Verbindungen zur antiken Kunst,15 Mythologie16 und Literatur. Einzelne Übernahmen von Bildern, Motiven, Metren, Versmaßen (etwa der Hexameter in „Zwiegespräch im Schilfe“; III, 16–17), einzelne Halb-, Detail- und Motivzitate17 von Vergil, Kallimachos, Catull, Hierokles, Dion von Prusa wurden von der Forschung nachgewiesen.18 Gedichte wie „Rhein“ (VI/VII, 148) oder „Porta Nigra“ (VI/VII, 16–17) greifen Elemente aus der antiken Kultur und Tradition auf.19 Einflüsse auf StGs poetologisches Zyklus-Konzept werden vor allem Horaz’ Gedichtsammlungen und Platon zugeschrieben:20 StG zitiert Platon zu Beginn des Sterns des Bundes (VIII, 8) mit „Anfang […] End und Mitte“. Wörtlich bezieht er sich hiermit auf den Phaidros und das Diktum, dass ein Kunstwerk „wie ein lebendes Wesen müsse gebaut sein“ und dass es als „organisches Ganzes Anfang, Ende und Mitte“ haben müsse.21 Solche Ganzheitskonzeptionen prägten zudem auch die Entwicklung des Gestalt-Begriffes im Kreis, wonach das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile. Eine Vorstellung, die StG auch für seine Gedicht-Zyklen beanspruchte. Denn dort steht das Gesamte des Zyklus über der Summe seiner Teile und vice versa gewinnt jedes Einzelgedicht im Kontext des Zyklus über sich allein hinaus ein Vielfaches mehr an Bedeutung, sodass Teil und Ganzes nicht mehr ohne Verlust voneinander zu trennen sind. „So weit eröffne sich geheime kunde / Dass vollzahl mehr gilt als der teile tucht“ (VIII, 101): So heißt es auch in diesem reflexiv-poetologischen Sinne im Stern des Bundes. Generell lässt sich die Rezeption der Antike in StGs Dichtung eklektizistisch nennen. Vereinzelte Motive und Topoi, Anspielungen und Zitate aus antiker Überlieferung sind oft nicht direkt nachweisbar, da sie teils indirekt vermittelt etwa durch den französischen Symbolismus (Paul Verlaine),22 Goethes Gedichte, Mörikes Classische Blumenlese bzw. andere sekundäre Quellen (Curtius, Reitzenstein, Cumont) in StGs Lyrik eingingen. Vieles stammt zudem aus allgemeinem oder sekundär vermitteltem Bildungsgut, dem keine direkte oder konzeptionelle Rezeption eines antiken Autors zugrunde liegt bzw. philologisch nicht nachgewiesen werden kann. Dennoch sind die „Auswirkungen [von StGs] Kenntnis der römischen und speziell der Horazischen und Vergilischen Literatur wie antiker Mythologie, Geschichte und Metrik, […] vielfältig in sein Werk verflochten.“23 So werden etwa die antiken Gattungstraditionen der Idylle, der Hymne, der Elegie von StG rezipiert, aber in Form und Inhalt variiert. Anklänge an die Gattung ,Hymne‘ gibt es in „An die Kinder des Meeres“ (IX, 15–20), an die ,Ode‘ in „Tag-Gesang“ (V, 79–81), an den invektiven Jambos des Archilochos 15 Vgl. II, 2.2.1.; vgl. auch Gertrud Kantorowicz, Vom Wesen der griechischen Kunst, hrsg. v. Michael Landmann, Darmstadt 1961; Brasch, Vasenbilder; Robert Boehringer, Das Antlitz des Genius. Homer, Breslau 1937. 16 Vgl. II, 7. 17 Vgl. Schmitz, Bilder, S. 105–155. 18 Vgl. Schultz, George und die Antike. 19 Vgl. Hermann Binder, Antike Elemente in Stefan Georges Weltbild, in: Aus Unterricht und Forschung. Wissenschaftliche Zeitschrift auf nationalsozialistischer Grundlage 6/1934, S. 24–28. 20 Vgl. Hennecke, Georges Beziehung, S. 304. 21 Platon, Phaidros (264c), nach der Übers. v. Friedrich Schleiermacher hrsg. v. Walter F. Otto, Ernesto Grassi u. Gert Plamböck, Hamburg 1958 (Sämtliche Werke 4), S. 45. 22 Vgl. II, 4.2.1. Schon Edith Landmann hielt es „wenig fruchtbar, bei George nach Entlehnungen oder ,Quellen‘ zu spüren“. Landmann, George und die Griechen, S. 117. 23 Hennecke, Georges Beziehung, S. 303.

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II. Systematische Aspekte

und des Catull in den Zeitgedichten oder an das ,Epigramm‘ in den Tafeln des Siebenten Rings. Auch wird die Tradition antiker Widmungsgedichte (Horaz’ „An das Schiff, das den Vergil nach Athen bringen sollte“; carm. I, 3), etwa in StGs Preisgedichten „auf einige junge Männer und Frauen dieser [modernen] Zeit“ (III, 27), aufgegriffen. In „An Kallimachus“ (III, 32) nimmt StGs Freund Wacław Lieder die Rolle des scheidenden Dichters ein,24 sodass dieser Abschiedsszene archetypische Dignität verliehen wird. Günter Hennecke analysierte „bukolisch-pastorale Topoi“ bei Horaz und StG und wies formale Entsprechungen von Horaz’ Carmina und Epoden und StGs Hirten- und Preisgedichten nach. Stefan Arbogast stellte fest, dass StG speziell „die horazischen Formen [der Lyrik] allmählich so völlig assimiliert“ habe, „daß sie nur noch dem aufmerksamen Ohr vernehmbar“25 oder dem Altphilologen zugänglich seien. Beispielhaft hierfür sind Entsprechungen im Bereich der Versformen: StGs „Traue dem glück! lacht es auch heut · Apollonia · nicht“ (III, 39) kann „als leicht verändertes Zitat“ des Metrums eines asklepiadischen Verses des Horaz gelten: „Nullam, Vare, sacra vite prius severis arborem / cirta mite solum Tiburis et moenia Catili“ (carm. I, 18).26 StGs Bücher werden bestimmt von „Ordnungsprinzipien [und] der Verwendung der Horazischen Metra bei allen ihren von George durchgeführten Änderungen“.27 Mit einem solchen „Prozeß der Umwandlung und Neuaneignung der metrischen Schemata […] gehen Stoff, Inhalt und mythologische Anspielungen Hand in Hand“.28 Leider liegt jedoch in der Forschung noch keine philologisch gründliche Untersuchung zu StGs Werk vor, die systematisch seine Auseinandersetzungen mit den Formen der antiken Lyrik analysiert.29 Exemplarisch kann am Gedicht „Weihe“ aus den Hymnen (1890) die Übernahme antiker Topoi gezeigt werden. Dort neigt sich die Muse zum Dichter, um ihm ihren inspirierenden Kuss zu gewähren. Zitiert wird damit der locus classicus der Inspiration, die Dichterweihe durch die Muse: „nun schwebt die herrin nieder. / […] / Zu dir geneigt die segnung zu vollbringen“ (II, 10). An solchen Stellen wird deutlich, wie groß die Zahl möglicher direkter und indirekter Quellen für die Übernahme antiker Topoi ist (Homer, Hesiod, Horaz, Properz).30 StGs Hirten- und Preisgedichte etwa nehmen die literarische Gestaltung des Hirten auf, die mit Theokrit (7. Idyll) beginnt. Ob dabei aber eine direkte oder über die Tradition vermittelte Theokrit-Rezeption zugrunde liegt, ist kaum auszumachen. Es gibt hier wie an anderen Stellen kaum eine philologische Evidenz, jeweils die rezeptionshistorisch früheste Quelle anzunehmen. Anspielungen speziell auf Dionysos-Kult und Eleusinische Mysterien,31 aber auch andere Mythologeme (Ganymed, Bellerophon),32 die selbstverständlicher Teil gymnasi24 Vgl. auch Melanie Möller, „Willst du den leuchtenden Himmel […] / Wieder vertauschen […]?“. Zur Antikensymbolik in Stefan Georges ,Preisgedichten‘, in: GJb 7/2008/2009, S. 49–73. 25 Arbogast, Antike, S. 52. 26 Ebd., S. 51. 27 Hennecke, Georges Beziehung, S. 305. 28 Ebd., S. 306. 29 Vgl. Wolfgang Braungart, Hymne, Ode, Elegie oder: von den Schwierigkeiten mit antiken Formen der Lyrik, in: Aurnhammer/Pittrof (Hrsg.), „Mehr Dionysos“, S. 245–271, hier: 260. Vgl. auch II, 1.1. 30 Vgl. Schultz, Studien, S. 12ff. 31 Vgl. Müller, George und die Antike. 32 Vgl. Hennecke, Georges Beziehung.

4. Traditionsverhalten

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aler Lehrpläne und literarisches Gemeingut gebildeter Schichten waren,33 sind im gesamten Werk StGs enthalten. Solche Anleihen aus der Mythologie können aber auch etwa direkt aus Ovids Metamorphosen stammen. Vereinzelte motivische Anspielungen auf antike Dichtung enthalten Gedichte wie „An Menippa“ (III, 31), das den Catullschen Haarvergleich aus „Die Locke der Berenice“ zitiert. Die Geburt Maximins als göttliches Kind (Vergil, 4. Ekloge) und der Katasterismos nach Maximins Tod gehen ebenfalls auf (wohl mehrere) antike Vorbilder zurück (Hesiod, Kallimachos, Vergil, Ovid). Das Horazische Motiv der „incorrupta fides“ (carm. I, 24) wird zitiert in StGs „unverbrochne[r] treue“ (VI/VII, 29); die Wendung des Horaz („me pascunt olivae, / me cichorea levesque malvae“; carm. I, 31) wird aufgegriffen in StGs „Sein mahl ist brot und wein und leichte malve“ (VI/VII, 20). Ebenso ist das „nube candentis umeros amictus / augur Apollo“ des Horaz aus carm. I, 2 gespiegelt in StGs „Die schimmernde schulter vom leibrock verhüllt“ (IX, 48).34 Von Horaz stammt auch das Motiv der Sehnsucht des Städters nach dem verlorenen Idyll.35 Das Ergebnis der Auseinandersetzung mit Formen der Antike ist eine daran geschulte, doch letztlich dem eigenen Wollen unterworfene Metrik, die einerseits ihre Verwandtschaft […] zu den antik gefärbten Stoffen […] nicht verleugnet, [aber] durch einen Umwandlungs- und Reinigungsprozeß sowohl der deutschen Sprache gemäß ist als auch […] den spezifisch georgischen […] Klang gibt.36

4.4.3. Aktualisierung In „Goethes lezte Nacht in Italien“ (IX, 7–10) etwa trägt das „heidnisch[e] Winzerfest am Rhein ebenso griechische wie römische und italienische Züge“;37 oder das mythische Arkadien scheint als Topos durch die Folie des Rheinlands bei Bingen um 1900, das so ins Überzeitliche gehoben wird.38 Die Figuren und Motive der antiken Literatur werden von StG nicht unverändert übernommen, sondern modernisiert und „immer […] eigenen Intentionen dienstbar gemacht.“39 Eine „einfache und unkritische Übernahme“ gibt es nirgends. StGs ,neuzeitliche Hymnen‘ „Burg Falkenstein“ (IX, 41–44), „Geheimes Deutschland“ (IX, 45–49) und die Gedichte An die Toten aus dem Neuen Reich40 enthalten sowohl Elemente von „Pindars Hohem Lied“ als auch zeitgenössische Bezüge.41 „Die Lieblinge des Volkes“ (III, 22–23) weisen mit ihren Preisungen der Sieger gymnischer Agone zudem auf Pindars Hymnen und sind gleichzeitig ekphrastische Evokationen antiker Skulpturen. Doch StGs Pindar-Rezeption 33 Vgl. Carola Groppe, Diskursivierungen der Antikerezeption im Bildungssystem des deutschen Kaiserreichs, in: Aurnhammer/Pittrof (Hrsg.), „Mehr Dionysos“, S. 21–94. 34 Vgl. Landmann, Interpretation, S. 57. 35 Vgl. Hennecke, Georges Beziehung, S. 289–291. 36 Ebd., S. 205. 37 Bernhard Böschenstein, Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan, München 2006, S. 118. 38 Vgl. Hennecke, Georges Beziehung, S. 52ff. 39 Ebd., S. 303. 40 Vgl. Friedhelm Moser, Pindar – Die Hymne und ihre Erneuerung durch George, Heidelberg 1979; Müller, George und die Antike, S. 23; EM I, S. 428ff. 41 „Pente Pigadia“ (VI/VII, 24–25, hier: 24).

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II. Systematische Aspekte

blieb insgesamt so stark an die von Hellingrath edierten Übersetzungen Hölderlins gebunden, dass sie mehr der Rezeption des Spätwerks von Hölderlin zuzurechnen ist.42 StGs Aktualisierung antiker Motivik lässt sich am Beispiel seiner Horaz-Rezeption verdeutlichen. Denn unter den antiken Autoren, die StG rezipiert, nimmt Horaz, als später Vollender griechischer Lyrik begriffen, hinter dem überragenden Platon eine hervorgehobene Stellung ein. Schon Edith Landmann stellte fest, dass von keinem anderen Dichter (Lyriker) an „Anklängen und Wendungen und Wesen so viel in Georges Gedichte eingegangen [sei] wie [von] Horaz“.43 Hugo von Hofmannsthal wies darauf hin, dass „niemandem ein gewisses Verhältnis der ,Hirten- und Preisgedichte‘ [StGs] zu den Alten (und mehr zu dem Tone des Tibull und Horaz als dem der Griechen) […] entgehen“ könne.44 Und laut Kurt Hildebrandt habe StG sich „[a]ls Priester-Dichter, als vates im Horazischen Sinn […] empfunden“ (KHW, 138). In den BfdK ließ StG 1892 über dem unter dem Autornamen Carl August Klein gedruckten Text Über Stefan George. Eine neue Kunst programmatisch die Horaz-Verse von der „Verachtung des Pöbels“ (KHW, 149) setzen: Odi profanum vulgus et arceo. Favete linguis · carmina non prius Audita musarum sacerdos Virginibus puerisque canto.45

(„Ich verachte das gemeine Volk und meide es. Euch aber, Jungfrauen und Jünglingen – schweigt und hört – singe ich ein Lied, dass niemand je gehört“). Kurt Hildebrandt deutete diese in den BfdK zur Schau getragene Geste, durchaus in StGs Sinn, später als ein „Absetzen vom Großstadt-Pöbel, vom Vulgären“ der Moderne (KHW, 138). So wurden die Horaz-Verse eingebunden in den zeitgenössischen, kulturkritisch gefärbten Georgeschen Elite-Gedanken und die moderne- und demokratieskeptische Furcht vor der Vermassung der Gesellschaft, die nicht nur dem George-Kreis eigen war. Gleichzeitig wurden die Horaz-Verse zum Programm einer sich durchaus als elitär verstehenden neuen Dichtung und der ebenso erlesenen Leserschaft gemacht. Noch in „Die tote Stadt“ (VI/VII, 30–31) lässt StG den Hüter des heiligen Bezirkes die um Hilfe bittende profane „menge“ mit der aristokratisch gesinnten Odi-profanum-vulgus-Geste des Horaz harsch abweisen: „Schon eure zahl ist frevel“. Momme Mommsen wies zudem „Horazanklänge“ in StGs Gedicht „Der Krieg“ (IX, 21–26) nach, das 1917, während des Ersten Weltkriegs, in einer Sonderedition erschien. Wie die Horazischen Gedichte, die Kriegs-Epode („An das römische Volk“) und „Ekloge 4“,46 enthält StGs Gedicht die Mahnung vor den Folgen des Krieges. „Schon geht ein zweites Menschenalter unter Kriegen dahin / und Rom fällt durch eigene Kräfte“ („Epode 16“). Auch StGs Glaube an die Zukunft einer Elite deutscher Jugend, den ,Teil, der besser denkt als die Herde‘, nutzt die Autorität des römischen Lyrikers, indem das Horazische „aut pars indocili melior grege“ aus „Epode 16“ 42 Vgl. II, 4.1.5. 43 Landmann, Interpretation, S. 57. 44 Hugo von Hofmannsthal, Gedichte von Stefan George, in: Ders., Prosa I, Frankfurt/M. 1950, S. 289f. 45 BfdK 1/1892, 1, S. 45. 46 Vgl. Mommsen, Ihr kennt.

4. Traditionsverhalten

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zitiert wird. So aktualisiert StG den Horazischen zeit- und kulturskeptischen Gestus und überträgt ihn auf die Gegenwart des frühen 20. Jahrhunderts und auch bereits auf Erfahrungen mit den Folgen der Materialschlachten moderner Kriegsführung im Ersten Weltkrieg: „[K]ein triumf wird sein · / Nur viele untergänge ohne würde . . / […] [Es] rast eigenmächtig / Unform von blei und blech · gestäng und rohr.“ Die modernen Soldaten werden würdelos zu „brei und klumpen“ zerschossen, denn der „alte Gott der schlachten ist nicht mehr“ (IX, 24). An solchen Stellen wird deutlich, wie sich in StGs Werk die Rezeption der antiken Literatur als eine dialogische „Verflechtung von Ererbtem und Vorgegebenem mit Modernem“ vollzieht47 und zu einer neuen, modernen Klassizität strebt. Durch „Neukonstellation vorhandener Elemente“ gelingt es StG, dichtungsreflexive Ansprüche moderner Lyrik mit zu entwickeln.48 4.4.4. Amalgamierung Es ist eine Eigenschaft der Lyrik StGs, souverän mit dem reichen Quellenmaterial (nicht nur der Antike) umzugehen und es in veränderten Kontexten fruchtbar zu machen. Zu StGs Techniken der Aktualisierung gehört nicht zuletzt die Amalgamierung antiker Figuren zu modernisierten Mythologemen, in denen ihre Gemeinsamkeiten sie zu einer Figur verschmelzen lassen: „Apollo lehnt geheim / An Baldur“ (IX, 26). Horaz’ berühmtes carm. III, 25 mit dem – ursprünglich platonischen – Topos des dichterischen Enthusiasmos, der den Dichter in Raserei versetzenden göttlichen Besessenheit, wurde von StG etwa im Stern des Bundes aufgegriffen. Im „Carmen“ des Horaz ist es Bacchus/Dionysos, der mit seiner göttlichen Gewalt in einen Dichter eindringt, ihn überwältigt und zum Rausche hinwegreißt, um ihn mit dem Wesen einer höheren Kunst bekannt zu machen: Quo me, Bacche, rapis tui plenum? Quae nemora aut quos agor in specus velox mente nova?

(„Bacchus, wohin reißt Du mich, erfüllt von Dir? In welche Wälder und Schluchten führt mich neuer Geist?“). Das Horaz-Gedicht betont die Gewaltsamkeit, mit der die göttliche Inspiration bzw. der Gott selbst in den Dichter eindringt, der von ihm erfüllt („tui / plenum“ – erfüllt von Dir) und mitgerissen wird („rapis“). Als solch eine bewusstseinsverstörende, überwältigende, fast vergewaltigende Macht stellt auch StG dieses göttlich inspirative Eingreifen dar: „Er ist Dunkel und er reisst uns [„rapis“] / In die fluten wo wir schauern / Blind und trunken . . kannst du wissen / Wohin [„Quo me“] er mit dir mich führt?“ (VIII, 55) Das Motiv des ,göttlichen Rasens‘, das die Erwählten zur „irre reisst“ (V, 57), das den Dichter zunächst gewaltsam ergreift, gefährdet und verstört, dann aber auch reinigt und erhöht, zitiert StG in „Empfängnis“, wobei auch der Topos der Entführung in wilde schroffe Gegenden wieder aufgegriffen wird: 47 Krystina Kamin´ska, Der Dialog Stefan Georges mit Antike, Mittelalter und Orient, in: Neue Beiträge zur George-Forschung 7/1982, S. 22–34, hier: 25. 48 Hennecke, Georges Beziehung, S. 305.

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II. Systematische Aspekte

Hilflos griff er [der Sturm] den beschwornen · Wälzte ihn in finstre schrunde · Den zu andrem licht gebornen Riss er dann auf hohe schroffen . . Und mir war als ob er grade Dein geheimnis leuchtend offen Einzigmal nun in mich flösse: (VI/VII, 128)

Hier überwältigt die göttliche Gewalt den wehrlosen Dichter mit der Urgewalt eines Sturms und reißt ihn hinweg und hinauf auf Gebirge, auf denen ihm dann die Inspiration zuteilwird. Mit Hennecke lässt sich sagen, dass StG „bemüht [war], aus dem lebendigen antiken Erbe heraus […] etwas zu schaffen, das, durchdrungen durch Eigenstes und Persönlichstes eines Dichters der Moderne, einen […] einheitlichen Kosmos zum Ziel hat.“49 Im Siebenten Ring werden bei der Gestaltung des Inspirationsprozesses, im Motiv der Überwältigung des Dichters durch die göttliche Macht, dionysische und erotische Komponenten bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verschmolzen: Ich werfe duldend meinen leib zurück Auch wenn du kommst mit deiner schar von tieren Die mit den scharfen klauen mäler brennen Mit ihren hauern wunden reissen · seufzer Erpressend und unnennbares gestöhn. (VI/VII, 87)

Dieser erotische „Lobgesang“ auf die Inbesitznahme des Künstlers durch das Göttliche zeigt eine zugleich gewollte, aber auch duldende und schmerzvolle Zeugung und Geburt der Kunst im Dichter. Daher rührt auch die starke Betonung des Leiblichen, die diese Gedichte auszeichnet. Das göttliche Ergriffenwerden des Künstlers geschieht nolens volens. Denn auch bei StG ist es ,süße Gefahr‘, dem Gott zu folgen, womit wieder Horaz („dulce periculum est […] sequi deum“; carm. III, 25) zitiert wird. Der Künstler wird in einem zunächst schmerzvollen, kathartischen Vorgang zum aufnehmenden Gefäß („Nimm und weih mich zum gefässe! / Fülle mich“; VI/VII, 128) und so für die ersehnte göttliche Gabe der Inspiration geöffnet und geweiht. An solchen Stellen zeigt sich deutlich, wie synkretistisch die Antike-Rezeption bei StG sein kann, wie sich die Motive verschränken und so nicht mehr trennbar ineinander übergehen. Auf solche Weise entsteht in StGs Werk zunehmend ein Amalgam aus Dionysos und Eros, das die platonische Mania, den – erotischen – Rausch aus dem Phaidros, mit dem – dionysischen – Enthusiasmos verbindet. Auch noch im Stern des Bundes lässt sich der „trunkne Herr des Herbstes“ (VIII, 76) unschwer als Amalgam Dionysos/Eros erkennen. Zwar ist die enge Verbindung von Eros und Dionysos schon in der antiken Literatur vorgeprägt. StG schätzte z. B. das erotisch aufgeladene spätantike Dionysos-Epos des Nonnos (EM I, 173). Und auch in Anakreons Gedicht „An Dionysos“ ist Dionysos der „Herrscher! der […] mit Eros Macht // […] gern umher / […] schweif[t].“50 Bei StG ging das Dionysische jedoch im Erotischen in „Viel-wechselnder 49 Ebd., S. 304. 50 Übers. v. Eduard Mörike, Classische Blumenlese, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 2, Darmstadt 1970, S. 589–940, hier: 851.

4. Traditionsverhalten

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gestalt doch gleich erkennbar“ (VI/VII, 87) zunehmend auf. StGs Amalgamierungstechnik ist weniger mythologischer als konzeptioneller Art; sie operiert mehr mit Kategorien als mit Götterfiguren. Mithilfe von Aktualisierungs- und Amalgamierungstechniken konnten so antike Mythologeme in moderne poetische Konzeptionen integriert werden. 4.4.5. Konzeptionen 4.4.5.1. Erotik Verschiedene Erotik-Konzepte, die an antike Traditionen erotischer Literatur anschließen, bestimmen maßgeblich StGs Gedicht-Zyklen (wie etwa Gezeiten und Maximin im Siebenten Ring oder Der Stern des Bundes). StGs Quellen sind Catulls homoerotische Gedichte, Anakreons und Sapphos Liebeslieder. Auch die römische Elegie, etwa Tibulls Liebeselegien auf den jungen Marathus, war mit ihren Topoi des Schönheitspreises, der Liebestreue und der Liebesklage Vorbild für Liebeslieder StGs (z. B. „Wenn meine lippen sich an deine drängen“; VIII, 56). Eine vermittelte Rezeption ist hier jedoch immer auch über Goethes Römische Elegien oder Mörikes Übersetzungen aus der Classischen Blumenlese denkbar. Mittelbare Einflüsse stammen auch aus erotologischen Werken wie Plutarchs neuplatonischem Erotikos, Dantes Vita Nuova,51 Petrarcas Canzoniere und Shakespeares Sonetten.52 Wichtiger als diese Werke waren in struktureller und konzeptioneller Hinsicht jedoch Platons Erotikoi Logoi.53 Für den späteren Kreis war besonders das Symposion einer der zentralen Bezugspunkte. Es galt als ein literarisches Werk (Dialog), als ein kairologisch-kairotisches Dokument, das das historische Geschehen als einen ,ewigen Augenblick‘ festhält. Das Symposion hob die ,Gestalt‘ des Sokrates aus der vergänglichen Zeit heraus; und es galt durch die Eros-Vorträge und die teils homoerotischen Beziehungen der Teilnehmer untereinander (Sokrates/Alcibiades/Agathon) als vorbildlich erotologisches Werk. Schließlich wurde es in seinem philosophischen Gehalt als pädagogisch 51 Vgl. II, 4.2.2. 52 Vgl. II, 4.3. 53 Direkte Selbstzeugnisse StGs über seine Platon-Kenntnis sind zwar nicht vorhanden. Aber es gibt Hinweise auf eine frühe intensive Beschäftigung mit zumindest einigen Dialogen. Schon auf dem Darmstädter Gymnasium (1882–1888) stand eine Auswahl aus dem Corpus Platonicum auf den Lehrplänen, in denen der „pädagogisch bedeutsame ethische Gehalt“ der Dialoge besonders hervorgehoben wurde. In Unter- und Oberprima standen Apologie, Kriton und Phaidon im Zentrum (vgl. Rebenich, Dass ein strahl, S. 118), Dialoge, die sich auch in StGs nachgelassener Bibliothek fanden (jeweils in der Schleiermacher-Übersetzung; vgl. Gisela Eidemüller, Die nachgelassene Bibliothek des Dichters Stefan George. Der in Bingen aufbewahrte Teil, Heidelberg 1987). Die Wirkung, die insbesondere Platons Symposion auf StG ausgeübt hat, wird von Zeitgenossen häufig betont (EG/EB, 37). StG hatte das Gastmahl zunächst in Kassners Übersetzung gelesen (KH, 65), zog jedoch bald die Schleiermacher-Übersetzung vor, da die Diederichschen Einzelausgaben seiner Ansicht nach grundsätzlich „fälschten“ (EG/EB, 99). Generell bevorzugte StG aber die Originaltexte. Nach Auskunft von Ludwig Thormaehlen hatte StG „sämtliche Dialoge im [griechischen] Urtext gelesen“ (LT, 273). „Mit Erstaunen erfuhr [StG] dann, daß Gundolf den Platon fast nur in Übersetzung las, und sein Erstaunen wuchs, als er vernahm, daß manche der älteren und viele der jüngeren Freunde Griechisch nicht konnten und nicht lernten“ (ES, 291).

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II. Systematische Aspekte

wertvoll und so als Vorbild für die kreisinterne Vorstellung vom ,schönen Leben‘ angesehen. Platons Eros nun ist die basale Kategorie, auf die StGs Poetik gründet. Im Symposion allein sind über ein halbes Dutzend verschiedene Eros-Vorstellungen enthalten.54 Hinzu kommen u. a. die Lobreden auf den Eros aus dem Phaidros, kommt der Lysis als Diskurs von Ephebenfreundschaft und -liebe, kommt der Timaios mit seinem kosmologischen Eros-Konzept, kommen die Staatsschriften (Politeia und Nomoi) mit Regeln für die Erotik in Gemeinschaften und nicht zuletzt die (bis heute teils umstrittenen) Briefe Platons mit dem Schwerpunkt des Freundschaftsmodells ,PlatonDion‘. Als mögliche Quellen kommen auch kleinere platonische Schriften hinzu wie Kleitophon (über die Werbe-Methoden des Sokrates) oder Anterastai (apokryphe Diskussion zweier ineinander verliebter Jünglinge). Aus Platons Lysis stammen die Motive des Erastes (des älteren Liebhabers) und des Eromenos (des jüngeren Geliebten), die in den Werken des George-Kreises so oft für viele Leser irritierend hervorstechen (vgl. etwa Friedrich Gundolf: „Ich gab dir meiner seele ganze macht – / Wir haben was uns blieb in opfergüssen / Der grossen liebe feiernd dargebracht!“55). Die Vorstellung eines pädagogischen Eros zur Erziehung des Jünglings in der LebensKunst durch den (liebenden) älteren Lehrer ist untrennbarer Teil eines soziopoetischen Konzeptes von – an Platon geschulter – Paideia, wie sie ihren poetischen Ausdruck findet in den erotischen Dichter-Jünger-Dialogen des Sterns des Bundes (VIII, 2. Buch) oder der Diskussion dreier ,Jünger‘ im Teppich des Lebens (V, 17). Der polysemantische Begriff des Erotischen wurde in der Lyrik StGs und auch später in der des Kreises zunehmend differenziert in ,Erotische Dichtung‘ (Liebeslyrik), in dialogische Liebesdichtung („Der Fürst und der Minner“; VI/VII, 40–41), Homoerotik („Manuel und Menes“; VI/VII, 42–43), das Lob jugendlich männlicher Schönheit („An Isokrates“; III, 36), Freundschaftskult („Amobus in Tenebris“),56 pädagogisch-erotischeLiteratur(„Vormundschaft“; VI/VII,167,„DieFestederEpheben“),57 Liebeslieder („Du schlank und rein wie eine flamme“; IX, 111), Gedichte auf den Eros („Lobgesang“; VI/VII, 87), Gedichte über die verschiedenen Darstellungen des Eros in der Kunst („Ist dies der knabe längster sage“; VIII, 72). Eros tritt zudem als lyrisches Ich auf (V, 65), auch in Anspielung auf Platons Poros-Penia-Mythos („Ich bin der reiche bin der bare“; VIII, 27).58 Hinzu kommen Gedichte auf das Eros-DaimonionKonzept („Ruh, verwandelnder dämon“59) oder kosmologisch, naturhafte Pan-Erotik (Gezeiten) – mit dem Gaia-Mythologem der Erde als empfangender und gebärender Mutter (das „saatgefilde lechzet“; VI/VII, 79) –, für die der Timaios als erste Quelle gelten kann.60 Diese verschiedenen Spielarten erotischer Dichtung sind zu einem gro54 Im Mythos der urweltlichen ,Kugelmenschen‘ erklärt Aristophanes in seiner Rede über den Eros den Ursprung der Homosexualität. Von den drei ursprünglichen Geschlechtern (männlich, weiblich, zwiegeschlechtlich) sei die rein männliche Liebe die edelste. 55 Friedrich Gundolf, Von der Erfüllung, in: BfdK 4/1899, 5, S. 143–150, hier: 148. 56 BfdK 11/12/1919, S. 273–277. 57 BfdK 4/1897, 1/2, S. 47–57. 58 In der Rede der Diotima ist Eros der Sohn von ,Fülle‘ und ,Mangel‘ bzw. Reichtum und Armut. Kurt Hildebrandt übersetzt: „Als Sohn von Reichtum und Armut ist Eros [immer] bedürftig […]. Wie der Vater hingegen stellt er dem Schönen und Guten nach, […] ein gewaltiger Jäger, […] begierig und erfinderisch“; Hildebrandt, Gastmahl, S. 75f. 59 Erich Boehringer, Eros, in: BfdK 10/1914, S. 127–129, hier: 127. 60 Vgl. das Bild der „aufgeklafften erde“ (VI/VII, 54): „Boden zerriss / Hülle zerspliss / Same drängte

4. Traditionsverhalten

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ßen Teil versammelt in der als Ganzes nie analysierten letzten Folge der BfdK, die als Lese-Buch für das große Heidelberger Treffen des Kreises (1919) entstand. Neben Pädagogik61 und Philosophie62 nahm die Platon-Rezeption auch auf die Poetologie StGs Einfluss. Denn Platon galt dem Kreis nicht allein als Philosoph, sondern vielmehr als Künstler, seine Dialoge als literarische Kunstwerke. So wurde im George-Kreis auch bewusst nicht der ,dichterfeindliche‘ Platon rezipiert, sondern der Platon der ,dichterischen Begeisterung‘, des Enthusiasmos, der Platon, der die Dichtung als göttliche Gabe preist, dessen ,wirkliche‘ Dichter vom Göttlichen erfüllt (entheoi) sind (Phaidros). In Platons Vorstellung des dichterischen Enthusiasmos wird Erotik zur göttlichen Kraft, die die Seele des Dichters zur Schau des idealen Schönen führt. Nach dem Phaidros ist es Eros, der dem Dichter den Rausch, die glühende Begeisterung der dichterischen Mania, einpflanzt und so der Seele Flügel zum Aufstieg ins Idealreich verleiht.63 Erotik also ist bei StG und dem Kreis sowohl eine motivische als auch eine strukturbildende dichtungstheoretische Kategorie, die in Verbindung mit dem Konzept einer ,rechten Zeit‘, der Kairologie, auch zu einem entscheidenden Faktor für das dichterische Inspirationserlebnis64 wird. 4.4.5.2. Kairologie Mit dem Titel seines Gedichtbandes Tage und Taten zitiert StG Hesiods Erga kai Hemerai, in denen der älteste erhaltene antike Kairos-Beleg enthalten ist.65 Kairos ist bei Hesiod mit der Vorstellung eines rechten Maßes (metron ariston) verbunden („metra phylassesthai kairos d’epi pasin aristos“).66 Gegen die moderne, linear-progressive Zeitauffassung wurden im George-Kreis antike zyklische (Das Jahr der Seele) oder kairologische Konzepte erprobt. Vor allem die ,Augenblicklichkeit‘ wurde axiologisch aufgewertet. Kaum überschätzt werden kann in diesem Zusammenhang der Einfluss, den das Horaz-Gedicht (carm. I, 11) mit seinem berühmten carpe-diemMotiv auf StG und den Kreis gehabt hat: „Tu ne quaesieris, scire nefas, quem mihi, quem tibi / finem di dederint […] // et spatio brevi / spem longam reseces […] / […] carpe diem quam minimum credula postero“. Variationen dieses locus classicus des augenblicklichen Lebensgenusses durchziehen StGs lyrisches Werk vom Beginn bis zum Ende als wiederkehrender Topos.67 Das Motiv „Ergreife den Tag“ wird wörtlich (carpe = pflücke) zitiert im Jahr der Seele: „Nimm und bewahr es auch / Eh dir ein andrer es pflücke“ (IV, 117). In der großen Gemeinschaftsproduktion des Georzu sonnen“ (VI/VII, 62). Zugrunde liegt der bei Hesiod überlieferte Mythos von der Befruchtung der Gaia (Erde) durch Uranos (Himmel). 61 Vgl. II, 6.6. 62 Vgl. I, 4.12. u. 4.16. 63 Vgl. Hildebrandt, Phaidros, S. 48ff. 64 Vgl. unten, Abschnitt 4.4.5.3. 65 Erga und heme´rai aufeinander bezogen (Landmann, George und die Griechen, S. 41). 66 Sandra Kluwe, Krisis und Kairos. Eine Analyse der Werkgeschichte Rainer Maria Rilkes, Berlin 2003, S. 28; Hesiod, Erga, S. 693: „Achte auf den richtigen Zeitpunkt. Die rechte Zeit ist in allem das Beste“ (Übers. Otto Schoenberger). 67 Vgl. etwa „O mein tag mir so gross / Und so schnell mir entführt“ („Tag-Gesang I“; V, 79) oder „Dein erdenleib […] // […] bannt mich in den tag für den ich bin“ (VIII, 11).

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II. Systematische Aspekte

ge-Kreises, der letzten Folge der BfdK (1919), schrieb Ernst Morwitz, das „tu ne quaesieris“ des Horaz wörtlich aufgreifend: „Frag nicht nach ziel und nicht was morgen spricht / Hier schöpfe leben aus dem quell der stunde.“68 Das carpe-diem Motiv wird im Kreis – auch hier aktualisierend – mit kairologischen Aspekten der Lebensreform verbunden,69 wobei die Notwendigkeit von Bewusstsein und die Komponente eines timologischen Lebensgenusses in der Augenblicklichkeit hinzugefügt werden, die im Gedicht des Horaz nicht enthalten sind. Kairologische Konzepte waren innerhalb der Lebensphilosophie um die Jahrhundertwende durchaus verbreitet. Das „kairologische Zeitbewusstsein“ war ein gemeinsames „Merkmal der Avantgarden des frühen 20. Jh.“,70 an denen auch der George-Kreis Anteil hatte. So war es Gundolfs George-Monographie von 1920, in der der Kairos-Begriff „den [zeitgenössisch] nachgerade inflationären Höhepunkt seiner Beschwörung“ erreichte.71 Figuriert im griechischen Gott Kairos, dem immer fliehenden Gott des Augenblicks, wird der antike Gedanke der wert-vollen Zeit im George-Kreis lebensreformerischen Konzepten der beginnenden Moderne eingefügt (vgl. „Dies geheimnis ist das schwerste: / Augenblick als höchster Gott“; IX, 79). So beeinflussten kairologische Konzepte, die größtenteils an Platons Schriften entwickelt wurden, immens dichtungs-, aber auch sozialisations- und lebensphilosophische Theorien StGs und des Kreises. Diverse antike Kairos-Konzeptionen hatten in Platons Sokratikoi Logoi ihren Höhepunkt erreicht. In ihnen wurde die Vorstellung des Kairos als – sowohl ethisch als auch ästhetisch – erfüllter Augenblick entwickelt. „Das Erkennen [eines] Augenblicks“ sei bei Platon – laut Kurt Hildebrandt – ebenso „wichtig wie die Ideenerkenntnis.“72 Das trifft sicher so nicht zu, zeigt jedoch, wie zentral kairologische Konzeptionen im Kreis waren und wie wichtig StG und anderen Kreis-Autoren Platon als Quelle war. Ästhetisch kann sich Kairos bei Platon – und so auch im Kreis – auf Harmonie, Ordnung, Form und Symmetrie beziehen; ethisch kann er rechtes Handeln bezeichnen. Rhetorisch ist er die rechte Stelle und der rechte Zeitpunkt des Wortes: „Wenn einer […] den Augenblick erkennt, wann man reden, wann man sich zurückhalten muss, und wohl unterscheidet die rechte Zeit und die Unzeit für die […] Redeformen […]: erst dann ist die [Rede-]Kunst schön und vollkommen und ausgebildet.“73 Diese rhetorische Definition beeinflusste auch StG in der poetologischen Konzeption seiner Gedichtzyklen, in denen jedes Wort im Gedicht und jedes Gedicht an der ,rechten Stelle‘ stehen, zur ,rechten Zeit‘ gesetzt werden.74 Hierüber beeinflusste ein solches kairologisches Denken nachhaltig StGs Auffassung von Dichtung als Poiesis, als ,Mache‘. 68 BfdK 11/12/1919, S. 199. 69 Einen Überblick über die verschiedenen Ausprägungen der Lebensphilosophie und -reform bieten Kai Buchholz u. a. (Hrsg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001. 70 Gerhard Plumpe, Die Idee des „schönen Lebens“ im Kontext der Avantgarde, in: Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis, hrsg. v. Roman Köster u. a., Berlin 2009, S. 65–76, hier: 75. 71 Alf Christophersen, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008, S. 69. 72 Hildebrandt, Phaidros, S. 10. 73 Protagoras 326b; Phaidros 272a (in der Übers. v. Kurt Hildebrandt). 74 Zu StGs akribischer Arbeit an der Komposition seiner Zyklen vgl. Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert, Berlin, New York 2007. Vgl. auch Susanne Kaul, Kairos bei Stefan George, in: GJb 7/2008/2009, S. 1–19.

4. Traditionsverhalten

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Lebensweltlich gilt für platonisch geprägte kairologische Konzepte, dass sie von der „singulären Gelegenheit“ bis zur „prinzipiellen Erfordernis“ der jeweiligen Situation gerecht werden müssen, dass für das „menschliche Handeln“ gilt, „die richtige Deutung zu finden bzw. den rechten Ton zu treffen“.75 Kairologische Dichtungskonzeptionen können so gleichzeitig auch Lebenskonzeptionen sein. Ernst Robert Curtius unterschied 1876, dass Chronos der „äußere rahmen [sei], innerhalb dessen alles menschliche Thun sich bewegt“; wogegen Kairos die Zeit [sei] so weit sie unser ist, die unmittelbare Gegenwart, die Zeit in Beziehung auf den Inhalt, welchen wir ihr geben, also den für jedes Handeln entscheidenden Augenblick, dessen Benutzung die Voraussetzung und die Bürgschaft des Gelingens ist.76

Kairos galt dann auch dem George-Kreis als eigene Zeit, als ent-scheidende LebensZeit im Sinne von Krisis (Entscheidung). Deutlich wird die Verschränkung von poetischem und sozialisierendem Impetus in StGs Versen, die an Woldemar von Uxkull gerichtet sind: Wartend am kreuzweg stehst du in schweben: Ob nach rechts ob nach links mich begeben . . Liebe lädt dich · folge dem bann! Dies ist dein loos-jahr – erstmals im leben – In dem du selber wahl triffst als mann. (IX, 72)

Bei enger Verschränkung aus antiker Allegorie (Herkules am Scheideweg), zeitgenössischer Lebensphilosophie (Dezisionismus) und platonischem Kairos-Verständnis („loos-jahr“)77 lässt schon das Akrostichon der Anfangsbuchstaben (W-O-L-D-I) erkennen, wie intensiv das Erfassen des ,rechten Augenblickes‘ in seiner ent-scheidenden Funktion verstanden wird: lebensphilosophisch, pädagogisch-erotisch (LehrerSchüler, „Liebe lädt dich“), dichtungstheoretisch (Lebensbezug), axiologisch in der Aufwertung des Augenblicks und schließlich performativ („folge“). Es lässt damit auch erkennen, wie eng die Verwobenheit von Kunst und Leben in StGs Konzeption – nach dem Algabal – generell gedacht wird. In synthetisierendem Sinne nannte StG in Kunst und menschliches Urbild den Rhythmus „lebensfliessung“ (XVII, 70). Auch deshalb, weil das Modell des Kairos im George-Kreis nach 1905 Kunst- und Lebensrhythmus vorgibt, sind Kunst und Leben in diesem kairologischen Konzept nicht zu trennen. Die kairologischen Denkmuster werden ab Mitte der 90er-Jahre in StGs Werk sukzessive zum durchgehend beherrschenden poetischen Prinzip. StGs Poetik stellt sich, beeinflusst durch die Antike-Rezeption, spätestens seit dem Teppich des Lebens dar als ein – durchaus in seiner Zeit verankertes – Dichtungskonzept, das ein lebensphilosophisches Zentrum enthält; ein Dichtungskonzept, in dem die Trennung von Kunst und Leben in der an Platon gebildeten Vorstellung des metron ariston aufgehoben ist bzw. zu einer Lebens-Kunst gestaltet wird. Auch bei Platon gibt es zwischen Kunst und Leben, laut Heinrich Friedemanns von StG stark beeinflusstem und von ihm wiederum hochgelobtem Platon-Buch, keinen Unterschied: Denn „die 75 Sandra Kluwe, Krisis und Kairos, Berlin 2003, S. 28. 76 Ernst Robert Curtius, Die Darstellungen des Kairos, in: Archäologische Zeitung N. F. 8/1876, S. 1–8, hier: 1. 77 Vgl. den Unterweltsmythos in Politeia (617d–621d).

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II. Systematische Aspekte

alles griechische füllende kalokagathie“78 habe keine Trennung „des [E]thischen vom [Ä]sthetischen“ gekannt.79 Das ist in dieser Ausschließlichkeit nun nicht haltbar, aber es ist eines der Axiome der Platon-Deutung des gesamten George-Kreises. 4.4.5.3. Inspiration Außerordentliche Bedeutung gewannen erotologische und kairologische Elemente für die Inspirationstheorie StGs. Die Vorstellung, dass der Künstler durch eine göttliche Eingebung inspiriert werden müsse, ist ein aus der Antike überlieferter Topos, den StG gleich zu Beginn seines Werkes im Gedicht „Weihe“ (II, 10) darstellte. Später übersetzte er die Inspiration (wörtlich „Ein-hauchung“) mit dem „grossen feierlichen hauch“ (V, 11). Die Inspiration ist so bei StG ein emergentes Phänomen, Wirkung einer schöpferischen Kraft. Sie ist, in Anlehnung an den Phaidros, nur im aus der gewöhnlichen Zeit herausgehobenen Augenblick, dem Kairos, denkbar; sie geschieht nur zur ,geeigneten‘ Zeit. Inspiration lässt sich, als göttliche Gunst aufgefasst, nicht erzwingen. Sie wird in StGs Lyrik dargestellt wie ein „blitz“, der „sich nicht rufen“, nicht vorhersehen lässt (V, 20): „Nennt es den blitz der traf den wink der lenkte: / Das ding das in mich kam zu meiner stunde . .“ (VIII, 25). In diesen beiden Versen konzentriert sich das synkretistische erotisch-kairotische Inspirationsverständnis StGs. Da ist das blitzartige Erscheinen des Kairos, das trifft wie der Pfeil des Eros. Da ist die Eigenschaft des Kairos, zum Lebenslenker nur des Menschen zu werden, der fähig ist, den Vorbeieilenden zu ergreifen. Da ist das Eindringen des Kairos als göttliche Gunst in den vom Blitz Getroffenen. Enthalten sind zudem die Hervorhebung der rechten, individuellen kairotischen Stunde („meiner stunde“) und die (Selbst-)Bewusstheit der Ergriffenheit und des Ergriffen-Habens. Das so im Kairos Zugeteilte wird als enthusiastisch („in mich kam“) empfunden. Der Kairos fährt, blitzartig treffend, nur zur rechten Zeit ein. Das Begehren des Künstlers ist dabei zunächst, wie es StG im Neuen Reich formuliert, wenigstens für „einen augenblick / Ergriffen [zu sein] von dem welthaft hohen schauer“ (IX, 22). Die Vorstellung des Eindringens – der durchaus gewaltsamen Er-Füllung – der göttlichen Kraft (der theia dynamis) in den Dichter ist für StGs Werk essentiell. Oft wird dies missverstanden und vereindeutigend profan gelesen als kaum verhohlenes Bekenntnis von Homosexualität. Doch dieses Denkmuster ist zunächst einmal enthusiastisch-inspirativ: Inspiration geschieht – in antiker Überlieferung nicht nur bei Platon – als (erotischer) Enthusiasmos: Enthusiasmus heißt zunächst göttliche Eingebung, Besessenheit von Gott, abgeleitet von entheos, von Gott erfüllt: entheos ist, wer den Gott in sich hat.80 StG übersetzt es mit „des gottes volle“ (VI/VII, 25). Ekstasis ist das rauschhafte ,Aus-sich-Heraustreten‘, das Außersichgeraten (auch das Aufgehen der Einzelperson im gemeinschaftlichen Kult). Es wird zunächst aus sich herausgetreten, damit das Göttliche einfahren kann. Es ist eine Ein-ver-leib-ung des Gottes/des Göttlichen.81 StGs Gedichte „Einverleibung“ 78 Friedemann, Platon, S. 39. 79 Ebd., S. 40. 80 Vgl. Martin Vogel, Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, Regensburg 1966, S. 178–191. 81 Vgl. auch F. Gundolfs Gedicht-Zyklus Von der Erfüllung (als Er-Füllung) in: BfdK 4/1899, 5, S. 143–150.

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(VI/VII, 109), „Empfängnis“ (VI/VII, 128) oder „Entrückung“ (VI/VII, 111) gestalten ekstatisch-enthusiastische Prozesse einer menschlich/göttlichen Unio im traditionell platonisch-erotisch gefärbten Vokabular. Der Rausch der kairotisch-erotischen Inspiration und Urbildschau ist bei StG Bedingung für jeden künstlerischen Schaffensprozess. Im kairotischen ,Augenblick‘ dichterischer Inspiration werden ,Urbilder‘ (bzw. deren Erinnerungsbilder) sichtbar; der Dichter erlebt im Kairos Inspiration als eine rauschhafte Schau. Ganz platonisch erliegt so die Seele, laut dem Phaidros, der „vierten und höchsten Art des Wahnsinns, der edelsten der Gott-Begeisterungen“, dem Wahnsinn des Eros: Wenn nämlich ein Mensch beim Anblick der irdischen Schönheit sich der wahren erinnert, so daß ihm die Flügel wachsen und er die Flügel regt in der Sehnsucht, sich aufzuschwingen – er aber hat nicht die Kraft dazu […], so gibt er Anlaß, daß man ihn wahnsinnig nennt. Diese aber ist unter allen Gottbegeisterungen die edelste […], weil um der Teilnahme willen an diesem Rausch der die Schönen Liebende ein Verliebter genannt wird.82

Auf erotisch-poetologischer Ebene ist der Rausch (vgl. „rausch der alle sinne mengt“; VI/VII, 80) ,Füllung‘ durch die Gottheit („Nimm und weih mich zum gefässe! / Fülle mich: ich lieg und lausche!“; VI/VII, 128), er ist (Er-)Füllung auch durch dichterischen Wahnsinn, die platonische Mania. Eros und Kairos führen bei StG in der Mania, „[i]m rausch der weihe“ (VI/VII, 111), ekstatisch „[z]uckend in dem freudigen wahne“ (VI/VII, 128) zur Schau des Kalon, des Ideal-Schönen. Diese göttliche Inspiration fruchtet nur im Kairos: Es ,wird‘ künftig nur, was ,jetzt‘ rechtzeitig begonnen wird, vergleichbar dem Säen des Samens einer Pflanze. Kairos gilt als recht-zeitige Befruchtung für künftiges Wachsen. Zur falschen Jahreszeit oder in unfruchtbaren Boden Gesätes gedeiht nicht. Auch durch das Motiv des Säens ist die Inspiration erotisch konnotiert. Zugrunde liegt hier die platonische Vorstellung vom Säen in die Seele (Phaidros 276e/277a): „wenn jemand […] die geeignete Seele wählt und sie bepflanzt und besät mit Reden der Erkenntnis, die […] Samen tragen“ (KHW, 89). Ergebnis der erotisch-kairotischen befruchtenden Inspiration ist das symbolische Kunstwerk. Platons Inspirationslehre wurde von StG sukzessive zu einer Poetik verschmolzen, mit der sich ein spezifisches Symbolkonzept entwickelte. 4.4.5.4. Symbolik Überall scheint in StGs Werk die an Platon (Timaios) geschulte Vorstellung durch, dass hinter bzw. in der Physis der Lebenswelt geistige Strukturen vorhanden sind, die durch Kunst transparent und sinnlich wahrnehmbar gemacht werden können. ,Geschaute Urbilder‘ reicht der Dichter durch die Kunst weiter: stilisiert in typologischen ,Gestalten‘, ,Gebärden‘, ,Gesten‘ und poetischen ,Bildern‘. ,Gestalt‘ war (durchaus im Sinne von griech. Morphe) ein „Schlüsselbegriff“ des Kreises.83 Und diese ,Gestalt‘ wird bei StG über die gedankliche Brücke von (zeitlosem) Typos in die Nähe von platonischer Idee gebracht. So konnte auch Platons Lehre vom TeilhabeVerhältnis zwischen Ur- und Abbild, der Teilhabe von Idea an Physis, starken Ein82 Hildebrandt, Phaidros, S. 48. 83 Weigand, Nietzsche, S. 74.

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II. Systematische Aspekte

fluss auf die Bildkonzeption und den Symbolbegriff zunächst StGs und später des Kreises ausüben. Die in StGs Dichtung so wichtigen ,Gebärden‘ und ,Gesten‘ sind ästhetisch/aisthetisch (sinnlich wahrnehmbare) Gestaltungen von Idee. „Platons gott ist die gestalt“,84 wird Friedemann dies – begrifflich inkorrekt, aber bezeichnend – später (1914) pointiert zusammenfassen. In StGs Poesie blinkt zunächst die Idee in der Physis (Ding, Leib) scheinhaft auf. Denn ganz platonisch gedacht, rufen kurz geschaute „Denk-bilder“ (so StGs Wort für Idee) in der Erinnerung an sie (Anamnesis) ein ,Sehnen‘ (den Eros der Diotima aus dem Symposion) hervor. Das erotische Sehen wird so zur dynamis des Künstlers. Die Darstellung in der Kunst (Mimesis) lässt die geschauten Urbilder durchscheinen und bewirkt so aisthetische Teilhabe (Methexis) des Gegenständlichen an den Ideen (auch des Geistigen am Leib). Die künstlerische Verwandlung des Gegenständlichen ins Symbol stellt diese Teilhabe bei StG jedoch erst her. Sie ist das Verdienst des aus dem „land des rausches“ zurückgekehrten Künstlers („Rückgekehrt vom land des rausches“; VIII, 71). Solch eine (Transparenz-)Symbolik stellt sich in StGs Dichtung als eine kairotisch aufscheinende Anwesenheit (Parousia) des Geistigen (oder der Idee) im Gegenständlichen (speziell auch dem Leib) dar. So kann der Künstler „das wahre bild am reinsten fass[en]“ (VI/VII, 54); und so kann durch das Symbol „das wesen klar“ gesehen werden (VI/VII, 51). Kurt Hildebrandt deutete sehr viel später als StG, ihn gleichsam mit Platon lesend, Platons Ideenlehre denn auch als ,Transparenz‘. Denn durch „Platons ideenmäßige Schau der sinnlichen Welt schein[e] das ewige schöpferische Geheimnis hindurch, ohne daß die sinnliche Erscheinung entwertet, aufgelöst, als bloßer wertloser Schein erklärt“ würde:85 Im Symbol entsteht so eine Einheit von Sinn und Sinnlichkeit. StGs Symbol ist aisthetische Entität in der Kunst; es ist immer wieder transparent auf sein Urbild (Kalon); es bringt in Verleiblichung idealer Schönheit diese zur Anschauung und füllt das Materielle mit Sinn. Es ist in seiner sinnlich-materiellen Qualität zwingend leibliches Ding-Symbol. In diesem Sinne wird in StGs Symbol der „leib vergottet und de[r] gott verleibt“ (VI/VII, 53). In der Maximin-Figuration reicht diese Symbolkonzeption über die Kunst hinaus in die konkrete Lebenswelt hinein. Denn durch Maximin hindurch scheint – sichtbar – der Gott, da er entheos, gotterfüllt, ist: „Ich seh in dir den Gott / Den schauernd ich erkannt / Dem meine andacht gilt“ (VI/VII, 90). Jedoch ist StGs Maximin-Entwurf weniger dem Symbol zuzuordnen als einem anderen an antiker Literatur gewonnenen Konzept, des sokratisch/platonischen Daimonions. 4.4.5.5. Daimonion „Kairos eroti philos“ – Kairos ist dem Eros hold – heißt es bei Phanis in der Anthologia Graeca.86 Und kairotische und erotische Elemente verbinden sich bei StG im ,Engel‘, der erstmals 1896 im Gedicht „Der Besuch“ in der dritten Folge der BfdK auftritt. Dieser Engel als mythische Konfiguration stellt in mehrfacher Hinsicht eine 84 Friedemann, Platon, S. 100, Anm. 11. 85 Kurt Hildebrandt, Frühe griechische Denker, Bonn 1968, S. 124. 86 Anthologia Graeca, Bd. 12, übers. u. hrsg. v. Hermann Beckby, 2., verb. Aufl., München 1965, S. 27.

4. Traditionsverhalten

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Schlüsselgestalt im Werk StGs dar. Denn der nackte himmlische Gesandte ist der Bote des ,schönen Lebens‘, er ist Inspirator einer neuen Art von Dichtung, und er leitet die Wende von der Rom- zur Hellas-Verehrung StGs ein. Schließlich ist er Ausdruck eines von StG an Platon/Sokrates entwickelten Daimonion-Konzeptes. Das Gedicht „Der Besuch“ eröffnet später – dann ohne Titel – programmatisch das Vorspiel zum Teppich des Lebens (V, 10). Hier tritt zur ,rechten Zeit‘, in der Krisis des Dichters, der Engel durch die „pforte“. ,Engel‘ ist die deutsche Übersetzung des griechischen ,Angelos‘, des Boten, wobei ihn schon seine Nacktheit als der griechischrömischen Antike zugehörige, nicht christliche Figuration ausweist. Die Blumen der Keuschheit und der Scheu (Lilien und Mimosen) verliert er; die Blumen der Liebe behält er („rosen waren um sein kinn“). Die Begegnung von „göttlich nackte[m]“ Engel (VI/VII, 147) und Dichter mündet in einer Inspirationsszene: Ähnlich wie zu Beginn von StGs Werk im Gedicht „Weihe“ die Muse den Dichter küsst, endet das Gedicht mit dem Kuss des Engels („ich badete beglückt / Mein ganzes antlitz in den frischen rosen“; V, 10). Statt den „strofen […] tiefste[r] kümmerniss“ entsteht nun eine Dichtung des ,schönen Lebens‘. In der Engels-Figuration vermischen sich verschiedene Aspekte göttlicher Kräfte. Am nächsten steht der Engel dem archaischen Eros, der in der griechischen Kunst zunächst nicht als Kind, sondern schöner Jüngling dargestellt wurde. In „Ist dies der knabe längster sage“ (VIII, 72) thematisiert StG den historischen Wandel im Erscheinungsbild von Eros-Darstellungen. Die Darstellung des Eros als schönem Jüngling wird dort gegenüber der des puttenhaften Knaben als ursprünglicher angesehen und bevorzugt: „Sein leib ward schlank und straff“. Doch Eros erscheint im Vorspiel nicht als Gott, sondern in Anlehnung an Platon als Daimon, als „guter geist“ (V, 12) (EuDaimon). Das Daimonion ist nach Platons Sokrates eine innere Stimme göttlichen Ursprungs, die ihn vor falschen Entscheidungen warnt (Apologie 31 D und 41 D). Diotima bestimmt im Symposion Eros als Daimon, wobei sie seine Boten/MittlerFunktion hervorhebt. Auf Sokrates’ Frage, was Eros denn sei, wenn kein Gott, antwortet sie: Was also, o Diotima? – Ein großer Dämon, o Sokrates. Denn alles Dämonische ist zwischen Gott und dem Sterblichen. – Und was für eine Verrichtung, sprach ich, hat es? – Zu verdolmetschen und zu überbringen den Göttern, was von den Menschen, und den Menschen, was von den Göttern kommt, der einen Gebete und Opfer und der andern Befehle und Vergeltung der Opfer. In der Mitte zwischen beiden ist es also die Ergänzung, so daß nun das Ganze in sich selbst verbunden ist. […] Denn Gott verkehrt nicht mit Menschen, sondern aller Umgang und Gespräch der Götter mit den Menschen geschieht durch dieses, sowohl im Wachen als im Schlaf. Wer sich nun hierauf versteht, der ist ein dämonischer Mann […]. Solcher Dämonen oder Geister nun gibt es viele und von vielerlei Art, einer aber von ihnen ist auch Eros.87

Beispielhaft wird diese dämonische Eros-Auffassung in einem Gedicht von Robert Boehringer (1919) aufgegriffen:

87 Platon, Symposion, 202c–202e (in der Übers. v. Friedrich Schleiermacher).

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II. Systematische Aspekte

Eros Ruh · verwandelnder dämon · und ihr · stürme von süden Ruh nur ein einziges jahr fleht der geängstete sinn! Fliehen möcht ich · aber wohin? Ein glühender atem Lähmt mir die glieder · mich stösst vorwärts die böse begier.88

Verschiedene göttliche Attribute verschmelzen hier miteinander und werden untrennbar dem „dämon“ Eros zugeordnet. In „böser begier“ begegnet der Künstler der „süßen Gefahr“, die die Verfolgung durch den ihn „verwandelnde[n] dämon“ darstellt.89 Auf Grundlage des sokratisch/platonischen Daimonions, das Götter durch göttliche Kräfte (Daimones) ersetzt – so die Sokrates-Deutung StGs –, entsteht auch die synkretistische Engels-Figuration. Sie enthält gleichsam kairo- wie erotologische Züge (wie Kairos hält der Eu-Daimon die „rechte wage“; V, 12). In Verbindung mit dem platonisch-erotischen Enthusiasmos-Konzept der göttlichen Besessenheit der Dichter (Phaidros, Ion) wird die Platon-Rezeption auch in Form eines poetologischreflexiven Paradigmas für das Dichtungskonzept StGs zentral. Im an Platon/Sokrates entwickelten Daimonion-Konzept erscheint Eros als theia dynamis (göttliche Kraft), Kairos als theia mira (göttliche Gunst); beide erscheinen sie als Kräfte, die zur Erkenntnis des Schönen drängen. Das Vorspiel zeigt, wie der göttliche Bote den Dichter und seine Dichtung verändert („verwandelnder dämon“). Die Epiphanie des göttlichen Boten ist im Vorspiel angelehnt an die Eros-Auftritte bei Dante (Vita Nuova) und Shakespeare (Sonette). Nach erster Begegnung (Vorspiel I) bittet der Dichter den Boten um dichterische Inspiration: „Gib mir den grossen feierlichen hauch“ (Vorspiel II; V, 11). Als Prätext dient hier Dantes Inspirationsszene aus dem Purgatorio, wo es auch der Liebesgott ist, der dem Dichter den neuen Stil einhaucht („Amor mi spira […] dolce stil novo“; XXIV, V. 52–60). Nach der erotischen Inspiration folgt eine Änderung im Leben des Dichters, der sich in den ,Dienst‘ des Göttlichen begibt (Vorspiel III). Dieser Dienst wird dem Dichter zunächst zu drückend; die Versuchung, ihn aufzugeben, wird jedoch überwunden (Vorspiel IV). Der Engel gibt nun die Richtlinien des ,neuen Lebens‘ vor (Vorspiel V). Der Dichter ist dem erotischen Rausch verfallen, da er „der gluten kelch empfäng[t] / Der dich berauschen wird solang du leibst“ (Vorspiel VI; V, 15). Es ist „Hellas“, das nun zum Vorbild für seine neue Dichtung und die seiner zukünftigen Schüler wird (Vorspiel VII; V, 16). Die heidnisch-antike Ausrichtung der neuen Lyrik zeigt sich im Verzicht auf „sünde“, „sitte“ oder Vergebung (Vorspiel VIII; V, 17). Das neue poetische Ideal ist eine besonnene Dichtung (Vorspiel IX), die sich durch strenge Form auszeichnet (Vorspiel X). Der Dichter weiht seine Schüler nun in die Inspirationslehre ein, erklärt ihnen die kairotisch „selige stunde die so kurz nur schmückt“ (Vorspiel XI; V, 20). Er ist nun zum ,Liebespriester‘ („der liebe […] priester“; V, 21), nach dem Vorbild der griechischen Dichter zum Diener des Eros geworden (Vorspiel XII). Gegen vom Kreis postulierte moderne Stil-Verzerrung in der Dichtung (dem „falschen maass“; V, 22) wird die antike Kunst zum Modell erhoben (Vorspiel XIII). Nach einem Rückblick auf das nun vergangene Jahr (Vorspiel XV) trifft den weltbe88 Robert Boehringer, Eros, in: BfdK 10/1914, S. 127–129, hier: 127. 89 Leifer, Dionysos-Rausch; vgl. Wilhelm Kühlmann, Der Mythos des ganzen Lebens. Zum PanKult in der Versdichtung des Fin de Sie`cle, in: Aurnhammer/Pittrof (Hrsg.), „Mehr Dionysos“, S. 362–400.

4. Traditionsverhalten

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obachtenden Dichter (Vorspiel XVI) der „pfeil“ des Eros in die „seele“ (Vorspiel XVI; V, 25), dessen Kraft ihm die Umschmelzung des Erlebten in Dichtung ermöglicht. Er erhält nun die Gunst der ,göttlichen rede‘, denn er spricht fortan „wie herab vom äther“ (Vorspiel XVII; V, 26). Nach dieser Dämonisierung auch der Dichterweihe werden Hellas, Dante und Shakespeare als Vorbilder beschworen (Vorspiel XVIII). Eros/Kairos führt nun die Dichterseele im Rausch in den Götterhimmel (Vorspiel XIX). Dem Aufstieg der Seele folgt der Absturz (Vorspiel XX). Am Ende des Weges geht der Dichter allein den stillen Pfad, dem Tod entgegen (Vorspiel XXI). Die KussSymbolik des Eingangsgedichtes wird aufgegriffen, und der Engel wird zum hermesähnlichen Seelenführer (Psychopompos) des Dichters (Vorspiel XXII). Seine Schüler schwören dem Dichter Treue (Vorspiel XXIII); für den sterbenden Dichter hält der Engel die Totenwache (Vorspiel XIV). Das an Platon entwickelte Daimonion-Konzept ermöglicht es StG, mithilfe der Amalgamierungstechnik, über die Symbolik hinaus, abstrakte Eigenschaften (Eros, Kairos, Hermes, Engel), die in originellen Figurationen neu zusammengesetzt werden (vgl. auch den ,Drud‘ aus dem Neuen Reich; IX, 53–56), in poetisch-sinnliche ,Leiber‘ umzuwandeln. 4.4.5.6. Schönes Leben Vorbild Hellas Die Erscheinung der Engelskonfiguration dokumentiert auch StGs Wendung von Rom zu Hellas, die im Vorspiel ausgelobt wird: „Hellas ewig unsre liebe“ (V, 16). Zu Beginn war StGs Rezeption der antiken Literatur noch geprägt von der Faszination für die „schriften der Byzantiner und Spätlateiner“ (XVII, 47), wobei das manieristische Dionysos-Epos, die Dionysiaka des Nonnos,90 noch den Werken Homers vorgezogen wurde. Die Literatur des Hellenismus und der römischen Spätantike wurden dann jedoch hauptsächlich im frühen Werk (Algabal) rezipiert, und StGs Interesse verschob sich. So vollzog sich in StGs Dichten und Denken der Wechsel von Rom zu Griechenland91 („Schon lockt nicht mehr […] / Das allumworbene trümmergrosse Rom“; V, 14). Dieser Wechsel von Rom zu Griechenland92 vollzog sich in StGs Dichtung schon früh; Orient und römische Spätantike wurden hauptsächlich im frühen Werk (Algabal), „noch dekadenzästhetisch“93 rezipiert. Im Weiteren folgte StG jedoch der Rezeption, die das 18. und 19. Jahrhundert vorgeprägt hatte: Rom als „Welt der (politischen) Täter“94 („Des weibes Rom mit dem die könige buhlen“; VIII, 46), Griechenland als Land der schönen Kunst und Kultur. ,Hellas‘ – als das klassisch emp90 Im „glanzumflossenen gotte“ (V, 29) des 20. Vorspielgedichtes zum Teppich des Lebens identifiziert Morwitz etwa den Eros mit dem Verweis auf die Lektüre der Dionysiaka des Nonnos (EM I, 173). 91 Vgl. Rüdiger, Georges Begegnung, S. 247. 92 Vgl. ebd. 93 Wolfgang Braungart, Archäologische Imagination als poetische Kulturkritik. Stefan Georges Gedicht ,Porta Nigra‘ und sein ,kosmischer‘ Kontext (Alfred Schuler), in: Eva Kocziszky (Hrsg.), Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, S. 293–309, hier: 296. 94 Ebd.

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fundene antike Griechenland (8. bis 5. Jahrhundert) – wurde fortan für StG und den Kreis in der Tradition der deutschen Griechenlandverehrung Winckelmanns, Goethes, Jacob Burckhardts, aber auch Nietzsches immer mehr zum Reflexionsmedium kulturkritischer Prägung und Vorbild für künstlerische Theoreme von „umkehr in der kunst“95 und künstlerischer „umformung des lebens“.96 Programmatisch forderten 1897 die BfdK einen „umschwung des deutschen wesens“: Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel: dass unsre jugend jezt das leben nicht mehr niedrig sondern glühend anzusehen beginnt: dass sie im leiblichen und geistigen nach schönen maassen sucht: dass sie von der schwärmerei für seichte allgemeine bildung und beglückung sich ebenso gelöst hat als von verjährter lanzknechtischer barbarei.97

Die Kategorie ,Leben‘, die hier mit Hellas verbunden und beschworen wird, war das Zentrum vieler Diskurse der beginnenden Moderne um 1900. Der u. a. von Nietzsche und Bergson beeinflusste vitalistische Lebensbegriff wurde vom George-Kreis mit Platon differenziert, teilweise ersetzt. So wurde Platons ,Lebensfeindlichkeit‘ (Nietzsche) vom George-Kreis neu- und umgedeutet zur „Lebensherrlichkeit Platons“98 und an Bergson angeschlossen.99 Platon wurde für den George-Kreis, der sich ab 1904/05 konstituierte, zum ,Philosophen des Lebens‘ und so zur Autorität seiner lebensreformerischen Konzepte. Als eine Reaktion auf die ,Zersplitterung des Lebens‘, auf die ,fehlende Einheit der Kultur‘, stellten Platons Schriften (auch seine Briefe) für den Kreis eine Orientierung bereit, die das ,Vielfach-Zerstreute‘ – Platons Poikilia100 – in neuen Ganzheitsvorstellungen zusammenfasste, zu denen z. B. das Gestaltkonzept des Kreises zählt. ,Hellas‘ stellte für den George-Kreis innerhalb der zeitgenössischen Lebensphilosophie immer mehr eine gesamt-kulturelle ,höhere Lebensform‘ dar, ein Erziehungsprogramm für die Jugend und auch ein ästhetisches Modell für „neue reinere kunsthimmel“.101 Es wurde für den Kreis zum rückwärtsgewandten sozialen und artifiziellen Vorbild eines neuen Arkadien. In diesem Modell bündelten sich die Vorstellungen zu einer Schätzung der Antike als einer Lebenstotalität, deren ,Urbildlichkeit‘ eine „völlig gebildete Körper- und Geberdensprache“ mit dem ,freien und leichten Stil des natürlichen Wachstums‘, ohne die ,Verdüsterungen der Moral‘ vereint („Du sprichst mir nie von sünde oder sitte“; V, 17).102 So wurde „die hellenische Art zu leben“103 auch Vorbild für den Kreis. Antike Literatur wurde Teil eines ästhetischen Erziehungsgedankens, und ,Hellas‘ wurde zum historisch-reflektierten Modell für das oft beschworene Konzept des ,schönen Lebens‘, dessen Modell Platons Symposion bildet. Der komplexe Zentralbegriff des ,schönen Lebens‘, der von den Eigenschaften seines Boten (Engel/Eros/Kairos) nicht zu trennen ist, galt den späteren Kreismitglie95 96 97 98 99 100 101 102 103

BfdK 3/1896, 5, S. 129. BfdK 3/1896, 1, S. 1. BfdK 4/1897, 1/2, S. 4. Friedemann, Platon, S. 94. Vgl. Ernst Gundolf, Die Philosophie Henri Bergsons, in: Jb 3/1912, S. 32–92. Hier auch der Versuch, Bergsons ,vue‘ mit Platons ,Ideen-Schau‘ zu vereinbaren. Vgl. Andreae, Platons Poikilia. BfdK 3/1896, 3, S. 132. Kolk 1998, S. 161, in Anschluss an Friedrich Gundolf, George, Berlin 1920, S. 105. Blumenthal, Vorbilder, S. 2.

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dern als Übersetzung aus Platons Nomoi (817 b4): „synesteke mimesis tu kallistu kai aristu bion“ („eine Darstellung des schönsten und besten Lebens“). Der Begriff setzt sich zusammen aus der Reflexion der Frage nach dem ,rechten leben‘, dem eu biosetai Platons, der lebensphilosophischen Paradigmen von bios theoretikos, hedonitikos und politikos, sowie aus der Frage, ob das Reflexionsobjekt ,Leben‘ als theoretisches zoe oder praktisches bios anzusehen sei. Die Bestandteile des ,schönen Lebens‘ können wörtlich ernst genommen und differenziert werden: Das ,schöne Leben‘ ist zunächst Teil der lebensreformerischen Konzepte der Zeit um 1900; es ist ebenso Teil der zeitgenössischen Suche nach dem Schönen, Ästhetischen, der Suche nach einem neuen ,Stil‘; darüber hinaus enthält der Begriff eine nicht aufzulösende Verbindung von Ethik und Ästhetik, wobei Platons Kalokagathia Pate stand. Orientierung am Schönen Das ,schöne Leben‘ ist nicht das ,gute Leben‘, nicht das ,süße Leben‘, nicht die Dantesche „vita nuova“. Mit seinem Beiwort enthält das ,schöne Leben‘ eine von Beginn an enge Verbindung zur Kunst, enthält es seine Verbindung zur Aischyne, der Scham vor dem Hässlichen/Niedrigen. Es ist nicht zufällig ein ,Dichter‘, dem der Bote des ,schönen Lebens‘ erscheint (V, 10): Dieses Leben ist von der Kunst nicht zu trennen. Zudem ist im ,schönen Leben‘ auch mehr als nur die ,schöne Seele‘ (Schiller) enthalten. Es ist in seiner Betonung des Lebens praktisch-diesseitig, leiblich-sinnlich orientiert. Laut dem Neuen Reich „erfand / Der Göttliche [Platon zwar] zu hilf und heil die seele …“ (IX, 86), aber nur – so die Deutung des Kreises –, um einem (in Athen) aufkommenden radikalen Materialismus ein spezifisches ethisches Leib-Seele-Modell entgegenstellen zu können. StG galt der (schöne) „Leib“ als der „beseelte Körper“ (KHW, 91); auch dafür steht die ,Nacktheit‘ des ,Engelsboten‘. So ist auch im LeibSeele-Verhältnis – wie im Symbol-Konzept – das Gedankenmodell der Methexis zentral. Dieses Verhältnis wurde nicht als ein Nebeneinander, nicht als Gleichheit, nicht hierarchisch, sondern als teil-habend verstanden. Eine Trennung von Leib und Seele ist in diesem Modell nicht möglich (vgl. die Auffassung von ,leben‘ als ,leiben‘ seit dem Teppich; V, 15). Das ,schöne Leben‘ steht mit seiner Fokussierung auf hellenische, ,schöne und diesseitige Sinnlichkeit‘ nicht zuletzt in Beziehung zu der um 1900 zeitgemäßen Suche nach einem (Lebens-)Stil, nach einer ,Stilwende‘. Denn diese ,Stilsuche‘ der beginnenden Moderne war eng verbunden mit einer Reform von Lebensverhältnissen. Bei StG wurde ,Stil‘ zum Bestandteil von Lebensanschauung.104 Stilkunst, Stilsuche, stilisiertes Leben – nennt man es modern style, art nouveau oder Jugendstil; StGs ,schönes Leben‘ kann durchaus im Kontext der allgemeinen Suche nach Kunst- und Lebensreformen begriffen werden. Dabei erhält der Begriff seine spezifisch Georgesche Ausprägung wiederum durch seine intensive Bindung an die platonischen Schriften. Versteht man Ethik im ursprünglichen Wortfeld von Ethos als Brauch, Übung, Gewohnheit, Wesen, Charakter, Haltung (wie in Platons Nomoi), ergibt sich die Möglichkeit, die sich sukzessiv entwickelnde Kreispraxis und Kreispädagogik ins Verhältnis zum ,schönen Leben‘ zu setzen und als einheitlichen Komplex zu untersuchen. Die Erin104 Vgl. Martin Roos, Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, Düsseldorf 2000, S. 146.

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II. Systematische Aspekte

nerungsschriften des Kreises über die drei großen festlichen Zusammenkünfte des Kreises (1913, 1919, 1928) sind in ihrer – unübersehbaren – Stilisierung Dokumente einer an Platon orientierten Konzeption, gleichzeitig aber auch eine Darstellung vom ,schönen Leben‘. Denn diese Kreisschriften orientieren sich an Platons Dialogen, die einmalige ,göttliche‘ (kairotische) Augenblicke (Symposion) festhalten – so etwa Robert Boehringers halbfiktionaler Ewiger Augenblick, der das Kairos-Verständnis ja schon im Titel trägt und in seiner Dialogform auf Platons Sokratikoi Logoi verweist. In den (späten) Kreis-Schriften und in StGs späteren Gedichten tritt der hohe Grad der Anlehnung an die platonische Synousia, der philosophischen Gemeinschaft von Lehrer und Schülern, die StGs pädagogische Überlegungen beherrscht, noch stärker hervor. So wird das Heidelberger ,Pfingsttreffen‘ des Kreises (1919) von Percy Gothein ein solches „fest“ genannt, das „seit zweitausend jahren und drüber nicht mehr auf erden gefeiert“ worden sei, denn auf diese Weise sei es zuletzt in „Platons Akademosgarten“ möglich gewesen.105 Auch die Lyrik des Kreises in der letzten Folge der BfdK, als der einzigen Schrift, die gezielt als eine Art liturgisches (Vor-)Lesebuch für das Kreistreffen von 1919 zusammengestellt wurde, ist essentiell für das Konzept vom ,schönen Leben‘. Diese Lyrik des Kreises spricht direkt an, wird gemeinsam vollzogen und gewinnt durch den stilisierten, getragenen Leserhythmus auch performative Kraft. Percy Gothein beschreibt ein ,Lebensfest‘ des Kreises und die Wirkung des gemeinsamen Vollzuges der Dichtung auf „leib wie die seele“: Beim „rhythmischen lesen“ löste das „hören und mitschwingen in den versen […] auch die verstocktheit, aber es löste nicht gänzlich auf und trennte nicht leib und seele wie die verflüchtigenden töne, es läuterte sie und durchdrang formend den leib wie die seele.“106 Als eine ,Durchformung‘ der Lebenswelt durch Stil wird die Kreispraxis hier gedacht. Kunst ist eingebunden in ein lebensphilosophisches Konzept, in dem sie jedoch nie ihren Kunstcharakter verliert, sondern geradezu ausstellt. Ihren theoretischen Unterbau erhalten solche Lesungen ebenfalls durch den engen Anschluss an Platon: Für solch ein Fest sei die „Gelegenheit zum Lied […] eine Gelegenheit, das tiefe, glühende Erlebnis der Gegenwart gemeinsam zu vollziehen, wie sie am ehesten Platons Symposion entspricht“, schreibt Kurt Hildebrandt (KHW, 186). So setzt sich das Konzept des ,schönen Lebens‘ zusammen aus pädagogischen, künstlerischen, kunstpädagogischen, lebensreformerischen und gesellschaftstheoretischen Anteilen, die sich unter dem Begriff einer Soziopoetik subsummieren lassen. Soziopoetik des ,schönen Lebens‘ Auch bildungspolitisch wurde Platon für den Kreis zur Berufungsinstanz. Denn laut Heinrich Friedemann waren „Auswahl und Gestaltung der Sagen und Sänge [bei Platon] die vornehmsten Angelegenheiten der Staatsschöpfung“ und dienten der „Erziehung der Jugend“.107 Platons Dialoge galten dem Kreis sowohl als literarische Kunstprodukte als auch als lebensphilosophische Schriften. So konnte das ,schöne Leben‘ auch zum Modell für Kunst und zur Aufgabe von Kunst im Staat wer105 Percy Gothein, Das Seelenfest, in: CP 5/1955, 21, S. 7–55, hier: 29. 106 Ebd., S. 21 (Herv. d. Verf.). 107 Friedemann, Platon, S. 135.

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den.108 Das Programm des ,schönen Lebens‘ enthält im George-Kreis letztlich die Vorstellung einer (auch durchaus zeitgenössischen) Umgestaltung der Lebenswelt und Kunstwelt bzw. die Ermöglichung ihrer gegenseitigen Durchdringung, d. h. die Vorstellung einer Einheit von Kunst- und Lebenswelt. In solcher an Platon entwickelten Verbindung von Staat, Kunst, Philosophie und erotischer Pädagogik schuf der George-Kreis einen Bildungs- und Kulturbegriff, der Leben, Wissen und Bildung, Geist, Seele, Eros, Kairos, Idee (die platonischen Schlüsselbegriffe) zu einem komplexen soziopoetischen Konzept vereinte, in dem Kunstvollzug auch als eine harmonische Inszenierung des Lebens erscheint. Das ,schöne Leben‘ insgesamt ist konzipiert als eine an Platon geschulte Therapeia tes Psyches und gleichzeitig Therapeia ton Theon (das Daimonion-Konzept von Eros, Kairos, Kalon) und ist somit auch auf Ausbildung einer lebensdienlichen Kunst (Techne tou Biou) gerichtet. So lässt sich erkennen, wie fundamental die enge Verbindung von Literatur/Kunst und Kulturpolitik im George-Kreis gesehen und an Platon entwickelt wurde, denn „die musische Erziehung war [Platon] das grundwerk des staates, wer sie erschütter[e] bring[e] auch den staat zu fall“.109 Auf das Studium der griechischen Kunst wurde vor allem StGs strenge Betonung des „Bildhaften und Anschaulichen“ in der Lyrik zurückgeführt,110 in der das „nie-anders-als-plastische, das ewig verlorene geheimnis von Hellas“111 enthalten sei. Viele dieser Vorstellungen bündeln sich in StGs Verständnis von dichterischem Rhythmus als „lebensfliessung“ (XVII, 70) (nach dem platonischen metron ariston, dem besten Maß). Kreispraxis ist modellhafter Vollzug des ,schönen Lebens‘ (vgl. hier wieder das Verständnis von Ethos als ,rechtem Brauch‘) in der Gemeinschaft, der für sie zugleich auch konstitutiv ist. Ihr Ziel finden die Vorstellungen in der platonischen Arete, der sittlich-charakterlichen Vollendung des Individuums, der Reife und der Ausbildung natürlicher Anlagen, in der individuell jeweils ,rechten‘ Nutzung der Zeit, im Erkennen des individuell ,rechten Maßes‘ als in diesem Sinne schöner Lebens-Zeit. So enthält der Begriff der ,Soziopoetik‘ knapp zusammengefasst erstens die in StGs Werk früh enthaltene Vorstellung einer (zumindest anfänglich geschlossenen) künstlerisch orientierten Gemeinschaft (durchaus im Rahmen zeitgenössischer sezessionistischer Bewegungen), gebildet nach dem Modell der platonischen Synousia. Zweitens enthält er Konzepte für Konstitution, Institution und Expansion solcher Gemeinschaft und drittens die Vorstellung der Durchdringung von Kunst und Leben (insofern ein in der gegenseitigen Teilhabe von Kunst und Leben avantgardistisches Konzept), deren Wechselwirkung zugleich performativ-vollziehend und erotisch-pädagogisch veredelnd gedacht ist („lebensrhythmus“). Aus der Antike-Rezeption entstand so im George-Kreis eine lebensphilosophische Grundierung von Dichtung. In erotischpädagogischen Inspirations- und Gemeinschaftsmodellen verbanden sich im George-Kreis poetisches und gemeinschaftsstiftendes Wirken, wie es am deutlichsten in StGs späten Gedichtbänden aber auch in Wolters’ oder Robert Boehringers Lyrik zum 108 Vgl. auch StGs als mustergültig gedachte Auswahl Deutsche Dichtung, seine Übersetzungen und die Zusammenstellung von Kanonices. 109 Ebd. 110 Vgl. Victor A. Schmitz, Der Abend von Meudon. Die Antike im Schaffen von Rodin, Rilke und George (1979), in: Ders., Den alten Göttern zu. Studien über die Wiederkehr der Griechen in Kunst und Dichtung von Winckelmann bis George, Bingen 1982, S. 143–156, hier: 153. 111 Brasch, Vasenbilder, S. 18.

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II. Systematische Aspekte

Ausdruck kommt. Durch die Einbettung in Kreise bzw. Enkel- und Nebenkreise gewinnen die erotisch-kairologischen Modelle ihren gleichsam sozialisierenden, soziopoetischen Charakter. Bei vielen Ähnlichkeiten, die künstlerische Gruppenbildungen um 1900 aufweisen, hebt sich der George-Kreis doch vor allem durch die enge konzeptionelle Anlehnung an Hellas und Platon von ihnen ab.

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4.5.

II. Systematische Aspekte

Mittelalter-Rezeption

4.5.1. Mittelalter-Rezeption vs. Mediävalismus „Unsere Bildung besteht aus sehr vielen Elementen: das griechisch-römische ist eins davon, dann das Mittelalter.“1 Wie diese von Albert Verwey überlieferte Selbstaussage aus dem Jahr 1896 belegt, sah der junge StG das Mittelalter vor allem als ,Bildungselement‘ (EL, 60). In seiner Dichtung finden sich denn auch Spuren der Auseinandersetzung mit diesem Bildungselement, das StG einer durchaus ambivalenten Bewertung unterzog. Anders als die Antike, die StG besonders intensiv rezipierte, war das Mittelalter für ihn keine eindeutig positiv besetzte Epoche und ist daher im Rahmen des Gesamtwerks auf den ersten Blick weniger präsent. Vielmehr erscheint das Mittelalter im Werkkontext meist in ein triadisches Geschichtsmodell von Antike, Mittelalter und Neuzeit integriert. Das Mittelalter wird nur selten explizit benannt, jedoch häufig metonymisch aufgerufen. StGs Auseinandersetzung mit dem Mittelalter ist kaum durch primäre Rezeptionszeugnisse im streng philologischen Sinn wie Lektürenotizen, Markierungen oder Tagebucheinträge belegt. Treffender als von ,Mittelalter-Rezeption‘ ist bei StG von ,Mediävalismus‘ zu sprechen. Dabei ist ,Mediävalismus‘ als ein doppelseitiges Phänomen zu verstehen, das sowohl aus rezeptiven als auch aus imaginativen Prozessen resultiert. ,Mediävalismus‘ umfasst zum einen verschiedene Formen der Bezugnahme auf das Mittelalter – seine Thematisierung, die Aufnahme von und Anspielung auf mittelalterliche Ausdrücke, Motive, Stile und Literatur- und Kunstgattungen sowie die Repräsentation mittelalterlicher Sachkultur beispielsweise in der bildenden Kunst und auf dem Theater. Zum anderen stellen all diese Bezugnahmen stets eine Aktualisierung dessen dar, was unter ,Mittelalter‘ zu verstehen ist, sie sind also bedeutungsund sinnstiftend. So wird im Zusammenwirken von wissenschaftlichen Rekonstruktionen, allgemeinen Geschichtsdiskursen und künstlerischen Imaginationen das ,Mittelalter‘ laufend neu gefasst und konstruiert.2 StGs Mediävalismus berührt vor allem die vier Themenfelder Literatur (Minnesang, Mariendichtung, literarische Stoffe, Motive und Figuren), Kunst (Architektur, Bildende Kunst, Buchkunst), Religion (Katholizismus, Orden) sowie Staatsform und Sozialität (Rittertum, Reichsvorstellungen, Kaisertum).

1 Albert Verwey, Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1895–1928, Straßburg 1936, S. 15. 2 Vgl. die Orientalismus-Definition von Andrea Polaschegg (Andrea Polaschegg, Die Regeln der Imagination. Faszinationsgeschichte des deutschen Orientalismus zwischen 1770 und 1850, in: Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850, hrsg. v. Charis Goer u. Michael Hofmann, München 2008, S. 13–36, hier: 15) und die Definition von medievalism bei Leslie Workman; ders. (Hrsg.), Studies in Medievalism 8/1996, Preface.

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4.5.2. Quellen StGs Mediävalismus speist sich aus verschiedenen schriftlichen Quellen und Realien, vor allem aus Bildungswissen und der Anschauung mittelalterlicher Überreste.3 Kenntnisse mittelalterlicher Geschichte und Literatur gehörten im 19. Jahrhundert zum Bildungsrepertoire des kulturell interessierten Bürgertums. So erwarb StG bereits zu Schulzeiten, 1886 in der Obersekunda auf dem Darmstädter Gymnasium, Kenntnisse über Sprache und Literatur des Mittelalters.4 In seinem Nachlass haben sich Ausgaben des Nibelungenlieds, des Beowulf, des Zwergkönig Laurin, der Lieder Walthers von der Vogelweide, eine Anthologie Deutscher Minnesang und eine Auswahl deutscher Dichtungen aus dem Mittelalter erhalten.5 Mit Ausnahme des Nibelungenlieds, das StG in der von Karl Bartsch herausgegebenen mittelhochdeutschen Ausgabe vorlag, erschienen alle diese Werke einsprachig in neuhochdeutscher Übertragung. Im Unterricht wurden auch historische Grammatik, Lautlehre und Verslehre behandelt. StG besaß eine Mittelhochdeutsche Grammatik, nebst Wörterbuch zu der ,Nibelunge Noˆt‘, Walther von der Vogelweide und zu ,Laurin‘.6 Während seiner Studiensemester an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (WiSe 1889/90 bis WiSe 1890/91) beschäftigte sich StG zudem mit französischer Literatur des Mittelalters und der Romantik. Er besuchte eine Vorlesung über Chre´tiens de Troyes’ Le chevalier au Lion, eine Vorlesung über Victor Hugo und eine zweisemestrige Veranstaltung zur historischen Syntax des Französischen.7 In seinem Nachlass finden sich zwei von deutschen Herausgebern bearbeitete Ausgaben von Le chevalier au Lion und Clige`s sowie eine von Le´on Gautier edierte, französische Ausgabe der Chanson de Roland von 1890.8 StG besaß auch eine Ausgabe des spanischen Heldenepos Romancero del Cid.9 Darüber hinaus finden sich in StGs nachgelassener Bibliothek auch Werke der MittelalterRezeption und -Imagination des 19. Jahrhunderts sowohl aus der deutschen Romantik (Des Knaben Wunderhorn, Heinrich Heine) als auch einschlägige englische Titel wie etwa Romane von Walter Scott und kunsthistorische Schriften aus dem Umkreis der präraffaelitischen Bewegung (Walter Pater, John Ruskin).10 Der materielle Nachlass StGs bildet jedoch nur einen Teil davon ab, was StG an mittelalterlicher Literatur und über das Mittelalter gelesen haben dürfte. So kannte er zumindest ausschnittsweise die Edda11 und las in der Entstehungszeit des Siebenten Rings ein Buch zur Geschichte des Templerordens.12 Nicht nur Lektüren, sondern auch persönliche Begegnungen haben StG Zugang zum Mittelalter verschafft. In der Frühphase seines Schaffens inspirierten StG die mediävalisierenden Dichtungen seiner gleichaltrigen Freunde aus Frankreich und Bel3 Eine Aufstellung der möglichen Quellen findet sich bei Oelmann, Mittelalter. 4 Vgl. ebd., S. 134f. 5 Vgl. ebd. Dort auch die genauen Nachweise. 6 Vgl. ebd., S. 135. 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. ebd., S. 135f. 9 Romancero del Cid, 6. Aufl., Madrid 1881. Vgl. EL, S. 174. 10 Nachweise bei Gisela Eidemüller, Die nachgelassene Bibliothek des Dichters Stefan George. Der in Bingen aufbewahrte Teil, hrsg. v. Robert Wolff, Heidelberg 1987, S. 112, 114, 119, 142. 11 Vgl. EL, S. 43, 176f. 12 Vgl. EM I, S. 244.

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gien, Henri de Re´gniers Poe`mes anciens et romanesques (1889), Paul Ge´rardys Les chansons naı¨ves (1892) und Edmond Rassenfosses Dit un page (1893). Die frankophonen Symbolisten griffen vielfach Ideen aus der deutschen Romantik auf, sie verehrten Novalis und Richard Wagner und begeisterten sich auch für das Mittelalter. Aus den Erinnerungen und Gesprächsaufzeichnungen von Edith Landmann, Berthold Vallentin, Kurt Hildebrandt u. a. geht hervor, dass Gegenstände des Mittelalters im Kreis diskutiert wurden. Karl Wolfskehl war promovierter Mediävist, Melchior Lechter begeisterte sich für mittelalterliche Buchkunst und Literatur, Friedrich Gundolf kannte als Literaturwissenschaftler auch die ältere deutsche Literatur, Berthold Vallentin interessierte sich für die hochmittelalterliche Mystik,13 Friedrich Wolters übertrug weltliche sowie geistliche Lieder aus dem Mittelalter und schließlich war Ernst Kantorowicz ein profilierter Mittelalter-Historiker. Es ist anzunehmen, dass StG durch diese persönlichen Bekanntschaften mannigfaltige Anregungen erhielt. StGs Mediävalismus ist implizit und explizit mit konkreten geographischen Räumen verbunden, die in seiner Dichtung zu literarischen Imaginationsräumen werden. An erster Stelle ist hier StGs rheinische Heimat zu nennen. Schon in der Vorrede zu den Büchern der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten (1895) nannte StG „unsere mittelalterlichen ströme“ (III, 7) als Inspirationsquelle für seine Mittelalter-Imaginationen.14 Die Ufer von Rhein und Nahe, die in Bingen zusammenfließen, sind gesäumt mit Ruinen mittelalterlicher Burgen und Schlösser. Mittelalterliche Baudenkmäler und Mythen waren ein wesentlicher Bestandteil der Rheinromantik.15 Wie kaum eine andere Gegend in Deutschland wurde deshalb das Rheinland mit dem Mittelalter in Verbindung gebracht. Ende des 19. Jahrhunderts umgab den Rhein ein dichtes Netz von mittelalterlichen Erinnerungsorten, touristischen Pilgerwegen und nationalen Gedenkstätten wie etwa das gegenüber von Bingen gelegene Niederwalddenkmal in Rüdesheim (1883), laut dessen Inschrift das wilhelminische Reich die ,Wiederaufrichtung‘ des ersten Deutschen Kaiserreichs behauptete.16 Wer wie StG im Rheinland lebte und schrieb, konnte folglich die Präsenz des Mittelalters kaum ignorieren. Sowohl in Bezug auf Themen, Stoffe und Motive als auch im Hinblick auf seine kulturelle Positionsbestimmung weist StGs Mediävalismus deshalb eine spezifisch rheinische Prägung auf. Mehrere mediävalisierende Gedichte bedienen sich rheinischer Sagen und Legenden, Figuren und Orte, wie etwa „Frauenlob“ (III, 46–47), „Die Gräber in Speier“ (VI/VII, 22–23), „Ursprünge“ (VI/VII, 116–117), „Rhein I–VI“ (VI/VII, 174–175), „Heisterbach: der Mönch“ (VI/VII, 177), „Aachen: Graböffner“ (VI/VII, 178) und Die Herrin betet (GA XVIII, 53–59). 13 Vgl. KH, S. 119, 210; LT, S. 7. 14 Die Vorrede erschien in einer ersten Fassung im Oktober 1894 in der zweiten Folge der BfdK und in einer zweiten Fassung 1898 in der zweiten öffentlichen Ausgabe der Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten. Die Erstausgabe von 1895 aus dem Verlag der Blätter für die Kunst enthält keine Vorrede (SW III, Anhang, S. 104f.). Zur Entstehungsgeschichte der Vorrede siehe Storck, Bild des Mittelalters. 15 Vgl. Gertrude Cepl-Kaufmann/Antje Johanning, Mythos Rhein. Zur Kulturgeschichte eines Stromes, Darmstadt 2003, S. 99–132. 16 Vgl. Hans Jürgen Koch (Hrsg.), Wallfahrtsstätten der Nation. Vom Völkerschlachtdenkmal zur Bavaria, Frankfurt/M. 1971; Jens Eike Schnall, Zementiertes Deutschtum – Wagner, Siegfried und andere Götter in der Nibelungenhalle zu Königswinter, in: Runica – Germanica – Mediaevalia, hrsg. v. Wilhelm Heinzmann u. Astrid van Nahl, Berlin u. a. 2003, S. 727–758.

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Weitere geographische Anknüpfungspunkte für StGs Mediävalismus boten zum einen Belgien mit seinen mittelalterlichen Kirchen („Fahrt-Ende“; V, 73; „Erinnrung an Brüssel: Perls“; VI/VII, 166) und Kunstwerken, die StG in den Prosagedichten Ein Quentin Massys und Schmucktrachten des Dierick Bouts in Tage und Taten (XVII, 40–42) nachzeichnete, sowie zum anderen das christliche Rom als Ort der Kaiserkrönung in Antike und Mittelalter. Frankreich galt StG u. a. als Ursprungsland des Minnesangs (Troubadourlyrik) und des Rolandslieds, Spanien als Heimatland der Ritterromanze. 4.5.3. Phasen des Mediävalismus In der Dichtung StGs lassen sich drei Phasen des Mediävalismus klassifizieren: eine Phase des ,ästhetischen Mediävalismus‘ (1890–1900), eine Phase des ,zeitkritischen Mediävalismus‘ (1900–1914) und eine Phase des ,monumentalischen Mediävalismus‘ (1914–1933). Die Phasen, so fließend die Übergänge im Einzelnen auch sein mögen, lassen sich wie folgt charakterisieren: (1) In der ersten Phase des ,ästhetischen Mediävalismus‘ (1890–1900) verfasste StG Dichtungen in mittelalterlichem Stil, die er zunächst in den BfdK veröffentlichte17 und später unter den Überschriften Sagen und Sänge eines fahrenden Spielmanns als Mittelteil der Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten (1895) zusammenfasste. Im Umkreis der Sagen und Sänge entstand auch das Miniatur-Drama Die Herrin betet. Eine Sage im Sinn der altkölnischen Meister.18 Die handschriftlichen Entwürfe dieser Texte zeigen, dass StG versuchte, in Aufmachung, Seitengestaltung (Initialen, Schmuckelemente, Kolumnen) und Schriftzügen die Optik mittelalterlicher Manuskripte nachzuahmen. Wie präsent Mittelalterliches zu dieser Zeit in StGs Vorstellungswelt war, zeigt auch eine Briefpassage an Ida Coblenz vom 20. November 1892, in der StG sich zum Skalden stilisiert und mit Blick auf Coblenz’ Liebeskummer auf die Konstellation Siegfried/Brünhild im Nibelungen-Epos anspielt.19 Der belgische Künstler August Donnay zeichnete StG als Ritter Sankt Georg,20 indem er StGs Initialen spielerisch aufgriff.21 Wie StGs Dichtung in den 1890er-Jahren überhaupt, stehen auch seine frühen mediävalisierenden Gedichte unter dem Eindruck des Symbolismus, dessen führende Vertreter, u. a. Mallarme´ und Verlaine, StG bereits 1889 in Paris kennengelernt hatte. Bezeichnenderweise hat StG das erste Gedicht mittelalterlichen Kolorits „Variations sur The`mes germaniques“, das 1892/93 entstand, auf Französisch verfasst.22 Er plante zu dieser Zeit, fortan nicht mehr auf Deutsch, sondern auf Französisch zu dichten.23 17 BfdK 1/1893, 4; 2/1894, 1; 2/1894, 2; 2/1894, 4. 18 Vgl. auch das Drama Manuel (1. Stufe von 1886, 2. Stufe von 1888, 3. Umschreibung von 1894/95), das StG im mittelalterlichen Kaiserreich Trapezunt ansiedelte (GA XVIII, S. 5–52). 19 Vgl. StG an I. Coblenz v. 20.11.1892, in: G/C, S. 38; vgl. ebd., S. 80. Vgl. Wolfgang Osthoff, Stefan George und „Les deux musiques“. Tönende und vertonte Dichtung im Einklang und Widerstreit, Wiesbaden 1989, S. 130. 20 Tuschezeichnung Drachentöter St. Georg (StGA); vgl. Oelmann, Mittelalter, S. 140. 21 Vgl. Andres, Mittelalter, S. 152f. 22 Vgl. SW III, Anhang, S. 128–129. 23 Vgl. StG an A. Saint-Paul v. 5.1.1893, StGA (abgedr. in SW III, S. 128).

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Nachdem er den Plan wenig später fallen gelassen hatte, übersetzte StG auch sein mediävalisierendes Gedicht zurück ins Deutsche („Die Tat“; III, 45). Im Sinne der symbolistischen Poetik präsentierte StG seine Gedichte in der Vorrede zu den Büchern der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten als „spiegelungen einer seele die vorübergehend in andere zeiten und örtlichkeiten geflohen ist und sich dort gewiegt hat“ (III, 7). Er verwies damit auf die von Baudelaire in seinem symbolistischen Programmgedicht „Correspondances“ beschworenen Korrespondenzen der Sinnbilder.24 „[E]rerbte vorstellungen“ und „die jeweilige wirkliche umgebung“ (III, 7) riefen zu Analogiebildungen mit dem Geschichtlichen auf und dienten der Evokation von Stimmungen (e´tats d’aˆme). Dementsprechend vage gehalten sind die historischen Referenzen. Gerade diese Vagheit erhöht freilich deren Assoziationspotenzial – gemäß Mallarme´s berühmtem Diktum von der Macht der Andeutung: „sugge´rer, voila` le reˆve“.25 In der Vorrede distanzierte sich StG vom zeitgenössischen Historismus mit seinem Anspruch auf Objektivität und betonte demgegenüber die Subjektivität seines Zugriffs auf die Geschichte: Es steht wohl an vorauszuschicken dass in diesen drei werken nirgends das bild eines geschichtlichen oder entwickelungsabschnittes entworfen werden soll […]. Jede zeit und jeder geist rücken indem sie fremde und vergangenheit nach eigner art gestalten ins reich des persönlichen und heutigen und von unsren drei grossen bildungswelten ist hier nicht mehr enthalten als in einigen von uns noch eben lebt. (III, 7)

Die Darstellung strebt nicht nach historischer Authentizität, sondern der historische Stoff wird ganz für die persönliche Aussage vereinnahmt. So können bei StG Antike, Mittelalter und Orient als „bildungswelten“ gleichberechtigt nebeneinandergestellt werden. Das Buch der Sagen und Sänge gliedert sich in zwei Teile: Elf ,epische‘ Gedichte eröffnen den Zyklus, darauf folgen unter der Überschrift Sänge eines fahrenden Spielmanns vierzehn liedhafte Gedichte.26 In moderner Brechung kreisen die Gedichte um die Themenwelt des höfischen Mittelalters, um Rittertum, Minnedienst und Marienverehrung. Die Gedichte im Buch der Sagen und Sänge greifen mittelalterliche Genres (Tagelied, Minneklage, Frauenstrophe), historische Personen (Frauenlob), literarische Gestalten (Melusine, Ritter, Spielmann, Zwerg) und Motive (Gralssuche, Waffenbruderschaft, verligen) auf und lassen Elemente mittelalterlicher Minnelieder anklingen, ohne deren Stil epigonal oder mimetisch nachzubilden. Auf der Ebene von Strophenform und Metrum lassen sich keine direkten Bezüge auf mittelalterliche Dichtung feststellen. So zitiert das Gedicht „Im unglücklichen Tone dessen von …“ (III, 49) zwar Minnesang-Terminologie (don), ist aber formal nicht in mittelalterlichem ,Ton‘ geschrieben. Literaturgeschichtlich ist das Buch der Sagen und Sänge damit dem „simulierenden Historismus“27 zuzuordnen, auch wenn StG selbst sich in der Vorrede vom Historismus distanzierte. Es ging StG nicht um die historische Epoche, sondern ,Mittelalter‘ diente ihm als Bildinventar und Projektionsraum, in den persönliche wie zeittypische Vorstellungen rückgespiegelt werden konnten. 24 Vgl. I, 2.11.3.2. 25 Ste´phane Mallarme´, Sur l’e´volution litte´raire, in: Ders., Œuvres comple`tes, Bd. 2, E´dition pre´sente´e, e´tablie et annote´e par Bertrand Marchant, Paris 2003, S. 697–702, hier: 700. 26 Vgl. I, 2.3. 27 Moritz Baßler u. a., Historismus und literarische Moderne, Tübingen 1996, S. 29–31.

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Das Eröffnungsgedicht des Buchs der Sagen und Sänge, „Sporenwache“ (III, 43–44), nimmt programmatisch ein Motiv aus dem französischen Mittelalter auf, die ,veille´e des armes‘ (Vorabend des Kampfes). Damit übereinstimmend berichtet Ernst Morwitz, StG habe „mehr an französisches als an deutsches Mittelalter als Vorbild gedacht“ (EM I, 79). Das ,deutsche‘, romantisch-national gefärbte Mittelalter des 19. Jahrhunderts bildet vielmehr die Kontrastfolie für das Buch der Sagen und Sänge, wie etwa die Titelreferenz auf die Standard-Formel ,Singen und Sagen‘ in damaligen Anthologien erkennen lässt oder die Reim-Parodie auf Schillers „Handschuh“ in „Im unglücklichen Tone dessen von …“28 sowie StGs „Frauenlob“ (III, 46–47) im Vergleich mit den Vorläufergedichten von Karl Simrock, Adelheid von Stolterfoht u. a. StG verwendete zwar Motive, die aus romantischen Mittelalter-Dichtungen einschlägig bekannt waren, markierte aber deutlich seine Distanz zur romantischen Mittelalter-Schwärmerei. So stehen am Schluss der ersten Abteilung des Buchs der Sagen und Sänge zwei Gedichte, die ein Gegengewicht zum Eingangsgedicht „Sporenwache“ bilden: Das erste, „Der Einsiedel“ (III, 55), lässt den jungen Ritter in der Ferne verschwinden sehen; das zweite, „Das Bild“ (III, 56), schildert einen alten Mönch, der sich sein Leben lang in religiöser Inbrunst nach einem göttlichen Zeichen gesehnt hat, dem aber das „göttliche bild“ bis zuletzt stumm bleibt: „Ich glaube mein arm ist bald zum umfangen zu matt · / Auf meinen lippen erlosch die brennende liebe.“ Dem Bild des jungen ,edelknechts‘ (III, 43), der auf seine Schwertleite wartet und durch ein göttliches Zeichen bestärkt wird, stehen damit die Resignation, Enttäuschung und Vereinzelung der beiden letzten Gedichte entgegen. Das Buch der Sagen und Sänge führt kein ungebrochen idealisiertes Mittelalter vor, sondern verbindet Mediävalismus mit einer Fin de sie`cle-Attitüde. (2) Die zweite Phase des Mediävalismus in StGs Werk, zeitlich etwa von 1900 bis 1914 anzusetzen, ist weniger offensichtlich. Denn nach dem Buch der Sagen und Sänge wendet sich kein Zyklus mehr exklusiv dem Mittelalter zu. Mit mediävalisierenden Texturen experimentierte StG fortan nicht mehr. Sein ästhetisches Interesse an mittelalterlicher Literatur, historischen Stillagen und Ausdrucksweisen schien erschöpft. Dies steht auch in Zusammenhang mit StGs intensiver Beschäftigung mit Dante, die um 1900 einsetzte und sich in Übersetzungen und Stellungnahmen äußerte. StG stilisierte Dante zu einem historischen Alter Ego, sah ihn als „Heraufführer der Renaissance“ (EL, 17) und wertete vor diesem Hintergrund die mittelalterliche Dichtung radikal ab: „Das Mittelalter hat keinen Dichter. Es konnte keinen Dichter haben – warum? Weil es keinen christlichen Dichter gibt. […] Dichten ist eine unchristliche Aktion“ (EL, 10).29 Vor StGs von der lyrischen Moderne geprägtem Dichtungsverständnis konnten die mittelalterlichen Minnesänger nicht bestehen. Auch an den von Friedrich Wolters übertragenen Minneliedern und Sprüchen (1909) fand StG keinen Gefallen: „[B]ei den Unseren noch mehr als bei den Provenc¸alen [verliert] sich das meiste in allgemeinheiten und herkömmlichen wendungen. Für uns ist diese ganze kunstübung etwas flau.“30 Eine 1901 in der Gesamt-Vorrede zu den drei Anthologien Deutsche Dichtung (1900–1902) angekündigte „lese aus der mittelalterlichen blütezeit · sowie gewöhnlich volkslieder genannte verse älterer meist unbekannter verfas28 Vgl. Hans Stefan Schultz, Studien zur Dichtung Stefan Georges, Heidelberg 1967, S. 41. 29 Vgl. EL, S. 17, 41f., 65; BV, S. 55f. 30 StG an F. Wolters v. 19.9.1906, in: G/W, S. 67.

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ser“ (DD III, 5) realisierten StG und Karl Wolfskehl nicht mehr, da sich das Projekt „durch eigne ausgaben von mitgliedern des kreises“ inzwischen erledigt hatte (Fußnote ab der 2. Aufl. 1910).31 1907 reduzierte StG auch die Zusammenarbeit mit Melchior Lechter, dessen gotisierende Ästhetik StG für seine Werkausgaben nicht mehr zeitgemäß genug erschien. In Der Teppich des Lebens (1900), Der Siebente Ring (1907) und Der Stern des Bundes (1914) finden sich jedoch einzelne Gedichte und Gedichtfolgen mit mittelalterlichen Bezügen, die in der Zusammenschau die Konturen eines ,zeitkritischen Mediävalismus‘ zeigen. In dieser zweiten Phase des Mediävalismus in StGs Werk fungierte das Mittelalter vor allem als Gegenbild zur Moderne. Anspielungen auf mittelalterliche Kaiser, Kunstwerke und Erinnerungsorte wie den Bamberger Reiter (VI/VII, 180) oder die Tausendjährige Rose am Dom zu Hildesheim (VI/VII, 178) wurden zur expliziten Zeitkritik eingesetzt.32 In einer als unzureichend verstandenen Gegenwart sollte die Vergangenheit Vorbilder für die Zukunft offerieren. Diese Vorbilder suchte StG nun nicht mehr vorrangig im Ausland, sondern vermehrt in Deutschland selbst. Im Teppich des Lebens erscheint Mittelalterliches in drei verschiedenen Kontexten: Erstens gestaltete StG in „Herzensdame“ (V, 42) eine mediävalisierende Vision, die einer Rokoko-Szene aus „scherzendem jahrhundert“ („Die Maske“; V, 43) gegenübersteht. Das Mittelalter erscheint hier als Zeit des ungebrochenen Wunderglaubens und eines universalen Katholizismus. Zweitens verfolgte StG im Teppich des Lebens die Italiensehnsucht der Deutschen als kulturhistorische Konstante bis ins Mittelalter zurück. Die mittelalterlichen Kaiser Otto III. und Konradin exemplifizierten für StG den Prototyp des deutschen „Rom-Fahrers“ (V, 50), der im Süden gleichermaßen Vollendung wie Verderben findet. Ähnlich äußerte sich StG im Winter 1898/99 gegenüber Oscar A. H. Schmitz über eine „glückliche[] Synthese von Deutschtum und Römertum […], wie sie im Mittelalter geherrscht“.33 Drittens verbildlichte StG ästhetische Positionen mit Rückgriff auf mittelalterliche Kunst und Architektur: Holbein und die rheinischen Meister, etwa die von StG geschätzten Stefan Lochner und Meister Wilhelm, verbürgten für ihn die einstige Existenz eines südlichen, formvollendeten Stils in Deutschland („Wahrzeichen“; V, 52). Hier wie in dem Merkspruch Die zwei Linien des deutschen Geistes34 bezog StG Position im alten Streit um die Nach- oder Gleichrangigkeit der deutschen gegenüber der italienischen Kunst. Antithetisch stellte StG in „Standbilder · Die beiden Ersten“ (V, 54) antike und gotische Architektur gegenüber. Die gegenwartskritische Tendenz des Teppichs des Lebens verstärkte sich im Siebenten Ring. Vor allem in den Zyklen Zeitgedichte und Tafeln gibt es vielfältige Bezüge auf das Mittelalter. Über dem Siebenten Ring steht Dante als Vorbild und Patron („Dante und das Zeitgedicht“; VI/VII, 8–9).35 Die Vergegenwärtigung mittel31 Damit sind Karl Wolfskehls Älteste deutsche Dichtungen (1909) und Wolters’ Minnelieder und Sprüche (1909) gemeint. 32 Vgl. Jan Andres, Stefan Georges Erinnerungsorte in den ,Tafeln‘ des ,Siebenten Rings‘, in: Jan Andres/Wolfgang Braungart/Kai Kauffmann (Hrsg.), „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900, Frankfurt/M. 2007, S. 166–187. 33 Oskar A. H. Schmitz, Dämon Welt. Jahre der Entwicklung, München 1926, S. 220. 34 In: BfdK 5/1900/01, S. 2. 35 Vgl. SW VI/VII, Anhang, S. 193.

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alterlicher Kaiser erhielt nun dezidiert politischen Sinn. „Die Gräber in Speier“ (VI/VII, 22–23) feiert die Apotheose des Stauferkaisers Friedrich II., den StG mit antiborussischem Impetus zum „Grösste[n] Friedrich · wahren volkes sehnen“ erklärte. Hier wie auch in den Tafeln „Rhein: I–VI“ (VI/VII, 174–175), die eine nostalgisch-utopische Vision eines lotharingischen Mittelreichs entwerfen,36 opponierte StG gegen die Usurpation des Mittelalters durch das Wilhelminische Reich, das sich als Erbe des mittelalterlichen Reichs inszenierte und Wilhelm I. als ,Barbablanca‘ zum Nachfolger Barbarossas (Friedrich I.) erhob. In diesen und weiteren Gedichten des Siebenten Rings kommt ein zyklisches Geschichtsdenken zum Ausdruck, wie es für konservative Denker im 19. Jahrhundert seit Novalis und Friedrich und August Wilhelm Schlegel typisch war. Im Maximin-Zyklus des Siebenten Rings entwickelte StG zudem eine mystische Denkfigur (vgl. „Einverleibung“; VI/VII, 109), an welche die Gedichte aus dem Zyklus Eingang aus dem Stern des Bundes anknüpfen. Schon um die Jahrhundertwende hatte sich StG für Mystik interessiert und Friedrich Gundolf mit der Sichtung entsprechender Literatur beauftragt (Tauler, Suso, Eckhart).37 Gedankenfiguren und Sprachformeln der mittelalterlichen Mystiker dienten StG als Folie für seine eigenen neomystischen Texturen zur Sakralisierung Maximilian Kronbergers. Wie aus den Gesprächsnotizen Edith Landmanns hervorgeht, hatte StG jedoch ein ambivalentes Verhältnis zur Mystik. Neben geringschätzigen Kommentaren zur Mystik insgesamt stehen wertschätzende Äußerungen zu einzelnen Persönlichkeiten wie Meister Eckhart und Hildegard von Bingen.38 StG überarbeitete die Übersetzung der von Melchior Lechter ausgestatteten Ausgabe der Bücher von der Nachfolge Christi des Thomas a Kempis (angefertigt von 1914 bis 1922 bei Otto von Holten, erschienen 1922 bei Eugen Diederichs).39 Im Siebenten Ring und im Stern des Bundes spielte StG mit Reminiszenzen an mittelalterliche Gemeinschaftsformen wie etwa den Templerorden, der zur überzeitlichen Chiffre eines Bundes mit existenzieller Sendung wird („Templer“; VI/VII, 52–53; „So weit eröffne sich geheime kunde“; VIII, 101). Gerade die Templer-Analogie erlangte konstitutive Bedeutung sowohl für das Selbstverständnis als auch für die Fremdwahrnehmung des George-Kreises, der sich seit etwa 1900 zu formieren begann.40 Ähnlich stilisierte StG Ludwig Derleth zum späten Nachfahren der mittelalterlichen Ordensgründer Franz von Assisi und Bernhard von Clairvaux („Du hast des adlers blick der froh zur sonne“; VIII, 45). (3) In seiner Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) unterschied Friedrich Nietzsche drei Arten, Geschichte zu betrachten, deren erste er ,monumentalisch‘ nannte, d. h. eine Geschichtsbetrachtung, welche die Verbindungs36 Vgl. Jutta Schloon, „Des weiten Innenreiches mitte“ – Mittelalter-Imaginationen in der Dichtung Stefan Georges, in: Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur, hrsg. v. Mathias Herweg u. Stefan Keppler-Tasaki, Berlin [ersch. 2012]. 37 Vgl. G/G, S. 66. 38 Vgl. EL, S. 45, 84, 99f., 105, 134, 171, 175. 39 Vgl. Michael Landmann, Figuren um Stefan George. Zehn Porträts, Amsterdam 1982 (CP 151/152), S. 15. 40 Vgl. Klaus Mann, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, hrsg. v. Frederic Kroll, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 159.

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linien zwischen den großen Momenten und Individuen der Vergangenheit hervorhebt und darin Analogien und Vorbilder für die eigene Gegenwart sucht.41 In Aufnahme dieser Prägung ließe sich für StGs Werk eine dritte Phase umreißen,42 die auf die Jahre 1914 bis 1933 zu datieren ist und versuchsweise ,monumentalischer Mediävalismus‘ genannt werden soll. Allerdings ist StGs lyrisches Œuvre nach dem Ersten Weltkrieg relativ schmal; die Besonderheiten der ,monumentalischen‘ Phase treten vor allem, dort aber deutlich, bei seinen Schülern hervor. StGs Wirken in dieser Zeit bestand weniger in eigener dichterischer Produktion als vielmehr im Austausch mit Wissenschaftlern des Kreises, deren Arbeiten er lenkend und mitgestaltend begleitete. Das Interesse für große Zeiten und große Menschen ließ u. a. auch die Zeit der Hohenstaufen als Blütezeit deutscher Geschichte in den Fokus der Aufmerksamkeit treten. Mit dem Titel seines letzten Gedichtbands Das Neue Reich (1928), der Gedichte aus den Jahren 1908 bis 1928 versammelt, spielte StG auf die chiliastische Reichstheologie des Joachim von Fiore (1130/35–1202) an.43 Dessen Einteilung der Geschichte in eine aufsteigende Abfolge dreier Zeitalter – das Reich des Vaters, das Reich des Sohnes und das Reich des Heiligen Geistes als ,drittes Reich‘ – wurde in der Neuzeit vielfältig rezipiert, u. a. von Hegel, Schelling, Ibsen und Moeller van den Bruck.44 Bei der Ausgestaltung seiner poetischen Reichsvision, die er vor allem in den zentralen Gedichten „Der Krieg“ (IX, 21–26), „Burg Falkenstein“ (IX, 41–44) und „Geheimes Deutschland“ (IX, 45–49) formulierte, bediente sich StG vielfältiger historischer und mythologischer Reminiszenzen. In „Der Krieg“ finden sich Spuren von StGs Rezeption der Edda.45 StG parallelisierte die griechische mit der nordischen Mythologie („Apollo lehnt geheim / An Baldur“; IX, 26) und machte diese Mythensynthese zur Grundlage einer „mit der Jugend in Verbindung gebrachte[n] (neu)heidnischen Herrschaft“.46 Das Ruinengedicht „Burg Falkenstein“ (IX, 41–44) greift mediävalisierende Motive aus StGs früherer Dichtung wieder auf und feiert die Epiphanie des Heroischen aus deutscher Landschaft und Geschichte. In der Schlussstrophe schwingt die Assoziation an die in Rom gekrönten deutschen Kaiser des Mittelalters mit: Mit der gestalten zug flutet zum norden zurück Mär von blut und von lust mär von glut und von glanz: 41 Vgl. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Stuttgart 1970, S. 19f. 42 Häufig wird in der George-Forschung zwischen zwei Werkphasen unterschieden, wobei der Siebente Ring (1907) als Wendepunkt von einer ästhetizistischen Frühphase zu einer zeitkritischen Spätphase gesehen wird. 43 Vgl. SW IX, Anhang, S. 120f. 44 Siehe dazu die grundlegende, immer noch lesenswerte Studie von Jean F. Neurohr, Der Mythos vom Dritten Reich. Zur Geistesgeschichte des Nationalsozialismus, Stuttgart 1957; vgl. auch Burchard Brentjes, Der Mythos vom Dritten Reich. Drei Jahrtausende Sehnsucht nach Erlösung, Hannover 1997. Womöglich war StG dem Terminus zuerst bei Ibsen begegnet, mit dessen Drama Kaiser und Galiläer StG sich 1888 beschäftigte (SW IX, Anhang, S. 120). 45 Vgl. Julia Zernack, Nordische Mythen in der deutschen Literatur. Eddaspuren bei Stefan George und Karl Wolfskehl, in: Annette Simonis (Hrsg.), Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien, Bielefeld 2009, S. 19–41. 46 Ebd., S. 24.

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Unserer kaiser gepräng unserer kämpfer gedröhn. (IX, 44)

Sowohl StGs griechisch-nordische Mythensynthese als auch seine römisch-deutschen Kaiserträume bleiben in ihrem Synkretismus letztlich unbestimmt. Aus der Zeit des Neuen Reichs (Winter 1927/28) stammt auch das von Robert Boehringer postum überbrachte Gedicht „Das im innersten 〈uns〉 lieb“, dessen Schlussverse das Bild einer auf verlorenem Posten kämpfenden Ritterschar entwerfen, die mit Würde in den Untergang geht, während die Mitwelt in Feigheit erstarrt (RB II, 182). Offenbar besaß gerade die Ritter-Imago für StG bis zuletzt großes identifikatorisches Potenzial. Nicht mehr StG selbst, sondern seine Schüler schrieben in den 1920er-Jahren die Idee von einem ,neuen Reich‘ und einem ,neuen Mittelalter‘ fort, eine Idee, die nach dem Ersten Weltkrieg als Gegenentwurf zur parlamentarisch-demokratischen Republik westlicher Prägung auch in anderen Kreisen an Einfluss gewann.47 Der George-Kreis propagierte eine diffuse, konservative Reichsmystik, die über die an deutschen Universitäten lehrenden Schüler StGs bis in die Wissenschaft ausstrahlte. Seine Schüler verfolgten u. a. das Projekt, „wesenhafte deutsche heroische Erscheinungen aus der deutschen Geschichte herauszutreiben“ (BV, 50f.), wie es Berthold Vallentin 1920 in einem Gespräch mit StG gefordert hatte. Sie machten den auratischen Begriff des Kairos (vgl. „Kairos“; VI/VII, 166), der auf dem antiken Zeitkonzept des ,ewigen‘ oder ,erfüllten Augenblicks‘ fußte,48 im Sinne einer antihistoristischen Geschichtslehre fruchtbar.49 So entstanden die großen, an Nietzsches Leitsätzen geschulten ,monumentalischen‘ Historiographien: Ernst Kantorowicz’ Monographie über Kaiser Friedrich II. (1927) und Wolfram von den Steinens fünfbändige Reihe „Helden und Heilige des Mittelalters“ (1926–28). 4.5.4. Kontextualisierung StGs Auseinandersetzung mit dem Mittelalter, so lässt sich zusammenfassen, war weniger eine Auseinandersetzung mit der historischen Epoche als vielmehr eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Mittelalter-Diskursen. Diese bewegten sich im Spannungsfeld von Historismus und Antihistorismus, Moderne und Antimoderne, politischem Nationalismus und europäischem Avantgardismus. Als Beispiele sind hier die Vereinnahmung des Mittelalters und des Rhein-Mythos durch das Wilhelminische Reich, die Debatte um die Gotik als vermeintlich ,deutschem‘ Stil, die Diskussion um die adäquate Form von Geschichtsschreibung nach der Epoche des Positivismus und später die utopischen Reichsentwürfe im Umkreis der konservativen Revolution zu nennen. StGs Mediävalismus positionierte sich innerhalb dieser Vergangenheits-Diskurse. Der Mediävalismus fungierte bei ihm als ein Element einer südwestdeutschkatholischen Oppositionskultur, die, durchaus kulturpatriotisch eingestellt, dennoch 47 Vgl. Marcus Thomsen, „Ein feuriger Herr des Anfangs …“. Kaiser Friedrich II. in der Auffassung der Nachwelt, Ostfildern 2005, S. 213f. 48 Vgl. II, 4.4.5.2. 49 Vgl. Alf Christophersen, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008, S. 53–68. Vgl. EL, S. 39f.

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II. Systematische Aspekte

gegen national vereinnahmende Mittelalter-Diskurse anschrieb. StGs mediävalisierende Dichtungen sind in zweierlei Hinsicht Inszenierungen des Unzeitgemäßen: Zum einen ist das Mittelalter als ,nächstes Anderes‘ Spiegel und Gegenbild der Moderne, zum anderen ist StGs Mittelalter – zumindest bis zum Siebenten Ring – ein subversives Gegen-Modell zum Wilhelminischen Mittelalter. Pointiert ausgedrückt: StG favorisierte erstens die romanische Kulturtradition gegenüber germanenzentrierten Definitionsversuchen50 einer Nationalkultur, er favorisierte zweitens das Katholische gegenüber dem preußischen Protestantismus und er verstand drittens das Mittelalter nicht als absolut gesetzte, rückwärtsgewandte Utopie, sondern als eine von drei im Individuum fortlebenden Bildungswelten neben Antike und Orient. Diese Konzeption wirkte auch in den Mittelalter-Schriften des Kreises fort. Literatur Andres, Jan, Mittelalter als Modell? Gedanken zu Stefan George, in: Victoria von Flemming (Hrsg.), Modell Mittelalter, Köln 2010, S. 145–167. Böschenstein, Bernhard, Georges widersprüchliche Mittelalter-Bilder und sein Traum der Zukunft, in: Andre´ Schnyder/Karl-Ernst Geith (Hrsg.), Ist mir getroumet mıˆn leben. Vom Träumen und vom Anderssein. Festschrift für Karl-Ernst Geith zum 65. Geburtstag, Göppingen 1998, S. 207–213. Oelmann, Ute, Das Mittelalter in der Dichtung Georges. Ein Versuch, in: Barbara Schlieben/Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004, S. 133–145. Oexle, Otto Gerhard, Das Mittelalter als Waffe. Ernst H. Kantorowicz’ ,Kaiser Friedrich der Zweite‘ in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik, in: Ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996, S. 163–215. Schlüter, Bastian, Explodierende Altertümlichkeit. Imaginationen vom Mittelalter zwischen den Weltkriegen, Göttingen 2011, S. 257–317. Storck, Joachim W., Das Bild des Mittelalters in Stefan Georges ,Buch der Sagen und Sänge‘, in: Jürgen Kühnel (Hrsg.), Mittelalter-Rezeption II. Gesammelte Vorträge des 2. Salzburger Symposions ,Die Rezeption des Mittelalters in Literatur, Bildender Kunst und Musik des 19. und 20. Jahrhunderts‘, Göppingen 1998, S. 419–437. Jutta Schloon

50 Vgl. dazu Rainer Kipper, Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung, Göttingen 2002.

5.

Medien und Medialität

5.1.

Vorbemerkung

In den Verkaufszahlen steht StGs Dichtung heute weit hinter denen seiner Zeitgenossen Rainer Maria Rilke oder Hugo von Hofmannsthal zurück, aber der große Einfluss auf andere Dichter, wie schon zu Lebzeiten auf die des Expressionismus (Georg Heym, Carl Einstein), scheint bis in die Gegenwart ungebrochen (Durs Grünbein, Thomas Kling).1 Im Kreis und dessen Umfeld hatten StG und seine Bücher Kultstatus, im breiten öffentlichen Bewusstsein hingegen waren und blieben der Dichter wie sein Œuvre nur wenig präsent. Er war „nie ganz vergessen, nie ganz zugelassen“, ein von wenigen verehrter, wiewohl bereits zu Lebzeiten kanonisierter Klassiker, der – als Person eher als im Werk – gegenwärtig sogar eine Renaissance erlebt, „weshalb auch immer“.2 Die Aufmerksamkeit, die StG insbesondere als Person heute genießt, ist erstaunlich hoch, auch außerhalb des Universitätsbetriebs. Die George-Biographie von Thomas Karlauf (2007) überstieg kommerziell alle Erwartungen; sie übertraf andere im selben Jahr erschienene, zudem von Jahrestagen flankierte Autorenviten – zwei Ernst-Jünger-Biographien, vier Biographien über Heinrich von Kleist – weit an öffentlicher Aufmerksamkeit. Der Käufer dieser Biographie, so Raoul Löbbert im Rheinischen Merkur, „darf sich als Intellektueller fühlen, ohne je eine Zeile von dem Gefühlskonservativen George gelesen zu haben“.3 Noch mehr gilt das für die ausdrücklich essayistisch angelegte ,postume‘ Biographie von Ulrich Raulff Kreis ohne Meister (2009), die sich mit der „frappierenden“ Tatsache befasst, „dass einem ,schwierigen‘ Lyriker von höchstem Formbewusstsein und strenger Zurückhaltung gegenüber den üblichen Kommunikationsgemeinschaften eine geradezu magische Präsenz und intellektuelle Prägekraft zugeschrieben wurde“.4 Ähnlich betont Ernst Osterkamp in seiner bezeichnenderweise so benannten Poesie der leeren Mitte (2010), dem Dichter StG unterlaufe „nichts, bei ihm ist alles Ausdruck einer Absicht“, von jemandem, „der sich seiner Mittel immer ganz gewiss ist“.5 Bei keinem Dichter ist darüber hinaus die Memorialliteratur von fachlich fernstehenden Autoren oder aus zweiter Hand so dicht wie bei StG – sie reicht von den Bekenntnissen Um George des Nationalökonomen Edgar Salin (1948, 2. Aufl. 1954) bis zur Ankündigung des Handballprofis Stefan Kretzschmar, er werde ein Buch „über George“ schreiben.6 Die 1 Vgl. III, 1.5. 2 Raulff, Steinerne Gäste, S. 5. 3 Raoul Löbbert, Orakelsprüche für die Gefühlskonservativen, in: Rheinischer Merkur Nr. 42 v. 11.10.2007. 4 Raulff 2009, S. 17. 5 Ernst Osterkamp, Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010, S. 19. 6 Vgl. den V.I.P.-Fragebogen im Börsenblatt 51/2008, S. 34.

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II. Systematische Aspekte

unterschwelligen Verbindungen, die StG im Kulturbetrieb anlegte bzw. anlegen ließ, konnten nicht im Verborgenen bleiben, wenn sie nicht schon von jeher offen lagen. Bertolt Brecht, der verstimmt darüber war, „daß es George nicht gelungen ist, wenigstens seinen sechzigsten Geburtstag zu verheimlichen“,7 argwöhnte 1928, dass die „Säule, die sich dieser Heilige ausgesucht hat, […] mit zuviel Schlauheit ausgesucht [sei], sie steht an einer zu volkreichen Stelle, sie bietet einen zu malerischen Anblick“.8 Diese Diskrepanz zwischen der Präsenz der Person StG und der Präsentation des Werks ist außergewöhnlich. Sie lässt sich ganz prinzipiell als Struktur und Dynamik von ,Werkpolitik‘9 und auch als mediale Dynamik im Spannungsfeld von Aufmerksamkeit, Vermittlungs- bzw. Mittler-Bewusstsein und der Kalkulation von Wirkung beschreiben. Die endgültige Fassung seiner Gesamtausgabe hat StG ab 1927 selbst überwacht. Sukzessive wurde sie nach 1983 durch eine kritische kommentierte Ausgabe Sämtliche Werke ersetzt, blieb aber als digitalisierte Ausgabe letzter Hand (Berlin 2004) erhalten und bildet bis zu den jüngeren Auswahlbänden (Stuttgart 2003; Frankfurt/M., Leipzig 2005) die Textgrundlage. So hat StG über seinen Tod hinaus die Gestalt seiner Gedichte vorbestimmt – in kaum einer Gedichtanthologie sind sie zu übersehen, weil sie typographisch und orthographisch auffallen. Selbst nach Ablauf der Autorenschutzfrist fällt es schwer, das Druckbild für George-Gedichte aufgrund dieser äußerlichen Erscheinung wesentlich zu verändern, auch wenn man dadurch das Besondere, das StG selbst kultiviert hat, konserviert. Schwerlich nähert man sich dabei den Gedichten unabhängig von der Persönlichkeit des Verfassers, der sich einem größeren Publikum verweigerte. StG wollte vermittelt wirken, durch seine Person, über die Kunst, durch den Kreis. Diese Haltung erforderte eine genaue Reflexion der Möglichkeiten und Mittel, durch die StG insgeheim sehr wohl zu wirken wusste. StG ist in dieser Hinsicht, wie sich die Möglichkeiten der Vermittlung reflektieren, ordnen und gestalten lassen, ein Bewusstsein von Medialität und entsprechend auch eine Medienkompetenz im weiteren Sinne zuzuerkennen (5.2.). StGs Medienkompetenz umfasst die Kalkulation und den Einsatz ästhetischer und literarischer Mittel zu kommunikativer, zu kultureller und sozialer Wirkung, nach der die Medien als Formen erscheinen. Sie schließt auch die Strategien zu einer Beherrschung des literarischen Marktes ein, die noch die Nachwelt beeindrucken konnte (5.3.); und sie konzipiert dafür ein ganz prinzipiell gemeintes MittlerSein StGs, das ihn als ästhetische Gestalt von Medialität und als Boten seiner selbst, als Medium der Kunst, in den Blick rückt (5.4.). StG wusste die Medien und seine Einsichten in die Eigentümlichkeiten von Medialität für sich zu nutzen, und er versuchte, sich den Eigengesetzlichkeiten von Medien zugleich zu widersetzen bzw. ihnen neue Wirkungen abzugewinnen. In deutlich kleinerem, elitärem Rahmen übte seine Person eine immense Faszination aus, während seine Gedichte am Ende seines Lebens eine später nicht mehr erreichte Popularität 7 Bertolt Brecht an Willy Haas v. 6.6.1928, in: Bertolt Brecht, Schriften 1, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt/M. 1992 (Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausg., Bd. 21), S. 697. 8 Ebd., S. 247 (Beitrag zum 60. Geburtstag). 9 Vgl. dazu Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007.

5. Medien und Medialität

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hatten, die er so sicher nie angestrebt hatte, die er aber im Hinblick auf sein öffentliches Erscheinungsbild bewusst über mediale Strategien zu steuern versuchte. Dieses Vorhaben gelang, bedenkt man, dass seine Gedichtausgaben Auflagen von 10.000 bis 31.000 Exemplaren (als Verkaufsschlager zählte das Jahr der Seele) erzielten. Andererseits scheiterte er an der modellhaften Mythisierung seiner Gestalt und an der daran geknüpften Überlagerung von Leben und Werk. Dafür benötigte er die Medien und mediale Strukturen sowie einen Kreis von Anhängern, die ihn als ,exemplarische Mitte‘ erst legitimierten, deren Hagiographie den Blick auf den „Zauber“10 des Werks jedoch, insbesondere über seinen Tod hinaus, verstellte oder auch verfälschte. StG, „der scheinbar gegen alle Regeln des Markts schreibende […] Meister des Selbst-Marketing“,11 überwachte diesen Kult um seine Person und arbeitete mit Kalkül an seinem Image, indem er nicht nur darauf bedacht war, was er schrieb – und was er nicht schrieb –, sondern auch, was über ihn geschrieben und an personalisierten Details oder Bildern verbreitet – oder nicht verbreitet – wurde. Aus dem ImageBegriff lässt sich nach Norbert Bolz auch der Star ableiten, der aus dem „quasimagischen Apparat des Marketing“ und im „heiligen Spiel um das göttliche Individuum“12 geschaffen wird. Die Massenmedien und eine ihnen entgegengesetzte mediale Verweigerungshaltung produzieren gleichermaßen Popautoren gegen den Strom, Selbst- und Querdenker. Deren ,Kultbücher‘ können denn auch gegen das Marketing bestehen, wenn sie mit der Selbstauratisierung einhergehen oder wenn sie „– wie in der Religion – kollektive Erfahrungen bündeln“.13 Image und Rolle, Charisma und Popkultur stehen dicht beieinander und begegnen immer wieder in Verbindung zu den Medien; bei ihnen hat auch das Gegenüber jeweils verschiedene Ausprägung: „Der Charismatiker hat eine Gefolgschaft – der Populist ein Publikum.“14 Komponenten für Interaktionsrituale, wie sie Goffman diskutiert hat, die sowohl auf einen medialen Transfer verweisen als auch der Imagepflege dienen, sind etwa die Ehrerbietung, welche keineswegs personengebunden sein muss (man denke an Grußgesten im katholischen Ritus oder, auch bezogen auf den George-Kreis, an Devotionalien, Fotos usw.) und welche mit zeremonieller Distanz einhergeht, sowie das weite Feld des Benehmens (Haltung, Kleidung, Verhalten), oft auch verbunden mit der Furcht zu versagen, zu missfallen.

5.2.

Zum Begriff der Medien und der Medialität

Der Medien-Begriff hat keine klaren Konturen, noch weniger lässt sich die Medialität begrifflich fassen. Auch das Verhältnis von Medialität und Ästhetizität, d. h. das Zusammenspiel von medial bedingten und ästhetisch realisierten Qualitäten, ist ein offenes Feld und immer wieder für jedes Werk neu zu bestimmen.15 Vom George-Kreis 10 Heinz Schlaffer, Stefan George. 1868–1933, in: Deutsche Schriftsteller im Porträt. Bd. 5: Jahrhundertwende, hrsg. v. Hans-Otto Hügel, München 1983, S. 74–75, hier: 75. 11 Thomas Wegmann, Marke, in: Schütz (Hrsg.), BuchMarktBuch, S. 257–261, hier: 258. 12 Norbert Bolz, Image, in: Schütz (Hrsg.), BuchMarktBuch, S. 143–145, hier: 145, 143. 13 Ders., Kult, in: Schütz (Hrsg.), BuchMarktBuch, S. 176–180, hier: 180f. 14 Soeffner, Auslegung, S. 197. 15 Vgl. Oliver Jahraus, Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen 2004, S. 217f. Die Vorstellungen und Realisierungsweisen von Medialität

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II. Systematische Aspekte

her erschließt sich der Medien-Begriff genauso wenig wie insgesamt von der Zeit der Jahrhundertwende, die die Medien noch gar nicht problematisierte. Heute konkurriert dagegen „eine Vielzahl von Medienbegriffen, deren kleinster gemeinsamer Nenner die potentiell massenhafte Verbreitung von Botschaften verschiedenster Art unter Verwendung von Zeichensystemen und spezifischen Übermittlungstechnologien ist“.16 Eine massenhafte Verbreitung widerspräche jedoch der elitären Grundhaltung im George-Kreis, und bei allem Kultstatus einzelner Bücher ist sie für eine Beschäftigung mit StG nicht weiter von Interesse – eine Masse bedienen zu wollen, wäre ihm abwegig erschienen. Das Medium ist „Ermöglichungsform von Kommunikation. […] Aber es ist doch auch sehr viel mehr“.17 Im Umfeld von StG und seinem Kreis sind mehrere Varianten des Medienbegriffs zu diskutieren, in erster Linie der Bereich Sprache, Schrift und Druck. Neben diesen ,vermittelnden‘ Medien liegt allerdings auch eine Betrachtung über das mediale ,Mittel‘ hinaus nahe. Denn wir haben es mit einer Person innerhalb einer halbwegs geschlossenen und damit soziologisch isolierbaren Gruppe, eines kulturellen Systems zu tun, mit einer Person, die gleichsam als ,Mittler‘ und ,Mitte‘ agiert, was die Medientheorie häufig ausspart, wohl weil man sich schnell im unwägbaren Bereich des im Singular gebräuchlichen, aber selten gewordenen Wortes ,Medium‘ im spiritistischen, parapsychologischen Sinn bewegt. Es geht jedoch konkreter um ,George‘ als auratisches Gesamtkunstwerk, „zu dem auch die Bildnisse des Meisters, die Exklusivität der Buchgestaltung und die Ritualisierung des Kreises gehören und das bei der Lektüre der Texte stets zu imaginieren ist“.18 Hier soll besonders eine „Botenperspektive“19 mit einbezogen werden, wie sie Sybille Krämer in ihrer Kleinen Metaphysik der Medialität beschrieben hat. Sie hat in die aktuelle Mediendiskussion ein Botenmodell eingeführt, das die Beschreibung des medialen Transfers da gewährleisten soll, wo verschiedene Welten aufeinandertreffen. Neben der dialogischen Verständigung spricht sie dem „postalischen Prinzip der Übertragung“20 eine zusätzliche Vermittlerfunktion zu. In den hier folgenden Abschnitten geraten durch die Perspektive dieses Botenmodells nicht nur kulturtheoretische Äußerungen über Habitus, Gestik, Bilder (insbesondere die Fotografie) bei StG und im George-Kreis in den Blick, sondern auch diverse ,Boten‘: der ,Meister‘ selbst, Maximin, die Figur des Engels im Gedicht usw. Da sich die Bedeutungen von Vermittlung, Mittlerdienst und Mitte über die Person und das Werk StGs aufeinander beziehen lassen, wird sein Auftreten im Kreis zu einem Sonder- und zugleich Paradefall der Medialität, die marktstrategische und metaphysische Dimensionen aufweist. Wolfgang Braungart setzt den ,Medien-Experten‘ in Anführungszeichen, weil man doch stutzt, gerade bei StG diese Fülle kommuniunterliegen zudem einem kulturellen Wandel, der ebenfalls einzubeziehen ist. Vgl. dazu Lothar van Laak, Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film im 20. Jahrhundert: Bertolt Brecht – Uwe Johnson – Lars von Trier, München 2009. 16 Gerd Hallenberger, Medien, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Neubearb. gemeinsam mit Georg Braungart u. a. hrsg. v. Harald Fricke, Bd. 2, Berlin, New York 2000, S. 551–554, hier: 551. 17 Braungart, Irgendwie dazwischen, S. 367. 18 Wegmann, „Bevor ich da war“, S. 101. 19 Krämer, Medium, S. 36. 20 Ebd., S. 15.

5. Medien und Medialität

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kativer Mittel im Einsatz zu sehen, die dem ,Staat‘ nutzen: „Briefe und Eilpostkarten, Telegramme, das mündliche Gespräch, das Gedicht, seine gesamte Selbstinszenierung, Publikationen über ihn, Verlagspolitik – und eben auch das Bild: Grafiken, Gemälde, Fotografien“.21 Nicht minder aufschlussreich ist die Fehlliste damals moderner technischer Kommunikationsformen: Telefon, Telegraphie und Film, überhaupt Tonträger, sind keiner Erwähnung wert – im Konsens übrigens mit der öffentlichen Meinung: Weder der Brockhaus noch Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1911 befassen sich mit diesen Medien. Vielleicht stand deren technische Organisation im Gegensatz zu StGs Interesse an der Aura, die die menschliche Stimme umgibt. Allein die Fotografie schafft es von den technischen Medien in die Gunst des Kreises. Wo das Gedicht als Medium zwischen einem Ich und einem Du von enormer Bedeutung ist, fällt umso mehr auf, dass andere Textformen, die auf einen kommunikativen Austausch bauen, marginal bleiben: Im Werk fehlen etwa der Briefroman oder szenische Arbeiten für die Bühne, während sehr wohl dialogische Strukturen in StGs Lyrik vorkommen – sei es im hymnischen Ton einer inneren Zwiesprache („Gespräch“; II, 25, „Zwiegespräch im Schilfe“; III, 16–17) oder in ausdrücklichen Rollen-Gesprächen („Der Mensch und der Drud“; IX, 53–56, „Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann“; IX, 57–59 u. a). Briefe gehören schon zum Sonderfall: StGs eigene Beiträge sind meist knapp gehalten. Vielmehr ließ er schreiben – insbesondere von Friedrich Gundolf, aber auch von Max Kommerell, Frank Mehnert und anderen. Das eine wie das andere, wer etwa als Schreiber auftreten durfte und wer nicht, war kalkuliert und hielt nicht zuletzt das Interesse an StG wach, der auf diese Weise die Medien auch indirekt zu nutzen verstand. Walter Benjamin schrieb noch zu Lebzeiten StGs mit ironischem Unterton anlässlich des 60. Geburtstags von Karl Wolfskehl 1929 über den 1902 erschienenen dritten Band der „Deutschen Dichtung“ Das Jahrhundert Goethes: „Es war die Zeit, da die Bücher noch ein Gewand hatten, dies hier natürlich eines von Lechter“.22 Das unterstreicht die mediale Exklusivität, doch rückt der märchenhafte Tonfall die Begebenheit aus der (damaligen) Gegenwart heraus. Und wenn Stefan Breuer in seinem Ästhetischen Fundamentalismus salopp von (Stammes-)„Häuptlingen“23 in der direkten Umgebung StGs spricht, verweist das auf die Andersartigkeit und die Überlebtheit des George-Kreises, aber auch auf die Gruppe als kulturelles Parallelsystem. Es müssen die öffentlich zugänglichen Dokumente, die kreisinternen Metakommentare und nicht zuletzt die Handlungen (Feste, Rituale, Gebärden, Theatralik, Begegnungen) „über die Schulter derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind“,24 gelesen werden – der gruppenspezifische Code unterscheidet sich vom öffentlichen. Zugleich bewegt sich der Kreis um StG in einem Schwellenbereich, da fast alle seine Angehörigen innerhalb der ,normalen Gesellschaft‘ im Berufsleben standen und zum Teil auch ein Familienleben pflegten, während sie diese Gesellschaft zugleich scharf kritisierten oder gar ganz verwarfen. Die Liebesgedichte, die etwa Max Kommerell und Claus von Stauffenberg austauschten, gehören einer symbolischen Ebene an, die nichts mit 21 Braungart, „Dies gewaltige Gesicht“, S. 86. 22 Walter Benjamin, Karl Wolfskehl zum sechzigsten Geburtstag, in: Frankfurter Zeitung v. 17.9.1929, zit. nach: Ders., Denkbilder, S. 366–368, hier: 366. 23 Breuer 1995, S. 78, 80. 24 Ebd.

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II. Systematische Aspekte

der sexuellen Ausrichtung zu tun hat. Denn hier gilt das, was Max Weber vom Charismatismus sagte, dass die „Träger des Charisma: der Herr wie die Jünger und Gefolgsleute […], um ihrer Sendung genügen zu können, außerhalb der Bande dieser Welt stehen [müssen], außerhalb der Alltagsberufe ebenso wie außerhalb der alltäglichen Familienpflichten“.25

5.3.

Vermittlung nach innen und außen

StG muss bald nach seinen ersten poetischen Versuchen um 1883/84 daran gedacht haben zu publizieren, das heißt seine Gedichte einer Öffentlichkeit anzubieten. Bereits der fast 19-jährige Darmstädter Schüler gründete 1887 mit Freunden eine dilettantisch gemachte, hektographierte Zeitschrift Rosen und Disteln,26 in die er eigene Texte unter dem Pseudonym ,Edmund Delorme‘ aufnahm. Die nach Bedarf hergestellte Zeitschrift war in der Anlage – trotz simpler Technik und billiger Vervielfältigungsverfahren – schon ästhetisch, wenn auch mit der zusätzlichen Tendenz zum Witzblatt, orientiert. Die Redaktion übergab das Juniheft „der gütigen Gewogenheit der Geehrten Leserinnen und Leser“, was keinerlei Hinweis auf spätere Exklusivität zulässt. Ein zweites Heft ist nicht erschienen. Nach 1887 verfolgte StG als Student seine Zeitschriftenpläne weiter, die mit der (Rück-)Besinnung auf die deutsche Sprache und der Begegnung mit Hugo von Hofmannsthal 1892 konkret wurden. Von 1892 bis 1919 erschienen die BfdK, die nun gemäß Selbstdarstellung „einen geschlossenen von den mitgliedern geladenen leserkreis“ haben sollten.27 Als Herausgeber gab sich StG bedeckt, um nach außen die kreative und die kommerzielle Tätigkeit zu trennen. Pro forma sprang der Kommilitone Carl August Klein ein, der jedoch nicht wie angegeben auch Verleger war – tatsächlich wurde Klein als eine Art Korrespondenzwart eingesetzt. Als gesucht preisgünstiger Drucker zeichnete Friedrich Cynamon für die ersten vier Jahrgänge verantwortlich, bis Otto von Holten die Herstellung übernahm. StG, der sich lieber in französischen und anderen europäischen Literatenzirkeln als in Hörsälen umgesehen hatte, brachte eine klare Vorstellung mit ein – Le Mercure de France, La Plume und andere Zeitschriften standen Pate –, und er formulierte auch die programmatischen Aussagen in den Vorreden und redaktionellen Anmerkungen, die bis ins Kleinste durchdacht sind. Die auf den Außentiteln abgedruckten Buchhandelsadressen in Berlin, Wien und Paris (ab 1896: München) verweisen auf die Lebensmittelpunkte der Beiträger- bzw. frühen Freundes-Troika StG, Hofmannsthal und Albert Saint-Paul. Die Vorrede der ersten Folge führte das Programm der Rosen und Disteln als antinaturalistisches L’art pour l’art-Konzept weiter aus, „alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend“, inklusive Witz und Humor. Motivisch und publizistisch gibt sich das geringauflagige Heft jedoch unentschieden. Gegenüber dem unmissverständlich „geladenen leserkreis“ hofft die Redaktion darauf, „unbekannte ähnlich25 Max Weber, Charismatismus, in: Ders., Schriften zur Soziologie, hrsg. v. Michael Sukale, Stuttgart 1995, S. 271–280, hier: 274. 26 Die folgenden Informationen sind im Wesentlichen folgenden Publikationen entnommen: KTM; ZT; Karlauf 2007; Winkler, Stefan George, Stuttgart 1970; Winkler, George-Kreis. 27 Vgl. zum Folgenden I, 3.2.

5. Medien und Medialität

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gesinnte zu entdecken und anzuwerben“. Darüber hinaus lehnt sie „weltverbesserungen und allbeglückungsträume“ ab, glaubt aber „an eine glänzende wiedergeburt“, die ja die Hoffnung auf eine Verbesserung nahelegt und im Glanz Beglückungsambitionen impliziert. Den mehr oder weniger kreisbezogenen BfdK stellt StG drei Auswahlbände (1898, 1903, 1909) gegenüber, die das öffentliche Interesse bedienen. Fast zeitgleich mit dem zweiten Auswahlband erschien ein ausdrücklich als Ausstellungs-„büchlein“ nutzbares Verzeichnis der Erscheinungen der Blätter für die Kunst mit einer Inhaltsangabe sämtlicher Hefte. „Mehrfache bedürfnisse“, so ist dort zu lesen, „verlangten ein nach guten quellen bearbeitetes verzeichnis dieser hefte und bücher von denen die meisten so selten sind, dass sie weder im buchhandel noch in einer öffentlichen bücherei aufliegen“. So kursierten in knappem Abstand ein Heft der BfdK, das einen kleinen Leserkreis ansprach, ein Auswahlband für ein interessiertes breiteres Publikum sowie ein Verzeichnis für die Öffentlichkeit, das kaum einen anderen Grund haben konnte, als die Texte der geschlossenen Gruppe einer größeren Leserschicht näherzubringen, ohne Konzessionen an den elitären Charakter zu machen. Befremdet liest man hier im Anschluss an das „Vorwort“ von einer „Gesellschaft der Blätter für die Kunst“, als habe es je eine solche ,Gesellschaft‘ gegeben, „in der man fälschlich einen geheimen bund erblickte“, sie sei „ein loser zusammenhang künstlerischer und ästhetischer menschen“. Mit einem solchen Minimalkonsens fiel es leicht, sich auch außerhalb des (nicht genannten) Kreises mit einer Dichtung zu identifizieren, als deren Gewährsleute StG und insbesondere Hugo von Hofmannsthal genannt wurden. Neben der herausgabe der in unregelmässigen abständen erscheinenden Blätter veranstaltet sie künstlerische ausgaben der alten und neuen dichter und versucht durch hersagung und aufführung die neuen rhythmischen gebilde zu gehör zu bringen. Mit litteratentum hat sie nicht das geringste zu thun . sie besizt keine statuten und gesetze und ihr anwachsen geschah nicht durch verbreitungsmittel sondern durch berufung und durch natürliche angliederung im laufe der jahre.

Das 16-seitige, preziös aufgemachte Verzeichnis, in StG-Schrift und einer Auflage von 300 Exemplaren gedruckt,28 war nicht zuletzt wegen der farbigen Gestaltung ein attraktives „verbreitungs-“, sprich Werbe-„mittel“, genauso wie die prominente Platzierung des zugkräftigen Namens Hofmannsthal, der sich nie ,natürlich‘ hätte ,angliedern‘ lassen. Kreisintern lehnte StG auch Jahre später ab, was er als Eindruck, womöglich unbeabsichtigt, nach außen vermittelte, nämlich einer vereinsähnlichen ,Gesellschaft‘ vorzusitzen. In einem Brief an Herbert Steiner vom 8. Januar 1909 knüpfte Friedrich Gundolf die Ankündigung des dritten Auswahlbandes an die Feststellung, Mitglied der BfdK werde man „nicht durch Beitrittserklärung“; es gehe vielmehr um einen geistigen Kreis dessen Mitglieder sich durch verwandte Kunstgesinnung und -haltung gefunden haben. Das Organ dieses Kreises […] ist keine Zeitschrift für moderne Lyrik, sondern eben Sammelpunkt für den dichterischen und sprachlichen Ausdruck jener neuen Gesinnung und jenes neuen Erlebens.29 28 Vgl. I, 5.6.2. 29 Friedrich Gundolf, Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, eingeleitet u. hrsg. v. Lothar Helbing u. Claus Victor Bock, Amsterdam 1962 (CP 54/56), S. 82.

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II. Systematische Aspekte

Die Kunsthaltung ist ein wichtiges Stichwort; sie ist mit der Stilfrage eng verbunden, grenzt sich allerdings im medialen Feld ab. „Ein Stil muß dargestellt – eine Haltung gelebt werden“, schreibt Hans-Georg Soeffner: „Repräsentanten einer Haltung, die sich in Stilisierungen ausdrückt, müssen den Stil so inszenieren, dass dieser über sich selbst hinausweist auf einen – auch ihn selbst legitimierenden – Hintergrund“.30 Die Auslese aus den Jahren 1904–1909 erschien – diesmal wie bereits das Verzeichnis in StG-Schrift – im Februar 1909. Seit der zweiten Blätter-Auswahl von 1903 habe sich, so das „Vorwort“, die Zeitschrift „bedeutend verändert und wer nicht von tag zu tag sondern aus genügender entfernung sieht bemerkt dass alles was heute unsre jüngste dichtung ausmacht hier seinen ausgang genommen oder seine anregung empfangen hat.“ StG distanziert sich zwar von dem potenziellen Markterfolg („das neue Dichterische findet wenn auch in der zehnfachen verdünnung öffentlichen und behördlichen beifall“), schreibt sich aber zugleich den Erfolg auf die eigene Fahne („Damit ist ein teil der Sendung erfüllt“). Gundolf hatte Steiner noch etwas kryptisch mitgeteilt, die Publikationen des Verlags der Blätter für die Kunst seien „jedem zugänglich der sich als daran teilnehmend kundtut“,31 doch darf man vermuten, dass keineswegs ,jeder‘ Teilnehmende erwünscht war. Schlimmer musste es allerdings sein, dass offenbar nicht alle, die erwünscht waren, sich auch teilnehmend kundtaten: In überraschend scharfem und zugleich werbendem Ton wurden „die von diesem kreise abgesprengten die sich noch nicht zur gänzlichen entwürdigung ihrer muse entschliessen konnten […] die den tempel verlassen haben, in den vorhof ja auf die strasse geschritten sind“ – gemeint war sicher Hofmannsthal –, aufgefordert, „sich wieder ins Innerste zurückzuziehen“.32 Dem divergenten Bild des nach innen verschlossenen Tempels und nach außen halbwegs offenen Forums trägt der Kreis Rechnung durch die ideologische Rundschaupublikation des Jahrbuchs für die geistige Bewegung, das scheinbar an die – als Periodikum fast nicht mehr erkennbaren und in drei Auslesebänden historisch auftretenden – BfdK anschloss. Vage und namenlos seit den 1890er-Jahren, zu den Glanzzeiten der „zeitlos-produktiven“33 BfdK, erwogen und 1903 konkret benannt, erschienen die drei Jahrbücher tatsächlich erst und nur während einer längeren Blätter-Unterbrechung im März 1910 sowie im April und November 1911 als akademisches, „aktuell-theoretisches […] Gegenstück“.34 Die von Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters mit einer eigenen, sich nun bildenden Gefolgschaft herausgegebenen Bände, deren geistiger Mentor StG war, erschienen im Verlag und damit unter dem Zeichen der BfdK in einer Auflage von 500 Exemplaren. Sie entwarfen in offensiv-polemischem Ton die endzeitlichen Szenarien einer Moderne, der die JahrbuchAutoren insgeheim ein heilsames Gegenbild und ein unbestimmt ,Geheimes Deutschland‘ entgegenhielten, an dem das Wilhelminische Reich genesen sollte. Erlösungsanspruch und Geheimhaltung in Einklang zu halten, schien im Vorfeld des Ersten Weltkriegs schwieriger geworden zu sein – der zeitlose Aspekt der BfdK und der theoretische Aspekt des Jahrbuchs wurden fragwürdig –, oder StG verfolgte andere 30 Soeffner, Auslegung, S. 94. 31 Gundolf, Briefwechsel mit Steiner und Curtius (Anm. 29), S. 82. 32 BfdK. Eine Auslese aus den Jahren 1904–1909, Berlin 1909, Vorwort. 33 Fritz Schlawe, Literarische Zeitschriften 1910–1933, 2., durchges. u. erg. Aufl., Stuttgart 1973, S. 94. 34 Ebd.

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Ziele, denn eine vierte Ausgabe des Jahrbuchs, 1911 bereits angedacht und Ende 1914 weitgehend druckfertig, ließ er nicht mehr erscheinen, weil er den Almanach in dieser Zeit für verzichtbar hielt. Von der medialen Präsenz her betrachtet war das kurzlebige Jahrbuch ein Misserfolg. Erneute gedankliche Anläufe 1918 und 1920 kamen über den Willen zur politischen Auseinandersetzung nicht hinaus. Die BfdK standen nie so auf dem Prüfstand wie das Jahrbuch für die geistige Bewegung. Sie wurden nicht nur von dem Verzeichnis der Erscheinungen der Blätter für die Kunst und den Auswahlbänden flankiert. Dass sie für StG von größter Bedeutung waren, steht außer Frage: zum einen gruppensoziologisch im Hinblick auf die Kreiskonstituierung und dessen Entwicklung zum ,Staat‘, zum anderen strategisch im Hinblick auf das Georgesche Werk. Eine Darstellung der ,Blätter für die Kunst‘ nimmt ein Medium zum Gegenstand der Erforschung, durch das sich der George-Kreis authentisch dokumentiert hat, nämlich als eine Gruppe, deren literarische Tätigkeit je länger je mehr von individueller Autorenschaft fort und hin zur Anonymität eines geschlossenen, kollektiven Auftretens als ,Dichterschule‘ strebte. (K, 7)

An dieser Stelle interessieren die strategischen Ziele, die BfdK als Mittel einzusetzen, um den Kreis über die funktionierende, „zweifelsfrei hochkarätige Direktkommunikation“35 hinaus als Gruppe dokumentieren zu können und – was vom Gruppenverständnis nicht abzukoppeln ist – das Werk StGs zu lancieren. Es zeigt sich, dass StG sehr darauf bedacht war, den Privatcharakter genauso zu wahren, wie er die BfdK als Werbeplattform nutzte: Der Kreis und seine personifizierte Mitte – man könnte auch sagen: sein Erfinder – werden so als Familie und als Firma bzw. ,Publikationsbetrieb‘ sichtbar.36 Man kann kaum übersehen, dass StG die auf ihn bezogenen Medien, also Zeitschriften, Bücher und auch Menschen, dafür einsetzte, sein Werk ins öffentliche Bewusstsein zu bringen und um sich selbst, nicht zuletzt durch die Kommunikationsverweigerung und Mystifizierung nach außen, interessant zu machen. Es scheint unstrittig, dass zum einen gerade die BfdK, im Gegensatz zum Jahrbuch, keinerlei wissenschaftliche Diskussion anstoßen konnten und wollten, und zum anderen, dass sie als literarische Zeitschrift per se gar nicht den Verbreitungsgrad hatten, um in der Öffentlichkeit sinnstiftend aufzutreten. Schließlich diente Werbung um 1900 auch für Medien nicht mehr nur einfach dazu, Leser anzulocken. Das bis weit ins 20. Jahrhundert elementare Werbewirkungsprinzip A-I-D-A (,Attention‘ – ,Interest‘ – ,Desire‘ – ,Action‘, sprich: die Idealvorstellung der Werbung über das Wecken der Aufmerksamkeit bis hin zum Kauf eines Produkts) wurde 1898 erstmals formuliert. Standen zu Beginn eine Handvoll Autoren bereit, die ihr Unternehmen selbst finanzierten und noch ihr eigenes Publikum stellten, so wiesen doch die Auslage in ausgewählten Buchhandlungen und die Werbung im Freundes- und Bekanntenkreis vom Privatverlag weg, ohne dass damit auch schon eine Aussicht auf Gewinne verbunden gewesen wäre: „so machte er diesen Mangel, das Fehlen einer breiten Wirkung, selber zum Prinzip seiner Veröffentlichungen“.37 35 Dietrich Kerlen, Jugend und Medien in Deutschland. Eine kulturhistorische Studie, Ravensburg 2005, S. 161. 36 Vgl. im Folgenden Mettler, Publikationspolitik, S. 7ff. 37 Ebd., S. 38.

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II. Systematische Aspekte

StG trat zunächst ohne Verlagskonzept auf. Noch bevor ein Kontakt mit Georg Bondi und seinem 1895 gegründeten Verlag zustande kam, ließ StG in regelmäßigen Abständen 1890, 1891 und 1892 die Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal in Privatdrucken – auf individuell ausgesuchtem, graugelbem oder rötlich getöntem Bütten – erscheinen, in je 100 (Algabal zunächst in nur 10) Exemplaren und demonstrativ unter verschiedenen Druckorten (Berlin, Wien, Paris). Die Baudelaire-Übertragungen Die Blumen des Bösen lagen 1891 gar nur als Zinkographie von Kleins Handschrift in 25 Exemplaren vor. Diesen intimen Charakter des Privatdrucks behielt StG auch später bei, wenn auch nach der Begründung der BfdK steigende Zahlen zu verbuchen sind (die Exemplarzahlen der Übertragungen bleiben weitgehend marginal): Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten (1895) und Das Jahr der Seele (1897) mit je rund 200 Exemplaren, Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod (1900) und Tage und Taten. Aufzeichnungen und Skizzen (1903) mit je 300 Exemplaren, Der Siebente Ring (1907) mit über 500 Exemplaren. Nachdem StG und Georg Bondi 1898 eine geschäftlich-exklusive Partnerschaft eingegangen waren und Bondi auch den Verlag der Blätter für die Kunst in seinen Verlag übernommen hatte (ohne dass StG ihn als Selbstverlag hätte aufgeben müssen), erschienen nach und nach die öffentlichen Ausgaben, den Privatdrucken in der Regel ein, zwei Jahre später folgend, in bis zu elf Auflagen.38 Noch 1898 waren innerhalb kurzer Zeit die ersten Gedichtbände (Hymnen Pilgerfahrten Algabal erstmals zusammengefasst) gedruckt worden und somit nach außen präsent – was allerdings auch zumindest für den in hoher Auflage gesetzten Privatdruck des Siebenten Rings gelten darf. Dass ein Werk wie Maximin. Ein Gedenkbuch 1906 als Privatdruck mit 200 Exemplaren erscheinen konnte, ist dagegen erstaunlich genug und spricht für eine erfolgreiche Platzierung der Marke ,George‘. Ab 1927 erschien bei Bondi die Gesamtausgabe von StGs Werken, die als Erstdruck auch Das Neue Reich (1928) aufnehmen konnte. Wie kaum ein anderer Dichter überwachte StG ein Werk, das im kleinen Zirkel Kultstatus hatte und das in – für Lyrik außergewöhnlich – hohen Auflagen am Buchmarkt vertrieben wurde, der um 1922/23 allerdings gesättigt zu sein schien. 5.3.1. Buchgestalt StG entwickelte sich vom Dilettanten, der die ersten Gedichtbände noch selbst heftete, zum Experten medialer Vermarktung. Einen Einschnitt markiert das Erscheinungsbild des Jahrs der Seele, für das Melchior Lechter erstmals die graphische Ausstattung übernommen hatte. Er prägte das Bild von StGs Publikationen bis zum Siebenten Ring, was sicherlich zum Erfolg jener Sammlungen beigetragen hat. Lechter vermochte die Vorstellungen StGs umzusetzen und war bereit, auch nach direkter Anleitung zu arbeiten. Die vergleichsweise hohe Wertschätzung des Dichters für Lechter währte immerhin von 1895 bis weit ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Dabei muss man sich bewusst machen, dass Lechter erst in seiner Verehrung für StG zum Buchkünstler wurde, woraus sich ein hierarchisches Verhältnis ableiten lässt. Zugeständnisse musste StG andererseits da machen, wo sein Kunstverständnis zu 38 Vgl. I, 5.4.2.

5. Medien und Medialität

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wenig ausgeprägt war. Voll des Lobes seitens StG – über die Bücher der Hirten- und Preisgedichte äußerte dieser 1896 „grossen dank und volle bewunderung! […] so zart übereinstimmend ist alles“39 –, konnte Lechter so wenigstens in der Einbandgestaltung eigene Maßstäbe setzen. StG gab alles andere vor, strapazierte Lechters Geduld durch späte Änderungswünsche, drängte gleichzeitig zur Einhaltung der Terminpläne und verwies den Künstler, der seine zum Kunsttempel ausstaffierte Berliner Wohnung dem Kreis und insbesondere StG großzügig zur Verfügung stellte, in die Schranken, wenn er feststellte, dass „das buch nicht ausgedruckt werden kann eh ich eine vollständige probe des ganzen gesehen und nicht erscheinen kann eh ich darüber angewiesen habe. denn in lezter linie hafte ich mit meinem namen für die ganze sammlung“.40 Wesentlich ist, dass StG alles in einer Hand vereinen und abstimmen konnte, was für gewöhnlich nach Arbeitsteilung und Funktionalität organisiert ist. Das hatte noch ungleich mehr Bedeutung für seine Zeitschriften- als für die Buchproduktion. Von der Produktion, der Festlegung der Kriterien für die Auswahl von Texten über die Ausstattung der Zeitschrift und der Bücher – die Wahl des Papiers, des Einbandmaterials und die Schrifttype – bis hin zur Festlegung der Preise, der Auflagenhöhe, zur Auswahl bestimmter Leser, zu Vertrieb und Werbung organisiert der Autor alles selbst.41

C. A. Klein gegenüber schrieb StG 1890, er habe „an der Zeitschrifterei […] am wenigsten Lust“ (CAK, 26), und noch 1898 klagte er über die „lästige verlagssache“, womit die Suche nach einem Verlag gemeint war – Eugen Diederichs und Bondi waren im Gespräch.42 Klein selbst bemühte sich, „den Stempel eines geschäftlichen Unternehmens“ (CAK, 37) zu umgehen. Georg Peter Landmann verwahrte sich später gegen eine marktbewusste Terminologie, sicher nicht ohne Zustimmung StGs: „Eine Firma ,Verlag der Blätter für die Kunst‘ hat es nie gegeben“ (GPL, 24). Doch konnten dem Autor der Hymnen und dem ambitionierten Baudelaire-Übersetzer die Vorteile einer solchen „Zeitschrifterei“ nicht verborgen bleiben: Mit der ersten Nummer der BfdK 1892 begann StG auch, auf seine Gedichte hinzuweisen. In Vorabdrucken gab er Proben von anstehenden Buchausgaben, er brachte sich über mehrere Medien ins Gespräch (private und öffentliche Buchausgaben, Zeitschrift); nicht zuletzt sicherten die Beiträge der anderen Blätter-Autoren indirekt, als imitatives Beiwerk, die publicity seiner Werke. Mit Kleins Anschrift als Hausadresse der Redaktion konnte StG anfangs auch mit seinen programmatischen Stellungnahmen in den Vorbemerkungen der BfdK als „d[er] H[erausgeber]“ anonym bleiben. Doppeldeutig ist es also zu verstehen, wenn er 1893 in den BfdK schreibt: Sogar für das technische eines buches ist der verfasser [d. i. StG] mit verantwortlich, und man darf es ihm nicht als eitelkeit vorwerfen wenn er druck und papier der landläufigen markterzeugnisse verschmäht und für sein geschöpf eine standesgemässe kleidung beansprucht.43

39 Günter Heintz (Hrsg.), Melchior Lechter und Stefan George. Briefe, Kritische Ausg., Stuttgart 1991, S. 18. 40 Ebd., S. 130. 41 Ebd., S. 11. 42 StG an M. Lechter v. 20.5.1898, in: KTM, S. 141. 43 BfdK 1/1893, 5, S. 144.

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II. Systematische Aspekte

StG betreibt Editionspolitik „als Stiftung einer Tradition durch sein Werk, die dieses Werk selbst trägt und so seine Wirkung beweist“.44 Dazu gehören auch die Übersetzungs- und die nach außen hin ,offen‘ gehandhabte Herausgebertätigkeit: Die ideell verwandten Autoren Europas werden genauso zu Weggefährten wie die Gewährsleute aus der älteren Literaturgeschichte – Dante, Shakespeare, Baudelaire jenseits, Goethe, Hölderlin und Jean Paul diesseits der Grenzen. Verpflichtet auf die StG-Schrift werden sie zu Werbeträgern für StG, welcher mit dem „Impetus [auftritt], die eigene Poesie als die Krönung dieser literaturgeschichtlichen Entwicklung zu betrachten“.45 5.3.2. Schrift Mehr als für andere Autoren war die Schrift für StG von fundamentaler Bedeutung. Er suchte nicht nur eine ihm gemäße Schrifttype, sondern eine seinem ,Typ‘ wesensnahe Schrift. In einem langwierigen Prozess entstand die sogenannte ,StG-Schrift‘, die dem flüchtigen Eindruck nach aus der Handschrift hervorging, tatsächlich aber eine Übertragung der künstlichen ,Stilschrift‘ von 1897 darstellte. 1904 legte StG eine Akzidenz-Grotesk-Antiqua vor, die in der Serifenlosigkeit und der einförmigen Strichstärke dem emotionsfreien und schnörkellosen Vortrag der Gedichte entsprach und im Bruch mit Seh- und Lesegewohnheiten durch ein auch das gängige Formenrepertoire der Interpunktion durchkreuzendes anderes, fremdartiges Schriftbild medienwirksame Signale für neue Inhalte setzte. Ist der mittestehende Punkt noch ästhetisch erklärbar, weil er das Komma mit seiner störenden Unterlänge ersetzt – dieser Nivellierung dienen auch die um die Oberlängen gebrachten Kleinbuchstaben ,k‘ und ,t‘ –, so markiert der zweifache Punkt ein inhaltliches Phänomen und damit ein neues Satzzeichen auf der Schwelle zwischen einem Schlusspunkt und den drei gedankenvollen Auslassungszeichen. Sosehr StG in der Schrift seine Person in die Waagschale legte, so planmäßig war das Vorgehen, da in dieser typisierten Schrift „das Verhältnis von Schwarz und Weiß, Letternfigur und Hintergrund genauso exakt berechnet ist wie in Mallarme´s gleichzeitigem ,Coup de de´s‘“,46 wie alles „Zufällige, Individuelle […] ins bedeutsam Allgemeine transkribiert“47 ist. Die Esoterik, die den Dichter als „Erfinder literarischer Unlesbarkeit“48 auszeichnet, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich in antipodischem Einklang mit progressiven Schriftentwicklungen befand: Das Berliner Unternehmen H. Berthold AG, das Schriftenproduktion in großem Stil betrieb, experimentierte um 1895 mit der Akzidenz-Grotesk als Auszeichnungsschrift; auch zeitgenössische psychologische Studien von Benno Erdmann und Raymond Dodge (1898) sowie Oskar Messmer (1904) über das raschere Auffassen beim Lesen serifenloser Schriften gegenüber der Fraktur und die elementare Bedeutung der weißen Flächen des Typenuntergrundes zeigen,49 dass die 44 Mettler, Publikationspolitik, S. 15. 45 Nutt-Kofoth, Editionsphilologie, S. 6. 46 Friedrich Kittler, Ein Höhlengleichnis der Moderne. Lesen unter hochtechnischen Bedingungen, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 15/1985, 57/58, S. 204–220, hier: 219. 47 Mattenklott, Bilderdienst, S. 209. 48 Ebd., S. 220. 49 Vgl. Benno Erdmann/Raymond Dodge, Psychologische Untersuchungen über das Lesen auf experimenteller Grundlage, Halle/S. 1898; Oskar Messmer, Zur Psychologie des Lesens bei Kindern und Erwachsenen, Leipzig 1904.

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Georgesche Schrift keine abwegige Erfindung war. Wohl aber erschwert sie den praktischen Lesefluss, zwingt zum Durchbuchstabieren: Der ober- und unterlängenfreie Buchstabenstreifen [schlägt] allen Gewohnheiten des Lesepublikums ins Gesicht. […] Georgeleser […] werden zum Buchstabieren gezwungen. […] Weit entfernt, die Bedeutung von Texten erst im Lesevorgang generieren zu dürfen, müssen Leseraugen also erst einmal das Lesen selber wieder lernen.50

Zweifellos folgte der Kreis auch in der Bewertung der Schrift der philosophischen Leitfigur Platon, der im Phaidros deren Für und Wider erörtert. Die Erfindung der Schrift durch den legendären ägyptischen Gelehrtengott Theuth sei alles andere als eine „Arznei für Gedächtnis und Weisheit“. Platon, der die Speicherkapazität dieses Mediums hervorhebt, legt dem König Thamus in den Mund: Denn wer dies [Werkzeug der Schrift] lernt, dem pflanzt es durch Vernachlässigung des Gedächtnisses Vergeßlichkeit in die Seele, weil er im Vertrauen auf die Schrift von außen her durch fremde Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst die Erinnerung schöpft.51

Die intensive Kultivierung der Schrift im George-Kreis ließe sich als eine Wiederaufhebung dieser von Platon postulierten Trennung von Autor und Botschaft erklären. Im ästhetischen Vollzug dieser Wiederaufhebung lassen sich Persönlichkeiten im Sinne des Meisters bilden. Um den unmittelbaren Bezug zum Leser zu erhalten, besinnt sich StG auf die mittelalterliche Handschriftenkultur zurück. Ohne die platonische Kritik aufgeben zu müssen, huldigt er dem Buch und mithin der Schrift als Individuum und materiellhaptischem Wert. Der Bischof und Büchersammler Richard de Bury etwa schwärmt in seinem 1344 verfassten Philobiblon: die Kraft der Rede vergeht mit dem Klang; Wahrheit bloß in Gedanken ist verborgene Weisheit und ein unsichtbarer Schatz; Wahrheit dagegen, die in Büchern leuchtet, will sich an jeden Sinn wenden, der der Lehre offen steht: an das Sehvermögen, wenn man sie liest, ans Gehör, wenn man sie hört; ja weiter empfiehlt sie sich dem Tastsinn irgendwie, wenn sie sich abschreiben läßt, zusammenfassen, verbessern und aufbewahren.52

Das Schriftbild vor Erfindung des Buchdrucks verlangte dem Leser einiges ab, der in der Regel aus dem monastischen Umfeld kam, in dem das Lesen unter den traditionellen Aspekten der Begabung, Übung und Disziplin stand. Das Fehlen von Zwischenräumen in den meisten frühen mittelalterlichen Handschriften, die dann in der Scholastik zum leichteren Verständnis eingeführt wurden, erforderte ein langsames, im Idealfall halblautes oder leises Lesen, um sich den Text einzuverleiben. Dieser individualisierten Fortschreibung der Wortfolgen entspricht in StGs Schrift ihr oberund unterlängenfreies Bild, sodass der Vergleich von Ivan Illich, den er im Hinblick auf die ,scriptio continua‘ verwendet, auch hier gilt: Die Zeilen seien „wie eine Ton50 Ebd., S. 219. 51 Phaidros 274 c, übers. v. Kurt Hildebrandt. 52 Zit. nach Jan-Dirk Müller, Der Körper des Buchs. Zum Medienwechsel zwischen Handschrift und Druck, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M. 1988, S. 203–217, hier: 209. Vgl. dazu und zum Folgenden auch Detlef Kremer, Literaturwissenschaft als Medientheorie, Münster 2004, S. 26ff.

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II. Systematische Aspekte

spur, die mit dem Mund aufgenommen und vom Leser für das eigene Ohr wiedergegeben“ werde.53 Die späteren Handschriften des Mittelalters näherten sich dem modernen Schriftbild und dem schnelleren, bevorzugt stillen Lesen durch eine stärkere strukturelle Ordnung (Pagina, Register u. ä.) an; die Lektüre blieb jedoch bis in die Neuzeit hinein neben der intellektuellen auch eine leibliche Tätigkeit. Nach einigen Modifizierungen fand die StG-Schrift ihre endgültige Gestalt, in der dann auch ab 1927 das Gesamtwerk gedruckt wurde. Melchior Lechter, der die Entwicklung der Georgeschen Schrift buchkünstlerisch begleitet hat, dürfte keinen Einfluss darauf genommen haben, zumal seine Auffassung der Groß- und Kleinschreibung von der StGs grundverschieden war: Lechter war ein Anhänger reiner Versalschriften, während StG Minuskeln bevorzugte, und als sich der Künstler von seiner gotisierten Ästhetik verabschiedete hin zu einer harmonischen, StG näheren Formensprache, hatte er sich dem Dichter bereits entfremdet und kritisierte ihn als ,unkünstlerisch‘, buchgestalterisch ,kurzsichtig‘ und im religiösen Gefühl unempfänglich und oberflächlich.54 Der bewusste Einsatz einer unüblichen Schrift ermöglichte es StG, seine Publikationen als marktunabhängig und nicht als massenhaft industriell produziert erscheinen zu lassen und zugleich den Markt zu bedienen, den Marktwert bzw. die Attraktivität sogar noch zu steigern.55 Mit dem einzigartigen Schritt, für den Satz eigener und fremder Texte eigens eine Schrift schneiden zu lassen, die von seiner individuellen, ,manipulierten‘ Handschrift abstrahiert war, entpersönlichte StG die Literatur und erzwang eine „kollektive handschriftliche Identität“.56 Zugleich entzog er seine Medien der modernen massenorientierten Reproduktionstechnik, indem er den Eindruck eines nichtindustrialisierten, exklusiven Originaldrucks erweckte. […] so lässt sich eindrücklich zeigen, dass beispielsweise die an die Auflagenzählung der Originaldruckgrafik angelehnte ,Einzigmachung‘ durch eine laufende Nummer in jedem ,individuellen‘ Buch in Georges Privatdrucken eine Stellungnahme gegen den Literaturbetrieb der Zeit bedeutet.57

Layoutfragen werden hier zu einer Form der Simultanästhetik, „die Schluß macht mit der herkömmlichen Trennung zwischen Botschaft und Medium, die im Gegenzug den Eigenwert des Mediums als eines wahrnehmungsverändernden Apparates herausstellt und wieder sichtbar werden lässt“.58 Dass die Schrift im George-Kreis mehr war als nur Kommunikationsmittel, zeigt die Personalisierung: Stellvertretend für den Urheber konnte sie ,Besitz‘ von dessen Bewunderern ergreifen, sodass die persönliche Prägung der Druckschrift letztlich zu einer Entpersonalisierung der Handschrift führte. Das konnte nur deshalb funktionieren, weil durch „die Umsetzung der ,Stilschrift‘ in 53 Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, Frankfurt/M. 1991, S. 57. 54 Vgl. Sebastian Schütze, „Turm von bleibendem strahl in der flutnacht der zeit!“. Melchior Lechter und die Antinomien, Paradoxien und Pathologien der modernen Zeit, in: Melchior Lechter. Gegen-Welten. Kunst um 1900 zwischen Münster, Indien und Berlin, hrsg. v. Jürgen Krause u. Sebastian Schütze, Münster 2006, S. 12–53, hier: 29, 32, 34. 55 Vgl. Kurz, Teppich der Schrift, S. 49, Anm. 143. 56 Ebd., S. 78. 57 Ebd., S. 49. 58 Blasberg, Charisma, S. 133.

5. Medien und Medialität

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die Lettern der St-G-Schrift […] Formen und Materialitäten der Schrift in einen anderen medialen Status“ überführt wurden. Ausgehend von den reproduzierten Buchstaben begannen die Kreismitglieder, StGs ,Stilschrift‘ zu imitieren, was dazu führte, dass „die Handschriften der Mitglieder des George-Kreises […] nur schwer voneinander zu unterscheiden“59 waren (Abb. 14). Im Verzicht auf eine „individuelle Charakterdarstellung“,60 der bis in die Wirkungsgeschichte hinein zu beobachten ist – etwa innerhalb des Castrum Peregrini 59 Ebd., S. 139. 60 Roos, Georges Rhetorik, S. 57.

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II. Systematische Aspekte

(Wolfgang Frommel, Manuel Goldschmidt) – richteten sich die Anhänger freiwillig auf StG aus. Ein Akt der völligen Homogenisierung war es nicht, wie beispielsweise ein Blick auf die Handschrift Karl Wolfskehls – allerdings eine der stärksten Persönlichkeiten im direkten Umfeld StGs – zeigt. Anders verhielt es sich beim gedruckten Text, also in der Außendarstellung, in der StG auf ein einheitliches Bild bedacht war. Aus dem Briefwechsel zwischen StG/Klein und Hofmannsthal geht hervor, dass er „unartistische“ Satzzeichen und sprachliche „abgeschmacktheiten“ auch der Beiträger der BfdK herausstrich, was Hofmannsthal – im konkreten Fall letztlich unbegründet – veranlasste anzumahnen, „dass meine Interpunction respectiert“ werde (G/H, 61). Dass StGs eigenmächtige Eingriffe aus den Beiträgern Geistesverwandte seiner eigenen Pseudonyme machten, wird aus Leopold von Andrians Empörung deutlich, dem es „unangenehm“ war, seinen Namen keineswegs freiwillig „unter den Worten eines anderen Künstlers zu sehen“.61 Innerhalb der traditionellen Medien – dem Buch- und Zeitschriftenwesen in Verbindung mit Schrift – lässt sich festhalten, dass StG nach innen wie nach außen mit zwei Strategien auftrat: einmal suggestiv und marktabgewandt an der Gruppe, dem Kreis orientiert, und einmal offensiv auf einen wenn nicht Massenmarkt, so doch auf einen wachsenden Markt sowie auf ein für Exklusivität empfängliches Publikum bezogen. Dafür benötigte StG finanzielle wie publizistische Unabhängigkeit. Erstere war ihm durch Gönner, wie etwa Karl Wolfskehl für die BfdK, gesichert, das andere durch die Einbettung in einen Verlag, gegen den er sich abgrenzen konnte, nicht zuletzt auch mittels eines Signets, das den personalisierten Stil genauso unterstrich wie es die Menge bediente. Sowohl für die von Melchior Lechter entworfene Jugendstilmarke als auch für das Swastika-Signet gilt: „Es ist zwar kein Firmenzeichen, aber als ein Zeichen, das den von Firmen sonst verwendeten entspricht, suggeriert es doch so etwas wie eine Firma, symbolisiert zumindest so weit, wie es innerhalb eines fremden Verlags möglich ist, Selbständigkeit.“62 Editionspolitik im George-Kreis ist zu sehen als „Stiftung einer Tradition durch sein [StGs] Werk, die dieses Werk selbst trägt und so seine Wirkung beweist“.63

5.4.

Der Dichter als Botschaft

StG wollte publizistisch das Feld kontrollieren, auch nachdem sich die Künstlergesellschaft mit ihrer Vision vom Gesamtkunstwerk zur Lebensgemeinschaft gewandelt hatte,64 die den Kreis politisierte. Im Blick auf die Medialität änderte sich auch die Rolle StGs, dessen Person bzw. dessen Bild für die Nachwelt in den Augen seiner Anhänger phasenweise wichtiger wurde als sein Werk. Das heißt aber nicht, dass diese Entwicklung in der Öffentlichkeit auch zeitgleich nachvollzogen werden musste. Die Gedichtausgaben vor allem in der prachtvollen Gestaltung Melchior Lechters waren bei aller Exklusivität greifbar, während die inszenierten Kostümfeste, die fotografischen Huldigungen und selbst die Porträtplastiken wohl einem größeren Publikum 61 Vgl. Winkler, George-Kreis, S. 13. Vgl. ¤ Leopold von Andrian. 62 Mettler, Publikationspolitik, S. 19. 63 Ebd., S. 15. 64 Vgl. dazu Oelmann, George-Kreis.

5. Medien und Medialität

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verschlossen blieben, jedoch im Kreis selbst sogar einer Kontrolle durch StG unterlagen. Der Kreis ohne StG als seine Mitte ist schlechterdings nicht vorstellbar. Dies legt nahe, die Medialität über die Publikationsmedien, über Schrift und Buchdruck hinaus zu beleuchten, zumal die Bücher und die Periodika ohnehin personalisiert und der dahinterstehende ,Kopf‘ Zentrum und Motor des Unternehmens war. Der Dichter verweigerte sich zwar einerseits als Person unter dem Schutzschild des Privatmanns, vermittelte aber andererseits ein selbststilisiertes Bild nach außen. Objektiv über Selbstaussagen ist StG allerdings nicht zu fassen. Biographische Informationen reichen nicht aus, die offenkundige Aura zu erklären. Unbeeindruckt von Äußerlichkeiten muss man die Person StGs unmittelbar als Medium betrachten, die sich zunächst im privaten Umfeld selbst inszeniert und später in ihrer künstlichen Erscheinung vermarkten lässt. Es ergibt sich auch hier eine Schwellensituation zwischen Innen- und Außenansicht. Bereits der noch unbekannte Jungautor und Übersetzer, der in Frankreich die Nähe zum ,Maıˆtre‘ Mallarme´ sucht, grenzt sich als Dandy gegen die Menge ab, um in der Selbstinszenierung und oppositionellen Verweigerungshaltung doch auch den eigenen Marktwert auszutarieren. Der dekadente Ästhetizismus, der sich in schrillem Modebewusstsein, Haschischkonsum und der Solidarität mit Außenseitern, etwa Prostituierten, zeigte, erwies sich auch hier schon als Basis der „ideologischen Entfaltung, Fundierung und Dogmatisierung“,65 indem sich StG noch im Fahrwasser des Symbolismus von reinen L’art pour l’art-Gedanken distanzierte. Eine Ideologisierung ohne mediale Strukturen führt aber ins Leere. „Die Kunst des Ästhetizismus ist konstitutiv selbstbezüglich“,66 aber die Wirksamkeit ist von der Quote der dafür Empfänglichen abhängig. Die Vermittlung über die gedruckte Literatur (BfdK usw.) ist dabei das eine und zeitlich der erste Schritt ,nach draußen‘, die Vermittlung über die inszenierte, ,gelebte‘ Literatur bzw. über ein fingiertes Leben („Hersagen von Gedichten“, dichterisches Handeln, Mitgliederwerbung usw.) das andere, das in der Gruppenchronologie nachgesetzt ist. 5.4.1. ,Habitus‘ – Stimme und Fotografie Da der Initiationsritus und die Tauglichkeitsprüfung im Kreis an den Gedichtvortrag gekoppelt waren,67 litten die Aspiranten zwischen der Faszination, die vom „Zauber dieser Stimmung“ (KH, 60) und der Rezitation des ,Meisters‘ selber – „bannend wie Zaubersprüche“ (EL, 115) – ausging, und der puren Angst vor der Selbsterniedrigung, welche sich im Nachhinein zur „Einschmelzung“ des „Eigenwillens“ (FW, 194) verklärte. „Die leicht gesprochenen Worte“, gemeint ist die Aufforderung zum Lesen, „klangen“ für Edgar Salin „wie ein Todesurteil“ (ES, 17). Sinn sollte sein, durch das laute Lesen von Gedichten auch den Rhythmus und die Melodie hörbar zu machen und schließlich das Wesen nach außen zu kehren, einmal unterstellt, dass die Stimme ein „wunderbares Phänomen aus Seele und Leib“ (RB II, 137) sei. Die Versagens65 Braungart 1997, S. 10. 66 Ebd., S. 11. 67 Vgl. II, 6.3.

700

II. Systematische Aspekte

ängste rührten auch daher, dass die Verklärung von StGs eigenem Vortrag und seiner Stimme eine unerreichbare Höhe und unüberwindbare Barriere errichtete. So gleichen die Beschreibungen der Lesungen einer bilderreichen Entmutigung: „Wie sollte man es wohl zu beschreiben suchen“, schrieb Sabine Lepsius 1935, der Ton seiner Stimme wechselte seine Höhe und Tiefe nur in ganz seltenen Abständen, wurde dann streng beibehalten, fast wie eine gesungene Note, ähnlich dem Responsorium in der katholischen Kirche, und trotzdem bebend vor Empfindung und wiederum hart, dröhnend. Es war der Zusammenhang mit seiner Kinderzeit zu spüren, da er einst während der Messe das Weihrauchgefäß schwingen durfte. Auch die Endzeilen verharrten auf dem gleichen Ton, so daß nicht nur der übliche Schlußeffekt völlig vermieden wurde, sondern es schien, als sei das Gedicht nicht ein einzelnes in sich geschlossenes, sondern ein Anfang, ohne Ende, wie herausgegriffen aus dem Reiche großer Gedanken und erhöhter dichterischer Vorstellungen. (SL, 17)

Der stimmlichen Fülle des Sprechgesangs in feinsten Abstufungen konnten die Anhänger nur im unpersönlichen Flüsterton begegnen. Zudem hörte jeder etwas anderes aus StGs Stimme heraus: Einmal wird sie beschrieben als „trocken, nüchtern“ (Herman Schmalenbach nach Boehringer), ein andermal als „feierlich, psalmodierend, metrisch“ (Kurt Hildebrandt unter Berufung auf Breysig). Die bewusst schwach beleuchteten, vom Braun der vegetabilen Leistikow-Tapete zusätzlich verdüsterten Räume, wo die Lesungen stattfanden, waren für diese Zeit quasi heilige Orte, an denen sich lautes Sprechen und alles Triviale von selbst verbaten (KH, 60). Wo Profanes dennoch die Feiertagsstimmung durchkreuzte, wurde es veredelt oder gar fetischisiert. So galt es nicht nur als Entweihung, wenn man die als heilig beschriebenen Räume, in denen sich der ,Meister‘ aufhielt, mit Straßenschuhen betrat; schon die Erwähnung der banalen Gepflogenheit, das Schuhwerk „mit Sandalen [zu] tauschen“ (KH, 66), machte den Handgriff zur Kulthandlung, zumal wenn der Jünger es StG gleich tun konnte: „diese gesteigerte Schlichtheit schloß […] für den Bereiten alle trivialen Gedanken aus, wenn er [StG] in Sandalen die Schwelle betrat“ (KH, 67f.).68 StGs Art die Krawatte zu binden, die Zigarette zwischen Mittel- und Ringfinger zu halten und anderes mehr gewannen ähnliche Bedeutung. Was im Rückblick – und als solcher sind Kurt Hildebrandts Memoiren (wie die seiner Weggefährten) nur rezipierbar – der unfreiwilligen Komik nicht entbehrt, muss immerhin so viel Wert gehabt haben, um erinnert zu werden. In der Tat wurden Sandalen immer schon „symbolisch aufgeladen und damit zu bedeutungsschweren Zeichen“:69 Die seit dem Mittelalter modisch wenig repräsentierfähigen Sandalen standen nicht nur für den Ausschluss des profan Herkömmlichen (so vermittelt es Hildebrandt), sondern auch für den Rückgriff auf ein gängiges Schuhwerk der griechisch-römischen Antike (man denke an die Kostümfeste im George-Kreis), für die asketische Haltung StGs (über Jahrhunderte trugen nur Pilger und Bettelmönche Sandalen) und schließlich für die zeitgenössische Aussteigerkultur im kleinen wie im großen Stil. StGs Auftreten und Verhalten hatte für die Jünger viele Facetten, die sie – von ihm dabei unterstützt oder geduldet – mit Bedeutung aufluden, sodass das sich daraus ergebende Bild des ,Meisters‘ unerreichbare Größe und Unergründlichkeit gewann. „Es wehte“, so sagt Salin 68 Vgl. II, 1.4.1.1. 69 Nike Breyer, Männer auf freiem Fuß, in: taz v. 5.5.2007.

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so vorsichtig wie unmissverständlich zum „Geraune“ um StG, „zu Zeiten um George ein Hauch des Mehr-als-Menschlichen“ (ES, 14). Die Fotografien mit StGs Konterfei gewähren „Einblick in Georges strategische Werkstatt seiner Selbstinszenierung“.70 So lässt sich StG um 1903 von Karl Bauer in dessen Atelier vor einem mit Blumen bedruckten Raumteiler in der Pose Nietzsches ablichten.71 Doch war das nur eine Art, sich in Szene zu setzen, um den kulturellen Rahmen abzustecken, in dem sich schon der junge StG sah – in einem physiognomisch-mimischen Assoziationsraum zwischen Dante und Nietzsche. Martin Roos sieht in den Fotoinszenierungen einen „Ausdruck übermäßiger Selbstbefangenheit in der eigenen Lebenswelt“.72 Es ging auch, vor allem in StGs späten Jahren, um Macht, um die Setzung eines ,Staates‘, den man nicht einfach behaupten kann, sondern den man souverän präsentieren muss.73 Gundolf mahnte rigoros, StG sei keine „Privatsache“ mehr, und sein fotografiertes Antlitz sei mehr wert als „zehn gute Broschüren“ (G/G, 236f.). Die Fotografie war dazu besser geeignet als alle anderen Medien, gefolgt von der Malerei – insbesondere die ,staatstragenden‘ Bildnisse von Stoeving oder Lepsius –, die sich oft genug an der fotografischen Vorlage orientierte. Für den George-Kreis waren die Fotografen Jacob und Theodor Hilsdorf von großer Bedeutung, weil sie StG bereits seit den Schultagen kannten und seinen Werdegang von früh auf verfolgen konnten. Allerdings dauerte es bis 1906, bis erstmals eine Aufnahme von StG gedruckt vor einem größeren Publikum erschien. Ähnlich wie Bertolt Brecht versuchte auch StG, die Verbreitung seines Bildes in der Öffentlichkeit zu steuern, und vereinbarte mit Jacob Hilsdorf, dass jede Weitergabe seiner Einwilligung bedürfe. Im Freundeskreis gingen längst Aufnahmen StGs von Hand zu Hand, sie „sorgten für die Anwesenheit des Meisters im Kreis ,in effigie‘ noch weit über den Tod hinaus“,74 mehr noch: Boehringer zufolge waren Fotos „für die Welt, nicht für die Nächsten“ bestimmt (vgl. II, Abb. 3).75 Dass ausgerechnet die Fotografie herangezogen wurde, die Aura des Dichters sichtbar zu machen, wird in dem Gruppenbild mit StG im Dreiviertelporträt von 1924 deutlich (Im Pförtnerhaus, vgl. II, Abb. 4), auf dem Claus und Berthold von Stauffenberg einmal mit schmachtendem Blick auf StG, einmal mit abwesend in die Ferne gerichtetem Blick mit dem bezeichnenderweise ihnen abgewandten StG in Beziehung gesetzt werden, wieder vor Blümchentapete. Dem leibhaftig von den Jünglingen entrückten StG in legerer Strickjacke steht ein George-Bild an der Wand auf der Seite der Stauffenbergs gegenüber, ein Bild bzw. sein Image im Bild, hier im schwarzen Ornat, Zeichen für mönchische Askese, Simplizität und Soldatentum.76 StG bemühte sich 70 Hansdieter Erbsmehl, ,Geschwistergehirn‘ und ,Zwillingsbruder‘. Das melancholische Selbstbild des nietzscheanischen Künstlers um 1900, in: Buchholz u. a. (Hrsg.), Lebensreform, Bd. 2, S. 43–47, hier: 45. Vgl. dazu auch II, 2.3.2. u. III, 3.1. 71 Vgl. RB II, Tafelband, S. 120; vgl. Curt Stoevings Nietzsche-Gemälde von 1894 (Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie), wo der Philosoph an einem pflanzenumrankten Balkon sitzt. 72 Roos, Georges Rhetorik, S. 111. 73 Vgl. Braungart, „Dies gewaltige Gesicht“, S. 86. 74 Braungart 1997, S. 122; dort auch das Boehringer-Zitat. 75 Vgl. II, 2.3.2.2. sowie die von Jacob und Theodor Hilsdorf aufgenommenen Fotos von Kreismitgliedern im Personenlexikon (¤ Percy Gothein, Friedrich Gundolf, Erich von Kahler, Berthold Vallentin, Albert Verwey, Friedrich Wolters). 76 Vgl. Bartels, Zwei Körper, S. 30ff., 39ff.

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II. Systematische Aspekte

darum, Fotos – genauso wie die Schrift und das Buch – zu charismatisieren und die daraus erwachsene Aura zu medialisieren, um den Kreis bzw. den Mythos ,George‘ für eine Zeit zu sichern, wenn er selbst tot, also Teil der Geschichte sein würde.77 Das war Teil eines speziellen Marketings. Aber die Fotografie stellte keine Verkaufsförderung für Dichtung um jeden Preis dar, sondern vielmehr „Wunschbilder, die in einem systemischen Wechselspiel auf das Bedürfnis der Bewunderer nach visueller Darstellung des Dichterischen mit der Selbstinszenierung des Dichters antworten“.78 Unpassende Motive werden auch nicht bildwürdig, wie etwa der gelegentlich beschriebene spartanisch genügsame Dichter mit der Schlafdecke auf dem Fußboden, mit dem sonst viel gerühmten ,trockenen Brot‘, oder die wohl eher auf ein Bildmotiv der Malerei als auf eine Fotografie zurückgehende Darstellung nackter Knaben bei der Lesung (bei Edith Landmann, Sabine Lepsius u. a.),79 für die gilt, dass „nicht Inhalte, sondern soziale Beziehungen, nicht explizit, sondern nonverbal“80 kommuniziert werden. Interessant ist deshalb das Bild, das Freunde und Anhänger StGs von den Eindrücken über die erste Begegnung bis hin zum letzten Kontakt entwerfen. Kaum ein anderer Dichter nach Goethe verfügt über eine ähnlich minutiös geregelte, jedoch gleichzeitig ambivalente Darstellung des Erscheinungsbildes und des Lebenswandels bzw. der Haltung aus zweiter und dritter Hand wie StG. Der Protagonist nahm selbst Anteil am Erinnerungswerk seiner Bewunderer, sofern bzw. solange er eben Einfluss darauf ausüben konnte, wie etwa auf Friedrich Wolters’ ,Blättergeschichte‘. In nahezu grotesker Weise schildert dieser in seiner monumentalen George-Biographie die „kugelhafte Gesamtform des Kopfes mit der Achsengleichheit der inneren Rundung in Höhe Breite und Tiefe“, um über diffuse geometrische Winkel- und Linienzüge ein gleichsam „bewegtes und reiches“ sowie in „sicherer Ruhe und Geschlossenheit“ (FW, 574) erhaltenes Antlitz zu schaffen, das ohne Bezug zur Realität offenbar StGs Selbsteinschätzung traf – der möglicherweise sogar der Mitautor des Buches war (KH, 193). Aber auch die Einschätzungen, die postum veröffentlicht wurden, sowie Tagebucheinträge und Briefnotizen arbeiten in seinem Sinne am Mythos ,George‘: Als Prophet – wenn nicht Höheres – ist der Dichter zugleich der unmittelbar zugängliche und umgängliche, väterliche Freund in Strickjacke und der unnahbare, einmal segnende, ein andermal verdammende Erzieher. Jeder Baustein ergibt einen Teil des ganzen Menschen, wie sich StG selbst sehen wollte. Das delegierte autobiographische Gedächtnis ist „ausgesprochen geschmeidig in der Integration unterschiedlichster Quellenbestände“,81 wobei die Fehlleistung durchaus gewollt ist oder unbewusst einer Art Drehbuch StGs folgt: „Erinnert wird also so, wie es im jeweiligen Augenblick zu gebrauchen ist“. Ausdruck der Medialität ist die Organisationsstruktur der Kombination jener „narrativen und inhaltlichen Versatzstücke“, denn „jede Gegenwart, jede Generation, jede Epoche schafft sich jene Vergangenheit, die für ihre Zukunftsorientierungen und -optionen den funktional höchsten Wert hat“.82 Wo wir für gewöhn77 Vgl. Blasberg, Charisma, S. 130ff. 78 Wegmann, „Bevor ich da war“, S. 101. 79 Vgl. ebd. 80 Kolk 1998, S. 223. 81 Welzer, Medialität, S. 17, dort auch das folgende Zitat. 82 Ebd., S. 26.

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lich Erfahrungen und Erlebnisse auch Dritter ergänzend mit in unsere Erinnerung einbauen, folgt im George-Kreis auch die Erinnerung einem Muster. Herbert Steiner erinnerte sich an seine Begegnung mit StG: Sein Bild begleitete mich lange, nahm in bösen Träumen die Züge einer düsteren und mächtigen Figur Balzacs an, wurde schließlich ferner, klarer. Jahre und Jahre später sah ich ein Gemälde von Burne-Jones: Merlin, dunkel gekleidet, bleich, regungslos, rätselhaft, blickt auf Nimue¨, die vor ihm durch den Garten geht. Mir war, als stehe ich wieder in jenem Bann: so sehr schien mir der Zauberer George zu gleichen.83

Die Merlin-Figur kam Steiner ikonographisch entgegen, zumal auch Burne-Jones ihr danteske Gesichtszüge verlieh, die im George-Kreis oft mit dem Profil StGs in Beziehung gesetzt wurden. Es spielte keine Rolle, dass der englische Maler in seiner Verzauberung Merlins (1873/74; National Museums Liverpool, Lady Lever Art Gallery) sich selbst und in Nimue¨ seine Geliebte darstellte. Karl Bauer wollte sich gar nicht festlegen, als er StGs Gesichtsfarbe als „bräunlich blass, dabei etwas dunkel“ beschrieb; auffallend fand er „den medusenhaften seltsamen Blick der tief unter den felsigen eckigen Stirnknochen liegenden graugrünlichen Augen, deren Iris um einen Ton heller gefärbt schien als die dunklere Epidermis der Lider“.84 Für das „Sphinxhaft-Dämonische“ im Antlitz fiel Bauer nicht Balzac, sondern Napoleon als Vergleichsgröße ein, der „löwenhafte Kieferknochen“ erinnerte ihn gar an Büsten Alexanders des Großen, das Ganze „an die Münzen italienischer Renaissance (Malatesta, Colleoni und anderer)“; die „Danteähnlichkeit“ gestand er erst dem alten StG zu. Die virtuellen Versatzstücke bedeutsam aufgeladener, aber beliebig austauschbarer Gesichtspartien vom Kinn bis zu den Schläfenadern ergäben im Gesamtbild ein übermächtiges Haupt einer proteischen Persönlichkeit. Martin Roos hebt das „fraktale“ Gebilde von Wille und Vorstellung hervor: „Die Jünger zerlegten den Dichter in Details, um ihn anschließend zu einem Wesen mit idealen Eigenschaften wieder zusammenzusetzen.“85 Reale Erinnerung und Fiktion gehen ineinander über, man denke an Lechters Gemälde der Weihe am mystischen Quell (1903) im 1944 zerstörten Pallenbergsaal in Köln, oder an Heckels Wandbild im Angermuseum Erfurt (Lebensstufen, 1922–1924), auf denen streng idealisierte Porträts des Dichters zu sehen sind. Wer das Diktum ausgibt, „ob einer ein dichter ist darüber entscheidet rascher und uns grade so untrüglich sein gesicht wie sein gedicht“ (G/H, 251f.), konnte selbst nicht nur mit einem Charakterkopf ausgestattet sein – er bedurfte eines symbolhaften Hauptes. Die sogenannte ,Dichtertafel‘ in der siebten Folge der BfdK von 1904 suggeriert einerseits, dass die abgebildeten Weggefährten von StG inspirierte Dichter sind, deren Mitte der ,Meister‘ selbst ist, sie macht aber andererseits durch teilweise deutlichen Beschnitt der Bildnisse sowie durch die erschreckend dilettantische Collage bzw. Verteilung um das perfekt ins Übermenschliche stilisierte, vor lichtem Hintergrund modellierte Profilbild StGs deutlich, wessen Gedichte unangefochten das Leitmotiv bestimmen. „Der erste Eindruck“, schreibt Edgar Salin, „war erschütternd und war vernichtend. Stärker noch als die Empfindung des Glückes […] war die abgründige Ver83 Herbert Steiner, Begegnung mit Stefan George, in: Begegnungen mit Dichtern, Tübingen 1963, S. 9–23, hier: 23. 84 Zit. in: RB II, S. 88f., dort auch die folgenden Zitate. 85 Roos, Georges Rhetorik, S. 120f.

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II. Systematische Aspekte

zweiflung“ (ES, 21) über das eigene Unvermögen. Die Sinnleere vor der Begegnung mit StG wird bei ihm wie bei anderen fast unisono hervorgehoben. Vielfach erhält StG Züge eines Furcht einflößenden Zauberers mit Heilkräften. Ernst Glöckner berichtet: „Sein Dämon bezwang mich, daß ich ruhig wurde und glücklich. […] Er ist ein Genie und besitzt zugleich die magischen Kräfte eines guten Arztes“ (EG/EB, 48). Anstatt Medizin verabreichte dieser jedoch ein „erleuchtendes […] Wort“ (G/G, 38), nach dem sich etwa Gundolf sehnte: „Wenn ich von Dir einmal ein freundliches Wort bekäme nach soviel kurzen und bösen Billets würdest Du mich sehr beglücken“ (G/G, 140). Die Sprache fungiert hier ganz als Medium, als Mittel zum Zweck. Sabine Lepsius „wusste sofort“ – einhellig zieht sich ein solcher Ton der Überzeugung durch das Gedächtnis der Georgianer –, dass sie „einer machtvollen, überragenden Persönlichkeit gegenüberstand“. Auch die betonte Widersprüchlichkeit wiederholt sich stereotyp: „Seine Blicke: fern und doch liebenswürdig. Seine Sprache von markiger Wucht, ohne laut zu sein.“86 Oder anders, nach Alexander Zschokke: „Die Worte standen wie steinerne Blöcke im Raum“,87 was nur als Bild vorstellbar ist wie die „hölzerne Glocke“,88 die Morwitz erinnert. Von einem Porträt Curt Stoevings voreingenommen, das Rainer Maria Rilke als unabdingbar ansah, um in dem „weisen Schweigen dieser Lippen […] die Rhythmen ihrer Beredtsamkeit zu begreifen“,89 war Harry Graf Kessler von der Wirklichkeit überrascht, weil ihm StGs Gesicht „härter und knochiger“ vorkam als er vermutet hatte, der Schädel hatte für ihn „[e]twas Brutales“, selbst der Vortrag ist wenig schmeichelhaft beschrieben, „mit einer Stimme, die zwischen Schnarren und nasalem Predigerton abwechselt, aber rhythmisch nicht unschön“ sei.90 Abgesehen vom störenden rheinischen Akzent nahm Marie von Bunsen sie während einer etwas früheren Lesung anders wahr: „leise gleichmäßig“, mit „feiner diskreter Betonung“.91 Ist der Eindruck hier noch beliebig, wenn auch im Georgeschen Sinn staats-tragend, so macht Percy Gothein die ästhetische Erfahrung einer Komposition: „Es war ein gleichmässiges ständiges schwingen bis zum gehobenen schlusswort.“92 Die Inszenierung selbst, so unterschiedlich die Wahrnehmung war, zielte auf eine sakralisierte Stimmung, weshalb nicht verwundert, dass nach dem Abgang des Vortragenden sich nur zu flüstern schickte. Angesichts der Bedeutung, die StG gerade dem Vortrag eines Gedichtes beimaß, muss eine Absicht darin zu sehen sein, dass er jegliche Tonträger ablehnte, die im Laufe der 1920er-Jahre zur Verfügung standen. Robert Boehringer vermochte dem Tonfall StGs wohl am nächsten zu kommen. Dabei fällt auf, dass das allgemein gültige Ideal professioneller, sprich schauspielerischer Rezitation oder Vertonung als „profan“, „abgeschmackt“ und „überflüssig“93 abgelehnt wurde gegen86 Sabine Lepsius, Ein Berliner Künstlerleben um die Jahrhundertwende, München 1972, S. 169. 87 Zit. nach RB II, S. 165. 88 Zit. nach Manuel Goldschmidt, Ernst Morwitz im Gespräch mit Wolfgang Frommel: Aufzeichnungen und Erinnerungen, in: CP 43/1994, 213, S. 7–46, hier: 33. 89 Rainer Maria Rilke an C. Stoeving v. 4.12.1898, StGA. 90 Harry Graf Kessler, Tagebucheintrag v. 4.12.1898, zit. in: KTM, S. 144, hier auch die folgenden Zitate. 91 Marie von Bunsen, Stefan George: ein Dichter und eine Gemeinde, in: Vossische Zeitung v. 9.1.1898, zit. in: KTM, S. 143. 92 Percy Gothein, Halkyonische Tage. Aus einem Erinnerungsbuch, in: CP 3/1953, 11, S. 7–61, hier: 15. 93 Robert Boehringer, Über Hersagen von Gedichten, in: Jb 2/1911, S. 77–88, hier: 87, 78.

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über dem rituell gesetzten, „dichterischen“ Sinn. Das Lesen wurde ausdrücklich zum Medium innerhalb des Kreises: „Der wahre hersager ist also das erkennende und wiedergebende medium, dem die richtige art des lesens im gedichte selbst genau geschrieben steht“, das „Gefäss des dichterischen geistes“ – im freien Zitat nach Jean Pauls Vorschule der Ästhetik – als „mittler zwischen gemeinheit und genie“,94 das heißt, „wenn wir im Lesen vereint sind, sind wir eins“ (EA, 57). So schrieb Boehringer, der in Freudscher Fehlleistung an anderer Stelle auch das Lesen mit dem ,Leben‘ von Gedichten vertauschte. Polemisch grenzte er dabei das laute vom stillen, also auch stimmlosen Lesen ab, das – mit Goethe in Dichtung und Wahrheit gesprochen – „ein trauriges surrogat der rede“ sei. In der – aufgrund fehlender Aufnahmen von StGs Lesungen – nur verbleibenden Mundpropaganda erhielt sich der sakrale Hintergrund des offenbar liturgischen, psalmodierend-monotonen Lesens noch am ehesten, wodurch sich StG gleichzeitig der Gefahr entzog, aufgrund einer ungewollten Komik in der Wirkung parodiert oder lächerlich gemacht zu werden. 5.4.2. Plastik Wie für die Fotografie gilt auch für die Plastik, dass das Bild StGs nach seinem imaginierten Abbild neu entworfen wird – man denke an die unzähligen Annäherungen des Bildhauers Alexander Zschokke. Ulrich Raulff hat zudem nachgewiesen, dass die Skulptur einen wesentlichen Platz in der Georgeschen Menschenauffassung hatte. „George selbst, um logische Widersprüche wenig bekümmert, störte sich nicht daran, dass das bildnerische Erbe seiner selbst und seiner Schule aussah wie eine zweite Walhalla oder die Trophäenschau einer seltsamen Kopfjagd“95 (Abb. 15). Gemessen an der medialen Ausstrahlung war dieser Eindruck vielleicht auch gewollt: Gerade die Vielzahl der Plastiken, als immer wieder neue Anläufe, der Gestalt des ,Meisters‘ habhaft zu werden, verdeutlicht in gewisser Weise die schwer zu fassende Qualität seiner Aura. Der Einsatz von Fotografie und Plastik als Medien der Darstellung StGs wären insofern komplementär zu sehen. 5.4.3. Masken Nur selten schimmert eine etwas illusionslosere Welt durch, die sich authentischer ausnimmt als jene fleißig von anderen zusammengetragene heroische. Albert Verwey referiert StGs spätere Haltung, die auf Distanz zum allseits entworfenen Bild geht, die auch die oben ausgesparte Angst einbezieht. Tiefenpsychologisch könnte man die beschriebenen Medialisierungen als einen Akt der Verdrängung sehen, was nicht heißt, dass hier nicht trotzdem noch ein Licht auf mediale Strukturen geworfen werden kann: Voriges Mal, da ich bei Ihnen war, sagten Sie: es sei nicht gut, die Zeit unbeachtet zu lassen. So ist es, in Deutschland gibt es jetzt so und so viele Strömungen des Lebens und des Geistes.

94 Ebd., S. 78, 85. 95 Raulff, Steinerne Gäste, S. 24.

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Man soll sie ordnen. Man soll den Weg zeigen wodurch sie wirken können. Mein Weg ist aber nicht der beliebte, der moderne der jetzigen Zivilisation. Ich will eine andere, eine innerliche Einheit. Damit bin ich an unsere Welt herangetreten. Früher glaubte ich dass die Welt mich erdrücken würde. Jetzt aber fürchte ich mich nicht mehr. – Meine Verhältnisse zu Personen und Zuständen sind dadurch geändert. Die sind noch wohl alle da, aber weil ich mich um so viel mehr als früher kümmere, stehe ich zu jedem einzelnen nicht mehr in derselben Vertrautheit.96 (Herv. d. Verf.)

Was hier auf der Ebene der postumen Interpretation stattfindet, hat seinen Grund womöglich im Spiel mit der Doppelexistenz, das sich – man mag das überrascht konstatieren – eher bloß visuell als intellektuell entfaltet und eher in den Maskenzügen und Dichterfesten Ausdruck findet als in der Pseudonymik. Dabei geht es StG offenbar nicht um ein Versteckspiel, im Gegenteil: Die Maskierung ist allenfalls eine Überzeichnung und nicht zuletzt eine mediale Profilierung dessen, was im Menschen hinter der Maske (arab. maskhara: Scherz, Posse, Spaßmacher) gesehen werden soll. „Das sogenannte innere Bild vom eigenen Wesen“, schrieb Walter Benjamin und hob dabei das Moment der Improvisation hervor, „richtet sich […] nach den Masken, die ihm vorgehalten werden. Die Welt ist ein Arsenal von Masken.“97 Trat StG beim antiken Maskenfest am 22. Februar 1903 in Wolfskehls Wohnung als Caesar im weiblich anmutenden Gewand auf, figurierte er beim Dichterzug ein Jahr später, am 14. Februar 1904, als Dante. Das ,Antike Fest‘ war ein Mummenschanz, mit dem 96 Albert Verwey, Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1895–1928, Leipzig u. a. 1936, S. 53. 97 Benjamin, Denkbilder, S. 372f.

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Bewusstsein, dass „es sich um Ernsteres als bloße Faschingsfreude handeln würde“ (LT, 51): Die von dem jüngeren Bruder Oscar A. H. Schmitz’ fotografierten Aufnahmen zeigen den divenhaft blickenden StG mit einer Art Reichskugel, Wolfskehl – mit der eigenen Körperfülle und dem Vollbart kokettierend – mimt den lorbeerbekränzten Bacchus, beide begleitet von jugendlichem Gefolge; dazu kommt noch der Kosmiker Klages als indischer Mönch. Es wurde also nicht einmal der Versuch einer historischen Szenerie unternommen, sieht man vielleicht von den „Zinnschalen mit Broten, Feigen, Orangen“ (KH, 68) ab. Genauso wenig hat man den Eindruck eines ausgelassenen Festes – was jedoch dem gestellten Amateurfoto angelastet werden kann, das scheinbar bemüht ist, das lebende Bild in versteinerter, sprich verewigter Pose festzuhalten. Auch das Dichterfest diente kaum der faschingsgemäßen Verkleidung, sondern eher einer Enthüllung des eigenen Wunschdenkens unter dem Deckmantel saisonaler Narretei: Neben Maximilian Kronberger als ,florentiner Edelknabe‘ spielt StG seine allein im Profil vorstellbare, physiognomische Ähnlichkeit mit gemalten und fraglos idealisierten Profilen des Dichters Dante aus.98 Das heißt, ein homoerotisches Verhältnis wird nicht nur literarisch erhöht verklärt, sondern auch mithilfe des Mediums Fotografie – zwei Tage nach dem Dichterzug war die Szene zur Aufnahme nachgeholt worden – erkennbar und doch im seinerzeit notwendigen, offenen Raum zur Schau gestellt. Es wird ergänzt um die imposante Erscheinung Wolfskehls als Homer, der als gespielt blinder Sänger von zwei Jünglingen geführt wird und der Veranstaltung das harmlose Ambiente der Travestie verleiht. Eine Sonderform der Maske ist das Pseudonym, und so wie die Maskenfeste weniger verbargen als offenlegten, waren auch die Ersatznamen Offenlegungen: „man entdeckt sich in dem Maße, in dem man sich erfindet“.99 StGs eigenes in der Schulzeit verwendetes Pseudonym Edmund Delorme war aus der Not geboren, um den Eindruck einer größeren Autorenzahl im Kreis der BfdK zu vermitteln. Die anderen waren Manipulationen im Buchstabenfeld, „um sich allzu holden Familiengepäcks zu entledigen und einen modernen Marken- und bzw. Firmennamen zu kreieren“.100 Wie Brecht seinen Vornamen von Berthold in ,Bertolt‘ präzisierte, änderte StG – der sich anfangs nach seinem Großonkel französisierend Etienne genannt hatte – seine Vornamen Stephan Anton, in Annäherung und zugleich Abgrenzung zu Ste´phane Mallarme´, ab Mitte der 1890er-Jahre in ,Stefan‘. Interessant ist, dass StG auch die Namen seiner Anhänger veränderte, aber kaum Pseudonyme nach gängiger Vorstellung schuf: Friedrich Gundelfingers Name klang ihm zu umständlich, womöglich auch zu jüdisch, sodass er ihm den zeitlebens gültigen Namen Gundolf erfand, was dann auch für dessen Bruder Ernst galt; Percy Gothein, der selbst nicht von seinem Namen ließ, änderte StG in Peter, in Anlehnung an den hl. Petrus als Schlüsselträger der Idee und als potenziellen Stellvertreter des ,Meisters‘, wenn ihm nicht zudem ,Percy‘ zu anglophon vorkam. Manche Nennungen changieren zwischen Koseform und Pseudonym, etwa wenn er Max Kommerell den Titel ,Maxim‘ verlieh, ihn auch als ,Puck‘ oder ,mein Kleinstes‘ ansprach. Zwar leitete sich auch ,Maximin‘ für Maximilian Kron98 Vgl. etwa die Dante-Darstellungen eines anonymen Meisters aus dem 14. Jahrhundert oder von Sandro Botticelli (um 1495, Privatsammlung, Genf). 99 Jean Starobinski, Stendhal, Pseudonym, in: Ders., Das Leben der Augen, Berlin u. a. 1984, S. 168. 100 Wegmann, Maske, S. 139.

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II. Systematische Aspekte

berger sichtbar von dessen Vornamen ab. Nach der schmerzvollen Trennung von Kommerell (später ,Kröte‘ genannt) und in der zunehmenden Verklärung des jungen Kronberger ist dieser Kosename aber doch eine eigene Wortschöpfung, in der ,maxi(mal)‘ genauso steckt wie ,min(imal)‘. In dem Geliebten vereint sich das Größte und das Kleinste, und in dieser Absolutsetzung steckt in dem Namen ein Programm wie etwa auch in ,Novalis‘ für Friedrich von Hardenberg, ist also durchaus als – allerdings offenes – Pseudonym zu werten.

5.5.

Die Dichtung als Botenstoff

Medialität im George-Kreis zeigt sich sowohl in Schrift und Sprache als auch in Bildern und Haltungen, die keineswegs nur einer kommunikativen Öffnung oder Verständigung dienten, sondern auch – etwa für Außenstehende – verunsichernd und verunklärend wirken konnten, zumal sich der Wechsel bzw. die Verwechslung zwischen Fiktion und Realität sowie zwischen der „Poetisierung des Privaten und Privatisierung des Poetischen“101 auf einem modellhaften Weg zwischen ,Sender‘ und ,Empfänger‘ nur unzureichend darstellen lässt. „In der Überformung des Privaten durch das Medium des Poetischen sollte eine Ebene der Rede geschaffen werden, die den problemlosen Austausch problematischer Sachverhalte durch deren doppelte Bezüglichkeit erst ermöglichte.“102 StGs Werbung um Hofmannsthal führte eben nicht zur Verständigung; StG wollte sich mit der ,Rolle‘ nach einem poetischen Bild von „Einem der vorübergeht“ nicht zufriedengeben (G/H, 8, 13). Im Fall Maximin / Maximilian Kronberger schien der Austausch zwischen dem privaten Menschen und dem vergöttlichten Abbild im Hinblick auf StG zu gelingen – aber nur deshalb, weil der Tod des geliebten Jüngers eine poetische Situation konservierte. Von den verschiedenen Boten, die Sybille Krämer nennt – Engel, Geld, Viren usw. – passt vor allem der Engel, „der ortlose Mittler zwischen dem Himmlischen und dem Irdischen“,103 ins Programm StGs: „Es gibt einen in Religionen, Mythen, Legenden und vor allem in der Kunst eröffneten Raum des Imaginären, der von zahllosen Botengestalten bevölkert ist.“104 StG, der sich wie selbstverständlich und sendungsbewusst der Medien bediente, sofern sie ihm nutzten, blieb nicht auf der eher technischen Sender-Empfänger-Ebene stehen, er wollte über sich hinaus wirken, sein Charisma in die Zwischenwelt geschichtsloser, poetischer Bilder hinüberspielen lassen. Die hagiographische Literatur über StG (Boehringer, Hildebrandt, E. Landmann, S. Lepsius, Salin, Stettler, Thormaehlen, Wolters), die Cornelia Blasberg als „auf die Dichtung projizierte Bewahrungswünsche“105 beschrieben hat, verortet dessen Dichtung an der Schwelle, wo sie einerseits werkimmanent interpretiert wird und andererseits für die Außendarstellung des Dichters eingesetzt wird: Immer wird die von den Gedichten geleistete Reflexion ihres verstellenden Schrift- und Zeichencharakters von einer gegenläufigen, durch George meist gebilligten Lektüre begleitet, die 101 102 103 104 105

Nutt-Kofoth, Dichtungskonzeption, S. 221ff. Ebd., S. 221. Ebd., S. 122. Ebd. Blasberg, Georges ,Jahr der Seele‘, S. 219.

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auf die spontane Evidenz des im ,Meister‘ George verkörperten Sinns zuläuft. […] So verloren alle Skrupel, alle Fragen, ob sich das grammatische, also virtuelle Subjekt der Gedichte wirklich als der leibhaftige Stefan George identifizieren lasse, vorab ihre Berechtigung.106

Der Engel, der auf Melchior Lechters Entwürfen für StG „die künstlerische Inspiration chiffriert“,107 tritt ikonographisch als Bote auf, ist also nicht ohne Weiteres zu adressieren. Vergleicht man jedoch gerade StGs Profil auf Bildern Lechters, das viel stilisierter ist als das frontal gesehene Porträt StGs – etwa in einem Orpheus-Gemälde von 1896 (Westfälisches Landesmuseum Münster), auf Entwürfen und dem Gemälde Weihe am mystischen Quell (um 1900–1903, Pallenbergsaal Köln) oder auf dem Glasbild Lumen de Lumine (1907, Westfälisches Landesmuseum Münster) –, mit späteren Engelsdarstellungen auf den Prachtbänden für den Siebenten Ring und dem Gedenkbuch Maximin aus dem Jahr 1907, so ist zumindest eine Annäherung festzustellen. Sitzt auf dem Einband zum Jahr der Seele (1897) noch ein der gotischen Gewandplastik verpflichteter, mädchenhafter Jugendstil-Engel am Klavier, und schaut ein eher androgyner Engel in symmetrischer Frontalansicht aus einer Seite des Teppichs des Lebens (1900) auf den Betrachter, ist der Engel des Siebenten Rings nackt und männlich, noch nicht einmal jünglings- oder gar knabenhaft; mit seiner herben Profilzeichnung, das Kinn vorgestreckt, kommt er StGs stilisiertem Bild recht nah. Maximin selbst ist durch eine Fotografie als Maximilian Kronberger identifizierbar, gleichwohl tritt er im Text vergottet auf. Der Engel entsteigt dem geistigen ,Strudel‘ der Jahrhundertwende um 1900, wo „Geistesaristokratie, […] charismatische Führergestalten, […] ein bündisches Gemeinschaftsverlangen“ gegen „Materialismus, Vermassung und soziale Atomisierung, ,Verstofflichung und Verhirnung‘“108 aufbegehren, Schöpfergeist, Prophetentum und Heilsfiguren aller Art hervorgebracht werden. Ute Oelmann geht bis zu StGs ersten kultur- und zeitkritischen Gedichten um 1896 zurück, nachdem in einem Initiationsgedicht […] ein ,engel‘ dem Dichter des l’art pour l’art die Botschaft vom ,schönen Leben‘ gebracht hatte. Der Engel wird zum zündenden Vermittler zwischen Dichtung und Religion. Indem der Dichter den ,engel‘ inkorporiert, wird er zum Künder, zum Priester.

Friedrich Gundolf widmet dem Engel im Werk StGs aufschlussreiche Passagen. Sieht er zunächst ein „beständiges Ringen mit dem Engel um den Segen, d. h. um die Erfüllung des eigenen Berufs“,109 erscheint derselbe Engel „schon früh als Sprache“ und wird aus dieser Warte nicht nur leibhaftig, sondern auch übertragen zum Medium, wobei Gundolf den „Engel Georges, den Boten des schönen Lebens“, freilich ausdrücklich vom christlichen Logos unterscheidet, dessen Züge er „auf den ersten Blick, wie jeder Engel seiner mythischen Herkunft nach, zu tragen scheint“.110 Der Engel trägt „notwendig die Züge des Ich“, er ist „die geistige Gestalt des Ich“. Seine Nacktheit steht für das „lautere Selbst, das unbedingte Du des bedingten Ich“, in der Konsequenz nicht nur Bote, sondern in einer „Zweieinigkeit“ auch „Bruder, Führer“, 106 107 108 109 110

Ebd., S. 218f. Ebd., S. 230. Oelmann, George-Kreis, S. 460f., hier auch das folgende Zitat. Friedrich Gundolf, George, 3., erw. Ausg., Berlin 1930, S. 42. Ebd., S. 161.

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II. Systematische Aspekte

aber „nicht Herr“. Zudem ist der Engel „nicht nur Verheißung, auch Geheiß“, schließlich „Gesetz Georges“. Um hier Kritik gleich vorzubeugen, führt Gundolf weiter aus: „Der Engel ist nicht Gott, nicht Schöpfer des schönen Lebens . . er ist sein Bote, zugleich sein Forderer: er ist das offenbarte Gesetz des Ich, den Gott zu suchen, er sagt ihm wo und wie, und bereitet dem Beter den Weg zum Gott, das heißt zugleich dem Gott den Weg zum Beter.“111 Das ist schon fast eine Medientheorie, weil Gundolf den Engel tatsächlich interagieren lässt. An anderer Stelle notierte er: Das Leben nicht eines höheren Menschen, sondern des höheren Menschen überhaupt wird entwickelt: die stufenweise Erlösung der bewegtesten Seele durch das ewig Sichere und Göttliche in ihr […]. Freilich wird alles von jenem Göttlichen beherrscht: dem Engel, welcher, die höchsten Kräfte rein und frei zusammenfassend und verkörpernd, als ein Überirdischer den Erdensohn zum Heile lenkt. In gewissem Sinne ist der Engel auch die Kunst, zunächst aber die Verkörperung alles dessen, was im Einzelnen selbst über Zeit und Raum ins Ewige und Unbedingte hinaus weist […].112

Wie sehr StGs Dichtung mit der Gemeinschaft interagiert, zeigt ein Vergleich mit Rainer Maria Rilke. Beide Dichter stehen gleichermaßen für die Sakralisierung der Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Manfred Koch stellt Rilke als eine Art Solitär dar, während StG als Primus inter pares auftritt und damit mehr und vielschichtiger auf mediale Strukturen reagiert: George ist Zentrum einer exemplarischen Gemeinschaft, in der durch ihn das Verbindliche von ,oben‘ nach ,unten‘ weitergereicht und in einer eigenartigen Mischung von Esoterik und Öffentlichkeit sichtbar begangen wird. […] Rilke hingegen agiert nur im Bezug nach ,oben‘ […]. George inszeniert sein Dichten als heilige Feier des Worts inmitten einer Gesellschaft, der die communio-Erfahrungen schwinden; Rilke das seine als Drama der opferbereiten Einsamkeit. Die religiöse Figur, die George sich zu eigen macht, ist der Hohepriester, ,der den Zugang zum Heiligen verwaltet‘ und die Beziehungen in der Gemeinde durch Ausrichtung aufs Zentrum hierarchisch-gestalthaft organisiert. Rilkes religiöse Rolle hingegen ist eher die des Propheten auf dem Berggipfel […].113

Das eigene Werk StGs – die Übersetzungen (allen voran Baudelaires, dann Dantes) bleiben unberücksichtigt – bietet eine Vielzahl an medialen Figuren. Allein die Nennung der ,Engel‘ und ,Boten‘ (einschließlich der ,Botschaft‘) ist imposant; dies würde durch entsprechende pronominale Ergänzungen noch vermehrt werden. So weisen vier Gedichte aus Hymnen Pilgerfahrten Algabal die Himmelsboten auf, in fünf Gedichten aus den Büchern der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten ist explizit von ihnen die Rede, Das Jahr der Seele nennt nur einen Engel, im Teppich des Lebens sind Engel und Boten neunmal namentlich vertreten, siebenmal im Siebenten Ring, wo der Engel allerdings allgegenwärtig zu sein scheint, im Stern des Bundes verstummt der Engel, während im Neuen Reich nurmehr die Botschaft viermal ausdrücklich vorkommt. Auch der ,Schwellen‘-Begriff, der den Übergang schlechthin signalisiert, taucht regelmäßig, rund zwanzigmal, im Werk auf, sogar in der Fibel, die den Engel noch nicht erwähnt und die Schwelle noch vom 111 Ebd., S. 200. 112 Wiener Rundschau IV/9 v. 1.5.1900; zit. nach KTM, S. 135. 113 Manfred Koch, Rilkes Engel oder Der heilige Kampf um die Sprache, in: Wolfgang Braungart u. a. (Hrsg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 2: um 1900, Paderborn u. a. 1998, S. 123–140, hier: 124.

5. Medien und Medialität

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platonischen Lichtgleichnis her begreift, dann in ähnlicher Dichte sich über das Werk erstreckend. Im Siebenten Ring bekommt die Schwelle ihr eigenes Gedicht, in dem StG den Weg von der heimeligen, aber unzureichenden Hütte zum bewohnbaren Luftschloss eines ,andren‘ Werks weist, das es erst zu errichten gilt: „Kaum legtet ihr aus eurer hand die kelle / Und saht zufrieden hin nach eurem baun: / War alles werk euch nur zum andren schwelle / Wofür noch nicht ein stein behaun“ (VI/VII, 158). Der Dichter bot sich mit seinem Werk als Medium an, die Schwelle zu überwinden. Die Boten, die StG in seiner Dichtung auftreten lässt, sind im späten Werk nicht mehr dieselben wie in den früheren Texten, als er noch „treu bekennend“ selber kam, „Und stolz war unsres bundes kleine dauer“ („Auf der Terrasse“; II, 24). Auch an der Entwicklung des Engels, wie sie Melchior Lechter für StGs Ausgaben aufzeigt, lässt sich eine Veränderung ablesen: Das Himmelswesen wird nicht nur härter in den Gesichtszügen, es wird dem stilisierten Profil StGs auch ähnlicher, was nicht nur heißt, dass der Dichter zur Lichtgestalt wird, sondern dass der Engel mehr Bodenhaftung erhält. „Ohne das Mythische, die Transparenz des Ewigen“, so beschreibt Kurt Hildebrandt diese gegenläufigen Elemente, „ist nicht nur das Dichterische auf eine geringere, belletristische Ebene gerückt, ist das Wesentliche in Georges Dichtung unverständlich“ (KH, 14). Man mag hierfür heute kaum noch Verständnis aufbringen. In der Balance des unnahbaren und undurchdringbaren Mythos mit einer ans LuzidTranszendente grenzenden Vision, die StG unter Nutzung unterschiedlichster Medien anstrebte, konnten sich am Ende seines Lebens die politischen Machthaber genauso wiederfinden wie deren spätere, entschiedenste Gegner. Heute muss das Netzwerk eines tendenziell globalen kommunikativen Systems faszinieren, das StG um sich und sein Werk errichtete.

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II. Systematische Aspekte

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6.

Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaften

6.1.

Kreisbildung, Dynamik und Entwicklung des Kreises

Die Entwicklung des sogenannten ,Kreises‘ um StG lässt sich in einem groben chronologischen Ablauf fassen, dessen Anfang der eher lose Dichterkreis der Beiträger der BfdK (ab 1892) bildet. Diese Autoren sind die erste Kreisgeneration, auf die mit StGs Jünger-Kreis in einzelnen Städten ab etwa 1904/07 die zweite folgt. Aus dieser zweiten Generation, zu der u. a. Friedrich Gundolf und Ernst Morwitz gehören, bildete sich erst der eigentliche Kreis. Die dritte und letzte Generation kam ab ungefähr dem Ersten Weltkrieg hinzu und begleitete StG zum Teil bis in seine letzten Tage. Spätestens ab 1907 und mit dem Auftritt von Friedrich Wolters muss man, genau genommen, von Kreisen im Plural sprechen, weil es bereits in der zweiten Generation zu einer Differenzierung und Diversifizierung des Kreises kam. Als Folge des Weltkriegs und durch interne Spannungen gab es in den 20er-Jahren auch Verluste und Austritte bzw. Verstoßungen aus dem Kreis. Mit dem Tod StGs endete auch der von ihm erschaffene und ihn begleitende Kreis.1 Betrachtet man die Anfänge der Kreisbildung um StG, so kann man zwei parallele Bestrebungen innerhalb des sozialen Prozesses einer Gruppenkonstituierung erkennen: Von Anfang an war StG um Konsolidierung nach innen und gleichzeitige Abgrenzung nach außen bemüht. Ihm ging es immer um ein stabiles soziales Umfeld, das seinen Ideen und Ansprüchen folgte und genügte, das sich dadurch aber auch von anderen, möglicherweise ähnlich orientierten Gruppen abgrenzte. StG betrieb die Inklusion weniger Auserwählter und die Exklusion aller ,Gewöhnlichen‘ gleichzeitig. Dabei stellt sich die Frage, worin denn die Motivation StGs gelegen haben kann, ein so ungewöhnliches soziales Gebilde wie den Kreis bzw. die Kreise aufzubauen. Zwei besonders wirkmächtige Antworten der Forschung, die beide den Grund in der Sozialpsychologie des Dichters suchen, seien kurz genannt: Stefan Breuer konstatiert für StG und den Kreis den „ästhetischen Fundamentalismus“ einer „Sekte“, deren Dasein sich aus dem Narzissmus, also einer psychologischen Störung, ihres Gründers StG erklärt. Breuer schließt sich den Forschungen des Psychoanalytikers Heinz Kohut an und geht von einem „Versagen der Echo- und Spiegelobjekte [der Eltern] in der frühesten Kindheit“ StGs aus.2 Bereits in sehr jungen Jahren sei der „gestörte Narziß1 Vgl. dazu I, 4.; grundsätzliche Darstellungen bei: Kolk 1998; Groppe 1997; Ute Oelmann, Der George-Kreis. Von der Künstlergesellschaft zur Lebensgemeinschaft, in: Kai Buchholz u. a. (Hrsg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001, hier: Bd. 1, S. 459–464; Günter Baumann, Der George-Kreis, in: Richard Faber/Christine Holste (Hrsg.), Kreise. Gruppen. Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen, Würzburg 2000, S. 65–84. 2 Breuer 1995, S. 29.

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II. Systematische Aspekte

mus“ des Kindes Stefan ausgelöst worden, der sich später in Größenphantasien, Arroganz, Abwertung der Umwelt und einer „(homosexuellen) Sexualisierung“ geäußert habe. Für die Kreisbildung entscheidend ist für Breuer der Wille oder Zwang, die soziale Nahwelt zur Assimilation zu drängen: „Nur wenn sie [Menschen in der Nähe StGs] ihre Eigenheit aufgeben, sich ganz in die Rolle eines Echo- oder Spiegelobjektes fügen, werden sie erträglich: ein Muster, das die soziale Welt Stefan Georges bis zum Ende bestimmen wird.“3 Der andere wird vom nicht bewältigten Größen-Selbst StGs nur dann akzeptiert, wenn er als Spiegel oder Bestätigung taugt. Genau diese Bestätigung brauchte und suchte StG aber stets. Nachdem vor allem Hofmannsthal sich solchen Projektionen entzogen hatte, wurde StG auf der Suche nach einem Zwilling oder Alter Ego zum Herrscher seines Kreises. Die ,Jünger‘ waren ihm allesamt Spiegelobjekte. In dieser Lesart ist der Kreis also das Kompensationsprodukt einer verstörten Psyche. Thomas Karlauf schließt in seiner Biographie StGs in gewisser Weise an die Thesen Breuers an, vereinseitigt sie aber mit Blick auf nur einen Aspekt der narzisstischen Störung. Er konzentriert sich auf die für ihn deutlich erkennbare homosexuelle Orientierung StGs als Motiv, junge und schöne Knaben oder Männer um sich zu versammeln. Er spricht von der „Geburt der Poesie aus dem Geist der männlichen Erotik“4 und modifiziert die Narzissmus-These zur Trieb-These. (Über-)pointiert formuliert er: „So konnte das ,offene Geheimnis‘ zum entscheidenden Kriterium der Elitebildung [des Kreises] werden.“5 Gemeint ist damit der „ungeheuerliche Versuch, die Päderastie mit pädagogischem Eifer zur höchsten geistigen Daseinsform zu erklären“,6 was vor allem der Stern des Bundes offenbare. Karlauf geht davon aus, dass StGs Projekt der Erziehung der männlichen Jugend zum ,schönen Leben‘, legitimiert durch die Philosophie Platons mit ihrem ganz eigenen Konzept der Mischung von geistiger und körperlicher Erotik, die sozial akzeptable Sublimierung der homosexuellen Orientierung StGs war. Aus dem Narziss wird der platonisierende Homoerotiker. Beide Ansätze scheinen im Prinzip kompatibel und haben intuitive Evidenz. Offen ist, ob sie monokausal das Phänomen der Kreisbildung jeweils ganz zu erschließen vermögen. Einen ersten Beginn von Kreisbildung offenbarte schon die Schüler-Zeitschrift Rosen und Disteln, deren Konzept später im Prinzip auf die Anfänge der BfdK übertragen wird.7 Schon diese Schüler-Zeitschrift, die sich der Publikation eigener Texte und der Kritik zeitgenössischer Literatur widmen sollte, nutzte der junge StG, um andere Mitarbeiter wie Carl Rouge und Arthur Stahl als erste Gefolgsleute an sich zu binden. Von einem ,Kreis‘ oder einer ,Gruppe‘ im soziologischen Sinn zu sprechen, ginge hier wohl bei drei Schulkameraden noch zu weit. Es zeigt sich aber an diesem ersten Projekt zweierlei: StG hatte erstens von Anfang an die Absicht, über eine Zeitschrift seine Vorstellungen von Literatur und Kunst zu publizieren. Zweitens begriff er die Mitarbeiter hier wie bei den späteren BfdK und dem Jahrbuch für die geistige Bewegung als Teil einer größeren Bewegung, die sich nach innen als ein Kreis von Mitarbeitern, später als Gruppe von ,Jüngern‘ organisiert. Über diese primär wichtige 3 Ebd. 4 Karlauf 2007, S. 70. 5 Ebd., S. 395. 6 Ebd., S. 394. 7 Vgl. I, 3.1.

6. Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaften

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Innenstruktur wird der Kreis auch nach außen sichtbar. Die externe Wahrnehmung bleibt aber sekundär; für StG war das innere Kreisleben entscheidend und wichtiger. Für ihn hatten die Zeitschriften, an denen er mitwirkte bzw. die er leitete, auch die Funktion, ein sozialer Ort und ein Medium der Kreisbildung zu sein. Geprägt sind sowohl die Gründung der BfdK wie auch die damit verbundenen ersten Schritte zu einer Kreisbildung vom Motiv der ,ästhetischen Opposition‘ (Gert Mattenklott), dem sich StG mit seiner frühen Lyrik, aber auch durch den anfänglichen Habitus als Ästhetizist und Dandy verpflichtete. Es gab bereits in den Anfängen ein ausgeprägtes Avantgarde-Bewusstsein beim Blätter-Projekt. Gerade die Stilisierung zum dichterischen und sozialen Außenseiter sollte StG den Bruch mit dem Alten und die deutliche Markierung eines Neu-Anfangs ermöglichen, der in der neuen Machart und einer dieser Poetik entsprechenden Geisteshaltung besteht. Sowohl bei der Entwicklung eines eigenen Tones seiner Lyrik wie auch bei der Gruppenbildung half StG die Orientierung an Mallarme´ und dessen Kreis bzw. Jour. Mallarme´ und andere zeitgenössische französische Dichter sowie die französische Literatur, die Dichtung Baudelaires etwa, lernte er auf seiner ersten Paris-Reise über seinen Mentor Albert Saint-Paul kennen. In Paris fand er ästhetisch die gesuchte geistige Kunst und sozial die für ihn von Anfang an wichtige Verbindung von Dichtung und Leben, von Ästhetik und Habitus: „Dichtung als Haltung“.8 In Paris erlebte er nicht nur jene Kreis-Form um einen ,Meister‘, wie Mallarme´ genannt wurde, wenngleich nicht so fest gefügt wie später in StGs Kreis; er lernte auch, wie stark Literatur und literarisches Leben implizit eine Sozialform sein können. Diese Prägung behielt er bei und entwickelte sie weiter zu jenem Kreiskonzept, das um 1907 festere Gestalt angenommen hat. Die BfdK, der Titel wohl angelehnt an die Ecrits pour l’art eines Mallarme´-Schülers, zeigen in ihrer ganzen Programmatik, die sich in den sogenannten Merksprüchen für die Mitarbeiter und die Außenstehenden formuliert findet, den LebensreformWillen StGs. Er wollte sein Leben und das seiner Anhänger nach bestimmten sozioästhetischen Kriterien organisieren. Die BfdK wurden konkret in Angriff genommen, als eine schöpferische Krise StG am Schreiben hinderte. Kompensatorisch wurde 1892 das länger geplante Projekt einer Kunst-Zeitschrift zusammen mit Carl August Klein realisiert. Als eigentlich bestimmende Person hinter dem öffentlichen Herausgeber Klein nahm sich StG als unumstrittener Herr im Haus das Recht, in die Texte der Beiträger monierend und verbessernd bzw. manchmal gravierend verändernd einzugreifen. Er zeigte seine pädagogischen und sozialen Absichten des Erziehens durch Vorbildhaftigkeit schon hier, auch wenn die programmatische Verfestigung dieses Denkens noch fehlt. Klein als Herausgeber und Verwalter hatte eher die Funktion eines Sekretärs und Schriftleiters; autonome Entscheidungen traf er nicht. StG hatte Carl August Klein in Berlin während seiner Studienzeit kennengelernt. Seit den Gründungstagen war Klein formal der allein verantwortlich zeichnende Herausgeber der BfdK und einer der treuesten Anhänger StGs, obwohl er als Dichter kaum in Erscheinung trat. Klein führte jahrelang auch StGs Korrespondenz. Obwohl er schon Mitte der 1890er-Jahre nicht mehr regelmäßig für die BfdK arbeitete und ein unstetes Leben in ganz Europa führte, blieb er offiziell bis zur letzten Folge 1919 der Herausgeber. Diese Treue Kleins, 8 Karlauf 2007, S. 86.

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II. Systematische Aspekte

die StG etwa im Gedicht „Carl August“ (VI/VII, 28–29) des Siebenten Rings verewigt hat, wurde von den anderen Freunden später dadurch honoriert, dass man den im Alter verarmten Klein noch lange nach dem Tod StGs durch Spenden und Sammlungen unterstützte. Das ,Carl‘ im Namen geht als Geste auf StG zurück, der den treuen Adlatus damit in eine Rolle verwies, die Herzog Karl August für Goethe hatte – zu dem Zeitpunkt eine Hybris beider Beteiligten. Carola Groppes Darstellung folgend,9 kann man die Autoren der BfdK als erste Kreisgeneration beschreiben. Diese Gruppe allerdings bestand aus Dichtern, die StG häufig nur eine Zeit lang folgten, die annähernd gleichaltrig waren und sich in die späteren Strukturen von Hierarchie und Pädagogik nicht fügten, weil es einen wirklichen sozialen Aufbau noch nicht gab. Eher war es eine altersmäßig homogene Gruppe von Dichtern, die zu einem gemeinsamen Projekt – der Erneuerung der Literatur und Lyrik durch eine ästhetische Avantgarde – beitrugen, dessen Initiator und Lenker StG war. Die Formierung des eigentlichen Kreises beginnt deutlich nach den BfdK mit dem Erscheinen Friedrich Gundolfs. Der junge Student lernte StG 1899 durch Vermittlung von Wolfskehl kennen und war der erste ,Jünger‘, der in StG seinen ,Meister‘ gefunden hatte und ihm bedingungslos folgte. Aus dieser Rolle des Ersten kam ihm später lange und in Konkurrenz mit Wolters die Funktion des primus inter pares zu. Gundolf folgte als weitere zentrale Figur ab 1905 Ernst Morwitz, mit dem der Aufbau eines Kreises, der über das interpersonale Lehrer-Schüler-Verhältnis StG – Gundolf hinausging, voranschritt.10 Karl Wolfskehl, der Gundolf zu StG geführt hatte, nahm innerhalb der Kreisstrukturen eine Sonderstellung ein. Er war von Anfang an, seit der ersten Folge der BfdK, ein Weggefährte StGs; die beiden lernten sich schon 1893 persönlich kennen. Wolfskehl war annähernd gleich alt, er wurde von StG auch als praktisch gleichrangig anerkannt, zumindest vor der Jahrhundertwende: Man bezeichnete sich gegenseitig als ,Meister‘. StG bewahrte sich diesen Respekt. Wolfskehl trat den Jüngeren gegenüber, vor allem Gundolf, zwar als Ratgeber und auch als Mäzen auf; er nahm aber nie eine Erzieher- und Zuführer-Rolle wie Morwitz oder Wolters ein. Innerhalb der ohnehin heterogenen George-Gemeinschaft war er ein Einzelgänger, wenngleich mit vielen in Kontakt und als Autorität allgemein geschätzt. Zu einem regelrechten Kreis wurde der kleine Kern um Gundolf und dann Morwitz erst durch die Niederschönhausener Schüler Kurt Breysigs: Dieser Hochschullehrer, ein früher Verehrer, der für StG und den Kreis nie die Bedeutung erlangte wie die Männer, die er an StG heranführte, brachte Friedrich Wolters, Kurt Hildebrandt, Berthold Vallentin, die Brüder Andreae und weitere ab 1907 in Niederschönhausen zusammen. Martus spricht schon ab der fünften Folge der BfdK von einer erkennbaren Tendenz zur stabilen Kreisbildung, denn mit dem Begriff der „Haltung“, wie er bereits im fünften Band der zweiten Folge der BfdK formuliert wird,11 sei ein wichtiges Kriterium des Kreises schon genannt: ein gemeinsames ethisches Fundament.12 Daher kann man wohl davon ausgehen, dass die den Kreis fundierende Weltanschauung bereits vor der sozialen Realisierung zumindest in Kerngedanken angelegt war. 9 Groppe 1997; dies., Widerstand. 10 Vgl. dies., Widerstand, S. 17f. 11 Dazu auch Gundolf, George, S. 31. 12 Vgl. I, 3.4. u. 3.5.

6. Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaften

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Die Konstitution des Kreises als Gemeinschaft der Jünger eines Meisters, in den auch die bereits etablierten Gundolf und Morwitz aufgenommen werden, betrieb ab 1907 entscheidend Friedrich Wolters aus der Gruppe der Breysig-Schüler heraus.13 Wolters, der wie Gundolf später begann, einen eigenen Schüler-Kreis um sich zu bilden, und in Konkurrenz mit Gundolf um Nähe zum ,Meister‘ und in der Bedeutung als Mentor und Ideologe trat, wurde zu einer der zentralen Figuren um StG und in den 10er-Jahren immer dominanter. Allerdings darf diese Rolle Wolters’ nicht über eines hinwegtäuschen: Das Lehrer-Schüler-Verhältnis mit Friedrich Gundolf muss als eigentliche Erprobung der Meister-Jünger-Konstellation gelten. Keinem anderen hat StG so viel Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet, keinem anderen hat er so deutlich die Bildungslaufbahn über Studium, Promotion, Shakespeare-Übersetzung und Shakespeare-Habilitation vorgegeben. Edgar Salin nennt ihn in bezeichnender Zweideutigkeit den „Erste[n] unter den Jüngern“ (ES, 80): Er war der chronologisch Erste und auch bis in die Zeit des Weltkriegs hinein der rangmäßig Erste. Er gehörte nach den Beiträgern der BfdK bereits zur zweiten Generation der Kreisbildung durch StG. An und mit ihm versuchte StG jenes Verhältnis von älterem Lehrer und jüngerem Schüler in einem an Platons Pädagogik lose angelehnten Modell der Erziehung hoffnungsvoller junger Männer in einem hierarchischen, interpersonalen Verhältnis. StG sah in ihm primär und für lange Jahre, bis über die Habilitation hinaus, einen hoffnungsvollen Dichter. Die gemeinsame Arbeit an den Shakespeare-Übersetzungen zeigt das Lehrer-Schüler-Modell mehr als deutlich, wenn Gundolf in den Briefen StGs für seine Fehler und das mangelnde Ingenium zum Teil hart kritisiert wird, Gundolf aber die Berechtigung der Kritik nie infrage stellt. Noch lange nach Promotion und Habilitation waren für den mittlerweile anerkannten Germanisten die Anregungen und Ablehnungen StGs die letztlich entscheidende Schwelle, wie dessen Schelte für den ersten Entwurf des Goethe-Buches belegt. Den hatte StG mit dem Verdikt verworfen, es sei zu sehr durch die Philosophie Bergsons geprägt und gehöre dem Feuer überantwortet. Gundolf hat daraufhin einen neuen Ansatz gesucht und ihn in der Gestalt-Kategorie gefunden. Weder der Wissenschaftler noch der Dichter Gundolf wären ohne den ästhetisch-erzieherischen Einfluss StGs denkbar. Mit ihm entwickelte StG jene Vorstellungen einer ästhetischen Erziehung zum ,schönen Leben‘ und zur Bildung in einem Stadium, als jene Leitlinien teils noch gar nicht formuliert waren – wenn sie es je wurden. Die Besonderheit dieses Verhältnisses mag auch belegen, dass beide an ihrem Bruch in den 1920er-Jahren bis zum Lebensende gelitten haben. Über den erwähnten Begriff der Haltung hinaus, der ein bestimmtes ethisches und primär dienendes Verhalten der Kunst gegenüber einfordert, ist für die Bildung eines ,Kreises‘ im engeren Sinn des Wortes das im Vorspiel zum Teppich des Lebens erstmals formulierte Konzept des ,schönen Lebens‘ von entscheidender Bedeutung. Unter diesem Leitwert entwickelten sich die Kreisstrukturen weiter, als der eigentliche Kreis ab 1905/07 entstand.14 Im Vorspiel des Teppichs des Lebens von 1899 bringt ein nackter Engel dem orientierungssuchenden Ich der Gedichte, alles Figurationen eines Dichters, eine Botschaft, unter der zukünftig Leben und Schaffen stehen: das ,schöne Leben‘, dem zu dienen eine lebenslange Aufgabe wird. Der Engel dieser Botschaft ist eine der Legitimationsinstanzen in StGs Werk und ersetzt die Muse aus dem Gedicht 13 Vgl. Groppe, Widerstand, S. 18. 14 Dazu Kolk 1998, S. 234ff.

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II. Systematische Aspekte

„Weihe“ (II, 10). Zugleich ist er ein weiterer Schritt im Selbstsakralisierungsprozess des Werkes hin zu Maximin. Der Engel steht zwischen Muse und Maximin. Seine Botschaft fokussiert das Leben, das Soziale, wird aber in der Kunst, der Lyrik verkündet: Schon hierin deutet sich die zukünftig, nach 1900 und sicher nach 1907, stärker werdende Einheit von Kunst und Leben bei StG an. Und auch wenn das ,schöne Leben‘ eine Formel ist, die nicht konkret gefüllt wird – das passierte nur in actu, in den Ritualen des Kreises und in der Lebensgestaltung der Jünger –, so wandte sich StG schon hier programmatisch in einem Schlüsselzyklus von einem allzu radikalen Ästhetizismus ab und einem Lyrikkonzept zu, das zwar immer für die große Kunst stehen will, zugleich aber auch auf soziale Belange zielt. Insofern ist das Vorspiel Symptom einer an Gewicht gewinnenden Kreisbildung und einer sukzessiven Einbeziehung des Sozialen in die Kunst, die nicht erst mit den deutlich auf die Gegenwart bezogenen Gedichten des Siebenten Rings geschieht. Im Anschluss an den Engel des Vorspiels stellt der Maximin-Kult und der dazugehörige Zyklus auch in Bezug auf die Kreisstrukturen und die Kategorien der Auswahl und Aufnahme den Kern der Einheit von Lyrik und Pädagogik StGs dar. Nach dem Maximin-Erlebnis der Jahre 1902 bis 1904 kann nur noch derjenige Jünger und Teil des Kreises sein, der die Bedeutung des „Herr[n] der Wende“ (VIII, 8), des „herz der runde“ (Stern des Bundes; VIII, 15), wie Maximin in der Lyrik mit Bezug auf den Kreis heißt, erkannt hat. Seit dem Tod Maximilian Kronbergers und seiner anschließenden Vergöttlichung und ästhetischen Mythisierung durch StG war ausschlaggebend, ob ein junger Mann jenen Gott in seiner innerweltlichen Erlösungsfunktion geschaut hatte, um ein Teil der Gemeinschaft zu werden, die fortan in dessen Zeichen ihr Leben führen soll. Der Maximin-Zyklus und der Eingang des Sterns des Bundes formulieren diese Be-Gründung des eigentlichen Kreises durch und auf Maximin sehr deutlich. Erst mit Maximin war die programmatische Transformation der BlätterGemeinschaft in den George-Kreis abgeschlossen. Der Kreis hatte nun in Maximin sein ideologisches Zentrum bekommen, dessen charismatischer Priester und Prophet StG war. Mit der Überhöhung Maximins zum Privat-Gott erreichte zudem die Selbststilisierung StGs zum poeta vates, zum Seher, Künder und Erzieher, ihren Höhepunkt. Als die Niederschönhausener in der Zeit um 1907 zu StG kamen, war die Vorstellung des ,schönen Lebens‘ etabliert. Die Begegnung mit dem Jungen Kronberger hatte schon stattgefunden, seine Vergöttlichung in der Lyrik nach seinem Tod 1904 hatte bereits begonnen. Die personale Erweiterung und Ausdifferenzierung des Kreises fällt in etwa mit der Weiterentwicklung der pädagogischen Vorstellungen und der davon nicht trennbaren Ritualisierung der Lyrik zusammen.15 Die zweite Generation des Kreises bestand aus jungen Männern des wilhelminischen Bildungsbürgertums. So machten die Kreismitglieder meist auch beruflich bürgerliche Karrieren in Hochschule oder Verwaltung, was von StG durchaus gefördert wurde. ,Rentnerexistenzen‘ (Max Weber)16 gab es unter den Jüngern sehr selten, mit Ausnahme Glöckners vielleicht. Die überwiegende Mehrheit ging regulären Berufen nach, häufig akademisch, oft erfolgreich. Der anti-bürgerliche Impetus, der von den BfdK auf den Kreis überging, erstreckte sich eher auf das Geistige, die Ablehnung des vermeintlich Philiströsen, als auf den Beruf. 15 Dazu grundlegend Braungart 1997. 16 Nach Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Kap. 3, Abschnitt 4, § 10.

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Die dritte Generation kam nach dem Ersten Weltkrieg durch Vermittlung der Älteren zu StG. Diese traten Neulingen gegenüber ihrerseits als Lehrer auf, ohne dass StGs Rolle als unbedingte Autorität infrage gestellt war. Vor allem Morwitz betrieb dieses Projekt der Heranführung und Erziehung interessanter junger Schüler und Studenten mit Erfolg und Eifer. Da die Älteren so eigene Teil- oder Sub-Kreise bildeten, diversifizierte sich der Kreis der zweiten Generation nach den Orten, an denen die Älteren wirkten: Vor allem Gundolf in Heidelberg, Wolters in Marburg, später in Kiel, und Morwitz in Berlin waren so im Mittelpunkt eigener Binnen-Kreise.17 So kamen beispielsweise die Brüder Stauffenberg, Kommerell, Fahrner, die Uxkulls, die Brüder Anton und Kantorowicz über diese Mittler zu StG. Es gab aber auch Einzelpersonen wie die Brüder Boehringer, Thormaehlen, die Landmanns, die zum Kreis der zweiten Generation zu rechnen sind, ihrerseits aber nicht in der Erzieherfunktion auftraten wie Gundolf, Morwitz oder Wolters. So muss man spätestens mit der zweiten Kreis-Generation von StGs Kreisen im Plural sprechen. Sie wurden als Einzeloder Binnenkreise durch die Besuche und Begegnungen mit StG zusammengehalten: durch Versammlungen Vieler oder Begegnungen Einzelner mit dem ,Meister‘, durch gemeinsame Lesungen im Beisein StGs oder innerhalb der Kreise zu seinen Ehren. So kam es zu festen rituellen Mustern, die kohäsive Kraft für den Kreis hatten, auch wenn es gar kein Einzel-Kreis mehr war. Verbindend war zudem die gemeinsame, in einer grundlegenden Kulturkritik wurzelnde Weltanschauung, die die Rettung einer schwachen, formlosen und abstoßenden Gegenwart durch die heilende Kraft der großen ,Dichter und Helden‘ (Gundolf), der ,Gestalten‘ der Geistesgeschichte, erwartete. Diese Ideologie, vor allem im Jahrbuch für die geistige Bewegung prägnant und öffentlichkeitswirksam formuliert, konnte die durchaus existierenden internen Konkurrenzen, die bis zu nach außen verborgenen Feindschaften (Wolters und Gundolf) gehen konnten,18 strukturierend überwölben. Diese Weltanschauung eines ,schönen Lebens‘ in der Gemeinschaft geistig adliger Nachfolger antiker Ganzheit wurde in den Kreisen durch Lesungen und Gespräche, bei Gundolf in Heidelberg auch durch gemeinsames Theaterspiel, an dem er Studenten beteiligte, zu einem Gruppenethos verfestigt. StG pflegte mit der zweiten Generation seinerseits lange Unterhaltungen zu führen, oft auf Spaziergängen durch die Rheinlandschaft, mit denen er sich bewusst in die Tradition der sokratischen Dialoge Platons stellte. Die dritte Generation veränderte die Sozialstruktur des bisher bestehenden Kreises: Während sich bisher Einzelpersonen durch ihr Verhältnis zu StG definierten, wurde nun der Kontakt zu StG weitgehend durch Mentoren hergestellt, die ihren Schülern zur Seite standen. Morwitz beispielsweise trat auch bei Fehlern und Schwächen seiner Zöglinge als Vermittler StG gegenüber auf. Die zweite Generation wurde zu einer Art Katalysator der Botschaft StGs und formte eine Gemeinschaft von Schülern, die auch durch die sinkende Bedeutung Gundolfs tendenziell homogener wurde. Besonders um Wolters setzten sich national bis nationalistisch geprägte Werte von soldatischer Tu17 Vgl. Groppe 1997, S. 19. 18 Gundolf und Wolters gelten gemeinhin als Konkurrenten um die Gunst StGs; Gundolfs späte Kritik an Wolters’ großer ,Blättergeschichte‘ schien immer diesen Eindruck zu belegen. Liest man nun den Briefwechsel der beiden (FG/W), so stellt man zwar häufiger einen mahnenden Ton Gundolfs, vor allem in Redaktionsdingen um das Jahrbuch, fest. Überraschend ist aber der doch weitgehend respektvolle, manchmal mitfühlende Ton zwischen den vermeintlichen Konkurrenten.

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II. Systematische Aspekte

gend, Strenge und Askese bis zum Ende der 20er-Jahre durch.19 Die Vorstellung eines ,schönen Lebens‘ wurde dadurch wenn schon nicht entwertet, so doch erheblich umgedeutet und politisiert. Es kam erst- und einmalig in den letzten Bänden der BfdK dazu, dass die Beiträge anonym erschienen. Erst hier fielen die Gruppe der Beiträger und die Mitglieder der Kreise so in eins, wie es StG lange vorgeschwebt haben mag. Daher kann man nur ganz zum Schluss der Geschichte der BfdK davon sprechen, sie würden den Kreis um StG bilden. Das „eigentliche […] Gesamtprojekt“ von StG und seinem Kreis in allen drei Generationen war die „Rekonstitution der Bildung in Wiederaufnahme und lebensreformerischer Neudefinition der um 1800 entwickelten Vorstellungen von der ganzheitlich durch Dichtung und Wissenschaft gebildeten Persönlichkeit“.20 Auch das war ein Anliegen, das aus dem Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts zumindest programmatisch bekannt war, dem Kreis aber als verschüttet und missbraucht galt. Mit diesem großen und umfassenden Versuch verbunden war spezifisch die Sozialisation vieler Kreis-Mitglieder. Vor allem die zweite Generation entwickelte die Lebensform des Wissenschafts-Künstlers oder Dichter-Wissenschaftlers.21 Man suchte nach einer beruflichen Existenz, die dem Dienst an der Dichtung, einem ethisch-ästhetischen Ziel, möglichst nahe war und fand sie im akademischen Leben. Daher waren fast alle Anhänger StGs Akademiker. Ein Leben im Zeichen der Dichtung StGs war diesen Männern gerade dann möglich, wenn sie mit der richtigen Haltung ihren akademischen Berufen nachgingen, die sie außerdem mit der Jugend in Kontakt hielten. Die Lebensform der Wissenschafts-Dichter war bestimmt durch den Dienst an Wort, Tradition und Überlieferung, was wiederum ein Arbeitsethos von Fleiß und Genauigkeit erforderte, das die zum Teil in sehr kurzer Zeit entstandenen großen Studien von Gundolf, Vallentin, Wolters, Kantorowicz oder Kommerell überhaupt erst ermöglichte. StG und die älteren Kreismitglieder arbeiteten so an einem Sozialmodell, das sich stark an die platonische Akademie anlehnte. Man wollte das ,schöne Leben‘ einer Symbiose von Geist und Körper verwirklichen, für das die aristotelische Vorstellung der Kalokagathie maßgeblich war. Allerdings kam es bei der Ausfüllung dieses Zentralgedankens zu durchaus widerstreitenden Auffassungen, vor allem zwischen den ohnehin um die Gunst StGs kämpfenden Jüngern Gundolf und Wolters. Die ästhetische Auslegung Gundolfs in Heidelberg war, dass der Kreis einer Gruppe von würdigen Auserwählten ein Sinnstiftungsangebot durch die Kunst machte. Wolters hingegen sah den Kreis sehr viel politischer und sehr viel weiter ausgreifend als Kern einer Erziehung der nationalen Jugend. Groppe bezeichnet diesen Ansatz als die „politische Ästhetik“ einer „Gesinnungsdiktatur“.22 Hitlers Aufstieg und schließlich sein Machtantritt stellten für den Kreis eine große Herausforderung schon insofern dar, als mit Morwitz, Wolfskehl, Kantorowicz u. a. zentrale Figuren jüdischer Abstammung waren, auch wenn nicht alle den jüdischen 19 Vgl. Groppe, Widerstand, S. 36. 20 Groppe 1997, passim; dies., Widerstand, S. 18. 21 Vgl. dies., Widerstand, S. 19f., dazu Ernst Osterkamp, Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft, in: Eberhard Lämmert/Christoph König (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, Frankfurt/M. 1993, S. 177–198. 22 Groppe, Widerstand, S. 313ff.

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Glauben praktizierten. Gundolf, ebenfalls aus jüdischer Familie, lebte seit 1931 nicht mehr. Sie alle waren zunächst vom Nationalsozialismus in ihren Berufen bedroht. Andere wie Woldemar von Uxkull-Gyllenband oder Ernst Bertram waren wie die jüdischen Georgianer im Staatsdienst, aber vom „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ nicht betroffen. Während den einen der Berufsverlust und die Emigration drohten, sahen andere, zu denen auch Hildebrandt, Blumenthal, Thormaehlen, die Stauffenbergs, Fahrner, Kommerell und Mehnert gehörten, im erstarkenden ,Dritten Reich‘ zumindest Grundzüge des ,Neuen Reiches‘ StGs verwirklicht: Sie glaubten an die Realisierung des ,Geheimen Deutschland‘, eine Formel der Selbstbeschreibung, im Deutschland Hitlers. Erich von Kahler beschrieb von der Peripherie des Kreises aus diesen fatalen Irrtum, man habe „gewisse Analogien“ und „Prädispositionen“, die zwischen dem Kreis-Denken und dem frühen Nationalsozialismus bestanden hätten, zu „Identitäten“ gemacht, was eine Herabwürdigung StGs gewesen sei.23 Nach dem Machtantritt Hitlers schließlich zerbrach der eigentliche Kreis rasch, als mit StGs Tod 1933 dem Kreis die Mitte genommen war. Bereits am Bahnhof nach der Beerdigung trennten sich die ehemaligen Freunde zum Teil mit, zum Teil ohne Hitler-Gruß.24 Einige prominente Mitglieder des Kreises mussten emigrieren: Juden wie Morwitz (1938 nach New York und als Lektor für Deutsch und Übersetzer StGs nach Chapel Hill) und Wolfskehl (erst Italien, dann Neuseeland) oder Kantorowicz (1934 nach Oxford und 1938 nach Berkeley) gingen ins Exil. Als Sozialformation war der Kreis ohne Mitte am Ende angelangt. Was sich über 1933 hinaus erhielt, war die ihm implizite Idee einer Gemeinschaft, die der Kunst, dem Schönen und der Bildung in antikisierend-platonischer Tradition dienen wollte, was Einzelne auch über die zwölf Jahre des ,Dritten Reichs‘ hinaus als Ideal bewahrten und zumindest als Mythos weitergaben – durchaus in Konkurrenz untereinander.25 Friedrich Gundolf schrieb, fast schon im Rückblick, 1920 über die Außenwahrnehmung des Kreises: Was den ,Kreis‘ betrifft, so wird er wie jedes Fremdartige heut schon viel mißbraucht von Gaunern und Gecken. Ein sichres Zeichen dafür daß einer nicht ihm angehört ist, wenn er sich rühmt ihm anzugehören und mit seiner Kenntnis diskret oder indiskret sich wichtig macht. Der Kreis ist weder ein Geheimbund mit Statuten und Zusammenkünften, noch eine Sekte mit phantastischen Riten und Glaubensartikeln, noch ein Literatenklüngel (die Mitarbeiterschaft an den ,Blättern für die Kunst‘ ist an sich noch kein Zeichen der Zugehörigkeit), sondern es ist eine kleine Anzahl Einzelner mit bestimmter Haltung und Gesinnung, vereinigt durch die unwillkürliche Verehrung eines großen Menschen, und bestrebt der Idee die er ihnen verkörpert (nicht diktiert) schlicht, sachlich und ernsthaft durch ihr Alltagsleben oder durch ihre öffentliche Leistung zu dienen. Alles was darüber draußen gemunkelt wird ist Klatsch von Dummköpfen, Witzbolden, Schwindlern oder Verleumdern.26

23 Erich von Kahler, Stefan George. Größe und Tragik, Pfullingen 1964, S. 24; Groppe 1997, S. 38f. 24 Vgl. Karlauf 2007, S. 634; dazu jetzt Raulff 2009, S. 38f., mit Zweifeln an Salins Bericht, der hinter Karlaufs Angaben steht. 25 Vgl. Carola Groppe, „Das Wunder der Verwandlung“. Die jüdischen Mitglieder im George-Kreis zwischen Jahrhundertwende, Nationalsozialismus und Exil, in: Friedrich Voit/August Obermayer (Hrsg.), Exul Poeta. Leben und Werk Karl Wolfskehls im italienischen und neuseeländischen Exil 1933–1948, Dunedin 1999, S. 7–46. 26 Gundolf, George, S. 31.

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II. Systematische Aspekte

Es ist bezeichnend, dass Gundolf, der selbst polemischen Angriffen nicht abgeneigt war, sich hier offensichtlich genötigt sah, bei allem elitären Bewusstsein, das die Kreisgenerationen vereinte, auf die öffentliche Wahrnehmung und Diskreditierung des Kreises zu reagieren. Er benennt in der Tat wesentliche Merkmale des Kreises/der Kreise, wie sie auch die Forschung herausgearbeitet hat: Der Kreis ging nie in den BfdK auf; er war recht klein; es gab interne Konkurrenzen; er hatte eine eigene Ethik des ,schönen Lebens‘ in ,Gefolgschaft und Jüngertum‘ (Gundolf); er war nur um den Charisma-Träger StG herum möglich, dem gefolgt und gedient wurde. Und er hatte Riten, wenngleich sie nicht phantastisch waren, sondern im Gegenteil genau kalkuliert als Medium der Kunst- und Dichterverehrung der Binnenstruktur dienten.

6.2.

Fortführungen des Kreises nach 1933 und 1945

Die Kreis-Kategorie ist nach dem Tod des Charisma-Trägers schwierig, wenn man die Kreise um StG, wie oben geschehen, als Sozialmodell beschreibt, das sich ganz an der charismatischen Mitte ausrichtete. Ohne StG gab es kein Charisma, keinen Mittelpunkt und daher keinen Kreis.27 Max Weber, auf den die Kategorie zurückgeht, definierte Charisma als „außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit“, die deswegen als „Führer“ gelten könne, weil die Gefolgschaft die Person anerkenne. So komme es zur „emotionale[n] Vergemeinschaftung“ im Zeichen der Außeralltäglichkeit.28 Die exklusive Gemeinschaft, der Kreis, konnte also nur um den lebenden StG existieren. StG hatte diese Situation im Gedicht „Wer je die flamme umschritt“ prophezeit: „Fehlt ihm [dem Jünger] der mitte gesetz / Treibt er zerstiebend ins all“ (VIII, 84). Der eigentliche Kreis zerfiel schon bei der Beerdigung.29 Ulrich Raulff ist den Spuren des zerfallenden „Kreis[es] ohne Meister“, dem „Nachleben“ StGs, sehr genau nachgegangen und hat dabei festgestellt, dass das Fehlen der meisterlichen Worte praktisch umgehend zu Deutungsstreitigkeiten führte, wie mit dem Erbe, dem materiellen wie dem geistigen, des Toten umzugehen sei. Die Geschichte der Kreise nach 1933 beschreibt er als verzweigtes, kontinuierliches Phänomen des Niedergangs. So bildeten sich in der Folge ,Kolonien‘, Stätten wie Kiel, Basel, Überlingen oder Chapel Hill/USA, wo sich einzelne oder mehrere ehemalige Kreismitglieder aufhielten, um jeweils ihr Verständnis vom Leben im postumen Zeichen StGs zu propagieren. Dabei kam es zu Differenzen und Eitelkeiten bis hin zum massiven Streit. Ein ganz wesentlicher Punkt war, wie Raulff betont, vor allem direkt nach dem Tod StGs die Haltung zur Tagespolitik und damit verbunden die zum Judentum.30 Unter den Hinterbliebenen existierten unterschiedliche Haltungen zum Nationalsozialismus.31 Das war schon vor StGs Tod so, nun aber konnte er nicht mehr klärend eingreifen, was er schon vorher nach Möglichkeit vermieden hatte. In den Erinnerungsbüchern ist von StG keine klare Haltung zum Nationalsozialismus überliefert; er 27 So auch Kolk 1998, S. 483. 28 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Erster Halbband, Erster Teil, Kap. 3, § 10. 29 Vgl. Karlauf 2007, S. 634f. 30 Vgl. Raulff 2009, S. 139ff. 31 Vgl. Groppe, Widerstand; dies., 1997.

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war zum Teil zustimmend, zum Teil ablehnend, insgesamt wohl ambivalent. Jedenfalls hat er den Kreis in diesem Fall nicht klar geführt, geschweige denn Anweisungen gegeben. Für die jüdischen Kreismitglieder begann eine Zeit existenzieller Entscheidungen, die sie ohne den gewohnten Rat StGs zu bewältigen hatten. Zwischen den Männern wurden existierende Freundschaften weiter gepflegt. Latente Feindschaften gerade zwischen Exilanten wie Kantorowicz und Wolfskehl und Daheimgebliebenen wie Uxkull-Gyllenband und Hildebrandt, der sich der Rassenpolitik des Nationalsozialismus in der Neuauflage seiner ,Norm-Bücher‘ anpasste, brachen aber nun heftig auf. Die bereits in den 1920er-Jahren wachsende, durchaus auch politische Inhomogenität des Kreises wurde nun dominant. Die Kreisrituale konnten keine Kohärenz mehr stiften, da sie alle auf StG und seine Lyrik zugeschnitten waren. Von nun an musste jeder Jünger selbst entscheiden, wie er mit StGs geistigem Erbe umgehen wollte. Kurt Hildebrandt wurde 1934 als Parteimitglied der NSDAP Philosophie-Professor in Kiel, einer nationalsozialistischen Muster-Universität, an der schon Julius Landmann und Wolters in der Weimarer Zeit gelehrt hatten, und setzte dort die durch Wolters geprägte politische Ästhetik fort. Seine jüdisch-stämmigen Vorgänger waren aus dem Amt entfernt worden. Hildebrandt versuchte, die von Wolters übernommene Art des Dienstes an StG und seinem Werk über dessen Tod hinaus zu pflegen, nachdem er selbst vom Scheitern des Kreises durch den Nationalsozialismus und den Tod StGs sprach (KH, 239). In Kiel betrieb er philosophisch-geistesgeschichtliche Forschungen zu Goethe, Hölderlin, Nietzsche, Platon und rassentheoretische Studien, die nicht mehr über den Stand der ,Norm-Bücher‘ hinauskamen. Von einer Fortführung der Kreis-Strukturen im eigentlichen Sinne lässt sich weder bei ihm noch bei Fahrner in Heidelberg (bis 1936) noch bei Wilhelm Andreae in Gießen oder Blumenthal in Jena, ab 1938 in Gießen sprechen. Insgesamt zerfiel der Kreis 1933/34 rasch in Grüppchen und einzelne Personen, unter denen sich allenfalls noch die Gemeinschaft der Erben und Nacherben hervorhob (s. u.). Dennoch hatten Einzelne noch lange nach 1945 Kontakt untereinander und hielten auch an pädagogischen und ästhetischen Maximen fest – in je individueller Auslegung.32 Eine Sonderrolle im Umgang mit StG und in der Entwicklung nach 1933 nimmt das Amsterdamer Castrum Peregrini bis fast in die Gegenwart ein. Wolfgang Frommel, ein George-Verehrer, der nie zum Kreis gehörte, aber mit Percy Gothein befreundet war, gründete diese Lebensgemeinschaft mit angegliedertem Verlag, einer Zeitschrift und einem Archiv, um die Lebensformen des Kreises zu pflegen und in der Zeit des ,Dritten Reiches‘ Exilanten eine Auffangstation in den Niederlanden zu bieten. Ab 1942 diente die Wohnung der Malerin Gisele van Waterschoot van der Gracht Flüchtlingen aus Deutschland als Zufluchtsort. 1951 folgte die Zeitschrift, ein wichtiges Bindeglied zur Dichtung und Pädagogik StGs; 1957 die Stiftung. So entstand ein Freundschafts- und Freundeskreis, der keine Fortsetzung des George-Kreises war, sowenig wie die Zeitschrift Castrum Peregrini die BfdK fortsetzen wollte, aber dennoch ein an der Ethik und Ästhetik StGs ausgerichtetes Leben ermöglichte. Aus dem Castrum gingen u. a. wichtige Quellenpublikationen zum Kreis hervor; auch die Wort-Konkordanz von Claus Victor Bock wurde dort veröffentlicht.33 Erst 2008 32 Vgl. Raulff 2009, passim. 33 Dazu Günter Baumann, Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Würzburg 1995.

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II. Systematische Aspekte

wurde die Zeitschrift eingestellt, die deutlich der Pflege des Andenkens an StG und den Kreis diente.34 Da es schon nach 1933 keinen Kreis mehr gab, und das Castrum Peregrini zwar ab den 40er-Jahren im holländischen Exil an der Überlieferung StGs arbeitete, aber selbst kein George-Kreis sein konnte, so gab es nach dem Zweiten Weltkrieg erst recht keinen Kreis mehr. Aber es lebten weiterhin einzelne Personen, die die Ideen und Ideale StGs und des Kreises weitertrugen und implizit oder explizit vermittelten. Dazu zählen die Mitglieder des Castrum Peregrini wie Wolfgang Frommel oder Claus Victor Bock, vor allem aber ehemalige Kreis-Angehörige wie der Erbe Robert Boehringer,35 der als Industrieberater wohlhabend wurde und viel Zeit und Geld in die entstehende Stiftung investierte. Dazu gehörte Ernst Morwitz als Lektor in Chapel Hill, dessen Übersetzungen StGs Werk im Englischen weiter zugänglich machten; Edgar Salin (Basel, Volkswirtschaft) oder Ernst Kantorowicz (Berkeley, Geschichte) als Professoren. Für Kantorowicz hat Ulrich Raulff Spuren georgianischen Denkens noch im Exil-Werk aufgewiesen, als dieser zu fast allen Nachlebenden auf Distanz gegangen war.36 Es gab auch in der BRD, in ihrer Formierungsphase, aber auch später noch, eine Wirkung StGs auf die Wissenschaft37 und, weiter gefasst, auf Intellektuelle, die zum Teil entscheidend am Wiederaufbau der jungen Republik mitarbeiteten. Marion Gräfin Dönhoff etwa war vermutlich Hörerin von Kantorowicz’ berühmter Wiederantrittsvorlesung zum ,Geheimen Deutschland‘ von 1933,38 vor allem war sie Schülerin Edgar Salins. Hans-Georg Gadamer war seit seiner Marburger und Heidelberger Zeit mit dem Umfeld und der Dichtung StGs vertraut, er publizierte immer wieder zu StG.39 Gadamer, der für viele Studenten seiner Generation von einer „indirekte[n] Zugehörigkeit“ zum Kreis sprach,40 war wie der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker Mitglied der George-Gesellschaft. Weizsäcker hatte noch familiäre Verbindungen und Erinnerungen an StG, dem er als Kind begegnet war.41 Der Verfassungsjurist, Politiker und Übersetzer Carlo Schmid wurde nach seinen eigenen Erinnerungen durch StGs Lyrik, vor allem durch den Stern des Bundes, geprägt. Adorno und Dolf Sternberger setzten sich auf je eigene Weise mit StG auseinander. Diese Liste, die sich fortsetzen ließe, bildet sich durch Akademiker, die aus dem Kreis stammten 34 Vgl. III, 8.1. 35 Vgl. ¤ Robert Boehringer. 36 Vgl. Ulrich Raulff, „In unterirdischer Verborgenheit“. Das geheime Deutschland – Mythogenese und Myzel. Skizzen zu einer Ideen- und Bildergeschichte, in: Barbara Schlieben/Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004, S. 93–115. 37 Dazu Hans-Joachim Zimmermann (Hrsg.), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium, Heidelberg 1985. 38 Vgl. Manfred Riedel, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln u. a. 2006. 39 Zum Beispiel Hans-Georg Gadamer, Der Dichter Stefan George, in: Ders., Gedicht und Gespräch, Frankfurt/M. 1990, S. 12–38; ders., Ich und du die selbe Seele, in: ebd., S. 64–69. 40 Ders., Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft, in: Hans-Joachim Zimmermann (Hrsg.), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium, Heidelberg 1985, S. 39–49, hier: 40. 41 Vgl. sein Interview mit F. Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 30.6.2007. Auch Ulrich Raulff geht auf die Familie Weizsäcker vor allem im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Ernst von Weizsäcker ein, bei dem auf amerikanischer Seite der Bruder Walter Kempners, des Arztes von StG, die Anklage vertrat; vgl. Raulff 2009, S. 384ff.

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oder durch Kreis-Mitglieder bzw. die Lyrik beeinflusst wurden und bis weit in die BRD hinein die Erinnerung an StG wachhielten, als die Germanistik als schwer belastetes Fach ihn als Autor mied. Unter den Nachkriegsautoren war Gottfried Benn eine Ausnahme, der sich, selbst diskreditiert, zur Bedeutung StGs bekannte. Erst in den 1980er- und 1990er-Jahren gewann StG auch für junge Autoren wieder an Bedeutung. Als Beispiele mögen Durs Grünbein oder Thomas Kling dienen. Von einem Kreis kann man aber nirgends sprechen, eher von Wahrung der Erinnerung und bestimmter Traditionen durch Einzelne. Allerdings bleibt es auch in diesen Fällen dabei, dass StG vor allem auf einflussreiche männliche Intellektuelle und Künstler wirkte.

6.3.

Kreisrituale: Auswahl/Aufnahme, Lesen/Vorlesen, Feste, Briefkultur

Für den Modus der Auswahl und Aufnahme galten recht strikte Voraussetzungen und Regeln, von denen StG selbst, verborgen hinter den handelnden Figuren, beispielsweise in Die Aufnahme in den Orden. Ein Weihespiel sprach, das – obwohl literarischer Text – durchaus als Kommentar zur Kreis-Praxis zu lesen ist. StG hat es mit Freunden mehrfach selbst gelesen und geübt, er in der Rolle des Großmeisters.42 Im Weihespiel bittet ein Jüngling beim Großmeister eines Ordens, die „würdigste gilde“, um Aufnahme. Der Großmeister formuliert dort die Regel: „Hier bist du nicht dir selbst hier ist dein teil: / Im kreise fühlen wirken nach dem platze.“ Die Anforderungen an den Kandidaten sind ein lauterer Sinn und Körper. Der Kandidat zeigt sich würdig durch den edlen „schwung / Des leibes wie des wortes“. Aber er ist orientierungslos, in tiefer Not und bittet darum, dass man ihm „ein[en] weg zu fernerem leben auf[weise].“ Er muss sich aus den Ordensmitgliedern einen Bürgen erwählen, den er nach zwei Fehlversuchen in Donatus findet und so aufgenommen wird. Das kommentiert der Chor: „Der kreis ist der hort / Der trieb allen tuns / Ein hehres wort / Verewigt uns!“43 Mit einigen Verschiebungen – der Kreis war kein Orden, StG kein religiöser Führer44 – bietet der Text durchaus Anhaltspunkte, wie das Aufnahmeritual in den Kreis aussehen konnte, auch wenn es konkret von Fall zu Fall variierte: Der Kandidat musste willig und würdig sein. Kriterium war in der Tat geistige und körperliche Schönheit als Bedingung für das ,schöne Leben‘. Und dem Aspiranten wurde dann wirklich ein sehr bestimmter Weg im Leben gewiesen, auf dem der Kreis und damit dessen Herrscher zur alles entscheidenden Instanz wurde – „trieb allen tuns“. Während Gundolf noch recht konventionell StG durch Wolfskehl vermittelt worden war, gab es später festere, rituelle Formen, nach denen junge Männer zu StG gebracht wurden. Meist war es einer der Älteren, vorzugsweise Gundolf, Morwitz oder Wolters, der einen hoffnungsvollen jungen Mann, in der Regel einen Schüler oder Studenten, auf die Begegnung mit StG vorbereitete. Das geschah z. B. durch Diskussionen und Lesungen von Gedichten. Dann wurde ein Termin vereinbart, zu dem StG erschien und den Kandidaten selbst prüfte. Salin hat ein solches Auswahl42 Vgl. Karlauf 2007, S. 441. 43 Stefan George, Die Aufnahme in den Orden. Ein Weihespiel, hier zit. nach: ders., Werke. Ausgabe in 4 Bänden, Bd. 4, München 1983, S. 223–228. 44 Dagegen aber Breuers Interpretation des Kreises als ,Sekte‘: Breuer 1995, S. 62.

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II. Systematische Aspekte

Ritual in seinen Erinnerungen beschrieben. Allerdings verliefen die Initiationen letztlich von Person zu Person unterschiedlich. Entscheidend war, dass es eine Initiation gab. Im Fall Edgar Salins hatte Gundolf ihn, Wolfgang Heyer und Norbert von Hellingrath zu sich bestellt, um die uninformierten Kandidaten StG vorzustellen. Der befragte die Verschüchterten nach Herkunft und Bildungsgang, das Wissen wurde regelrecht geprüft, schließlich kam es zur entscheidenden Probe: Gundolf musste, auch hier in der Mittler-Position, Gedichte aussuchen, die die nervösen Prüflinge vorlesen sollten. Salin und Heyer lasen offenbar schlecht, für StG zu monoton und falsch betonend, wie er deutlich kritisierte. Großen Wert maß er dem Rhythmus bei. Mit Hellingrath, der später kam, wurden dessen Hölderlin-Editionen, ebenfalls sehr kritisch, durchgegangen. Danach wurden die nach Salins Bekunden erschütterten Neulinge entlassen, von Gundolf brieflich für das „schlecht[e] Bestehen“ getröstet und erst nach zwei Monaten wieder zu StG gebeten (ES, 19f.). Dieser Ablauf der Heranführung durch einen Mentor, der Begutachtung und Prüfung durch StG mit anschließender Kritik und der abschließenden Bewertung als würdig oder unwürdig war in seinen Grundelementen durchaus typisch für den Aufnahmemodus. Das Aufnahme-Ritual bestand also zentral in der Lese-Prüfung. Über die Würdigkeit entschied neben den körperlich-geistigen Qualitäten der Sinn für und der Umgang mit der Lyrik StGs. Es gab kein diesem Aufnahme-Modus entsprechendes Entlassungsritual, weil derartige Ereignisse in der Kreis-Konzeption nicht vorgesehen waren. Trennungen erfolgten nur im äußersten Notfall per Bruch und Verstoßung der vermeintlich zu schwachen, real eher autonom werdenden Persönlichkeiten, wofür die beiden wichtigsten Beispiele Gundolf und Kommerell sind. Beide hatten sich langsam von der ausschließlichen Autorität StGs emanzipiert und begonnen, eigene Entscheidungen zu treffen, die nicht mit StG abgesprochen waren und nicht seine Zustimmung hatten. StG tolerierte solche Autoritätsverluste nicht und reagierte mit radikaler Distanz, die nicht mehr im Ritual gebändigt war, sondern vielmehr im Fernhalten vom Ritual bestand. Neben den Aufnahmeprüfungen, die vor allem die Mitglieder der dritten Generation durchliefen, waren Lesen und Vorlesen die entscheidenden Rituale des Kreises, die seine innere Struktur garantierten.45 Die große, für die Konstitution und das Zusammenhalten des Kreises geradezu existenzielle Bedeutung des Lesens und Hörens von Lyrik wurde bei den gemeinsamen Lesungen einfach, aber bewusst und wirksam markiert. Meist war das Licht gedämpft, der Raum war beispielsweise mit Blumen geschmückt, häufig standen einfache Speisen, Obst und vor allem auch Wein bereit – der symbolischen Bedeutung von Brot und Wein war man sich ganz bewusst. Nachdem meist mehrere Jünger und vor allem auch StG selbst gelesen hatten, herrschte Schweigen, woran es anschließend auch nur manchmal zu gedämpften Gesprächen kam: Man wollte den frischen Eindruck des Gehörten und Erlebten nicht verwischen. Morwitz erinnert sich: „Nach dem Vorlesen von Dichtungen, an dem der Dichter sich meistens beteiligte, trennte man sich schweigend, um das Gelesene nicht zu ,zerreden‘“ (EM I, 284). Hildebrandt berichtet von einer Lesung in Wolfskehls Münchner Kugelzimmer, dass dort vor dem Betreten des Raumes die Schuhe abgelegt wurden (KH, 66). Nicht immer kannten sich im Vorfeld alle Teilnehmer untereinander, womit 45 Dazu Braungart 1997, S. 154ff.; Boehringer, Hersagen; ders., Das Leben von Gedichten, Breslau 1932.

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eine Atmosphäre des Mysteriums, des Seltenen und Heiligen erzeugt werden konnte. Boehringer beschreibt in Das Leben von Gedichten „hören, lesen, abschreiben, auswendiglernen, hersagen, deuten und übersetzen“ als zentrale rituelle Elemente des Kreislebens. Für StG war das Lesen von Gedichten „eines der untrüglichen Zeichen für die Artung des Menschen, ein Mittel des Urteils vor dem kein Verstellen hilft“ (FW, 194). Deshalb kommt Robert Boehringer zu dem Schluss: [D]as Lesen von Gedichten [war] recht eigentlich die Kulthandlung des Freundeskreises, in der jeder einzelne sein Bestes gab, die Verse der Dichter richtig erklingen zu lassen. Sinn und Rhythmus, Sprachmelodie und Reim sollten dabei als Einheit im Gedicht laut werden. (RB II, 137)

An anderer Stelle heißt es: „Lesen ist die letzte kulthandlung“, und „Beim lesen, sagt der Meister, kommt das wesen dessen der liest heraus“ (EA, 57). Die Fähigkeit des richtigen Lesens und die körperliche Schönheit der Kandidaten waren somit die „Bewährungsprobe für die Aufnahme in den Kreis“.46 Lesen war für die Anhänger StGs nicht auf Interpretation und Textsinn-Vermittlung hin angelegt, sondern auf ästhetische Kategorien wie Rhythmus, Liturgieartigkeit und die Abgrenzung vom Reden des Schauspielers. Boehringer beschreibt die Art des Lesens daher als „ein intonieren, nicht gesang aber auch nicht rede, es ist dazwischen. […] Es ist heiliger ernst“ (EA, 61). Man sieht an solchen Äußerungen auch, dass hier die Abgrenzung von einer bestimmten Art des wissenschaftlichen Umgangs mit Texten, von positivistischer Philologie und dem vermeintlichen Zergliedern des Gedichtes, eine große Rolle spielt. Für StG war die Einfühlung in das Gedicht, die Suche nach semantischen Zusammenhängen und bloßen Inhalten, dem Text und dem Dichter nicht gemäß. Der Umgang mit dem Gedicht war strukturell analog konzipiert zum Umgang mit dem Heiligen und daher auch in die sakrale Form des Rituals gefasst.47 Für StG war der rituelle Vollzug des Textes im Rahmen seiner sozialen Ordnung entscheidend. Boehringer meinte, dass bei StG Bild und Begriff eines Gedichtes in seiner Form aufgehoben seien (RB I, 8). Um diese Einheit und die Form zu wahren, befolgte der Kreis eine Art „Interpretationsverdikt“.48 Kommerell notierte sich entsprechend emphatisch: „Kreisdichtung genau wie Gedichte-Lesen Lebensfunction“.49 Hildebrandt beschreibt die rituellen Lesungen des Kreises als „Feier der Dichtungen“ (KH, 62).50 Entsprechend dieser sozialen und lebenspraktischen Bedeutung des Lesens von Gedichten formulierte Robert Boehringer, der als bester Leser galt, im Jahrbuch für die geistige Bewegung mit dem Essay Über Hersagen von Gedichten eine Art Zusammenfassung der Lehre. Der Text ist im Wesentlichen eine Ausformulierung von Thesen, die Boehringer in der achten Folge der BfdK unter demselben Titel publiziert hatte. Er schreibt, man wisse in Deutschland vom Hersagen eines Gedichtes nur durch Schauspieler und Autoren, die ihre Werke unrhythmisch und nach der jeweiligen Mode lesen würden: Hauptmann gestikuliere, Dehmel habe theatralisches Pathos, 46 Braungart 1997, S. 156. 47 Vgl. ebd., S. 159; II, 1.4.1.1. 48 Ebd., S. 163. 49 Zit. nach ebd., S. 166. 50 Weitere Berichte über Lesungen StGs bei Reinhard Tgahrt (Hrsg.), Dichter lesen. Bd. 2: Jahrhundertwende, Marbach 1989, S. 327ff.

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II. Systematische Aspekte

selbst Hofmannsthal lese schauspielerhaft. Gute Gedichte neuer Dichter würden aber rhythmisch gelesen – Letzteres ein deutlicher Selbstverweis auf die Praxis des Kreises. Der laute Ausdruck eines Gedichts sei nämlich „unentbehrlich“. Jedes Gedicht habe ein Gesetz, das Rhythmus und Tonverhältnisse regele. Diese sind das gedicht; in ihnen eben hat sich jenes gesetz zum gebilde verdichtet. Sie zu erkennen und laut werden zu lassen, ist die aufgabe des hersagens, das um so richtiger ist, je getreuer es jenem gesetze folgt und je weniger es sich selbst dienen will. Der wahre hersager ist also das erkennende und wiedergebende medium […].51

Ob ein solches Medium richtig lese, könne nur ein Dichter beurteilen. Das habe auch Verwey in seiner Zeitschrift Beweging, einem Vorbild für das Jahrbuch für die geistige Bewegung dem Titel nach, betont, wenn er fordere, der Hersager müsse vom Rhythmus durchdrungen sein. „Das dichterische hersagen ist also diejenige art, die rhythmus und tonverhältnisse nach dem gesetz des gedichtes erfaßt und wiedergibt.“ Nur so gehe der Hersager vom Wesen des Gedichtes aus und werde zum „gefäss des dichterischen geistes“.52 In dieser Art wurden die Lese-Rituale des Kreises vollzogen. Neben den Lese-Abenden spielten feierliche Treffen wie die Schwabinger Maskenfeste (z. B. 1904) in Anlehnung an antike Vorbilder eine Rolle innerhalb der Kreiskultur. Bei diesen heute fremdartig anmutenden Festen kamen die Teilnehmer, u. a. StG, Gundolf, Wolfskehl, Kronberger, bei Wolfskehl zusammen, um kostümiert das Andenken der Antike zu feiern und sich damit in die Tradition von Homer oder Dante zu stellen, als die sie verkleidet waren. Derartige Feste hatten durchaus Selbststilisierungs- und Legitimationsfunktion, wurden aber mit dem Ende der Kosmiker, die wichtig für diese Art der Antike-Verehrung waren, und dem Tod Maximilian Kronbergers nicht mehr gefeiert. Jünger wie Gundolf veranstalteten mit ihren Studenten Aufführungen etwa von Shakespeare-Stücken, die nicht so extravagant der Traditionspflege und der Huldigung der großen Dichtung dienten. Allerdings fällt es hier bereits schwer, von wirklichen Ritualen zu sprechen. Wichtiger und auch regulierter war die Briefkultur des Kreises, die wesentlicher Bestandteil der Kommunikation der Jünger mit StG war und vieles im persönlichen Umgang regelte. Fast allen Briefwechseln mit StG ist gemein, dass die Jünger mehr und häufiger schreiben und einen deutlich respektvollen bis unterwürfigen Ton wählen. StG ist auch hier in der Rolle des Erziehers und schreibt weniger, spröder und manchmal deutlich kritisch.53 Die Briefe ersetzten bzw. ergänzten persönliche Begegnungen und Gespräche, dienten vor allem StG aber auch zur Regelung seiner persönlichen Angelegenheiten wie Reisen oder Geschäftskorrespondenzen. Vielen Briefen von und an Jünger waren Fotografien und/oder Gedichte beigelegt, die als Geschenk, Erinnerung oder auch Mahnung dienten (zu Fotografien s. u. unter ,Imagebildung‘). Manche Briefe bestanden nur aus Lyrik und hatten daher eine deutliche Nähe zum Lese-Ritual.

51 Boehringer, Hersagen, S. 78. 52 Ebd., S. 85f. 53 Vgl. Jan Andres u. a., Platonisierende Eroskonzeption und Homoerotik in Briefen und Gedichten des George-Kreises (Maximilian Kronberger, Friedrich Gundolf, Max Kommerell, Ernst Glöckner), in: Renate Stauf u. a. (Hrsg.), Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin, New York 2008, S. 223–270.

6. Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaften

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Herausgehobene Ereignisse im Kreisleben waren Treffen der Jünger mit dem ,Meister‘, wo nicht nur Einzelne sich sahen, sondern größere Gruppen zusammenkamen und für einige Zeit zusammen wohnten, lasen und diskutierten. Treffen mit einzelnen Anhängern ergaben sich allein schon durch StGs zahlreiche Reisen. Größere Zusammenkünfte waren seltener und von höherem symbolischen Wert. Zu den erwähnten Schwabinger Festen traf man sich bei Wolfskehl; in Berlin in späteren Jahren fanden Treffen in Thormaehlens Atelier, dem ,Achilleion‘, statt; in Heidelberg sorgte Gundolf für Unterkunft. In seinen letzten Jahren begleiteten meist mehrere Freunde StG auf seinen Reisen nach Minusio, wo gemeinsame Tage verlebt wurden. Das sicher bekannteste Treffen, von dem ein berühmtes Foto überliefert ist, ist das sogenannte ,Seelenfest‘, das Pfingsttreffen 1919 in der Heidelberger Villa Lobstein. StG hatte nach dem Krieg, der für den Kreis Verluste gebracht hatte, die StG gerade im Fall des doppelten Freitodes von Adalbert Cohrs und Bernhard von Uxkull sehr getroffen hatten, das Bedürfnis, die Lebenden zu versammeln und die Toten zu ehren. So trafen sich hochsymbolisch zu Pfingsten zwölf Jünger der zweiten und der dritten Generation. Als Neulinge nahmen Percy Gothein, Erich Boehringer und Woldemar von Uxkull teil. Das Treffen diente auch der Initiation dieser Neulinge. Ein ähnlich großes Treffen mit zehn Teilnehmern hatte es nur Pfingsten 1913 in StGs Münchner Wohnung gegeben. Das Fehlen Wolfskehls markiert die Bedeutung dieses Treffens als „Wasserscheide“:54 Im Kreis hatten sich die Gewichte zugunsten von Wolters und der kommenden dritten Generation verschoben. Das Treffen diente vor allem dazu, die Verbliebenen durch gemeinsame Tage neu zu vereinen.55

6.4.

Lebensformen

Mit dem Begriff der Lebensform wird im Folgenden das individuelle Leben der Kreismitglieder bezeichnet. Da es nicht möglich ist, Individualbiographien nachzuzeichnen, ist dieser Abschnitt der Versuch, allgemeine Kennzeichen der Lebensführung zu benennen, die zumindest auf mehrere und wichtige Jünger zutreffen. Die bekanntesten Leitlinien zum Leben um und mit StG haben konkurrierend Gundolf mit Gefolgschaft und Jüngertum in den BfdK und Wolters mit Herrschaft und Dienst geschrieben.56 Beides sind Programmschriften, die das Leben des Jüngers im Verhältnis zu seinem Meister zu erfassen suchen. Gundolf beschreibt den Meister als die Emanation der Idee, an dessen vorbildlichem Leben sich der Jünger orientiert. Das bezeichnet der Bildungshistoriker als Gefolgschaft, ein Konzept, das durchaus das Subjekt und seinen Willen integriert. Das Prinzip ist ästhetische Bildung der Gemeinschaft am großen Exempel. Wolters’ Gegenentwurf Herrschaft und Dienst ist ein ständisches Konzept. Der Meister ist der herrschende Täter, der die Zeit durch sein überlegenes Reich verändert. Das Prinzip ist Herrschaft und Machtpraxis. Bezeichnend ist, dass aus dem Gefolgsmann der Diener wird, dessen Willen und Denken nicht zählt. Der Mittelalter-Historiker argumentiert mit ständischen und absolutistischen Gedanken. Einen Vorläufer von Wolters’ Kreis-Konzept bildet bezeichnenderweise 54 Karlauf 2007, S. 484. 55 Vgl. ebd., S. 472ff.; dazu Percy Gothein, Die halkyonischen Tage, in: CP 3/1953, 11, S. 7–61. 56 Dazu Groppe 1997, S. 480ff.; vgl. I, 4.8.; II, 8.2.

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II. Systematische Aspekte

auch eine Studie zur Genese des Absolutismus. Beide Modelle sind nicht kompatibel, letztlich hat sich mit Blick auf die dritte Generation Wolters durchsetzen können. Dienst und Haltung (s. o.) sind zwei wesentliche Elemente der Lebensform im Kreis. Gerade die Biographien wichtiger Personen wie Gundolf, Morwitz, Wolters, Kommerell und zum Schluss Mehnert folgen über viele Jahre, bis zu Tod oder Trennung, dem Strukturmodell des Lebens „Durch Dich, für Dich, in Deinem Zeichen“, wie es Gundolf in einem Gedicht an StG schrieb.57 Damit ist gemeint, dass sich die Interessen des Einzelnen ab dem Zeitpunkt der Bekanntschaft mit StG sehr weitgehend, manchmal völlig nach den Vorgaben StGs richteten. Nicht in allen Bereichen waren es gravierende Kehrtwenden, da alle Jünger schon vor der Begegnung musisch interessiert und begabt waren. Aber StG legte sie dann häufig sehr weitgehend fest in Bezug auf eine geordnete, an der Arbeit ausgerichtete Lebensführung, auf Lektüren, auf die Art der Wissenschaft (antipositivistische Geistesgeschichte), auf gesellschaftliche Umgangsformen usw. Die Künstler sahen sich wie die Wissenschaftler seiner Kritik ausgesetzt und versuchten zeitlebens, seinen Vorstellungen und Ansprüchen gerecht zu werden. Gerade bei den Bildenden Künsten, der Bildhauerei von Mehnert, Thormaehlen u. a., aber auch bei der Lyrik war das künstlerisch nicht nur von Vorteil. Eine solche Ausrichtung am anderen neigt unweigerlich zur Epigonalität, an der viele Erzeugnisse der Jünger offensichtlich leiden. Ein eigener Stil war nicht gewollt, die Kunstproduktion war immer auch Übung zum ,schönen Leben‘. Die Wissenschaftler wurden auf die ,Gestalt‘-Theorie und entsprechende Autoren und Publikationen verpflichtet. Insgesamt kann man für alle sagen, dass ihnen StG auch dann präsent war und ihr Leben strukturierte, wenn er nicht anwesend war. Niemand wollte gegen seinen Willen handeln. Kam es doch dazu, dass Ansprüche verfehlt wurden, waren die Betroffenen stets schuldbewusst, worüber Briefwechsel und Erinnerungen berichten. Aus dieser Disposition heraus kam den Besuchen StGs eine ganz besondere Bedeutung zu, ebenso Einladungen. Gundolf berichtet immer wieder in seinen Briefen, wie sehr er sich über Treffen freute, an denen er Weisungen und Belehrungen bekam, aber auch freundschaftliche Nähe erfuhr; ähnlich Kommerell, der immer wieder vom Glück der Briefe StGs schreibt, weil er auf Worte des Dichters sehnlichst gewartet hatte. Obwohl viele Jünger intellektuell hochbegabte Männer waren, die als Wissenschaftler oder im Staatsdienst (Morwitz als Richter am Kammergericht) viel geleistet haben, führten sie in dieser Hinsicht ein höchst unselbstständiges Leben. StG war die entscheidende Sozialisationsinstanz, anders und wichtiger als Elternhaus, Schule und Studium. Für Kommerell, bedingt auch Gundolf, mag diese Einsicht ein Grund der Trennung von StG gewesen sein. Viele Jünger waren professionelle Wissenschaftler. Wissenschaft wurde als Dienst an der Literatur, der Geistesgeschichte und an der Tradition der großen Männer, der Dichter wie Dante, Shakespeare oder Goethe, begriffen. Dadurch ergab sich die seltsame, aber bezeichnende Position zwischen Dichtung und Wissenschaft, die für die Lebensform vieler Georgianer so typisch ist: Gundolf etwa wurde zeitlebens als Wissenschaftskünstler wahrgenommen, dessen akademisches Werk sich von StG herleitete. Das verschaffte ihm enorme Popularität, aber brachte ihm auch Skepsis und 57 Friedrich Gundolf, An meinen Meister, in: G/G, S. 381; dazu Wolfgang Braungart, „Durch Dich, für Dich, in Deinem Zeichen.“ Stefan Georges poetische Eucharistie, in: GJb 1/1996/1997, S. 53–79.

6. Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaften

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Kritik der Zunft ein. Ähnliches gilt für Kommerell und Kantorowicz, wenngleich nicht in diesem Maß und nicht bis an ihr Karriere-Ende. Außerdem führte diese Lebensform dazu, dass sich viele Kreis-Mitglieder als Nebenstunden-Dichter versuchten, um der Kunst auch aktiv und nicht nur mittelbar zu dienen. Etliche Jünger wiederum waren als wissenschaftliche Laien erfolgreich, wenn etwa der Jurist Vallentin ein Napoleon-Buch schrieb58 oder die zahlreichen Studien zu Platon nicht alle von Altphilologen und Philosophen stammen. Wissenschaft wurde auch von den NichtFachleuten als Sinndeutung im Dienst für das Schöne betrieben. Eine solche Geistesgeschichte stellte sich in die Nachfolge Diltheys und übersetzte gleichsam die Botschaften und Sinndimensionen der Kunst/Literatur für die bildungswillige Jugend im Rahmen der Re-Konstitution der Bildung.59 Pädagogisches Interesse an der akademischen Jugend war Teil des Bildungsauftrags und somit auch Teil der Lebensform der Anhänger StGs. Es erscheint so nur folgerichtig, dass Arthur Salz und Erich von Kahler mit eigenen Schriften auf Max Webers Wissenschaft als Beruf reagierten, dessen Thesen zum Wesen der Wissenschaft in eine andere Richtung gingen.60 Zumindest Kahlers Schrift Der Beruf der Wissenschaft hatte allerdings nicht StGs Zustimmung. Zeugnisse dieser Bildungs- und Erinnerungskulturen, die Teil der Lebensform waren, die „kein leben außer dir [StG]“ suchte (G/G, 116f.), sind auch die großen und berühmten Bibliotheken der Bibliophilen Gundolf und Wolfskehl. Beide besaßen als eifrige Sammler Buchbestände, die weit über das Maß hinausgingen, das sie als Germanisten für ihre Berufe bzw. für das Dichten nötig gehabt hätten. StG hat beide Bibliotheken bei seinen Besuchen benutzt, was den bescheidenen Umfang seiner eigenen erklärt, die der Reisende ohnehin schlecht aufstellen konnte. Besonders Gundolf besaß zu seinem Spezial-Thema Caesar viele Raritäten, die sich aus seinem selbst so genannten Spleen ergaben; dazu kam eine Barocksammlung, die sich in seinen Publikationen nur bedingt niedergeschlagen hat; vieles zum 19. Jahrhundert, eher wenig zu Goethe und Shakespeare. Michael Thimann hat aus diesen Buchbeständen überzeugend eine Art Sammlerbiographie Gundolfs rekonstruiert und dabei gezeigt, dass die Bibliothek für Gundolf regelrechter Bestandteil seines Lebens war, an der er beständig weiterarbeitete. Die „geistige Physiognomie“61 lässt sich aus dieser Bibliothek ableiten, die ein regelrechter „Weltentwurf“62 war – einer, der so nur mit StG denkbar war, dessen Literatur- und Geschichtsverständnis die Zusammenstellung zumindest implizit gesteuert hatte. Konzentriert versammelt der Index. Zur Bibliothek eines jungen Menschen die für die Jugend unabdingbaren Autoren. Dabei handelt es sich um einen Kanon, den der Kreis während des Pfingsttreffens 1919 zusammengestellt hat.63 Gundolfs Fundglück war legendär. Mit vielen Gelehrten und Antiquaren unterhielt er Tausch- und Kaufverbindungen, sodass die Bibliothek auch Bestandteil seines wissenschaftlichen Arbeitens an Netzwerken war. Für Gundolf und Wolfskehl waren ihre Privat-Büchereien Ausdruck ihres Verhältnisses zur Bildung und zur Vergangenheit, die sie pflegen und bewahren wollten. Dazu gehörte auch der Erwerb von 58 Dazu Barbara Beßlich, Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800–1945, Darmstadt 2007. 59 Vgl. Groppe, Widerstand, S. 64ff. 60 Vgl. Groppe 1997, S. 600ff. 61 Thimann, Caesars Schatten, S. 11. 62 Ebd., S. 13. 63 Vgl. Groppe 1997, S. 480ff.

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II. Systematische Aspekte

seltenen Stücken, die allerdings nicht museal aufgestellt, sondern zumindest bei Gundolf auch aktiv in die Forschung, und damit über die Gestalt-Monographien auch in das Kreisleben, eingebunden wurden. So zeigt vor allem die Bibliothek Gundolfs die Spannung zwischen Arbeit/Wissenschaft und Kunstverehrung bzw. Liebhaber-Dasein, die typisch für den Kreis ist.

6.5.

Imageaufbau

StGs Frühwerk bis zum Teppich des Lebens stand sehr offensiv unter dem Leitmotiv der „ästhetischen Opposition“.64 StG intendierte eine Erneuerung der Kunst, indem die deutsche Literatur und Lyrik Anschluss an die europäische, besonders die französische, Avantgarde finden sollte. Aus dieser programmatischen Innovation folgte die anfangs sehr exklusive Publikationspolitik der BfdK – wenige, ausgewählte Leser, schlichte Aufmachung, kleiner Beiträger-Kreis – und das in den Merksprüchen formulierte ästhetizistische Kunstprogramm des l’art pour l’art.65 Opposition bestand wesentlich in ästhetischer Innovation, im Sinn der BfdK: einer neuen Mache. Erneuerung der Kunst hatte bereits früh die mittelbare Intention einer umfassenden Erneuerung des Lebens und der Lebensformen durch die Bildung einer Bewegung und durch eine dichterische Erziehung (BfdK 2/1894). Hier finden sich ähnliche Gedanken formuliert wie später in Albert Verweys Zeitschrift Beweging (ab 1905), die für StGs Denken einer Einheit von Kunst und Sozialem im ,schönen Leben‘ später eine Rolle spielte. StG arbeitete zielstrebig am Image des radikalen Erneuerers. Dass diese Bemühungen anfangs kaum öffentlichen Widerhall fanden und er als ,Neutöner‘ wenig beachtet und als Dandy durchaus auch belächelt wurde, stand dem Gesamtunternehmen nicht im Weg: Die anfänglich geringe Rezeption wurde im Zeichen des Exklusivitätsdenkens zu einem Qualitätsmerkmal umgedeutet. Es wurde als erwartbar dargestellt, dass die Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal kaum Publikum fanden. StG behauptete in der „Vorrede“ der 2. Ausgabe nachträglich, er habe es noch gar nicht gesucht. Wichtig für die Stilisierung eines literarischen Neubeginns als Dienst an der Kunst66 und für die öffentliche Darstellung war ab dem Jahr der Seele (1897) die Ausstattung der Bücher StGs durch Melchior Lechter. StG hatte Lechter 1895 kennengelernt, er stattete noch den Teppich des Lebens, die Anthologie Deutsche Dichtung und den Siebenten Ring aus. Vor allem aber gab er dem Maximin-Gedenkbuch seine prächtige Form. Insgesamt dauerte die Zusammenarbeit von Wort- und Buchkünstler zehn Jahre. Mit Wolfskehl und Verwey war Lechter noch länger befreundet. Buchkunst war für StG lange eine symbolische Handlung, das Buch wurde als Gesamtkunstwerk präsentiert. StGs Wille zur Formung, Kontrolle und Werkherrschaft zeigte sich auch darin, dass er die Ausstattung seiner Bücher nicht für nebensächlich hielt. 1897 wurde mit dem Jahr der Seele, dem erfolgreichsten Band StGs, das Jahr des eigentlichen dichterischen Durchbruchs. Es steht offen, ob die prätentiöse Ausstattung durch Lechter dem förderlich war, jedenfalls gehörte Lechter nun für die weiteren Bücher fest zu StGs Konzept der Außendarstellung und Imagebildung. 64 Mattenklott, Bilderdienst. 65 Vgl. I, 3.4. 66 Vgl. etwa das Programmgedicht „Weihe“; dazu Martus, Werkpolitik, S. 527–575.

6. Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaften

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Im Teppich des Lebens (1899) hatte der Engel die Botschaft des ,schönen Lebens‘ gebracht, die künftig auch im Sozialumfeld StGs zu einem Motto wurde. Dennoch war der Teppich nach dem Erfolg des Jahrs der Seele eher ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer größeren Publikumsoffenheit. 1907 erschien der Siebente Ring, der mit den Zeitgedichten ganz offensiv ein anderes Publikum ansprach als vorher: StG suchte nun in der Ununterscheidbarkeit von Autor und lyrischem Subjekt die direkte Ansprache an ein größeres Publikum. Die Kulturkritik der Zeitgedichte funktioniert nur dann, wenn auf ein breiteres Lesepublikum gezielt wird, als es die ästhetizistischsymbolistischen Texte taten. Der im Mittelpunkt des Bandes stehende Maximin-Zyklus stellte für den uneingeweihten Leser zudem ein Rätsel wie auch eine Provokation dar. StG und die Seinen legitimierten ihre Kunst und den Kreis nun über eine quasigöttliche Sakralinstanz, die zudem selbsterschaffen war. Aufgrund seiner Einzigartigkeit als Legitimationsinstanz und ästhetischer Mythos war Maximin für Publikum und Kritik eine Herausforderung, die sich auch auf den Ruf StGs als dichtender Herrscher eines Staates auswirkte. Der Siebente Ring zeigte insgesamt eine Einheit von Poetik und Politischem, die StGs Ruf als Dandy und Ästhetizist tilgen sollte und konnte. Aus dem „salbentrunknen prinzen“ (VI/VII, 6) wurde ab dem Siebenten Ring und endgültig mit dem hermetischen Stern des Bundes der herrschende Dichter, der Prophet, Seher und Verkünder eines kommenden erneuerten Reiches. Der ästhetisch so sensible wie kritisch maßlose Konkurrent Borchardt hat diese Verschiebung von einem starken zu einem in seinen Ansprüchen geminderten und sozialisierten Ästhetizismus wohl in seiner Rezension zum Siebenten Ring als Erster benannt. In der Außenwahrnehmung hatten sich die Gewichte von der ästhetischen Opposition zur ästhetischen Opposition verlagert, auch wenn StG selbst dies stets bestritten hat: „Ihr sehet wechsel · doch ich tat das gleiche“ (VI/VII, 7).67 Nach dem Siebenten Ring folgten in den Jahren 1909 bis 1911 wichtige Publikationen aus dem Kreis, die nun bewusst auf breitere Resonanz zielten und sie auch bekamen. Friedrich Wolters publizierte seine Vorstellung von der Struktur des Kreises unter dem Titel Herrschaft und Dienst 1909 und trieb damit die eingeleitete Politisierung und Sozialisierung von StGs Lyrik auf der Essay- und Programmebene fort. Parallel erschien Gundolfs Gegenentwurf Gefolgschaft und Jüngertum. Beide Texte stellten das Kreisleben in der je eigenen Interpretation der konkurrierenden Autoren als Sozialmodell vor. Ebenfalls 1909 erschien ein weiterer Auswahlband der BfdK. 1910 reagierte der Kreis mit dem Jahrbuch für die geistige Bewegung erstens auf das Bedürfnis nach größerer Wahrnehmbarkeit und zweitens auf die Herausforderung durch das Hesperus-Jahrbuch. Das ganze Jahrbuch für die geistige Bewegung, für das formal Gundolf und Wolters verantwortlich waren, bestand aus Weltanschauungsessayistik, es war ein „Kompendium der Kulturkritik“.68 Es stellte den Versuch der „Universalisierung [der] Werte und Ziele“ des Kreises dar.69 Besonderes Augenmerk erhielt es, weil mit seinem Erscheinen die BfdK pausierten. Das Programm zielte nach Wolfskehl gegen den Naturalismus (ästhetisch), setzte hier den avantgardistischen Beginn der BfdK fort, wandte sich aber im Rahmen der Neuorientierung auch gegen 67 Vgl. dazu und zu den Zeitgedichten: Jan Andres, Gegenbilder. Stefan Georges poetische Kulturkritik in den ,Zeitgedichten‘ des ,Siebenten Rings‘, in: GJb 6/2006/2007, S. 31–54. 68 Kolk 1998, S. 310. 69 Ebd., S. 305.

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II. Systematische Aspekte

den Liberalismus (politisch und sozial). Es war der bekannte Protest gegen Goldschnitt- und Epigonenlyrik in Verbindung mit einer Komprimierung und Radikalisierung der im Kreis bekannten Positionen. So hatte das Jahrbuch mindestens zwei Funktionen: Neben dem Kampf gegen die Insel/Hesperus und die Positionierung im literarischen Feld war es auch ein „Medium der Selbstverständigung“.70 Die Jahrbücher, besonders Band drei, stießen bei Gelehrten wie Georg Simmel, Max Weber oder Heinrich Rickert wegen ihrer radikalen Anti-Modernität und Frauenfeindlichkeit auf scharfe Kritik.71 Allerdings kann man aus den überlieferten Reaktionen auch ersehen, dass die Georgianer sehr bewusst wahrgenommen wurden. So war 1910 „eines der wichtigsten [Jahre] in der Geschichte des Kreises.“72 1911 folgte gleichsam als Fortsetzung Gundolfs Habilitation Shakespeare und der deutsche Geist, die der Autor als „Kompendium der Geistigen Bewegung“ (G/G, 206) und als „Hauptpronunziamento theoretischer ,Reichs‘natur“, als Staats- und Blätter-Sache, bezeichnete und die Qualifikationsschrift damit in eine Reihe mit den Weltanschauungsessays des Jahrbuchs stellte (G/G, 206f.). Ebenfalls aus dem Kreis um StG stammend und als solche markiert wurden in den folgenden Jahren die Publikationen der Bondi-Reihe „Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“, die zum Teil mit der Swastika versehen waren. Dazu zählten Gundolfs epochaler Goethe (1916) und später das unter dem Eindruck der Entzweiung entstandene, hagiographische George-Buch (1920) mit seinem steilen Ton. Diese Bücher fanden besondere Aufmerksamkeit, weil Gundolf mit dem Goethe zu einem der bekanntesten Germanisten überhaupt wurde. Sein Erfolg und seine Arbeit wurden auf StG zurückgeführt, ebenso sorgte er aber auch für eine öffentliche Präsenz des Kreises. Wolters’ ,Blättergeschichte‘ von 1930 stellte eine Art Vermächtnis dar, war von StG persönlich redigiert, stellte Stilisierung in manchen Fällen über Fakten und war der offiziöse Höhepunkt der Selbstvermarktung des Kreises. Robert Boehringer hat seine Biographie StGs wohl ganz bewusst sein „Bild“ von StG genannt. Damit spielte er einerseits mit dem für den Kreis so wichtigen Wortfeld von Bildung, Gebildetsein und Bildnis, dem plastischen Element bei der Darstellung eines Menschen, das für die Gestalt-Konzepte und -Monographien so wichtig war. Andererseits wies er damit auf die ganz konkrete Bedeutung von Fotos für die Kommunikation um und mit StG hin. Denn Fotografien spielten eine eigene mediale Rolle bei der internen Kommunikation wie bei der Außendarstellung StGs und des Kreises.73 Dazu kommen, eher klassisch von der griechischen Antike beeinflusst und legitimiert, Büsten und Köpfe.74 Die Fotografien waren schon früh als Geschenke StGs an seine Anhänger eine Form symbolischer Handlung, die den Jüngeren stets den ,Meister‘ im Wortsinn vor Augen führen konnte. StG selbst maß den Fotos große Bedeutung bei. Das belegt die Wahl erstklassiger Fotografen wie der Brüder Hilsdorf, aber auch die Tatsache, dass er in gelegentlichen Streitfällen die Bilder wieder einforderte. Die Fotos der Hilsdorfs offenbaren durch die hohe Qualität der Porträts den 70 Ebd., S. 306. 71 Vgl. G/G, S. 229; zum Zusammenhang auch: Friedrich Gundolf, Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, Amsterdam 1962, S. 155ff. 72 Karlauf 2007, S. 448. 73 Vgl. II, 5.4.1.; Braungart, Gesicht; Braungart 1997, S. 118ff. 74 Vgl. II, 2.3.3.; Ulrich Raulff/Lutz Näfelt, Das geheime Deutschland. Eine Ausgrabung. Köpfe aus dem George-Kreis, Marbach 2008.

6. Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaften

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Willen zur Repräsentation und zur Suggerierung eines bestimmten Typus des Dichters als poeta vates, als Seher und Außenseiter. So zeigen gerade die Fotos der Hilsdorfs auch das Selbstverständnis StGs, das durch die Zirkulation unter den Freunden kommuniziert wurde. Das „Bedürfnis der Kreismitglieder nach Präsenz und Anschauung“75 konnte so gestillt werden; zugleich betrieb StG damit seine Auratisierung. Eine zum Teil ähnliche Funktion hatten die zahlreichen Büsten, die zumeist aus dem direkten Kreisumfeld von Bildhauern wie Thormaehlen, Zschokke76 und Mehnert oder Laien wie Fahrner u. a. stammen. Sie wurden stärker als Ausdruck der Verehrung angesehen und dienten der Kunstübung der Jünger. So lässt sich die Vielzahl und die zum Teil erheblich schwankende Qualität der bildhauerischen Produkte auch dadurch erklären, dass sie meist auch Kunstpraxis, Übung, waren und nicht in allen Fällen für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Sie vermitteln daher auch weniger als die Fotografien den Eindruck eines geschlossenen Typus des Dichters. Zu den Maßnahmen der Image-Bildung, die insgesamt als Akkumulationsversuche kulturell-symbolischen Kapitals im Sinne Pierre Bourdieus begriffen werden können, gehörte auch die Entwicklung der StG-Schrift als serifenlose Type für den Druck. Erstmals erschien der Privatdruck des Jahrs der Seele 1897 in dieser an die karolingische Minuskel und die Bertholdsche Akzidenz-Grotesk angelehnten Schrift, die zu einem Markenzeichen StGs wurde und in Zusammenarbeit mit Lechter (ab 1897) aus seiner Handschrift abgeleitet wurde.77 In den Briefwechseln zeigt sich häufig das Bemühen der Jünger um eine mimetische Aneignung dieser Schrift des Dichters, z. B. in den Briefen Kommerells, der sehr schnell wieder seine individuelle Handschrift annahm, als er sich von StG entfernte. Seit Ende der 1920er-Jahre und im Zusammenhang mit der seit 1928 erscheinenden Gesamtausgabe seiner Werke plante StG den Umgang und die Verwaltung des Werkes und Erbes nach seinem Tod.78 Früh kam es zu Diskussionen um eine Schweizer Stiftung. Gespräche aus dem Juni 1930 sahen zunächst konkret einen Dreier-Bund aus Max Kommerell, Johann Anton und Robert Boehringer als Rat dieser Stiftung vor. Kommerell lehnte als Folge der gravierender werdenden Entzweiung mit StG Anfang August 1930 seine Teilnahme an diesem Stiftungsrat ab; Anton beging im Februar 1931, ebenfalls im Kontext der Differenzen zwischen StG und Kommerell, Suizid. In der Folge entstanden mehrere Entwürfe eines Testaments. Der Ersatzplan im Testament vom 31.3.1932 sah schließlich Robert Boehringer als Alleinerben vor, sein Nacherbe sollte Berthold von Stauffenberg sein. Der seinerseits setzte als Nacherben zuerst den letzten jugendlichen Begleiter und Sekretär StGs Frank Mehnert, nach dessen Tod an der Front 1943 seinen Bruder Claus ein. Das Testament verpflichtete den Erben auf die Gründung einer Stiftung und eines Archivs. Nach StGs Tod kam der zentrale Teil des Nachlasses zu Robert Boehringer nach Genf, darunter Werkmanuskripte und Briefschaften. Andere Teile wie Papiere und Bücher kamen 75 Braungart, Gesicht, S. 89. 76 Vgl. Michael Stettler (Hrsg.), Bildnisse Stefan Georges. Von Alexander Zschokke, Düsseldorf 1974. 77 Vgl. I, 5.6.3.; Roland Reuß, Industrielle Manufaktur. Zur Entstehung der „Stefan-GeorgeSchrift“, Frankfurt/M. 2003; Martin Roos, Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, Düsseldorf 2000. 78 Zum Folgenden Hans-Peter Geh, Stefan Georges Tod und Erbe, in: Neue Beiträge zur George-Forschung 20/1994, S. 51–62.

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II. Systematische Aspekte

über Berthold von Stauffenberg erst nach Berlin, dann nach Lautlingen, wo dieser Teil des Erbes 1944 nach dem Attentat auf Hitler von der Gestapo beschlagnahmt wurde. Die Bestände wurden in Leipzig eingelagert, von wo sie erst 1961 nach Genf kamen. Ein weiterer, von Mehnert in Überlingen deponierter Teil kam 1983 ins Stuttgarter Stefan George Archiv. Boehringer bemühte sich schon früh, verstreute Zeugnisse StGs zusammenzutragen, um sie einem noch zu gründenden Archiv zu überlassen. Ein Ergebnis dieser Arbeit war der 1938 erscheinende, unter den Georgianern wegen vermeintlicher Indiskretion umstrittene Briefwechsel StGs mit Hofmannsthal. Die Gründung eine Archivs und einer Stiftung als Nachlassverwalterin hatte StG testamentarisch verfügt. 1959 kam es zu diesem Akt, nachdem Boehringer mit Wilhelm Hoffmann dem Mitbegründer des Deutschen Literaturarchivs Marbach begegnet war, der auch maßgeblich für die Institutionalisierung des Hölderlin-Archivs in Bebenhausen verantwortlich war. Boehringer lehnte Marbach ab und folgte dem Hölderlin-Archiv nach Bebenhausen, wo das Stefan George Archiv von 1959 bis 1970 ansässig war. Der größte Teil des Nachlasses blieb jedoch in Genf und kam erst nach Boehringers Tod 1974 ins Archiv, das mittlerweile in die Stuttgarter Landesbibliothek umgezogen war. Dort befindet es sich bis heute; die Bestände werden nach Möglichkeit ergänzt, aufgearbeitet und mittlerweile auch digitalisiert. Dem Archiv steht bis heute ein Stiftungsrat vor.

6.6.

Pädagogik: Die ästhetische Erziehung aus dem Geist Platons

In den unbeschreiblichen Jahrzehnten vor dem Kriege, wo unsere Schule zu einem Lügenund Schutthaufen wurde, lebte ein großer deutscher Dichter, Stefan George, der eine ganze Generation nicht nur dichterisch sondern auch lehrend mit seinem Geiste durchdrungen hat in dem Maasse, dass schon heute Lehrstühle in den Universitäten Spuren dieses Geistes durchdringen. Hier haben wir das Urphänomen des Lehrers der Nation.79

Der Antipode Rudolf Borchardt formuliert in diesen Sätzen eine Einsicht zu StG, die einen wesentlichen Aspekt seines Lebenswerkes in Bezug auf die Kreisbildung erfasst: StG hat sich nach 1900 und besonders mit der Kreisentwicklung ab 1907 in immer stärkerem Maß als Pädagoge verstanden, der sich zur Führung der Jugend berufen sah. Doch schon vor der Existenz eines Kreises und lange vor der vermeintlichen pädagogischen Wende in der Lyrik hieß es 1894 in den BfdK: Von unsrer kleinen arbeiter- und leserschaft aus werden wir so sehr uns jede eigentümliche geistesäusserung willkommen ist ernstlich auf die forderungen der dichterischen erziehung und des geschmackes hinweisen und nach ,jener höchsten freiheit der bewegung‘ streben woraus erst das Werk entsteht.80

Bereits vor 1900 gab es bei StG also den Impetus zur Erziehung durch den Dichter, mit dem Medium der Kunst zur Ausbildung von Geschmack und Freiheit innerhalb 79 Rudolf Borchardt, Rede über Unterricht, Erziehung und Bildung, Bremen 1919, jetzt ediert in: Rudolf Borchardt, München 2007 (Text und Kritik Sonderband), S. 73–86, hier: 85. 80 Einleitungen und Merksprüche, in: BfdK 2/1894, 1, S. 9.

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einer Bewegung: Diese Wortwahl erinnert durchaus an Schillers Programm der ästhetischen Erziehung, das allerdings bei StG eine ganz eigene, platonische Ausprägung erfuhr. Pädagogik in StGs Verständnis hieß Rückbezug auf ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, das vom Eros in antiker Tradition geprägt war. In dem Gedicht „Belehrung“ heißt es programmatisch und biographisch: „Dein rechter lehrer bin ich wenn ich liebe . . / […] / Mein rechter hörer bist du wenn du liebst“ (IX, 87). Liebe als semantisch unscharfer Sammelbegriff für enge zwischenmenschliche, hier zwischenmännliche, Beziehungen war das Fundament der Pädagogik des Kreises. Erst aus diesem ungewöhnlich emphatischen Konzept legitimierte sich das „Selbstverständnis als Bildungselite“.81 Platonisch erotisierte und in diesem Sinn ,liebe‘-volle Pädagogik war der Weg zur umfassenden Bildung. Folgt man der Darstellung Carola Groppes,82 baute die Erziehung der Jugend im Kreis auf einer Re-Antikisierung, der Wiedergeburt antiker Kulturhöhe, auf. Die Rede vom ,schönen Leben‘ diente als Umschreibung einer Harmonie von gebildetem Körper und Geist nach dem Ideal der Kalokagathie. Bildung meinte umfassend auch die Formung des Körpers zur Anmut. Intendiertes Ziel der Erziehung des Kreises war die Erkenntnis des übergeschichtlich Wahren und Guten. Der Auftrag der Gemeinschaft des Kreises war die Bildung der Jugend zu ihrer Vollendung. Legitimatorisch berief man sich auf eine Ahnenreihe der großen dichtenden Erzieher von Goethe über Jean Paul bis hin zu Hölderlin, dem ab ca. 1910 immer größere Bedeutung zukam und der in ähnlichem Maß wie Platon wichtig wurde. Unausgesprochen und unhinterfragt war der Letzte in dieser Traditionslinie StG selbst. Orientierung stiftete also eine als sozial normativ interpretierte Antike83 und, über sie hinausgehend, die Gruppe der großen Männer. Der geschichtliche Täter und Held wurde zur vorbildlichen Gestalt, über die die Monographien der Jünger hagiographische geistesgeschichtliche Porträts entwarfen. Sie alle sollten in der Vorläuferschaft StGs stehen, sie alle hatten als monumentale Vorbilder eine pädagogische Funktion. In der Praxis wirkte StG erstmals in seinem – hierarchischen – Verhältnis zu Gundolf pädagogisch: Der ältere Dichter unterwies den jüngeren ästhetisch und lebenspraktisch, danach auch wissenschaftlich. In ähnliche Rollen kamen später alle Kreismitglieder StG gegenüber, auch wenn längst nicht alle so jung wie Gundolf waren, als ihre Jünger- und damit Schülerschaft begann. Aus Jüngern konnten dann später selbst Mentoren und Lehrer werden, die eine neue Generation an StG heranführten und eine Art Bindeglied darstellten. Sie wurden von der ,schönen Jugend‘ zu Mittlern, wie etwa Gundolf, vor allem auch Wolters und Morwitz. Es gab also durchaus Rollenwechsel im pädagogischen ,Staat‘. In den Reihen der zweiten Generation hieß Erziehung vor allem für Morwitz nicht nur die Anleitung zum Leben mit und durch Dichtung. Er betreute ganz lebensnah auch die Schul- und Berufskarrieren seiner Schützlinge, über deren Entwicklung er StG informierte. Die dritte Kreisgeneration setzte eine Theorie der Pädagogik in die Praxis um, die die vorhergehende zweite Generation noch aus StGs Lyrik hergeleitet

81 Groppe, Widerstand, S. 59. 82 Vgl. Groppe 1997, Kap. 9, S. 412ff. 83 Vgl. dazu die Beiträge im GJb 7/2008/2009, S. 1–141.

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II. Systematische Aspekte

hatte. Groppe nennt diese nur den Eingeweihten zugängliche Pädagogik ,hermetisch‘.84 Wichtigstes Medium der Erziehung war, neben den Begegnungen und Gesprächen mit StG selbst, das Gedicht. Hier ging es erstens um die Schulung der Aufnahmebereitschaft und um Kenntnis im Umgang mit großer Literatur, praktisch vor allem durch Lesen, Auswendiglernen und Rezitieren. „Das Lesen von Gedichten wurde dadurch zu einer Gemeinschafts- und Erziehungshandlung“.85 Die gemeinsamen Lesefeste in Wolfskehls Kugelzimmer, später im Berliner ,Achilleion‘, hatten dadurch neben ihren rituellen auch pädagogische Funktionen. Zweitens war stets auch an die eigene Lyrikproduktion gedacht. Deshalb haben so viele Jünger eigene Literatur hervorgebracht, mit durchaus wechselnder Qualität. Dichtung wurde zunehmend von einem Gegenstand der fast kultischen Verehrung zu einem „Element der ästhetischen Schulung“.86 Der Kreis entwickelte so seine eigene Ausdeutung von Schillers Postulat einer ästhetischen Erziehung. Die Pädagogik des Kreises bestand aber eher unaufklärerisch in der „Freiheit zur Bindung“87 an eine Gemeinschaft im Geiste unter der Führung eines Charismatikers. Karlauf betont, dass die Intensität und Dauer der Beziehungen von StG zu den Knaben und jungen Männern schwankte je nach dem Maß der Ergriffenheit auf beiden Seiten.88 StG wie die Schüler mussten die Begegnung als ein außerordentliches Ereignis begreifen. Die Kandidaten wurden danach allmählich aus ihrem gewohnten Umfeld gelöst und in die soziale Welt des Kreises eingeführt; das Tempo variierte dabei. Über die Häufigkeit und die inhaltliche Ausgestaltung der Begegnungen entschied allein StG. Im Prinzip galten untereinander alle Jünger als gleich, auch wenn es de facto immer Lieblingsschüler wie Gundolf gegeben hat, später etwa Kommerell. So bildete sich eine kleine Gemeinschaft, die gegen die Gesellschaft des Kaiserreiches und der Weimarer Republik gesetzt wurde: „Wenn der Elite-Gedanke des George-Kreises irgendwo festzumachen ist, dann in der stillschweigenden Übereinkunft, dass der zugrunde liegende Trieb ein pädagogischer war.“89 Freundschaft zu StG, aber auch untereinander, wurde durch den Platonismus einerseits gleichsam veredelt und andererseits wurde die latente Homoerotik, die bis zur Homosexualität Einzelner gehen konnte, zu einem Konzept der übergeschlechtlichen Liebe stilisiert, das StG in seinem Vorwort zu den Übertragungen der ShakespeareSonette angedeutet hatte. Zahlreiche Beziehungen der Jünger zu StG bewegten sich im Spannungsfeld von platonisch-pädagogischem Eros und der Körperlichkeit der Homoerotik, die sich im Kult des schönen Körpers ausdrückte. „Ohne […] Eros halten wir jede erziehung für blosses […] geschwätz“, wie die Herausgeber Gundolf und Wolters in der Einleitung zum dritten Jahrbuch für die geistige Bewegung schrieben. Eine erste intensivere Beschäftigung des Kreises und StGs mit Platon gab es erst ab 1909: Platon wurde mit den pädagogischen Interessen des Kreises gedeutet; umgekehrt wurde die Lyrik nun mit Platon gleichsam gegengelesen.90 Aus dieser Platon84 Groppe 1997, S. 430. 85 Vgl. Groppe, Widerstand, S. 70. 86 Groppe 1997, S. 464. 87 Ebd., S. 478. 88 Vgl. Karlauf 2007, S. 383ff. 89 Ebd., S. 388. 90 Vgl. II, 4.4.

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Begeisterung heraus wurde die erste große Platon-Studie aus dem Kreis von Heinrich Friedemann (1914) zur „kultische[n] Mitte der Gemeinschaft“.91 Friedemann folgten noch zahlreiche Arbeiten und Übersetzungen Platons nach, u. a. von Hildebrandt, Blumenthal, Singer, Salin, Boehringer. Platon und Platon-Rezeption wurden zu einem Arbeitsschwerpunkt des Kreises. Aus dem spezifisch georgianisch interpretierten Platon sollte der Beginn eines neuen Reiches erstehen. Das Mittel zum Zweck des neuen Reiches war die Pädagogik, deren Prinzip der Eros war.92 StG sah seinen Eros-Begriff folgerichtig bereits der platonischen Akademie zugrunde liegen, die dadurch zum Vorbild des Staates wurde bzw. der Staat deren legitimer Nachfolger. Edith Landmann schrieb von einer deutlichen Analogie der beiden Sozialformationen.93 Die aus dieser Stilisierung des platonischen Eros resultierenden und erwartbaren Vorwürfe, der Kreis sei lediglich ein Bund von Homoerotikern und Homosexuellen, forderten deutliche Erwiderungen heraus. Im Zusammenhang mit der Diskreditierung der modernen Frau in den Jahrbüchern schrieb Gundolf an Sabine Lepsius: Was Sie sich unter Jünglingsliebe vorstellen und unter unserer Vorstellung davon, liebste Frau Sabine, das ist teils das Schreckbild, das Weibchen geschaffen haben, die nur sexual denken können und die Konkurrenz fürchten, teils das Zerrbild struppiger Büchergreise, die sich nicht vorstellen können, wie sie ihre tintenfleckigen Flegel lieben sollten, kurz Phantasien einer Gesellschaft, der Gefühl und Schau des Gesamtmenschen als leibhaften Ausdrucks und Sinnbild eines Göttlichen abhanden kam […].94

Die pädagogisch gedeutete Homoerotik nötigte also einerseits zur Rechtfertigung der Sache selbst. Andererseits beeinflusste sie das Verhältnis des Kreises zu Frauen bzw. zur Weiblichkeit. Im dritten Jahrbuch wenden sich Gundolf und Wolters programmatisch gegen die moderne Frau, ausdrücklich nicht gegen die Frau als solche. Die Herausgeber stigmatisieren sie als stückhaft, fortschrittlich, gottlos. Die moderne Frau sei geradezu Allegorie des Fortschritts, zersetzend, entsubstanziiert und nicht mehr in der Lage, den großen Mann zu gebären. Darin liege der „primäre frevel“.95 Man warnt vor der Feminisierung der Gesellschaft und bindet die Weiblichkeitskritik in eine allgemeine Kulturkritik ein. Nach den Ausfällen im Jahrbuch für die geistige Bewegung wandte sich Gundolf nach Vorwürfen beschwichtigend und erklärend brieflich an Sabine Lepsius. Zur feminisierten, abgeleiteten und schwachen Welt zählten Männer und Frauen, weder Frauenfrage noch Jünglingsliebe hätten etwas mit Sexuellem zu tun: „Es handelt sich hier um Weltkräfte, nicht um Medizinalprobleme.“96 Diese Angriffe hatten programmatisch-ideologischen Charakter, im konkreten Kreisleben war der Umgang mit Frauen sehr viel differenzierter.97 Sie partizipierten zum Teil an den Treffen und wurden von StG auch als Gesprächspartnerinnen 91 Groppe 1997, S. 418; dazu Karlauf 2007, S. 401ff. 92 Vgl. Groppe 1997, S. 418. 93 Vgl. Edith Landmann, Stefan George und die Griechen. Idee einer neuen Ethik, Amsterdam 1971, S. 95. 94 F. Gundolf an S. Lepsius v. 3.8.1910, in: Friedrich Gundolf, Briefe. Neue Folge, Amsterdam 1965, S. 67. 95 Jb 3/1912, Einleitung. 96 F. Gundolf an S. Lepsius v. 3.8.1910, in: Friedrich Gundolf, Briefe. Neue Folge, Amsterdam 1965, S. 68. Dazu SL, S. 86ff.; Hanna Wolfskehl, in: RB I, S. 100ff. 97 Vgl. dazu Frauen um Stefan George, hrsg. v. Ute Oelmann u. Ulrich Raulff, Göttingen 2010 (CP N.F. 3).

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II. Systematische Aspekte

geschätzt, wohl aber nicht wirklich als gleichberechtigt angesehen. Edith Landmanns Transcendenz des Erkennens erhielt sogar das Signet der BfdK. Die misogyne Programmebene und die gelebte Praxis wichen durchaus voneinander ab, aber: Das pädagogische Konzept und das Erziehungsprogramm richten sich nur auf Männer/Jünglinge. Schon mit dem Entstehen des eigentlichen Kreises ab 1905/07 wurden Frauen allmählich aus den engsten Beziehungen, dem inneren Zirkel, an die Peripherie gedrängt.98 Dort begleiteten sie allerdings das Kreisleben zum Teil sehr lange und auch intensiv. Frauenfeindliche Thesen wie im Jahrbuch konnten sich durchaus auf die Lyrik StGs berufen, in der Frauen eine immer weniger wichtige Rolle im Verlauf des Werkes spielten und teils massiv kritisiert wurden, etwa im dritten Buch des Sterns des Bundes oder im Neuen Reich.99 Ernst Osterkamp stellt dar, wie StGs Sympathie mit einem „vormodernen Frauentypus“ dazu führte, dass seit den Hymnen „ein Prozess der textuellen Domestikation der Frau ein[setzt], der mit der poetischen Auslöschung des Weiblichen im ,Neuen Reich‘ seinen Abschluss findet.“100 Das Neue Reich „gründet auf der Auslöschung von Weiblichkeit“, für diese Reichsutopie sei die „Erlösung von der Moderne mit der Erlösung von Weiblichkeit identisch.“101 Die pädagogischen Konzepte und das Frauenbild StGs führten zu einer Geschlechterdifferenzierung in männlichen Geist und weibliche Stofflichkeit, was sich nach Osterkamp als ein allmählicher Prozess der Eliminierung des Weiblichen im Werk zeige. Osterkamp schließt: Die in diesen Gedichten entworfene schreckliche Geschlechtermetaphysik lässt sich nicht relativieren durch den Hinweis auf mildere und differenziertere Urteile Georges über die Ordnung der Geschlechter in Gesprächsaufzeichnungen oder durch den Verweis auf seinen lebenslangen Umgang mit intellektuellen Frauen.102

Zusammenfassend kann man festhalten: „Es gab im George-Kreis keine ausformulierte Erziehungstheorie.“103 Gedacht war an eine Einheit von Sprach- bzw. Literaturerziehung und der Erziehung zum schönen, hohen Leben, wodurch der Kreis zur platonisierten Erziehergemeinschaft wurde. Die hermetische Pädagogik StGs „war ein ambitioniertes Projekt der Erziehung und der Bildung, dem die schmale Gratwanderung zwischen ,Wahrheit‘ und ,Veranstaltung‘ jedoch nicht immer gelang.“104

6.7.

Gegnerschaften und Abgrenzungen

Mit dem ungeheuren Anspruch an sich selbst und die Literatur, die er und Gleichgesinnte produziert haben, war der Auftritt StGs im literarischen Feld Deutschlands kurz vor der Jahrhundertwende ein Ereignis und zugleich ein Skandalon. Die implizite und explizite Provokation des Literaturbetriebs durch die Programmatik des Sym98 99 100 101 102 103 104

Vgl. Groppe 1997, S. 140. Vgl. Osterkamp, Frauen. Ebd., S. 1012. Ebd., S. 1004. Ebd., S. 1008. Groppe 1997, S. 456. Ebd., S. 479.

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bolismus und Ästhetizismus sowie die damit einhergehende Bewertung aller anderen Literatur als unzeitgemäß musste zu heftigen Reaktionen führen. Gegnerschaften verstehen sich daher im Folgenden als Abgrenzung durch und von StG. Eingegangen wird nicht auf die programmatische Wendung der BfdK gegen den Naturalismus und den als ,Wirklichkeitskunst‘ verspotteten Realismus, sondern auf herausragende einzelne Gegner StGs wie Rudolf Borchardt und dessen Freund Rudolf Alexander Schröder beim Insel-Verlag. Das Verhältnis zu Hofmannsthal wird nur knapp berührt. Richard Dehmel ist wegen seiner Beziehung zu Ida Coblenz wichtig. Die Auseinandersetzungen mit Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff haben neben persönlichen Abneigungen ihre Gründe auch im unterschiedlichen Wissenschaftsverständnis der Beteiligten. Die Kosmiker-Krise ist eine Episode innerhalb der Entwicklung des Kreises und daher eher eine interne Auseinandersetzung. Einige Positionen prominenter Zeitgenossen StGs werden abschließend genannt. Rudolf Borchardt war, von außen betrachtet, der ,Gegenkönig‘ (Breuer 1995) StGs im literarischen Feld der Zeit. In der ästhetischen Theorie und durch das Projekt einer kulturellen Erneuerung der Gegenwart waren sich beide durchaus sehr nah; gerade deshalb wurde Borchardt von den Kreis-Mitgliedern als Konkurrent missachtet und als „Mauschel-pindar“105 oder „Dantevermauscheler“,106 unter Bezug auf seine mit StG konkurrierende Übersetzungsarbeit, diskreditiert. Umgekehrt griff Borchardt, dessen öffentliche Wahrnehmung nicht mit der StGs zu vergleichen war, seinen Widersacher immer wieder an, weil er ihm eine falsche Entwicklung, gerade im Sozialen, bei einem glänzenden, frühen lyrischen Potenzial vorwarf.107 Borchardts Verhältnis zu StG war ambivalent und schwankte zwischen Begeisterung für wesentliche Teile der Lyrik und radikaler, meist diffamierender Kritik am Herrscher eines Kreises. Persönlich sind sich die beiden nie begegnet. Seit 1898 verfolgte Borchardt nachweislich die BfdK, die er wegen der Lyrik StGs sehr schätzte. Für ihn hatte die Lektüre von StG und Hofmannsthal epochale Bedeutung. Auch da diese Wertschätzung nur einseitig war und durch StG keineswegs erwidert wurde, ging Borchardt schrittweise in seinen Kritiken und Rezensionen auf Distanz, was schließlich in die zu Borchardts Lebzeiten nicht publizierte Total-Verwerfung Aufzeichnung Stefan George betreffend mündete. Allerdings waren Borchardts Einschätzungen nicht einmütig, seine langfristige Abkehr verläuft nicht linear chronologisch. Borchardt hatte StG früh Drucke seiner Gedichte zur Lektüre übersandt,108 war aber nicht begeistert aufgenommen worden. Zu einem persönlichen Treffen kam es auch deshalb nicht, weil Borchardt die kritisierten Texte dann bei der Insel, dem Konkurrenzorgan zu den BfdK, publizierte. Borchardt hat nach der ersten Annäherung nach 1900 nie mehr versucht, ein Beiträger der BfdK zu werden, obwohl er StG bis 1906 verehrte und in der Rede über Hofmannsthal (1902) auch lobte. Jüngertum entsprach ohnehin nicht seinem Selbstverständnis. Er sah sich auf gleichem Niveau 105 H. Wolfskehl an F. Gundolf v. 10.11.1909, in: W/G II, S. 82. 106 K. Wolfskehl an F. Gundolf v. 17.9.1930, in: W/G II, S. 223. 107 Zu Borchardt: Kai Kauffmann, Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“. Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion im essayistischen Werk, Tübingen 2003, S. 255–295; Kolk 1998, S. 296–311; Breuer 1995, S. 148ff.; Osterkamp, Nachwort. 108 Vgl. Borchardt/Heymel/Schröder, S. 144.

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II. Systematische Aspekte

und in der gleichen Rolle wie StG. Aus dieser Konkurrenz heraus ergab sich das gespannte Verhältnis der beiden Dichter: Borchardt wollte sich nicht unterordnen, StG akzeptierte niemanden neben sich. In ihren politischen und ästhetisch-poetologischen Konzepten waren sich beide durchaus nah. Die Mitarbeiter der BfdK, mit Ausnahme Hofmannsthals, und den späteren Kreis lehnte Borchardt vor allem wegen fehlender ästhetischer Qualität ihrer Lyrik ab. Er hatte allerdings Kontakt zum Zirkel um Breysig und über den ehemaligen Kommilitonen Julius Landmann mit Boehringer in Basel, ab 1905 auch zu Wolters in Niederschönhausen. StG hat die Kontakte seiner Anhänger später unterbunden, zur lebenslangen Empörung Borchardts. Ganz explizit eingegriffen hat er im Fall Boehringers. Anfang 1906 warnte StG Boehringer in einem Brief vor Borchardt. Dieser Brief bzw. dessen Inhalt war durch eine Unvorsichtigkeit Boehringers zur Kenntnis Borchardts gelangt, der daraufhin am 14.1.1906 StG einen, den einzigen, langen Brief schickte und sich jeden Eingriff in persönliche Kontakte scharf verbat.109 Borchardt schreibt sich in diesem Brief die Rolle des gleichrangigen Konkurrenten zu und erklärt StG den Krieg. StG hat auf diesen Brief der Selbstüberschätzung nicht reagiert. In Wolters’ ,Blättergeschichte‘ tauchte Borchardt symptomatisch später nicht mehr auf. Zu Wolters (bis 1908) und den Landmanns bestanden die Kontakte länger. Erst das Intermezzo (1910) brachte das Ende aller persönlichen Verbindungen zum Kreis. Borchardt aber schrieb zu Wolters’ Tod noch einen Nachruf. Die intensiven Auseinandersetzungen zwischen den Georgianern aus der Zeit des Jahrbuchs für die geistige Bewegung (1910–1912) und den „Inselhausliierten“110 beruhten auf schon länger währenden Konkurrenzen zwischen den Mitgliedern beider Gruppen. Rudolf Alexander Schröder, Freund Borchardts und einer der Insel-Autoren, wurde schon seit der Jahrhundertwende argwöhnisch wegen seiner Mitbegründerschaft der Insel und seines Verrisses der Jean Paul-Auswahl StGs und Wolfskehls im ersten Jahrgang der Insel (1899) beobachtet. Wolfskehl schrieb über ihn an Gundolf, „dass der ARSch[röder]“ ihn überraschend besucht habe (W/G I, 135). Schröder griff zudem 1909 in den Süddeutschen Monatsheften den letzten Auswahlband der BfdK an und wandte sich scharf gegen den Maximin-Kult. Abschließend kritisierte er die Kreismitglieder. Gundolf witterte schon 1908 „einen Angriff“ durch Borchardt aus „seinem Heymelwinkel“. Zudem argwöhnte er eine Attacke auf seinen Shakespeare (W/G II, 70). Zu den persönlichen Abneigungen der Mitglieder beider Gruppen kam die literarische Konkurrenzsituation hinzu. Die Insel war ein Gegenorgan zu den BfdK. Borchardt publizierte ab 1901 dort; der von StG für sich beanspruchte Hofmannsthal gehörte zum Beiträger-Kreis. Diese mediale Konkurrenz verschärfte sich noch. 1909 erschien im Insel-Verlag einmalig das Hesperus-Jahrbuch von Hofmannsthal, Borchardt und Schröder mit einer Kritik Schröders am Jean Paul-Bild StGs und des Kreises in der Anthologie Deutsche Dichtung. Das Hesperus-Projekt zielte auf die geistige Führung der Nation, besonders aber der Jugend – geradezu georgianische Gedanken, die die Dominanz StGs bei der Erziehung der Jugend durch Schönheit und Bildung infrage stellten bzw. eine Alternative bilden wollten. Zentralautor war der 109 Dazu Kai Kauffmann, Von Minne und Krieg. Drei Stationen in Rudolf Borchardts Auseinandersetzung mit Stefan George, in: GJb 6/2006/2007, S. 55–79, hier: 59ff. 110 K. Wolfskehl an F. Gundolf v. 19.9.1903, in: W/G I, S. 193.

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von StG so heftig umworbene Hofmannsthal, den Borchardt zwischenzeitlich immer wieder gegen StG in Stellung brachte. Im Hesperus veröffentlichte Borchardt als Kernstück des Bandes seine Besprechung Stefan Georges Siebenter Ring, in der er zwar dessen lyrische Verdienste anerkannte, aber auch Kritik an den Gedichten formulierte und vor allem StG zur bloß noch historischen Person erklärte, die „außerhalb des Kampfes, den wir kämpfen“, stehe.111 StG sei Ausdruck des Übergangs. Es ist ein „durch und durch polemischer Text“.112 StGs Anspruch, die ästhetische Avantgarde und das eigentliche Vorbild einer neuen Jugend zu sein, wurde von Borchardt bestritten. Damit griff dieser die zwei für StG wohl wesentlichsten Aspekte seines Werkes und seines Wirkens an. Nach dieser Kritik setzte Borchardt sich nicht mehr intensiv mit der Lyrik StGs auseinander; alle weiteren Angriffe richten sich gegen die (Kreis-)Politik. Die Ausfälle der Hesperus-Autoren, besonders diejenigen Borchardts, führten im Kreis zu einer publizistischen Gegenreaktion, die in der Herausgabe des schon länger bedachten Jahrbuchs für die geistige Bewegung bestand. Gundolf reagierte im ersten Band implizit auf Borchardts Rezension. Sie bleibt unerwähnt, obwohl er ihn im Essay Die Gestalt Stefan Georges als unkünstlerischen „gehirn-fanatiker“ bezeichnete.113 Gundolf war der Meinung, Borchardt sei „überhaupt nichts, wenn es keinen Hofmannsthal gäbe“.114 Zu dessen Dante-Übertragung, die natürlich auch mit dem Dante-Kult und Dante-Bild des Kreises konkurrierte, äußerte er, es sei „das stationäre Deutsch der russischen Juden“.115 So sei Borchardt kein Dichter, sondern nur „historiker durch superfötation des gedächtnisses“.116 Das Jahrbuch erkannte die vermeintliche Konkurrenz durch die Insel-Autoren schlicht nicht an. Nach der Besprechung des Siebenten Rings im Hesperus wurde Borchardt mit seinem Essay Intermezzo (1910) in den Süddeutschen Monatsheften und Gundolfs Antwort darauf schließlich zum allenthalben sichtbaren Feind StGs bzw. des Kreises. Das Intermezzo äußerte sich nicht zur Lyrik StGs. Borchardt erhob Fälschungsvorwürfe gegen Kreis-Mitglieder und diskreditierte seine Gegner auch durch sexuelle Anspielungen, was in Zeiten des §175, der Homosexualität unter Strafe stellte, ein großes Risiko war. Borchardt sprach von einem „Muckerhäuflein“ in Bezug auf den Kreis, der StGs „Drachensaat“ darstelle.117 Gundolf sei bloßer „Schriftsteller“ (S. 435), der „nichts geleistet, wenig gelernt“ habe (S. 440), nur ein „hübsche[s] Jüngelchen“. Der ganze Kreis erkenne gar nicht, was man Borchardt verdanke. Man müsse die Jugend vor den „Ädikula der neuen Heiligen Manlius und Maximin beschützen“ (S. 437). Für den Kreis gelte: „Man kann nichts, man zeugt nichts, man schafft nichts“; in den BfdK stehe „immer greulicherer, pauvrerer Quark“ (S. 438). Als Strafe schlug er in böser Ironie vor, Gedichte Heiselers zu lernen oder den Ulais von Wolfskehl zu lesen. Die BfdK seien, von Hofmannsthal und Andrian abgesehen, 111 Rudolf Borchardt, Stefan Georges ,Siebenter Ring‘, in: Ders., Prosa I, Stuttgart 1957, S. 258–294, hier: 292. 112 Osterkamp, Nachwort, S. 183. 113 Jb 1/1910, S. 37f. 114 Ebd., S. 33. 115 Ebd. 116 Ebd., S. 30. 117 Rudolf Borchardt, Intermezzo, in: Ders., Prosa I, Stuttgart 1957, S. 435–468, hier: 436, im Folgenden die Nachweise direkt im Text.

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ein „triste[s] Seminar von Pfaffenlyrik“ gewesen, das „zweite […] Fallstaffsche […] Aufgebot“ (S. 454). Der ihnen folgende Kreis der zweiten Generation ist für Borchardt ein „Syndikat der Seelen“ (S. 461). Angriffe dieser Art und auf diesem Niveau, eine „maßlose Polemik“118 vor allem gegen Gundolf und Wolfskehl, waren allerdings auch Menschen wie Max Weber, der StG differenziert sah, zu harsch. Er verurteilte sie als „schwere Entgleisung“119 und protestierte beim Herausgeber. Nach der Veröffentlichung informierte Gundolf StG am 25.11.1910: Nach Münchener Mitteilungen, die ich weder nachprüfen will noch kann, scheint die zu erwartende Stinkbombe [das Intermezzo] geplatzt zu sein, und zwar in einer Weise, die den Werfer für alle Zeiten gründlicher erledigt, als es sein bitterster Feind ihm wünschen kann. Ich werde mich nun nicht mehr um das absolut Nichtige kümmern … (G/G, 214f.)

Bis in die 1920er-Jahre hinein äußerte sich Borchardt anschließend nicht mehr ausführlicher zum Thema StG und sein Kreis. 1928 veröffentlichte er Die Gestalt Stefan Georges zum sechzigsten Geburtstag, einen Text, der StG wiederum als Machtpolitiker und Repräsentanten des Interregnums zeichnet. Die Lyrik der zweiten Lebenshälfte zählt für ihn nicht. Zwei weitere, spätere Texte gehen aber noch weiter: In dem Gedicht „Unterwelt hinter Lugano“ aus den Jamben und der Aufzeichnung Stefan George betreffend (um 1935 entstanden) wird der ursprünglich nur literarische Konkurrent StG geradezu verteufelt wegen seiner vermeintlichen Homosexualität und, damit zusammenhängend, der Verführung der Jugend sowie, wenn auch nicht so deutlich, der Vorläuferschaft des Nationalsozialismus. Beides wird auch noch aufeinander bezogen.120 In dem seltsamen Geistergespräch des Jambus ist es Asmodi selbst, der dem toten StG den Auftrag erteilt habe, das Werk der Zeugungen zu unterbrechen, bis der „verteufelte Gott und vergottete Leib“ der Welt die „Flötentöne“ beibringe – Anspielungen auf StGs Verse vom vergotteten Leib und dem verleibten Gott.121 Über den Kreis und sein geistesaristokratisches Konzept des Neuen Adels, der stammlos in neuplatonischer Erziehungstradition wachsen sollte, spottete er: „Statt von Papa und Mama Neudeutschland von der Tante stammt“: Meister StG folgte Meister Asmodi.122 Aber Borchardt erhielt sich auch in den Schriften der 1920er-Jahre die respektvolle Position zu Teilen der Lyrik, weil er nun rückblickend sowohl StG wie Hofmannsthal als große Autoren mit dem Versuch der Kulturreformation anerkannte, die aber – trotz ihrer gewaltigen Leistung – letztlich gescheitert seien. Borchardt distanzierte sich damit auch von Hofmannsthal. Motiv hierfür mag sein, dass Borchardt sich nun in der Lage sah, beide Konkurrenten, denn als solchen sah er wohl auch Hofmannsthal mittlerweile, in ihrer Rolle abzulösen. In fast absurder Hybris beschrieb er seine Mission 1932 so: „Restauration deutscher Kulturtotalität aus ihren gesamten geschichtlichen Beständen.“123

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Breuer 1995, S. 151. Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, München 1989, S. 468. Vgl. Osterkamp, Nachwort; Breuer 1995, S. 149. Borchardt, Jamben, S. 26. Ebd., S. 27. Borchardt/Heymel/Schröder, S. 391.

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Borchardt hat den Dichter StG grundsätzlich geschätzt, den Kulturpolitiker, der sich für ihn seit 1907/10 in den Vordergrund schob, aber scharf kritisiert, was mit Borchardts Affekt gegen das Homoerotische und -sexuelle zusammenhing.124 Aus diesem Grund hat er sich auch gegen Teile des Werks gewendet, die er nicht als Ausdruck von Lyrik, sondern von Weltanschauung verstand. Der Nachruf Stefan George (Dezember 1933) gehört ebenfalls in die Reihe von Borchardts Denunziationen StGs und des Kreises als homosexuelle Verführer der Jugend. Insgesamt war Borchardt mit seiner Vorstellung einer restaurierenden, schöpferischen und damit auf den Werten und Regeln des Ästhetischen gründenden Restauration zur Rettung der Gegenwart und der Nation nah an StGs Projekt einer ästhetischen Erziehung der Jugend und der Rekonstitution der Bildung. Aus dieser Nähe erwuchs die Rivalität, die aufseiten des Kreises zur Ablehnung Borchardts führte, der schließlich vom Kreis ignoriert wurde, und zu der stets ambivalent-kritischen Haltung Borchardts, der der Lyrik StGs nicht pauschal die Anerkennung versagte. Er stellte ihn zeitweise neben den von ihm verehrten Hofmannsthal, bis er sich in den 20er-Jahren auch aus dieser Bindung löste und StG schließlich historisierte. Im Fall Hugo von Hofmannsthals kann man nicht von Gegnerschaft sprechen; aber es gibt einen Prozess der Distanzierung und Lösung StGs von Hofmannsthal, der dazu führte, dass der eigentlich so geschätzte Dichter im Kreis kritisiert wurde. Die erste Begegnung StGs mit Hofmannsthal fand in Wien im Dezember 1891 statt, als sich StG in einer Lebenskrise befand.125 Der um sechs Jahre jüngere Hofmannsthal zögerte, war unsicher; StG glaubte, endlich seinen „Zwilling“ gefunden zu haben (G/H, 12f.).126 Hofmannsthal wies in den folgenden Wochen die Annäherungsversuche zurück, sodass es zum Streit mit dem verletzten StG kam, der nach einem Treffen im Januar und folgenden Auseinandersetzungen, auch mit dem Vater Hofmannsthals, abreiste. Die Kommunikation verlief über vieldeutige Briefe und Gedichte, klare Aussagen fehlten, vor allem solche, die die offensichtlich vorhandenen erotischen Dimensionen der Begegnung berührt hätten. StG hat nie wieder seine Gefühle einem anderen gegenüber so offen eingestanden. Hofmannsthal konnte mit dieser zwischenmenschlichen Dimension kaum umgehen. Diese Last eines ungeklärten Verhältnisses blieb von nun an bestehen. Trotz des schwierigen Beginns, der typisch für eine Beziehung ist, die aus ständig wechselnder Nähe und Distanz besteht, arbeitete Hofmannsthal von der ersten bis zur siebten Folge an den BfdK mit. Die von StG erhoffte „heilsame Diktatur“ in der Dichtung war für Hofmannsthal aber wohl nie ernsthaftes Thema, zu sehr fürchtete er die Person StG, dessen Lyrik er so schätzte. Ein Zeugnis dieser Anerkennung ist das Gespräch über Gedichte, ein fiktiver Dialog, in dem Hofmannsthal zwei Figuren über StGs Lyrik und Poetik nachdenken lässt. Zu einer festeren Bindung war Hofmannsthal nicht bereit. Mitte der 1890er-Jahre kam es wiederholt zu Annäherungen durch StG und Rückzügen Hofmannsthals, der sich nicht ausschließlich an die BfdK binden mochte, sich zeitweise entzog und einigen Beiträgern kritisch gegenüberstand. Den völligen Bruch riskierte er (noch) nicht, aber es kam immer wieder zu langen Kommunikationsabbrüchen. Die fast singuläre Wertschätzung durch StG bezeichnet, dass StG entgegen aller seiner Gewohnheiten selbst ver124 Vgl. Breuer 1995, S. 154. 125 Vgl. ¤ Hugo von Hofmannsthal; Karlauf 2007; Breuer 1995, S. 128ff. 126 Vgl. dazu Breuer 1995, S. 128ff.

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II. Systematische Aspekte

suchte, Hofmannsthal ab 1895 wieder zu gewinnen, auf ihn zuging und auch Zugeständnisse machte. Abermals folgte eine Zeit des Schweigens, ab 1902 hatten sie wieder Kontakt. Ein letzter Versuch der Zusammenarbeit, zu dem auch die Widmung und fast allegorische Anlehnung der Figuren in Hofmannsthals Das gerettete Venedig (Druck 1905) gerechnet werden können, war letztlich aussichtslos. StG verwarf das Stück, in dem er das Verhältnis der beiden Dichter überdeutlich auf der Bühne sah, wie er überhaupt das Interesse am Theater gar nicht teilte. Wolters hat die Entwicklung Hofmannsthals von einem begabten Lyriker zu einem bloßen Dramatiker und Librettisten damit erklärt, er habe die Führung durch StG verschmäht (FW, 287). Der Briefwechsel, der Auskunft über das prekäre Verhältnis gibt, endete nach 15 Jahren im März 1906. Von nun an war Hofmannsthal für StG kein Partner mehr; eine große lyrische Hoffnung und persönliche Beziehung StGs hatte sich endgültig zerschlagen. Hofmannsthal war für eine Bindung an einen Charismatiker ungeeignet gewesen. Vor allem Gundolf, aber auch Wolfskehl wandten sich in der Folge, gleichsam stellvertretend, zunehmend scharf von Hofmannsthal ab, der so von einem Umworbenen zu einem Missachteten wurde. Wolfskehl bezeichnete ihn 1911 nicht mehr als Dichter, der sei 1906 gestorben, der Librettist ein Vetter (ES, 222). Gundolf schrieb Parodien in Hofmannsthals Stil und Ton.127 Auch im Briefwechsel mit StG äußerte sich Gundolf zum Teil sehr scharf. Im Umfeld der Trennung schrieb er 1905 an StG: „Du hast wohl HvH in Wien getroffen [nicht belegt], ich lese eben seinen Aufsatz über Wilde im Tag [Berliner Zeitschrift]. – nicht übel, aber doch immer mehr glatt geölte virtuose Manier“ (G/G, 162). Nach dem Bruch wurde er noch deutlicher: Dass Hofmannsthal immer neue Unerquicklichkeiten oder Ungeheuerlichkeiten begeht ist traurig genug – diese Blätter-Handelsgeschichte [Hofmannsthal hatte Gedichte von Otto von Holten zurückverlangt, vgl. G/H, 227f.] ist mir zuerst gar nicht so aufgefallen, nur als eine neue Bestätigung seines nicht immer anständig regen Geschäftsgeists – (Ahnen die im Totenhemd! [bezieht sich auf Hofmannsthals Terzinen]) Es gehört zum Widerwärtigsten einen Menschen der soviel mit bekommen hat, dass man ihn bewundern muss, von der andren Seite her verachten zu müssen und in so reiner Kristallisation wie H.v.H. hat dies Beispiel wohl noch keiner geliefert. (G/G, 174)

Der Vorwurf der Einheit von Genialität und fehlender Haltung wurde sogar auf die Familie ausgedehnt: Hugo von Hofmannsthal hat einen 4jährigen Sohn der schon dichtet: dieser verfasste unter andrem folgende Verse: Der Igel ist ein liebes Tier: / Ich mag ihn nicht: er stichelt mir. Ist das nicht ganz der Vater, in zwei Zeilen, als ob nichts geschehen wäre, seine Bewunderung, seine Abneigung und ein Faktum zu vereinigen? Mit derselben Geste eine Huldigung und eine Verräterei anzubieten! (G/G, 236)

1912 folgte schließlich ein finaler Vorwurf: „Und H. als Polemiker! ist sogar eine neue Erfahrung. Jetzt könnte er ja zur Not sein eigner Borchardt werden“ (G/G, 239). Erst 1930, nach der Trennung von StG, hatte der mittlerweile bereits schwer magenkranke Gundolf ausreichenden Abstand, in einer Rezension der frühen Schriften 127 Vgl. Sandra Pott, Parodistische Praktiken und anti-parodistische Poetik. Friedrich Gundolf über Goethe, Hölderlin, Platen, Heredia und Hofmannsthal, in: Euphorion 100/2006, S. 29–77.

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Hofmannsthals dem vormals Verworfenen gerecht zu werden. Er beurteilte die Essays nun wieder als Werke eines „Weltkenners und Sprachmeisters“, eines „Genius“, die den „Zauber“ von „reifen Meisterwerke[n]“ haben. Es bleibe ein „sittlicher Ruhm Hofmannsthals über seine Kunst hinaus. Dies Ethos des Alles-Verstehens um des AllErscheinens willen ist sein Dämon gewesen.“ Der Dichter habe schon hier erkennbar um „Weltgerechtigkeit“ gerungen.128 Gundolf kam Hofmannsthal nach dessen Tod und zum Ende des eigenen Lebens hin erst wieder nah, woraus man auch ersehen mag, wie stark die Urteile Gundolfs und anderer aus dem Kreis unkritisch den Verdikten StGs folgten. Auch Wolfskehl suchte erst 1926 einen näheren Kontakt zu Hofmannsthal – lange nachdem er zu StG auf Distanz gegangen war. Ähnlich verlief die Entwicklung bei Kommerell, der nach seiner Lösung von StG, der Ablehnung des Erbes und der Isolation durch den Kreis seine Frankfurter Antrittsvorlesung hoch symbolisch Hofmannsthal widmete, wenn er auch nicht unkritisch war. In seiner Kreis-Zeit wäre dies unmöglich gewesen. Kommerell vermied explizit die Wertung der Trennung der zwei sich gegenseitig so wertschätzenden Dichter: „Ihr Auseinandertreten hat etwas Vorbestimmtes. Zu richten sei dem überlassen, der es als Bedingter muß oder als Unbedingter darf.“129 In ihren Urteilen waren beide Beteiligte offensichtlich ,bedingt‘. Die Auseinandersetzung mit Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff ist anders gelagert, da es sich beim Streit der Georgianer mit dem renommiertesten Altphilologen seiner Zeit um Diskussionen zum Wissenschaftsverständnis und zum Umgang mit dem Erbe der griechischen Antike handelt.130 Als Konflikt, der mit der Literatur nur mittelbar zu tun hatte, sehr viel aber mit dem Konzept der Wissenschaft, trugen ihn vor allem die Jünger aus, StG blieb weitgehend im Hintergrund. Wilamowitz stand in der Tradition einer frühen Philologie, die sich um Nüchternheit, Vorurteilsfreiheit und Distanz zum Gegenstand auszeichnete. Durch diesen Ansatz sahen sich die Schriften vor allem der Klassischen Philologie häufig dem Vorwurf des Unmusischen ausgesetzt. Ähnlich dachte man im Kreis von Wilamowitz. Hildebrandt, der in Berlin bei ihm Vorlesungen gehört hatte, formulierte im ersten Band des Jahrbuchs die Vorwürfe des Kreises. Es war ein Angriff auf die vermeintliche ästhetische Unsensibilität und Unempfänglichkeit von Wilamowitz, die einem Kunstwerk inadäquat sei. Zudem habe er die Kunst dem Publikumsgeschmack angepasst und so dem Bürger zugänglich gemacht. Statt der Kunst diene Wilamowitz’ Arbeit der Moral. Ein Hauptproblem bestehe in der Vermittlung der antiken Kunstwerke. Wilamowitz verstoffliche und verniedliche die Antike, seine Vorstellung sei letztlich trivial.131 Hier drückt sich auch aus, dass man im literarischen Feld des Spätwilhelminismus uneinig war, was und wie die Antike überhaupt zu sehen sei. Das Antikebild des professionellen Philologen Wilamowitz unterschied sich in Nüchternheit und Historisierung völlig von dem des Kreises, das in Hellas überzeitlich gültige Werte und Haltungen suchte und fand, die 128 Friedrich Gundolf, Loris, in: Gotthard Wunberg (Hrsg.), Hofmannsthal im Urteil seiner Kritiker, Frankfurt/M. 1972, S. 388–392. 129 Max Kommerell, Hugo von Hofmannsthal. Öffentliche Antrittsvorlesung, in: Gotthard Wunberg (Hrsg.), Hofmannsthal im Urteil seiner Kritiker, Frankfurt/M. 1972, S. 392–402, hier: 394. 130 Dazu Ulrich K. Goldsmith, Wilamowitz and the „George-Kreis“. New Documents, in: Ders., Studies in comparison, New York 1989, S. 125–162; Schwindt, Plato. 131 Vgl. III, 6.3.; II, 3.2.

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II. Systematische Aspekte

es zu pflegen und erhalten galt. Philhellenismus und der Glaube an die Ergänzung des deutschen Menschen durch die griechische Kultur waren Wilamowitz hingegen fremd. Auch die Vorstellung von Person und Philosophie Platons differierte: Der Kreis sah ihn als charismatischen Lehrer, seine Akademie in der Vorläuferschaft des Kreises. Wilamowitz aber sah in der Akademie eine Institution freien Denkens. Die einen suchten den Staat der ästhetischen Menschen, der andere hatte einen etatistischen Staats-Begriff, der ihn auch bei seiner Plato-Lektüre leitete. Für die Mitarbeiter des Jahrbuchs war klar, dass man es einem solchen Philologen nicht überlassen durfte, der Jugend sein Bild der Antike zu vermitteln – er wusste ihnen zu wenig vom pädagogischen Eros. So nannte Gundolf Wilamowitz einen „Hellasfälscher“, die Polemik Hildebrandts im Jahrbuch erschien ihm „höchst vorzüglich“ (W/G II, 83). Einen Einzeldruck der Schrift hatte Bondi jedoch abgelehnt (KH, 45–93). Das Jahrbuch konnte gleich im ersten Band zwei wichtige Gegner in den Blick nehmen: Gundolf handelte von Borchardt, Hildebrandt kanzelte mit Wilamowitz gleich die ganze positivistische Philologie ab. Hildebrandt hatte auch deshalb die Unterstützung von StG, weil dieser von drei älteren parodierenden Sonetten auf ihn wusste. In einem hatte Wilamowitz in Anspielung auf die schlichte äußere Erscheinung der BfdK vom „Mausegrau der Impotenz“ und von „stilvolle[m] Stumpfsinn“ gesprochen.132 Auch in diesem Konflikt vermischten sich Persönliches und Programmatisches. StGs Ablehnung Richard Dehmels hat sowohl ästhetische wie private Gründe, wobei schwer zu entscheiden ist, welche gravierender waren.133 StG lehnte den Menschen Dehmel schon deshalb ab, weil ausgerechnet dieser Dichter, dessen Lyrikverständnis er ohnehin nicht nachvollziehen mochte, mit Ida Dehmel-Coblenz die einzige Frau heiratete, für die sich StG in seinem Leben ernsthaft interessiert hatte und um die er länger und vergeblich geworben hatte. Einige der anrührenden Liebesgedichte aus den Hängenden Gärten sind Ida Coblenz gewidmet. StG kannte sie aus seiner Binger Heimatstadt, um ihre Freundschaft und Liebe warb er von 1892 bis 1896. Von dieser einseitigen Liebe zeugen insgesamt fünf Zyklen des Werkes. Ida Coblenz verehrte zwar den Dichter StG und schätzte seine Freundschaft; der Mann aber irritierte sie in Habitus und Aussehen eher. Nach einer ersten, unglücklichen Ehe mit dem Berliner Textilhändler Leopold Auerbach heiratete sie 1901 in London Richard Dehmel, den sie als Dichter ebenfalls schätzte und StG schon 1892 für die BfdK empfohlen hatte.134 StG war über diese Empfehlung, ungleich mehr über die spätere Affäre und Heirat entsetzt. „Wie kein zweiter verkörperte Dehmel alles, was George zuwider war.“135 In einem Brief an Hofmannsthal, der Dehmel ebenfalls anerkannte, sprach StG von „völlige[m] mangel an künstlerischer begabung“, seine Lyrik „gehört für mich zum schlechtesten und widerwärtigsten was mir in die hände kam“, es herrsche „kunstarmut und seelenniedrigkeit“ (G/H, 119f.). Dieser Einschätzung widersprach der große Publikumserfolg Dehmels, der es verstand, aus seinen zahlreichen Affären literarisches Kapital zu schlagen – auch dies ließ ihn gewiss nicht in StGs Wertschätzung steigen. 1895 versuchte Ida Coblenz, damals Auerbach, StG für die Zeitschrift Pan interessant zu machen. So lernte sie Dehmel kennen, der in der Redaktion war. 132 133 134 135

Schwindt, Plato, S. 240. Zu Dehmel und Coblenz vgl. Karlauf 2007, S. 134f. Vgl. ¤ Ida Coblenz. Karlauf 2007, S. 137.

6. Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaften

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StG war an einem Auftritt im Pan interessiert, aber bevor es zu einem Druck kam, schied Dehmel aus der Redaktion aus. Er und Ida wurden ab Herbst ein Paar, obwohl sie verheiratet und schwanger war. Der Kontakt war ironischerweise also über StGs Lyrik zustande gekommen. Dehmel pflegte aber weiter die Beziehung zu seiner Langzeitgeliebten Hedwig Lachmann. Im November 1896 begegnete StG dem verhassten Opponenten bei Ida, woraufhin er den Kontakt mit ihr beendete und sie nie wieder sah. Dehmel war für StG mithin die Verkörperung all dessen, was er literarisch und sozial ablehnte; dass er ihn in seiner Wahrnehmung von Ida trennte, machte das Urteil unverrückbar. Die Kosmiker-Krise im Winter 1903/04 stellt einen Einschnitt in der Geschichte des Kreises dar. StG und Karl Wolfskehl hatten seit dem Frühjahr 1897 Kontakt mit den sogenannten ,Kosmikern‘ Alfred Schuler und Ludwig Klages, bis 1901 gehörte auch Ludwig Derleth ins Umfeld dieser Schwabinger Esoterik-Gemeinschaft. Alle Kosmiker hatten in den BfdK publiziert; die lose zusammenhängende Gruppe hatte sich also aus dem Beiträger-Kreis gebildet, ist aber nicht zum Kreis um StG im eigentlichen Sinne zu rechnen. Unterschiedliche ästhetische Konzepte, die vor allem Schuler und Klages vertraten, standen zunehmend im Widerspruch zu StGs Vorstellungen: War Kunst eine Sache des, tendenziell jüdischen, Geistes oder der Seele? Für Klages und Schuler bestand StGs Aufgabe darin, eine neue Religiosität in die Praxis des Lebens zu überführen, nicht aber darin, Gedichte zu schreiben. Dazu gab es bei ihnen einen im manichäischen Denken begründeten Antisemitismus, der sich vor allem von Klages aus gegen Wolfskehl richtete, und es gab den Versuch Klages’, Einfluss auf die BfdK zu nehmen: So kam es im sogenannten ,Schwabinger Krach‘ 1904 zum Bruch StGs und Wolfskehls mit den Kosmikern. „Hysterie, Klatsch und Eifersucht“ spielten dabei eine Rolle.136 Wolfskehl nahm den Streit so ernst, dass er sich mit einem Taschenrevolver bewaffnete, weil er den internen Treueschwur gebrochen hatte und daher Rache befürchtete. Schon im April 1899 hatte StG fast panisch auf die unheimliche Atmosphäre bei einer Lesung Schulers reagiert, die er eilig verließ. Thomas Karlauf rechnet gleichwohl die Schwabinger Erfahrungen StGs, die berühmten Maskenfeste und die Teilhabe an den Gedanken und Theorien der Kosmiker, zu den Voraussetzungen des späteren Maximin-Mythos,137 der die Antwort auf die Herausforderungen der Kosmiker – die Suche nach ästhetischer Religiosität – gewesen sei.138 Die Kosmiker-Krise muss als wichtige interne Klärung der Positionen StGs gelten, auch wenn es den Kreis noch nicht gab. Weitere prominente Positionen zu StG, die sich im weiteren Sinn als Gegnerschaften begreifen lassen, versammeln die zwei von Ralph-Rainer Wuthenow herausgegebenen Bände Stefan George in seiner Zeit. Dokumente zur Wirkungsgeschichte (Bd. 2: Stefan George und die Nachwelt), erschienen Stuttgart 1980–1981. George-Parodien, die häufig eine Form der Abgrenzung von StG waren, sind Thema eines Aufsatzes Erwin Rotermunds139 und einer Monographie von Sigrid Hubert.140 136 137 138 139

Ebd., S. 331. Vgl. ebd., S. 316. Vgl. ebd., S. 333. George-Parodien, in: Stefan-George-Kolloquium, hrsg. v. Eckhard Heftrich, Köln 1971, S. 213–225. 140 George-Parodien: Untersuchungen zu Gegenformen literarischer Produktion und Rezeption, Univ. Diss., Trier 1981 (auch als Microfiche).

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II. Systematische Aspekte

Literatur Braungart 1997; Breuer 1995; EA; EM I; ES; FW; G/G; G/H; Groppe 1997; Karlauf 2007; KH; Kolk 1998; KTM; RB I; SL; W/G I u. II. Andres, Jan, „frauen fremder ordnung“. Thesen zur strukturellen Misogynie des GeorgeKreises, in: Ute Oelmann/Ulrich Raulff (Hrsg.), Frauen um Stefan George, Göttingen 2010 (CP N.F. 3), S. 37–57. Boehringer, Robert, Über Hersagen von Gedichten, in: Jb 2/1911, S. 77–88. Braungart, Wolfgang, „Dies gewaltige Gesicht“: Die Brüder Hilsdorf und Stefan George, in: Hans-Michael Koetzle/Ulrich Pohlmann (Hrsg.), Münchner Kreise – Der Fotograf Theodor Hilsdorf 1868–1944. Katalog zur Ausstellung im Fotomuseum des Münchner Stadtmuseums, Bielefeld 2007, S. 85–90 u. 269f. Groppe, Carola, Widerstand oder Anpassung? Der George-Kreis und das Entscheidungsjahr 1933, in: Günther Rüther (Hrsg.), Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus, Paderborn u. a. 1997, S. 59–92. Gundolf, Friedrich, George, Berlin 1920. Martus, Steffen, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007. Mattenklott, Gert, Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, Frankfurt/M. 1970. Osterkamp, Ernst, Nachwort, in: Rudolf Borchardt, Aufzeichnung Stefan George betreffend, München 1998. Ders., Frauen im Werk Stefan Georges, in: Merkur 11/2008, S. 1004–1018. Rudolf Borchardt, Alfred Walter Heymel, Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, Ausstellung u. Katalog erstellt v. Reinhard Tghart, München 1978. Schwindt, Jürgen Paul, Plato, die „Poesie der Kakerlaken“ und das „Literaturbonzentum“. Stefan Georges und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorfs Streit um das ,richtige‘ Griechenbild, in: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 240–264. Thimann, Michael, Caesars Schatten. Die Bibliothek von Friedrich Gundolf. Rekonstruktion und Wissenschaftsgeschichte, Heidelberg 2003. Jan Andres

7.

Mythen, Mythisierungen, Religion

Mythos und Religion sind zwei zentrale Kategorien, mit denen sich die ästhetischliterarischen, weltanschaulichen und sozialen Dimensionen von StGs Werk und seiner Wirkung in elementarer Weise erschließen lassen. Mythos als umfassend deutendes Weltbild und Mythen als dessen narrativ und symbolisch ausgeformte Gestaltungen einerseits und Religion als der sozial verbindliche, transzendente und überindividuelle Ordnungszusammenhang andererseits bestimmen Thematik, Geste und Wirkung von StGs Werk. Wie kein zweites um die Jahrhundertwende von 1900 zitiert, thematisiert und integriert es die verschiedensten Mythen. Es entwickelt aus und mit ihnen ein ästhetisches Werk, das eine Geste der Mythisierung der Kunst präsentiert. Kunst soll damit zu einer rituellen Wirkung geführt werden, die ihr den Charakter von Religion verleiht. Mythen und Mythisierungen, Religion, Ritualität und Kult prägen so in den unterschiedlichsten Facetten StGs literarische Texte, die Gestaltung und Inszenierung ihrer Rezeption und deren Gemeinschaft stiftende Kraft für den George-Kreis. Sie tun dies über alle Phasen des Werks und stellen damit Kategorien bereit, die auch über den vermeintlichen Bruch der Werkentwicklung nach dem Siebenten Ring hinausgreifen. Mythen und mythische Figurationen, wie sie insbesondere die Kulturen der griechisch-römischen Antike und des christlichen Mittelalters bieten, bilden den ästhetischen Fundus und den kulturkritischen Ausgangspunkt für StGs literarische Produktion. Diese selbst wiederum gewinnt dabei zunehmend den Charakter und die Dynamik einer Mythisierung des Ästhetischen. Die Kunst wird zum neuen Mythos, den StGs Werk präsentiert, und zur neuen Religion, wie sie sich aus der Kunst entfalten und im Kreis wirken soll. Dies geschieht aber nicht im Sinn einer romantischen oder ästhetizistischen Kunst-Religion, wie sie sich aus der Säkularisierung des 18. Jahrhunderts und den Re-Sakralisierungsversuchen in und durch die Kunst im 19. Jahrhundert ableiten lassen. Vielmehr wird die Traditionslinie von der Romantik über Richard Wagner bis hin zu Nietzsche, in die sich z. B. Algabal noch einreihen lässt, spätestens mit dem Teppich des Lebens verlassen. StG bietet einen genuinen Neuansatz, in dem die Kunst als ein entschiedenes und treffendes Wort ästhetisch, politisch und sozial mythische Kraft gewinnen soll. Die Kunst, mit dieser ihrer (Selbst-)Heiligung des Wortes, wird in ihrer Ritualität und als Kult, in dem sich ihre Mythen und Mythisierungen vollziehen, zur Religion und ihrer mythischen Selbst-Authentifizierung zugleich. Die Kunst platziert sich bei StG so in der kulturkritisch diagnostizierten, weltanschaulichen und sozial-legitimatorischen Lücke, die die Modernisierungsprozesse um 1900 hinterlassen zu haben scheinen, und sie beansprucht vor allem, dem Mythos eine neue Materialität zu verleihen.1 1 Den philosophischen Kern und den philosophiegeschichtlichen Zusammenhang dieses Problems für StG und Heidegger entwickelt Scheier, Maximins Lichtung.

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II. Systematische Aspekte

Mythen lassen sich dabei als große, die Welt in einem ganz umfassenden Sinn deutende Erzählungen verstehen. Sie entwickeln durch ihre Sprach-, Bild- und Symbolkraft kulturelle Bedeutsamkeit und stellen somit auch Weltdeutungen, Weltbilder, dar. Damit bilden Mythen den entscheidenden Übergangsbereich zwischen Literatur und Kunst einerseits und Religion andererseits. Altertums-, Kunst- und Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie, Theologie und Psychologie und schließlich die Anthropologie widmen sich ihnen und erforschen die in ihnen liegenden Erfahrungen und das in ihnen gestaltete Wissen und Weltverstehen. Unter den Bedingungen der Moderne, insbesondere ihrer Rationalisierungs- und Modernisierungsschübe um 1800 und um 1900, werden Mythos, Mythen und Mythologie in Prozesse der Entmythologisierung bzw. in eine fortwährende ,Arbeit am Mythos‘ (H. Blumenberg) verstrickt. Aber Mythenbildung, d. h. die Produktion anschaulicher und soziale Kohärenz stiftender ,symbolischer Formen‘ (E. Cassirer), ist neben der Entmythologisierung Teil des kulturhistorischen Prozesses moderner Rationalisierung und Differenzierung. Die Provokation von StGs Werk lässt sich in dieser Perspektive denn auch so bestimmen, dass es die Bildung eines neuen Mythos anstrebt, eines Mythos aus und in der Kunst. Dabei werden weder die Entmythologisierung fortgesetzt noch die Mythen nur einfach fortgeschrieben. Vielmehr bietet StGs Werk einen ganz radikalen künstlerischen Neuansatz. Er übernimmt das Konzept des Leibes und mythisiert es in neuer Weise. Damit sollen ein neuer Mythos und eine neue Religion aus der Kunst heraus begründet werden. In Kenntnis der modernen Mythenforschung, die sich seit der Romantik zu bilden beginnt, stellen sich nicht mehr sosehr die Fragen nach der Rationalität und Modernität jenseits der Mythen. Vielmehr rücken die Fragen danach in den Blick, was als die konkrete Materialität von Mythen anzusehen, was ihre soziale, kulturelle und anthropologische Wirklichkeit und was die mit den Mythen und ihren Kulten verbundene Form von Religion ist (als eines dogmatisch kodifizierten und gemeinschaftlich ausgeübten kulturellen Zusammenhangs), von Ritualität (als dessen spezifische Ordnungspraktiken) und von Religiosität (als damit verbundene emotionale Qualität). Die Zeit um 1900 lässt sich in dieser Hinsicht dann so beschreiben, dass sich in ihr verschiedene Antwortversuche für diese Problemlage des Mythos im Feld von Religion und Religionswissenschaft, Kunst und Literatur finden. StG selbst und im Kreis insbesondere Karl Wolfskehl waren mit den aktuellen Debatten in diesen Disziplinen vertraut und kannten ihre Protagonisten persönlich.2 Das gesamte Spektrum in religions- und kulturwissenschaftlicher, in geistesgeschichtlicher, soziologischer und ästhetischer Hinsicht genauer zu bestimmen, ist Desiderat der Forschung. Die Situation scheint sich zwar in wichtigen Beziehungen in die Tradition der Diskussionen um eine ,Neue Mythologie‘ in der Zeit um 1800 einordnen zu lassen.3 Doch sie hat sich gegenüber der Jahrhundertwende um 1800 grundlegend gewandelt. 2 Vgl. zu StG Breuer, Zur Religion; zu Wolfskehl Blasberg, Weißer Mythos; Norman Franke, „Jüdisch, römisch, deutsch zugleich …“? Eine Untersuchung der literarischen Selbstkonstruktion Karl Wolfskehls unter besonderer Berücksichtigung seiner Exillyrik, Heidelberg 2006; zuletzt auch Dörr, Muttermythos. Siehe zum Verhältnis von StG zu Georg Simmel Breuer 1995, S. 170f., 178–181. 3 So Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über Neue Mythologie. I. Teil, 4. Aufl., Frankfurt/M. 1988; ders., Gott im Exil. Vorlesungen über Neue Mythologie. II. Teil, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1994; anders Braungart 1997, S. 241.

7. Mythen, Mythisierungen, Religion

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Nicht nur hat sich mit Richard Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerks der emphatische Anspruch einer ästhetischen Weltdeutung und Welterlösung durch – und ganz ausschließlich nur noch durch – die Kunst in einer totalisierenden Weise zugespitzt.4 Und nicht nur hat, in seiner Auseinandersetzung mit Wagners mythischem Anspruch an die romantische Kunst-Religion, Friedrich Nietzsche die kulturelle Bedeutung des Mythos noch radikalisiert: „Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Culturbewegung zu einer Einheit ab.“5 Nach Wagner und mit Nietzsche, seiner Kritik des Christentums und der abendländischen Metaphysik, seiner Problematisierung der Werte und der Kultur, sind die lebensreformerisch geprägten Antworten auf die Fragen nach Mythos und Religion um 1900 zudem viel heterogener als noch die Positionen der (Spät-)Romantiker. Sie reichen in der Jahrhundertwende von 1900 vom Übermenschen-Kult über Volkserziehungsvorstellungen bis zum Neo-Gnostizismus,6 von Ludwig Derleths militantem Christuskult über die neuheidnischen Positionen der ,Kosmiker‘ Alfred Schuler und Ludwig Klages, dem esoterischen und mystischen Okkultismus von Helena Petrovna Blavatsky und ihrer theosophischen Gesellschaft bis hin zur Mythenbildung in der völkischen Ideologie.7 Strukturiert man diese ebenso vielfältige wie heterogene Auseinandersetzung mit dem Mythos um 1900, lässt sich feststellen, dass das Interesse an synkretistischen Re- und Neumythisierungen und ihren Praktiken zunimmt.8 Im Folgenden soll StGs Position in diesem so umfassenden wie wirkmächtigen Zusammenhang erläutert werden. Denn auch StGs „religiöses Denken“ ist insofern als „synkretistisch“ aufzufassen, als es – so Jürgen Egyptien – „weder primär katholisch noch hellenistisch“ ist, sondern „indem es rituelle, initiatorische, sibyllinische und lehrhafte Redeformen (auch fernöstlicher oder ,primitiver‘ Provenienz) ästhetisch integriert.“9 Nach einer exemplarischen Darstellung, wie StGs Werk die römischen, griechischen, christlichen und germanischen Mythen und die damit verbundenen kulturellen Formationen für seine poetischen Zwecke aufgreift und dabei ,ästhetisch integriert‘ (7.1.), und nach einem knappen Überblick über die esoterischen und mystischen Positionen um 1900, wie sie im Kosmiker-Kreis zu finden sind (7.2.), werden StGs ästhetische Strategien der Mythisierung in den Blick genommen. Als paradigmatisch für sie erweist sich StGs Gedichtzyklus des Siebenten Rings, der 4 Vgl. Wolf-Daniel Hartwich, Religion als Oper? Richard Wagner und Lew Tolstoi über das ,Gesamtkunstwerk‘, in: Braungart u. a. (Hrsg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen, S. 93–100, hier: 94. 5 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988 (Kritische Studienausgabe 1), S. 145. 6 Vgl. Justus H. Ulbricht, „Transzendentale Obdachlosigkeit“. Ästhetik, Religion und neue soziale Bewegung um 1900, in: Braungart u. a. (Hrsg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen, S. 47–68, hier: 59–63. 7 Für einen Überblick über die verschiedenen Strömungen der Lebensreform siehe Kai Buchholz u. a. (Hrsg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001, dort insbes. die Beiträge von Georg Bollenbeck (S. 203–207), Ulrich Linse (S. 193–198) und Justus Ulbricht (S. 187–191). 8 Dies zeigt am Beispiel Karl Wolfskehls Blasberg, Weißer Mythos, die ebenfalls eine knappe Systematisierung der Mythos-Problematik um 1900 vornimmt (S. 447f.). 9 Egyptien, George-Forschung, S. 121.

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II. Systematische Aspekte

den Kult um Maximin einsetzt. Dieser soll wegen seiner zentralen Bedeutung für das Verhältnis von Mythos, Religion, Kult und Ritual deshalb genauer dargestellt werden (7.3.). Gegenüber dieser ästhetischen Einsetzung eines neuen Mythos für den George-Kreis und dessen Gemeinschaft bildenden Charakter sollen abschließend die überkommenen Formen der Religion, insbesondere des Katholizismus, in ihrem Verhältnis zu StGs Position betrachtet werden (7.4.).

7.1.

Mythen in Georges Werk

Die antike Welt und antike Mythen greifen insbesondere die Zyklen Algabal, die Hirten- und Preisgedichte und das Vorspiel zum Teppich des Lebens auf. Zu nennen sind des Weiteren der Orientalismus in den Hängenden Gärten; die mittelalterliche und christliche Welt, ebenfalls schon früh, z. B. in den Sagen und Sängen, aber dann das ganze Werk prägend; und nicht zuletzt, wenn auch seltener und eher im späteren Werk, auch die nordische Mythologie wie z. B. deren Figur der Norne in „Das Wort“ im Neuen Reich (IX, 107) oder darin auch die synkretistische Schlusswendung von „Der Krieg“, in der es heißt: „Apollo lehnt geheim / An Baldur“ (IX, 26). Die Mythen sind für StG vor allem „ästhetischer Fundus für die ,eigene‘ Formintention.“10 Diese ist in hohem Maße synkretistisch, und sie verschiebt, wie im Folgenden entwickelt werden soll, ihren Hauptakzent in einer dynamischen Weise von den Mythen über die Mythisierungen hin zu dem, was sich als dichterische Form von Religion begreifen lässt und sich als ästhetische und soziale Gestalt realisieren soll. Der Siebente Ring ist dabei die entscheidende Stelle der Transformation im Umgang mit dem Mythos. Es ist dies derjenige Zyklus StGs, der Mythen und Mythisierungen in der komplexesten und differenziertesten Weise gestaltet, wie sich an der Konzeption des Maximin-Kults zeigt (siehe 7.3.). Damit und danach, so beschreibt es Jürgen Paul Schwindt, vollzieht sich ein Wandel von der frühen Faszination durch die morbid-dekadenten Züge der lateinischen Spätkultur über den weihevoll antikischen Ton der ,Hirten- und Preisgedichte‘ bis zur entschiedenen Abwendung von der Romanophilie zugunsten jener ominösen, zu Beginn dieses Jahrhunderts nicht gar zu seltenen me´lange philogermanischer und philograecischer Neigungen.11

Auch schon Hubert Arbogast hat bei StG, mit dem Auftakt des Algabal, die Herausbildung einer solchen spezifischen „Vereinigung von Nahem und Fernem, von Eignem und Fremdem, von Deutschem und Antikem“ gesehen.12 Volker Riedel hat dabei darauf hingewiesen, dass in den bisherigen Untersuchungen überwiegend die Bindungen StGs und des Kreises an Griechenland thematisiert worden sind.13 Eine Gesamtschau der Antike bei StG und dem Kreis ist immer noch Desiderat.14 Mit der grie10 Braungart, Hymne, S. 266. Marwitz spricht auch vom „Kostüm seines eigenen Ichs“ (S. 249) und vom „Schleier[] eines antiken Namens“; vgl. Herbert Marwitz, Stefan George und die Antike, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 1/1946, S. 226–257, hier: 255. 11 Schwindt, Plato, S. 255f. 12 Arbogast, Stefan George und die Antike, S. 46. 13 Vgl. Riedel, Problematischer ,Einstieg‘, S. 21f., dort auch eine Übersicht über die wichtigste Forschungsliteratur zum Antikebild StGs, S. 21–23. Vgl. II, 4.4. 14 So auch Egyptien, George-Forschung, S. 121; siehe für einige wichtige Aspekte die Beiträge im GJb 7/2008/2009.

7. Mythen, Mythisierungen, Religion

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chisch-römischen Welt und ihren Mythen ist bei StG auch stets und schon von Anfang an die christliche Welt mit ihren Legenden und Sagen, ihren Praktiken und Ritualen und ihren religiösen Kunstwerken verbunden. Im Blick auf den Mythos sollen deshalb im Folgenden die wichtigsten Themen und Probleme in einem exemplarischen Durchgang durch das Werk umrissen werden. Die Reflexion des Mythos in der Mythisierung als ästhetischer Praxis und die dadurch erreichte Ausformung zu einem neuen Mythos Kunst, die sich in der Heiligung des Wortes gestaltet und sich im Ritual der Literatur und im Kult um den ästhetisch eingesetzten Gott Maximin ausdrückt, sollen dann anschließend beschrieben werden (7.2.–7.4.). In StGs frühen Zyklen werden antike Mythen und die antike Welt in Figuren, Themen und Gattungen aufgegriffen und als Material der ästhetischen Gestaltung einer modernen, ästhetizistischen Kunst-Welt verwendet. Sie schließt die christliche Mythologie aber aus dieser nicht aus. So finden sich unter den – mit dem Kuss der Muse in „Weihe“ (II, 10) einsetzenden – Hymnen auch die beiden Sonette der „Neuländischen Liebesmahle“ (II, 16f.). Nicht nur ist das Sonett ja eine der paradigmatischen nachantiken Gattungen; in beiden Gedichten sieht man zudem, wie sich „zugleich antikisierende und christliche Bilder überlagern.“15 Als ein solches wird in den Hymnen auch das Sonett „Ein Angelico“ gezeigt, in dem der seine Mutter Maria krönende Christus als „sieger der Chariten und Medusen“ gesehen wird (II, 27). Neben dem Rückgriff auf die antiken mythischen Figuren, die antike Gattung der Hymne (Hymnen) und ihre nachantike formale und christlich-religiöse thematische Überblendung werden ebenso das christliche Thema der mittelalterlichen Pilgerfahrt und, als Abschluss des Zyklus, mit Algabal, die spätantike Welt des Heliogabal aufgegriffen. Diesen Zyklus schätzt Volker Riedel „innerhalb des Ästhetizismus in der deutschen Literatur der ,Jahrhundertwende‘ [als] eine Extremposition“ ein: „Dabei bedeutet die Steigerung des Ästhetischen zum Priesterlichen zwar nicht mehr eine Distanz zur Politik schlechthin, wohl aber handelt es sich um eine weitgehend entkonkretisierte Politik.“16 Riedel sieht im priesterlichen Ausklingen des Zyklus mit „Vogelschau“ (II, 85) eine „Verschmelzung zwischen Ästhetizismus und Religiosität oder [eine] Steigerung des Ästhetischen ins Religiöse“.17 Auch wenn StG eher an der Herrschergestalt des Heliogabal (und der durch sie verkörperten Machtphantasie von einer potenziell destruktiven Kraft der Kunst wie bei Baudelaire oder in Wildes Dorian Gray) als an dessen Priestertum interessiert war, lässt sich auch im Algabal bereits das Potenzial der später so differenziert entfalteten ästhetischen Strategien der Mythisierung, verstanden als einer religiös-substanziellen Weltdeutung, erkennen. Ein Vorblick eröffnet sich z. B. in „Gegen osten ragt der bau“ (II, 67). Denn der dort beschriebene Zeus- und Janus-Tempel versöhnt „Toller wunder fremde schau / Und die würde“. Er leistet dies dadurch, dass „das heilige bild entschleiert“ wird wie im Tempel zu Saı¨s und nach hinreichend inniger Feier und ,lallenden gebeten‘ dann des „gottes zwiegestalt / Seinen immergleichen segen“ spricht. Zwischen den verschiedenen Mythen und Kulten wird hier nicht unterschieden; sie werden amalgamiert zu einer religiösen Geste, in der „dem einen gast“ seine Verehrung gelohnt wird. 15 Braungart, Hymne, S. 269. 16 Riedel, Problematischer ,Einstieg‘, S. 42. 17 Ebd., S. 37.

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II. Systematische Aspekte

Das Potenzial der mythisch-ästhetischen Strategien zeigt sich darin, dass auch die Preisgedichte, „trotz ihres hellenistischen Kolorits, keine Wiedererweckung des Hellenismus und überhaupt keine geschichtliche Erinnerung sein wollen, sondern Gegenwart.“18 Entsprechend beziehen sich die Preisgedichte auf „einige junge Männer und Frauen dieser Zeit“; es handelt sich u. a. um Albert Saint-Paul („An Damon“; III, 29), Ida Coblenz („An Menippa“; III, 30–31), Wacław Rolicz-Lieder („An Kallimachus“; III, 32) und Paul Ge´rardy („An Phaon“; III, 34).19 Die Hirten- und Preisgedichte stehen in den antiken Gattungstraditionen von Idylle, Hymne und Panegyrik. Während die Hirtengedichte, so Melanie Möller, „eine – scheinbar – idealisiert-einfache antike Frühzeit fokussieren, schreiten die Preisgedichte vom Hellenismus in die Spätantike; zwischen diesen beiden Büchern im Buch liegen also viele Jahrhunderte.“20 StGs Antike umfasst entsprechend die ganze griechische, hellenistische und römische Welt. Das Ordnende sieht Arbogast im Prinzip des Römischen, das auch das Christlich-Katholische umfasst; es wird zum durchdringenden Moment, das „legitimiert sein wollte durch das Griechische.“21 Dieses legitimierende Griechische, so ist zu präzisieren, ist vor allem als Platonisches zu verstehen. Bernhard Böschenstein sieht beim Umgang mit der antiken Welt und ihren Weltbildern die Enthistorisierung so weit fortgeschritten, daß der antikisierende Preis und das antikisierende Fest sich absolut setzen. Dies ist die letzte Stufe der Ausweitung und Sprengung konkreter Italienerfahrung zugunsten der ewigen, nicht mehr einer genauen Gegenwart zugeordneten Antike.22

Daraus resultiert der besondere ,überzeitliche‘ Charakter des Mythischen bei StG. Denn die jeweilige kulturelle Prägung der einzelnen Mythen und ihrer Figuren wird ganz ins Spezifische von StGs Ästhetik verwandelt. Günter Hennecke hat in seiner – sich insbesondere auf die bisher genannten frühen Texte StGs beziehenden – Untersuchung für die Verwendung der antiken Mythen „ein Umschaffen und Neuschaffen“ herausgearbeitet. Er begreift dieses als ein Schaffen aus seinem, aus modernem Geist, aufgehellt, intensiviert und verbildlicht durch Rückgriffe auf ererbte Vorstellungen. StG macht sich die Bildlichkeit antiker Namen und Mythen zunutze und verschmilzt antike Bildungsgüter mit der Vorstellungsmacht des modernen Dichters.23

So sind z. B. „Der Auszug der Erstlinge“, der den altrömischen Brauch des ,ver sacrum‘ aufgreift, „Das Geheimopfer“ oder „Abend des Festes“ (III, 20, 21, 25) Anverwandlungen antiker Geschichten und Situationen, die die beschriebenen Handlungen und Figuren in ein modernes Daseinsverständnis transponieren. Tendenziell unerfüllbare Sehnsucht und die Vereinzelung des modernen Subjekts kommen zum 18 Arbogast, Stefan George und die Antike, S. 48. 19 Siehe den Kommentar in SW III. 20 Möller, „Willst du …“, S. 51. 21 Arbogast, Stefan George und die Antike, S. 54. 22 Bernhard Böschenstein, Stefan George und Italien [1986], in: Ders., Von Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan, München 2006, S. 106–119, hier: 119. 23 Günter Hennecke, Stefan Georges Beziehungen zur antiken Literatur und Mythologie. Die Bedeutung antiker Motivik und der Werke des Horaz und Vergil für die Ausgestaltung des locus amoenus in den Hirten- und Preisgedichten Stefan Georges, Diss., Köln 1964, S. 307.

7. Mythen, Mythisierungen, Religion

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Ausdruck, wenn es in „Abend des Festes“ heißt: „Wir beide wurden von den priestern nicht erwählt / Zur schar die sühnend in dem tempel wirken darf“ (III, 25). Diese Erfahrung steht im Gegensatz zum Bild des Narziss-Mythos in den direkt anschließenden Versen: „Von allen zwölfen waren wir allein nicht schön / Und dennoch sagte uns die quelle deine stirn / Und meine schulter seien reinstes elfenbein.“ Schönheitserfahrung und Aufhebung in der elitären Gemeinschaft gilt es zu vereinen. Nurmehr für die Veranschaulichung des ästhetischen und sozialen Gebots kann der zitierte Mythos dienlich sein. Mit den „Sängen eines fahrenden Spielmanns“ im Buch der Sagen und Sänge finden sich nun auch profilierter mythische Gestalten der germanischen und nachantiken, christlich-mittelalterlichen Welt. Der ,fahrende Spielmann‘, selbst ja eine prototypische mittelalterliche Figur, die eben nicht der antike Sänger, Rhapsode oder Hermeneut ist, singt: „Aus den sälen will ich dringen / Aus dem fabelreich der riesen“ (III, 58). Mit „Das lied des zwergen“ (III, 64–65) und mit dem abschließenden Marienhymnus „Lilie der auen! / Herrin im rosenhag!“ (III, 67) ist nun ebenso wie zuvor die Antike auch die mittelalterliche Sagen- und christlich-katholische Vorstellungswelt der mythischen (Re-)Integrationsarbeit erschlossen. Dies soll aber gerade keinen klassizistischen, antiquarischen oder historistischen Zugriff darstellen. Vielmehr macht StG in seiner Vorrede zu allen drei Gedichtzyklen der Bücher deutlich, dass in diesen drei werken nirgends das bild eines geschichtlichen oder entwickelungsabschnittes entworfen werden soll: sie enthalten die spiegelungen einer seele die vorübergehend in andere zeiten und örtlichkeiten geflohen ist und sich dort gewiegt hat · […] von unsren drei grossen bildungswelten ist hier nicht mehr enthalten als in einigen von uns noch eben lebt. (III, 7)

Legitimierende Instanz ist dafür das „reich des persönlichen“, in dem sich „die spiegelungen einer seele“ vollzogen haben, mithin der Erfahrungsraum und Gestaltungswille des Dichters, nicht mehr sosehr der Kuss der Muse und noch nicht der dichterische Kult des Maximin-Mythos. Noch vom Subjekt her vollzieht sich die synkretistische Mythen-Konstruktion bzw. deren ästhetizistische Re-Mythisierung. Das Jahr der Seele, dessen Gedichte sich poetologisch lesen lassen, reflektiert diese bisherige Entwicklung StGs. Nicht zuletzt durch die Einbeziehung der christlich-religiösen Elemente wird eine Art Rückversicherung der eigenen Produktion vorgenommen. Sie ist auch notwendig, wenn z. B. im Gedicht „Ihr tratet zu dem herde“ (IV, 114) der Versuch scheitert, „einen vergangenen Glauben zu revitalisieren, […] und dieses Scheitern […] mit dem Fortgang der Geschichte begründet“24 wird: „Es ist worden spät.“ In „Des sehers wort ist wenigen gemeinsam“ (IV, 51) denkt der Seher daran, „Als er im rausch von mai und nachtigallen / Sann über erster sehnsucht fabelwesen“, und er dann erfleht, „dass aus zagen busens mühe / Das denkbild sich zur sonne heben möge.“ Diese Formel des „denkbilds“ eröffnet auch einen neuen Blick auf die mythische Bildkraft der Dichtung. Sie findet sich fortan in aller Differenziertheit in StGs Werk gestaltet und meint auch eine ästhetische, soziale Gestaltungskraft, 24 Dirk von Petersdorff, Stefan George – Ein ästhetischer Fundamentalist?, in: Bernhard Böschenstein/Jürgen Egyptien/Bertram Schefold/Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005, S. 49–58, hier: 57.

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II. Systematische Aspekte

die Bildung ,plastisch‘ erfahrbar werden lässt. Solche „denkbilder“ sind in gewisser Weise auch mythische oder zumindest mythisierende Figurationen, von denen die dichterische Legitimation abzuleiten ist und von denen her sich das bisherige Werk neu perspektivieren lässt. Aus der ursprünglichen Annahme des inspirativen Musenkusses, der den Mythos am Beginn des Gesamtwerks integriert, wird damit mehr und mehr eine dichterisch, performativ, erzeugte und als dynamisch konzipierte mythischmythisierende Figuration, von der her Dichtung sich ermöglicht sieht. Im Vorspiel zum Teppich des Lebens findet sich im Eingangsgedicht der „nackte[] engel“ (V, 10) als eine solche Figuration, die auch eine Übergangsfigur zwischen der Muse des Werkbeginns und dem Maximin-Mythos darstellt. Im Gedicht „IV“ heißt es dann: Da trat er mir entgegen fahnenschwinger Im herbstes-golde und er hob den finger Und lenkte mich zurück in seinen bann Mit einem ton wie einst den geist umspann Beim märchen der antikischen Sirenen Und mit dem langen schwermutblick der jenen Des Meisters an dem see der heimat glich Als er die jünger fragte: liebt ihr mich? (V, 13)

Der griechische Mythos der Sirenen wird analogisch verwendet, um das Bild von Christus und seinen Jüngern zu verdeutlichen. Dieses wiederum ist aber selbst vor allem als Allegorie des Seher-Dichters in seinem Kreis zu deuten. Ähnlich entfaltet das Gedicht „XX“ des Vorspiels ein Nachsinnen über die Verlassenheit, „Verlassen von den leitern ihrer bahn / Der Venus heller fackel und dem Schwan / Gefährdet gar vom glanzumflossenen gotte / Und taumelnd wie die licht-versengte motte“ (V, 29). Die mythischen Figuren sind als Sternbilder „denkbilder“, bei denen „Noch niemals blieb der morgen aus der lichtend“, d. h. sie sind Figuren der imaginierten Deutung, Erfüllung und Erlösung. Deshalb hat Bernhard Böschenstein die Sterne als ganz zentrale „denkbilder“ angesehen, weil StG in ihnen den Doppelcharakter der Ankunft von oben und der ,neue[n] mitte‘ [und] das Leiden des Dichters am Untergang der Antike und sein Gewahrwerden des welk gewordenen Christentums in eine neue, dritte Ordnung faßt, welche die Vergangenheit gleichzeitig fortleben läßt und beinahe abrupt von sich schiebt.25

Das zentrale „denkbild“, das neue dichterische ,Zentralgestirn‘, wird dann im Siebenten Ring Maximin werden. Er wird selbst zu dem Stern des Bundes und zum Vorgriff auf das Neue Reich. Zusammenfassen lässt sich die Entwicklung von StGs Anverwandlung der Mythen bis hin zum Siebenten Ring als die Entfaltung eines vielschichtigen Mythensynkretismus von den griechisch-römischen Mythen der Antike über die christliche Heilserzählung und ihre religiös-praktischen Ausgestaltungen (siehe dazu 7.4.) bis hin zur germanischen Mythologie. In den ästhetischen Kern dieser mythischen Welt wird im Siebenten Ring die dichterische Religion des Maximin-Kults eingesetzt (siehe 7.3.). Er 25 Böschenstein, Georges Spätwerk, S. 7.

7. Mythen, Mythisierungen, Religion

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verleiht dem Kreis die Legitimation als ,neuer Bund‘ und ,neues Reich‘ und eine soziale Gemeinschaft stiftende Kraft. Alle anverwandelten Mythen werden im Auftaktgedicht des Sterns des Bundes, unmittelbar nach den Gedichten des Eingangs, der den Maximin-Zyklus noch einmal reflektiert, als der Donner-Gott beschworen: „da dein gewitter o donnrer die wolken zerreisst“ (VIII, 18). Die göttliche, mythische Figuration ist Zeus ebenso wie Thor; und ähnlich wie beim vom Blitz Apolls geschlagenen Dichter Hölderlin wird diese religiöse Erfahrung in ihrer (heils)geschichtlichen Perspektive wahrgenommen, „[…] dass auf erden / Kein herzog kein heiland wird der mit erstem hauch / Nicht saugt eine luft erfüllt mit profeten-musik / Dem um die wiege nicht zittert ein heldengesang“ (VIII, 18). Der im Heldengesang und in der religiösen Äußerung der Propheten gestaltete Mythos ist insofern also (geschichtlich) unhintergehbar, aber ästhetisch integrierbar und aufhebbar: in der göttlichen Schönheitserfahrung des Ästhetischen. Von ihrer Perspektive her vollzieht sich die mythisierende Geschichtsdeutung des Spätwerks. Es ist dies auch eine doppelte Rückwendung vom Griechischen und Römischen zum ,Hesperischen‘ (Hölderlin) und vom Antiken zum Modernen, was eine Umwendung vom Dionysischen zum Apollinischen einschließt. So heißt es in einem weiteren Gedicht des Sterns des Bundes: „Rückgekehrt vom land des rausches / Reicher strände frucht und blüte / Traf ich dich im heimat-lenze . . / Der ist goldgrün zart und spröde“ (VIII, 71). Der Rückkehrer in die Heimat ist „ein gott der nähe“ und „ein gott der frühe“. In ihm kommt die mythische Gestalt als Schönheit zum Ausdruck. Eine ähnliche Konzentration zum mythischen „denkbild“ findet sich auch bei den beiden berühmten Rückkehrern, die StG als Erste im Neuen Reich sprechen lässt, Goethe bei seiner „lezte[n] Nacht in Italien“ (IX, 7–10) und Hölderlins „Hyperion“, der das neue, schöne Liebes-Reich kommen sieht: „[…] bald geht mit leichten sohlen / Durch teure flur greifbar im glanz der Gott“ (IX, 14). Diese Epiphanie des Mythos ist die Schönheit in greifbarem Glanz. Und nur die Kunst ist in der Lage, diesen Mythos zu stiften und zu zeigen.

7.2.

Esoterische und mystische Positionen um 1900 und ihre Bedeutung für George

Die Situation um die Jahrhundertwende zeigt ein großes Panorama esoterischer, mystisch-magischer, anthropo- und theosophischer und auch religiös-sektiererischer Positionen. Sie reichen von, wie schon gesagt, Ludwig Derleths Christuskult über Helena Blavatskys Theosophie bis zu den neuheidnischen Positionen der Kosmiker Alfred Schuler und Ludwig Klages. Plumpe fasst die unterschiedlichen Auffassungen als symptomatische Reaktion auf den „,Modernisierungsschub‘ im Kaiserreich und der als ,Apokalypse‘ gedeuteten Transformation der allgemeinen Lebensverhältnisse“, der es „eine ,mythische‘ Alternative entgegenzustellen“ gegolten habe.26 Hier sollen nur Derleth und die Kosmiker Schuler und Klages herausgegriffen werden, weil sich StGs Konzeption von Maximin auch als eine Auseinandersetzung mit ihnen und Antwort auf sie erweist. 26 Plumpe, Schuler und die „Kosmische Runde“, S. 234.

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II. Systematische Aspekte

Derleths Konzeption eines ,miles christianus‘ verbindet terroristische Gewaltfantasien mit asketisch-mönchischer, der Leiblichkeit entsagender Haltung. Der Christus Derleths hat keine andere Aufgabe als die, die Fanfaren zum universalen Krieg zu blasen. […] Wie bei Wolfskehl entwickelt sich auch bei Derleth eine Poesie des Blutes. […] In diesem Christentum ohne Demut, in diesem rasenden Drang zur Tat und Gewalt, in diesem sicheren Glauben, dieser fanatischen Reinheit sollte StG mehr als einen Anknüpfungspunkt finden.27

Seine Unbedingtheit, sein kulturkritischer Impetus und sein ,ästhetischer Katholizismus‘ (Braungart 1997) weisen hier Ähnlichkeiten auf.28 1893 lernte StG Schuler und Klages kennen, die später – wenn auch in minimalem (Klages) bzw. sehr geringem Umfang (Schuler) – Beiträge für die BfdK lieferten. Ab 1897 intensivierte sich der Kontakt und ab 1899, mit Karl Wolfskehls Umzug nach München, begannen die „kosmischen Umtriebe“29 der Schwabinger Gruppe, zu deren Umfeld bis 1901 auch Derleth gehörte. Die Theorievorstellungen und Kunstauffassungen, Lesungen und Maskenfeste der Kosmiker zielten weniger auf eine eschatologisch-gewalthafte Errichtung eines neuen Christentums als mehr auf eine neue Form von Religiosität. Schuler sah in StG vor allem die Möglichkeit, ihn „zum Medium der kosmischen Bewegung zu machen.“30 Dichtung war dafür höchstens Mittel zum Zweck; und auch eine Kreisbildung durch Dichtung, wie sie StG anstrebte, nicht beabsichtigt.31 Im Winter 1903/04 kam es schließlich zum Bruch zwischen StG und den Kosmikern. StG fühlte sich zu sehr vereinnahmt. Der Bruch war auch in den antisemitischen Angriffen Klages’ auf Karl Wolfskehl begründet.32 Von einer geschlossenen kosmischen Lehre lässt sich nur schwerlich sprechen, dafür waren die Kosmiker viel zu unsystematisch in ihrem Anspruch und Denken. Schuler vertrat eher eine magische, Klages eine mystische Weltsicht. Einige ideologische Charakteristika nennt Frank Weber: „Allen Kosmikern gemeinsam war die unbedingte Ablehnung des bürgerlichen Zeitalters, des Fortschrittglaubens und Materialismus, der positivistischen Wissenschaft, der verherrlichten Technik und pompösen Architektur der Gründerzeit.“33 Sie hofften „auf eine großartige Wiedergeburt der heidnischen vorchristlichen Zeit“, wobei sie sich auf Johann Jakob Bachofens Das Mutterrecht (1861) beriefen.34 Die darin beschriebene Verehrung der Erde als Ur27 David, Stefan George, S. 264, 266. 28 So auch Maurizio Pirro, Ludwig Derleths „Proklamationen“ als Ausdruck von kulturkritischer Übernahme mystischen Gedankengutes im Schatten Stefan Georges, in: Olaf Berwald/Gregor Thuswaldner (Hrsg.), Der untote Gott. Religion und Ästhetik in der deutschen und österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Köln u. a. 2007, S. 39–56, hier: 51–53. Pirro betont aber auch „die tiefe Kluft zwischen Georges und Derleths Konzeption von kultureller Strategie“ (ebd., S. 53). Siehe dazu weiter 7.4. 29 David, Stefan George, S. 218. 30 Plumpe, Schuler und die „Kosmische Runde“, S. 227. Siehe zu Schuler: Baal Müller (Hrsg.), Alfred Schuler. Der letzte Römer. Neue Beiträge zur Münchner Kosmik, Amsterdam 2000 (CP 242/243). 31 Vgl. I, 4.5. 32 Vgl. ¤ Ludwig Klages. 33 Weber, George und die Kosmiker, S. 269. 34 Vgl. zur Bedeutung Bachofens Dörr, Muttermythos; dort dann weiter zu StG S. 279–359.

7. Mythen, Mythisierungen, Religion

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mutter, des Weiteren die nietzscheanische Ablehnung der institutionalisierten christlichen Religion und schließlich eine esoterische Theorie der Substanzen sind weitere Ideologeme der Kosmiker. Um diese Substanzen in den dafür prädestinierten Menschen zu wecken, sind Rituale vonnöten; Maskenzüge und Bacchanalien sind besonders geeignet, um die ,Blutleuchte‘, wie dieses spontan auftretende Wunder genannt wurde, zu erzielen.35

Eine solche esoterische, ja unheimlich mythomanische Verlockung einer Erneuerung eines ursprünglichen Lebens und der Begründung eines nachbürgerlichen Zeitalters mag zusammen mit der vergemeinschaftenden Kraft der antiken Feste, Masken- und Dichterzüge in Schwabing den ,kosmischen‘ Reiz für StG ausgemacht haben. Wenn sich StG „schließlich mit dem Bruch gegen die Kosmiker, gegen die ,grell geröteten wahneswelten‘ und die Verlockung der Formlosigkeit“ entscheidet, spiegelt dies nach Tobias Schneider „gleichsam die Wende des Dichters wider und die Entscheidung für den neuen Weg, für den Gott Maximin und den Dichter als Führer“ zu diesem.36 Auch Claude David, Richard Faber und Thomas Karlauf sehen in StGs Schwabinger Erfahrungen wichtige Voraussetzungen für den Charakter und die Gestaltung des Maximin-Mythos.37 Karlauf wertet etwas vorsichtiger, wenn er den Maximin-Kult als StGs Antwort auf das Anliegen und die Herausforderung der Kosmiker als einer Erscheinung der Zeit um 1900 sieht. Für David steht der Maximin-Mythos in Widerspruch zum kosmischen Denken. Er löst die Magie durch den Mystizismus, die ,Tat‘ durch eine fromme Haltung, die ,chthonischen‘ Kräfte durch die Keuschheit ab und nimmt wie zum Trotz Formen an, die das Christentum nachahmen. […] Dennoch ist er selbst in dieser Gestalt ohne die kosmischen Bestrebungen im Hintergrund nicht denkbar. Die Vorstellung von einer verbrauchten Erde, die irgendein Wunder erneuern soll, die Geburt eines Sonnenkindes, das unter dem parachristlichen Mantel die Nachfolge Apollons oder Dionysos’ antritt, die Themen von einem orientalischen Kult und sogar Todessymbolismus – alles wurzelt im kosmischen Denken.38

Auch für Faber ist der „,Geist der jugend unseres volkes‘ [gleichzusetzen mit] ,Maximin‘, dessen Mythos dem kosmischen ausdrücklich entgegengestellt wird und doch aus seinem Gedankengut hervorgegangen ist.“39 Ebenso dürfte, wie oben ausgeführt und auch von Faber herausgestellt, „Derleth mit seinem Christuskult dem Georgeschen ungewollt vorgearbeitet haben“.40 In StGs weiterer Entwicklung spielen diese verschiedenen Elemente eine Rolle, zeigen sich aber in Mythos und Kult um Maximin auch in einer ganz neuen Weise. David hat sie bündig so beschrieben: 35 Weber, George und die Kosmiker, S. 270. 36 Schneider, George und der Kreis der Kosmiker, S. 168. Siehe zur Auseinandersetzung StGs mit Schuler auch: Wolfgang Braungart, Archäologische Imagination als poetische Kulturkritik. Stefan Georges Gedicht ,Porta Nigra‘ und sein ,kosmischer‘ Kontext (Alfred Schuler), in: Eva Kocziszky (Hrsg.), Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, S. 293–309. 37 Vgl. Karlauf 2007, S. 316, 333. 38 David, Stefan George, S. 270f. 39 Richard Faber, Männerrunde mit Gräfin. Die ,Kosmiker‘ Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow. Mit einem Nachdruck des ,Schwabinger Beobachters‘, Frankfurt/M. u. a. 1994, S. 149. 40 Ebd., S. 126.

762

II. Systematische Aspekte

An die Stelle der kosmischen Esoterik tritt hier eine Esoterik neuer Art. Auf den Priapismus folgt eine gnostische Weisheit, auf die Große Mutter der männliche Apollon, auf die sexuellen Orgien ein asketischer Bund, auf Eros, den Erzeuger, die platonische Freundschaft. […] Der Humanismus, der sich hier abzeichnet, soll eine Lebensmöglichkeit wiederherstellen und, zwischen zwei Gefahren, eine Weisheit aufrichten. […] Auf der einen Seite die Maßlosigkeit Algabals, der Überdruß, der Baudelairesche Spleen, der den Tod herbeiruft, auf der anderen die Flucht ins Religiöse […]. [Dazwischen] müssen also Götter nach dem Maß des Menschen erfunden werden, die seinen Taten einen Sinn und seinem Leben eine Rechtfertigung verleihen.41

Maximin wird ein solcher ,erfundener‘, für den Kreis sozial verbindlicher Gott. Denn fortan kann nur der noch in den Kreis Aufnahme finden, der die Bedeutung Maximins erkennen kann. Der Maximin-Zyklus im Siebenten Ring und die Eingangsgedichte zum Stern des Bundes formulieren die Legitimierung durch den Maximin-Kult ganz explizit. Er erst verleiht dem Kreis seine „mitte“ (VIII, 84). Der einzig legitime Zugang zu dieser „mitte“ aber erfolgt über StG, in dessen Hand so Mythos, Ritual und Religion zusammengehalten werden.

7.3.

Strategien der Mythisierung – der Kult um Maximin

In zwei Punkten scheint sich die Forschung zu StGs Kult um Maximin, die ästhetische Mythisierung Maximilian Kronbergers, einig zu sein: erstens in der großen, für die Organisation des Werks und des Kreises zentralen Bedeutung dieser vom Dichter geschaffenen, ästhetischen Figur der Mythisierung; und zweitens in der mehr oder weniger offen eingestandenen Schwierigkeit, diesen Kult wirklich zu erfassen und genauer zu beschreiben. Denn, so schon Heinz-Winfried Sabais, „der Gott Maximin besteht ganz und gar aus dem subjektiven Erlebnis des Dichters und seiner Kunsterhöhung. Er steht auf dem Altar und sein Schöpfer ist sein einziger Prophet“.42 Die zentrale Bedeutung des Kults um Maximin bestimmt Claude David als den „Mythos, der StGs Werk seinen letzten Aspekt und, im Rückblick gesehen, der ganzen vergangenen Dialektik ihre Bedeutung verleihen wird.“43 David beschreibt diesen Mythos mit folgender Herleitung: „Der Maximin-Mythos ist eine Waffe gegen die ,Kosmiker‘, aber er bleibt ihrer Denkweise noch stark verhaftet.“44 Und er charakterisiert ihn so: „Maximin ist der in die Wirklichkeit übertragene Traum Georges.“45 Dieser Traum zeigt für Robert Wolff ein Wesen von vollendeter leiblicher, seelischer und geistiger Schönheit. In ihm wurden die quälenden Fragen früherer Zeiten vollkommen beantwortet: der Stellenwert des Leibes schien neben dem von Geist und Seele nicht nur hinlänglich, sondern gleichrangig ausgedrückt, und das Widerfahren dieser ganz und gar wirklichen Erscheinung galt dem Älteren als erlebtes Wunder.46

41 David, Stefan George, S. 251. 42 Sabais, Maximin, S. 57; so auch Karlauf 2007. 43 David, Stefan George, S. 257. 44 Ebd., S. 203. 45 Ebd., S. 273. 46 Wolff, Gott, S. 164.

7. Mythen, Mythisierungen, Religion

763

Dieses „Wunder“, auf das Wolff hier anspielt, ist das „hellenische Wunder“, das in der neunten Folge der BfdK als „durchdringung · befruchtung · eine Heilige Heirat“ bezeichnet wird. Kulturhistorisch wird es am Schluss dieses Textes dann so bestimmt: Hinter den erklärungen geschichtlicher · schönheitskundiger und persönlicher art liegt der glaube dass von allen äusserungen der uns bekannten jahrtausende der Griechische Gedanke: ,der Leib · dies sinnbild der vergänglichkeit · der leib sei der gott‘ weitaus der schöpferischste und unausdenkbarste · weitaus der grösste · kühnste und menschenwürdigste war · dem an erhabenheit jeder andre · sogar der christliche · nachstehen muss.47

Dieses ,Wunder‘ der Vergottung des Leibes ist ästhetisch präfiguriert und strukturiert – und es wird dann wiederum ästhetisch und sozial ausgestaltet und sozusagen ,appliziert‘ – in der Gemeinschaft des Kreises. Ästhetisch präfiguriert ist die mythische Gestalt Maximins in dreifacher Weise: in der Muse, die am Werkbeginn StGs die Dichtung in Gang gesetzt hat, sodann im Engel und schließlich im „denkbild“ des Sterns. Als solcher wird Maximin in den Himmel versetzt, um von dort den ,Bund‘, den Kreis, zu begründen und diesen immer wieder an dieses „denkbild“ des Schönen rückzubinden. In dem Sinn ist dieser Mythos ,Kult‘, als er sich ästhetisch und sozial aus dieser Rückbindung (,religio‘) performativ selbst hervorbringt und legitimiert. Der Stern, dieses „denkbild“, ist aber nicht mehr Bild, sondern ein Aufgehen in der reinen Schau, wie sie als platonisches Ideal des Ur-Bildes verstanden ist. So heißt es am Schluss des Eingangsgedichts zum Stern des Bundes: „Da kamst du spross aus unsrem eignen stamm / Schön wie kein bild und greifbar wie kein traum / Im nackten glanz des gottes uns entgegen: / Da troff erfüllung aus geweihten händen / Da ward es licht und alles sehnen schwieg“ (VIII, 8). Den „plastischen gott“48 Maximin zeichnet Schönheit und Greifbarkeit aus, er ist „nackte[r] glanz“, „erfüllung“ und „licht“, und doch auch Realität. Mythos und Mythisierung werden so zu Religion und GottesErfahrung, zu einem gelebten, einem lebendigen Traum. Der Mythos Maximin unterscheidet sich insofern von einer romantischen und spätromantischen Auffassung von Kunst-Religion, als er als Kunst zugleich Religion ist. Werner Strodthoff sieht in Maximin einen zivilisationskritischen „Entwurf[] vom ,neuen Menschen‘, um in den Augen StGs ihre geistige Aufgabe im Sinn einer ,magischen‘ Verwandlung der Wirklichkeit voll leisten zu können“.49 Treffender als die nietzscheanische Rede vom ,neuen Menschen‘ scheint aber eine andere Formulierung für das ,Plastischwerden‘ des Gottes: Die ,runde Gestalt‘ [des von StG vergotteten Kindes Maximilian Kronberger] fächert sich auf in einzelne Bestandteile, in Zitate aus dem Fundus der Mythologie, die wiederum, zusammengenommen, die absolute Künstlichkeit dieser Gestalt als einer Schöpfung innerhalb der Dichtung und aus ihr heraus erweisen.50

Maximin geht aber nicht in „bloße[r] poetische[r] Spiritualität“ oder in ästhetischer Fiktionalität auf: „Aus dem Maximin-Mythos spricht das Bedürfnis nach Materialisierung, Konkretion, Erfahrbarkeit und Anschaulichkeit dieser Mitte, die StG für

47 BfdK 9/1910, S. 2. 48 StG an F. Gundolf v. 11.6.1910, in: G/G, S. 201f., hier: 202. 49 Werner Strodthoff, Zivilisationskritik und Eskapismus, Bonn 1976, S. 237. 50 Ebd., S. 259.

764

II. Systematische Aspekte

seinen Kreis braucht und die er selbst stiftet.“51 Margherita Versari hat diese Bedürfnisse und Erfahrungen als ein grundsätzliches, anthropologisches und im platonischen Eros vorgeprägtes Liebesbedürfnis und als „völlig wahrheitsgemäß[e] Liebesrede“ eingeschätzt, als grundlegende[] Erfahrung der Reintegration des Menschen in seine mutmaßliche ursprüngliche Vollkommenheit. Dieser Gedanke nimmt Form an und kommt hauptsächlich in dem Bild zum Ausdruck, das die griechische Antike von der Welt als ,einheitlichen sinnlichen Kosmos‘ hatte, ,dessen in sich geschlossene Plastizität‘ George verehrte.52

In der neueren Forschung verschiebt sich der Akzent von der Charakterisierung und Betrachtung der Semantik dieses Mythos, die sich insbesondere um den Kult des Kindes gruppieren lässt, hin zu der performativen Qualität eines mythischen Weltbilds, zur Bedeutung seiner strukturellen Dynamik für StG, sein Werk und den Kreis. Eng damit zusammen hängt so auch die Frage nach der Qualität der Autorschaft in StGs Dichter- und Dichtungs-Verständnis. Sie lässt sich aber nicht, wie in der älteren Forschung, auf das „subjektive Erlebnis des Dichters“ beziehen.53 Die neuere Forschung, insbesondere Wolfgang Braungart, hat StGs besondere religiöse, ja rituelle Konzeption herausgearbeitet: „Wie der Priester im religiösen Ritual, so will auch der poeta vates nicht aus seiner Subjektivität heraus sprechen und sie aussprechen, sondern im Amt und als Auftrag.“54 „Amt und Auftrag“, die im Maximin-Mythos impliziert und gestaltet sind, hat Braungart so bestimmt: Maximin fundiert Georges Rituale, auch die des Textes. […] Um sein ,Kultbild‘ herum entsteht der ,Weiheraum‘ der ,Kathedrale‘, des Textgebäudes des ,Siebenten Ringes‘ […]. Er ist ein mythopoetischer Gott: Maximin, nicht Maximilian Kronberger. Es gibt ihn nur im poetischen Text, und an ihn ist er gebunden. […] So ist die mythische Figur Maximin in der Tat eine ästhetische Mythologie, die nur so erscheint, wie sie ist, und die nicht wirklich (allegorisch, religiös) übersetzt werden kann, so sehr sich die Jünger (und vielleicht auch George selbst) diese Sinnstiftung womöglich wünschten. Die Rezeption der Maximin-Gedichte ist von dieser Ambivalenz geprägt.55

Gleichwohl erschöpft sich die mythische Dimension nicht nur in der Rezeption, die produktive Verbindlichkeit (im produktions- und werkästhetischen Sinne) erreicht der Mythos, insofern er nicht nur ,erscheint, wie er ist‘, sondern für StG und den Kreis auch ,ist, wie und was er ist‘, und so seine religiöse Wirkung entfaltet. Maximin als der „Herr der Wende“ und, formuliert für den Kreis im Stern des Bundes, als „herz der runde“ (VIII, 8, 15) schafft mythische Anschauung, ist religiöses Welt-Bild und religiöse Realität als Kunst. In ihm kann sich der Kreis begründen und StG in den Traditionen des poeta vates und des charismatischen Seher-Propheten sich als Ge51 Wolfgang Braungart, „Was ich noch sinne und was ich noch füge / Was ich noch liebe trägt die gleichen züge“. Stefan Georges performative Poetik, in: Stefan George, S. 3–18, hier: 10. 52 Margherita Versari, Strategien der Liebesrede in der Dichtung Stefan Georges, Würzburg 2006, S. 71, 89. Die Zitate stammen aus Georg Simmels Fragment über die Liebe. 53 Wie sich überhaupt die – von Dilthey geprägte – Kategorie des Erlebnisses auf StG nur schwer übertragen lässt; siehe dazu Lothar van Laak, „Dichterisches Gebilde“ und Erlebnis. Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Wilhelm Dilthey und dem George-Kreis, in: GJb 5/2004/2005, S. 63–81. 54 Braungart 1997, S. 228f. 55 Ebd., S. 236f.

7. Mythen, Mythisierungen, Religion

765

schöpf eines mythisch selbst erschaffenen „eignen sohnes“ (VI/VII, 109) stilisieren: „Maximin ist poetische Präsenz des Gottes für George und den Kreis. Seine Anwesenheit ,verwandelt‘, macht schöner, ästhetisiert.“56 Aus der mythischen Anschauung ersteht so ein ästhetisches und soziales Schönheitsversprechen, das sich im Männerorden wie im Gedicht der „Templer“ (VI/VII, 52–53) realisiert: Und wenn die grosse Nährerin im zorne / Nicht mehr sich mischend neigt am untern borne · / […] / So kann nur einer der sie stets befocht // […] / Die hand ihr pressen · packen ihre flechte · / Dass sie ihr werk willfährig wieder treibt: / Den leib vergottet und den gott verleibt.

Die mythische Figur der „grossen Nährerin“, die es in allen mythischen Figurationen, sowohl der griechisch-römischen Antike als auch im nordischen Sagenkreis gibt, wird hier ihrer konkreten, kulturell verankerten mythologischen Substanz entkleidet. Ihr Gegenüber wiederum ,zwingt‘ sie dann, eine Vergottung des Leibes und eine Verleibung des Gottes neu zu leisten. Der Zwang dieses „Einen“ vollzieht sich dabei als ,kairotische‘ Geste.57 Im Akt des Gedichtes, auf zweiter, intradiegetischer Stufe, vollzieht sich so eine Geste, die sich eine mythische Figuration und ihre Kraft anverwandelt hat und doch ganz über einen genuin ästhetischen und sozialen Charakter verfügt. Böschenstein bestimmt diese, für das spätere Werk charakteristische, Sprechweise so, „als ob die spezifische geschichtliche Situation vor der mythischen Sehweise zurückzutreten hätte.“58 Steffen Martus deutet den Maximin-Kult im Zusammenhang von StGs ,Werkpolitik‘ ebenfalls in der Bestimmung seiner performativen Qualität, und zwar als eine zentrale Strategie, Aufmerksamkeit zu gewinnen und zu bewahren.59 Verschieben sich so die Akzente vom Mythos und Mythischen hin zur Mythopoesis und vom Mythos auf die Strategie seiner Hervorbringung und Gestaltung, auf die Mythisierung, stellt man fest, dass „George sich mit der Vergöttlichung Maximins selbst deifiziert.“60 Es fragt sich in Martus’ Perspektive dann, „wo eigentlich der von George verkündete Gott zu finden ist: in Maximin oder in seinem dichtenden Propheten.“61 Die Schlussverse von „Auf das Leben und den Tod Maximins: Das Sechste“ (VI/VII, 104–105) lauten: „Am dunklen grund der ewigkeiten / Entsteigt durch mich nun dein gestirn.“ Es handelt sich dabei auch um ein hochkomplexes Spiel mit Identitäten.62 Braungart hat diese Wendung vom Gott hin zu seinem Erfinder und Propheten so zusammengefasst: Im Unterschied zu Christus spricht Maximin nicht für sich selber. Ohne den, durch den er Sprache wird, ist er nicht. So ist die Verschränkung von Gott und Künder Eucharistie. […] Maximilian Kronberger wird in einem voluntaristischen Akt zum Gott Maximin umge56 Ebd., S. 245. 57 Dazu grundsätzlich, wenn auch nicht zu „Templer“: Susanne Kaul, Kairos bei George, in: GJb 7/2007/2008, S. 1–19. 58 Böschenstein, Georges Spätwerk, S. 4. 59 Vgl. Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007, S. 644. 60 Ebd., S. 645. 61 Ebd., S. 646. 62 Vgl. Osterkamp 2002.

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II. Systematische Aspekte

schaffen, weil ihn George für sein Ritual braucht. Auch wenn der Kult um Maximin Züge einer Religionsstiftung annimmt, so ist die Problematik zunächst doch ganz von George her zu sehen, der in Maximin seine Ästhetik des Rituals fundieren will.63

Die Verbindung von Kunst, Mythos und Religion entfaltet StG vom Mythensynkretismus des frühen Werks durch die Strategien der Mythisierung bis zur Stiftung eines neuen Mythos ,Maximin‘, der Ritual und Kult fundiert, aber als Mythos letztlich doch Kunst sein soll.

7.4.

Mythisierung, Kunst und Religion

StGs Kunstauffassung und die sozialen und pädagogischen Prozesse der Vergemeinschaftung in der Kreisbildung64 sind inzwischen als Konzept und Realisierung eines ,ästhetischen Katholizismus‘ (Braungart) bzw., in nur politisch-sozialer Hinsicht, auch als ,ästhetischer Fundamentalismus‘ (Breuer) dargestellt worden. Braungart hat auf die Verflechtungen zwischen den Praktiken der Vergemeinschaftung in der Form des Kreises und StGs ästhetischer Konzeption hingewiesen; und er hat dafür auch die produktive Rezeption und differenzierte, reflektiert vollzogene Traditionsbildung als besonders charakteristisch herausgearbeitet. Georges eucharistische Poesie geht aufs engste zusammen mit seiner charismatischen Führung des Kreises. […] Dieses Konzept war darum so wirksam, weil es die christlich-katholische Tradition nicht einfach negiert, sondern beerbt. Es impliziert ein Verständnis des poetischen Zeichens, das einerseits auf die vielfältigen Tendenzen der Jahrhundertwende zu einer neuen Religion und einer neuen Mythologie verweist, andererseits auf den europäischen Symbolismus, der das Kunstwerk zum Allerheiligsten, zum Tempel erklärt und damit das Postulat von der Autonomie der Kunst noch einmal radikalisiert.65

StGs ästhetische Mythisierungen, die in Maximin gipfeln, sind Ausdruck und Herausforderung zugleich für das Verhältnis von Kunst und Religion. Das Verhältnis von Kunst und Religion bei StG ist dementsprechend auch schon früh Gegenstand der Auseinandersetzung mit seinem Werk gewesen; und sie erfolgte dabei auch in konfessioneller Hinsicht. Carl Muth, Begründer der katholischen Monatszeitschrift Hochland, formuliert in seinem 1934 entstandenen Aufsatz Stefan George und seine Apotheose durch den Kreis66 heftige Kritik an StGs Auffassungen im Siebenten Ring und dem Stern des Bundes: Ist der ,Siebente Ring‘ gleichsam ein mit Reliefs der Dichtung (Gestalten, Landschaftsbildern und Liedern) reich und schön geschmückter Sarkophag, worin der arme Knabe Maximin, von rasch welkendem Lorbeer überdeckt, eingesargt liegt, so ist der ,Stern des Bundes‘ das Buch der ,Lehre‘, in dem die blasphemisch-ekstatische Mystik und Prophetie dieser heidnischen Gnosis weiterschwelt. Was der ,Zarathustra‘ im Gesamtwerk Nietzsches, das ist dieser ,Stern des Bundes‘ in der Dichtung Georges, nur noch dämonischer als jener und in der Selbstapotheose und in bezug auf die sprachliche Form noch funkelnder und verruchter,

63 Braungart 1997, S. 246f. 64 Vgl. Groppe 1997; Kolk 1998. 65 Braungart 1997, S. 231. 66 1935 noch einmal erweitert unter dem Titel Schöpfer und Magier. Vgl. dazu III, 6.6.1.

7. Mythen, Mythisierungen, Religion

767

denn George kommt aus der katholischen Glaubenswelt und ist ein stolzer Renegat, während Nietzsche ein verzweifelnder Sucher ist.67

Vor und nach Carl Muth äußerten sich Werner Picht und Karl Josef Hahn im Hochland ähnlich kritisch.68 Ob und wie sehr die katholische Herkunft und Prägung StGs und damit das religiöse Formbewusstsein des Katholizismus, das sich in seiner Dichtung wahrnehmen lässt, nur äußerliche Hülle und religiös undogmatisch oder gar inhaltsleer ist, oder ob StGs Werk doch an Grundannahmen einer christlichen, katholischen Literatur anschließbar ist, wird seit Langem diskutiert. Für Eduard Lachmann „spiegelt es [das Katholische] sich denn auch in seinem Werk an manchen Stellen positiv, ein in der kirchenfeindlichen Strömung seiner Zeit merkwürdiges Faktum.“69 So hat Wolfgang Heybey 1935 zur Religiosität des Maximin-Zyklus festgestellt: Freilich darf man diese gläubige Erregung nicht als ein grundsätzliches Bekenntnis Georges zum Christentum auswerten. […] Einen Zugang zum Christentum findet er charakteristischer Weise nur über die kultischen Formen […] und die kulturellen Gestaltungen des Katholizismus […], während ihm der ganz auf Wort und Lehre gestellte Protestantismus völlig fremd bleibt. Auch hier ist der Wille und die Liebe des Dichters zur Form und Gestalt entscheidend.70

Heybey sieht diesen katholischen Grundzug auch in der besonderen Wertschätzung der Gestalt bei StG begründet und urteilt umgekehrt dann: „Absolut feindlich und verständnislos aber steht der Dichter dem Protestantismus gegenüber. Hier sieht er wirklich nur die gestaltauflösende Tendenz des nordischen Geistes.“71 Wesentlich differenzierter im Spannungsfeld von Kunst und Religion, Literatur und Katholizismus urteilt, schon im gleichen Jahr 1935, Robert Wolff, wenn er nach einer Deutung eines breiteren Korpus von Gedichten feststellt, dass „George auf der einen Seite die Erfüllung seiner Sehnsucht nach einer ,begreiflichen‘ und leiblichen Gotteserscheinung, auf der anderen Seite sein tiefinneres Bedürfnis kundgibt, jene mit herkömmlich-christlichen Aspekten in Einklang zu bringen.“72 Insofern lasse sich in gewisser Weise StGs Arbeit am christlichen Mythos und seiner religiösen Einrichtung als ein der katholischen Religion verwandtes Weltbild auffassen. Das „MaximinErlebnis“ und die „Maximin-Tragödie“73 – aber bezeichnenderweise hier explizit nicht sosehr den Maximin-Zyklus als Kunstwerk – sieht Wolff als „religiöse SelbstOrtung“. Derzufolge komme es zu einer „Verschmelzung des (zweifellos in neuem Gewande) wiedergewonnenen Väterglaubens mit den Elementen eines persönlichen religiösen Ereignisses jenseits der Kategorien christlich und nicht-christlich.“74 Für StG selbst ist ein solcher „ästhetizistischer Katholizismus ohne katholische Dogma67 Zit. nach Wolff, Gott, Anm. 116, S. 188. 68 Vgl. Werner Picht, Stefan George als Richter unserer Zeit, in: Hochland 20/1922/23, 1, S. 80–94; Karl Josef Hahn, Stefan George – Mythos und Wahrheit, in: Hochland 46/1953/54, S. 461–467. 69 Eduard Lachmann, Die Kirche in der Dichtung Stefan Georges, in: Stimmen der Zeit 84/1958/59, 163, S. 469–472, hier: 472. 70 Wolfgang Heybey, Glaube und Geschichte im Werk Stefan Georges, Stuttgart 1935, S. 124. 71 Ebd., S. 130. 72 Wolff, Gott, S. 166. 73 Ebd., S. 175. 74 Ebd.

768

II. Systematische Aspekte

tik“75 zweifellos unproblematischer als für den StG zu vereinnahmen suchenden katholischen Dogmatiker, wenn dieser sich „jenseits der Kategorien christlich und nichtchristlich“ bewegen soll.76 Dass das eben nicht das Reich der Religion, sondern nur das ,Neue Reich‘ der Kunst, der Schönheit und der durch sie konstituierten säkularen Erscheinung des Kreises ist, formuliert sehr deutlich Paul Wolff 1934: Denn bei allem Dichten von der Weihe und dem Dienst am Herrn im Vorspiel zum ,Teppich des Lebens‘ und anderswo, bei aller Anwendung schönster biblischer Bilder, bei allem Versuch, in den ,Sagen und Sängen‘ christlichen Glauben zu ,vergegenwärtigen‘ […] will [StG] nicht Gott, sondern den Menschen.77

Zudem unterscheidet sich das Menschenbild StGs vom christlichen Menschenbild ganz wesentlich. Der christlichen Spiritualisierung steht die grundlegende Wertschätzung des Leiblichen entgegen, die StG aus der griechisch-hellenistischen Tradition aufnimmt und die für seinen ästhetischen Schönheitskult zentral ist. Schöner Geist und schöner Leib sollen sich in einer Weise realisieren, für die die Formel des ,schönen Lebens‘ das leitende Motiv darstellt.

7.5.

Zusammenfassung

Für das Verhältnis von Mythos, Kunst und Religion um 1900 stellt das Werk StGs einen genuinen Neuansatz dar. Die Kunst selbst wird zur Mythopoesis, und ihr Mythos wirkt als Religion, indem sie als sich selbst heiligendes Wort ästhetische, politische und soziale Bedeutsamkeit entfalten soll. Die Kunst, gestaltet als Ritual und vollzogen als Kult, formt Mythen und ,den‘ Mythos so aus, dass er wieder eine weltanschauliche und sozial legitimierende Kraft gewinnen soll. Die Kunst, nachdem sie die Moderne kulturkritisch in Frage gestellt hat, verleiht dem Mythos eine neue Materialität. Sie ist für StG und seinen Kreis im Kult um den ästhetisch eingesetzten Gott Maximin zu sehen. Er schließt die Entfaltung eines vielschichtigen Synkretismus von griechisch-römischen Mythen der Antike und der christlichen Heilserzählung in der Werkentwicklung bis zum Siebenten Ring ab und stellt als Kult der Schönheit und des ,schönen Lebens‘ einen neuen Mythos der Kunst dar. Der ebenso großartige wie fragwürdig exzentrische Anspruch dieser ästhetisch-literarischen, weltanschaulichen und sozial-pädagogischen Konzeption StGs zeigt damit nicht nur das ungeheure ästhetische Potenzial, das sich im Spannungsfeld von Kunst und Religion überhaupt entfalten kann. An ihm lässt sich auch verdeutlichen, wie sehr Mythos und Religion auch für die Moderne und das Prinzip ihrer Rationalität Herausforderungen sind und bleiben. Modernisierung nur als Dynamik einer rationalen Entmythologisierung zu verstehen oder immer nur schon eine kontinuierliche abendländische ,Arbeit am Mythos‘ am Werk zu sehen, unterschätzt das Mythen schaffende Potenzial einer Kunst, 75 Braungart 1997, S. 183. 76 Auch Breuer, Zur Religion, S. 229, interpretiert Robert Wolffs Einschätzung StGs als vereinnahmende Minderheitenposition. 77 Paul Wolff, Stefan George und das katholische Ethos, in: Der katholische Gedanke 7/1934, S. 47–57, hier: 54.

7. Mythen, Mythisierungen, Religion

769

die Weltdeutung, Welt-Anschauung und Welt bildende Kraft sein will. Genau dies beanspruchte StG für seine Literatur und ihre kreisstiftende Wirkung in einer ganz radikalen und in einer ganz neuen Weise.

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770

II. Systematische Aspekte

Sabais, Heinz-Winfried, Maximin. Die Einsetzung eines Gottes, in: Manfred Schlösser (Hrsg.), Kein Ding sei wo das wort gebricht. Stefan George zum Gedenken, 2. Aufl., Darmstadt 1961, S. 56–62. Scheier, Claus-Artur, Maximins Lichtung. Philosophische Bemerkungen zu Georges Gott, in: GJb 1/1996/1997, S. 80–106. Schneider, Tobias, Stefan George und der Kreis der Kosmiker, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 44/2000, S. 154–176. Schwindt, Jürgen Paul, Plato, die „Poesie der Kakerlaken“ und das „Literaturbonzentum“. Stefan Georges und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs Streit um das ,richtige‘ Griechenbild, in: Braungart u. a. (Hrsg.), Stefan George, S. 240–264. Stefan George, München 2005 (Text und Kritik 168). Varthalitis, Georgios, Die Antike und die Jahrhundertwende. Stefan Georges Rezeption der Antike, Diss., Heidelberg 2000. Weber, Frank, Stefan George und die Kosmiker, in: Neue deutsche Hefte 35/1988, S. 265–275. Wolff, Robert, Der Gott und sein Künder, in: Blätter der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft 9/1983, 4, S. 157–188. Wucherpfennig, Wolf, Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um 1900. Friedrich Huch und seine Zeit, München 1980. Lothar van Laak

8.

Zeitkritik und Politik

8.1.

Vom Blätter- zum Jahrbuch-Kreis

Das Frühwerk StGs, darüber besteht weitgehend Einigkeit, gehört in den Kontext des europäischen Ästhetizismus.1 Wie immer man diesen deutet – ob ideologiekritisch als reaktionäre Fluchtbewegung, die vor den gesellschaftlichen Anforderungen der Moderne in die Sphäre des schönen Scheins ausweicht, oder werttheoretisch als Erhebung des Schönen zum höchsten Wert,2 ob systemtheoretisch als Ersetzung der systemexternen durch eine kunstsystemeigene Realitätskonstruktion oder kommunikationstheoretisch als Steigerung des Autonomieanspruchs des Ästhetischen durch Mimesisverzicht und Hermetisierung der literarischen Kommunikation3 –, unstrittig ist, dass sich die Kunst aus den Vorgaben anderer Wertsphären und Handlungsfelder löst und auf jegliches außerästhetische Engagement verzichtet. „In der dichtung – wie in aller kunst-betätigung – ist jeder der noch von der sucht ergriffen ist etwas ,sagen‘ etwas ,wirken‘ zu wollen nicht einmal wert in den vorhof der kunst einzutreten“.4 Dass dies auch für Politik, Herrschaft und Staat gilt, sagt bereits der erste Satz, mit dem die BfdK 1892 in die Öffentlichkeit treten: „Der name dieser veröffentlichung sagt schon zum teil was sie soll: der kunst besonders der dichtung und dem schrifttum dienen, alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend.“5 Diese Feststellung muss freilich sogleich in doppelter Hinsicht eingeschränkt werden. Zum einen kommt auch eine ästhetizistisch verstandene Literatur nicht gänzlich ohne Umweltreferenzen aus, wie der Auftritt von Herrschern und Dienern, Meistern und Jüngern, Orden und ordensähnlichen Vereinigungen in StGs früher Lyrik zeigt.6 Das hat es Friedrich Gundolf später ermöglicht, StGs Verankerung im l’art pour l’art herunterzuspielen und das Frühwerk als Antizipation des ganz anders ausgerichteten Spätwerks zu deuten.7 Zum andern wurde die entschiedene Distanzierung der Kunst von allem Politisch-Gesellschaftlichen durch Erwägungen konterkariert, die auf externe, die Kunst hemmende oder begünstigende Faktoren zielen und eine Einwirkung auf dieselben nahelegen. Die dritte Folge der BfdK (1896) brachte die niedrige Stufe, 1 Vgl. Braungart 1997, S. 3ff. mit weiterer Literatur. 2 Vgl. Jost Hermand, Der Schein des schönen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1972, S. 24f.; Heide Eilert, Ästhetizismus, in: Walther Killy (Hrsg.), Literatur-Lexikon, Bd. 13, München 1993, S. 18–20. 3 Vgl. Gerhard Plumpe, Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995, S. 138ff.; Simonis, Literarischer Ästhetizismus. 4 Stefan George, Über Dichtung (1894), in: SW XVII, S. 68. 5 BfdK 1/1892, 1; zit. nach GK, S. 15. 6 Vgl. Kolk 1998, S. 33ff. sowie bereits Landfried, Stefan George. 7 Vgl. Simonis, Literarischer Ästhetizismus, S. 385ff.

772

II. Systematische Aspekte

auf der im kaiserlichen Deutschland das Schrifttum stehe, mit sozialen und politischen Bedingungen in Zusammenhang und sprach von einem „bildungsstaat zweiter ordnung“; die fünfte Folge (1901) benannte als Feinde aller Kunst und Kultur das Preußentum, das Bürgertum und den Literaten, wozu etwas später noch die Tagesschreiber und die „herrschaft der massen“ hinzutraten.8 Korrespondierend dazu wuchs das Vertrauen, der „allmählichen verflachung und vertrocknung“ entgegensteuern zu können: durch die Orientierung an den „grossen vorfahren in der kunst“, an ausländischen ,helfern und ergänzern‘, durch die Bildung eines Kreises von Gleichgestimmten und -gesinnten, der durch strenge Zucht und eine „gewisse herbe“ einen „weiteren ring der gesellschaft […] für kunst […] zu gewinnen“ und ein „zeitalter der wiedergeburt“ einzuleiten vermag.9 Mit der fünften Folge der BfdK sah StG sein Ziel erreicht: Aus kleinem Kreis hatte sich in verschiedenen Zentren Deutschlands „eine geistige und künstlerische gesellschaft“ herausgebildet, „die sich verbunden fühlt durch ganz bestimmte ablehnungen und bejahungen: durch ein besonderes lebensgefühl.“ Und er schloss es nicht mehr aus, dass von hier aus der erhoffte „umschwung des deutschen wesens“ erreicht werden konnte: die Umwandlung des ,bildungsstaates zweiter ordnung‘ in einen solchen erster Ordnung. „neuer bildungsgrad (kultur) entsteht indem ein oder mehrere urgeister ihren lebensrhythmus offenbaren der zuerst von der gemeinde dann von einer grösseren volksschicht angenommen wird“.10 Zur vollen Entfaltung kamen diese Motive indes erst nach der Jahrhundertwende, als sich StG von einem ästhetizistischen zu einem lehrhaften Dichter wandelte und aus der anfänglich offenen, primär wertrational motivierten Vergesellschaftung im Blätter-Kreis eine geschlossene, auf die Person StGs und den vom ihm verkündeten Glauben zentrierte Vergemeinschaftung wurde, die freilich immer noch wertrational auf den Vorrang der Kunst verpflichtet blieb, ja diesen sogar noch erheblich steigerte.11 Sowohl über StG selbst, dessen ausgedehntes Beziehungsnetz bedeutende Soziologen und Philosophen wie Simmel und Klages einschloss, als auch über seine Jünger, die bei Simmel (Gundolf) oder Breysig (Wolters) studierten und ein ausgeprägtes Interesse an weltanschaulicher Systematisierung mitbrachten, gelangten nun zentrale Topoi der zeitgenössischen Kultur- und Zivilisationskritik in den Kreis, um dort alsbald im Gefolge der Maximin-Krise mit Elementen eines auf magisch-rituelle Fremderlösung

8 BfdK 3/1896, 2; 5/1900/01; 7/1904; zit. nach GK, S. 25, 64f., 69. 9 BfdK 3/1896, 5; 3/1896, 4; 4/1897, 1/2; zit. nach GK, S. 29, 27, 30, 35. 10 BfdK 4/1897, 1/2; 5/1901; zit. nach GK, S. 35, 63. 11 Vgl. FW, S. 433; David, Stefan George, S. 229ff.; Ernst Eugen Starke, Das Plato-Bild des George-Kreises, Diss., Köln 1959, S. 34, 39. Die These, es handle sich bei dieser Wendung um eine „Überformung des ästhetizistischen Designs durch neue heteronome Akzente bzw. ausdrückliche ethische Intentionen“ (Simonis, Literarischer Ästhetizismus, S. 414), übersieht, dass es mitnichten um einen Ebenenwechsel von der Ästhetik zur Ethik geht, sondern um eine Radikalisierung des von der Kunst ausgehenden Anspruchs. Ziel ist die Hinordnung der Gesellschaft auf das ,schöne Leben‘, nicht auf das gute. Und da das Schöne immer schon vorhanden ist und nur gefunden werden muss, spielen auch Pädagogik und Bildung im George-Kreis bei weitem nicht die Rolle, die ihnen häufig zugeschrieben wird. „An eine Möglichkeit, im Pädagogischen, im Staatlichen, im Geistigen nach einem vorgesetzten Ziel zu ,machen‘, zu ,bilden‘, glaubte er [StG] nicht“ (LT, 224).

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setzenden religiösen Glaubens fusioniert zu werden.12 Besonders klar zeigte sich dies in den seit 1910 publizierten, von Gundolf und Wolters herausgegebenen Jahrbüchern für die geistige Bewegung sowie einigen parallel hierzu verfassten Texten.13 In ihnen wurde ein gestufter Kulturbegriff entwickelt, demzufolge der Kern aller Kultur, das Göttliche, in verschiedenen Graden der Intensität auftritt: in einer „ersten unmittelbaren art“, welche nur den Urgeistern, den Schöpfern und „Hirten“ zuteil wird, sowie einer „zweiten · abgeleiteten art · als funken der immer wieder entfacht werden muss glimmt und aufloht und strichweise erlischt“ – der Gemeinde; um beide herum gruppiert sich die „große menschheit · die herde“, die dazu verurteilt ist, „trieb und material“ bleiben zu müssen, im günstigsten Fall das „Saatfeld“ oder den „Dung“ bildet, „mit Hilfe dessen ein höherer Menschenadel zu gewinnen sei“.14 Diese Sichtweise ließ zwei Möglichkeiten zu. Kultur im vollen Sinne des Begriffs lag dann vor, wenn es der Spitze – dem „Urgeist“ und seinen Jüngern – gelang, eine „einheitliche Durchbildung aller menschlichen Lebensäusserungen“ zu erreichen, war ihr Wesen doch „nicht die vielheit der elemente, sondern die einheitlich autochthone zusammenschmelzende gewalt die sie zu einem einigen gebilde macht, in dem die teile nichts mehr gelten“.15 In einem schwachen Sinne, im Modus des Verfalls, existierte Kultur dagegen immer dann, wenn die Teile sich verselbstständigten, ihre Beziehungen untereinander höher gewichteten als die Beziehung zur Spitze, zum Zentrum, zum Quell aller schöpferischen Energie. Die Tendenz dazu war naturgemäß dort am stärksten, wo die Entfernung vom Mittelpunkt am größten war. An der „peripherie der daseinskugel“ erkaltete die herausgeschleuderte Lava, verfestigte sich zu Partikeln, die sich vom Ursprung ablösen und zerbröckeln.16 Aus der Sicht des Jahrbuch-Kreises stand die moderne Welt ganz im Zeichen der zweiten Möglichkeit. Hier regierte nicht mehr das „geistganze“, das „gesamtmenschentum“, sondern die „diffusion, die zerspaltung, die wahnsinnige sogenannte arbeitsteilung“ in zahllose „molluskenhafte gliedbildungen“, die nur mehr partikularen Zwecken folgten.17 Wurzel allen Übels war die „trennung von leib und seele“, die „emanzipation des geistes von den leiblichen gegebenheiten“, die auf der einen Seite den Geist, auf der anderen die Materie, das Gefühl freisetzte. Der Geist wurde hierdurch zur ,Ordnenden Kraft‘ (Wolters), die sich stets nur von außen auf die Dinge zu beziehen vermochte; die Materie zum toten Gegenstand, „entgöttert, entlebendigt, entwirklicht“.18 In der Kunst, so Gundolf, habe diese Trennung die Romantik gezeitigt; in der Wissenschaft Atomismus und Historismus; in der Politik den „Fortschritt“; in der Ethik Individualismus und Sozialismus; in der Wirtschaft den Kapitalismus; in der Religion den Protestantismus. Damit war im Einzelnen, in etwas veränderter Reihenfolge, Folgendes gemeint: 12 Vgl. Breuer, Fundamentalismus, S. 102ff. 13 Vgl. Zöfel, Wirkung, S. 42ff. 14 Über das Feststehende und die Denkformen, in: BfdK 9/1901; zit. nach GK, S. 91. Autor dieses Textes ist nach Hildebrandt StG (KH, 128); Gundolf, Wesen und Beziehung, S. 27; ders., Shakespeare und der deutsche Geist, 5. Aufl., Berlin 1920, S. 273. 15 F. Gundolf an Leonie Gräfin Keyserling v. August 1913, in: Gundolf, Briefe. Neue Folge, S. 127; Vallentin, Kritik des Fortschritts, S. 51. 16 Wolters, Richtlinien, S. 151; Gundolf, Wesen und Beziehung, S. 18. 17 Vallentin, Kritik des Fortschritts, S. 56f. 18 Gundolf, Wesen und Beziehung, S. 11.

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a) Die Wissenschaft – und das heißt vor allem: die neuzeitliche Wissenschaft mit ihrer resolutiv-kompositiven Methode – verwandelte die Natur in ein „konglomerat von gesetzlich zu ordnenden atomen“ und die geschichtlich-gesellschaftliche Erfahrung in eine „masse von einzelfakten“, die vom „schenkenden sinnengrund“ abgelöst waren.19 Die auf diese Weise zertrümmerte Natur wurde zum Objekt einer rein technischen Nutzung, die die vorhandenen Energien in einem fortgesetzten Raubbau verbrauchte, sodass in hundert weiteren Jahren gesteigerter Technik, „d. h. nach vernichtung aller organischen keime, nach ausrodung der wälder, nach entfruchtung aller natürlichen fruchtbarkeiten“, kaum noch etwas vorhanden sein würde, was den Namen Mensch oder Natur verdiene.20 Von den Geistes- und Kulturwissenschaften sei dabei keine Abhilfe zu erwarten, seien doch durch den Historismus die Hervorbringungen des menschlichen Geistes zum Objekt einer bloß antiquarischen Behandlung geworden, wie sie schon Nietzsche in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen geißelte. Dass beide Erscheinungsformen der modernen Wissenschaft „nicht nur zu verachten sondern aufs äusserste zu bekämpfen“ seien, ließ der George-Kreis nicht im Unklaren.21 b) Der für die moderne Wissenschaft charakteristische Relativismus und Funktionalismus manifestierte sich nach Ansicht der Jahrbuch-Autoren auch in der Gestaltung von Wirtschaft und Arbeit.22 Während Vallentin schon in der bloßen Arbeitsteilung die Wurzel des Übels zu entdecken glaubte,23 war Gundolf etwas vorsichtiger und sprach von einer „zentrifugalen reihe von emanzipationen“, die erst mit dem Kapitalismus ihren äußersten Punkt erreicht habe. Solange die Welt „eine bindende leibhafte mitte“ gehabt habe, sei Geldwirtschaft (und mithin ein gewisses Maß an Arbeitsteilung) möglich gewesen, „da überall in einem leibhaft begrenzten ein maass gegeben war.“ Seit jedoch „an stelle des göttlich leibhaften die abstraktionen getreten“ seien, habe sich das Geld zum Herrn der Welt aufgeschwungen und jedes „bindekräftige[] zentrum“ verdrängt. Unter seinem Regiment verwandle sich die Arbeit in bloße Berufsarbeit und der Mensch in den Berufsmenschen, den Träger einer abstrakten Funktion.24 Auch andere Bereiche wie die Kunst würden von dieser Entwicklung in Mitleidenschaft gezogen.25 c) Die ausschließliche Ausrichtung des Daseins auf Relationen und Funktionen machte auch vor der Politik nicht halt. Der Staat, so Gundolf, war unter diesen Bedingungen „nicht mehr mittel und ausdruck von menschtum, sondern selbständiger apparat, dem die menschen fronden.“ Näher besehen war er nicht einmal das, sondern seinerseits abhängig vom Kapitalismus.26 Der Grund und Träger des Staates, das Volk, zerfiel in Beziehungen, „massen, klassen, parteien, konstellationen“, die sich nach willkürlich gesetzten Zielen gruppierten.27 Anstelle der „naturgemässen zu19 Ebd.; Wolters, Richtlinien, S. 152. 20 Gundolf, Wesen und Beziehung, S. 15. 21 Jb 3/1912, S. IV. 22 Vgl. dazu näher die systemtheoretisch inspirierte Darstellung von Schönhärl, Wissen und Visionen, mit einem auch über die engere Fragestellung hinaus erhellenden Aufriss der „georgeanischen Semantiken“. 23 Vgl. Vallentin, Kritik des Fortschritts, S. 57. 24 Gundolf, Wesen und Beziehung, S. 18. 25 Vgl. ders., George in unserer Zeit, S. 69. 26 Ders., Wesen und Beziehung, S. 18. 27 Ebd., S. 32.

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sammenhänge […] aus denen sich ein volkstum als lebendig leiblicher ausdruck einer gesamt-seele herausgliedert“, trat eine „gesellschaft“, eine „wahllos verleimte zusammenrottung“,28 nicht mehr bestimmt „durch ein gemeinsames leben von innen her, sondern durch beziehungen nach aussen – wirtschaftliche nötigungen“;29 anstelle einer Politik, die vom Handeln heroischer Subjekte bestimmt war, ein bloßes Verhandeln, das die „persönliche tat“ durch Konventionen und Statuten ersetzte und statt von Angriff und Kampf von der „sorge um das gemeinwohl“ und um die „hebung der massen“ geprägt war.30 d) Der Dekomposition des Volkes in atomisierte Einzelne und deren Zusammenfassung zu Gruppen entsprachen in der Ethik die zeitgenössischen Konzeptionen des Individualismus und des Sozialismus. Nach dem Verlust des „ausser-persönlichen allgültigen lebensgrundes“ habe sich das moderne Ich „zu der halb konstruierten, halb neurotischen abstraktion verflüchtigt als die es heute, spukhaft, einzig sichtbares scheinbild am toten himmel steht“.31 Seinen historischen Ausdruck habe der Persönlichkeitskult im neuzeitlichen Kampf um die „freiheit der person, das hiess um das recht der politischen selbst- oder mitbestimmung“ gefunden, dem vorgehalten wird, nur ein „freisein von höheren pflichten“, „von aller bindung“ angestrebt und so einen Zustand der Gesetzlosigkeit, der Anarchie herbeigeführt zu haben.32 In engem Zusammenhang damit habe sich ein Kampf um die Gleichheit der Personen entwickelt, der zur Zerstörung der naturgegebenen Ungleichheit der Individuen, der Geschlechter und der politischen Gemeinschaften geführt habe und im Ergebnis auf eine allgemeine Verflachung und Nivellierung, auf die „gleichheit der würdelosen gebärde“ hinauslaufe.33 Beide Denkrichtungen zusammen, in denen man unschwer Liberalismus und Sozialismus erkennen kann, auch wenn sie nicht mit diesen Bezeichnungen versehen werden, hätten die „adern des menschheitskörpers“ zerrissen, „die zwischen wirken und werden, zwischen bilden und geniessen, zwischen herrschen und dienen die lebendigen säfte auf- und niederleiten“, und die Menschheit in ein „gestaltloses chaos“ gestürzt.34 e) Zu den zentrifugalen Kräften wurde schließlich auch der Protestantismus gerechnet. Schon in den frühen Folgen der BfdK finden sich distanzierte Äußerungen über den „nordischen geist“, der zumal seit der Reformation eine Vorliebe „für alles platte eckige vernünftelnde“ entwickelt habe.35 Deutlicher wurde dann das Jahrbuch. In der ersten Folge attackierte Wolfskehl die protestantische „entseelung von All und Mensch“, durch welche das Ich, diese Entdeckung von Platonismus und Christentum, zu der „halb konstruierten, halb neurotischen abstraktion verflüchtigt [worden sei], als die es heute, spukhaft, einzig sichtbares scheinbild am toten himmel steht“.36 In der dritten Folge begründete die Einleitung der Herausgeber die Ablehnung des Protestantismus damit, „dass er die voraussetzung bildet zur liberalen, zur bürgerlichen, zur 28 Wolfskehl, Blätter, S. 12f. 29 Gundolf, Wesen und Beziehung, S. 33. 30 Wolters, Richtlinien, S. 154. 31 Wolfskehl, Blätter, S. 7. 32 Wolters, Herrschaft und Dienst, S. 54. 33 Ebd., S. 55. 34 Ebd., S. 54f.; Friedrich Wolters, Gestalt, in: Jb 2/1911, S. 137–158, hier: 137. 35 BfdK 3/1896, 2, zit. nach GK, S. 25; BfdK 5/1900/01, zit. nach GK, S. 63. 36 Wolfskehl, Blätter, S. 7.

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utilitären entwicklung.“ Unter Berufung auf Max Webers Protestantismusstudie wurde überdies ein enger Zusammenhang mit Kapitalismus und Industrialisierung konstatiert.37 Für Hildebrandt erschöpfte sich das moderne, durch die Reformation begründete Christentum in bloßen Negationen. Der Einzelne sei dadurch aus dem geistigen Reich gerissen worden, das ihm seine Stellung und Wirkung angewiesen habe; die „stufenleiter der macht“ sei zerstört und der Einzelne in ein persönliches Verhältnis zu dem abstrakt gewordenen Gott gebracht worden, womit zwar die Innerlichkeit gewaltig gesteigert, insgesamt jedoch eine Verarmung des Lebens bewirkt worden sei: Diese verarmung äussert sich erstens in der überschätzung des farblosen logischen denkens gegenüber der sinnlichen welt, des abstrakten rechthabens gegenüber dem recht des lebendigen, im rationalismus, im dogmengezänk. Zweitens führt die verarmung des sinnlichen lebens zur verachtung des irdischen jammertals, zur flucht ins jenseits. Drittens äussert sich die unterdrückte natur in einer auf das überirdische gerichteten leidenschaft, einem notgedrungenen idealismus, überhizter religiosität, pietistischer brunst, mystizismus.38

f) Mit diesen Überlegungen schlug Hildebrandt den Bogen zur Kunst, die in ihrer modernen „romantischen“ Gestalt als die „jüngere Schwester“ des Rationalismus und, wenn man so will, Tochter des Protestantismus erschien.39 Kind einer „disharmonie“, „der trennung des geistigen vom dunkel-lebendigen“, habe die Romantik als zentrale Merkmale die Sehnsucht und den Rausch entwickelt: „die gemeinsame grosse erregung aller teile die sich anschicken eine neue wirklichkeit zu erzeugen“.40 Obwohl im Rausch eine gewisse Gemeinsamkeit mit dem von Nietzsche beschriebenen Dionysischen liege, unterscheide sich das Romantische von diesem doch insofern grundsätzlich, als es „ein wählen und suchen [sei], eine sucht nach eigener persönlicher erlösung“, der es nicht darum gehe, plastisch zu gestalten und zu formen, sondern darum, „das wehen und fliessen“ zu spüren und sich in der „atmosphäre der unendlichkeit“ zu verströmen.41 In diesem Sinne bedeute die romantische Bewegung „eine fortentwicklung und man darf sagen erhöhung der aufnehmenden seite, unter verkümmerung der auswirkenden, gestaltenden“,42 eine „verselbständigung des gefühls“, die im Ergebnis dazu führe, „die welt als spiel“ zu nehmen.43 Die ihr am meisten gemäße Kunstgattung sei dementsprechend die Musik, „das bewegte Chaos“, in dem sich „wie in einem flüssigen element alle gestalten und gebilde auflösen“ und neu ordnen lassen. „Die werke der Romantiker sind mit diesem individualistischen, musikalischen, grenzenlosen geist getränkt und es ist deutlich, wie sie darum im gegensatz zu den plastischen gebilden der antike standen“.44 Überflüssig hinzuzufügen, dass dieses Verständnis der Romantik auch den modernen Ästhetizismus, „das handhaben ausgebildeter mittel um des blossen handhabens willen“, einschließt.45 37 Jb 3/1896, S. VII. 38 Hildebrandt, Romantisch und dionysisch (II), S. 125. 39 Ebd., S. 117. Zur Romantikkritik im George-Kreis vgl. Maximilian Nutz, Werte und Wertungen im George-Kreis. Zur Soziologie literarischer Kritik, Bonn 1976, S. 187ff. 40 Hildebrandt, Romantisch und dionysisch (II), S. 119. 41 Ebd., S. 122f. 42 Ders., Romantisch und dionysisch (I), S. 101. 43 Gundolf, Wesen und Beziehung, S. 11. 44 Hildebrandt, Romantisch und dionysisch (I), S. 104. 45 Gundolf, Wesen und Beziehung, S. 17.

8. Zeitkritik und Politik

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In diesen sechs Anklagepunkten ist vieles, aber noch längst nicht alles von dem erfasst, was der Jahrbuch-Kreis gegen die „Richtungen des modernen Zeitgeists“ vorzubringen hatte.46 Ins Visier gerieten außerdem: die „allgemeine freudlosigkeit, die trotz aller äussern verbesserungen, erleichterungen und vergnügungen sich ausbreitet und den vergleich mit dem späten römerreich herausfordert“; die „sich stetig steigernde artverschlechterung“, die aus einem falschen, sogar den Schutz von Schwachen und Krüppeln einschließenden Humanismus resultiere und „nur durch gift und feuer“ geheilt werden könne; die damit einhergehende Herrschaft der Massen, „das produkt hemmungslosen fortschritts, gesetzloser humanität, passiver freiheit“; die Frauenemanzipation, die die „gefahr einer feminisierung von ganzen völkern“, des Erlöschens der kriegerisch-heroischen Instinkte, aber auch des Bevölkerungsrückgangs mit sich bringe; die „abneigung des amerikanischen, pathoslos gewordenen menschen gegen jede form der heroisierten liebe“, wie sie speziell im (homosozialen) Freundschaftskult verkörpert sei: Erscheinungen, die sich in der Summe zu einer „völlige[n] entseelung der menschheit“, einer „amerikanisierung“, ja „verameisung der erde“ addierten. Wenige Jahrzehnte noch, und die „städtisch fortschrittliche verseuchung“ werde „bis in die fernste weltecke gedrungen sein“ und die „satanisch verkehrte, die Amerika-welt, die ameisenwelt“ vollendet haben.47 Dass Gundolf in diesem Zusammenhang Zarathustras Vision von den letzten Menschen zitiert, macht deutlich, wie viel diese Zeitkritik Nietzsche verdankt. Gleichwohl war es nicht nur das Beharren auf der eigenen Originalität, wenn Wolters in einem Gespräch mit Schmoller darauf beharrte, „dass wir nicht von Nietzsche kämen“.48 Neben vielen anderen Differenzen, wie sie sich etwa in der Haltung gegenüber der Musik oder den Lehren vom Übermenschen und der Ewigen Wiederkehr des Gleichen zeigten, war es vor allem die Einstellung gegenüber dem ,zeitgeist‘, in der sich die Wege trennten.49 Während Nietzsche die allgemeine Entartung, die de´cadence, den Nihilismus, bereits für zu weit fortgeschritten hielt und deshalb dafür plädierte, sie noch zu beschleunigen, um auf diese Weise den Nihilismus sich gleichsam selbst zerstören zu lassen,50 war für die Georgianer der point of no return noch nicht überschritten. Das dritte Jahrbuch schloss mit der Frage: „Warum nicht warten, bis das morsche gebäude von selbst zerfällt?“ Und es gab darauf die Antwort: „Wir glauben wohl dass jezt noch reste von alten substanzen erhalten sind die man noch nicht abwirtschaften konnte. Der lezte zeitpunkt für ihr inkrafttreten ist freilich da.“51 Was auf den ersten Blick nach einer Parteinahme für ,Konservatismus‘ aussieht – eben jenes Konservatismus, von dem Nietzsche sich explizit distanzierte52 – war je46 Ders., George in unserer Zeit, S. 63. 47 Jb 3/1912, Einleitung; Gundolf, Wesen und Beziehung, S. 19. 48 F. Wolters an StG v. 14.6.1914, in: G/W, S. 100. 49 Vgl. dazu näher ES, S. 270f.; David, Stefan George, S. 328f.; Frank Weber, Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis, Frankfurt/M. u. a. 1989, S. 108; Stefan Breuer, Nietzsche-Translationen. Typen der Nietzsche-Rezeption in der deutschen Rechten, in: Andreas Schirmer/Rüdiger Schmidt (Hrsg.), Widersprüche. Zur frühen Nietzsche-Rezeption, Weimar 2000, S. 271–290, hier: 274ff. 50 Vgl. Stefan Breuer, Grundpositionen der deutschen Rechten 1871–1945, Tübingen 1999, S. 53ff. 51 Jb 3/1912, S. VIII. 52 Vgl. Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung, in: Ders., Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 2, München 1966, S. 1019.

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doch nichts dergleichen, jedenfalls dann nicht, wenn man darunter dessen konkrete geschichtliche Ausgestaltung als Verteidigungsideologie der alteuropäischen societas civilis und ihres führenden Standes versteht.53 Zwar gab es gewisse Überschneidungen, etwa in der Verklärung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, in der Befürwortung von Stratifikation oder im Faible für das Agrarisch-Bäuerliche. Bei näherer Betrachtung erkennt man jedoch unschwer die Differenzen. Nicht weniger als das alte Kaisertum hat man im George-Kreis Napoleon als den „einzige[n] kosmischen Herrscher unserer Zeiten, als wunderhafte Wiedergeburt antiken Staats- und Heldengeistes“ geschätzt und ihm einen Lorbeerkranz nach dem anderen geflochten54 – eben jenen Napoleon, der das „Heilige Reich“ zerstört und eine Herrschaft begründet hat, die nach den Kategorien Max Webers als ,antiautoritäre Umdeutung des Charisma‘ eingestuft werden muss55 und damit in striktem Gegensatz zu der vom Konservatismus favorisierten traditionalen Legitimität steht. Ebenso konträr hierzu lesen sich die Begründungen, mit denen das künftige ,neue adlige geschlecht‘ legitimiert wird,56 soll dieses sich doch nach StG nicht von Schild und Krone ableiten, sondern „[s]tammlos wachsen im gewühle“ (VIII, 85), mithin gerade das entbehren, was den Adel erst als solchen konstituiert und von jeder bloßen Elite unterscheidet: das Erb- bzw. Gentilcharisma. „Väter mütter sind nicht mehr . . / Aus der sohnschaft · der erlosten · / Kür ich meine herrn der welt“ (VIII, 83). Auch die Elogen auf Land und Bauerntum, in denen sich StG bisweilen erging,57 enthüllen ihren wahren Sinn erst dann, wenn man sich klarmacht, dass sie nicht so sehr der Wurzel gelten, als dem, was daraus hervorgehen soll. Ein Hirt der Lüneburger Heide oder ein Bauer der Marschen, so StG zu Wolters, sei wohl von den Erinnerungen der Vorzeit und dem Raunen seiner Steine, Wellen und Sterne erfüllt, aber so dumpf, dass es Element von Land und Volk bleibt, nicht Stimme wird, Stimme nur wird im Dichterkind dieser Landschaft wie in Klages, Stimme nur wird im Dichterkind des Volkes, dem Genius, der das Meiste räumlicher und zeitlicher Habe der Stämme seines Volkes, lebender wie versunkener, umgreift, in seinem Geiste als Schatz und Wurzel trägt und im Werke gestaltet.58

Es geht, mit anderen Worten, nicht um das Land als Basis einer in Häuser gegliederten eigenständigen Herrschaftswelt, in der Staat und Gesellschaft, Politik und Ökonomie noch nicht auseinandergetreten sind, sondern um das Land als Ermöglichungsgrund für eine Re-Zentrierung der Gesellschaft, wie sie als solche sicherlich auch manchen Epigonen des Konservatismus im 19. Jahrhundert vorgeschwebt haben mag, ganz sicher aber nicht in der Ausrichtung auf einen funktionalen Primat der Kunst bzw. der Dichtkunst. Hält man sich weitere Aspekte des im Jahrbuch-Kreis kursierenden Ideengutes vor Augen wie etwa den männerbündisch, nicht patriarchalisch legitimierten 53 Vgl. Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986. 54 Friedrich Gundolf, Dichter und Helden (1912), in: Ders., Dichter und Helden, S. 23–58, hier: 58. Zur Napoleon-Verehrung vgl. ausführlicher weiter unten. 55 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 155f. 56 Wolters, Richtlinien, S. 157. 57 Vgl. LT, S. 82; EL, S. 34. 58 Friedrich Wolters, Frühe Aufzeichnungen nach Gesprächen mit Stefan George zur ,Blättergeschichte‘, in: CP 45/1996, 225, S. 23–61, hier: 39.

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Antifeminismus, die Identifizierung des Dichters mit dem Vates und dem Heros, wie sie sowohl für Hölderlin als auch für StG vorgenommen wird, die Stilisierung der vom Dichter gestifteten Gemeinde zur „ecclesia militans“, welche „die fäden zum allseligmachenden netz“ verknotet, den aus christlicher Sicht schlechterdings blasphemischen Maximin-Kult, der überdies mit einer Inflationierung der Inkarnationsidee einhergeht und Geschichte in eine diskontinuierliche Erlebnisfolge zerfallen lässt,59 schließlich die ständige Vermischung von Religion, Kunst und Politik zu einer undurchdringlichen Gemengelage, die einmal mehr theokratische, dann wieder cäsaropapistische Züge annehmen kann, dann wird klar, wie weit entfernt man von allem ist, was für den historischen Konservatismus typisch war. Zu der naheliegenden Vermutung, man habe es, wenn nicht mit Konservatismus, so doch vielleicht mit einer Version der „konservativen Revolution“ zu tun, ist an anderer Stelle das Nötige gesagt.60 Hier ist vorerst nur festzuhalten, dass der George-Kreis in politicis bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges keiner einzigen der damals das politische Feld bestimmenden Positionen zuzuordnen ist, auch wenn er aufgrund seiner Präferenz für eine Ordnung der Ungleichheit eine deutliche Gravitation nach rechts erkennen lässt, ,rechts‘ hier verstanden im Sinne jener „Nichtegalitarier“ Norberto Bobbios, die „dem größere Bedeutung beimessen, was die Menschen ungleich statt gleich macht“.61 Seine Festlegungen sind in dieser Hinsicht jedoch so vage, dass man gut daran tut, jegliche Assimilierung an Bekanntes zu vermeiden und Bezeichnungen zu verwenden, die die Eigenständigkeit, die historische Individualität des Kreises zum Ausdruck bringen, handele es sich dabei um ,dichterische Politik‘ (Gruenter), um ,ästhetischen Radikalismus‘ (Landfried) oder ,ästhetischen Fundamentalismus‘ (Breuer).62

8.2.

Divergente Konkretisierungen I: Der George-Kreis im Ersten Weltkrieg

Der George-Kreis ist lange als Einheit gesehen worden. Erst in neuerer Zeit wächst die Aufmerksamkeit dafür, dass die sowohl für die Blätter- als auch für die Jahrbuch-Zeit charakteristische semantische Offenheit Raum für differierende Konkretisierungen ließ, nicht nur, aber auch und gerade in Bezug auf Politik.63 Besonders pointiert hat 59 Vgl. Friedrich Gundolf, Hölderlins Archipelagus, S. 19f.; Wolters, Herrschaft und Dienst, S. 33; Breuer, Fundamentalismus, S. 118ff. 60 Vgl. Breuer 1995, S. 226ff. sowie III, 7.2. 61 Norberto Bobbio, Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Berlin 1994, S. 78. „Nicht die allgemeine gleichheit“, heißt es bei Wolters, „sondern der natürliche unterschied soll wieder zum menschenrechte werden, damit endlich dieser wahn von den augen fällt, der unsre kräfte lähmt und unser volk zu einem ängstlichen krämer, zu einem feigen knechte der humanität macht“ (Friedrich Wolters, Mensch und Gattung, in: Jb 3/1912, S. 138–154, hier: 148; vgl. auch FW, S. 464f.). Bei Gundolf wird der „natürliche unterschied“ als unterschiedlicher Grad der Göttlichkeit gefasst, „Heldenverehrung ist nur die deutlichste Form des Glaubens, dass die Menschen in verschiedenen Graden gotthaft sind und der Heros ist die deutlichste Gewähr für die Göttlichkeit der Menschenwelt“ (Gundolf, Dichter und Helden, S. 45). 62 Vgl. Gruenter, Georges ,Nationalismus‘, S. 149; Landfried, Stefan George, S. 189; Breuer 1995. 63 Vgl. Bodo Würffel, Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978, S. 226ff.

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II. Systematische Aspekte

zuletzt Carola Groppe die These vom Vorhandensein zweier konkurrierender Weltanschauungsmodelle vertreten, die ein unterschiedliches Verhältnis zwischen Kunst auf der einen Seite, Politik und Gesellschaft auf der anderen Seite einschlössen. Während die „ästhetische Auslegung“, wie sie vor allem von Gundolf präferiert worden sei, den Sinn der „geistigen Bewegung“ in der „Formierung einer neuen Bildungselite“ gesehen habe, die durch „selbständige Erkenntnis, Handlungsautonomie in der Gemeinschaft und die selbstverantwortliche Unterordnung unter die Idee, nicht unter die Person“ bestimmt sein sollte und eher auf die Errichtung einer exklusiven Lebensgemeinschaft zielte als auf Inklusion der Gesamtgesellschaft, habe die „politische Ästhetik“ im Sinne von Wolters die weltanschaulich-ästhetischen Prinzipien des Kreises für eine Neugestaltung des politischen und sozialen Raumes instrumentalisiert und damit eine „Ästhetisierung des politischen Feldes“ bewirkt.64 An anderer Stelle hat Groppe diese beiden Modelle mit dem Unterschied von Sekte und Kirche gleichgesetzt.65 Was zunächst die Jahrbuch-Zeit angeht, so ist eine derartige Differenz noch nicht zu erkennen. Gundolf wie Wolters bemühten sich hier gleichermaßen um eine Elaborierung des in den BfdK skizzierten Modells eines sukzessiven Ausbaus der von den „urgeistern“ ausgehenden Offenbarung zu einer Kultur, die sich auch bei Gundolf keineswegs auf die „gemeinde“ beschränkte, vielmehr einen Prozess meinte, bei dem die Träger und Offenbarer des neuen Lebensgefühls zunächst „die stärksten und reinsten Seelen ergreifen und umbilden“ und dadurch „die Atmosphäre mit neuen Substanzen“ füllen, „aus denen nach und nach konzentrisch sich erweiternd eine Schicht, eine Gesellschaft, ein Volk, d. h. eine lebendige Menge sich nährt“.66 Eine Unterscheidung von Person und Idee ist in diesem Kontext ebenso ausgeschlossen wie die Vorstellung von Handlungsautonomie und Selbstverantwortlichkeit. Dass die Einzelnen ihr Ich auszulöschen haben, um sich in „wandelnde öfen“ zu verwandeln, die der ,Meister‘ geheizt hat, schreibt Gundolf, nicht Wolters (obwohl es bei diesem genauso stehen könnte). Andererseits wird man auch von Kirche nicht sprechen können, wo es erklärtermaßen um die Sammlung der Qualifizierten mit dem Ziel einer Weltumgestaltung geht, nicht um die Etablierung einer Institution, die ihr Licht gleichermaßen über Gerechte und Ungerechte scheinen lässt. Konkurrierende Weltanschauungsmodelle lassen sich im Jahrbuch nicht ausmachen, auch und gerade nicht in Bezug auf Politik, wie die durchweg zustimmenden Äußerungen Gundolfs zu Wolters’ Herrschaft und Dienst zeigen.67 Schon näher kommt der George-Kreis der postulierten Differenz während des Ersten Weltkriegs. Bemerkenswerterweise fällt der Unterschied zwischen ästhetischer 64 Vgl. Groppe, Weltanschauungsmodelle. 65 Vgl. Groppe 1997, S. 287. 66 F. Gundolf an S. Lepsius v. 3.8.1910, in: Gundolf, Briefe. Neue Folge, S. 69. 67 Vgl. Friedrich Gundolf, Das Bild Georges, in: Jb 1/1910, S. 19–48, hier: 46. Ähnlich bereits im Briefwechsel: vgl. F. Gundolf an F. Wolters v. 1.5. u. 21.5.1909, in: FG/W, S. 38, 40. Auch Wolters’ Richtlinien werden als „herrlich“ qualifiziert: vgl. F. Gundolf an F. Wolters v. 9.2.1910, in: FG/W, S. 48. Noch einige Jahre später weiß Gundolf über seine Rede Stefan George in unserer Zeit nichts Besseres zu sagen, „als dass von Ihrem [Wolters’] Geist darin ist: auf viele Fragen ist sie die erste Antwort, die den Aussenstehenden wenigstens zum Nachdenken hilft, da Herrschaft und Dienst noch immer das eigentliche Buch für die Vorgeschrittenen, im Vorhof schon Angelangten ist“; F. Gundolf an F. Wolters v. 12.11.1913, in: FG/W, S. 91ff.

8. Zeitkritik und Politik

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und politischer Auslegung jedoch auch hier noch nicht mit dem Gegensatz von Gundolf und Wolters zusammen, sondern mit einem solchen zwischen StG und dem größten Teil seiner Jünger.68 StGs Stellung zum Krieg war ambivalent. Auf der einen Seite sah er in ihm, darin ganz Kind des 19., wenn nicht des späten 18. Jahrhunderts, ein mögliches Mittel, um die nach seiner Auffassung in Deutschland noch immer vorhandenen „alten substanzen“ zu mobilisieren und zu aktivieren, ein Antidot gegen jenes vom Jahrbuch beschworene „erlöschen aller tüchtigen kräftigen instinkte gegenüber den unkriegerischen, weiblichen, zersetzenden“.69 Auf der anderen Seite bestand das Problem, dass der nächste Krieg mit den Mitteln der modernen Zivilisation geführt werden würde und womöglich das Gegenteil von dem bewirkte, was man sich erhoffte: einen weiteren Schub in der von Gundolf perhorreszierten „unbarmherzige[n] verknechtung des menschen durch seine werkzeuge“, welche sowohl durch die Expansion der Zivilisation auf Kosten der Kultur als auch durch das Ungeschick der deutschen Politik herbeigeführt werden konnte.70 In die letzte Richtung weisen Äußerungen StGs über die „maasslose[] dummheit der deutschen Staatskunst“, die eben jenes Land in die Isolation geführt habe, in dem StG, bei aller Kritik, doch eine ursprüngliche Kraft sah, die einmal die Weltwende bewirken könne;71 in die erste sein 1917 entstandenes Gedicht „Der Krieg“ (IX, 21–26), in dem der Seher seinen Zeitgenossen vorwirft, sich von der „äussern wucht“ (IX, 23) pressen zu lassen und sich in einem Kampf der Massen und der Maschinen zu verzehren. Gegenüber Salin, der ihm im Jahr zuvor einen Traktat über Volk und Heer geschickt hatte, in dem er „eine Art staatstragende[n] Wehrkundeunterricht[]“ vorschlug, ging StG auf maximale Distanz: ,Was ist Eure ganze Haltung eigentlich wert, wenn ihr glauben könnt, ein paar gehobene Schicksalsaugenblicke vermögen ein verkommenes Volk zu wandeln?‘ – ,Ist der Bürger etwa heute ein anderer als vor 1914?‘ – ,Zeugt nach Ihrer Meinung der Krieg den neuen Menschen? Ist denn irgend etwas von bleibender Bedeutung geschehen? Vielleicht Tannenberg. Aber wo sehen Sie Sinnbildliches, wenn Massenheere sich ziellos bekämpfen?‘ (ES, 27)

Dass das sichtbare Deutschland offenkundig die ihm zugeschriebene Mission einer Kulturerneuerung nicht zu erfüllen vermochte und das geheime Deutschland, der von StG geschaffene ,Staat‘, im Krieg einen so hohen Blutzoll entrichten musste – dies alles war geeignet, in StG das Urteil zu verstärken, dass dieser Krieg nicht der ersehnte heilige Krieg war. In ihm rase sich vielmehr ein altes Jahrhundert zu Ende, in einer Weise, die naturnotwendig und irreversibel sei.72 So pessimistisch und distanziert äußerte man sich im Kreis nur an der Peripherie. Walter Wenghöfer ließ ähnliche Zweifel vernehmen, desgleichen Bertram und Curtius.73 Das Zentrum dagegen – allen voran die Säulen des Jahrbuchs: Gundolf, Wolters, 68 Vgl. Egyptien, Die Haltung Georges. 69 Jb 3/1912, S. VI. 70 Gundolf, Wesen und Beziehung, S. 15. 71 StG an F. Gundolf v. 5.10.1914, in: G/G, S. 263; EL, S. 49f., 64. 72 Vgl. StG an F. Wolters v. 14.3.1917, in: G/W 1998, S. 133. 73 Vgl. David, Stefan George, S. 372; Hajo Jappe, Ernst Bertram. Gelehrter, Lehrer und Dichter, Bonn 1969, S. 67ff.; Friedrich Gundolf, Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, hrsg. v. Lothar Helbing u. Claus Victor Bock, Amsterdam 1963, S. 238.

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II. Systematische Aspekte

Hildebrandt – nahm am Verschmelzungstaumel teil, wie er im August 1914 vor allem die Mittelschichten ergriffen hatte. Hildebrandt erinnert sich, zusammen mit Friedemann vom Volk mitgerissen und wie berauscht neben der Equipage eines Kaisersohns mitgelaufen zu sein (KH, 102); Wolters, Vallentin, Salin, Thormaehlen und viele andere meldeten sich sogleich freiwillig; selbst Wolfskehl, obwohl halbblind, bemühte sich verzweifelt, in Reih’ und Glied zu kommen. Was ihm mit der Waffe zu leisten verwehrt wurde, versuchte er, mit der Feder zu tun. Am 12.9.1914 erklärte er in einem offenen Brief an Romain Rolland den Krieg zur Sache des ,geheimen Deutschland‘, bei der es um nicht weniger gehe als um „das Göttliche im Menschen“, „um unsern Bestand und den Europas“.74 In einem Brief an Gundolf schwärmte er vom herrlichen deutschen Generalstab und „von dem Auferstehen der wahrhaften Urstände des verborgnen Deutschlands das nun sich selber staunend spürt“.75 Dieselbe Identifizierung des geheimen mit dem sichtbaren Deutschland nahmen Wolters und Gundolf vor. Am 17.8.1914 berichtete Wolters seinem ,teuersten Meister‘, der deutsche Mensch scheine wie verwandelt: nicht der preussische staat führt diesen krieg sondern das deutsche volk ist wohl zum ersten mal in seiner geschichte wie ein mann aufgestanden und ist sich seiner kraft und seines wertes bewusst. […] Alle fühlen die sittlichen werte auf Deutschlands seite und die mittel mit denen die gegner den krieg führen zeigen in der tat schon am beginn die instinkte des schwächeren, ja des niedrigen: es ist ein kampf gegen das dasein Deutschen wesens, gegen etwas als stärker und gewaltiger gefühlten von niedergehenden völkern, ein kampf verblichener und heuchlerischer humanität – von elenden russen nicht zu reden – gegen ein aufdämmerndes heroisches in unserem volke, ein kampf neuer art gegen eine entartende ehemals glänzende welt […]. (G/W, 103f.)

Zwei Jahre später sah er durch den Krieg die bürgerliche Welt „gelockert und geweitet […], wie nie zuvor“; das „Heldische“ durchdringe jetzt den ganzen Demos und erscheine ihm eigen.76 Im Jahr darauf widersprach er StG, als dieser ihm mitteilen ließ, er glaube nicht an das Vorhandensein einer neuen Kraft, die imstande sei, die Dinge zu beseelen: die Welt, von der StG meine, sie müsse zuerst untergehen, bevor sich etwas Neues durchsetzen könne, bedeute nicht unser Volk: sie mag es im letzten jahrhundert bis zu einem bedenklichen grade durchsetzt und zersetzt haben, aber sie hat weder seine kraft verzehren noch es ganz entgöttlichen können (wie ich das an anderen völkern zu sehen glaube). Wie hätte auch sonst eine neue kraft und ein neues göttliches daraus geboren werden können? Was im frieden schwer erkennbar aber im grunde von uns selbst immer geglaubt wurde macht dieser krieg offenbar: gerade die gesunden kräfte wurden und werden sichtbar, das unverbrauchte und am wenigsten von der zersetzung angenagte nahm die führung und wenigstens die ahnung einheitlich göttlichen seins flammte einen augenblick auf. Die maschinellen und mammonistischen kräfte der alten welt sind trotz ihrer steigerung ins ungeheuerliche deutlich in ihrer wertung gesunken: man hat sie als zeitliche mittel erkannt, niemand sieht in ihrer mehrung und ausbildung noch zweck und ziel des menschen. Die zeit der abgötterei der Maschine ist vorbei: wie könnte ich also gar von einer vergöttlichung der Maschine geredet haben.77 74 Zit. nach Karl Wolfskehl, S. 218f. 75 K. Wolfskehl an F. Gundolf v. 10.10.1914, in: W/G II, S. 106. 76 F. Wolters an F. Gundolf v. 19.11.1916, in: FG/W, S. 152. 77 F. Wolters an StG v. 26.2.1917, in: G/W, S. 131f.

8. Zeitkritik und Politik

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Noch in der ,Blättergeschichte‘ wird Wolters es dem George-Kreis als Verdienst anrechnen, dass bei Kriegsausbruch „das geheime Deutschland sich mit dem öffentlichen eins fühlte“ (FW, 439). Im Kern war dies auch die Ansicht von Gundolf. „Mehr als je fühl ich“, meldete er StG, dass Deutschland „das ,heilige Herz der Völker‘ und wieder schöner als man je hoffen durfte, wenigstens jetzt ein Volk ist […] das einzig wahrhaftige, echte, männliche, sachliche – als Volk, das jetzt existiert. Du müsstest diese Tage HIER erlebt haben!“78 Dieser Augustmonat sei eine Erfüllung, der Anfang eines neuen Weltalters.79 Wolfskehl lässt er wissen, er fühle sich gerührt und gestärkt durch jenes wunderbare Meer von Kraft und Glaube, „das uns alle jezt umbrandet und durchdringt“; Salin, er lebe „in einem Rauschzustand der seinen ewigen Wert in sich hat“.80 Gegenüber Gustav Roethe schwärmte er, ebenfalls im August 1914, von der „Verwandlung von vielen Millionen Leuten in ein deutsches Volk, das diesen heiligen Namen verdient“, und schrieb diesem neuen Volk die Aufgabe und die Berechtigung zu, eine neue Welt zu schaffen.81 Dass diese wiederum nicht ohne brachiale Zerstörung der alten zu haben war, war für Gundolf selbstverständlich. Hatte er schon früher den allgemeinen Frieden als ein „müdes greisenideal“ bezeichnet und sich für den „heiligen Krieg“ gegen die „Sicherheitszivilisation“ stark gemacht,82 so überließ er sich jetzt ganz seinen Vernichtungswünschen. „Ceterum censeo“, schreibt er am 2.10.1914 an StG, „e´crasez la France“.83 Und in seinem Aufsatz in der Frankfurter Zeitung schwang er sich gar zu einer Neuauflage der berüchtigten Hunnenrede des Kaisers auf. Das Gegreine und Getobe um zerstörte Kunstschätze sei welke Romantik, einem flachen Kulturbegriff geschuldet. Kultur sei kein Haben, kein Genießen, sie ist ein Sein, Wirken, Werden, ein Erschaffen, Zerstören, Verwandeln – und Attila hat mehr mit Kultur zu tun als alle Shaw, Maeterlinck, d’Annunzio und dergleichen zusammen […]. Wer stark ist zu schaffen, der darf auch zerstören, und wenn unsere Zukunft nicht mehr schaffen könnte, hätte sie kein Recht, Vergangenes zu genießen.84

Die hier erkennbare, nicht anders als nationalistisch zu bezeichnende Position steht in Widerspruch zu der für die Anfänge des Blätter-Kreises typischen kosmopolitischen Einstellung, die mit einer äußerst kritischen Haltung gegenüber der eigenen Nation korrespondiert und bei StG noch bei Kriegsausbruch so präsent ist, dass er Gundolfs Franzosenhass eine schroffe Abfuhr erteilt.85 Sie steht freilich zugleich in einer wie immer auch mittelbaren Beziehung zu einem anderen Argumentationsstrang, der ebenfalls schon in den BfdK angedeutet wird, um allerdings erst nach der Jahrhun78 F. Gundolf an StG v. 14.8.1914, in: G/G, S. 256f. 79 Vgl. ebd., S. 258. 80 F. Gundolf an K. Wolfskehl v. (ca.) 15.9.1914, in: W/G II, S. 103; F. Gundolf an E. Salin v. 11.8.1914, in: Gundolf, Briefe. Neue Folge, S. 139. 81 „Es gibt wohl jetzt kein andres Volk mehr von dem man eine neue Weltwerdung erwarten darf, wenn es nicht die Deutschen leisten“; F. Gundolf an Gustav Roethe v. 27.8.1914, in: Gundolf, Briefe. Neue Folge, S. 143. 82 Gundolf, Wesen und Beziehung, S. 25; ders., Gefolgschaft und Jüngertum (1909), in: GK, S. 78–81, hier: 79. 83 F. Gundolf an StG v. 2.10.1914, in: G/G, S. 263. 84 Zit. nach Karl Wolfskehl, S. 222. 85 Vgl. Gruenter, Georges ,Nationalismus‘, S. 153f.; Landfried, Stefan George, S. 222ff.; StG an F. Gundolf v. 5.10.1914, in: G/G, S. 263.

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II. Systematische Aspekte

dertwende stärker profiliert zu werden: dem Topos von der „Heiligen Heirat“, die das Deutschtum seit Goethe mit dem „hellenischen Wunder“ verbunden und dadurch vor allen anderen Völkern ausgezeichnet habe.86 In diesem Sinn hat Gundolf mit Blick auf den Deutschen Hölderlin von einer Wiedergeburt des griechischen Wesens gesprochen und Deutsche wie Goethe und StG zu Vorbildern von ,kosmischem‘ Rang erklärt,87 hat Wolfskehl, seinerseits auf Schillersche Motive zurückgreifend, das deutsche Volk als das einzige in Europa bezeichnet, das sich noch nicht erfüllt habe und deshalb noch hoffen dürfe, und daran die Erwartung geknüpft: dass eine bewegung aus der tiefe, wenn in Europa dergleichen noch möglich ist, nur von Deutschland ausgehen kann, dem geheimen Deutschland, für das jedes unserer worte gesprochen ist, aus dem jeder unserer verse sein leben und seinen rhythmus zieht, dem unablässig zu dienen glück, not und heiligung unseres lebens bedeutet.88

Das ist, wie Hellingraths Einleitung zur Hölderlin-Ausgabe zeigt, nicht unbedingt identisch mit einer Affirmation der realen Volksnation, deren Wortführer seit der Romantik gerade die „Abwendung vom antiken Vorbild“ propagierten,89 ließ sich aber ohne großen Aufwand in diesem Sinne wenden: Der Krieg ist nun wieder, wie seit den ersten Tagen nimmer, um Sein oder Nichtsein, sein furchtbarer Sinn, wenn nicht sichtbarer, so doch fühlbarer geworden. Es geht wirklich gegen den ,Fürst des Geziefers‘. Mit der Ernennung Hindenburgs zum Generalissimus haben die Deutschen das in ihre Mitte gestellt, woran allein sie überlegen sind, das Unberechenbare einer Menschenart und einer Menschenkraft – kühn und gewaltig und geheimnisvoller mag der Kampf jezt werden, vielleicht noch gefährlicher. Doch komme was kommen mag!90

Bei genauerer Lektüre entdeckt man freilich in Gundolfs während des Krieges entstandenen Arbeiten Hinweise darauf, dass die Euphorie der Augusttage nicht lange vorhielt. Seine Briefe lassen schon 1916 erkennen, dass ihm der außeralltägliche Zustand der Mobilmachungswochen, die Durchdringung der Massen mit charismatischem Heldentum und Opferbereitschaft, als nicht perpetuierbar erschien und wieder vom Alltag und vom Menschlich-Allzumenschlichen abgelöst wurde.91 Sie zeigen darüber hinaus deutliche Skepsis gegenüber dem deutschen Militarismus und der Berechtigung seiner weltpolitischen Ambitionen; militärische Erfolge an sich, so hielt er Salin entgegen, reichten nicht aus, um einen neuen Staat auszubilden, vielmehr bedürfe es erst der vom Kreis stets geforderten Ausprägung eines Eliten-Geistes, um der Kriegsführung ein sinnvolles Ziel zu geben.92 Dass der Krieg als solcher bereits eine „Weltund Volkswende kairoshaft gebracht hat“, erschien ihm jetzt fraglich, Politik als etwas, das es nicht wert sei, dass man sich darum kümmere.93 In einem Brief, den er kurz nach Kriegsende an StG richtete, finden sich Passagen, die sich durchaus als Selbstkritik lesen lassen: 86 BfdK 4/1897, 1/2; 9/1910; zit. nach GK, S. 35, 87. 87 Vgl. Gundolf, Hölderlins Archipelagus, S. 12; ders., Dichter und Helden, S. 42, 52f.; ders., Stefan George in unserer Zeit, S. 59ff. 88 Wolfskehl, Blätter, S. 16ff. 89 Norbert von Hellingrath, Einleitungen zur Hölderlin-Ausgabe. Vorrede zu Band IV, in: GK, S. 117–122, hier: 117. 90 F. Gundolf an F. Wolters v. 4.9.1916, in: FG/W, S. 151. 91 Vgl. F. Gundolf an F. Wolters v. Juli 1916, in: FG/W, S. 144f. 92 Vgl. F. Gundolf an E. Salin v. Mai 1916, in: Gundolf, Briefe. Neue Folge, S. 153ff. 93 Ebd., S. 155, 152.

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Der Geist hat sich zuviel angemasst gegenüber dem Leben, dessen Gesetze er weder kannte noch schuf, und nun steht er ohnmächtig vor einem Trümmerhaufen, wohl erkennend, dass eins not ist, und seine Schätze und Mittel nicht mehr ausreichen, um dies eine zu leisten. Hier liegt eine neue Weltfrage vor.94

So wandte sich Gundolf denn von der Gegenwart in die Vergangenheit zurück, um den Energievorrat des Geistes wieder aufzufrischen. Dies geschah, gefördert durch die Berufung zunächst zum Extraordinarius (1917), dann zum Ordinarius (1920), auf ausschließlich akademische Weise, die „Öffentlichkeit nur noch im universitär-wissenschaftlichen Rahmen zuläßt, […] fernab vom politischen Engagement“.95 Schon das Goethe-Buch von 1916 setzte hier ein entscheidendes Zeichen, indem es nicht mehr den jungen, ganz vom „Urerlebnis“ geprägten Dichter feierte, freilich auch nicht den alten, vom „Bildungserlebnis“ bestimmten Goethe, sondern den mittleren, den klassischen Goethe, der einerseits noch in Verbindung mit dem „Urgrund“ stehen sollte, aus dem alle Kunst sich speist, andererseits aber seine Visionen nicht mehr der Welt schroff entgegensetzte, sie vielmehr als deren eigenes Bewegungsgesetz entwickelte. Dieser Goethe war groß, weil seit der Begegnung mit Herder „Bildungserlebnis und Urerlebnis bei ihm ineinander“ flossen, anstatt einen feindlichen Gegensatz zu bilden;96 er war Vorbild, weil er die Welt nicht mehr als ein zu Bekämpfendes, dem titanischen Ich zu Assimilierendes auffasste, sondern als einen „Raum der Selbstbetätigung und ein Mittel der bewußten und verantwortlichen Selbstausbildung“. Der klassische Goethe, so Gundolfs Botschaft, war die verwirklichte Synthese von Kunst und Bildung, von Genie und Regel, der einzige als Person schon gesetzliche deutsche Dichter, eine unerreichte Einheit von Individualität und Normalität, nicht nur eine große Persönlichkeit, sondern, wie Nietzsche formuliert, ,eine Kultur‘, ein Niveau, ein Gesetz durch sein bloßes Dasein, kurz ein Vorbild. Wenn irgendeiner, war er berufen als ästhetischer Gesetzgeber zu walten, zugleich heimisch im Geist und in den Sinnen.97

Ästhetische Gesetzgebung: das war freilich keine ganz passende Bezeichnung für die Leitlinie, die Gundolfs Arbeit seit dem Weltkrieg bestimmte. Sie traf insofern zu, als der Vorrang der Kunst, ihre Erhebung zum Zentrum der Wirklichkeit, wie sie für den Blätter- wie für den Jahrbuch-Kreis charakteristisch gewesen war, grundsätzlich gewahrt blieb, was sich in Gundolfs Arbeiten nicht bloß auf programmatischer Ebene, sondern im Erscheinungsbild wie in der Methode äußerte: in der konsequenten Missachtung aller Normen der traditionellen Literaturwissenschaft, im entschiedenen Beiseiteschieben aller Essentials der philologischen Forschung wie Wertfreiheit, Textkritik, Bibliographie oder Quellenbelege.98 Von Gesetzgebung aber konnte nur in uneigentlichem Sinne die Rede sein, begnügte sich Gundolf doch fortan damit, gewisse Normen und Maße aufzustellen, ohne sich noch für das zu interessieren, was ein Gesetz erst zu einem solchen macht: die Wirksamkeit.99 Was noch in der Blätter94 F. Gundolf an StG v. 18.1.1919, in: G/G, S. 326. 95 Peter-Andre´ Alt, Zwischen Wissenschaft und Dichterverehrung. Friedrich Gundolf in seinen Briefen und Briefwechseln, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 106/1987, S. 251–281, hier: 273. 96 Gundolf, Goethe, S. 96. 97 Ebd., S. 507, 208, 502, 465. 98 Vgl. Osterkamp, Gundolf, S. 177–198. 99 Auf politisch-staatlichem Gebiet ging Gundolf sogar noch weiter und erklärte Gesetzgebung

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II. Systematische Aspekte

und Jahrbuch-Zeit nur als erster Schritt in der Schaffung einer neuen Kultur gegolten hatte – die Schaffung einer ,pädagogischen Provinz‘, einer Gemeinschaft der zur Bildung Auserwählten100 – wurde beim späten Gundolf zwar nicht erklärtermaßen, wohl aber faktisch zum letzten; was ursprünglich nur eine von drei Betätigungsarten der „Schaffenden Kraft“ war – die Gestaltung im Werk – wurde mehr und mehr zur einzigen, die obendrein erst im Medium der Bildung ihre Wirksamkeit entfaltet.101 Dem Täter, dem Heros, hat Gundolf wohl auch in den 20er-Jahren noch Aufmerksamkeit gezollt, wie seine beiden Caesar-Bücher belegen, doch vermitteln gerade diese Schriften, trotz mancher Konzessionen an die Tagespublizistik, eher den Eindruck, der von Nietzsche beschriebenen antiquarischen Historie näherzustehen als der kritischen. Zu Recht hat Theodor Heuss in seiner Besprechung herausgestellt, dass mit dem von Gundolf entworfenen Caesar-Bild letztlich kaum Politik zu machen sei: Auch Gundolf gibt seinem historischen Werk eine politisierende Präambel, in die Tagesgefühle eingegangen sind. Das mag auf sich beruhen bleiben. Schenkt man dem Zeugnis nachformender Gestaltung den Sinn eines Zeitsymptoms, dann mag doch dies aufschlußreich sein, daß nicht ein bezwingendes Caesarbild, sondern eine Paraphrase über die Wanderungen und Handlungen seines Ruhmes das ist, was unsere Zeit über ihn zu sagen hatte.102

Nimmt man hinzu, dass an versteckter Stelle als zeitgenössischer Platzhalter Caesars ein Dichter präsentiert wird,103 dann zeigt sich, wie berechtigt es für diese Phase ist, von einer „ästhetischen Auslegung“ zu sprechen.

8.3.

Divergente Konkretisierungen II: Der George-Kreis in der Weimarer Republik

Nach 1918 gruppierten sich die Mitglieder des George-Kreises neu. Während die Befürworter einer ästhetischen Auslegung – neben Gundolf vor allem Robert Boehringer, Ernst Morwitz, Edith und Julius Landmann und übrigens auch Wolfskehl104 – Handlungsmöglichkeiten allenfalls noch im pädagogischen Feld sahen, setzte der ,Stamm Wolters‘ (Hildebrandt) verstärkt auf politisches Engagement – diesmal mit

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überhaupt für von peripherem Interesse. Als Leopold Ziegler ihm 1931 seine Fünfundzwanzig Sätze vom Deutschen Staat (Darmstadt 1931) übersandte, erhielt er zwar höflichen Dank und mancherlei Zustimmung, zugleich aber auch ein Achselzucken. Es widerstrebe ihm, so Gundolf, „Verfassungen, Einrichtungen, kurz Staaten, welcher Art auch immer, an sich für gut oder schlecht zu halten, für wünschenswert oder abscheulich, für heilsam oder verderblich.“ Sie seien bloße Media der stets gleichen Menschennatur und deshalb für sich genommen bedeutungslos; F. Gundolf an Leopold Ziegler v. 17.1.1931, in: Gundolf, Briefe. Neue Folge, S. 260. Vgl. Gundolf, Stefan George in unserer Zeit, S. 77. Zur zentralen Rolle der Bildung bei Gundolf vgl. Zöfel, Wirkung, S. 126ff.; Osterkamp, Gundolf. Heuß 1924; zit. nach Thimann, Mythische Gestalt, S. 324. „Noch ist kein Herrscher erschienen der weise ist, aber schon wirkt wieder ein Weiser mit herrscherlichem Willen, schöpferisch fest, wissend und liebend, trächtig von dem cäsarischen Schauer den Nietzsche geweissagt“; Gundolf, Caesar, S. 88. Gundolf nennt an dieser Stelle keinen Namen, doch weist das Personenregister StG nur ein einziges Mal, für eben diese Seite auf, sodass an der Identität dieses Weisen kein Zweifel bestehen kann. Vgl. Groppe, Weltanschauungsmodelle, S. 273; Kolk 1998, S. 451.

8. Zeitkritik und Politik

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der Rückendeckung StGs, der sich im Januar 1920 bei den Planungen für ein neues Jahrbuch dafür aussprach, eine „neue geistige Stellung“ zu markieren, die nunmehr auch das Politische zu berühren habe. Auf den Einwand, der Kreis habe sich unter dem alten Regime um dergleichen nicht gekümmert, erwiderte StG, „dass früher die Politik das Geistige habe unangetastet gelassen, jetzt drücke sie uns so auf dem Leben, dass wir uns einer Stellungnahme dazu nicht entziehen könnten“ (BV, 48). Aus dem Jahrbuch ist dann zwar nichts geworden, doch hat es in den folgenden Jahren so viele Stellungnahmen gegeben, dass die Einheit des Kreises nicht nur durch die Differenz zwischen ästhetischer Auslegung und politischer Ästhetik infrage gestellt wurde, sondern mehr noch durch die Bifurkationen in der politischen Ausrichtung. Das soll im Folgenden an einigen Beispielen erläutert werden. a) Wenn oben von Gundolf gesagt wurde, dass sich seine öffentliche Wirksamkeit auf den universitär-wissenschaftlichen Rahmen beschränkte, so gilt dies im Prinzip auch für Wolters. Als Extraordinarius in Marburg (1920–1923) wie als Ordinarius in Kiel (1923–1930) war sein Wirkungsfeld die akademische Lehre, und selbst wenn er sich an ein größeres Publikum wandte, geschah dies doch meist in einem akademischen Kontext: vor dem Deutschen Hochschulverband (Der Rhein unser Schicksal, 1923), der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft (Goethe als Erzieher zum vaterländischen Denken, 1925) oder dem Nordisch-Deutschen Universitätstag (Ernst Moritz Arndt und der Norden, 1929). Nur einmal, bei einer Schlageter-Feier der nationalen Jugend 1924, scheint er diesen Rahmen verlassen zu haben, doch liegt die Vermutung nahe, dass es sich auch in diesem Fall eher um die studentische, auf jeden Fall die gebildete Jugend gehandelt haben wird (vgl. BV, 72). Mit seinen Reden wie mit den sie flankierenden ,Lesewerken‘105 verband Wolters sowohl sachliche als auch persönliche Ziele. Er wolle, schrieb er am 14.6.1926 an StG, „unser geistiges gesicht des staates hinstellen“ und damit zugleich den „nebenzweck“ verfolgen, seine Chancen für eine Berufung nach Süden zu verbessern.106 Letzteres ist ihm, wie man weiß, nicht geglückt: Kiel ist die Endstation seiner akademischen Karriere geblieben. Aber auch in sachlicher Hinsicht waren seine Bemühungen von bestenfalls begrenztem Erfolg gekrönt. Nur in wenigen Passagen gelang es ihm, Anschluss an das Niveau der Jahrbuch-Zeit zu finden, so etwa in der Goethe-Rede, in der er zwischen dem Volk als einem Synonym für Menge und Masse und der „Volkheit“ als der Summe aller edlen Triebe unterscheidet, „die bei rechter Befragung durch die rechten Führer sich dumpf aber sicher zum Besten des Ganzen äußern“,107 und so vor allem in der Hölderlin-Rede, die die bald auch für Kommerell zentrale und zugleich den Unterschied zu Gundolf markierende Differenz im Griechenlandbezug Hölderlins und Goethes benennt. Habe der Weimarer Großdichter sich letztlich resignativ mit dem „Rest“ begnügt, „der nach dem Erlöschen des holden Wundertraumes bleibt“, so habe Hölderlin aus dem „Traum von Hellas“ die Gewissheit bezogen, „daß noch immer die schönen Geburten aus seinem eigenen Geiste steigen“ und zu einer Wiedergeburt des Griechentums in Deutschland verdichtet werden kön105 Vgl. Wolters/Petersen, Heldensagen; Friedrich Wolters/Walter Elze, Stimmen des Rheines. Ein Lesebuch für die Deutschen, Breslau 1923; Friedrich Wolters, Der Deutsche. Ein Lesewerk, 5 Bde., Breslau 1925. 106 F. Wolters an StG v. 14.6.1926, in: G/W, S. 210. 107 Wolters, Vier Reden, S. 39f.

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II. Systematische Aspekte

nen.108 Dabei habe er niemals im Zweifel gelassen, was dies für die hierzu in Widerspruch stehende Umwelt, die „Widerwelt“ bedeute – nämlich den Untergang. Hölderlin, so Wolters, ist unter allen Geistern des neuen Europa der tiefste, leidenschaftlichste und scharfsinnigste Verfechter des revolutionären Rechtes: freilich wie schon sein Begriff der ,Umkehr‘ uns bedeutet, nicht des unbedingten Rechtes auf Umwälzung oder Umsturz im Sinne der bloßen Verneinung oder Vernichtung sondern des bedingten Rechtes auf Befreiung von erstarrten Gebilden, vertrockneten Einrichtungen, leergewordenen Glaubensformen um neuer lebendiger edlerer schönerer Gestaltung willen.

Er, und er allein, habe vor Nietzsche und StG die Deutschen gelehrt, dass sie „freiwillig sich zur rettenden Gesundung ins heilige Bad der Wandlung stürzen müssen“, dass zum Werden das Vergehen gehört, „diese stete Umgestaltung des Lebens in seinem Untergang“, und dass nur aus dem Untergang die Auferstehung folgt.109 Der gegen die „Widerwelt“, die „Zivilisation“ gerichtete Furor wird in diesen Reden freilich von jenem altbekannten furor teutonicus überdeckt, der unmittelbar an die Kriegsideologien und mittelbar an jenen nationalistischen Chauvinismus anknüpft, der sich bis in die Epoche der Befreiungskriege zurückverfolgen lässt.110 Vor allem die während des Ruhrkampfes gehaltene Rede Der Rhein unser Schicksal schwelgte in der Ausmalung eines seit Jahrhunderten andauernden Existenzkampfes, den Deutschland gegen seinen westlichen Nachbarn zu führen habe. Seit dem Mittelalter, seit der Hinrichtung Konradins, hätten die Gallier versucht, ihren Identitätsverlust auf Kosten der Deutschen auszugleichen, indem sie deren staatliche Macht zu vernichten trachteten und „mit der ganzen Rachgier unterworfener minderwertiger Rassen, mit der ganzen Blutgier rebarbarisierter Kelten sich auf den blühenden Nachbar“ warfen.111 Mit besonderer Intensität geschehe dies seit den Revolutionen, die in Frankreich auch noch die letzten Reste an wertvoller rassischer Substanz zerstört hätten – eine Übernahme rassenideologischer Motive aus dem Arsenal Vacher de Lapouges und Ludwig Woltmanns, die Wolters freilich ebenso wenig kenntlich macht wie die Herkunft des hieran anschließenden Vorwurfs, dass Frankreich den größten Fluch auf sich geladen habe, der je ein Volk betreffen könne: es hat Blutschande begangen, sein Blut mit dem Safte schwarzer und brauner Fremdvölker gemischt, das Gift afrikanischer Gluträume in sich aufgenommen, fremdstämmige Sklaven gegen freie blutsverwandte [!] Völker gehetzt und um diesen Preis den letzten Scheinsieg an seine befleckte Fahne geknüpft.112

Auch für die Kennzeichnung des Gegenpols griff Wolters tief in den Vorrat von Stereotypen, den das 19. Jahrhundert diesseits wie jenseits des Rheins angehäuft hat. Während er noch in der mit Carl Petersen besorgten Ausgabe von Heldensagen der 108 Ebd., S. 75. 109 Ebd., S. 94ff. 110 Vgl. Barbara Beßlich, Wege in den ,Kulturkrieg‘. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914, Darmstadt 2000; Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die ,Ideen von 1914‘ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992. 111 Wolters, Vier Reden, S. 120f., 139. 112 Ebd., S. 166.

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germanischen Frühzeit den Germanen bescheinigt hatte, es niemals bis „zur höchsten Stufe, zur Einheit der Menschen- und Götterwelt“ gebracht zu haben, wie sie im „strahlenden Lichtreich der Homerischen Epen“ gegeben sei,113 präsentierte er eben diese Germanen zwei Jahre später als den im Vergleich zu den Galliern „härteren völkischen Urstoff“, der sich seine Sitten und vor allem seine Sprache bewahrt habe, über ein ausgezeichnetes Blut verfüge, aus dem dereinst „der Aufbau der Welt“ geschehen solle, und der mit seiner Seele, seiner Sprache, unmittelbar zu Gott sei, ja selbst ein Göttliches verkörpere.114 Habe man auch den Krieg verloren und die alte Ordnung eingebüßt, so könne man doch sicher sein, daß unbeirrbar und unzerstörbar das geheime Deutschland weiterwächst, daß sein Reich sich am Rheine vollenden wird, wenn unsere Gestalt der antiken, der griechischen ebenbürtig, der mitgewordenen aber mit abgeleiteten Sprachen und mit unserem Blute begabten des Westens und Südens weit überlegen und die christliche ganz im Bilde der eigenen Götter versunken ist. Wir wissen heute den Weg zu uns selbst, zur tieferen deutschen Einheit des Geistes, zur heldischen Einheit der rheinischen Krone, die mit der Schönheit die Kraft, mit der Arbeit das Opfer, mit dem Wissen die Waffe paart.115

Im Übrigen richtete sich dieser Herrschaftsanspruch nicht nur nach Westen, wie Wolters in einem Brief aus einem tschechoslowakischen Moorbad durchblicken ließ, in dem er sich zu Kurzwecken aufhielt: Das getümmel von völkern und sprachen hier erscheint völlig sinnlos, untauglich ein eigenes gestaltetes leben hervorzubringen und nur auf die herren zu warten, die wieder sinn setzen: nacken genug gibt es für die zukünftigen söhne um herrschaft darauf zu errichten.116

Es ist richtig: Irgendein konkreter Bezug zu einem politischen Verband oder einer Partei ist in diesen Reden nicht zu entdecken.117 Andererseits ist es abwegig, wenn Hildebrandt ihren nationalistischen und demagogischen Charakter abstreitet oder wenn selbst der Wolters gegenüber durchaus nicht unkritische Salin von einem „Mißverständnis“ derjenigen spricht, die hier ,deutsch-tümelnde Vaterländerei‘ und verantwortungslosen ,Patriotismus‘ ausmachten.118 Dem Sinn dieser Interventionen 113 Wolters/Petersen, Heldensagen, S. 2ff. Diese Einschätzung geht zurück auf die BfdK, in denen StG schon früh die Ansicht vertrat, dass der deutsche Geist vom nordischen nicht viel zu lernen habe; vgl. BfdK 3/1896, 2, zit. nach GK, S. 25f. Wolters hat sie nach Bedarf wieder hervorgeholt, so zuletzt in seiner Rede über Arndt, die mit den Sätzen ausklingt: „Denn der Norden in uns darf nicht zum Norden zurückkehren, sondern muß seine Ergänzung und Erfüllung im Süden finden. Gewiß wäre der töricht, der seiner Ursprünge und des verwandten Blutes vergäße, und unsere Selbstbesinnung und nährende Erinnerung wird sich immer dahin wenden. Aber noch niemals hat der südliche Mensch sich im Norden gefunden und vollendet, wohl aber der nördliche im Süden, dafür ist uns Ernst Moritz Arndt ein Beispiel von tausenden“; Friedrich Wolters, Ernst Moritz Arndt und der Norden, in: Deutsch-Nordische Zeitschrift. Festnummer zum Nordisch-Deutschen Universitätstag in Kiel 1929, S. 5–15, hier: 15. Diese Distanzierung hat nichts daran geändert, dass im Kreis der Nordischen Bewegung das Sagenbuch höchste Wertschätzung genoss. Vgl. die Besprechung von Dietrich Bernhardi, in: Die Kommenden 3/1928, 23, Beilage „Die nordische Bewegung“. 114 Wolters, Vier Reden, S. 103, 157, 110. 115 Ebd., S. 165. 116 F. Wolters an StG v. 31.8.1924, in: G/W, S. 192. 117 Vgl. Groppe 1997, S. 268; Kolk 1998, S. 455. 118 Vgl. KH, S. 165, 170; ES, S. 137.

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kommt man wohl am nächsten, wenn man sie auf die Absicht bezieht, eine Art ,Interdiskurs‘ zu entwickeln,119 der geeignet war, die in der Weimarer Republik zunehmend auseinanderdriftenden Spezialdiskurse zu reintegrieren, und politisch eine Plattform bot, auf die sich die unterschiedlichsten Akteure von der äußersten Rechten bis weit in die Mitte verständigen konnten – ein Vorhaben, das die Zurückdrängung aller profilbildenden Spezifika wie etwa der Zivilisations- und Preußenkritik und eine Betonung gemeinsamkeitsstiftender Feindbilder verlangte, wie sie im geistigen Haushalt des Bildungsbürgertums, auch und gerade seiner liberalen Segmente, seit Langem verankert waren.120 Hält man sich vor Augen, dass auch die Nationalsozialisten diese Strategie verfolgten, und zwar mit beachtlichem Erfolg, so erscheint die von Thormaehlen aufgeworfene Frage nicht unberechtigt, „ob Wolters nicht in einem für ihn glücklichen Augenblick gestorben ist“ (LT, 250). b) Die Interventionen von Wolters waren weit davon entfernt, die communis opinio des George-Kreises wiederzugeben. Kantorowicz berichtete im Sommer 1925 Ernst Morwitz, „dass Wolters alle möglichen nationalistischen u. völkischen Aufrufe unterzeichnet habe“, und erklärte ein derartiges politisches Heraustreten [für] vollkommen unmöglich, wenn man sich gleichzeitig mit anderem identifiziert. Die private Anschauung in politicis bleibt ja jedem unbenommen – aber aktiv kann man nicht zwei Staaten dienen u. vor allem: es werden damit die gewiss über allen Parteien stehenden Dinge von offizieller Seite in den Dreck einer Partei gezogen, um mit dieser zu fraternisieren.121

Als zwei Jahre nach Wolters’ Tod sein Adept Walter Anton im Kreis für den Nationalsozialismus warb, sah Gerda Schlayer darin die unvermeidliche conclusio aus den Prämissen, die Wolters gesetzt habe. Wolters sei der „Luther“ des Kreises“ gewesen, „engstirnig und klobig, meilenfern von attischer Geistesanmut.“ „Heute mündet plötzlich alles, was auch ursprünglich ganz wo anders herkam, auf die breite bequeme Strasse, die Wolters ausgewalzt hat. Er hat den jungen Leuten erst das gute Gewissen zu seiner Plattheit gegeben.“122 Selbst StG ließ, bei aller Bereitschaft, Wolters gewähren zu lassen, immer wieder Distanz durchblicken, etwa indem er gegenüber Berthold Vallentin bemerkte, Wolters tendiere dazu, sich zu sehr auf „Dinge der zweiten Linie“ einzulassen anstatt „das Eigentliche“ zu tun, womit bekanntlich die ,Blättergeschichte‘ gemeint war (BV, 73). Mit wesentlich breiterer Zustimmung konnte dagegen Max Kommerells Buch Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik rechnen, das von Wolters als „wohl das genialste Buch der letzten Jahre“ bezeichnet wurde und auch die Anerkennung von

119 Vgl. Ute Gerhard/Jürgen Link/Rolf Parr, Interdiskurs, reintegrierender, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 1998, S. 237. 120 Vgl. etwa die Umdispositionen in Wolters’ ,Blättergeschichte‘, die dem Preußentum zunächst bescheinigt, „ohne Götter, ohne Liebe und ohne Künste“ zu sein, um es wenig später zum Garanten der „wehrhaften und staatserhaltenden Triebkräfte“ zu erklären: FW, S. 434f., 470. Zu den Feindbildern des liberalen Bürgertums vgl. zuletzt Harald Biermann, Ideologie statt Realpolitik. Kleindeutsche Liberale und auswärtige Politik vor der Reichsgründung, Düsseldorf 2006. 121 E. Kantorowicz an E. Morwitz, o. D. [Sommer 1925], StGA. 122 [Gerda Schlayer], Entgegnung auf das Löwen-script Sommer 1932, Typoskript, StGA.

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Wolfskehl und Salin fand.123 Kommerell, der zunächst in Heidelberg bei Gundolf studiert hatte, war zum Wintersemester 1921/22 nach Marburg gegangen, wo er in den Kreis um Wolters geriet, dessen unausgesprochen gegen Gundolf gerichtete Tendenz, Hölderlin gegen Goethe auszuspielen, sich mit seinen eigenen, früh ausgeprägten Neigungen deckte.124 Sein Buch, das in engem Kontakt mit StG entstand, als dessen ,Amanuensis‘ Kommerell zeitweise fungierte (LT, 209), erhielt die Aufgabe, die Vorbehalte gegen die ,bürgerlichen‘ Seiten Goethes zu untermauern, die StG sowohl im Gespräch mit Vallentin geäußert hatte als auch in seinem Gedicht „Goethes lezte Nacht in Italien“ (IX, 7–10), das diesem bescheinigt, nur ein „enkel der Gäa“ (IX, 8) und nicht ihr Sohn zu sein, eine Formulierung, die Morwitz wohl zutreffend dahingehend gedeutet hat, dass Goethe selbst sich in der Sicht StGs nicht als einer jener Seher-Dichter verstanden habe, die, wie Homer, Dante oder Shakespeare, „in unmittelbarer Verbindung mit den Kräften der mütterlichen Erde, den unteren Mächten“, stünden, vielmehr als ein Poet, der „mehr beobachtend, als des dichterischen Rausches in eigner Person“ fähig war.125 In engem Austausch mit Wolters, dem er zwischen September 1927 und September 1928 die einzelnen Kapitel des Manuskripts vorlegte,126 machte sich Kommerell daran, diese Sichtweise auszuarbeiten. Er präsentierte Goethe als „Vollender“, dessen „von allen Zeiten allen Geschicken gezeichnetes Haupt […] nicht von einem Ursprung [zeugt] sondern von einer Gipfelung“, als „spätgeborene[n] Weise[n]“, dessen Traum „nicht ein Griechentum höchster Lebensdichte und unmittelbaren Mächte-Einbruchs [war] sondern ein späteres voll erlesenen Schmucks und sänftigender Regelung“.127 Goethe, daran ließ Kommerell keinen Zweifel, war groß, war „König“, aber gewissermaßen als letzter einer Dynastie, als Summe und Abschluss einer Welt, die bereits alt geworden war.128 Neben ihn und durchaus auf Augenhöhe stellte Kommerell zwei andere Gewaltträger, die ihre Zeit noch vor sich haben sollten: den „Zauberer“, d. i. Jean Paul, und den „Seher“, „der unterm Getrieb des Werktags das Fest, unter den Fürstentümern der Welt das Weihtum sucht“ – Hölderlin.129 Galt ihm Jean Paul als Vollender der romantischen Dichtkunst, der gegen das „Recht des formvollen Geistes“ das „Recht der unbedingten Seele“ vertrat und damit die notwendigen Opfer rächte, die Goethes Herrschaft gefordert habe, so Hölderlin als der „Sprenger und Befreier“, der den Goethe-Schillerschen „Vertrag mit der Zeit“ nicht einzugehen bereit war, der sich weigerte, die große Tat zum bloßen Bildungsbestreben abzuschwächen und statt auf Kontemplation auf ,unmittelbaren Mächte-Einbruch‘ setzte.130 Nicht Goethe und auch nicht Jean Paul, nur Hölderlin war wesensmäßig in der „heldischen Welt“ ver123 Vgl. Karl Wolfskehl, Deutsche Klassik. Zu dem Buch von Max Kommerell, in: Frankfurter Zeitung v. 27.1.1929; zit. nach Storck, Kommerell, S. 16f.; ES, S. 159f. 124 Vgl. Dorothea Hölscher-Lohmeyer, Entwürfe einer Jugend. Zu den frühen unveröffentlichten Briefen Max Kommerells, in: Hans-Henrik Krummacher u. a. (Hrsg.), Zeit der Moderne. Zur deutschen Literatur der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984, S. 339–362, hier: 347. 125 Vgl. BV, S. 37, 60; EM I, S. 408f. 126 Vgl. Storck, Kommerell, S. 15. 127 Kommerell, Der Dichter als Führer, S. 418. 128 Vgl. ebd., S. 300. 129 Ebd., S. 483. 130 Ebd., S. 387f., 417f.

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wurzelt, die jenseits des geschichtlichen Raumes und der geschichtlichen Zeit lag. Indem der heldische Seher oder seherische Held sie heraufbeschwor, durchbrach er das Kontinuum der Alltagswelt, brachte er „den Gott“ zur Erscheinung, und indem er dies tat, legte er zugleich den Grundstein für eine neue Gemeinschaft, die „dichterische Gemeinde, der er die Richte gibt“.131 Erst nur eine „unsichtbare Kirche“, drängte sie doch bald zur Sichtbarkeit; erst nur beschränkt auf ein ,todbereites‘ Freundespaar, erweiterte sie sich zum Volk im Sinne der ,höheren Volkheit‘, dem vom gemeinsamen Geist ergriffenen Stamm, der bereit sei, seine Satzungen zu zerbrechen und ins Urleben zurückzusinken, der den ,völkischen Verjüngungstod‘ durchleide, um wie der Phoenix wiederaufzuerstehen.132 Ein derart wiedergeborenes, verjüngtes Volk, so Kommerell in einer wie immer auch partiellen Reprise der Hegelschen Volksgeistmetaphysik, habe einen „unbedingten Vorrang. Volk in diesem Sinn kann in einem Zeitalter nur eines sein […] alle andern Völker sind dann Völker zweiten Grades, unter denen es steht wie der Held unter Menschen gemeinen Ausmaßes“.133 „Das Land auf das der Adler Gottes sich herabließ, kennt kein Recht neben dem seinen, und wer seine Weihe leugnet, ist nicht nur sein, sondern des Gottes Widersacher“.134 Die hier zutage tretende Erweiterung des ästhetischen Fundamentalismus zu einem nationalreligiösen, der die Literaturgeschichte in eine „Heilsgeschichte der Deutschen“ verwandelte und aus der Klassik den „ersten kanonischen Fall eines deutschen Aufstands wider die Zeit“ machte, war keine Besonderheit Kommerells.135 Auch Gundolf war zu ähnlichen Exaltationen fähig, nicht nur in seinen Briefen und Aufsätzen aus dem ersten Weltkriegsjahr, sondern auch noch im Goethe-Buch, das der Goetheschen Idee neben der „Forderung nach deutscher Weltdurchdringung“ auch diejenige nach „europäischer Bildungseinheit mit deutscher Mitte“ zuschreibt.136 Wenn es einen Unterschied gibt, so liegt er in der von Max Weber herausgearbeiteten Differenz zwischen reinem und veralltäglichtem Charisma. Bei Gundolf steht seit dem Abklingen der Kriegseuphorie im Vordergrund, dass die im Kern außeralltägliche Kraft des ,Urgeistes‘ im Zeitalter der Bildung nur vermittelt zur Geltung zu kommen vermag, durch ihre Ausgestaltung zur ,Kultur‘, also: durch eine Lebensform des Alltags. Bei Kommerell dagegen wird der Bezirk der Bildung und der Sitten einigermaßen rüde beiseitegeschoben zugunsten der ,Kräfte‘, die ein ,Erlebnis‘ und vermöge dessen eine ,Erweckung‘ bewirken.137 Zur Erscheinung kommen diese Kräfte im Dichter, und nur im Dichter: Wenn er spricht, ist Pfingsten, ereignet sich die „Herabkunft der Götter“. Seine Stunde ist der Einbruch des Außerzeitlichen in die Zeit, des Außeralltäglichen, ,Heroischen‘, in den Alltag – ein ,Kairos‘, wie er wohl nicht zufällig zur 131 132 133 134 135 136 137

Ebd., S. 426, 475, 399. Ebd., S. 409, 466f. Ebd., S. 474. Ebd., S. 477. Vgl. Benjamin, Meisterwerk, S. 254f. Gundolf, Goethe, S. 687. „Bildung ist Ziel Form und Raum dieses gemeinsamen Wirkens. Hölderlin aber wirkt nicht im Bezirk der Sitten, sondern der Kräfte. Seine Sehnsucht ist nicht der gebildete Mensch, sondern das erweckte Volk“ (Kommerell, Der Dichter als Führer, S. 466). Das wird von einer Deutung verfehlt, die das Dichter-Buch dem Bemühen um eine ,Rekonstitution der Bildung‘ zuordnen möchte; vgl. Matthias Weichelt, Gewaltsame Horizontbildungen. Max Kommerells lyriktheoretischer Ansatz und die Krisen der Moderne, Heidelberg 2006, S. 28.

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selben Zeit auch in der Theologie beschworen wird. Dass sich diese Deutung eher an Hölderlin hält als an Goethe, erscheint einigermaßen folgerichtig. Adorno hat den Kommerell jener Jahre brieflich einen „hochbegabten Faschisten“ genannt und damit zweifellos mehr Gespür für dessen Affinität zur charismatischen Vergemeinschaftung bewiesen als Benjamin, der im Dichter als Führer die „magna Charta des deutschen Konservativismus“ sehen wollte, obwohl er sogleich zugeben musste, dass ein solcher schon seit achtzig Jahren nicht mehr existiere.138 Auch von Adornos Urteil wird man freilich Abstriche machen müssen, insofern es Affinität allzu nahe an Identität heranführt. Hinweise auf NS-Sympathien finden sich bei Kommerell hauptsächlich für die Zeit zwischen 1930 und 1933, nicht für die Jahre 1926 bis 1928, in denen er Der Dichter als Führer schrieb.139 Außerdem geht es in diesem Buch, wie der Titel exakt anzeigt, um den Dichter als Führer, also um eine Konstellation, die mit dem Absolutheitsanspruch des nationalsozialistischen Führers unvereinbar war. Und genau hier, nicht so sehr in den politischen Affinitäten, liegt auch das eigentlich Bemerkenswerte an diesem Buch: in der Tatsache nämlich, dass Kommerell als bloßen Potenzialis formuliert, was doch nach der im Kreis herrschenden Sprachregelung längst schon Realität geworden ist: die Epiphanie des angekündigten poeta vates in Gestalt StGs. Auf sie findet sich im ganzen Werk kein Hinweis, ein Umstand, den man an dem acht Jahre zuvor erschienenen George-Panegyrikus Gundolfs und der zwei Jahre später erscheinenden ,Blättergeschichte‘ Wolters’ messen muss, um seine Tragweite richtig einzuschätzen. In den Reaktionen StGs findet sich denn auch, neben mancherlei Lob, kaum verhaltene Kritik;140 Kommerell selbst datiert den Beginn des Bruches mit StG auf die Zeit unmittelbar nach Erscheinen seines Buches.141 Eine, wie er später schrieb, „9jährige freiwillige Dienstbarkeit“ endete, „und ich kam ein wenig arm und linkisch, wie ich hineingeraten war, aus dem Zelt des Magiers heraus“.142 Dass diese „Befreiung“ auch eine solche zu Goethe hin war, ist schon am Vortrag Jugend ohne Goethe zu erkennen, den Kommerell im Januar 1931 in Frankfurt hielt. Es sei ein Lebensschaden, heißt es dort in impliziter Selbstkritik, wenn der größte Deutsche im eigentlichen Empfinden der Jugend nur noch Geschichte sei. Die abschließenden Sätze dieses Vortrags verdienen um ihrer prognostischen Qualität willen angeführt zu werden: 138 Vgl. Theodor W. Adorno an Francis Golffing v. 4.1.1968, in: Theodor W. Adorno/Walter Benjamin, Briefwechsel 1928–1940, hrsg. v. Henri Lonitz, Frankfurt/M. 1994, S. 78; Benjamin, Meisterwerk, S. 252. 139 Ein Brief an die Schwester aus dem Jahr 1930 berichtet von der Lektüre des ersten Bandes von Mein Kampf, der als „borniert, bäurisch ungeschlacht, aber in den Instinkten vielfach gesund und richtig“ bezeichnet wird; vgl. Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen, S. 27. Noch vor der Machtübernahme scheinen sich seine Sympathien allerdings auf die nichtnationalsozialistische Rechte verlagert zu haben, wie die Beschäftigung mit Friedrich Hielschers Werk Das Reich und der Zeitschrift Der Nahe Osten belegt. An der letzteren würdigt Kommerell ihr „im Grund leidenschaftlich aristokratisches Programm, endlich die wohlwollende Distanz zu den Nazis, die ihre Geltung und ihr Verdienst als Partei, Volksbewegung und protestierende Kraft riskieren durch ridiküle Thesen betreffs Germanisierung des Geisteslebens und der Jugenderziehung usw.“; M. Kommerell an Joachim Sanner v. 30.5.1932, in: Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen, S. 232f. Über Kommerells Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus aufschlussreich auch Hoffmann, Stauffenberg, S. 489f. 140 Vgl. Storck, Kommerell, S. 16ff. 141 Vgl. Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen, S. 182ff. 142 Zit. nach Storck, Kommerell, S. 24.

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Wer der Meinung ist, Goethe und die aus ihm sich nährende Pflege von Bildungswerten sei eine Angelegenheit der Sittenverfeinerung, die man jetzt – angesichts so ungeheuerer Gefahren und Zusammenstürze – zu verleugnen habe . . wer meint, daß niemand hinderlicher sei als Goethe dabei, daß der Deutsche sich wieder in die blutstarke und blutgierige blonde Bestie zurückverwandle, der sei erinnert: Bildung als Gipfel der Menschlichen einzubüßen reichen einige Minuten der Zerstörung hin, die einmal verscherzte wiederzuerwerben bedarf es der Jahrhunderte.143

c) Beschwor Kommerell in Hölderlin die letzte große Manifestation der „schaffenden Kraft“ auf dichterischem Gebiet, so widmete sich Berthold Vallentin der Parallelerscheinung in politicis: Napoleon.144 Wie etliche Georgianer vor ihm und nach ihm,145 aber mit einer Intensität, der monomane Züge nicht abzusprechen sind, feierte er im Korsen den kosmischen Menschen, den letzten in jener Kette von Genien, die sich durch Einheit von Geist und Leib, durch „Ganzheit der Person“, durch ein ,ursprüngliches, unübertragenes, unübersetztes Verhalten zu Menschen und Dingen‘ auszeichneten, und die berufen seien, als Weltgestalter und Welterneuerer zu wirken.146 Geboren und aufgewachsen in Korsika, dieser letzten Heimstätte antiker Substanz in dem sich rationalisierenden Europa, war Napoleon von Anfang an ein „Genius unbedingten Daseins“, ein „Heros antiken Geblüts“, eine „Erscheinung von antikem Gehalt und Schnitt“, die in ihrem ganzen Wesen und Wirken einen „unauslöschliche[n] Protest gegen die Macht der Zivilisation“ mit ihrer funktionalen Differenzierung und Mechanisierung des Daseins darstellte, ein Kämpfer gegen die Zeit, gegen die aufkommende bürgerliche Welt, die sich von ihm zu Recht „in ihrem unmittelbarsten Bestande bedroht“ fühlte.147 Gegenüber dieser Alltagswelt mit ihren menschlich-allzumenschlichen Zügen repräsentierte Napoleon eine „das menschliche Vermögen übersteigende, innerhalb des Menschlichen nicht auszudrückende Wesensmacht“, eine „erdengöttliche“, „heroisch-klassische Vollkommenheit und Ursprünglichkeit“, die sich nur mit Termini wie „Gottsohnschaft“ und „Gottmenschentum“ fassen ließ.148 Denn wer, wie Napoleon,

143 Max Kommerell, Jugend ohne Goethe, Frankfurt/M. 1931, S. 36f. 144 Vgl. Vallentin, Napoleon, S. 443. Eine erste vorbereitende Studie hat Vallentin bereits 1912 veröffentlicht: Napoleon und die geistige Bewegung, in: Jb 3/1912, S. 134–138; zum gleichen Thema noch Ders., Napoleon und die Deutschen, Berlin 1926; Heroische Masken, Berlin 1927. 145 Vgl. neben der bereits erwähnten Stelle bei Gundolf die entsprechenden Bezüge bei Wolters, Vier Reden, S. 130; Ernst Bertram, Nietzsche, 5. Aufl., Berlin 1921, S. 201ff. oder Johann Anton, der in seiner Dissertation von 1925 die Wandlung des Napoleonbildes in den deutschen Biographien nachzeichnete. Noch 1938 feiert Claus Graf Stauffenberg in einer Rede Napoleon als denjenigen, dem Deutschland Reform und Befreiung verdanke (Hoffmann, Stauffenberg, S. 148); ähnlich Fahrner, Arndt, S. 2f. – Die Wurzeln der Napoleonidolatrie lassen sich bis auf StGs unveröffentlichtes Gedicht „Der Preusse“ (entstanden vor 1902) zurückverfolgen; vgl. Achim Aurnhammer, ,Der Preusse‘. Zum Zeitbezug der ,Zeitgedichte‘ Stefan Georges im Spiegel der Bismarck-Lyrik, in: Braungart u. a. (Hrsg.), Stefan George, S. 173–196, hier: 186, 191. Eine umfassende Darstellung des deutschen Napoleon-Mythos, die auch den George-Kreis umschließt, jetzt bei Barbara Beßlich, Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung, Darmstadt 2007, S. 368ff. 146 Vallentin, Napoleon, S. 31, 38. 147 Ebd., S. 84, 155, 525, 38. 148 Ebd., S. 183, 325.

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die Gewalt der menschlichen Verhältnisse, der Materie überwunden hat, dahin gelangt ist, sein Werk nur aus seinen eigenen, für die Welt undurchdringlichen, also gotthaften Kräften zu organisieren, der ist nicht mehr Mensch, hat die untere Sphäre ganz verlassen, sich einer anderen höheren anverwandelt, gehört einem anderen, höheren Reiche an: wird und ist Gott.149

In eigentümlichem Kontrast zu diesen Zuschreibungen, die Napoleon die Kraft zur creatio ex nihilo attestierten, stand freilich die Bilanz seiner Herrschaft, die Vallentin am Ende zog. Napoleon sei wohl ein Erneuerer des Staates im Sinne des Augustus gewesen, der durch eine „Versöhnung der Parteigegensätze“ gewirkt und „aus den Trümmern der zerfallenen Republik das neue imperiale Staatsgebilde“ geschaffen habe;150 doch habe sich dieses Neue a` la longue nicht gegen die Beharrungskraft der alten Institutionen durchzusetzen vermocht. Weit davon entfernt, aus einem schöpferischen Erleben heraus den ,äußeren Staat‘ zu durchdringen und zu verlebendigen, sei Politik zu einem sich verselbstständigenden staatlichen Mittel „im herkömmlichen, begrifflichen Sinn“ geworden, eine bloße „Anwendung bestimmter Grundsätze und Handgriffe“. Auf allen Gebieten mechanisiert sich allmählich der Staat Napoleons: gerade als verhängnisvolle Folge seines unaufhaltsamen Staatsgestaltungswillens, der nicht das Heranreifen der ihm gemässen staatlichen oder nationalen Organe abwarten kann, sondern sich auf die vorhandenen, bereits ausgebildeten stürzt, um mit ihnen seine neuen Schöpfungspläne zu verwirklichen: die alten Institutionen saugen die neue Triebkraft auf, sie mechanisieren, entseelen sie und bringen sie schließlich zu Fall, ohne dass sie selbst davon eine innere Erneuerung erfahren. Die Erstarrung des napoleonischen Ursprungsgeistes in den Erbformen der französischen Gesellschaft und europäischen Völkergesellschaft ist die letzte Ursache seines Untergangs.151

Auch in diesem Buch bricht damit eine Problematik auf, die schon für die Arbeiten von Gundolf und Kommerell prägend war: die Frage, ob und wie sich eine ihrer Natur nach so außeralltägliche und außergewöhnliche soziale Beziehung, wie sie die charismatische Herrschaft verkörpert, auf Dauer stellen lässt. Die von Vallentin für Napoleon behauptete Lösung entspricht dabei der von Max Weber so bezeichneten „Traditionalisierung“, die wohl der Herrschaftsbeziehung eine gewisse Kontinuität beschert, dafür aber die charismatische Aura und den revolutionären Impuls zum Verschwinden bringt.152 An anderer Stelle deutete Vallentin eine weitere Möglichkeit an, wenn er die für Napoleon typische extreme Personalisierung der Herrschaft als Vorbedingung für einen Umschlag ins Gegenteil interpretierte, die ebenso extreme Entpersonalisierung der Herrschaft, wie sie für den modernen bürokratischen Staat charakteristisch ist.153 Um jedoch nicht zu nahe an Spengler zu rücken, der Napoleon als Ahnherrn des modernen Staates, des Staates der imperialen ,Zivilisation‘ in An149 150 151 152

Ebd., S. 324f. Ebd., S. 109, 191. Ebd., S. 461. Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 145ff. Zur Architektonik der Umbildungen des Charisma vgl. aus der Sekundärliteratur vor allem Wolfgang Schluchter, Religion als Lebensführung, 2 Bde., Frankfurt/M. 1988, Bd. 2, S. 535ff.; Hubert Treiber, Anmerkungen zu Max Webers Charismakonzept, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 11/2005, S. 195–213. 153 Vgl. Vallentin, Napoleon, S. 1, 521.

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II. Systematische Aspekte

spruch genommen hatte,154 musste Vallentin freilich den nichtintendierten Charakter dieses Prozesses betonen: Napoleon selbst habe eher der Traditionalisierung den Vorzug gegeben und sei deshalb allenfalls contre cœur zum Wegbereiter der Legalisierung geworden. Napoleon zum Eröffner oder auch nur zum Träger der modernen Zivilisation zu machen, hiesse sein erscheinungshaftes Wesen, sein grosses persönliches Dasein nicht sehen wollen, hiesse: Lodi, Ägypten, Brumaire, Austerlitz, Moskau, Elba, Waterloo, St. Helena, auf die Bedeutung politischer Tagesvorfälle verengern: während sie die ungeheuerlichen Ausbrüche einer wieder heraufsteigenden Weltkraft gegen den erstarrenden Zeitenfluss sind.155

d) Die Institutionalisierungsproblematik stand auch im Mittelpunkt der zweiten großen Herrschermonographie, die der George-Kreis in den 20er-Jahren hervorgebracht hat: Ernst Kantorowicz’ Buch über Kaiser Friedrich II. Trotz mancher Besonderheiten – der Zugehörigkeit zu einer erbcharismatisch legitimierten stirps regia und der zusätzlichen Legitimierung durch das Charisma des göttlichen Kindes bzw. Knaben156 – gehört auch Friedrich in die Reihe jener kosmischen Gestalten zwischen Caesar und Napoleon, die vor der Aufgabe stehen, ihre Eigenschaft als ,Gottmensch‘ in einer menschlichen Welt zur Geltung zu bringen, und dies so nachhaltig, dass es ihre zeitlich begrenzten Wirkungsmöglichkeiten überdauert.157 Als ,letzter Römer‘ ging Friedrich diese Aufgabe an, indem er an das Vorbild der römischen Kirche anknüpfte, die sich unter Innozenz III. in „einen monarchischen, fest gebundenen, auf Gehorsam beruhenden Priesterstaat“ verwandelt und das Amt des Papstes um die Funktion des ,Mittlers‘ ergänzt hatte: eines Trägers göttlicher Kraft, der diese ununterbrochen nicht nur auf die Priester, sondern auch auf Richter und Könige ,einwirken und hinüberfließen‘ lässt.158 Für seine eigene Person „unmittelbare Erwähltheit“ beanspruchend und sich damit päpstlicher Herrschaft entziehend, kopierte Friedrich nichtsdestoweniger das innocentische Modell, setzte dabei allerdings eigene Akzente, indem er als funktionales Äquivalent der sakramentalen Gnade die richterliche Justitia zur obersten Legitimitätsquelle erhob.159 Was Friedrich indes im Unterschied zur römischen Kirche nicht gelang, war eine Lösung des Nachfolgerproblems. Da er in dieser Frage, durchaus im Unterschied zu seiner Gestaltung des Verwaltungsapparats, nicht auf das Amts-, sondern auf das Erbcharisma setzte,160 blieb der von ihm begründete Staat in weit höherem Maße von den Zufälligkeiten abhängig, die in der Person des Herrschers begründet lagen, was 154 Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1973, S. 1086ff., 1097f. passim. Zu den Reaktionen auf Spengler im George-Kreis vgl. meine Studie: Retter des Abendlandes. Spenglerkritik von rechts, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 9/2004, S. 165–194, hier: 174ff. 155 Vallentin, Napoleon, S. 526. 156 Vgl. Kantorowicz, Friedrich, S. 524, 54, 96. 157 Vgl. ebd., S. 286. 158 Ebd., S. 43. Diesen Vorbildcharakter der römischen Kirche (wie auch des römischen Rechts) übergeht die Studie von Ruehl, die nur die antirömischen Spitzen des Friedrich-Buches hervorhebt und auf diese Weise die erheblichen Differenzen nivelliert, die es vom völkischen Nationalismus trennen; vgl. Ruehl, Politics, S. 200f. 159 Kantorowicz, Friedrich, S. 213. 160 Vgl. ebd., S. 214f. Zur Unterscheidung von Amts- und Erbcharisma grundlegend: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 144.

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schon dem Regiment Friedrichs selbst einen stark personalistischen Zug verlieh. Unter seiner Herrschaft verwandelte sich Italien in ein ganz auf seine Person ausgerichtetes Dominium, in „jene völlig einzigartige Kolossal-Signorie Italien, die in ungeheuerster Verdichtung alle Merkmale aufweist etwa eines napoleonischen Weltreichs“.161 Die vom Kaiser eingesetzten Amtsträger, die Generalvikare, Regenten und städtischen Podesta, zeigten daher schon beim ersten Nachlassen der zentralen Kontrolle, welches Potenzial in ihnen steckte, nämlich dasjenige von „Ahnherren“ der „Signoren-Tyrannen der Renaissance-Staaten“. Und wenn nach dem Tod des kaiserlichen Großherrn „die Groß-Signorie Italien in Splitter zerfetzte“, deren jeder eine Miniaturausgabe des einstigen Großhofs war,162 dann manifestierte sich darin einmal mehr die Zugehörigkeit Friedrichs zu jener von Jacob Burckhardt beschriebenen Renaissance-Welt, in der das Charisma keine über den individuellen Träger hinausweisende institutionenbildende Kapazität besaß: Denn dieser letzte Imperator war nicht berufen, wie ein Caesar oder ein Karl Heros eponymos eines neuen Reiches zu werden, sondern viel eher der Heros anonymos einer neuen Zeit, die im Weltlich-Staatlichen Sein Gepräge trug und von Seinem insgeheim wirkenden Bild bis zu ihrem Ausgang durchstrahlt wurde. Anonym und illegitim hat Friedrich II. die Renaissance regiert, von der das Glück oder der Fluch des Illegitimen auch nimmer wich. […] Virtu` oder Genie mußte seither jeder der Renaissance-Tyrannen wieder aufbringen, um seine illegitime Herrschaft über einen winzigen Stadtstaat behaupten zu können, bis schließlich einer von ihnen, ihr Letzter, der dem Zeitalter eines Papst Julius genau so nahe und fern war wie der staufische Caesar, gar das illegitime Kaisertum ,sua virtute‘ schuf.163

Die unüberhörbare Anspielung auf Napoleon im letzten Satz dieses Zitats sollte davor warnen, den Begriff der Illegitimität in einem kritisch gemeinten Sinne zu verstehen, als habe sich Kantorowicz gegen Formen der persönlichen Diktatur aussprechen wollen. Der Kontext zeigt ganz im Gegenteil, dass für Kantorowicz das Regime eines außerordentlichen Individuums durchaus attraktive Züge besaß, auch wenn eine gewisse Skepsis hinsichtlich der Möglichkeiten anklingt, die ein solches Regime unter den Bedingungen der Neuzeit in Bezug auf Veralltäglichung besaß. An manchen Stellen wird aber auch diese Skepsis noch relativiert, etwa im Kapitel über den ,Tyrann von Sizilien‘, das dem Staufer attestiert, dort in Reich und Staat dem ihm innewohnenden ,ewigen Gesetz‘ den ,Leib‘ geschaffen zu haben, „das Volk der Sizilier-Apulier“, und dies in einem durchaus platonischen Sinne: durch gesetzliche Steuerung des Heirats- und Zeugungsverhaltens, durch bewusste ,Züchtung‘, die darauf zielte, dem neuen Staat ein dauerhaftes Fundament in ,neuen Menschen‘ zu verschaffen, die politische Einheit durch ,rassische Einheit‘ zu stützen.164 e) Ideen dieser Art, die auch in Vallentins Napoleonbuch anklingen, beruhten auf Vorstellungen, wie sie in den 20er-Jahren vor allem von Kurt Hildebrandt ausgearbeitet wurden. Als ausgebildeter Mediziner und praktizierender Psychiater stark von der zeitgenössischen ,rassenhygienischen‘ Bewegung beeinflusst, die von dem Wunsch angetrieben wurde, die angenommenen Prozesse der rassischen Degeneration beeinflussen und womöglich umkehren zu können, teilte Hildebrandt jedoch zugleich 161 162 163 164

Kantorowicz, Friedrich, S. 444. Ebd., S. 449f. Ebd., S. 612f. Vgl. ebd., S. 195, 200, 266ff.; Ruehl, Politics, S. 203f.

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II. Systematische Aspekte

die für den Jahrbuch-Kreis charakteristische „Lehre, die den Staat von einer Persönlichkeit ableitet“, eben jene Lehre also, wie sie in StGs Vers aus dem Stern des Bundes „Aus einem staubkorn stelltest du den staat“ (VIII, 23) aufschien und wie sie vor allem in Wolters’ Herrschaft und Dienst ausgebreitet lag. Der Staat und mit ihm die Nation war danach nicht die Leistung eines wie immer beschaffenen „Wir“, sondern eines „Ich“, in welchem sich die den Kosmos durchwaltende schöpferische Kraft von Zeit zu Zeit verdichtet, um sich dann im Wege der Spiegelung in einer Jüngerschar zu multiplizieren und weitere Kreise zu ziehen, mit abnehmender Intensität gegen die Peripherie hin.165 Sache der peripheren Individuen war es, die für den Erhalt des Ganzen unentbehrlichen Arbeiten zu erledigen, wofür es wohl der Pflege ihrer Gesundheit und Zufriedenheit bedurfte, nicht jedoch der Bildung oder der Beteiligung am bewussten Staatsleben, „das heißt an Regieren, an Wachstum und Umbilden“. Für die Ausübung dieser Funktionen kam „nur eine begrenzte Zahl“ von (selbstredend: männlichen) Individuen in Betracht, „der wahre Adel“, „der Kreis, der durch seine Lebensführung und Haltung die Idee des Staates, die produktive Kraft, das Schöne Leben verleiblicht, die geistigen Fürsten der einzelnen Regionen und endlich die schöpferischen Menschen.“166 Das klingt nach Neoaristokratismus, wie er etwa von Nietzsche gepflegt wurde, war aber nicht so gemeint. Hildebrandt hielt es nämlich weder für opportun noch für möglich, einen Geburts- oder Geblütsadel züchten zu wollen, der seine erworbenen bzw. angezüchteten Eigenschaften weitervererbe. Die erbliche Anlage sichere niemals die Erfüllung der höchsten Werte, „die immer ein Glücksfall von Harmonie bleibt“. Alles, was man tun könne, sei die Ausschaltung der ungeeigneten Geschlechter oder Rassenlinien von der Bewerbung um staatliche Funktionen: Den übrigen Gruppen stehen durch Erziehung die höheren Berufe zur Bewerbung offen und aus ihnen werden nach der erst später bewährten Eignung die führenden Träger des Staates ausgewählt. Die Scheidung der beiden Gruppen darf nicht streng sein. Frühere Irrtümer, neue Blutmischung, veränderte Ziele des Staates, Entartung machen Verschiebungen nach hüben und drüben notwendig. Die Scheidung darf aber auch nicht zu locker sein, denn der Andrang zu höheren Stellen ist ohnehin so groß, dass es nicht im Interesse des Staates liegt, ihn zu fördern.167

Denkbar und machbar hingegen erschienen Hildebrandt Maßnahmen zur Begrenzung der verschiedenen Formen der Rassenentartung, z. B. durch eine Berücksichtigung rassenhygienischer Gesichtspunkte bei der Beamtenauslese und in der Steuerpolitik, durch Begrenzung des ,fieberhaften sozialen Auftriebs‘ etc. sowie durch Internierung, Eheverbote und vor allem Sterilisierung, unter Umständen, wenngleich mit Bedenken, in zwangsmäßiger Anwendung, darüber hinaus aber auch durch Versuche, aus dem vorhandenen Rassengemisch „durch künstliche oder natürliche 165 Hildebrandt, Staat und Rasse, S. 45, 53. 166 Ders., Norm und Verfall, S. 140ff. Zu der hier aufscheinenden Idee des ,schönen Lebens‘ im George-Kreis und dessen Umfeld vgl. die Beiträge in: Roman Köster u. a. (Hrsg.), Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik, Weimar 2009. 167 Ebd., S. 140. Explizit heißt es an anderer Stelle mit Bezug auf den ,wahren Adel‘, dass seine Mitglieder – die „wenigen, schlechthin Zulänglichen“ – „aus der oberen Klasse durch Fähigkeit, nicht durch Familie ausgesondert werden“ (ebd., S. 144). Deutlicher lässt sich die Distanz zu allem Neoaristokratismus nicht formulieren.

8. Zeitkritik und Politik

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Zuchtwahl eine reine neue Rasse, eine Mischrasse“ zu züchten. Durch strikte Abschließung nach außen, insbesondere gegen das durch die Mischung mit minderwertigen Rassen verdorbene französische, ostische und jüdische Blut sowie durch „rassenhygienische Zuchtwahl im inneren Bereich der Nation selbst“, sei eine neue ,deutsche Rasse‘ zu züchten, die „die besten Keime Europas“ in sich aufzunehmen und zu entfalten habe.168 Der Staat oder die Nation, so Hildebrandt, habe das Recht und die Pflicht, die Tüchtigkeit der Rasse auch mit harten Mitteln zu fördern. Humanität (im heutigen Verstande) mag eine große Tugend sein, aber nicht die größte, und die Nation darf sie sich nur so weit gestatten, als dadurch die Qualität der Rasse nicht vermindert wird. Die ,Menschenrechte‘ werden nicht durch Geburt erworben, sondern durch biologische Vollwertigkeit. Humanität gegen die Entarteten ist ein Geschenk, kein Rechtsanspruch.169

Überlegungen dieser Art stießen im George-Kreis durchaus nicht nur auf Zustimmung. Der erste Band von Hildebrandts ,Norm-Büchern‘ wurde von Morwitz und Wolfskehl als „zu naturwissenschaftlich“ abgelehnt und auch von Salin und den Landmanns kritisiert; Robert Boehringer quittierte die Verlesung des Kapitels „Der normale Staat“ 1917 mit „eisernem Schweigen“.170 StG selbst äußerte Einwände gegen die Architektonik von Hildebrandts Manuskript und ließ es nicht bei Bondi erscheinen, erlaubte allerdings, dass der Verfasser ihm ein Vorwort vorausschickte, in dem seine Zugehörigkeit „nach Herkunft und Absicht zu den Werken des Kreises der ,Blätter für die Kunst‘“ herausgestellt wurde. Den distanzierenden und ablehnenden Stellungnahmen standen andererseits auch solche gegenüber, die Hildebrandts Unternehmungen Konformität mit den Werten des Kreises bescheinigten. An erster Stelle StG selbst, der seine anfangs geäußerten Einwände gegen die beiden ,Norm-Bücher‘ schließlich aufgab und gegen Salins Kritik darauf beharrte, „dass immerhin der richtige Blickpunkt und die wichtige Fragestellung anzuerkennen sei“ (ES, 248). Das von Friedrich Gundolf im Kreis verbreitete Urteil sprach von einem ganz außerordentlichen Werk, „das auch von der meisterlichen Autorität über alle ,Kritiken des Zeitalters‘ gestellt wird“.171 Gundolf selbst las zunächst Norm und Verfall des Staates und teilte Hildebrandt seine ,rückhaltlose Bewunderung‘ mit.172 Vier Wochen später hieß es: Ich lese jetzt den ,Menschen‘ und staune, durch die Fülle der tiefsinnigen Zeichen, die die Natur uns schon gibt, ergriffen, immer wieder über Ihre Beherrschung der labyrinthischen Gänge. Die Mendelei, der Mythus vom Erbgang, die Ewigkeit der Substanz, die Nemesis des Bluts, all das sind Gedanken, erhebend und erschütternd wie die griechischen Mythen, und indem Sie mit ihrem Scharfsinn den Durcheinander der Empirie klären und erklären, geben Sie zugleich dem Dichter und Seher die Gründe und fast die Bilder eines neuen Weltsinns, in dem der Geist wieder fromm in die Natur blickt.173 168 169 170 171

Hildebrandt, Staat und Rasse, S. 15, 17, 16, 19; vgl. auch ders., Norm und Entartung, S. 221ff. Ders., Norm und Entartung, S. 270. KH, S. 115, 120, 124, 107. F. Gundolf an E. Glöckner v. 26.10.1920, StGA. Glöckner übernahm dieses Urteil (vgl. seine Briefe an Maximilian Brantl v. 15.11.1920 und an F. Gundolf v. 6.11.1920, StGA). Ähnlich äußerten sich B. Vallentin (an E. Glöckner v. 14.11.1920, StGA) und E. Gundolf (an K. Hildebrandt v. 24.11.1920, StGA). 172 Vgl. F. Gundolf an K. Hildebrandt v. 17.10.1920, StGA; vgl. auch KH, S. 114ff. 173 F. Gundolf an K. Hildebrandt v. 13.11.1920, StGA.

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II. Systematische Aspekte

Der enthusiastischste Kommentar aber kam schon 1918 von Friedrich Wolters, zu dessen ,Stamm‘ sich Hildebrandt zählte (KH, 89). Dem im Kreis kursierenden, wohl auf StG zurückgehenden Einwand mangelnder Architektonik hielt er entgegen, dass die Einheit des Ganzen doch nicht nur in der Person des Verfassers liege, sondern in dem geschlossenen versuch die sicht aller natur- und geisteswissenschaften nach dem neuen gesetze umzukehren und dessen geltung nicht allein im logischen sondern auch im tatsächlichen vom dumpf-stofflichen bis zum menschlichbewussten nachzuweisen. Die ganze denkart der neueren zeit ist hier auf allen gebieten in ihr gegenteil verkehrt ohne doch die denkformen zu zerstören oder die sachlichen ergebnisse abzulehnen: das denken selbst wird umgedacht: und was ringsum noch norm ist erscheint als entartung und irrtum: das verschüttete bild des heldischen menschen wird norm vom stein bis zum gott.174

Welche dieser Auffassungen trifft zu? Die Antwort hängt von den Maßstäben ab, die man zugrunde legt. Orientiert man sich an der Durchführung der Prinzipien des ästhetischen Fundamentalismus auf dem Gebiet der exakten Wissenschaften, dann ist Salin zuzustimmen, der – Hildebrandt zitierend – von einem „Mitschleppen der alten ,logischen‘ Wissenschaft trotz der ,schöpferischen Konzeption‘“ spricht (KH, 120). Geht es dagegen um die Prinzipien als solche, liegt das Recht eher bei StG und den beiden Jahrbuch-Herausgebern: Kurt Hildebrandt hat zentrale Werte des Kreises keineswegs verraten, er ist ihnen vielmehr im Kern treu geblieben und hat sich allenfalls auf einer eher nachgeordneten Ebene auf Positionen eingelassen, die hierzu in Spannung stehen.175

8.4.

Der George-Kreis in der ,Revolution von rechts‘

Nach allem, was bisher gesagt wurde, kann kein Zweifel sein: der weitaus überwiegende Teil des George-Kreises platzierte sich mit seinen politischen Vorstellungen im Kontext jener ,Revolution von rechts‘, der Hans Freyer 1931 das Stichwort geliefert hat. Damit soll keine Übereinstimmung in sämtlichen Positionen behauptet sein. Freyer z. B. teilte durchaus nicht die Ablehnung von Wissenschaft und Technik oder die Perhorreszierung der Sozialpolitik. In der „Absage an den mechanistischen Staat des neunzehnten Jahrhunderts, mag er ein Kaiserstaat oder parlamentarisch geleitet sein“, im entschiedenen Willen, „dass die geistig produktiven Kräfte nicht sich auf den Gleisen der bestehenden staatlichen Organisation bewegen dürfen, dass die Idee nicht zum Werkzeug werden darf des modernen Liberalismus, Kapitalismus, Sozialismus, Parlamentarismus oder irgendeiner Parteipolitik“,176 bestand jedoch eine Schnittmenge, die groß genug war, um die Zuordnung zu rechtfertigen. Die ,Revolution von rechts‘ wird oft pauschal als ,faschistisch‘ qualifiziert, und entsprechend fehlt es auch nicht an Übertragungen dieses Attributs auf den George-Kreis. Neben dem oben angeführten Urteil Adornos über Kommerell sei nur auf 174 F. Wolters an StG v. 4.2.1918, in: G/W, S. 137f. 175 Zur näheren Begründung vgl. meine Studie: Ästhetischer Fundamentalismus und Eugenik bei Kurt Hildebrandt, in: Bernhard Böschenstein/Jürgen Egyptien/Bertram Schefold/Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005, S. 291–310. 176 Hildebrandt, Staat und Rasse, S. 52.

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Karl Löwith hingewiesen, der dasselbe von Kurt Singer gesagt hat,177 oder auf den mit Wolfskehl befreundeten Schweizer Literaturwissenschaftler Robert Faesi, der mit allerdings gänzlich anderer Intonation über StG schreibt: George ist auf der geistigen Ebene etwas auffallend Ähnliches wie Mussolini auf der politischen. Ein Führer, ein Duce, einer der zu befehlen, Gewalt zu üben, doch auch zu vergewaltigen versteht. In Zeiten der Schwäche, Wirrnis oder Anarchie richtet er eine Herrschaft auf: seine Herrschaft. Nicht das Imperium, das alte, umfassende, weltweite, aber die straffe, strenge, harte, Energien züchtende, militante Ordnung eines Diktators.178

Da auch aus dem George-Kreis selbst zustimmende Äußerungen zum Faschismus bekannt sind, ist es nötig, auf diese Thematik etwas genauer einzugehen, wobei es sich in diesem Kontext empfiehlt, sich nicht an einem Allgemeinbegriff, sondern an der historischen Individualität zu orientieren, die den Zeitgenossen vor Augen stand, wenn sie von Faschismus sprachen: am ,Urfaschismus‘ (Umberto Eco) in Italien. a) Von StG sind dazu nur wenige widersprüchliche Kommentare überliefert, deren Färbung eng mit den Präferenzen der Berichterstatter zusammenhängt. So hält Edith Landmann einige Bemerkungen vom März 1926 fest, in denen StG dem faschistischen Regime nur geringe Stabilität zubilligte und Mussolini als bloßen Radaubruder hinstellte, dem es an wirklicher Macht fehle (EL, 155). Nach den Aufzeichnungen Vallentins dagegen spekulierte StG im Februar 1928 über die Gefahr, dass die Ideen der ,geistigen Bewegung‘ nicht in Deutschland zur tathaften Wirkung gebracht würden, dass aber das Ausland diese Bewegungsgedanken aufgreift und zur Tat macht, wie das schon früher geschehen sei. […] Es käme immer nur darauf an, dass eine grosse Täterperson solche Gedanken aufgreife und sie in die politische Wirksamkeit überführe. In der Richtung sei vielleicht etwas von Mussolini zu besorgen.

Bei Vallentin, dem Napoleonverehrer, fielen diese Hinweise auf fruchtbaren Boden, erklärte er doch sogleich die faschistische Bewegung zu einer Parallele zur deutschen Nationalbewegung nach 1870/71 und Mussolini selbst zu einem „schwächere[n] Bismarck, der Nietzsche gelesen hat“ (BV, 102). Gundolf sah Mussolini in der Kontinuität des nationalistischen Caesarkultes in Italien und äußerte sich in Briefen durchaus bewundernd.179 Kantorowicz’ Friedrich-Buch wies bemerkenswerte Übereinstimmungen mit den Deutungen faschistischer Ideologen auf,180 und selbst Ernst Morwitz ließ sich auf eine Weise vernehmen, die nur auf den ersten Blick als Distanzierung erscheint. Die Zuordnung des italienischen Faschismus zu den „Hunnen“ als den 177 Vgl. Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Frankfurt/M. 1986, S. 22. 178 Robert Faesi, Spitteler und George, in: Dichtung und Volkstum 35/1934, S. 219–247, hier: 244f. (zit. nach Kolk 1998, S. 513f.). 179 Vgl. Gundolf, Caesar, S. 51. Von „Verachtung“, wie sie Michael Thimann, Mythische Gestalt, S. 324 aus dieser Passage heraushört, ist dort nichts zu lesen. Mit „Hoffahrt des faschistischen Führers“ ist nicht „Hoffart“ gemeint, sondern sein Gang zum königlichen Hof, der ihm die politische Führung übertragen hat. Zu der im Briefwechsel mit Elli Salomon geäußerten Bewunderung vgl. jetzt Ann Goldberg, The Black Jew with the Blond Heart, Friedrich Gundolf, Elisabeth Salomon, and Conservative Bohemianism in Weimar Germany, in: The Journal of Modern History 79/2007, S. 306–334, hier: 314. 180 Vgl. Ruehl, Politics, S. 222.

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II. Systematische Aspekte

Vertretern einer „urwüchsigen barbarischen Kraft“ ist nämlich durchaus nicht abwertend gemeint, werden die Hunnen doch als „echte Verkörperer einer neuen Zeit“ vorgestellt, deren Aufgabe es sei „die Kraft des Blutes durch die unmittelbare Wirkung eines nackten Erlebens wieder auf[zufrischen]“.181 Etwas ausführlicher verbreitete sich Wolfskehl 1928 in der Europäischen Revue, für die er eine Besprechung des von Gino Arias und anderen verfassten Buches Mussolini und sein Werk (Heidelberg 1928) schrieb.182 Während eines Aufenthaltes in Italien im Winter 1920/21 habe er erlebt, wie „unter der besten Jugend des Landes“ „ein neues Lebensgefühl, Zuversicht und jede männliche Tugend“ entstanden sei; ihr Artikulationsmedium und ihre Verkörperung habe diese Jugend in D’Annunzio und Mussolini gefunden, dem „Gestalter des italischen Gedankens“ und dem „Herrn der italischen Tat“. Als er drei Jahre später, kurz nach dem Marsch auf Rom, wieder nach Italien gekommen sei, habe er eine „ungeheure Wandlung“ vorgefunden. Mit allen Sinnen zu spüren eine neue Haltung, ein neuer Geist, eine neue Gewißheit. Der Kampf war noch nicht zu Ende geführt, aber die eigentliche Gefahr der Krisen war bestanden. Unter dem Blick, dem Willen, der Ideenkraft eines Mannes hatte die Nation sich wiedergefunden. Die unblutigste aller Revolutionen griff tief ein bis ins Innerste und Letzte des nationalen Daseins, eine Umwandlung von innen nach außen hatte begonnen. Sie ist heute im ,VI. Jahre‘ im vollen Werden, sie wächst, verändert sich, paßt sich an, Umrisse aber und Kräfteverteilung stehen unverrückbar fest.

Italien sei erfüllt von einer „neue[n] Staatsgesinnung“, die eine „schon heute fast vollständige Erneuerung des gesamten Staatsaufbaus ermöglicht [habe], der unter Abkehr von sämtlichen Verfassungsformen des vergangenen Jahrhunderts als ,Körperschaftsstaat‘ ein bis ins Einzelne gegliedertes einheitliches Ganze bildet.“ Offenbar beeindruckt von dem „grandiose[n] Versuch über die berufs- und interessengemeinschaftlichen Einheiten hinaus, zu einer Zusammenfassung, ja zu einer tätigen Verschmelzung der gegensätzlichen Kräfte“ zu gelangen, ließ sich Wolfskehl ab 1934 dauerhaft in Italien nieder und fand nichts dagegen einzuwenden, dass Julius Evola in seiner Beilage zu Il Regime Fascista eine italienische Übersetzung seines Essays Überlieferung publizierte.183 „Mussolinis autoritärer nationalistischer Führungsstil“, schreibt sein Biograph, kam seinen Vorstellungen von Macht und Staat entgegen, sodass ihm – bis zum abessinischen Eroberungskrieg – die politische Wirklichkeit in Italien zunächst wenig Schwierigkeiten bereitete. Sein Leben verlief hier anfangs ungestört von der Tagespolitik, die er in Briefen selten und nur beiläufig streifte.184

181 Ernst Morwitz, Die Dichtung Stefan Georges, Berlin 1934, S. 169ff. 182 Karl Wolfskehl, Mussolini und sein Faschismus, in: Europäische Revue 4/1928/29, S. 565–568. 183 Vgl. Voit, Wolfskehl, S. 623, 628. Die Tageszeitung Il Regime Fascista wurde von Roberto Farinacci, dem Führer des Fascio von Cremona, herausgegeben. Wegen ihres ultraradikalen, auf eine Fortsetzung der faschistischen Revolution drängenden Kurses wurde sie Anfang der 30erJahre mehrmals konfisziert; vgl. Harry Fornari, Mussolini’s Gadfly. Roberto Farinacci, Nashville 1971, S. 149. Zu Evolas Mitarbeit an dieser Zeitung vgl. Patricia Chiantera-Stutte, Von der Avantgarde zum Traditionalismus. Die radikalen Futuristen im italienischen Faschismus von 1919 bis 1931, Frankfurt/M., New York 2002, S. 194f. 184 Voit, Wolfskehl, S. 91.

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Erst als sich Mussolini im Herbst 1937 Hitler annäherte und der von oben verordnete Antisemitismus stärker wurde, schwanden die Sympathien und gaben Anlass, ein neues Exil zu suchen.185 Wie Wolfskehl hat sich auch Wolters am ausführlichsten in einer Buchbesprechung zum Thema geäußert, die in diesem Fall Johann Wilhelm Mannhardts Werk Der Faschismus (München 1925) gewidmet war, einer der ersten größeren Untersuchungen dieses Phänomens in deutscher Sprache. An dieser Besprechung war alles ungewöhnlich: dass sie von Wolters stammte, der für solche Zwecke normalerweise nicht zur Feder zu greifen pflegte; dass sie im Hamburger Wirtschaftsdienst erschien;186 und dass sie dort an herausgehobener Stelle, gleichsam als Leitartikel, platziert wurde. Ihre Erklärung dürfte diese Häufung von Ungewöhnlichkeiten darin finden, dass Wolters sowohl den Verfasser aus seiner Marburger Zeit kannte – Mannhardt leitete dort das Institut für Grenz- und Auslandsdeutschtum und die Deutsche Burse, eine Art Studenteninternat187 – als auch den Hauptschriftleiter des Blattes, Kurt Singer, einen Ökonomen aus der Peripherie des George-Kreises, dessen starkes Interesse am Faschismus wenige Jahre später zu einer eigenen Studie führte. Das mit deutlichen Sympathien für den Faschismus geschriebene Buch Mannhardts wurde von Wolters mit großem Lob bedacht, der Gegenstand selbst als eine der „Rettungsbestrebungen gegen die abbauenden zersetzenden Formen unserer Zeit“ gewürdigt, ja als „beginnende Gesundheit gegenüber der kurzsichtigen Eintagspolitik nutzsüchtiger Parteien“. Der Faschismus, so Wolters, ist nicht bloße negative Gegenwirkung ohne Eigenleben, nicht bloßes Krankheitssymptom einer zerfallenden Gesellschaft, sondern ein Zusammenschluß noch erhaltener Einzelkräfte, die vom bürgerlich-liberalen Staate noch nicht verbraucht, ja zum Teil noch gar nicht in seinen Bannkreis gezogen waren. Diesen vom alten Staat nicht verwendeten Rohstoff, aufbewahrten ererbten Lebensdrang wußte Mussolini zu sammeln, zu straffen, zu binden und ohne Anspruch auf eine tiefere Umbildung dieser Gefolgsmannen stieß er die Willenskräftigen unter den Trägen, die Gesundgebliebenen unter den Verbrauchten, die Tapferen unter den Feigen auf und riß mit ihnen den Staat an sich. Das ist gewiß nichts Geringes und die Möglichkeit seiner Wirkungen auf Italien, so groß sie heute schon sind, ist noch nicht erschöpft.188

Dass Mussolini es versäumte, seine Gefolgsmänner innerlich umzubilden, verweist indes bereits auf den Vorbehalt, mit dem Wolters, bei aller Sympathie, dem Faschismus gegenüberstand. Der Duce war für ihn wohl ein erfolgreicher Staatsmann und ein ,hinreißender‘ Massenführer, verfügte jedoch über keine neue Idee, keinen neuen Glauben, der ihm etwas ,Weltgültiges‘, die Kraft zur Stiftung einer grundlegend neuen Ordnung verliehen hätte. Auf allen Gebieten habe er letztlich vor dem Bestehenden kapituliert: Im wirtschaftlichen Bereich sei er vom Sozialisten zum modernen Staatskapitalisten geworden, in der Politik vom Republikaner zum Monarchisten, vom 185 Vgl. ebd., S. 211ff. 186 Wolters, ,Faschismus‘. 187 Vgl. Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen ,Ring‘-Kreises 1918–1933, Berlin 2000, S. 171ff. Auf persönliche Bekanntschaft deutet auch die Erwähnung von Wolters in Mannhardts Buch. Sein Aufsatz Mensch und Gattung sei das Beste, was zum Thema „Männerbund“ geschrieben worden sei; vgl. J. W. Mannhardt, Der Faschismus, München 1925, S. 174. 188 Wolters, ,Faschismus‘, S. 1269.

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II. Systematische Aspekte

Nationalisten zum „imperialistischen Annektierer [Südtirol!]“, in der Religion vom Verächter der christlichen Priester zum katholischen Kirchengänger. Dies sei nicht nur Anlass, „an der von Mannhardt behaupteten heroisch-tragischen Grundeinstellung im Wesen Mussolinis [zu] zweifeln“, sondern darüber hinaus auch die „Grenzen des Faschismus“ stärker zu betonen, als Mannhardt dies getan habe.189 Hätte Mussolini sich zu StG bekannt, das Urteil wäre vermutlich anders ausgefallen. Anerkennung des Faschismus als einer für Italien angemessenen Form, bei gleichzeitiger Betonung seiner Grenzen und der daraus folgenden Unübertragbarkeit auf andere Länder, das war auch die Position von Edgar Salin, dessen Habilitationsschrift über Platon und die griechische Utopie (1921) erkennbar von Wolters’ Herrschaft und Dienst beeinflusst war. Mit Wolters, dem er während einer gemeinsamen Lehrtätigkeit in Kiel im Sommer 1927 auch persönlich näherkam (ES, 146ff.), teilte Salin nicht nur die allgemeine Grundüberzeugung des George-Kreises, „dass die Fortschrittswelt verworfen und dem Untergang geweiht ist“, sondern auch die Vorstellung, dass die in Versailles geschaffene Nachkriegsordnung ein Mittel war, diesen Untergang, den „abwärtsgerichtete[n] Gang der Entwicklung“, noch zu beschleunigen – auch wenn Salin in seinen Begründungen auf Wolters’ Chauvinismus verzichtete und über genügend Realitätssinn verfügte, um, wenn auch zähneknirschend, den Dawes- wie den YoungPlan zu akzeptieren und sogar Stresemanns Aussöhnungspolitik Anerkennung zu zollen.190 Überzeugt, dass die alte „Weltwirtschaft des Als-ob“ ebenso am Ende sei wie der demokratische Liberalismus, der zu einer fortschreitenden Entkernung des Staates, seiner Unterordnung unter die Wirtschaft geführt habe,191 setzte Salin auf eine Politik der ,Umkehr‘, der Stärkung des Agrarsektors und des Staates, die angesichts der fortgeschrittenen weltwirtschaftlichen Verflechtung Deutschlands zwar nicht die Autarkie zum Ziel haben könnte, gleichwohl geeignet sein würde, das Land aus seiner existenzgefährdenden Abhängigkeit zu befreien.192 Das Schicksal Italiens nach dem Weltkrieg erschien ihm dabei zunächst als Lehre und Beispiel für die Lebenden, wie die aufrüttelnde Tat, das aufmunternde Wort und das gelebte Vorbild des berufenen Führers feindselige Klassen neu zu wacher Volkheit binden, erschlaffte Geister neu zu tätiger Gesamtheit wecken und äußere Bedeutungslosigkeit mit einem Schlag in Macht und Ansehen wandeln kann.

Durch den „Aufstieg des Faschismus und die Herrschaft Mussolinis“ sei Italien „zur mitbestimmenden, oft ausschlaggebenden Vormacht im Mittelmeer geworden“ und als „gleichberechtigte Großmacht in den Kreis der Verbündeten“ getreten.193 189 Ebd., S. 1270. 190 Salin, Wirtschaft und Staat, S. 11, 66; ders., Tribute, S. 122, 162, 126. 191 Wie man angesichts der unmissverständlichen Aussage Salins, der politische wie der wirtschaftliche Liberalismus seien Glaubensformen, ein „Religionsersatz“, dessen Überzeugungskraft ein für allemal gebrochen sei (Salin, Wirtschaft und Staat, S. 146f.), zu dem Urteil kommen kann, Salin habe in der Weltwirtschaftskrise als „wahrer Liberaler“ agiert (Hajo Riese, Edgar Salin und das Ende der liberalen Wirtschaftsverfassung der Weimarer Republik – Überlegungen zu seinem 100. Geburtstag am 10.2.1992, in: List-Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik 18/1992, S. 7–18, hier: 18), ist nicht leicht nachzuvollziehen. Der durchaus antiliberale, ,holistische‘ Grundzug von Salins wirtschafts- und verfassungspolitischen Positionen ist dagegen klar herausgearbeitet bei Schönhärl, Wissen und Visionen, S. 257ff. 192 Salin, Wirtschaft und Staat, S. 48, 86, 138f., 146ff. 193 Ders., Tribute, S. 41.

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Zwei Jahre später würdigte er den Duce noch immer als „überragende Gestalt“, die auch der von ihm geführten Bewegung „heute einen Schimmer von Größe und Geist verleiht“, ließ aber zugleich eine größere Distanz durchblicken, die sich wie bei Wolters aus dem Vorwurf einer zu großen Anpassung Mussolinis an die Zeitmächte speiste. Das geschichtliche Urteil sei „noch durchaus offen“: bliebe von der Herrschaft Mussolinis für Italien als geistiges Ergebnis nur der Anschluß an den Amerikanismus, so würde zwar vom Dasein dieses Napoleoniden der Traum der künftigen Geschlechter manche Befruchtung erfahren haben, aber für die Abwehr des weiteren Verfalls des europäischen Menschen wäre dann auch sein Wirken bedeutungslos geblieben.194

Von einer Nachahmung faschistischer Formen riet Salin deshalb ab und empfahl einmal mehr, mit der „Erinnerung an das größte Staatsbild der Vorzeit [zu] beginnen“, Platons Politeia, die das „erhabene Maß“ errichtet habe, „vor dem jeder echte Staat und jede gültige Staatslehre sich bewährt“.195 Dass das wirksamste Remedium gegen den Verfall und die mit ihm ansteigende „bolschewistische Flut“ nicht der Faschismus oder irgendeine andere Gestalt zeitgenössischer Politik war, sondern allein die Erneuerung antiken Staatsgeistes aus dem Geiste StGs, hatte Salin schon früher angedeutet: Ein erstes Mal hat sich die bolschewistische Flut an Deutschland gebrochen; ein zweites Mal wird nur jenes Volk ihr widerstehen, das aus der aufgeklärten Entgötterung der Welt heimfand zu den verschütteten Quellen seines Wesens und in dem rettenden Neubegründer des Staates den Setzer neuen Rechtes und neuen Maßes verehrt, der die Herrschaft heiligt, den Dienst adelt und ein lebendiges Reich dem Ansturm der ungestalten Massen entgegenstellt.196

Dass es sich bei diesem Volk kaum um die Italiener handeln würde, wurde mit allem Nachdruck vom Schriftleiter des Wirtschaftsdienstes ausgesprochen, der übrigens neben Wolters auch Salin ein Forum bot. Kurt Singer, über dessen Arbeiten Wolters mit großer Hochachtung an StG berichtete,197 verfasste 1932 für Schmollers Jahrbuch eine Studie über Die geistesgeschichtliche Bedeutung des italienischen Faschismus, in der er diesen als „die einzige Erscheinung der staatlich-wirtschaftlichen Sphäre“ präsentierte, „die ein neues geistiges Element in das Leben der Völker einzuführen versucht“ – ein Element, in dem der Verfasser mehrerer Platon-Studien eine Wiederaufnahme antiker Staatslehren, „so wie sie von Hegel verstanden worden sind“, zu erkennen glaubte.198 Vor dem Hintergrund eines allgemeinen Verfallsszenarios, das 194 195 196 197

Ders., Wirtschaft und Staat, S. 169. Ebd., S. 142. Ders., Tribute, S. 50f. Wolters schlug 1923 StG vor, die von Singer seit 1918 im Wirtschaftsdienst veröffentlichten Aufsätze in der bei Hirt erscheinenden Reihe „Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“ herauszubringen, „da sie ein deutsches Schicksal auf der untersten stufe freilich der der Wirtschaft aber in unserem geiste behandel[n]“. Er bescheinigte dem Verfasser „eine sicherheit des blickes in die dinge die kaum einmal auch in den voraussagen fehlgriff und dann ein staatliches pathos das unbeirrt das rechte verteidigte“ (F. Wolters an StG v. 23.12.1923, in: G/W, S. 183). Eine Reaktion StGs ist nicht belegt; die Sammlung erschien im folgenden Jahr bei Gustav Fischer in Jena unter dem Titel Staat und Wirtschaft seit dem Waffenstillstand. 198 Kurt Singer, Die geistesgeschichtliche Bedeutung des italienischen Faschismus, in: Schmollers

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durch die „fortschreitende Entstaltung“ des politischen Lebens in seinen Hauptströmungen des Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus bestimmt war, erschien Mussolini als der „weitaus fähigste[] Mann des Landes“, seine Regierung als Sammlung der „tatkräftigsten, entschlossensten und unbedenklichsten Elemente der Nation“, sein Regime als stato etico, der keine autonomen Teilbereiche duldete und den Anspruch erhob, „zu wissen, was in den übrigen Bereichen zu fördern, zu dulden, was auszurotten sei“, was für Singer die explizite Rechtfertigung der gewalttätigen Praxis des Faschismus einschloss.199 Nachdem er so den Faschismus Seite um Seite hochgeschrieben hatte, meldete sich im letzten Absatz etwas unvermittelt nicht nur der Georgianer in ihm zu Wort, sondern auch der deutsche Nationalist, der grundsätzlich an der Eignung Italiens für eine erfolgreiche Durchführung dieses Projekts zweifelte: sei doch ein neues Schöpferisches […] von diesem alten Boden weder in Dichtung noch in Weltweisheit, weder in Religion noch in den Sitten, seit mehr als einem Jahrhundert hervorgebracht worden, und auch sein neuer Führer trägt nicht das herrscherliche Antlitz, das sich den Völkern als Gesetz eines Neuen Lebens auferlegen kann. Die Größe seiner staatsmännischen Leistung besteht darin, dass er die überlockeren Stoffe des italienischen Volkes noch einmal, wieder einmal in politische Form gebracht und im Bereich des Gegebenen die widerstreitenden Kräfte durch Zwang und Zauber sich dienstbar gemacht hat: sich, das heißt, seinem Willen zur Selbstdarstellung des italienischen Menschen. Hierin und nur hierin kann er Beispiel sein für andere Völker. Aber die Forderungen und Verheißungen Hegels und Nietzsches wollten mehr: die Erhöhung des Menschen überhaupt, und daher warten ihre Worte der Zeugung in edlerem Stoff200

– einem Stoff, wie er nach Singer wohl nur nördlich der Alpen anzutreffen war. Bei Weitem am positivsten fiel die Bilanz bei einem Autor aus, der zu diesem Zeitpunkt seine Loyalität vom George- auf den Spann-Kreis ausgedehnt hatte: Wilhelm Andreae.201 Der damit einhergehende Spagat – der Spann-Kreis tendierte zum Neoaristokratismus und war deutlich weniger fortschrittskritisch ausgerichtet – zeigte sich in der Würdigung von Mussolinis Erfolgen in der Modernisierung von Wirtschaft und Technik, die zwar immer noch gewisse Vorbehalte gegen eine ,übertriebene Industrialisierung‘ erkennen ließ, gleichwohl mit Bewunderung den Ausbau der Infrastruktur, die Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge und die Stabilisierung der Währung registrierte.202 Obwohl die faschistische Wirtschaftspolitik hier und da noch bedenkliche Ausschläge, sei es in liberale, sei es in staatssozialistische Richtung aufweise, seien doch die Weichen zu einem korporativen Staat gestellt, in dem die Wirtschaft ganz im Sinne der universalistischen Doktrin Spanns „als Teil einer ausgegliederten Ganzheit“ fungieren werde.203 Besonders wertvoll erschien Andreae, dass sich der Faschismus in die Tradition idealistischer Staatsauffassungen

199 200 201 202 203

Jahrbuch 56/1932, S. 363–381, hier: 371, 378. Zu diesem Text sowie allgemein zu Singers Haltung gegenüber Faschismus und Nationalsozialismus auch Schönhärl, Wissen und Visionen, S. 307ff. Ebd., S. 379ff. Ebd., S. 381. Vgl. Wilhelm Andreae, Das Werk Othmar Spanns (1928), in: Ders., Vom Geiste der Ordnung, S. 15–37. Vgl. ders., Kapitalismus, Bolschewismus, Faschismus, Jena 1933, S. 215ff. Ebd., S. 200.

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stelle, die von Platon (auch Andreae war, wie Salin und Singer, mit Platon-Studien hervorgetreten) über Fichte und Hegel bis zu Nietzsche reiche. Zwar könne die faschistische Partei heute noch nicht als neuer Adel gelten, da ein übersteigerter Zentralismus und die Unterdrückung des Eigenlebens der Parteiglieder eher eine negative Auslese begünstige.204 Werde dieser Strukturfehler aber einmal beseitigt, wozu nach Andreae begründete Hoffnung bestand, könne sich aus ihr die Grundlage für eine ,neue Adelsbildung‘ im Sinne des platonischen Züchtungsgedankens entwickeln: durch Heraushebung und Bevorrechtung einer staatstragenden Schicht von leiblich (rassisch) und geistig ausgezeichneten Einzelnen, die sich nach Geschlechtern über längere Zeiträume hin miteinander ehelich verbinden und von anderen rassisch weniger wertvollen Geschlechtern absondern.205

Andreaes Faschismusstudien sind nicht nur als solche interessant, sondern auch, weil sie zu den wenigen Beispielen gehören, bei denen es aus dem George-Kreis heraus zu einer Zusammenarbeit mit politisch aktiven Gruppen gekommen ist. Der Kreis um Othmar Spann bemühte sich in den späten 20er-Jahren mit einigem Erfolg um eine Ausdehnung seines Einflusses, wozu neben einer geschickten Personalpolitik an den österreichischen Hochschulen die Propaganda in der Deutschen Studentenschaft gehörte. An den regelmäßig im niederösterreichischen Gaming stattfindenden Schulungstagen nahmen auch Reichsdeutsche teil – Pfingsten 1927 z. B. neben den Philosophen Manfred Schröter und Alfred Baeumler die beiden Georgianer Kurt Hildebrandt und Friedrich Wolters.206 Politisch engagierte sich der Spann-Kreis in dieser Zeit in der österreichischen Heimwehr, die mit dem faschistischen Regime in Italien sympathisierte und von ihm zeitweilig massiv mit Geld und Waffen unterstützt wurde.207 Spanns engster Mitarbeiter, Walter Heinrich, schrieb eine Artikelserie über die Staats- und Wirtschaftsverfassung des Faschismus, die Italien auf dem Weg von einem syndikalistisch-körperschaftlichen zu einem rein körperschaftlichen System 204 Vgl. ebd., S. 188. 205 Ders., Staatssozialismus und Ständestaat. Ihre grundlegenden Ideologien und die jüngste Wirklichkeit in Rußland und Italien, Jena 1931, S. 211. Vgl. in diesem Sinne bereits seinen Versuch, die entsprechenden Passagen in Platons Politeia im Lichte der eugenischen Vorstellungen seines Freundes Kurt Hildebrandt zu deuten: Platons Staatsschriften. Zweiter Teil, Staat. Zweiter Halbband, Einleitung und Erläuterungen, Jena 1925, S. 98ff. Dass damit kein herkömmlicher Geburtsadel gemeint war, zeigt das Beharren auf den Aufstiegsmöglichkeiten „adliger Naturen des dritten Standes“ (ebd., S. 102). Auch der Rassenaristokratismus erfuhr freilich später insofern eine Relativierung, als „neben und sogar vor dem rassischen Erbgut der zu Paarenden der durch die Gestirne bestimmte Kairos der Zeugung für die Erhaltung der edlen Rasse maßgebend zu sein [scheint], ein Gedanke, der unserer heutigen, noch immer viel zu weitgehend mechanistisch eingestellten Vererbungslehre ganz fern liegt“: Andreae, Ganzheit und Geistleiblichkeit (1937), in: Ders., Vom Geiste der Ordnung, S. 9. 206 Vgl. KH, S. 173ff. Ein Bekenntnis zum Universalismus hat Hildebrandt noch 1933 in seiner Festrede auf dem Herbstfest des Sudetendeutschen Kameradschaftsbundes in Schloss Heinrichsruh bei Teplitz abgelegt; vgl. Hildebrandt, Individualität und Gemeinschaft, Berlin 1933, S. 9. Die Rede ist „Wilhelm Andreae in Freundschaft gewidmet“. 207 Vgl. Siegfried, Universalismus und Faschismus, S. 84, 101. Zu den Beziehungen zwischen der Heimwehr und dem Faschismus vgl. John T. Lauridsen, Nazism and the Radical Right in Austria 1918–1934, Copenhagen 2007, S. 112ff., 156ff. Der Verfasser stuft allerdings im Widerspruch zu einem verbreiteten Deutungsmuster die Heimwehr selbst nicht als faschistische Organisation ein: vgl. ebd., S. 223, 444.

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sah, wie es der universalistischen Ständestaatskonzeption Spanns entsprach.208 Spann selbst suchte im Juni 1933 in einem Vortrag vor der Confederazione Nazionale Fascista del Commercio in Rom das Regime auf seine Ständelehre einzuschwören, sodass man Andreaes Schriften durchaus als Beiträge zu einer gezielten politischen Einflussnahme auf den italienischen Faschismus lesen kann. Von Erfolg waren diese Unternehmungen freilich nicht gekrönt. Obwohl Mussolini im Herbst 1933 eine tief greifende Reorganisation der faschistischen Wirtschaftsverfassung ankündigte, die im Februar 1934 im Gesetz über die Errichtung und Aufgaben der Korporationen ihren Niederschlag fand, kam es zu keiner größeren Annäherung an den universalistischen Korporativismus. Die Korporationen spielten in den wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen des Regimes nur eine dekorative Rolle, der Staat gewann gegenüber den Entscheidungsträgern in der Wirtschaft nicht die von Spann geforderte Distanz und Neutralität, und auch der Einfluss des Universalismus selbst blieb insgesamt marginal.209 Dass eine profaschistische Einstellung in Deutschland nicht unbedingt karriereförderlich war, erlebte Andreae einige Jahre später, als er wegen seiner Zugehörigkeit zum Spann-Kreis seinen Gießener Lehrstuhl verlor. Die gleiche Erfahrung mussten Wolfgang Frommel und Percy Gothein machen. Frommels Der Dritte Humanismus wurde 1937 trotz lobender Worte über den italienischen Faschismus verboten; Gothein, der in seinen Mitternachtssendungen und im Berliner Tageblatt ähnliche Gedanken vertrat, bewahrte dies nicht vor dem Konzentrationslager.210 Für erhebliche Teile des George-Kreises, so viel lässt sich festhalten, war der Faschismus noch nicht das, was man im Politischen erstrebte. Aber er war doch ein bedeutender Schritt dorthin, weg von den politisch-staatlichen Formen der bloßen ,Zivilisation‘ in eine Richtung, die der ,Kultur‘ günstiger war. Er räumte auf mit dem „irrtum, dass man verfassungen machen und durch berechnung der vorhandenen kräfte und strebungen neu erzeugen könne“,211 und wies stattdessen dem persönlichen Führertum wieder den ihm vermeintlich gebührenden Rang zu; er schob die ,materiellen Kräfte‘ beiseite, die seit dem 19. Jahrhundert das politische Geschehen beherrschten und immer mehr wirtschaftlichen Zwängen unterwarfen; und er hob die Differenzierung des Ganzen in autonome Teilgebiete auf, die zu einer fortschreitenden Auflösung der politischen Einheit führte. Er tat dies alles noch mit unvollkommenen Mitteln: einem trotz seiner Größe nicht zureichenden Führer; einem Defizit an Theorie, an Ideen überhaupt; einem ungeeigneten, zum Heroismus untauglichen Volk – aber er tat es und war deshalb zu begrüßen. Weder die bürgerkriegsartige Gewalt in den Anfängen noch die Erfahrung eines Jahrzehnts sich kontinuierlich steigernder 208 Vgl. Siegfried, Universalismus und Faschismus, S. 111. Walter Heinrich, Die Staats- und Wirtschaftsverfassung des Faschismus, in: Nationalwirtschaft 2/1928/29, S. 273ff., 437ff., 591ff., 746ff., hier: 760f. 209 Vgl. Siegfried, Universalismus und Faschismus, S. 116ff. 210 Vgl. Lothar Helbing (d. i. Wolfgang Frommel), Der Dritte Humanismus, Berlin 1932, S. 67f.; Percy Gothein, Cavour und Mussolini, in: Berliner Tageblatt v. 15.7.1934; Günter Baumann, Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Würzburg 1995, S. 195. 211 So, natürlich ohne Bezug auf den Faschismus: Heinrich Friedemann, Platon. Seine Gestalt, genauer Abdruck der Erstausgabe der Blaetter für die Kunst 1914 mit e. Nachw. v. Kurt Hildebrandt, Berlin 1931, S. 113.

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Repression waren den Georgianern ein Anlass zu Kritik oder Distanz, sodass man, wenn nicht von Faschismus, so doch von Philofaschismus sprechen kann. b) Ein bedingtes Ja zum Faschismus in seiner italienischen Version ist freilich noch nicht identisch mit einem Ja zur deutschen Version. Diese stimmte zwar in ihrer herrschaftssoziologischen Struktur – dem Akzent auf Charisma, Gewalt und Patronage – so weit mit dem italienischen Vorbild überein, dass eine Übertragung des Begriffs gerechtfertigt ist,212 doch gab es in der ideologischen Ausgestaltung eine Reihe von erheblichen Differenzen, insbesondere in dem Gewicht, das dem Antisemitismus und jenen Varianten des Rassismus beigelegt wurde, die über die konventionelle, weit in die Anfänge der europäischen Welteroberung zurückreichende Annahme einer Hierarchie zwischen der weißen ,Rasse‘ und allen anderen hinausgingen und auf eine wertmäßige Differenzierung innerhalb der Ersteren drängten.213 Was den zuletzt genannten Punkt betrifft, stand man im George-Kreis der italienischen Version näher als dem Nationalsozialismus, der sich in seinem rassenaristokratischen Flügel, wie er besonders in der SS vertreten war, zur Lehre Hans F. K. Günthers bekannte.214 Während man auf der einen Seite durchaus eine wertmäßige Abstufung von Rassen kannte, wie sie sich u. a. in den zitierten Passagen von Wolters’ Rheinrede, in Hildebrandts Angriff auf Frankreich und StGs expliziter Unterstützung desselben artikulierte, machte sich diese doch in der Regel nur im Außenverhältnis, wenn man so will: in einer eurozentrischen Weise geltend, ohne große Folgen für das Verhältnis der Rassen innerhalb Europas zu entfalten (um an dieser Stelle von dem meist eher im ethnonationalistischen Sinne gedeuteten Judentum abzusehen). Wenn Wolters dazu aufforderte, „alle hemmnisse von erbe, zeit, geburt“ zu überwinden und ein „geistiges Reich“ zu begründen, das „über den familien des blutes und der blutsvermischung“ wie „über den reichen der rassen- und der wirtschaftsgrenzen“ stehen sollte,215 bezog sich dies selbstverständlich nur auf den als allein kulturfähig geltenden Teil der Welt, also das Abendland; wie auch nur dieses gemeint war, wenn Wolfskehl „das ebenso banausische wie naturwissenschaftlicher pseudo-exaktheit schmeichelnde rassenprinzip“ für irrelevant erklärte.216 Selbst Hildebrandt, der, wie gezeigt, zu weitgehenden Konzessionen an den rassenhygienischen Diskurs tendierte, hielt sich zunächst ganz innerhalb dieses Vorstellungskreises, ordnete er doch die Rasse der Nation und diese wiederum der Norm-Idee unter, dem „Hazar“ im Sinne eines geistigen Weltreiches, wie es Platon für das antike, StG für das moderne Abendland begründet habe.217 Für die meisten Georgianer blieb es auch nach 1933 dabei. Lediglich Kurt Hildebrandt meinte 1934 daran erinnern zu müssen, dass mindestens so bedrohlich wie die Gefahr einer „Vernegerung“ die der „,Verpöbelung‘ der Rasse“ sei, die sich aus der 212 Vgl. Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005. 213 Der Begriff ,Rasse‘ wird im Folgenden ohne Anführungszeichen verwendet, um das Schriftbild nicht zu unruhig zu gestalten. Dass es sich dabei um ein Konstrukt handelt, hat die neuere Forschung hinreichend belegt. 214 Zu ihr vgl. III, 7.3. 215 Wolters, Herrschaft und Dienst, S. 13, 7. 216 Wolfskehl, Blätter, S. 7. 217 Vgl. Kurt Hildebrandt/Ernst Gundolf, Nietzsches Wettkampf mit Sokrates und Platon, Dresden 1922, S. 88; Hildebrandt, Norm und Entartung, S. 99f.

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ungehemmten „Vermehrung der niederen Rassenlinien“ ergebe.218 Das war eine klare Option für das, was im Jargon der Zeit „qualitative Bevölkerungspolitik“ hieß, eine Politik, die sich nicht allein auf die „Ausmerze“ seltener Erbkrankheiten beschränkte, sondern die rassische Zusammensetzung der Bevölkerung zugunsten der als höherwertig eingestuften Rassen zu ändern prätendierte. Entsprechend zustimmend fiel sein Kommentar zu den von der NS-Regierung eingeführten Ehestandsdarlehen aus, die diese an „die Vollwertigkeit des Ehepaares“, d. h. an rassische Selektion knüpften. Es überrascht deshalb auch nicht, Texten aus seiner Feder in Organen zu begegnen, die sich der nordischen Bewegung zurechneten – so etwa im Odal, in dem Hildebrandt die Darre´sche Erbhofgesetzgebung als zeitgemäße Reaktualisierung von Platons „Erbhofstaat“ feierte,219 oder in Rasse, wo er die Auffassungen von Ernst Moritz Arndt pries, allerdings immer noch georgianische Konterbande mitführte, indem er Arndt wohl die Einsicht in die Zusammengehörigkeit der nordischen Rasse zuschrieb, als dessen eigentliche Lebensaufgabe aber die „Einigung von Norddeutschland und Süddeutschland“ benannte, „die sich mit der rein rassenhaften Abgrenzung nicht deckt“.220 Im Goethe-Buch von 1941 zog er sich aus der Affäre, indem er einerseits der „nordischen Rasse“ attestierte, als einzige über „die Urkräfte für die Entstehung und damit für die Verjüngung des Volkes“ zu verfügen, andererseits aber beharrlich nordisch, arisch und deutsch – also: Rasse und Nation – gleichsetzte.221 In Bezug auf den Antisemitismus war die Schnittmenge mit der NSDAP größer als mit dem italienischen Faschismus, der erst ab 1938 zeigte, wozu auch er auf diesem Gebiet fähig war. Versteht man unter Antisemitismus mit Nipperdey und Rürup jene politische Strategie, die sich an den Folgen der Judenemanzipation entzündet und diese Folgen entweder eindämmen und aufheben oder gar die Emanzipation rückgängig machen will und entsprechend in einen gemäßigten und einen radikalen Antisemitismus unterschieden werden kann,222 dann spricht viel dafür, den George-Kreis zum größeren Teil dem Ersteren zuzurechnen, womit er sich zwar von der radikalantisemitischen NSDAP unterschied, jedoch auch wieder nicht so grundsätzlich, dass nicht gleitende Übergänge möglich gewesen wären. Gewiss: dass etwa ein Viertel der Mitglieder dieses Kreises einen jüdischen Hintergrund hatte,223 scheint eher das Gegenteil zu bezeugen, desgleichen das von Wolters für den Kreis in Anspruch genommene Ziel einer Assimilation.224 Selbst die gegen die jüdische Religion gerichtete Spitze, die aus den religiösen Prätentionen StGs folgte, ist noch kein Beleg für Antisemitismus, handelte es sich dabei doch um eine Negation konkurrierender Erlösungsvorstellungen, die in gleicher Weise die christlichen Konfessionen traf. Im Falle 218 219 220 221 222

Ders., Norm – Entartung – Verfall, S. 11. Vgl. ders., Kulturkrise in Gegenwart und Antike, in: Odal 4/1934/35, S. 10–21, hier: 19. Ders., Arndts Rassebegriff, S. 339. Vgl. ders., Goethe, S. 536, 143, 471 passim. Vgl. Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur ‘Judenfrage’ der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1987, S. 114; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 291. 223 Vgl. Rainer Kolk, „Verkannte brüder“, „entjudete Juden“. George-Kreis, deutsch-jüdisches Bürgertum und die politische Rechte 1918–1933, in: Mattenklott u. a. (Hrsg.), „Verkannte brüder“?, S. 55–68, hier: 56. Dazu zählen etwa Karl Wolfskehl, die Brüder Gundolf, das Ehepaar Landmann, Ernst Morwitz, Berthold Vallentin, Heinrich Friedemann, Kurt Singer, Wilhelm Stein und Ernst Kantorowicz. 224 Vgl. Philipp, ,Im Politischen‘.

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des Judentums wurde diese Negation jedoch nicht nur religiös begründet, sondern in Anknüpfung an sämtliche Stereotypen, die über diese ethnische Gruppe im Umlauf waren – übrigens nicht nur in der nichtjüdischen Bevölkerung, sondern auch unter den Juden selbst, wie Äußerungen von Ernst Morwitz oder Friedrich Gundolf erkennen lassen.225 „Juden“, so ließ sich StG gegenüber Ernst Robert Curtius 1911 vernehmen, sind die besten Leiter. Sie sind geschickt im Verbreiten und Umsetzen von Werten. Freilich, so elementar wie wir erleben sie nicht. Sie sind überhaupt andere Menschen. Ich erlaube nie, dass sie in meiner Gesellschaft oder im Jahrbuch in der Überzahl sind.226

Michael Philipp hat eine ganze Blütenlese ähnlich lautender Ressentiments aus dem Kreis zusammengestellt, die darauf schließen lassen, dass man zwar bereit war, in Bezug auf Einzelpersonen Ausnahmen zuzulassen, in Bezug auf das Judentum insgesamt aber von dessen unaufhebbarer Fremdheit überzeugt war.227 Solange diese Gruppe eine kritische Größe nicht überschritt, war man bereit, ihre Anwesenheit zu tolerieren, verfolgte aber zugleich ihre Präsenz in der Öffentlichkeit mit einem Argwohn, der stets bereit war, in Aggression umzuschlagen und dann eine Eigendynamik entwickeln konnte, die schwer zu bremsen war. Das zeigen die Hasstiraden, die den Briefwechsel zwischen Ernst Glöckner und Ernst Bertram durchziehen, zeigen die Ausfälle Ludwig Thormaehlens, der als Kustos an der Berliner Nationalgalerie bewusst die Einstellung von Juden verhinderte, zeigen zahlreiche Passagen in Wolters’ ,Blättergeschichte‘, insbesondere seine Beschreibung Karl Wolfskehls, die diesen tief verletzte, zeigt der mit antisemitischen Invektiven geführte ,Putsch‘ jüngerer Kreismitglieder gegen den Juden Ernst Morwitz als den von StG eingesetzten Universalerben,228 zeigt aber selbst noch die Denkschrift, die Edith Landmann 1933 an die nichtjüdischen Mitglieder des Kreises richtete: Ihr wisst, dass ich angesichts der Art von Juden, die sich nach und lange schon vor dem Kriege in Deutschland breitgemacht, Antisemit war genau wie ihr, aus Liebe zum deutschen Volke. Glaubt ihr im Ernst, es wäre mir noch eine Gemeinschaft mit dieser Art von Juden möglich, und gar mit der heutigen Jugend der Juden, die, nur noch mit Zionismus und Kommunismus aufgewachsen, von deutschem Geiste ebensowenig ahnt wie die Deutschen selbst?229 225 Vgl. ebd., S. 34. 226 Ernst Robert Curtius, Stefan George im Gespräch, in: Ders., Kritische Essays zur europäischen Literatur, Bern 1950, S. 138–157, hier: 153. Zu StGs Einstellung gegenüber dem Judentum vgl. Egyptien, Die Haltung Georges, allerdings mit der hier nicht geteilten Auffassung, StG sei kein Antisemit gewesen (S. 26). 227 Vgl. Philipp, ,Im Politischen‘. 228 Vgl. Hoffmann, Stauffenberg, S. 86f. 229 Edith Landmann, An die deutschen Juden, die zum geheimen Deutschland hielten, Typoskript, o. J. [1933], StGA. Wie stark noch in diesem Text der von Edith Landmann eingestandene Einfluss des Antisemitismus ist, zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der darin vom ,jüdischen Blut‘ und vom „ewigen Ahasverischen Dasein“ des jüdischen Volkes die Rede ist. Auch in politicis sind sämtliche Klischees des Antisemitismus präsent. Als Unterdrückte hätten sich die Juden dem Liberalismus anschließen müssen und seien so „ein zerstörendes und untergrabendes Element“ geworden, das sich schließlich dem Marxismus in die Arme geworfen habe. „Der Marxismus, darüber waren wir seit vielen Jahren schon mit Wolters übereingekommen, der Marxismus ist die Rache der Juden an Europa für alles, was Europa ihnen angetan.“ Die Berufung auf Wolters erfolgt hier übrigens zu Recht: vgl. etwa seine in Marburg gehaltene

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Kurt Hildebrandt hat später für seine Person wie auch für den Kreis insgesamt bestritten, jemals vom antisemitischen Virus befallen gewesen zu sein.230 Juden, so schreibt er im April 1950 an Robert Boehringer, hätten aus seiner Sicht stets zur weißen Rasse gehört und – nicht ganz logisch – in dieser aufgehen können.231 Daran ist richtig, dass Hildebrandts Texte nach 1933 dem Antisemitismus keinen zentralen Platz einräumen und davor sogar Stellen enthalten, in denen er sich für eine deutschjüdische Symbiose im Sinne einer geistigen Gemeinschaft ausspricht, wie sie cum grano salis im George-Kreis verwirklicht war. Die Betonung liegt dabei allerdings auf geistig, denn auf die Frage, „ob die Blutmischung mit dem im deutschen Volk schon vorhandenen Juden wünschenswert ist“, antwortet Hildebrandt, und dies schon 1924, mit einem klaren Nein. Das jüdische Volk sei zwar als Rassengemisch von den europäischen Nationen nicht so verschieden, dass eine Mischung prinzipiell abzulehnen sei, doch müsse man bedenken, dass bei den Ostjuden der Anteil an „ostischem Blut“ sehr hoch sei; deshalb sei insbesondere eine weitere Zuwanderung von Ostjuden nach Deutschland zu verhindern, darüber hinaus aber auch eine „Rassen-Einheit und Ehegemeinschaft beider Gemische“ nicht anzustreben.232 Man muss nur nach der praktischen Umsetzung dieser Forderung fragen, um zu erkennen, dass sie nicht weit von den Nürnberger Gesetzen entfernt war, auch wenn eine Rücknahme der staatsbürgerlichen Gleichheit nicht explizit gefordert ist. Auch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das die Entlassung aller Beamten nicht-arischer Abstammung vorsah, hat Hildebrandts stillschweigende Billigung gefunden, zögerte er doch keinen Augenblick, die Karrierechancen wahrzunehmen, die sich aus der Vertreibung von Richard Kroner und Julius Stenzel von der Universität Kiel ergaben.233 Bald darauf hat er auch die geistige Gemeinschaft gekündigt und sich der kulturellen Arisierung verschrieben, wie die Übernahme des antisemitischen Topos vom „arischen Christus“ und die Rede von der „deutsche[n] Kultur als Erfüllung des arischen Wesens“ belegen.234 1938, drei Jahre nach den Nürnberger Gesetzen und im Jahr des großen Pogroms, kommentiert er gar Ernst Moritz Arndts antisemitische Tiraden als „die gerechte Abwehr, die die Juden durch ihre öffentliche Wirksamkeit herausgefordert haben“.235 Ähnliche Äußerungen sind für Ludwig Thormaehlen belegt, der StGs Einstellung im Sinne eines radikal auf Dissimilation zielenden Antisemitismus deutete und als Vorwegnahme der NS-Gesetzgebung präsentierte.236 So gab es denn für jene Georgianer, die nicht als Juden daran gehindert waren, gleich eine Reihe von Gründen, die NSDAP attraktiv zu finden. In herrschaftssozio-

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Vorlesung Der Deutsche Mensch im 19. Jahrhundert, hier insbesondere die 7. Vorlesung über den politischen und wirtschaftlichen Deutschen, StGA. Vgl. Kurt Hildebrandt, Ein Weg zur Philosophie, Bonn 1962, S. 23. Vgl. K. Hildebrandt an R. Boehringer v. 17.4.1950, StGA. Kurt Hildebrandt, Gedanken zur Rassenpsychologie, Stuttgart 1924, S. 17. Angesichts dieses klaren Statements wird man wohl kaum davon sprechen können, Hildebrandt habe einem „Konnubium mit kultivierten westeuropäischen Juden“ das Wort geredet, so aber Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, 2 Bde., Berlin 2002, Bd. 1, S. 435. Vgl. Groppe 1997, S. 661. Vgl. Hildebrandt, Hölderlin, S. 238f.; ders., Goethe, S. 471. In diesem Zusammenhang findet auch Goethes Judenhass dankbare Erwähnung; vgl. ebd., S. 428. Ders., Arndts Rassebegriff, S. 339. Vgl. Ludwig Thormaehlen, Mappe ,Juden‘, StGA.

8. Zeitkritik und Politik

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logischer Hinsicht versprach sie, das zu realisieren, was man am italienischen Faschismus schätzte: staatliche Autorität. In ideologischer Hinsicht appellierte sie an den deutschen Nationalismus, der seit 1914 bei so vielen Jüngern Resonanz gefunden hatte, und verband dies mit einem Radikalantisemitismus, der zunächst manchen zu weit gegangen sein mag, von dem im Kreis virulenten gemäßigten Antisemitismus aber wiederum auch nicht durch einen Hiatus geschieden war. Das schloss, namentlich bei StG, die eine oder andere ablehnende Äußerung zum Nationalsozialismus und zur Rassenpolitik nicht aus,237 wie es auch an der grundsätzlichen Reserve nichts änderte, die vom georgianischen Standpunkt aus gegenüber der NSDAP als einer Partei bestand, einer Einrichtung mithin, die der modernen Demokratie und damit der Welt des ,Sekundären‘ angehörte. Dessen ungeachtet erschien der Nationalsozialismus während seines Aufstiegs und zu Beginn seiner Herrschaft als eine Bewegung, in der sich – vielleicht – eine nationale Renaissance ankündigte, eine Erhebung zur Wiederherstellung der verlorenen Ehre Deutschlands, die Vorbereitung einer deutschen Wiedergeburt, wie sie Kommerell exemplarisch anhand der Klassik, zum „Entzücken und Staunen“ StGs, vorgeführt hatte.238 Schon im Jahr vor der Machtergreifung gab dieser Hildebrandt den Wink, im Nationalsozialismus das Positive nicht zu übersehen (KH, 228). Zu Edith Landmann bemerkte er, „es sei doch immerhin das erste Mal, dass Auffassungen, die er vertreten habe, ihm von aussen wiederklängen“ (EL, 209). Ihr Hinweis auf die Brutalität der Formen wurde von StG mit dem Bescheid beiseite gewischt, dass im Politischen die Dinge „halt anders“ gingen, was wohl nichts anderes heißen sollte, als dass man kein Omelett machen könne, ohne Eier zu zerschlagen. Was „die Judensach“ betreffe, so sei sie ihm mit Blick auf das, was Deutschland in den nächsten fünfzig Jahren bevorstehe, nicht so wichtig. Als ihn der preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung im Mai 1933 in die Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste berufen wollte, lehnte StG zwar ab, begrüßte es aber ausdrücklich, dass die Akademie jetzt „unter nationalem zeichen“ stehe. Er selbst leugne „die ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung […] durchaus nicht ab“ und schiebe auch seine „geistige mitwirkung nicht beiseite“.239 Nicht wenige seiner Jünger sahen sich durch solche Winke von höchster Stelle legitimiert, es nicht bei einer bloß geistigen Mitwirkung zu belassen. Obwohl eine breitere Hinwendung zur NSDAP aus dem Kreis heraus erst 1933 einsetzte, sind Anzeichen dafür doch schon früher erkennbar. Anlässlich der Reichspräsidentenwahl im April 1932 trat Claus Graf Stauffenberg für Hitler ein, weil Hindenburg zu alt und zu reaktionär sei; überdies müsse man den bürgerlichen Parteien klarmachen, dass sie nicht auf Dauer die Herrschaft behalten könnten.240 Ludwig Thormaehlen besuchte im September 1932 gemeinsam mit Frank Mehnert eine Veranstaltung der HJ in Potsdam, auf der auch Hitler auftrat, und kam dabei, trotz mancher kritischer Reserve gegenüber Hitler zu dem Ergebnis, dass die Ideologie dieser Partei in sich stimmig und folgerichtig sei. Im Nationalsozialismus, hieß es in einem anderen, wohl zur selben Zeit entstandenen Text, drücke sich eine Volksbewegung aus, „die fürs nächste 237 238 239 240

Vgl. Landmann, George, S. 25; LT, S. 276, 282; ES, S. 248. Vgl. Landmann, George, S. 25f.; ZT, S. 361. Zit. nach Hoffmann, Stauffenberg, S. 117. Vgl. ebd., S. 123.

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II. Systematische Aspekte

nicht einzuschränken und aufzuhalten sei.“241 Nach der Reichstagswahl im Juli 1932, die die NSDAP zur stärksten Partei machte, kursierte im Kreis eine Denkschrift, die zum „heiligen Krieg gegen die bürgerlichen Vegetationsformen“ aufrief und dabei den Kreis in einer Art Arbeitsteilung mit den Nationalsozialisten sah. Es sei ein Geheimnis so sehr wie ein Ereignis, „wenn ein wütender Oesterreicher die Sprache fand, dass unsere braven Lümmel ihr Vertrauen in deutschen Geist setzen und meinen, dass welche da sind, die den deutschen Geist verfechten, auch wo ihr eigenes Hirn nicht darauf gekommen wäre.“ Zwar passten die Helfer dieses Aufrührers, „die bärenhaften und kläffenden Kerle, die blindwütig dem Parteidienst leben“, schlecht in die Reihen der geistigen Bewegung. „Aber sie haben den Schlüssel! Unsere Sache ist es nicht, Volksreden zu halten, ihre Sache ist es nicht in den Kreis der Bl. f. d. K. zu passen.“ Der Verfasser dieses Pamphlets war Walter Anton aus dem Marburger Zirkel um Friedrich Wolters, Bruder des im Jahr zuvor aus dem Leben geschiedenen Johann Anton, der seinerseits 1926 mit einer Radikalkritik der Weimarer Verfassung hervorgetreten war,242 und so war es denn auch in Wolters’ Sinn, was Walter Anton an den Nationalsozialisten zu rühmen wusste: ihre Gegnerschaft gegen „das ewig weibliche und das ewig jüdische, die man gerne zum gleichen Dämon rechnen mag.“ Ihr Programm sei so sehr von männlichem Geist diktiert, dass im Streben um seine Verwirklichung der jüdische Geist und der weibliche Geist kaum Handhaben finden, um die Männer sich dienstbar zu machen, sondern es ist ein Stück öffentliches Leben geschaffen, das sich fortentwickelt unter fast gelungenem Ausschluss der jüdischen und der weiblichen Kräfteentwicklung.

Da dies so konsequent bisher nur von der geistigen Bewegung gefordert worden sei, komme man schwer um die Erkenntnis herum, „dass unerklärlich und unbewusst, aber wirksam, jener Aufrührer von dieser einzigen geistigen Bewegung irgendwo erfasst worden ist.“ Hitler als weltgeschichtlicher Täter im Geiste StGs, das war die Formel, mit der Walter Anton die Kreismitglieder auf die bevorstehende nationalsozialistische Machtübernahme einzustimmen versuchte: Was auch eintreffe: seine bis jetzt zurückgelegte rasende Fahrt ist nach der Gründung durch Bismarck und die Rettung durch den Marschall die dritte Tat, die das Reich bewahrte vor dem Versinken im formlosen Bürgerdreck aller Erdteile. Da gegen diesen Morast auf der uns bekannten Welt kein anderer Geist lebt, als der der deutschen Dichter, so können wir nicht umhin, diesen Redner als Knecht des deutschen Geistes zu begrüssen, wenn er ihm heute auch verworren dient. Ein Uebergang zu einem besseren Führer braucht keinen Konflickt [sic!] zu bringen mit den einmal eingehämmerten Glaubensformeln. Denn eine höhere und weitere Politik braucht ja nicht andere Formeln zu haben, sondern nur eine andere Handhabung der Formeln. In einem Worte haben verschiedene Wirklichkeiten Platz und in diesem 241 Ludwig Thormaehlen, Mappe A. Hitler-Heß, StGA. Zu Hitler heißt es dort: „Ein unheilvoll ins Praktische und Politische und Primitive geglittener Hegelianer“. 242 Vgl. Johann Anton, Rückblick auf die deutsche Reichsverfassung von 1919 aus dem Jahr 1926, StGA. Die Weimarer Verfassung erscheint in diesem Text als ein Produkt der „Spiessbürger aller Richtungen“, als „Verlegenheitsgebilde“, an dem keine Reform etwas zu verbessern vermöge. Ihr fehle das gründungsheroische Fundament anderer Verfassungen, das durch bloße Wissenschaft – für Anton ein ,hochverräterisches‘ Unternehmen – ersetzt worden sei. Von Grundrechten hält dieser Autor nichts; als einzig lobenswerte Bestimmung hebt er den Artikel 133 vor, der es erlaubt, für die Angehörigen der Reichswehr „zur Erfüllung ihrer Aufgaben und zur Erhaltung der Manneszucht einzelne Grundrechte einzuschränken“.

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Parteiprogramm manche uns verwandte, im Gegensatz zur Reichsverfassung, in die kein Herrgott einen anständigen Sinn hineintragen kann.243

Walter Antons Bekenntnis blieb nicht unwidersprochen. Gerda Schlayer schrieb eine Entgegnung, in der sie der Denkschrift wie schon Wolters’ Schule „eine Umfälschung und Zerstückelung des Georgeschen Werkes und […] eine Schändung des Menschlichen Geistes aller Zeiten“ vorwarf.244 Aber zum einen kam diese Kritik von der Peripherie des Kreises, nicht aus dem Zentrum, und zum andern stand Walter Anton nicht allein. Ende 1930 erklärte sich Edgar Salin, Mitglied der List-Gesellschaft, bereit, an einer Kommission teilzunehmen, die eine Diskussion über das Parteiprogramm der NSDAP in der Gesellschaft vorbereiten sollte. Den Vorsitzenden ließ er wissen, dass er „bei Ablehnung einzelner Thesen […] die nationalsozialistische Haltung bejahe.“ Einwänden, die sich auf den erklärten Antisemitismus der Partei stützten, hielt er entgegen: Aber wenn ein Deutscher als Jude sich nicht mit einem Nationalsozialisten zusammensetzen kann, so sehe ich darin eine Schwäche, die den nationalsozialistischen Standpunkt nicht nur zu unterstützen, sondern in manchem Betracht zu rechtfertigen geeignet ist.245

Im Mai 1933 traten Kurt Hildebrandt und Walter Elze der NSDAP bei, ohne bei StG deshalb auf Widerspruch zu stoßen. Er habe, rechtfertigte sich Kurt Hildebrandt später gegenüber Robert Boehringer, nur die Alternative Bolschewismus oder Nationalsozialismus gesehen und im Übrigen fest daran geglaubt, dass Hindenburg und die Deutschnationalen schon die „Übertreibungen“ im Zaum halten würden.246 Dass er den nationalsozialistischen Sieg auch noch aus einem anderen Grund begrüßte, als Verwirklichung seines „Zukunftstraum[s] einer rassenhygienischen Politik“, verschwieg er dabei ebenso wie seine späteren Versuche, Goethe für „das geistige Großdeutsche Reich“ und dessen Kriegspolitik in Anspruch zu nehmen, was zugleich die endgültige Verabschiedung von Goethes und StGs Kritik der modernen Wissenschaft und Technologie bedeutete.247 Noch im gleichen Jahr schloss sich Rudolf Fahrner, mit Hildebrandt ebenso befreundet wie mit Wolters und später den Stauffenbergs, der SA 243 Walter Anton, Denkschrift zum 31. Juli 32. Für Crajo [!] und ältere Ungläubige vom Löwen geschrieben in ermanglung von Wolters und Hans, 6-seitiges Typoskript mit hs. Korrekturen, StGA. 244 [Gerda Schlayer], Entgegnung auf das Löwen-script Sommer 1932, Typoskript, StGA. 245 E. Salin an Bernhard Harms v. 20.11.1930, Nachl. Salin, Universitätsbibliothek Basel; zit. nach Friedrich Lenger, Werner Sombart (1863–1941). Eine Biographie, München 1994, S. 349. Zu Salins Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus sowie zu seinem Gesinnungswandel nach 1933 vgl. Schönhärl, Wissen und Visionen, S. 269ff. 246 K. Hildebrandt an R. Boehringer v. 23.7.1950, StGA. 247 Vgl. Hildebrandt, Norm – Entartung – Verfall, S. 9; ders., Goethe, S. 471, ferner S. 377ff., 382, 512. Pünktlich zum Kriegsbeginn 1939 hieß es bereits im Hölderlin-Buch: „Hier fällt ein Licht auf die deutsche Zukunft, Friedliche Entfaltung der Kultur oder Krieg. Hölderlin, der angebliche Griechenträumer, fordert die Tat, den Krieg“ (Hildebrandt, Hölderlin, S. 127). Und an anderer Stelle: „Die politische Einsicht, dass nur durch Freiheitskriege dem deutschen Volke wahre Einheit und großer Geist zu geben sei, ist eigenste persönliche Einsicht des Genies Hölderlin“ (ebd., S. 134). Weitere Texte dieses Genres sind: Nietzsche und die Kriegspropaganda, in: Kieler Blätter 3/1940, 3/4; Die Idee des Krieges bei Goethe Hölderlin Nietzsche, in: August Faust (Hrsg.), Das Bild des Krieges im deutschen Denken, 2 Bde., Stuttgart, Berlin 1941, Bd. 1, S. 371–409.

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II. Systematische Aspekte

an, während andere wie Ludwig Thormaehlen, Ernst Glöckner, Frank Mehnert, Albrecht von Blumenthal oder Erich Boehringer mit ihren Sympathien nicht hinter dem Berg hielten.248 Carl Petersen, der Freund und Kollege von Wolters in Kiel, unternahm es gemeinsam mit dem Rektor Karl Lothar Wolf, die Kieler Universität zur ,Stoßtruppuniversität‘ umzubauen und gehörte darüber hinaus zu den Mitinitiatoren des Handwörterbuchs des Grenz- und Auslandsdeutschtums, eines Kompendiums des deutschen Ethnonationalismus, das sich der Revision des Versailler Vertrages verschrieben hatte.249 Ernst Bertram, zu diesem Zeitpunkt freilich dem Kreis schon seit Längerem fern gerückt, erklärte in seiner Rede zum 65. Geburtstag StGs den Dichter zum Vorläufer des neuen Staates, wenn auch nicht ohne diesen seinerseits an jenem zu messen.250 Noch affirmativer fiel die Geburtstagsrede Woldemar von Uxkull-Gyllenbands vor der Studentenschaft der Universität Tübingen aus, die StG zur ersten Gestalt in der deutschen Geistesgeschichte erhob, „in der die heroisch-mythische Lebenshaltung die ungebrochene Form erhielt“, in welcher sie nun „Realität im deutschen Lebensraum geworden sei“, zum Dichter des „neuen germanischen Reich[es]“, das sich zum „fünfte[n] Stoß“ vorbereite, mit dem es die Welt erschüttern und erneuern werde.251 Gottfried Benn drückte deshalb nicht nur seine eigene Ansicht, sondern auch die eines erheblichen Teils des ehemaligen George-Kreises aus, als er 1934 in seiner Rede auf Stefan George meinte, dass der neue Geist des „imperativen Weltbildes“ „in der Kunst StGs wie im Kolonnenschritt der braunen Bataillone als ein Kommando lebt“.252

8.5.

„der dritte der stürme“: Das geheime wider das offizielle Deutschland

Blickt man zurück auf die Weltanschauung der Jahrbücher, dann wird sofort klar, dass dies nicht das letzte Wort sein konnte. Denn in zwei seiner konstitutiven Komponenten – dem neuen Nationalismus und dem Rassenaristokratismus – war der Nationalsozialismus zutiefst eben jenen Mächten des ,Fortschritts‘ verpflichtet, denen die Jahrbücher den Kampf angesagt hatten: der modernen Technik und der sie ermöglichenden experimentellen Wissenschaft, der ohne ihre Methoden ebenfalls nicht denkbaren quantitativen und qualitativen Bevölkerungspolitik, dem durch die Hochrüstung wieder aufgeholfenen Kapitalismus, dem manipulativen Einsatz der Massenkünste. So groß die Bereitschaft einzelner Exponenten des Kreises war, sich um bestimmter, meist nationalistischer und chauvinistischer Zielsetzungen willen diesen Mächten wenigstens zeitweilig zu akkommodieren, so augenfällig war doch auch die 248 Vgl. Hoffmann, Stauffenberg, S. 111, 120; Kolk 1998, S. 496. 249 Vgl. Kolk 1998, S. 524ff.; Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993. 250 Vgl. Michael Petrow, Der Dichter als Führer? Zur Wirkung Stefan Georges im ,Dritten Reich‘, Marburg 1995, S. 55. 251 Woldemar Uxkull-Gyllenband, Das revolutionäre Ethos bei Stefan George, Tübingen 1933, S. 9, 8. 252 Gottfried Benn, Rede auf Stefan George (1934), in: Ders., Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke, hrsg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt/M. 1989, S. 479–490, hier: 488.

8. Zeitkritik und Politik

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Spannung, die sich hierdurch zu der für den Kreis einst maßgeblichen Zeitablehnung und den mit ihr einhergehenden Erlösungsideen ergab – Prämissen, die zwar mit einem ,kritischen Nationalismus‘ (Gruenter) oder besser einem nationalreligiösen Fundamentalismus vereinbar waren, nicht aber mit einem unkritischen, die reale Nation oder die für real gehaltene Rasse hypostasierenden Nationalismus bzw. Rassismus, wie sie für die NSDAP bestimmend waren. Nicht minder augenfällig war, dass ein Radikalantisemitismus, der die Emanzipation von 1871 widerrief und längst auch die Grenze zur physischen Verfolgung überschritten hatte, den jüdischen Kreismitgliedern die Existenzmöglichkeiten bestritt, was selbst diejenigen alarmierte, die, wie Kurt Singer, das NS-Regime als Rückkehr zum autoritären Staat und als Erfüllung aller Träume des deutschen Nationalismus begrüßten.253 In der Geschichte des George-Kreises war es das dritte Mal, dass eine derart bis in die Fundamente reichende Spannung aufbrach. Das erste Mal hatte der Weltkrieg eine tiefe Kluft zwischen denjenigen geöffnet, die, wie Gundolf, das ,geheime Deutschland‘ durch die Ereignisse mit dem offiziellen vereint sahen,254 und denjenigen, die daran nicht zu glauben vermochten – neben StG selbst etwa Norbert von Hellingrath, der in seinen Kriegsbriefen seine abgrundtiefe Verzweiflung am realen Volk artikulierte und sich in seinem Kriegsvortrag über Hölderlin und die Deutschen davon überzeugt zeigte, dass der innerste Glutkern des deutschen Wesens nur in einem geheimen Deutschland zutage tritt; sich in Menschen äußert, die zum mindesten längst gestorben sein müssen, ehe sie gesehen werden, und Widerhall finden; in Werken, die immer nur ganz wenigen ihr Geheimnis anvertrauen.255

Gegen Ende des Krieges verdichtete StG diese Einstellung zu der Sentenz: „Das Geistige Reich hatte und hat mit und ohne sieg die ganze welt zum feind.“256 Während der Weimarer Republik war es dann Kommerell gewesen, der im Auftrag StGs zum zweiten Mal den Akkommodationstendenzen entgegentrat: wieder unter Berufung auf Hölderlin und wieder mit ausgiebiger Nutzung der in der Semantik des ,geheimen Deutschland‘ eingeschlossenen Vorstellungskomplexe: der Konfrontation von Oberfläche und Tiefe, von stasis und kinesis, von Latenz und Aktualität, von Geheimnis und Offenbarung.257

253 Vgl. Philipp, ,Im Politischen‘, S. 41ff. 254 Vgl. F. Gundolf an StG v. 30.7.1914, in: G/G, S. 254. 255 Norbert von Hellingrath, Hölderlin und die Deutschen (1915), in: Ders., Hölderlin-Vermächtnis. Forschungen und Vorträge. Ein Gedenkbuch zum 14. Dezember 1936, eingel. v. Ludwig von Pigenot, München 1936, S. 123–154, hier: 124f. Seine Sicht des realen Volkes hat Hellingrath am 19.6.1916 in einem Brief an Edgar Salin zum Ausdruck gebracht, „ich kann vor meine leiblichen augen kein andres bild beschwören worin sich unser romantisch schwärmender intellektueller wasserkopf unsre schwerfällig stumpfe bauernschaft und das ganze vom kapital gleichgemahlne dickicht […] zur grauen handlichen masse eines heeres vereinen liesse … Vielleicht hab ich den grauen star […]; aber mir scheint immer noch geist reich und staat werden bei uns immer die sache von einem dutzend schwärmern oder herrschern sein und die andern hundert millionen sind zum glück so hündisch fügsam dass sie gehörig angeschrien schon folgen, und der liebe gott an der sache so beteiligt dass er wenns nicht anders geht mit einem fusstritt nachhilft“ (ES, 123f.). 256 StG an F. Wolters v. 4.11.1918, in: G/W, S. 147. 257 Vgl. Raulff, ,Verborgenheit‘, S. 113f.

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II. Systematische Aspekte

Als 1933 die Spannung ein drittes Mal aufbrach, leitete dies das Ende des George-Kreises ein. Am 14. November 1933 hielt Ernst Kantorowicz, der sich zunächst wegen der mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verbundenen Entwürdigung der Juden von seinen Pflichten als Hochschullehrer hatte entbinden lassen, an der Frankfurter Universität eine Vorlesung über jenes ,Geheime Deutschland‘, auf das er sich in der Vorbemerkung zu seinem Buch über Kaiser Friedrich der Zweite (1927) bezogen hatte. Als direkte Antwort auf die Rede Woldemar von Uxkulls konzipiert, dem er das Friedrich-Buch seinerzeit gewidmet hatte, zielte die Vorlesung darauf, das ,Geheime Deutschland‘ StGs vor der Gleichsetzung mit dem kürzlich ,erwachten‘ Deutschland zu bewahren und den plebejischen Herrschern des letzteren den Spiegel des wahren Deutschlands vorzuhalten, seiner wahren Herrscher, Helden und Heiligen.258

Mit ausdrücklichem Bezug auf Wolfskehl, der Deutschland bereits verlassen hatte, und implizitem Verweis auf Kommerell, der den Deutschen das Gesetz zugeschrieben hatte: „wer ihr tiefstes Eigentum in sich trägt, muß ihnen der Fremdeste sein“,259 beschrieb Kantorowicz das ,Geheime Deutschland‘ als Götter- und Geisterreich, als Menschenreich und Seelenreich, als „geheimes Reich, das niemals da war und doch ewig ist“, bewohnt von „Vornehme[n]“, die sich „keinem Zugriff unlautrer Hände preis[geben]“ und den Anruf eines Geschlechts überhören, „das ,nicht höhen kennt, die seelen-höhen sind‘“.260 Was diese Vornehmen vereine, sei die „Liebe zu der im ,geheimen Deutschland‘ verkörperten Dreieinheit, die da heisst: Schönheit Adel Grösse!“, sei die bewusste Verpflichtung auf eine Tradition, die mit dem klassischen Griechenland beginne und über Dante zu jenem „universalen Deutschland“ führe, das in geheimer Verbundenheit, ja sogar „Blutsverwandtschaft“ mit Hellas stehe, wenn auch einer solchen, die erst gezeugt werden müsse und stets von Neuem gezeugt werde, durch Heroen wie Hölderlin und Goethe, Nietzsche und StG.261 Freilich: So sehr sich Kantorowicz darum bemühte, dieses Deutschland von denjenigen abzusetzen, die sein Bild auf die Straßen zerrten, es dem Markt annäherten, um es dann als eigen Fleisch und Blut zu feiern,262 so wenig vermochte er es, ihm einen Inhalt zu verleihen, der über die Evokation mythisch aufgeladener Namen hinausging. Und dort, wo er einmal konkreter wurde, schwenkte auch er auf jene nationalreligiösen Muster ein, aus denen man nur die Erlösungsidee und die Zeitablehnung entfernen musste, um sie mit dem konventionellen Nationalismus zusammenfallen zu lassen. Das geheime Reich sollte sich auf den deutschen Raum beschränken, es sollte „der Substanz nach“ deutsch sein und doch „auf eignem Raum wiederum das Gesamt aller urmenschlichen Gestaltungen und Kräfte erstehen lassen“, als „Makro-An-

258 Grünewald, Eckhart, „Übt an uns mord und reicher blüht was blüht!“ Ernst Kantorowicz spricht am 14. November 1933 über das „Geheime Deutschland“, in: Benson/Fried (Hrsg.), Kantorowicz, S. 56–76, hier: 64. 259 Kommerell, Der Dichter als Führer, S. 465. 260 Ernst Kantorowicz, „Das Geheime Deutschland.“ Vorlesung, gehalten bei Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit am 14. November 1933, hrsg. v. Eckhart Grünewald, in: Benson/Fried (Hrsg.), Kantorowicz, S. 77–93, hier: 80f. 261 Ebd., S. 88f. 262 Vgl. ebd., S. 80.

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thropos deutscher Prägung“.263 „Römisches und Hellenisches, Italienisches und Englisches“ erschienen von hier aus gesehen nicht als Gestaltungen eigener und als solche zu respektierender Art, sondern als „menschlich ursprüngliche Gegebenheiten der deutschen Urtiefen“, denen auf diese Weise eine weit über die deutschen Grenzen hinausreichende, abendländische, wenn nicht gar menschheitliche Sendung zugeschrieben wurde, für die es ein Draußen, ein Anderes, nicht mehr gab.264 Zu Recht fügt der Kommentator an dieser Stelle die Frage an, „wie wohl Kantorowicz’ italienische, englische oder später amerikanische Freunde auf solche Vorstellungen reagiert hätten, dass ihr nationales, ,Menschlich-Ursprüngliches‘ Gegebenheiten der ,deutschen Urtiefen‘ seien“.265 Von hier bis zur Eingemeindung Rembrandts oder Shakespeares in den deutschen Volksgeist, wie man sie bei Langbehn oder Moeller van den Bruck lesen kann, ist es kein großer Schritt; von dort bis zu weiteren Inkorporationen ganzer Länder und Völker ebenfalls nicht. Kantorowicz’ ebenso paradoxer wie die Machtverhältnisse falsch einschätzender Versuch, öffentlich für das ,Geheime Deutschland‘ zu streiten, blieb singulär. Er selbst musste seine Vorlesung schon nach wenigen Wochen auf Druck nationalsozialistischer Studenten und der Universität abbrechen. Nach dem Verlust seines Lehrstuhls ging er 1938 ins Exil, zunächst nach Großbritannien, dann in die USA, wo sich mit der Verbindung zum offiziellen Deutschland zugleich die zum geheimen lockerte. Als Anfang der 50er-Jahre der Wunsch an ihn herangetragen wurde, das Friedrich-Buch neu erscheinen zu lassen, lehnte er dies mit der Begründung ab, dass das Buch, in der Hochstimmung der zwanziger Jahre geschrieben, mit all seinen Hoffnungen auf den Sieg des ,Geheimen Deutschland‘ und auf die Erneuerung des deutschen Volkes durch den Blick auf den größten Kaiser, – dass dieses Buch heute fehl am Platze sei und vielleicht sogar antiquierte Nationalismen neu belebe.266

Erst 1963 stimmte er einer Neuauflage zu, um nicht den Anschein zu erwecken, er wolle von seiner Kreisvergangenheit abrücken.267 Im gleichen Jahr wie Kantorowicz ging auch Ernst Morwitz ins amerikanische Exil, nachdem man ihn 1935 aufgrund der Nürnberger Gesetze aus seinem Amt als Kammergerichtsrat und Mitglied des Zivilsenats des Berliner Kammergerichts entfernt hatte. Als Dozent für deutsche Sprache und Literatur an der Universität von Chapel Hill, North Carolina, übertrug er dort in langjähriger Arbeit, gemeinsam mit Olga Marx-Perlzweig, StGs Gesamtwerk ins Englische und schrieb außerdem einen umfangreichen Kommentar, der die Dichtung ihrer Hermetik entkleidete, sie aber auch aus allen politischen Bezügen herausnahm, sodass sie gewissermaßen dorthin zurückgeführt wurde, wo sie ihren Anfang genommen hatte: in den BfdK.268 Einen ähnlichen Vorgang der Rücknahme, der in diesem Fall zugleich mit einem persönlichen Rückzug verbunden war, kann man bei Friedrich Gundolfs jüngerem Bruder Ernst konstatieren, der nach seiner Haft im KZ Buchenwald 1939 nach London 263 264 265 266

Ebd., S. 83. Ebd., S. 84. Ebd., S. 70. Eckhart Grünewald, Biographisches Nachwort, in: Ernst H. Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Stuttgart 1994, S. 353–373, hier: 372. 267 Vgl. ebd. 268 Vgl. Raulff, ,Verborgenheit‘, S. 368ff.

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II. Systematische Aspekte

emigrierte und dort, in den Worten Karl Wolfskehls, ein „reines hochgezogenes Stoikerleben“ führte.269 Edith Landmann wiederum verwandelte, jüdischer Tradition gemäß, das ,Geheime Deutschland‘ in das portable Vaterland, als sie in ihrem Aufruf an die deutschen Juden die Gründung einer kleinen Siedlung in der Fremde vorschlug, in der die im offiziellen Deutschland verfemten Juden wie auch die nichtjüdischen Gegner des Nationalsozialismus das ,hohe Leben‘ im Sinne StGs führen sollten: „Wir tragen das Geheime Deutschland mit uns, tragen es in Metall geritzt, und schon steht uns reinlich gezimmert die heilige Lade, gefüllt mit den heiligen Büchern.“270 1937 nahm sie diese mit ins Schweizer Exil, wo sie sich ganz ihrer Lehre vom Schönen widmete.271 Aus der Antisemitin, als die sie sich noch 1933 bekannt hatte, wurde in ihren letzten Lebensjahren eine Zionistin, die die Gründung des Staates Israel mit den Worten kommentierte: „Wir haben wieder ein Vaterland.“272 Früher als Edith Landmann hat Karl Wolfskehl die den deutschen Juden drohenden Gefahren erkannt. Sensibilisiert durch die von antisemitischen Stereotypen geprägte Zeichnung seines Porträts in Wolters’ ,Blättergeschichte‘,273 registrierte er mit wachsender Besorgnis den wahl- und zügellosen Hass „gegen den ,Juden‘, gegen diesen chimärischen, doch so blutgetränkten Begriff“, der „der jungen Bewegung ihren Geschmack ja ihre Stoßgewalt“ verleihe.274 Mit nicht geringerem Argwohn beobachtete er das Verhalten der Juden um StG: sie fühlen das Unbequeme, sie kehren den Blick ab, sie suchen sich die Dinge zurecht zu stählen, beseufzen aufs höchste, dass ein abscheulicher Zufall sie zurückhält mitzuthun, der ,großen nationalen Bewegung sich voll und ganz anzuschließen‘! Auch sie, die gescheiten und wohlmeinenden unter ihnen finden den auf sie gerichteten Blick garnicht so gorgonisch . .275

Als er, der Erfinder des Wortes vom ,geheimen Deutschland‘, 1932 für mehrere Monate bei Edgar Salin wohnte, da erschien ihm sein Tag, in den Worten des Freundes, schon seit Langem verdüstert, „seine Nacht verstört durch das Vorgefühl eines grausigen über Deutschland hängenden Schicksals.“ „Seit der Vertreibung der Juden aus 269 Vgl. Jürgen Egyptien, Beobachtungen zur Kunst des Verschwindens. Versuch über Ernst Gundolf, in: CP 54/2005, 270, S. 41–64. 270 Edith Landmann, An die deutschen Juden (1933), StGA, S. 17. 271 Sie ist 1952 unter diesem Titel in Wien erschienen. Vgl. dazu Margret Schuster, Edith Landmann als Philosophin, in: CP 5/1955, 25, S. 34–49. 272 Vgl. Michael Landmann, Edith Landmann 1877–1951, in: CP 29/1980, 141/142, S. 107–141, hier: 137f.; Jürgen Egyptien, Schwester, Huldin, Ritterin. Ida Coblenz, Gertrud Kantorowicz und Edith Landmann. Jüdische Frauen im Dienste Stefan Georges, in: CP 53/2004, 264/265, S. 73–119, hier: 113. 273 „Er besaß den seelischen durch den Lebenskampf unzähliger Geschlechter erworbenen unauflösbaren Kern, der jedem Leid und Logos widersteht und aus Siegen wie Niederlagen unzerschlagen hervorgeht, aber er hatte doch auch wie alle unterworfenen oder lang unterdrückten Rassen den Trieb zur Zerlösung alles Festen, zur Zersetzung alles Mächtigen, zur Überreizung alles Jugendlich-Gesunden, das die uralten Gifte nicht verträgt, und äußerte ihn um so gefährlicher, je geschulter und listenreicher sein geschmeidiger Geist, je tätiger und drängender sein immer regsamer Wille war. Ob an Frau oder Freund, Schüler oder Meister, Kreis oder Welt, er mußte diese Kräfte an allen versuchen und hat auch George bis zum letzten versucht wie der Teufel den Herrn“ (FW, 244). 274 K. Wolfskehl an A. Verwey v. 15.9.1932, in: W/V, S. 266f. 275 K. Wolfskehl an A. Verwey v. 26.10.1932, in: W/V, S. 270ff.

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Spanien, wiederholte er oft, sei nichts Schlimmeres im Gang gewesen, als was sich jetzt in Deutschland vorbereite. ,Aber das war das Ende des spanischen Geistes und wird das Ende des deutschen sein‘“ (ES, 224). Im italienischen Exil entstand zunächst sein Gedichtband Die Stimme spricht (1934), in dem er den Gott der Väter des Exils beschwor, dann, noch im selben Jahr, die erste Fassung seines Gedichts „An die Deutschen“, das seinen endgültigen Abschluss erst zehn Jahre später in Neuseeland erhielt. Es rief noch einmal die tausendjährige Geschichte des Zusammenlebens von Christen und Juden im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation in Erinnerung, legte Rechenschaft ab über den ,Dienst am deutschen Geist‘, wie er zumal Wolfskehls Lebensleistung charakterisiert, schlug den Bogen zum „geheimen deutschen Fug“ und zu StG als dem ,höchsten Hort vom Rheine‘, um in der nach den Nürnberger Gesetzen verfassten Schlussstrophe nun auch seinerseits die Trennung von einem Land zu vollziehen, das im Begriffe stand, ,die eignen Lichter‘ auszulöschen – eine Trennung, die freilich nur das offizielle Deutschland betraf, denn: „Wo ich bin ist Deutscher Geist.“276 Wolfskehls Abgesang fand im Kreis ein zwiespältiges Echo. Während Edgar Salin, nicht so sehr aus allgemein- denn aus kreispolitischen und ästhetischen Gründen, von einer Veröffentlichung abriet, zeigte sich Robert Boehringer stark davon ergriffen. Er, der als einziges nichtjüdisches Kreismitglied von Anfang an das „braune Zeug“ kompromisslos abgelehnt hatte, trug ihn im Dezember 1937 an StGs Grab in Minusio vor und beeindruckte damit Frank Mehnert so sehr, dass dieser sich vom Regime abwandte. Nach dem Novemberpogrom im folgenden Jahr zertrümmerte Mehnert gemeinsam mit Rudolf Fahrner – auch er ein inzwischen Abgefallener – als ,symbolische Gegentat‘ eine seiner Hitlerbüsten mit der Axt.277 Fahrner, der sich zu dieser Zeit mit der preußischen Reformära während der napoleonischen Kriege beschäftigte, wandte sich damals Gneisenau zu, in dem er das Vorbild für eine von der militärischen Elite initiierte Insurrektion sah.278 Starken Anteil an seinen Arbeiten nahmen die Ururenkel Gneisenaus, die Brüder Stauffenberg, insbesondere Berthold und Claus, die Fahrner erst 1935 bzw. 1936 persönlich kennengelernt hatte, obwohl sie wie er vom Marburger Kreis um Wolters bzw. von dessen jüngeren Mitgliedern geprägt worden waren – Berthold durch Johann Anton, Claus durch Max Kommerell.279 Von StG in der mythischen Vorstellung bestärkt, sie seien Nachkommen der Staufer und königlichen Blutes, von Kommerell als Erben des Kaisers „im Staufenberg“ angedichtet, von Kantorowicz davon überzeugt, dass das geheime Deutschland nach seiner im Stauferreich vollzogenen ersten Erhebung zum offiziellen Deutschland in erneuerter Gestalt zur Verwirklichung anstehe,280 hatten die Brüder ein starkes Sendungsbewusstsein entwickelt, das sich noch 276 Karl Wolfskehl, „Das Lebenslied.“ An die Deutschen, in: KW I, S. 218. Vgl. Voit, Wolfskehl, S. 143ff.; Riedel, Geheimes Deutschland, S. 190ff. 277 Vgl. Hoffmann, Stauffenberg, S. 173f.; Voit, Wolfskehl, S. 163; Riedel, Geheimes Deutschland, S. 196f. 278 Vgl. Fahrner, Arndt; ders., Gneisenau, München 1942. 279 Vgl. Hoffmann, Stauffenberg, S. 73, 61, 92f., 160f. 280 Vgl. E. Kantorowicz an StG v. 17.12.1933, StGA. Berthold Graf Stauffenberg war im April 1924 mit anderen Georgianern in Palermo und gehörte damit möglicherweise zu denen, die am Grab Friedrichs II. den Kranz mit der Inschrift „seinen kaisern und helden das geheime deutschland“ niederlegten, auf die sich Kantorowicz in der Vorbemerkung zu seinem Fried-

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II. Systematische Aspekte

steigerte, als sie nach StGs Tod auch formell zu dessen Erben und damit zu den Sachwaltern des geheimen Deutschland wurden: Berthold wurde noch von StG selbst gemeinsam mit Boehringer zum Treuhanderben für den Nachlass ernannt, Claus folgte 1943 als Nacherbe des am 26. Februar gefallenen Frank Mehnert.281 Wie Fahrner standen die Brüder dem Hitler-Regime zunächst positiv gegenüber. Dem Reichswehroffizier Claus Graf Stauffenberg kam die nationalsozialistische Forderung nach einem Volksheer ebenso entgegen wie die Volkstums- oder Irredentapolitik, die Gegenstellung zur Versailler Ordnung, zum Parteienstaat, sodass es nicht weiter überraschend ist, wenn man von seiner Zustimmung zur Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht, zur Remilitarisierung des Rheinlands, zur Angliederung Österreichs oder der Sudetengebiete liest.282 Auch der Radikalantisemitismus wurde akzeptiert, zwar nicht in der Form des Pogroms, wohl aber in derjenigen einer gesetzlich geordneten Entfernung der Juden aus dem Theater, der Musik und der Publizistik sowie einer Ausbürgerung nichtdeutscher Juden.283 Das georgianische Reichsverständnis, das besonders die römischen Wurzeln betonte, stand zwar zu der in völkischen Kreisen verbreiteten Germanenidolatrie in Widerspruch, war aber für sich genommen noch kein Zeichen grundsätzlicher Opposition, schätzte doch Hitler selbst die kulturellen und politischen Leistungen der Römer als durchaus höher ein als die der Germanen.284 Insofern kann der aufsehenerregende Vortrag, den der dritte Stauffenberg-Bruder, Alexander, 1937 auf dem 19. Deutschen Historikertag in Erfurt über Theoderich der Große und seine römische Sendung hielt, noch nicht als Dokument des Widerstands gelten, zumal der gleiche Alexander noch 1944 in seinem Gedicht „Der Tod des Meisters“ bewies, wie stark er noch antisemitischen Denkmustern verhaftet war.285 Erst auf die Erfahrung hin, dass das von ihnen lange unterstützte Regime auf einen Vernichtungskrieg aus war, der alle Regeln der Kriegführung außer Kraft setzte und genozidale Ausmaße annahm, setzte bei den Brüdern Stauffenberg ein Distanzierungsprozess ein, der im Frühjahr 1942 begann und sich im darauf folgenden Sommer bei Claus zu der Einsicht verdichtete, dass Hitler gestürzt werden müsse.286 Dass die Widerstandsbewegung mit ihrem am 20. Juli 1944 durchgeführten Attentat auf Hitler ein anderes Deutschland als das nationalsozialistische erstrebte, steht

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rich-Buch bezog. Im Januar 1927 war er mit StG, Johann Anton und Kommerell in München an der Schlussredaktion dieses Buches beteiligt; vgl. Hoffmann, Stauffenberg, S. 62f., 70. Vgl. Hoffmann, Stauffenberg, S. 52, 61, 78, 299. Vgl. Müller, Stauffenberg, S. 137, 143. Vgl. ebd., S. 146f.; Hoffmann, Stauffenberg, S. 124, 172. Vgl. Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998, S. 72ff. Vgl. Hoffmann, Stauffenberg, S. 157. Das am 5.7.1944 abgeschlossene, 1945 anonym publizierte Gedicht erklärt mit Blick auf die „versprengten“, also die jüdischen Kreismitglieder, sie seien „schuldlos doch verstrickt / In ihres blutes fluch der tausendjahre / Der sie von frucht und trank der scholle schied / Des Tantalos ihr los“; mit ihnen solle „nicht gerechtet werden“, „was auch missetat / Verbrach an ihnen“. Karl Wolfskehl hat darauf mit seinem Gedicht „Zu Schand und Ehr“ geantwortet; vgl. Voit, Wolfskehl, S. 563f.; Norman P. Franke, „Honour and Shame …“ Karl Wolfskehl and the Stauffenberg Brothers, Poetical Discourses of Political Eschatology in Stefan Georges Circle, in: Norman Simms (Hrsg.), Letters and Texts of Jewish History, Hamilton 1999, S. 89–130. Vgl. Müller, Stauffenberg, S. 235, 256, 348; Hoffmann, Stauffenberg, S. 251.

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außer Zweifel. Die gegenteilige Auffassung, die darin nur die Tat einer anderen Fraktion des Faschismus zu sehen vermag – der „Potsdamer Fraktion des NS“287 – verwechselt Faschismus und autoritären Staat und geht schon deshalb an der Sache vorbei. Schwieriger zu beantworten ist hingegen die Frage, ob dieses andere Deutschland, zumindest was die Brüder Stauffenberg angeht, mit dem ,geheimen Deutschland‘ identisch ist. Sicher war ihr Denken und Handeln auf jeder Stufe des Geschehens von Georgeschen Motiven geprägt und geleitet. Während seiner Tätigkeit im Generalstab des Heeres pflegte Claus oft die Abendarbeit zu unterbrechen, um ein George-Gedicht vorzutragen,288 und George-Gedichte waren es auch, die seine Wahrnehmung der Umwelt strukturierten: Hitler, das war der „Fürst des Geziefers“, wie ihn „Der Widerchrist“ (VI/VII, 56–57) beschworen hatte; sein Regiment eine fortgesetzte Besudelung der kollektiven Ehre; der Widerstand dagegen jener „dritte der stürme“, jener „schrecklichste schrecken“ (IX, 90), als den StG im Neuen Reich die fällige purgatio beschrieben hatte.289 Tief in das Arsenal Georgescher Motive griff auch der Schwur, den die Brüder Anfang Juli 1944 gemeinsam mit Fahrner verfassten: von der Verachtung der ,Gleichheitslüge‘ über die Evokation der ,naturgegebenen Ränge‘ bis hin zur Sendungsidee, die noch immer dem deutschen Volk die Kräfte zuschreiben wollte, „die Gemeinschaft der abendländischen Völker zu schönerem Leben zu führen“.290 Auf der anderen Seite gilt: Viele der Motive, die zum 20. Juli führten, lassen sich auch anderen Zusammenhängen zurechnen. So ist etwa die im August 1943 im Gespräch mit Fahrner erörterte Vorstellung, Technik, Industrie und Wirtschaft müssten künftig eine mehr dienende Rolle spielen, mit neuhumanistischen und idealistischen Positionen ebenso vereinbar wie mit der völkischen Kritik der reflexiven Modernisierung, wohingegen sie hinter dem in den Jahrbüchern formulierten zivilisationskritischen Programm deutlich an Radikalität zurückbleibt.291 Die Kritik der Massenherrschaft findet sich auch im Rechtsliberalismus, während die Idee einer korporativen Repräsentation eher auf konservatives Erbe verweist.292 Die Verbindung von Kriegerehre und Nationalismus hat wiederum einen deutlichen Bezug zum Standesethos, wie es in den Offizierskorps moderner Armeen anzutreffen ist. Von Claus Graf Stauffenberg ist die Äußerung überliefert, „dass das Soldatentum und damit sein Träger, das Offizierskorps, den wesentlichsten Träger des Staates und die eigentliche Verkörperung der Nation darstellt“, und dass diese Rolle im umfassendsten, ja ,totalen‘ Sinne zu verstehen sei.293 Kombiniert man dies mit seiner anfänglichen, wie immer auch bedingten Zustimmung zum NS-Regime, von dem er sich nicht nur die Wiedererlan287 Vgl. Teresa Orozco, Platonische Gewalt. Gadamers politische Hermeneutik der NS-Zeit, Hamburg, Berlin 1995, S. 181. 288 Vgl. Hoffmann, Stauffenberg, S. 219. 289 Vgl. Müller, Stauffenberg, S. 300, 258. 290 Zit. nach Hoffmann, Stauffenberg, S. 396. 291 Vgl. Müller, Stauffenberg, S. 296, 301. 292 Vgl. ebd., S. 304. 293 Claus Graf Stauffenberg an Generalmajor Georg von Sodenstern v. 13.3.1939. Anhang zu Hoffmann, Stauffenberg, S. 459. Vgl. auch Christopher Dowe, Alter Adel und Neuadelsvorstellung: die von Stauffenbergs, in: Adel und Nationalsozialismus im deutschen Südwesten, hrsg. v. Haus der Geschichte Baden-Württembergs in Verb. mit der Landeshauptstadt Stuttgart, Karlsruhe 2007, S. 83–103, hier: 92.

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II. Systematische Aspekte

gung der nationalen Souveränität, sondern auch die Gewinnung einer hegemonialen Stellung Deutschlands in Europa versprach, nimmt man die „Bewunderung für den modernen Bewegungskrieg einer gut funktionierenden Militärmaschine“ hinzu, die aus seinen Briefen aus dem Feld spricht, die Hochachtung vor Hitlers militärischen Entscheidungen während des Frankreich-Feldzuges, schließlich die Berauschung durch die ersten Siege, die Stauffenberg mit den meisten jungen Offizieren teilte, um von anderen nicht zu reden,294 dann spricht viel dafür, in ihm einen Repräsentanten jenes Deutschlands zu sehen, das 1914 zum ersten Mal den ,Griff nach der Weltmacht‘ (Fritz Fischer) gewagt hatte, getragen von der unbedingten Loyalität seiner militärischen Elite, gestützt von der Zustimmung seiner Bildungsschichten, unter denen sich auch die meisten Georgianer befanden – nur eben nicht: StG selbst. Ob man an diesem Deutschland nun mehr die „konservativen“ oder auch „konservativ-revolutionären“ Züge hervorhebt295 oder ob man an ihm mehr die modernen massendemokratischen Züge betont, sicher ist, dass es sich nicht um das ,geheime Deutschland‘ handelte, von dem auch 1944 noch StGs Satz galt, dass es die ganze gegenwärtige Welt zum Feind habe. Claus Graf Stauffenberg scheint dies gewusst zu haben. Seine letzten Worte bei der Hinrichtung galten dem ,geheiligten‘, nicht dem geheimen Deutschland.296 Literatur Braungart 1997; Breuer 1995; ES; G/G; Groppe 1997; KH; Kolk 1998. Andreae, Wilhelm, Vom Geiste der Ordnung in Gesellschaft und Wirtschaft. Ausgewählte Aufsätze und Abhandlungen. Als Festschrift zum 70. Geburtstage, hrsg. v. Walter Heinrich u. a., Stuttgart 1959. Benjamin, Walter, Wider ein Meisterwerk. Zu Max Kommerell, ,Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik‘ (1930), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. v. Hella TiedemannBartels, Frankfurt/M. 1991, S. 252–259. Benson, Robert L. / Fried, Johannes (Hrsg.), Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Studies, Princeton, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt, Stuttgart 1997. Braungart, Wolfgang / Oelmann, Ute / Böschenstein, Bernhard (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘, Tübingen 2001. Breuer, Stefan, Moderner Fundamentalismus, Berlin 2002. David, Claude, Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967. Egyptien, Jürgen, Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg, in: Braungart u. a. (Hrsg.), Stefan George, S. 197–212.

294 Ebd., S. 191; vgl. Müller, Stauffenberg, S. 182. 295 Vgl. Hans Mommsen, Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstands, in: Ders., Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft, Reinbek b. Hamburg 1991, S. 233–337, hier: 315; Eberhard Zeller, Geist der Freiheit. Der Zwanzigste Juli, München 1952; George K. Romoser, The Politics of Uncertainty. The German Resistance Movement, in: Social Research 31/1964, S. 73–93, hier: 88; zwischen beidem schwankend Müller, Stauffenberg, S. 156f., 302ff. passim. 296 Vgl. Hoffmann, Stauffenberg, S. 443. Für die gegenteilige Vermutung Edgar Salins (ES, 324), der Augenzeuge habe dies missverstanden, gibt es keine Anhaltspunkte.

8. Zeitkritik und Politik

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

1.

Poetische Rezeption

Wie StG und sein Kreis auf kreisexterne Schriftsteller und Dichter vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart gewirkt haben, ist bislang nur unsystematisch und lückenhaft erforscht. Neben den diachronen Überblicksarbeiten von Bodo Würffel und Günter Heintz sind einige autorspezifische Studien der Wirkung StGs nachgegangen, ohne sie aber vergleichend in einen epochenspezifischen Kontext zu rücken.1 Nach den vielen Untersuchungen, welche die Wirkung StGs auf Politik und Wissenschaft behandelt haben, muss man sich mit Ulrich Raulff fragen, „ob noch ein Weg zurück zum Dichter und zum poetischen Werk“2 sowie – sei ergänzend hinzugefügt – zu seiner poetischen Rezeption führt. Vor allem blieb die Wirkung, die StG auf die deutsche Dichtung nach 1945 ausübte, vernachlässigt, als es literaturpolitisch eher inopportun war, sich auf StG zu berufen oder gar zu seiner Dichtung zu bekennen. Die poetische George-Nachfolge beschränkt sich fast ausschließlich auf Lyrik und poetologische Texte. Die metapoetischen Wirkungsformen, die zwischen produktivpoetischer und kritischer Rezeption vermitteln, sind formal recht heterogen. Sie umfassen Essays und fiktionale Texte, in denen StG als Lektüre vorkommt, ebenso wie Schlüsselliteratur und autobiographische Texte, die von Begegnungen mit StG und seinem Werk berichten. Auch die lyrischen Wirkungszeugnisse sind keineswegs homogen: Sie beziehen Hommagen, Parodien, Entweihungen, Nachahmungen und fiktive Dialoge ein. Der folgende Überblick über die poetische Rezeption StGs geht methodisch vor allem intertextuell vor, schließt aber auch Parodie-Theorien ein.3 Die poetische Wirkung StGs lässt sich mithilfe eines Modells der ,ästhetischen Dissonanz‘ – in Abwandlung des soziologischen Modells der ,kognitiven Dissonanz‘ – systematisch ordnen und bewerten. Das Modell der ästhetischen Dissonanz kann erklären, wie Verehrung oft über die vermittelnden Stationen ästhetischer Irritation oder parodistischer Entweihung in Ablehnung umschlägt, um schließlich in Ablösung von dem vormaligen Vorbild einen eigenen ästhetischen Weg zu finden.4 1 Bodo Würffel, Wirkungswille, versucht die Wirkung auf StG selbst zurückzuführen. Da Würffel sich mehr für die ,Herausbildungen und Wandlungen‘ des ,Georgebildes‘ interessiert und weniger für die Wirkung, welche sich in den Werken anderer Schriftsteller niedergeschlagen hat, vermengt er die kritische, produktive und ideologische Rezeption. Hilfreicher ist der rezeptionsästhetische Ansatz von Günter Heintz, Stefan George. Die Dissertation von Gunilla Eschenbach, Imitatio im George-Kreis, legt ihren Schwerpunkt auf die kreisinterne Stilnachahmung, berücksichtigt aber auch Hanns Meinke und Albrecht Schaeffer sowie den ,Charon‘-Kreis (Otto zur Linde, Rudolf Paulsen, R. A. Schröder). Die autorspezifischen Einzel- und Spezialstudien werden an Ort und Stelle gewürdigt. 2 Raulff 2009, S. 113, Anm. 1. 3 Vgl. etwa Beate Müller, Komische Intertextualität. Die literarische Parodie, Trier 1994. 4 Das in der Soziologie bestens bewährte Modell der ,kognitiven Dissonanz‘ (L. Festinger) ist

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Die poetische George-Rezeption gliedert sich grob in fünf Phasen. Die erste Phase umfasst die Jahrhundertwende, die Zeit von 1890 bis 1906; sie reicht von den Anfängen StGs und der BfdK bis zum Erscheinen des Siebenten Rings, mit dem sich die ,Dichterschule‘ um StG formiert. Für die Frühzeit ist das Kriterium ,Kreiszugehörigkeit‘ nicht trennscharf, da es keinen George-Kreis im engeren Sinne, sondern nur den Kreis der Mitarbeiter der BfdK gab. Daher wird in dieser Phase nicht scharf zwischen kreisinterner und -externer Rezeption unterschieden. In die zweite Phase, die sich von 1907 bis 1933 erstreckt, also vom Erscheinen des Siebenten Rings bis zum Tod des Dichters, fällt die spannungsreiche Auseinandersetzung der Avantgarde, vor allem der Expressionisten, aber auch der konkurrierenden Antimoderne mit StG und seinem Kreis. In der dritten Phase, die von 1933 bis 1945 reicht, steht die poetische Wirkung im Schatten der politischen Indienstnahme, die von nationalistischen Huldigungen bis hin zu revolutionären Ablehnungen reicht. Die dichterische Wirkung von 1945 bis 1970, bislang kaum erkundet, ist stark von der Politisierung StGs während der Zeit des Nationalsozialismus geprägt und bleibt gerade im geteilten Deutschland ein Politikum. Wenn es sich nicht um Bekenntnisse von Kreismitgliedern oder kreisaffinen Dichtern handelt, stehen Bezugnahmen auf StG noch lange nach dem Krieg unter einem Rechtfertigungsdruck. Erst nach 1970 gewinnt das Spiel mit der Tradition zunehmend freiere Aspekte, auch wenn sich die Haltungen, mit denen Nachkriegsdichter und postmoderne Schriftsteller den imaginären Dialog mit StG suchen, nicht grundsätzlich unterscheiden. Nachdem aber die Generation der ,Enkel‘ die der ,Söhne‘ abgelöst hat, wird eine ästhetische Orientierung politisch immer unverfänglicher, bis schließlich StG – oft in charakteristischen Versatzstücken und Zitaten – zu einem wichtigen Bedeutungslieferanten für intertextuelle Montagen der postmodernen Gegenwart wird.

1.1. Jahrhundertwende In der ersten Phase, welche mit der Neuformierung des literarischen Feldes in Deutschland um die Jahrhundertwende einherging, reagierten viele junge Dichter im In- und Ausland auf den neuen Ton und formstrengen Ästhetizismus StGs. Obgleich die Hymnen 1890 nur in kleiner Auflage erschienen waren, hatten sie die führenden europäischen Symbolisten wie Mallarme´ und Maeterlinck durchaus erreicht. Ste´phane Mallarme´ nennt StG „un de noˆtres et d’aujourd’hui“,5 Maurice Maeterlinck lobt ihn, weil er „un e´tat d’aˆme nouveaux“ in die deutsche Dichtung eingeführt habe,6 und Gabriele D’Annunzio apostrophiert ihn als „artefice elettissimo“ und bislang kaum in den Geistes- und Kulturwissenschaften gebraucht worden, obwohl es Veränderungen prozesstheoretisch gut fassen kann; angeführt sei die methodisch daran ausgerichtete Studie von Thorsten Fitzon, Reisen in das befremdliche Pompeji. Antiklassizistische Antikenwahrnehmung deutscher Italienreisender 1750–1850, Berlin, New York 2004. Die Systematik von Ralf Sudau, Werkbearbeitung, Dichterfiguren. Traditionsaneignung am Beispiel der deutschen Gegenwartsliteratur, Tübingen 1985, klassifiziert zwar differenziert poetische Bezugnahmen auf Vorbilder, doch kommt dabei die Dynamik der Verhältnisse in den ,Werkbearbeitungen‘ zu kurz. 5 S. Mallarme´ an StG v. 28.2.1891, zit. nach RB II, S. 202. 6 Maurice Maeterlinck an StG v. 20.12.1891, StGA.

1. Poetische Rezeption

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„caro fratello“.7 StG übersetzte die führenden europäischen Symbolisten ins Deutsche, aber auch seine Gedichte wurden in die europäischen Literatursprachen übertragen.8 Albert Saint-Paul, der Deux Poe`mes de Stefan George und weitere Übertragungen in der Zeitschrift L’Ermitage publizierte, zeigte sich sogar indigniert, als im Flore´al Achille Delaroches unautorisierte französische Versionen aus dem Algabal erschienen: „je croyais avoir le monopole de vos traductions“.9 Wacław Rolicz-Lieder übertrug Gedichte StGs ins Polnische,10 Verwey ins Niederländische11 und Cyril Meir Scott ins Englische.12 Albert Saint-Paul wie Paul Ge´rardy huldigten dem Dichter in einfühlenden Essays und dedizierten ihm Gedichte: Saint-Paul den „Lai pour d’he´raldiques chats. A Stefan George“ (RB II, 219), von Ge´rardy sind mehrere Widmungsgedichte an StG überliefert.13 Vor allem die Freundschaft mit Verwey entwickelte sich zu einem wechselseitigen Fördern: So beriet ihn StG bei der Titelgebung eines Gedichtbands, und beide übersetzten gemeinsam im August 1907 in Bingen Verweys Over het Zeggen van Verzen.14 Reserviert stand StG dem jungen niederländischen Dichter Alexander Gutteling gegenüber, einem Freund und Schüler Verweys, der StG nicht nur ein Huldigungsgedicht („Aan Stefan George“) widmete, sondern ihn auch ins Niederländische übertrug.15 Auch für den skandinavischen Symbolismus war StG ein wichtiges Vorbild.16 7 Widmung vom März 1893 in den Elegie Romane (Bologna 1892), Widmungsexemplar im StGA. 8 Die übersetzerische Rezeption wird hier nur gestreift, vgl. dazu III, 2. 9 A. Saint-Paul an StG v. 30.9.1892, in: RB II, S. 220. 10 Vgl. Stefan George/Wacław Rolicz-Lieder, Gedichte und Übertragungen, zusammengestellt v. Annette Landmann, Düsseldorf, München 1968 (Drucke der Stefan-George-Stiftung); dies., Gedichte, Briefe, Stuttgart 1996 (Drucke der Stefan-George-Stiftung); Maria Podraza-Kwiatkowska, Wacław Rolicz-Lieder, Warszawa 1966. Wie übersetzerische Aneignung und ästhetische Assimilation zusammenhängen, zeigen Rolicz-Lieders Widmungsgedichte „a` S.G.“ in Moja Muza (Krakau 1896). 11 Vgl. George und Holland. Katalog zur Ausstellung zum 50. Todestag, Amsterdam 1984 (CP 161/162); Jan Aler, Albert Verwey als Übersetzer. Eine Auslese, in: Duitse kroniek 18/1966, 1/2, S. 97–101; Carel ter Haar, Zum Durchbruch der Moderne in der niederländischen Literatur, in: Die literarische Moderne in Europa. Tl. 2: Formationen der literarischen Avantgarde, hrsg. v. Hans Joachim Piechotta, Opladen 1994, S. 69–78; Jaques Perk/Willem Kloos/Albert Verwey, Freundschaftsdichtung in den Niederlanden (1880–1935), aus dem Niederländ. übertr. u. mit e. Einf. vers. durch Rudolf Eilhard Schierenberg, Heidelberg 1996, bes. S. 58–83. 12 Scott besuchte StG am 13.1.1905 in Bingen, wo sie gemeinsam seine Übertragungen ins Englische durchsahen, eine weitere Sendung folgt am 6.2.1905. Vgl. Stefan George, Selection from his Works, translated into English by Cyril Scott, London 1910. 13 Ge´rardy dedizierte StG folgende Gedichte: „Et ils le chasse`rent de leur ville“ (vgl. Fechner [Hrsg.], „L’aˆpre gloire du silence“, S. 52ff.), „A tous ceux de la ronde. A Stefan George“ (ebd., S. 86–90), „Ballade“ (ebd., S. 71ff.) und „De´dicace a` Stefan George“ (ebd., S. 115f.). 14 Vgl. Zusammenfassung in den BfdK 8/1908/09, S. 3f.; vgl. II, 4.3. 15 StG dankte Alexander Gutteling erst ein Jahr später für dessen Gedichtband Een Jeugd van Liefde, Amsterdam 1906, der das vierstrophige Widmungsgedicht „Aan Stefan George“ (ebd., S. 62) enthält. Der Sendung hatte Gutteling sogar ein zweites titelgleiches Widmungsgedicht beigefügt (vgl. ZT s. d. 17.8.1907); Albert Verwey, Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1898–1928, aus dem Niederländischen übers. v. Antoinette Eggink, Leipzig u. a. 1936, S. 32; Theo Vos, „Aber preisen werde ich Sie inmitten der Unwissenden“ – Alex. Gutteling und seine George-Übertragungen, in: Neue Beiträge zur George-Forschung 15/1990, S. 5–22 (hier: 17–22: Uit Stefan Georges ,Jahr der Seele‘). 16 Vgl. Steffen Steffensen, Stefan George und seine Wirkungen in Skandinavien, in: Nerthus 2/1969, S. 52–78.

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Neben der Vernetzung mit der internationalen Avantgarde und der bislang unterschätzten Rückwirkung auf den europäischen Symbolismus baute StG seine Stellung im literarischen Leben Deutschlands sukzessive aus. Spätestens mit den programmatischen Baudelaire-Umdichtungen (1891 [öffentl. Ausgabe 1901]), dem Algabal (1892) und dem Jahr der Seele (1897) sowie den BfdK, von denen zwischen 1892 und 1904 sieben Folgen erschienen, war StG der wichtigste Repräsentant des antinaturalistischen Ästhetizismus in Deutschland. Seine innovative Lyrik, die mit der ,vergeibelten‘ deutschen Dichtungssprache brach, faszinierte vor allem die junge Generation. Dabei ist die frühe Rezeption – und dieser Befund gilt bis 1933 – noch keineswegs ideologisch verengt oder politisch eindeutig. Hier sind es vor allem das Unbürgerliche und die unerbittliche Kritik an der Gegenwart, die Gemeinsamkeiten stifteten. So lehnte etwa Ria Schmuljow-Claassen den Naturalismus als Dichtung aus dem Geist der bürgerlichen Klasse ab und stilisierte in den Sozialistischen Monatsheften den Dichter StG zur überzeitlichen Instanz. Sogar dem Anspruch des Dichters als Führer wird hier aus sozialistischer Perspektive das Wort geredet: „[I]n dieser Zeit ungeheuerster innerer Umwälzungen stehen wir da so gut wie führerlos – wer, da Propheten nicht mehr aufzustehen pflegen, soll uns weiter helfen können, wenn nicht der Dichter?“17 Die Faszination und die produktive Anregung, die von StG auf die junge Dichtergeneration ausgingen, zeigen sich exemplarisch in der Begegnung mit Hugo von Hofmannsthal. Zugleich bildet diese literar- und wirkungsgeschichtlich bedeutendste Freundschaft StGs eine Ausnahme. Denn während StG sonst von sich aus keinen Kontakt zu Schriftstellern suchte, stellte er im Dezember 1891 im Wiener Cafe´ Griensteidl selbst die Verbindung zu dem noch nicht 18-jährigen Hugo von Hofmannsthal her.18 Diese Begegnung, die er rückblickend als Einschnitt in seiner dichterischen Entwicklung erachtete („ich fühlte mich selbst in mir“19), verarbeitete Hofmannsthal in dem bedeutenden Gedicht „Einem, der vorübergeht“. Du hast mich an Dinge gemahnet Die heimlich in mir sind, Du warst für die Saiten der Seele Der nächtige flüsternde Wind Und wie das rätselhafte, Das Rufen der atmenden Nacht, Wenn draußen die Wolken gleiten Und man aus dem Traum erwacht:

17 Ria Claassen, Stefan George, in: Sozialistische Monatshefte 6/1902, S. 9–20, hier: 10; vgl. dazu Günter Heintz, Stefan George, S. 234. 18 Vgl. ¤ Hugo von Hofmannsthal. Martin Stern sieht in StGs „ausschließlicher Festlegung auf Lyrik“ einen Grund seiner selektiven Rezeption im Jungen Wien (Hofmannsthal, Andrian), vgl. Martin Stern, „Poe´sie pure“ und Atonalität in Österreich. Stefan Georges Wirkung auf JungWien und Schönberg, in: Die österreichische Literatur. Eine Dokumentation ihrer literarhistorischen Entwicklung. Bd. 4.2: Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880–1980), hrsg. v. Herbert Zeman, Graz 1989, S. 1457–1469. 19 H. v. Hofmannsthal an Walther Brecht v. 20.1.1929, in: G/H, S. 234ff.

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Zu weicher blauer Weite Die enge Nähe schwillt Durch Pappeln vor dem Monde Ein leises Zittern quillt …20

Das dreistrophige Gedicht, das aus einem einzigen Satz besteht, huldigt einerseits der mäeutischen Wirkung StGs, betont aber andererseits die Eigenständigkeit der durch ihn zutage geförderten poetischen Inspiration.21 So apostrophiert nur die Eingangsstrophe das ,Du‘, distanziert es zugleich aber zeitlich durch Vergangenheitsformen und zwei autonome Vergleiche, die eine poetische Inspiration schildern wie verbürgen. Ein umfangreicher früherer Entwurf markiert in der Partizipialform des Titels „Einem Vorübergehenden“ den Prätext noch deutlicher: „Einer Vorübergehenden“, StGs Umdichtung von Baudelaires „A une passante“.22 Zwar bekundet auch der Entwurf schon im Gestus der Hommage das Transitorische der Begegnung, ruft aber das ,Du‘ noch in jeder Strophe an. Hofmannsthal gab aus „wachsender Angst“ um seine poetische Autonomie bald dem „Bedürfnis den Abwesenden zu schmähen“23 nach und verarbeitete diese Ambivalenz in einem zweiten Gedicht auf StG: Der Prophet In einer Halle hat er mich empfangen Die rätselhaft mich ängstet mit Gewalt Von süßen Düften widerlich durchwallt. Da hängen fremde Vögel, bunte Schlangen. Das Thor fällt zu, des Lebens Laut verhallt Der Seele Athmen hemmt ein dumpfes Bangen Ein Zaubertrunk hält jeden Sinn befangen Und alles flüchtet, hilflos, ohne Halt. Er aber ist nicht wie er immer war, Sein Auge bannt und fremd ist Stirn u〈nd〉 Haar. Von seinen Worten, den unscheinbar leisen Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen Er macht die leere Luft beengend kreisen Und er kann tödten, ohne zu berühren.24

In diesem Sonett wird StG als lebensfeindlicher Zauberer exotisch verfremdet und dämonisiert. Die Distanzierung der Begegnung gelingt nur im Perfekt des ersten Verses. Im Fortgang vergegenwärtigen die Detaillierung, der Verlust des ,Ich‘, das nach 20 Hugo von Hofmannsthal, Einem, der vorübergeht, in: Ders., Gedichte 2, S. 60, Kommentar und Entwurf S. 281–285; vgl. dazu Andreas Thomasberger, Verwandlungen in Hofmannsthals Lyrik. Zur sprachlichen Bedeutung von Genese und Gestalt, Tübingen 1994, S. 79–102; Jens Rieckmann, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer ,Episode‘ aus der Jahrhundertwende, Tübingen, Basel 1997, S. 28ff. 21 Vgl. dazu Vilain, Poetry, S. 194–197. 22 Vgl. I, 2.11.2.; Angelika Corbineau-Hoffmann, „…zuweilen beim Vorübergehen …“. Ein Motiv Hofmannsthals im Kontext der Moderne, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 1/1993, S. 235–262. 23 Hugo von Hofmannsthal, Reden und Aufsätze III: 1925–1929, Aufzeichnungen 1889–1929, hrsg. v. Bernd Schoeller u. Ingeborg Beyer-Ahlert, Frankfurt/M. 1980 (Gesammelte Werke 10), S. 341. 24 Ders., Der Prophet, in: Ders., Gedichte 2, S. 61.

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den ersten beiden Versen nicht mehr vorkommt, und die Dominanz des bedrohlichen ,Er‘ im Sextett die beängstigende Wirkung. Doch ist die Ambivalenz der Beziehung nicht zu übersehen. Denn die übertriebene Abwehr in den abgesetzten Schlussversen, die pointiert nur auf das destruktive Potenzial des ,Er‘ abheben, verrät zugleich den Versuch des Ich, sich von dem übermächtigen Einfluss zu befreien. Einen ästhetischen Höhepunkt erreicht Hofmannsthals lyrische George-Rezeption in dem Sonett „Mein Garten“, mit dem er auf die Lektüre des Algabal-Manuskripts im Januar 1892 reagierte. „Mein Garten“ antwortet unverkennbar auf das programmatische Rollengedicht aus dem „Unterreich“ des Algabal: „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“ (II, 63). Mein Garten Schön ist mein Garten mit den gold’nen Bäumen, Den Blättern, die mit Silbersäuseln zittern, Dem Diamantenthau, den Wappengittern, Dem Klang des Gong, bei dem die Löwen träumen, Die ehernen, und den Topasmäandern Und der Volie`re, wo die Reiher blinken, Die niemals aus dem Silberbrunnen trinken … So schön, ich sehn’ mich kaum nach jenem andern, Dem andern Garten, wo ich früher war. Ich weiß nicht wo … Ich rieche nur den Thau, Den Thau, der früh an meinen Haaren hing, Den Duft der Erde weiß ich, feucht und lau, Wenn ich die weichen Beeren suchen ging … In jenem Garten, wo ich früher war …25

Das Sonett zitiert im Titel das Incipit von StGs Rollengedicht. Auch Hofmannsthals lyrisches Ich rühmt sich wie Algabal als Gestalter eines künstlichen Gartens. Die Oktettgrenze rahmt anaphorisch („Schön“ und „So schön“, Verse 1 u. 8) die Aufzählung der Elemente des künstlichen Gartens, der aber mit seinen Metallbäumen, Preziosenelementen und Gartenskulpturen optisch reicher und vielgestaltiger ist als Algabals dunkles Unterreich. Doch mit der Erinnerung an den epiphorisch gerahmten anderen „Garten, wo ich früher war“ (Verse 9 u. 14) gerät die Sprache ins Stocken. Der natürliche Garten der Kindheit unterscheidet sich nicht nur in seiner stammelnden Syntax, den Aposiopesen und Wiederholungsfiguren, vom künstlichen Garten der Gegenwart; er spricht nicht den optischen Sinn an, sondern bietet vielmehr taktile und olfaktorische Wahrnehmungen, die noch präsent sind („Den Duft der Erde weiß ich“) und das lyrische Ich sich selbst erfahren lassen. Während in dem glänzenden Kunstgarten der Gegenwart das ,Ich‘ nur als Possessivpronomen vorkommt, wird es in dem Garten der Erinnerung sechsmal genannt. Das Verhältnis der beiden Gärten in Hofmannsthals Sonett lässt sich mit der Forschung sowohl als gegensätzlich als auch als komplementär bestimmen. Entweder entwertet der erinnerte natürliche Garten den künstlichen Garten der Gegenwart oder aber dem lyrischen Ich bleibt bewusst, dass sein künstliches Paradies ein Surrogat der Natur ist. Für ein komplementäres Verständnis spricht der stilistische Kunstgriff, dass der erinnerte ,andere Garten‘ in 25 Ders., Mein Garten, in: Ders., Gedichte 1, hrsg. v. Eugene Weber, Frankfurt/M. 1984 (Sämtliche Werke 1), S. 20.

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das Oktett hineinreicht, das den Kunstgarten rühmt, und, wie es das Zentralwort „kaum“ signalisiert, als unstillbare Sehnsucht auch oder gerade angesichts des vollkommenen künstlichen Paradieses gegenwärtig bleibt. Versteht man den Garten als Symbol, und Hermann Bahr hatte dieses Gedicht als ,Schulbeispiel‘ des Symbolismus veröffentlicht,26 wird deutlich, dass Hofmannsthals ästhetische Position von StGs Programmgedicht abweicht: Strebt StGs Ich nach der Vervollkommnung des Künstlichen, so sehnt sich Hofmannsthals Ich angesichts der künstlichen Perfektion nach der Natur, die es scheinbar überwunden hat. In dem poetologischen Gespräch über Gedichte (1903) wird der Symbolismus des Jahrs der Seele im Kontext einer eigenständigen ,Symbol‘-Theorie erörtert und in die Tradition der Anthologia Graeca und von Goethes Alterslyrik gerückt.27 Noch deutlicher formuliert Hofmannsthal seine ästhetische Differenz zu StG in der Prosaskizze Ein Brief, dem sogenannten ,Chandos-Brief‘, der als Markstein der Moderne gilt. In diesem fiktiven Brief erklärt Lord Philipp Chandos seinem Förderer Francis Bacon, dass ihm die „Fähigkeit abhanden gekommen [sei], über irgend etwas zusammenhängend zu denken und zu sprechen.“28 Dieser erfundene Brief lässt sich leicht als ein Schreiben Hofmannsthals an StG entschlüsseln. Abgesehen davon, dass Hofmannsthal den Brief tatsächlich an StG übersandt hat,29 sprechen neben der analogen Alterskonstellation dafür auch eindeutige intertextuelle Bezüge. So ist die Wendung, mit der Chandos seinem Förderer dafür dankt, dass dieser ihn an die literarischen „Pläne“ erinnert, „mit denen ich mich in den gemeinsamen Tagen schöner Begeisterung trug“,30 ein prominentes Zitat StGs. Denn StG hatte die Pilgerfahrten „dem Dichter Hugo von Hofmannsthal im Gedenken an die Tage schöner Begeisterung Wien MDCCCXCI“ gewidmet. Indem Hofmannsthal/Chandos diese gedruckte Dedikation zitiert, erweist er einerseits dem Adressaten Bacon/StG Reverenz, andererseits distanziert er sich mit Chandos öffentlich von den früheren Gemeinsamkeiten und behauptet seine poetische Eigenständigkeit.31

26 Nach Hermann Bahr enthält dieses Sonett „den ganzen Symbolismus und es enthält nichts, das nicht Symbolismus wäre“. In der Forschung ist die Frage der Präzedenz nicht eindeutig entschieden, vgl. Hermann Bahr, Symbolisten [1892], in: Ders., Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887–1904, Stuttgart u. a. 1968, S. 111–115, hier: 114. Vilain, Poetry, S. 170, sieht darin eine ,unbewusste Antwort‘ Hofmannsthals auf StG. Auch Mathias Mayer registriert den Einfluss StGs, betont jedoch den Bezug zu Ovids Metamorphose des König Midas, vgl. Mathias Mayer, Hugo von Hofmannsthal, Stuttgart, Weimar 1993, S. 20. 27 Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Gespräch über Gedichte, in: Stefan George in seiner Zeit. Dokumente zur Wirkungsgeschichte, Bd. 1, hrsg. v. Ralph-Rainer Wuthenow, Stuttgart 1980, S. 93– 97. 28 Ders., Ein Brief, in: Ders., Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, hrsg. v. Ellen Ritter, Frankfurt/M. 1991 (Sämtliche Werke 31), S. 45–55, hier: 48. 29 Vgl. dazu Zanucchi, der den Nietzsche-Bezügen im Brief nachgeht: Mario Zanucchi, Nietzsches Abhandlung ,Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne‘ als Quelle von Hofmannsthals ,Ein Brief‘, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 54/2010, S. 264–290. 30 Hofmannsthal, Brief, S. 46. 31 In einer möglicherweise Leopold von Andrian zugedachten ,Widmung‘, einem Gedicht, das er auf das Vorsatzblatt von Rudolf Alexander Schröders ersten Gedichtband Unmut (1899) schrieb, distanziert sich Hofmannsthal wohl von StGs esoterischem Anspruch, vgl. Christoph Perels, ,Auch hier beweget sich in reiner Luft‘. Ein unbekanntes Gedicht Hugo von Hofmannsthals, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 1/1993, S. 9–18.

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Von ähnlicher Rivalität geprägt sind einige poetische Dialoge, die in der ästhetischen Elite um 1900 mit und gegen StG geführt werden. Vor allem Rainer Maria Rilke, neben StG und Hofmannsthal der bedeutendste deutsche Lyriker der Moderne, stand in einer spannungsreichen Beziehung zu StG. Nachdem er auf Georg Simmels Empfehlung im November 1897 an einer Lesung aus dem Jahr der Seele im Hause Lepsius teilgenommen hatte, verarbeitete er den ästhetischen Eindruck in einem Widmungsgedicht, das metrisch wie formal – in der produktiven Veränderung der Sonettform – durchaus im Zeichen StGs steht: An Stephan George wenn ich, wie Du, mich nie den Märkten menge Und leiser Einsamkeiten Segen suche, – Ich werde nie mich neigen vor der Strenge Der bleichen Bilder in dem tiefen Buche. Sie sind erstarrt in ihren Dämmernischen Und ihre Stirnen schweigen Deinen Schwüren, Nur wenn des Weihrauchs Wellen sie verwischen Scheint ihrer Lippen Lichte sich zu rühren. Doch, daß die Seele dann dem Offenbaren Die Arme breitet, wird ihr Lächeln lähmen; Sie werden wieder die sie immer waren: Kalt wachsen ihre alabasterklaren Gestalten aus der scheuen Arme Schämen.32

In Rilkes artifiziellem Sonett, dessen Sextett um einen Vers verkürzt ist, vergleicht sich das lyrische Ich in seinem Einsamkeitsstreben mit dem im ,Du‘ apostrophierten StG, um dann aber eine ästhetische Differenz in der poetischen Psychagogik auszuloten. StGs symbolistische Seelen-Beschwörungen werden einem religiösen Wahn gleichgesetzt, verbildlicht als Verehrung von Heiligenstatuen, die sich dem Beter im Weihrauchqualm zu beleben scheinen. Das adversative „Doch“, welches den zweiten Teil des Gedichts einleitet, relativiert jegliche menschlich-übersinnliche Begegnung: Der personifizierten Seele wird sich das beschworene Gegenüber entziehen und wieder zum toten Bild werden. Im deformierten Sonett, dem ein Vers fehlt, verdeutlicht Rilke auch formal das Scheitern der Seelenbegegnung, wie sie das Jahr der Seele entwirft. Rilkes irreguläres Sonett ist erst postum veröffentlicht und in seiner poetologischen Komplexität bislang kaum erfasst worden.33 Allerdings steht die metapoetische Selbstreflexion in Form eines Dichtergedichts in Kontrast zu Rilkes Brief vom 7. Dezember 1897, in dem er dem „Meister Stephan George“ mitteilt, wie sehr er das Jahr der Seele schätze, und ihn bittet, „dem engeren, von den Mitgliedern erkorenen Le32 Erstdruck in: Corona 6/1936, 6, S. 706, wieder in: Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke, hrsg. v. Ernst Zinn, Wiesbaden 1959, S. 596f., 830. 33 Die Forschung hat das Gedicht mit Lou Andreas-Salome´s Würdigung von StGs Lesung im Hause Lepsius in Verbindung gebracht, die im Pan 1898 erschienen war. Darin vergleicht AndreasSalome´ StGs Rezitation aus dem Jahr der Seele mit einem Herbarium, dessen „sorgfältig getrocknete und sorgfältig geordnete Blumenleichen unversehens […] in einen blühenden Garten zurücksprängen“. Vgl. dazu Eudo C. Mason, Rilke und Stefan George, in: Gestaltung – Umgestaltung. Festschrift Hermann August Korff, hrsg. v. Joachim Müller, Leipzig 1957, S. 249–278, hier: 252f. Vgl. auch Eschenbach, Imitatio im George-Kreis, S. 1ff.

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serkreis der ,Blätter für die Kunst‘ angehören“ zu dürfen.34 Im April 1899 kündigte Rilke seinen neuen Gedichtband Mir zur Feier an, ging aber auf StGs Angebot, „das Manuskript zu beurteilen“,35 nicht ein. Doch verarbeitet jenes „erste, ernste, feierliche Buch“36 unverkennbar StGs Kritik an Rilkes früher Poesie insofern, als es stilistisch wie formal der symbolistischen Lyrik der Blätter-Gruppe ähnelt. Obwohl StG im November 1899 ausrichten ließ, er würde Gedichte wie die Lieder der Mädchen, die im Pan erschienen waren, durchaus in die BfdK aufnehmen, bemühte sich Rilke danach nicht mehr um StGs Förderung, sondern ging seinen eigenen Weg. Zahlreiche Dichter sandten handschriftliche Gedichte und Gedichtsammlungen entweder direkt an StG oder an die BfdK ein.37 Auf diesem Wege konstituierte sich wesentlich die Gruppe des Blätter-Kreises. Die Publikation in den BfdK erforderte persönliche Bekanntschaft mit StG oder die Empfehlung eines Freundes (K, 51). An der Hürde scheiterten einige Verehrer. Als etwa Hans Carossa 1905 „den ihm selbst wunderbaren Mut“ fand, einige Gedichte an StG zu schicken, riet ihm Karl Wolfskehl davon ab und verhinderte damit eine Verbindung.38 Abgewiesen wurden auch seinerzeit schon prominente Autoren wie die Brüder Hart und Richard Schaukal.39 Selbst eine wohlwollende Antwort StGs bedeutete aber noch keine dauerhafte Förderung. Beispiel für die folgenlose Anerkennung eines verehrenden Nachahmers ist etwa der Schweizer Dichter Siegfried Lang (1887–1970). Wenn auf dessen „Erste Lese“ StG „mit mehr als einer dankenden bestätigung“ reagiert, ist der Grund „nicht so sehr Ihre ungewöhnliche begabung als der umstand dass Sie sich auf Robert Boehringer beziehen einen mir vertrauten menschen“.40 Eine „spätere Manuscriptsendung“ blieb aber ebenso unbeantwortet wie ein Brief an Friedrich Gundolf.41 Obwohl Lang nie in den BfdK veröffentlichen durfte, orientierte er sich zeitlebens formal wie motivlich an StGs Dichtung.42 Ähnlich wenig Resonanz dürfte vermutlich das buchkünst34 In: Corona 5/1935, 6, S. 672. 35 StG an Rainer Maria Rilke v. 7.4.1899, zit. nach ZT s. d. 7.4.1899. 36 Rainer Maria Rilke an StG v. 7.12.1897, in: Ders., Briefe, hrsg. v. Horst Nalewski, Bd. 1, Frankfurt/M., Leipzig 1991, S. 36–38, 461f. 37 Häufig lässt sich nicht mehr feststellen, ob die im Stefan George Archiv verwahrten eingesandten Dichtungen an StG oder an die BfdK gerichtet waren. Diese Gedichte sind katalogisiert. Zwei Archivkästen mit Gedichten und Prosa gehören zur sogenannten ,Blätter-Korrespondenz‘, wobei leider schon von Boehringer häufig Briefe und eingesandte Texte getrennt wurden. Die frühzeitige Trennung der Bestände hat dazu geführt, dass es neben dieser Blätter-Korrespondenz einen Stapel Gedichte gibt, die bislang nicht zugeschrieben sind. 38 Vgl. Eva Kampmann-Carossa (Hrsg.), Hans Carossa. Leben und Werk in Texten und Bildern, Frankfurt/M., Leipzig 1993, S. 244f., 277. 39 Das Stefan George Archiv verwahrt zwei Widmungsexemplare: Richard von Schaukal, Meine Gärten. Einsame Verse, Berlin 1897, ziert folgende handschriftliche Dedikation: „Stefan George / ein inniger Anhänger / Richard Schaukal / 14.2.1902“; in Richard von Schaukal, Von Tod zu Tod und andere kleine Geschichten, Leipzig 1902, heißt es: „Stefan George / dem hochverehrten, sein treuer Verkünder, / Vorleser / Richard Schaukal. / Weißkirchen 14. III. 1902“. 40 StG an Siegfried Lang v. 22.9.1906, zit. nach Silvio Temperli, Siegfried Lang (1887–1970), Bern 1983, S. 15f., hier: 15. Lang hat seine Gedichte (Bern [1906]) im September 1906 „Dem Dichter Stefan George in Bewunderung überreicht“ (Widmungsexemplar im StGA). 41 Ebd., S. 16. 42 Langs Streben nach ,reiner Poesie‘, die Variation antiker Formelemente, aber auch die Gartenmotivik wie der Ephebenkult in seiner Lyrik bezeugen die nachhaltige Wirkung StGs.

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lerisch nach dem Vorbild Lechters gestaltete Manuskript der Impromptus von F. Koch-Wigand hervorgerufen haben, das dieser vermutlich im Jahre 1898 mit einer Gruppenwidmung an StG, Melchior Lechter und Karl Wolfskehl übersandte: „Sei diese gabe ein dank an drei meister der kunst!“ Der Zyklus schildert neun Stationen einer Entsagung und künstlerischen Selbstfindung von „Verzweiflung“ über ein „Nocturne“ zur resignativen Einsicht in das „Vorbei“.43 Beispiele für gelungene Annäherungen von Autoren, die nach der Jahrhundertwende eigene Wege gingen, sind Karl Gustav Vollmoeller und Max Dauthendey.44 Dauthendey war eine ,Entdeckung‘ Hofmannsthals und wurde auf dessen Empfehlung zur Mitarbeit an den ersten Folgen der BfdK eingeladen (KTM, 74ff.). Fünf Gedichte, die der 18-jährige Karl Gustav Vollmoeller im Jahre 1896/97 wohl auf Vermittlung Karl Bauers an StG gesandt hatte, erschienen bereits 1897 in den BfdK (RB II, 89). StG nahm sich nicht nur die Freiheit, die Einsendungen in Graphie und Interpunktion selbstständig zu redigieren, sondern griff auch in den Wortlaut ein.45 Während die jüngeren Autoren solche Änderungen akzeptierten, die auf eine stilistische Vereinheitlichung zielten, stießen sie bei Beiträgern wie Hofmannsthal, Andrian oder Vollmoeller, die sich selbst nicht als ,Jünger‘ sahen, auf Widerstand (K, 54f.). Stil und Themenkanon der BfdK prägten nachhaltig die Schreibweise vieler Autoren der Jahrhundertwende, auch wenn sie nicht dem Kreis der Beiträger angehörten. Archaismen, erlesene Wörter und kühne Komposita kennzeichnen die Lexik, weiblich kadenzierende Fünfheber in vierversigen Strophen die Metrik der an StG orientierten Lyrik. Exemplarisch dafür sei das undatierte Dichtergedicht von Leonie Meyerhof (Pseudonym Leo[nie] Hildeck) angeführt, das die Hommage mit einer stilistischen Nachahmung zu beglaubigen sucht:46 Stefan George Das bewegte Luftmeer mit Gebrause Bricht die Wolken an dem weissen Hause; Hinter Wolken, die wie Mauern stehen, Sank die Wintersonne ungesehen. Grauer Dämmer legt sein Spinneweben Über dieser Blätter heimlich Leben, Das mein feuchtes Auge eingetrunken, Drin mein Fühlen aufgelöst versunken.

43 Vgl. F. Koch-Wigand, Erstes Buch: Impromptus [10 mit roter und schwarzer Tusche beschriebene Blatt mit Einband], DLA Marbach. 44 Vgl. ¤ Max Dauthendey; ¤ Karl Gustav Vollmoeller. 45 So erklärte sich Dauthendey bei seiner ersten Begegnung mit Klein und StG mit allen Änderungen einverstanden, „wenn nur der Sinn des Ganzen nicht gestört würde“ (Max Dauthendey, Gedankengut aus meinen Wanderjahren, Bd. 1, München 1913, S. 244f.). 46 L[eonie] M[eyerhof], Stefan George [Typoskript], DLA Marbach. Vermutlich hat Wolfskehl das briefliche Lob Leonie Meyerhofs, sie habe StG „viel lieber als den jetzt so berühmten Rich[ard] Dehmel – er ist grösser u. vornehmer“, nicht weitergetragen, vgl. Leonie Meyerhof an K. Wolfskehl v. 13.4.1897, DLA Marbach. Wohl ihrem ersten Schreiben an Wolfskehl vom 26.2.1897 hat Leonie Meyerhof schon ihr Widmungsgedicht an StG beigelegt mit der Bitte, die „mittelmässigen Verse“ mögen „bei Herrn George […] für mich sprechen“ (DLA Marbach).

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Grauer Dämmer zwingt die heissen Blicke Von zerschmolznen Lettern streng zurücke – Aber vor dem klangerfüllten Ohre Singt es fort in stimmenreichem Chore. Breite Palmenblätter hör ich rauschen, Seidenbanner sich im Winde bauschen, Roten Absatz auf den Estrich schlagen, Arme plätschernd aus den Fluten ragen. Und zu unterst diesem Klanggewühle Tönt der warme Atem der Gefühle, Saust das echte Blut in bangem Klopfen, Fallen siedend schmerzgeborne Tropfen ……

Zu StGs frühem Ruhm trugen die Selbststilisierung und Auratisierung seiner Person bei. Den Habitus eines ,unnahbaren Meisters‘ verbürgt neben Memoiren wie Roderich Huchs Erinnerungen („George richtete um sich eine Mauer auf“47) oder Erich Mühsams Unpolitischen Erinnerungen („Weihenstefan“) die Schlüsselliteratur der Jahrhundertwende. So schildert Gräfin Franziska zu Reventlow in Herrn Dames Aufzeichnungen (1913) retrospektiv die Kosmiker-Runde im „Wahnmoching“, alias Schwabing, der Jahrhundertwende. Dort wird der „Meister“, in dem unschwer StG zu erkennen ist, erst aus der Fremdperspektive mystifiziert („Merkwürdige Dinge kamen da zur Sprache“48), bevor der Ich-Erzähler ihn, als „Cäsar“ verkleidet, auf einem Kostümfest „zum erstenmal aus der Nähe“ sieht: „er mischte sich ungezwungen unter die Menge, und es gab ihn wirklich. Dabei behält er doch immer eine gewisse Ferne, und seine Geste schien mir schön und würdig“.49 Selbst Hommagen unterliegen der Gefahr einer posenhaften Stilisierung. Wenn etwa Albert Rausch (d. i. Henry Benrath) im Widmungsgedicht „An Stefan George“ (1907) im einvernehmlichen ,Wir‘ einer Verehrergemeinde StG als kosmische Instanz und Religionsstifter auratisiert, beschreibt er in der Eingangsstrophe hyperbolisch das Äußerliche eines übermenschlichen Propheten: Ein Jüngling uns in wallendem Gewande, Weiß wie der Schnee auf sanfterglühten Firnen, Geht er wie segnend durch entlegne Lande, Und seine Finger spielen mit Gestirnen Von kühlem Glanz. – Er streut sie uns zu Füßen, Wie Kinder in der Kirche Blumen streuen, Wenn junge Seelen kommen, Gott zu grüßen Und sich am ersten Trost des Lichts zu freuen: Denn unser Weihegruß gilt nur dem Schönen! Und dies ist das Geheimnis seiner Taten: Ein dunkler Hall von wundervollen Tönen, Ein Hymnenruf zu reineren Gestaden …50 47 Roderich Huch, Alfred Schuler, Ludwig Klages und Stefan George. Erinnerungen an Kreise und Krisen der Jahrhundertwende in München-Schwabing, 2. Aufl., Amsterdam 1973, S. 24. 48 Franziska zu Reventlow, Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil, in: Dies., Romane 2, Oldenburg 2004 (Sämtliche Werke 2), S. 15. 49 Ebd., S. 73. 50 Albert Rausch, An Stefan George, in: Deutscher Almanach auf das Jahr 1907, Leipzig 1907, S. 68.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

In welch ausgeprägter Weise StG bereits um 1900 als Repräsentant eines unverwechselbaren eigenen Stils wahrgenommen wurde, zeigt Die gelbe Rose, eine wenig bekannte Folge lyrischer Variationen, die der junge Hermann Hesse 1902 in Basel verfertigte.51 Unter jeweils demselben Titel „Die gelbe Rose“ hat er Gedichte im Stil von Richard Dehmel, Rudolf Alexander Schröder, Paul Scheerbart und StG verfasst. Zwar ahmt Hesse in seiner zweistrophigen George-Parodie nicht die Kleinschreibung nach, aber er überinstrumentiert gekonnt typische Stilmerkmale wie die Temporalkonjunktion ,indes‘, Alliterationen, Wiederholungen und das imperativische Sprechen. Hesses parodistische Variation entlarvt die für StGs Frühwerk typische Diskrepanz zwischen unbedeutendem Thema und erhabenem Ton und diskreditiert auf diese Weise den hohen Stil.52 Hesse ist kein Einzelfall in der produktiven Auseinandersetzung mit StG: Bereits in der Frühphase finden sich zahlreiche Anzeichen einer parodistischen Entweihung. So karikiert Ernst von Wolzogen in seinem Roman Das dritte Geschlecht (1899) einen dilettierenden Prinzen, der den Dichter liebt, „obwohl er auch [ihm] vielfach dunkel ist“.53 Als StGs erster der „Sprüche für die Geladenen in T..“ (IV, 53) bei einer Soire´e rezitiert wird, banalisiert der kontrastive Kontext die „geheimnisvolle Rätselkrämerei“ und den „müde[n] Weltschmerz“ so sehr, dass der hohe Ton des Gedichts wie die Parodie einer Adoleszenzkrise wirkt: Indes deine Mutter dich stillt Soll eine leidige Fee Von Schatten singen und Tod. Sie gibt dir als Patengeschenk Augen so trübe und sonder, In die sich die Musen versenken.54

Die ,negative‘ Rezeption richtet sich sowohl gegen die elitäre Selbststilisierung des Dichters als auch gegen den weihevollen Stil seiner Dichtung und gegen den semantisch uneindeutigen Symbolismus. So attackiert das naturalistische Periodikum Die Gesellschaft mit einer Nonsense-Parodie unter dem Titel „Am Tag der Heimkehr meiner englischen Tante“ (1899), als deren fiktiver Verfasser ein ,Georg Stefan‘ (d. i. Franz Evers) firmiert, den symbolistischen Stil der „,Geheimgesellschaft für ewige Kunst‘“, derzufolge „ein großes Kunstwerk […] allein durch Wohlklang […] und vielsagende Dunkelheit zu wesentlicher Wirkung komme“.55 Die Referenz auf StG 51 Hermann Hesse, Die gelbe Rose, in: Ders., Die Gedichte, hrsg. v. Peter Huber, Frankfurt/M. 2002 (Sämtliche Werke 10), S. 513–515, bes. 515: „Die gelbe Rose von Stefan George // Blühe, indeß die wollenen Wolken steigen, / Welke, indeß verblaßte Ranken sich neigen, / Dufte wie Träume schlanker Epheben duften / Dufte schön wie ein strahlender Held unter Schuften! // Ernsthaft, nachdem ich langsam das sanfte Leder / Meines Handschuhs vom Finger gestreift, erhebe / Dir zum Preise ich meine kundige Feder; / Denn ich bin selbst Traum, Held und schlanker Ephebe!“ 52 Vgl. dazu Rudolf Koester, Hermann Hesses George-Bild. Eine Richtigstellung und Ergänzung, in: Im Dialog mit der Moderne: Zur deutschsprachigen Literatur von der Gründerzeit bis zur Gegenwart. Festschrift Jacob Steiner, hrsg. v. Roland Jost u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Frankfurt/M. 1986, S. 335–346, bes. 337f. 53 Ernst von Wolzogen, Das dritte Geschlecht. Roman, mit Buchschmuck v. Walter Caspari, Berlin [1899], S. 102. 54 Ebd., S. 103 (erste Strophe). 55 Georg Stefan [Franz Evers]: „Am Tag der Heimkehr meiner englischen Tante // Der Morgen blüht. Es duften die Gebiete. / Die reinste Bläue schlichtet eine Nacht. / Die Frau, die kein Sterb-

1. Poetische Rezeption

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wird zusätzlich markiert durch die sarkastische Anmerkung: „Mit Interpunktion und großen Anfangsbuchstaben versehen von Franz Evers“. Die Parodie zielt auf kein bestimmtes Gedicht. Evers alludiert zwar StGs Wortschatz („rune“, „sintern“, „schlichten“), kombiniert die Wörter aber zu einem unsinnigen Text. Wie hier von der Warte des Naturalismus die Modernität von StGs Dichtung als Beliebigkeit verkannt wird, so liegt den meisten George-Parodien eine traditionelle Ästhetik zugrunde. Sie zeigt sich als Tendenz im George-Steckbrief von Otto Julius Bierbaum, der StG mit anderen prominenten Autoren der Jahrhundertwende an den Pranger stellt.56 Bierbaum bezeichnet StG als „Hohepriester der feierlichen Gedankenflucht“ und „raffiniertesten Grotesktänzer der zeitgenössischen Lyrik“, verkennt ihn als ephemere Übergangserscheinung.57 Der Methode der ,Textklassenparodie‘ bedient sich das Gedicht „letzter besuch“ von Hanns von Gumppenberg. Fast für jeden Vers finden sich Entsprechungen im Jahr der Seele.58 Der Schluss der Parodie: „so will ich deines grams geheimes wunder / mit sanftem saft mit meinen tränen pflegen“ komisiert etwa die sentimentalen Verse des „A. H.“, d. h. August Husmann, gewidmeten Gedichts: „Wir wollen gerne sie – verborgne wunder – / Mit unsrem blut und unsren tränen pflegen“ (IV, 78). Die bei StG nur angedeutete Entfremdung zweier Liebenden wird in dem parodistischen Pastiche banalisiert. Der im George-Kreis geschmähte Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff ist StG mehrfach parodistisch angegangen.59 In seinem Sonett „Nach Stefan George“, das Sigrid Hubert ausführlich als Beispiel einer ,Pointenparodie‘ analysiert hat,60 verwendet er virtuos das gesuchte lexematische Material des Jahrs der Seele, um es durch ,Untererfüllung‘ der Bilder ad absurdum zu führen. Wilamowitz-Moellendorff nutzt die Zweiteiligkeit des Sonetts, um die Stilimitation am Ende des ersten Terzetts abbrechen zu lassen und dann mit einem unpassenden Trinkspruch zu kontrastieren, dessen komische Diskrepanz durch den Gleichklang des Reims „Morgue / George“ gesteigert wird: licher erriete, / Hat mich mit ihrer Gift*) zu mir gebracht. // Und steht erhöht auf meiner Wiese hinter / Dem glatten Wasser, einen Thonkrug links, / Die Schwermut rechts im Arm – und Quarz und Sinter / Erstrahlen tief; denn wie Beleben ging’s // Von solcher Hoheit aus, der dunklen Rune, / So glänzt des Himmelwaldes Zauberglas; / Ich neige mich, es blendet die Lagune – / Und betend sinkt mein Arm ins laue Gras. // *) Gift = Gabe, vergl. Mitgift“, in: Die Gesellschaft 15/1899, 1, S. 255. 56 Vgl. Martin Möbius (d. i. Otto Julius Bierbaum), Steckbriefe, erlassen hinter dreißig literarischen Uebelthätern gemeingefährlicher Natur. Mit den getreuen Bildnissen der Dreißig versehen von Bruno Paul, Berlin, Leipzig 1900 (Nachdruck mit e. Nachw. v. K. P. Muschol u. Kurzbiographien der Autoren, München, Heimeran 1960), S. 53–56. Die George-Karikatur, die in der Gestaltung der Nase antisemitisch wirkt, stammt von Bruno Paul (ebd., S. 54). 57 Ebd., S. 56: „Der Tag ist […] nicht mehr ferne, wo Stephan George sein erstes Komma schreibt“. 58 Hanns von Gumppenberg, letzter besuch, in: Ders., Das teutsche Dichterroß. In allen Gangarten vorgeritten, 13. u. 14. erw. Aufl., München 1929, S. 80. Vgl. dazu Rotermund, George-Parodien, S. 48; Theodor Verweyen/Gunther Witting (Hrsg.), Deutsche Lyrik-Parodien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1983, S. 106, 205. Hinter dieser Parodie fallen die beiden anderen George-Parodien Gumppenbergs ab: „american bar“ und „stammtisch der vorgeschrittenen“, in: Ders., Das teutsche Dichterroß, S. 81f. 59 Überliefert sind drei Parodien; vgl. Ulrich K. Goldsmith, Wilamowitz as Parodist of Stefan George, in: Studies in Comparison, hrsg. v. Hazel Barnes u. a., New York 1989, S. 163–172; Abdruck der Texte ebd., S. 128–131; zur Kritik des Kreises an Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff vgl. II, 3.2. u. III, 6.3. 60 Vgl. Hubert, George-Parodien, S. 125ff.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

[…] – Schafft ihn auf die Morgue, Mir aber schleunigst einen derben Bittern, Denn bei der Poesie der Kakerlaken, Da schwiemelts mir – Dank für Stefan George!61

In seiner Blechschmiede (1902), in der alle Strömungen der deutschen Literatur durchgehechelt werden, verspottet Arno Holz auch StG. Er lässt ihn in der Gestalt des ,Apollonius Golgatha‘ auftreten, „auf einem Postament in der Mitte. Glockenrock a` la Thomas Theodor Heine, aus seinen Rockschößen die ,Blätter für die Kunst‘, als Pegasus ein Schaukelpferd“.62 Allerdings weisen die Verse und Gedichte, die Holz dem partiellen Zerrbild StGs in den Mund legt, auch Ähnlichkeiten mit Rilke und Hofmannsthal auf.63 Zudem parodiert Holz vorrangig nur einen Werkaspekt, nämlich das amoralische Exotisch-Erotische, das ebenso für das Buch der Hängenden Gärten wie für den dekadenten Ästhetizismus eines Max Dauthendey typisch ist. Doch weist der priesterlich-hohe Ton unverkennbar auf StG: Apollonius Golgatha: nach seinem vorübergegangenen „Anfall“ wieder ganz „er selbst“: Die hohe Harfe ist mein Amt, ich singe, weil ich leide; die Nachtigall schluchzt schwarzen Samt, der Flieger aus Kanarien schmettert gelbe Seide!64

Die Blechschmiede zieht den hohen exotischen Blätter-Ton systematisch herab, sei es durch interne Dissonanzen, sei es durch antithematische Kommentare, wie sie etwa der berlinernde ,Platschneese‘ spricht, der die stereotype Motivik und repetitiven Preziosenbilder als Masche entlarvt: apollonius golgatha: Johlend über meine Diamanten taumeln trunkne Korybanten! Euch tönte nie, beglänzt vom heiligen Gral, das bunte Lied vom singenden Opal! inffschnute, von gleichem Kaliber wie sein Freund Platschneese: Immer durch den selben Schemel dreht und druxt det seinen Drehmel. Jott, wenn ick schon sowat seh – dut Ihn denn det janich weh?65

Auch wenn Christian Morgensterns Parodie „Aus Lametta vom Christbaum der siebenten Erleuchtung“ im Zahlwort des Titels wohl bereits auf den Siebenten Ring

61 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Nach Stefan George, zit. nach Studies in Comparison (Anm. 59), S. 129. 62 Arno Holz, Die Blechschmiede (1902), Bd. 1, hrsg. v. Wilhelm Emrich u. Anita Holz, Neuwied a. Rh. 1963 (Sämtliche Werke 6), S. 17. 63 Zur Komplexität und ,parodistischen Sonderform‘ der Figur des Apollonius Golgatha vgl. Hubert, George-Parodien, S. 622ff. 64 Holz, Die Blechschmiede (1902), S. 29. 65 Ebd., S. 30.

1. Poetische Rezeption

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Bezug nimmt, also frühestens Ende 1906 entstanden ist,66 zählt sie zu den frühen Zeugnissen parodistischer Pathos-Entweihungen. Die Bezeichnung ,Lametta‘ entlarvt das scheinbar erlesene Wortmaterial StGs als wertlosen Prunk. Der parodistische Effekt beschränkt sich nicht auf die äußerliche Nachbildung der Kleinschreibung und die Ersparung von Satzzeichen. Die erlesene Lexik mit ausgefallenen Komposita („antilopen-süchte“, „myrrhenduft“) und Archaismen („weltvergilber“, „scherge“), der gesuchte Stil (Alliterationen), die komplizierte hypotaktische Struktur, Verzicht auf Satzzeichen, ein typisches ,Setting‘ („Tempelhof“, „Pfade“) sowie unsinnige WortKombinationen oder tautologische Formeln vom „hochgeschuhten Kothurn“ dekuvrieren die ,Mache‘ des prätentiösen Stils. Die Ihr-Anrede lässt aber daran denken, dass Morgenstern weniger auf StG selbst zielte als vielmehr auf dessen Kreis. Die poetische George-Rezeption der Jahrhundertwende bezeugt einerseits das frühe internationale Renommee des Dichters, zum anderen die ausgeprägte Rivalität der konkurrierenden Symbolisten im deutschen Sprachraum, Hofmannsthal und Rilke: Sie suchen in einer Mischung von Anlehnung und Ablehnung ihren Platz im literarischen Feld gegen StG zu behaupten. Wie früh StG als Repräsentant eines eigenen Stils angesehen wurde, zeigt die Vielzahl von Parodien um 1900, die allerdings noch vorrangig auf das äußere Erscheinungsbild (Kleinschreibung, Interpunktion) von StGs Dichtung abheben.

1.2.

Expressionismus, Neuklassik und Neue Sachlichkeit (1907–1933)

Der Siebente Ring (1907) mit dem problematischen Maximin-Kult stärkte einerseits die Kohäsion der Blätter-Gruppe um StG nach innen und grenzte sie andererseits noch stärker nach außen im literarischen Feld ab. Mit dem Wandel des George-Kreises änderte sich auch die Rezeption. Die Veränderung des Kreises registrierten auch Repräsentanten der Antimoderne wie Rudolf Alexander Schröder mit Befremden.67 Doch trotz solcher Annihilationen und Irritationen, welche StGs kündende Dichtung bei den vormaligen Anhängern auslöste, hielt die ästhetizistische und konservative Moderne überwiegend noch an StG fest, wie etwa Michael Josef Eisler beweist, einer der wichtigsten Repräsentanten der Budapester deutschsprachigen Literatur. 66 Christian Morgenstern, Aus Lametta vom Christbaum der siebenten Erleuchtung, in: Ders., Werke und Briefe. Bd. 3: Humoristische Lyrik, hrsg. v. Maurice Cureau, Stuttgart 1990, S. 389. Die im Kommentar, ebd., S. 857, aufgrund der Schrift vorgeschlagene Datierung auf 1903 leuchtet deshalb nicht recht ein; auch der ursprüngliche Titel „Aus den Blättern für die Kunst“ gibt Aufschluss. Die Kardinalzahl „X“ und der Untertitel „(Von einem Adepten)“ bleiben unerklärt. Morgensterns George-Parodie ist bisher noch nicht gründlich analysiert worden. Knapp erwähnt sie im Rahmen der übrigen Parodien Ernst Kretschmer, Die Welt der Galgenlieder Christian Morgensterns und der viktorianische Nonsense, Berlin, New York 1983, S. 127. 67 Vgl. R. A. Schröders kritische Besprechung, Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1904–1909, in: Süddeutsche Monatshefte 6/1909, S. 439–449. Gegen Schröders „Auslassungen“ bekennt sich Albert H. Rausch (d. i. Henry Benrath) „unwandelbar“ zu seinem „Glaube[n] an die menschliche und künstlerische Größe Georges“, da „die Stunden, die wir mit ihm in seinen Büchern zubrachten, uns besondere Schönheit, besonderen Trost, ja nicht selten eine Ergriffenheit gewähren konnten, die religiöser Andacht gleichkam“. Albert Rausch, Stefan George. Eine Erwiderung, in: Süddeutsche Monatshefte 7/1910, S. 295–296.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Sein Sonett „Drei Dichter. George – Hofmannsthal – Rilke“ bildet eine Tafel seines „Hausaltars“, den er um 1910 errichtete. Trotz der gemeinschaftlichen Widmung sind die Hommagen differenziert. Während Rilke im Sextett geehrt wird, huldigen die Quartette mit identischen Reimen StG und Hofmannsthal. Eine Antiklimax bestimmt das Verhältnis der Dichter zur Sprache: StG erscheint als „Herrscher“ über „die Worte“, Hofmannsthal als Feinschmied der Sprache, während Rilke „den Dingen sich verdingt“: Drei Dichter George – Hofmannsthal – Rilke Ein Herrscher ist der erste, dem die Worte in herber Kraft sind untertan. Sein stolzer Gang zum hohen Schönheitshorte ist eines Weltenspenders Nahn. Der zweite kunstvoll feilt an jedem Worte gleich einem Goldschmied, untertan dem anvertrauten schweren Schönheitshorte und voller Inbrunst ist sein Nahn. Der dritte weilt in Demut sondergleichen, es deucht sein Schaffen ihm ein Wunderzeichen, dem Gott – unsichtbar doch – entschwingt. Er hat den Dingen sich verdingt als lieber Knecht, und sein ergebnes Weilen geht wie ein Schimmer durch die Zeilen.68

StGs herrschaftlicher Habitus wird zwar bewundert, durch die humaneren Verhaltensweisen Hofmannsthals und Rilkes aber relativiert. Diese Funktion eines distanzierten Vorbilds bestimmt das Verhältnis der kreisexternen klassizistischen Moderne zu StG nach 1907. Inwieweit StGs Dichtung für die Moderne gerade in den Grenzregionen und gemischtsprachigen Gebieten wie im Elsass, in Böhmen und im Baltikum eine ästhetische Option darstellte, ist schwer zu entscheiden. Nach Gero von Wilpert hat StG jedenfalls die baltendeutsche Lyrik um 1900 maßgeblich geprägt.69 Allerdings zeigt sich StGs Einfluss bei den „Jungen Balten“, den auch Bruno Goetz ausdrücklich konstatiert, in sehr vermittelten Formen der Nachahmung: starkes Formbewusstsein, erlesene Lexik, Vorliebe für Synästhesien und Zwischentöne, Vermeidung äußerlicher Realien – das sind Charakteristika von StGs Lyrik, die auch bei Kurt Bertels 68 Michael Josef Eisler, Elfenbeinturm. Der Sonette erster Teil, Berlin [1910], S. 59. Vgl. dazu die Rezension von Eugen Moha´csi, Deutsche Literatur in Ungarn, in: Jung Ungarn 4/1911. Vgl. auch Istva´n Fried, Ungarische Literatur, Modernität, österreichische Literatur, in: Kakanien revisited v. 12.9.2007, S. 1–6, hier: 2. Eisler hat den Gedichtband StG mit folgender Dedikation gewidmet: „Herrn Stefan George überreiche ich dieses Buch mit dankbarem und ergebenem Herzen. Budapest, im Dec[ember] 1910 / M. J. Eisler“, Widmungsexemplar im StGA. 69 Vgl. Gero von Wilpert, Deutschbaltische Literaturgeschichte, München 2005, S. 211: „Sucht man Vorbilder in der binnendeutschen Lyrik, so steht in dieser Zeit Stefan George an erster Stelle“. Wilpert führt Kurt Bertels, Otto Freiherr von Taube, Reinhold von Walter, Johannes von Guenther und Bruno Goetz an, vgl. ebd., S. 210–214.

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(1877–1910) oder Bruno Goetz (1885–1954) begegnen.70 Am ehesten lässt sich wohl bei Kurt Bertels der Versuch erkennen, an StGs Symbolismus anzuknüpfen, ihn aber weiterzudichten. So erinnert die Schlussstrophe des Gedichts „Frühnacht“, das den Übergang von Tag und Nacht gestaltet, in der Ästhetisierung des Vagen durchaus an das Jahr der Seele: Ich weiß, dass noch ein Fremdes mit mir schreitet, wenn ich die Gartenwege stumm durchmesse, und sich, wenn ich den lauten Tag vergesse, Stilldunkel naht und weiche Schwingen breitet.71

Auch bei Bruno Goetz finden sich thematische Affinitäten von der Ausdeutung der Dämmerung („Der Abend“) bis zur Knabenliebe („Der Tänzer“),72 während Otto von Taube sich nur bedingt auf StG beziehen lässt.73 In der Phase des Übergangs zum ,engeren Zirkel‘ lässt sich nicht immer leicht zwischen kreisexterner und -interner Rezeption differenzieren, etwa wenn unverkennbar um Kreisnähe oder Aufnahme unter die Jünger gebuhlt wird. Denn StG verprellte mit dem Siebenten Ring nicht nur vormalige Verehrer, sondern gewann auch neue, freilich wenige, hinzu.74 Zu ihnen zählt der eigenwillige Dichter Hanns Meinke, der sich in seiner homoerotischen Neigung durch den Maximin-Kult bestätigt fühlte. Er sandte StG 1920 unter dem Titel Maximin. Zwei Kränze zum zwölften Oktober als dem Tage maxim einige Gedichte, darunter ein Widmungsgedicht: Widmung an ST · G: Ich suchte aus vergessenem kalender Aus toten tagen rote freudenspender – Da bannte mich ein name der dir teuer Wie Mose aus dem dornenbusch das feuer. 70 Vgl. Die jungen Balten. Gedichte, hrsg. v. Bruno Goetz, Berlin-Charlottenburg 1916, S. XIX, wo unter den alten Lehrmeistern „vor allem Hölderlin“ und „von den Neueren Liliencron, George, Mombert“ genannt werden. 71 Kurt Bertels, Frühnacht, in: Die jungen Balten, S. 50, Verse 9–12. Das Gedicht „Geh fort!“ (ebd., S. 46) lässt sich vor dem Hintergrund der ästhetischen Orientierung an StG wie eine bewusste Abwehr des Vorbilds lesen: „Geh fort mit deinen matten schalen / zuviel gepriesnen Goldpokalen! / Wenn mir die eignen Trauben winken, / kann ich nicht fremde Weine trinken. // Geh fort! Du hemmst mein kühnes Schreiten / Du bist mir heute fremd und fern. / Ich dank Dir tausend Kostbarkeiten, / doch heute glänzt mein eigner Stern.“ 72 Vgl. Bruno Goetz, Der Abend, in: Die jungen Balten, S. 128, Verse 5–6: „Leise Stimmen, die lange drückend geschwiegen, / reden zu mir durch die blaue dunstige Stille“; ders., Der Tänzer, in: ebd., S. 127, dessen Sextett (Verse 9–14) eine homoerotische Variante des Narziss-Mythos bietet: „Und beugtest Dich zum weißen Bruder nieder, / […] / dass Dir vor seiner hellen Schönheit graute. / Und weher lächelte Dein Knabenmund.“ 73 Ohne die motivliche Affinität, etwa die Gestaltung der Knabenliebe in „Antinous“, einem „Dramatischen Gedicht“ (in: Otto von Taube, Gedichte und Szenen, Leipzig 1908, S. 5–39), oder die Lyrisierung von Übergängen in Abrede stellen zu wollen: Taube hält sich viel stärker an das Repertoire romanischer Strophenformen und orientiert sich, vor allem in seinen zahlreichen Ortsgedichten, viel stärker an Referenzen der außersprachlichen Wirklichkeit. 74 Neben dem undatierten Gedicht eines Rudolf Wiggers „An Stefan George“ (StGA) sind von Jakob Kaege vier Briefe an StG von 1907 und 1909 überliefert, in denen er um eine Begegnung ersucht. Auch ein ungedrucktes Widmungsgedicht Kaeges „An Stefan George“ liegt im StGA: „An Stefan George // Bitteren Ritt / im Wüstensand / trog oft der Tand / am Wüstenrand, / fand ich doch letzt / den Palmenhain / Datteln und Napf / mit Palmenwein.“

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Aus meiner armut sucht ich eine gabe Als liebes opfer Seinem heilgen grabe – Doch würdig fand ich nichts · nur grosse hulde das arme opfer reichen herzens dulde: Zwei bunte kränze die ich liebend flocht – Zehn gelbe kerzen – ich zog selbst den docht Durch reinster honigwaben wachs: im sinn Verehrend dem sie lodern: maximin. An Seinem tag sei von den flammenzungen Des ÂΕρος lila braune kron verschlungen Und sind die kerzen ganz herabgebrannt Loht weiter noch der goldne leuchter rand. Die beiden kränze wand ich neu im wort Das hier in krause schnörkel schwarz verdorrt. Des opfers sinn? – der herr der fackeln sprichts – „und so ihr euch verzehrt seid ihr voll lichts“.75

Meinke imitiert metrisch und strukturell in seinem ersten Huldigungsgedicht unverkennbar das Vorspiel zum Teppich des Lebens. Ist es bei StG die Begegnung mit dem Engel, die das lyrische Ich aus seinem sinnlosen Dasein befreit, sind es nun Maximin und StG, die von dem Ich verehrt werden: das Gedicht als Ersatz für den Grabschmuck. Auch Hans Bernhard von Schweinitz, ein Vertreter der sogenannten ,Enkelgeneration‘, trat erst um 1913 zu StG in Verbindung, nachdem er ihm einen handschriftlichen Gedichtzyklus An den Meister dediziert hatte. Von dem siebenteiligen Zyklus erschienen nur die Nummern II–V (neu nummeriert als I–IV) in der elften/zwölften Folge der BfdK; das einleitende Widmungsgedicht „An den Meister“ erschien nicht.76 Komplexer ist die Wirkung auf die expressionistische Avantgarde, die mit StG die Verehrung für Nietzsche teilte. Die Bedeutung StGs für einzelne Repräsentanten des Expressionismus ist dank der Studien von Manfred Durzak, Helmut Gier und Günter Heintz recht gut erforscht. Welch entscheidende Bedeutung aber StG als Integrationsfigur in den Anfängen des Berliner Frühexpressionismus zukam, blieb lange verkannt. Obgleich die Wertschätzung unerwidert blieb, war StG für die literarische Avantgarde um 1910 Maßstab in literarästhetischen Geschmacksfragen.77 Bereits im Herbst 1908 verständigten sich Kurt Hiller und Erwin Loewenson auf StG als maßgebliches Vorbild.78 Im März 1909 verherrlichte Loewenson die Gründung des Neuen Clubs, der Keimzelle des Berliner Expressionismus, mit einem vierstrophigen Gedicht, das in Kleinschreibung, erlesenem Wortschatz und kultischer Bildlichkeit unverkennbar StG nachahmt. Darin werden die sieben Gründungsmit75 Hanns Meinke, Maximin. Zwei Kränze zum zwölften Oktober als dem Tage maxim, Ms., StGA. Im Stefan George Archiv finden sich viele Widmungsgedichte Meinkes an StG; zu Meinkes George-Dichtungen im Kontext seiner Lyrik vgl. Eschenbach, Imitatio im George-Kreis, Kap. 3.2 u. 3.3. 76 Hans B[ernhard] von Schweinitz, An den Meister, datiert: „Apr[il] 19“, Ms., StGA. 77 Vgl. dazu meine analoge Studie: Verehrung, Parodie, Ablehnung. 78 Vgl. Kurt Hiller an Erwin Loewenson v. 14./15.11.1908, in: Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 1, S. 13.

1. Poetische Rezeption

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glieder auratisiert als „sieben götter grüßend ins getöne / Wo sonnen steigen und geschickes löhne“.79 Eine Rezitation von „vier Gedichten von Stefan George“ bildete den Höhepunkt des ersten öffentlichen Abends des Neuen Clubs am 3. Juli 1909.80 Nach dem Muster der BfdK plante Loewenson 1908/09 sogar ein Periodikum mit dem Titel Blätter für die De´cadence.81 Loewenson bewunderte StG, weil dieser das ästhetische „Problem“ der „Synthesis von Monumentalität und Subtilität […] zum ersten Mal […] gelöst habe“, und nannte ihn einen „sehr grosse[n] Dichter“.82 Auch wenn man sich im Frühjahr 1910 „von den Spätromantikern George und Hofmannsthal zu distanzieren begann“,83 blieb die George-Verehrung unter den Frühexpressionisten zunächst ungebrochen. Seine programmatische Rede vom 8. November 1909 über „die De´cadence der Zeit und den ,Aufruf‘ des ,Neuen Clubs‘! Ein Aufstand“ leitet Loewenson mit StGs Gedicht „Die Spange“ (II, 54) aus den Pilgerfahrten ein und bekennt sich zu dessen „Pathos der Anbetung vor den Sakrosanktheiten glorreicher Kunst“. Die Disproportion einer kultischen Verehrung durch wenige und einer allgemeinen Geringschätzung verbürgt für Loewenson StGs Dichtergenie, zu dessen Schöpferkraft er sich im einvernehmlichen ,Wir‘ bekennt: Stefan George, der uns heute Lebendigen mehr bedeutet als irgend ein toter Dichter […], weil er unsere Mitternächte zum Glühen bringt und über unsere Wolken gebietet und unsere triumphierenden Brücken baut – – Glauben Sie, daß Stefan George heut – außer von einer kleinen vorherbestimmten Zahl Menschen, die ihm Altäre weiht – von irgend jemand um seiner Wunder willen auch nur geachtet wird?84

Obgleich mancher Frühexpressionist Loewensons „verunglücktem Stefan-GeorgeÄsthetizismus“ skeptisch gegenüberstand,85 blieb StG eine feste Größe im Dichterkanon der Frühexpressionisten. Doch trübte die zunehmende Opposition zum Ästhetizismus Hofmannsthals und Rilkes auch das Verhältnis zu StG. Allerdings verhüllte Rene´ Schickele seine Absage an die Neuklassik noch notdürftig als Traum von einem wilden Pferderennen. Doch folgt im „Spuk“ der Apostrophe des lyrischen Ichs, das die Rennwägen mit den Dichtern Dehmel, Rilke und StG identifiziert, die optische Desillusion: Statt der Dichter werden nur poetische Surrogate vorgefunden, statt StG „Platens Pagenbein, mit neuem Glanz beschuht“.86 Der Kontroverse im Neuen Club 79 Erwin Loewenson an Gustav Koehler v. 3.3.1909, in: Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 1, S. 15f., hier: 15. Dem Adressaten ist diese Nachahmung nicht entgangen, denn in seiner Antwort vom 5.3.1909 bemerkt er ironisch: „Stefan [George] würde neidisch, wenn er merkte, das jemand noch dunkler noch feierlicher reden kann wie er“ (ebd., S. 16). 80 Ebd., S. 30. 81 Edition in den Schriften des Neuen Clubs, Bd. 2, S. 295–302. Loewenson erwarb käuflich im August 1909 die ersten vier Gedichtbände StGs, vgl. ebd., Bd. 1, S. 84f. 82 Erwin Loewenson an Erich Unger v. 11.8.1909 u. 15.8.1909, in: ebd., Bd. 1, S. 87ff., hier: 87, 89. 83 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 180. 84 Erwin Loewenson, Die De´cadence der Zeit und der ,Aufruf‘ des ,Neuen Clubs‘ [8.11.1909], in: ebd., Bd. 1, S. 182–208, hier: 191. 85 Vgl. Friedrich Schulze-Maizier an David Baumgardt v. 27.9.1909, in: ebd., Bd. 1, S. 208f., hier: 208. 86 Rene´ Schickele, Spuk, in: Ders., Weiss und Rot. Gedichte, Berlin 1910, S. 109. In der 2. Auflage von 1920 (S. 87) hat Schickele eine selbstironische zweiversige Schlussstrophe hinzugefügt: „[…] Ich blickte umher, ich rief: / ,Gottlob ihr Herren, daß ihr nicht fielt, / wir alle litten um euch Sorge. / Doch wars der alte Glanz, woran ich euch erkannte: / die Rosse die Dehmel ins Rennen sandte, / die Ställe Rilke und George!‘ // Doch statt Georges baumelte / in seinem Wagen Platens

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

trug das Programm des ersten „Neopathetischen Cabarets“ im Mai 1910 Rechnung, das die „De´cadence“ zum Thema hatte. Loewenson selbst las dabei im Rahmen eines Vortrags aus dem Jahr der Seele. Um StG dem expressionistischen Dichterideal anzunähern, betont Loewenson die visionäre Kraft und die vitalistische Grundierung seiner Dichtung. Der Vortrag geht ausführlich auf die „Sehnsucht nach dem Leben“ in StGs Lyrik ein und sieht in deren „Willen mit seiner Qual“ eine ästhetische Entwicklung, welche die ,de´cadence‘ überwinde: Denn „mit der Qual kam das Leben, die Rede, der Sang und der Sieg zurück“.87 Dagegen hat Erich Unger im „Neopathetischen Cabaret“ in dem Vortrag Vom Pathos – Die um George „die Flucht der Georgeaner aus der modernen, großstädtischen Wirklichkeit kritisiert“.88 Neben Loewenson hielten weitere Mitglieder des Neuen Clubs an StG fest.89 So verfasste Fritz Koffka sogar noch Anfang 1912 einen Brief an StG, den er jedoch nicht abschickte, weil er ihn selbst „zu komisch fand“.90 Unbeirrbar in seiner ästhetischen Orientierung an StG blieb vor allem Ernst Blass. Seine „Monatsschrift“ Die Argonauten, die er seit 1914 herausgab, ist in Programm, Thematik und Stil ganz dem George-Kreis verpflichtet, dem Blass sich anzunähern suchte.91 Sein Essay über den Stern des Bundes (1914)92 liest sich wie ein Glaubensbekenntnis zur ästhetizistischen Kunstreligion und zur „Georgeschen Mission“. Blass auratisiert StG zu einem Dichterpriester: „so spricht durch den Mund Georges der Gott des Gesangs“.93 Solch „blasse Neuklassik“ schien nicht nur Alfred Lichtenstein suspekt.94 Doch mehrten sich in gruppeninternen Gesprächen die Stimmen, welche die Autorität der neuklassischen Moderne nicht mehr anerkannten. Und im Jahre 1911/12, in dem sich manche Neopathetiker dem Sturm-Kreis um Herwarth Walden oder der Aktion Franz Pfemferts anschlossen, schlug die ursprüngliche Bewunderung auch in ein öffentliches Verdikt um. Doch wurde das ambivalente Verhältnis immer wieder metapoetisch reflektiert, wie von Alexander Bessmertny, dessen George-„Spruch“ Bewunderung und Abwehr zugleich enthält: Stefan George, Deuter meiner Blösse, Der Gipfel wies und talwärts mich verstiess. Pagenbein, / mit neuem Glanz beschuht: / nahtlos. Es fuhr im dunkeln Glorienschein ,Allein‘. / In Dehmels Wagen taumelte / ein Embryo mit gelähmtem Zeigefinger. / Statt Rilkes stand in goldvergittertem Zwinger / ein himmelblauer Zuckerhut, / der tönte aller deutschen Reime Litanein.“ 87 Erwin Loewenson, Tragödien der de´cadence – Hamlet, Dichtungen von Stefan George, und Hugo von Hofmannsthal, in: Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 1, S. 371–388, hier: 386. 88 Erich Unger, Vom Pathos. Die um George, in: Der Sturm 1/1910/11, S. 316. Vgl. Richard Sheppard, Nachwort, in: Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 2, S. 419–577, hier: 549f. 89 Noch 1912 analysiert Loewenson in seinem Kleinen dummen Notiz-Büchleyn StGs Lyrik (in: Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 2, S. 323–347, hier: 332–337). 90 Fritz Koffka an Erwin Loewenson v. 9.1.1912, in: Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 1, S. 535. 91 Die Argonauten. Eine Monatsschrift, hrsg. v. Ernst Blass, Heidelberg 1914–1921. Vgl. dazu Jacob Picard, Ernst Blass, seine Umwelt in Heidelberg und ,Die Argonauten‘, in: Expressionismus. Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen, hrsg. v. Paul Raabe, Olten, Freiburg/Br. 1965, S. 137–145. 92 Ernst Blass, Stefan Georges ,Stern des Bundes‘, in: Die Argonauten 1/1914, 5, S. 219–226. Vgl. dazu Reinthal, Studien und Quellen, S. 129–142. 93 Blass, Stefan Georges ,Stern des Bundes‘, S. 220. 94 Vgl. Alfred Lichtenstein, Etwa an einen blassen Neuklassiker [1914], in: Ders., Dichtungen, hrsg. v. Klaus Kanzog u. Hartmut Vollmer, Zürich 1989, S. 41.

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Ich steige schwer, geworfen durch die Stösse Des Sturmes, den dein Geisterodem bliess.95

Allerdings war damit StGs Einfluss auf die ästhetische Avantgarde nicht beendet. Kluncker nennt unter den Expressionisten namentlich Däubler, Stadler, Heym und Blass „autonome Schüler“,96 doch orientierten sich viel mehr Expressionisten, wenn auch oft in einer ambivalenten Beziehung, an StG. StGs Rolle eines Vorbilds, das man bewundert und von dem man sich zugleich zu emanzipieren sucht, zeigt sich exemplarisch bei Georg Heym. Zwar hat er StG als „großen Lyriker anerkannt“;97 doch verwahrte er sich nach einem Auftritt im „Neopathetischen Cabaret“ vehement gegen einen Zeitungsartikel, in dem man ihn „einen Schüler Georges nennt“: „Wer mich kennt, weiß was ich von diesem tölpelhaften Hierophanten, verstiegenen Erfinder der kleinen Schrift und Lorbeerträger ipso iure halte.“98 Die Vehemenz, mit der Heym den Vergleich mit StG zurückweist, zeigt, wie ambivalent seine Beziehung zu diesem war. Schon die Zeitgenossen haben Heyms Nähe zu StG, aber auch seine Transgression des Vorbilds diagnostiziert, wie sie paradigmatisch im Berlin-Zyklus gelingt. „Ein neuer Dichter, ein großer Dichter – kein Zweifel – ist hier aus Stefan George herausgetreten“.99 Im Frühsommer 1911 beschäftigte sich Heym mit mehreren Publikationen des George-Kreises und suchte Friedrich Wolters auf. Zugleich schmähte er in dem Entwurf der Vorrede zu seinem letzten Gedichtband StG als „sacrale[n] Kadaver“ und „die Binger tönende Pagode“.100 Heyms kritische Verlautbarungen zu StG haben die Forschung lange beeinflusst. Georg Mautz etwa hat die Anklänge an George-Landschaften, künstliche Welten und die Tendenz zur erlesenen Lexik als „bewußte George-Parodie“ abgetan.101 Das trifft sicher auf Heyms aggressives Schmähgedicht „November“ (1910) zu: 95 Alexander Bessmertny, Stefan George, in: Die Aktion 3/1913, Sp. 40. In der zweiten Strophe seines Gedichts „Ein Epigone spricht“ (Die Aktion 3/1913, Sp. 404) bekundet Bessmertny selbstironisch seine Abhängigkeit von StG wie seinen Wunsch, sich von diesem zu emanzipieren: „Similisteine stahl ich Georgen, / Gleite mit ihnen prunkend ins Land. / Willst du den Barchend zur Toga mir borgen, / Geb ich die Steine dir dankbar zum Pfand.“ 96 Karlhans Kluncker, Das geheime Deutschland. Über Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1985, S. 22. 97 Georg Heym 1887–1912. Eine Ausstellung der Staats- und Universitätsbibliothek ,Carl von Ossietzky‘ Hamburg, hrsg. v. Nina Schneider, Wiesbaden 1988, S. 138ff. 98 Heym, Dichtungen. Bd. 3: Tagebücher, Träume, Briefe, 1960, S. 139 (s. d. 8.7.1910), 180. Vgl. dazu auch Peter Gust, Georg Heym in der Zirkelbildung des Berliner Frühexpressionismus, in: Literarisches Leben in Berlin 1871–1933, hrsg. v. Peter Wruck, Berlin 1987, S. 7–44. 99 Heinrich Eduard Jacob, Georg Heym – Erinnerung und Gestalt [1922], in: Heym, Dichtungen. Bd. 4: Dokumente zu seinem Leben und Werk, 1968, S. 63–85, hier: 70. Jacob benennt hier explizit die Ambivalenz des Verhältnisses: „George – den er [Heym] maßlos haßte, im Unbewußten aber vielleicht so sehr verehrte, wie Kleist Goethe gehaßt, verehrt und geliebt hatte – war für Heym eine Art von Ahnenschicksal. George nicht als Geist […] – wohl aber als Form, als Äußerung jenes Zwanges zur Latinität, den George selbst von Baudelaire übernommen hatte. Diese Form umschloß zeitlebens den Rasenden wie ein Kristall.“ Heintz, Stefan George, S. 117, missdeutet Jacobs Essay. 100 Heym, Dichtungen. Bd. 2: Prosa und Dramen, 1962, S. 181. Die Vorrede sollte wohl eine Separatausgabe des „Morgue“-Gedichts einleiten. 101 Georg Mautz, Mythologie und Gesellschaft im Expressionismus. Die Dichtung Georg Heyms, Frankfurt/M. 1961, S. 313. Auch Kohlschmidt meinte, Heyms „offenbarer formaler Anschluss

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Der wilden Affenscheiße ganze Fülle Liegt auf der Welt in den Novemberkeiten. Der Mond ist dumm. Und auf den Straßen schreiten Die Regenschirme. Daß man warm sich hülle In starke Unterhosen schon beizeiten. Nur Bethge* haust noch auf dem Dichter-Mülle. Man nehme sein Geschmier. Zum Arschwisch knülle Man das Papier zum Dienst der Hinterseiten. Die Martinsgans glänzt in der braunen Pelle. stefan george steht in herbstes-staat. an Seiner nase hängt der perlen helle. Ein gelbes Rotztuch blinkt. Ein Auto naht. Drin sitzt mit Adlerblick die höchste Stelle. Fanfare tutet: Sellerie Salat. * oder Benzmann oder Hesse – nach Belieben!102

Heym wirft hier StG in einen Topf zusammen mit zeitgenössischen literarischen Berühmtheiten, deren Austauschbarkeit ein Asterisk signalisiert. Doch richtet sich die Zusammenstellung mit dem bürgerlichen Mittelmaß, hier metonymisch auf „schreitende Regenschirme“ und wärmende Unterwäsche verkürzt, und mit dem „DichterMülle“ gezielt gegen den elitären Kunstanspruch StGs. Die antithematische Herabwürdigung im Sextett gilt mindestens ebenso sehr der Person des Dichters wie seiner Dichtung. Durch den syntaktischen Parallelismus mit der „Martinsgans“ wird die Vorliebe des Dichters für den Herbst zum äußerlichen Kleid banalisiert. Zwei Markenzeichen StGs, die Kleinschreibung und der vorangestellte Genitiv, werden durch das unpassende Thema der Tropfnase herabgewürdigt. Das großgeschriebene Possessivpronomen „an Seiner nase“ verspottet überdies StGs Usus, Götter und Helden durch Majuskel des Anfangsbuchstabens hervorzuheben. Indem die komplementäre Handlung, das Schnäuzen der tropfenden Nase, einerseits metonymisch indirekt bleibt, andererseits durch das drastische Nomen „Rotztuch“ konkretisiert wird, entsteht eine komische Spannung, die durch die nachfolgenden Kurzsätze sich in selbstironischen Unsinn auflösen. Heyms Anleihen bei StG dienen aber nicht nur persiflierender Absicht. So lässt sich etwa das ernste, in StGs Sakralstil gehaltene Industriegedicht „Der Gastempel“ (1911) kaum als Parodie deuten. Zu Recht haben Manfred Durzak und Eva Krüger Heyms ästhetische Affinität zur Lyrik StGs neu bewertet,103 und Heintz differenziert Heyms George-Rezeption, indem er zwischen ganzheitlichen Nachbildungen Georgescher Texte, eklektizistischen Übernahmen und Nachbildungen einer bestimmten Manier StGs unterscheidet. Eng an StGs Jahr der Seele angelehnt ist das frühe Gedicht an Georges und Hofmannsthals Stil“ könnte „nicht als Nachfolge begriffen werden, sondern nur als Kontrafaktur“. Werner Kohlschmidt, Der deutsche Frühexpressionismus im Werke Georg Heyms und Georg Trakls, in: Orbis Litterarum 9/1954, S. 3–17, hier: 13. 102 Georg Heym, November, in: Ders., Dichtungen. Bd. 1: Lyrik, 1964, S. 155. Vgl. die Interpretation von Heintz, Stefan George, S. 110f. 103 Vgl. Durzak, Nachwirkungen, bes. S. 119–123; Eva Krüger, Todesphantasien. Georg Heyms Rezeption der Lyrik Baudelaires und Rimbauds, Frankfurt/M. 1993, S. 97–105 („Heyms Abhängigkeit von George“).

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„Der Gang der Liebenden“ (1906). In Thema, Sprache und Stil sieht Krüger unverkennbar eine Antwort auf StGs Gedichte, die das Motiv des Herbstes mit dem der Liebe verbinden wie „Komm in den totgesagten park und schau“ (IV, 12) oder „Umkreisen wir den stillen teich“ (IV, 16).104 Allerdings sind Heyms intertextuelle Verfahrensweisen noch immer nicht hinreichend bestimmt. So blieb etwa die mehrschichtige Intertextualität in dem Gedicht „Herbsttag“ (1906) übersehen.105 Sein Incipit („Und noch gehn nicht zur Rüste unsre Tage / Im schönen Herbst“) zitiert mit dem erlesenen Nomen „rüste“ unverkennbar die Schlussstrophe von StGs „Reifefreuden“ („Und was in uns bei jenes tages rüste / Auf zu den veilchenfarbnen wolken klomm“; IV, 61) sowie das vorausgehende Erinnerungsgedicht „Entführung“: StGs Bild des Altweibersommers („In der luft sich silbern fein / Fäden uns zu schleiern spinnen“; IV, 60) wird von Heym in Komposita überführt und animalisch konkretisiert: „Und Sommerfäden schweben durch die Luft, / Auf denen Silberspinnen luftig reiten“. Für den zweiten Teil seines Gedichts (Verse 16–23) bedient sich Heym überdies des bekannten Herbstgedichts „Umkreisen wir den stillen teich“. Es endet mit dem Bild des geliebten Du, das den fernziehenden Schwänen nachschaut: „Das auge schattend auf der brücke / Verfolgest du den zug der schwäne“ (IV, 16). Mit ebendiesem Bild rahmt Heym den zweiten Teil seines Gedichts. Doch schaut nicht mehr nur das Du den Schwänen nach, vielmehr verbindet die Betrachtung Ich und Du und wird bis zum Verschwinden der Vögel ausgedehnt: Doch unser Aug entführet schon ins Blaue Ein Zug von Schwänen, die nach Süden fliegen […] Und lange schaun wir nach den stolzen Schwänen, Bis sie entschwinden unsrer Sehnsucht fern.106

Das Gedicht „Herbsttag“ zeigt exemplarisch, wie vielschichtig Heym sich StGs Werk, vor allem das Jahr der Seele, anverwandelt, das poetische Material kombiniert, amplifiziert und modifiziert, bis es zum ,eigenen‘ Gedicht wird. Das Verhältnis Georg Trakls zu StG ist bislang noch nicht systematisch untersucht worden. Welche große Wirkung StG auf den Innsbrucker Brenner-Kreis um Ludwig von Ficker ausübte, wurde in einer quellengestützten Analyse überzeugend nachgewiesen.107 Karl Röck, mit Trakl befreundet und neben Ludwig Seifert und Bernhard Jülg einer der dezidierten George-Verehrer im Brenner-Kreis, orientierte sich in seiner postumen Ausgabe von Trakls Dichtungen (1917) in der Anordnung nach SiebenerZyklen erklärtermaßen an StGs Siebentem Ring.108 104 105 106 107 108

Vgl. Krüger, Todesphantasien, S. 101–104. Vgl. Heym, Dichtungen. Bd. 1: Lyrik, 1964, S. 638f., hier: 639. Ebd. Vgl. Klettenhammer, Stefan George und seine ,Jünger‘. Vgl. Karl Röck, Tagebuch 1891–1946, 3 Bde., hrsg. v. Christine Kofler, Salzburg 1976, hier: Bd. 3, S. 196–236 (zu Röcks Tätigkeit als Herausgeber Trakls); K[arl] Röck, Zyklische Anordnung der ,Dichtungen‘ [1917], in: Georg Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 2, hrsg. v. Walther Killy u. Hans Szklenar, Salzburg 1969, S. 808–812; Hans Szklenar, Beiträge zur Chronologie und Anordnung von Georg Trakls Gedichten auf Grund des Nachlasses von Karl Röck, in: Euphorion 60/1966, S. 222–262. Zu Röcks George-Rezeption vgl. Klettenhammer, Stefan George und seine ,Jünger‘, bes. S. 84ff.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Trakl selbst scheint StG gegenüber – jedenfalls um 1910 – kritisch eingestellt gewesen zu sein und wohl auch die Brenner-Gruppe dazu gebracht zu haben, sich „von den Mustern eines Heroischen Menschen- und Künstlerbildes Georgescher Prägung“ zu distanzieren.109 Inwieweit aber der frühe Trakl sich an StG orientiert hat und etwa seine Hölderlin- oder Novalis-Anleihen oder gar seinen ,Sonettismus‘ der Anthologie Deutsche Dichtung verdankt, ist kaum erforscht oder umstritten.110 Die Historischkritische Ausgabe führt unter „Einzelstellen-Erläuterungen“ im Kommentar zwar einige literarische Parallelstellen auf, ohne aber StG eigens zu berücksichtigen.111 Über die Baudelaire-Umdichtungen, ein zentraler Referenztext für die sogenannte ,Sammlung 1909‘ und die Gedichte (1913), übte StG aber mindestens mittelbar einen nachhaltigen Einfluss auf Trakl aus. Gerade in den frühen Gedichten der ,Sammlung 1909‘ sind die sprachlich-stilistischen Baudelaire-George-Anspielungen unverkennbar: Augenfällige intertextuelle Bezüge prägen etwa das Sonett „Sabbath“ und das 1909 im Wiener Journal erschienene Gedicht „Einer Vorübergehenden“, das sein Vorbild, StGs Übertragung von Baudelaires „A une passante“, durch denselben Titel zu erkennen gibt.112 Auch Trakl gestaltet den Moment der transitorischen Begegnung, aber anders als Baudelaire und StG: Er distanziert sie („einst“), verzichtet auf die Apostrophe („dich hätte ich geliebt“) und deutet sie nicht als versäumte Option, sondern als Rückschau auf ein früheres, längst verlorenes Dasein. Die vage Anamnesis, das erinnernde Wiedererkennen wird überdies durch das Verbum ,scheinen‘ und den Als-ob-Modus zur nachträglichen Projektion abgeschwächt. In der formalen Destruktion des Prätexts, der zu zwei ähnlichen heterometrischen Strophen von elf Versen mit insgesamt nur zwei Reimen vereinfacht wird, bildet Trakl die nachträgliche Bearbeitung und erinnernde Wiederholung der Selbstbegegnung mit dem früheren Ich ab. Insofern ist Trakls Gedicht „Einer Vorübergehenden“ einerseits eine Hommage an den Symbolismus Baudelaires und StGs, andererseits setzt es sich in seiner eigenständigen Anverwandlung des gleichen Themas von den Vorbildern ab. Auch noch in den Gedichten von 1912 und 1913 wie „Die Verfluchten“ oder „Melancholia“ finden sich Baudelaire-Übernahmen.113 Doch spielt StG in Trakls späteren Gedichten, welche sich von Reim und traditionellen Formen zunehmend lösen, keine wichtige Rolle mehr. 109 Klettenhammer, Stefan George und seine ,Jünger‘, bes. S. 118. 110 Der Diskussionsbeitrag von Roger Bauer wurde in der Trakl-Forschung nicht weiter verfolgt, vgl. Roger Bauer, Georg Trakl und die Anthologie ,Deutsche Dichtung‘ von George/Wolfskehl, in: Salzburger Trakl-Symposium, hrsg. v. Walter Weiß u. Hans Weichselbaum, Salzburg 1978, S. 108–114. 111 Vgl. den editorischen Bericht in Georg Trakl, Dichtungen und journalistische Texte 1906 bis Frühjahr 1912, hrsg. v. Hermann Zwerschina in Zusammenarbeit mit Eberhard Sauermann, Frankfurt/M., Basel 2007 (Sämtliche Werke u. Briefwechsel 1), bes. S. 14–17; demnach soll Trakl neben StGs Übertragung auch die Baudelaire-Ausgaben von Erich Oesterheld benutzt haben. 112 Vgl. Georg Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Bd. 1, S. 201f. („Sabbath“), 280–283 („Einer Vorübergehenden“). 113 Vgl. ders., Dichtungen Sommer 1912 bis Frühjahr 1913, hrsg. v. Hermann Zwerschina in Zusammenarbeit mit Eberhard Sauermann, Frankfurt/M., Basel 1995 (Sämtliche Werke u. Briefwechsel 2), S. 437f.; ders., Dichtungen Sommer 1913 bis Herbst 1913, hrsg. v. Eberhard Sauermann in Zusammenarbeit mit Hermann Zwerschina, Frankfurt/M., Basel 1998 (Sämtliche Werke u. Briefwechsel 3), S. 14.

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Ernst Stadler hatte sich bereits im Jahre 1903 brieflich an StG gewandt, seine ästhetische Wahlverwandtschaft bekannt und seine Mitarbeit an den BfdK angeboten: die Gleichstimmung meiner Kunstanschauungen […], die Sympathie für mehr als einen der dort auftretenden Dichter, das merkwürdige und unvorhergesehene Zusammentreffen in der Art der Sprachbehandlung und Wahl der Stoffe, bestimmen mich, Ihnen von heute ab meine dauernde innige Beteiligung und Mitwirkung an den ,Blättern für die Kunst‘ anzutragen.114

Die Re´gnier-Übertragungen, die Stadler als Proben beilegte, sind ganz von den Re´gnier-Nachdichtungen StGs geprägt.115 Stadlers Praeludien (1904) stehen sprachlich (archaisierende Verben wie „wallen“), stilistisch (artifizielle Vergleiche), thematisch (Opposition von Traum und Leben) und in der Stilisierung von Gegenwelten (künstliche Paradiese wie Garten, Schloss, Treibhaus) ganz im Zeichen des Ästhetizismus der Wiener Moderne und StGs.116 Stadler verdeutlicht in den Praeludien seine George-Nachfolge noch insofern, als er dessen Interpunktion, die rhythmusindizierenden ,Hochpunkte‘, verwendet. Er bleibt hier so sehr Nachahmer, dass sogar seine Absagen an die dichterische Gegenwelt des frühen StG dem Vorbild verpflichtet bleiben. Dies gilt ebenso für das Gedicht „Incipit vita nova“, das der künstlichen Lebensferne entsagt,117 wie für das besser gelungene programmatische Gedicht „Im Treibhaus“. Darin werden exotische Pflanzen traumhaft evoziert, zugleich als „kranke Triebe“ relativiert und als „Bild und Zeichen / für seltne Wollust frevlen Traum“ moralisch infrage gestellt.118 Die Forschung ist sich uneins, ob und wieweit sich Stadler von seinem Vorbild gelöst hat. Als mutmaßliche Wende gilt seine hymnische Besprechung von Georg Heyms Gedichten im Mai 1912. Darin erteilt Stadler der „geschniegelten Wiener Kulturlyrik“ eine Absage und wünscht stattdessen, „Anfang zu sein, lieber Unbeholfenheiten und Geschmacklosigkeiten zu wagen als in der Fessel eines immer mehr erstarrten Formalismus zu verkümmern“.119 Diesen Anspruch setzt Stadler in seinem Gedichtband Der Aufbruch (1914) um, der im Titel programmatisch die Lösung von der Tradition anzeigt. Doch zeigt das Programmgedicht „Form ist Wollust“ ein ambivalentes Verhältnis zur Form und zu StG: Form ist Wollust Form und Riegel mußten erst zerspringen Welt durch aufgeschlossne Röhren dringen; Form ist Wollust, Friede, himmlisches Genügen, Doch mich reißt es, Ackerschollen umzupflügen. 114 Ernst Stadler an StG v. 16.12.1903, zit. nach Heintz, Stefan George, S. 85. 115 Vgl. Heintz, Stefan George, S. 89–92. 116 Ein ungenannter Freund hat Stadler die Abhängigkeit vom Ästhetizismus in einer versifizierten Kritik vorgehalten: „Wirf ab den priesterlichen Mantel, Ernst! / Und laß die feierliche Grußgeberde / Hugo von Hofmannsthals und Stefan Georges, / Der Hohepriester haben wir genug.“ Zit. nach Gier, Entstehung des deutschen Expressionismus, S. 143. 117 Vgl. Durzak, Nachwirkungen, S. 116. 118 Mit Recht hat Heintz, Stefan George, S. 94, die These von Durzak, Nachwirkungen, S. 115f., zurückgewiesen, dass es sich hier um Widerrufe der ,künstlichen Paradiese‘ in der Sprachform StGs handle. 119 Ernst Stadler, Georg Heym: ,Der ewige Tag‘ [Rez. 1912], in: Ders., Dichtungen, S. 327–330, hier: 327.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Form will mich verschnüren und verengen, Doch ich will mein Sein in alle Weiten drängen – Form ist klare Härte ohn’ Erbarmen, Doch mich treibt es zu den Dumpfen, zu den Armen, Und in grenzenlosem Michverschenken Will mich Leben mit Erfüllung tränken.120

In dem metapoetischen Gedicht reflektiert das lyrische Ich sein ambivalentes Verhältnis zur ,Form‘. Doch nur wenn es seinen eigenen Willen gegen die Form reklamiert (Vers 6), ist es auch Subjekt. In diesem ,Aufbrechen‘ manifestiert sich die Selbstfindung des avantgardistischen Dichters im Affront gegen den Ästhetizismus des George-Kreises.121 Gegen dessen elitäre Verabsolutierung der Form, die als kaltes Pathos kritisiert wird („klare Härte ohn’ Erbarmen“), reklamiert Stadler eine moralische Verpflichtung des Dichters. Die Sympathie mit der leidenden Kreatur kulminiert am Ende gar zur hyperbolischen Selbstaufgabe („in grenzenlosem Michverschenken“): So vollzieht er in dem Gedicht seine eigene Entwicklung vom Georgianer zum Expressionisten nach und rechtfertigt die ästhetische Umorientierung als innere Notwendigkeit. Stadlers programmatisches Gedicht, das den Zwiespalt von apollinischer Begrenzung und dionysischer Entgrenzung auch metrisch abbildet – die ,doch‘-Verse weisen sämtlich eine zusätzliche Hebung auf –, ist auch Ausdruck einer prinzipiellen ästhetischen Ambivalenz im expressionistischen Jahrzehnt: Georgianer und AntiGeorgianer stehen sich wie ,Form‘-Befürworter und ,Form‘-Gegner gegenüber. Diese Dichotomie war unter den Zeitgenossen so gängig, dass ästhetisch innovative Zeugnisse irritierten, die sich keiner der beiden Kategorien zuordnen ließen: „Wer versteht sie?“ fragt ein ratloser Rezensent angesichts der ungewöhnlichen Lyrik Else LaskerSchülers und antwortet selbst: „Die George-Leute sicher nicht; denn ihre Zeilen flattern wie Falter […]. Die Gegner Georges erst recht nicht. Denn ihre Worte stehen manchmal wie große Augen still, die sich wundern; eine tiefe neue Mystik rauscht leise in den Falten der Verse.“122 Gottfried Benns späte Bekenntnisse zu StG hat man auf die expressionistischen Anfänge zurückprojizieren wollen. Doch ist das Verhältnis des frühen Benn zu StG noch immer nicht hinreichend geklärt. Benns Leiden unter der ,Verhirnung‘ ähnelt zwar der Kritik StGs und seines Kreises an dem „verhirnlichte[n] zeitalter“ (XII, 5), ist aber eher zeittypisch und allgemein. Auch lexikalische Referenzen wie der „Asphodelentod“ im „Englischen Cafe´“ (1913) als Parallele zu StGs „schattenlilie asphodill“ im „Feld vor Rom“ (V, 68) oder die „Georginen“ in dem frühen „Herbst“-Gedicht als onomastische Markierung sind nicht über jeden Zweifel erhaben.123 Dagegen fanden Günter Heintz und Michael Winkler intertextuelle Bezüge in Morgue und andere Gedichte (1912), wo sie Durzak noch in Abrede stellte:124 Sie erkannten in dem pro120 In: ebd., S. 138. 121 Vgl. dazu Achim Aurnhammer, ,Form ist Wollust‘. Ernst Stadlers Beitrag zur Formdebatte im Expressionismus, in: Poetologische Lyrik, hrsg. v. Olaf Hildebrand, Köln 2003, S. 186–197. 122 Dr. E. T., Im Neopathetischen Cabaret, in: Der Demokrat 2/1910 (wieder in: Heym, Dichtungen. Bd. 4: Dokumente zu seinem Leben und Werk, 1968, S. 419–421, hier: 420). 123 Vgl. Durzak, Nachwirkungen, S. 135; Heintz, Stefan George, S. 159f. 124 Vgl. Durzak, Nachwirkungen, S. 128; Winkler, Benn’s Cancer Ward; Heintz, Stefan George, S. 155–158; siehe dazu auch Aurnhammer, Inszenierungen, S. 55–58.

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minentesten Gedicht aus Benns erstem Zyklus, „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“, einen ästhetischen Affront gegen StG.125 Benns sieben heterometrische Strophen zu drei und vier Versen beschreiben den Gang eines Paares durch eine Station unheilbar Krebskranker: Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke Der Mann: Hier diese Reihe sind zerfressene Schöße und diese Reihe ist zerfallene Brust. Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich. Komm, hebe ruhig diese Decke auf. Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte, das war einst irgendeinem Manne groß und hieß auch Rausch und Heimat. Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust. Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten? Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht. Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern. Kein Mensch hat soviel Blut. Hier dieser schnitt man erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß. Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen sagt man: hier schläft man sich gesund. – Nur sonntags für den Besuch läßt man sie etwas wacher. Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht. Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort, Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.

Neben der Kombination von Sexualität und Verfall in Benns Gedicht wurde auch die erstaunliche Parallele zu barocken Liebesgedichten kaum bemerkt, in denen ein Sprecher die Geliebte zur Gegenliebe mahnt, indem er die Vergänglichkeit körperlicher Schönheit vor Augen führt.126 Benn forciert dieses Muster erotischer Persuasionslyrik, indem er die barocken Vergänglichkeitsbilder drastisch pathologisiert. Die antithetische Gegenwart-Zukunft-Spannung der amourösen Lyrik radikalisiert er zur Opposition von Gegenwart und Vergangenheit: Benn dekonstruiert die erotische Projektion von „einst irgendeinem Manne“, gebündelt im emphatischen Hendiadyoin „Rausch und Heimat“, indem er sie mit dem auf die Krankheitssymptome metonymisch reduzierten weiblichen Genital in der Gegenwart kontrastiert. Mit dieser Desillusions125 Gottfried Benn, Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke, in: Ders., Gedichte 1, hrsg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1986 (Sämtliche Werke 1), S. 16. 126 Vgl. hierzu exemplarisch Martin Opitz’ „Ach Liebste / laß uns eilen“: Dort folgt einer einleitenden Reflexion über die Vergänglichkeit eine Diärese, welche den Verfall des Körpers konkretisiert, um im dritten Teil die Geliebte zum Liebesvollzug zu überreden, vgl. Aurnhammer, Inszenierungen, S. 56f.

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technik überbietet er die epikureische Persuasionslyrik, um ein zeitnäheres Muster verfeinerter Liebeslyrik als überholt zu entlarven, nämlich StGs diskretes Liebesgedicht „Komm in den totgesagten park und schau“ (IV, 12), das Eröffnungsgedicht des Jahrs der Seele.127 Neben der Form des Rollengedichts spricht vor allem der Gestus der mittelbaren erotischen Persuasion dafür, in StGs Park-Besuch den Prätext von Benns ,Gang durch die Krebsbaracke‘ zu sehen. Die charakteristischen anaphorischen Imperativformen StGs („Komm […] und schau“ / „Dort nimm“, „Erlese, küsse […] und flicht“ / „Vergiss“, „Verwinde“) imitiert Benn überdeutlich, intensiviert und verhässlicht sie jedoch systematisch. So wird das einfache Demonstrativpronomen durch dauernde Wiederholung und in Kombination mit dem Ortsadverb ,hier‘ – anstelle des distanzierten ,dort‘ – zur zwanghaften Deixis forciert. Wie zynisch Benn StGs Lobpreis der herbstlichen Schönheit dekonstruiert, zeigt die Verwendung der ,Rosenkranz‘-Metapher. Während der Sprecher bei StG seine Geliebte auffordert, „die späten rosen“ zum „Kranz“ zu flechten, bittet der Mann bei Benn seine Begleiterin, den „Rosenkranz von weichen Knoten“ einer Brustkrebspatientin zu ,fühlen‘. Und ist bei StG die Schönheit des Parks vom Winter nur bedroht, geht das Leben in Benns Krebsbaracke schon in den Tod über: „Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. / […] / […] Erde ruft.“ Heyms, Stadlers und Benns nachhaltiger Affinität zu StG entspricht eine breite produktive Rezeption in der expressionistischen Avantgarde. Eine kleine handschriftliche Sammlung Oskar Loerkes aus dem Jahre 1905, Sunt lacrimae rerum, war „in Georges Manier“ gehalten.128 Handsignierte Widmungsexemplare aus dem Zeitraum 1909 bis 1915, die Erich Mühsam, Kasimir Edschmid, Walter Hasenclever und Theodor Däubler an StG sandten, bezeugen die Kontinuität der Verehrung im expressionistischen Jahrzehnt.129 Für viele Repräsentanten der ästhetischen Elite zwischen 1910 und 1920 ist die produktive Auseinandersetzung mit StG noch nicht erforscht. Die Wirkung reicht von metrischen Imitationen und Variationen bis hin zu thematischen Anleihen. So ist es wesentlich StGs Verdienst, dass der Vierzeiler aus jambischen Fünfhebern mit weiblich-männlich wechselnden Kadenzen im Kreuzreim die häufigste Strophenform in der Lyrik des 20. Jahrhunderts ist.130 Diese Strophenform, in den Übertragungen von Baudelaires Fleurs du Mal nachgebildet, prägt StGs gesamtes Werk. StG ist wohl auch zum guten Teil ihre Beliebtheit bei den Expressionisten geschuldet.131 Doch häufen sich die Absetzungen vom vormaligen Vorbild: Dazu ge127 Vgl. Winkler, Benn’s Cancer Ward. 128 Die Sammlung, deren George-Allusionen sich auf die Bildlichkeit beschränken, hatte Loerke an den Verlag der Blätter für die Kunst geschickt, aber bereits drei Tage später wieder zurückerhalten, vgl. Heintz, Stefan George, S. 38–73 („Oskar Loerkes Anfänge“). 129 Die Widmungsexemplare befinden sich in StGs nachgelassener Bibliothek im Stefan George Archiv. Erich Mühsam dedizierte 1909 StG den Krater (1909) „als Dank für erhöhte Stunden“, Kasimir Edschmid übersandte 1911 seine Verse, Hymnen, Gesänge (1911) mit der Widmung: „Wenn ich dem Meister meinen zagen Band sende, so möchte ich mit Stolz es tun als ,Dankesabtrag‘“. Walter Hasenclever widmete 1913 StG seinen Gedichtband Der Jüngling (1913) „in tiefer Verehrung“, Theodor Däubler überreichte 1915 StG „in Verehrung“ seine „autobiographischen Fragmente“ Wir wollen nicht verweilen (1914). 130 Vgl. Horst J. Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, 2. Aufl., Tübingen, Basel 1993, S. 321–327, s. v. 4.106. 131 Vgl. ebd., S. 324.

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hört gewiss das detrahierende Zitat markanter Wendungen, etwa wenn Paul Boldt das weibliche Genital als „schwarze Blume“ verbildlicht.132 Franz Pfemfert stellt in einer Synopse eine Dichtung des mittelalterlichen persischen Dichters Ruˆmi, die ,Ich bin‘Anaphern prägen, neben ein bauähnliches Gedicht StGs aus dem Stern des Bundes („Ich bin der Eine und bin Beide“; VIII, 27), um die Antiquiertheit StGs zu erweisen: „Ich bin nicht der Ansicht, Stefan George habe plagiiert. Aber: Rumi dichtete besser.“133 Die reine Form, der erlesene Stil und das hohe Pathos, wie sie StGs Werk repräsentiert, gerieten durch den Ersten Weltkrieg in eine Legitimationskrise. StGs Gedicht „Der Krieg“ (IX, 21–26) wirkte dabei wie ein Fanal. Freilich beteiligten sich keineswegs alle Dichter an der Politisierung und Demokratisierung der Kunst in der Weimarer Republik. Vielmehr suchten gerade am Ausgang des expressionistischen Jahrzehnts manche Expressionisten eine retrospektive Traditionsstiftung und beriefen sich auf das übernationale Ethos des George-Kreises. Davon zeugt Gundolfs vehemente Zurückweisung einer solchen Indienstnahme im George-Buch. Zu den expressionistischen George-Verehrern zählt vor allem Reinhard Goering. Bereits in seinem frühen Roman Jung Schuk (1913) sucht der Titelheld, der an „weltanschaulicher Zerrüttung“ leidet, Halt bei einer „Meister“ genannten Figur, die unverkennbar StG nachgebildet ist.134 In seiner Tragödie Seeschlacht (1917/18) suchte Goering, der StG „abgöttisch“ verehrte, dem anonymen Tod im modernen Krieg einen Sinn abzugewinnen.135 Mit dem „einen“, an dessen Abschied sich der fünfte Matrose erinnert, ist wiederum, ohne namentlich genannt zu sein, gewiss StG gemeint: Die Freundschaft, die StG bedichtete und im Kreis zu leben versuchte, wird in der Seeschlacht zum metaphysischen Lebensinhalt, zum Gegenkonzept gegen den sinnlosen Krieg verklärt.136 Noch im Jahr 1930, kurz vor seinem Freitod, huldigte Goering StG mit einem Gedicht „an stefan george“. Zwei spiegelsymmetrisch gereimte Langversstrophen legen den „fährlich“-dichterischen Werdegang des lyrischen Ichs bis zur epochalen Begegnung mit dem als „lächelnder bezwinger“ antonomastisch verbrämten „ER“ dar. Die durch Anfangs- und Endreim doppelt gebundene Schlussstrophe vergottet in einem doppelten Dank für Kreis („runde“) und poetisches Gewicht („pfunde“) StG als Stifter göttlicher Offenbarung wie Bezwinger einer mittelbaren Vaterwelt: 132 Paul Boldt, Die schlafende Erna, in: Ders., Junge Pferde! Junge Pferde!, Leipzig 1914, S. 32, Vers 13. 133 F[ranz] P[femfert], Stefan George vor 700 Jahren, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 341f. 134 Vgl. Pommer, Variationen, S. 104–109 („Der Meister in Jung Schuk: Eine George-Figur“). 135 Vgl. Britta Steinwendtner, Reinhard Goerings Beziehungen zu Stefan George, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 16/1972, S. 576–609; Wilhelm Hans Braun, Reinhard Goering, Henry Benrath, Stefan George: Ein Nachtrag, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 17/1973, S. 473–489; Pommer, Variationen, S. 46–50 (zu Goerings George-Essays). Auch wenn Pommer dies bezweifelt (ebd., S. 588), traf Goering dank Gundolfs Vermittlung im Sommer 1916 ,mehrmals‘ mit StG in Klosters zusammen, vgl. Janis Little Solomon, Die Kriegsdramen Reinhard Goerings, Bern 1985, S. 32–36 („Kleiner Exkurs über Goerings Beziehungen zu Gundolf und George“). 136 Vgl. Reinhard Goering, Seeschlacht. Tragödie [1918], in: Zeit und Theater 1913–1925, 2 Bde., hrsg. v. Günther Rühle, Frankfurt/M. u. a. 1973, Bd. 1, S. 341–408, hier: 374f. Vgl. dazu Steinwendtner, Goerings Beziehungen zu George, S. 592–598; Solomon, Die Kriegsdramen Reinhard Goerings, S. 32–36.

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dank deiner runde! du schürztest losen äther auf zur gottesgabe mannah! dank deinem pfunde du stürztest grosser väter tauben tod mit stählernem hosiannah!137

In Fritz von Unruhs Drama Stürme (1923) tritt sogar eine Person namens Stefan auf, die unverkennbar StG nachgebildet ist. Der Protagonist Prinz Friedrich kündigt jegliche Bindung auf und verlässt seine Frau Helene zugunsten von Irene, der Geliebten seines Freundes Stefan. Nachdem seine Absage an die Tradition mit Irenes Freitod endet, verzichtet Friedrich auf seine eigenen Herrschaftsansprüche und setzt stattdessen die Leidtragenden seines Handelns, Helene und Stefan, ein. In Stefans unerschütterlicher Freundschaft wird das Ideal einer mannmännlichen Freundschaft idealisiert, das Unruh dem George-Kreis abgeborgt hat: Mein blonder Bruder … tritt hinaus, mit mir! Apollon faßt durch mich dich bei der Schulter. Du Baldur fühl den heiligen Griechenkuß … Die Mispel Lokis kann uns nicht verwunden, Wenn Sein und Werden endlich ihren Bund In unsrer Freundschaft schlossen …138

Durzak hat erkannt, dass Unruhs Verklärung des Freundesbundes in einer klassischgermanischen Synthese ein Echo auf die politische Prophetie am Ende von StGs Gedicht „Der Krieg“ darstellt: […] . . Apollo lehnt geheim An Baldur: ›Eine weile währt noch nacht · Doch diesmal kommt von Osten nicht das licht.‹ Der kampf entschied sich schon auf sternen: Sieger Bleibt wer das schutzbild birgt in seinen marken Und Herr der zukunft wer sich wandeln kann. (IX, 26)

Noch am Ende des zum „öde[n] Wetter“ enthistorisierten Ersten Weltkriegs, An Stefan Georges fünfzigstem Geburtstag, feierte Ernst Blass in Stanzen erneut sein Dichtervorbild als „verklärend[en] und verklärt[en] Leitstern“ für die Nachkriegszukunft.139 Noch unzeitgemäßer ist sein 1920 erschienener Dialog Über den Stil Stefan Georges. Dagegen wirkte das Kriegserlebnis auf andere Autoren ernüchternd. Doch hielten auch Dichter, die StG aus einer gewissen Distanz verehrten, an ihrer Bewunderung für ihn fest. Dazu zählt etwa Hanns Meinke, der unter dem Einfluss von Rudolf Pannwitz und Otto zur Linde 1904 „keine ,Georgine‘, sondern ein ,Charontiker‘ wurde“.140 137 Reinhard Goering, an stefan george [datiert 13.12.1930], in: Ders./Frank Wohlfahrt, Prosa „Geschenke“, Ms., DLA Marbach. 138 Fritz von Unruh, Stürme: ein Schauspiel, München 1922, S. 218. 139 Ernst Blass, An Stefan Georges fünfzigstem Geburtstag 12. Juli 1918, in: Das junge Deutschland 1/1918, S. 241. Vgl. dazu Reinthal, Studien und Quellen, S. 136f. 140 Hanns Meinke, Vorspiel zu meinen charontischen Erinnerungen, Ms., zit. nach ders., Ausgewählte Dichtungen, hrsg. u. mit e. Nachw. v. Helmut Röttger, Kastellaun 1977, Nachwort S. 102.

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Ungeachtet dessen blieb Meinkes Verehrung für StG ungebrochen. Die Dichtergedichte, die er StG widmete, bekunden eine Wahlverwandtschaft, die in einer unzeitgemäßen Auffassung des Dichters als Seher ihr Fundament hat: Wir gehen getrennt einem ziel zu und treten Mit sängern und sehern – mit heiligen – propheten Hinein in den kranz der wie tanz der planeten Mit reigen den göttlichen thronsitz umlaubt.141

In einer sogenannten ,Namensrune‘, einem undatierten Akrostichon, bekennt er sich zum Schuldner StGs, dem er seine Schuld poetisch zurückerstatte: „Opfernd dir der meines strebens / Rufer richter führer war.“142 Auch unter den Vertretern der Jugendbewegung hielt die George-Verehrung an. So stellte Karl Christian Müller, Repräsentant der bündischen Jugendbewegung, der unter dem Pseudonym Teut Ansolt bekannt war, seinem Gedichtband Kranz des Jünglings (1929) nicht nur einen Vers StGs als Motto voran, sondern beschloss die Sammlung mit einer Hommage unter dem Titel „Dem Meister“.143 Das Dichtergedicht variiert in der dritten Strophe, die dem inspirierenden Genius StGs huldigt, den poetologischen Schlussvers aus StGs „Im Park“: „Er hat den griffel der sich sträubt zu führen“ (II, 11). Auch unter den noch nicht systematisch ausgewerteten George-Hommagen, die das Stefan George Archiv verwahrt, finden sich in der Zwischenkriegszeit Zuschriften, die für ihre ästhetischen Nachahmungen nach Bestätigung durch ihr Vorbild verlangen. So dient sich um 1920 ein Heinrich Hardt, Medizinstudent aus Rostock, mit einem handschriftlichen Konvolut eigener Gedichte StG als liebender Fürsprecher an:

141 Ders., An Stefan George, in: ebd., S. 42 (Verse 27–30). Das Gedicht ist undatiert, auch das Nachwort, das knapp die Beziehung Meinkes zu StG darstellt (ebd., S. 102–104), macht dazu keine Angabe. 142 Ders., Stern schon meiner knabenjahre, in: ebd., S. 43. Der retrospektive Habitus lässt darauf schließen, dass die Namensrune relativ spät entstanden sein muss. 143 Teut Ansolt [d. i. Karl Christian Müller], Der Kranz des Jünglings, [Saarbrücken 1929]. Als Motto dient der Schlussvers aus dem Gedicht „Was ist geschehn dass ich mich kaum noch kenne“ (VIII, 65) aus dem Stern des Bundes: „Seitdem ich ganz mich gab hab ich mich ganz“. Das kaum bekannte Widmungsgedicht (ebd., S. 60) lautet: „Dem Meister // Du öffnest meine lider dass ich schaue, / du regst das herz dass es gewaltig schlägt, / mir dringt dein ton ins ohr dass ich erwache / zum ersten reigen der ums leben dreht. // Dann folg ich jedem steg den du gewandelt, / und jedes mal des schicksals das du stelltest / beugt zum gebet mein knie, ich flehe / dass gleiche stärke meine taten stützt. // Du hältst den griffel dass ich dankbar schreibe, / du leihst den atem dass ich lobend sage, / du führst die hand dass ich die zweige winde / mit blüten meiner jugend zu dem kranz. // Das erste das gedeiht bringt man zum opfer, / dir sei mein blütenkranz und dass / ich spreche wie du sprichst, dass ich ein echo, / dass ich, ein kind, des vaters züge trage.“ Müller, Schüler Ernst Bertrams, hält sich in seiner poetischen Neuorientierung ganz an StG. Das zeigt sich äußerlich in einem ungewöhnlichen Schriftbild und der gemäßigten Kleinschreibung, aber auch in seiner Nachahmung von StGs ,tönendem Rhythmus‘. Diese Angaben verdanke ich Torsten Mergen, der eine Dissertation über Müller vorbereitet. Auch in der nationalsozialistischen ,Jugendzeitschrift‘ Der große Wagen, die Müller bis 1935 herausgegeben hat, finden sich zahlreiche Motti und Zitate aus StGs Spätwerk. So ist unter einer Würdigung des von den Nationalsozialisten als Märtyrer vereinnahmten Freikorpskämpfers Albert Leo Schlageter ein längerer Auszug aus StGs „Der Brand des Tempels“ (IX, 61–69) unter dem Titel „Der Verräter“ abgedruckt (in: Der große Wagen 2/1934, S. 11).

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Stefan George du sangst preis dem grossen farbenschauer Der durch fahr das kleinod für uns wahrte tausendmal war deine schickung grauer Bis man strahlenglanz durch dunst gewahrte! Unentwegt und ehern wie nur einer Hieltest du die flamme hoch in händen Geb mir gott zu preisen solch bewenden Dass dein nam erklinge wie noch keiner!144

Wir wissen nicht, ob oder gar was StG dem ,Sender‘ geantwortet hat. Doch scheint eine Antwort nicht unwahrscheinlich, da sich darauf des „Senders antwort“ beziehen könnte, der wiederum eine neue, versifizierte Bitte um Antwort und um ein Urteil über die Dichtungen folgt: Des Senders Bitte: Mich mit fug zu deinem kreis zu zählen wär des herzens höchster jüngerstolz dem sich meine Träume all vermählen. Meister · Wollet mir ein zeichen geben was Ihr findet in der verse weben.145

Doch blieben solche ungebrochenen Verehrungen aus der mittleren Distanz eher die Ausnahme. Zudem erfolgte seit den 20er-Jahren eine produktive Auseinandersetzung mit StG weniger auf dem Feld der Dichtung als vielmehr in der Pädagogik, der Politik und den Wissenschaften und in retrospektivem Gestus.146 In Würdigungen „aus Anlass seines sechzigsten Geburtstags“ wird StG, wie es exemplarisch die Festrede Rudolf G. Bindings zeigt, bereits als historische Person geehrt: „Stefan Georges Werk ist beendet. Seit dem Kriege schweigt der nun 60-Jährige und drei Gesänge, die wie ein Nachhall des verrollten Gewitters anmuten, können sein Schweigen nicht verkleinern. Seine Haltung, sein Werk wurden Vorbild.“147 Ansonsten finden sich zahlreiche negative Reaktionen auf StG, die dennoch bei der ästhetischen Selbstbestimmung eine große Rolle spielen. So orientieren sich Rudolf Borchardt, Bertolt Brecht oder Karl Kraus, um die bedeutendsten Kritiker StGs zu nennen, gleichwohl an dessen hohem formästhetischen Anspruch. Kraus etwa verbessert zwar StGs Übersetzung der Shakespeare-Sonette, aber respektiert den Dichter als entfernten Wahlverwandten, „weil er den Zeithaß in der Zeitferne ausgelebt hat“. Doch kritisiert Kraus „die Anbetungsorgie um den sechzigjährigen George“, da sie „den Respekt vor einem Dichterleben herabsetzt, das sich zeremoniös, aber in hoher Zucht vom Jahrmarkt abzusondern 144 Heinrich Hardt, Gedichte an Stefan George, Ms. (2257), StGA. Eschenbach, Imitatio im George-Kreis (Kap. 3.1), versteht Hardts Lyrik als „dilettantische Imitatio“. 145 Hardt, Gedichte an Stefan George. 146 Für die expressionistische Position eher typisch als die Verehrung ist die Abrechnung mit den ,Impressionslyrikern‘, die wie StG „glauben, das Gedankliche zu entfernen, indem sie gedankenlos interpunktieren“ (Herwarth Walden, Über allen Gipfeln. Die metergroßen Dichter der Gegenwart, in: Der Sturm 15/1924, S. 49–69, hier: 56). 147 Rudolf G. Binding, Stefan George. Aus Anlass seines sechzigsten Geburtstags, Ms., 4 Bl., S. 3, DLA Marbach.

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wußte und dessen Ertrag vor dem allzu Gegenwärtigen doch ein ethisches Plus bedeutet hat“.148 Ein Muster für den Prozess ästhetischer Dissonanz, in der Verehrung in Kritik umschlägt, ist Albrecht Schaeffer. Noch im Jahre 1909 hatte Schaeffer seinem Vorbild mit einem unveröffentlichten lyrischen Zyklus gehuldigt (Vier Sonette an Stefan George), ihn zum „König“ und „Priester“ stilisiert und ihm „Göttlichkeit“ attestiert.149 Sein George-Erlebnis hat Schaeffer in einem Kunstgespräch seines großen Generationsromans Helianth, an dem er von 1912 bis 1920 schrieb, verarbeitet und reaktualisiert. Den resignativen Protagonisten Georg, der den Tag des Hirten rezitiert, tröstet der Freund und Mentor Bogner: „Du bist auch ein Dichter!“150 StG, dessen Schlussstrophe aus „Traum und Tod“ (V, 85) das Motto des neunten und letzten Buches von Schaeffers Roman bildet,151 wird zur Schlüsselgestalt einer verlorenen Generation. Dagegen ist die gemeinsame Veröffentlichung mit Ludwig Strauß von 1918 Die Opfer des Kaisers. Kremserfahrten und die Abgesänge der hallenden Korridore der „problematische Ausnahmefall“ einer „sprachlichen Zwitterform“ aus Huldigung und Parodie.152 Die ,Grenzüberschreitung‘ der „Huldigung“ sollte zwar 148 Karl Kraus, Rechenschaftsbericht, in: Die Fackel 30/1928, 795/799, S. 1–51, hier: 4. Zu Kraus und StG vgl. Michael Gassenmeier, Philologische Akribie und poetische Gestaltungskraft in Karl Kraus’ ,Nachdichtung der Sonette Shakespeares‘ nebst deren Beziehung zur „Umdichtung“ derselben von Stefan George, die „für jeden Leser unentbehrlich“ ist, in: Radikalismus, demokratische Strömungen und die Moderne in der österreichischen Literatur, hrsg. v. Johann Dvorˇa´k, Frankfurt/M. u. a. 2003, S. 255–292; Klaus Schuhmann, Reden oder Schweigen. Eine Exilkontroverse um Stefan George und Karl Kraus im Jahr 1933, in: Aus dem Antiquariat 6/2004, S. 421–425. 149 Vgl. Albrecht Schaeffer, [4. Sonett], in: Ders., Vier Sonette an Stefan George, Ms., DLA Marbach. Im Schlussterzett apostrophiert das lyrische Ich die Verehrer und maßt sich damit die Rolle eines Vermittlers StGs an: „Die Auen seiner Abgeschiedenheit / Betretet scheu, denn ihr seid ganz von Erden, / Und sucht mit dienen seine Goettlichkeit.“ Den Widmungsempfänger von Schaeffers George-Zyklus hat Eschenbach, Imitatio im George-Kreis, als Kurt K. Levy identifiziert. 150 Albrecht Schaeffer, Helianth. Bilder aus dem Leben zweier Menschen und aus der norddeutschen Tiefebene in neun Büchern dargestellt [Neue Ausgabe], Leipzig 1928, S. 487: „Ich hatte Bogner aus dem Gedächtnis einige Gedichte von Stefan George gesagt, darunter den ,Tag des Hirten‘: […] Schon bei der ersten Zeile sah ich seine Augen weit werden; bei der himmlischen zweiten […] legte er das Gesicht in die Hände, und als ich dann schloß: […] seufzte er dermaßen schmerzlich, als wäre ihm eine Welt untergegangen“. Der Trost ist ein abgewandeltes Zitat des geflügelten Worts „Anch’io son pittore“, mit dem angeblich Correggio seine ästhetische Eigenständigkeit gegenüber Raffael geltend machte. 151 Vgl. Schaeffer, Helianth, Bd. 2, S. 567. Vgl. auch Georgs Berufung auf StG im Brief an seinen Vater über den Expressionismus als Kunstform: „Dir ist bekannt, daß wir im Zeitalter des Ausdrückens leben, auch Expressionismus genannt. Dichter und Maler: was das Wesen ihres Wirkens in Wahrheit ist, nämlich: die Form, das weiß ihrer Keiner mehr (ausgenommen wie immer George)“ (ebd., S. 417). 152 Vgl. dazu ausführlich Hubert, George-Parodien, S. 317f.; Rolf Bulang, Ludwig Strauß und Albrecht Schaeffer – Umriß einer Freundschaft, in: Ludwig Strauß 1892–1992. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Mit einer Bibliographie, hrsg. v. Hans Otto Horch, Tübingen 1995, S. 227–250, bes. 229–235. Die Parodien wurden nicht gemeinsam verfasst, sondern haben entweder Strauß oder Schaeffer zum Verfasser, die „Huldigung“ stammt von Strauß; dessen Anteil ist wiedergedruckt in: Ludwig Strauß, Gesammelte Werke. Bd. 3,2: Lyrik und Übertragungen, hrsg. v. Tuvia Rübner, Göttingen 2000, S. 688–691 (Anm. S. 771). Der Zusammenhang mit StGs 50. Geburtstag, auf den in der Forschung verwiesen wird, war nicht ursächlich.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

StG gegen „falsche Darstellung“ verteidigen, wirkte aber kreisintern wie kreisextern trotz kleiner Auflage konträr.153 Der dreiteilige Titel alludiert unverkennbar StGs Bücher der Hirten und Preisgedichte, doch beziehen sich die drei Teile auf andere Prätexte: Die Opfer des Kaisers referieren überwiegend auf den Algabal-Zyklus: So liegt etwa der Parodie „Der Sklave“, gelungenstes Beispiel der Sammlung, das Einleitungsgedicht der „Tage“ zugrunde.154 Die Ästhetisierung des sterbenden Sklaven – im Posttext zum kaiserlichen Barbier trivialisiert – im Vers: „Ein breiter dolch ihm schon im busen stak · / Mit grünem flure spielt die rote lache“ (II, 66) wird in ihrer Abstraktion zur geometrischen Lust banalisiert: „Das messer schon durch seine kehle schnitt / Des toten blut floß streng und regelgrad“. Die Andenkenstiftung des Kaisers („Dass in den abendlichen weinpokal / Des knechtes name eingegraben werde“; II, 66) wird zum Verzicht auf das abendliche Bier trivialisiert. Darin zeigt sich das parodistische Prinzip: Einerseits wird der hohe Ton der künstlichen Gegenwelt überpointiert, andererseits durch Kombination mit Alltäglichem komisiert. Auch die Kremserfahrten, die im Titel auf die Pilgerfahrten anspielen, wenden sich vor allem gegen die metaphysische Überhöhung der Alltagswirklichkeit und decken die „forcierten Haltungen“ im Spätwerk auf.155 So zieht der „Sumpf-Zauber“ die magische Symbolik des „Hexenreihen“ (VI/VII, 50–51) ins Derbe herab.156 Der dritte und letzte Teil der Parodie, die Abgesänge der hallenden Korridore, nimmt, ohne sich auf einen bestimmten Zyklus zu beziehen, StGs ,Weihrauch‘-Esoterik im Siebenten Ring und Stern des Bundes aufs Korn,157 indem er die Kluft zwischen den Eingeweihten und der Menge überbetont. Der zeitgeschichtliche Bezug der „Verspottung des Hohen“ scheint bisher unterschätzt, denn sie hat ihre Ursache sicher auch in dem „furchtbarsten Jahr 1918“, dem Ende einer Epoche. Seine Auseinandersetzung mit StG führte Schaeffer in einem umfänglichen „kritischen Versuch“ über Dichter und Dichtung (1923) fort. Vor dem Hintergrund der deutschen Lyrik des ausgehenden 19. Jahrhunderts stilisiert er StG zum tragischen einsamen Dichter. Retrospektiv würdigt Schaeffer StGs Bedeutung als „Führer“ – er „befeuerte die sinkenden Kräfte, führte die irrenden, festigte die sich verlierenden“ –, kritisiert aber als „Gebrochenheit“ die zunehmende „Brechung, Verbiegung, ja Ausmerzung des fremden und die Einsetzung des eigenen Willens“.158 Den ,Meister‘ in seiner „Wahnverblendung“ verschont er zwar, attackiert aber scharf den Kreis als gespenstischen „Hofstaat“: 153 Der Neudruck einer kleinen Auswahl zusammen mit anderen George-Parodien in: Der Kunstwart 41/1927/28, 1, S. 314f., machte die ,Gegengesänge‘ weithin bekannt. 154 [Albrecht Schaeffer], Der Sklave, in: Schaeffer/Strauß, Die Opfer des Kaisers, S. 114: „Der sklave der des morgens ihn rasierte / Versah es heut bei seines pfauen tritt / Und traf vom schläfenhaar die feinste spiere. / Das messer schon durch seine kehle schnitt. // Des toten blut floß streng und regelgrad. / Den kaiser · weiterlesend im breviere · / Erschütterte die makellose tat. / Er ging an diesem abend nicht zum biere.“ 155 Hubert, George-Parodien, S. 330ff.; Rotermund, George-Parodien, S. 217. 156 Vgl. Hubert, George-Parodien, S. 364ff. 157 So alludiert der Titel die Wendung „Im dumpf hallenden gebäue“ der „Feier“ (VI/VII, 127) des Gottesdienstes im Siebenten Ring. Das Motto: „Und Weihrauchwolken läßt der Melchior schweben. Brentano“, Vers 6 aus Clemens Brentanos Gedicht „An eine schöne Erscheinung am Dreikönigstage“, ironisiert sowohl Melchior Lechters sakrale Illustrationskunst als auch die Dominanz des Kultischen im Werk StGs. 158 Albrecht Schaeffer, Stefan George, in: Ders., Dichter und Dichtung. Kritische Versuche, Leipzig 1923, S. 297–501, hier: 499f.

1. Poetische Rezeption

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Und da stehen sie nun vor uns Alle, da starren die entsetzlich Entseelten uns an, alle die Schemen, Larven und Fratzen, die Puppen, Hohlspiegelbilder und Pfefferkuchenmänner Georgeschen Wesens in den ,Blättern für die Kunst‘. Eine so schauderhafte Blutlosigkeit und Gespensterhaftigkeit tappt um sich her, daß uns kalt wird vor Lemuren-Nähe mitten im warmen Tage. […] Seite um Seite umschlagend in den öffentlichen Auswahlausgaben der ,Blätter‘ glauben wir, uns in einem Siechenhause zu befinden, in dem eine Anatomie ihre spiritualisierten Fötusse, und ein Wöchnerinnenheim ihre Früh- und Mißgeburten ausgesetzt hat.159

Ludwig Strauß hingegen blieb StG bis zu dessen Tod verbunden. Die Sammlung seiner Gedichte, die er 1933 unter dem Titel Nachtwache veröffentlichte, eignete er „Stefan George in Ehrfurcht und Dankbarkeit“ mit einem Widmungsgedicht zu.160 Eine ähnliche Haltung wie Strauß legt auch Peter Gan (Pseudonym für Richard Moering) an den Tag. In dem Kapitel De Arte Poetica der biographischen Erzählung Die Reise nach Hohenzieritz (1926) kontrastiert Gan seine eigene liedhafte Dichtung mit der prätentiösen Lyrik seines Freundes Eugen, in dem Gan seinen Freund und George-Verehrer Paul Ortwin Rave verschlüsselt hat. Eugen, der „an einer auf zwei Teile beabsichtigten Dichtung [feilt], deren erster Teil ,das Glutjahr‘ hieß“, liest seinem Freund, dem Ich-Erzähler, das Titelgedicht vor: Das Glutjahr Freund! weißt du noch, wie mir in diesem glutjahr – Der lichtball dörrte rings die brache krume – Verschwiegen scheu und immerfort zumut war? Ich pflückte dir unlängst die dotterblume Am dürren rain; der herde trocknes husten Klang dürstend her vom immerleeren trog, Als sich vor deinem leichtsinnhaften pusten Der dotter samenschmuck im wind verflog. Und so verflog die zeit, und tage kamen, Wo die flut die braune brache überquoll, Wo wir uns fragend bei den händen nahmen, Und dir der kamm und mir der busen schwoll.161

Die Stilisierung des Banalen – Erinnerung an den unbeschwerten Sommer eines Freundespaares, dessen symbolischer Höhe- und Wendepunkt eine Pusteblume darstellt – nimmt den ,georgisierenden‘ Stil Eugens aufs Korn. Duktus und Stil des Gedichts sind dem darob rasch ermüdenden Ich-Erzähler „wohlbekannt“: „Ich hörte kaum den wohlbekannten strengen Silbenfall, der fern von aller Deklamatorik mit dem Zauber liturgischer Monotonie dahinfloß, so fühlte ich meine Augen langsam übergehen, und 159 Ebd., S. 496. 160 Ludwig Strauß, Nachtwache. Gedichte 1919–1933, Hamburg 1933 [Widmungsexemplar im StGA]. Das handschriftliche Widmungsgedicht, datiert „Aachen, Oktober 1933“, lautet: „Gläubig strahlt von Stern zu Stern, / Leuchtende Figur an / Reines Zeichen wärt ihr gern / Dort von hiesigen Fluren. / Bleibt ihr ungesehen, flammt / Lasser nicht noch trüber – / Eure Art und euer Amt / Heische: strahlt hinüber.“ 161 Peter Gan, Die Reise nach Hohenzieritz, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 21–48, hier: 27f. Die zuerst in der Frankfurter Zeitung 1926 erschienene Erzählung hat Gan in seinem Prosawerk Von Gott und der Welt. Ein Sammelsurium (1935) wiederveröffentlicht.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

bald klang alles wie von fern“.162 Neben der charakteristischen Kleinschreibung lassen entlegene Metaphern („lichtball“ für Sonne), gesuchte Komposita („glutjahr“) und seltene Wörter („krume“, „rain“), die mehrfache Voranstellung des Genitivs und Alliterationen („braune brache“) keinen Zweifel daran, dass es sich um eine George-Parodie handelt. Abgesehen von wenigen ähnlichen Wendungen im Werk StGs (z. B. „vom immerleeren trog“; Vers 6, für „[a]n dem immergrünen hag“; III, 61) liegt ihr allerdings kein Einzeltext, sondern der Autorstil zugrunde. An der parodistischdetrahierenden Absicht lassen der unpoetische Gegenstand („dotterblume“), die katachrestischen Wendungen („der herde trocknes husten“) und vor allem das komische Zeugma des Schlussverses keinen Zweifel. Inwiefern aber in der Parodie StG selbst oder nur die epigonale George-Nachahmung komisiert wird, bleibt offen.163 Auch der nationalistische Schriftsteller Friedrich Lienhard kritisiert weniger StG selbst als vielmehr Georges Vergottung durch seinen Kreis.164 Lienhard unterzieht Gundolfs George-Buch einer scharfen Kritik, indem er ihm monumentalistische Geschichtsschreibung vorwirft, von seiner Kritik am Kreis aber ausdrücklich StG ausnimmt. In einem daran anschließenden dreistrophigen Widmungsgedicht in Blankversen vergleicht aber Lienhard den übermäßig Geehrten mit Moses, um in der dritten Strophe die Differenz StGs zu dem alttestamentlichen Propheten hervorzuheben, der sich gegen blinde Verehrung erfolgreich zur Wehr setzte: An Stefan George (nach der Beschäftigung mit Gundolfs „George“) Wann werden die Posaunen deiner Schar Dein Ohr verletzen, edelspröder Sänger, Den sonst der Ungeschmack so leicht versehrt? Wann stemmt sich deine Faust in ihre Tuba, Erwürgend der Fanfaren Überlob Du weißt von jenem auserles’nen Meister – Er ist der Herr der Menschheit, und er bleibt Ihr Schirmgeist bis ans Ende dieser Welt – Daß er bedeutsam auf den Berg entwich, Als ihn das Volk aus edler Stille schrie Und mit dem Königsstirnband krönen wollte. Erst spät am Abend, wandelnd auf dem See, Kam der Durchgeistigte zu seinen Jüngern Und hatte irgendwo am rauen Hange Den Strauch erblickt, aus dessen Dornen ihm Die einz’ge Krone zuwuchs, die ihm anstand … Die Deinen sind wie jenes blinde Volk – Doch du bist nicht von jenes Meisters Art: Du hältst gefügig ihrer Krönung still. Und wie du gern mit Purpur und Rubinen Und Perlen dein gepflegtes Wort durchwirkst: 162 Peter Gan, Die Reise nach Hohenzieritz, S. 28. 163 Ein Urteil wird dadurch erschwert, dass komplementär ein Gedicht des Ich-Erzählers Gan zitiert wird, ein heroisierendes „Preislied auf Gustav Schwab“ als neuen Phae¨thon (ebd., S. 28–30), welches seinerseits Freund Eugen einschläfert. 164 Vgl. Friedrich Lienhard, Georges Vergottung, in: Der Türmer 23/1920/21, S. 380.

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So schütten sie Rubinen und Brillanten Und decken dich mit so viel Purpur zu, Daß du lebend’gen Leibes schon erstarrst Zum Götzen – allzu schwach, dich aufzuraffen Und jene Göttermache zu zerschmettern …165

Eine ähnliche Dissonanz wie bei Lienhard, der in seiner Gundolf-Rezension nur den Kreis, im Widmungsgedicht aber auch StG kritisiert, war in den 20er-Jahren nicht untypisch. Weniger StG selbst, als vielmehr die zeitgenössische George-Rezeption geißelt auch Erich Weinert in einem kabarettistischen Spottlied auf einen Anhänger der Jugendbewegung, der als „Der ewige Wandervogel“ (1926) trotz widriger Lebensumstände an seinen alten Idealen festhält, zu denen auch die George-Lektüre im Freien zählt: Und wenn man eng beieinander saß, In sonnigem Seelenbeschaue, Und er im dämmernden Heidegras Ein Lied von Stefan George las, Dann glommen die Augen der Fraue Ins Blaue.166

Wie populär und zugleich geheimnisumwittert Ende der 20er-Jahre StG in Deutschland war, zeigt ein Passus aus Hallo! Hier Welle Erdball!, einem Hörspiel von Fritz Walter Bischoff, dem damaligen Intendanten der Schlesischen Funkstunde in Breslau, aus dem Jahr 1928. In diesem letzten großen Hörspiel des Radios in der Weimarer Republik findet sich eine Montage, die StG als Symptom eines Umbruchs darstellt: Die Zeit ist schwanger von Ungewissheit. Der Zweifel bohrt, seit mit Goethe die große Periode des Glaubens zu Ende ging. Auflösung. Umschichtung der Kontinentsentwertungen. Meyrink, Spengler, Keyserling. Das große, langsam die Welt durchglühende Licht Stefan Georges.167

Einen repräsentativen Überblick über die Bedeutung StGs im literarischen Feld um 1930 vermittelt ein ,Plebiszit‘ der Zeitschrift Literarische Welt. Aus Anlass von StGs 60. Geburtstag hatte der Herausgeber Willy Haas bekannte Schriftsteller gebeten, in einer „kurzen autobiographischen Notiz“ darzulegen, „welche Rolle Stefan George in [i]hrer inneren Entwicklung spielt“.168 Die Antworten von Walter Benjamin, Andre´ Gide, Ina Seidel, Frank Thieß oder Stefan Zweig sind selten Bekenntnisse, sondern bekunden bei allem Respekt eine Tendenz zur Historisierung StGs. Am stärksten von StG distanziert sich Brecht, der doch immerhin in jungen Jahren Anhänger StGs war und in seinem Tagebuch 1913 ausdrücklich noch bekannt hatte: „Ich bekehre mich zu 165 Ders., An Stefan George. Nach der Beschäftigung mit Gundolfs ,George‘, in: Der Türmer 23/1920/21, S. 380f. 166 Erich Weinert, Der ewige Wandervogel (1926), in: Ders., Das Zwischenspiel. Deutsche Revue von 1918 bis 1933, mit e. Einführung v. Bruno Kaiser, Berlin 1951, S. 235f., hier: 235; Das große Balladenbuch. Aus drei Jahrhunderten deutscher Dichtung, hrsg. v. Karl Heinz Berger u. Walter Püschel, Berlin 1965, S. 202f. 167 Fritz Walter Bischoff, „Hallo, hier Welle Erdball!“ [1928]. Nach dem Tondokument im Deutschen Rundfunkarchiv Frankfurt, Nr. 60 U 339 [eigene Transkription]. 168 Vgl. Haas (Hrsg.), Georges Stellung.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Stefan George“.169 So ist die „Ballade von den Seeräubern“, entstanden 1918 und später in die Hauspostille (1927) aufgenommen, von Markus Neumann überzeugend als Kontrafaktur von StGs mediävalisierender „Irrender Schar“ (III, 50–51) aus dem Buch der Sagen und Sänge nachgewiesen worden, ein Gegengesang, welchem schon „der Spott auf die von StG betriebene Sakralisierung der Kunst innewohnt“.170 Im Jahr 1926 hatte Brecht die 400 Einsendungen eines Lyrik-Nachwuchswettbewerbs als „empfindsamen Teil einer verbrauchten Bourgeoisie“ kritisiert, „mit der [er] nichts zu tun haben will“, und zu den Mustern dieser überholten ,bourgeoisen‘ Lyrik ohne jeglichen „Gebrauchswert“ ausdrücklich auch StG gezählt.171 Diesen mittelbaren Affront erneuerte Brecht, als er anlässlich von StGs 60. Geburtstag „gegen die Dichtungen Georges“ einwandte, „ihre Form ist zu selbstgefällig“, und gegen den Dichter: „Seine Ansichten erscheinen mir belanglos und zufällig, lediglich originell“.172 Die Desillusion des Pathos im Ersten Weltkrieg begünstigte die parodistische Entweihung StGs zwischen 1915 und 1920. So häufen sich vor allem am Ende des Ersten Weltkriegs die Parodien. Zwar relativierte Kurt Tucholsky die Parodien, die Hans Heinrich von Twardowski in seinem Rasenden Pegasus StG widmete, als kinderleichte Stilübung: „Stefan George kann schließlich jedes kleine Kind.“173 Doch persifliert „Die Leyerfeier“ recht überzeugend das erste Zeitgedicht im Siebenten Ring.174 Darin legt StG die scheinbare Veränderung seines Dichtens als wahre Identität dar („Ihr sehet wechsel · doch ich tat das gleiche“; VI/VII, 7), indem er sie mit einem Austausch der Instrumente vergleicht. So habe er erst als „pfeifer“ die Verehrer „[m]it schmeichelnden verliebten tönen“ „zum wunderberge“ gelockt, bevor er nun die „fanfare“ „greift“ (VI/VII, 6). Der Titel der Parodie spielt auf die Wechsel der Instrumente an, dekuvriert aber in dem Binnenreim und dem Nomen ,Leier‘, das neben dem Instrument auch ,eintönige Wiederholung‘ bedeutet, StGs repetitive Manier. Twardowski übernimmt von StG die Graphie und die Anzahl von drei Strophen, vertauscht aber die Perspektive, indem er statt des lyrischen Ichs ein lyrisches Wir sprechen lässt. Invertiert ist auch der Redegestus: Statt eines selbstbewussten Dichters folgt eine Gruppe ängstlich der „Fanfare“ des Meisters, die in Anspielung auf die Lieder von Traum und Tod zu einem vieldeutigen Instrument und Kompositum amplifiziert wird: „Tod-traum-fanfare“.175 In charakteristischen Mitteln wie dem hohen Stil, der erlesenen Lexik, den anaphorischen Verseingängen und paronomastischen Wendungen („zwiesprach entzweie“) ahmt Twardowski den Personalstil erkennbar 169 Seine Bekehrung zu StG beglaubigt Bertolt Brecht mit dem Gedicht „Mond“, in dem er sogar StGs Graphie übernimmt (Kleinschreibung bis auf die Vers- und Satzanfänge), vgl. Bertolt Brecht, Journale I: 1913–1941, Berlin, Frankfurt/M. 1994 (Werke 26), S. 74, 514. 170 Markus Neumann, ,Irrende Schar‘ – Brechts ,Ballade von den Seeräubern‘ als GeorgeKontrafaktur, in: Zeitschrift für Germanistik 15/2005, S. 387–394, hier: 391. 171 Vgl. Bertolt Brecht, Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker, in: Ders., Schriften 1914–1933, Berlin, Frankfurt/M. 1992 (Werke 21), S. 191ff., 666ff. 172 Bertolt Brecht, [Über Stefan George], in: Haas (Hrsg.), Georges Stellung. 173 Peter Panter [d. i. Kurt Tucholsky], Der rasende Twardowski, in: Die Weltbühne Nr. 5 v. 29.1.1920, S. 158. 174 Hans Heinrich von Twardowski, Nach Stefan George: Die Leyerfeier, in: Ders., Der rasende Pegasus, 2., stark verm. Aufl., Berlin 1919, S. 19. 175 Die erste Strophe der „Leyerfeier“ lautet: „Wir schreiten zum hehren altare / Zu würdiger feier behuf / Uns lockte des göttlichen ruf / Mit silberner tod-traum-fanfare.“

1. Poetische Rezeption

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nach, karikiert aber aus der Perspektive der ängstlichen Verehrer („wir schmiegen wie espen uns dicht“) die ästhetische Unselbstständigkeit des George-Kreises. Eine zweite Parodie „nach Stefan George“ spielt nicht nur im weiblichen Suffix des Titels „An Jasimin“ auf Maximin an; die Ordnungszahl „Das sechste“ bezieht sich auf die sechs Stationen des Binnenzyklus „Auf das Leben und den Tod Maximins“. Twardowskis Parodie hebt auf die homoerotische Liebe ab und sucht die Verklärung des Jünglings als Camouflage zu entlarven: „Ich nenne dich die keusche lichte linde / Die ich zu reinem bündnis mir erwähle.“176 Zu den Prätexten in Robert Neumanns prominenter Sammlung Mit fremden Federn gehört auch StGs Lyrik. Unter dem paronomastischen Titel „Die Wunderstunde“ parodiert er mit ähnlichem Incipit das Eingangsgedicht des Vorspiels zum Teppich des Lebens, ändert es in ein Sonett ab und banalisiert den Inhalt. StGs lyrisches Ich, das nach einem Ausweg aus der Krise des Lebens sucht („Ich forschte bleichen eifers nach dem horte“; V, 10), ist bei Neumann ein weltfremder Sucher nach dem Eingang „der alten parks“ („Ich forschte blinden sinnes nach der pforte“); aus der einschneidenden Begegnung mit dem Engel wird ein absurdes Dichtermahl, in dem Formfetischismus und melancholischer Habitus komisiert werden: „dann sprach ich meine schweren anapäste / und jeder schwieg und jeder auf dem feste / war von der bürde der gedanken fahl“.177 Als „hochbeinigen Watvogel, der durch die außerordentlich schöne Proportion seiner Glieder wie auch durch seine Größe weit über seine Genossen im Wasser hinausragt“, hat Franz Blei in seinem Großen Bestiarium der modernen Literatur (1922) „die George, auch die große George genannt“, verspottet. Das Tierporträt hebt damit auf die prätendierte Überlegenheit und den Ästhetizismus ab, die damit zugleich als StGs ,Markenzeichen‘ verfestigt werden.178 Um die Rezeption StGs nach dem Erscheinen des Siebenten Rings (1907) und vor 1933 kurz zu resümieren, so ist neben dem intensiven Einfluss die starke Diversifikation seiner Wirkung hervorzuheben, die von affirmativer, epigonaler Rezeption und Parodie bis hin zu vehementer Annihilation reicht. Die meisten Schriftsteller, die StG ungebrochen huldigen, gehören mehr oder weniger seinem Kreis an oder suchen ihm zuzustreben. Dagegen zeigen umgekehrt die Prozesse einer ästhetischen Dissonanz zu StG, die mit einer kritischen Auseinandersetzung mit seinem Werk einhergehen, dass StG für viele Repräsentanten der expressionistischen Avantgarde und

176 Hans Heinrich von Twardowski, Nach Stefan George. An Jasimin / Das sechste, in: Ders., Der rasende Pegasus, S. 20, Verse 3–4. Sie ersetzt die zweite George-Parodie der Erstausgabe: „dass sich dein herz dem meinen sanft vermähle“ (Paul Bernhardt [d. i. H. H. von Twardowski], Der rasende Pegasus, mit e. Vorw. von Mynona, Berlin 1918, S. 11). 177 Robert Neumann, Die Wunderstunde, in: Ders., Mit fremden Federn. Parodien, Stuttgart 1927 (wieder in: Ders., Die Parodien, Wien u. a. 1962, S. 37). 178 Franz Blei, Das große Bestiarium der modernen Literatur, Berlin 1922, S. 33. Blei erwähnt StG noch mehrfach, so um ironisch die Behauptung zu entkräften, „der Borchardt“, ein „immer allein und hoch fliegender schöngefiederter Vogel aus der Gattung der Edelfasane“, „sei ein Gefolgsvogel der George“ (ebd., S. 23). Eine Parodie der besonderen Art liefert Franz Theodor Csokor, indem er StG ein fingiertes Glückwunschtelegramm an Egon Friedell zu dessen 50. Geburtstag zuschreibt. Wie schon die lächerliche Nobilitierung des Jubilars („an Egon von Friedell“) und das geschraubte Incipit („Der niemals niemand anrief ruft dich an“) zeigen, wird mit der unsinnigen Paraphrase eines Toasts StGs hoher Stil verspottet.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

neusachlichen Richtung wie Stadler, Heym oder Brecht zum maßgeblichen Katalysator einer eigenständigen Entwicklung und poetischen Selbstfindung wurde.

1.3.

Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exilliteratur (1933–1945)

Neben der politischen Epoche, der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, markieren StGs 65. Geburtstag am 12. Juli 1933 und sein Tod am 4. Dezember 1933 auch einen Einschnitt in der poetischen Wirkungsgeschichte. Zwar wurde StG von Nationalsozialisten und Mitgliedern des Kreises nachträglich zum „Vorläufer“ und „Ahnherrn“ des ,Dritten Reichs‘ stilisiert, aber auch Regime-Gegner und Exilierte sahen im „Lyriker des Siebenten Ringes [den] des Dritten Reiches.“179 So nimmt Franz Leschnitzer den Tod StGs zum Anlass, aus kommunistischer Sicht dessen Werk als „Hauptquelle der faschistischen Ideologie […] und […] ein Hauptobjekt der marxistischen Literaturkritik“ zu erweisen und konstruiert eine Traditionslinie von StG über Gundolf zu Goebbels.180 Den widerstreitenden Deutungen leistete StG insofern selbst Vorschub, als er zu der politischen Veränderung in Deutschland schwieg. Zwar schwankte die NS-Führung lange in der Bewertung StGs. Doch in welch starkem Maße das Interesse der Machthaber an StG abnahm, zeigt die geringe Resonanz, welche die Gedenkjahre 1938 und 1943 in der Presse fanden.181 Ein Schreiben des Propagandaministeriums wies die Presse sogar an, zu StGs 75. Geburtstag im Juli 1943 „den Dichter lediglich als zeitgebundene Persönlichkeit zu würdigen und den ,Kreis‘ überhaupt nicht zu erwähnen“.182 Die poetische Rezeption StGs in den 1930er-Jahren eröffnet der mysteriöse Gedichtband Huldigung, der im Jahr 1931 in StG-Schrift, gedruckt bei Otto von Holten, im Verlag Die Runde erschien. 151 anonyme Gedichte, nach Themengruppen locker gegliedert, huldigen formal, gehaltlich und in hohem Ton dem Vorbild der Runde: „M.“, dem „Meister“ StG.183 Spiritus rector der Hommage einer „Kollektivpersönlichkeit“ ist Wolfgang Frommel. Er war der führende Kopf eines von Percy Gothein 179 Vgl. Karl Kraus, Dritte Walpurgisnacht, Frankfurt/M. 1989 (Schriften, hrsg. v. Christian Wagenknecht, Bd. 12), S. 79. Zur George-Rezeption im ,Dritten Reich‘ vgl. die Studie von Stefan Bodo Würffel, Zum George-Bild des Dritten Reiches, in: Leid der Worte: Panorama des literarischen Nationalsozialismus, hrsg. v. Jörg Thunecke, Bonn 1987, S. 227ff.; Petrow, Dichter als Führer?, S. 61–88 („George und die neuen Machthaber“). Im Unterschied zu Würffel, Wirkungswille, S. 80ff., der auch einige poetische Zeugnisse würdigt, zeichnet Petrow ansonsten weniger die komplexe produktive Rezeption, als vielmehr die wissenschaftlich-philologische Sicht auf StG nach. 180 Franz Leschnitzer, George – Gundolf – Goebbels, in: Internationale Literatur. Zentralorgan der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller 4/1934, S. 115–131, hier: 131. Goebbels habe gar „einen wesentlichen Bestandteil des Hitlergrusses, den Heilruf“, von StG übernommen, vgl. ebd., S. 131 (überarbeitet wieder u. d. T.: Stefan George und die Folgen, in: Das Wort 3/1938, 12 [Moskau], S. 113–130). 181 Vgl. Petrow, Dichter als Führer?, S. 43–45. 182 Ebd., S. 44. 183 Zur Huldigung und zur Gemeinschaft der Runde-Autoren vgl. Baumann, Dichtung als Lebensform, S. 184–234, weitgehend identisch mit Baumann, Wolfgang Frommel.

1. Poetische Rezeption

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geförderten Dichterkreises in Heidelberg. Zusammen mit dem Typographen Edwin Maria Landau hatte Frommel 1931 den Verlag Die Runde gegründet, der als Vorläufer des Castrum Peregrini gelten kann, der StGs Ethik wie Ästhetik verpflichteten Künstlervereinigung in Amsterdam. StG verbindet auch schon die Runde der 16 Stimmen, die zur Huldigung beitragen.184 Neben Frommel, von dem 50 Gedichte stammen, und Hans Boeglin (ca. 40 Gedichte) sind Götz von Preczow, Achim von A˚kerman und Percy Gothein die wichtigsten Beiträger.185 StG nahm die Huldigung im Sinne von Eduard Korrodi wohlwollend auf, der diese als bedeutendes Zeugnis einer produktiven Rezeption StGs gelobt hatte, das endlich neben die kritische Aufnahme trete: Seit einem Jahrzehnt hat man Stefan Georges Wirkungskraft und Samen in der deutschen Kritik mehr gespürt als in der Dichtung. Nun redet er durch Zauber und Führung – Verführung, Verzauberung sagen andere – in der Verwandlung der Jugend. Gibt es ein Analogon in irgendeiner Nachbarliteratur […] dass überhaupt eine solche Gefolgschaft der Töne, der Rhythmen und der Vorliebe im Wort, eine so unbegreifliche Übertragung des Gefühls vorstellbar ist! […] Hier reicht jeder die Fackel dem anderen […]. Alle wissen sie in dem Schönen Bescheid wie wenig junge Menschen dieser Tage […]. Aber dass sie einmal dem amor fati glaubten, ihm sich verschrieben, verfallen, hörig geworden und dennoch über ihr Maass sich gesteigert sehen durften in ihren beflügelten Versen: das macht sie einzig unter ihren deutschen Mitstrebenden. Wie immer sie sich wandeln, sie können ihren edlen Ursprung nicht verleugnen […].186

Dass die Huldigung StG gilt, zeigt schon das Motto, ein Zitat aus dem „Eid“ StGs, dem Wechselgesang zwischen einem prophetischen Führer und einer ergebenen Verehrergemeinde. Zitiert wird eine Halbstrophe, in der sich die Jünger der Verfügungsgewalt des Meisters bis zur Selbstaufgabe verpflichten: Lenker auf den wegen unsrer not · Nenn dein dunkelstes gebot! Pflüge über unsre leiber her: Niemals mahnt und fragt dich wer! (VI/VII, 60)

Auch der „Anruf“, der die Huldigung der ,Runde‘ einleitet, ist insofern eine mittelbare George-Hommage, als die Einleitungsstrophe unverkennbar auf Hyperions Brief an Diotima in Friedrich Hölderlins Roman anspielt, dem StGs Spätwerk explizit verpflichtet ist: Tritt aus Dodonas hain Gott mit dem stürmenden hauch Der Du die eichen bewohnst Die feuerumhegten!187 184 Die Verfasser der anonymen Gedichte der Huldigung finden sich zusammengestellt bei Baumann, Wolfgang Frommel, S. 222. 185 Zu den Beiträgern der Huldigung und ihren Werkprofilen vgl. Baumann, Dichtung als Lebensform, S. 116–142. 186 Eduard Korrodi, Deutsche Literaturaspekte II: Georgesche Jugend [Rez.], in: Neue Zürcher Zeitung v. 26.4.1931, zit. nach BV, S. 137f., Anm. 184. 187 [Wolfgang Frommel], Anruf, in: Ders. (Hrsg.), Huldigung, S. 11, Verse 1–4. Im Prätext, dem XXXIX. Brief Hyperions an Diotima, lautet der entsprechende Passus: „Jezt bin ich minder

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

StG selbst wird in mehreren „M.“ [,Meister‘] betitelten Gedichten unmittelbar gehuldigt. Die Runde ahmt ihn nicht nur äußerlich, in der durchgehenden Kleinschreibung, sondern auch in Lexik, Sprache und Stil nach.188 So sind die ,Kein‘-Anaphern in Elisabeth Waldmanns „M[eister]“-Gedicht dem Gedicht „Alles habend alles wissend seufzen sie“ (VIII, 29) aus dem Stern des Bundes abgeborgt, das in anaphorischen ,Keiner‘-Kehrversen den Geiz einer wohlhabenden Gesellschaft anprangert.189 Auch der „Wintergesang zu zweien“ ist eine poetische Hommage an StG: Der Titel alludiert die Schlussworte „rundgang zu zwein“ aus dem Gedicht „Es lacht in dem steigenden jahr dir“ (IV, 89) und variiert das Incipit in der Wendung „im sinkenden jahr“ (Vers 12).190 Die Stimmung des Gedichts, das in Erinnerung an Sommer und Herbst ein Du in einer Winternacht anredet und auf einen dichterischen Bund hofft: „Bis wir uns findend im zwiegesang einig entflammen“ (Vers 15), ist ganz der resignativen Entsagung im Jahr der Seele nachempfunden und liest sich wie eine Antwort darauf. Der Zyklus Die Bahn, der aus sieben 28-zeiligen „Tafeln“ genannten Gedichten besteht, feiert Epiphanien in gottferner Zeit. Diese Begegnungen kombinieren die Figur des Engels aus dem Vorspiel zum Teppich des Lebens mit den Maximin-Dichtungen StGs, wie etwa das Ende der „Tafel II“ erkennen lässt: Doch da trat wieder als das jahr geendet Des traumes knabe zu mir leibhaft lebend Den ich – durch welchen fug – schon heimlich kannte! Der liebe freund erwählt in langer sendung Trat schön und hold zu mir nicht lug noch blendung Und ein gestirn das nie mehr löscht entbrannte …191

Alle sieben „Tafeln“ markieren den George-Bezug zusätzlich jeweils durch ein Motto aus dem Stern des Bundes.192 Welch wichtiges Datum die Huldigung für die postume poetische Rezeption StGs und deren politische Indienstnahme darstellt, hat Günter Baumann gezeigt. Auch wenn er die Affinität von Frommels ,Drittem Humanismus‘ zur nationalsozialistischen Ideologie wohl überbetont, prägt eine nationalkonservative Haltung und Sprache die ,Runde‘. Allerdings wählten Frommel und Landau bald das Exil,193 während sich andere Mitglieder der ,Runde‘ in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie stellten. So bekundeten Joachim von Helmersen und vor allem Achim von A˚kerman

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glüklich. Ich wandere durch diess Land, wie durch Dodonas Hain, wo die Eichen tönten von ruhmweissagenden Sprüchen.“ Friedrich Hölderlin, Hyperion, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe I, hrsg. v. Michael Knaupp, München 1992, S. 708. Die George-Bezüge in der Huldigung sind noch nicht systematisch erfasst. [Elisabeth Waldmann], M., in: Frommel (Hrsg.), Huldigung, S. 14. Elisabeth Waldmann ist die einzige Beiträgerin in der männerbündischen Runde. [Wolfgang Frommel], Wintergesang zu zweien, in: Ders. (Hrsg.), Huldigung, S. 154. [Wolfgang Frommel], Tafel II, in: Ders. (Hrsg.), Huldigung, S. 123, Verse 23–28. Die Motti zu den Tafeln I–VII stammen aus folgenden Gedichten des Sterns des Bundes: „All die jugend floss dir wie ein tanz“ (VIII, 19), „Kommt wort vor tat kommt tat vor wort? Die stadt“ (VIII, 26), „Entlassen seid ihr aus dem innern raum“ (VIII, 110), „Mir sagt das samenkorn im untren schacht“ (VIII, 69), „Der strom geht hoch . . da folgt dies wilde herz“ (VIII, 11), „Was ist geschehn dass ich mich kaum noch kenne“ (VIII, 65), „Dem Lenker dank der mich am künftigen tag“ (VIII, 75). Die politische Haltung Wolfgang Frommels ist in der Forschung umstritten.

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offen ihre Faszination für das ,Dritte Reich‘. „Die Fackel“, ein Gedicht Wolfgang Frommels aus der Huldigung, machte vielleicht gegen den Willen seines Verfassers Karriere in der nationalsozialistischen Diktatur.194 Im ursprünglichen Kontext kann es als Rollengedicht StGs verstanden werden, der einem ,Du‘, dessen Rolle der Verfasser einnimmt, seine „fackel“ überreicht, damit dieser sie „de[m] künftige[n]“ weitergebe. Diese Verbildlichung der Generationenfolge und Traditionsstiftung schließt an das Meister-Jünger-Verhältnis des George-Kreises an, erweitert aber das Verhältnis um eine zweite empfangende Instanz und weist so dem Mittler einen Sonderstatus zu, wie ihn StG in seiner Rolle eines ,Künders‘ Hölderlins gegenüber seinem Kreis eingenommen hatte. Die Feuermetaphorik, die paronomastische Esoterik der Schlussstrophe („Und sagst ihm was ich dir gesagt: / So zünde sich leben an leben“) erinnert an Dichtungen StGs („Mund nur an mund geht sie als weisung weiter“; VIII, 100) wie auch der Schlussvers eine unverkennbare Hommage an StG darstellt.195 Während das Antwortgedicht „Der Dank des Knaben“ von William Cyril Hildesheimer, welches das Bild des mittelbaren ,Meisters‘ und Jüngers aufgreift, in der Rezeption unbeachtet blieb, wurde Frommels „Fackel“ dagegen anlässlich der Olympischen Spiele in Berlin als anonymes Gedicht eines Hitlerjungen rezitiert.196 Insgesamt hielt sich die produktive Anverwandlung von StGs Dichtung in der regimetreuen Literatur in überschaubaren Grenzen. Die schmale bibliophile Neuausgabe von vier Chiliastischen Sonetten Karl Immermanns in Majuskel-Druck, den Paul Friedländer im Jahr 1933 als Gedenkschrift „in memoriam Stefan George“ in Auftrag gab, nutzt mit Immermanns prophetischem Ton StG zur schonungslosen Gegenwartskritik.197 Und dennoch: Das elitäre Pathos, der heroische Gestus und die kultisch beschworene Gemeinschaft sind die drei wesentlichen Elemente, die in der Lyrik des ,Dritten Reichs‘ als StGs ,Erbe‘ gelten können.198 Allerdings ist dieses heikle wirkungsgeschichtliche Kapitel noch nicht erschöpfend erforscht, und manches mutmaßlich ,Georgesche‘ Moment geht wohl nicht direkt auf den Dichter selbst zurück, sondern ist über die Jugendbewegung und die Bündische Jugend vermittelt. Dennoch wirkte er traditionsbildend. Lyriker wie Josef Weinheber, die dem NS-Regime nahestanden, setzten sich produktiv mit StG auseinander.199 So spielt Adel und Untergang 194 [Wolfgang Frommel], Die Fackel, in: Ders. (Hrsg.), Huldigung, S. 142: „Die Fackel // Ich gab dir die fackel im sprunge / Wir hielten sie beide im lauf: / Beflügelt von unserem schwunge / Nimmt nun der künftige sie auf. / Drum lass mich und bleib ihm zur seite / Bis fest er die lodernde fasst · / Im kurzen doch treuen geleite / ergreif er die kostbare last! // Du reichst ihm was ich dir gegeben – / Und sagst ihm was ich dir gesagt: / So zünde sich leben an leben / Denn mehr ist uns allen versagt.“ 195 Ich meine die Schlussstrophe des Gedichts „Es lacht in dem steigenden jahr dir“ (IV, 89). 196 Vgl. Baumann, Wolfgang Frommel, S. 224f. 197 Karl Immermann, Chiliastische Sonette. In memoriam Stefan George. Gedruckt im Auftrage von Paul Friedländer, Halle, Burg Giebichenstein 1933. Das zweite Terzett des vierten und letzten „chiliastischen Sonetts“ zeigt die gegenwartskritische Indienstnahme StGs durch Immermann: „Ach · die Verachtung macht so bald uns satt. / Ich bins. Du kommst. Dem Jetzt entronnen send ich / Des Untertanen Eide dem Zukünftigen.“ 198 Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow, Nachwort, in: Ders. (Hrsg.), George und die Nachwelt, S. 245f. 199 Weinhebers Interesse an StG wurde sicher durch Herman Bodeck gefördert, der StG verehrte und diesem 1910 eine Sammlung von Jugendgedichten Die Geburt der Seele gewidmet hatte, vgl. Christoph Fackelmann, Die Sprachkunst Josef Weinhebers und ihre Leser. Annäherungen an die Werkgestalt in wirkungsgeschichtlicher Perspektive. Bd. 1: Darstellung, Wien 2005, S. 177.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

(1934), der Titel des Gedichtbands, mit dem Weinheber bekannt wurde, an auf das elitäre Verspaar in der Mitte eines Gedichts aus dem Stern des Bundes: „Wer adel hat erfüllt sich nur im bild / Ja zahlt dafür mit seinem untergang“ (VIII, 40). Tatsächlich verschrieb sich auch Weinheber der formästhetischen Reinheit des George-Kreises. Doch markiert das Zitat die Differenz der Dichterauffassung: Denn Weinhebers Dichter-Ideal sieht dem Untergang melancholisch-gefasst entgegen: „Daß Adel sei, genügt!“200 Ohne politische ,Führerschaft‘ zu beanspruchen, bescheidet er sich als „Held von neuer Art“ mit der reinen Sprachkunst: Er „singt den Kanon rein, / lebt zurück zum Lied“.201 Die vergröbernde Hitlerjugend- und NS-Lyrik verdankt StGs Spätwerk den Führergedanken, die Überhöhung des Männerbundes zur Blutsgemeinschaft sowie die Stilisierung des Dichters zum Propheten. Das Gedicht eines Führers der Hitler-Jugend, das die bündische Gemeinschaft rühmt, geht wohl ebenso auf StG zurück wie Baldur von Schirachs poetische Apostrophe eines toten Hitler-Jungen.202 Dabei wird die spirituell verstandene Gemeinschaft völkisch vereindeutigt: Wir sind aus gleichem Stamme aus eines Volkes Blut. Entfacht zur freien Flamme der Herzen heiße Glut.203

In dem von Heinz Kindermann herausgegebenen Sammelband Des deutschen Dichters Sendung in der Gegenwart wird StGs Anspruch eines Dichterpropheten von den meisten Beiträgern, namhafte Dichter von Paul Alverdes bis Ernst Wiechert, geteilt und mit dem Führergedanken verbunden.204 Allerdings finden sich bei nationalkonservativen Dichtern, gerade aus dem Umkreis StGs, auch reservierte Bezugnahmen auf StG. So lässt auch Ernst Bertrams Lyrik bald nach dem Tod StGs die vormalige nationale Begeisterung vermissen. Vielmehr drücken Bertrams Schwarze Sonette die enttäuschten Hoffnungen aus, welche die Nachfolger StGs auf den ,Neuen Staat‘ gesetzt hatten: Wir hatten uns ein hohes Volk erdichtet, Das weisend über dunklen Völkern strahle, Der erzne Hüter einem künftigen Grale – Nun siehe da, wie unser Traum gerichtet! Trost wo noch her, der solchen Gram beschwichtet …205

Die monumentale Wertschätzung, die StG in den 30er-Jahren als geschätztem Dichter des Reichs zuteilwurde, ist singulär.206 Kaum ein anderer moderner deutscher Lyriker 200 Josef Weinheber, Adel und Untergang, in: Ders., Sämtliche Werke. Bd. 2: Die Hauptwerke, neu hrsg. v. Friedrich Jenaczek, Salzburg 1972, S. 9–127, hier: 69 („Heroische Trilogie / Dritter Teil, 8. Sonett“). 201 Ebd., S. 68 („Heroische Trilogie / Dritter Teil, 6. Sonett“), 97 („Die innere Gestalt“). 202 Vgl. Würffel, Wirkungswille, S. 188f. 203 Ferdinand Oppenburg, zit. nach Würffel, Wirkungswille, S. 189. 204 Vgl. Würffel, Wirkungswille, S. 191. 205 Ernst Bertram, Schwarze Sonette, Privatdr., o. O. u. o. J. [Entstehungsvermerk: Winter 1938/39], zit. nach Hajo Jappe, Ernst Bertram. Gelehrter, Lehrer und Dichter, Bonn 1969, S. 233; Petrow, Dichter als Führer?, S. 49–58. 206 Vgl. Mark Elliott, Beyond Left and Right: The Poetic Reception of Stefan George and Rainer

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stand zu Beginn des NS-Regimes gleichermaßen hoch im Kurs bei linientreuen Dichtern, Repräsentanten der inneren Emigration wie Exilschriftstellern. Eine Rede Gottfried Benns markiert den Höhe- wie Wendepunkt der George-Verehrung im ,Dritten Reich‘. Sie erschien im April 1934 in der Zeitschrift Literatur mit der entstehungsgeschichtlichen Erklärung: „Hanns Johst als Präsident hatte Gottfried Benn beauftragt, bei der Trauerfeier der Deutschen Akademie der Dichtung für George die Gedächtnisrede zu halten. Die Feier fand aus äußeren Gründen nicht statt.“207 Benn würdigt in seiner Rede StG als Schnitt- und Sammelpunkt vielfältiger Traditionen und Bezüge: „George war das großartigste Durchkreuzungs- und Ausstrahlungsphänomen, das die deutsche Geistesgeschichte je gesehen hat.“208 Damit erkannte Benn ausdrücklich StGs übersetzerische Anverwandlung der europäischen Moderne an. Darüber hinaus preist er die christlich-hellenische Synthese in der „neue[n] Feier des Jünglings“ und StGs breite Ausstrahlung „in die deutsche Wissenschaft.“209 Als überzeitliche Konstante von StGs Werk bestimmt Benn das „Verlangen nach Form“ und setzt diesen Formwillen in einem berüchtigten Parallelismus dem „Kolonnenschritt der braunen Bataillone als ein Kommando“ gleich.210 Auch für die ,Innere Emigration‘ und die konservativen Regime-Gegner blieb StG eine wichtige Größe. Doch ist diese Bezugnahme von dem Gestus geprägt, StG von jeglicher politischer Inanspruchnahme zu befreien. In dem ausgewogenen Essay über Stefan George in unserer Zeit (1935) widerspricht Eugen Gottlieb Winkler der Behauptung Gundolfs, „man müsse StG entweder anheimfallen oder ihn vernichten“,211 und relativiert die angebliche polarisierende Kraft als historisches Phänomen. Stattdessen betont er „Georges Subjektivität […], die vorgefaßte Positur“, und erklärt „seine

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Maria Rilke, 1933–1945, in: The Modern Language Review 98/2003, S. 908–928. Auch wenn die nationalsozialistische Kulturpolitik StG favorisierte und gegen Rilke ausspielte, verlief, wie Elliott zeigt, die tatsächliche produktive Rezeption und ästhetische Diskussion viel weniger einheitlich. Gottfried Benn, Rede auf Stefan George, in: Die Literatur 36/1933/34, S. 377–382 (nur dort mit der oben zitierten ,Erklärung‘, S. 377). Wieder in: Ders., Essays, Reden,Vorträge, Wiesbaden 1965 (Gesammelte Werke 1), S. 464–477 (Anm. S. 627). Nach Benns eigener Version sei er bereits „Sommer 1933 von [der Akademie] beauftragt“ worden, „eine Gedächtnisrede“ auf StG zu halten, vgl. Gottfried Benn, Prosa 3, Stuttgart 1991 (Sämtliche Werke 5), S. 101. Die Herausgeber-Notiz des Erstdrucks widerspricht Benns Erinnerung, wonach StGs 65. Geburtstag am 12. Juli 1933 der Anlass gewesen sei, bevor die Festrede 1934 zu einer Gedenkrede umgewidmet worden wäre. Zu Benns George-Rede vgl. Petrow, Dichter als Führer?, S. 99–105; Michael Ansel, Zwischen Anpassung und künstlerischer Selbstbehauptung. Gottfried Benns Publikationsverhalten in den Jahren 1933 bis 1936, in: Gottfried Benn – Wechselspiele zwischen Biographie und Werk, hrsg. v. Matı´as Martı´nez, Göttingen 2007, S. 35–70, hier: 49–57; Dieter Burdorf, Benn als Fest- und Gedenkredner, in: ebd., S. 85–112, hier: 102–106. Benn, Rede auf Stefan George, S. 466. Ebd., S. 468f. Vgl. ebd., S. 98. Von Benn in der überarbeiteten Fassung von 1950 als eine der „politisch überflüssigen Stellen“ entfernt. Vgl. Gottfried Benn an Friedrich Wilhelm Oelze v. 25.4.1950, in: Gottfried Benn, Briefe an F. W. Oelze: 1950–1956, Bd. 2.2, hrsg. v. Harald Steinhagen u. Jürgen Schröder, Wiesbaden, München 1980, S. 26. Eugen Gottlob Winkler, Stefan George in unserer Zeit, in: Deutsche Zeitschrift [Der Kunstwart] 49/1935, S. 46–50 (wieder in: Wuthenow [Hrsg.], George und die Nachwelt, S. 109–122, hier: 109). Zu Winklers Essay vgl. Petrow, Dichter als Führer?, S. 105–110.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Wendung zur Gemeinschaft“ als „die Ausweitung seiner Selbstherrlichkeit“.212 Mehr noch: Winkler verneint ausdrücklich, „daß StG seiner geistigen Substanz nach Muster und Richtung sein könnte“.213 Doch blieb eine solche historisierende Kritik und Entideologisierung des Dichters, die eine ästhetische Rezeption erst ermöglichte, selten. Unter den Exil-Schriftstellern findet man sie am ehesten bei Theodor Lessing, der über seinen ,Blutsbruder‘ Ludwig Klages dem George-Kreis nahekam und ihn in seinen Lebenserinnerungen Einmal und nie wieder (1935) beschreibt. Lessing sieht in StG kein Phänomen der Gegenwart, sondern einen historischen Repräsentanten des Fin de sie`cle.214 Dagegen deutet Klaus Mann im Schweizer Exil Das Schweigen Stefan Georges (1933) politisch. Gerade weil „Fäden von George und seinem Kreis ins Lager des Feindes“ führten, sucht Mann zwischen StG und dessen nationalsozialistischer Inanspruchnahme zu unterscheiden: „Wir hoffen, daß sein Schweigen Abwehr bedeutet. Er wird sich nicht vermischen und verwechseln lassen. Hitler – und Stefan George: das sind zwei Welten, die niemals zueinander finden können. Das sind zwei Arten Deutschland“.215 Noch im Wendepunkt (engl. 1942) rekapituliert Mann zwar, dass „[s]ein Verhältnis zu [StG] im Lauf der Jahre kühler, skeptischer geworden ist“, erklärt dies aber weniger mit dem Dichter selbst als vielmehr mit seiner „Aversion gegen den Kult, den er von nationalistischen Professoren und reaktionären Snobs mit sich treiben ließ“.216 Zugleich würdigt er StG weiterhin als seinen „Erzieher“, weil dessen „Maximin-Mysterium“ für ihn ein Initiationserlebnis gewesen sei.217 Auch Walter Benjamin, dessen lebenslanges Interesse für StG als ,Verehrung‘ gelten kann, blieb in seiner Wertschätzung des Dichters ungebrochen.218 Peter Gan, der 1938 nach Frankreich, später nach Spanien emigrierte, flocht George-Zitate so kunstvoll in sein eigenes Dichten ein, dass diese intertextuellen Bezüge kaum bemerkt wurden.219 So ist sein Gedicht „Sieh, mein Kind, ich gehe“ aus der Windrose (1935) die Palinodie eines Liedes aus StGs Sängen eines fahrenden Spielmanns. Widerrufen wird der Kehrreim „Sieh mein kind ich gehe“, der StGs Rollengedicht rahmt, in dem ein Sänger seiner Geliebten erklärt, er verlasse sie, da er sie sonst „versehren“ würde (III, 60). Eine Synopse der isometrischen Gedichte zeigt, wie 212 Winkler, Stefan George in unserer Zeit, S. 111. 213 Ebd., S. 117. 214 Vgl. Theodor Lessing, Einmal und nie wieder, mit e. Vorw. v. Hans Mayer, Gütersloh 1969, S. 302–329 („Der Georgekreis“). 215 Klaus Mann, Das Schweigen Stefan Georges, in: Die Sammlung 1/1933, S. 98–103 (wieder [Auszug] in: Wuthenow [Hrsg.], George und die Nachwelt, S. 7–12, hier: 12). Vgl. auch Petrow, Dichter als Führer?, S. 42f. 216 Klaus Mann, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, hrsg. v. Franz Kroll, Hamburg 2006, S. 158f. Die Varianten zum 8. Kapitel enthalten eine ausführlichere Würdigung StGs als ,Engel‘ in Manns ,Olymp‘ (ebd., S. 776f.). 217 Ebd., S. 777. 218 Vgl. Michael Rumpf, Faszination und Distanz. Zu Benjamins George-Rezeption, in: Peter Gebhardt, Walter Benjamin – Zeitgenosse der Moderne, Kronberg/Ts. 1976, S. 51–76, hier: 51; Geret Luhr, Ästhetische Kritik der Moderne. Über das Verhältnis Walter Benjamins und der jüdischen Intelligenz zu Stefan George, Marburg 2002, passim; Georg Dörr, Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule, Würzburg 2007, bes. S. 135–140. 219 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Claus Victor Bock in: Stefan-George-Kolloquium 1968, hrsg. v. Eckhard Heftrich, Köln 1971, S. 226f. (wieder erwähnt in: Claus Victor Bock, Peter Gan, in: CP 24/1975, 118, S. 79–91, hier: 87f.).

1. Poetische Rezeption

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Gan nicht nur den Wechsel vom umarmenden Reim über Kreuzreim zum Paarreim nachvollzieht, sondern sogar bis auf das abschließende Reimpaar StGs Reime verwendet, die Verse 4 und 5 sogar unverändert übernimmt, um doch den Tenor des Gedichts umzukehren.220 George

Gan

Sieh mein kind ich gehe. Denn du darfst nicht kennen Nicht einmal durch nennen Menschen müh und wehe.

Sieh, mein Kind, ich gehe. Ehe wir uns trennen, wirst du eines kennen: Menschenmüh und -wehe.

Mir ist um dich bange. Sieh mein kind ich gehe Dass auf deiner wange Nicht der duft verwehe.

Mir ist um dich bange, dass mein Wort verwehe; denn die alte Schlange schläft in schlimmer Nähe.

Würde dich belehren Müsste dich versehren Und das macht mir wehe Sieh mein kind ich gehe.

Es ist Gott zur Ehre, dass ich dich versehre und dein Glück vertreibe. Sieh, mein Kind, ich bleibe.

Gans Parodie entlarvt die heroische Entsagung des Rollen-Ichs in StGs Gedicht als Pose: Sein lyrisches Ich kündigt zwar auch den Weggang an, doch erst nachdem er das Mädchen entjungfert hat. Die als „alte Schlange“ verbildlichte Ursünde und die gut belegte Bedeutung von „versehren“ für die Defloration221 lassen an dieser semantischen Inversion keinen Zweifel. Inwieweit Gan mit seiner Palinodie auf ästhetische Dissonanz zu dem von ihm bewunderten StG geht oder eine partielle spielerische Widerlegung vornimmt, muss offen bleiben, zumal diese Ambivalenz auch die George-Passagen in Peter Gans Essay Goethe und die Dichtung der Gegenwart (1933) prägt. Einerseits erkennt Gan darin StG eine epochale Bedeutung für die deutsche Literatur zu und rückt ihn in einen typologischen Zusammenhang mit Goethe;222 andererseits kritisiert er StGs Werk. Die Ambivalenz von Bewunderung und Kritik zeigt sich auch noch als ,Übertragungsphänomen‘: So bleibt Gan reserviert gegenüber der ,Jüngergemeinde‘ und lobt die konkurrierenden Repräsentanten der Moderne wie Borchardt, Hofmannsthal und Rilke. Freilich finden sich unter den ausgebürgerten und exilierten Schriftstellern viele, die nach Leschnitzers marxistischer Lesart in StG einen Wegbereiter des NS-Regimes sahen. Negative Äußerungen oder gar Verarbeitungen in einem literarischen Werk sind jedoch eher selten. Obgleich er sich kritisch über StG geäußert hatte, ist Bertolt Brecht ein schwacher Kronzeuge für eine politisch motivierte Ablehnung von StGs Lyrik; allenfalls das Exil-Gedicht „Adresse des sterbenden Dichters an die Jugend“ ist

220 Peter Gan, Sieh, mein Kind, ich gehe, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 40. 221 Deutsches Wörterbuch, hrsg. v. Jacob u. Wilhelm Grimm, Bd. XII, I (= Bd. 25), Leipzig 1956, Sp. 1259–1263, hier: 1261. 222 Vgl. Peter Gan, Goethe und die Dichtung der Gegenwart, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 243–261, hier: 252: „George ist Wendepunkt in unserer Literatur […]. Von ihm datiert sicher das Ende der dichterlosen, der schrecklichen Zeit […]. Goethe hat die überkommene Sprache aufgenommen, vermehrt und geläutert. George lehnt ab, verwirft und beginnt ein Neues“.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

möglicherweise gegen StG gerichtet.223 Rudolf Borchardt, den an StG ein tief ambivalentes Verhältnis band, hat dessen ,Schweigen‘ als politisches Versagen gedeutet: Neben seiner monströs-polemischen Aufzeichnung Stefan George betreffend (1936) hat Borchardt seine Kritik in den Jamben (1935), einem bedeutenden Dokument der Widerstandslyrik, auch poetisch gefasst. Das Zeitgedicht „Unterwelt hinter Lugano“ wütet gegen das homoerotische „Neophyten-Gewühl“ um den „Mysterien-Meister“ und prangert StG als Wegbereiter des Nationalsozialismus an: Höre und sieh, wie ich treulich dem Meisterwort Folgte, Nolens Volens, Höre wie alles gedieh, Vom Neuen Reich zum Jugendbund, Manlius und Maximin, und In Indirekter Fechsung Statt von Papa und Mama Neudeutschland von der Tante stammt.224

Borchardts ominöse Aufzeichnung Stefan George betreffend verschärft den Vorwurf der Jamben und hält StG hasserfüllt vor, mit den Nationalsozialisten das „homosexuelle Triebelement“ geteilt zu haben; so „tauschten sich Päderastie und Hakenkreuz gegenseitig zurück, jedem blieb das Seine, und das ,Dritte Reich‘ hatte sich gegen das Neue Reich glatt gestellt“.225 Die internationale Reaktion auf den Tod StGs ist bislang noch nicht systematisch erforscht. Zu den bemerkenswerten Zeugnissen zählt das Gedenkgedicht „Una rosa para Stefan George“ (1933) des argentinischen Dichters Ricardo Molinari, zu dem sein Freund Federico Garcı´a Lorca die Rose gezeichnet hat. Molinari reflektiert im Bild der Rose über den Tod seines Vorbilds StG, den er in der Tradition des Schlaflieds teilnahmsvoll apostrophiert, um im letzten Vers aber sich und sein Dichten als zwecklos zurückzunehmen: Duerme. Dormir para siempre es bueno, junto al mar; los rı´os secos debajo de la tierra con su rosa de sangre muerta. Duerme, lujo triste, en tu desierto solo. !Esta palabra inu´til!226 223 In: Bertolt Brecht, Gedichte 4: Gedichte und Gedichtfragmente 1928–1939, Berlin, Frankfurt/M. 1993 (Werke 14), S. 455f. Nach Helene Weigel zielt das Gedicht auf Thomas Mann, nach Elisabeth Hauptmann auf StG, vgl. Kommentar in Gedichte 4, S. 687. 224 Rudolf Borchardt, Unterwelt hinter Lugano, in: Ders., Gedichte II. Übertragungen II, hrsg. v. Marie Luise Borchardt u. Ulrich Ott, Stuttgart 1985, S. 34–36, hier: 35, Verse 48–51. Die postume Erstausgabe (1957) hatte die Ortsangabe ,Lugano‘ im Titel durch ,Locarno‘ ersetzt, weil StG in Minusio bei Locarno begraben liegt. Vgl. Dieter Burdorf, Kopf statt Ohr. Rudolf Borchardt als Kritiker Stefan Georges, in: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 353–377; Raulff 2009, S. 523–526. Zu Entstehungs- und Textgeschichte der Jamben vgl. Lars Korten, „Gefährlich für jeden der sich nicht hütet“. Rudolf Borchardts ,Jamben‘ 1935/36. Materialien und Dokumente zu ihrer Neuedition, in: Titan 1/2005, S. 1–37. 225 Rudolf Borchardt, Aufzeichnung Stefan George betreffend, hrsg. v. Ernst Osterkamp, München 1998, S. 94. Die Hermetik des Gedichts „Unterwelt hinter Lugano“ paraphrasiert der Schluss des längeren Prosatexts, der mit einem vernichtenden Urteil schließt: „Diese Jugend der er das Neue Reich verheissen hatte und dem Verderben zugerüstet, war seine Beisteuer zur grössten Not der deutschen Geschichte, – von ihm entwurzelt, gebrochen, der Entwicklung beraubt, entmannt, verführt“ (ebd., S. 108). 226 Ricardo Molinari, Una rosa para Stefan George (span./dt.), dt. Übers. v. Carlos F. Grieben, in: Humboldt 2/1961, S. 74. Der Passus lautet in Griebens Übersetzung: „Schlafe. Schlafen für

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Unter den exilierten Schriftstellern und Regime-Gegnern finden sich allerdings auch einige, die schon vor 1933 mit StG sympathisierten und sich in ihrer ästhetischen Orientierung nicht durch das NS-Regime irritieren ließen. Dazu zählen in erster Linie die ehemaligen Weggefährten, die nach dem Tod des Dichters ihn nicht nur von jeglicher Verantwortung für den Nationalsozialismus freisprachen, sondern ihn sogar zum Kronzeugen ihrer Kritik am barbarischen Regime machten. Albert Verwey etwa legt ihm in dem Gedicht „Der Dichter und das Dritte Reich“ (1944) eine Schmährede gegen das NS-Regime in den Mund: Völker, wo ein Dichter nicht kann leben, Staaten, wo ein Dichter nicht will sterben, Sind verfallen zu dem Schutt der Erde, Zu dem Müll, den Spätre kehren mögen Eh der Meereswind erstickte Keime Wieder sprießen macht, den Dunstring säubert. Hört dies, ihr Verschollnen in den Höhlen: Kleinstes Lied, das ihr verborgen trällert, Ist viel mehr denn Machtwort eurer Leiter, Ist viel stärker denn die Vögtepeitschen, Die zum Zwangwerk eure Lenden schlagen.227

Hier wird StG postum als Fürsprecher der Opfer des NS-Regimes und der Exildichtung reklamiert. Ein ähnlicher Tenor bestimmt auch die bis heute immer noch zu wenig gewürdigte große Exildichtung Karl Wolfskehls. So enthält das Gedicht „Aufbruch I“, das einen „Sternfall“ vom Oktober 1933 als himmlisches Zeichen zur Auswanderung deutet, „erkennbare George-Bezüge“.228 Beiden Teilen seines bedeutenden programmatischen Exil-Gedichts „An die Deutschen“ hat Wolfskehl George-Verse als Motti vorangestellt. Mit einer Apostrophe des verstorbenen „Stefan“ und dem Bekenntnis, dessen Mission („Sende“) weiterzuführen, schließt der erste Teil: immer ist gut, am meere; / die flüsse, trocken unter der erde mit ihrer rose aus totem blute. / Schlafe, du trauriger luxus, in deiner einsamen wüste. / Dieses unnütze wort!“ Überzeugender scheint mir Palms Übertragung des Schlusses: „Schlaf! Schlafen für immer ist gut neben dem Meer. / Die Flüsse sind versiegt unter der Erde, die Rose in ihrem Blut ist tot. / Schlaf, traurige Lust, in deiner Wüste, einsam. / Das Wort ist unnütz.“ Die Übersetzung, eine Deutung von Lorcas lyrischem Stenogramm sowie eine Reproduktion der ,Todesrose‘ finden sich in Erwin Walter Palm, Hoffnung auf das gereinigte Wort. Federico Garcı´a Lorcas Rose für Stefan George, in: Ders., Heimkehr ins Exil. Schriften zu Literatur und Kunst, hrsg. v. Helga von Kügelgen u. Arnold Rothe, Köln u. a. 1992, S. 375–380. 227 Albert Verwey, Der Dichter und das Dritte Reich [De dichter en het derde rijk, dt.], übers. v. Edgar Salin, in: Schweizer Annalen 9/10/1944, S. 575 (in veränderter Form wieder in: Albert Verwey, Ausgewählte Gedichte, [Düsseldorf, München] 1954, S. 99–104). Vgl. Wolfskehl – Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897–1946, hrsg. v. Mea Nijland-Verwey, Heidelberg 1968, S. 317. Pannwitz hatte das Gedicht bereits 1936 übersetzt, doch war kein deutscher Verlag mehr zu einer Veröffentlichung bereit. Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow, Nachwort, in: Ders. (Hrsg.), George und die Nachwelt, S. 242f. 228 Kerstin Schoor, „o dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln!“. Karl Wolfskehls literarische Wirkungen im jüdischen Kulturkreis in Deutschland nach 1933, in: „o dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln!“: Leben und Werk von Karl Wolfskehl (1869–1948), hrsg. v. Elke-Vera Kotowski u. Gert Mattenklott, Hildesheim 2007, S. 93–119, hier: 95, 110. Die textliche Anlehnung an StG hat Karl Wolfskehl selbst in einem Brief an Margarete Susman vom 6.5.1936 erläutert, vgl. ebd., S. 110f., Anm. 16; Voit, Wolfskehl, S. 584.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Morgens Meister, Stern der Wende, Hat Ihn lang mein Sang genannt: Sohn der Kür, Bote der Sende Bleib ich, Flamme, Dir Trabant!229

Sogar den wirkmächtigen Vers „Wo ich bin ist Deutscher Geist“ (ebd., Vers 17), in dem er die deutsche Kultur zum ,portativen Besitz‘ erklärt, hat Wolfskehl 1942 in einer Palinodie in eine Verpflichtung umgemünzt und auf den ,Meister‘ umgewidmet: „Wo du bist, ist Deutscher Geist!“230 1942 stilisierte Karl Vollmoeller im amerikanischen Internierungslager StG poetisch zum „Praeceptor Germaniae“.231 Die wohl von Herbert Steiner angeregte Trilogie rekapituliert in einer Apostrophe den Beginn von StGs poetischer Sendung im geistlosen wilhelminischen Deutschland: „Stefan George – ein ironisches / Herrisches Schicksal spie dich in die Wüste / Des deutschen Worts, in die entmannte Dürre / Geistlosen Geists um Achtzehnhundertneunzig“. Der zweite Teil sieht ihn als Zerrissenen in Berlin, während der dritte Teil StGs Studienjahr in Paris vergegenwärtigt. Eine Parenthese stilisiert aus der Sicht der sich einvernehmlich ,wir‘ nennenden Verehrer dieses freiwillige Exil zur Geburt des ,Geheimen Deutschlands‘: „– Da war uns, als erwuchs / Um dich, geschirmt vom Wald der fremden Sprache, / Das heimliche, das wahre Deutschland. –“ StG wird postum getröstet, seine Sorge um ein besseres Deutschland sei unbegründet, die Saat des ,Geheimen Deutschland‘ sei aufgegangen. Damit meint Vollmoeller sicherlich die im Exil verbündeten Dichter und Denker, deren Kohäsion er mittels StG als Integrationsfigur zu bekräftigen sucht: Dann waren Stunden und du standst allein, Trüb und bekümmert, zweifelnd und verzweifelnd, Tief seufzend um dich selbst und um dein Volk An dunkeln Ufern hinter Notre Dame … Nicht wissend daß das kleine Weizenkorn, Das du gesenkt in frostige Heimaterde, Längst aufgekeimt, längst hoch in Halm geschossen – Schon trägt es Frucht, zehnfach und hundertfach.232

Typisch für die George-Rezeption während der Zeit des Nationalsozialismus ist eine ausgeprägte Politisierung, die nicht zuletzt durch die Indienstnahme des Dichters durch das NS-Regime forciert wurde. Während sich zahlreiche regimetreue Schriftsteller auf StG beriefen, distanzierten sich viele regimekritische und exilierte Schriftsteller von StGs Dichtung, der sie eine präfaschistische Ideologie anlasteten. Aller229 Karl Wolfskehl, ,Das Lebenslied‘. An die Deutschen, in: KW I, S. 216–219, hier: 218, Verse 82–85. Zu den entstehungsgeschichtlichen Umständen vgl. Voit, Wolfskehl, S. 400–413. 230 Vgl. dazu Voit, Wolfskehl, S. 401. Thomas Mann war von dem Gedicht so fasziniert, dass er diesen Vers im Frühjahr 1938 bei seiner Ankunft in New York zitierte („Where I am, there is Germany“), vgl. ebd., S. 161. 231 Boehringer hat von Herbert Steiner eine Abschrift erhalten (im StGA) und es in Mein Bild von Stefan George veröffentlicht (RB II, 90f.); auf dem Briefumschlag notierte sich Boehringer zur Entstehungsgeschichte, dass Steiner mit Vollmoeller in Kontakt getreten sei und dadurch das Gedicht angeregt habe. Vgl. Vollmoellers Widmungsgedicht an StG „Landschaften. Für S. G.“, in: BfdK 5/1900/01, S. 94f.; dazu auch I, 3.6., S. 349. 232 Karl Vollmoeller, Praeceptor Germaniae, in: Ders., Gedichte. Eine Auswahl, hrsg. v. Herbert Steiner, Marbach 1960, S. 40–42, hier: 42.

1. Poetische Rezeption

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dings hielten auch jüdische Weggefährten und exilierte Freunde StGs an seinem Werk während des Nationalsozialismus unvermindert fest.

1.4.

Nachkriegslyrik (1945–1970)

Den angeblichen ,Neubeginn‘ der deutschen Lyrik nach 1945 stellt die neuere Forschung mehr und mehr in Frage und rückt vielmehr Kontinuitäten und Anknüpfungen an die Klassische Moderne ins Licht. Doch berufen sich die unterschiedlichen metapoetischen Texte und ästhetischen Positionen neben der internationalen Moderne (T. S. Eliot) immer wieder auf Rilke, kaum aber auf StG. Immerhin hat der sozialdemokratische Jurist Gustav Radbruch bei Kriegsende kein Hehl aus seiner Verehrung StGs gemacht und ihn in seine Lyrik-Anthologie Lyrisches Lebensgeleite als ,Unzeitgemäßen‘ neben Nietzsche und Rilke aufgenommen; mehr noch: Mit 15 Gedichten ist StG in Radbruchs Anthologie gemeinsam mit Rilke der quantitativ am stärksten repräsentierte Dichter der Moderne.233 StG ist zwar auch in wichtigen frühen Lyrik-Anthologien nach 1945 vertreten, wie in der von Hans Egon Holthusen und Friedhelm Kemp herausgegebenen Sammlung Ergriffenes Dasein (1953),234 doch sind öffentliche Bekenntnisse und poetische Hommagen eher die Ausnahme. So sind es vor allem Vertreter der Vorkriegszeit, die nach 1945 wieder StG ins kollektive Gedächtnis rufen. Solche eher antiquarischen Bezugnahmen sind implizite ,Rettungen‘ vor dem Faschismus-Vorwurf. Dass es bei einem Nebeneinander von kollektivem Schweigen und vereinzelten lyrischen Rehabilitationen blieb und kein Austausch zustande kam, lag auch an den Fürsprechern. Zum einen waren es überwiegend parteiliche Stimmen der älteren Generation, die sich im literarischen Feld der Bundesrepublik nicht recht durchsetzen konnten, und zum anderen sind die StG ehrenden Dichtergedichte nach 1945 ästhetisch einem überholten Formkonservatismus verpflichtet. So bleiben etwa die lyrischen George-Hommagen bis in die 60er-Jahre zumeist retrospektiv, gegenwartskritisch und formal wenig innovativ. Umso mehr fallen die poetisch eigenständigen Ausnahmen auf: Genannt sei exemplarisch das Heischelied von Rudolf Pannwitz, der mit seiner eigenwilligen mythopoetischen George-Hommage auch aus der konventionellen Verehrung ausschert: Seine Evokation StGs im Verbund mit Goethe und Nietzsche als „Stammgötter“ imaginiert visionär, zugleich aber durch das Präteritum als ereignetes Geschehen beglaubigt, eine Auferstehung und – in polysyndetischem Pathos – eine Weihe StGs, die sein Nachleben als Fortwirken in „Deutschland“ verbürgt:

233 Vgl. Lyrisches Lebensgeleite. Von Eichendorff bis Rilke, gesammelt v. Gustav Radbruch, Heidelberg 1946, S. 178–185. Der Schwerpunkt liegt selbstverständlich auf dem Frühwerk bis zum Siebenten Ring. Aus dem Spätwerk ist nur das wirkungsmächtige Gedicht „Wer je die flamme umschritt“ (VIII, 84) aus dem Stern des Bundes berücksichtigt. Vgl. dazu Dieter Martin, ,wer je die flamme umschritt‘: Stefan George am Lagerfeuer, in: Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Ralf Georg Bogner u. a., Berlin, New York 2011, S. 427–446. 234 Vgl. Ergriffenes Dasein. Deutsche Lyrik 1900–1950, hrsg. v. Hans Egon Holthusen, Ebenhausen bei München 1953, S. 14–19; vgl. dazu auch III, 5.5.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Nun auch regte das grab sich Im flecken Minusio. heros George Dem in den schenkel der gott genäht war Stemmte die fäuste gegen die granitnen platten Und verletzte die sieben lorbeerbäume nicht. Er erhob sich und stand auf und segnete: Kein anschaubares sondern das unsichtbare.235

Doch typisch für die Nachkriegszeit sind eher formal wie inhaltlich konventionelle Retrospektiven mit einem starken Selbstbezug, so etwa Edwin Redslobs „Stefan George“-Sonett oder Michael Landmanns „Gedicht an Stefan George“. Redslob schildert im Oktett einseitig StGs elitäre Haltung, um im Sextett kontrastiv seine Abwendung von seinem Jugendidol zu rechtfertigen – ein typisches Beispiel nachträglicher Selbstrechtfertigung in einem Prozess ästhetischer Dissonanz: Das war das Schauspiel meiner Jugend, Strenge war zwingend über unser Tun gestellt: „Nur wer sich sondert von der bunten Menge, Besteht vor dem Gesalbten, eine Wolke Aus Weihrauch trennt den Priester von dem Volke!“ – Da hab ich mich dem Volke zugesellt.236

Lange unveröffentlicht blieb Michael Landmanns bekenntnishaftes Gedicht „An Stefan George“, das er zwischen 1945 und 1969 schrieb.237 Das achtstrophige Gedicht apostrophiert im einvernehmlichen ,wir‘ StG, ohne ihn namentlich zu nennen oder antonomastisch zu verklären. Durch wechselnden Zeitbezug ist das Gedicht dreigegliedert. Die ersten drei Strophen rufen die Begegnungen mit dem „meister“ zu Lebzeiten in Erinnerung. So vergegenwärtigt die Eingangsstrophe in einer jauchzenden Interjektion StGs Stiftung einer Tafelrunde oder – unausgesprochen – eines ,Geheimen Deutschlands‘: Mein meister welch ein rausch wenn deine hohe Gestalt alljährlich unser haus betrat Wo du uns tauftest in lebendiger lohe Zu paladinen deinem neuen staat!

Auch Kurt Messows späte Apostrophe StGs als „Der Priester“ sieht retrospektiv den Tod des Seherdichters als Zeitenwende. Mit Allusionen wird StG zum Priester stilisiert („Du hast den Gott erschaut, / Den Stern im Bund“), mit Moses verglichen („Du Siedler auf dem Berg, / In Zorn erglüht“), um in einem allegorischen Schluss den Abgang des Dichterschwans als epochalen Einschnitt in dürftiger Zeit zu deuten: 235 Rudolf Pannwitz, Deutschland [I]: Die Stammgötter, in: CP 1/1951, 4, S. 36f., hier: 37. Der Deutschland-Zyklus von Pannwitz umfasst vier Gedichte. 236 Edwin Redslob, Stefan George, in: Ders., Gestalt und Zeit. Begegnungen eines Lebens, München u. a. 1966, S. 39, Verse 9–14. Ebd., S. 99, bemerkt Redslob, dass er StG „nur einmal in Weimar begegnet [sei], wo Ludwig Hofmann […] mich ihm zuführte“. 237 Michael Landmann, An Stefan George. Aus: Altera quae vehat Argo (1945–1969), in: Ders., Jüdische Miniaturen. Bd. 2: Israelische Streitschriften und Tagebücher, Bonn 1982, S. 241. Die Gedichtsammlung, der Landmann ein Vergil-Zitat als Titel gab (Ecloga IV 34), ist unveröffentlicht.

1. Poetische Rezeption

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Gelockt vom Uferziel, Gereckt den Hals, Verließ der Schwan das Spiel Des Wasserfalls.238

Selbst das epigonale Zeitgedicht, das Bodo Freiherr von Maydell „Zum Stefan-George-Jahr 1983“ dichtete, ist ganz dem antiquarischen Muster verpflichtet.239 Der Befund, dass StG nach 1945 mehr Gegenstand der Verehrung einer eingeschworenen Gemeinde, als in der literarischen Öffentlichkeit präsent war, lässt sich negativ erhärten: Denn unmittelbar nach Kriegsende lassen sich auch nur ganz wenige Parodien nachweisen, wie etwa die George-Parodie „Aus dem ,Achten Ring‘“ (1947) von Richard Müller-Freienfels, welche auch nur die breite Vorkriegsrezeption ungebrochen fortschreibt.240 Die selektive ästhetische Umorientierung nach 1945 zeigt sich paradigmatisch im Merkur, einem für die Traditionsstiftung der Nachkriegslyrik maßgeblichen Periodikum. Die wenigen Bezugnahmen auf StG und seinen Kreis sind ambivalent und zeugen von einer tief greifenden ästhetischen Dissonanz. Im Jahre 1952 historisiert Werner Kraft etwa einerseits noch den George-Kreis („so strahlt eine historisch abgeschlossene geistige Bewegung noch einmal auf in den Abendfarben des Abschieds“), erkennt ihm andererseits aber doch eine produktive Rezeption zu: „Dennoch bleibt seine hohe Gestalt, es bleibt sein Werk, das auf die Zukunft einwirken wird“.241 In einer Würdigung zu StGs 25. Todestag, die im Hauptteil des Dezember-Heftes 1958 erschien, reflektiert Friedrich Podszus allgemein die historische Bedeutung StGs („daß George ein großer Dichter war und blieb“), appelliert aber ausdrücklich an die junge Generation, sich künftig wieder an StG zu orientieren: „Dies Faktum allein sollte den jungen Dichtern, denen von heute und denen von morgen, ein wahres Ingredienz ihrer Bemühungen sein.“242 Dennoch finden sich in den vielen lyrischen Beispielen des Merkur kaum Spuren StGs, lässt man den ,hohen Ton‘ als zu unspezifischen intertextuellen Bezug außer Acht.243 Zur allmählichen Rehabilitation StGs im literarischen Feld des politisch geteilten Deutschland haben in den 50er-Jahren wesentlich kreisexterne Würdigungen beige238 Vgl. Kurt Messow, Der Priester, in: Ders., Wie das Wort so wichtig dort war. Dichterprofile, Berlin 1955, S. 56. 239 Bodo von Maydell, Zum Stefan-George-Jahr 1983, in: Heimat-Jahrbuch Landkreis MainzBingen: Geschichte, Begebenheiten, Einflüsse, Zeitströmungen, Werdendes 1983, S. 1. 240 Sebastianus Segelfalter [Pseudonym v. Richard Müller-Freienfels], Stefan George: Aus dem ,Achten Ring‘, in: Ders., Die Vögel der deutschen Dichter. Eine heitere Stilgeschichte der deutschen Literatur in Variationen über ein altes Thema nebst einem gelahrten Anhang, Berlin 1947, S. 79. Es handelt sich um eine Textklassenparodie, die neben verschiedenen Zitaten („Engel“ aus dem Teppich des Lebens, „weiße ara“), erlesener Lexik und uneindeutiger Syntax vor allem das Missverhältnis von formalen Äußerlichkeiten und sakralem Dichteranspruch StGs karikiert. 241 Werner Kraft, Das Bild Georges [Rez. Robert Boehringer], in: Merkur 6/1952, S. 683–690, hier: 683, 690; vgl. auch ders., Um George [Rez. Edgar Salin], in: Merkur 4/1950, S. 1314–1317. 242 Friedrich Podszus, Stefan George heute, in: Merkur 11/1958, S. 1146–1153, hier: 1153. 243 Vgl. Lothar Jordan, Lyrik, in: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte, hrsg. v. Horst Albert Glaser, Bern 1997, S. 557–585. Jordan erwähnt im Zusammenhang der „Aktualisierung eines hohen Tons“ die Orientierung an StG, Rilke und Loerke (S. 557f.).

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tragen, von denen vor allem die fast bekenntnishaften Rehabilitationen Adornos und Edschmids beigetragen haben dürften. Theodor W. Adorno hat sich seit den 30erJahren mehrfach kritisch mit StG, dessen „Pathos der Distanz“ er rühmt, auseinandergesetzt.244 Seine erste große Kritik, eine ausführliche Besprechung des Briefwechsels von Hofmannsthal und StG aus dem Jahr 1939/40, liefert, wie Walter Benjamin gleich bemerkte, „eine ,Rettung‘ Georges“,245 auch wenn Adorno StGs „Postulat der Haltung“, selbst der „edlen Haltung“, als Attitüde ablehnt.246 In seiner Rede über Lyrik und Gesellschaft (1957) hebt er StG in den Rang eines Vorbilds lyrischer Neuorientierung: Das Gedicht „Im windes-weben“ (VI/VII, 137) aus dem Siebenten Ring charakterisiert Adorno als „neuromantisch“, erkennt jedoch die unzeitgemäße „asketische Aussparung“ an und zählt den Schluss des Gedichts gar „zu dem Unwiderstehlichsten […], was jemals der deutschen Lyrik beschieden war“.247 Noch Adornos letzte poetologische Auseinandersetzung mit StG, ein Rundfunkvortrag aus dem Jahre 1967, setzt mit der politischen Indienstnahme ein, wehrt aber den späten Künder ab: „Wo George zum Preis von Führertum sich erniedrigt, ist er in Schuld verstrickt und nicht wiederzuerwecken“.248 Stattdessen rehabilitiert Adorno den frühen, vom französischen Symbolismus geprägten neuromantischen Dichter: „Georges überindividuelle Gedichte sind nicht die Sprechchöre, sondern fast stets die verdunkelten“.249 Überdies entdeckt er den Prosaisten StG, indem er dessen Tage und Taten als „durchgeformte Traumprotokolle“ und „Gesichte des Untergangs“ rühmt, „in denen mythische und moderne Momente in Konstellation treten“.250 Der Redende 244 Zu Adorno und StG gibt es zahlreiche Studien. Noch nicht erschöpfend gewürdigt ist Adornos musikalische George-Rezeption (Vier Lieder nach Gedichten von Stefan George, op. 1 [1925–28] und op. 7 [1944]; vgl. III, 4.3.; Heinz Steinert, Adorno in Wien. Über die (Un-) Möglichkeit von Kunst, Kultur und Befreiung, Münster 2003, S. 97, 110–122). Dagegen ist die literarästhetische Auseinandersetzung besser behandelt; vgl. etwa Gerd Schrader, Expressive Sachlichkeit. Anmerkungen zur Kunstphilosophie und Essayistik Theodor W. Adornos, Königstein 1986, bes. S. 67–75. 245 Vgl. Walter Benjamin an Theodor W. Adorno v. 7.5.1940, in: Theodor W. Adorno/Walter Benjamin, Briefwechsel 1928–1940, hrsg. v. Henri Lonitz, Frankfurt/M. 1994, S. 424–439, hier: 427, 429. 246 Theodor W. Adorno, George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel: 1891–1906 [Erstdruck 1942], in: Ders., Kulturkritik und Gesellschaft. Bd. 1: Prismen. Ohne Leitbild, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1977 (Gesammelte Schriften 10.1), S. 195–237, hier: 201: „Nicht bloß die stramme, noch die edle Haltung ist stigmatisiert, und selbst jene Anmut, die nach Georges Ideenhierarchie als Schönheit des einfach gestalthaften Seins die oberste Stelle einnimmt“. Benjamin, dem Adorno seinen Essay zusandte, hat allerdings den Haltungsbegriff als unzulässige Vereinfachung zurückgewiesen. Doch fällt Adornos ideologiekritisches Urteil über StG und dessen Kreis in einem Brief an Thomas Mann v. 1.12.1952 noch schärfer aus: „George hat sich im Teppich als Künstler selbst getilgt, indem er auf eigene Faust Formen des Bestätigtseins gehandhabt hat, die, als objektiv unbestätigte, ihm unter den Händen zerbrechen mussten. Am Ende sind die scheußlichen Sprechchöre des ,Sterns‘ herausgekommen und ein Führerkult, der doch dem faschistischen nicht so fern war, wie Georges große Gesinnung es denken mochte“. 247 Theodor W. Adorno, Rede über Lyrik und Gesellschaft, in: Ders., Noten zur Literatur, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1974 (Gesammelte Schriften 11), S. 49– 68, bes. 64–68, hier: 66. 248 Ders., George (1967), in: ebd., S. 523–535. 249 Ebd. 250 Ebd., S. 534.

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Kopf (XVII, 27) wird als Muster von „Georges Rätselfigur“ zitiert und so zum Modell eines nicht diskreditierten Prosastils. Wie andere Repräsentanten der Vorkriegsmoderne setzte sich nach 1945, vor allem nach der großen Monographie Robert Boehringers (1952), auch Kasimir Edschmid wieder mit der Gestalt und der Dichtung StGs auseinander. Er nahm Boehringers Mein Bild von Stefan George zum Anlass für eine Essay-Rezension Georges Größe und Menschentum,251 die er durch eigenes Erleben bekräftigte und in der Prosaskizze Der Tote von Minusio fortschrieb. Edschmid wertet darin StG zum „arme[n] Exulant[en]“ auf und bemüht sich um dessen politische Rehabilitation, indem er jegliche Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie in Abrede stellt.252 Doch bleibt Edschmids Essay wie die Rezension mehr ein subjektiver Rückblick als ein begründeter Versuch, die Aktualität StGs nach dem Zweiten Weltkrieg neu zu bestimmen. Eine Art retrospektive Dissonanz zeigt sich dagegen bei Wolfgang Koeppen. Im Jahr 1933 hatte er, aus Anlass von StGs 65. Geburtstag, noch den Dichter gewürdigt als einen, der „nur dem Gesetz seiner Berufung Folge leistete“.253 Dagegen trägt die Romanfigur Mr. Edwin aus den Tauben im Gras (1951), die offensichtlich StG verehrt, wohl eher parodistische Züge. Trotz solcher prominenter und weniger prominenter Bekenntnisse zu StGs Aktualität nach 1945 hielt sich die produktive Rezeption bis in die 80er-Jahre zunächst in engen Grenzen. Sogar frühe Parodien verhüllen das Ziel des Angriffs.254 Wie die lebensphilosophische Anthropologie Simmels standen auch StG und sein Kreis zunächst unter präfaschistischem Generalverdacht. In den 60er-Jahren war der auratisierte ,Dichter‘-Begriff in Verruf geraten, und „Lyriker oder Erzähler“ sahen sich, wie Günter Grass in einer Rede anlässlich des Princeton-Treffen der Gruppe 47 darlegte, nur mehr als „Schriftsteller“. Die allgemeine Distanz zu einem auratisierten DichterKonzept beglaubigt Grass mit der rhetorisch gemeinten Frage: „Wer will schon ein Stefan George sein und mit glutäugigen Jüngern umherlaufen?“255 Diese Reserve gegenüber StG kennzeichnet auch das Verhältnis der Dichter, die das nationalsozialistische Deutschland verlassen hatten. Obwohl sie sich im Exil unvermindert an StGs Dichtung orientierten, hielten sie nach ihrer Rückkehr mit ihrer Wertschätzung zurück. 251 Kasimir Edschmid, Georges Größe und Menschentum, in: Neue literarische Welt 3/1952, 4, S. 3f. Korrekturfahnen mit vielen handschriftlichen Ergänzungen und Marginalien, DLA Marbach, dienten wohl als Grundlage der Prosaskizze Der Tote von Minusio (Typoskript im DLA Marbach). 252 Unter Bezugnahme auf die Brüder Stauffenberg konstatiert Edschmid: „Dass aus Georges Hand, der als Ästhet geschmäht wurde, Männer herv[o]rgingen, die bereit waren, sich für die Freiheit zu opfern, ist erschütternd genug, um jeden törichten Einwand gegen seine Haltung zum Schweigen zu bringen“ (Der Tote von Minusio, S. 2). 253 Wolfgang Koeppen, Stefan George (1933), in: Ders., Essays und Rezensionen, hrsg. v. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel u. Hans-Ulrich Treichel, Frankfurt/M. 1986 (Gesammelte Werke in 6 Bden.), Bd. 6, S. 43–45, hier: 43. 254 Vgl. V. O. Stomps, Fabel vom Maximus, Maximin, Minimax, Minimus, in: Akzente 5/1958, S. 430f. Hier ist der Bezug auf den Maximin-Kult nur vage angedeutet: „Maximin wird im Schlußkapitel als dichtender Nachlaßverwerter geistiger Kapazitäten gefeiert. – Namensverwechslung steht außer Frage.“ 255 Günter Grass, Vom mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren unter der Berücksichtigung nicht vorhandener Höfe, in: Über das Selbstverständliche. Reden, Aufsätze, Offene Briefe, Kommentare, Neuwied, Berlin 1969, S. 105–112, hier: 107.

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So hat etwa Wolfgang Hildesheimer während seines Exils in Israel seine englische Übersetzung des düsteren Gedichts „Trauervolle nacht!“ (IV, 96) veröffentlicht.256 Doch erst lange nach seiner Rückkehr nach Deutschland, in seinen an Max Frisch adressierten Mitteilungen an Max (1983), findet sich – noch dazu in camouflierter Form – eine weitere George-Allusion: Neben den poetischen Zitaten von Hölderlin, Rilke oder Schiller steht, als Beschreibung eines Waldgangs getarnt, auch ein Zitat aus dem Jahr der Seele: „Still ist es hier wie im alten Wald der Sage, oder ungefähr so still“.257 Der Passus, den Hildesheimer in dem geschwätzig-banalen Kontext versteckt hat, soll wie ein Chiffernbrief den Adressaten auf den ernsten Prätext lenken, der in der ersten Strophe eine gemeinschaftliche Erinnerung anspricht: Mit frohem grauen haben wir im späten Mondabend oft denselben weg begonnen Als ob von feuchten blüten ganz beronnen Wir in den alten wald der sage träten. (IV, 26)

Dieses Gedicht hat Hildesheimer erneut in Meine Gedichte (1983) gewürdigt, nicht ohne sich dafür zu rechtfertigen: Wenn man Stefan George überhaupt noch akzeptieren möchte, was ich schon deshalb tue, weil er eine einzigartige, wenn auch düstere und morbide, Geschehensebene heraufbeschwört, so muß man natürlich auch hier Schwächen feststellen, die freilich unter dieser suggestiven Suada zu verschwinden scheinen oder zu verschwinden suchen.258

Erst nach dieser reservatio mentalis bekennt sich Hildesheimer rückhaltlos zu der Faszination, die StGs Gedicht, das „niemals von Ungefährem oder gar Banalem getrübt“ ist, auf ihn ausübe: „Mir selbst zaubert es eine dunkle nostalgische Welt und Zeit heran, eine längst vergangene natürlich, wie alle Wunschwelten und Wunschzeiten“.259 Und noch ein drittes Mal hat sich Hildesheimer mit StGs Dichtung auseinandergesetzt: Stefan George: ,Das Wort‘ (1983). Indem er StGs klassisches poetologisches Gedicht einer metapoetischen Reflexion unterzieht, meint er erneut seine Affinität zu StG rechtfertigen zu müssen: „Meine Verehrung Stefan Georges hält sich in ganz bestimmten Grenzen. Doch innerhalb dieser Grenzen bewundere ich ihn, was heute – schon wieder oder immer noch? – Verteidigung gegen Anwürfe bedeutet, sachliche oder nicht“. Was folgt, ist neben Hildesheimers Bekenntnis, das Jahr der Seele habe „[s]eine rezeptive Phantasie am meisten angeregt“, eine Auseinandersetzung mit dem ,Unsagbaren‘, wie es das lyrische Ich im Gedicht konstatiert: „So lernt ich traurig den verzicht: / Kein ding sei wo das wort gebricht“ (IX, 107). Wie Hildesheimer in seiner ästhetischen Vorliebe für StG den zeitgenössischen Ideologieverdacht mit zu verarbeiten sucht, bekundet der Schlusssatz des Essays. Denn er lässt sich nicht nur auf das lyrische Ich, sondern auch auf StG beziehen: „Hier hat einer versagt, 256 Vgl. Volker Jehle, Wolfgang Hildesheimer. Werkgeschichte, Frankfurt/M. 1990, S. 381, 653. Vgl. dazu Peter Horst Neumann, Wolfgang Hildesheimer und Stefan George, in: Ders., Erlesene Wirklichkeit, Aachen 2005, S. 59–70. 257 Wolfgang Hildesheimer, Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes, Frankfurt/M. 1983, S. 34. 258 Ders., Meine Gedichte, in: Ders., Vermischte Schriften, S. 465–467, hier: 466. 259 Ebd., S. 467.

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der sein Land, sein Reich, großzügig mit Worten beschenkt zu haben glaubt. Einer, der sich groß sah und über den das letzte Wort noch nicht gesprochen ist“.260 Ungeklärt ist in der Forschung noch immer, inwieweit sich Paul Celan an StG orientierte. Zwar ist überliefert, dass Celan vor allem StGs lyrischen Zyklus Die hängenden Gärten besonders schätzte. Seine frühe rumänische Kurzprosa und frühen Gedichte zeigen unverkennbar George-Anklänge.261 Gelegentlich wurden neben der gemeinsamen Jean Paul-Rezeption die „fragmentarischen Lakonismen“ und das „zyklische Aufbauprinzip“ der frühen Gedichtbände Mohn und Gedächtnis (1952), Von Schwelle zu Schwelle (1955) und Sprachgitter (1959) mit StG verbunden,262 doch fehlt bis heute eine genaue intertextuelle Analyse. Noch problematischer ist die lyrische Rezeption StGs in der DDR. Dort stand StG noch mehr unter dem Verdikt eines nationalkonservativen Dichters. Dementsprechend war ein ästhetisches Bekenntnis zu StG eher den poetischen Einzelgängern vorbehalten. So hat Paul Wiens, der im Alter von 25 Jahren aus Wien nach Berlin zurückkehrte und als Lektor im Aufbau-Verlag arbeitete, aus seiner Verehrung für StG kein Hehl gemacht. Er imitierte StG in Kleinschreibung, Stil und Titelgebung. Seine Sammlung Nachrichten aus der siebenten Welt verweist auf den Siebenten Ring. Auch wenn bei Wiens keine unmittelbaren George-Anleihen festzustellen sind, ist sein Bekenntnis zum ,Erbe‘ und zur Tradition bemerkenswert.263 Das Gedicht „Gespräch mit einem ausgegrabenen gott“ zeigt eine Moderne-Kritik, die durchaus an StGs „Porta Nigra“-Gedicht (VI/VII, 16–17) gemahnt.264 Bei einer Baumrodung kommt die Statuette eines alten Liebesgottes zum Vorschein, die das lyrische Ich zu einer Reflexion über die Gegenwart in Form eines imaginären Gesprächs mit dem alten Idol veranlasst. Auch Johannes Bobrowski hat sich nie öffentlich zu seiner großen Wertschätzung StGs bekannt. Immerhin teilte er Peter Jokostra am 14. August 1959 mit, er lese StG, um „frühere großkotzige Urteile zu revidieren“.265 Dabei enthalten die fünf Bände aus der Bondi-Ausgabe, die Bobrowski in seiner Bibliothek verwahrte, alle Anstreichungen,266 die von einer intensiven Lektüre zeugen, mehr noch: Das „Porta Nigra“-Zeit260 Wolfgang Hildesheimer, Stefan George: ,Das Wort‘, in: ebd., S. 461–463, hier: 463. 261 Siehe Bernhard Böschenstein, Die Bedeutung Stefan Georges und Conrad Ferdinand Meyers für Paul Celans Frühwerk, in: Etudes germaniques 53/1998, S. 481–492. Vgl. auch den Hinweis von Hans-Michael Speier, Die Wiederkehr Jean Pauls und die Prolegomena einer zukünftigen Kunst: Hegel – Jean Paul, George, in: Kehr um in dein Bild. Gedenkschrift für Victor A. Schmitz, hrsg. v. Hans-Michael Speier u. Daniel Straub, Frankfurt/M. 1983, S. 35–51, bes. S. 46, Anm. 22. 262 Vgl. etwa Hermann Korte, Deutschsprachige Lyrik seit 1945, 2. Aufl., Stuttgart, Weimar 2004, S. 56. Zur Jean Paul-Rezeption vgl. Bernhard Böschenstein, Umrisse zu drei Kapiteln einer Wirkungsgeschichte Jean Pauls: Büchner – George – Celan, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 10/1975, S. 187–204. 263 Vgl. Mathilde Dau, Paul Wiens, in: Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen, Bd. 2, hrsg. v. Jürgen Gerdts, Berlin 1979, S. 410–428, hier: 411; Adolf Endler, Identifizierung mit der Landschaft. Walter Werner: ,Das unstete Holz‘, in: Neue Deutsche Literatur 7/1971, S. 151–157, hier: 157 (Hinweis auf Wiens’ George-Rezeption). 264 Vgl. Paul Wiens, Gespräch mit einem ausgegrabenen gott, in: Ders., Vier Linien aus meiner Hand. Gedichte 1943–1971, Leipzig 1976, S. 66f. Vgl. dazu Dau, Paul Wiens, S. 419f. 265 Eberhard Haufe, Bobrowski-Chronik. Daten zu Leben und Werk, Würzburg 1994, S. 47. 266 Vgl. Dalia Bakauskaite˙, Kommentierter Katalog der nachgelassenen Bibliothek von Johannes Bobrowski, Trier 2006, S. 206f. (Nr. 578–582).

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

gedicht aus dem Siebenten Ring hat Bobrowski nicht angestrichen, sondern für die Anthologie 1985 ausgewählt und in sein Notizbüchlein abgeschrieben.267 Weitgehend unbemerkt blieben in der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit Peter Gans intertextuell getarnte Bezugnahmen auf den von ihm verehrten Dichter.268 So ehrte er seinen Malerfreund Philipp Weichberger anlässlich dessen Hochzeit mit einer „Hochzeitsepistel für Philipp und Nina“ (1958). Die zweite Strophe würdigt in reziproken Vossianischen Antonomasien („mein Telemach“, „dein Mentor“) die Freundschaft als Vater-Sohn-Beziehung: Du warst mein Telemach und Sorgenkind: ein unbeschriebnes Blatt im schönsten Sinne. Ich war dein Mentor und dir wohlgesinnt, ,ja mehr als dies‘; […]269

Das markierte Zitat-Fragment stammt aus StGs Liebesgedicht „Liebe nennt den nicht wert der je vermisst . .“ (VI/VII, 144) aus dem Siebenten Ring. In diesem Lied entsagt ein liebendes Ich dem geliebten Du, verhehlt aber nicht die Schmerzen dieser Entsagung: „So reiss ich wund mich weg“ (Vers 7). In der Schlussstrophe, aus deren Anfang Gan zitiert, wird das geliebte Du noch einmal als „Süsser“ vergegenwärtigt, zugleich wird die Kompensation des Verzichts auf Liebesglück durch Dichtung angekündigt. Der Subtext, den Gan mit dem Zitat aufruft, verleiht dem Hochzeitscarmen insofern einen doppelten Boden, als der Lobredner dem Bräutigam damit seine Resignation als Liebender kundtut. Kühner und eigenwilliger als die kreisaffinen oder älteren Repräsentanten der ästhetischen Elite im Nachkriegsdeutschland bekennen sich junge Vertreter einer Avantgarde zu StG. Für den sogenannten ,Finismus‘ etwa, den der poetische Autodidakt Werner Riegel (1911–1956) im Jahre 1952 zusammen mit dem jüngeren Freund Peter Rühmkorf begründete, war StG ein Vorbild. Diese ästhetische Richtung forderte in Erwartung eines zukunftsgewissen Dritten Weltkriegs eine ultimative Kunst voll ,aggressiver Trauer‘. In dem maßgeblichen Manifest Die heiße Lyrik beruft sich Riegel auf „vier Große“ der deutschen Lyrik, „die dem Finismus (im Formalen) die Fundamente stellten“ und parallelisiert sie jeweils mit unterschiedlichen modernen amerikanischen Musikrichtungen: Die Lyrik des Finismus ist undenkbar ohne dies: ohne den sakral-kultischen, dabei stupend heidnischen Spiritual Georges; ohne die immens emotionale Blues Intonation Trakls; ohne den intellektualistisch wirksamen ,drive‘ und ohne das um die analytische Ironie verminderte Pathos Benns; ohne die vermöge ihrer ästhetischen Indifferenz so eminent ausdrucksstarke, aber rhythmisch-reimlich ,schmutzige‘ Poesie Brechts. Vier Hochspannungsmasten eines elektrischen Nervs dieser Zeit, ungeheure Kraftströme entsendend, die es zu nutzen gilt.270 267 Johannes Bobrowski, Meine liebsten Gedichte. Eine Auswahl deutscher Lyrik von Martin Luther bis Christoph Meckel, hrsg. v. Eberhard Haufe, Berlin 1985, S. 198; Bakauskaite˙, Kommentierter Katalog, S. 207 s. v. 580, erwähnt die Abschrift in dem Notizbüchlein (DLA Marbach). 268 Gan hatte sich bereits vor dem Zweiten Weltkrieg schöpferisch mit StG auseinandergesetzt. 269 Peter Gan, Hochzeitsepistel für Philipp und Nina, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 71–75, hier: 71 (Verse 5–8). 270 Werner Riegel, Die heiße Lyrik, in: Zwischen den Kriegen 12/1954, Januar (wieder in: Ders., „…

1. Poetische Rezeption

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Diese vier Großen hätten nicht nur „mit der Konvention“ gebrochen: „ihre Stärke, ihre Bedeutung liegt darin, dass sie neue Konventionen heraufbeschworen“. So wird der distanzierte hohe Ton in der modernen Lyrik auf StG zurückgeführt: „aus einer Dichtung, die liturgisch gedacht und hierarchisch verwaltet wird, der Hymnik Georges, entspringen die Zeugnisse einer verstiegen esoterischen Eisschrankästhetik“.271 Auch wenn Riegel im Briefwechsel mit Kurt Hiller das Lob StGs relativiert, führt er ihn 1954 noch einmal in einem Dichterkatalog auf. Hier erhält StG zusammen mit Trakl den höchsten Rang in der sechsstufigen Ordnung.272 Auch die Konkrete Poesie zählt, wie Günter Heintz überzeugend nachgewiesen hat,273 zu den bedeutenden und langfristigen Traditionssträngen der George-Rezeption. Während in der Frühzeit der Bundesrepublik poetische Bekenntnisse zu StG relativ selten sind, hat die Konkrete Poesie aus ihrer Affinität zu StGs Sprachpurismus nie einen Hehl gemacht. Helmut Heißenbüttel hat sich im Nachkriegsdeutschland öffentlich zu seiner George-Lektüre 1938/39 als sprachlichem Initiationserlebnis bekannt, Claus Bremer nennt StG „unter den Autoren, von denen er gelernt habe, an erster Stelle“, und Eugen Gomringer ist in seinem Verbalismus maßgeblich StG verpflichtet.274 Die Rolle StGs für die Konkrete Poesie mag ein frühes Gedicht H. C. Artmanns aus dem Jahr 1949 illustrieren, das sich, so Heintz, als Dialog mit StG deuten lässt: ich könnte viele bäume malen, mit buntem laub träumend überhangen, hinter einem blutdunklen zaun . .275

Die intertextuellen Bezüge zu dem einleitenden Programmgedicht des Jahrs der Seele fallen auf, zugleich wird in dem durchgängigen Potenzialis eine Reserve gegenüber dem klassischen Vorbild deutlich, die sich mit dem Moduswechsel des Schlussverses zum eigenen Gestaltungswillen wandelt: ich pflückte von den rötlichen blättern der buche und knüpfte daraus ein helles, durchscheinendes band, das ich ganz leicht um ein feines, schmales knöchelchen winden will!

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beladen mit Sendung Dichter und armes Schwein“, hrsg. v. Peter Rühmkorf, Zürich 1988, S. 131–146, hier: 131). Ebd., S. 132. So schreibt Riegel am 11./15.2.1954 aus Hamburg an Kurt Hiller: „George führte ich eigentlich nur im Sinne einer Prähistorie von Blass, Boldt, Heym an“ (in: Zwischen den Kriegen. Werner Riegel, Klaus Rainer Röhl und Peter Rühmkorf – Briefwechsel mit Kurt Hiller 1953–1971, hrsg. v. Rüdiger Schütt, München 2009, S. 109–114, hier: 113). Im Brief vom 20.10.1954 aus Hamburg an Kurt Hiller begründet Werner Riegel seinen sechsstufigen Dichterkatalog: „Die Rangordnung wäre demnach: 1) Nur-Intensive: z. B. der junge Becher, van Hoddis. 2) Meisterliche: Blass, Zech, Hardekopf. 3) Intensiv-plus Meisterliche: Brecht, Benn, Kerr, Werfel, Heym. 4) Intensiv-plus Edle: Lotz. 5) Meisterlich-plus Edle: Trakl, George. 6) Meisterlich-, plus Intensiv-, plus Edle: ?“ (ebd., S. 179). Vgl. Heintz, Stefan George, bes. S. 346–367 („Geistige Kunst und Konkrete Poesie“). Vgl. ebd., S. 347–350. H. C. Artmann, ich könnte viele bäume malen [1949], in: Ders., Das poetische Werk. Bd. 1: Frühe Gedichte, unter Mitwirkung des Autors hrsg. v. Klaus Reichert, S. 31. Vgl. dazu Heintz, Stefan George, S. 350–353.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Artmanns unverkennbare Anspielung auf den Schluss von StGs Gedicht („Und auch was übrig blieb von grünem leben / Verwinde leicht im herbstlichen gesicht“; IV, 12), die neben der gestischen Analogie in dem Bilden eines ,Kranzes‘ / ,Bandes‘ das Verbum ,winden‘ stiftet, zeigt: Wie StG beansprucht, die vergängliche Natur im Kunstwerk aufzuheben, so bekennt sich auch Artmann zur Autonomie und überdauernden Kraft der Kunst, wenn das „helle band“ um ein „knöchelchen“ gebunden werden soll. In der Neuorientierung der deutschen Literatur nach 1945 spielte StG zunächst nur eine Nebenrolle. StG war politisch zu umstritten, sein Elitegedanken vertrug sich kaum mit der neuen demokratischen Verfassung und die starke Stilisierung, die sein Werk prägt, war unzeitgemäß. Zwar hielten Weggefährten und formkonservative Repräsentanten der älteren Generation an StG fest, fanden aber im literarischen Leben wenig Gehör. Dass ein ästhetisches Bekenntnis zu StG in der jungen Bundesrepublik, und erst recht in der DDR, politisch inopportun war, zeigen die vielen verdeckten und halbherzigen Bezugnahmen auf seine Dichtung.276 Erst allmählich wurde StGs Dichtung vom Verdacht nationalsozialistischer Affinität befreit und rehabilitiert.

1.5.

Gegenwartsdichtung (1970–2010)

Seit den 70er-Jahren ist StG zu einer immer weniger kontroversen poetischen Autorität geworden. Die in der Nachkriegszeit aufgewachsene Dichtergeneration geht mit ihm recht unbefangen um und nutzt sein ästhetisches Prestige für eigene Anliegen. Dies kann zu parodistischen Montagen, aber auch zu einer Demontage führen, wie sie etwa Gertraud Schleichert in ihrer „Paraphrase auf Stefan George“ (1980) vornimmt. In durchgängiger Majuskel-Schrift einer Text-Bild-Collage wird durch Substitution einzelner Verse StGs nuancierte Belebung des herbstlichen Parks im Kontrast mit einer industriell zerstörten Natur als überholt widerrufen. Die erste Strophe illustriert das Verfahren der partiellen Substitution hinreichend: Komm in den totgesagten Park und schau, Wie sich die Bagger in die Erde fressen. Du kannst die Birken und den Buchs vergessen, Das tiefe Gelb und auch das weiche Grau.277

Ein ähnliches Verfahren hat etwa ein Jahrzehnt später Malte Kroidl in der „Taunusanlage 1991, Parodie nach Stefan George“ angewandt, um den ästhetizistischen Tenor mit der harten ökonomischen Realität der Bankenmetropole Frankfurt zu kontrastieren. Seine Version der Eingangsstrophe zeigt aber, wie wenig die allzu explizite, pathetische Aktualisierung gelungen ist: Komm in den totgesagten park und schau: Das blut ferner trauriger gestade Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die banken und die grünen pfade.278 276 Vgl. Heintz, Stefan George, S. 346–367. 277 Gertraud Schleichert, Komm in den totgesagten Park und schau. Paraphrase auf Stefan George (Zeichnungen: Herbert Schügerl), in: Protokolle 1980, 2, S. 115–118, hier: 116. 278 Malte Kroidl, Taunusanlage 1991. Parodie nach Stefan George, in: Nagelprobe. Texte des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen 13/1996, S. 24.

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Der populäre Liederdichter und Sänger Konstantin Wecker zitiert in der Eingangsstrophe seines Lieds „Schlendern“ aus der Sammlung Am Flussufer (2005) StGs Bild vom „totgesagten Park“. Damit wird StG für eine ebenso antibürgerliche wie antiutilitaristische Lebenshaltung reklamiert: Einfach wieder schlendern, über Wolken gehen und im totgesagten Park am Flussufer stehn.279

Hans Magnus Enzensbergers George-Parodie zeugt von dem freien Umgang eines so lange kontroversen Autors, indem ein prophetisches Gedicht aufs Küchenniveau reduziert wird.280 Ob Botho Strauß im Titel seines dreiaktigen Dramas Schlußchor (1991) StGs gleichnamiges Gedicht aus dem Stern des Bundes zitiert, wie Wolfgang Braungart zu bedenken gibt, mag offenbleiben.281 Vorrangig ist gewiss der Bezug auf Schillers „Ode an die Freude“: „Fetzen von Beethovens ,Schlußchor‘ von der Straße her“.282 Allerdings lassen die mehreren Deutschlandbilder, die das Stück nebeneinander präsentiert, durchaus auch einen Bezug auf StG als möglich erscheinen. Auch die allmähliche soziale Rehabilitierung von Homosexualität im Zuge der sexuellen Revolution und Gay Liberation führte zu einer Wiederentdeckung und Aufwertung StGs als Vorläufer explizit homoerotischer Literatur. Dies zeigt exemplarisch Hubert Fichtes Roman Versuch über die Pubertät (1974). Die darin als „Alex, Contenu Mental“ eingeführte umfängliche Collage, organisiert durch ein anaphorisch wiederholtes „Wie ist es“, enthält vier George-Verse sowie je zwei Zitate von Hugo von Hofmannsthal und von Hofmannsthals Vater, die in engem Zusammenhang mit StG stehen. Die einmontierten Zitate, der Romanfigur Alex W. Kraetschmar zugeschrieben, nutzen vor allem die homoerotischen Konnotationen der George-Prätexte für die poetische Konzeption einer gleichgeschlechtlichen Liebe.283 Mit der Jahrtausendwende häuften sich in der zeitgenössischen Lyrik Anleihen bei StG. Das Bekenntnis zu Form und Tradition, aber auch zur unbürgerlichen Homophilie ist bei den postmodernen Lyrikern kaum noch verpönt. So nutzt der Lyriker Christian Filips etwa StG buchstäblich als Medium für seine Dichtung. Seine Vier 279 Konstantin Wecker, Schlendern, in: Ders., Schon Schweigen ist Betrug. Die kompletten Liedtexte, Vorw. v. Dieter Hildebrandt, Heidelberg 2005, S. 368–370, hier: 368. 280 Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen, Nördlingen 1985, S. 26. 281 Vgl. Wolfgang Braungart, Deutschlandbilder in Botho Strauß’ Drama ,Schlußchor‘ (1991), in: The German Quarterly 78/2005, S. 92–102, hier: 92. Zu Botho Strauß und StG vgl. Thomas Oberender, Die Wiedererrichtung des Himmels. Die ,Wende‘ in den Texten Botho Strauß’, in: Text und Kritik 81/1998, S. 76–99, hier: 81. 282 Botho Strauß, Schlußchor, München 1991, S. 94. 283 Vgl. Marita Keilson-Lauritz, „Durch die goldene Harfe gelispelt“. Zur George-Rezeption bei Hubert Fichte, in: Forum Homosexualität und Literatur 2/1987, S. 27–51. Auch die Figur Irma in Fichtes Hotel Garni bekennt sich zu StG: „George habe ich gelesen. ,Wer je die Flamme umschritt, bleibe der Flamme Trabant‘. Das fand ich enorm“; Hubert Fichte, Hotel Garni. Die Geschichte der Empfindlichkeit, Bd. 1, hrsg. v. Gisela Lindemann u. Torsten Teichert, Frankfurt/M. 1987, S. 143.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Gesänge durch Stefan George adaptieren neben Kleinschreibung und Reimen die antonomastische Rede und den hohen Ton StGs.284 In Verbindung mit wenigen ,harten Fügungen‘ in den Versen einer unzeitgemäßen Lexik auratisiert sich auf diese Weise das postmoderne Sprechen selbst. Filips’ Schlussgesang „Kadenz“, datiert „Februar 1999, Brüssel“, liest sich wie eine Antwort auf den Schluss von StGs „Nietzsche“ in den Zeitgedichten des Siebenten Rings, der folgenden Wortlaut hat: Und wenn die strenge und gequälte stimme Dann wie ein loblied tönt in blaue nacht Und helle flut – so klagt: sie hätte singen Nicht reden sollen diese neue seele! (VI/VII, 13)

Bei Filips mündet der Besuch eines Grabes in die Einsicht der Mitteillosigkeit, die in eine rhetorische Frage gekleidet wird: aus dem verwachsnen baum über dem beschneiten grab klingt es nicht. und wie kann singen wer nicht sprechen mag?285

Neben diesem archaisierend-modernisierenden Dialog hat Filips StGs Begegnung mit Maximin einer poetischen Revision unterzogen. In Form eines fast ungegliederten, atemlos-rhythmisierten Prosagedichts wird StGs Zwiespalt zwischen sinnlicher Liebe und poetischem Gottesdienst reaktualisiert: […] die gottheit gibt dir, wo sie nimmt und gibt nur keuschheit weil der gott nun mal noch nicht zum beischlaf taugt so wird ihm sprache nur als opfer dargebracht damit umrahmt von sinnlichkeit den anblick er begreifen obgleich nicht kosten darf so wart er bis er künde: dass er innig ihn begehre dass jeder tag im rausch für ihn die sünde und ihm die ehre schwindet in kadavern da das verlangen kommt denn sündhaft scheint dem dichter nur verlangenlos zu sein darum will aus der preisung er im kopf ein preisen auch mit anderem bereiten das ihm viel leichter fassbar wenn er sagt dass er so gern empfange nun ein bild aus ihm und sich das er mit freuden schreit […] mir sind nicht freunde wert. Ich liebe götter.286

Gerhard Falkner hat sich in seiner Lyrik und seinen metapoetischen Reflexionen zu einer gegenwartskritischen Formtradition bekannt. So variiert er in den Gedichten „in trüben gärten drehn sich leis die schatten“ oder „wir schwänzen heut die rosen“ wohl StGs Garten-Gedichte.287 In der Hölderlinreparatur hat er in der Gedichtgruppe

284 Christian Filips, Vier Gesänge: durch Stefan George (Geret Luhr zugeeignet), in: Annäherungen. Rheinland-pfälzisches Jahrbuch für Literatur 7/2000, S. 186–187. 285 Ders., IV kadenz, in: ebd., S. 187. 286 Ders., In München, 1903. St. Maximin, in: ebd., S. 188. 287 Gerhard Falkner, in trüben gärten drehn sich leis die schatten, in: Ders., So beginnen am körper die tage. Gedichte und aufzeichnungen aus einem kalten vierteljahr, Darmstadt, Neuwied 1981, S. 56 (wieder in: Ders., X-te Person Einzahl. Gedichte, Frankfurt/M. 1996, S. 54); Gerhard Falkner, wir schwänzen heut die rosen, in: Ders., Der atem unter der erde. Gedichte, Darmstadt, Neuwied 1984, S. 88, variiert sicher StGs Gedicht „Wir werden heute nicht zum garten gehen“ (IV, 20) aus dem Jahr der Seele, wie das gleiche Thema und das Spiel mit der Opposition ,drinnen vs. draußen‘ zeigt.

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„Reklamationen“ seine poetischen Vorbilder in einem katalogartigen Gedicht mit dem Titel „Hermetische Dichtung“ gewürdigt. Während der „na, wer wohl“, der den zehn Strophen/Dichtern als elfter folgt, ein Selbstbekenntnis sein dürfte, ist die erste Strophe StG gewidmet:288 UN-genehmigtes Metallfass mit Deckel und hermetischer Dichtung für den Transport. Fassungsvermögen 30–220 Liter Stefan george

Neben der Kleinschreibung verbindet Falkner mit StG die Hölderlin-Verehrung. In seinen Reflexionen Über den Unwert des Gedichts preist er das „Unaussprechliche, das vom Gedicht und dann wieder von der Entgegnung aufgeworfen wird“. Als Beispiel führt er die „erst 1914 erstmals gedruckten späten Hymnen Hölderlins“ an, die Norbert von Hellingrath, ein Jünger StGs, in den BfdK veröffentlicht hat.289 Dieser Konnex ist Falkner durchaus bewusst, wie das Ende der Reflexion zeigt: Das Unaussprechliche „wirkt wie ein Botenstoff (Transmitter) zwischen Subjekt und Objekt und warnt, wie George es milde ausgedrückt hat: ,Nur durch den Zauber bleibt das Leben wach‘“.290 Mit dem Schlussvers aus StGs Dialoggedicht „Der Mensch und der Drud“ (IX, 53–56), eine verdeckte Hommage, beglaubigt Falkner somit seine poetologische Überlegung. So repräsentiert StG eine wichtige Stimme in Falkners „aleatorischer Polyphonie“, zu der er sich als poetisches Programm bekennt.291 Zu den wichtigsten Stimmen der postmodernen Lyrik, die sich an StG abarbeiteten, zählt der in Bingen geborene und im Jahr 2005 gestorbene Thomas Kling. Als gelehrter Performancekünstler hat er sich selbst immer wieder in ,Sprachinstallationen‘ mit StG auseinandergesetzt und Leben und Werk des Dichters nicht getrennt.292 In seiner eigenwilligen, phonetisch orientierten Orthographie und durchgängiger Kleinschreibung zeigt sich schon äußerlich eine Orientierung an StG. In dem Gedicht „trestern“ aus dem lyrischen Zyklus mittel rhein (1993) setzt sich Kling auch inhaltlich mit StG auseinander, indem er ihn „winzersprachlich“ an die rheinhessische Heimat „b.“ (für Bingen) zurückbindet: […] federkeil der in di brühe sticht, stümmelzeilen, satzwingert ausm kopfwingert zu erzeugn, hierbei zusammengerolltes brechlaub, ausbrechlaub am wickel: george, winzersprachlich gepantscht, wi er sommers b. 288 Gerhard Falkner, Hermetische Dichtung, in: Ders., Hölderlinreparatur. Gedichte, Berlin 2008, S. 27. 289 Ders., Über den Unwert des Gedichts, Berlin 1993, S. 86. 290 Ebd. 291 Ders., Endogene Gedichte. Grundbuch, Köln 2000, S. 118. 292 Vgl. dazu die frühe Einordnung von Norbert Hummelt zu den George-Bezügen: Norbert Hummelt, Kleiner Grenzverkehr. Thomas Kling als Dichter des Rheinlands, in: Thomas Kling, München 2000 (Text und Kritik 147), S. 24–37, bes. 34f. Den Zusammenhang von Klings und Hummelts George-Rezeption streift Michael Braun, Im verzauberten Gehau. Neun Vignetten zu Stefan George, in: Zeitschrift für Literatur 48/2008, S. 151–156, hier: 152.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

verlässt, um am lago maggiore zu erfrieren. […]293

In dem rhapsodischen Essay Stefan George Update (2001) hat Kling in unverkennbar identifikatorischer Manier StG erneut auf die rheinhessische Sprachlandschaft zurückbezogen, aber auch dessen zeitgemäße Modernität betont: So zitiert er etwa StGs Satz: „die schönheit fordert wie alle grossen begriffe ihre opfer“ (XVII, 22) und übersetzt ihn als modernes Programm: „Das [!] steht es – Georges Programm; zu dem nicht zuletzt das der Jünger-Auswechselung (Opferproduktion) gehörte – der Künstler der Moderne als hart kalkulierender Personalpolitiker.“294 Ob Klings regionalisierende wie modernisierende Versetzungen wirklich neue Aspekte StGs zutage fördern, sei dahingestellt. Genauere Kenntnis von StGs Werk verrät Klings Düsseldorfer Vortrag Zum Gemäldegedicht, in dem er die „Abgrenzungsstrategien“ in StGs „Hexenreihen“ (VI/VII, 50–51) untersucht, während er in einer sprachspielerischen imaginären Variation Rudolf Borchardts „manischen Hass“ in rheinhessischem Sprachund Denkkolorit ironisch durchspielt.295 Norbert Hummelt (geb. 1962) hat sich in seinen Gedichten immer wieder um einen Dialog mit der neuklassischen Tradition bemüht. Er hat von StG nicht nur die Kleinschreibung geborgt: Nicht erst seit den Knackigen Codes (1993) gehört StG zu den Stimmen, die er collagehaft – wie im Eingangsvers der „Sibirischen Wallfahrt“ – verarbeitet: „,griese fernsicht‘ waller im schnee“.296 Bereits in dem Gedicht „der eierdieb“ (1990) entwirft er eine imaginäre Wanderung „Im park mit einem totgesagten herrn“, wo der Begleiter „die bunten fade!“ rühmt, bevor der Schlussvers seine Identität preisgibt: „[…] und herr george nickte“.297 StGs programmatisches Gedicht „Komm in den totgesagten park und schau“ (IV, 12) parodiert Hummelt in einem isometrischen „kosmetischen Gedicht“: Verdeckungsgeste Komm vor den spiegel hier im bad und schau der dimmer schwärzlich glänzender pomade gepfuschter wimpern tusche, ganz genau verdeckt den blick, der augen remoulade dort nimm das flutende kajal, das passt zum blau des linken wie des rechten augs, schau schau der wangen trauriges gepuder, tanz den thomas, tanz den reinhard, wenn du kannz Verwisch auch dieses letzte rouge noch nicht den roten lippenstift, der glänzt beim reden 293 Thomas Kling, [7] Trestern, in: Ders., nacht. sicht. gerät. Gedichte, Frankfurt/M. 1993, S. 66. 294 Ders., Leuchtkasten Bingen. Stefan George Update, in: Ders., Botenstoffe, Köln 2001, S. 32–41, hier: 34. 295 Ders., Zum Gemäldegedicht. Düsseldorfer Vortrag, in: Ders., Auswertung der Flugdaten, Köln 2005, S. 107–122; ders., Bakchische Epiphanien III: Der fotogene, der schriftliche und der mündliche George, in: ebd., S. 65–68. 296 Vgl. Norbert Hummelt, Sibirische Wallfahrt, in: Ders., Knackige Codes, S. 31. 297 Ders., der eierdieb, in: Wortnetze II. Neue Gedichte deutschsprachiger Autor(inn)en, hrsg. v. Axel Kutsch, Bergheim 1990, S. 128.

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und was noch übrig ist – das ärgert jeden – verschwindet im kosmetischen gedicht.298

Hummelt ahmt nicht nur den imperativischen Redegestus des männlichen Parts nach, er imitiert sogar bis auf das eingeklammerte Reimpaar der Schlussstrophe alle Reime StGs. Nicht nur die Strophenanfänge, sondern auch Syntax und Lexik folgen dem Prätext, nur sind die herbstlichen Elemente der Natur gegen kosmetische Mittel vertauscht. Auslöser der parodistischen Hommage ist das rätselhafte Schlusswort „gesicht“ aus StGs Gedicht, das Hummelt ebenso konkretisiert wie das Wissen um die Vergänglichkeit der Schönheit. Die eigenartige Mischung von inhaltlicher Herabsetzung und formaler Artifizialität charakterisiert auch die George-Allusionen in den Zeichen im Schnee. So huldigt Hummelt in dem Gedicht „der meister“ einerseits einem heruntergekommenen Vertreter des modernen Prekariats, der in der dritten und letzten Strophe durch Titelzitate mit StG überblendet wird: Nur in der gegenwart des dunklen schäferhundes hielt er sich für den stern des bundes u. seine augen sahn den siebten ring.299

Die detrahierende Tendenz dieser Überblendung, die sich in der Vereinfachung von StGs Zahlwort zeigt (,siebter‘ statt ,siebenter‘), richtet sich aber mindestens ebenso gegen die zeitgenössische Gesellschaft, die einen ,meister‘ nicht mehr erkennt, sondern ihn ausgrenzt. Auch das strophisch nicht gegliederte Gedicht „das haus George“ ist eine Hommage an den Dichter. Das lyrische Ich assoziiert bei einer Rheinreise das Haus StGs in Bingen mit einer „seltene[n] schlange“, bis es erkennt, dass es das gesuchte Objekt längst verinnerlicht hat: „[…] ein haus liegt finster u. geschlossen da / ich habe die schlange schon in mir gefühlt“.300 Keine Parodie mehr ist Hummelts jüngstes Dichtergedicht auf StG: „wiege in bingen“ aus einem Gedichtband mit dem sprechenden Titel Totentanz (2007). Darin deutet Hummelt StGs Gedicht „Des sehers wort ist wenigen gemeinsam“ (IV, 51) zu einer poetischen Biographie des Dichters aus. Zwar bezeichnet Hummelt fast zynisch die Diskrepanz zwischen hoher Dichtersprache und imaginierten Kinderlauten, zugleich wird in der Montage der George-Zitate und einer eigenen prosaisch-biographistischen Gegenstimme, die korrigierend eingreift, der Versuch deutlich, das überlebensgroße Vorbild zu relativieren: Des sehers wort ist wenigen gemeinsam . . ziemlich wenigen, um genau zu sein. im dämmer liegt er nahezu allein, die mutter lässt ihn schreien u.

298 Ders., Verdeckungsgeste, in: Ders., Knackige Codes, S. 62. 299 Ders., der meister, in: Ders., Zeichen im Schnee. Gedichte, Hamburg 2001, S. 53. In dem poetologischen Gedicht „mein vogel mimikry“ parodiert Hummelt StGs „Meine weissen ara haben safrangelbe kronen“ (III, 78). Den Prätext markiert das Incipit („meinen roten ara kann ich / morgendlich besuchen“), doch ist Hummelts einzelner „ara“ ein künstlicher Vogel „vor der kaufhaustüre“, der gegen jede symbolistische Projektion gefeit ist, vielmehr das Ich auf sich selbst zurückwirft: „[…] mein roter ara aber / imitiert mich nie / bin ja / mein eigner vogel mimikry“ (ebd., S. 55). Hummelt ist durchaus ein George-Kenner, wie sein Radio-Feature „,Wenn ich heut nicht deinen leib berühre‘. Annäherung an Stefan George“ im Südwestrundfunk vom 2.11.2003 beweist (Typoskript im DLA Marbach). 300 Ders., das haus george, in: Ders., Stille Quellen. Gedichte, München 2004, S. 49.

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zwar ungerührt. vom wort zu sprechen wäre auch verfrüht, es ist noch gänzlich unartikuliertes u. bis zum einwortsatz ein weiter weg. […] […] schon als die ersten kühnen wünsche kamen, nach einer dauerhaft gewährten brust, im strampelanzug, erfand er für die dinge eigne namen, Die allerdings nicht überliefert sind. u. schaukelt schläfrig wie es wespen tun, im mittagslied. […]301

In der sechsten Strophe vermischen sich StGs Stimme und die kritische Gegenstimme untrennbar. Denn zitiert wird, ohne wie die übrigen Zitate durch Kursivierung gekennzeichnet zu sein, ein Vers aus StGs poetischem Kindheitstraum „Juli-Schwermut“ (V, 67): „Schläfrig schaukelten wespen im mittagslied“. Indem Zitat und Kritik sich so überblenden, wird das lyrische Porträt zum doppelten Selbstporträt, das Hummelt und StG gemeinsam präsentiert. Zu den wichtigeren Gegenwartslyrikern, die sich zu StG als Vorbild bekennen, zählen neben Kling und Hummelt auch Uwe Kolbe und Thomas Böhme. Kolbe sucht in seinem Lyrikband Heimliche Feste offen Allianzen mit dem George-Kreis und heutigen Georgianern. So nimmt er in seinem Widmungsgedicht an Wolfgang Graf Vitzthum „distanzlos Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen des Kreises auf“.302 Ernsthafter ist Böhmes George-Rezeption. Nicht nur hat er eine Auswahl von Gedichten StGs zusammengestellt und in seinem Nachwort „Georges Verdienst um eine Entschlackung und Verjüngung lyrischen Sprechens“ gewürdigt,303 er hatte schon vorher als Lyriker die Kleinschreibung übernommen und neben einer modernisierenden Kombination von Erlkönig und Algabal einen eigenartigen Interlinearkommentar zu StGs „Rhein: V“-Gedicht (VI/VII, 175) geliefert:304 vermischung stefan george: rhein V das kann nicht sein · dass ich den rhein besinge dies ist das land: solang die fluren strotzen bin ich inmitten der voyeur der sieben ringe von korn und obst · am hügel trauben schwellen als ob man straffrei durch verbotner kindheit ginge und solche türme in die wolken trotzen – dass man sich leicht den schönsten falken finge rosen und flieder aus gemäuer quellen – und stürzt doch selbst mit abgebrochner klinge.

Die kursiv gedruckten Verse geben den fünften Teil von StGs „Rhein“-Zyklus wieder, die recte gedruckten Zeilen im gleichbleibenden Reim stammen von Böhme. Sie zei301 Ders., wiege in bingen, in: Ders., Totentanz. Gedichte, München 2007, S. 75f. 302 Vgl. Sandra Richter, Der Beat muss stimmen [Rez. von Uwe Kolbe, ,Heimliche Feste‘], in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 212 v. 10.9.2008, S. 34. 303 Stefan George, Gedichte, ausgewählt v. Thomas Böhme, Berlin 1992, S. 48. Vgl. die überblickshafte Würdigung von Horst Nalewski, Lebendiger George. Zu den George-Gedichten von Thomas Böhme, in: Neue Beiträge zur George-Forschung 15/1990, S. 32f. 304 Thomas Böhme, Stoff der piloten, Berlin, Weimar 1988, S. 26, 109.

1. Poetische Rezeption

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gen und verbürgen die Inspiration, die er StG verdankt. Noch deutlicher wird das Verfahren einer George-Inspiration in dem prosimetrischen Stück Elagabal (5). Letzte Einübung. Darin beschreibt ein moderner Ich-Erzähler, wie er sich in Rom mit der Figur Elagabal auseinandersetzt: „das licht von draußen reicht aus, um ein paar verse abzutippen. das licht elagabals überstrahlt das jahrtausend. wenn ich sie hinschreibe, wird mir leichter sein.“305 Auch wenn StG und der Algabal-Zyklus ungenannt bleiben, verraten die Apostrophen, in denen sich der Erzähler mit Elagabal, „eine[r] schaurigschönen blume des symbolismus“ ins Benehmen setzt, deutlich den Prätext. Die abschließende lyrische Hommage des Ich-Erzählers an „den zwittrigen schmetterling“ spielt auf die „Aufschrift dem Gedächtnis Ludwigs des Zweiten“ an, die StG seinem Algabal vorangestellt hat. Heißt es dort: „nun ruft ein heil dir übers grab hinaus algabal / dein jüngrer bruder o verhöhnter dulderkönig“ – so widerrufen die letzten depeschen jegliche Wahlverwandtschaft in einer Zitatcollage der „Aufschrift“ und des freiwilligen Selbstmords von Algabals Diener, der den Kaiser beim Taubernfüttern stört: „wer jetzt noch dein heil ruft / stürze sich besser selber ins messer […]“.306 Die postmoderne Rezeption StGs nach 1970 ist von einem zunehmend unbelasteten Verhältnis zu dem Dichter und seinem Werk geprägt. Neben dem Vorläufer homoerotischer Dichtung schätzt man StG gerade wegen des hohen Stils und wegen seines kompromisslosen Ringens um das Wort als antibürgerlichen Künstler. Neben retrospektiven Hommagen wird seine Dichtung unvoreingenommen neu ,verwertet‘ in intertextuellen Gebilden und postmodernen Collagen. Man darf gespannt darauf sein, wie sich die poetische Rezeption weiter entwickeln wird, wenn StGs polarisierende Wirkung abnimmt. Literatur Aurnhammer, Achim, Verehrung, Parodie, Ablehnung. Das Verhältnis der Berliner Frühexpressionisten zu Hofmannsthal und der Wiener Moderne, in: Cahiers d’Etudes Germaniques 24/1993, S. 29–50. Ders., Inszenierungen der Moderne im Traditionsbruch: Die lyrischen Anfänge von Benn und Brecht, in: Gottfried Benn – Bertolt Brecht: Das Janusgesicht der Moderne, hrsg. v. Achim Aurnhammer, Werner Frick u. Günter Saße, Würzburg 2009, S. 49–70. Baumann, Günter, Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Würzburg 1995. Ders., Wolfgang Frommel und Die Runde (1931–43). Betrachtungen zu einem national-humanistischen Verlag, in: Philobiblon 40/1996, S. 215–235. Die Schriften des Neuen Clubs 1908–1914, 2 Bde., mit e. Nachw. hrsg. v. Richard Sheppard, Hildesheim 1980. Durzak, Manfred, Nachwirkungen Stefan Georges im Expressionismus, in: Ders., Zwischen Symbolismus und Expressionismus: Stefan George, Stuttgart 1974, S. 107–153 (zuerst in: German Quarterly 42/1969, S. 393–417).

305 Ders., Elagabal (5). Letzte Einübung, in: Poetische Hefte 3: Sonderheft Stefan George, Berlin 2003, S. 80–83. 306 Ebd., S. 83 („letzte depeschen“).

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Eschenbach, Gunilla, Nachahmung als Programm. Poetik und Lyrik der Imitatio im George-Kreis, Berlin 2011. Fechner, Jörg-Ulrich (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“. Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der ,Blätter für die Kunst‘ 1890–1898, Heidelberg 1998. Frommel, Wolfgang (Hrsg.), Huldigung. Gedichte einer Runde, Berlin 1931. Gan, Peter, Gesammelte Werke, 3 Bde., hrsg. v. Friedhelm Kemp, Göttingen 1997. Gier, Helmut, Die Entstehung des deutschen Expressionismus und die antisymbolistische Reaktion in Frankreich. Die literarische Entwicklung Ernst Stadlers, München 1977. Haas, Willy (Hrsg.), Stefan Georges Stellung im deutschen Geistesleben. Eine Reihe autobiographischer Notizen, in: Die Literarische Welt [I] v. 13.7.1928 u. [II] 20.7.1928. Heintz, Günter, Stefan George. Studien zu seiner künstlerischen Wirkung, Stuttgart 1986. Heym, Georg, Dichtungen und Schriften, hrsg. v. Karl Ludwig Schneider, München 1960–1968. Hildesheimer, Wolfgang, Vermischte Schriften, hrsg. v. Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle, Frankfurt/M. 1991 (Gesammelte Werke 7). Hofmannsthal, Hugo von, Gedichte 2, hrsg. v. Andreas Thomasberger u. Eugene Weber, Frankfurt/M. 1988 (Sämtliche Werke 2). Hubert, Sigrid, George-Parodien. Untersuchungen zu Gegenformen literarischer Produktion und Rezeption, Trier 1981 (Microfiche-Ed.). Hummelt, Norbert, Knackige Codes. Gedichte, mit Zeichnungen von Angelika John, Berlin 1993. Klettenhammer, Sieglinde, Stefan George und seine ,Jünger‘ in der Provinz. Das Verhältnis der ,Brenner‘-Gruppe zum George-Kreis, in: GJb 3/2000/2001, S. 76–118. Petrow, Michael, Der Dichter als Führer? Zur Wirkung Stefan Georges im ,Dritten Reich‘, Marburg 1995. Pommer, Frank U., Variationen über das Scheitern des Menschen. Reinhard Goerings Werk und Leben, Frankfurt/M. u. a. 1996. Reinthal, Angela, „Wo Himmel und Kurfürstendamm sich berühren“. Studien und Quellen zu Ernst Blass, Oldenburg 2000. Rotermund, Erwin, George-Parodien, in: Stefan-George-Kolloquium 1968, hrsg. v. Eckhard Heftrich, Köln 1971, S. 213–225. Schaeffer, Albrecht / Strauß, Ludwig, Die Opfer des Kaisers. Kremserfahrten und die Abgesänge der hallenden Korridore. Mit einer Nachrede, Leipzig 1918. Stadler, Ernst, Dichtungen, Schriften, Briefe. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Klaus Hurlebusch u. Karl Ludwig Schneider, München 1983. Vilain, Robert, The Poetry of Hugo von Hofmannsthal and French Symbolism, Oxford, New York 2000. Voit, Friedrich, Karl Wolfskehl – Leben und Werk im Exil, Göttingen 2005. Winkler, Michael, Benn’s Cancer Ward and George’s Autumnal Park: A Case of Lyrical „Kontrafaktur“, in: Colloquia Germanica 13/1980, S. 258–264. Würffel, Bodo, Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978. Wuthenow, Ralph-Rainer (Hrsg.), Stefan George und die Nachwelt. Dokumente zur Wirkungsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1981. Achim Aurnhammer

2.

Übersetzerische Rezeption

Übersetzen war für StG wesentlich. Bereits der zweite Band der ersten Folge der BfdK (1892/93) brachte Übertragungen aus zeitgenössischen symbolistischen Dichtern, auf welche StGs Baudelaire-Umdichtungen folgten. Sie begleiteten die BfdK bis zur sechsten Folge (1902/03), um schließlich den Dante- und Shakespeare-Übertragungen zu weichen. StGs Poetik ist ohne eine solch unablässige Übersetzungsarbeit nicht zu denken. ,Umdichten‘ stellte für StG keine Nebentätigkeit seines Dichtens dar. Seine gesamte Poetik drehte sich vielmehr um die Kategorien der ,Übertragung‘ und ,Aneignung‘. Der Umweg über das Fremde, die Übersetzung, um zum Eigenen zu gelangen – dies ist nicht nur für StG, sondern für die gesamte symbolistische Generation symptomatisch. Man denke nur an Baudelaires und Mallarme´s Poe-Versionen, an Rossettis Dante-Übertragungen sowie an Rilke, der ein eindrucksvolles Übersetzungscorpus hinterlassen hat. Diese Affinität zur Übersetzung ist mit dem Kosmopolitismus der symbolistischen Dichtergeneration eng verbunden und wird erst nachvollziehbar, wenn man die Neudefinition der Dichotomie von ,vertraut‘ und ,fremd‘ bedenkt, die für die Symbolisten charakteristisch ist. So hält Carl August Klein, als Sprachrohr StGs, im Aufsatz Über Stefan George, eine neue kunst den Kritikern von StGs Orientierung an den romanischen Sprachen mit Rückgriff auf ein Diktum Goethes die Beobachtung entgegen, dass es in Wirklichkeit die angeblich „vertraute“ Muttersprache ist, die für den Dichter „fremd“ geworden ist – weil sie durch Epigonentum und Journalismus inzwischen zu einem Sammelsurium banaler Floskeln erstarrt sei.1 Als vertraut erscheint dem Dichter hingegen die Fremdsprache, welche aufgrund ihrer Fremdheit noch eine poetische Dimension, „einen mystischen beiwert“ besitzt.2 Im Folgenden soll die übersetzerische Verfremdung eines Werkes rekonstruiert werden, das selbst die Differenz von ,eigen‘ und ,fremd‘ infrage stellt und bereits von 1 Das von Klein angeführte Zitat Goethes stammt aus der Aphorismensammlung Deutsche Sprache: „Leider bedenkt man nicht, daß man in seiner Muttersprache oft eben so dichtet, als wenn es eine fremde wäre. Dieses ist aber also zu verstehen: wenn eine gewisse Epoche hindurch in einer Sprache viel geschrieben und in derselben von vorzüglichen Talenten der lebendig vorhandene Kreis menschlicher Gefühle und Schicksale durchgearbeitet worden, so ist der Zeitgehalt erschöpft und die Sprache zugleich, so daß nun jedes mäßige Talent sich der vorliegenden Ausdrücke als gegebener Phrasen mit Bequemlichkeit bedienen kann.“ Goethes Werke. Literatur. Beiträge zum Morgenblatt für Gebildete Stände 1807–16. Über Kunst und Althertum. Mitteilungen im 1. bis 3. Bande 1816–1822, hrsg. im Auftr. d. Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1999 (unveränderter Nachdr. der Ausg. Weimar 1902, Sophien-Ausg. 46 = 1,41,1), S. 113. 2 So heißt es in einer frühen Aufzeichnung StGs: „In einer fremden sprache versteht man die klänge nur schwer. das wort hat noch einen mystischen beiwert den nur der begreift der von jugend auf mit der sprache umging“, zit. nach Ute Oelmann, Notizen Stefan Georges zu Literatur und Kunst, in: GJb 1/1996/1997, S. 153–170, hier: 153.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

den Zeitgenossen als in hohem Maße ,undeutsch‘ empfunden wurde.3 Ein bereits in sich offenes Werk öffnet sich somit ein zweites Mal, indem es zum Gegenstand fremder Transkriptionen und Neuschreibungen wird. Die Versionen von StGs Werk in fremden Sprachen scheinen daher mehr zu sein als eine exotische quantite´ ne´gligeable oder ein philologisches Kuriosum. Auch hieße es, sie misszuverstehen, betrachtete man sie als Dokumente der siegreichen Wirkungsgeschichte eines deutschen Nationalautors im Ausland. Vielmehr bilden sie den Fluchtpunkt eines bereits in sich ,fremden‘ Werkes, das in seiner kosmopolitischen Textur die Konzeption von ,Nationalliteratur‘ hinter sich lässt. Die Rezeption von StGs Werken in fremden Sprachen ist schon relativ gut erschlossen. Die Übersetzungen in die europäischen Sprachen, abgesehen von den slawischen, sind bis 1973 von Georg Peter Landmann gesammelt worden, während Egor G. Kostetzky alle Übersetzungen in slawische Sprachen bis 1971 für das Ukrainische bzw. 1973 für die anderen slawischen Sprachen dokumentiert hat. Die bis 1973 erschienenen Versionen ins Japanische wurden ebenfalls von Georg Peter Landmann im Autorenregister seines Sammelwerkes verzeichnet.4 Ziel der folgenden Ausführungen ist es, die übersetzerische George-Rezeption skizzenhaft zu kartieren.5

2.1.

Germanische Sprachen

Englisch Daisy Broicher, die StG persönlich kannte, verdankt man die frühesten Versionen ins Englische, die 1902 entstanden und die StG dem anglo-französischen Dichter Stuart Merrill zur Begutachtung vorlegte.6 Broicher vernachlässigte das Frühwerk gänzlich 3 StGs zahlreiche Anomalien in Grammatik, Wortbildung und Syntax haben bereits die Zeitgenossen zur Behauptung veranlasst, er gebrauche die deutsche Sprache wie eine Fremdsprache. Am heftigsten hat den ,undeutschen‘ Charakter von StGs Lyrik Rudolf Borchardt gerügt: „Wo findet sich ein zweites Mal der Klassiker einer Nation, der in seinem siebenten großen Werke [dem Siebenten Ring] die Gesetze seiner Sprache noch nicht beherrscht, der Grammatik so wenig sicher ist wie des Geschmackes und dennoch eine neue Epoche eben dieser Sprache, eine neue Wendung des Geschmackes gigantisch erzwungen zu haben und zu erhalten sich rühmen darf?“, Rudolf Borchardt, Stefan Georges ,Siebenter Ring‘ (1909), in: Ders., Prosa I, hrsg. v. Marie Luise Borchardt, Stuttgart 1992, S. 258–294, hier: 259. 4 Über die neuesten Übertragungen informiert die ständig aktualisierte online-Bibliographie des Stefan George Archivs in Stuttgart. 5 Bei der Beurteilung der Übersetzungen lasse ich mich von der Kategorie der ,Äquivalenz‘ leiten. Dazu: Katharina Reiss, Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik. Kategorien und Kriterien für eine sachgerechte Beurteilung von Übersetzungen, München 1971, S. 53. Gemeint ist damit eine Entsprechung sowohl auf inhaltlicher als auch formaler Ebene. Gerade für die Beurteilung dichterischer Übersetzungen ist die Transposition nicht nur der Semantik, sondern auch der formalen Valeurs des Urtextes von entscheidender Bedeutung. ,Äquivalenz‘ bleibt freilich ein Ideal, das nie vollkommen eingelöst werden kann und deshalb nur Richtwert besitzt. Für einen Überblick über die Übersetzungsforschung, -theorie und -geschichte vgl. Friedmar Apel/Annette Kopetzki, Literarische Übersetzung, 2. Aufl., Stuttgart 2003. 6 Daisy Broicher, German Lyrists of To-day. A Selection of Lyrics from Contemporary German Poetry done into English Verse, London 1909. Übertragen wurden folgende Gedichte: „Komm in

2. Übersetzerische Rezeption

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und konzentrierte sich stattdessen auf Das Jahr der Seele, den Teppich des Lebens und den Siebenten Ring: Ihre gereimten Übertragungen intensivieren durch Assonanzen und Alliterationen die Musikalität der Texte erheblich, gehen jedoch mit der Semantik ziemlich frei um. So übersetzt Broicher die letzte Strophe von „Komm in den totgesagten park und schau“ (IV, 12) wie folgt: These farewell asters, place them so to shine, And what the summer’s sun has left to you, Of living green, oh wind it lightly through The purple vine in autumn day’s decline.7

Vergiss auch diese lezten astern nicht · Den purpur um die ranken wilder reben Und auch was übrig blieb von grünem leben Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.

Broicher erhöht somit die musikalische Textur des Originals, fügt aber neue Elemente hinzu („the summer’s sun“) und entfernt sich stark vom Wortlaut des Originals – das „herbstliche gesicht“ wird aus Alliterationsgründen zu „day’s decline“. Auch die formale Wiedergabe ist nicht immer äquivalent.8 Die Lexik ist weniger gesucht und weniger altertümlich als im Original.9 Als besonders kongenial erweisen sich hingegen die Versionen von Cyril Meir Scott, Komponist und Freund StGs: Die frühesten entstanden gleichzeitig mit Broichers Übertragungen 1902 und erschienen 1910, weitere folgten 1915 und 1959.10 In Scotts Nachlass fand sich außerdem eine reiche Sammlung, die Landmann postum publiden totgesagten park und schau“ (IV, 12), „Die steine die in meiner strasse staken“ (IV, 24), „Trauervolle nacht“ (IV, 96), „Ich weiss du trittst zu mir ins haus“ (IV, 98), „Nicht ist weise bis zur lezten frist“ (IV, 100), „Mir ist kein weg zu steil zu weit“ (IV, 102), „Geführt vom sang der leis sich schlang“ (IV, 104), „Langsame stunden überm fluss“ (IV, 106), „Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten“ (IV, 107), „Ob schwerer nebel in den wäldern hängt“ (IV, 110), „Ich forschte bleichen eifers nach dem horte“ (V, 10), „In meinem leben rannen schlimme tage“ (V, 12), „Solang noch farbenrauch den berg verklärte“ (V, 30), „Der Teppich“ (V, 36), „Die Fremde“ (V, 40), „Schmerzbrüder“ (V, 46), „Standbilder · Das Sechste“ (V, 58), „Der Schleier · Das Siebente“ (V, 59), „Tag-Gesang I“ (V, 79), „Tag-Gesang III“ (V, 81), „Leo XIII“ (VI/VII, 20–21), „Der Spiegel“ (VI/VII, 75), „Litanei“ (VI/VII, 129), „Dies ist ein lied“ (VI/VII, 136), „Im windesweben“ (VI/VII, 137), „Kreuz der strasse . .“ (VI/VII, 141), „Mein kind kam heim“ (VI/VII, 143), „Fenster wo ich einst mit dir“ (VI/VII, 151), „Wenn ich auf deiner brücke steh“ (VI/VII, 155), „Breit’ in der stille den geist“ (VIII, 50). Im StGA als Manuskript aufbewahrt und vielleicht ohne letzte Durchsicht sind folgende Übertragungen: „Jahrestag“ (III, 11), „Der Einsiedel“ (III, 55), „Als neuling trat ich ein in dein gehege“ (III, 84), „Mit frohem grauen haben wir im späten“ (IV, 26), „Bei seiner reise mittag bald zurück“ (IV, 56), „Die du ein glück vermehrst auch nicht es teilend“ (IV, 70), „Keins wie dein feines ohr“ (IV, 101), „Willst du noch länger auf den kahlen böden“ (IV, 118), „Nacht-Gesang I“ (V, 82). 7 Landmann, George in fremden Sprachen, S. 170, Verse 9–12 (Herv. d. Verf.). 8 So werden die weiblichen Reime des genannten Gedichtes nur in der Anfangs-, nicht in der Endstrophe beibehalten, d. h. „gestade“ / „pfade“ hat in „glowing“ / „throwing“ seine Entsprechung, aber der weibliche Reim „reben“ / „leben“ geht als „you“ / „through“ bei Broicher verloren. 9 So findet Broicher in ihrer Übertragung des Gedichtes „Der Teppich“ (V, 36) für den altertümlichen Stil keine Entsprechung. Das altertümliche ,gewohn‘ übersetzt sie einfach mit „accustomed“ und das archaisierende ,Sinnen‘ mit Akkusativobjekt als „ponder on“, Landmann, George in fremden Sprachen, S. 289, Vers 14. 10 47 Übersetzungen, von denen die frühesten aus der Zeit um 1902 stammen, erschienen in dem Band: Stefan George. Selection from his Works, übers. v. Cyril Scott, London 1910. Daraufhin erschienen einige wenige ausgewählte Übertragungen in: The Celestial Aftermath, London 1915, und in der Zeitschrift German Life and Letters 12/1959.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

zierte.11 Das von Scott übersetzte Corpus ist beträchtlich und umfasst fast das gesamte Spektrum von StGs Werk, mit besonderer Berücksichtigung des Siebenten Rings, des Sterns des Bundes und des Jahrs der Seele. Scott konzentrierte sich weniger auf die weltanschaulichen als die ,musikalischen‘ Texte, deren Wohlklang er intensivierte. Im Unterschied zu Broicher erkaufte er aber die Euphonie nur selten durch semantische Forcierungen. Vielmehr imponieren Scotts Nachdichtungen gerade durch ihre Vermittlung von klanglicher Eleganz und Treue zum Original. Auch in den formalen Valeurs ist Scott enger am Original als Broicher. So behält Scott in seiner Übersetzung von „Komm in den totgesagten park und schau“ (IV, 12) durch die Reimpaare „shimmer“ / „glimmer“ in der ersten und „twining“ / „combining“ in der letzten Strophe die weiblichen Reime des Originals bei: Come to the dead-reputed park, and view On yonder smiling banks the gentle shimmer, How ‘neath the rifted clouds’ unhoped-for blue, The ponds and motley pathways brightly glimmer.

Komm in den totgesagten park und schau: Der schimmer ferner lächelnder gestade · Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die weiher und die bunten pfade.

There take the deep’ning gold, the tender greys From birches and from box: a mild wind strays. The last few roses have not withered yet, So kiss then weave them for a coronet.

Dort nimm das tiefe gelb · das weiche grau Von birken und von buchs · der wind ist lau · Die späten rosen welkten noch nicht ganz · Erlese küsse sie und flicht den kranz ·

Forget not these late asters to include, The crimson leaves amongst the tendrils twining, And all the rests of verdant life combining, Resolve them in the soft autumnal mood.12

Vergiss auch diese lezten astern nicht · Den purpur um die ranken wilder reben Und auch was übrig blieb von grünem leben Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.

Zudem bedient sich Scott eines altertümlichen Stils, der sich durch StGs Vorliebe für Archaismen legitimiert.13 Allerdings muten seine Verse zuweilen polierter und harmonischer als die Originaltexte an.14 In den 30er-Jahren entstanden die Nachdichtungen R. J. A. Jacksons15 sowie Richard F. C. Hulls, der den Stern des Bundes (The Star of the Covenant) vollständig übersetzte.16 Einen eher glossierenden Charakter besitzen die Versionen des George-Schülers Ernst Morwitz. Bereits 1943 legte er eine Auswahl von hundert Gedichten vor, die er zusammen mit der amerikanischen Germanistin Carol North Valhope (d. i. 11 Vgl. Landmann, George in fremden Sprachen, S. 678–754. 12 Ebd., S. 692. 13 Als Beispiel dafür sei auf Scotts Übersetzung des „Verworfenen“ (V, 49) hingewiesen: „And threw them midst [poetisch für ,amidst‘] the riotous purblind throng / That swelled more as the price of your elation … / […] Thus did you come bedeckt, yes, but unhallowed, / And sans a wreath to Life’s great Festival!“ (Herv. d. Verf.), Landmann, George in fremden Sprachen, S. 709, Verse 10f., 15f. 14 Dazu F. K. Richter, Stefan George: Poems [Rez.], in: The German Quarterly 17/1944, 1, S. 52: „He chose rather the most beautiful of George’s lines, those in which color and sound prevail, but neglected the lines in which the poet sets forth his new philosophy. Scott’s selection was subjective; he put his own musical feelings into George’s verses and created lines which appear at times more pleasant and rhythmical than the original ones.“ 15 Jacksons Übertragungen befinden sich als Ms. im StGA. 16 Vgl. Landmann, George in fremden Sprachen, S. 474–505. Hulls Übersetzung ist ebenfalls als Ms. im StGA aufbewahrt.

2. Übersetzerische Rezeption

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Olga Marx) herausgab.17 Das Projekt trat mit dem Anspruch eines Kommentars auf. 1949 folgte die englische Übersetzung des Gesamtwerkes (mit Ausschluss der Juvenilia und der Prosagedichte), die Morwitz erneut mit Carol North Valhope vorlegte, die nun als Olga Marx firmierte.18 Auch in diesem Fall dominiert der Kommentarcharakter und – trotz der angestrebten Wiedergabe von Metrum und Rhythmus – wird eher der Semantik als der Form die Treue gehalten.19 Dennoch ist das von Morwitz und Marx vorgelegte Übersetzungswerk gerade in seinem allumfassenden Charakter einzigartig und hat in den anderen Sprachen – außer dem Japanischen – kein Äquivalent. Ende der 50er-Jahre übertrug der Germanist Ulrich K. Goldsmith im Rahmen seiner George-Monographie einige Gedichte aus dem Frühwerk20 und ließ 1970 weitere Versionen folgen.21 In den 60er-Jahren erschien Wallace Kaufmans Nachdichtung vom zweiten Buch des Sterns des Bundes,22 und Anfang der 70er-Jahre entstanden die reimlosen Übertragungen Michael Metzgers.23 Landmann verzeichnet ferner zahlreiche weitere punktuelle Versionen ins Englische.24 17 Stefan George. Poems, ins Englische übers. v. Carol North Valhope u. Ernst Morwitz, New York 1943. Rez.: Louise Bogan, in: The New Yorker v. 17.4.1943; Mary B. Colum, in: New York Times Book Review v. 14.3.1943; Ernst Feise, in: Modern Language Notes 58/1943, S. 568–569; Clement Greenberg, in: The Nation v. 22.5.1943; Frederick Lehner, in: Books abroad 17/1943, S. 279; C. F. MacIntyre, in: San Francisco Chronicle v. 2.5.1943; Harry Slochower, in: Accent 3/1942/43, S. 187–188; Herbert Steiner, in: The Yale Review 32/1943, S. 805–807; Edwin H. Zeydel, in: The Modern Language Review 27/1943, S. 294–295; F. K. Richter, in: The German Quarterly 17/1944, 1, S. 52–53; Edward Sackville West, in: The New Statesman and Nation v. 22.4.1944; Marius Müller (d. i. Edith Landmann), in: Das Bücherblatt 10/1946, 9. 18 The Works of Stefan George, ins Englische übers. v. Carol North Valhope u. Ernst Morwitz, Chapel Hill 1949 (Nachdr. New York 1966, 2., verb. u. erw. Aufl. Chapel Hill 1974). Die revidierte Edition besorgte Dietrich von Bothmer, der kleinere Veränderungen in Interpunktion und Vokabular durchführte und die Legende in Versen „Die Herrin betet“ (GA XVIII, 54–59) („The Lady’s Praying“) aufnahm sowie die neun Gedichte der Zeichnungen in Grau (I, 71–79) (Drawings in Grey) aus der Fibel (The Primer) und das Prosagedicht Der kindliche Kalender (XVII, 13–16) (A Child’s Calendar) und die Hölderlin-Lobrede (XVII, 58–60) aus Tage und Taten. Rez.: Edwin H. Zeydel, in: The German Quarterly 24/1951, 3, S. 205; Penrith Goff, in: The German Quarterly 49/1976, 3, S. 409; Michael Metzger, in: The Modern Language Journal 61/1977, 1/2, S. 69. 19 Dazu Zeydel, in: The German Quarterly 24/1951, 3, S. 205: „Impure rhymes such as George would never have countenanced (e. g. clung-long, wise-vise, bent-constraint, invade-hide – all taken at random from pp. 82–3) are frequent, and feminine rhymes, in which George is rich, are sparse. On the whole, too, the language is not as distinguished as George’s.“ 20 Ulrich K. Goldsmith, Stefan George. A Study of his Early Work, Boulder 1959. 21 Ders., Stefan George, New York, London 1970. 22 Vgl. Landmann, George in fremden Sprachen, S. 506–514. 23 Metzgers George-Übersetzungen erschienen in seiner George-Monographie: Michael u. Erika Metzger, Stefan George, New York 1972. 24 Von E. B. Ashton, Edwin Keppel Bennett, Cecil Maurice Bowra, Eliza Marian Butler, Brenda Cainey, Elizabeth Closs, C. Fillingham Coxwell, ein anonymer Übersetzer des Textheftes zur George-Vertonung Schönbergs, die 1955 bei Decca erschien, Babette Deutsch und Avrahm Yarmolinsky, Kate Flores, Peter Fritsch, Kenneth Gee, Harvey Gross, Ingrid Kyler, die die Sammlung Tage und Taten (Days and Deeds) übersetzte, J. Leighton, Ludwig Lewisohn, F. David Luke, Sam Morgenstern, Margarete Münsterberg, ein mit dem Pseudonym ,Narcissus‘ firmierender Übersetzer, Raymond C. Ockenden, Charles E. Passage, Reginald H. Phelps, Frank Piers, E. Talbot Ponsonby, Herman Salinger, Wira Selanski (eig. Wira Wowk), Stephen Spender, William Stewart McCausland, Edward W. Titus, Charles Tomlinson, Peter Viereck, Werner Vordtriede, Vernon Watkins sowie drei weitere anonyme Übersetzer.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Hervorgehoben seien unter den neueren Erscheinungen die Übersetzung von „Pente Pigadia“ (VI/VII, 24–25) durch William Stewart McCausland 1971,25 Georg Birds und Richard Stokes’ Hängende Gärten 197626 sowie die Versionen von Peter Viereck27 und 1978 die Nachdichtung der „Verwandlungen“ (II, 18) durch Robert L. Delevoy.28 1985 erschienen zwei Nachdichtungen von Hans J. Epstein aus dem Neuen Reich29 sowie zwei englische Übertragungen des schottischen Dichters Hugh MacDiarmid.30 1987 entstand eine Anthologie aus den frühen Gedichten durch Gerhart B. Ladner,31 im selben Jahr erschienen auch die kommentierten Übersetzungen durch Peter Viereck,32 und 1988 die Prosa-Versionen von Leonard Forster.33 Bisher ist eine einzige Nachdichtung ins Schottische dokumentiert.34 Die englische Rezeption konzentrierte sich stark auf StGs Spätwerk, vor allem auf den Siebenten Ring und den Stern des Bundes, mit Ausnahme des Neuen Reichs. Eine geringere Aufmerksamkeit wurde dem mittleren Werk – den drei Büchern,35 dem Jahr der Seele und dem Teppich des Lebens – zuteil, während das Frühwerk, die Trias von Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal, ausgeklammert wurde. Allerdings sicherte die Übertragung des Gesamtwerks durch Ernst Morwitz und Olga Marx die Basis für eine möglichst homogene Rezeption in den englischsprachigen Ländern, die somit eine einzigartige Zugangsmöglichkeit zu sämtlichen Werken StGs erhielten. Zu den

25 Kopie im StGA. 26 Das Buch der hängenden Gärten, in: The Fischer-Dieskau Book of Lieder. The texts of over 750 Songs in German, ausgewählt u. eingeleitet v. Dietrich Fischer-Dieskau, Übers. ins Englische v. George Bird u. Richard Stokes, London 1976, S. 222–226. 27 In: Deutsche Rundschau 2/1976, 1, S. 8–14 („Der Widerchrist“; VI/VII, 56–57, „Jahrestag“; III, 11, „Denk nicht zuviel von dem was keiner weiss!“; VIII, 107, „Südlicher Strand: Bucht“; VI/VII, 145). 28 Symbolists and Symbolism, Geneva 1978, S. 102. 29 „Der Gehenkte“ (IX, 51–52) und „Schifferlied“ (IX, 102), in: Georg Peter Landmann zum 80. Geburtstag, Privatdr., Basel 1985, S. 21f. 30 „Mein kind kam heim“ (VI/VII, 143) und „Ihr wisst nicht wer ich bin . . nur dies vernehmt“ (VIII, 10), in: The Complete Poems of Hugh MacDiarmid, hrsg. v. Michael Grieve, London 1985. 31 Early Poems of Stefan George. A Selection of Paraphrases, Translations and Comments, Typoskript, StGA. 32 Stefan George rediscovered: Translations and Comments, in: Parnassus 14/1987, 1, S. 95–117. Übersetzt wurden folgende Gedichte: „Der Widerchrist“ (VI/VII, 56–57), „Im windes-weben“ (VI/VII, 137), „Jahrestag“ (III, 11), „All die jugend floss dir wie ein tanz“ (VIII, 19), „Komm in den totgesagten park und schau“ (IV, 12), „Du schlank und rein wie eine flamme“ (IX, 111), „Denk nicht zuviel von dem was keiner weiss!“ (VIII, 107), „Nordmenschen“ (VI/VII, 167), „Ihr Äusserste von windumsauster klippe“ (VIII, 41). 33 The Penguin book of German verse. With plain Prose Translations of Each Poem, hrsg. u. eingeleitet v. Leonard Forster, Harmondsworth 1988; mit folgenden Übersetzungen: „Fenster wo ich einst mit dir“ (VI/VII, 151), „Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten“ (IV, 107), „Komm in den totgesagten park und schau“ (IV, 12), „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“ (IV, 15), „Mein kind kam heim“ (VI/VII, 143), „Verführer: I“ (VI/VII, 184), „Der Gehenkte“ (IX, 51–52). 1989 wurde in einer Anthologie (European Poetry in Scotland. An Anthology of Translations, hrsg. v. Peter France, Edinburgh 1989) MacDiarmids Übersetzung von „Ihr wisst nicht wer ich bin . . nur dies vernehmt“ (VIII, 10) zusammen mit einer Übertragung der „Erwiderungen“ (VI/VII, 93–95) durch Duncan Glen neu veröffentlicht. 34 Es handelt sich um G. S. Frasers Übersetzung von „Gib ein lied mir wieder“ (IV, 90); vgl. Landmann, George in fremden Sprachen, S. 227. 35 Mit Ausnahme des Binnenzyklus der Hängenden Gärten, der hingegen intensiv rezipiert wurde.

2. Übersetzerische Rezeption

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am häufigsten ins Englische übersetzten Gedichten36 zählen: „Vogelschau“ (II, 85), „Jahrestag“ (III, 11), „Der Tag des Hirten“ (III, 14), „Der Herr der Insel“ (III, 18), der von Arnold Schönberg vertonte Binnenzyklus der Hängenden Gärten aus den drei Büchern, dann „Komm in den totgesagten park und schau“ (IV, 12), „Keins wie dein feines ohr“ (IV, 101),37 „Ich forschte bleichen eifers nach dem horte“ (V, 10), „Der Widerchrist“ (VI/VII, 56–57), „Im windes-weben“ (VI/VII, 137), „Mein kind kam heim“ (VI/VII, 143), „Aus purpurgluten sprach des himmels zorn“ (VIII, 28), „Auf stiller stadt lag fern ein blutiger streif“ (VIII, 32), „Selbst nicht wissend was ich suchte“ (VIII, 61), „Die einen lehren: irdisch da – dort ewig . .“ (VIII, 78) und „Schlusschor“ (VIII, 113–114). Niederländisch StGs Wirkung war auch in den Niederlanden erheblich. Die frühesten Übertragungen erschienen zwischen 1905 und 1914 aus der Feder von StGs Dichterfreund Albert Verwey.38 Er konzentrierte sich vor allem auf das Vorspiel zum Teppich des Lebens sowie, in geringerem Maße, auf den Siebenten Ring und den Stern des Bundes. Später, zwischen 1923 und 1925, entstanden die Nachdichtungen einiger Gezeiten und Lieder aus dem Siebenten Ring sowie weiterer Einzelgedichte aus dem Jahr der Seele, dem Teppich des Lebens und dem Siebenten Ring durch Aart van der Leeuw.39 Landmann verzeichnet ferner Einzelversionen durch J. L. De Belder (1943), die sehr frei wirken, ferner durch Alexander Gutteling40 und Vincent Weyand (1944). Ein größeres Projekt nahm ein deutsch-niederländisches Übersetzerkollektiv des Castrum Peregrini ins Visier, das den Plan Weyands aus den Jahren 1943 und 1944 wieder aufgriff und zwischen 1964 und 1978 den Stern des Bundes (De ster van het verbond) übertrug.41 Nachdem 1983 drei Proben aus dem Neuen Reich in einem Privatdruck veröffentlicht wurden,42 brachte schließlich erneut das Castrum Peregrini-Kollektiv 1988 die Gesamtübersetzung des Zyklus heraus.43 Es folgte 1995 der Teppich des 36 Gemeint sind im Folgenden Gedichte, von denen sich mindestens vier oder mehr Übertragungen nachweisen lassen. 37 Landmann verzeichnet nicht weniger als fünfzehn Übertragungen dieses Textes. Die hohe Anzahl der Übersetzungen hängt allerdings nicht unmittelbar mit einer Begeisterung für das Gedicht zusammen: The Saturday Westminster Gazette hatte nämlich 1911 für die beste Übersetzung dieses Gedichtes den Preis von einer Guinea ausgesetzt und druckte am 14. Januar desselben Jahres zwölf der eingegangenen Übertragungen ab. Vgl. Landmann, George in fremden Sprachen, S. 235–239. 38 De Beweging 1/1905, Juli, 2/1906, September, 5/1909, August und 10/1914, 1. Drei Übersetzungen erschienen postum in: Mea Nijland-Verwey (Hrsg.), Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap, Amsterdam 1965. 39 In: Aart van der Leeuw, Verzamelde Gedichten, Rotterdam u. a. 1950; ders., Bloemlezing Gedichten, Rotterdam u. a. 1957. 40 Dazu Theo Voss, „Aber preisen werde ich sie inmitten der Unwissenden …“: Alex. Gutteling und seine George-Übertragungen, in: Neue Beiträge zur George-Forschung 15/1990, S. 5–22. 41 Stefan George, De ster de het verbond, übers. v. Vincent Weyand, Amsterdam 1979. Dazu Furstner, Übersetzung. 42 Stefan George, Drie Gedichten: Hyperion, De Gehangene, De mens en de drude, bearb. v. Heinz Aufrecht, Amsterdam 1983. 43 Stefan George, Het nieuwe rijk, übers. v. Heinz Aufrecht, Amsterdam 1988.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Lebens.44 In diesen Kollektivarbeiten spiegelt sich Wolfgang Frommels Versuch der Wiederbelebung des Kreises auf niederländischem Boden wider.45 Erklärte Absicht der Castrum Peregrini-Gruppe war es, die Lehre des ,Meisters‘ ins Niederländische zu übertragen. Es kam dem Kollektiv nicht auf künstlerische Valeurs, sondern auf die als immer noch verbindlich betrachteten „Gesetze und Weisheiten des Geistigen Reichs“ an.46 Dafür bot sich vor allem das Spätwerk an, das – wie der Stern des Bundes – verhältnismäßig wenig Reime und dagegen einen starken gnomisch-lehrhaften Duktus besitzt. Durch diese umfassenden Übersetzungsprojekte, die nicht zufällig das Werk eines Kreises sind, inszenierte sich das Castrum Peregrini als wiedererstandener George-Kreis. Erkennbare Entwicklungen der niederländischen Wirkungsgeschichte sind – wie im Falle der englischen – die völlige Ausklammerung des Frühwerks, eine geringe Berücksichtigung der mittleren Werkstufe – mit Ausnahme des Teppichs des Lebens – und eine unverkennbare Konzentration, vor allem durch die Castrum PeregriniÜbersetzer, auf das späte Werk, unter pointierter Einbeziehung des Neuen Reichs. Skandinavische Sprachen In den skandinavischen Sprachen blieb die übersetzerische Rezeption nur punktuell.47 Die schwedischen Versionen stammen sämtlich aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, durch Vilhelm Ekelund (1902), Anders Österling (1912), Bertil Malmberg (1932),48 Erik Blomberg (1939) und Johannes Edfelt (1942). Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind weitere schwedische Einzelversionen durch Ha˚kan Sandell49 und Christopher Ra˚dlund50 entstanden. Wenn aufgrund eines so schmalen 44 Stefan George, Het tapijt van het leven en de liederen van droom en dood: met en voorspel, übers. v. Friedrich W. Buri u. a., Amsterdam 1995. Zu erinnern ist auch an die Einzelübertragung von „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“ (II, 63) durch Oskar Pastior in: Ders., De dans van de schaar, Amsterdam 1985 (auch in: Sprache im technischen Zeitalter 26/1988, 107/108, S. 111–113). 45 Vgl. Günter Baumann, Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Stuttgart 1994, S. 408–409. Vgl. das Elogium des „Teams“ durch Hans Furstner: „Unser Team hat diesen Kampf, dieses Ringen mit Stoff und Wort mit grossem Erfolg geführt. Durch die Liebe zu diesen Gedichten ist der Stoff gleichsam neugeboren.“ Furstner, Übersetzung, S. 88. 46 Furstner, Übersetzung, S. 79. Vgl. weiter: „Ein solches Werk [den Stern des Bundes] soll man natürlich nicht auf dichterische Weise in der andern Sprache neugestalten und zu einem neuen Kunstwerk machen. Es kommt, im Gegenteil, gerade darauf an, die ursprünglichen Gedanken und Richtlinien des Dichters so genau wie möglich ins Niederländische zu übertragen, ohne die dichterischen Mittel Georges zu vernachlässigen“, ebd., S. 79f. 47 Zur Rezeption StGs in Skandinavien vgl. Steffensen, George und seine Wirkungen; ders., Die Rezeption Georges und Rilkes in Skandinavien, in: Stefan-George-Seminar 1978 in Bingen. Eine Dokumentation, hrsg. v. der Gesellschaft zur Förderung der Stefan-George-Gedenkstätte im Stefan-George-Gymnasium Bingen, Heidelberg 1979, S. 60–64. 48 Bertil Malmberg u. a., Modern tysk lyrik i svensk tolkning, Stockholm 1934. 49 La˚t bla˚klint bla˚ och blodig vallmo sta˚, in: Aorta 13/2006, S. 65 („Den blauen raden und dem blutigen mohne“; IV, 37). 50 Den dödförklarade parken: Georges natursyn i Das Jahr der Seele, in: Aorta 13/2006, S. 66–69 („Komm in den totgesagten park und schau“; IV, 12).

2. Übersetzerische Rezeption

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Corpus sich überhaupt Tendenzen erkennen lassen, so ist festzustellen, dass das Frühwerk (Algabal und Pilgerfahrten) vernachlässigt blieb, während Das Jahr der Seele im Vordergrund der übersetzerischen Rezeption steht. In Norwegen hinterließ StG noch weniger Spuren: Durch Finn Halvorsens51 und Idwal Jones’52 Nachdichtungen aus dem Siebenten Ring und dem Neuen Reich ist nur ein Bruchteil des Werkes dem norwegischen Publikum zugänglich. In Dänemark schließlich war der Dichter Johannes Jørgensen der Erste, der sich um StG verdient machte.53 Er übertrug allerdings nur drei Gedichte: „Die Gärten schliessen“ (II, 28) aus den Hymnen, „Beträufelt an baum und zaun“ (II, 53) aus den Pilgerfahrten und „Nachtwachen I“ (IV, 63) aus dem Jahr der Seele. Es folgten die Versionen von „Indes deine mutter dich stillt“ (IV, 53) durch Sven Lange (1900), von „Vogelschau“ (II, 85) durch Alex Garff (1933) sowie von „Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten“ (IV, 107) durch einen unbekannten Übersetzer.54

2.2.

Romanische Sprachen

Französisch Bereits zeitgenössische symbolistische Dichter wie Albert Saint-Paul, Achille Delaroche, William Ritter und Edmond Rassenfosse bereiteten den Boden für StGs Wirkung in Frankreich, indem sie Gedichte des frühen StG für Zeitschriften wie L’Ermitage,55 Flore´al,56 La Semaine Litte´raire57 und Re´veil58 übersetzten. Ihr Niveau ist allerdings höchst unterschiedlich. Saint-Pauls Prosa- und reimlose Versübertragungen59 sind vor allem um den Sinn bemüht. Delaroches Prosa-Übertragungen ausgewählter Algabal-Gedichte60 stehen durch ihre Präzision den ungenauen und ausschweifenden Prosa-Versionen Ritters gegenüber,61 die markante Einbußen gegenüber dem Original aufweisen.62 Die Nachdichtungen einiger Hirten- und Preisgedichte 51 Tyske diktere. Lyrikk og prosa fra va˚r egen tid, Oslo 1941. 52 In: Aftenpostens Kronikk (Oslo) v. 12.7.1968; Asker og Baerums Budstikke, Haslum 1968. 53 In: Samtiden (Bergen) 4/1893, Sept., sowie Ta˚rnet (Kopenhagen) 2/1894, Juli–Sept. 54 Ms. im StGA. 55 L’Ermitage 2/1891, 10, sowie 3/1892, 3. 56 Flore´al 1/1892, 9. 57 Ritters redundante Prosa-Übertragungen erschienen in: La Semaine Litte´raire (Gene`ve) Nr. 61 v. 2.3.1895. 58 Re´veil (Gent) 6/1895, 22/23. 59 „Verwandlungen“ (II, 18), „Strand“ (II, 21), „Siedlergang“ (II, 32–33), „Die märkte sind öder und saiten und singende schweigen“ (II, 42), „Mächtiger traum dem ich zugetraut“ (II, 43), „Ihr alten bilder schlummert mit den toten“ (II, 46), „Die Spange“ (II, 54). 60 „Daneben war der raum der blassen helle“ (II, 62), „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“ (II, 63), „Gegen osten ragt der bau“ (II, 67), „O mutter meiner mutter und Erlauchte“ (II, 68), „Becher am boden“ (II, 69), „Da auf dem seidenen lager“ (II, 70), „Vogelschau“ (II, 85), alle aus Algabal. 61 William Ritter übertrug „Mühle lass die arme still“ (II, 34), „Lauschest du des feuers gesange“ (II, 35), „Lass deine tränen“ (II, 36), „Die jugend“ (II, 37) aus den Pilgerfahrten sowie „Becher am boden“ (II, 69) aus Algabal. 62 Beispielhaft dafür die Übertragung von „Becher am boden“, in der Ritter die „Manen-küsse“ einfach als „baisers d’hommes“ übersetzt, wodurch die Anspielung auf die Manes, die Totengeis-

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

durch Rassenfosse,63 der des Deutschen kaum mächtig war, stammen in Wirklichkeit aus StGs Feder: Sie basieren auf französischen ,adaptations‘ des Dichters, die Rassenfosse lediglich bearbeitete, und müssen insofern als Selbstübersetzungen StGs betrachtet werden.64 Die ersten Nachdichtungen StGs in gereimte Alexandriner stammen von der Germanistin Genevie`ve Bianquis, die 1928 Einzelgedichte in der Revue d’Allemagne übertrug.65 Sie konzentrierte sich auf den Teppich des Lebens, aus dem sie vier Gedichte aus dem Vorspiel übersetzte,66 sowie auf den Siebenten Ring67 und den Stern des Bundes.68 In demselben Jahr legte Jean-Edouard Spenle´ seine Versionen in Prosa vor.69 Nur die Gedichte „Frauenlob“ (III, 46–47) und „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“ (IV, 15) hat Spenle´ als ungereimte Alexandriner wiedergegeben. Dem deutschen frankophilen Dichter Albert H. Rausch, der StG auch persönlich kannte, sind zahlreiche gereimte Übertragungen vor allem aus Algabal, dem Jahr der Seele, dem Teppich des Lebens und dem Siebenten Ring zu verdanken, die 1936 in Frankreich unter dem Pseudonym Henry Benrath erschienen.70 Seine Nachdichtungen sind zwar auf einem hohen formalen Niveau, in ihrem rhetorisch-redundanten Gestus allerdings nicht immer äquivalent zu StGs brachylogischem Duktus. Als Beispiel sei hier nur auf Benraths Übersetzung von „Ihr tratet zu dem herde“ (IV, 114) hingewiesen: A l’aˆtre vous venez Ou` la braise est e´teinte … De la lune l’empreinte Luit au plancher.

Ihr tratet zu dem herde Wo alle glut verstarb · Licht war nur an der erde Vom monde leichenfarb.

Vous plongez dans les cendres Les doigts, les paˆles mains, Vous cherchez, voulez prendre, Raviver – c’est en vain …

Ihr tauchtet in die aschen Die bleichen finger ein Mit suchen tasten haschen – Wird es noch einmal schein!

D’un signe consolant La lune vous exhorte: La flamme est morte … Allez-vous-en.71

Seht was mit trostgebärde Der mond euch rät: Tretet weg vom herde · Es ist worden spät.

Auch diese Übertragung steht im Zeichen rhetorischen Überschusses: In diese Richtung weisen das Hendiadyoin – „Les doigts, les paˆles mains“ – sowie der Ersatz des ter, und die tödliche Wirkung des Rosenregens verloren geht. Vgl. Landmann, George in fremden Sprachen, S. 81. 63 „Jahrestag“ (III, 11), „Der Herr der Insel“ (III, 18), „Der Auszug der Erstlinge“ (III, 20), „Ein edelkind sah vom balkon“ (III, 63), „Lilie der auen!“ (III, 67), „Stimmen im Strom“ (III, 99). 64 Vgl. ¤ Edmond Rassenfosse. 65 Revue d’Allemagne 13/14/1928. 66 „Ich forschte bleichen eifers nach dem horte“ (V, 10), „Zu lange dürst ich schon nach eurem glücke“ (V, 13), „Einst werden sie in deinen schluchten spüren“ (V, 27), „So werd ich immer harren und verschmachten“ (V, 31). 67 „Trübe seele – so fragtest du – was trägst du trauer?“ (VI/VII, 74), „Das kampfspiel das · wo es verlezt · nur spüret“ (VI/VII, 81), „Trauer I“ (VI/VII, 96), „Eingang“ (VI/VII, 115). 68 „Alles habend alles wissend seufzen sie“ (VIII, 29). 69 Mercure de France 39/1928, 205. 70 E´vocation d’un poe`te par un poe`te, Paris 1936. 71 Vgl. Landmann, George in fremden Sprachen, S. 250.

2. Übersetzerische Rezeption

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Verses „Wird es noch einmal schein!“ durch die überflüssige Erläuterung „c’est en vain“. Auch in der letzten Strophe lässt sich an der redundanten Zeile „La flamme est morte“ der amplifizierende Charakter von Benraths Übertragung illustrieren. Aus den 30er-Jahren stammt auch eine vollständige Übertragung des Sterns des Bundes durch Georges Walz,72 welche die klanglichen Valeurs intensiviert und eine größere Anschaulichkeit als das Original erstrebt.73 1941 und 1943 legte Maurice Boucher seine reiche anthologische Auswahl vor,74 die um semantische Klarheit bemüht ist: Hypotaktische Perioden werden parataktisch aufgelöst, obskure Stellen erklärt, der gedrängte Duktus des Originals aufgehoben. Auch Claude David übersetzte einige Gedichte im Rahmen seiner George-Monographie 1952,75 unter Vereinfachung von Wortschatz und Stil. 1971 entstanden Laurent Gspanns Versionen in Prosaform. Im folgenden Jahr veröffentlichte Claude Gerthoffert eine komplette Nachdichtung des Algabal im Rahmen seiner The`se.76 In den späten 70er- und 80er-Jahren folgten mehrere Auswahlübersetzungen.77 2005 erschien eine neue Übertragung des Sterns des Bundes durch Ludwig Lehnen.78 Vier Jahre später legte Lehnen die erste französische Gesamtübersetzung von StGs lyrischem Werk vor.79 Im Unterschied zur englischen oder niederländischen Rezeption war das Interesse der französischen Übersetzer relativ gleichmäßig auf die verschiedenen Werkstufen verteilt. Gleichwohl lassen sich auch in diesem Fall Akzente erkennen, namentlich – in markanter Absetzung von der englischen und niederländischen Wirkungsgeschichte – eine besondere Berücksichtigung des Algabal, aber auch – dies nun im Einklang mit der englisch-niederländischen Rezeption – die Favorisierung des Siebenten Rings und des Sterns des Bundes. Zu den bevorzugten Gedichten zählen: „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“ (II, 63), „Da auf dem seidenen lager“ (II, 70), „Vogelschau“ (II, 85), „Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten“ (IV, 107), „Ich forschte

72 Ms. im StGA. 73 So in der Übertragung des „Schlusschores“ (VIII, 113–114), den Walz mit Epiklesen beginnen lässt, wie eine traditionelle christliche Anrufungshymne: „O dieu Ton sentier s’ouvre a` nous“, Landmann, George in fremden Sprachen, S. 564. 74 Stefan George, Choix de poe`mes, 2 Bde., übers., eingeleitet u. kommentiert v. Maurice Boucher, Paris 1941–1943 (Taschenbuchausgabe Paris 1969). 75 Stefan George, son œuvre poe´tique, Lyon, Paris 1952. 76 Stefan George, Algabal, Übers., Einl. u. Anm. v. Claude Gerthoffer, Paris III Sorbonne Nouvelle 1972 (Typoskript). Die Arbeit ist bei Landmann, George in fremden Sprachen, nicht abgedruckt. 77 Vgl. Stefan George, Poe`mes, übers. v. Eryck de Rubercy u. Dominique Le Buhan, in: Exil 8/9/1978, S. 57–66; Fabrice Gravereaux/Hans-Michael Speier, Stefan George, Poe`mes, in: Poetsie 16/1981, S. 19–30; Stefan George, Pre´lude, übers. v. Bertrand Badiou u. Jean-Claude Rambach, in: Poetsie 16/1981, S. 3–18; Stefan George, Maximin, pre´ce´de´ de poe`mes a` Gundolf, übers. v. Dominique Le Buhan u. Eryck de Rubercy, Montpellier 1981; Jan-Yves Masson/Philippe Giraudon, Stefan George [Übers. v. „Seelied“ (IX, 104), „An die Kinder des Meeres“ (IX, 15–20)], in: Polyphonies 7/1988, S. 84–91. Landmann verzeichnet noch weitere französische Übersetzer. Dazu zählen Alastair (d. i. Baron von Voigt), Jean Cassou und Max Deutsch, Charles Du Bos, A.-F. He´rold, Genevie`ve Maury, J. Peyraube, Catherine Pozzi, Jean Pre´vost, Jacques de Saussure (Übersetzungen aus Tage und Taten), Eleonore Zimmermann sowie ein unbekannter Übersetzer, dessen undatiertes Manuskript im StGA aufbewahrt wird. 78 Stefan George, L’Etoile de l’alliance: poe`mes, übers. u. mit e. Nachw. v. Ludwig Lehnen, Paris 2005. 79 Stefan George, Poe´sies comple`tes, übers. u. hrsg. v. Ludwig Lehnen, Paris 2009.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

bleichen eifers nach dem horte“ (V, 10), „Der Teppich“ (V, 36) sowie – aus naheliegenden Gründen – „Franken“ (VI/VII, 18–19). Italienisch StGs Werk wurde in Italien erst durch die Nachdichtungen des Gräzisten und Germanisten Leone Traverso eingeführt, der, selbst ein Dichter, den Symbolisten und Hermetikern nahestand.80 Vor allem im preziösen und altertümlichen Vokabular sowie in der musikalischen Sensibilität drückt sich der kongeniale Charakter von Traversos Fassungen aus. Traversos Übersetzung des bereits zitierten Gedichts „Ihr tratet zu dem herde“ (IV, 114) bildet die musikalische Textur des Originals eindrucksvoll nach bzw. intensiviert sie gar, ohne aber semantische Forcierungen oder unnötige Amplifizierungen in Kauf nehmen zu müssen: Veniste al focolare Dove ogni vampa smoriva; Lume in terra fluiva Solo dalla luna esangue.

Ihr tratet zu dem herde Wo alle glut verstarb · Licht war nur an der erde Vom monde leichenfarb.

Tuffaste nelle ceneri Voi le pallide dita In ansia smarrita – Se una favilla baleni!

Ihr tauchtet in die aschen Die bleichen finger ein Mit suchen tasten haschen – Wird es noch einmal schein!

Ma il lume lunare Confortando v’incuora: – Lasciate il focolare. E` tarda gia` l’ora. –81

Seht was mit trostgebärde Der mond euch rät: Tretet weg vom herde · Es ist worden spät.

Andere Übersetzer ins Italienische waren Alessandro Pellegrini (1934/37), Vincenzo Errante (1937), Piero Treves (1937) und Clementina di San Lazzaro (1938). In der Nachkriegszeit wurden einzelne Gedichte von Emmy Rosenfeld (1948), Bianca CettiMarinoni (1967) und Guido Zangrando (1967) übertragen. 1986 brachte Giorgio Manacorda Das Jahr der Seele82 und, ein Jahr danach, Antonia-Siglinda Rossi den Stern des Bundes heraus.83 1996 folgte eine Auswahlübersetzung durch Mario Santagostini.84 In ihrer George-Monographie hat Margherita Versari auch einige Übersetzungen vorgelegt.85 Giulio Schiavoni ist eine Übertragung von Tage und Taten zu verdanken.86 80 Zunächst veröffentlichte Traverso vierzehn Übertragungen in: Il Convegno 18/1937, 9/10 (Dez.). Zwei Jahre später erschien sein Band: Stefan George, Poesie, übers. v. Leone Traverso, Modena 1939 (2. Aufl. Milano 1948; zuletzt hrsg. v. Giuseppe Bevilacqua, Firenze 1999). Zu Traverso selbst, der in Italien als eine zentrale Vermittlerfigur der deutschen Lyrik wirkte, vgl. Studi Urbinati 45/1971, 1/2. Bei einem Aufenthalt in Berlin lernte Traverso Ernst Morwitz persönlich kennen. 81 Landmann, George in fremden Sprachen, S. 250f. (Herv. d. Verf.). 82 Stefan George, L’anno dell’anima, hrsg. v. Giorgio Manacorda, Milano 1986. 83 Stefan George, La stella dell’Alleanza: Der Stern des Bundes, hrsg. v. Antonia-Siglinda Rossi, Palermo 1987. 84 Mario Santagostini, I simbolisti tedeschi, Roma 1996. 85 Margherita Versari, La poesia di Stefan George. Strategie del discorso amoroso, Roma 2004. 86 Stefan George, Giorni e gesta. Annotazioni e abbozzi, hrsg. v. Giuliano Schiavoni, Venezia 1986.

2. Übersetzerische Rezeption

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Die Grundtendenz der italienischen Rezeption zeigt eine bereits für die anderen Sprachen konstatierte Vernachlässigung des Frühwerks sowie eine Konzentration auf Das Jahr der Seele, den Stern des Bundes, die beide eine Gesamtübertragung erfuhren, und den Siebenten Ring. Spanisch Wie in Italien setzte auch in Spanien die George-Rezeption relativ spät ein. Erst zwischen 1930 und 1935 entstanden die ersten Versionen aus der Feder Clotilde Schlayers (gedruckt 1964), die einen Großteil des Werkes dem spanischen Publikum zugänglich machte.87 Es folgten Jaime Balet und Alfonso Pinto´, die u. a. eine vollständige Nachdichtung der Pilgerfahrten (1953, 1954, 1972) vorlegten, ferner die ProsaVersion des von Schönberg vertonten Binnenzyklus der Hängenden Gärten durch Rafael De la Vega (1963), in den 70er-Jahren eine Einzelübersetzung von J. Francisco Elvira-Herna´ndez (1974),88 in den 80er-Jahren schließlich die George-Anthologie von Juan Manuel Gonza´lez und J. Ferna´ndez-Bueno (1986).89 Nachdem zuletzt Übertragungen 1994 erschienen waren,90 legte 2011 Carmen Go´mez Garcı´a eine anthologische Auswahl von George-Gedichten, Prosatexten und Zeitdokumenten in eigener Übersetzung vor, der eine umfangreiche Einführung beigegeben ist.91 Auch in Südamerika gibt es eine übersetzerische Rezeptionsgeschichte von StGs Werk. Nachdichtungen entstanden in Chile durch Guillermo Thiele (1946), in Argentinien durch Carlos F. Grieben (1951) und vor allem Jose´ Vicente A´lvarez, der 1959 eine imposante George-Anthologie vorlegte, die mehr als hundert Gedichte zählt und ihren Autor zu einem der produktivsten Übersetzer StGs überhaupt avancieren lässt,92 sowie in Kolumbien durch den Dichter Guillermo Valencia (1917) und Antonio de Zubiaurre (1967). Die Favoriten der spanischen Übersetzer sind nicht nur Der Siebente Ring und Der Stern des Bundes, sondern auch die Pilgerfahrten, die durch Balet und Pinto´ komplett übertragen wurden, in geringerem Maße auch Das Jahr der Seele. Portugiesisch Im Portugiesischen blieb die Rezeption nur punktuell und entfaltete sich vor allem in Südamerika. Außer der Version von drei Liedern aus dem Siebenten Ring durch 87 Poemas de Stefan George, ins Spanische übertragen v. Clotilde Schlayer, Düsseldorf, München 1964 (Drucke der Stefan-George-Stiftung). 88 Poesia germanica: seleccion, übers. u. mit Anm. v. J. Francisco Elvira-Herna´ndez, Madrid 1974 („Nacht“; VI/VII, 121). 89 Stefan George, Antologı´a, übers. v. J. M. Gonza´lez u. J. Ferna´ndez-Bueno, hrsg., ausgewählt, mit Vorw. u. Anm. v. J. M. Gonza´lez, Madrid 1986. 90 Poetas del poeta: a Friedrich Hölderlin en el 150. aniversario de su muerte, zusammengestellt v. Anacleto Ferrer u. Jesu´s Muna´rriz, Madrid 1994, S. 69–75. 91 Stefan George, Nada hay donde la palabra quiebra. Antologı´a de poesı´a y prosa, hrsg. u. übers. v. Carmen Go´mez Garcı´a, Madrid 2011. 92 Stefan George, Poemas, Vorw. u. Übertragung v. Jose´ Vicente Alvarez, Co´rdoba 1959.

910

III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Olympio Monat da Fonseca (1957)93 verdient vor allem die Nachdichtung von „Nacht-Gesang I“ (V, 82) durch den Brasilianer Jao Accioli 1960 sowie neuerdings die Auswahl des Brasilianers Eduardo de Campos Valaderes (2000) Beachtung.94 Rumänisch In Rumänien wurde StG vor allem dank der sehr musikalisch wirkenden Nachdichtungen N. Argintescu-Amzas (1967) bekannt.95 Seine kleine Auswahl beschränkte sich allerdings im Wesentlichen auf Das Jahr der Seele und den Siebenten Ring.

2.3.

Ugro-finnische Sprachen

Ungarisch Während StGs Werk in Finnland kaum auf Resonanz stieß,96 nahm man sich seiner in Ungarn spätestens seit 1901 an, als der junge Dichter Lo˝rinc Szabo´ seine meisterhafte Nachdichtung von StGs „Der Krieg“ (IX, 21–26) veröffentlichte.97 Es folgten weitere Einzelübersetzungen, die aber letztlich punktuell blieben.98

93 Treˆs fragmentos de Stefan George, in: Journal de Commercio v. 22.4.1957 („Kahl reckt der baum“; VI/VII, 140, „Fenster wo ich einst mit dir“; VI/VII, 151, „Wenn ich auf deiner brücke steh“; VI/VII, 155). 94 Stefan George, Crepu`sculo, ausgewählt u. übers. v. Eduardo de Campos Valadares, Sao Paulo 2000. 95 In Argintescus Sammlung ist auch eine Übertragung durch Ion Pillat enthalten. 96 Vgl. auch Steffensen, George und seine Wirkungen, S. 75. 97 Dazu und zur ungarischen George-Rezeption vgl. Sa´ndor Koma´romi, Propheten und Dichter: Bezugnahme auf und Anverwandlung von Georges Werk im Ungarn der Jahre 1920–1940, in: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 431–454. 98 Landmann, George in fremden Sprachen, verzeichnet zunächst eine undatierte anthologische Auswahl – A ne´met irodalom kincsesha´za, hrsg. v. Dezso˝ Keresztu´ry, Budapest [1941] – mit Übertragungen von Lajos A´prily, Miklos Kallay und Ge´za Ke´pes, ferner eine Übersetzung des „Herrn der Insel“ (III, 18) durch Jfj. Aure´l Stadler, in: Hid 16/1952 (einer in Jugoslawien erschienenen ungarischen Zeitschrift), sowie die Anthologie Sza´zadfordulo´ Modernek. A ne´met lı´ra kincsesha´za, ausgewählt u. hrsg. v. Dezso˝ Keresztu´ry, Budapest 1959, mit Übersetzungen von Ge´za Ke´pes, Dezso˝ Keresztury und Dezso˝ Kosztola´nyi. Nicht bei Landmann verzeichnet sind die Übertragungen, die in folgenden Sammlungen erschienen sind: Sa´ndor Weöres, Egybegyüjtött Müfordı´ta´sok II, Budapest 1976, S. 453f. („Die Fremde“; V, 40, „Nacht-Gesang“; V, 82); Stefan George e´s Hugo von Hofmannsthal, Versei. Lyra mundi, Budapest 1981; Dezso˝ Kosztola´nyi, Idegen költök, Budapest 1988 („Der Teppich“; V, 36, „Die Fremde“; V, 40, „Die Maske“; V, 43, „Hochsommer“; II, 22, „Litanei“; VI/VII, 129); La´szlo´ Ka´lnoky, A lehetse´ges va´ltozatok II: va´logatott versfordı´ta´sok, Budapest 1981 („Weihe“; II, 10, „Ich lehre dich den sanften reiz des zimmers“; IV, 29, „Porta Nigra“; VI/VII, 16–17); Be´la Hamvas (Hrsg.), Anthologia humana: ötezer e´v bölcsesse´ge, Budapest 1990.

2. Übersetzerische Rezeption

2.4.

911

Slawische Sprachen

Ukrainisch Im slawischen Sprachraum wurde StG vor allem ins Ukrainische intensiv übersetzt.99 Die ersten Versionen entstanden anlässlich von StGs Tod durch Mychajlo Rudnytzkyj und Jurij Klen (Pseudonym für Oswald Burghardt). Der erste bedeutende Vermittler war allerdings der ukrainische Dichter Mychajlo Orest, dessen Übertragungen maßgeblich waren. Orests anthologische Auswahl erschien in Deutschland 1952.100 Sie konzentrierte sich auf die Hirten- und Preisgedichte, den Siebenten Ring, den Stern des Bundes, nur berührt wurden die Sagen und Sänge aus den Büchern und Das Neue Reich. Später legten Egor G. Kostetzky und Oleh Zujewskyi eine Anthologie vor, zu der sie die meisten Versionen beisteuerten, mit dem Ziel, Orests anthologische Auswahl zu ergänzen. An diesem Projekt beteiligten sich auch die ukrainischen Dichter Wassyl Barka und Wira Wowk. StGs Werk wurde somit ungefähr zur Hälfte ins Ukrainische übertragen.101 Entstanden ist eine imponierende übersetzerische Leistung, die jeden dichterischen Zyklus sowie die Tage und Taten und eine kleine Auswahl aus den Briefen berücksichtigt. Polnisch102 StGs Dichterfreund Wacław Rolicz-Lieder sind die frühesten Übertragungen StGs in eine slawische Sprache (1897) zu verdanken. Rolicz-Lieder übersetzte ausgewählte Gedichte aus den drei Büchern. Eine größere Auslese, die von den Pilgerfahrten bis zum Teppich des Lebens reicht, legte Leopold Lewin vor. Unter den neueren Übertragungen seien jene von Jarosław Iwaszkiewicz (1978),103 Tadeusz Gajcy 99 Vgl. dazu den ersten Band der umfangreichen Dokumentation von Egor G. Kostetzky, Vybranyj: Stefan George. 100 Mychajlo Orest, Vybrani poeziı¨, Augsburg 1952 (wieder in: Egor G. Kostetzky, Vybranyj: Stefan George, Bd. 1). 101 Vollständig wurden folgende Zyklen ins Ukrainische übertragen: die drei Algabal-Zyklen, aus Das Jahr der Seele: Nach der Lese, Waller im Schnee, Sieg des Sommers, ferner Vorspiel, „Standbilder I–VI“ (V, 54–58), „Tag-Gesang I–III“ (V, 79–81) und „Nacht-Gesang I–III“ (V, 82–84) aus dem Teppich des Lebens, aus dem Siebenten Ring: Maximin, ferner die lyrische Prosa Sonntage auf meinem Lande, Träume und Briefe des Kaisers Alexis an den Dichter Arkadios aus Tage und Taten und das Weihespiel Die Aufnahme in den Orden. 102 Eine ausführliche Bibliographie der polnischen Übersetzungen bietet Krystyna Kamin´ska, Grundlegung zu einer polnischen George-Bibliographie, in: Neue Beiträge zur GeorgeForschung 10/1985, S. 27–31. Zur George-Rezeption in Polen vgl. ferner dies., Stefan George in Polen, Warschau 1983 (Typoskript); Zur Rezeption der Dichtung Stefan Georges in Polen, hrsg. v. der Gesellschaft zur Förderung der Stefan-George-Gedenkstätte im Stefan-GeorgeGymnasium Bingen, Heidelberg 1985. Zu den George-Übersetzungen in den anderen slawischen Sprachen außer dem Ukrainischen vgl. Egor G. Kostetzky, Vybranyj: Stefan George, Bd. 2. 103 Stefan George. Przelozył Jarosław Iwaskiewicz, in: Two´rczos´c´ 34/1978, 12, S. 46–49 („Franken“; VI/VII, 18–19, „Nietzsche“; VI/VII, 12–13, „Die tote Stadt“; VI/VII, 30–31, „Kreuz der strasse . .“; VI/VII, 141). Dazu: German Ritz, Die George-Übersetzungen Iwaszkiewiczs und ihr Ort in der polnischen Übersetzungstradition, in: GJb 2/1998/1999, S. 61–84.

912

III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

(1980)104 und vor allem die voluminöse Anthologie von Krystyna Kamin´ska (1979) genannt.105 Tschechisch Die ersten tschechischen Übersetzer StGs, Julius Brabec und Emanuel von Lesˇehrad, standen mit dem Dichter in brieflichem Kontakt. Ihre 1906 entstandenen Versionen wurden allerdings viel später, nämlich 1913, 1931 und 1937, und in vereinzelter Form veröffentlicht.106 Weitere Nachdichtungen entstanden durch Alfons Breska, Otto Frantisˇek Babler, Otokar Fischer, Va´clav Rencˇ, Adolf Gajdosˇ, Jan Zahradnı´cˇek, Frantisˇek Tichy´, Vlad. Holecˇek, Jaroslav Pokorny´ sowie zwei unbekannte Übersetzer.107 Russisch108 Eröffnet wurde die russische Wirkungsgeschichte 1907 durch die Nachdichtung von „Der Herr der Insel“ (III, 18) durch den russischen Symbolisten Vjacˇeslav Ivanov.109 Es folgten Übertragungen von Einzelgedichten durch Vladimir El’sner (1913),110 Grigorij Zabezˇinskij (1921),111 Savelij G. Tartakover (1922)112 und Grigorij Petnikov (1935).113 Nach dieser ersten Rezeptionsperiode verschwand StG in sowjetischer Zeit fast völlig aus dem literarischen Gedächtnis. Trotz des faktischen Verbots durch die sozialistische Kulturpolitik versuchte man allerdings, einzelne Gedichte StGs in Übersetzung zu präsentieren. 1961 legte Aleksandr Bisk eine Übertragung von 21 Gedichten aus dem Jahr der Seele vor, die in Paris publiziert wurde.114 1974 erschien in Moskau eine bedeutende Auswahlübersetzung von zehn Gedichten durch Vladimir Mikusevic und Arkadij Sˇtejnberg.115 Es folgten weitere Einzelübersetzungen.116 Nach 104 Tadeusz Gajcy, Pisma: Juwenilia, przeklady, wiersze, poematy, dramat, krytyka i publicystyka literacka, varia, Krako´w 1980, S. 66 („Der Jünger“; V, 47). 105 Krystyna Kamin´ska (Hrsg.), Stefan George, Poezje, Warszawa 1979. Weitere Übersetzer ins Polnische waren Leopold Staff, Stanisław Wyrzykowski, Zenon Przesmycki [Pseud. Miriam], Adolf Sowin´ski, Artur Maria Swinarski und ein unbekannter Übersetzer, der mit dem Monogramm A.R. firmierte. 106 Angaben nach Egor G. Kostetzky, Vybranyj: Stefan George, Bd. 2, S. 12. 107 Sie firmieren mit den Monogrammen Gl. und Sn. Angaben nach Egor G. Kostetzky, Vybranyj: Stefan George, Bd. 2, S. 519–521. 108 Für seine Ergänzungen zu den Übersetzungen ins Russische sei an dieser Stelle Alexander Belobratow (Universität Sankt Petersburg) herzlich gedankt. 109 Zu der für die russische George-Rezeption zentralen Vermittlerfigur des mit den russischen Symbolisten befreundeten Dichters und Übersetzers Johannes von Guenther vgl. Eberhard Thieme, Johannes von Guenther: er brachte Stefan George nach Rußland, in: Neue Beiträge zur George-Forschung 16/1991, S. 27–32. 110 Vladimir El’sner, Sovremennye nemeckie poety, Moskva 1913, S. 69–83. 111 Grigorij Zabezˇinskij, Iz novoj nemeckoj liriki, Berlin 1921, S. 75–77. 112 Savelij G. Tartakover, Antologija sovremennoj ne˘meckoj poezii, Berlin 1922, S. 106–109. 113 Grigorij Petnikov, Zapad i Vostok, Kiev 1935, S. 95. 114 Aleksandr Bisk, Cuzˇoe i svoe, Paris 1961, S. 11–34. 115 In: Zapadnoevropejskaja poezija XX veka: Avstrija, Anglija, Bel’gija, Germanija …, hrsg. v. I. Bocˇkareva u. Robert Rozˇdestvenskij, Moskva 1977, S. 170–175. 116 Es handelt sich um die Übertragungen durch Vjacˇeslav Ivanov (in: Poezija Evropy, 3 Bde.,

2. Übersetzerische Rezeption

913

dem Zerfall der Sowjetunion ließ sich ein neu erwachtes Interesse für das Werk StGs beobachten. 1992 erschienen zwei Einzelübersetzungen von Wjatscheslaw Kuprijanov.117 1993 folgten Übertragungen durch Al’bert Karel’skij,118 1997 durch Nina Gucˇinska und Evgenij Sluckij119 sowie 1999 durch Nina Kan (Kanisˇcˇeva).120 Schließlich legte Vladimir M. Letucˇij 2009 eine Übersetzung von Das Jahr der Seele, Der Teppich des Lebens und Der Siebente Ring vor.121 Bulgarisch Die frühesten Übersetzungen entstanden 1921 durch Dimitri Lotus. Eine umfangreiche Auslese aus dem Jahr der Seele legte Nikolaj Liliev vor. Zu verzeichnen sind weiterhin Übertragungen durch Geo Milev, Zˇiwka Dragnewa und Najden Waltschev.122 Serbisch Aus der Feder von Anica Savicˇ Rebac entstanden 1927 die ersten Nachdichtungen ins Serbische. Weitere folgten durch Todor Manojlovic´, Nikola Mirkovic´ und Kosta N. Milutinovic´.123

117 118 119 120

121

122 123

Bd. 2.1, Moskva 1977, S. 253), Valerij Brjusov (in: Torzˇestvennyj privet, Moskva 1977, S. 247) und Arkadij Sˇtejnberg (in: Pesn’ ljubvi, Moskva 1981, S. 89–290; Nacˇalo sveta, Moskva 1990). Wjatscheslaw Kuprijanov, Ot Gete do Stefano George: iz nemeckoj klassik, Moskva 1992 (darin: „Entsinne dich der schrecken die dir längst“; V, 15, „Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten“; IV, 107). Al’bert Karel’skij, Bog Nachtigal’. Nemeckaja i avstrijskaja poezija dvuch vekov, Moskva 1993, S. 56–59. Stefan George, Stichotvorenija, übers. v. N. O. Gucˇinska, Majkop 1997. Für Sluckijs Übersetzungen vgl. Kulturologija: XX vek, Bd. 3, Moskva 1997, S. 82–94. Typoskript (2005) im StGA. Weitere Übertragungen durch I. Frank (Tretij glaz, Moskva 1993, S. 166), R. Evdokimov (in: Grani [St. Petersburg] 1996, Nr. 179, S. 98), Arkadij Sˇtejnberg (K verchov’jam, o. O. 1997, S. 183–186). Vgl. ferner die Anthologie der russischen lyrischen Übersetzungskunst Strofy veka – II (Moskva 1998) mit Übertragungen von Vjacˇeslav Ivanov, Valerij Brjusov, Aleksandr Bisk, Sergej Radlov, Arkadij Sˇtejnberg und Al’bert Karel’skij; außerdem Konstantin Azadovckskij (in: Lettre internationale 12/1999, S. 67). Anfang des 21. Jahrhunderts folgten Übersetzungen durch R. Evdokimov (Posle molcˇanija, St. Petersburg 2000, S. 341), Wjatscheslaw Kuprijanov (Lucˇsˇie vremena, Moskva 2003, S. 309–310), Aleksej Parin (Zarubezˇnye zapiski, H. 5, Moskva 2006), Boris Cˇulkov (Pristal’ no, Vologda 2007, S. 374–375), Svetlana Litvak (Storony sveta, Nr. 24, Moskva [2009]) sowie Wjatscheslaw Kuprijanov (Zarubezˇnaja poezija, Moskva 2009, S. 185–190). Stefan George, Sed’moe kol’co, übers. v. Vladimir Letucˇij, Moskva 2009. Im Anhang befinden sich auch Übersetzungen von Vjacˇeslav Ivanov, Valerij Brjusov, Aleksandr Bisk, Sergej Radlov und Arkadij Sˇtejnberg. Weitere Einzelübertragungen durch Valerian Tschudovskij, Sergej Makovskij, A. Flora und Erich Franz Sommer abgedruckt in: Egor G. Kostetzky, Vybranyj: Stefan George, Bd. 2. Angaben nach Egor G. Kostetzky, Vybranyj: Stefan George, Bd. 2, S. 523. Vgl. ebd.

914

III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Slowenisch 1928 entstand die bis jetzt einzige slowenische Version: eine Nachdichtung des „Schlusschors“ (VIII, 113–114) durch Kuret Niko.124 Kroatisch Miroslav Krlezˇa verfasste 1934 die erste Version ins Kroatische, weitere Übertragungen folgten aus der Feder von Zlatko Gorjan.125 Slowakisch Ins Slowakische wurde StG 1940 durch Karol Beke´nyi übersetzt. Später entstanden Nachdichtungen aus dem Jahr der Seele und dem Teppich des Lebens durch Karol Strmenˇ.126

2.5.

Griechisch

Die früheste griechische Nachdichtung legte 1899 P. Kambyses vor. Es folgte Panagyotis Kanellopoulos, dessen Auslese aus dem Teppich des Lebens, dem Stern des Bundes und dem Neuen Reich 1937 erschien.127 Bei Landmann nicht mehr verzeichnet sind die 1977 von Aris Diktaios übersetzten Gedichte.128

2.6.

Semitische Sprachen

Hebräisch Bisher legte allein J. Pressmann eine hebräische Version vor: eine Nachdichtung von dreizehn Gedichten aus dem Jahr der Seele, dem Teppich des Lebens und dem Siebenten Ring.129

124 125 126 127

Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. In: Ta ne´a gra´mmata (Athen) 3/1937, 6/7. Kambyses’ und Kanellopoulos’ Übersetzungen sind bei Landmann, George in fremden Sprachen, wiederabgedruckt. 128 Aris Diktaios, Dekatreis aiones Germanike¯s Poie¯se¯s (Dreizehn Jahrhunderte deutscher Dichtung in griechischer Sprache), Athen, Tübingen 1977. Diktaios’ Auswahl enthält nur sieben Gedichte. 129 J. Pressmann/Stefan George, Dreizehn Gedichte. Original und Übersetzung, Privatdr., Jerusalem 1953/54 (wieder in: J. Pressmann, Ben Tmol wemachar, Schirim wetargumim, Tel Aviv, Javne 1969; auch in: Landmann, George in fremden Sprachen).

2. Übersetzerische Rezeption

2.7.

915

Orientalische Sprachen

Japanisch Während StG nur punktuell ins Chinesische übersetzt wurde,130 erfreute sich im Japan der Nachkriegszeit StGs Werk einer breiten Wirkung. Die erste anspruchsvolle Übertragung legte Ogi Masao 1957 von den Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal vor.131 1959 erschien in einer Lyrik-Anthologie132 ein umfangreiches Textcorpus, das auch die übrigen Werke dem japanischen Publikum zugänglich machte. Während Masami Ogawa einige Proben aus den Hymnen gab, übersetzte Kokichi Shono Verse aus der Fibel, Michio Ishikawa aus den Büchern der Hirten- und Preisgedichte, Tomio Tezuka legte eine vollständige Nachdichtung des Jahrs der Seele vor,133 Kuniyo Takayasu übertrug den Teppich des Lebens ebenfalls in Gänze, Hidehiro Hikami bot eine Auswahl aus dem Stern des Bundes, Kiyonobu Kamimura, der bereits 1958 eine komplette Übersetzung des Siebenten Rings veröffentlicht hatte,134 ließ einige seiner Nachdichtungen erneut abdrucken, und Takuichi Nomura steuerte der Sammlung eine Auswahl aus dem Neuen Reich bei. Eine umfangreiche Auswahl vor allem aus dem Jahr der Seele, dem Teppich des Lebens und dem Siebenten Ring legte Jiro¯ Kawamura 1968 vor.135 1972 wurden die überarbeiteten Nachdichtungen von Tomio Tezuka veröffentlicht.136 Drei Jahre später erschien die Übersetzung des Binnenzyklus der Hängenden Gärten durch Minao Shibata.137 Es folgte 1986 die Nachdichtung des Binnenzyklus Maximin aus dem Siebenten Ring durch Masao Ogi.138 1993 brachte Hideki Nishida eine neue Gesamtübersetzung des Jahrs der Seele heraus.139 In demselben Jahr legte eine von Takuichi Nomura geleitete Gruppe für George-Forschung, ¯¯ ba, Shiro¯ O ¯¯ ta, Asao Okada, Kimiko Kobayshi und Kazuko Ono an der Kunihiko O mitwirkten, eine neue Version des Teppichs des Lebens vor.140 Ein Jahr danach erschien die erste vollständige Übertragung der Werke StGs ins Japanische durch

130 Vgl. Yi Zhang, Rezeptionsgeschichte der deutschsprachigen Literatur in China von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bern u. a. 2007, S. 70, 96, 177. Eine chinesische Übersetzung der Hymnen mit einigen biographischen Angaben zu StG und Erläuterungen legte Hongqin Yang vor: Hongqin Yang, Stefan George: Song Ge, in Shijie Wenxue 6/2009, S. 243–271. 131 Stefan George, Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal, Tokio 1957. 132 Lyrik der Weltliteratur VII. Beste poetische Werke der Welt: Deutsche Gedichte II, Tokio 1959. 133 Einige Übersetzungen veröffentlichte Tezuka auch in seinen Studien zu George und Rilke, Tokio 1960. 134 Stefan George, Der Siebente Ring, Tokio 1958. 135 Jiro¯ Kawamura, George. Gedichte, in: Ders./Hideo Fujikawa/Kuniyo Takayasu, George Hofmannsthal Carossa: Gedichte. Sammlung von Dichtern der Welt, Bd. 11, Tokio 1968, S. 7–112. 136 Tomio Tezuka, George. Gedichte, Tokio 1972. 137 Minao Shibata, Textbeilage zur Schallplatte: Arnold Schönberg, Fünfzehn Gedichte aus ,Das Buch der hängenden Gärten‘ von Stefan George. Gesang und Klavier, op. 15, Bärenreiter Musicaphon (Nippon Columbia) OS–2371-MC 1975. 138 Masao Ogi, Maximin, in: Die Entwicklung der modernen deutschen Lyrik. Festschrift für Dr. Shin-ichi Hoshino zu seinem 77. Geburtstag, Tokio 1986, S. 346–375. 139 Hideki Nishida, Das Jahr der Seele, Tokio 1993. 140 Gruppe für George Forschung, Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel, Tokio 1993.

916

III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Chikao Tomioka.141 Weitere japanische Übersetzer sind aufgeführt in der detaillierten, von Hiroshi Matsuo vorgelegten Bibliographie über StG in Japan.142 Im Gegensatz zur europäischen Rezeption zeichnet sich die japanische Rezeption eindeutig durch ihre Gleichmäßigkeit und eine stärkere Berücksichtigung jeder Werkstufe aus, wie die eindrucksvolle Gesamtübertragung durch Tomioka bezeugt.

2.8.

Esperanto

Bislang liegen nur zwei Übersetzungen auf Esperanto vor: die Version von „Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten“ (IV, 107) durch Lali Blond (1937)143 sowie von „Gelbe Rose“ (I, 72) durch W. A. Verloren van Themaat (1990).144

2.9.

Fazit

Abschließend seien Ergebnisse und Gesamttendenzen zusammengefasst: 1. Die diachrone Perspektive. Aufgrund von Landmanns chronologischer Übersicht145 lässt sich die übersetzerische Rezeption grob periodisieren. Die erste Phase, die Entdeckung des Werkes, verläuft parallel zur Entstehung von StGs frühen dichterischen Zyklen: Im ersten Jahrzehnt nach dem Erscheinen der ersten Übersetzung durch Albert Saint-Paul 1891 wird das Werk vor allem in Frankreich und Dänemark rezipiert. In dieser Phase entstehen auch die polnischen Übertragungen Rolicz-Lieders. Erst 1902 bahnt sich mit Broicher und Scott die englischsprachige Wirkung an. Wie in Frankreich wird StG auch in England nahezu konstant rezipiert – nur in der Phase des Ersten Weltkriegs verebbt das Interesse. Kurz nach den frühesten englischen Versionen entstehen auch die ersten niederländischen Nachdichtungen durch Verwey. In die 10er-Jahre fallen die ersten spanischen (südamerikanischen) und schwedischen Übertragungen. In den 20er-Jahren entstehen die niederländischen Übersetzungen Van der Leeuws, in den 30er-Jahren erscheinen die ersten italienischen sowie – mit Schlayer und Kanellopoulos – spanischen und griechischen Übertragungen. Zwar unterbricht der Erste Weltkrieg die englische und französische Rezeption, nicht so jedoch der Zweite Weltkrieg, in dem eine erhöhte übersetzerische Aktivität einsetzt: 1943 erscheint die erste englische Auswahl von hundert Gedichten von Morwitz und Valhope und 1941/43 veröffentlicht Boucher seine reichhaltige anthologische Sammlung. Nach 1945 erweitert sich der Rezeptionsraum geographisch: Während in Europa – angesichts der kompletten Übertragung der Hängenden Gärten durch Bird und Stokes, von Gerthofferts Algabal, Manacordas Jahr der Seele und den Castrum Peregrini-Übersetzungen – von einem Nachlassen des Interesses an StG nicht die Rede 141 Tomioka (Hrsg.), George: Sämtliche Gedichte. Rez.: Sho¯ Kaneko, in: Arbitrium 14/1996, 3, S. 398–401. 142 Hiroshi Matsuo, Stefan George in Japan. Eine Bibliographie, in: Neue Beiträge zur Germanistik 111/2003, S. 211–261, zu den Übersetzungen: S. 211–220. 143 In: Literatura mondo 7/1937, S. 44. 144 In: Literatura foiro 21/1990, 124, S. 16–19. 145 Vgl. Landmann, George in fremden Sprachen, S. 768.

2. Übersetzerische Rezeption

917

sein kann, kommen als neue Schauplätze der übersetzerischen Rezeption Südamerika, mit der umfangreichen Anthologie des Argentiniers Vicente A´lvarez, und vor allem Japan hinzu. 2. Die synchrone Perspektive. Rein quantitativ betrachtet, wurde StG am intensivsten ins Englische, Japanische, Französische, Ukrainische und Niederländische übertragen. Geringe Aufmerksamkeit zollte man dem Werk in Spanien und Italien. In Skandinavien und den slawischen Ländern wurde StG noch weniger rezipiert. Was den Übersetzungsfokus anbelangt, wurde dem Spätwerk eindeutig der Vorzug gegeben. Favorisiert wurden Der Siebente Ring und Der Stern des Bundes. Ihnen folgen in der Beliebtheitsskala der Zyklus der Hängenden Gärten aus den drei Büchern, Das Jahr der Seele und Der Teppich des Lebens. Angesichts der spanischen Gesamtübertragung der Pilgerfahrten und der französischen Gesamtübersetzung des Algabal blieben aus dem Frühwerk die Hymnen am stärksten vernachlässigt: Außer im Englischen, im Französischen, Chinesischen und Japanischen liegen sie in keiner anderen Sprache komplett vor. Dies gilt in noch stärkerem Maße für die frühen Verse der Fibel, die bislang nur von Tomioka und Lehnen berücksichtigt wurden. 3. Aus dem diachronen und synchronen Fazit ergeben sich einige Desiderata. Das dringendste ist eine Neuentdeckung von StGs Frühwerk, das außer im Englischen und Japanischen in fast allen Sprachen vom Spätwerk überschattet wird. Das Interesse für den George-Kreis als kulturgeschichtliches Phänomen und für die späten Dichtungen als dessen konzeptionelle Fundierung ging auf Kosten des lyrischen Frühwerks, das offenbar als zu wenig substanziell befunden wurde – eine Fehleinschätzung, zu welcher der George-Kreis selbst maßgeblich beitrug. Es gibt aber auch Sprachen, in die StGs Werk offenbar überhaupt nicht übertragen wurde: Dazu zählen das Finnische und das Türkische. Ins Griechische und Hebräische ist StG kaum übersetzt worden. In vielen slawischsprachigen Ländern, aber auch in Portugal, Rumänien und Ungarn sind lediglich Rezeptionsansätze vorhanden. Was für die Lyrik gilt, trifft umso mehr auf die Prosa, die Tage und Taten, zu, die, abgesehen von einigen Ausnahmen – nämlich die Übersetzungen ins Englische durch Ingrid Kyler,146 ins Französische durch Jacques de Saussure,147 ins Italienische durch Giulio Schiavoni, ins Ukrainische durch Egor G. Kostetzky und ins Japanische durch Chikao Tomioka – gar nicht ins Visier der Übersetzer geriet. Literatur Furstner, Hans, Zu einer Übersetzung von Stefan Georges ,Stern des Bundes‘, in: Gestalten um Stefan George: Gundolf, Wolfskehl, Verwey, Derleth, hrsg. v. Jan Aler, Amsterdam 1983 (Duitse Kroniek 33). Kostetzky, Egor G., Vybranyj: Stefan George po ukraı¨ns’komu ta insˇ ymy peredusim slov’jans’kymy movamy. Bd. 1: Ukraı¨ns’ki pereklady, Bd. 2: Insˇ i slov’jans’ki pereklady, prymitky, dodakty, dokumentacija, Stuttgart 1968–1973.

146 Ingrid Kyler, Days and Deeds. Notes and Sketches by Stefan George, in: University of Kansas Review 18/1951. 147 Stefan George, Pages choisies, übers. v. Jacques de Saussure, in: Cahiers du Sud 25/1938, 204.

918

III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Landmann, Georg Peter (Bearb.), Stefan George in fremden Sprachen. Übersetzungen seiner Gedichte in die europäischen Sprachen außer den slawischen, Düsseldorf, München 1973. Morwitz, Ernst / Marx, Olga, The Works of Stefan George, Chapel Hill 1949 (2. Aufl. 1974). Steffensen, Steffen, Stefan George und seine Wirkungen in Skandinavien, in: Nerthus 2/1959, S. 52–78. Tomioka, Chikao (Hrsg./Übers.), Stefan George. Georuge-Zenshishuˆ. Sämtliche Gedichte in japanischer Sprache, übers., mit Anm. u. e. biographischen Überblick, Tokyo 1994. Mario Zanucchi

3.

Bildkünstlerische Rezeption

StG und die bildenden Künste ist ein in seiner Komplexität noch keineswegs erschlossenes Thema. Das liegt zuallererst an StG selbst und seinen ambivalenten, wenig systematischen Stellungnahmen. Vieles bleibt Andeutung, bleibt unausgesprochen und zwischen den Zeilen, verdichtet sich erst in der historischen Rückschau. Das fällt umso mehr ins Gewicht, wenn man die zentrale Rolle der bildenden Künste etwa bei Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke und die für die Künste um 1900 insgesamt konstitutive Suche nach Synergien, nach intermedialen Spiegelungen und Refigurationen, nach Korrespondenzen und produktiven Spannungen in Rechnung stellt. StGs Weltbild dominierten Sprache und Dichtung, sie standen monolithisch im Zentrum, während den bildenden Künsten, ähnlich wie der Musik, eine nur periphere Rolle zukam. Wenigstens im offiziellen Sprachgebrauch des Kreises waren bildende Künste und Musik lediglich ,Privatsache‘. Im Folgenden sollen gegen diese offizielle Lesart wichtige Aspekte von StGs Wirkung und Rezeption in den bildenden Künsten nachgezeichnet werden. So unauflöslich sich dabei kreisinterne und kreisexterne Aspekte verschränken,1 soll dabei an dieser Stelle nur das künstlerisch bedeutsame Nachleben an den Rändern des Kreises und bis in die zeitgenössische Kunst hinein im Zentrum stehen. Wie so viele Stifter neuer Kunstreligionen im Aufbruch der Moderne suchte der frühe StG Identifikationsfiguren, Mitstreiter und Kampfgefährten. Programmatisch wurden im ersten Jahrgang der BfdK als Kronzeugen einer neuen Kunst Friedrich Nietzsche und Richard Wagner, aber auch Arnold Böcklin und Max Klinger aufgerufen, denen nun ein Dichter, StG, an die Seite getreten sei.2 Neben Versen, Prosatexten und Tonstücken fanden in den BfdK auch Reproduktionen nach Arbeiten von Hermann Schlittgen, Leo Samberger, August Donnay, Fernand Khnopff und Melchior Lechter Aufnahme – Künstler, die dem Symbolismus im weitesten Sinne zuzurechnen sind und damit auch die dichterische Herkunft des frühen StG spiegeln. Allerdings blieben diese künstlerischen Beiträge Episode, wenig mehr als illustrative Beigabe. Im frühen George-Kreis hat unter den bildenden Künstlern einzig Melchior Lechter eine zentrale Rolle gespielt.3 Er gehörte zu den ersten Bewunderern des Dichters und teilte mit ihm den schöpferischen Ernst und die kultisch-religiöse Auffassung des Künstlertums. Seine buchkünstlerischen Ausstattungen von StGs Gedichtbänden in den Jahren 1897 bis 1907 haben deren Rezeption und Wirkung wesentlich bestimmt. Vor allem der im Dezember 1899 erschienene Teppich des Lebens gehört zu den 1 Vgl. zu den kreisinternen Gesichtspunkten II, 2. 2 Vgl. Carl August Klein, Über Stefan George, eine neue kunst, in: BfdK 1/1892, 2, S. 45–50. 3 Vgl. Melchior Lechters Gegenwelten.

920

III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

großen Leistungen der deutschen Buchkunst.4 StGs Verse sind darin wie in einem kostbaren Schrein geborgen. Ebenso bezeichnend ist, dass StG dann 1907 die künstlerische Zusammenarbeit beendete. Immer stärker mit der ,Staatsgründung‘ befasst, wollte er seine Verse nun nicht mehr in einem Tempelbau Lechters verwahrt wissen. Um die Jahrhundertwende standen dem Dichter auch Karl Bauer, Curt Stoeving und das Künstlerehepaar Sabine und Reinhold Lepsius nahe und haben durch ihre noch näher zu behandelnden Porträts das frühe Bild des ,Meisters‘ geprägt. Erst in den späteren Lebensjahren StGs rückte dann die Plastik in Gestalt der Bildhauerarbeiten von Ludwig Thormaehlen, Frank Mehnert und Alexander Zschokke ins Zentrum des Kreises und bestimmte dessen Ikonographie. Sieht man von einzelnen frühen Bildgedichten auf Cimabue, Fra Angelico und Quentin Massys, auf Böcklin oder Max Klinger einmal ab, so ist die bildende Kunst sicher kein zentrales Thema der Dichtung StGs. Sporadische Erwähnungen in Briefen und in der Erinnerungsliteratur des Kreises lassen ebenso wie einzelne Bände im Nachlass StGs gleichwohl seine Interessen und reichen Kenntnisse der Kunstgeschichte in Umrissen erkennen. Seine besondere Wertschätzung galt der griechischen Plastik der klassischen Zeit, der romanischen Skulptur, der frühen italienischen Malerei und den deutschen Meistern von Spätgotik und Renaissance. Unter den Zeitgenossen glaubte er zeitweise in Böcklin, Klinger und Ludwig von Hofmann wesensverwandte Künstler zu erkennen. Allerdings gewinnt man den Eindruck, dass es StG vor allem darum ging, die Künstler in Dienst zu nehmen, sie seinem Kanon von ,Geistesheroen‘ und vorbildlichen Meisterwerken einzuschreiben. Die bildenden Künste waren für ihn immer zuerst Resonanzraum eigener Weltanschauung, selten lässt sich eine wirklich ästhetische Wertschätzung spüren. Überhaupt keinen Zugang fand StG zur Moderne, vehement lehnte er bis zuletzt die Kunst von Impressionismus, Expressionismus und Abstraktion ab.

3.1.

George-Bilder

StG war durch und durch Physiognomiker, sein Weltbild bestimmt von heroischen Köpfen. Die ,Gestalt‘ und vor allem das ,Haupt‘ waren ihm nicht nur Spiegel, sondern geradezu Ausweis von Größe und Geisteshaltung einer Person. Werturteile sind bei StG, gleich ob es sich um einen antiken Dichter, einen neuzeitlichen Staatsmann oder ein Mitglied des Kreises handelte, von physiognomischen Argumenten geleitet. Bezeichnend ist ein apodiktisches Schreiben an Hofmannsthal, mit dem er den Zögernden zur Übersendung einer Porträtfotografie für die ,Dichtertafel‘ der BfdK bewegen wollte: „Ich aber sage ob einer ein dichter ist darüber entscheidet rascher und uns grade so untrüglich sein gesicht wie sein gedicht“ (G/H, 251f.). Konsequent hat StG Porträts für die Inszenierung der eigenen Person genutzt und die Herstellung und Verbreitung seines Bildes zu kontrollieren gesucht. Zahllose Briefzeugnisse und Schilderungen der Erinnerungsliteratur bezeugen eindrucksvoll den Erfolg dieser Strategie. Fotografien, Zeichnungen und Druckgraphiken, Gemälde und skulpturale Bildnisse haben auf unterschiedlichen Ebenen und zu unterschiedlichen Zeiten das George-Bild 4 Vgl. I, 5.6.2.

3. Bildkünstlerische Rezeption

921

maßgeblich bestimmt. Die Wirkung des Dichters beruhte wesentlich auf seiner machtvollen Erscheinung, der George-Kult auf der Präsenz des ,Meisters‘ oder der eines stellvertretenden Bildnisses. Die Physiognomie StGs und seine physiognomischen Werturteile haben zugleich die Ästhetik des Kreises geprägt. Unverkennbar bleibt in der Stilisierung der Georgianer stets das Urbild wirksam: mit hoher Stirn, markantem Profil, prononcierten Wangenknochen und wallend zurückgeworfenem Haupthaar, dabei zwischen aristokratischer Distanz, dichterischer Inspiration und bohemienhafter Pose lavierend. Ein Schönheitskult, der das griechische Ideal der Kalokagathia mit homoerotischen Neigungen verband und die Identität des Kreises ebenso wie seine Wahrnehmung durch andere prägte. Bezeichnenderweise wollte schon der späte StG diese physiognomische Identität durch eine ,Ikonographie‘ des Kreises kanonisieren, wie sie dann, wiewohl in gewandelter Form, Robert Boehringers Mein Bild von Stefan George verwirklichen sollte. Fotografische Porträts spielen für die Medienpolitik StGs eine zentrale Rolle, gerade weil er sie nicht als Kunst, sondern als authentische Reproduktionen betrachtete.5 Schon früh machte sich StG die Möglichkeiten des neuen Mediums zunutze, gab bei seinen Binger Hoffotografen Jacob und Theodor Hilsdorf ganze Serien offizieller Bildnisse in Auftrag und suchte deren Auswahl und Zirkulation eifersüchtig zu kontrollieren. Der Erhalt einer von StG autorisierten Originalfotografie hatte einen hohen symbolischen Wert und eine wichtige Funktion innerhalb der komplexen, von Nähe und Distanz regierten Ökonomie des Kreises. Die wichtigsten frühen Bildnisse StGs stammen aus dem direkten Umfeld des Dichters. Im Auftrag des Kölner Möbelfabrikanten Jakob Pallenberg realisierte Lechter in den Jahren 1897 bis 1903 eines der aufwendigsten und anspruchsvollsten Gesamtkunstwerke seiner Zeit.6 Der im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörte PallenbergSaal trug dem Künstler schon bei der Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 eine Goldmedaille ein. Das Hauptbild zeigt Die Weihe am mystischen Quell. Der vor einer weiblichen Allegorie der Dichtkunst kniende Jüngling trägt unverkennbar die Züge StGs, der für Lechter den Archetypus des großen Schöpferischen verkörperte.7 Fotografische Reproduktionen des Bildes wurden in aufwendig gestalteten Rahmen verbreitet. Zur Vorbereitung der knienden Dichterfigur fertigte Lechter eine zarte, in Blei ausgeführte Kopfstudie an. Dieses hoch stilisierte Profilbildnis im Rund ist schon zu Lebzeiten des Dichters häufig abgebildet und noch jüngst bei den großen Ausstellungen zu den Themen SeelenReich, Lebensreform und Melchior Lechters Gegenwelten als repräsentatives George-Bildnis gezeigt worden (Abb. 1).8 In den Jahren 1896 bis 1913 war StG in Berlin häufig bei Reinhold und Sabine Lepsius zu Gast. Ihr Haus im Westend gehörte zu den zentralen Stätten des George-Kreises und lieferte dem Dichter, ähnlich wie der Wolfskehlsche Salon in München, eine wichtige gesellschaftliche Bühne. Allerdings scheint die monumentalische Präsenz StGs die Kreativität des gerade im Porträtfach ausgewiesenen Malerehepaa5 Vgl. Mattenklott, Bilderdienst; Raulff, Plastische Passbilder; außerdem II, 2.3.2., II, 5.4.1. 6 Vgl. Krause, Lechters Pallenberg-Saal; Melchior Lechters Gegenwelten. 7 Vgl. II, Abb. 10. 8 Vgl. SeelenReich. Die Entwicklung des deutschen Symbolismus 1870–1920, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Ingrid Ehrhardt u. Simon Reynolds, Frankfurt/M. 2000; Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Ausstellungskatalog, hrsg. v. Kai Buchholz u. a., Darmstadt 2001; Melchior Lechters Gegenwelten.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

res geradezu erdrückt zu haben. Exemplarisch wird dies an einem allegorischen Bildnis StGs von Sabine Lepsius anschaulich. Das 1898 begonnene, in der Art eines Triptychons konzipierte Werk zeigte den priesterlich gewandeten Dichter in einer unwirklichen Gartenlandschaft sitzend, von einem Harfe spielenden Mädchen und zwei nackten musizierenden Jünglingen flankiert (Abb. 2).9 StG wirkt marionettenhaft, seltsam unbeweglich und abwesend, geradezu das Gegenbild seiner oft beschworenen auratischen Präsenz. Lepsius hat lange mit ihrem George-Bild gerungen und die Komposition später radikal beschnitten und allein auf die Figur StGs reduziert. Dieses Fragment ist im Besitz des Frankfurter Städel und heute als Dauerleihgabe im Stefan George-Museum in Bingen ausgestellt. Von Reinhold Lepsius stammt ein düsteres, in dunklen Braun- und Schwarztönen gehaltenes ,rembrandtdeutsches‘ Bildnis des Dichters von 1917.10 StG ist sitzend in einem nur angedeuteten Lehnstuhl dargestellt und wirkt in der betont altmeisterlichen Manier und der angestrengten Pose wenig inspiriert. Künstlerisch bedeutsamer ist ein von Lepsius bereits um 1900 ausgeführter Holzschnitt. Auf die markante Umrisslinie reduziert, ist das Profil in kontrastreichem Hell-Dunkel auf die schwarz gerahmte Fläche gesetzt, darunter das Signet des Künstlers und der wie in Stein gemeißelte Name des Dichters in Rot platziert (vgl. II, Abb. 8). Eben dieses Bildnis stellte Sabine Lepsius 1935 ihrem Erinnerungsbuch Stefan George. Geschichte einer Freundschaft voran. Über viele Jahrzehnte schmückte es die Kataloge des für seine Georgiana bekannten Würzburger Antiquariats Osthoff. Heute dient Lepsius’ ebenso machtvolle wie lyrische Synthese des Dichterprofils als Signet der Online-Bibliographie des Stefan George Archivs. Bereits 1892 begegnete Karl Bauer dem Dichter und hat diesen vor allem im Verlauf des folgenden Jahrzehnts in zahllosen Bildnissen festgehalten und in verschiedenen Rollen inszeniert, etwa StG in altdeutscher Tracht, StG als prophetischer Seher, StG mit dem Colleoni (vgl. II, Abb. 9), StG im Danteprofil, StG in Cäsarenpose oder der Dichter als Hl. Georg bzw. als Ritter.11 Bauer entwirft einen ganzen Kosmos von George-Bildern, die dem Publikum verschiedene Deutungs- und Identifikationsmodelle anbieten. Sein Gruppenporträt der Münchner Kosmiker zeigt neben StG, Wolfskehl, Gundolf, Vollmoeller, Schuler und Klages im Hintergrund auch den Künstler 9 Bereits abgedruckt in: Oelmann, Malerehepaar Lepsius, S. 33; vgl. Dorgerloh, Künstlerehepaar Lepsius. 10 Vgl. Stefan George in Darstellungen der bildenden Kunst, S. 30–32. 11 Vgl. ebd., S. 4–8, 33–47; vgl. ¤ Karl Bauer.

3. Bildkünstlerische Rezeption

923

selbst. Mit seinen in Einzelblättern und Serien, als Postkarten, in Büchern, Kalendern und Zeitschriften zum Teil in hohen Auflagen verbreiteten Porträts von deutschen ,Geistesheroen‘ hat Bauer über Jahrzehnte hinweg kollektive Vorstellungen von Kunst und Kultur, von Geschichte und Politik geprägt. Seine scharf konturierten Physiognomien von Arminius und Friedrich Barbarossa, von Goethe und Schiller, von Beethoven und Brahms, von Nietzsche und Wagner haben sich tief in das nationale Gedächtnis eingegraben und an der Etablierung deutscher Geschichtsbilder mitgewirkt. Unbeeindruckt von der rasanten Entwicklung der Moderne ist Bauer einem rückwärtsgewandten Naturalismus treu geblieben und war damit in der Weimarer Republik wie unter den Nationalsozialisten gleichermaßen erfolgreich. Entwicklungsgeschichtlich sind seine Porträts wenig relevant, allerdings lassen sich hier exemplarisch die Wirksamkeit von Bildern, ihre strategische Bedeutung für die Formierung und Durchsetzung kanonischer Geschichtsbilder und zentrale Aspekte einer physiognomischen Kulturgeschichte Deutschlands im frühen 20. Jahrhundert untersuchen. Das gilt auch für seine George-Bildnisse, die, stärker als Originalfotografien und Büsten, deren Zirkulation der Dichter stark zu kontrollieren suchte, das kollektive

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Bild StGs geprägt haben. Eine noch zu leistende, qualitativ wie quantitativ argumentierende, auch nach sozialen Gruppen differenzierende Wirkungsgeschichte könnte hier ansetzen. In den späten Lebensjahren StGs rückte die Plastik ins Zentrum des Kreises. Der Dichter schätzte von jeher antike und mittelalterliche Bildwerke und hatte sogar Rodin in Paris besucht. 1913 fertigte der in der Bildhauerei dilettierende Kunsthistoriker Ludwig Thormaehlen, eine der zentralen Figuren des jüngeren George-Kreises und Mitarbeiter der Berliner Nationalgalerie, einen Kopf des Dichters in Lindenholz (Schiller-Nationalmuseum Marbach als Depositum der Stefan George Stiftung; Abb. 3).12 Das Porträt gefiel StG außerordentlich in seiner auf das Wesen zielenden archaischen Einfachheit und Wucht und machte die Ausführung von Porträts beinahe umgehend zu einer legitimen, der Dichtung nahezu ebenbürtigen ,Arbeit am Mythos‘ des Kreises. Thormaehlen schuf in der Folgezeit immer wieder Bildnisse des Dichters, aber auch solche von Johann Anton, Albrecht von Blumenthal, Erich Boehringer, Frank Mehnert, Ernst und Friedrich Gundolf, Percy Gothein, Walther Greischel, Kurt Hildebrandt, Ernst Morwitz, Wilhelm Stein, Berthold Vallentin, Walter Wenghöfer und Friedrich Wolters. Sein Berliner Atelier avancierte zu einem zentralen Treffpunkt des Kreises, und seinem Vorbild folgend begannen auch Alexander Zschokke und Frank Mehnert jüngere Freunde und Gefährten systematisch in Holz, Gips und Bronze zu formen: Dutzende georgianischer Köpfe, die stets auf StG als Archetypus Bezug nehmen und stilistisch von einem hart modellierten, glatten Naturalismus bestimmt sind. Dieses gespenstische Pantheon des ,Geheimen Deutschlands‘ diente vor allem der kreisinternen Erinnerungskultur und ist 2008 Gegenstand einer großen Ausstellung im Marbacher Literaturmuseum gewesen.13

12 Vgl. Greischel/Stettler, George im Bildnis, S. 89–92. 13 Vgl. Raulff/Näfelt, Das geheime Deutschland.

3. Bildkünstlerische Rezeption

3.2.

925

George und die Moderne

Wesentliche Aspekte der Wirkung und Rezeption StGs in den bildenden Künsten führen über den Dichter hinaus zu Schlüsselfiguren der Moderne, direkt in den Kreis des Blauen Reiters und der Brücke. Karl Wolfskehl, einer der wichtigsten Vertrauten des frühen StG, hatte eine sehr viel offenere Weltsicht als dieser und war der modernen Kunst gegenüber aufgeschlossen. Der Wolfskehlsche Salon in der Leopoldstraße bzw. später in der Römerstraße war nicht nur StGs bevorzugter Aufenthaltsort in München, sondern zentraler Treffpunkt von Dichtern, Schriftstellern und Bibliophilen, von Kulturkritikern, Schauspielern und Künstlern. Wolfskehls von Energie überströmende Persönlichkeit, seine Qualitäten als ,Gesprächsmensch‘, seine vielfältigen Interessen, seine Offenheit und sein Hunger nach Menschen sind vielfach beschrieben worden und machten den ,Zeus von Schwabing‘ zu einer Figur von eminent katalysatorischer Wirkung in der komplexen Gemengelage Münchens im Aufbruch der Moderne.14 Hier verkehrten Emil Preetorius, Alfred Kubin, Rolf von Hoerschelmann und Peter Behrens ebenso wie die Künstler des Blauen Reiters, Wassily Kandinsky, Franz Marc, August Macke, Gabriele Münter und Paul Klee. Wolfskehl besaß nicht nur wichtige Werke wie Kandinskys Landschaft mit roten Flecken (Essen, Folkwang Museum), Marcs Lamm (Privatbesitz) oder Klees Blick zum Hafen von Hammamet (Privatbesitz), sondern stand mit den Künstlern in freundschaftlichem Austausch. Davon zeugen über Jahre hinweg Tagebucheintragungen, Briefe und Widmungen. Wolfskehl bahnte Ausstellungen und den Verkauf von Bildern an, vor allem aber war er Gesprächspartner und Mittler von Ideen und Lektüren. In den Jahren 1910 bis 1912 gaben Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters im Auftrag von StG das Jahrbuch für die geistige Bewegung heraus. In welchem Maße sich die Gedankenwelt des Blauen Reiters und jene des George-Kreises in der gemeinsamen Suche nach einer ,neuen geistigen Kunst‘ tangierten, verdeutlicht Kandinskys 1912 veröffentlichtes Manifest Über das Geistige in der Kunst. Bis in die Diktion hinein reichen hier die Affinitäten, und einiges deutet darauf hin, dass Wolfskehl für den befreundeten russischen Künstler sogar die sprachliche Überarbeitung des Textes übernahm. In dem wenige Monate später erschienenen Almanach des Blauen Reiters definierte Marc als Ziel der neuen Kunst, „ihrer Zeit Symbole zu schaffen, die auf die Altäre der kommenden geistigen Religion gehören“.15 Dem Almanach wurde programmatisch Anton von Weberns Vertonung von StGs Gedicht „Ihr tratet zu dem herde“ (IV, 114) aus dem Jahr der Seele beigegeben.16 Für den nie realisierten zweiten Band des Almanachs schließlich sollte Wolfskehl einen Beitrag übernehmen. Ohne dass sich immer klar entscheiden ließe, wo in dem pantheistischen Gedankengebäude des Blauen Reiters direkte Übernahmen oder eher der Rekurs auf gemeinsame Urbilder vorliegen, zeugt doch die Dichte der Schnittmengen von der Ähnlichkeit ihrer Kunstauffassungen. StG selbst war in diesen Jahren häufig in München. Durch die Vermittlung Wolfskehls war seine Gedankenwelt den Künstlern des Blauen Reiters eng vertraut. Umstritten und letztlich nicht zu beweisen bleibt, ob mit Kandinskys frühem Farbholz14 Vgl. Schütze, Wolfskehl und die bildende Kunst. 15 Franz Marc, Die „Wilden“ Deutschlands, in: Der Blaue Reiter, hrsg. v. Wassily Kandinsky u. Franz Marc, München 1912, S. 5–7, hier: 7. 16 Vgl. Horseley, Almanach, S. 258–272.

926

III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

schnitt Abschied von 1903 (Abb. 4), mit seinem berühmten Titelblatt des Blaue Reiter-Almanachs von 1912 oder Münters im selben Almanach abgebildeten Stilleben mit dem Hl. Georg (Städtische Galerie im Lenbachhaus München) eine Hommage an den Dichter verbunden war.17 StGs Briefsiegel schmückte ein Bild des Drachentöters. Seine Identifikation mit dem Heiligen Georg war durchaus geläufig und war bereits 1903 von Karl Bauer zu einem allegorischen Porträt genutzt worden. Viel entscheidender ist, dass StGs Vision einer ,neuen geistigen Kunst‘ mittelbar und unmittelbar auf so wichtige Vertreter der Moderne wie Kandinsky, Münter, Macke, Marc und Klee gewirkt hat.

17 Vgl. Weiss, Kandinsky in Munich, S. 81–91.

3. Bildkünstlerische Rezeption

927

Unter anderen Vorzeichen und mit ganz anderen Protagonisten ergab sich wenige Jahre später in Berlin eine ähnliche Konstellation. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg lernte Ernst Morwitz, der zu den zentralen Figuren des George-Kreises zählte, durch den Kunsthistoriker Walter Kaesbach vermittelt Erich Heckel kennen, der 1905 mit Karl Schmidt-Rottluff, Ernst Ludwig Kirchner und Fritz Bleyl in Dresden die Künstlergemeinschaft ,Brücke‘ begründet hatte, der sich im folgenden Jahr auch Emil Nolde, Max Pechstein und Cuno Amiet anschlossen. StGs Gedichte wurden im Brücke-Kreis gelesen, man bewunderte vor allem die Strenge seiner Kunstauffassung. Mit dem Umzug der Künstlergemeinschaft nach Berlin und ihrer baldigen Auflösung im Jahre 1913 gingen ihre Mitglieder stärker eigene Wege. Die Freundschaft zwischen Morwitz und Heckel festigte sich im Ersten Weltkrieg während der langen Jahre gemeinsamen Sanitätsdienstes in Flandern,18 einer Zeit intensiven Gesprächs und gemeinsamen Arbeitens, die, gerade unter den schwierigen Kriegsbedingungen, zu einem prägenden Erlebnis wurde. In Berlin sahen sich Heckel und Morwitz bis in die 30er-Jahre regelmäßig und trafen sich mit Mitgliedern ihrer alten Sanitätskompanie. Neue Freunde traten hinzu, darunter jüngere Mitglieder des George-Kreises wie Ludwig Thormaehlen, Wilhelm Stein und Alexander Zschokke. Heckel nahm gelegentlich an Lesungen in der Werkstatt Thormaehlens, dem sogenannten ,Achilleion‘, teil. Glaubt man einem Brief Thormaehlens an StG vom 28. Januar 1919, so versuchten Morwitz und Thormaehlen gezielt, Heckel als „Haupt der Expressionistenschule dem Expressionismus abwendig zu machen“ (StGA), ihn für die Welt StGs zu gewinnen und so auch künstlerisch zu einer Umkehr und Neuausrichtung zu bewegen.19 Thormaehlen war überzeugt, dass der bei Heckel seit Mitte des zweiten Jahrzehnts zu beobachtende Stilwandel, seine Hinwendung zu gedämpften, tonigeren Farben und einer klassischeren Figurenauffassung, dem Geist StGs entspringe. Der Dichter allerdings blieb bei seiner kategorischen Ablehnung der Moderne, und Thormaehlen musste in seinem Atelier die Werke Heckels abhängen, wenn StG zu Besuch kam (LT, 229). Zweifellos lässt sich die künstlerische Entwicklung Heckels nicht einfach als ,georgianische Wende‘ beschreiben. Gedichte, Briefe und Aufzeichnungen u. a. von Morwitz und Thormaehlen belegen jedoch neben den vielen Porträtdarstellungen Heckels, wie eng der Künstler Teilen des Kreises verbunden war. Nach der Auflösung der Brücke fand Heckel hier offensichtlich eine neue geistige Heimat. Bezeichnend ist etwa, dass er Einband und Schutzumschlag für Morwitz’ Buch Die Dichtung Stefan Georges gestaltete, das 1934 als letzter Band mit dem Signet der BfdK erschien. Ein monumentales Zeugnis seiner Auseinandersetzung mit StG, dem er allerdings persönlich nie begegnet ist, hat Heckel in den Fresken des Angermuseums in Erfurt hinterlassen.20 1921 erhielt er von dem neu berufenen Direktor des Museums Walter Kaesbach den Auftrag, einen ganzen Raum mit Wandmalereien auszugestalten. Diese bedeutendste erhaltene Raumausstattung des Expressionismus ist dem Thema der Lebensstufen gewidmet. An der Stirnwand ist die Welt des Mannes dargestellt, mit der Figur StGs im Zentrum (Bildtafel M). In einer unwirklichen Hochgebirgslandschaft steht der priesterlich gewandete Dichter, umgeben von einer zu Gruppen geordneten, nackten Schülerschar, darunter Morwitz, Thormaehlen, Wilhelm Stein und Josef 18 Vgl. Philipp, Der Freund des Freundes; Dahlmann, Die „innere Gemeinschaft“. 19 Vgl. Philipp, Der Freund des Freundes, S. 78. 20 Vgl. Lucke/Hünicke, Heckel. Lebensstufen; Dahlmann, Die „innere Gemeinschaft“.

928

III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Liegle. StG und George-Kreis werden hier als pädagogisches Modell, als Idealbild einer die Generationen verbindenden Paideia stilisiert. Als später Nachklang dieser Berührungen von Expressionismus und George-Kreis kann die Begegnung von Max Beckmann und Wolfgang Frommel im Amsterdamer Exil gelten.21 Beide lernten sich wohl durch den mit Beckmann befreundeten Galeristen Carel van Lier kennen. Dieser hatte 1941 eine Ausstellung mit Werken von Gise`le van Waterschoot van der Gracht veranstaltet, in deren Haus an der Herengracht Frommel seit 1942 wohnte. Beckmanns Tagebücher zeigen, dass Frommel ihn in den Jahren 1942 bis 1945 regelmäßig in seinem Atelier an der Rokin besuchte. Intensive Gespräche kreisten um Literatur, Kunst und Politik. Eindrucksvoll hat der Maler die besondere Atmosphäre dieser Begegnungen in seinem 1943 entstandenen Gemälde Les Artistes mit Gemüse (St. Louis, Washington University Art Gallery) verarbeitet. Vier deutsche Emigranten, neben Beckmann und Frommel die Maler Friedrich Vordemberge-Gildewort und Otto Herbert Fiedler, sitzen dicht gedrängt, bei notdürftiger Beleuchtung um einen Küchentisch: „Eine Art geistiges oder rituelles Mahl“, das die Bedeutung dieser Gemeinschaft für das Überleben im Exil anschaulich macht.22 Frommel und Beckmann verbanden eine konservative, neohumanistische Weltanschauung und eine heroische Auffassung von Künstlertum ebenso wie das Interesse an der antiken Mythologie. Frommel stilisierte die Exilerfahrung gerne als Irrfahrt der Argonauten, die ausgezogen waren, um mit Leier und Schwert das Goldene Vlies zurückzuerobern. Im Februar 1943 führte er mit Beckmann ein langes Gespräch über Ursprung und Aktualität des Mythos. „In Erinnerung an das Argonautengespräch“ schenkte ihm Beckmann ein Foto seines eben vollendeten Gemäldes Junge Männer am Meer (St. Louis, City Art Museum).23 Im April 1945 begann Beckmann ein Porträt von Frommel (New York, Privatsammlung), in dem dieser inschriftlich als Orpheus bezeichnet ist.24 Ohne Auftrag entstanden, fand das Gemälde allerdings nicht das Gefallen des Porträtierten und wurde erst 1948 in New York fertiggestellt. Den Argonautenmythos hat Beckmann dann zum Thema seines letzten großen Werks, dem 1949 bis 1950 in Amerika entstandenen Argonauten-Triptychon gemacht (Bildtafel L).25 Auf dem Mittelbild steigt ein alter bärtiger Mann aus dem Meer empor und weist den beiden als Orpheus und Jason zu identifizierenden Jünglingen den Weg, nach einer Notiz von Mathilde Quappi Beckmann „den Weg zu einer höheren Ebene des Bewusstseins über dem irdischen Leben“.26 Wie in Heckels Lebensstufen und in einer ähnlichen georgianischen Lehrer-Schüler-Konstellation steht auch hier das Thema der Paideia im Zentrum. Frommel selbst hat die geistige Vaterschaft für das Argonautenthema und seine spezifische Interpretation bei Beckmann ausdrücklich für sich beansprucht.27 21 Vgl. Göpel, Beckmann. Argonauten; Frommel, Max Beckmann; Bormann, Beckmann im niederländischen Exil. 22 Erhard und Barbara Göpel, Max Beckmann. Katalog der Gemälde, 2 Bde., Bern 1976, S. 377, Nr. 626; für das Zitat vgl. Max Beckmann 2007, S. 198–199, Nr. 23. 23 Göpel, Max Beckmann. Katalog der Gemälde, S. 379, Nr. 629. 24 Vgl. ebd., S. 482, Nr. 794. 25 Vgl. ebd., S. 506–509, Nr. 832. 26 Mathilde Quappi Beckmann, Mein Leben mit Max Beckmann, München 1985, S. 179. 27 Vgl. Göpel, Beckmann. Argonauten; Frommel, Max Beckmann; dazu kritisch Schwarz, Abfahrt der Argonauten.

3. Bildkünstlerische Rezeption

3.3.

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George in der zeitgenössischen Kunst

Ähnlich wie Wagner und Nietzsche ist auch StG zeitweise von der nationalsozialistischen Kulturpropaganda als Kronzeuge und Wegbereiter in Anspruch genommen worden. Hier ist nicht der Ort, erneut die widersprüchliche Haltung StGs zum Nationalsozialismus und den radikalen Bruch, die Zerwürfnisse persönlicher und ideologischer Natur nachzuzeichnen, die die Machtergreifung Hitlers für den George-Kreis bedeutete. Die Rezeption StGs nach dem Zweiten Weltkrieg jedenfalls wurde nachhaltig von dem Verdacht, er habe Hitler mit seinem ,Neuen Reich‘ den Weg bereitet, bestimmt und hat eine Auseinandersetzung mit seinem Werk auch in den bildenden Künsten lange verhindert. Die verstreuten George-Porträts, von denen die besten von Alexander Zschokke und Urban Thiersch stammen, sind wenig mehr als späte Nachfahren der kreisinternen Erinnerungskultur. Künstlerisch bedeutsame George-Interpretationen gibt es nur wenige. Unter den zeitgenössischen Künstlern sind vor allem Hermann Nitsch und Anselm Kiefer hervorzuheben. Der österreichische Aktionskünstler Hermann Nitsch hat sein Konzept des Orgien Mysterien Theaters ausgehend vom Urmythos Dionysos und dessen Deutungen bei Nietzsche, vom Gesamtkunstwerk Wagners und von der Psychoanalyse Freuds und Jungs entwickelt. In einer programmatischen, fast tausendseitigen Abhandlung Zur Theorie des Orgien Mysterien Theaters. Zweiter Versuch hat Nitsch seine Quellen dargelegt und die Bedeutung seiner umfangreichen, meist in die Studienzeit zurückreichenden Lektüren erläutert.28 Dabei geht es ihm nicht nur um eine „theorie des o. m. theaters […] sondern […] um eine philosophische darlegung der welt, deren ausdruck, deren liturgie das spiel des o. m. theaters ist“.29 Seine Lektüren sind dabei immer ausdrücklich Gesten emphatischer Aneignung: „die dringend gebrauchten ausseneinflüße der grossen kunst und philosophie, nach denen ich lechtzte, lösten nur aus, was längst in mir war, und fügten ein neues gedankengebäude zusammen“.30 Neben Philosophie, Musik und Psychoanalyse findet Nitsch bei seiner Suche nach einer neuen Kunstreligion, nach Synästhesie und Gesamtkunstwerk auch in Literatur und Dichtung wichtige Referenzpunkte. Baudelaire, Rimbaud und Mallarme´, Trakl, Hofmannsthal und StG sind für ihn „sprachrohre des mythischen“.31 Das „wortschöpferische“, die „sprachliche dichte, wortsinnlichkeit und farbe“ sind ihm Vorbild.32 In Interviews und Stellungnahmen hat Nitsch sich häufiger direkt auf StG bezogen. Im § 286 seiner Theorie des Orgien Mysterien Theaters hat er einzelne Verse StGs sowie einige seiner Übertragungen nach Mallarme´ abgedruckt und beschrieben, was ihm der Dichter bedeutet: bevor ich noch eingehend das werk von george kennengelernt hatte, hörte ich von seinem kreis. der kult, den er mit der sprache, mit der kunst veranstaltete, und vor allem, dass er kunst als religiöse betätigung begriff, machte mich hellhörig für ihn. wissend um die sakralisierungstendenzen, die klimt, die wiener secessionisten und skrjabin bestimmten, verstand ich das ansinnen georges.33 28 Nitsch, Theorie. 29 Ebd., S. 6. 30 Ebd., S. 369. 31 Ebd., S. 712. 32 Ebd., S. 38, 223. 33 Ebd., S. 263.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Durch „diesen religion und mythos stiftenden dichter, der sein eigenes ritual und die schönheit eines (sprach)kultes schuf“, fühlte Nitsch sich in seiner Kunstauffassung bestätigt.34 Aber es war auch die „ornamenthafte (teppichhafte), vollglühend farbige, sinnliche, sinnlich sensibelst hinaufsublimierte und dennoch lodernde sprache georges“.35 Durch seinen ,Sprachgebrauch‘ habe er viel gelernt, von ihm habe er „das feierliche, manifestartige verkünden“ übernommen. Schon der „manifestartige text“ zur Einladung seiner ersten öffentlichen Ausstellung 1960 sei „vielfach von george beeinflusst“.36 Er liebe das „streng formbestimmte, lebensbejahende sakrale werk georges“. Die „heilige lebensfestlichkeit“ des Dichters sei „eine gewaltige vorstufe zum o. m. theater“, er habe ihn „verführt, kult und ritual ohne worte zu entwerfen“.37 StGs Vorbild folgt der Künstler ausdrücklich in seiner priesterlichen Gewandung und der konsequenten Verwendung der Kleinschreibung, die er noch radikaler als StG selbst zur Anwendung bringt, indem er sogar die Zeilenanfänge der von ihm zitierten Verse StGs kleinschreibt. Über den bekenntnishaften Ton hinaus zeugen die Äußerungen Nitschs von einer erstaunlich tief gehenden Auseinandersetzung. Treffsicher charakterisiert er wesentliche Aspekte von StGs Dichtung und seine Wandlung von einer symbolistischen L’art pour l’art-Ästhetik hin zur staatsbildenden Strenge des Neuen Reichs. Als Schüler Mallarme´s habe StG „sehr viel romanisches formbewusstsein in die deutsche sprache gebracht“.38 Nachdem es ihm zunächst allein um die Form gegangen sei, habe ihm diese später dazu gedient, „ein neues evangelium zu verkünden“.39 Bemerkenswert ist, vor allem wenn man in Rechnung stellt, dass Nitsch seine Überlegungen im Wesentlichen in den späten 50er- und frühen 60er-Jahren formulierte, wie stark er StG und dessen Kreis als ,sakrales‘ Phänomen wahrgenommen hat und mit Begriffen wie Priesterschaft und Ordensgemeinschaft, wie Ritual, Liturgie und Kult konzeptualisierte, die die George-Forschung in jüngerer Zeit bestimmen.40 Bemerkenswert ist auch, wie sachlich und nüchtern er das lange tabuisierte Thema Sexualität und George-Kreis benennt. Der Dichter habe sich „voll zu seiner homosexualität bekannt“, habe sie verklärt und, exemplarisch im Maximin-Kult, einen „neuen mythos“ daraus gemacht: die knabenliebe und liebe von mann zu mann wurde in georges kreis verherrlicht. der pädagogische eros verband sich mit einer hohen lehre von kunst und religion. neben der in die sprachästhetik hineinstilisierten philosophie und religion war sicher die kultisch veredelte homosexualität die bindekraft des george-kreises.41

In der Tat lässt sich bei keinem anderen zeitgenössischen Künstler eine vergleichbar intensive Auseinandersetzung belegen. Für Nitsch ist StG eine zentrale Identifikationsfigur, der seine sakrale Auffassung vom Künstlertum geprägt und wesentliche Bausteine seines synkretistischen Weltbilds geliefert hat. Aus seiner Perspektive be34 Ebd. 35 Ebd., S. 270. 36 Ebd., S. 264. 37 Ebd., S. 270. 38 Ebd., S. 267. 39 Ebd. 40 Vgl. Breuer 1995; Braungart 1997; Karlauf 2007; Raulff 2009. 41 Nitsch, Theorie, S. 269.

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deutet das Orgien Mysterien Theater eine Radikalisierung des Konzepts von Kunst und Leben und eine konsequente Fortführung der ,Leibvergottung‘ StGs. Der Fall Nitsch zeigt exemplarisch, gerade weil sein Orgien Mysterien Theater so weit von der Welt StGs entfernt zu liegen scheint, dass Haupt- und Nebenwege der Wirkungsgeschichte zuallererst als Suche des Eigenen im Fremden zu begreifen sind, aber auch welch kathartischen Blick der radikale Perspektivismus der Nachgeborenen freizusetzen vermag. In eine ganz andere Richtung zielt die George-Rezeption bei Anselm Kiefer. Im Rahmen einer tief greifenden „künstlerischen Erforschung deutscher Mentalitätsund Geistesgeschichte“ hat er sich mit Grundfragen nationaler Identität und den Möglichkeiten einer Kunst nach Auschwitz beschäftigt.42 Neben geschichtsträchtigen Mythen wie dem deutschen Wald oder der Nibelungensage stehen dabei immer wieder ,Heroen‘ der deutschen Geschichte im Zentrum. In mehreren Arbeiten wird StG mit anderen Dichtern und Denkern wie Hölderlin, Novalis oder Klopstock, Kant, Fichte, Nietzsche oder Heidegger aufgerufen und nach ihrer Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten und ihrer Verantwortung für die deutsche Katastrophe gefragt. Die Reihe der George-Bilder setzt 1974 mit einem kleinen, in Aquarelltechnik ausgeführten Porträt ein, das die emphatische Aufschrift „Stefan!“ trägt und schon durch die Wahl des Vornamens irritierende Vertrautheit mit dem Dichter suggeriert. Über einer düster beleuchteten Seelandschaft ragt zyklopisch das Haupt StGs auf, ja scheint geradezu aus dem Bergmassiv hervorzuwachsen (Bildtafel N). Bedeutend sind dann vor allem Kiefers in den Jahren 1976 bis 1980 entstandenen großen Historienbilder, die um die Figur Herrmann des Cheruskers kreisen, der Varus, die Wege der Weltweisheit (Sammlung Sanders Amsterdam) und die Wege der Weltweisheit – die Herrmann-Schlacht.43 Der Varus zeigt eine winterliche Waldansicht (Abb. 5). In streng hierarchischer Staffelung begrenzen Nadelbäume einen breiten Weg. Der Bildausschnitt ist so gewählt, dass die dunklen, dicht gedrängten Stämme und das kahle Astwerk den wie eine Schneise gewaltsam in die Tiefe vorstoßenden Weg tunnelartig einfassen. Die Szenerie ist menschenleer, lediglich die Blutspuren im Schnee verweisen auf das Schlachtgeschehen. Der Eindruck des Unwirklichen und Bedrohlichen wird durch die auf Braun-, Schwarz- und Weißtöne reduzierte Farbigkeit und die markante Pinselfaktur noch gesteigert. Die im vorderen Bildgrund angebrachten Inschriften, „Varus“, „Herrmann“ und „Tusnelda“, verweisen auf das Thema des Bildes: die berühmte Schlacht im Teutoburger Wald des Jahres 9 n. Chr., in der die Germanen unter Führung von Arminius den römischen Legionen des Publius Quintilius Varus eine vernichtende Niederlage zufügten. Aber es geht Kiefer nicht um das historische Ereignis, sondern um seine Rolle als Gründungsmythos germanischdeutscher Identität. Weitere Namensinschriften im oberen Bereich rufen Philosophen und Dichter wie Fichte, Schleiermacher und Heidegger, Hölderlin, Kleist, Grabbe, Rilke und StG auf, aber auch Königin Luise und den Feldmarschall Alfred Graf von Schlieffen, der in den Jahren 1891 bis 1906 den Generalstab des deutschen Heeres befehligte. Das undurchdringliche Dickicht des Waldes verweist ebenso wie die Ge42 Schütz, Anselm Kiefer, S. 226. 43 Vgl. ebd., S. 207–237; Arasse, Anselm Kiefer, S. 122–128. Kiefer hat das Thema in verschiedenen Versionen gestaltet, in denen die Anordnung der Porträts und die Auswahl der Porträtvorlagen zum Teil variiert; vgl. Anselm Kiefer 2007.

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dankenlinien, die einzelne Namen verbinden, auf die abgründigen Verflechtungen zwischen Gedanken und Taten, zwischen Dichtung, Philosophie und Politik. Während die anderen Dichter und Denker mit Vor- und Nachnamen bezeichnet sind, werden StG und Heidegger, besondere Vertrautheit und Nähe suggerierend, lediglich beim Vornamen genannt. Stefan und Martin, prominent links oben platziert, wird damit eine gewichtige Rolle für Verbreitung und Aktualisierung des HerrmannMythos zugewiesen, obwohl beide, anders als Kleist, Klopstock oder Grabbe, nicht durch prominente Bearbeitungen des Themas hervorgetreten sind. Die Wege der Weltweisheit (1976/77) kreisen um eben diese Thematik. Die ganze Leinwand ist von dicht gedrängt stehenden Bäumen bedeckt, allerdings sind diese zu einem großen Teil von nebelartigen Schwaden überzogen, welche nur im Zentrum den direkten Blick auf den Wald freigeben. Der Titel des Bildes ist am oberen linken Bildrand eingeschrieben, während direkt unterhalb des kreisförmigen Ausblickes im Zentrum eine weitere Inschrift das Thema als „Die Herrmanns Schlacht“ identifiziert. In den konzentrisch angeordneten Schwaden erscheinen, ein wenig an Sprechblasen erinnernd, Porträts bedeutender, meist inschriftlich bezeichneter Dichter und Denker. Ganz am linken Bildrand ist das Profilbildnis StGs zu erkennen und mit „Stefan“ betitelt. Kräftige, schlangenartig wirkende Gedankenlinien verbinden die Porträts mit dem Zentrum. Die künstlerisch eindrucksvollste Formulierung des Themas ist Kiefer in seiner Holzschnitt mit Acryl- und Schellackübermalungen verbindenden, 3,44 x 5,28 m

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messenden Fassung Wege der Weltweisheit – die Herrmann-Schlacht (1978/80) gelungen (Abb. 6). Die Leinwand ist von insgesamt 33, in der Art einer Bildergalerie angeordneten Porträts bedeckt. Konzeptionell schließt Kiefer dabei dezidiert an Andy Warhols berühmte, 1964 aus Anlass der Weltausstellung an der Fassade des New York State Pavillon installierten Most Wanted Men an. Die Brustbilder sind nach fotografischen Reproduktionen als Holzschnitte ausgeführt und dann auf die Leinwand aufgeklebt. Allein durch die Verwendung des ,ur-deutschen‘ Holzschnitts ist dabei das Thema bedeutsam zugespitzt. Viele Porträts hat Kiefer nach Vorlagen aus Karl Richard Ganzers, ab 1935 in mehreren Auflagen erschienenem Kompendium Das deutsche Führergesicht. 200 Bildnisse deutscher Kämpfer und Wegsucher aus zwei Jahrtausenden ausgeführt.44 Im Zentrum wird diese Ahnengalerie von einer Gruppe mächtiger, schwarzer Baumstämme und einem davor lodernden Feuer überlagert. Um das Zentrum hat Kiefer ein Netz aus konzentrischen Kreisen und Linien gelegt, die wiederum als Gedankenlinien zu lesen sind. Das Verhältnis von Landschaft und Porträts hat sich im Verhältnis zu Wege der Weltweisheit umgekehrt, jetzt scheint der Wald geradezu aus den Köpfen hervorzuwachsen. Die Zahl der Porträts ist beträchtlich erweitert. Neben Hölderlin, Hoffmann von Fallersleben, Kleist, Eichendorff, Annette von Droste-Hülshoff, Jean Paul, Fichte, Kant und Heidegger erscheinen auch Bismarck und Friedrich Alfred Krupp, die Generäle Gebhard von Blücher und Carl von Clausewitz und der SA-Sturmführer Horst Wessel. StG taucht gleich zweimal auf. Das Profilbild am linken unteren Bildrand ist nach einer Fotografie von 44 Vgl. Dickel, Holzwege.

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Jacob Hilsdorf ausgeführt, während das halbfigurige Bildnis im Lehnstuhl am rechten Bildrand auf einer Fotografie von Theodor Hilsdorf basiert.45 Der Künstler hinterfragt die durch dichterische oder philosophische, durch politische oder militärische Tat begründete Rolle der Dargestellten als Wegbereiter des Nationalsozialismus. Kiefer sind mit diesen großen Historienbildern einige der konzeptionell wie formal anspruchsvollsten Deutungen deutscher Geschichte gelungen. Im Deutschen Pavillon der Biennale in Venedig 1980 ausgestellt, haben gerade diese Werke kontroverse öffentliche Diskussionen ausgelöst und Kiefers internationalen Durchbruch mitbegründet. Wenn es Kiefer in den großen Historienbildern vor allem um politische Indienstnahme und historische Verantwortung von Dichtern und Denkern zu tun ist, so wird dabei zugleich deren zentrale Bedeutung in seinem künstlerischen Weltbild sichtbar. Wichtige Werkgruppen kreisen um Verse von Paul Celan und Ingeborg Bachmann, und in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Jahre 2008 hat Kiefer die Rolle des dichterischen Wortes in seinem Werk programmatisch hervorgehoben. Was ihm der Dichter StG bedeutet, scheint in einem seiner jüngsten Werke auf, wenn er als Titel seines monumentalen, im Jahre 2009 entstandenen Gemäldes Aus dunklen fichten flog ins blau der aar (3,32 x 5,76 m) den ersten Vers von StGs Gedicht „Urlandschaft“ (V, 37) aus dem Teppich des Lebens gewählt hat (Abb. 7). In einer komplexen, Fotografie, Acryl- und Ölfarbe, Blei, Asche und getrocknete Zweige verbindenden Technik ist vor der bedrohlichen Kulisse eines dunklen, verschneiten Waldes ein kleines, in Blei ausgeführtes Kampfflugzeug angeordnet und am oberen Rand der Komposition der titelgebende Vers eingeschrieben. Dichterisches Wort und bildnerische Darstellung verschränken sich dabei zu einer spannungsvollen Figur. Wird sich das wie ein Modellflugzeug anmutende und doch aus ,gedankenschwerem‘ Blei gefertigte Fluggerät tatsächlich, wie die Verse suggerieren, über die Bäume erheben oder droht es vielmehr in diese hineinzustürzen? Wie verhält sich der lyrische Ton des Verses zu der militärisch konnotierten Handlung? Ist damit eine Verstrickung von Kunst und Politik oder die Gefahr einer Sublimierung des Krieges durch die Dichtung angedeutet? Fühlt man sich zu Unrecht an jene Szene in Francis Ford Coppolas Vietnamepos Apokalypse Now erinnert, wo der Angriff eines amerikanischen Hubschraubergeschwaders mit Wagners Walkürenritt unterlegt ist? Liest man StGs Gedicht in seiner Gänze, scheint sich die Verschränkung von Wort und Bild zu verdichten, ergeben sich durch den ,vaterländischen‘ Ton und die Wortwahl weitere Bezüge, wenn in den letzten Versen von gefällten Stämmen –„starker arme spur“ – und der von Menschenhand bestellten Waldung die Rede ist – „Erzvater grub erzmutter molk / Das schicksal nährend für ein ganzes volk“. Bemerkenswert ist insgesamt, dass Kiefers kritische Auseinandersetzung mit StG bereits 1974, nur wenige Jahre nach Gert Mattenklotts bahnbrechender Studie Bilderdienst einsetzte.46 Eine versprengte und doch signifikante Referenz auf StG findet sich bei der Medienkünstlerin Katharina Sieverding. Wie Kiefer hat auch sie bei Joseph Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie studiert und ihre Kunst immer als politische Aktion und ,Arbeit am Mythos‘ verstanden. Zu ihren bekanntesten Werken zählt eine 1969 ent45 Vgl. RB II, Taf. 122, 138; in anderen Versionen taucht dagegen nur eines der beiden Bildnisse auf. 46 Mattenklott, Bilderdienst.

3. Bildkünstlerische Rezeption

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standene Serie von überlebensgroßen Selbstbildnissen mit dem erratischen Titel Stauffenberg-Block I–XVI. Die polarisierten Negative sind in schrillen Rottönen abgezogen und verleihen den enface Darstellungen in ihrer hieratischen Reihung einen ebenso unwirklichen wie bedrohlichen Ausdruck. Für Sieverding geht es um „individuelle und kollektive Subjektivität und die Frage nach kollektiver und individueller Verantwortung und Teilhabe“, die sie, 1944 geboren, geradezu unweigerlich mit dem Namen Stauffenberg und dem 20. Juli 1944 assoziiert.47 Dass dabei auch StG eine wesentliche Rolle spielt, wurde erst 1996 im Rahmen einer Ausstellung des Stauffenberg-Block I–XVI im Traklhaus in Salzburg sichtbar.48 Im begleitenden Katalog sind den Abbildungen kommentarlos, in chronologischer Abfolge fünf Texte beigegeben: Georg Trakl Offenbarung und Untergang (1914/15), StG „Geheimes Deutschland“ (1928), Thomas Mann Doktor Faustus (1948), Heiner Müller Zur Lage der Nation (1990), Klaus Theweleit Das Land, das Ausland heißt (1994/95). Die vier Prosatexte sind auszugsweise, das Gedicht StGs ist vollständig abgedruckt. Der StauffenbergBlock wird hier einem von Texten strukturierten Feld eingeschrieben, das das ganze 20. Jahrhundert umspannt und sich den großen Fragen von deutscher Identität und Geschichte, von individueller und kollektiver Verantwortung widmet. Die Aufnahme von StGs Gedicht berührt die Geschichte des 20. Juli ebenso im Kern wie seine Rolle im ,Dritten Reich‘. Ist Claus von Stauffenberg bei seiner Hinrichtung im Bendlerblock tatsächlich mit dem Ausruf „Es lebe das geheime Deutschland“ aus dem Leben geschieden? Kann StG für sich die geistige Vaterschaft des 20. Juli reklamieren oder hat 47 So die Künstlerin in einem Interview mit Alanna Heiss; Katharina Sieverding 2004, S. 15. 48 Vgl. Katharina Sieverding 1996. Nachzuweisen bliebe, dass diese Deutungsperspektive bereits in die Entstehungszeit des Stauffenberg-Block zurückreicht und sich nicht erst im Rahmen der Ausstellung verdichtete und konkretisierte.

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er mit seinem ,Neuen Reich‘ doch eher Hitler den Weg bereitet? Diese Fragen werden in der Forschung kontrovers diskutiert.49 Bemerkenswert bleibt, dass für Sieverding der 20. Juli in eine georgianische Deutungsperspektive rückt. In einem Spiegel-Interview nach dem Stauffenberg-Block befragt, bekannte sie, Stauffenberg sei ihr „auch als George-Jünger sympathisch“.50 Literatur Braungart 1997; LT; Raulff 2009; RB II; SL. Anselm Kiefer. Verbrennen, Verholzen, Versenken, Versanden, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Klaus Gallwitz, Venedig 1980. Anselm Kiefer. Wege der Weltweisheit – Die Frauen der Revolutionen, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Klaus Gallwitz, Arp Museum, Bahnhof Rolandseck 2007. Apel, Friedmar, Suchbild. Landschaft und Gesicht in der politischen Romantik der Weimarer Republik, in: Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, hrsg. v. Claudia Schmölders u. Sander L. Gilman, Köln 2000, S. 228–249. Arasse, Daniel, Anselm Kiefer, Stuttgart 2001. Argonaut im 20. Jahrhundert. Wolfgang Frommel, ein Leben in Dichtung und Freundschaft. Dokumentation zur Ausstellung im Rahmen der 12. Europäischen Kulturtage Karlsruhe 1994, Amsterdam 1996 (CP 221/222). Bartels, Klaus, Die zwei Körper des Dichters: Stefan Georges Arbeit an seinem öffentlichen Gesicht, in: Autorinszenierungen: Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, hrsg. v. Christine Künzel, Würzburg 2007, S. 24–46. Bormann, Beatrice von, Ein Jahrzehnt im „Plättbrettland“. Max Beckmann im niederländischen Exil, in: Max Beckmann 2007, S. 107–133. Dahlmann, Janina, Die „innere Gemeinschaft“. Erich Heckel und der Kreis um Stefan George, in: Erich Heckel 2010, S. 132–141. Dickel, Hans, Holzwege. Zur Werkgruppe Wege der Weltweisheit, in: Anselm Kiefer 2007, S. 10–12. Dorgerloh, Annette, Das Künstlerehepaar Lepsius. Zur Berliner Porträtmalerei um 1900, Berlin 2003. Erich Heckel. Aufbruch und Tradition. Eine Retrospektive, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Magdalena M. Moeller, Schleswig, Berlin 2010. Frommel, Wolfgang, Max Beckmann. Die Argonauten. Aus einem Brief (an Erhard Göpel), in: CP 7/1957/58, 33, S. 29–44. Göpel, Erhard, Max Beckmann. Argonauten, Stuttgart 1957. Greischel, Walther / Stettler, Michael, Stefan George im Bildnis, Düsseldorf, München 1976 (Drucke der Stefan-George-Stiftung). Günther, Peter Wolfgang, Stefan George und die Bildenden Künste, Phil. Diss., University of Texas 1968. Hauser, Stephan E., Stefan George und die bildenden Künste. Malerei – Plastik – Bildnis, in: GJb 4/2002/2003, S. 79–111. Horseley, Jessica, Der Almanach des Blauen Reiter als Gesamtkunstwerk, Frankfurt/M. 2006. Katharina Sieverding, Ausstellungskatalog, Salzburg 1996.

49 Vgl. Manfred Riedel, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln u. a. 2006; kritisch dazu zuletzt Raulff 2009, S. 416–427. 50 Der Spiegel v. 17.3.1997.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Ders., Wolfskehl und die bildende Kunst. Ein Kenner, Kritiker und Sammler in der Epoche des großen Geistigen, in: „O dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln!“. Leben und Werk von Karl Wolfskehl (1869–1948), hrsg. v. Elke-Vera Kotowski u. Gert Mattenklott, Hildesheim u. a. 2007, S. 219–239. Schwarz, Michael Viktor, Die Abfahrt der Argonauten ins Museum of Modern Art. Zur Frage von Beckmanns New York Strategy, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 57/2009, S. 263–281. Stefan George in Darstellungen der bildenden Kunst, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Robert Wolff, Bingen 1983. Stettler, Michael, Bildnisse Stefan Georges von Alexander Zschokke, Düsseldorf, München 1974 (Drucke der Stefan-George-Stiftung). Thormaehlen, Ludwig, Erich Heckel, Berlin 1931. Waldkirch, Bernhard von, Ludwig von Hofmann, Rainer Maria Rilke, Stefan George. Eine vergleichende Studie zum Verhältnis von Dichtung und Malerei, Genf 1990. Weiss, Peggy, Kandinsky in Munich. The Formative Jugendstil Years, Princeton 1979. Dies., Kandinsky, Wolfskehl und Stefan George, in: CP 28/1979, 138, S. 26–51. Werckmeister, Otto Karl, Erich Heckel in the First World War, in: Ders./Rainer Rumold (Hrsg.), The Ideological Crisis of Expressionism. The Literary and Artistic German War Colony in Belgium 1914–1918, Columbia 1990, S. 219–236. Sebastian Schütze

4.

Musikalische Rezeption

4.1.

Einleitung

StGs Gedichte haben zeitgenössische wie nachgeborene Komponisten zu ästhetisch sehr unterschiedlichen, darunter höchst innovativen Vertonungen angeregt und um 1910 entscheidend zur Herausbildung der Neuen Musik beigetragen. Die Bedingungen seiner qualitativ spannungsvollen musikalischen Rezeption1 hat der Dichter selbst vorgegeben. Denn bis um die Jahrhundertwende hat StG, „dessen Verständnis und Geschmack für die Tonkunst“ nach Ansicht des mit ihm befreundeten Komponisten Cyril Scott „sehr begrenzt waren“,2 Vertonungen seiner Gedichte noch punktuell gefördert oder immerhin interessiert zur Kenntnis genommen. Um 1900 aber verfestigte sich seine „hartnäckigkeit im glauben dass zwei dinge aus verschiedenen bildungs-welten nie recht zusammen gehn können“,3 in einem solchen Maße, dass er die zeitgenössische Musik weitgehend aus seinem Kreis ausschloss und statt einer Synthese der Künste eine exklusive Deklamatorik favorisierte. Ganz in diesem Sinne suchte Robert Boehringer 1911 das „hersagen von gedichten“ aufzuwerten, indem er gegen Lyrikvertonungen und Liederabende polemisierte: Sei die Musik grundsätzlich „dem dichterischen feind wie das dichterische ihr“, so übertöne gerade heute das „musikalische getriebe […] aufdringlich die edleren ansätze“.4 Wie ein Diktum Karl Wolfskehls von 1912 – „Nur die schwächlichen, wenn nicht ganz entarteten poeten pflegen der musik die verbindung mit ihren werken gern zu gestatten oder gar sie zu suchen und anzurufen“5 – aus der Ablehnung der Musik auf die ,Stärke‘ einer Dichternatur zu schließen scheint, so konnte Gottfried Benn in seiner 1 Vgl. die Auswahl-Bibliographie des vorliegenden Beitrags. Weitere Nachweise von George-Vertonungen finden sich in: GPL, S. 417–420; Osthoff, Ergänzende Bibliographie; Ullrich Scheideler, George, Stefan [Anton], in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., hrsg. v. Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 7, Kassel u. a. 2002, Sp. 740–746, hier: 743–745. Eine Auswahl von Noten-Handschriften und -Drucken verwahrt das Stefan George Archiv Stuttgart (soweit bereits elektronisch erfasst, sind diese Bestände sowie Forschungs- und Pressebeiträge zum Thema in der Stefan George-Bibliographie online mit den Schlagwörtern ,Vertonung‘ und ,Rezeption Musik‘ recherchierbar), darunter eine schmale Notensammlung aus dem Besitz StGs, die Osthoff, ,Les deux musiques‘, S. 9–11, Anm. 40, verzeichnet. 2 Cyril Meir Scott, Die Tragödie Stefan Georges. Ein Erinnerungsbild und ein Gang durch sein Werk, übers. v. Ilse Schneider, Eltville 1952, S. 17. 3 StG an M. Lechter v. Sommer 1899, in: KTM, S. 141. 4 Robert Boehringer, Über hersagen von gedichten, in: Jb 2/1911, S. 77–88, hier: 77 (wieder in: GK, S. 93–100, hier: 93). 5 Karl Wolfskehl, Über den geist der musik, in: Jb 3/1912, S. 20–32, hier: 26 (wieder in: GK, S. 187–195, hier: 191).

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Gedenkrede auf StG pointiert festhalten: „George war programmatisch antimusikalisch“.6 Aus diesen ästhetischen Vorgaben und aus dem Umstand, dass StGs Werke bis um 1900 öffentlich kaum zugänglich waren, ergibt sich ein chronologisch deutlich markierter Phasenverlauf der frühen musikalischen Rezeption, die bei manchen Gedichten auch textkritisch relevant ist (da einige der ersten Vertonungen auf StGs persönliche Überlassung des Textes zurückgehen und sonst nicht bezeugte Varianten tradieren7). Vor der Jahrhundertwende konnten im Wesentlichen nur Musiker des Freundeskreises Gedichte StGs vertonen: die Blätter-Mitarbeiter Karl Hallwachs und Kurt Peters, der über Hugo von Hofmannsthal vermittelte Wiener Komponist Clemens von Franckenstein und dessen Frankfurter Studienfreund Cyril Scott, der mit Familie Wolfskehl verschwägerte Darmstädter Hofkapellmeister Willem de Haan und die mit Melchior Lechter befreundeten Komponisten Richard Wintzer sowie Conrad Ansorge, die ihre Liederdrucke von Lechter ausstatten ließen.8 Nach 1900, als StGs Gedichte in Einzel- und Sammelausgaben, in Anthologien und auch in Drucken früher Vertonungen (wie vor allem denen von Conrad Ansorge, Clemens von Franckenstein und Karl Hallwachs) für literarisch interessierte Komponisten leichter zugänglich wurden, schottete sich der Dichter vom Musikleben seiner Zeit so stark ab, dass seine musikalische Rezeption bis auf wenige Ausnahmen eine kreisexterne Angelegenheit geblieben ist. Fand schon die dem Kreis nahestehende, mit Cyril Scott, Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl bekannte Komponistin Johanna Haustein 1910 offenbar nur dadurch StGs Gehör und Gefallen, dass sie ihre im Klavierpart wie in der Harmonik recht traditionellen Lieder deklamatorisch ganz dem Rhythmus des Gedichts unterordnete,9 so verweigerten sich spätere vokalmusikalische Dokumente aus StGs Umfeld jeder eigenständig kompositorischen Ambition: Erich Wolffs nur abschriftlich überlieferte Melodien wohl aus den 1920er-Jahren10 und Rudolf Pannwitz’ George-Gesänge (1937; Karl Wolfskehl zugeeignet) setzen auf „reine vokalmusik“, auf „reine einstimmige melodie“, auf einen archaisierend-choralartigen Gesang, der – wie Hugo Kauder anmerkt – „nicht so sehr musikalische leistung als vielmehr religiöse handlung“ sei.11 Und wenn in den Jahren nach 1910 6 Gottfried Benn, Rede auf Stefan George (1934), in: Ders., Gesammelte Werke in vier Bänden. Bd. 1: Essays, Reden, Vorträge, hrsg. v. Dieter Wellershoff, 3. Aufl., Wiesbaden 1965, S. 464– 477, hier: 467. 7 So in den von Osthoff, Ergänzende Bibliographie, vorgestellten Vertonungen durch Karl Hallwachs und Cyril Scott. Vgl. auch die einschlägigen Hinweise im Apparat zu den Sängen eines fahrenden Spielmanns (III, 135–138). 8 Zu StGs Musikauffassung sowie zu den mit ihm assoziierten Komponisten vgl. ¤ Conrad Ansorge, ¤ Clemens von Franckenstein, ¤ Willem de Haan, ¤ Karl Hallwachs und ¤ Cyril Scott; George R. Urban, Kinesis and Stasis. A Study in the Attitude of Stefan George and his Circle to the Musical Arts, ’s-Gravenhage 1962; Dümling, Umwertung der Werte; Osthoff, ,Les deux musiques‘. Weitgehend unergiebig bleibt Michael Petrow, Der Dichter als Führer? Zur Wirkung Stefan Georges im „Dritten Reich“, Marburg 1995, S. 89–92. 9 Vgl. Osthoff, ,Les deux musiques‘, S. 30–46. 10 Vgl. ebd., S. 47–53. 11 [Hugo] K[auder, Nachwort zu:] Rudolf Pannwitz, George-Gesänge, S. 24. – Anzuschließen sind Kauders eigene Vertonungen, die zum Teil in Zusammenarbeit mit Pannwitz entstanden und für den ,Hugo-Kauder-Chor‘ geschrieben waren (so die als Kanon gesetzte Pannwitz-Melodie auf „Wer je die flamme umschritt“ aus dem Stern des Bundes), zum Teil aber auch die traditionelle Lied-Besetzung für Singstimme und Klavier für eine rezitativische, ganz aufs Wort zentrierte

4. Musikalische Rezeption

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überhaupt noch kreisexterne Komponisten wie Armin Knab (1912 und 1925), James Simon (1912), Hans Trimborn (1918) und Franz Meyer-Ambros (1918) versuchten, sich StG zu nähern, dann blieb die Übersendung ihrer – von StG immerhin aufbewahrten – Widmungsexemplare wohl ohne weitergehende Reaktion des Dichters.12 Um die kreisexterne musikalische George-Rezeption sowohl in ihrem Umfang und ihrer Diversität als auch in ihren ästhetisch ambitioniertesten Zeugnissen angemessen zu würdigen, werden die zeitgenössischen, bis in die 1930er-Jahre hinein entstandenen Kompositionen zunächst zusammenfassend dargestellt und sodann die auch in ihrer Nachwirkung herausragenden Vertonungen der Zweiten Wiener Schule exemplarisch beschrieben. Abschließend wird die von Traditionalismus wie von avantgardistischem Experiment gleichermaßen geprägte musikalische Rezeption von StGs Tod bis zur Gegenwart skizziert.

4.2.

Die zeitgenössische Rezeption im Überblick

Hat StG die musikalische Rezeption seiner Dichtungen unmittelbar gewiss mehr gebremst als gefördert, so bedeutet das nicht, dass sie unproduktiv geblieben wäre. Im Gegenteil: Ein kursorischer, auf den Nachweisen von Wolfgang Osthoff und eigenen Erkundungen im Stefan George Archiv beruhender Überblick13 zeigt, (1) dass Gedichte StGs jeweils recht bald nach der Veröffentlichung der Zyklen und Sammlungen vertont wurden, (2) dass sich die Komponisten signifikant auf solche Gedichtgruppen und Gedichte konzentrierten, die durch formale wie motivische Merkmale eine Vertonung nahezulegen scheinen, und (3) dass dabei zwar das traditionelle Sololied (für Singstimme und Klavierbegleitung) dominiert, aber schon früh andere vokale und nicht-vokale Gattungen Anteil am Rezeptionsprozess gewannen. (1) Früheste Zeugnisse für kreisexterne Vertonungen datieren in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts: Noch bevor die Wiener Moderne um Arnold Schönberg und Anton Webern StG seit 1907 für sich entdeckte, hatte etwa Franz Schreker um 1902 die „Entführung“ aus dem Jahr der Seele vertont (gedruckt 1912), Artur Schnabel drei Kompositionen nach den Sängen eines fahrenden Spielmanns in seine 1902 und 1904 veröffentlichten Lieder op. 11 und 14 aufgenommen und Walter Braunfels seine Faktur dienstbar machen, deren Ästhetik Kauders „Vorbemerkung“ zu: Albert Verwey, Twaalf Gedichten / Zwölf Gedichte, Musik von Hugo Kauder, Santpoort 1939, programmatisch erläutert: „In den folgenden liedern ist die musik ausschliesslich aus der dichtung geschöpft. Es ist also nicht, wie in den meisten der bekannten und geliebten lieder und gesänge, aus dem bloszen stimmungs- oder gefühlsgehalt des gedichtes ein selbständiges musikalisches kunstgebilde erschaffen worden, wodurch die eigentliche schöpfung des dichters, die organische lebensbewegung sowie die geistige architektur des gedichtes, zerstört und zum bloszen ,text‘ wird, der nur eben der singstimme die gelegenheit geben soll, sich als instrument zu betätigen. Vielmehr sucht die musik rhythmus und melos der sprache, also das wodurch das gedicht erst zum kunstgebilde wird, in ihrem element, in ihren maszen und intervallen wiederzugeben.“ 12 Vgl. die Nachweise bei Osthoff, ,Les deux musiques‘, S. 10f., Nr. 9, 10, 11, 21 und 22. – Nach freundlicher Auskunft von Frau Dr. Ute Oelmann hat sich in allen genannten Fällen aus der Widmung der Musikalien kein näherer Kontakt zwischen Komponisten und Dichter ergeben. 13 Die im Folgenden erwähnten oder näher besprochenen Kompositionen sind in der AuswahlBibliographie des vorliegenden Artikels verzeichnet. Für weitere Nachweise vgl. die in Anm. 1 genannten Arbeiten.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

(in den gleichen Jahren als op. 1 entstandenen) Sechs Gesänge nach Dichtungen von Carl Wolfskehl, Walter Wenghöfer und Stephan George vorgelegt, in denen StGs Gedicht „Noch zwingt mich treue über dir zu wachen“ aus dem Waller im Schnee mit Dichtungen seines Kreises verbunden ist. Wie solche Liedersammlungen die Kohärenz des George-Kreises im musikalischen Medium fortschrieben, so entstanden – nach Hallwachs’ Liedern eines fahrenden Spielmanns und Ansorges Fünf Gesängen nach Dichtungen von Stefan George – vermehrt reine, zum Teil zyklisch geordnete George-Liederhefte. Vor, neben und nach Schönbergs, Weberns und Adornos George-Sammlungen veröffentlichte etwa Armin Knab seine seit 1904 komponierten George-Lieder (op. 5, 1912; 1925 ergänzt zu Knabs Gesamtausgabe von George-Liedern), Fritz Lissauer 4 Lieder nach Texten von Stefan George (op. 26, 1913), Egon Wellesz Lieder nach Dichtungen von Stefan George (op. 22, 1917) und Ernst Schiffmann seine George-Lieder (1924). (2) Die George-Vertonungen aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts lassen eindeutige Tendenzen der Textwahl erkennen. Größter Beliebtheit erfreuten sich dabei diejenigen Zyklen, die in Form und Ton dem traditionellen Ideal der ,Sangbarkeit‘ verpflichtet sind, in entfernter Nachfolge der Liebesleid-Zyklen des 19. Jahrhunderts stehen und in Titeln oder Texten mit Signalwörtern wie ,Lied‘ oder ,Gesang‘ aufwarten. Wie sehr StG, wohl gegen seine eigentliche Intention, durch stilistische Traditionalismen oder durch sprachskeptische Formeln die Musikalisierung bestimmter Teile seines Werkes mittelbar anregte, belegt beispielhaft die Textwahl von Rudolph Bergh (1859–1924), eines produktiven Komponisten, der – als Schüler Heinrich von Herzogenbergs – ästhetisch noch deutlich im 19. Jahrhundert wurzelte. Bergh, der 1903 bis 1919 in Berlin lebte, 1911 ein oratorisches Requiem für Werther (op. 32) auf einen Text von Ricarda Huch schrieb und als fleißiger Liedkomponist gerne zu Gedichten von Chamisso, Lenau, Geibel und Storm griff, aber auch Liliencron und Hartleben vertonte, hat sich in seinen Liederheften op. 11, op. 29 und op. 49 mit StG befasst: Die Acht Lieder op. 11, die der Werkchronologie zufolge um 1905 einzuordnen sein dürften,14 bieten je drei Lieder aus den Sängen eines fahrenden Spielmanns und aus dem Buch der Hängenden Gärten; die Fünf Lieder op. 29 enthalten zwei unverbundene Kompositionen nach Texten aus dem Jahr der Seele; und op. 49 vertont unter dem Titel Ein kleiner Liederzyklus eine zusammenhängende Folge von Gedichten aus dem Siebenten Ring. Mit dieser Textwahl, die chronologisch die Publikationsfolge von StGs Gedichten abbildet, steht Bergh nicht nur den Wiener Avantgardisten erstaunlich nahe – den zentralen George-Vertonungen von Schönberg, Webern und Adorno liegen weitgehend die gleichen Gedichte aus dem Buch der Hängenden Gärten und dem Siebenten Ring zugrunde (nämlich die insgesamt sehr häufig vertonten „Lieder I–VI“ aus dem Zyklus Lieder) –, sondern stimmt auch mit seinen ihm kompositorisch enger verwandten Zeitgenossen überein. Denn die von Bergh vertonte Rollenrede des „fahrenden Spielmanns“, der in seinem Eröffnungsgedicht weiß, dass gegen das trüglich-flie14 Osthoff, Ergänzende Bibliographie, S. 192f., verzeichnet die Acht Lieder (aufgrund von Berghs Sterbejahr) unter „Spätestens 1924“, doch ist op. 11 gewiss einige Jahre vor dem ebd., S. 191, auf „ca. 1908“ datierten op. 29 anzusetzen. Op. 49, für das in GPL, Nr. 672, das Erscheinungsdatum 1926 genannt ist, wäre demnach erst zwei Jahre nach dem Tod des Komponisten veröffentlicht worden.

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hende Wort nur „das lied […] die seele“ ergreife (III, 58), und dem es ein probates Mittel gegen die eigene Traurigkeit scheint, „ein lied“ zu singen (III, 60), regte zahlreiche Einzelkompositionen und mehrere Zyklen an. So sind – nach den frühen Vertonungen von Hallwachs, Franckenstein, de Haan, Scott, Ansorge, Schnabel und Haustein – allein aus den 1920er-Jahren15 drei zyklische Spielmann-Liederhefte nachzuweisen: Alle vierzehn Gedichte in ihrer originalen Anordnung vertonte Paul Amadeus Pisk, der wohl durch seine Wiener Kompositionslehrer Schreker und Schönberg auf StG aufmerksam geworden war und die Sänge eines fahrenden Spielmanns op. 6 (1922) in einer harmonisch freien, motivisch konzentrierten und deklamatorisch expressiven Manier komponierte. Dagegen modifizierte Eduard Bornschein für seine Elf Lieder nach Versen von Stefan George (1926) die Abfolge und verarbeitete das an den Schluss gestellte dreigeteilte „lied des zwergen“ zu einem musikalischen Kleinzyklus. Auch Heinrich Kaspar Schmid, der zuvor etwa Männerchöre nach Gedichten von Gustav Falke (op. 11), ein Liederspiel zur Laute nach Gedichten von Dehmel und Rückert (op. 31) sowie einen Lieder-Zyklus von 5 Gedichten von Eichendorff (Der Pilger, op. 33) komponiert hatte, präsentierte seine 1921 publizierten Sänge eines fahrenden Spielmanns (op. 37) als zusammenhängende Folge von sechs Liedern, setzte aber schon mit seiner altdeutsch-biedermeierlichen Umschlagvignette (Abb. 8) ein ästhetisch entschieden retrospektives Signal und rückte StGs Gedichte mit arpeggierender (immerhin punktuell modern eingefärbter) Begleitakkordik in das Umfeld von Wandervogel und Zupfgeigenhansl.16 (3) Zu Lebzeiten des Dichters stand seine musikalische Rezeption ganz überwiegend im Zeichen der quantitativ enormen Spätblüte, die dem Klavierlied um die Jahrhundertwende und bis in die 1920er-Jahre hinein vergönnt war.17 Den Auffüh15 Nicht exakt datieren kann ich die Sänge eines fahrenden Spielmanns der Reine Colac¸o OsorioSwaab (1881–1971). 16 Zu diesem musikalisch eher anspruchslosen Rezeptionszweig vgl. unten: 4.4. Ausläufer der LiedTradition. 17 Vgl. Kurt Dorfmüller, „Liederabende und kein Ende“. Berichte aus München um 1920, in: Liedstudien. Wolfgang Osthoff zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Martin Just u. Reinhard Wiesend, Tutzing 1989, S. 473–506; Edward F. Kravitt, Das Lied. Spiegel der Spätromantik, Hildesheim 2004.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

rungsgegebenheiten der vokalen Kammermusik entsprach es dabei durchaus, wenn in Sammlungen von Sololiedern punktuell Duette und Terzette eingestreut wurden: So bei Ernst von Froreich, dessen im Ersten Weltkrieg veröffentlichte Lieder und Gesänge auf Texte von Stefan George neben der Standardbesetzung für eine Singstimme mit Klavier auch ein Duett enthalten (auf die „Vogelschau“ vom Ende des Algabal); und so bei Fritz Neumeyer, dessen Lieder Aus dem ,Siebenten Ring‘ (1924–1927) auf den Zyklen Traumdunkel und Lieder basieren und jeweils ein Terzett („Wir blieben gern bei eurem reigen drunten“) sowie ein Duett („Nacht“) bieten. Über die (mehr oder weniger fortbestehende) Intimität der Institution ,Liederabend‘ hinaus weisen, vor allem in den 1920er-Jahren, eine steigende Zahl von Orchesterliedern. Während mehrere Kompositionen – wie das 1917 entstandene Kreuz der strasse von Otto Klemperer, die 1928 zur Feier von StGs 60. Geburtstag in der Berliner Singakademie aufgeführten Gesänge für eine Singstimme mit Klavier oder Orchester von Bernhard Blau oder die 1931 orchestrierten Lieder von Philipp Jarnach (op. 15, 1922) – lediglich Alternativfassungen oder nachträglich instrumentierte Klavierlieder darstellen, sind Schönbergs Vier Lieder für Gesang und Orchester op. 22 (1913–1916; darin als Nr. 1: „Seraphita“ von Ernest Dowson in der Nachdichtung von StG) als wahrscheinlich früheste George-Vertonungen von vornherein für eine (hier ganz unkonventionell gehandhabte) orchestrale Besetzung geschrieben. Das Gleiche gilt wohl für die nur im Manuskript nachgewiesenen Kompositionen von Max Trapp (op. 19, um 1923), Hugo Herrmann, der um 1925 vier Verlaine-Übertragungen für Alt und Kammerorchester setzte, und Max Zehnder, dessen neun Gesänge aus dem Jahr der Seele ebenfalls für eine Stimme und Kammerorchester komponiert sind. Dass man für StGs Gedichte nicht die klangliche Opulenz eines Symphonieorchesters, sondern deutlich kleinere Besetzungen als adäquat empfand, zeigen eindrücklich die zyklischen Vertonungen der Sänge eines fahrenden Spielmanns op. 1 (1925) und der Lieder I–VI (aus Der Siebente Ring; op. 2, 1928) von Gerhard Frommel, mit denen der Pfitzner-Schüler, dessen anhaltendes Interesse für StG sich seinem älteren Bruder Wolfgang Frommel verdankte, sein kompositorisches Schaffen eröffnete.18 Wie Schönberg 1913 das erste Orchesterlied nach StG komponierte, so war er einige Jahre zuvor auch der erste Komponist, der in der Auseinandersetzung mit StGs Lyrik zu einer avantgardistischen Gattungstransgression fand: Sein II. Streichquartett op. 10 vertont im dritten und vierten Satz die Gedichte „Litanei“ (VI/VII, 129) und „Entrückung“ (VI/VII, 111) aus dem Siebenten Ring. Inwiefern dieses Pionierwerk der musikalischen Moderne, das bei seiner Uraufführung am 21. Dezember 1908 einen Konzertskandal erregte, auf Schönberg fernerstehende Komponisten mittelbar einwirkte, ist im Einzelfall schwer zu ermessen. Bemerkenswert aber bleibt, dass auch Ernst Lothar von Knorr und (der später in die nationalsozialistische Musikpropaganda involvierte) Hugo Herrmann in den 1920er-Jahren die Kombination von Streichquartett bzw. -trio mit Gesangspartien auf George-Texte erprobten.

18 Zu Frommels George-Kompositionen, die nach ihren kammerorchestralen Anfängen wieder dem Klavierlied verhaftet sind, vgl. bes. (mit in Rechnung zu stellendem apologetischen Impetus) Osthoff, ,Les deux musiques’; ders., Gerhard Frommel (1906–1984). Musik im Spannungsfeld Georgescher Dichtung, romantischer Tradition und Neuklassik, in: CP 55/2006, 273, S. 45–60.

4. Musikalische Rezeption

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Ähnlich experimentierfreudig und gattungsinnovativ wie Schönberg ging Anton Webern mit StGs Gedichten um, als er 1908 „Entflieht auf leichten kähnen“ aus dem Jahr der Seele für gemischten Chor a cappella setzte. Auch hier stehen spätere Komponisten, die – wie Max Butting (Drei Chöre a cappella op. 27, 1924/25) und Gerhard Frommel (A-cappella-Motette, 1928) – für die gleiche Besetzung geschrieben haben, wohl weniger in einer avantgardistischen Linie als in der Laien- und Gebrauchsmusikbewegung der späten 1920er-Jahre.19 Früh schon erweiterte sich das Gattungsspektrum der musikalischen George-Rezeption nicht nur hin zum kammermusikalisch oder -orchestral begleiteten Lied sowie zum unbegleiteten Chor, sondern auch zur rein instrumentalen Umsetzung in programmmusikalischer Tradition. So veröffentlichte Egon Wellesz, der bei Schönberg Tonsatzunterricht erhielt, 1917 gleichzeitig mit seinen George-Liedern op. 22 als Idyllen bezeichnete Fünf Klavierstücke zu Gedichten von Stefan George op. 21, die unter Mottoversen aus diversen Gedichten (darunter die Eingangsstrophe zu „Die Gärten schliessen“ aus den frühen Hymnen; Abb. 9) klanglich wie harmonisch aparte Miniaturen für Klavier solo enthalten. Tonmalerisch breiter, ungleich pianistischer und dabei in der Musiksprache konventioneller angelegt sind die 1927 veröffentlichten Impressionen op. 112 von Walter Niemann, die laut Vorwort „ihre Entstehung zum größten Teile dem deutschen Dichter des Impressionismus: Stefan George“ verdanken, indem sie „in ihren inneren poetischmusikalischen ,Grundfarben‘“ Entsprechungen zu einzelnen Texten aus Die Lieder von Traum und Tod bieten möchten.20 Lange Zeit verborgen blieb hingegen das „Programm“ von Alban Bergs Lyrischer Suite (1926/27) für Streichquartett, deren Largo desolato der Komponist in einem Manuskriptentwurf sowie einem privat weitergegebenen Partiturdruck mit Versen aus StGs Übertragung von Charles Baudelaires „De profundis clamavi“ textiert hat – inwieweit diese „geheime Gesangsstimme“ allerdings zur Aufführung intendiert war, bleibt ungewiss.21 19 Zur George-Rezeption in diesem Milieu vgl. unten: 4.4. Ausläufer der Lied-Tradition. 20 Walter Niemann, Impressionen. Sechs Stücke für Klavier zu 2 Händen, op. 112, Leipzig [1927], Zum Geleit. 21 Alban Berg, Lyrische Suite. Die geheime Gesangsstimme, hrsg. v. George Perle, New York 1999; zur Entdeckung und Deutung vgl. Constantin Floros, Das esoterische Programm der Lyrischen Suite von Alban Berg. Eine semantische Analyse, in: Alban Berg: Kammermusik I, München

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4.3.

III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Durchbruch zur Atonalität – Kompositionen der Zweiten Wiener Schule

Den kompositionsgeschichtlich bedeutsamsten und folgenreichsten Niederschlag fand StGs Lyrik seit 1907 bei Arnold Schönberg und Anton Webern. Ihre frühzeitige und intensive Beschäftigung mit Gedichten StGs wirkte unmittelbar auf Theodor W. Adorno, Alban Berg, Alexander Zemlinsky sowie einige weitere Komponisten aus Schönbergs Wiener und Berliner Kreisen (wie Paul Amadeus Pisk, Egon Wellesz und Winfried Zillig) und mittelbar auf die gesamte musikalische Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Auch wenn die Textwahl der Zweiten Wiener Schule keineswegs exklusiv ist, sondern weitgehend mit der ihrer Zeitgenossen übereinstimmt, finden Schönberg und Webern in der Auseinandersetzung mit StG zu einer dezidiert innovativen Musiksprache. Dies gilt sowohl gattungsästhetisch, insofern sie über das traditionelle Klavierlied hinausgehen, als auch kompositionstechnisch, insofern sie in ihren George-Vertonungen die Grenzen der hergebrachten Tonalität überschreiten. Wie sehr die Entwicklung zur Atonalität bei Arnold Schönberg wie bei Anton Webern geprägt ist von ihrem produktiven Umgang mit StGs Lyrik, belegen allein schon die Entstehungsdaten ihrer einschlägigen, in dichter Folge oder gar gleichzeitig komponierten Werke der entscheidenden Umbruchsjahre 1907 bis 1909: Während Schönbergs II. Streichquartett op. 10 entstehungsgeschichtlich bis März 1907 zurückreicht, mit seinem textierten dritten und vierten Satz aber erst im Juli/August 1908 abgeschlossen war, beendete der Komponist das erste der als op. 14 gezählten Klavierlieder (auf StGs „Ich darf nicht dankend an dir niedersinken“; IV, 27) bereits im Dezember 1907; und die Anfang 1910 uraufgeführten Fünfzehn Gedichte aus Das Buch der Hängenden Gärten von Stefan George op. 15 entstanden von März 1908 bis März 1909.22 Noch stärker auf StG fixiert präsentiert sich Webern, der den Anfang seines mit OpusZahlen versehenen und damit als gültig ausgewiesenen Werks fast ganz zu dessen Gedichten schrieb. Blieb dabei der Chorsatz op. 2 (1908) singulär, so legte der Komponist mit op. 3 und 4 jeweils fünf George-Klavierlieder vor, die ebenso in den Jahren 1908 und 1909 entstanden sind wie weitere Vier Stefan-George-Lieder, die erst 1965 im Nachlass entdeckt wurden, zunächst aber den ursprünglich auf je sieben Lieder konzipierten op. 3 und 4 zugeordnet waren.23

1978 (Musik-Konzepte 4), S. 5–48, hier: 45f.; George Perle, Das geheime Programm der Lyrischen Suite, in: ebd., S. 49–74, hier: 56, 63f.; Calvin Scott, „Ich löse mich in tönen …“. Zur Intermedialität bei Stefan George und der Zweiten Wiener Schule, Berlin 2007, S. 135–139. 22 Vgl. die einschlägigen Artikel in: Gruber (Hrsg.), Schönberg, Bd. 1 (Schmidt, II. Streichquartett, S. 124–143; Jennifer Shaw, Zwei Lieder für eine Singstimme und Klavier op. 14, S. 181–195, hier: 181; Hirsbrunner, Fünfzehn Gedichte, S. 196). – Als ,Nachzügler‘ erscheint demgegenüber das im Oktober 1913 abgeschlossene Orchesterlied „Seraphita“ auf StGs Dowson-Übertragung; vgl. ebd. S. 321–332, hier: 321. 23 Vgl. Albrecht Dümling, „Dies ist ein Lied für dich allein“. Zu einigen Motiven von Weberns Textwahl, in: Anton Webern I, München 1983 (Musik-Konzepte Sonderbd.), S. 251–261, bes. 255–260, der vor allem die biographischen Implikationen von Weberns wohl Trauerarbeit nach dem Tod der Mutter leistenden Textzusammenstellungen betont, und Rainer Riehn, Chronologisches Werkverzeichnis, in: Anton Webern II, S. 388–397, hier: 391. – Parallel zu Schönberg lieferte auch Webern 1913/14 ein George-Orchesterlied („Kunfttag III“) nach; ebd., S. 392.

4. Musikalische Rezeption

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Das um eine Singstimme erweiterte Streichquartett op. 10, dem Schönberg – ebenso wie dem George-Lied op. 14 – rückblickend „eine große Rolle in [s]einer Entwicklung“ zugewiesen hat,24 trägt den Prozess der musikalischen Modernisierung im Werk selbst aus: Während der erste Satz „in vergleichsweise deutlichem“ fis-moll und der zweite in d-moll komponiert ist, sind „weite Passagen“ des dritten Satzes und „nahezu alle“ des vierten „unter den Voraussetzungen der harmonischen und auf ein Zentrum bezogenen Tonalität nicht mehr zu hören und zu verstehen“.25 StGs Gedichte scheinen dem kompositorisch zur Befreiung von tonalen Zwängen und zur gesteigerten Expressivität strebenden Schönberg dabei einerseits durch ihre strenge Form, andererseits durch ihren Ausdruck von gefasster Trauer („Litanei“) und prophetischer Verkündigung („Entrückung“) zupass gekommen zu sein: So konstruiert er im dritten Satz eine fast strikt an der strophischen Gestalt des Gedichtes orientierte Variationenfolge, in der sich die „instrumentale Form […] mit der vokalen Strophenform“ verbindet; auch im Finalsatz zielt Schönberg auf eine sehr „spezifische Ausprägung der Sonatenform“, die zugleich erlaubt, die Kerngedanken des Gedichts programmatisch zu exponieren: „Ich fühle luft von anderem planeten“, „Ich löse mich in

24 Arnold Schönberg, Bemerkungen zu den vier Streichquartetten, in: Ders., Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hrsg. v. Ivan Vojteˇch, Frankfurt/M. 1976, S. 409–436, hier: 414. 25 Schmidt, II. Streichquartett, S. 125.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

tönen“ und „Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer / Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme“ (VI/VII, 111: Verse 1, 10, 23f.).26 Außergewöhnlich eng, als suche er im Text strukturellen Halt gegen die Auflösung tonaler Konturen und zielgerichteter Abläufe, bindet sich Schönberg dann auch für die Fünfzehn Gedichte aus Das Buch der Hängenden Gärten von Stefan George op. 15 an seine Vorlage. Denn er vertont die Sequenz der einstrophigen Gedichte von „Unterm schutz von dichten blättergründen“ bis „Wir bevölkerten die abend-düstern“ vollständig, in unveränderter Abfolge und – wie das im Pan von 1911 einzeln veröffentlichte Lied Nr. 8: „Wenn ich heut nicht deinen leib berühre“ exemplarisch zeigt (Abb. 10) – in nahezu vollkommener Syllabik: Einzig den expressiven Höhepunkt des Liedes, den Schönberg auf das Wort „leidet“ (Vers 5) komponiert hat, setzt er mit einem gestischen Terzaufstieg auf den höchsten und im fortissimo zu singenden Ton a’’ melismatisch um. Die große Expressivität der kaum mehr versgebundenen, zur ,musikalischen Prosa‘ strebenden Tonsprache, die sich von Bildern wie der „zu sehr gespannte[n] sehne“ (Vers 3) oder antithetischen Formeln wie der eines „Kühlung“ verlangenden „fieberheissen“ (Vers 7) zu enormen dynamischen Kontrasten, unaufgelösten Akkordfolgen sowie dissonanten Schritten und Sprüngen (kleine Sekunde, Tritonus, None) anregen lässt, wird dabei – typisch für den Beginn von Schönbergs atonaler Phase – gehalten von der Repetition einzelner Tonfiguren und rhythmischer Folgen: so beispielsweise von der immer wieder beim tiefen cis ansetzenden Anabasis, die von der Klavierbegleitung ausgeht und in die Singstimme übernommen wird (Takt 1, 3, 4 u. ö.). Solche Formeln, die der metrischen Unerbittlichkeit des Gedichts abgewonnen sein mögen, werden „umso strenger wiederholt“, je mehr der „oberflächliche Eindruck […] ungestüm und chaotisch“ wirkt.27 Ein ganz ähnlicher Durchbruch zur Atonalität gelingt Anton Webern in seinen fast gleichzeitigen George-Vertonungen. Wirkt die kanonisch-motettische Satzweise des an Brahms und Reger gemahnenden A-cappella-Chores op. 2, auch wegen der Wiederholungen einzelner Verse und mehrerer Versschlüsse, noch durchaus traditionsverhaftet, so strebt die Harmonik, trotz des vorgezeichneten und schließlich erreichten G-Dur, ins Unbefestigte: Parallelführungen von Sexten und Terzen, die sich „zu komplexen Durchgangsakkorden verschlingen“, geben eine nur scheinbar sichere „Stütze ab im nachgebenden Schlamm des chromatischen Sumpfbodens“.28 In den kaum späteren Klavierliedern op. 3 und 4 (wie auch in den postum veröffentlichten Liedern) bleiben dann allenfalls noch „tonale Reste“.29 Wie Schönberg emanzipiert sich Webern in der Komposition streng gebauter Gedichte von harmonischen Bindungen und der bis dahin üblichen Vorzeichnung einer Tonart, um zugleich der raffinierten Einfachheit etwa des Gedichts „Dies ist ein lied“ (VI/VII, 136) auf engstem Raum einen enorm nuancierten Ausdruck aus leisesten Tönen, rhythmischen Reibungen und chromatischen Spannungen abzugewinnen (op. 3, Nr. 1). Und wie Schönberg hat auch Webern, abgesehen von einem atonalen Orchesterlied, in späteren Phasen seiner kompositorischen Entwicklung nicht mehr zu Gedichten StGs gegriffen – 26 Ebd., S. 139–142. 27 Hirsbrunner, Fünfzehn Gedichte, S. 210. 28 György Ligeti, Aspekte der Webernschen Kompositionstechnik, in: Anton Webern II, S. 51–104, hier: 51f. 29 Ebd., S. 69f.

4. Musikalische Rezeption

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den Weg zur Dodekaphonie fanden beide dann ohne die vor 1910 offenkundig befreiende und doch Halt gebende, klare Strukturen vorzeichnende und doch große Expressivität ermöglichende Auseinandersetzung mit der Wortkunst StGs, die bei allem Anspruch auf ästhetische Autonomie doch musikalisch inspirierte und zur Geburtshelferin der Neuen Musik wurde. Unter allen Komponisten aus den Einflussbereichen Schönbergs und Weberns war es Theodor W. Adorno, der am ausdauerndsten an der musikalischen Arbeit mit Texten StGs festhielt und sich dabei ganz auf das Klavierlied konzentrierte.30 Den widerständigen Reiz von StGs Lyrik entdeckte Adorno für sich in den frühen 1920er-Jahren. Noch nicht zu seinem gültigen Werk rechnete er die Sechs Lieder aus Der Siebente Ring (1921), das Einzellied Wenn ich auf deiner brücke steh (1922) aus dem gleichen Zyklus Lieder, der gemeinsam mit dem Jahr der Seele fast alle Lieder Adornos anregte, sowie nochmals Zwei Gedichte von Stefan George von 1925. Erst seine 1925 bis 1928 entstandenen Vier Gedichte von Stefan George bezeichnete der komponierende Soziologe, Philosoph und Musikkritiker als op. 1 und stellte sie damit an den Beginn seines eigentlichen Schaffens. Wiederum Vier Lieder nach Gedichten von Stefan George op. 7, 1944 entstanden, bilden dann fast schon den chronologischen Abschluss von Adornos schmalem kompositorischen Werk, das kaum über das Kriegsende hinausreicht. Dass auch Adorno in den Bahnen seiner – nicht zuletzt von ihm selbst kanonisierten – Vorbilder die Texte StGs dazu nutzte, sich in der freien Atonalität zu bewegen, kann kaum überraschen. Umso erstaunlicher ist dagegen, dass Adornos spätes Lied Kreuz der strasse (op. 7, Nr. 4; Abb. 11) ausnahmsweise die von ihm als „latent restaurativ“ gedeutete Zwölftontechnik auf ein George-Gedicht anwendet.31 Dabei korrespondiert Adornos dodekaphone Praxis insofern der immer stärker auf Wortwiederholungen 30 Vgl. Rainer Riehn, Werkverzeichnis, in: Theodor W. Adorno. Der Komponist, S. 144–146. 31 Vgl. die einlässliche Analyse von Mathias Spahlinger, der widersinn von gesang. zu theodor w. adornos liedkomposition, in: Theodor W. Adorno. Der Komponist, S. 36–44, und den Überblick von Siegfried Mauser, Adornos Klavierlieder, in: ebd., S. 45–55, hier: 51, 54f.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

insistierenden Folge viersilbiger Verse, als er seine musikalische Reihe, an deren erster Formulierung der klangschichtende und extrem weit gespannte Klaviersatz mit der Singstimme zusammenwirkt, aus sekund- und tritonushaltigen Viertongruppen aufbaut (b h e es – g cis gis d – a fis c f). Überdies erreicht er eine der dem ersten Verspaar angepasste Periodik, indem er – gegen die Zwölftonlehre strengster Observanz – den ersten Vierklang des Klaviers wiederholt, bevor noch die Reihe beendet ist. Wie stark Adornos Lied von StGs Viersilbern geprägt ist und zugleich aus der Spannung zwischen metrischer und musikalischer Syntax lebt, unterstreichen die folgenden ,Durchläufe‘ der Reihe (Takt 4–10): 24 Töne der Singstimme sind streng auf die sechs mal vier Silben der Verse 3 bis 8 verteilt, sodass die Zäsur der Gedichtmitte mit einem deutlichen musikalischen Einschnitt zusammenfällt. Dabei variiert Adorno die Tonfolgen innerhalb der Viertongruppen nach unterschiedlichen Mustern (h b es e – d gis cis g – f c fis a und b h e dis [=es] – g cis gis d – c f a fis) und verdichtet den Satz, indem er dem Klavier simultan jeweils andere Viertongruppen seiner Ausgangsreihe zuteilt und teils in akkordischem, teils in arpeggierendem Satz unterlegt. Im Ganzen entsteht so ein extrem durchkonstruiertes Gebilde, das man kaum mehr ,Lied‘ nennen möchte, sondern als Zeugnis für den „Widersinn von Gesang in der Zivilisation“ begreifen mag, an dem die „gesamte abendländische Musik“ laboriere.32

4.4.

Ausläufer der Lied-Tradition, jugendbewegte Kantaten und avantgardistische Experimente – von Georges Tod bis zur Gegenwart

Seit den späten 1920er-Jahren verlor das Klavierlied sukzessive seine bis dahin enorme Produktivität und entfaltete nur noch punktuell ästhetisch progressives Potenzial. Entsprechend ging der Anteil der Sololieder an der musikalischen George-Rezeption um 1930 merklich zurück. Gleichwohl entstanden auch nach StGs Tod noch etliche Klavierlieder, vor allem von solchen gemäßigt fortschrittlichen Komponisten, die – wie etwa Gerhard Frommel – programmatisch versuchten, das Georgesche ,hersagen von gedichten‘ mit einer möglichst zurückhaltenden Instrumentalbegleitung zu grundieren. Zu diesen Bewahrern einer eher traditionellen Tonsprache und Liedkultur zählte etwa Wilhelm Petersen, der in seinen Münchner Studienjahren um 1910 mit StG, Wolfskehl sowie Alexander von Bernus in Berührung kam und weit nach den 1925/26 entstandenen Sieben Liedern aus dem Siebten Ring op. 19 und Fünf Gesängen (Hölderlin und George) op. 20, nämlich in den frühen 1940er-Jahren, Sechs Gesänge nach Texten von Claudius, Hölderlin, George, Lenau, Trakl op. 45 komponierte.33 In der gleichen Zeit komponierte der Hindemith-Schüler Harald Genzmer seine in zwei ge32 So die zentrale These von Spahlinger, ebd., S. 44, der sich bezieht auf Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1969, S. 67: „Seit der glücklich-mißglückten Begegnung des Odysseus mit den Sirenen sind alle Lieder erkrankt, und die gesamte abendländische Musik laboriert an dem Widersinn von Gesang in der Zivilisation, der doch zugleich wieder die bewegende Kraft aller Kunstmusik abgibt.“ 33 Vgl. Wolfgang Mechsner, Wilhelm Petersen. Leben und Werk. Biographie mit thematischem Werkverzeichnis, Frankfurt/M. 1996.

4. Musikalische Rezeption

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druckte Sammlungen eingegangenen George-Lieder, wohingegen die 1952 gefertigten Fünf Lieder auf Gedichte von Stefan George von Max Kowalski, die einen rezitativischen, harmonisch recht konservativen Gestus pflegen, wohl ungedruckt blieben. Während das frühe Klavierlied An baches ranft von Wolfgang Rihm (Gesänge op. 1, Nr. 9; 1969) mit Anton Weberns op. 3, Nr. 3 konkurriert, sind die in den 1980erJahren entstandenen Kompositionen von Carlos Ehrensperger, der die vielerprobten „Lieder I–VI“ aus dem Siebenten Ring nochmals in deklamatorischer Manier vertont hat, und Henry Berthold, der seine Fünf Lieder nach Gedichten von Stefan George unter Verwendung deutscher Volkslieder durch verfremdende Effekte vom bloß Banalen abzuheben sucht, als späte Ausläufer einer versiegenden Tradition zu charakterisieren. Gegenüber dem Sololied gewannen seit 1930 Chöre und mehrsätzige Chorkantaten wesentlich größere Bedeutung für StGs musikalisches Nachleben. Das hängt mit allgemeinen musikkulturellen Umorientierungen zusammen, in deren Zuge ideologisch unterschiedlich motivierte Kräfte bestrebt waren, Spezialisierungen der Neuen Musik abzubauen und verstärkt Laien ins gemeinschaftliche Musizieren zu integrieren. Dem kam StGs spätes Werk insofern entgegen, als besonders Der Stern des Bundes lyrische Ich-Aussagen zugunsten von sentenziös-thetischen, auf Gemeindestiftung zielenden Sprechmodi zurückdrängte und damit der Rezeption in musikalischen Kollektivgattungen zuarbeitete. Paradigmatisch für diesen rezeptionsästhetischen Gattungswechsel ist das mit der prägnanten Formel „Wer je die flamme umschritt / Bleibe der flamme trabant!“ anhebende Gedicht aus dem dritten Buch im Stern des Bundes (VIII, 84). Zuerst wohl als Klavierlied komponiert – 1928 durch Helmut Westermann –, avancierte es rasch zu dem zwischen 1930 und 1960 am häufigsten, und zwar fast ausschließlich chorisch vertonten George-Gedicht.34 Wie stark genau sein (mitunter lagerfeuerromantischer) Gebrauch „als Lebensdevise“ jugendbewegter Bünde,35 als Hymne der Verpflichtung auf einen charismatischen Führer, von seiner Musikalisierung befördert wurde, ist von heute aus ebenso schwer zu rekonstruieren wie die jeweilige Aufladung der planetarischen Bildlichkeit mit unspezifisch geselligen oder spezifisch faschistischen Gedanken. Erkennbar ist aber, wie sehr die musikalische George-Rezeption mit diesem Gedicht zu einem Breitenphänomen wurde. Nachdem Heinrich Simbriger seine 1929 komponierten Fünf Chorgesänge nach Gedichten aus ,Der Stern des Bundes‘ op. 3 mit „Wer je die flamme umschritt“ beschlossen und der Schweizer Albert Moeschinger seine 1931 in die Neuen Gesänge schweizerischer Autoren für Männerchor aufgenommene Vertonung vorgelegt hatte, wurde der Text auch in den Folgejahren mehrfach als Einzelchor oder Teil einer größeren Kantate komponiert, nämlich durch 34 Während bei der Version von Rudolf Pannwitz nicht sicher zu entscheiden ist, ob sie solistischem oder chorisch-einstimmigem Gebrauch dienen sollte, gestaltete Hugo Kauder aus Pannwitz’ Melodie einen Kanon (s. o. Anm. 11). 35 Zur Prägung der um 1930 jungen Generation durch das auch in zahlreichen Anthologien der Zeit tradierte Gedicht vgl. Jürgen Reulecke, Nachkriegsgenerationen und ihre Verarbeitung des zweiten Weltkrieges – einige exemplarische Befunde und persönliche Anmerkungen, in: Krieg und Gedächtnis. Ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld kultureller Sinnkonstruktionen, hrsg. v. Waltraud Wende, Würzburg 2005, S. 76–87, hier: 83, der davon berichtet, dass StGs Gedicht noch beim Abschiedstreffen der letzten Überlebenden des Freideutschen Kreises im Jahre 2000 auswendig rezitiert wurde, und Heinz Schreckenberg, Erziehung, Lebenswelt und Kriegseinsatz der deutschen Jugend unter Hitler, Berlin 2001, S. 195.

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Wilhelm Maler, der bereits 1930 zwei George-Sätze zum Neuen Chorbuch beigetragen hatte und 1934 seine opulente Kantate nach Gedichten von Stefan George für gemischten Chor, Solobaß und Orchester in Druck gab; Carl Gerhardt, dessen Flammenlied zunächst in der Singstunde von 1932 und dann um 1936 in einer Fassung Für einen Vokal- und zwei Instrumentalchöre in starker Besetzung erschienen ist; Fritz Werner-Potsdam, der wohl in den gleichen Jahren36 für seine Kantate Heilige Flamme StGs Worte mit solchen von Heinrich Lersch und Christian Morgenstern kombinierte; Fritz Büchtger, der das Gedicht sowohl in seiner 1932 entstandenen Kantate Flamme als auch in seiner Orchesterliedfolge Der neue Stand vertonte; Konrad Ameln, der sich als Aktivist der Jugendmusikbewegung Mitte der 1930er-Jahre dem Nationalsozialismus andiente und seinen fünfstimmigen Flammen-Kanon 1936 in einem Handpressendruck vorlegte (Abb. 12).

Wie die musikalische Breitenrezeption37 von StGs Gedicht die fließenden Übergänge von der bündischen Bewegung in den Nationalsozialismus hinein dokumentiert, so zeichnet sich gerade an diesem Text auch eine das Kriegsende überdauernde Kontinuität ab. So wird der 1945 entstandene dreistimmige Chorsatz zu „Wer je die flamme umschritt“ von Karl Schiske erst 1952 gedruckt, kurz bevor 1954 Kaspar Roeseling eine weitere Chorkomposition über den Text vorlegte und Adolf Fecker eine 1956 veröffentlichte Festliche Kantate nach Gedichten von Stefan George komponierte, die mit dem Flammen-Chor anhebt. Als ideologisch prekär erscheinen mag diese Fortwirkung im Falle der 1973 publizierten Cantata profana über Die zwölf Monate – mit StGs (vermeintlichem Sonnwendfeier-)Gedicht zum Monat Juni – von Cesar Bresgen, der in den 1940er-Jahren etliche Werke für die Hitlerjugend und mit ihr assoziierte Spielscharen geschrieben hatte.38 Dass die pseudorituelle George-Rezeption bis in die 36 Osthoff, Ergänzende Bibliographie, S. 197, datiert anhand von Werner-Potsdams Todesjahr (1977) auf „spätestens 1977“, doch zeigt schon die Auswahl eines Textes des ,Arbeiterdichters‘ Heinrich Lersch, der 1933 (mit Gottfried Benn, Oskar Loerke und vielen anderen) das ,Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler‘ unterzeichnete, 1935 die im Ersten Weltkrieg von ihm geprägte, auf vielen Soldatengräbern prangende Parole „Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!“ zum Titel einer bis 1944 enorm populären Gedichtsammlung machte und 1936 ein Ehrenbegräbnis erhielt, welchem Umfeld die Kantate angehört. 37 Dass dieser (musikalisch eher anspruchslose) Rezeptionszweig über das Flammen-Lied hinausreichte und das Gedächtnis an StG lange Zeit geprägt haben dürfte, bezeugt noch ein Leserbrief von Josef Wille in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 9.9.2008, in dem der Schreiber darauf hinweist, dass das Schlussgedicht „Vogelschau“ aus dem ansonsten musikalisch wenig rezipierten Algabal „in der Jugendbewegung gesungen“ wurde, und als Quelle das Fahrtenliederbuch Querfeldein von Alf Zschiesche (Mainz 1950) nennt (vgl. auch Osthoff, Ergänzende Bibliographie, S. 196, und weitere reiche Nachweise im Incipitkatalog des Deutschen Volksliedarchivs Freiburg). Ein später Ausläufer dieser Traditionslinie, für die Osthoff, Ergänzende Bibliographie, S. 192, 195, u. a. eine auf 1922 datierte Vertonung des Spielmann-Sanges „So ich traurig bin“ für Gesang und Gitarre durch den Luftfahrtpionier Alexander Lippisch sowie eine gleich besetzte Fassung desselben Liedes durch Herbert Thienemann im Liederbuch Goldduft und blaue Berge (Berlin 1935) nachweist, ist etwa die mit schlichten Gitarrenharmonien versehene Melodie zu „Stimmen im Strom“ aus dem Buch der Hängenden Gärten in: colophon. nordstern-schrift aus jungenschaft winsen 7/1989 (wieder in: Neue Beiträge zur George-Forschung 14/1989, S. 56). Bis in die Gegenwart reichen die Bemühungen des Binger Liedermachers Martin Rector (alias Pilo), dem berühmten Sohn seiner Vaterstadt mit seiner von George-Gitarrenliedern durchsetzten Revue Rosen & Disteln (Uraufführung 28. Oktober 2007) einen popularisierenden Dienst zu erweisen. 38 Vgl. Cesar Bresgen. Komponist und Musikpädagoge im Spannungsfeld des 20. Jahrhunderts,

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Gegenwart reicht, belegt schließlich der schamanisch-elektronische Klangverschnitt der Gruppe Waldteufel, die auf ihrer CD Sanguis (2006) außer „Wer je die flamme umschritt“ noch weitere Gedichte aus dem Stern des Bundes (nebst Texten von Alfred Schuler) verarbeitet haben.39 Auch diesseits solcher modernen Kultgesänge hat sich die musikalische George-Rezeption der Nachkriegszeit nur zögerlich von bedeutungsschwangerer Verkündigung und pathetischer Verklärung frei gemacht: Carlos Ehrensperger arrangierte in seiner 1956 aufgeführten Frühlingsfeier-Kantate Texte aus StGs Stern des Bundes zu einem ,inneren Spiel‘ und der Binger Musiklehrer Theo Fischer hat noch 1968 den „Schlusschor“ des gleichen Bandes als Hymnischen Gesang auf StGs 100. Geburtstag komponiert. Die Ausstrahlung von StGs Spätwerk erreichte aber auch der Avantgarde angehörende Komponisten wie Michael Gielen, der in seinen Vier Gedichten für gemischten Chor und 19 Instrumente (1959) etwa die dem Stern des Bundes hrsg. v. Thomas Hochradner u. Thomas Nußbaumer, Anif, Salzburg 2005 (hier speziell den Aufsatz von Thomas Nußbaumer, Cesar Bresgen. Komponist im Dritten Reich, S. 17–48). 39 Vgl. hierzu die Besprechungen unter URL: 〈http://de.geocities.com/neueaesthetik/waldteufel. html〉 und 〈http://www.regenmag.com/Reviews–1063-Waldteufel-Sanguis.html〉 (Zugriff: 13.12.2008): „The extended ritual piece ,Der Flamme Trabant‘ in particular, is a magnum opus of industrial music gone primitive, with multi-layered German singing, hand percussion, and the monotone bleat of hunting horns evolving through multiple movements to conjure up the initiation rites of some primeval European tribe.“

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

entnommene existenzielle Frage stellt: „Wer ist dein Gott?“ (VIII, 16), und Alan Stout, dessen George-Lieder für Bariton und Orchester op. 69 (1962) auf Gedichten aus dem letzten Zyklus Das Lied des Neuen Reichs basieren. Weder Chorkantate noch Sololied zählen zu den bevorzugten Gattungen der zeitgenössischen Musik. Entsprechend lassen sich für die letzten Jahrzehnte kaum mehr eindeutige Linien und Tendenzen einer kompositorischen Auseinandersetzung mit StG nachzeichnen. Auch vergleichsweise deutlich an traditionellen Genres partizipierende Werke – wie die Vier Lieder nach Gedichten von Stephan George (1964) von Thomas Jahn, die um 1971 entstandenen George-Vertonungen von Wolfgang-Andreas Schultz und die Lieder an Max auf Gedichte von Friedrich Hölderlin, Stefan George, Rainer Maria Rilke (1988) von Matthias Düe – tragen in Textauswahl, Besetzung und Programmatik Züge des Singulären und Disparaten. So verdankt sich Dües Zusammenstellung den Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge (1983) von Wolfgang Hildesheimer, der u. a. StGs Waller im Schnee intertextuell verarbeitete und damit Düe zu einer ebenfalls mit vielen Zitaten spielenden Kompositionsweise anregte.40 Wolfgang-Andreas Schultz dagegen, der in den frühen 1970er-Jahren gleich mehrere Sammlungen mit George-Liedern für eine Solostimme bzw. für Chor a capella komponierte (neben Vertrautem aus den Sängen eines fahrenden Spielmanns ist auch ein Prosatext aus Tage und Taten vertont), setzte das sonst musikalisch nicht rezipierte Gedicht „Flurgottes Trauer“ (III, 15) für Flöte solo rein instrumental um. Ähnlich gewinnt Thomas Jahn, der mit „Komm in den totgesagten park“ und anderen Gedichten aus dem Jahr der Seele vorwiegend zu bekannten Gedichten gegriffen hat, seiner ungewöhnlichen Besetzung für Sopran, Altflöte und Vibraphon nicht nur aparte Klangmischungen ab, sondern auch eine reizvolle Mischung repetitiver und impulsiver Rhythmen. Stark vom Rhythmischen geprägt sind – neben Stephan Winklers opulenter Orchesterpartitur zur nacht (1992), die einen Kinderchor das frühe Pilgerfahrten-Gedicht „Mühle lass die arme still“ deklamieren lässt – vor allem Matthias Scheffels Der Krieg für Schlagzeug und Sprechstimme nach dem gleichnamigen Gedicht von Stefan George (1999), in dem die „Sprechstimme […] die Rhythmik der Schlagzeugstimme […] synchronisieren oder aber teils analogisierend, teils kontrastierend mit dem Schlagzeug korrespondieren“ soll,41 und Charlotte Seithers „… an der erde gesungen“. Vier kleine Szenen für Singstimme, Klarinette und Violoncello (1988) nach Texten von Ernst Meister und StG, deren dritte aus dem Gedicht „Horch was die dumpfe erde spricht“ aus dem Neuen Reich entwickelt ist, eine „nahezu penetrante Sprachdeklamation“ verlangt und den Sänger/Sprecher dazu in einem ebenmäßigen „Schreitrhythmus […] das Gesicht starr geradeaus“ richten lässt.42 Die experimentellen und inszenatorischen Vertonungen der jüngsten Vergangenheit bezeugen auf diese Weise die provokativen Qualitäten von StGs Lyrik, die nicht nur durch ihre Motivik und Thematik, sondern mehr noch durch ihr Beharren auf ästhetischer Eigengesetzlichkeit vom frühen 20. Jahrhundert an Komponisten zu ebenbürtigen Lösungen in einem vom Dichter wenig geschätzten Medium inspiriert hat.

40 Vgl. Düe, Lieder an Max, Geleitwort. 41 Scheffel, Der Krieg für Schlagzeug, Vorbemerkung. 42 Seither, „… an der erde gesungen“, S. 2.

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Vertonungen (Auswahl) Besetzung, wenn nicht anders angegeben, für eine Singstimme und Klavier. Vertonte Texte werden verzeichnet nach Band und Seite in SW. E: (ungefähres) Entstehungsdatum. Adorno, Theodor W., Sechs Lieder aus ,Der Siebente Ring‘ von Stefan George (SW VI/VII, S. 136–141; E: 1921). Ders., Wenn ich auf deiner brükke steh (SW VI/VII, S. 155; E: 1922). Ders., Zwei Gedichte von Stefan George (SW VI/VII, S. 138, 139; E: 1925). Ders., Vier Gedichte von Stefan George, op. 1 (SW VI/VII, S. 156; SW IV, S. 15; SW III, S. 71; SW IV, S. 89; E: 1925/28). Ders., Vier Lieder nach Gedichten von Stefan George, op. 7 (SW VI/VII, S. 155; SW IV, S. 26; SW VI/VII, S. 151, 141; E: 1944). Ders., Kompositionen, hrsg. v. Heinz-Klaus Metzger u. a., Bd. 1, München 1980, Bd. 3, München 2007 (darin: diverse Erstdrucke). Ameln, Konrad, Flammen-Kanon, Kassel 1935 (SW VIII, S. 84) (auch als Handpressendruck, Frankfurt/M. 1936, s. o. Abb. 12). Ansorge, Conrad, Fünf Gesänge nach Dichtungen von Stefan George, op. 14, Berlin 1900 (SW III, S. 58/2–60/2, 78; SW IV, S. 24, 25, 31, 32 [als Zyklus]). Ders., Weidenwald. Umdichtung von Stephan George nach Dante Gabriel Rosetti, op. 16, Berlin 1902 (SW XV, S. 16–19; Widmungsexemplar im StGA). Berg, Alban, Lyrische Suite für Streichquartett, Wien 1927 (6. Satz in Entwurf und Privatexemplar textiert mit SW XIII/XIV, S. 43). Ders., Der Wein. Konzertarie für Sopran [und Orchester], Wien 1930 (SW XIII/XIV, S. 125–129). Bergh, Rudolph, Acht Lieder, op. 11, Kopenhagen [um 1905] (S. 5–11: SW III, S. 59/2–60/2, 71, 86/1, 24). Ders., Fünf Lieder, op. 29, Berlin [um 1908] (Nr. 2 und 3: SW IV, S. 114, 26). Ders., Ein kleiner Liederzyklus, op. 49, Köln 1926 (SW VI/VII, S. 136–141). Berthold, Henry, Fünf Lieder nach Gedichten von Stefan George unter Verwendung deutscher Volkslieder (E: vor 1989; gedruckt: Das Lied [SW IX, S. 100–101], in: Spektrum 89, hrsg. v. Andreas Göpfert, Leipzig 1989, S. 129–136). Blau, Bernhard, Sieben Gesänge nach Dichtungen und Umdichtungen von Stefan George, für eine Singstimme mit Klavier oder Orchester, op. 21, Berlin 1928 (SW V, S. 37; SW III, S. 64–65; SW V, S. 45; SW VI/VII, S. 135; SW XVI, S. 27, 28; SW XIII/XIV, S. 103). Bornschein, Eduard, Elf Lieder nach Versen von Stefan George, Mainz 1926 (SW III, S. 58–61/2, 67, 66, 64–65/2). Braunfels, Walter, Sechs Gesänge nach Dichtungen von Carl Wolfskehl, Walter Wenghöfer und Stephan George, op. 1, München [um 1905] (SW IV, S. 30). Bresgen, Cesar, Die zwölf Monate. Cantata profana für Solo-Sopran, Solo-Tenor, gemischten Chor, Kinderchor und kleines Orchester nach Texten aus Vergangenheit und Gegenwart, Rodenkirchen 1973 („Juni“ vertont SW VIII, S. 84; Ms.-Kopie im StGA). Büchtger, Fritz, Flamme. Kantate für Bariton, gemischten Chor und Orchester, nach Stefan George, Heidelberg [1941] (SW VIII, S. 28, 30, 36, 41, 42, 50, 54, 82, 84, 101, 114; E: 1932). Ders., Das Buch der Liebe, München 1978 (Nr. 2: SW VI/VII, S. 136; E: 1936/45). Ders., An die Geliebte, op. 40, München 1979 (Nr. 1: SW IX, S. 111; E: ?). Ders., Der neue Stand, für Singstimme und Streichorchester, München 1979 (SW VIII, S. 92, 28, 50, 84; E: ?).

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Butting, Max, Drei Chöre a cappella, op. 27 (SW VIII, S. 50, 32, 82; E: 1924/25; Ms. Berlin Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz). Düe, Matthias, Lieder an Max auf Gedichte von Friedrich Hölderlin, Stefan George, Rainer Maria Rilke (S. 4–8: SW IV, S. 26; E: 1988; Ms.-Kopie im StGA). Ehrensperger, Carlos, Frühlingsfeier. Kantate für Chor, Soli, zwei Klaviere und Schlagzeug mit einem ,inneren Spiel‘ und mit Zwischenlesungen aus Stefan Georges ,Der Stern des Bundes‘, o. O. 1956 (rezitiert werden: SW VIII, S. 76–78, 70–72, 73–75, 79). Ders., Lieder I–VI aus Stefan Georges ,Der Siebente Ring‘ (E: 1988; SW VI/VII, S. 136–141; Ms.-Kopie im StGA). Fecker, Adolf, Festliche Kantate nach Gedichten von Stefan George für Solostimmen (ad lib.), gemischten Chor und Streichorchester, Wolfenbüttel 1956 (SW VIII, S. 84, 92, 69, 113). Ders., Pfingstkantate nach Worten verschiedener Dichter für Solostimmen (ad lib.), gemischten Chor und kleines Orchester, Wolfenbüttel 1957 (SW VI/VII, S. 111). Fischer, Theo, Stefan George: Das Lied. Ballade für eine Solostimme, dreistimmigen Chor und Orchester (SW IX, S. 100–101), Stefan George: Schlußchor aus ,Der Stern des Bundes‘ (gekürzt). Hymnischer Gesang für gemischten Chor a cappella oder mit Instrumentalbegleitung (SW VIII, S. 113), in: KTB, S. 139–151, 209f. Ders., Stefan George: Erinnerung. Lied im Volkston für Kinderchor (Gleiche Stimmen), gemischten Chor und Orchester (Klavier) (SW I, S. 19), Stefan George: Die Becher. Lied für Solostimme (auch chorisch), gemischten Chor und Orchester (Klavier) (SW IX, S. 108), Stefan George: Rückkehr. Lied für Solostimme (auch chorisch), gemischten Chor und Orchester (Klavier) (SW IV, S. 59), in: Das Stefan-George-Seminar 1978 in Bingen am Rhein, hrsg. v. Peter Lutz Lehmann u. Robert Wolff, Bingen 1979, S. 228–236. Franckenstein, Clemens von, Drei Gesänge, op. 1, Leipzig, Wien 1900 (Nr. 3: SW III, S. 64; E: 1895/96). Ders., Zwei Lieder, op. 4, Leipzig, Wien 1900 (Nr. 2: SW III, S. 63). Ders., Zwei Lieder, op. 5, Leipzig, Wien 1913 (SW XV, S. 105; SW III, S. 67: Dez. 1897 aufgeführt). Ders., Drei Lieder, op. 11, Leipzig, Wien 1913 (SW III, S. 85/1, 59/2, 78; E: 1898/99). Ders., Zwei Gesänge für tiefe Stimme und Orchester, op. 24 (SW IV, S. 53, 60; E: 1902; Ms. Bayerische Staatsbibliothek München). Frommel, Gerhard, Neun Gedichte aus ,Sänge eines fahrenden Spielmanns‘ von Stefan George. Für Singstimme mit Begleitung eines Kammerorchesters, op. 1, Berlin 1928 (SW III, S. 58/1–59/1, 60/1–61/1, 63, 66, 67; E: 1925). Ders., Lieder I–IV [recte: VI] aus Der Siebente Ring (Stefan George) für tiefe Stimme und 8 Instrumente, op. 2, Berlin 1989 (SW VI/VII, S. 136–141; E: 1928). Ders., Taggesang I–III. Aus ,Der Teppich des Lebens‘ von Stefan George, op. 3, Heidelberg 1942 (SW V, S. 79–81; E: 1927). Ders., ,Breit in der stille den geist‘. A-cappella-Motette (SW VIII, S. 50; E: 1928; Ms.). Ders., Wo in des schlosses dröhnend dunkler diele (SW IV, S. 55; E: 1928; Ms., verschollen). Ders., Lieder der Stille. Nach Gedichten von George und Baudelaire, op. 4, Heidelberg 1943 (SW IV, S. 101; SW XIII/XIV, S. 123; SW IV, S. 53; E: 1928; Letzteres zuerst gedruckt in: Kompositionen der jetzigen und früheren Schüler der Meisterklasse Hans Pfitzners […], Berlin 1929). Ders., Vier Gesänge nach Gedichten von Stefan George, op. 5, Heidelberg 1942 (SW II, S. 34, 44; SW IX, S. 104, 100–101; E: 1929). Ders., Vier Gesänge nach Gedichten von Baudelaire-George, op. 16, Heidelberg 1942 (SW XIII/XIV, S. 98, 73, 57, 129; E: 1941). Ders., Heisst es viel dich bitten (SW III, S. 59/2; E: 1945; Ms.). Ders., Lass deine tränen um ein weib (SW II, S. 36; E: 1953; Ms.). Ders., Sämtliche Lieder, hrsg. v. Wolfgang Osthoff, Kassel 2004ff. (darin: Neuausgaben).

4. Musikalische Rezeption

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Froreich, Ernst von, Lieder und Gesänge […]. Texte von Stefan George, Berlin 1914/1918 (SW IV, S. 25; SW VI/VII, S. 137, 141, 135; SW II, S. 19; SW IV, S. 45; SW II, S. 85 [Duett]; SW IV, S. 105). Genzmer, Harald, Vier Lieder, Berlin 1940 (Nr. 1: SW III, S. 67; E: 1939). Ders., Liederbuch, Mainz 1943 (Nr. 3 und 4: SW III, S. 99; SW IX, S. 111; E: um 1938). Gerhardt, Carl, Flammenlied (SW VIII, S. 84), in: Sommersonnenwende. Neue Lieder der Jugend, Wolfenbüttel 1932 (Die Singstunde, Bd. 43), S. 3f.; Flammenlied. Für einen Vokal- und zwei Instrumentalchöre in starker Besetzung, Hamburg [um 1936]. Gielen, Michael, Vier Gedichte von Stefan George aus ,der stern des bundes‘ für gemischten Chor und 19 Instrumente, Wien 1959 (SW VIII, S. 50, 39, 16, 24; E: 1955/58). Haan, Willem de, Das Lied des Zwergen. Lied van’t kleine dwergje, op. 21, Leipzig 1899 (SW III, S. 64–65/2). Ders., Sechs Lieder nach Gedichten aus dem ,Buch der hängenden gärten‘ (E: 1900; verschollen). Hallwachs, Karl, Lieder eines fahrenden Spielmanns von Stefan George, op. 12, Mannheim 1901 (SW III, S. 58/1 [zuerst in: BfdK 2/1894, 2, Beilage], 59/1, 60/1, 58/2, 59/2, 61/2; E: um 1895; Widmungsexemplar im StGA). Ders., Vier Gesänge nach Gedichten von Stefan George und Karl Wolfkehl, op. 13, Berlin 1901 (Nr. 1–3: SW III, S. 67 [zuerst in: Allgemeine Kunst-Chronik 18/1894, Nr. 23 (2. Novemberheft), Beilage; Ms. im Dehmel-Archiv der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg]; SW II, S. 70 [Ms. im StGA], 49; E: wohl um 1895). Ders., Das Lied des Zwergen von Stefan George, op. 27 [sic!], Berlin 1901 (SW III, S. 64–65/2). Ders., Fünf Lieder, op. 27 [sic!], Berlin 1911/13 (SW III, S. 66). Haustein, Johanna, Lieder (SW III, S. 78, 61/2, 65/2, 58/1; SW IV, S. 114; E: 1908/09; Ms. Bayerische Staatsbibliothek München). Dies., Neun Gesänge nach Texten von Stefan George, Berlin 1913 (SW III, S. 59/1; SW IV, S. 100; SW III, S. 84/2, 60/1 [auch in: Neue Musik-Zeitung 15/1913, 5, Beilage], 86/1; SW IV, S. 101, 116, 96, 42). Herrmann, Hugo, Unter Tränen. Liederzyklus für Sopran und Streichquartett (Rolicz-Lieder), op. 14 (SW XVI, S. 98–99; E: 1924; Ms. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart). Ders., Vergessene Weisen (Verlaine-George). Für Alt und Kammerorchester, op. 15a (SW XVI, S. 18, 19, 21, 17; E: um 1925; Ms. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart). Ders., Gesänge aus den Paradiesischen Gedichten (D’Annunzio-George) (SW XVI, S. 67, 66; E: um 1925; Ms. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart). Ders., Suite aus Galante Feste nach Verlaine-Stephan George für Sopran, Violine, Violincello und Klavier, op. 26 (SW XVI, S. 11, 14, 12, 15; E: 1926; Ms. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart). Jahn, Thomas, Vier Lieder nach Gedichten von Stephan George für Sopran, Altflöte und Vibraphon (SW IV, S. 12, 98, 105, 90; E: 1964; Ms.-Kopie im StGA). Jarnach, Philipp, Fünf Lieder, op. 15, Mainz 1922 (Nr. 3: SW IV, S. 59); dass. mit Orchester, Köln 1931. Kauder, Hugo, Vier Lieder, Wien 1928 (SW III, S. 64–65/2; E: 1919). Ders., Sieben Lieder, Wien 1928 (SW VIII, S. 50 [E: 1921]; SW III, S. 67). Ders., Chorbüchlein. Heft 1, Wien 1937 (SW VIII, S. 84). Ders., Albert Verwey. Twaalf Gedichten. Zwölf Gedichte (Deutsche Übertragung von Stefan George und Rudolf Pannwitz), Santpoort 1939 (SW XV, S. 86, 77f.). Ders. / Pannwitz, Rudolf, Alte und neue Chormusik. Aus dem Repertoire des Hugo-KauderChores (1928–1938), Privatdr. o. J. (SW VIII, S. 84). Klemperer, Otto, Kreuz der strasse (SW VI/VII, S. 141; E: 1917; Ms.; Fassung für Orchester, 1968). Knab, Armin, Lieder. Heft 1, op. 3, Leipzig, Mailand [1905] (SW III, S. 60/1).

958

III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Ders., George-Lieder, op. 5, München 1912 (SW I, S. 36; SW IV, S. 89, 101; E: 1904/06; Widmungsexemplar im StGA); dass. Köln [1912]. Ders., George-Lieder. Gesamtausgabe, Wien 1925 (enthält zusätzlich zu den oben genannten Liedern: SW III, S. 59/2 [E: 1921]; SW IV, S. 104, 17, 102 [E: 1904/06]; Widmungsexemplar im StGA). Knorr, Ernst Lothar von, Streichtrio cis-moll mit Singstimme in Form von Variationen nach Texten von Stefan George (SW VI/VII, S. 136–141; E: 1926; Ms., verschollen). Ders., Nacht-Gesang (SW V, S. 82; E: 1943; Ms.). Ders., Drei Tag-Gesänge (SW V, S. 79–81; E: 1944; Ms.). Kowalski, Max, Fünf Lieder auf Gedichte von Stefan George (SW IV, S. 106, 15, 90, 12, 61; E: 1952; Ms.-Kopie im StGA). Lippisch, Alexander, ,So ich traurig bin‘ für Gesang und Gitarre (SW III, S. 60/1; E: 1922; Ms.). Lissauer, Fritz, 4 Lieder nach Texten von Stefan George, op. 26, o. O. um 1913 (SW IV, S. 89, 17, 101, 113). Maler, Wilhelm, [Chorsätze zu SW VI/VII, S. 111; SW VIII, S. 82], in: Das neue Chorbuch, hrsg. v. Erich Katz, Mainz 1930. Ders., Kantate nach Gedichten von Stefan George für gemischten Chor, Solobaß und Orchester, Mainz 1934 (SW VIII, S. 29, 28, 50, 82, 91, 84; SW VI/VII, S. 111). Meyer-Ambros, Franz, ,Der Siebente Ring‘. Lieder-Cyclus. Aus der gleichnamigen Folge von Stefan George (SW VI/VII, S. 136–140, 142, 155; E: 1918; Widmungsms. im StGA). Moeschinger, Albert, ,Gottes Pfad ist uns geweitet‘. Gemischter Chor zu vier Stimmen, op. 14, Mainz 1930 (SW VIII, S. 114). Ders., ,Wer je die Flamme umschritt‘. Männerchor, op. 19,1 (SW VIII, S. 84), in: Neue Gesänge schweizerischer Autoren für Männerchor a cappella, hrsg. v. Carl Vogler, Zürich [1931]. Neumeyer, Fritz, Aus dem ,Siebenten Ring‘. Lieder (SW VI/VII, S. 135–153, 81, 115–119, 121, 131; E: 1924–1927; Ms.-Kopie im StGA). Niemann, Walter, Impressionen. Sechs Stücke für Klavier zu 2 Händen, op. 112, Leipzig 1927 (inspiriert von SW V, S. 75, 67, 62, 74). Osorio-Swaab, Reine Colac¸o, Sänge eines fahrenden Spielmanns (SW III, S. 58/1, 58/2, 59/2, 60/1; E: 1935?). Pannwitz, Rudolf, George-Gesänge, Privatdr. 1937 (SW VIII, S. 13, 16, 18, 22, 25, 28, 32, 33, 36, 37, 50, 84, 95, 96, 101, 103, 107; SW IX, S. 100–101; SW V, S. 82, 84, 81). Peters, Kurt, Lieder. Erste Folge, München 1895 (SW IV, S. 59, 60 [auch in: BfdK 2/1895, 5, Beilage]; ein Ms. im Dehmel-Archiv der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg enthält ferner Vertonungen von SW II, S. 36; SW IV, S. 58). Petersen, Wilhelm, Sieben Lieder aus dem ,Siebten Ring‘ von Stefan George, op. 19 (SW VI/VII, S. 136–141, 151; E: 1925/26; Ms.). Ders., Fünf Gesänge (Hölderlin und George), op. 20, Darmstadt 1934 (Nr. 4 und 5: SW VIII, S. 82, 50; E: 1925/26; Nachdruck Frankfurt/M. 1996). Ders., Sechs Gesänge nach Texten von Claudius, Hölderlin, George, Lenau, Trakl, op. 45, Heidelberg 1976 (SW V, S. 67; E: 1942/45). Pisk, Paul Amadeus, Sänge eines fahrenden Spielmanns aus dem ,Buch der Sagen und Sänge‘ von Stefan George, op. 6, Wien, New York 1922 (SW III, S. 58/1–67). Rihm, Wolfgang, Gesänge, op. 1, Wien 1992 (Nr. 9: SW VI/VII, S. 138; E: 1969). Roeseling, Kaspar, ,Wer je die flamme umschritt‘ für vierstimmigen gemischten Chor, Rodenkirchen 1954 (SW VIII, S. 84). Scheffel, Matthias, Der Krieg für Schlagzeug und Sprechstimme nach dem gleichnamigen Gedicht von Stefan George (SW IX, S. 21–26; E: 1999; Ms.-Kopie im StGA). Schiffmann, Ernst, George-Lieder, München 1924 (SW III, S. 67, 60/1, 84/2; SW VI/VII, S. 137, 139, 136, 141; SW III, S. 65/2).

4. Musikalische Rezeption

959

Schiske, Karl, Vier Chöre für drei gleiche Stimmen, op. 22, Wien 1952 (SW VIII, S. 84; E: 1952). Schmid, Heinrich Kaspar, Sänge eines fahrenden Spielmanns. Nach Gedichten von Stefan George. Erste Folge von sechs Liedern, op. 37, Mainz 1921 (SW III, S. 58/1–60/2). Schnabel, Artur, Zehn Lieder, op. 11, Berlin 1902 (Nr. 5 und 7: SW III, S. 61/1, 60/2). Ders., Sieben Lieder, op. 14, Berlin 1904 (Nr. 6: SW III, S. 59/2). Schönberg, Arnold, II. Streichquartett, op. 10 (3. und 4. Satz: SW VI/VII, S. 129, 111; E: 1907/08). Ders., Zwei Lieder, op. 14 (Nr. 1: SW IV, S. 27; E: 1907). Ders., 15 Gedichte aus ,Das Buch der hängenden Gärten‘ von Stefan George, op. 15 (SW III, S. 83/1–90; E: 1908/09). Ders., Friedensabend (SW III, S. 81; Fragment; E: um 1908). Ders., Vier Lieder für Gesang und Orchester, op. 22 (Nr. 1: SW XV, S. 44; E: 1913). Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. Josef Rufer u. a., Bd. 1ff., Mainz 1966ff. (darin: Neuausgaben). Schreker, Franz, Entführung (SW IV, S. 60), in: Der Merker 3/1912, 4, Beilage (E: um 1902). Schultz, Wolfgang-Andreas, Fünf Lieder nach Rilke, George und Trakl für Sopran und Kammerensemble (Nr. 2–4: SW III, S. 58/2, 59/1, 60/2; E: 1970/71). Ders., Drei Lieder nach Texten von Stefan George (SW IV, S. 32; SW VI/VII, S. 141; SW XVIII, S. 18/2; E: 1971). Ders., Flurgottes Trauer. Für Flöte solo (SW III, S. 15; E: 1971/73). Ders., Drei Lieder für vierstimmigen gemischten Chor a capella (Nr. 1: SW IV, S. 20; Nr. 3: SW II, S. 28; E: 1971/72). Scott, Cyril, Lieder aus Sänge eines fahrenden Spielmanns von Stefan George (SW III, S. 58/1, 59/2, 60/1, 61/1, 58/2, 60/2; E: 1898; Ms. im StGA). Seither, Charlotte, „… an der erde gesungen“. Vier kleine Szenen für Singstimme, Klarinette und Violoncello (Nr. 3: SW IX, S. 103; E: 1988; Ms.-Kopie im StGA). Simbriger, Heinrich, Fünf Chorgesänge nach Gedichten aus ,Der Stern des Bundes‘, op. 3, Leipzig 1940 (SW VIII, S. 91, 85, 87, 101, 84; E: 1929). Simon, James, Lieder, op. 8, Berlin 1912 (Nr. 2: SW III, S. 67; Widmungsms. im StGA). Stout, Alan, George Lieder für Bariton und Orchester, op. 69, New York 1962 (SW IX, S. 98, 109–111). Thienemann, Herbert, Goldduft und blaue Berge. Lieder für eine Singstimme mit Gitarrenbegleitung, Berlin 1935 (S. 46: SW III, S. 60/1). Trapp, Max, Zwei Gesänge für mittlere Stimme und Orchester, op. 19 (Nr. 1: SW IV, S. 96; E: um 1923; Ms.). Trimborn, Hans, Wo sind die perlen süsse zähren (SW III, S. 64; E: 1918; Widmungsms. im StGA). Webern, Anton, ,Entflieht auf leichten Kähnen‘ für gemischten Chor a capella, op. 2 (SW IV, S. 105; E: 1908). Ders., Fünf Lieder aus ,Der Siebente Ring‘ von Stefan George, op. 3 (SW VI/VII, S. 136–141; E: 1908/09). Ders., Fünf Lieder nach Gedichten von Stefan George, op. 4 (SW VI/VII, S. 115; SW IV, S. 30, 14; SW III, S. 60/1; SW IV, S. 114; E: 1908/09). Ders., Vier Stefan-George-Lieder (SW IV, S. 66; SW VI/VII, S. 90, 96, 79; E: 1908/09). Ders., Drei Orchesterlieder (Nr. 2: SW VI/VII, S. 92; E: 1913/14). Wellesz, Egon, Idyllen. Fünf Klavierstücke zu Gedichten von Stefan George, op. 21, Wien 1917 (Motti aus SW V, S. 74, 79, 75; SW II, S. 28; SW V, S. 62). Ders., Lieder nach Dichtungen von Stefan George, op. 22, Berlin um 1917 (SW VI/VII, S. 136, 137, 139, 140, 141, 151). Ders., Erinna (Stefan George), Wien, New York 1925 (SW III, S. 24).

960

III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Werner-Potsdam, Fritz, ,An die Toten‘ (Dichtung von Stefan George) für gemischten Chor und Orchester, op. 8, Berlin 1935 (SW IX, S. 90). Ders., Heilige Flamme. Kantate nach Worten von Heinrich Lersch, Christian Morgenstern und Stefan George für gemischten Chor, Baritonsolo und Streichorchester, op. 18, Berlin o. J. (SW VIII, S. 84). Westermann, Helmut, Vier Lieder, Wien 1928 (SW VIII, S. 61, 84). Winkler, Stephan, zur nacht für Orchester mit Kinderchor (S. 62–69: SW II, S. 34; E: 1992; Ms.-Kopie im StGA). Wintzer, Richard, Es winkte der abendhauch (SW IV, S. 117; Ms. Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin; E: 1898/99). Wolff, Erich, [Einstimmige Melodien] (SW VI/VII, S. 136, 137; SW III, S. 60/1, 58/1; SW II, S. 43; SW IV, S. 101; E: wohl 1921/34; Kopie der Abschrift Rune von den Steinen im StGA). Zehnder, Max, Neun Gesänge für tiefe Stimme und Kammerorchester (SW IV, S. 24–28, 30–35; E: 1928/29; Ms.). Ders., Fünf Lieder (SW VI/VII, S. 136–140; E: 1928/29; Ms.). Zemlinsky, Alexander von, Zwölf Lieder, op. 27 (Nr. 1 und 10: SW IV, S. 60, 90; E: 1937; Ausgabe: New York 1978). Zillig, Winfried, ,Komm in den totgesagten park und schau‘. Für hohe Stimme und Kammerorchester, Kassel 1960 (SW IV, S. 12; E: 1924). Ders., Fünf Lieder aus dem ,Jahr der Seele‘, Kassel o. J. (SW IV, S. 49, 105, 93, 60, 111; E: 1935). Ders., Vergessene Weisen (Ariettes oublie´es). Nach Gedichten von Paul Verlaine in der Übertragung von Stefan George, Kassel 1958 (SW XVI, S. 17, 18, 22, 23, 24, 28; E: 1940). Zschiesche, Alf[red], Querfeldein. Ein- und zweistimmige Fahrtenlieder mit Gitarre ad lib., Mainz [um 1955] (S. 22: SW II, S. 85).

Literatur GK; GPL; KTM. Anton Webern II, München 1984 (Musik-Konzepte Sonderbd.). Dümling, Albrecht, Die fremden Klänge der hängenden Gärten. Die öffentliche Einsamkeit der Neuen Musik am Beispiel von Arnold Schönberg und Stefan George, München 1981. Ders., Umwertung der Werte. Das Verhältnis Stefan Georges zur Musik, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1981/82, S. 9–92. Gruber, Gerold W. (Hrsg.), Arnold Schönberg. Interpretationen seiner Werke, 2 Bde., Laaber 2002. Hirsbrunner, Theo, Fünfzehn Gedichte aus Das Buch der hängenden Gärten von Stefan George op. 15, in: Gruber (Hrsg.), Schönberg, Bd. 1, S. 196–215. Neumann, Peter Horst, Schönberg vertont Stefan George, in: GJb 6/2006/2007, S. 150–159. Osthoff, Wolfgang, Stefan George und ,Les deux musiques‘. Tönende und vertonte Dichtung im Einklang und Widerstreit, Stuttgart 1989. Ders., Stefan Georges ,Traurige Tänze‘. Möglichkeiten der Vertonung 1904–1929, in: Neue Beiträge zur George-Forschung 18/1993, S. 15–29. Ders., Ergänzende Bibliographie der Stefan George-Vertonungen, in: CP 50/2001, 247/249, S. 181–204. Sauder, Gerhard, Schönbergs Beziehung zu Stefan George und Richard Dehmel, in: Stil oder Gedanke? Zur Schönberg-Rezeption in Amerika und Europa, hrsg. v. Stefan Litwin u. Klaus Velten, Saarbrücken 1995, S. 201–215. Schmidt, Christian Martin, II. Streichquartett op. 10, in: Gruber (Hrsg.), Schönberg, Bd. 1, S. 124–143.

4. Musikalische Rezeption

961

Scott, Calvin, „Ich löse mich in tönen …“. Zur Intermedialität bei Stefan George und der Zweiten Wiener Schule, Berlin 2007. Stern, Martin, „Poe´sie pure“ und Atonalität in Österreich: Stefan Georges Wirkung auf das Junge Wien und Arnold Schönberg, in: Modern Austrian Literature 22/1989, 3/4, S. 127–141. Theodor W. Adorno. Der Komponist, München 1989 (Musik-Konzepte 63/64). Dieter Martin

5.

Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

5.1.

Die Blätter für die Kunst in der deutschen Literaturkritik

Die von StG und Carl August Klein herausgegebenen BfdK erschienen in den Jahren 1892 bis 1919 nicht in regelmäßigen Jahrgängen, sondern in unterschiedlichen Abständen in zwölf Folgen.1 Die Zeitschrift sollte verbreitet werden, „um zerstreute noch unbekannte ähnlichgesinnte zu entdecken und anzuwerben“.2 Auf dem Titelblatt hieß es außerdem, dass sie für „einen geschlossenen von den mitgliedern geladenen leserkreis“ bestimmt sei. Damit wandte sich die Zeitschrift nicht an ein rezeptives Lesepublikum, sondern „an potentielle Beiträger, für die man einen Sammelpunkt bereithielt“ (K, 26). Der Hinweis entsprach außerdem StGs Bemühen, die eigene Rezeption zu lenken.3 Indem StG den hohen Wert des eigenen Werks und vor allem dessen Exklusivität proklamierte, versuchte er „den Unwägbarkeiten, den Diffusitäten und Bedrohungen der literarischen und kritischen Kommunikation“4 zu begegnen. „Der Versuch, ein überschaubares und damit kontrollierbares Feld der Publizität zu begrenzen“, zeigte sich in einem „forcierten Kontrollverhalten“.5 So finanzierten die Mitarbeiter ihre Zeitschrift selbst und stellten sie eigens ausgewählten Freunden und Bekannten zu. Zu kaufen gab es die BfdK in den ausgesuchten Buchhandlungen Gnuse´ in Lüttich, Leopold Weiß Tuchlauben in Wien und Littauer’s Kunstsalon in München. Die angestrebte geschlossene Leserschaft ist dahingehend durchbrochen, daß eine zwar noch persönliche, sonst aber halb-anonyme Ladenkundschaft der Buch- und Kunsthandlungen in München Zugang zu dieser Zeitschrift bekommt. Indem das Periodicum so einen halb-öffentlichen Warencharakter erhält, wird auch sein Handelswert erstmals festgelegt, der mit den Preisen gleichzeitiger anderer Zeitschriften und Bücher zu vergleichen ist.6

Zur erstrebten Exklusivität gehörte StGs Forderung an die Mitarbeiter, von Veröffentlichungen in anderen Periodika abzusehen. In den sogenannten ,Nachrichten‘ am 1 Zu den Gründen für den unregelmäßigen Publikationsrhythmus vgl. I, 3.3. 2 BfdK 1/1892, 1, S. 1f. 3 Einen Überblick über die Rezeption des Blätter-Kreises gibt Landmann (GPL). In Quellensammlungen und summarischen Analysen dokumentieren sie außerdem Wuthenow (Hrsg.), George in seiner Zeit, sowie Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“ und Kolk 1998, S. 62f. 4 Martus, Werkpolitik, S. 520. 5 Ebd. 6 Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 12f. Der von Fechner nicht genannte Preis für eine Blätter-Folge betrug rund 4,50 Mark; vgl. Karlauf 2007, S. 139.

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

963

Ende jedes Zeitschriftenbandes wird knapp auf die Aufnahme der BfdK im In- und Ausland hingewiesen. Dort wurden zudem verwandte literarische Projekte, vor allem aus dem französischsprachigen Ausland, aufgelistet, welche die Selbststilisierung der BfdK „als Sachwalter der europäischen Avantgarde-Bewegung“ erkennen lassen.7 1899, also sieben Jahre nach ihrer Entstehung, erschien der erste Ausleseband der BfdK, der die Zeitschrift einem breiteren Publikum zugänglich machen sollte.8 StG fügte seinem Werk bei dieser Gelegenheit gleich die positive Kritik als Leseanleitung bei. Denn dem Auswahlband war der Essay des Berliner Literaturhistorikers Richard Moritz Meyer Ein neuer Dichterkreis vorangestellt. Meyers Lobpreis war zuvor schon in den Preußischen Jahrbüchern erschienen und ging auf einen Vortrag zurück, den der Autor und Freund des Malerehepaars Sabine und Reinhold Lepsius am 17. März 1897 vor der Gesellschaft für deutsche Literatur in Berlin gehalten hatte:9 „Darin deutet Meyer StGs Exklusivitätsstrategie als Äquivalent historischer Distanz und macht diese damit zur Voraussetzung einer ,verstehenden‘, auf Selektionslosigkeit umgestellten literaturgeschichtlichen Aufmerksamkeit.“10 Meyers Essay steht in einer Reihe von Besprechungen, die von der Blätter-Gruppe autorisiert wurden, indem sie in eigene Publikationen aufgenommen oder in ihnen zitiert wurden (s. u.). Es handelt sich bei diesen Rezensionen kreisinterner und kreisassoziierter Kritiker um ein sorgfältig orchestriertes Verweissystem, das die von StG gewünschte Aufnahme seiner Zeitschrift in den verschiedenen Bereichen von Kunst, Wissenschaft und Feuilleton sicherstellen sollte. Viele der wohlmeinendsten Rezensionen wurden denn auch von Gruppenmitgliedern selbst verfasst und zuweilen im Sinne einer selbst geschaffenen Debatte durch andere Gruppenmitglieder noch weiter rezipiert. Unter den positiven Besprechungen fallen diese Selbstrezensionen nicht nur zahlenmäßig ins Gewicht, sondern auch durch ihre Einsicht in die Poetik der Blätter-Gruppe, welche die BfdK durch ihre Absage an alle Dichtungstheorie allenfalls zu implizieren vorgaben.11 Hofmannsthal versuchte StG brieflich davon zu überzeugen, der Dichtungstheorie in der Zeitschrift mehr Raum zu geben.12 Vor diesem Hintergrund lassen sich die Selbstrezensionen des Blätter-Kreises auch als Realisierungen der von Hofmannsthal geforderten Poetik lesen und entsprechen dem Phänomen der „Strukturhomologien, die zwischen der sozialen Gemeinschaft der Mitarbeiter der BfdK, den sich wechselseitig erhellenden Beiträgen innerhalb der Zeitschrift und der (Gesamt-)Werk7 Auf seinen Reisen hatte StG „,Internationalität‘ als ästhetischen Wert“ entdeckt und „informierte sich […] in Paris über ein breiteres Spektrum von französischen und belgischen Zeitschriften“ (I, 3.1., S. 302f.), in denen Übersetzungen seiner Werke erschienen und an denen er sich für die BfdK orientieren konnte. 8 Der erste Ausleseband enthielt Auszüge aus den Blätter-Folgen von 1892–1898, 1904 erschien der zweite mit Auszügen aus den Folgen von 1898–1904 und 1909 der dritte und letzte mit Auszügen aus den Folgen von 1904–1908. Zum Druck der Auslesebände vgl. I, 3.3. 9 Vgl. Karlauf 2007, S. 231f. 10 Martus, Werkpolitik, S. 516. 11 Vgl. die Einleitung der BfdK 1/1892, 1, S. 1: „Wir halten es für einen vorteil dass wir nicht mit lehrsätzen beginnen sondern mit werken die unser wollen behellen und an denen man später die regeln ableite.“ In diesem Sinne urteilt Koopmann, Literaturtheorie, S. 39: „Eine eigene Literaturtheorie haben die Blätter für die Kunst nicht entwickelt, im Zentrum stand die ,dichterische kunst-schöpfung‘.“ 12 Vgl. H. v. Hofmannsthal an C. A. Klein v. 8.7.1892, in: G/H, S. 24f. Hofmannsthals Wunsch wird 1895 in der Einleitung zum Februarheft der BfdK aufgegriffen.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

politik StGs bestehen.“13 Zudem blieben auch die „Zeugnisse unkritischer Hagiographie“14 nicht ohne Einfluss auf die kreisexterne Kritik und nahmen sie bisweilen sogar vorweg. Die negative Kritik umfasst einige gelungene Parodien und ironische Abhandlungen, die das Kunstprogramm der BfdK schon deshalb besonders provozierte, weil seine auf Exklusivität und Wertschaffung zielende Selbststilisierung das Komische selbst so rigoros ausschloss. Im 27-jährigen Erscheinen von 1892 bis 1919 änderte sich die öffentliche Wirkung der Zeitschrift: Am Anfang kaum, dann für kurze Zeit als relativ geschlossene künstlerische Avantgarde wahrgenommen, verengte sich der Blickwinkel zunehmend auf StG, dessen Dominanz schon ab 1894 die Rezeption zu bestimmen begann und spätestens ab der Jahrhundertwende beherrschte. Die Kritik der Blätter-Gruppe verweist damit auf eine entscheidende Funktion der Zeitschrift, die vor allen Dingen in den 1890er-Jahren dazu diente, StG als Autor zu etablieren und zu profilieren.15 Nach dem Erscheinen der letzten Folge 1919 repräsentierte die Blätter-Gruppe in der deutschen Wahrnehmung eine Vereinigung von mehr oder weniger talentlosen George-Epigonen.16 Die Rezeption StGs, dessen „Einfluß auf den Kulturbetrieb der ersten Hälfte [des 20.] Jahrhunderts von einer Mächtigkeit war, der nichts Vergleichbares an die Seite gestellt werden kann“,17 begann also bald die Wahrnehmung der Gruppe zu überschatten. Das erste Rezeptionszeugnis18 im deutschsprachigen Raum stammt von dem Dichter der Proletarier Lieder Maurice Reinhold von Stern, auf dessen Mitarbeit an den BfdK StG vergeblich gehofft hatte.19 Von Stern hob im Dezember 1892 unter den Mitarbeitern der BfdK noch Klein als Herausgeber hervor – später wird, auch wenn Klein weiter als Herausgeber zeichnete, nur noch von StGs Zeitschrift die Rede sein –, gab den Inhalt des ersten Hefts der ersten Folge vom Oktober 1892 wieder und lobte die Gedichtfolge „Die drei Kreuze“ des Lütticher Dichters Paul Ge´rardy, der zu den wichtigsten Beiträgern der Anfangszeit gehörte. Bemängelt wurde die „verschrobene Orthographie“, ein von der späteren Kritik oft wiederholter Vorwurf, mit dem die BfdK sich in einem Beitrag Kleins selbst auseinandersetzen.20 Die Unsicherheit des Rezensenten verrät der abschließende Zweifel am Ernst der Zeitschrift und die Vermutung, es handle sich um einen Scherz am Publikum. Auch die ironische Kritik des naturalistischen Dichters und Literaturkritikers Julius Hart aus demselben Jahr zeigte sich noch unsicher in der Einordnung der Dichter-Gruppe, bezeugt aber gerade dadurch ihre Unvoreingenommenheit: Das Zeitschriftenprogramm wird zusammen mit den Werken Paul Scheerbarts als ganz vom künstlerischen Autonomieprinzip geleitet bestimmt und in seiner ästhetizistischen Lebensferne aufs Korn genommen: 13 I, 3.4., S. 325. 14 Wuthenow (Hrsg.), George in seiner Zeit, S. 281. 15 Vgl. I, 3.5. 16 Die Periodisierung und folgende Analyse basieren auf einem Korpus, das Texte von den Jahren 1892 bis 1919, mit einem Ausblick auf die Rezeption bis zu StGs Tod im Jahr 1933, einschließt. 17 Manfred Frank, Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. II. Teil, Frankfurt/M. 1988, S. 257. 18 Notizen, in: Stern’s Literarisches Bulletin der Schweiz 1/1892, 6 (v. 1.12.), S. 54f., zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 55–56; vgl. auch K, S. 26. 19 Vgl. Karlauf 2007, S. 129f. 20 Vgl. Carl August Klein, Das doch nicht Äusserliche, in: BfdK 1/1893, 5, S. 144ff.

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

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,Die Kunst um der Kunst willen, Kunst ist sich Selbstzweck‘, sagen Paul Scheerbart, August Klein, Richard George [sic!] und wie sie alle heißen: ,ich, der Künstler, bin ich und setze mich selbst; mir macht es nun einmal Vergnügen, in den blauen Himmel hineinzustarren, ich habe nun einmal an sammetschwarz, marmorweiß, hellgrün mehr Freude als an allen Staatsaktionen und allen Liebesgeschichten.‘21

Neben der Selbstherrlichkeit monierte Hart, der mit StG die besondere Begabung teilte, Gleichgesinnte um sich zu scharen, die Absolutsetzung eines Kunstprogramms, das ihm durch einen unaufhebbaren Selbstwiderspruch gekennzeichnet zu sein schien. Denn die sorgfältige Formgebung weise ebenso wie die Wendung an ein Publikum über den proklamierten künstlerischen Solipsismus hinaus. So hat jedes dieser Kunstwerkchen doch seinen Sinn und seinen Zweck, und streng genommen auch seinen Außerkunstzweck; lebte der Phantasiekünstler wirklich nur von der Phantasie, ließe er sich allein von ihren dahinströmenden Wellen tragen, so würde er überhaupt zu keiner Komposition gelangen, so würde das Werk uferlos und ohne Aufhören und regellos dahinfließen, wie dies Phantasieren und Träumen ohne Ende sich fortsetzt […].22

Der Außenwahrnehmung durch die naturalistische Kritik entsprach die kreisinterne Oppositionshaltung, im Zuge derer sich die BfdK gerade am Anfang im Feld der literarischen Moderne als dezidierte Gegner des Naturalismus positionierten.23 1894, zwei Jahre nach dem Erscheinen der ersten Zeitschriftenfolge und den ersten Besprechungen entstanden die Eigenrezensionen. In einem Sonderheft der von Georg Fuchs, einem Blätter-Autor und Schulfreund StGs, herausgegebenen Allgemeinen Kunst-Chronik erschienen Huldigungen, die, von Fuchs selbst und Wolfskehl verfasst, „erstmals im deutschen Sprachgebiet die Bestrebungen Stefan Georges und seines Dichterkreises vorstell[en] und sie der Entwicklung in den anderen Künsten zuordne[n].“24 Die mit Wolfskehls Hilfe sorgfältig lancierte Artikelserie sollte die BfdK „gezielt einer breiten literarischen Öffentlichkeit […] nahe[bringen]“ und „die grundsätzliche Neuausrichtung der BfdK als kunst- und kulturkritisches Periodikum“ begleiten.25 Beide Autoren huldigten der Gruppenhierarchie, indem sie StG gesondert von den restlichen Blätter-Beiträgern würdigten. Fuchs hatte in einer früheren Nummer seiner Zeitschrift schon StG und den auch von den BfdK gepriesenen Max Klinger als verwandte symbolistische Künstler gefeiert, von denen in Deutschland eine künstlerische Erneuerung zu erhoffen sei. Ohne den Dichterkreis und seine Zeitschrift überhaupt zu erwähnen, hatte Fuchs sich ganz auf StGs Poetik und seine Vorbilder konzentriert. Mit dem Klassizismus teile der Dichter die „hohe Wertschätzung des Formalen“.26 Dabei korrigiere er die „Überwindung durch das Gedanklich-Stoffliche“,27 die in Schillers Werk kulminiere. Eklektisch verbinde StG eine französische 21 Julius Hart, „Ja … was … möchten wir nicht alles!“, in: Freie Bühne für den Entwicklungskampf der Zeit 3/1892, Dez., S. 1334–1336, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 57–62, hier: 60. 22 Ebd., S. 61. 23 Vgl. I, 3.1. u. I, 3.4. 24 Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 104. 25 I, 3.5.3., S. 344. 26 Georg Fuchs, Symbolistische Kunst und die Renaissance in Flandern, in: Allgemeine KunstChronik 18/1894, 12 (Juni), S. 337–341, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 91–96, hier: 93. 27 Ebd., S. 94.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

mit einer deutsch-norwegischen Traditionslinie, die bis ins Mittelalter zurückreiche und die Minnesänger, Goethe, Wagner, Keller, Ibsen, Baudelaire, Verlaine und Mallarme´ umfasse. In der Renaissance28 betitelten Abhandlung, die das dem Blätter-Kreis gewidmete Sonderheft der Allgemeinen Kunst-Chronik eröffnete, griff Fuchs schon im Titel ein Stichwort aus der ersten Einleitung der BfdK auf. Auch implizierte der Begriff ,Renaissance‘ eine historische Tiefenschärfe, welche die Traditionsbildung der Blätter-Gruppe auf die historischen Klassizismen ausrichtete. Fuchs sprach selbst als Mitglied des Dichterkreises, dessen esoterische Publikationspolitik er hagiographisch zu rechtfertigen suchte: Wir können ja nur mit solchen verhandeln, die ihrer ganzen Geistes- und Lebensartung nach zu uns gehören: möchten andere uns immer so ferne bleiben, dass keiner der Unseren von ihnen, sei es durch Spott und Lärm, sei es gar durch Beifall gestört werden kann!29

Diese Dichterelite knüpft nach Fuchs an Goethe als den Vollender der Renaissance an, dessen reifste Werke – Iphigenie, Tasso, Marienbader Elegien, Natürliche Tochter – das Leben symbolisch im Verhältnis von Welt und großem Individuum erfassten. Die Blätter-Dichter erklärte Fuchs zu Ahnen Gottfrieds von Straßburg, Goethes und Platens und nationalisierte damit die Tradition der Blätter-Gruppe, um den Vorwürfen kreisexterner Kritiker zu begegnen, die der Zeitschrift eine Abhängigkeit vom französischen Symbolismus unterstellten: Die , R e n a i s s a n c e ‘, welche in der Gegenwart wie in der besonders sogenannten Epoche der Vergangenheit romanischer Völker und wie zu den Zeiten des deutschen Minnesanges als eine reine Welt edler Geister über barbarischen Untergründen ruht, ist erreicht und vollendet durch Goethe. […] So bedeutet für uns der reife Goethe den ersten Dichter, welcher es wieder vermochte, alles, Impression, Stoff, Innen- und Aussenwelt in reiner Poesie aufzulösen, wie es in unserem älteren Kunstzeitalter G o t t f r i e d v o n S t r a s s b u r g so wundersam vollbracht hatte. Ihm wurde, um mit Platen zu reden, ,die gewaltige Natur zum Mittel nur, aus eigener Kraft sich eine Welt zu bauen‘.30

Im selben Sonderheft stellte Wolfskehl wie Fuchs vor ihm die Bedeutung der BfdK als Publikationsorgan des Kreises dar und kontrastierte dem von ihm konstatierten internationalen Ruhm StGs das deutsche Desinteresse. Die ganz auf den Nachweis von StGs einzigartiger Schöpferkraft und charismatischer Künstlerpersönlichkeit abzielende Darstellung gipfelt im Verweis auf seine Rezeption in den Werken jüngerer Dichter. Dass Wolfskehl aus diesen beispielhaft ausgerechnet Hofmannsthal herausgreift, der in den BfdK die Ausnahme darstellte und dessen Bindung an die Zeitschrift für die gesamte Dauer seiner Mitarbeit problematisch blieb,31 entspricht der beabsichtigten Verherrlichung StGs. So bewertet Wolfskehl das Verhältnis der beiden als Meister-SchülerBeziehung und legt den Einfluss des älteren auf den jüngeren Dichter an Hofmannsthals auszugsweise in den BfdK erschienenem lyrischen Drama Der Tod des Tizian dar. Zwei Entgegnungen rundeten die durch das Sonderheft der Allgemeinen KunstChronik angestoßene Miniaturdebatte ab. In der um Ausgewogenheit bemühten 28 Georg Fuchs, Renaissance, in: Allgemeine Kunst-Chronik 18/1894, 23 (Nov.), S. 660–670, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 96–104. 29 Ebd., S. 96. 30 Ebd., S. 98f. 31 Vgl. I, 3.3.

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

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Neuen deutschen Rundschau erschien 1895 eine anonyme Kritik, die unmittelbar auf das Sonderheft der Allgemeinen Kunst-Chronik Bezug nahm. Sie kontextualisierte den Blätter-Kreis literarhistorisch vor dem Hintergrund des den Realismus ablösenden Neo-Idealismus und kritisierte die strikte Hierarchie des Kreises mit ihrer StG glorifizierenden Ideologie, der Bedeutungslosigkeit der meisten Gedichte aus dem Kreis und der einfallslosen Kopie des französischen Symbolismus. Eine zweite Entgegnung auf das Sonderheft ist ein Leserbrief des Blätter-Herausgebers Klein. Bescheidener als Fuchs und Wolfskehl betonte Klein das Transitorische der Blätter-Bewegung, der es, vorerst noch im kleinen Kreis, vor allem darum gehe, durch Ernst und Geschmacksbildung einer neuen Dichtung den Weg zu bereiten. Die Reihe der Eigenrezensionen setzt sich mit Hofmannsthal fort, der sich, eingebunden in den Dichterkreis des Jungen Wien, gegen die Vereinnahmung durch StG wehrte, sich aber trotz des späteren Bruchs mit StG die Bewunderung für dessen Werk bewahrte. In seinem Essay Gedichte von Stefan George32 besprach er 1896 in der vom Kopf der Jung-Wiener Hermann Bahr mit herausgegebenen Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst Die Zeit die Gedichtzyklen der Hirten- und Preisgedichte und der Sagen und Sänge. Er bestimmte die Poetik des jungen StG im Sinne eines neuen, über die Form zur Harmonie gelangenden Umgangs mit den Dissonanzen der Moderne: „Der vielfältige verklausulierte und zersplitterte Zustand unserer Weltverhältnisse ist in den ungeheuren Abgrund des Schweigens geworfen.“33 In der zwei Monate später am selben Ort erschienenen Abhandlung Poesie und Leben34 erwähnte Hofmannsthal weder StG noch die BfdK namentlich. Doch zitierte er – ohne expliziten Bezug – die Poetik der Zeitschrift, um seinen eigenen Dichtungsbegriff darzulegen. Poesie sei nichts anderes als ein gewichtloses Gewebe aus Worten […], die durch ihre Anordnung, ihren Klang und ihren Inhalt, indem sie die Erinnerung an Sichtbares und die Erinnerung an Hörbares mit dem Element der Bewegung verbinden, einen genau umschriebenen, traumhaft deutlichen, flüchtigen Seelenzustand hervorrufen, den wir Stimmung nennen.35

Bahrs Forderung, die Dichtung solle die e´tats d’aˆme darstellen, ist hier genauso berücksichtigt wie StGs Wertschätzung von Rhythmus und Klang. Den BfdK entnahm Hofmannsthal auch den Maßstab, um dichterische Originalität und Epigonalität zu bemessen: ,Den Wert der Dichtung‘ – ich bediene mich der Worte eines mir unbekannten aber wertvollen Verfassers –, den Wert der Dichtung entscheidet nicht der Sinn (sonst wäre sie etwa Weisheit, Gelahrtheit), sondern die Form, das heißt durchaus nicht Äußerliches, sondern jenes tief Erregende in Maß und Klang, wodurch zu allen Zeiten die Ursprünglichen, die Meister sich von den Nachfahren, den Künstlern zweiter Ordnung unterschieden haben. Der Wert einer Dichtung ist auch nicht bestimmt durch einen einzelnen, wenn auch noch so glücklichen Fund in Zeile, Strophe oder größerem Abschnitt. Die Zusammenstellung, das 32 In: Die Zeit (Wien) 6/1896, 77 (21.3.), zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 175–181. 33 Ebd., S. 179. 34 In: Die Zeit (Wien) 6/1896, 85 (16.3.), S. 104–106, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 246–251. 35 Ebd., S. 248.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Verhältnis der einzelnen Teile zueinander, die notwendige Folge des einen aus dem anderen kennzeichnet erst die hohe Dichtung.‘36

Wenn Hofmannsthal abschließend auf einen „großen Sophisten“ verweisend von den zeitgenössischen Dichtern die „Innigkeit der Worte“37 forderte, zitierte er ein weiteres Mal die BfdK und vermittelte als Blätter-Autor und Mitglied des Jungen Wien zwischen den konkurrierenden Avantgarden.38 Im selben Jahr 1896 ergriff mit Oscar A. H. Schmitz ein weiterer Blätter-Dichter das Wort. Auf seine Zugehörigkeit zur künstlerischen Avantgarde wies der Autor schon im Titel hin, der den nationalen Zuschnitt des Kunstprogramms unterstrich: Intimes aus dem modernen Kunstleben. H. Stefan George, der Führer der neudeutschen Romantik.39 Neben StG hob Schmitz unter den Blätter-Dichtern die bereits als kreisinterne Kritiker hervorgetretenen Dichter Fuchs und Hofmannsthal hervor. Die Preziosenmetaphorik am Beginn seiner Abhandlung wirkt unfreiwillig ironisch. Schmitz’ emphatischer Zuspruch äußert sich in Dichterkatalogen, die, immer in Übereinstimmung mit dem Programm der BfdK, aber auch in Anlehnung an Fuchs’ Renaissance, Pindar, Gottfried von Straßburg, Goethe und Platen umfassen und zu Vorbildern des BlätterKreises erklären. Das Neue in der Dichtung der Zeitschrift sah Schmitz in der Überwindung des Stofflichen durch eine Formkunst, welche die Realität zu sublimieren suche. Er paraphrasierte damit Hofmannsthals Deutung von StGs Lyrik. Schmitz schmälerte das Lob StGs nur geringfügig, wenn er vor der Veräußerlichung durch die George-Epigonen warnte und damit die spätere externe Blätter-Kritik vorwegnahm. Die erste Parodie des Blätter-Kreises stammte 1895 von dem Autor der wegen ihrer blasphemischen Anzüglichkeit zum Skandalstück gewordenen ,Himmelstragödie‘ Das Liebeskonzil Oskar Panizza.40 Panizzas durchweg spöttische und in ihrer Bildlichkeit drastische Abhandlung stuft den Blätter-Kreis ganz im Einklang mit der zeitgenössischen kreisexternen Kritik als symbolistisch41 ein und lobt unter den Beiträ36 Ebd., S. 248f. Vgl. BfdK 2/1894, 4, S. 122. 37 Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 251. 38 Vgl. BfdK 2/1894, 4, S. 122. Eine stoffliche Referenz und ein Nietzsche-Zitat stellen zwei weitere Bezüge zu den BfdK dar. Auf den Antinous-Stoff, der auch in den BfdK bearbeitet ist, weist Hofmannsthal hin, um im Kunstvergleich den Wert des „eigenen Tons“ in der Dichtung zu veranschaulichen: „Eine neue und kühne Verbindung von Worten ist das wundervollste Geschenk für die Seelen und nichts geringeres als ein Standbild des Knaben Antinous oder eine große gewölbte Pforte.“ Die Kritik an einer veräußerlichten Wirklichkeitsnachahmung in der Kunst fasst Hofmannsthal, wie nach ihm StG (in: BfdK 3/1896, 1, S. 31: Über Kraft), in die Worte Nietzsches: „Sie müssen sich abgewöhnen, zu verlangen, daß man mit roter Tinte schreibt, um glauben zu machen, man schreibe mit Blut.“ 39 In: Didaskalia, Unterhaltungsblatt des Frankfurter Journals Nr. 152 v. 1.7.1896, S. 607f.; Nr. 162 v. 12.7.1896, S. 646f., zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 252–261. 40 Oskar Panizza, Die deutschen Symbolisten, in: Die Gegenwart 47/1895, S. 201–204, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 118–125. 41 Die interne Selbstzuschreibung der Blätter-Gruppe tendiert bereits vor den öffentlichen Ausgaben und den Anthologien zur Deutschen Dichtung zur Nationalisierung. Dies erhellt vor allen Dingen aus den expositorischen Texten der BfdK, die sich darum bemühen nachzuweisen, dass poetologische Gemeinsamkeiten ihrer eigenen Dichtung und der des französischen Symbolismus aus dem gemeinsamen Ursprung in der deutschen Romantik rühren. Später setzt Wolfskehl sich in Die Blätter für die Kunst und die neueste Literatur (in: Jb 1/1910, S. 1–18, bes. S. 5) mit dem ambivalenten Verhältnis der Blätter-Gruppe zum französischen Symbolismus auseinander und

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

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gern nur den über Hofmannsthal zur Blätter-Gruppe gestoßenen und bis zur vierten Folge in den BfdK vertretenen Max Dauthendey. Panizza komisiert die sexuelle Uneindeutigkeit der Liebeslyrik aus dem Blätter-Kreis und formuliert als erster den noch für die Kritik des beginnenden 21. Jahrhunderts42 brisanten Vorwurf der Homoerotik und Pädophilie, nur um ihn sogleich zu relativieren: Über das Verhältnis der Symbolisten zum Weibe habe ich die genauesten Anforschungen angestellt, aber leider nichts in Erfahrung bringen können. […] Auf der anderen Seite muß ich aber ebenso wahrheitsgetreu versichern, dass ich kein Gedicht getroffen habe, welches direct an einen Knaben gerichtet gewesen wäre. Wie dieses Fischgeschlecht sich fortpflanzt, ist noch nicht eruiert.43

Panizza beschließt seine mit unausgewiesenen Blätter-Zitaten gespickte Kritik mit einer parodistischen Traumvision, die auf Mariae Verkündigung Bezug nehmend den amoralischen Ästhetizismus ad absurdum führt. Die Kontrafaktur des religiösen Prätexts persifliert StGs priesterlichen Gestus und attestiert ihm im Bild der ,Todgeburt‘ literaturgeschichtliche Wirkungslosigkeit. Nachdem Panizza im Traum ein Engel erschienen ist und ihn zu einem Altar führte, auf dem ein abgeschlagenes Haupt liegt, entspinnt sich der folgende Dialog: Und ich wandte mich zum Engel und frug: Was bedeutet es? – Und der Engel antwortete: Es ist das Haupt des deutschen Symbolismus! – Ich verwunderte mich aber und sprach: Ist es das Haupt von Otto Erich Hartleben? – Und der Engel verneinte. – Ich ärgerte mich aber, daß es nicht das Haupt von Otto Erich Hartleben war. Und frug wiederum und sprach: Ist es das Haupt von Paul Gerardy (Berlin)? – Und der Engel verneinte – Oder das Haupt von Dauthendey (Norwegen)? – Oder von Stefan George (Paris)? Oder von Loris [d. i. Hofmannsthal] (Wien)? – Oder von Fritz Cassirer (München)? – Und der Engel wandte sich zu mir und sprach: Es ist nicht das Haupt Dieses oder Jenes. Es ist d a s Haupt des deutschen Symbolismus. Denn sie sind alle Eins. – Und warum ist das Haupt des deutschen Symbolismus abgeschlagen? – Die symbolistische Dichtung gedeiht nur im Augenblick des Selbstmords, wie geschrieben steht: ,Denn sie sind keine Sittenprediger, sondern lieben nur die Schönheit die Schönheit die Schönheit!‘44

Das abschließende Zitat entstammt einer Einleitung der BfdK und wurde schon in der Blätter-Kritik der Neuen Deutschen Rundschau zitiert, in der, wie bei Panizza, das negative Urteil überwog. Die erste philosophische Deutung lieferte als kreisassoziierter Kritiker der Berliner Philosophiedozent Max Dessoir, der StG einlud, in seinen Vorlesungen Gedichte vor-

legt mit einem ausführlichen Zitat aus Menschliches, Allzu Menschliches dar, dass Nietzsche, und nicht der französische Symbolismus, die ,Geistige Kunst‘ vorausgedacht habe. Das NietzscheZitat erhellt vier Qualitäten der ,Geistigen Kunst‘: ihren prognostischen Charakter, ihre Hinwendung zur Immanenz, ihre ästhetische Verpflichtung und den ihr innewohnenden Reiz zur Nachahmung. 42 Vgl. etwa Karlaufs Deutung des Georgeschen Spätwerks: „Der Stern des Bundes war der ungeheuerliche Versuch, die Päderastie mit pädagogischem Eifer zur höchsten geistigen Daseinsform zu erklären. Wer dies nicht sah oder nicht sehen wollte, musste die tausend Verse für inkommensurabel halten“ (Karlauf 2007, S. 394). 43 Panizza, Die deutschen Symbolisten, S. 122f. 44 Ebd., S. 125. Vgl. zu den Implikationen der symbolistischen Publikationspraxis I, 5.3.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

zutragen, und eine nie zustande gekommene Zeitschrift mit ihm plante. Seine 1896 erschienene Untersuchung Das Kunstgefühl der Gegenwart45 bemühte sich um eine literargeschichtliche Kontextualisierung der Blätter-Gruppe und berücksichtigte dabei besonders deren Konkurrenz zum Naturalismus. Der ausgebildete Wirklichkeitssinn des von Dessoir scharf kritisierten Naturalismus wende sich bei den antinaturalistischen Avantgarden, welche „der Haß gegen das Stoffliche, die Liebe zum Ungewöhnlichen, das starke, aber nicht geklärte Gefühl für das Künstlerische und Persönliche“46 verbinde, nach innen. Die großen Ernst mit Elite- und Formbewusstsein paarende Blätter-Gruppe kennzeichne zudem der in der Kritik immer wieder zitierte eklektische Künstlerkatalog, der Goethe, Paul Heyse, Platen, Wagner, Nietzsche, Rossetti und Böcklin umfasse. StGs Ringen um rhythmisch-formale Vollkommenheit beschrieb Dessoir mithilfe einer Charakterisierung Kleins47 aus den BfdK: Von dem Haupt der Gilde, Stefan George, rühmt ein getreuer Vertreter, daß ihm alle Reflexion und Rhetorik fehle, daß seine Worte aus dem gemeinen alltäglichen Kreis entrückt seien und die unreinen Reime oder leichtsinnigen Fehler im Takte fortfallen. Die Strophe ist bei George ein musikalisches Ganze, daher ohne Interpunktion im alten Sinne. ,Alles läuft auf den großen Zusammenklang hinaus, wobei wir durch die Worte erregt werden wie durch Rauschmittel.‘48

Der Kreis stand in den Augen Dessoirs für ein aristokratisches Künstlertum, das sich im Streben um formale Vollendung gegen alle kunstfremden Einflüsse abzuschotten versuchte; er verkenne aber – und hier erinnert die Kritik an Panizzas Verspottung des auf die Spitze getriebenen Schönheitskults wie an Harts frühe naturalistische Kritik – die sozialen Bezüge aller Kunst, die den ästhetizistischen Standpunkt, sich mit der Kunst das Leben vom Leibe halten zu wollen, als defizitär erscheinen lassen. Der in seinem Urteil über StG weit mehr als Dessoir gespaltene Redakteur der Neuen Deutschen Rundschau Otto Julius Bierbaum49 verschärfte 1896 die schon von den kreisinternen Kritikern vorbereitete Tendenz einer Nationalisierung des Kunstprogramms der BfdK: Nachdem er StG als Erneuerer der Lyrik und „reine Begabung“ gegen Spott verteidigt hatte, beschloss er seine Kritik mit einer nationalen Wendung und der Nationalstereotypie von der deutschen Innerlichkeit, die StG gegen den Vorwurf der uneigenständigen Nachahmung französischer Vorbilder wie gegen den Vorwurf des „Undeutschen“50 in Schutz nehmen sollte: „Im Lyrischen sind wir, das bekennen selbst die Franzosen, die Gebenden und haben uns bei niemand zu bedanken als bei unsrer deutschen Seele, aus der schon Walther von der Vogelweide und Wolf-

45 Max Dessoir, Das Kunstgefühl in der Gegenwart, in: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte für das gesamte geistige Leben der Gegenwart 40/1896, 80, Nr. 475, S. 79–90; Nr. 476, S. 158–174, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 187–230. 46 Ebd., S. 198. 47 Vgl. Carl August Klein, Über Stefan George. Eine neue Kunst, in: BfdK 1/1892, 2, S. 45–50, hier: 46f. 48 Dessoir, Das Kunstgefühl in der Gegenwart, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 204. 49 Otto-Julius Bierbaum, Vom modern Lyrischen, in: Die Zeit (Wien) 7/1896, 81 (18.4.); 82 (25.4.), S. 40f., 56f., zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 232–243. 50 Arthur Moeller van den Bruck warf StG als einer der Ersten vor, undeutsch zu sein, vgl. ders., Stilismus, S. 27–74; vgl. III, 5.2.1.1., S. 978f.

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gang Goethe ihr Bestes genommen haben.“51 Vier Jahre später verspottete Bierbaum den zuvor von ihm verteidigten StG in seinen unter dem Pseudonym Martin Möbius erschienenen Steckbriefen als „raffiniertesten Grotesktänzer der zeitgenössischen Lyrik“, dessen ganzer ,Tric‘ darin bestehe, „feierlich zu sein und keine Kommas zu setzen“52, und wiederholte damit die wenig originelle Kritik an der eigenwilligen Interpunktion der BfdK. 1897 hielt Meyer den erwähnten Vortrag Ein neuer Dichterkreis, der als Aufsatz zwei Jahre später den ersten Ausleseband der BfdK eröffnete. Meyers Rezension zählt zwar nicht zu den Eigenrezensionen im engeren Sinn, stimmt aber, wie die spätere Autorisierung zeigt, mit dem Kunstprogramm und der Selbststilisierung der BlätterGruppe überein. Als „akademische Nobilitierung“53 ist Meyers Kritik von weitreichender Bedeutung und bildet den Auftakt weiterer Rezensionen durch bedeutende Germanisten und Philosophen. Meyer verglich die beiden herausragenden Dichter des Blätter-Kreises StG und Hofmannsthal, ohne, wie vor ihm Wolfskehl im Sonderheft der Kunst-Chronik, eine klare Präferenz auszusprechen. Vielmehr sah Meyer beide durch ihren Antinaturalismus und die eklektische Auswahl von Vorbildern verbunden. Neben den französischen und englischen Dichtern Baudelaire, Gautier, Mallarme´, Swinburne und Rossetti würden sie Novalis und Platen sowie in den Nachbarkünsten Wagner, Nietzsche, Klinger und Böcklin anerkennen, durch dessen Vermittlung der Blätter-Kreis die Antike rezipiere. Ohne Quellenangabe zitiert Meyer aus StGs Lobrede auf Jean Paul: Wenn Du, höchster Goethe, mit deiner marmornen Hand und deinem sicheren Schritt unserer Sprache die edelste Bauart hinterlassen hast, so hat Jean Paul, der Suchende, der Sehnende, ihr gewiß die glühendsten Farben gegeben und die tiefsten Klänge.54

Die Bewunderung des Blätter-Kreises für Goethe und Schiller schmälere nur wenig die Kritik an der mangelnden Formreinheit der Klassiker. Das Streben nach formaler Meisterschaft sei deshalb ein Ziel der ,Schule‘. Meyer gebraucht den Begriff versuchsweise – die BfdK hatten ihn im März 1893 zum ersten Mal verwendet – und relativiert ihn gleich wieder mit der Begründung, um Schule zu sein fehle dem Blätter-Kreis „glücklicherweise ein uniformirender Lehrmeister“.55 Erst am Ende seiner Abhandlung wendet Meyer sich summarisch sechs weiteren Blätter-Dichtern zu: An Paul Ge´rardy lobt er das Stimmungsvolle, an Richard Perls das menschlich Berührende, an Wolfskehl die Gattungsmischung von Lyrik und Prosa. Namentlich erwähnt werden zudem Emil Rudolf Weiß, Max Dauthendey und Carl August Klein. Nur an Wacław Lieder bemängelt Meyer die fehlende Hingabe an die Ideale der Dichtergruppe. Indem Meyer das der Blätter-Gruppe gemeinsame poetologische Programm einer Erneue51 Bierbaum, Vom modern Lyrischen, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 242. 52 Karlauf 2007, S. 285 unter Verweis auf Martin Möbius [d. i. Otto Julius Bierbaum], Steckbriefe. Erlassen hinter dreißig literarischen Übelthätern gemeingefährlicher Natur, Berlin, Leipzig 1900, S. 56. 53 I, 3.5.3., S. 348. 54 Richard M. Meyer, Ein neuer Dichterkreis, in: Preußische Jahrbücher 88/1897, April–Juni, S. 33–54, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 283–303, hier: 286. Vgl. BfdK 3/1896, 2, S. 59–62, hier: 62. 55 Zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 287. Meyer wiederholt seine Einschätzungen in: Das neunzehnte Jahrhundert, Tl. 1, 4., umgearb. Aufl., Berlin 1910, bes. S. 373ff.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

rung der Dichtung im Sinne formaler Meisterschaft betont, impliziert er als erster Kritiker eine Sicht, nach der „die BfdK als eine Art Stilschule StGs gelten können“.56 Der hymnische Zuspruch Meyers enthielt Argumente, welche die positive wie negative Blätter-Kritik der folgenden Jahre 1894 bis 1919 bestimmten. Dazu zählt die Konzentration auf StG, die durch den häufigen Vergleich mit Hofmannsthal perspektiviert wird und das Elitäre seines Werks wie seiner Selbststilisierung betont. Auch der synchrone und diachrone Epochenvergleich dient immer wieder dazu, Originalität oder Epigonalität der Dichtergruppe zu konstatieren. Die Blätter-Zitate erhellen außerdem, dass sich die zeitgenössische Kritik nicht vom programmatischen Selbstwiderspruch der BfdK täuschen ließ, sondern trotz des erklärten Verzichts der Zeitschrift auf Theorie die dezidierte Poetik der BfdK erkannte und kommentierte. Zwei Jahre nachdem Meyer in seiner Blätter-Rezension mit starkem Vorbehalt von StGs Schule gesprochen hatte, verwandte die Berliner Schriftstellerin, Malerin und Salonnie`re Marie von Bunsen den Begriff in ihrer 1898 erschienenen Rezension Stefan George, ein Dichter und seine Gemeinde57 vollkommen uneingeschränkt. Die Hierarchie und Begabung innerhalb der Gruppe fasste die liberal gesinnte von Bunsen lapidar zusammen: StG bildet den Mittelpunkt der Gemeinde jener ,Blätter für die Kunst‘, hat wohl vor allem durch seine Persönlichkeit einen merkwürdigen Einfluß. Von den ihn umgebenden Dichtern Hoffmannsthal [sic!], Wolfskehl, Dauthendey, Ernst Hardt und Anderen, scheint Hoffmannsthal der Begabteste zu sein.58

Ohne seinen Namen zu erwähnen, kritisierte von Bunsen nur Melchior Lechters Ausstattung der Werke als altmodisch und überwunden.59 Ihre Würdigung beschloss sie mit der Erinnerung an StGs Lesung im Hause Lepsius am 14. November 1897. Die Wirkung der Dichterlesung hielt noch nach StGs Abgang an: „Erst allmählich begannen wir im Flüsterton zu sprechen. Einigen waren seine Gedichte gänzlich fremd gewesen; ich glaube, jeden hatten sie gepackt und bewegt.“60 Mit ähnlicher Bewunderung für das Charisma StGs beschrieb auch die naturalistischen Dichterkreisen nahestehende Lou Andreas-Salome´ denselben Leseabend, den sie in Grundformen der Kunst. Eine psychologische Studie61 als Bestätigung für die unbedingte Einheit von Inhalt und Form, Werk und Persönlichkeit StGs begriff. Für Andreas-Salome´ verkörpert StG ein Ausnahme-Talent, das seinen Nachahmern, die sie nicht weiter individualisiert, unerreichbar bleiben müsse. Mit StGs Bekanntwerden vergrößerte sich der Kreis seiner großbürgerlichen Berliner Freunde. Zu ihnen zählten neben Lepsius und Meyer auch Georg Simmel, der mit seiner 1898 erschienenen Arbeit Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung62 die erste bedeutende wissenschaftliche Besprechung der Blätter-Gruppe veröffentlichte. Simmels Interpretation, die StGs poetische Verfahrensweise als Aus56 I, 3.3., S. 318; vgl. auch K, S. 108ff. 57 In: Vossische Zeitung v. 9.1.1898, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 317–323. 58 Ebd., S. 321. 59 Vgl. ebd., S. 322. 60 Ebd., S. 323. 61 In: Pan 4/1898, 3, S. 177–182, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 354–366. 62 In: Die Zukunft 22/1898, 9 (26.2.), S. 386–396.

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

973

druck einer überpersönlichen ,Form des Fühlens‘ begreift, wurde von Wolfskehl im selben Jahr zusammen mit Hofmannsthals Gedichte von Stefan George und Meyers Ein neuer Dichterkreis als „wertvollste“ George-Kritik kanonisiert.63 Ein Jahr später erschien Wolfskehls Stefan George. Zum Erscheinen der öffentlichen Ausgabe seiner Werke.64 Die von StG selbst autorisierte65 Rezension erkannte den schon vom Blätter-Dichter Oscar A. H. Schmitz aufgeworfenen Vorwurf der Epigonalität an und bemühte sich, StGs formale Meisterschaft von seinen formalistischen Nachahmern abzugrenzen: Am ehesten wohl mag die Bedeutsamkeit und neue Schönheit seiner Sprachbehandlung Anerkennung finden. Dass er mit stets feiner und sicherer werdendem Gefühl die Klangfarbe seiner Verse bis zu fast begrifflicher Deutlichkeit steigerte, den Reimschatz unsrer Sprache unter fast völliger Vermeidung ungenauer Gleichklänge bereicherte, das hat die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt und ihm Nachfolger geworben, deren manche zwar die schöne, beziehungsreiche Form im Sinn eines missverstandenen Kanons formalistisch erstarren liessen.66

Der äußere Anlass für Wolfskehls Rezension war das Erscheinen der öffentlichen Ausgaben bei Bondi. Als Begleitung zum Werk StGs wollte Klages seine 1902 erschienene George-Monographie verstanden wissen. Die BfdK sind in ihr durch poetische Leitsätze vertreten, die ohne Quellenangabe als „Aussprüche Georges“67 zitiert werden. Das Epigonen-Problem interessierte Klages nur im Hinblick auf StGs Verhältnis zur Tradition: „Welche Erbschaft George antritt? Seine Sprache hat mindestens Goethe und Jean Paul zur Voraussetzung (obschon sie vielleicht mehr bei romanischen Meistern lernte) und damit alles, was in beiden an Kultur zusammenfloss.“68 Zwar bleibt auch die Frage nach der Originalität StGs nach der Jahrhundertwende weiter umstritten,69 doch wird es zum Kontinuum der Kritik, die BlätterGruppe zu Epigonen StGs zu erklären. Ausgenommen werden von diesem Vorwurf üblicherweise nur Hofmannsthal, Vollmoeller und Dauthendey. So pries Stefan Zweig 1903 in seiner Die um Stefan George70 betitelten Rezension des Blätter-Kreises zwar StG als „souveränen Sprachschöpfer“71 und begrüßte die öffentlichen Ausgaben als programmatischen Wandel in StGs Werkpolitik. Doch kritisierte er den ebenfalls bei Bondi verlegten Wolfskehl als uneigenständigen George-Nachahmer und stellte ihm Vollmoellers ursprüngliches dramatisches Talent gegenüber. Der immer wieder vorgenommene Vergleich StGs mit Hofmannsthal als der beiden herausragenden Talente unter den Blätter-Beiträgern wird wechselnd zugunsten des 63 Karl Wolfskehl, Stefan George, in: Darmstädter Tagblatt Nr. 235 v. 7.10.1898, S. 4912f., zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 348–353. 64 Karl Wolfskehl, Stefan George. Zum Erscheinen der öffentlichen Ausgabe seiner Werke, in: Pan 4/1899, 4 (15.4.), S. 231–235, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 369–380. 65 Vgl. StG an Caesar Flaischlen v. 21.12.1898, zit. nach Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“, S. 381. 66 Ebd., S. 369f. 67 Ludwig Klages, Stefan George, Berlin 1902, S. 11. 68 Ebd., S. 37. 69 Vgl. etwa die ambivalente Würdigung StGs als Neuerer und Epigone durch Samuel Lublinski, der Hofmannsthal zum einzigen eigenständigen Dichter der Blätter-Gruppe erklärt: Samuel Lublinski, Die Bilanz der Moderne, Berlin 1904 (wiederabgedruckt und mit e. Nachw. vers. von Gotthart Wunberg, Tübingen 1974, bes. S. 342ff.). 70 In: Das litterarische Echo 6/1903, 3 (Nov.), S. 169–172. 71 Ebd., S. 169.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

einen oder des anderen entschieden.72 Auf die polemische Spitze trieb ihn Rudolf Borchardt, der sich um 1902 Hofmannsthal anschloss und versuchte, ihn auch öffentlich gegen StG auszuspielen. Exemplarischer als die persönlichen Animositäten Borchardts ist aber das Urteil Richard Urbans,73 der 1908 Hofmannsthals tief empfundene dichterische Überlegenheit mit der leeren Wortkunst StGs kontrastiert. Urban spitzte zudem die Epigonenproblematik weiter zu, indem er die Blätter-Gruppe als Falle für dichterische Begabungen wie Vollmoeller bezeichnete. Wohlwollender urteilte dagegen Albert Soergel, der schlicht konstatierte, Hofmannsthal habe seinen Stil an der Schule StGs gebildet, und ihn in seiner Literaturgeschichte getrennt von dem der Blätter-Gruppe gewidmeten Kapitel „Stefan George und sein Kreis“ würdigte.74 Die entscheidenden Wertungen sind damit um die Jahrhundertwende gefallen und setzen sich bis 1919 fort. Die Kritik der Blätter-Gruppe wird ab der Jahrhundertwende zunehmend zur George-Kritik.75 Dessen schulbildender Einfluss auf die Mitarbeiter der BfdK wird zum Gemeinplatz der kreisinternen wie -externen Kritik. Letztere zählt zur Reihe der George-Schüler nun auch prominente Dichter, die dem Kreis nie angehörten: Die Manier Georges hat eine ganze Reihe gelehriger Schüler gefunden, wie Richard Schaukal, Albert Mombert, Max Dauthendey. Am nächsten dem Meister, sowohl in seinen Vorzügen wie in seinen Fehlern kommt Rainer Maria Rilke (geb. 1875). Ebenso aristokratisch, träumerisch, schönheitliebend, dazu noch religiös und mythisch angehaucht und ebenso unklar und unverständlich dazu noch oft in einer Form, die sich kaum von Prosa unterscheidet.76

In den Literaturgeschichten und der mit dem Erscheinen der öffentlichen Ausgaben von StGs Werken einsetzenden George-Philologie findet die Blätter-Gruppe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur am Rande Beachtung.77 Nachdem die BfdK verkündet hatten, ihren Ästhetizismus aufs Leben übertragen und auf einen „umschwung des deutschen wesens“78 hinwirken zu wollen, bewertete die Kritik auch 72 Vgl. etwa Karl Kraus, Warnung vor der Unsterblichkeit (Zu einer Peter Altenberg-Vorlesung), in: Die Fackel 15/1913, S. 17ff. 73 Richard Urban, 20 Jahre deutschen Schrifttums 1888–1908, Leipzig 1908, bes. S. 276–280. 74 Albert Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte, Leipzig 1912, bes. S. 557–567. Soergel gibt auch die Karrikatur StGs und erwähnt in der Bildunterschrift Möbius’ Steckbriefe, ohne sie allerdings weiter zu kommentieren. 75 Vgl. etwa Kurt Breysig, Der Lyriker unserer Tage, in: Die Zukunft v. 20.1.1900, S. 156–169, der die BfdK nur noch als Publikationsforum StGs erwähnt. Eine literaturgeschichtliche Kontextualisierung der Blätter-Gruppe mit knappen Einzelwürdigungen findet sich bei Moeller van den Bruck, Stilismus, S. 27–71. 76 Karl Heinemann, Die deutsche Dichtung. Grundriß der deutschen Literaturgeschichte, Leipzig 1910, S. 277f. 77 So etwa in der Würdigung StGs und der Blätter-Gruppe unter dem Aspekt der Antike-Rezeption in: Otto Immisch, Das Erbe der Alten. Sein Wert und seine Wirkung in der Gegenwart, Vortrag gehalten in der Versammlung der Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Berlin und der Provinz Brandenburg am 2. Dezember 1910, Berlin 1911, bes. S. 17ff.; Kurt Walter Goldschmidt, Erlebte Dichtung (Zur Kritik der Moderne II), Leipzig 1912, bes. S. 55ff.; Adolf Bartels, Geschichte der deutschen Literatur, 7. u. 8. Aufl., Hamburg u. a. 1919, S. 572ff. 78 BfdK 4/1897, 1/2, S. 4.

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

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StGs selbst gewählte Rolle als ästhetischer Erzieher, maß ihn am griechischen Vorbild und reihte den Blätter-Kreis in die Tradition der Platonischen Akademie ein.79 Der Maximin-Kult, der selbst von einigen Kreismitgliedern als Zumutung empfunden worden war, fand in der Literaturkritik der Blätter-Gruppe kaum Beachtung, wurde aber in seiner poetologischen Bedeutung für StGs dichterische Entwicklung untersucht.80 Den 1895 von Panizza geäußerten Vorwurf der Homosexualität wiederholten 1905 der Theaterkritiker Alfred Kerr in seiner süffisanten Besprechung Stefan Georges Vettern81 und 1930 Franz Blei in seinen Lebenserinnerungen, die auch eine Periodisierung der BfdK enthalten: Wie sehr George ,von dieser Zeit‘ war, das wurde ja etwa von der vierten Folge seiner Blätter ab deutlicher, als sich die ersten Weggenossen wie Hofmannsthal von ihm trennten und an deren Stelle die imitierenden Schüler, Epheben, schwärmenden Privatdozenten traten. Was Georges schönste Gedichte ausdrückten, verhaltene Trauer, stille Heiterkeit, Entsagen, das trat von da ab immer mehr zurück zugunsten einer von jenem Kreise errichteten Bühne, inmitten derer Kulissen mit seltsamstem Requisit ein Theater aufgeführt wurde, das von sich behauptete, es sei das aus dem Erscheinen Georges abgeleitete und von ihm augurierte Weltbild. […] Deutlich war nur, dass immer, wenn von Päderastie hätte gesprochen werden sollen, Abrakadabra gesagt wurde.82

Nach dem Erscheinen der letzten Blätter-Folge 1919 wiederholten sich damit die Kritikpunkte zur Epigonalität des Kreises als George-Schule und zum Verhältnis StGs zur Dichtungstradition, die ihn entweder als Neoromantiker83 oder als neuen Klassiker84 erscheinen lassen. Unter den Selbstdarstellungen ragt die auch in der Blätter79 Vgl. etwa Heinrich Spiero, Das poetische Berlin, München 1912, bes. S. 145ff., der die BlätterGruppe zwar als elitäre Opposition zum Naturalismus lobte, deren Programm einer ästhetischen Erziehung im griechischen Geist aber als gescheitert ansah. Positivere Würdigungen StGs als Erzieher finden sich bei Oskar Walzel, Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod, 2. Aufl., Berlin 1920, S. 143, 203, 208, 248, 286ff.; ders. (Hrsg.), Handbuch, sowie im Sinne der platonischen Tradition bei von der Leyen, Deutsche Dichtung, S. 207; Philipp Witkop, Deutsche Dichtung der Gegenwart, Leipzig 1924, S. 194–208; Schneider, Der expressive Mensch, S. 125 und die Würdigung zu StGs 60. Geburtstag von Walter Benjamin, Martin Buber u. a., Stefan Georges Stellung im deutschen Geistesleben, in: Die Literarische Welt 4/1928, 28 (Juli), S. 3ff. 80 Vgl. Herman Drahn, Das Werk Stefan Georges. Seine Religiosität und sein Ethos, Leipzig 1925, bes. S. 41ff.; Hans Dietrich Hellbach, Die Freundesliebe in der deutschen Literatur, Leipzig 1931, bes. S. 149ff., der Maximin als konstantes Motiv in StGs Werk untersucht und das Motiv der Knabenliebe in den Werken StGs und Thomas Manns vergleicht; Theophil Spoerri, Die Götter des Abendlandes. Eine Auseinandersetzung mit dem Heidentum in der Kultur unserer Zeit, 4. Aufl., Berlin 1932, bes. S. 47ff. 81 In: Der Tag v. 25.10.1905, zit. nach Karlauf 2007, S. 366 bzw. S. 706 unter Verweis auf Jens Rieckmann, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer ,Episode‘ aus der Jahrhundertwende, Tübingen, Basel 1997, S. 132. 82 Franz Blei, Erzählung eines Lebens, Leipzig 1930, S. 258f. 83 So urteilten etwa Robert Arnold, Das moderne Drama, Straßburg 1908, bes. S. 285f., der die Mitarbeiter der BfdK als „Esoteriker der neuromantischen Dichtung“ bezeichnet; Alfred Kleinberg, Die deutsche Dichtung in ihren sozialen, zeit- und geistesgeschichtlichen Bedingungen. Eine Skizze, Berlin 1927, bes. S. 398ff.; Schneider, Der expressive Mensch, S. 15f.; Wolfgang Stammler, Deutsche Literatur vom Naturalismus bis zur Gegenwart, Breslau 1927, bes. S. 81ff.; Werner Mahrholz, Deutsche Literatur der Gegenwart. Probleme, Ergebnisse, Gestalten, durchges. u. erw. v. Max Wieser, Berlin 1930, bes. S. 121ff.; F. von der Leyen, Deutsche Dichtung, S. 198ff., differenziert, StG habe die deutsche Romantik über den französischen Symbolismus rezipiert. 84 In diesem Sinn beurteilen StG Manfred Schneider, Einführung in die neueste deutsche Dichtung, Stuttgart 1921, bes. S. 77ff. und Walzel (Hrsg.), Handbuch, S. 221ff.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Gruppe selbst umstrittene, durch Nationalisierung und Sakralisierung gekennzeichnete ,Blättergeschichte‘ von Friedrich Wolters (1930) hervor. Wolters instrumentalisierte in seiner von StG autorisierten Kampfschrift auch die negative Kritik, um das Unverständnis der breiten Masse für die heilsgeschichtliche Dimension der Gestalt StGs zu demonstrieren. Literatur K; Karlauf 2007; Kolk 1998. Fechner, Jörg-Ulrich (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“. Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der ,Blätter für die Kunst‘ 1890–1898, Heidelberg 1998. Koopmann, Helmut, Deutsche Literaturtheorie zwischen 1880 und 1920. Eine Einführung, Darmstadt 1997, bes. S. 32–43. Leyen, Friedrich von der, Deutsche Dichtung in neuer Zeit, Jena 1922. Martus, Steffen, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007, bes. S. 514–708. Moeller van den Bruck, Arthur, Stilismus, Berlin, Leipzig 1901 (Die moderne Literatur in Gruppen- und Einzeldarstellungen Bd. 9). Schneider, Ferdinand Josef, Der expressive Mensch und die deutsche Lyrik der Gegenwart. Geist und Form moderner Dichtung, Stuttgart 1927. Walzel, Oskar (Hrsg.), Handbuch der Literaturwissenschaft, Wildpark-Potsdam 1930. Wuthenow, Ralph-Rainer (Hrsg.), Stefan George in seiner Zeit. Dokumente zur Wirkungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1980. Franziska Merklin

5.2.

Deutschsprachige George-Kritik 1898–1945

5.2.1. Die Rezeption vom Erscheinen der öffentlichen Ausgaben bis zum Siebenten Ring (1899–1907) Die bisweilen aufgestellte Behauptung, dass sich trotz der frühen wissenschaftlichen Rezeption StGs das Argumentationsniveau der Kritik nach 1899 kaum verändert habe, trifft nicht zu.1 Zwar reagiert die orthodoxe Germanistik in ihren zur Jahrhundertwende erscheinenden Literaturgeschichten durchaus mit verständnislosem Spott auf die Arbeiten der BfdK,2 doch an anderen Schauplätzen entzündet sich bereits ein engagiert geführtes Streitgespräch über die Qualitäten StGs als Dichter ebenso wie als gesellschaftlich-kultureller Wegweiser. Während die konservativen Gegner häufig zu Sammelbesprechungen des Kreises zurückkehren, wird StG von seinen Förderern mittlerweile als in künstlerischer Hinsicht völlig eigenständige Person behandelt. Ei1 So aber Kolk 1998, S. 132; Karlauf 2007, S. 234. 2 Es ist beinahe überflüssig zu erwähnen, dass bei fast allen George-Gegnern noch immer die eigentümliche Orthographie einen der Hauptangriffspunkte bildet.

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

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nigkeit über StG besteht freilich, auch nachdem die Gedichte frei erhältlich geworden sind, keineswegs. Das Spektrum der Meinungen reicht von spöttischer Verunglimpfung bis hin zu fast religiöser Verehrung. 5.2.1.1. Gegenwind aus dem rechtskonservativen Lager Auf den heftigsten Widerspruch stoßen StG und sein Kreis in der konservativen oder deutsch-nationalen Literaturgeschichtsschreibung. Eduard Engels vielfach aufgelegte Geschichte der deutschen Literatur erkennt in StGs Dichtung nur „feierliche[n] Unsinn in wohlgefügten Versen; in einer Sprache, die sich quält“. Auf französische Vorbilder des „Versbauer[s]“ verweisend, tröstet sich der Historiker mit dem Umstand, dass „dergleichen nicht deutschem Boden erwuchs.“3 Allein StGs Beherrschung der Form habe manche Schwärmer zu der irrigen Meinung verleitet, „dieses Dichtungskaisers ,neue Kleider‘“ zu erblicken, der doch in Wahrheit nur „in Unterhosen“ dastehe. Das Parallelwerk Adolf Bartels’, eines späteren Hauptvertreters antisemitischer NS-Germanistik, rechnet dem Symbolismus immerhin ein Verdienst um die formalsprachliche Erneuerung deutscher Lyrik an, wenngleich StGs Dichtung – die „ausgesprochenste l’art pour l’art-Poesie, die jemals in Deutschland hervorgetreten ist“ – nichts als „Artisten-Kunst“ und kindische „Selbstberauschung“4 darstelle. Schroff werden die George-Anhänger beurteilt – lediglich mit künstlich heraufgelobten Talenten habe man es zu tun; ein Urteil, das sich mit Willy Pastors Einschätzung deckt: Es sei Zeit, der zudringlich gewordenen „kleine[n] Gemeinde Stefan Georges […] ein wenig Bescheidenheit beizubringen.“5 Mit dem Schlagwort ,Artisten-Lyrik‘ wertet auch die Schmähschrift des Sprachkritikers Fritz Mauthner das Werk StGs ab. Dessen aristokratische Manier, ein breites Publikum zu meiden, sei gerade nicht als Ausweis von Exzellenz, sondern als Mangel an künstlerischer Kraft zu verstehen. Der Begriff ,l’art pour l’art‘ sei barer Unsinn, wahre Dichter hätten seit jeher auf das ganze ,Volk‘ zu wirken vermocht, überhaupt sei der Versuch, eine unter fremden (nämlich französischen) Bedingungen entstandene Poetik auf die deutsche Sprache und Dichtung zu übertragen, ebenso unnötig wie misslungen: „Wonach die besten Franzosen sich sehnen, das besitzen wir in den Versen Goethes, Heines, Lenaus, um nur drei Namen zu nennen.“6 Die Unverständlich-

3 Eduard Engel, Geschichte der Deutschen Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart. Bd. 2: Von Goethe bis in die Gegenwart, 2. Aufl., Leipzig, Wien 1907 [zuerst 1906], S. 1054. Die folgenden Zitate S. 1055. 4 Adolf Bartels, Geschichte der Deutschen Litteratur. Zweiter Band, Leipzig 1902, S. 688. 5 Willy Pastor, Bung-Bung (Stefan George), in: Ders., Studienköpfe. Zwanzig essayistische Porträts, Berlin, Leipzig 1902, S. 186–192, hier: 192. Eine ähnliche Sammelinvektive wie die Studienköpfe Pastors stellen die unter dem Pseudonym Martin Möbius von Otto Julius Bierbaum verfassten Steckbriefe. Erlassen hinter dreißig literarischen Übelthätern gemeingefährlicher Natur (Berlin, Leipzig 1900) dar. Weitaus drastischer als in seiner Studie Vom modern Lyrischen bekundet Bierbaum hier seine Opposition zu StG, den er als den „Grotesktänzer der zeitgenössischen Lyrik“ tituliert (S. 56). 6 Fritz Mauthner, Die Allerjüngsten und ihre Artistenlyrik, in: Das litterarische Echo 1/1899, 8, Sp. 493–496 u. 1/1899, 9, Sp. 560–561, hier: 496.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

keit sei die Folge einer falschen Kunstauffassung der Dichter (in dem Fall StGs), keinesfalls der Rohheit des Publikums anzulasten. Aber auch von Mauthners Seite schlägt StG keine vollkommene Ablehnung entgegen. Offenbar ist es nicht mehr – wie etwa noch wenige Jahre zuvor – möglich, das Talent StGs wegzureden. Die „ernstliche Anerkennung“ für das „Streben nach Beherrschung der Form“ versagt Mauthner StG nur aufgrund des belanglosen Inhalts der Gedichte, die „auf silberner Schale ungenießbare Früchte“7 trügen. So sei StG nicht der von manchen ausgerufene „Messias“, aber doch immerhin ein „wirklicher“ Dichter.8 Adalbert von Hanstein, Dichter und Privatdozent in Hannover, wird von der Lyrik der BfdK, „dieser ewigen pflaumenweichen Stimmungsträumerei“, in seinem „männliche[n] Bedürfnis […] zu wissen: was [man] liest und wovon die Rede ist“, bitter enttäuscht.9 Wie Mauthner führt auch Hanstein die Granden der Vergangenheit an, um den Rückschritt der „Allerneuesten“ gegenüber der Kunst eines Goethe, Jean Paul und Novalis, auf die sich die Blätter-Gruppe berufen hatte, zu illustrieren. Den gängigen Vorwurf, StG sei ein „bloßer Formalist, ein bloßer Wortkünstler“ würzt Hanstein mit einer Spitze gegen den Kollegen Meyer, der gerade über die „inhaltslosen Stimmungen“ in Entzückung geraten sei. Besonders die künstlerische Einseitigkeit des Formpurismus, die weder durch Gehalt (Goethe) oder „sprühenden Geist“ (Jean Paul) kompensiert werde noch in einer „tiefen und ehrlichen Religiosität ihren Wurzelboden“ (wie bei Novalis) finde, erweise die Beschränktheit StGs. Hanstein hält Hofmannsthal für weit höher begabt als StG und beobachtet bereits dessen schrittweise Ablösung vom Kreis. Eine der übelsten Invektiven aus dem Geist des Chauvinismus stammt von Arthur Moeller van den Bruck, einem der Hauptvertreter der Konservativen Revolution nach dem Ersten Weltkrieg, der StGs Dichtung ihre „undeutsche Herkunft“10 vorwirft, die verhindere, dass aus ihrem Autor jemals „ein nationaler Heros“ werden könne. Deutsche Dichtung, die sich aus romanischen Quellen speise, habe notwendigerweise keine „Rassewerte“, die allein eine „Breitenwirkung“ aufs Volk erzwingen könne.11 Moeller van den Brucks Studie wird bisweilen als Beleg nationaler, antimodernistischer George-Ablehnung um 1900 zitiert,12 jedoch ohne zu erwähnen, dass große Teile der Darstellung durchaus die Qualitäten StGs hervorheben. Trotz der nationalen Vorbehalte, die Moeller van den Bruck hegt, gilt ihm StG als reinster Vertreter des Ästhetizismus bzw. „Stilismus“, der durchaus „grosse Kunst“13 sein könne. StG sei in der Wiedererweckung alter Formen „Meister wie keiner heute“, er vereinige „wie keiner Fülle, Glanz und Strenge der Ueberlieferung mit einem durchdringenden und umwälzenden Gehalt, der erst mit des Dichters seelischer Geburt in die Welt gekommen und so veranlasst, dass seine Form wieder ganz neu ist.“14 Mit einem Seitenblick 7 Ebd., Sp. 563. 8 Ebd., Sp. 564, 494. 9 Adalbert von Hanstein, Das jüngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Litteraturgeschichte, Leipzig 1901, S. 353. Dort auch das folgende Zitat. 10 Moeller-Bruck, Stilismus, S. 65. 11 Ebd. 12 Siehe Karlauf 2007, S. 285. 13 Moeller-Bruck, Stilismus, S. 41. 14 Ebd., S. 45f.

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auf den neu erschienenen Teppich des Lebens gelingt Moeller van den Bruck zudem als einem der Ersten die sensible Beobachtung, dass sich wohl schon bald bei StG eine „ethische Kehrseite“ und „ein christliches Moment“ zeigen werde, das bereits im bisherigen Werk angelegt sei. Bereits im „Dekorativen“ (d. i. im Ästhetischen) liege ja bereits das Wissen um die „Niedrigkeit des Menschlichen“, von dem aus es „zum Erlösungswillen“ nur ein kleiner Schritt sei.15 5.2.1.2. Vergängliche Schönheit und historisches Verdienst: Vermittelnde Positionen Neben der Reihe von Kritikern, die StGs ,Formalismus‘ vornehmlich als eine irrelevante Entgleisung in undeutsche Gefilde bewerten, erscheint eine Gruppe von Rezensenten, die, von nationalen Scheuklappen befreit, den nun vorliegenden Gedichtsammlungen einen gewissen Eigenwert nicht absprechen, ihnen aber dennoch eher reserviert, zumindest aber, was die Zukunftsfähigkeit des lyrischen Konzepts angeht, skeptisch gegenüberstehen. In diesem Sinne zählt Karl von Levetzow StG zu den „culturdarstellenden“ Künstlern, die im Gegensatz zu den „Culturbildenden“ nicht „Geburtshelfer der Jahrhundertzeugungen“, sondern „Zusammenfassungmenschen“ sind. Während jene in Levetzows Systematik als „Bildner und Baumeister von Gesetzen und Systemen“ Anteil an gesellschaftlich-kulturellen Veränderungen haben und den Weg in die Zukunft weisen, nehmen letztere die Kultur der sich dem Ende neigenden Epoche in sich auf und verleihen dieser „ein höheres ideelleres Leben […] in der Gestalt von Kunstwerken“. In diametralem Gegensatz zu jenen Stimmen, die in StG bald einen neuen ,Menschheits-Führer‘ sehen wollen, behauptet Levetzow – durchaus ohne Vorwurf –, dass von StG „keine Erlösungen, […] keine neuen Werte“ ausgingen.16 Er sei ein Dichter für Stunden der Kontemplation, in denen man dankbar für solche Poesie sein müsse. Auch Künstler wie StG seien „zu b e g r e i f e n – und vielleicht zu l i e b e n .“ Erich Felder bemüht sich um eine Würdigung jenseits von kritikloser Anbetung und ebenso ungerechter Generalverdammung. Es überrascht kaum, dass Felder StGs größten Vorzug in der beispiellosen Sprachbeherrschung sieht. StGs Bedeutung zeige sich ferner darin, dass sich an ihm geradezu exemplarisch ablesen lasse, „was die Lyrik seit den Classikern an Farbenreichthum gewonnen, was sie an Einheitlichkeit der Form verloren hat.“17 Auch Felder begreift StGs Lyrik vornehmlich als ein zeittypisches Phänomen, als Ausdruck generationsspezifischen Seelenlebens, das sich höchst kunstvoll auszudrücken verstehe.18 Was StGs Entwicklung zum großen Dichter verhindere, sei die „Armuth eines abgeschiedenen Lebens […], dem es an Anregungen 15 Ebd., S. 72f. 16 Alle Zitate: Karl von Levetzow, Stefan George, in: Wiener Rundschau 3/1899, S. 97–100, hier: 98. Das folgende Zitat ebd., S. 100. 17 Erich Felder, Stefan George, in: Die Gegenwart 33/1904, 52, S. 406f., hier: 407. 18 „Wenn wir einmal durch sichtende Wahl wieder zur classischen Einfachheit gelangt sein werden, dann wird sich klar erweisen, wie unsere Zeit der überempfänglichen Nerven ihr vollgerüttelt Maß an Lust und Leid zur feinfühligen Nuancierung der geheimsten Empfindungen künstlerisch zu verwerthen wußte, und in diesem Sinne wird die Nachwelt Stefan George an erster Stelle nennen müssen“ (ebd.).

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von Außen gebricht. StGs Bilder fesseln weniger durch die Bedeutung des dargestellten Gegenstandes als durch die impressionistische Art, in der sie gemalt sind.“ Die von seiner Anhängerschar geförderte Lebensferne habe gedankliche Unklarheit zur Folge. „Aus der Natur, aus dem Leben“ müsse StG „geistige Nahrung“ saugen, dann erst könne er „einer der ganz Großen werden.“19 Noch pessimistischer schätzt Kurt Walter Goldschmidt das Entwicklungspotenzial StGs ein: Dessen „Reife und Geschlossenheit“ sei bereits so ausgeprägt, dass sie „keine reichen Perspektiven nach vorwärts und rückwärts eröffnet.“20 Hinter StGs neuen Übersetzungen vermutet der Rezensent bereits ein „Nachlassen der eigenen Schöpferkraft, eine leise Resignation im Wirkungswillen.“21 Die größte „Zukunftswirkung“ sei von dem Einfluss zu erwarten, den der Dichter auf eine „einigermaßen energische[] und ästhetisch geschulte[] Intelligenz“22 haben werde. Allerdings macht Goldschmidt für diesen negativen Befund gerade nicht StGs selbst gewählte Isolation verantwortlich – der kompromisslose Verzicht auf Öffentlichkeit sei im Gegenteil die „imposanteste Seite seines Wesens“.23 Vielmehr ist StGs Lyrik in seinen Augen gefährdet, Opfer ihrer hochartifiziellen „Stoffbewältigung“ zu werden, die zugleich Stärke und Mangel sei. So gesehen nimmt Goldschmidt Simmels Definition des spezifisch Künstlerischen auf, ohne wie dieser im Hinblick auf eine lyrische Wirkungsästhetik konsequent darauf zu verzichten, StGs Sublimation des Emotionalen wertfrei zu beurteilen: [Bei] George aber ist erstens der äußere Stoff verschwindend gering und ist zweitens der seelische Stoff ganz in Form gelöst, ins Stilistische hinaufgehoben, in künstlerische Raffinements verdunstet und destilliert. Dies ästhetische über sich selbst und den Dingen Stehen ist wahrhaft einzig in seiner Art, und George ist vielleicht in dieser Hinsicht der stärkste Künstler der neueren Dichtung. Tatsächlich sind hier die äußersten Grenzen der Stoffbewältigung erreicht, ja fast schon überschritten – denn auch das differenzierteste Ich droht sich ins Substanzlose zu verflüchtigen, wenn es sich von den nährenden Wurzeln des Erlebnisses löst; und dichterische Werte beruhen doch gerade auf dem durch die vollendetste Form hindurchund hinüberwirkenden Gefühlspathos einer unmittelbar ergreifenden seelischen Gewalt.24

Und so bleibe es bei „Künstler-Problemen“, auch wo StG vom „Ewig-Menschlichen“25 spricht. Ein historisches Verdienst um den Wert deutscher Kunst und Sprache erkennt Goldschmidt StG jedoch trotzdem zu. Samuel Lublinski möchte hingegen in dem Fehlen einer „metaphysische[n] Quelle“ den Grund dafür sehen, dass in StGs Lyrik nur „Allerpersönlichstes“, nicht aber „ein gewaltiges letztes Lebensgesetz“ durchscheine.26 Wenn auch StGs „Priesterernst“ des Öfteren „würdige Seelenworte“27 entsprängen, die allemal der „sogenannten Heimatsdichtung“ aus der „Leibgarde […] des Herrn Bartels“ vorzuziehen seien, so leide 19 Ebd., S. 406. 20 Kurt Walter Goldschmidt, Stefan George, in: Das literarische Echo 8/1906, S. 1493–1500, hier: 1499. 21 Ebd., S. 1495. 22 Ebd., S. 1494. 23 Ebd., S. 1495. 24 Ebd., S. 1496f. 25 Ebd., S. 1498. 26 Samuel Lublinski, Wiener Romantik, in: Das litterarische Echo 2/1899, Sp. 222–227, hier: 223. 27 Ebd., Sp. 224.

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diese „Luxuskunst“28 dennoch an einer „Überspannung des Formalen“, die das „lebendige Leben seiner Gefühle und Worte“29 töte. StG bleibe der Sprachkünstler, dessen „Reim- und Rhythmenkunst […] schwerlich noch überboten werden“ könne, die aber ebenso sehr ihrer Zeit verhaftet sei. So habe StG „kurze Zeit eine Stellung behaupten [können], die dem tatsächlichen Umfang seiner dichterischen Begabung schwerlich entsprach.“30 5.2.1.3. Wissenschaftliche vs. ,kosmologische‘ Perspektiven der George-Förderer Das Gros der Kritiker, die uneingeschränkt hinter StG stehen, bilden auch nach 1899 zunächst noch Berliner Geisteswissenschaftler. Dessoir, Simmel und Meyer erneuern in weiteren Schriften ihre Haltung zu StG,31 hinzu treten der Historiker Kurt Breysig, der den Dichter ebenfalls im Hause Lepsius kennengelernt hatte, sowie Rudolf Steiner, dem, zu dieser Zeit Herausgeber des Berliner Magazins für Litteratur, StGs Gedichte gleichfalls nicht verborgen geblieben waren.32 Schließlich veröffentlichen zwei junge, kunstbeflissene Juristen, Hermann Kantorowicz und der Borchardt-Freund Heinrich Goesch, unter dem Pseudonym Kuno Zwymann eine Monographie über Das Georgesche Gedicht, welche sich zum Ziel setzte, die Schönheit dieser Verse streng wissenschaftlich zu beweisen33 – ein Unterfangen, das verständlicherweise rasch den Spott des George-Kreises auf sich zog.34 Charakteristisch für die kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit StGs Lyrik bleibt das Problem des Verhältnisses von Form und Gehalt, an dem sich die Kritik abarbeitet. Rudolf Steiner spannt in seiner Studie zur Lyrik der Gegenwart den Bogen zu Schillers Ästhetik und behauptet, StGs künstlerisches Ideal stehe im Einklang mit Schillers „Kultus der Form“.35 Steiners Notiz beweist, wie weit sich die von Simmel initiierte kunstphilosophische Betrachtungsweise von der frühen Kreis-Poetologie entfernt und verselbstständigt hat. Immerhin galt den BfdK Schiller als Vertreter einer 28 Ders., Die Bilanz der Moderne, 2. Aufl., Berlin 1904, S. 342. 29 Ebd., S. 345. 30 Ebd., S. 346. 31 Dessoir in seinem Buch Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Stuttgart 1906, bes. S. 69ff., Meyer in seiner bei Bondi erschienenen Literaturgeschichte Die deutsche Litteratur des 19. Jahrhunderts, Berlin 1900, S. 923–927. Zu Simmel siehe unten. 32 Ein persönlicher Kontakt zwischen StG und Steiner ist nicht bezeugt. 33 „Unser Ziel ist, jeden, der überhaupt ein Kunstwerk als Kunstwerk geniessen kann, dazu zu nötigen, das Georgesche Gedicht als grosses Kunstwerk zu geniessen.“ Kuno Zwymann [d. i. Hermann Kantorowicz und Heinrich Goesch], Das Georgesche Gedicht, Berlin 1902, S. 39. 34 Als der von den Mystifikationen des George-Kreises enervierte Hofmannsthal das staubtrockene „Zwymann“-Buch im Vergleich mit Klages’ Monographie als „anständiger und nützlicher“ bezeichnet (an StG v. 27.8.1902, in: G/H, S. 170), erhält er eine barsche Antwort des Dichters (September 1902, in: G/H, S. 171). Bereits vor Erscheinen des Buches hatte Gundolf Wolfskehl eindringlich vor einer Kontaktaufnahme mit Goesch gewarnt, der sich „in einer frechen und lügnerischen Weise über die Blätterdinge auszusprechen beliebt“ habe (Brief v. 29.10.1901, in: W/G I, S. 136). Was Gundolf nicht wusste: Goesch war mit dem konzilianten Wolfskehl schon „seit Jahren bekannt“ und befreundet (siehe Wolfskehls Antwort an Gundolf v. 31.10.1901, in: W/G I, S. 137). 35 Rudolf Steiner, Lyrik der Gegenwart. Ein Überblick, in: Die Gegenwart 15/1899, S. 377–385 (teilweise wieder in: Wuthenow [Hrsg.], George in seiner Zeit, S. 55f., hier: 55).

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deutschen ,Gedankenkunst‘, die wieder überwunden werden sollte. Steiner selbst behauptet, dass nur das ,Schöne‘ Platz in StGs Kunst fände, demgegenüber die klassischen Inhalte – ,das Ewige, die Urkräfte des Daseins‘ – ihren Eigenwert einbüßten, und versieht damit StG trotz aller wissenschaftlichen Distanz mit dem Etikett des ,Ästheten‘, vor dem andere fortschrittliche Kritiker StG schon zu bewahren versucht hatten. Kurt Breysig billigt beispielsweise in seiner allgemeinen Einteilung der Lyrik in ,Formkunst‘ und ,Stoffkunst‘ Ersterer eine ganz selbstverständliche Scheu vor „große[n] und allgemeine[n] Stoffe[n]“36 zu und erklärt den „Kampf zwischen Stoff- und Formenkunst“37 für den künstlerischen Fortschritt für geradezu notwendig. Dabei erzeuge StGs Lyrik den Inhalt in der Phantasie des Lesers, anstatt den Stoff einfach ,darzustellen‘. Trotz ihrer starken Stilisierungen seien StGs Gedichte daher durchaus im Stande, „Bilder des Seins“ zu präsentieren oder „viel Schmerz und wehes Leid“38 der Liebe auszuströmen. Allerdings bemerkt Breysig, wie im Teppich des Lebens eine stärkere „Freude am Wirklichen“, einschließlich am Nationalen, zutage tritt: „Von den großen Inhalten des Lebens, von Kultur des Geistes und vom Vaterland ist öfter, inniger die Rede.“39 Für Georg Simmel hingegen stellt der Teppich des Lebens weniger eine Veränderung als vielmehr ein neues Stadium der Entwicklung hin zur „Alleinherrschaft“40 des objektiven Kunstgefühls dar, von der schon Simmels erster Aufsatz gesprochen hatte. Nach Wolters’ Darstellung hatte StG im Gespräch mit Simmel dessen Thesen widersprochen, wonach der unmittelbare Gefühlsausdruck in seinen Kunstwerken überwunden sei; es gebe im Gegenteil „keine Zeile seiner Gedichte, die nicht ganz erlebt sei“ (FW, 160).41 In seinem zweiten Aufsatz reagiert Simmel offenbar auf StGs Kritik und erweitert seine Theorie um eine genauere begriffliche Differenzierung des Phänomens der dichterischen Persönlichkeit, die Margarete Susmans Definition des ,lyrischen Ich‘ bereits vorwegnimmt, und mit welcher es ihm gelingt, die emotionale Wirkung der Gedichte genauer zu erklären.42 Das Paradoxon, dass in StGs Lyrik der „Wille zum objektiven Kunstwerk“, der „keinem bloß persönlichen Tone Raum gibt“, dennoch mit der „Tiefe ganz persönlicher Intimität“43 verschmelzen kann, löst Simmel auf, indem er zwischen der realen 36 Kurt Breysig, Der Lyriker unserer Tage, in: Die Zukunft 8/1900, S. 110–123, 156–169, hier: 110. 37 Ebd., S. 111. 38 Ebd., S. 159, 161. 39 Ebd., S. 167. 40 Georg Simmel, Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie, in: Neue Deutsche Rundschau 12/1901, S. 377–385 (teilweise wieder in: Wuthenow [Hrsg.], George in seiner Zeit, S. 75–87, hier: 81). 41 Möglicherweise müssen in diesem Sinne auch die Verse 15f. des ersten „Zeitgedichts“ des Siebenten Rings interpretiert werden: „Ihr kundige las’t kein schauern · las’t kein lächeln · / Wart blind für was in dünnem schleier schlief.“ (VI/VII, 6) – Wolters wirft im Rückblick den Wissenschaftlern Meyer, Dessoir, Breysig und Simmel generell vor, das Wesen von StGs Kunst mit den Mitteln der Analyse verfehlt zu haben: „Es ist uns heute kaum mehr faßlich, wie sich bei allen diesen Gelehrtennaturen das theoretische Denken irgendwie vor die Person des Dichters schob und ihnen den Blick für die lebendigen Vorgänge der künstlerischen Bewegung trübte“ (FW, 162f.). 42 Margarete Susman war Simmel-Schülerin. Auf ihre Studie Das Wesen der modernen deutschen Lyrik wird unten einzugehen sein. Vgl. dazu auch Karlauf 2007, S. 233f. 43 Georg Simmel, Eine kunstphilosophische Studie, zit. nach Wuthenow (Hrsg.), George in seiner Zeit, S. 83.

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und einer ideellen Autorperson unterscheidet. Während die Bezugnahme auf Erstere aus dem Kunstgenuss schlechterdings zu verbannen sei, so gehöre es zur „Auffassung eines Kunstwerkes und seiner Wirkung auf uns“, dass „wir es als Äußerung eines, und zwar eines bestimmt qualifizierten Geistes auffassen.“44 Simmel nennt diese Individualität die „ideelle Seele“, die sich im Gedicht offenbare und der die Möglichkeit des Erlebens persönlichster Gefühlsmomente zu verdanken sei. StGs Meisterschaft erweise sich eben darin, dass nur die „ideelle Seele“ aus den Versen spreche. Die weiterhin philologisch argumentierenden Förderer werden von einer neuen, anfangs noch überschaubaren, später, nach dem Siebenten Ring, aber vorherrschenden Gruppe von Kritikern flankiert, die in StG mehr als nur einen Dichter sehen. Während sich Simmel zum Leidwesen der Georgianer darum bemüht, die ,reale‘ Persönlichkeit StGs als Kriterium der literarischen Wertung außen vor zu lassen, beginnt zeitgleich eine „ontologische Lektüre“45 StGs, die in der Erscheinung des Dichters geschichtlich wirksame Kräfte zu erkennen vermeint. Die Rede vom Propheten StG wird nach dem Erscheinen des Teppichs des Lebens statt wie bisher im künstlerisch-allgemeinen erstmals im politisch-weltanschaulichen Sinne verwendet. Ria Claassen preist in den Socialistischen Monatsheften StG als Führer „in dieser Zeit ungeheuerster innerer Umwälzungen“,46 ohne allerdings recht begreiflich zu machen, worin StGs Beitrag zu einer Zukunftsgestaltung liegen könnte. Entscheidend ist für Claassen StGs sich nun im Teppich des Lebens am deutlichsten offenbarende „Selbstzucht“ und innere „Sicherheit“,47 die sich „mit der Stimme der Notwendigkeit“48 einer schwankenden Zeit entgegenstelle. Die erlösende Kraft, die Claassen der Kunst beimisst, scheint in einer vereinigenden und damit totalitären Wirkung begründet zu sein. Claassen interpretiert die Gestalt des Engels im Teppich als StGs Überwindung des ,individuellen‘, in sich zerrissenen Ich, welche dem Künstler die Eignung als Führer in der Gesellschaft verschaffe: Es ist „die Erlösung aus der Zweiheit, das wahre Einswerden mit sich selbst, das allein auch ein Einssein mit der Vielheit sein kann.“49 Die von den BfdK propagierte Zwecklosigkeit der Kunst ist hiermit in ihr Gegenteil verkehrt – mit der vollsten Billigung StGs übrigens, der von Claassens Aufsatz so angetan war, dass er in Kontakt mit der Autorin trat.50 Ludwig Klages, auf dessen George-Monographie51 sich Ria Claassen beruft, hatte bereits ein Jahr zuvor in der Hamburger Zeitschrift Der Lotse einen Aufsatz mit den wichtigsten Thesen seines Buchs veröffentlicht. Klages’ Schriften forcieren die neue ,ontologische‘ Lesart StGs erheblich und legen ein Zeugnis davon ab, wie sich die gewandelte Kreisstruktur auf die kreisinterne Darstellung und öffentliche Wahrnehmung des Dichters auswirkt. Scharf attackiert Klages eine ,intellektualistische‘ Kunstauffassung, wie sie Simmel et alii pflegen:

44 Ebd., S. 84. 45 Kolk 1998, S. 137. 46 Ria Claassen, Stefan George, in: Socialistische Monatshefte 6/1902, S. 9–20, hier: 10. 47 Ebd., S. 17. 48 Ebd., S. 10. 49 Ebd., S. 17. 50 Vgl. Groppe 1997, S. 143f.; K. Wolfskehl an F. Gundolf v. 12.1.1902, in: W/G I, S. 146. 51 Ludwig Klages, Stefan George, Berlin 1902.

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Blutlose Intellektuelle haben sich der sogenannten Ästhetik und einer dürren ,Psychologie‘ bemächtigt. Hinter umgehängter ,Geistigkeit‘ verbirgt sich Siechtum der Instinkte. Aus diesem Lager vernehmen wir vom zierenden Sinn der Künste, von der ,Distanz zum Leben‘ […].52

Klages erklärt die auf den Naturalismus folgende Epoche zur schwächsten, da in deren Kunst der „Bluts- und Rassenverfall“ seine tiefsten Spuren hinterlassen habe, und reißt StG somit aus der traditionellen Chronologie der Literaturgeschichtsschreibung heraus. Er postuliert eine Überwindung des „machinalen Menschentum[s]“53 und stellt StG als neoreligiös-synkretistische Dichtergestalt dar, an der „jene Mächte […], die in allem aus der Tiefe schöpfenden Wandel wirksam sind“,54 am klarsten zu erkennen seien. Die wenig später in derselben Zeitschrift erschienene Kritik des Kunsthistorikers Hermann Ubell zeugt ebenfalls von der sich verbreitenden Gewohnheit, von StGs Formenstrenge auf ein intimes Verhältnis des Dichters zu überzeitlichen Weltgesetzen zu schließen: Bei aller Poesie handelt es sich darum, die in den Dingen verborgene, stumpfen Sinnen unzugängliche Harmonie des Weltwesens für Augenblicke aufleuchten zu lassen. Reim und Rhythmus aber sind für den Dichter die wichtigsten Hilfsmittel, um über die scheinbare Unordnung des Kosmos Sieger zu werden.55

Zwar könne StG nie populär werden, so Ubell drei Jahre später in einem weiteren Aufsatz, auch distanziert sich der Kritiker von Klages’ „nebelhafte[r] Monographie“,56 doch erkennt er in StGs Gedichten nach wie vor in erster Linie den „neue[n] Mensch und seine Haltung zum Leben“, was letztlich beweist, dass auch bei gemäßigteren Intellektuellen als Klages eine gesellschaftlich-politische Perspektive auf StGs Werk schon vor dem Siebenten Ring vereinzelt salonfähig geworden ist. 5.2.1.4. Zusammenfassung Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gilt StG weithin als Meister der Form und Sprache. Allerdings schließen sich dieser Feststellung nach dem jeweiligen Geschmack des Kritikers höchst unterschiedliche Werturteile an. Ästhetisch und politisch konservativ eingestellte Philologen setzen StGs Formstrenge mit einem inhaltsleeren, gefühllosen und undeutschen Formalismus gleich, der aufgrund des volksfernen Tons zur Wirkungslosigkeit verdammt sei. Wohlwollendere Kritiker bescheinigen StG ein bleibendes Verdienst um die Modernisierung der deutschen Literatursprache und um das dichterische Selbstverständnis, sehen ihn aber in einer künstlerischen Sackgasse, die durch die einseitige Überbetonung des formalen Gehalts gegenüber der inhaltlichen Tiefe verursacht sei. StG zählt für diese Gruppe zu einer sich an rein ästhetischen Problemen abarbeitenden Zwischengeneration, die lediglich Vorreiter einer künftigen, gedanklich und emotional tieferen Kunst sei. 52 Ders., Stefan George, in: Der Lotse 2/1901, S. 336–342, hier: 337. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 336. 55 Hermann Ubell, Neues von Stefan George, in: Der Lotse 2/1901, S. 773–777. 56 Ders., Stefan George, in: Das litterarische Echo 6/1904, Sp. 1201–1204, hier: 1203.

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Während die Berliner Gruppe von StG nahestehenden Intellektuellen den gängigen Formalismus-Vorwurf mit scharfsinnigen kunstwissenschaftlichen Betrachtungen zu widerlegen versucht und den vermeintlich defizitären Inhalt von StGs Lyrik mithilfe ausgeklügelter wirkungsästhetischer Modelle auf einer Meta-Ebene wiederfindet, bahnt sich allmählich eine von Klages’ Monographie gestiftete Auslegungstradition an, welche einer drohenden begrifflichen Entzauberung des George-Mythos (der sogenannten „Versimmelung“)57 dadurch entgegentritt, dass sie den Autor des Teppichs des Lebens zum Träger eines geschichtlichen Sendungsbewusstseins oder gar zum Repräsentanten kosmischer Veränderungskräfte erklärt. Bis 1907 noch in der Minderzahl, erfährt diese vom George-Kreis ausdrücklich favorisierte Interpretation nach dem Erscheinen des Siebenten Rings einen sprunghaften Anstieg ihrer Vertreter. 5.2.2. Die Rezeption vom Siebenten Ring (1907) bis zum Ersten Weltkrieg Kein anderes Werk StGs hat eine vergleichbare Zäsur im literaturkritischen Echo zur Folge wie der 1907 erschienene Siebente Ring. Die Publikation des Zyklus änderte zwar keineswegs etwas an der nach wie vor polarisierenden Wirkung seines Autors, wohl aber an der Art der Stellungnahme, zu der das Werk seine Interpreten zwang (und bis heute zwingt). Der provozierende Inhalt der Gedichte lässt eine rein mit ästhetischen Wertmaßstäben argumentierende Kritik nicht mehr zu und fordert von den Exegeten StGs, Position zu der neuen, politischen Haltung des Dichters zu beziehen. Das Problem der ,ethischen Wende‘ beherrscht nach 1907 die Diskussion um StG. Auch die ästhetische Beurteilung des Werks findet zunehmend nur noch im Anschluss an die Diagnose der inhaltlichen Verschiebungen in StGs Gedichten statt, bis sie nach dem Ersten Weltkrieg fast gänzlich an den Rand gedrängt wird.58 5.2.2.1. Bewertung des ethischen Gehalts des Siebenten Rings Die sich im Teppich des Lebens anbahnenden, für die Zeitgenossen wohl aber erst im Siebenten Ring offensichtlichen zeitkritischen Tendenzen stellen StGs Kritiker vor die Aufgabe, den überraschenden Wandel des Dichters erklärlich zu machen. Dabei wird von den beiden möglichen Deutungsmustern, die von einer entweder organischen, d. h. im Frühwerk bereits angelegten, Entwicklung oder aber einer revolutionären Überwindung des Ästhetizismus ausgehen, Gebrauch gemacht. Die sich daran an57 „[S]chon 1901 [ist] Georges Abstand zu Simmel gross genug gewesen […], um ihn die ,Versimmelung‘, das heißt wohl: die gescheite Auflösung alles Wesens in eine Summe von Beziehungen als Gefahr empfinden zu lassen“ (ES, 191). 58 Eine der wenigen Ausnahmen bildet Georg Luka´cs’ 1908 entstandener Aufsatz Die neue Einsamkeit und ihre Lyrik. Stefan George (zuerst in: Georg Luka´cs, Die Seele und die Formen, Berlin 1911, S. 171–194), in dem sich Luka´cs um eine soziologische Klärung des Begriffs ,l’art pour l’art‘ bemüht und den stereotypen Vorwurf der ,Kälte‘ StGs entkräftet. Da dieser Aufsatz die Hauptfragen der vorangegangenen Rezeptionsphase behandelt, den Siebenten Ring weder zitiert noch erwähnt, also vermutlich gar vor Lukacs’ Lektüre des Siebenten Rings entstanden ist, gehe ich hier nicht näher auf ihn ein.

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schließende Frage, ob StGs Zeitkritik etwa angemessen oder aber in ihrer gedanklichen Grundlage verfehlt sei, wird letztlich ebenso kontrovers beantwortet. Eine Reihe von Kritikern möchte StGs Tendenz zu weltanschaulicher Bekenntnislyrik psychologisch als Fluchtbewegung deuten. Für Willy Rath erklärt sich beispielsweise die neuerliche „Entfernung vom ,tempeltone‘“59 mit einer Ich-Schwäche des Dichters, dessen Geist vor den wirklichen Problemen kapituliere, indem er eine Scheinwelt aufbaut. Die Zeitgedichte mit ihren der Vergangenheit angehörenden Schauplätzen und Gestalten seien eben nicht der Zeit zugewandt, sondern geradezu „Dokumente der Gegenwartsflucht“.60 StG erweise sich in seiner Realitätsferne als ein Erbe der Romantik, deren metaphysisch-religiöse Grundlage er jedoch entbehre, weswegen sein rein imaginärer Gegenentwurf zur Wirklichkeit ins Schwärmerisch-Phantastische abdriften müsse. Die Opposition zur Gegenwart sei Zeugnis nicht eines „urmännliche[n]“ Empfindens,61 sondern einer verweichlichten, gleichsam pathologischen Lebensunfähigkeit: Um die Lebensschwäche zur Künstlerstärke zu machen, mußte um jede Zuflucht ein heißstrahlender Schein von Größe geschaffen werden. Die Weltflucht stellt sich als Weltverachtung vor. Der selbstverständliche Aristokratismus des Künstlers entartet zum göttisch-cäsarischen Höhenwahn, umgibt sich buchstäblich mit imaginären Tempelhallen, mit priesterhafter Weihe. Die Unfähigkeit zur naturgewollten Geschlechterliebe […] muß die reine Freundschaftsneigung […] zu gleichgeschlechtlicher Götzenanbetung verzerrend steigern.

In Albert Soergels populärer Literaturgeschichte findet sich ein ganz ähnliches Urteil. Obgleich Soergel zugibt, schon in den früheren, oftmals imperativischen Gedichten sei der „Wille zu wirken“ spürbar, so bleiben für ihn doch auch „die Zeitgedichte des ,Siebenten Ringes‘ […] nichts anderes als ein Preis rein ästhetischer Kultur, eine Flucht vor der Wirklichkeit, ein Ruhm auf alle alten symbolisch vieldeutigen Institutionen und ihre Träger.“62 Der Literaturwissenschaftler Oskar Walzel bemüht wie Willy Rath den Vergleich mit den Romantikern, die im Gegensatz zu den Zeitgenossen noch dem „Bedürfnis nach Symbolisierung des Übersinnlichen“63 nachgegangen seien. Aus der metaphysischen Vereinsamung des modernen Menschen erwachse die Forderung an den Lyriker, ein „machtvoller geistiger Bezwinger der Welt, bewußt der metaphysischen und religiösen Anliegen, die der Menschheit eigen sind“,64 zu sein. Doch überraschenderweise ist für Walzel nicht etwa StG, sondern Rilke der Dichter, „den der Augenblick benötigt“.65 Von StGs „stiller Insel“ komme nicht das „erlösende Wort […], nach dem wir uns sehnen“.66 Walzels Interpretation stützt sich auf Margarete Susmans Überlegungen, für die StGs Ethik auf der ,Selbstzucht‘ beruht, weswegen eine ,erlösende Wirkung‘ für Außenstehende freilich nicht zu erhoffen ist. Walzel geht über diesen Befund noch hinaus 59 Willy Rath, Von Stefan George, in: Der Kunstwart 21/1907/08, 2, S. 114–119, hier: 115. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 116. 62 Soergel, Dichtung und Dichter, S. 566. 63 Walzel, Leben, Erleben, S. 1432. 64 Ebd., S. 1435. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 1433f.

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und versteigt sich zu der These, dass die lange Friedenszeit den Dichtern die Vaterlandsliebe ausgetrieben habe, womit sich die übertriebene Ich-Bezogenheit ihrer Lyrik erklären lasse. Noch weitaus banaler formuliert Hans Friedrich – ebenfalls RilkeAnhänger – seine Enttäuschung über den didaktischen Gehalt von StGs neuer Sammlung: Entgegen der anders lautenden Selbsteinschätzung bleibe StG der „salbentrunkene Prinz“, der er war: Stefan Georges Gedichte des ,Siebenten Ringes‘ sind das beste Beispiel dafür, daß die schönste Form ohne blutwarmen Inhalt tot bleibt und kalt läßt. […] Vieles ist dunkel in diesen Versen, manches aber auch alles andere eher als tief. Ich werde das Gefühl nicht los, als bedürfe dieses Buch des Lechterschen Druckes und der das Lesen erschwerenden Schreibweise. So wird für die gläubigen Gemüter wenigstens einiges zugedeckt. Aber wir Jungen sind leider keine gläubigen Gemüter mehr. Wir wollen weiter mit der Kunst. Und darum verlangen wir Blut.67

Eine nüchterne Einschätzung gibt hingegen der spätere Bundespräsident Theodor Heuss in Friedrich Naumanns Wochenschrift Die Hilfe. Mit gesunder Skepsis steht Heuss der diffusen Weltanschauung des Kreises gegenüber, deren „Programm fehlt und durch innere Gesinnungs- und Artgemeinschaft ersetzt ist“.68 Wie die ästhetische Theorie der BfdK nur in der bloßen „Verneinung der Arbeit und Lehre jener anderen“69 bestehe, so kommt nach Heuss die Aussage der ganz im Gestus der „Abwehr und Resignation“ gehaltenen Zeitgedichte über einen „banalen Antidemokratismus“70 nicht hinaus. Als Denker folglich „weder stark noch anziehend“, sei StG der ihm zugewiesenen „Führerrolle“ keinesfalls gewachsen. Die Anmaßung, statt nur gegen andere Kunstauffassungen mittlerweile auch „gegen unsere Zeit schlechthin“71 ankämpfen zu wollen, stehe in einem eklatanten Missverhältnis zu jenen leeren Schlagworten von Meister- und Jüngerschaft, welche bloß eine längst überholte „geistige und soziale Gesinnung“72 verrieten. Aus dem vielstimmigen Chor der George-Kommentare dringt Heuss’ Stimme der Vernunft jedoch nur schwach hervor. Die Anzahl derer, die nicht den Zukunftsrezepten jener „Apotheken der Lebens- und Kulturreformerei“73 von vornherein misstrauen, überwiegt bei weitem die der wenigen wachen Skeptiker. Stoßen die Zeitgedichte auf Opposition, so meist doch eher aufgrund politischer Divergenzen oder enttäuschter Erwartungen, nicht aber aus einer grundsätzlich ablehnenden Haltung gegenüber einer derartigen mit ethischen und politischen Inhalten überfrachteten Gedankenlyrik heraus. Und es fehlt nicht an prominenten Fürsprechern von StGs neuem weltanschaulichen Bekenntnis. Margarete Susman, Ernst Bertram und Rudolf Borchardt deuten den Siebenten Ring auf ihre Weise und stehen für eine neue Gruppe von StG (mehr oder weniger) nahestehenden, ihn fördernden Intellektuellen, welche die poli-

67 Friedrich, Dichter der Form. 68 Heuss, Über Stefan George, S. 651. 69 Ebd., S. 632. 70 Ebd., S. 650. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 633. 73 Ebd., S. 651.

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tikferne, von einer streng philologisch-akademischen Methode geprägte Perspektive eines Simmel oder Dessoir ablösen.74 Margarete Susman erklärt das Phänomen der ethischen Strenge StGs geistesgeschichtlich. In StG sei der mit Klopstock einsetzende Prozess der „Verinnerlichung“75 des modernen, der Allgemeinheit zunehmend entfremdeten Subjekts zu seinem Höhepunkt gekommen. Im Endstadium der „romantischen Isolierung des Individuums“76 vollziehe sich die „Erlösung aus der Verworrenheit des allgemeinen millionenfädigen Lebens“77 nach dem absoluten Gesetz der ästhetischen „Selbstgestaltung“ des Lebens, die zugleich als eine „ethische Forderung“ auftritt, insofern die Selbstgestaltung sowohl das Ich der Dichtung wie das Ich des Dichters betreffe. Allein in der „Verschlingung“78 der ästhetischen und ethischen Werte sei StGs Werk zu verstehen. Die Gestaltung des Lebens nach den Gesetzen der strengsten künstlerischen Form, die „Forderung der Lebensschönheit“, deutet Susman als Ausdruck der „religiösen Sehnsucht der modernen Seele“. Die Spezifik der modernen Religion sieht sie im Anschluss an Nietzsche in der Selbstvergottung. Als Seher seiner eigenen Gottheit könne StG im Siebenten Ring auf die profane Welt der Gegenwart nurmehr durch den „Brand der Verachtung“79 blicken. Mit ihrer religiösen Deutung StGs, die zugleich eine kulturkritische ist, nimmt Susman eines der zentralen Auslegungsmuster StGs der 20er-Jahre vorweg. Zudem zeigt ihre Interpretation klar, wie bedeutungslos Hofmannsthals Diktum, von der Poesie führe kein Weg ins Leben, das auch einmal für StGs Kunst gegolten hatte, in der Diskussion um dessen Werk geworden ist. Auch Ernst Bertram sieht sich gezwungen, statt des „rein künstlerischen“ das „didaktische Element“ StGs zum „Kunstprinzip von überpersönlicher und überzeitlicher Geltung“ zu erklären.80 Ganz im Sinne des Dichters betont Bertram, es handle sich bei dem „direkt aggressiven, polemischen“ Zug der Zeitgedichte „nicht um eine Abwendung, eine Leugnung des Früheren, sondern um eine Betonung des gemeinsam Bestimmenden, der e i n e n herrschenden, gleichgebliebenen Kraft in dieser Dichtung.“81 1909 liefert Rudolf Borchardt eine große, höchst ambivalente, zwischen Spott und Verehrung schwankende Besprechung des Siebenten Rings. Dort ist zu lesen, StG sei „fast außerstande, zehn Verse hintereinander zu formen, in denen das Ohr […] des reizbaren Lesers nicht gequält oder empört würde“,82 seine Gestalt sei „historisch 74 Freilich stehen die ästhetischen Betrachtungen Susmans noch immer unter einem starken Einfluss ihres Lehrers Simmel, auch Bertram setzt sich ausführlich mit Simmel auseinander, doch treten nunmehr Themen in den Vordergrund, die von Simmels Kunstphilosophie denkbar weit entfernt sind. Dass selbst der deutschnationale Will Scheller Simmel zitiert (1912, s. u.), macht umso deutlicher, dass die neue George-Forschung nurmehr dem Buchstaben und nicht mehr dem Geiste von Simmels Ergebnissen verbunden ist. 75 Margarete Susman, Stefan George, in: Frankfurter Zeitung v. 6.9.1910. 76 Dies., Das Wesen, S. 122. 77 Ebd., S. 121. 78 Ebd., S. 123. 79 Ebd., S. 124. 80 Bertram, Über Stefan George, S. 30f. 81 Ebd., S. 47f. 82 Borchardt, Georges Siebenter Ring, S. 123. – Zu Borchardts Verhältnis zu StG vgl. Dieter Burdorf, Kopf statt Ohr. Rudolf Borchardt als Kritiker Stefan Georges, in: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 353–377.

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geworden und stehe außerhalb des Kampfes, den wir kämpfen“,83 die „Zukunft“ liege nun „in Hofmannsthal“.84 Doch zugleich heißt es, StG stehe zuweilen „mit dem Göttlichen der Zeit im Bunde“,85 die „Lieder“ seien „Prachtstücke, die […] in den unveränderlichen Vorrat unserer Sprache und unserer Kunst hinübertreten sollten“,86 „Porta Nigra“ stelle gar eines der „außerordentlichsten Wagnisse der Weltliteratur“ dar.87 In der entscheidenden Frage nach der kulturellen Bedeutung des Werks bekennt sich Borchardt eindeutig zu denjenigen, die in StGs Kunst ein Erweckungssignal sehen. Die „deutsche Jugend“ verdanke StG „eine neue Spiritualität“,88 zudem eröffneten manche der Zeitgedichte einen „Weltgeschichtsblick, der […] seinesgleichen noch nicht gehabt“89 habe. StG ist für Borchardt „nach Schiller und mit Schiller der sittlichste aller deutschen Dichter“, und manches Wort sei „mehr als eine sittliche Äußerung, nämlich eine sittliche Tat.“90 Nicht ganz ersichtlich wird aus Borchardts Worten hingegen, warum StGs geschichtlicher Auftrag dennoch an sein Ende gekommen sein soll. Die Jugend, so Borchardts Fazit, müsse dem „grandiose[n], erstarrende[n] Werk“91 die Treue halten, aber dennoch den Weg in die Zukunft gehen, den StG nicht mehr weisen könne. Nur in Andeutungen äußert sich Borchardt über das Trennende, das zwischen StG und der neuen, von dessen Werk gleichwohl zehrenden Generation liege: Wir sind durch diesen zertrümmernden Sturm, der unsere Erde sauber gefegt hat, von Mauern und Schranken befreit worden, aber nur unser Nachrechnen weiß mehr von dieser Vorvergangenheit; unsere Aufgaben sind so anders und neu, unsere Fehlermöglichkeiten so frisch aufgetaucht, die Phase des Überganges, die wir darstellen, so abgetrennt von der gestrigen, daß wir uns oft dies Buch [den Siebenten Ring] in unsere neue Sprache übersetzen müssen, um seiner Großartigkeit nicht unrecht zu tun.92

Ohne den Wunsch nach einem Nachfolger StGs zu äußern, behauptet ein anderer Verfechter menschheitsverbessernder Literatur, Julius Bab, seit StG und Dehmel habe kein Lyriker die lyrische Bühne betreten, der diesen „Herren des Lebens“93 das Wasser reichen könne. „Von seinem Blut aus“94 müsse man Parteigänger eines der beiden sein, weil nur sie „die Welt nicht nur spiegeln, sondern gestalten, umschaffen“ wollten.95 Da Bab in StG einen bestimmten Typus „menschlichen Seins“96 erkennen zu können meint, muss er folgerichtig die Kontinuität von Person und Werk behaupten. StGs angeborener Aristokratismus, aus dem ganz natürlich ein „gebietender, fast ein erzieherischer Wille“97 entströme, erscheint als Klammer von Früh- und Spätwerk: 83 Ebd., S. 160. 84 Ebd., S. 153. 85 Ebd., S. 123. 86 Ebd., S. 151. 87 Ebd., S. 133. 88 Ebd., S. 121. 89 Ebd., S. 157. 90 Ebd., S. 158. 91 Ebd., S. 161. 92 Ebd. 93 Bab, Von den Meistern, S. 1062. 94 Ebd., S. 1063. 95 Ebd., S. 1062. 96 Ebd., S. 1063. 97 Ebd., S. 1064.

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Der Wunsch, ein Beispiel, ein Kulturvorbild aufzurichten, ist nicht erst in den neuen ,Zeitgedichten‘ plötzlich sichtbar geworden – irgendwie war die ganze Haltung des Mannes davon bestimmt, ein ethisches Pathos tönte auch aus seinen sensualistisch vollkommensten Klanggebilden.98

5.2.2.2. Wie ,deutsch‘ ist George? An die Diskussion um den politischen Gehalt des Siebenten Rings schließt sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend die Frage nach der nationalen Eigenart StGs an. Zwar wurde seit den ersten Besprechungen der Einfluss französischer Symbolisten, gelegentlich auch die rheinhessische Herkunft des Dichters erwähnt und kommentiert. Von dem Vorwurf der ,undeutschen‘ Provenienz des Ästhetizismus in biederen Literaturgeschichten der Jahrhundertwende war bereits die Rede.99 Neu ist aber nun, dass sich Bemerkungen zu StGs Nationalcharakter verstärkt auf die Person statt lediglich auf die Dichtung beziehen, was auch zur Folge hat, dass die Hinwendung zu ethischen Fragen einem spezifisch ,deutschen‘ Wesenszug des Dichters zugeschrieben wird. Das gängige Klischee, das „formale Element“ sei der „germanischen Kunst viel fremder […] als der romanischen“,100 fordert nun einige Kritiker dazu heraus, das ,deutsche‘ Erbe StGs in die Waagschale zu werfen und der herrschenden Meinung einer rein französischen künstlerischen Abstammung des Dichters zu widersprechen. So behauptet Ernst Bertram, jener „Kultus der Form“ entstamme bei StG eben nicht der „naiven Formfreude des südlicheren Menschen, sondern […] der eroberten und erarbeiteten des entbehrenden Nordländers“. So gesehen bleibe StGs ,nordisch-sentimentalisches‘ Formbewusstsein im Bereich dessen „was wir […] als uns zugehörig empfinden dürfen.“101 Rudolf Borchardts Strategie, dem Ton StGs den Makel des ,Fremdländischen‘ zu nehmen, besteht dabei überdies in der Feststellung, dass die „französische Tradition […] lauter ursprünglich deutsch romantische Elemente“ aufgenommen habe und StG unbewusst und im Glauben, Fremdes aufzunehmen, lediglich „die ganze Beute in die Heimat“ zurückbringe. So finde anstelle einer bloßen Rezeption des Romanischen eine fruchtbare „Durchdringung des Germanischen und Lateinischen“ statt.102 Für eine Mischform aus beiden Kulturkreisen plädiert auch Franz Wegwitz; er sieht StG als den „Typus jener deutschen Geister […], die südlichen Einschlag haben, und denen Formenreinheit ebenso wesentlich eignet wie den Künst98 Ebd. 99 Vgl. oben Abschnitt 5.2.1.1. Dergleichen Vorurteile werden indes nicht nur in den Neuauflagen der besprochenen Werke repliziert (vgl. zudem Otto von Leixner, Geschichte der deutschen Literatur, 8. Aufl., Leipzig 1910, S. 1023 [„undeutsch“]), sondern auch in manch neu erschienenem Werk, etwa Max Geißlers Führer durch die deutsche Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, Weimar 1913, S. 148, wo der „närrisch undeutsch[e]“ StG in die Schranken verwiesen wird. Immerhin verzichtet Alfred Bieses Deutsche Literaturgeschichte, Bd. 3, München 1911, S. 645–649, auf das nationale ,Totschlagargument‘, auch wenn das Urteil gewohnt konservativ und also wenig freundlich ausfällt. 100 Friedrich, Dichter der Form. Ähnlich Walzel, Leben, Erleben, S. 1396f.; Heinrich Herrmann, Stefan George und die Formkunst, in: Über den Wassern 1/1908, S. 178–182, hier: 179. 101 Bertram, Über Stefan George, S. 32. 102 Rudolf Borchardt, Dante und deutscher Dante, in: Süddeutsche Monatshefte 5/1908 (teilweise wieder in: Wuthenow [Hrsg.], George in seiner Zeit, S. 115–118, hier: 115).

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

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lern romanischer Völker.“ Was StG als typischen Deutschen gegenüber „Verlaine, Baudelaire und D’Annunzio“ auszeichne, sei das auffällige Fehlen eines „Kultus des Erotischen“ – eine Feststellung im Übrigen, die StG noch wenige Jahre zuvor nicht selten den Makel des Lebensunfähigen eingebracht hatte – sowie „die ausgesprochen ethische Grundrichtung seiner Natur, die in der Überwindung der Scheinwelt Algabals […] in vielen der Spruchtafeln oder in den Zeitgedichten in die Erscheinung tritt.“103 Der Gedanke, ,deutsch sein‘ heiße ,ethisch sein‘, ist auch Rudolf Borchardt nach der Lektüre des Siebenten Rings nicht fremd. Hier habe StG das „Schicksal, deutsch zu sein, […] als Pflicht, deutsch zu werden, auf sich genommen“104 – von ,Durchdringung‘ des Lateinischen mit dem Germanischen wie in der ein Jahr zuvor erschienenen Dante-Besprechung ist nun nicht mehr die Rede. Borchardt insistiert wie Wegwitz auf dem radikalen Bruch mit den ,romanischen‘ Anfängen StGs und deren „geckenhaft gewordene[r] Virtuosität“: Der Siebente Ring sei ein „fast zornig altertümlich-altdeutsches Buch“ geworden, in dem „nur der Gehalt“ zähle.105 Während Borchardt sein Urteil immerhin begründet, begnügt sich Will Scheller, in der Folgezeit einer der glühendsten Fürsprecher StGs, damit, von dem „Mann des rheinischen Blutes, de[m] deutsche[n] Dichter Stefan George“106 zu schwärmen: „Nur dem Dichter ist gegeben, die Rätsel, die sein Blut bewegen, rhythmisch zu gestalten, dem Lauf eben dieses Blutes gemäß.“107 Der allgemein zunehmende Gebrauch des Wortes ,Blut‘, das bisher eher negativ auf StG angewendet worden war (der ,blutlose Formalismus‘ etc.) und in den Jahren der Weimarer Republik geradezu inflationär verwendet wird, dient hier bei Scheller zum ersten Mal nicht mehr der Umschreibung des semantischen Felds von ,leidenschaftlich‘, sondern der Kennzeichnung einer geographisch-kulturellen bzw. völkischen Herkunft. Die ersten Anzeichen einer nationalistischen George-Rezeption datieren also bereits aus einer Zeit, in der die Frage nach dem eigentlichen ,Nationalcharakter‘ von StGs Lyrik überhaupt erst wieder neu gestellt und noch keineswegs eindeutig beantwortet wurde. 5.2.2.3. Ästhetische Urteile über den Siebenten Ring Mit dem neuen Werk konfrontiert, versucht Georg Simmel 1909 ein letztes Mal, dem ,Phänomen‘ StG gerecht zu werden. Nicht mehr das „Kunstwerden der lyrischen 103 Wegwitz, Stefan George, S. 664. 104 Borchardt, Georges Siebenter Ring, S. 158. 105 Ebd., S. 135. – Wie leicht derlei stereotype Zuschreibungen auch im entgegengesetzten Sinne verwendbar sind, zeigt sich am Beispiel Theodor Heuss. Dieser findet nun gar nicht, dass der ,Gehalt‘ bei StG im Mittelpunkt stehe, sondern „Wort, Silbe und deren Gewicht“. Deutsche Lyrik hingegen sei durch „Satz und Sinn“ getragen, StG aber habe seine Technik an „antiken und romanischen Ueberlieferungen“ geschult, was „bei dem ein wenig fantasielosen Wesen des Dichters“ zur „rhythmische[n] Verarmung“ der fünfhebigen Jamben geführt habe (Über Stefan George, S. 632). 106 Will Scheller, Stefan George und sein Weg, in: Die Gegenwart 81/1912, S. 357–361, hier: 357. 107 Ebd., S. 358. Vgl. auch ebd., S. 360: „[A]ls ein besonders wichtiges Thema anzusehen ist da das Deutschtum Georges […].“ Seine Gedichte gingen hinaus „über die Grenzen des individuellen Empfindens in das Allgemeine, der Elan, der eigentlich nur dem germanischen und auch da vorwiegend dem deutschen Blute eigen ist.“

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Äußerung“, die „Herrschaft des artistischen Gedankens gegenüber der Darbietung des durch seinen Inhalt wirksamen Affekts“,108 wie in den vorherigen George-Studien, sondern die „Monumentalisierung des durchaus und rein lyrischen Erlebnisses“109 gilt Simmel zuletzt als das genuine Georgesche Kunstprinzip, in dem die ,Objektivierung‘ des Stoffs ihre höchstmögliche Gestaltung erfährt. Allein – und darin tut sich der nur auf der Oberfläche verborgene Bruch zu StG kund – möchte Simmel diese Objektivität nur für die Innerlichkeit des Dichters gelten lassen: Ich kenne keinen Lyriker, der in so ausschließlichem, ich möchte sagen metaphysischem Sinne nur aus sich heraus lebte, und der es so zwingend fühlbar machte, daß alles objektive Sein, in sein Werk hineingenommen, nur die verteilten Rollen sind, in denen seine Seele sich selbst spielt.110

Wo StG aber versucht, mehr zu sagen, als dasjenige, was das ,Seelendrama‘ des Dichters umfasst, scheitere er ästhetisch: Die dichterische Seele in George aber singt nur sich selbst, nicht die Welt, nicht die Überwelt. Wo die Dinge, die außerhalb des Erlebens seiner selbst liegen, in seinen Versen zu Worte kommen, irgend ein geschichtlich oder sonst Gegebenes – da wirkt es nur oft wie ein Fremdkörper, das inkohärente Hineinragen einer Welt, die die seine nicht ist und nicht werden kann.111

Die Zeitgedichte sind für Simmel denn auch im wahrsten Sinne eine künstlerische ,Entgleisung‘, ein Verlassen des lyrischen Pfades. „Es ist bedeutsam, daß der Teil des siebenten Ringes, in dem große geschichtliche Gestalten und Ereignisse den Stoff hergeben, dieses Spezifische des Stils – wie mir wenigstens scheinen will – nicht zeigt.“112 Simmels Ernüchterung ist kein Einzelfall. Auch Conrad Wandreys Dissertation von 1911 zeichnet einen ästhetischen Niedergang StGs seit dem Teppich des Lebens nach, der mit dem „fortschreitenden Sieg des Gehaltes über die Form“ einhergegangen sei.113 Der Siebente Ring versammle „mehr gedachte als gestaltete Gedichte“,114 der typische „Sprachzwang“ habe sich in „Sprachvergewaltigung“115 verwandelt; StG selbst sei zum „redenden Ethiker“,116 ja zu „seinem eigenen Nachahmer“117 verkommen. Doch auch mancher der neuen ethischen Wende freundlich gesonnene Interpret des Siebenten Rings hält sich mit Kritik am neuen Stil nicht zurück. Selbst der von den Zeitgedichten so angetane Julius Bab gesteht, dass er gerade bei den „prophetische[n], erbauende[n]“ Gedichten StGs „in ihrer künstlerischen Form einen Makel“ registrieren müsse: „Einbruch des nackten Willens, Dreinrede des zielenden Verstandes in die reine Gefühlsentfaltung. Die bedenklichen Mittel adelt hier freilich der höchste 108 Georg Simmel, Der siebente Ring, in: Münchener Neueste Nachrichten Nr. 318 v. 1.7.1909. Wieder in: Ders., Zur Philosophie der Kunst, Potsdam 1922, S. 74–78, hier: 76f. 109 Ebd., S. 76. 110 Ebd. 111 Ebd., S. 75. 112 Ebd., S. 77. 113 Conrad Wandrey, Stefan George, Straßburg 1911, S. 78. 114 Ebd., S. 85. 115 Ebd., S. 88. 116 Ebd., S. 91. 117 Ebd., S. 85.

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Zweck – immerhin die höchste Harmonie bleibt verweigert.“118 Und Albert Soergel fügt seinem Urteil lakonisch hinzu: So „wichtig“ die Zeitgedichte auch seien, eine „stärkere Erinnerung“119 bleibe doch an die Lieder. Auch wenn keineswegs alle Urteile über die sprachliche Gestaltung des Siebenten Rings durchweg negativ ausfallen – auch von einer „Sprachgewalt […], die kaum noch wachsen kann“,120 ist andernorts die Rede –, so deutet sich doch an, dass sich die revolutionäre Wirkung von StGs Stil im Laufe der Zeit abgenutzt hat. Auch Borchardts ambivalentes Diktum, StG habe die deutsche Sprache „bis auf den gewachsenen Fels umgepflügt, die ganze Scholle des Lautes liegt umgekehrt gegen die Sonne“,121 gibt ein Zeugnis davon ab. Von nun an aber entscheidet primär nicht mehr das ästhetische Empfinden, ob man ,für‘ oder ,gegen‘ StG schreibt. 5.2.2.4. Zusammenfassung Mit dem Siebenten Ring verschieben sich die Paradigmen der George-Rezeption. Der Streit um die ästhetische Qualität und das poetologische Fundament des Werks tritt zurück zugunsten einer lebhaften Diskussion um die zeitkritischen Inhalte des neuen Zyklus. Einer Reihe von Skeptikern, die StG die Glaubwürdigkeit und das gedankliche Vermögen zu einer ,ethischen Wende‘ vor dem Hintergrund der symbolistischen Weltferne des Frühwerks absprechen, steht eine neue Generation von Fürsprechern gegenüber, die gerade in der Entwicklung von der Kontemplation zur Didaxe den eigentlichen Reifeprozess des Dichters erblicken. Obgleich man in StGs Dichtung vorerst noch selten das Potenzial für eine mögliche Erneuerung der deutschen Gesellschaft projiziert – Rudolf Borchardt ist eine frühe Ausnahme –, so beginnt doch auch auf konservativer Seite das Vorurteil zu kippen, StG sei ein ,undeutscher‘ Dichter. Je nach Couleur des Autors werden die französischen Einflüsse relativiert oder geleugnet und wechselseitig die Offenbarung des ,ethischen Moments‘ mit dem Hervortreten der vorgeblich germanischen Eigenart erklärt: Die ,strenge Form‘ wird neuerdings nicht mehr einem intellektualistischen Kunsttrieb, sondern der ,Selbstzucht‘ des dichterischen Ichs zugeschrieben. Bemerkenswert, aber folgerichtig für die grundsätzliche Verschiebung der literarkritischen Wertmaßstäbe ist die Tatsache, dass die Akzeptanz des Siebenten Rings bei den Verfechtern der agitatorischen Tendenz selbst dann nicht geschmälert wird, wenn von ihnen ein ästhetischer Rückschritt wahrgenommen wird.

118 Bab, Von den Meistern, S. 1065. 119 Soergel, Dichtung und Dichter, S. 566. 120 Wegwitz, Stefan George, S. 663. Entgegen der verbreiteten Tendenz, in künstlerischer Hinsicht den Siebenten Ring noch unter dem Teppich des Lebens anzusiedeln, befindet der Autor, nicht in jenem, sondern in diesem sei „die Grenze des ästhetisch Zulässigen nicht nur erreicht, sondern sogar überschritten“ (ebd., S. 662). 121 Borchardt, Georges Siebenter Ring, S. 161.

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5.2.3. Die Rezeption vom Ersten Weltkrieg bis 1927 Der Verlauf der Wirkungsgeschichte StGs ist durch die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg stark geprägt worden. Tatsächlich, so scheint es, hätte dem Renommee des Dichters nichts Besseres passieren können als eben die Ereignisse zwischen Julikrise und Novemberrevolution. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt genießt StG die höchste Wertschätzung zu Lebzeiten, wird in weiten Kreisen der Kritik gefeiert als der deutsche Nationaldichter, als Seher des Krieges, Lehrer des Volkes und Wegweiser in die Zukunft der Nation. Niemals zuvor wurde StGs Bedeutung weniger infrage gestellt. Die Verehrung, die ihm von den Vertretern der Konservativen Revolution zuteil wird, stellt bisweilen selbst die kühnsten Anmaßungen des George-Kreises in den Schatten. Die Verkaufszahlen der Gedichtbände erreichen in den 20er-Jahren ihren Höhepunkt.122 Im Zuge einer radikalen Politisierung des Feuilletons dient StG den Wortführern kulturkritischer und antidemokratischer Strömungen als Projektionsfläche ihrer Ideologeme, sodass die Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Werk hinter dem sich verselbstständigenden Wettlauf um die Vereinnahmung des Dichters für die miteinander konkurrierenden politischen Programme zurücktritt: Selbst unparteiischen Beobachtern der politisierenden George-Rezeption steht es nun nicht mehr frei, nur mit ästhetischem Maßstab an Georges Dichtung heranzutreten. Die Frage muß lauten: ob er wirklich eine deutsche Kultur in seiner Gestalt verkörpert und zu einer deutschen Kultur zu führen vermag, ob die Magie, die von ihm ausgeht, wirklich ein Segen ist.123

Zwangsläufig ist die Auseinandersetzung mit StG auch zu einer Auseinandersetzung mit der fortschreitenden George-Instrumentalisierung geworden. Mehr denn je heißt über StG schreiben ein politisches Bekenntnis ablegen. 5.2.3.1. George als Ikone des Antimodernismus Wer das Gros der Publikationen zu StG nach 1914 zur Kenntnis nimmt, muss sich wundern, wie dieser in den vorangegangenen zwei Dekaden als der beispielhafte Repräsentant einer modernen Lebens- und Kunstauffassung gelten konnte. Hatten die Reaktionen auf den Siebenten Ring schon erahnen lassen, in welche Richtung die Meinung umschlagen konnte, so war dennoch nicht abzusehen, mit welcher Selbstverständlichkeit StGs neue Veröffentlichungen Der Stern des Bundes (1914), Der Krieg (1917) und schließlich die Drei Gesänge (1921) als Dokumente einer geradezu aggressiven antidemokratischen, antipluralistischen und zivilisationskritischen Gesinnung aufgenommen werden würden. Der nationale Zuspruch war dabei so groß aber auch so uneinheitlich, dass sich Wolters (und sein Redaktor StG) 1930 genötigt 122 Dokumentiert bei Robert Boehringer, Stefan George. Feier in der Hessischen Landesbibliothek zu Darmstadt am 12. Juli 1958 [o. O., o. J.], S. 16. Vgl. Petrow, Der Dichter als Führer?, S. 14. Die Gründe für Thomas Karlaufs gänzlich unzutreffende Bemerkungen, StG sei nach dem Krieg „zum Klassiker“ versteinert, der „den Anschluss zu verlieren“ drohe, und die „Zahl der Zeitungs- und Zeitschriftenartikel über ihn“ sei „stark rückläufig“, erschließen sich mir nicht (Karlauf 2007, S. 507). 123 Fritz Strich, Stefan George, in: Zeitschrift für Deutschkunde 38/1924, S. 542–556.

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sahen, sich von der neuen, allzu profanen tagespolitischen Interpretation zu distanzieren.124 Diese gilt es im Folgenden zu dokumentieren; ob StGs späte Lyrik diese Interpretation zulässt oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. Am Beispiel des antidemokratischen Demagogen Friedrich Hussong lässt sich anschaulich demonstrieren, wie simpel StGs Lyrik in propagandistische Schlagworte umgemünzt wird. In einem Durchgang durch das Werk weist Hussong zunächst nach, wie StG „den Weg zu seinem Volk gefunden“ habe, um schließlich mit der gegenwärtigen „babylonische[n] Zeit“ abzurechnen. Schon in den Versen des Krieges habe StG das „wirre hirnlose Erlebnis der Revolution“ vorausgesehen und das „,Führerproblem‘“ angesprochen, um den „Narren der Pazifisten“ sogleich anzukündigen, dass „aus der Furchtbarkeit des Krieges“ keinesfalls „der ewige Frieden“ aufzugehen habe – deshalb die düsteren Visionen. In seiner größtenteils paraphrasierenden Deutung der Drei Gesänge versichert Hussong, StG wende sich hier gegen das „Parteigeheul“, „Pazifistengewinsel“ und „Demokratiegebärden“. Zwar verhindere der jämmerliche Zustand der Nation „eine neue reine Botschaft“, doch scheine aus den Versen StGs immerhin die Gewissheit, dass sich alsbald „der Mann, der Rechte, der Retter und Führer“ erheben und das deutsche Volk zu neuer Größe vereinen werde: So klingt der Sang des Dichters, der seherhaft Unheil und Untergang voraussagte, der noch jetzt in Bildern düsterer Prophetie uns zeigt, wie aus dem gewesenen Unheil und der gegenwärtigen Schmach noch dunkleres Unheil aufgehen werde, – so klingt sein Sang dennoch aus in Glaube und Zuversicht.125

Noch einen Schritt weiter geht Kurt Busse, der in einem Beitrag in den arrivierten Preußischen Jahrbüchern nicht davor zurückschreckt, StG als Vordenker rassehygienischer Maßnahmen zu preisen. StG habe „Deutschland […] als Heimat der verfallenen weißen Art“ erkannt, in der „sie sich noch einmal verjüngen und ihren neuen Lauf beginnen“ werde.126 Die „Warnung, sich rein zu bewahren vor der Vermischung mit fremden Völkern“, habe StG „schon im Siebenten Ring entschieden ausgesprochen.“127 Denn, so Busse weiter, ohne zu belegen: „Ein Volk, das so abweicht von seinem Wege, ist, wie StG sagt, wahllos auszurotten, wenn nicht größte Opfer es wieder zurückführen zu sich selbst.“ StGs Dichtung Der Krieg zeichne den Untergang der „künstlichen Ordnung, die wir unsern Staat genannt“,128 nach und brandmarke „Politik, Repräsentation, Ministerverantwortung, Bürokratie“129 als Zeichen des „unaufhaltsamen Verfalls“,130 nach dessen Ende erst „der Erlöser“ und „Führer“131 nahen könne.

124 Vgl. FW, bes. S. 494–514. Nach alter Blätter-Tradition verbittet man sich auch jetzt noch das Lob der „Unbefugten“ (S. 502), nicht ohne jedoch letztlich mit Genugtuung auch „ein Positives in diesen Stimmen durch das ganze deutsche Sprachgebiet zu buchen“ (S. 514). Die Größe StGs sei erkannt, wenn auch nicht seine wahre Gestalt. 125 Alle Zitate nach Friedrich Hussong, Der Dichter und seine Zeit, in: Der Tag (Berlin), Unterhaltungsbeilage v. 5. u. 7.11.1922. 126 Busse, Georges ,Der Krieg‘, S. 399. 127 Ebd., S. 398. 128 Ebd. 129 Ebd., S. 402. 130 Ebd., S. 401. 131 Ebd., S. 398.

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Spenglers Geist atmet auch der Aufsatz des Schweizers132 Ernst Merz, wo zu lesen ist, dass nach StG der Hauptgrund für den „Verfall“ in der „Gleichmacherei der heutigen sozialistischen Renaissance“ begründet sei.133 Demokratie und Kunst schlössen sich kategorisch aus: Dadurch, daß das Distanzgefühl verloren geht und die heutigen Menschen das Herrschaftund Dienstverhältnis nicht mehr kennen, ist die Gefahr da, daß die Ehrfurcht und damit die Grundlage für jede wahrhafte Kultur zu Grunde geht. Inmitten einer demokratisch-sozialistischen Weltepoche ruft und fordert er [StG] als einer der Wenigen eine neue Rangordnung der Geister. Er will, daß das Große wiederum groß, der Herr wieder Befehlender und der Diener wieder Gehorchender sei.

Merz attestiert StG einen scharfen analytischen Blick für die Gebrechen der Zeit. „Fortschrittsglaube“, „Technik“ und die historistische Weltsicht erstickten die „Urund Geisteskräfte“ und arbeiteten an der „Zerstörung des Heiligen“.134 Merz preist schließlich die „bäurisch-ländliche Urkraft“135 StGs und feiert in ihm den Typus des vormodernen „schönen und adligen Menschentums.“136 Dass nicht „Vernunft“ und „Gleichheit“, sondern „Charisma“, „Herrschertum und gesetzliche Stufung“137 die Gesellschaft zu regieren haben, ist im Übrigen auch die Schlussfolgerung, die der Franziskaner Cornelius Schröder aus StGs Werk zieht. Wie verbreitet kulturkritisches Gedankengut gerade auch im christlich-konservativen Umfeld der Weimarer Republik ist,138 zeigt zudem ein Aufsatz der heute vor allem als Frauenrechtlerin bekannten Emmy Beckmann.139 Im Gegensatz etwa zu Hussong einem religiösen Pazifismus verpflichtet, macht sie die „Unmenschlichkeit modernen Lebens“, die „dem Kapitalismus verfallene Menschheit“140 und „die Entseelung durch die Technik“ für die Katastrophe des deutschen Volkes verantwortlich und stilisiert den homo religiosus StG zum Antipoden einer infolge der „Versklavung des Menschen an die Materie“141 entgöttlichten Gegenwart. Die Heterogenität dieser zwar durchgängig antimodernistischen, in ihrer Zielrichtung aber durchaus uneinheitlichen Interpretationen ist leicht ersichtlich und erweist den unverändert breiten Deutungsspielraum von StGs Vorkriegs-, Kriegs- und Nach132 Auch in StGs Todesjahr 1933 kommt es in schweizerischen Feuilletons zu Schulterschlüssen mit der nationalsozialistischen George-Deutung. Vgl. Petrow, Der Dichter als Führer, S. 38f. 133 Merz, Stefan George, S. 471. Dort auch das folgende Zitat. – Vgl. zu den seit den 20er-Jahren bestehenden Beziehungen zwischen dem Theologen Merz, Percy Gothein und Wolfgang Frommel den unkritischen biographischen Abriss von Thomas Karlauf, Ernst Merz. 1896–1977, in: CP 34/1985, 170, S. 5–30. 134 Ebd., S. 472. 135 Ebd., S. 470. 136 Ebd., S. 472. 137 Schröder, Zur Religion, Sp. 404. 138 Vgl. zu diesem Komplex: Reinhard Richter, Nationales Denken im Katholizismus der Weimarer Republik, Münster 2000; außerdem III, 6.6. 139 Emmy Beckmann war außerdem in der liberalen DDP engagiert und später Gründungsmitglied der FDP. Vgl. zu ihrer Biographie Helmut Stubbe-da Luz, Emmy Beckmann (1880–1967). Hamburgs einflußreichste Frauenrechtlerin, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 73/1987, S. 97–138. 140 Beckmann, Stefan George, Sp. 347. 141 Ebd., S. 346. Vgl. zur religiösen Interpretation StGs bei Beckmann und anderen unten Abschnitt 5.2.3.3.

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kriegsdichtungen. Kriegsverherrlicher wie Kriegsgegner, politisch Gemäßigte wie Anhänger des ,Führerstaats‘ reklamieren die Übereinstimmung von StGs ,Weltanschauung‘ und Geschichtsdeutung mit ihrer jeweils eigenen Gegenwartsanalyse. Als tertium comparationis fungiert das offensichtliche, aber inhaltlich unbestimmte kulturkritische Element in StGs Dichtung, welches, je offener es interpretierbar bleibt, umso widersprüchlicher in der politischen Vereinnahmung vereindeutigt und ,übersetzt‘ wird. 5.2.3.2. George als Erzieher Die Konjunktur der kulturkritischen Auslegung StGs überrascht vor dem Hintergrund des Spätwerks und den auch in den Feuilletons ausgetragenen Grabenkämpfen der Politik letztlich kaum. Erstaunlich ist aber, welch weitreichende Impulse für eine Reform von Staat und Gesellschaft man sich nun von den Dichtungen StGs verspricht. Die beiden Hauptargumente, die StGs Inthronisation als Erzieher und poeta vates der Nation jenseits der bloßen Negation des Zeitgeistes rechtfertigen sollen, sind die (Re-)Etablierung eines ,höheren Menschentums‘ und die Idee einer Bündelung ,völkischer Kräfte‘, wie sie angeblich in StGs Werk beispielhaft verwirklicht werden. Die Belege für derlei Behauptungen sind zu zahlreich, um hier in extenso dokumentiert werden zu können. Schlagworte vom „überzeitlichen Menschentum“ in der „Harmonie von Geist und Schönheit“142 bzw. vom adeligen „Ganz- und Vollmenschentum“143 vom „schöne[n] Mensch […] im Zustande der reinen, unverdorbenen Natur“,144 von der „deutschen Wiedererweckung […] der antiken Lebensform“,145 ja selbst vom „rasseechten Edelmenschen“,146 füllen Dutzende von George-Rezensionen und stehen meist in Abhängigkeit von Gundolfs George147 und/oder reproduzieren eine vulgär-nietzscheanische Lesart, die bereits zu Vorkriegszeiten von Margarete Susman angestoßen worden war.148 Von diesen Vorläufern unabhängig ist jedoch die Verquickung der Übermensch-Theorie mit einem dezidiert nationalen Bildungsgedanken. Wo Rudolf Pannwitz’ Warnung vor einer Entfernung von StG, der sich „für ein ganzes Volk reich gespart und mit sich sein Volk reich gemacht habe“,149 noch eher auf das geistige Deutschland gemünzt ist, muss Paul Witteks Rede vom „Herrschertum George’s“150 in seiner Zeit schon durchaus politischer verstanden werden. Wittek begreift StG als Schöpfer einer Gemeinschaft stiftenden Sprache, von der aus sich ein „heiliges Reich“151 vollenden werde: „Wo diese Sprache schon lebt […], ist dieses 142 Beckmann, Stefan George, S. 343, 346. 143 Merz, Stefan George, S. 480. 144 Cornelius Schröder, Stefan George. Ein Umriß seiner dichterischen Erscheinung, in: Die Bücherwelt 21/1924, S. 31–35, hier: 34. 145 Wolfgang, Stefan George, S. 459. 146 Martin Rockenbach, Stefan George, in: Allgemeine Rundschau 21/1924, S. 89–91, hier: 90. 147 Vgl. Gundolf, George, bes. S. 17–31 und passim. 148 Vgl. Susman, Das Wesen; siehe Abschnitt 5.2.2.1. 149 Pannwitz, Maasstäbe, S. 169. 150 Paul Wittek, Der Dichter unserer Zeit, in: Oesterreichische Rundschau 19/1923, 8, S. 719–738, hier: 737. 151 Ebd., S. 735.

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Reich schon volle Wirklichkeit geworden – zunächst ein ,geheimes Deutschland‘, das aber das sichtbare von Tag zu Tag inniger durchdringt, bis es in voller Reinheit aus dessen Antlitz leuchten wird.“152 Die Vorstellungen, wie sich StGs Werk fruchtbar auf die deutsche Gesellschaft auszuwirken habe, sind ebenso weitgespannt wie nebulös. Weniger die Verwirklichung einer Lehre als vielmehr die Übernahme eines allgemeinen Lebenskonzepts, für das StG stehe, fordern die einen. So sei StG „einer der größten Erzieher“, weil er nicht „wie Rousseau über Erziehung schreib[e]“, sondern „das neue Erziehungsideal […] in Fleisch und Blut“ darstelle, wodurch er die Jugend „zum Bau des neuen Menschen- und Gottesstaates“ aufrufe, nachdem „in enger Geistesund Kampfesgemeinschaft die alte Welt“ überwunden worden sei.153 Der vor dem Krieg noch so besonnene Conrad Wandrey154 verknüpft nun ebenfalls seinen „Glauben an Stefan George“ mit der „Wiedergeburt des neuen Menschen“, weist leidenschaftlich auf die Bedeutung der Tatsache hin, dass Menschen bereits nicht nur „in seinem Tone dichteten“, sondern schon „sich seinem Wesen hingaben“,155 und rät ebenso allen anderen, „von diesem großen Führer sich leiten und formen [zu] lassen“.156 Nicht weniger emphatisch fordert Emmy Beckmann, „Göttliches muß im Gewande der Dichtung die Jugend umtönen, die zu Helden heranreifen soll“, denn es komme nur darauf an, „daß das Volk seine Seele wiederfindet und seine Götter nicht mehr leugnet.“157 Noch unspezifischer sprechen andere von StG als einer „rauschenden Quelle des Wachstums und des lebendigen Seins für sein Volk“158 oder dem „Schöpfer einer neuen Menschlichkeit“, dessen Amt es sei, „eine neue Welt“ heraufzuführen,159 oder aber entwickeln die These, dass StG als „Verwirklicher ,des schönen Lebens‘“ seinen Beitrag „durch Ausstrahlen der verkörperten Schönheit in andern, den Menschen und im Volke“ leiste.160 Die Gründe für die hartnäckige Wiederkehr solcher Absurditäten sind mit dem Inhalt des Spätwerks allein nicht zu erklären. Dass StGs Dichterpersönlichkeit den rückwärts gewandten Eliten der Weimarer Republik als Hohlform für ihre antimodernen Projektionen dienen konnte, hängt ebenso stark mit der frühen (Selbst-)Stilisierung StGs als ,Prophet‘ zusammen, die nun der neuen Dignität des Dichters als einer politisch-kulturellen Zentralinstanz innerhalb eines metaphysisch aufgeladenen Geschichtsbegriffs Vorschub leistet. Der Zeitgeist bedient sich der überlieferten Vorstellung vom ,Kunstpriester‘ und formt diese zum Bild des Priesters an den ,heiligen Kräften des Volks‘ um. Das vom George-Kreis von Anfang an propagierte sakrale Dichterverständnis erleichtert nun die Akzeptanz StGs in einem sich über anachronistische Wert- und Geschichtsbegriffe verständigenden intellektuellen Milieu. Die unerwartete historische Fehlentwicklung und das Ungenügen an der machtpolitischen Situation Deutschlands begünstigen die Unterfütterung der bisher eher vage bestimm152 153 154 155 156 157 158 159 160

Ebd., S. 736. Merz, Stefan George, S. 482. Vgl. Abschnitt 5.2.2.3. Wandrey, Georges Stern v. 24.9.1925, S. 2. Ebd., 26.9.1925, S. 5. Beckmann, Stefan George, S. 342. Wolfgang, Stefan George, S. 459. Lützeler, Stefan George, S. 196. Schröder, Zur Religion, S. 406.

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ten Metapher vom ,Propheten‘ und ,Warner‘ mit handfestem, tagespolitischem Inhalt. Nicht von ungefähr wird daher nach 1918 die Deutung der religiösen Dimension zu einem der zentralen Punkte in der Diskussion um StGs Werk. 5.2.3.3. Zur Religion Georges Jeder Gläubige […], gleichgültig welchen Glaubens, und vollends erst jeder ,Wissende‘ kündet von w e l t g e s t a l t e n d e n M ä c h t e n ; George hingegen redet ausschließlich von der eigenen Person! ,Personenkult‘ aber ist überhaupt kein Kult, sondern allenfalls dessen Mimikry.161

Als Ludwig Klages im Jahr 1927 mit diesen Worten den Inhalt seiner George-Monographie widerruft, mit der er ein Vierteljahrhundert zuvor die ,ontologische‘ Interpretation selbst initiiert hatte,162 positioniert er sich wiederum als Außenseiter. Denn die Rede von ,Weltmächten‘, an die StGs Werk rühre, ist mittlerweile nicht nur salonfähig, sondern gar zum Gemeinplatz geworden. Wiederholt wird die geistige Prägung StGs von seiner katholischen Herkunft festgestellt und zugleich von einem orthodoxen Katholizismus abgegrenzt.163 Neben dem ethischen sei ein „religiöses Moment […] von vornherein in StGs Wesenheit verwurzelt“,164 oder „Religion ist jetzt das tragende Element geworden“,165 heißt es allenthalben. Jenseits des bloßen Befunds einer religiösen Befindlichkeit kommt es nun vielfach zu einer Überhöhung StGs zum Mann mit übersinnlichen, seherischen Kräften, die mit der Restituierung des Dogmas vom mystischen Dichter einhergeht. Unterstellungen, dass StGs Zukunftsvisionen keine „Geschichtskonstruktionen“ seien, sondern 161 Ludwig Klages, Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde. Gesammelte Abhandlungen, Heidelberg 1927, S. 381 (Anm.). 162 Vgl. Abschnitt 5.2.1.3. 163 Pannwitz, Maasstäbe, S. 169, nennt StGs Welt bereits ein Jahr, bevor Gundolf vom „heidnischen Blutkatholizsimus“ (George, S. 48) spricht, einen „heidnische[n] Katholizismus oder ein katholisches Heidentum“; Merz, Stefan George, S. 469, spürt „in George die katholische Grundkraft. […] Wenn er auch die Dogmen der katholischen Kirche gesprengt hat, die Grundstimmung und das innere Leben dieser Kirche ist in seinem Geiste lebendig geblieben.“ Rockenbach, Zum literarischen Leben, S. 318, weiß, dass StG „von Haus aus Katholik“ sei, sich „jedoch schon früh vom Katholizismus gelöst“ habe, und in den Maximin-Gedichten seinen „christliche Form mit heidnisch-antikem Inhalt füllenden Glauben“ offenbare. Auch Lützeler, Stefan George, S. 200f., trennt zwischen Christentum und StGs ,ästhetischem‘ Katholizismus: StGs Religion sei „eine Religion unbedingter Diesseitigkeit; göttliche Ehren erweist er dem schönen und heldischen Menschen. Zwar beugt er sich vor diesem auch dann, wenn er ihn in der christlichen Kirche findet, ja mehr noch, er liebt die katholische Kirche, die ihren an Leib und Geist mächtig erstrahlenden Heiligen eine wahre Heimat war, vorzüglich darum, weil sie ihre Gläubigen in mannigfaltiger Weise das Sinnenhafte als einen von himmlischen Kräften erhöhten Bereich sehen lehrt.“ Friedrich von der Leyen, Deutsche Dichtung in neuer Zeit, 2. Aufl., Jena 1927 (zuerst 1922), S. 213, gibt indes ehrlicherweise zu, woher seine gleichlautende Beobachtung ihren Ursprung nimmt: „Gerade Gundolf weist auch sehr treffend darauf hin, wie viel von der lebendigen Überlieferung der katholischen Kirche und des katholischen Volkstums in George […] sichtbar wird.“ 164 Melitta Gerhard, Stefan George und die deutsche Lyrik des 19. Jahrhunderts, in: Preußische Jahrbücher 171/1918, S. 205–225, hier: 207. 165 Wilhelm Becker, Die Kunstanschauung Stefan Georges, in: Preußische Jahrbücher 178/1919, S. 443–464, hier: 453.

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Ausdruck eines „prophetische[n] Bewußtsein[s]“,166 dass es sich hierbei um das „nicht erklärbare Wissen eines Mannes, der in unmittelbarerem Zusammenhang mit dem Urgrund der Dinge steht als wir“,167 handle, dass „Apollo seinen Priester in Deutschland hat erstehen lassen“, aus dessen „Mund der Gott singt“,168 sind durchaus keine Seltenheit. Solcherlei Aussagen sind aber nicht nur lediglich Zeugnisse einer hypertrophen George-Verehrung und einer unkritischen Übernahme Gundolfscher Nomenklatur. Aus christlich-theologischer Perspektive, wo nicht – wie sonst häufig – einer synkretistischen katholisch-germanisch-griechischen Kunstreligion, aus der sich eben jener ,neue Mensch‘ entwickeln soll, das Wort geredet wird, ist StG schon allein als Gegenbild zum Säkularismus wertvoll.169 Der Pädagoge Werner Picht beispielsweise deutet StG ebenfalls als „Künstler und Seher“170 und würdigt den Schöpfer des Maximin-Kults als „Träger einer göttlichen Sendung“,171 nicht ohne jedoch die Privatreligion StGs in ihrem Erlösungspotenzial gegenüber der wahren christlichen Religion als defizitär abzuwerten. Das „Zwischenreich des prophetischen Dichter[s]“ fungiert in Pichts Systematik als Glied zwischen dem gottlosen Reich des modernen Menschen und dem „ewigen“ christlichen Reich (vgl. Abb. 13). So positiv Picht die spirituelle Kraft StGs wertet, da sie sich den entgeistigenden Mächten der Zivilisation widersetze, so beurteilt er das Vertrauen der „George-Dogmatik“ auf eine „weltumstaltende Kraft“172 der Dichtung doch als unstatthaft: [Was] uns hier von der Gründung des Neuen Reichs unter ,völkischem‘ Banner mitgeteilt wird, ist nur noch eine Meinung, zu der man sich so oder so stellen kann, nicht mehr ein allgemeingültiges Wissen. Es ist kein Zufall, da hier dem großen Dichter das so mit Tagesstreit beladene und darum so undichterische ,völkisch‘ entschlüpfte – wie immer es gemeint sei.173

Pichts Stellungnahme zeigt, dass die für die Zeit typische ,metaphysische‘, zivilisationskritische Interpretation StGs nicht notwendigerweise mit rechtskonservativer Agitatorik einhergeht. Gleichwohl sind kritische Stimmen, die nicht einzelne Elemente, sondern den George-Kult im Ganzen als Anmaßung verwerfen, selten geworden.

166 Merz, Stefan George, S. 471. 167 Picht, George als Richter, S. 82. 168 Ernst Blass, Stefan Georges ,Stern des Bundes‘, in: Die Argonauten 1/1920, S. 219–226, hier: 220. – Siehe auch Wandrey, Georges Stern, passim, oder Busse, Georges ,Der Krieg‘, S. 396ff., der über mehrere Seiten hinweg den Nachweis erbringt, dass StG nicht als bloßer „Dichter“, sondern als „Prophet“ im „alttestamentlichen“ Sinne zu betrachten sei. 169 Auf die Protestanten Emmy Beckmann, Ernst Merz, den Franziskaner Cornelius Schröder und den Pfarrer W. Becker wurde schon hingewiesen. Weitere Hinweise zur zeitgenössischen theologischen Rezeption (nach wie vor ein Forschungsdesiderat) bei Kolk 1998, S. 435f., Anm. 43; vgl. auch III, 6.6. 170 Picht, George als Richter, S. 81. 171 Ebd., S. 82. 172 Ebd., S. 90. 173 Ebd., S. 92.

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5.2.3.4. Kritik am George-Kult An Stefan George, dem Dichter, und George, dem Menschen, kommt der Betrachter des literarischen Lebens der deutschen Gegenwart schlechterdings nicht mehr vorbei. […] Wer heute noch von ,bloßer Formenspielerei‘ sprechen kann, macht sich einfach lächerlich.174

Im Spiegel der gewaltigen Flut von Kritiken, die StG vom Klischee des weltfremden Schöngeists freisprechen, erscheint Kurt Ports monographische Abrechnung mit dem Ästhetizismus bereits im Jahr 1919 als ein veritabler Anachronismus.175 Wer gegen StG schreiben will, muss nun andere Geschütze auffahren. So geißelt zu Beginn des letzten Kriegsjahrs der expressionistische Autor und Kritiker Ludwig Rubiner in der Aktion StGs Der Krieg (1917; IX, 21–26) als „National- und Rassenhochmut eines Hofpredigers“ und fügt hinzu: „Wenn ein alldeutsches Annexionistenblatt heute in Prosa solche blutigen Vorschläge zum Friedenschluß machen würde, wäre es am Tage darauf verboten.“176 Rubiner reagiert sensibel auf die totalitaristische Infiltration der Verse StGs, die sich schon ästhetisch bekunde: Obgleich StG vor dem Krieg ein „strengster Ablehner der zivilisatorischen Rohheit dieser Zeit und Verkünder eines außerzeitlichen, religiösen Gemeinschaftsziels“ zu sein schien, so verrate der „wirkliche[] Körper der Georgeschen Verse […], daß die von ihm erstrebte Gemeinsamkeit 174 Rockenbach, Zum literarischen Leben, S. 318. 175 Kurt Port, Stefan George. Ein Protest, Ulm 1919. 176 Ludwig Rubiner, Heinrich Mann und Stefan George, in: Die Aktion 8/1918, Sp. 29–39, hier: 37.

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gar nichts Zukünftiges war, sondern nur die intuitiv sublimierte, dichterisch geformte Darstellung des gegenwärtigen Disziplinschrittes.“177 Als sich jedoch abzeichnet, dass der von Rubiner angeklagte „National- und Rassenhochmut“ durchaus nicht konträr zum Zeitgeist steht und StG Aufwind bekommt, glaubt der Rezensent Christoph Flaskamp noch an ein Strohfeuer. Versuche, StG „zu einem großen, schöpferischen Dichter emporsteigern zu wollen“, würden „immer an dem Werke selbst scheitern“, trotz der „willenhaft-ideellen, allegorisierenden Lebenshaltung“ seines Dichters.178 Auch Paul Schmid hält StG für „überbewertet“,179 entlarvt die von Gundolf verbreitete Lehre vom ,gottlosen Zeitalter‘ als „die Zivilisationstheorie Spenglers, aber ohne deren fatalistischen Einschlag“,180 ist sich aber in seiner Prognose des Misserfolgs StGs offenbar nicht mehr ganz so sicher wie Flaskamp: Es sei noch nicht zu erkennen, „welchen bedeutenden oder unscheinbaren Mittler sich der irrationale Geist der Zukunft erküren wird.“181 Als 1925 die George-Verehrung auf ihrem Höhepunkt angekommen ist, erscheint ein publizistischer Lichtblick dieser Jahre, die Darstellung des Germanisten Fritz Strich, der als einer der wenigen mit klarem Blick und philologischer Distanz die Hyperbolik des Kults treffend attackiert. Strich durchschaut die Stilisierung StGs als Ergebnis einer geschickt lancierten Kampagne der Jünger, die von StG „mit kluger Politik auf die Lehrstühle der Universitäten“182 entsendet worden seien, wo nun, nachdem „das Prinzip des L’art pour L’art keinen guten Klang mehr in der Welt besitzt […] mit Nachdruck auf seinen Weg und die Verwandlung“ verwiesen werde.183 Doch gerade das Spätwerk, das StGs ästhetischen Niedergang demonstriere,184 führe die „beispiellose Vermessenheit der Wertung“185 ad absurdum. Die beiden Hauptargumente für die öffentlich zelebrierte Apotheose StGs – das ,Sehertum‘ und die ,Wiedererweckung der Religiosität‘ – werden von Strich lapidar abgefertigt: Was StG ,gesehen‘ habe, „das sahen Hunderte mit ihm, denn es war wirklich nicht schwer zu sehen“;186 und zu Maximin: Ein Menschenkultus, wie ihn seit den Tagen Hadrians die Welt nicht mehr gesehen hat […]. Nun: man kennt das Bild dieses jungen Menschen: er war schön. Man kennt seine Gedichte: sie sind nicht schön. Aber wenn er auch ein Antinous an Schönheit und ein George an Dichtergröße gewesen wäre, so bleibt doch dieser Kult grotesk.187 177 Ebd., Sp. 35. 178 Christoph Flaskamp, Stefan George, in: Literarischer Handweiser 55/1919, Sp. 359–362, hier: 361f. Flaskamp reagiert auf das Buch Stefan George. Ein deutscher Lyriker, Leipzig 1918, des notorischen Vorkämpfers rechtslastiger George-Panegyrik Will Scheller (vgl. Abschnitt 5.2.2.2.). 179 Paul Schmid, George, in: Preußische Jahrbücher 184/1921, S. 390–395, hier: 393. 180 Ebd., S. 394. 181 Ebd., S. 395. Auch der Theologe Heinrich Boehmer, Die Revolution in der Wissenschaft und die Theologie, in: Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 59/1926, Sp. 700–704, 724–728, hier: 728, stellt sich quer zur Tendenz einer Verklärung StGs aus kirchlicher Sicht und verurteilt die „Rehabilitierung des Irrationalen“ im George-Diskurs. 182 Fritz Strich, Stefan George, in: Zeitschrift für Deutschkunde 34/1925, S. 542–556, hier: 542. 183 Ebd., S. 554f. 184 Vgl. ebd., S. 555: „[Je] weiter George die Grenze der reinen Kunst überschritt und vom Gestalter zum Redner, vom Künstler zum ,Seher‘ sich wandelte, um so weniger wurden seine Vorzüge.“ 185 Ebd., S. 543. 186 Ebd., S. 555. 187 Ebd., S. 548.

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5.2.3.5. Zusammenfassung Angesichts der heftigen Kontroversen, zu denen StGs Werk vor dem Ersten Weltkrieg Anlass gegeben hatte, wäre eine ungleich breitere Front der Opposition in der Rezeption nach 1918 zu erwarten gewesen. Doch nur wenige Autoren wenden sich gegen die allgemeine Festschreibung StGs als nationale Identifikationsfigur. Seine Reputation als poetischer und kultureller ,Leitstern‘ gewinnt StG durch die generelle, im christlich-pazifistischen ebenso wie im rechtsnational-revanchistischen Spektrum verbreitete kulturkritische Geisteshaltung zur Zeit der Weimarer Republik. Das allseits begrüßte kulturkritische Ferment des Spätwerks absorbiert die Gefahr, dass StG zum Feindbild der jeweils entgegengesetzten Partei verkommen könnte, und bewahrt ihn davor, ein Opfer der scharfen politischen Auseinandersetzungen der Zeit zu werden. Das in diesem kreisexternen George-Kult konstruierte Bild des Dichters ist indes in einem nicht zu unterschätzenden Maße von den Vorgaben aus Gundolfs George-Monographie geprägt, wie sich anhand der oftmals fast wörtlichen Entsprechungen leicht nachweisen ließe. Die weithin anerkannte Bedeutung des Kreises in der Geschichts- und Literaturwissenschaft trägt ihr Übriges dazu bei, dass StG nunmehr häufig unbesehen zum einflussreichsten und wertvollsten Lyriker seiner Zeit erklärt wird, ohne dass, wie es noch nach der Veröffentlichung des Siebenten Rings der Fall war, eine vom ethischen Inhalt gesonderte ästhetische Beurteilung des Spätwerks den Ruhm des Dichters zu schmälern drohte. Wo StGs Ästhetik inzwischen als kanonisiert gelten darf und kaum noch Widerspruch hervorruft, entzündet sich bis zum Tod des Dichters nur noch der Streit um die Legitimität seiner Sakralisierung und um seine Stellung zum sich anbahnenden Machtwechsel. 5.2.4. Die Rezeption von 1928 bis 1932 5.2.4.1. Stimmen anlässlich des sechzigsten Geburtstags Gleich zwei Ereignisse, StGs sechzigster Geburtstag und das Erscheinen des letzten Gedichtbandes Das Neue Reich, geben 1928 Anlass zur retrospektiven Besinnung auf StG. Die Perspektiven haben sich im Vergleich zu den Vorjahren wenig geändert. Ein letztes Mal übt StG seine „nationalintegrative Funktion“188 aus und vereinigt die Sympathie entgegengesetzter Gruppierungen. Beispielhaft drückt dies Klaus Mann aus, der durchaus einen „geistige[n] Mensch“ für denkbar hält, „welcher Marx liest und sich trotzdem als George-Anhänger weiß“, um im Pathos der Zeit hinzuzufügen: Entziehen wir uns nicht der reinigenden Kraft, die ausstrahlt von diesem! Es ist die reinste und stärkste, die in unserem Jahrhundert lebendig. Wir brauchen uns, ob wir den lehrenden Propheten, ob wir den Dichter in ihm lieben wollen, nicht zu entscheiden, da beide so unzertrennbar in ihm verschmolzen sind.189 188 Kolk 1998, S. 433 (im Original kursiv). 189 Klaus Mann, Stefan George – Führer der Jugend (Rede, gehalten am 28.10.1928; zuerst gedruckt in: Ders., Auf der Suche nach einem Weg. Aufsätze, Berlin 1931, S. 121–130; wieder in: Wuthenow [Hrsg.], George in seiner Zeit, S. 231–237, hier: 236). Ein Blick in diesen leicht zugänglichen Text hätte Karlauf 2007, S. 594, vor dem Urteil bewahren können, dass 1928

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Die gesellschaftliche Brisanz, die StGs Werk in der Zwischenzeit entwickelt hat, lässt sich auch an der Umfrage der Literarischen Welt erkennen, die sich als „Plebiszit“190 über die mit öffentlichem Anspruch auftretende Lehre StGs verstand und Schriftsteller und Publizisten dazu aufforderte, ihre private Haltung zu StG kundzutun. Insgesamt halten sich die Interviewten jedoch mit Kommentaren zum politischen Wert oder Unwert der Dichtungen zurück und erweisen dem Dichter ihre kollegiale Reverenz. Von den Schriftstellern äußert sich einzig Bertolt Brecht despektierlich: Ich selber wende gegen die Dichtungen Georges nicht ein, daß sie leer erscheinen: ich habe nichts gegen Leere. Aber ihre Form ist zu selbstgefällig. […] Die Säule, die sich dieser Heilige ausgesucht hat, ist mit zuviel Schlauheit ausgesucht, sie steht an einer zu volkreichen Stelle, sie bietet einen zu malerischen Anblick …191

Walter Benjamin streift die „Lehre“ des Spätwerks nur kurz („die Lehre, wo immer auch ich auf sie stieß, weckte mir nichts als Mißtrauen und Widerspruch“192) und berichtet ausführlich von der Erschütterung, die er von StGs Lyrik in jungen Jahren empfangen hatte. Auch Martin Buber hält es für „angemessener“, von seiner jugendlichen Ergriffenheit zu sprechen, und schweigt über das, „was in meinem inneren Verhältnis zu George folgte, nachdem mein Weg abgebogen war.“193 Von einer umgekehrten Entwicklung berichtet Stefan Zweig: Er habe nach anfänglicher Verkennung StGs dessen Kunst erst spät zu verstehen gelernt. Zweig würdigt im Gegensatz zu seinen Kollegen StGs Einfluss auf die „Geistgeschichte zweier Generationen“ und bekennt schließlich, „für keinen lyrischen Dichter deutscher Gegenwart […] unbedingtere Bewunderung als für Stefan Georges lapidare Gestalt“ zu haben.194 Keiner der Beiträger bezichtigt StG oder seinen Kreis eines schädlichen gesellschaftlichen Einflusses oder auch nur politischer Fragwürdigkeit. An StGs sechzigstem Geburtstag strahlt die Sonne des Ruhms noch ohne den drohenden Schatten, den das sich ankündigende ,Dritte Reich‘ in den Folgejahren auf den Dichter und seinen Kreis werfen wird.

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„sich die meisten Autoren unter dem Strich allerdings einig [waren], dass ,die Zeit seiner äußerlichen Wirkung abgelaufen‘ sei“. Als weitere Gegenbeispiele für die von Karlauf zitierte Äußerung (Hans Dahmen, in: Der Volksfreund [Cleve], 11. Juli), seien genannt: Richard Grützmacher, Stefan Georges geistige Haltung, in: Preußische Jahrbücher 213/1928, S. 40–56; Luma, Stefan George. Zum 60. Geburtstage, in: Deutschenspiegel 5/1928, S. 1156–1162; Wolfram von den Steinen, Stefan George. Zum sechzigsten Geburtstag, in: Frankfurter Zeitung v. 12.7. 1928; Ernst Blass, Das neue Buch von Stefan George, in: Berliner Tageblatt v. 13.12.1928; Rudolf Borchardt, Der Dichter und seine Zeit, in: Deutsche Allgemeine Zeitung v. 12. u. 19.8. 1928, wieder in: Wuthenow (Hrsg.), George in seiner Zeit, S. 203–218, die allesamt die Aktualität StGs unterstreichen. Vgl. ferner die bei Kolk 1998, S. 433ff., gemusterten Beiträge aus diesem Jahr. Die literarische Welt Nr. 4 v. 13.7.1928. Alle Beiträge zit. nach: Willy Haas (Hrsg.), Zeitgemäßes aus der ,Literarischen Welt‘ von 1925–1932, Stuttgart 1963, S. 193–201. Ebd., S. 195. Ebd., S. 194. Ebd., S. 195. Ebd., S. 201.

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5.2.4.2. Wolters’ George-Biographie und ihre Folgen: Zersplitterung und Radikalisierung der politischen Interpretation Die Rezeption in den letzten Jahren von StGs Leben ist zum einen gekennzeichnet von der Überschattung durch die politischen Ereignisse im Vorfeld der Machtergreifung und zum anderen von einer teilweisen Entfernung der gemäßigt konservativen Literaturkritik vom sich unter Wolters’ Führung zunehmend rechts positionierenden George-Kreis. Noch bevor Wolters’ George-Biographie die bis dato wohlwollend kommentierenden kirchlichen Kritiker vor den Kopf stößt,195 leugnen manche Beobachter Verständigungsmöglichkeiten zwischen StG und dem Christentum. Im evangelischen Blatt Die Furche konzediert Ferdinand Cohrs zwar, dass StGs Religion durchaus kein „okkultistische[r] Humbug“196 sei, registriert aber dennoch eine „unübersteigbare Kluft“197 zum christlichen Glauben, die einen künftigen Dialog ausschließe. Der Germanist Paul Böckmann verweist in seiner ansonsten lobenden Würdigung zum sechzigsten Geburtstag auf das Unvermögen von StGs Weltanschauung, „den innerlich Gebrochenen noch zu umhegen oder den Schwachen in die jeweils größere Kraft mit aufzunehmen“ und spricht sich für die als „mehr zeitlich-demokratisch oder auch als christlich-sozial“198 zu bezeichnende Alternative aus. Werner Picht, der StG einige Jahre zuvor im katholischen Hochland noch als den (indirekten) „tiefsten Künder“199 einer christlichen Zukunft genannt hatte, zeigt sich nun indigniert über eine antichristliche Bemerkung, die StG „wenig überzeugend“200 in „Goethes lezte Nacht in Italien“ (IX, 7–10) dem Weimarer in den Mund gelegt habe, und erklärt den hybriden Versuch, im Neuen Reich eine „Einung der Besten […] auf absolutistischen Willenszwang zu gründen“,201 für endgültig gescheitert. Als Reaktion auf Wolters’ Abrechnung mit dem Katholizismus nennt Cornelius Schröder – ebenfalls einst glühender Verehrer StGs202 – das auf „das reine Menschentum“ zentrierte Weltbild „ein abstraktes Denkgebilde, eine Utopie“ und ein „selbstherrliches Unterfangen“;203 Johannes Mumbauer verbittet sich ebenfalls Wolters’ „niedrige, kränkende Polemik“204 gegen den Katholizismus und warnt vor der gegenwärtigen Tendenz, StGs Ideen von einer „widerchristlichen, vergotteten Welt […] auf die Volkserziehung anzuwenden.“205 195 Vgl. die spöttische Absage Wolters’ an die Versuche, „,Dialogmöglichkeiten‘“ zwischen Kirche und StG aufzusuchen: FW, S. 502–507, hier: 505. 196 August Ferdinand Cohrs, Stefan George, in: Die Furche 14/1928, S. 34–62, hier: 47. 197 Ebd., S. 57. 198 Paul Böckmann, Der Formanspruch in der Dichtung Stefan Georges, in: Zeitschrift für deutsche Bildung 4/1928, S. 308–319, hier: 319. 199 Picht, George als Richter, S. 94; vgl. Abschnitt 5.2.3.3. 200 Werner Picht, Das neue Reich. Zu Stefan Georges neuem Gedichtband, in: Der Kunstwart 42/1929, S. 294–298, hier: 295. 201 Ebd., S. 298. 202 Vgl. Abschnitt 5.2.3.1. 203 Cornelius P. Schröder O.F.M., Stefan George, in: Theologie und Glaube 22/1930, S. 497–500, hier: 500. 204 Johannes Mumbauer, Stefan George in katholischer Schau, in: Literarischer Handweiser 66/1930, Sp. 401–408, hier: 406. 205 Ebd., Sp. 407. Mumbauers Angriff gilt nur dem weltanschaulichen Sendungsbewusstsein des

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Auch nicht-konfessionell argumentierende Kritiker stoßen sich bei aller Wertschätzung StGs vermehrt am Personenkult, der „auf den Außenstehenden abstoßend und lächerlich wirkt“,206 und am „Weihetum“ und dessen „Rest von Mystagogie, den gesunder Instinkt ablehnt und ablehnen darf“.207 Wolters’ „zentrifuger Superlativismus“,208 der StG mehr schade „als alle Anpöbelungen, denen er jemals ausgesetzt war“,209 wird nun immer häufiger mit Unwillen zur Kenntnis genommen. Karl Vie¨tor weist vorsichtig auf eine politische Gefahr hin, die von Wolters’ Biographie auszugehen vermöge: „Man könnte sich denken, daß moderne Theorien der Gewalt sich aus solchen Anschauungen die ihnen bisher fehlende Ideenlehre usurpierten.“210 Klartext spricht hingegen der Österreicher Oskar Benda, der sich nicht scheut, den George-Kreis einen „bewußte[n] Wegbereiter des ,dritten Reiches‘“211 zu nennen. StG verhalte sich „zu Hitler, von den Größenverhältnissen abgesehen, in jeder Hinsicht wie D’Annunzio zu Mussolini.“212 Als Grundlage für Bendas Unterstellung einer faschistischen Grundhaltung des George-Kreises dient Wolters’ Buch ebenso wie für den leidenschaftlichen Angriff des Schriftstellers Friedrich Franz von Unruh auf die nationalsozialistische George-Rezeption. Unruh bezweifelt, dass StG eine solche Lesart fördere, konstatiert aber eine Affinität „zwischen einer von StG verabscheuten Barbarei und dem Gebaren seines Kreises“213 und sieht Parallelen zwischen Wolters’

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George-Kreises, nicht aber dem Dichter StG, den er sich nicht scheut, einen „strahlenden Genius“ (ebd.) zu nennen. Auch Cornelius Schröders Wertschätzung StGs als Sprachkünstler hat im Übrigen keinen Schaden genommen. Meta Schubert, Stefan George und Hölderlin, in: Zeitwende 4/1928, S. 537–548, hier: 546. Aber auch hier zudem der Einwand: „Die ,Vergottung‘ des Menschen führt schließlich notwendig zur Hybris“ (S. 547f.). Adam Kuckho, Stefan Georges Gesamtwerk, in: Die Tat 20/1928, S. 383ff., hier: 385. Albert H. Rausch, Ja und Nein. Bemerkungen zu zwei Büchern über den George-Kreis, in: Die Literatur 32/1930, S. 326–329, hier: 329. Ders., Stefan Georges letztes Buch: ,Das Neue Reich‘, in: Kölnische Zeitung v. 12.10.1930. Rausch hatte sich anlässlich der Verleihung des Goethe-Preises 1927 weit freundlicher geäußert, wohl auch weil er damals noch auf einen Ausbruch des ,Mitleids‘ in der sozialen Frage bei StG gehofft hatte (Albert H. Rausch, Stefan George, in: Frankfurter Zeitung v. 31.8.1927). – Eine weitere scharfe Kritik an Wolters’ ,Lehre‘, verbunden mit einer klugen Analyse der Bedingungen, die den öffentlichen George-Kult bewirken konnten („Es gibt keine bessere Vorbedingung für die Durchsetzung einer geistigen Bewegung, als wenn sie in ein Vakuum einbricht.“), gibt E[dith] Erdsiek, Stefan George, ein Führer oder ein Magier?, in: Die Tatwelt 6/1930, S. 1–10, hier: 8. „E. Erdsiek“ ist im Übrigen kein Pseudonym für die Ehefrau Rudolf Euckens, Irene Eucken (so aber bei GPL, Nr. 874, aufgelöst), sondern der Mädchenname der Frau Walter Euckens, Edith Erdsiek-Eucken. Vgl. etwa Lüder Gerken, Walter Eucken und sein Werk, Tübingen 2000, S. 66. Karl Vie¨tor, [Rez. zu FW], in: Deutsche Literaturzeitung 51/1930, Sp. 1270–1278, hier: 1275, zit. nach Kolk 1998, S. 437. Diese Feststellung hinderte Vie¨tor indes nicht daran, bei der Machtübernahme sich für die Neugestaltung der Hochschule in den Dienst nehmen zu lassen. Vgl. Christa Hempel-Küter, Germanistik zwischen 1925 und 1955, Berlin 2000, S. 26. Vie¨tor emigrierte schließlich 1937 mit seiner jüdischen Frau. Oskar Benda, Die Bildung des dritten Reiches. Randbemerkungen zum gesellschafts-geschichtlichen Sinnwandel des deutschen Humanismus, Wien, Leipzig [1931], S. 15 (Anm.). Ebd. Friedrich Franz von Unruh, Stefan George und der deutsche Nationalsozialismus, in: Die Neue Rundschau 43/1932, S. 478–492, hier: 479.

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Wissenschaftsprinzip und Hitlers Propaganda.214 StGs „Reich“ verliere innerhalb des Werks nie den „Rang einer Idee.“215 Eben dieser Unterschied werde von Mitgliedern des Kreises und den Nationalsozialisten nun aber konsequent aufgehoben, wofür StG letztlich haftbar zu machen sei.216 Obwohl diese Vorwürfe angesichts des Einzugs von StG in nationalistische Zeitschriften wie die Standarte oder in das Goebbels-Blatt Der Angriff nicht von der Hand zu weisen sind,217 erfährt StG im Streit um die politische Verantwortung seiner Wirkung auch Rückendeckung von Gegnern des Nationalismus. Die sozialdemokratische Monatsschrift Der Kampf räumt ein, StG habe „zweifellos ohne es zu wollen“, mit seiner Kriegsdichtung nationalsozialistischen Autoren die Möglichkeit eröffnet, „ihrer Meinung vom Heldentum des modernen Krieges die Weihe eines Zitates aus Stefan George zu geben“, doch gebe dies nur das „verzerrte Abbild“ und die „Parodie“ einer literarischen Größe ab.218 Auch seitens der Opfer nationalsozialistischer Agitatorik erfährt StG entlastenden Zuspruch. In der Zeitschrift des jüdischen Centralvereins wendet sich Fritz Friedländer mit dem Hinweis auf die jüdischen Mitglieder des Kreises gegen Bendas Thesen und plädiert für die künstlerische Autonomie von StGs „Staatsidee“.219 5.2.5.

Die Rezeption im ,Dritten Reich‘

5.2.5.1. Das Jahr 1933 Die bis dahin kontrovers geführte Debatte über StGs geistige Nähe zum ,Dritten Reich‘ war in dem Moment für entschieden erklärt, als dieses Realität wurde.220 Als im Sommer 1933 die Glückwunschartikel zum fünfundsechzigsten Geburtstag geschrieben wurden und im Winter die Nachrufe, war die Mehrheit der deutschen Presse bereits gleichgeschaltet. Die Versuche der nationalsozialistischen Regierung, StG zum offiziellen Staatsdichter zu erheben, sind bereits ausführlich dargestellt

214 Nicht auf Wahrheit, sondern auf „pädagogische Wirkung komme es an“, wobei „Hitler die Entschuldigung hat, als Politiker, nicht als Wissenschaftler zu sprechen.“ Ebd., S. 486. 215 Ebd., S. 492. 216 Ebd., S. 479: „Werk und Wirkung Georges sind zwar nicht der breiteste, aber der tiefste Strom, aus dem der Nationalismus, soweit er geistig fundiert ist, schöpft.“ Ebd., S. 488: „[D]ie Diktatur, die George verwirklicht, [enthält] die schwerste Bedrohung gerade des deutschen Wesens.“ 217 Vgl. Eugen Schmahl, Stefan George, in: Die Standarte 3/1928, S. 319–322; [Anonym], Stefan George. Weltgang des Dichters, in: Die Standarte 5/1928, S. 1202–1206; Peter Hagen, Brücke zwischen zwei Epochen. Stefan George an der Wende der Zeiten, in: Der Angriff v. 28.11.1932. 218 Fritz Brügel, Nationalsozialistische Ideologie, in: Der Kampf 24/1931, S. 105–117, hier: 114. 219 Fritz Friedländer, Stefan George – ein Schrittmacher Hitlers?, in: Zeitung des Centralvereins der Staatsbürger jüdischen Glaubens 11/1932, S. 41. Auch nach der Machtübernahme bekennen sich Vertreter der jüdischen Gemeinde mit ähnlichen Argumenten zu StG. Vgl. die Nachrufe von Michael Graupe, Stefan George, in: ebd. 12/1933 (7. Dezember 1933) und Berta Badt-Strauss, Juden um Stefan George, in: Jüdische Rundschau 38/1933, S. 1001. Inwieweit diese Artikel allerdings den Zensurbedingungen unterlagen, die einen kritischeren Umgang mit der nationalsozialistischen Vereinnahmung des Werks verhinderten, kann nicht mehr festgestellt werden. 220 Vgl. Stockert, Wirkungsgeschichte, S. 67.

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worden.221 Sie reichen von dem von StG abgelehnten Angebot des Vorsitzes der „Dichterakademie“ der Preußischen Akademie der Künste über zahlreiche den Dichter zum geistigen Wegbereiter und Künder des ,Dritten Reichs‘ stilisierende Artikel in parteieigenen und gleichgeschalteten Zeitschriften bis hin zu plumpen Fälschungen. So ist ein offensichtlich fingiertes Gedicht in den Burschenschaftlichen Blättern, das zum „Gehorsam“ gegenüber der Bewegung aufruft, mit dem Namen StGs gezeichnet.222 In einem Nachruf ist zu lesen, dass „Reichsminister Dr. Goebbels dem engen, vertrauten Kreise um George angehört“ habe,223 und StGs brieflich gegenüber Ernst Morwitz geäußertes vages Bekenntnis, er leugne „die ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung […] durchaus nicht“,224 wurde vielfach nach seinem Tode in dem verfälschten Wortlaut „Ahnherrschaft der neuen nationalsozialistischen Bewegung“ wiedergegeben.225 Zu den Falschinformationen gehört auch die Behauptung, die seit 1910 für manche Veröffentlichungen des Bondi-Verlags verwendete Swastika habe als nationalsozialistisches „Hakenkreuz“ und gleichsam als „Banner der Zukunft“ gedient.226 Wo das (fehlende) direkte und öffentliche Bekenntnis StGs nicht erfunden wird, behaupten die Redakteure der rechten Presse die ideelle ,Ahnherrschaft‘, indem sie auf ,Werte‘ in StGs Vision verweisen, die denen der nun etablierten Staatsform entsprächen. In einem letzten Schritt der Vereindeutigung von StGs dichterischem Werk wiederholen sich die schon seit den 20er-Jahren kursierenden Schlagworte der „neuen sittliche[n] Ordnung“,227 der „Zucht und Ordnung“,228 der „Rangordnung des Edlen und Echten“229 und des „ewigen Deutschtums“230 nun in einer direkten Übertragung 221 Vgl. neben Kolk 1998 die Studien von Simoneit, Politische Interpretationen; Michael Winkler, Aspekte der Rezeption Stefan Georges in Dichtung und Polemik des Dritten Reiches und des Exils, in: Wolfgang Elfe (Hrsg.), Deutsche Exilliteratur. Literatur im Dritten Reich, Bern u. a. 1979, S. 79–92; Stockert, Wirkungsgeschichte; Würffel, ,Der Dichter in Zeiten der Wirren‘; Petrow, Der Dichter als Führer? 222 Dokumentiert bei Würffel, ,Der Dichter in Zeiten der Wirren‘, S. 229f. 223 Karl Schönewolf, Das Werk Stefan Georges. Zum Tode des großen Dichters, in: Dresdner Neueste Nachrichten v. 6.12.1933, zit. nach Petrow, Der Dichter als Führer?, S. 70. 224 StG an E. Morwitz v. 10.5.1933, mit der Bitte um „wortgetreu[e]“ Weiterleitung an die betreffende Stelle und Nichtveröffentlichung. Der vollständige Passus des in einer Abschrift von Morwitz im Stuttgarter Stefan George Archiv verwahrten Briefes lautet: „die ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung leugne ich durchaus nicht [eingefügt: ab] und schiebe auch meine geistige mithilfe [geändert in: mitwirkung] nicht beiseite. Was ich dafür tun konnte habe ich getan, die jugend die sich heut um mich schart ist mit mir gleicher meinung […] das märchen vom abseitsstehn hat mich das ganze leben begleitet – es gilt nur fürs unbewaffnete auge. Die gesetze des geistigen und des politischen sind gewiss sehr verschieden – wo sie sich treffen und wo geist herabsteigt zum allgemeingut das ist ein äusserst verwickelter vorgang. Ich kann den herrn der regierung nicht in den mund legen was sie über mein werk denken und wie sie seine bedeutung für sie einschätzen.“ 225 Stockert, Wirkungsgeschichte, S. 83, zählt 27 Fälle. 226 Erwin Metzner, Das Vermächtnis des Dichters. Ein Nachruf auf Stefan George, in: Nationalsozialistische Landpost, Folge 50 v. Dez. 1933, zit. nach Kolk 1998, S. 499. Ebenso Ernst Bertram, der es hätte besser wissen können, in seinem Vortrag „Deutscher Aufbruch“, in: Deutsche Zeitschrift 46/1933, S. 609–619, hier: 613. 227 Hagen, George der Künder. 228 Walther Linden, Stefan George und die Erfüllung. Zum 65. Geburtstage des Dichters am 12. Juli, in: Leipziger Neueste Nachrichten v. 12.7.1933. 229 Ernst Laurenze, Der Dichter als Führer. Stefan George zum 65. Geburtstag, in: Burschenschaftliche Blätter 48/1933, S. 254–256, hier: 254.

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auf den NS-Staat. StGs ,Prophetie‘ vom ,Neuen Reich‘, das selbst ein rechtsgerichteter Autor 1929 noch bedauernd in eine unbestimmte Zukunft verlegt,231 wird nun als wahr geworden verkauft: „Nietzsche war der Warner, StG vollendet dessen Mahnung und wurde Seher, Künder und Deuter. Hitler wurde der Führer, wurde der Träger des neuen Adels, von dem George sang.“232 Die fatale Rede vom ,Seher‘, ,Propheten‘ und ,Führer‘, die auch von dem Nationalsozialismus denkbar fernstehenden Autoren jahrelang perpetuiert wurde, erlaubt und forciert geradezu die Inanspruchnahme des Dichters durch das Regime. Nicht nur Wolters, Uxkull und Hildebrandt,233 auch Kreis-Mitgliedern wie Edith Landmann, die bereits 1931 StGs Erfindung der „staatliche[n] Dichtung“234 rühmen zu müssen glaubte, ist es anzulasten, wenn die Bezeichnung StGs als „staatlicher Dichter“235 im Jahr 1933 als wohlfeiler Begriff in den Gazetten kursiert. Trotz der offensichtlichen Sinnverschiebungen unterscheidet sich das Vokabular der George-Literatur im Jahre 1933 nicht wesentlich von dem der vorangegangenen Jahre. Der vom George-Kreis initiierte Kult wendet sich nun jedoch, von der Dynamik der politischen Ereignisse erfasst und instrumentalisiert, gegen einen Teil seiner Urheber, insbesondere natürlich gegen die jüdischen Mitglieder des Kreises. Offen lässt sich nur noch im Ausland schreiben. Klaus Mann, bereits im Exil, reflektiert seine eigene und die Rolle derjenigen Intellektuellen, die zu lange an die politische Folgenlosigkeit der Verehrung gerade dieses Dichters geglaubt hatten, folgendermaßen: Wir feierten den sechzigsten Geburtstag Stefan Georges. […] Ist es wirklich erst fünf Jahre her? Man lebte damals wohl in einem Zustand größerer Unschuld als heute. Das heißt: man meinte die geistigen Werte, wenn man von ihnen sprach, nicht ihre Ausmünzung, ihre Verzerrung und Herabsetzung ins Tagespolitische. […] In einer Art von hochmütiger Naivität glaubte man sich von dieser Sphäre derart distanziert, daß man sich einfach nicht um sie kümmern mochte.236

Mann hält gleichwohl an StG fest und interpretiert dessen öffentliches Schweigen als Absage: „[E]r identifiziert sich nicht mit diesem neuen Deutschland.“237 In einer anderen prominenten Exilzeitschrift äußert sich Ludwig Marcuse ähnlich zum Schweigen StGs,238 fügt aber hinzu: „Der Dichter Stefan George ist in aller Unschuld 230 Werner Hillbring, Stefan George. Ein Priester der Nation, in: Im Lampenlicht. Sonntagsblatt der Thüringischen Staatszeitung v. 10.12.1933. 231 Vgl. Kurt Busse, Stefan Georges ,Neues Reich‘, in: Preußische Jahrbücher 215/1929, S. 175–180, bes. S. 179. 232 Hagen, George der Künder. 233 Vgl. zum Verhalten Hildebrandts und Uxkulls unmittelbar vor und nach der Machtübernahme Kolk 1998, S. 492f. 234 Edith Landmann, Stefan George: Das Neue Reich, in: Logos 20/1931, S. 88–104, hier: 90, in Bezug auf die Kriegsgedichte, die eine „neue Gattung der Poesie“ in Deutschland eingeführt hätten. 235 Heinrich Lützeler, Stefan George als staatlicher Dichter. Zu seinem Geburtstag am 12. Juli, in: Kölnische Volkszeitung v. 12.7.1933. 236 Klaus Mann, Das Schweigen Stefan Georges, in: Die Sammlung (Amsterdam) 1/2/1933, S. 98–103 (wieder in: Wuthenow [Hrsg.], George und die Nachwelt, S. 7–12, hier: 7). 237 Ebd., S. 9. 238 Vgl. Ludwig Marcuse, Der Kaiser ohne Reich, in: Das neue Tage-Buch 1/1933, S. 574f., hier: 574: „[E]r schwieg sein Nein, als ganz Deutschland sich wie ein einziges George-Gedicht vor-

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nicht unschuldig an dem Dunkel, das jetzt auf Deutschland lastet.“239 Noch in der Heimat, aber unter dem Pseudonym K. A. Stempflinger wagt Walter Benjamin, das Schweigen als den Ausdruck einer grundsätzlichen Distanz zwischen Kunst und Politik zu interpretieren: Stefan George schweigt seit Jahren. Indessen haben wir ein neues Ohr für seine Stimme gewonnen. Wir erkennen sie als eine prophetische. Das heißt nicht, dass George das historische Geschehen vorausgesehen hätte. Das macht den Politiker, nicht den Propheten.240

Von staatlicher Seite hingegen wird das Schweigen, wie gesehen, verleugnet, seinerseits totgeschwiegen oder als „Ausdruck jener äußersten Zurückhaltung“ gedeutet, die „das ganze Leben dieses vornehmen Menschen gekennzeichnet hat.“241 Gewiss ist zu differenzieren zwischen der Stellungnahme ,offizieller‘ Verlautbarungen und jener von „Vertreter[n] der bürgerlichen, konservativen und nationalen Presse, die nun unter veränderten Bedingungen ihre Position zum Thema George und der Nationalsozialismus finden mußten.“242 Zu Recht weist Michael Petrow hiermit auf einige Artikel in Tageszeitungen hin, die der Gleichsetzung von StGs ,Neuem Reich‘ und dem ,Dritten Reich‘ implizit widersprechen.243 Allein, die quantitative und bedeutungsmäßige Disproportion zwischen diesen sowie den freilich ebenfalls existierenden „politikfernen Würdigungen“ einerseits und den eindeutig vereinnahmenden Texten andererseits lässt meines Erachtens die Folgerung, es habe „1933 keine geschlossene Front der Anerkennung Georges“244 gegeben, zumindest missverständlich erscheinen. Wenn von den 32 von Petrow ausgewerteten Artikeln „mehr als die Hälfte den Dichter nicht als Vorläufer des nationalsozialistischen Regimes in Anspruch nimmt“,245 so ist der Akzent mithin wohl eher auf jene nicht eben wenigen Artikel zu setzen, die dies gerade tun. Auch die Tatsache, dass 1933, soweit ich sehe, in Deutschland kein einziger in offener Opposition zu StG stehender Artikel erscheint, obwohl es solche bis in die jüngste Zeit vor der Machtergreifung gegeben hat, spricht dafür, dass von offizieller Seite eine ,geschlossene Front der Anerkennung‘ sowohl erwünscht als auch weitgehend aufgestellt war. Ein weiterer Schritt zur Kanonisierung StGs als Nationaldichter vollzieht sich auf dem Gebiet der Pädagogik. In zahlreichen fachdidaktischen Aufsätzen wird StG als im Deutschunterricht bevorzugt zu behandelnder Autor propagiert, wobei auch hier Kontinuitäten zu verzeichnen sind. Eine Monographie, die StG als Gegenmittel zu

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kam und ihn dringend als lyrische Ueberschrift zu höchst unlyrischen Handlungen benötigte. Es wäre auch tatsächlich grotesk gewesen, wenn er, der zeitlebens seinem Verleger jede laute Reklame verbot, eine Zug-Nummer des Propaganda-Ministeriums geworden wäre.“ Ebd., S. 575. K. A. Stempflinger [d. i. Walter Benjamin], Rückblick auf Stefan George, in: Frankfurter Zeitung v. 12.7.1933 (wieder in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 3, Frankfurt/M. 1972, S. 392–399, hier: 392). [Anonym], Stefan George gestorben. Ein Prophet des Dritten Reiches, in: Kreuz-Zeitung v. 4.12.1933, zit. nach Kolk 1998, S. 502. Petrow, Der Dichter als Führer?, S. 22. Vgl. ebd., S. 31ff. Ebd., S. 23. Ebd., S. 22, Herv. i. Orig.

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einem „einseitige[n] und überbetonte[n] Intellektualismus und Individualismus“246 empfiehlt, war bereits 1930 in der zweiten Auflage erschienen. 1932 begrüßt Paul Beyer, dass StG „seinen Einzug in die höheren Schulen genommen“ hat,247 und berichtet stolz von der Erfahrung, dass bei der Rezitation von StGs Gedichten die Gymnasiasten „ganz ohne Kommando gerade, d. h. in Bereitschaftsstellung“ stünden.248 Aus genuin nationalsozialistischem Blickwinkel mustern die Aufsätze aber erst ab 1933 StGs Werk und geben Lehrern eine „Auswahl von Versen [StGs] aus dem Gesichtspunkt der gegenwärtigen nationalen Selbstbesinnung“249 an die Hand. „Schönheit und Zucht“ seien „die Vorbedingungen für Führertum und Gefolgschaft“,250 weswegen StG als Schulautor empfohlen wird, erstaunlicherweise sogar für die Volksschule.251 5.2.5.2. Schrittweiser Reputationsverlust: Postume George-Rezeption bis 1945 Die Festschreibung StGs als ,Seher des Dritten Reiches‘ „in Anthologien, literaturwissenschaftlichen Abhandlungen und Schulbüchern“252 setzt sich etwa zwei Jahre lang mit unverminderter Redundanz fort.253 Ab 1935 zeigt sich jedoch, wie wenig StG und die Struktur seines Kreises letztlich dazu geeignet waren, bruchlos in das System der NS-Ideologie integriert zu werden. Die Hauptangriffspunkte sind der esoterische Charakter des Kreises und seine elitäre Selbstauffassung sowie die jüdischen Mitglieder. Die eher unfreiwillige Initialzündung für antisemitische Angriffe auf den George-Kreis liefert ein Buch des Norwegers Arvid Brodersen, das in dem vom späteren Castrum Peregrini-Herausgeber Wolfgang Frommel gegründeten Verlag Die Runde erscheint und nachdrücklich auf die Bedeutung der jüdischen Freunde StGs verweist: 246 Otto Kohlmeyer, Stefan George und die Persönlichkeitsgestalt als Erziehungsziel in Deutschlands Zeitenwende, Magdeburg 1929 (2. Aufl. 1930), S. 145. 247 Paul Beyer, Stefan George und die heutige Jugend, in: Zeitschrift für Deutschkunde 46/1932, S. 676–685, hier: 676. 248 Ebd., S. 680. Zur Ehrenrettung Paul Beyers ist zu betonen, dass er ausdrücklich gegen Wolters eine mögliche „Verbindung“ zum ,Dritten Reich‘ abstreitet. Selbst das Spätwerk biete hierfür „keine Gewähr“ (S. 685). Eine Kontinuität zur nationalsozialistischen George-Rezeption liegt hier dennoch in dem Sinne vor, wie man von einer Kontinuität vom Militarismus zum NS-Staat sprechen kann, also im Sinne von Ermöglichungsgrund und einer Vorreiterfunktion. 249 Hans Taeger, Stefan George und unsere Gegenwart, in: Zeitschrift für Deutschkunde 47/1933, S. 485–486, hier: 485. Die Auswahl umfasst lediglich Gedichte ab dem Siebenten Ring. Hans Dahmen, Stefan George und die nationale Erziehung, in: Zeitschrift für deutsche Bildung 9/1933, S. 375–382, hier: 379, ,zeigt‘ hingegen, dass sich die von StG vorgelebte „neue Ordnung“ bereits im Jahr der Seele bekunde, und empfiehlt Gedichte aus allen Schaffensphasen. 250 Viktor A. Schmitz, Pädagogische Kräfte im Werk Stefan Georges, in: Zeitschrift für Deutschkunde 47/1933, S. 474–485. Ich verzichte darauf, weitere Belege aus den zahlreichen, in ähnlichem Gestus verfassten pädagogischen Aufsätzen zu zitieren. Vgl. neben den weiteren bei GPL verzeichneten Aufsätzen (Nr. 1092, 1144, 1200, 1210, 1213, 1286) auch die umfangreiche, wenn auch nicht vollständige kommentierte Auflistung bei Kolk 1998, S. 504, Anm. 90. 251 Vgl. W. Kramer, Stefan George in der Volksschule, in: Die Volksschule 1934, S. 365–372. 252 Stockert, Wirkungsgeschichte, S. 84. 253 Für eine recht ausführliche Zusammenstellung von Zitaten aus dem Zeitraum 1933–1935 siehe Simoneit, Politische Interpretationen, S. 45–88.

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Viele seiner nächsten Freunde und Begleiter waren und sind heute noch – jüdischer Herkunft. Wir halten es gerade in dieser Zeit für unsere Pflicht, dies unzweideutig auszusprechen, und möchten denen, die sich für befugt halten, aus dieser Tatsache dem Dichter einen Vorwurf zu machen, einfach erwidern: die jüdisch-deutschen Freunde sind aus Georges Leben und Werk nicht fortzudenken.254

Brodersens naiv zu nennender Versuch, das Judentum als ,völkische Kraft‘ zu rehabilitieren,255 misslingt gänzlich und ruft Gegenreaktionen hervor, in denen nationalsozialistische Autoren selbst die Inadäquatheit des nationalsozialistischen George-Bilds unterstreichen. Ein Rezensent schreibt, es werde hier „mit begrüßenswerter Offenheit ein Problem berührt, an dem sich die George-Literatur heute gerne vorbeidrückt: die Stellung des Dichters zur Rassenfrage.“256 Noch deutlicher wird ein weiterer Rezensent, der Germanist Rudolf Ibel, der vor dem Hintergrund der „Judenfreundschaft“ StGs den bisherigen Umgang mit StG infrage stellt: „Wir lehnen es ab, daß ausgerechnet ein jüdisch durchsetzter Kreis die Keimzelle eines neuen Reiches sein soll, daß von hier aus die geistige Erneuerung Deutschlands sich vollziehe und vollzogen habe.“257 Der Staat geht in der Folge deutlich auf Distanz. Der anlässlich des Todes des Dichters von Goebbels gestiftete „Stefan-George-Preis“ wird nach nur einmaliger Verleihung (1934 an Richard Euringer) 1935 in „Nationaler Buchpreis“ umgetauft; der Völkische Beobachter und der Stürmer äußern sich am zweiten Jahrestag des Todes nun mit deutlicher Ablehnung.258 Wenngleich die NS-Kulturpolitik StG Ende 1935 fallen lässt, wirkt doch die Konstruktion StGs als Künder und Repräsentant des ,Dritten Reichs‘ von 1933/34 – so in einigen Dissertationen259 – noch eine gewisse Zeit nach. Ende der 30er-Jahre findet der Name Stefan George dann schon kaum mehr Beachtung im Feuilleton. „Ist Georges Ruhm verblaßt?“260 lautet die Frage am Gedenktag zum siebzigsten Geburtstag, der fast nur noch in Regionalzeitungen Beachtung findet.261 In der Germanistik taugt der George-Kreis danach hauptsächlich als Gegenstand, von dem man sich abstößt, um politische Linientreue zu demonstrieren. So sieht Hans Rößner, Germanist und SS-Mitglied, „in der Literaturwissenschaft des Georgekreises [….] eine gefährliche Bedrohung der völkisch-politisch verantwortlichen Wissenschaft“ und fordert „kom254 Arvid Brodersen, Stefan George. Deutscher und Europäer, Berlin 1935, S. 69. 255 Vgl. zu Brodersens Veröffentlichungen im Verlag Die Runde: Günter Baumann, Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Würzburg 1995, S. 202–213, hier bes. 205. 256 Robert Stumpfl, Arvid Brodersen: Stefan George, Deutscher und Europäer, in: Zeitschrift für Deutschkunde 50/1936, S. 295. 257 Rudolf Ibel, Stefan George in dieser Zeit, in: Völkische Kultur 3/1935, S. 553–560, hier: 557. 258 Vgl. J. Pabst, Zum Todestag von Stefan George, in: Völkischer Beobachter v. 4.12.1935 (zur Distanz StGs, das als ein „bewußtes Sich-Abwenden vom Volk“ gerügt wird [zit. nach Kolk 1998, S. 502]); Christa-Maria Rock, Stefan Georges Tod, in: Der Stürmer 11/1935 v. 4.12.1935 (mit antisemitischer Hetze). 259 Vgl. Otto Diehl, Stefan George und das Deutschtum, Diss. Gießen 1936; Hans Gerhard, Stefan George und die deutsche Dichtung, Diss. Gießen 1937; Margarete Klein, Stefan George als heldischer Dichter unserer Zeit, Heidelberg 1938 (Diss. ebd. 1937). 260 Walter Schmiele, Ist Georges Ruhm verblaßt?, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Berlin v. 10.7.1938. 261 Vgl. die Auflistung in: Die Literatur 40/1937/1938, S. 741f. (mit dem Abdruck einer Zeitungsnotiz, die StGs Verdienst um die ,Bewegung‘ erwähnt).

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promißlose Entscheidungen“262 gegen ihn. Als „ästhetische Haltung“ eines überlebten ,Humanismus‘ diskreditiert, wird StGs „geistige Bewegung“ von den Nationalsozialisten der „neuen und gänzlich neu zu bewältigenden Wirklichkeit“263 nachträglich wieder entgegengestellt. 1943 beschließt das Propagandaministerium die damnatio memoriae des Kreises. Am fünfundsiebzigsten Geburtstag soll StG „lediglich als zeitbedingte Einzelpersönlichkeit“ erwähnt werden. Der George-Kreis „ist nicht zu berühren“.264 In den letzten beiden Kriegsjahren erscheint in Deutschland kein Beitrag mehr zu StG. 5.2.6. Schlussbetrachtung Nach dem verhaltenen Echo der Anfangsjahre, das sich zunächst in den Eigendarstellungen der Blätter-Mitarbeiter und den Verrissen anti-symbolistisch eingestellter Autoren erschöpft, gelingt es StG in der zweiten Hälfte der 1890er-Jahre, bedeutende Wissenschaftler und Schriftsteller für sich zu gewinnen, die sich für sein Werk einsetzen. Von Anfang an geben sich zwei unterschiedliche Typen von George-Förderern zu erkennen. Auf der einen Seite befürworten poetologisch argumentierende Akademiker die revolutionären Sprachdichtungen StGs als die moderne lyrische Antwort auf das ausgehende neunzehnte Jahrhundert, auf der anderen Seite setzen Kritiker das vom George-Kreis konstruierte Bild des ,Sehers‘ fort, das ein überzeitliches, sakrales Künstlertum in StG verwirklicht sieht. Gleichwohl stößt auch nach den ersten öffentlichen Ausgaben das Werk tendenziell eher auf Ablehnung, vor allem bei Vertretern der konservativen Literaturwissenschaft. Die Hauptvorwürfe lauten, StGs ,Formkunst‘ sei Formenspielerei, gefühllos, unverständlich, kalt und vor allem undeutsch, wenn auch die sprachliche Virtuosität nur den wenigsten verborgen bleibt. Mit dem Erscheinen des Siebenten Rings verschieben sich die Perspektiven, und neue Themen beherrschen die Diskussion: Das Interesse verlagert sich von der Form auf den Inhalt. Die vom George-Kreis zunehmend als inadäquat empfundene poetologische Interpretationsmethode des Berliner Wissenschaftskreises tritt zurück hinter eine stärker auf die inhaltliche Aussage fokussierende Auslegungstradition, die der ,ethischen Wende‘ StGs Rechnung trägt. Die ,Formstrenge‘ gilt wohlwollenden Kritikern nun als Ausweis der Sittlichkeit des Autors, der seine symbolistische Scheinwelt verlassen habe und seine Dichtung als gesellschaftlichen Auftrag oder als Mittel zur Selbstvervollkommnung begreife, während andere den politischen Gehalt der Zeitgedichte als ästhetisch misslungene Fluchtbewegung des zur Entwicklung unfähigen ,Neuromantikers‘ ablehnen. Zugleich wird die Frage nach dem Nationalcharakter der Dichtungen neu beantwortet. Erste Stimmen werden laut, die in StGs Sprache und ,Ethik‘ eine spezifisch deutsche Kunsttradition wirksam sehen. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt sich StGs Werk endgültig zum Politikum. In zahlreichen Studien wird StG nicht nur zum besten deutschen Dichter, sondern auch 262 Hans Rößner, Georgekreis und Literaturwissenschaft. Zur Würdigung und Kritik der geistigen Bewegung Stefan Georges, Frankfurt/M. 1938, [Vorbemerkung, o. S.]. Vgl. zur Karriere Hans Rößners Kolk 1998, S. 517–520. 263 Rößner, Georgekreis und Literaturwissenschaft, S. 213. 264 Anweisung des Zeitschriftendiensts vom 9. Juli 1943, zit. nach Strothmann, Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 299, Anm. 147.

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zum wichtigsten gesellschaftlichen Leitbild erklärt. Mehrere Faktoren haben diese Entwicklung möglich gemacht. Zunächst nimmt der Kreis in der Geisteswissenschaft der 20er-Jahre mehr und mehr eine dominante Stellung ein und gewinnt sichtbaren Einfluss auch auf das öffentliche George-Bild. Gundolfs 1920 erschienene Monographie nimmt für fast ein Jahrzehnt eine kanonische Stellung ein und ruft zahllose Dubletten seiner Ansichten aus der Feder kreisexterner Interpreten hervor. Vor allem die Annahme, StG habe den Krieg mit seherischer Kraft vorausgeahnt (ob er vor ihm gewarnt oder ihn gefordert habe, bleibt strittig), setzt den frühen George-Kult nachträglich ins Recht und nobilitiert den Dichter zum erzieherischen Ideal. Ein weiteres Mal erfährt die Deutung der Georgeschen ,Form‘ eine Wandlung. In ihr spiegle sich die Kraft einer quasi-religiösen Gesetzlichkeit wider, wie nun nicht selten behauptet wird. Nicht von ungefähr geht ein bedeutender Teil der George-Verehrung in der Weimarer Republik auf das Konto christlicher Konservativer, die den Dichter als religiöse Person und Warner vor einer materialistischen und fortschrittsgläubigen Welt dankbar zur Kenntnis nehmen. Sie eint das kulturkritische Ferment des Spätwerks mit den Vertretern der konservativen Revolution, die an StG vor allem das aristokratische und antidemokratische Element der Kreisstruktur schätzen und sich ab 1928 gemeinsam mit den Nationalsozialisten das Schlagwort vom ,Neuen Reich‘ zu eigen machen. Im letzten Lebensjahrfünft distanziert sich unter dem Eindruck von Wolters’ Polemik wieder ein Teil der Kritiker von StG und dem Kreis, namentlich die Kirchenvertreter und das liberale Spektrum. Die sich abzeichnende Vereinnahmung des Dichters durch die nationalsozialistische Presse verstärkt diese Tendenz, wenngleich auch NS-Gegner StG (aber nicht den Kreis) mit dem Hinweis auf nationalsozialistische Fehldeutungen häufig noch verteidigen. Nach der Machtergreifung 1933 versucht das NS-Regime, in der gleichgeschalteten Presse StG zum Nationaldichter zu erheben. Die Weigerung des Dichters, sich vor seinem Tode öffentlich zur Diktatur zu bekennen, die Bedeutung der jüdischen Kreismitglieder und der elitäre, bündische Charakter der Kreisstruktur führen aber schließlich ab 1935 dazu, dass die Machthaber das Interesse an StG verlieren und ihn letzten Endes zur persona non grata erklären. Analog zur Ausschaltung der alten Eliten, deren man sich zur Machtergreifung und -sicherung bedient hatte, wählt der NS-Staat auch auf kultureller Ebene den Weg der radikalen Beseitigung all jener Elemente, die sich dem Zugriff der Machthaber auch nur ansatzweise zu entziehen trachten. Zumindest in diesem Punkt teilt StG, dessen Leben, Werk und Wirkung ansonsten stets außerhalb des Üblichen standen, das Schicksal der meisten deutschen Dichter und Denker seiner Zeit.

Literatur Groppe 1997; Karlauf 2007; Kolk 1998. Bab, Julius, Von den Meistern der Lyrik, in: Die neue Rundschau 3/1909, S. 1058–1066. Beckmann, Emmy, Stefan George, in: Die christliche Welt 34/1920, Sp. 343–347. Bertram, Ernst, Über Stefan George, in: Mitteilungen der literarhistorischen Gesellschaft Bonn 3/1908, S. 29–55.

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

1015

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

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5.3.

George-Rezeption seit 1945

5.3.1. Vorbemerkung Die Ausgangssituation für die Beschäftigung mit Werk und Person StGs war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs denkbar ungünstig. Die noch lebenden ehemaligen Angehörigen der George-Kreise waren über den ganzen Globus verstreut und untereinander wegen der unterschiedlichen Haltung zum Nationalsozialismus teils heftig zerstritten. Anfang der 50er-Jahre trat einerseits Wolfgang Frommel mit seinem Freundeskreis und der Zeitschrift Castrum Peregrini als selbsternannter geistiger Erbwalter StGs hervor, andererseits dokumentierte der vom Dichter eingesetzte Nachlassverwalter Robert Boehringer mit der ersten Auflage seines Buchs Mein Bild von Stefan George das Ergebnis seiner Materialsicherung nach StGs Tod. Beide ,Lager‘ konkurrierten in der systematischen Bemühung, authentische Erinnerungen und Dokumente zu sammeln und Archive aufzubauen. In der literarischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit herrschte vorwiegend Schweigen. StG galt als persona non grata. Dafür war die verbreitete Ansicht verantwortlich, dass StG zu den geistigen Wegbereitern des ,Dritten Reichs‘ zu zählen sei. Schuld daran trug u. a. der fatale Tatbestand, dass vielen StGs Antwort auf das Ansinnen des Kultusministers Rust von 1933, ein einflussreiches Ehrenamt in der ,gesäuberten‘ Preußischen Akademie für Sprache und Dichtung zu übernehmen, nur in einer entstellten Wiedergabe im Gedächtnis geblieben war. Damals hatten zahlreiche Zeitungen StGs Ablehnung dieser Funktion mit den Worten zitiert, er bekenne sich zwar zur ,Ahnherrschaft der nationalsozialistischen Bewegung‘, halte indes den Unterschied zwischen geistiger und politischer Sphäre für zu groß, um ein öffentliches Amt zu versehen. Tatsächlich hatte StG lediglich eine ,Ahnherrschaft jeder nationalen Bewegung‘ konzediert und damit seine Unabhängigkeit und die seines Kreises unterstreichen wollen. Rezeptionsgeschichtlich erwies sich die ideologisch griffige Fälschung als wirksamer denn die Wahrheit.1 1 Vgl. Franz K. von Stockert, Stefan George und sein Kreis. Wirkungsgeschichte vor und nach dem

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Hinzu kam, dass die Entstellung zu der Deutung StGs in zwei forciert argumentierenden Texten passte. Schon 1931 hatte der Wiener Soziologe Oskar Benda in seiner Streitschrift Die Bildung des Dritten Reiches den sogenannten ,dritten Humanismus‘ als „ideologischen Träger einer antidemokratischen Herrschaftsform“2 bezeichnet und sein Programm mit StGs „neue[m] Reich des Geistes“3 identifiziert. So kam Benda zu der These, dass „der George-Kreis […] bewußter Schrittmacher des ,Dritten Reiches‘“ sei. Zum anderen publizierte noch während des Zweiten Weltkriegs der griechische Dichter Demetricos Capetanakis einen zuerst 1943 in der Londoner Zeitschrift New Writings and Daylight erschienenen Artikel, in dem StGs Dichtung ,in hohem Grade faschistisch‘ genannt und er selbst als Träger ,aller wichtigen Kennzeichen des Nazismus‘ bezichtigt wurde. Dieser Artikel wurde kurz nach Kriegsende in Frankreich und Deutschland nachgedruckt und hat, wie Claude David bemerkt, „im Ausland viel zur Entstehung des Bildes eines nazistischen George beigetragen.“4 Obwohl sich die Haltlosigkeit dieses Artikels durch den Umstand erweist, dass auch Goethe als ,Diktator des Geistes‘ und Hölderlin als ,Prophet des geistigen Faschismus‘ denunziert werden, nährte er die Sicht auf StG als ,Wegbereiter‘ des Nationalsozialismus. Diese Ausgangslage macht es verständlich, dass in den ersten fünf Jahren nach Kriegsende in Deutschland nur einige vorwiegend formgeschichtliche Dissertationen verfasst wurden, die sich zudem auf das unverfänglichere Frühwerk konzentrierten. Drei Faktoren sind zu nennen, die den Umgang mit StG, seinem Werk und Kreis inzwischen erleichtert haben. Zum einen hat sich die Materialbasis durch vielfältige Editionen, bibliographische Hilfsmittel und Quellenpublikationen erheblich verbreitert, zum anderen sind ideologische Präokkupationen, die StG in eine Perspektive der ,Vorläuferschaft‘ stellten, einem entspannteren und differenzierten Blick gewichen, und schließlich hat die früher bisweilen hinderliche wechselseitige Blockade konkurrierender geistiger Erbwalter weitgehend einem produktiven Miteinander Platz gemacht. Das Bild, das der Verlauf der George-Forschung von 1945 bis 2010 abgibt, entspricht in großen Zügen der methodengeschichtlichen Entwicklung der Germanistik. Bis Mitte der 60er-Jahre dominieren form- und motivgeschichtliche Untersuchungen, ergänzt um Stilanalysen und Rekonstruktionen des künstlerischen Selbstverständnisses. Der Blick konzentriert sich auf StGs Frühwerk und dessen Anschluss an den französischen Symbolismus, auf die literaturhistorische Einbettung in die europäische Fin-de-sie`cle-Stimmung und den Zusammenhang von Ästhetizismus und Kultform. Ende der 60er-Jahre erreicht die sozialgeschichtliche und insbesondere ideologiekritische Wende die Germanistik. StG und sein Kreis werden im folgenden Jahrzehnt diversen ,Entlarvungen‘ unterzogen und als extreme Ausprägung bürgerlicher Kunstpraxis dekuvriert, die auf die Herausforderung der differenzierten modernen Gesellschaft mit Eskapismus, totalitären Modellen und der Re-Etablierung charismatischer Herrschaft reagiert habe. Als produktiv für die spätere Forschung hat sich dabei die 30. Januar 1933, in: Beda Allemann (Hrsg.), Literatur und Germanistik nach der ,Machtübernahme‘. Colloquium zur 50. Wiederkehr des 30. Januar 1933, Bonn 1983, S. 52–89. 2 Oskar Benda, Die Bildung des dritten Reiches. Randbemerkungen zum gesellschaftsgeschichtlichen Sinnwandel des deutschen Humanismus, Wien, Leipzig [1931], S. 11. 3 Ebd., S. 14. 4 David, Stefan George, S. 504. Dort zitiert Anm. 181 die angezogene Passage von Capetanakis.

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Situierung des George-Kreises im Kontext der Konservativen Revolution erwiesen. Die Präzisierung dieses Verhältnisses wie auch desjenigen zum Nationalsozialismus ist nach wie vor ein aktuelles Thema. Die ideologiekritische ,Erledigung‘ StGs hat zu dem Phänomen geführt, dass in der George-Forschung zwischen 1980 und 1995 eine merkliche Lücke klafft, in der nur Einzel- und Spezialuntersuchungen erschienen sind. Ab Mitte der 90er-Jahre setzt dann auf breiter Front und auf hohem Niveau eine neue Beschäftigung mit StG ein, die teilweise Ausdruck des kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsels ist. Es erscheinen materialreiche Studien zu der Vernetzung des George-Kreises mit dem Wissenschafts- und Bildungssystem des Kaiserreichs und der Weimarer Republik und zur Stellung StGs zur ästhetischen und gesellschaftlichen Moderne. Der von dem Hamburger Soziologen Stefan Breuer 1995 eingeführte Begriff des ,ästhetischen Fundamentalismus‘ wird fortan zu einem zentralen Referenzbegriff der George-Forschung. Bis in die Gegenwart währt die Debatte darüber, ob StG als integraler Bestandteil der ästhetischen Moderne, als der ästhetischen Moderne angehöriger, aber ihr mit ,modernen‘ Mitteln opponierender Autor, als Vertreter und voluntaristischer Stifter einer ,anderen Moderne‘ oder als dezidiert anti-moderner Autor und Denker zu werten sei. Es ist für die George-Forschung überhaupt spezifisch, dass sie zwar an den Hauptlinien der methodengeschichtlichen Entwicklung partizipierte, aber in keiner Phase als bevorzugtes Übungsfeld für die Demonstration jeweils neuer Methoden herhalten musste. Im Mittelpunkt des Forschungsdiskurses stehen eher konkurrierende Auffassungen hinsichtlich des Status von StGs Utopie, anders gesagt: wie das Verhältnis von (ästhetischem) Georgeschem ,Staat‘ und Staat im politischen Sinne, wie das Verhältnis von Kunst und Religion und der mit der Maximin-Gestalt verbundene Anspruch (pseudo-)religiöser Bindung zu denken sei. In jüngerer Zeit hat sich die Forschung zudem für verschiedene aktuelle Fragestellungen geöffnet: Im Kontext einer Rekonstruktion der deutsch-jüdischen Kulturgeschichte wird die Beziehung von StG und seinem Kreis zum Judentum untersucht, unter Gender-Perspektive gewinnt die Rolle der Frauen im George-Kreis beziehungsweise die Funktion des Weiblichen im dichterischen Werk StGs an Interesse. Schließlich wäre auf mehrere einschlägige Forschungsarbeiten zu verweisen, die im Anschluss an Wolfgang Braungarts RitualBegriff eine reich differenzierte medienästhetische Lektüre von StGs Werken entwickelt haben. Über allem steht, zuletzt zugespitzt durch die in die breite Öffentlichkeit hineinwirkende Biographie von Thomas Karlauf, die Frage nach Aktualität oder Historizität des faszinierenden Phänomens StG, das heißt die Frage danach, ob das Projekt StGs ein abgeschlossener historischer Komplex ist oder ein unabgegoltenes, womöglich anschlussfähiges kulturelles Potenzial besitzt. Die wissenschaftliche Rezeption StGs möchte ich unter drei Aspekten skizzieren. Zuerst möchte ich die Verbreiterung der Materialbasis rekapitulieren, zweitens die wichtigen Monographien zu StG und seinem Kreis und drittens die Sammelbände charakterisieren. Bei den Monographien unterscheide ich zwischen Publikationen von Kreismitgliedern, der George-Tradition nahestehenden Autoren und Fachwissenschaftlern.

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5.3.2. Werkausgaben, Bibliographien, Editionen Fundament jeder Beschäftigung mit einem Autor ist die Verfügbarkeit einer gesicherten Ausgabe der Primärtexte. Im Falle StGs scheint diese Bedingung erfüllt zu sein, da eine gültige Ausgabe letzter Hand noch unter seiner eigenen Verantwortung in den Jahren 1927 bis 1934 erschien.5 Schon diese 18-bändige Gesamt-Ausgabe enthielt in den Anhängen ergänzende Informationen, freilich kaum Beispiele abweichender Lesarten. StG war kein Autor, der Interesse an der Dokumentation des poetischen Schaffensprozesses hatte, für ihn besaß nur der vollendete, das heißt der fertige Text Geltung. Auch wenn StG für eine textgenetische Edition kaum ein lohnendes Objekt abgeben würde, zeigen die Apparate der seit 1982 erscheinenden 18-bändigen Sämtlichen Werke den Reichtum der handschriftlichen und gelegentlich auch druckgeschichtlichen Überlieferung. Die editorische Transparenz und die sachgerechte Kommentierung, für die Ute Oelmann, die Leiterin des Stefan George Archivs in der Württembergischen Landesbibliothek, sorgt, machen diese Werkausgabe zu einem unentbehrlichen Instrument und geben unserer Kenntnis der Primärtexte eine breitere Basis. Außerhalb dieser neuen Werkausgabe, die sich in der Textanordnung an der Gesamt-Ausgabe orientiert und inzwischen fast abgeschlossen ist, werden aus den Beständen des Stefan George Archivs weitere wertvolle Ergänzungen zur Überlieferung geboten, wie etwa von Elisabeth Höpker-Herberg durch die kommentierte Faksimile-Edition einer Sammelhandschrift des Teppichs des Lebens.6 Die Zugänglichkeit der Primärtexte für ein breiteres Publikum ist in den letzten Jahrzehnten mehrfach geschaffen worden. 1958 erschien bei Helmut Küpper, dem Nachfolgeverlag von Bondi, eine zweibändige Werkausgabe, die den Text der Gesamt-Ausgabe unter Weglassung der Anhänge präsentierte. Diese Ausgabe erlebte 1968 eine zweite und 1976 eine dritte Auflage und bildete zudem die Textgrundlage für die vierbändige Taschenbuchausgabe, die 1983 bei Dtv erschien, und für die zweibändige Neuausgabe 1984 bei Klett-Cotta, die ihrerseits 2000 im Taschenbuch bei Dtv aufgelegt wurde. 2003 erschien bei Klett-Cotta in einem Band StGs dichterisches Werk unter Einschluss der Texte aus dem Prosaband Tage und Taten. Ein reprographierter Nachdruck der Gesamt-Ausgabe in Kleinoktav wurde von 1964 bis 1969 bei Küpper veröffentlicht. Seit 2004 ist die Gesamtausgabe in der Digitalen Bibliothek auch als CD-ROM erhältlich. Neben diesen Werkausgaben hat es im gleichen Zeitraum eine Vielzahl von Einzelund Auswahlausgaben gegeben, von denen wenigstens einige genannt werden sollen.7 Schon 1960 stellte Robert Boehringer eine repräsentative Auswahl für Reclams Universal-Bibliothek zusammen, die bis heute immer wieder neu aufgelegt wird. Noch kurz vor dem Ende der DDR erschien als Pendant dazu im Leipziger ReclamVerlag 1987 eine Auswahl von Horst Nalewski. Ernst Klett brachte in seinem Verlag 1983 eine Auswahl heraus, die zuletzt 1999 neu aufgelegt wurde. Im selben Jahr und 5 Nur beim Schlussband lag die letzte Entscheidung über die Aufnahme von Jugenddichtungen und fremdsprachlichen Versuchen bei Robert Boehringer und seinen Partnern; vgl. GA XVIII, S. 138; Raulff 2009, S. 101. 6 Stefan George, Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod. Mit einem Vorspiel, Befunde der Handschrift, 2 Bde., für die Stefan George Stiftung hrsg. v. Elisabeth Höpker-Herberg, Stuttgart 2003. 7 Zu den Auswahlausgaben vgl. III, 5.5.2.

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Verlag erschien auch neuerlich eine Einzelausgabe des Jahrs der Seele. 2008 brachte der Rimbaud-Verlag eine Einzelausgabe des Algabal mit einem Nachwort von Bernhard Albers, im Jahr zuvor der Lyriker Norbert Hummelt den Stern des Bundes mit einem wirkungsgeschichtlichen Kommentar in der Lyrikedition 2000 heraus. Bemerkenswert ist, dass auch zwei andere Dichter – nämlich Albert von Schirnding 1987 und Thomas Böhme 1992 – Auswahlausgaben von StGs Gedichten veröffentlicht haben. In jüngerer Vergangenheit folgten die umfangreichen und gut kommentierten Auswahlbände von Günter Baumann im Stuttgarter Reclam-Verlag (2004 gebunden und 2008 in der Universalbibliothek) und von Ernst Osterkamp bei Insel (2004). Da das Phänomen StG zu einem Gutteil auch aus dem Phänomen George-Kreis(e) besteht, gehören die Dokumente dieser kulturgeschichtlichen Erscheinung unmittelbar zu den Grundlagen der Forschung. Das wichtigste Informationsmittel zum Leben StGs ist trotz der 2002 erschienenen Monumentalbiographie Secret Germany. Stefan George and his Circle des amerikanischen Germanisten Robert E. Norton und trotz Thomas Karlaufs kaum weniger umfangreicher Biographie Stefan George. Die Entdeckung des Charisma von 2007 die Zeittafel Stefan George. Leben und Werk, die 1972 als Gemeinschaftsarbeit von Hans-Jürgen Seekamp, Raymond C. Ockenden und Marita Keilson vorgelegt wurde. Sie berücksichtigt über die seinerzeit publizierte Literatur hinaus bereits zahlreiche Archivalien aus dem Stuttgarter Stefan George Archiv, den Beständen im Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Londoner Gundolf-Archiv und dem Archiv des Castrum Peregrini. Für die philologische Beschäftigung mit StGs Werk ist die 1964 von Claus Victor Bock veröffentlichte Wort-Konkordanz zur Dichtung Stefan Georges unverzichtbar, deren Anfänge bis in die Zeit seiner Existenz als ,Untertaucher‘ im besetzten Amsterdam zurückreichen.8 Die Literatur über StG, sei sie wissenschaftlicher, journalistischer oder privater Natur, ist in drei einander fortschreibenden Bibliographien erfasst worden. 1960 erschien die unter Georg Peter Landmanns Verantwortung zusammengestellte Bibliographie Stefan George und sein Kreis zum ersten Mal und verzeichnete ca. 1.500 Titel, 1976 erfolgte ihre zweite Auflage von annähernd doppeltem Umfang, nach Landmanns Tod erschien im Jahr 2000 die vom Stuttgarter George Archiv weitergeführte Stefan George-Bibliographie 1976–1997. Mit Nachträgen bis 1976, die fast 4.000 Haupttitel und annähernd 1.500 Rezensionen verzeichnet. Über die reine Bibliographie hinaus sind alle drei Werke auch durch ihre Anhänge (zum Beispiel über die Kreisschriften) wertvoll. Eine weitere Gruppe von Quellenwerken stellen Textdokumentationen dar, die sich entweder auf den George-Kreis selbst beschränken oder allgemein rezeptionsgeschichtlich orientiert sind. Ein Beispiel für Ersteres ist die von Georg Peter Landmann herausgegebene Anthologie Der George-Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften, die 1965 in erster und 1980 leicht erweitert in zweiter Auflage erschien. Material, das vor allem aus dem George-Kreis selbst stammt, bietet der Marbacher Katalog Stefan George 1868–1968. Der Dichter und sein Kreis, dem sich der im Jahr darauf erschienene Katalog der Darmstädter Ausstellung Karl Wolfskehl 1869–1969 an die Seite stellen lässt. Die Rezeptionszeugnisse über StGs Werk bis zum Beginn der öffent8 Vgl. dazu Claus Victor Bock, Untergetaucht unter Freunden. Ein Bericht. Amsterdam 1942–1945, Amsterdam 1985.

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lichen Ausgaben Ende 1898 hat Jörg-Ulrich Fechner 1998 in dem Quellenwerk „L’aˆpre gloire du silence“. Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der ,Blätter für die Kunst‘ 1890–1898 zusammengestellt. Einige dieser Zeugnisse waren bereits in der Textsammlung Stefan George in seiner Zeit. Dokumente zur Wirkungsgeschichte enthalten gewesen, die Ralph-Rainer Wuthenow 1980 als ersten von zwei chronologisch aneinander anschließenden Bänden herausgegeben hatte. 1981 folgte der zweite Band Stefan George und die Nachwelt. Die umfangreichste Gruppe unter den Quellenwerken sind die Briefausgaben. Hier sind zumindest diejenigen aufzuführen, die in nennenswertem Umfang Korrespondenzen von StG selbst enthalten und einige der Briefwechsel zwischen Dritten, die einen besonders hohen Informationswert im Blick auf StG und den George-Kreis besitzen. Bereits vor 1945 lag der Briefwechsel zwischen StG und Hofmannsthal vor, der 1938 in erster und 1953 in erweiterter zweiter Auflage erschien.9 Daneben gab es den 1935 in Wolfgang Frommels Verlag Die Runde erschienenen Memoirenband Stefan George. Geschichte einer Freundschaft von Sabine Lepsius, der eine Briefbeilage enthielt. Robert Boehringer legte zusammen mit Georg Peter Landmann 1962 mit der sachkundig kommentierten Edition Stefan George – Friedrich Gundolf. Briefwechsel eine Korrespondenz vor, die wegen der lange Zeit sehr engen Beziehung zwischen dem ,Meister‘ und seinem ersten ,Lieblingsjünger‘ einen hohen dokumentarischen Wert aufweist. Die Zeugnisse über den schmerzhaften Ablösungsprozess im Gefolge von Gundolfs Entscheidung für die Partnerschaft mit Elisabeth Salomon sind ebenso beklemmend wie aufschlussreich für die innere Struktur des GeorgeKreises.10 Auf eine Ablösung, wenngleich eher weltanschaulicher denn emotionaler Natur, lief auch die langjährige produktive Beziehung zwischen StG und dem niederländischen Dichter Albert Verwey hinaus, der in der Frühzeit StGs zu seinen wichtigsten Gesprächspartnern und ausländischen Propagandisten zählte. Ihren regen geistigen Austausch zeigt die 1965 von der Tochter Mea Nijland-Verwey vorgelegte Edition Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap. Einen eindrucksvollen Querschnitt der geistigen Wirkung StGs auf seine Mitwelt liefert der materialreiche Band Stefan George. Dokumente seiner Wirkung, den Lothar Helbing (i. e. Wolfgang Frommel) und Claus Victor Bock 1974 auf der Materialbasis des Londoner Gundolf-Archivs herausbrachten. Reizvoll ist hier das Nebeneinander unterschiedlicher Geister, ohne dass der Wirkungskreis StGs ganz ausgeschritten würde. Als einzige unselbstständige Quellenedition soll wegen ihres Umfangs von über hundert Seiten der 1980 von Jörg-Ulrich Fechner herausgegebene und kommentierte Briefwechsel zwischen StG und Paul Ge´rardy genannt werden, der in der romanistischen Zeitschrift Marche romane erschienen ist. Er gehört ebenso der Frühzeit StGs an wie der 1983 von Georg Peter Landmann und Elisabeth Höpker-Herberg edierte Briefwechsel Stefan George – Ida Coblenz. In den 90er-Jahren folgten noch zwei umfangreiche Briefwechsel mit langjährigen Wegbegleitern StGs: 1991 brachte Günter Heintz die Korrespondenz Melchior Lechter und Stefan George heraus, die ihren Austausch über Fragen der dekorativen Buchgestaltung besonders gut beleuchtet, 9 Eine Neuausgabe dieses Briefwechsels wird im Verlag Walter de Gruyter vorbereitet. 10 Eine umfangreiche Auswahledition des Briefwechsels zwischen Friedrich und Elisabeth Gundolf wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach, das die Dokumente erworben hat, vorbereitet.

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1998 erschien der von Michael Philipp ausführlich kommentierte Band Stefan George – Friedrich Wolters. Briefwechsel 1904–1930, der vor allem für StGs Anteil an der Entstehung der ,Blättergeschichte‘ von hohem dokumentarischen Wert ist, aber ebenso seine Haltung zum Ersten Weltkrieg und zu politischen Fragen in den Reaktionen auf Wolters hervortreten lässt. Zuletzt seien noch ein paar Briefeditionen von Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl angeführt, die sowohl für eine Beschäftigung mit der Gestalt StG als auch mit dem Phänomen George-Kreis einen hohen Informationswert besitzen. Wolfgang Frommel (unter dem Pseudonym Lothar Helbing) und Claus Victor Bock veröffentlichten 1963 den Band Friedrich Gundolf: Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius und 1965 dessen Fortsetzung Gundolf Briefe. Neue Folge. Dieser zweite Band enthält Briefe von Gundolf an 65 Adressaten, unter denen Leonie Gräfin Keyserling und Edgar Salin die meistbedachten Empfänger sind. Der in diesen beiden Bänden ausgesparte Briefwechsel zwischen Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters ist 2009 von Christophe Fricker herausgegeben worden. Die Bekanntschaft StGs mit Verwey brachte diesen auch in persönlichen Kontakt mit Wolfskehl. Die langjährige vertraute Beziehung, die daraufhin zwischen den Ehepaaren Verwey und Wolfskehl entstand, dokumentierte Mea Nijland-Verwey 1968 in dem Buch Wolfskehl und Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897–1946. Zuletzt seien die in zwei Bänden 1976 und 1977 von Karlhans Kluncker herausgegebene und vorzüglich kommentierte Korrespondenz Karl und Hanna Wolfskehl. Briefwechsel mit Friedrich Gundolf sowie die umfangreichen Briefeditionen zu Karl Wolfskehl erwähnt, die vor allem Cornelia Blasberg zu verdanken sind. 5.3.3.

Sekundärliteratur

5.3.3.1. Memoirenliteratur und Werkdeutungen aus dem George-Umfeld Unter der Sekundärliteratur seien zunächst jene Werke aufgeführt, die man zugleich auch als Quellentexte betrachten kann, nämlich die reiche Memoirenliteratur des George-Kreises. Begonnen hatte sie bereits kurz nach StGs Tod mit den beiden Büchern Stefan George. Geschichte einer Freundschaft (1935) von der Berliner Malerin Sabine Lepsius und Mein Verhältnis zu Stefan George (1936) von dem holländischen Dichter Albert Verwey.11 In beiden Fällen liegt der zeitliche Schwerpunkt der näheren persönlichen Beziehung um die Jahrhundertwende. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten zuerst die Erinnerungen von Edgar Salin unter dem Titel Um Stefan George (1948), die vor allem das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts betreffen und 1954 in stark erweiterter Form erschienen, und Robert Boehringers, des Nachlassverwalters, materialreiches Werk Mein Bild von Stefan George (1951), das ebenfalls erheblich umgearbeitet 1967 neu aufgelegt wurde und einen Überblick über StGs Lebensweg 11 Die Originalausgabe von Verweys Erinnerungen erschien 1934 in Santpoort (NL) unter dem Titel Mijn Verhouding tot Stefan George. Von den weniger umfangreichen frühen Erinnerungen seien nur die beiden selbstständigen Bändchen von Georg Bondi, Erinnerungen an Stefan George, Berlin 1934 [GB] (reprographischer Nachdruck, Düsseldorf, München 1965), und Carl August Klein, Die Sendung Stefan Georges, Erinnerungen, Berlin 1935 [CAK], genannt.

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anhand seiner menschlichen Beziehungen gibt. Es ist besonders durch seinen sogenannten Tafelband eine bis heute unersetzliche Quelle für die Selbstdarstellung des George-Kreises. Sowohl Salins als auch Boehringers Erinnerungsschriften bieten in ihren Neuausgaben ergänzende Briefdokumente. 1960 erschien der Band Kurt Breysig – Stefan George. Gespräche. Dokumente, der die Tagebuchaufzeichnungen des Historikers über seine Gespräche mit StG im Zeitraum von 1899 bis 1917 mitteilt. In dem Jahrzehnt von 1962 bis 1972 erschienen, vorwiegend aus dem Nachlass ediert, teils umfangreiche Memoirenschriften von Mitgliedern des innersten Zirkels. Dies waren in chronologischer Folge Ludwig Thormaehlens Erinnerungen an Stefan George (1962), Edith Landmanns Gespräche mit Stefan George (1963), Kurt Hildebrandts Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis (1965), Berthold Vallentins Gespräche mit Stefan George und Ernst Glöckners Begegnung mit Stefan George (1972). 1980 folgte noch das Buch Erinnerungen an Stefan George. Seine Freundschaft mit Julius und Edith Landmann von Michael Landmann, dem jüngeren Sohn der beiden Letztgenannten. Selbstverständlich stellt sich bei solchen Memoirenwerken aus dem engsten Umkreis von StG die Frage nach der Authentizität der Überlieferung, aber da die Erinnerungen von Edith Landmann, Vallentin und Glöckner ausschließlich auf zeitgenössischen Dokumenten wie Briefen und Tagebucheinträgen beruhen und dies auch für Teile von Hildebrandts und Michael Landmanns Büchern zutrifft, dürfte der Grad an Authentizität recht hoch veranschlagt werden können. Neben der Memoirenliteratur sind aus dem Zentrum des George-Kreises auch einige Werkdeutungen hervorgegangen. An der Spitze steht dabei das noch zu StGs Lebzeiten und unter seiner aktiven Mitwirkung entstandene Monumentalwerk Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890 von Friedrich Wolters. Dieses 1930 bei Bondi erschienene Opus hat durch seinen rein apologetischen Charakter und teils anmaßenden Ton sogar im George-Kreis selbst kontroverse Reaktionen hervorgerufen. So wertvoll es als Quellenwerk ist, das aus der Auswertung zahlreicher kreisinterner Materialien und aus vielen – modern gesagt – Interviews mit StG hervorging, so problematisch ist es in seiner retrospektiven Deutung von StGs Leben und Werk, die es in einer teleologischen Perspektive synthetisiert und glättet. Ebenfalls noch mit StGs eigenem Imprimatur erschien 1934 an gleicher Stelle Die Dichtung Stefan Georges von Ernst Morwitz, das sich ganz auf die Kommentierung des dichterischen Werks beschränkt. Dieses ebenfalls teils in gesteiltem Ton verfasste Buch ist die Vorstufe von Morwitz’ voluminösem Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, der 1960 bei Küpper erschien und durch seine vielfach auf StGs eigene Auskünfte zurückgehenden Sacherläuterungen ein wertvolles Arbeitsinstrument bei der Textdeutung ist. 1962 ließ Morwitz noch einen Kommentar zu den Prosa- Drama- und Jugend-Dichtungen Stefan Georges folgen. Gleichzeitig mit Morwitz’ Kommentarband von 1960 veröffentlichte Kurt Hildebrandt seine ebenfalls umfangreiche Monographie Das Werk Stefan Georges bei Hauswedell. Im Gegensatz zu Morwitz geht es ihm weniger um detaillierte Textkommentierung als vielmehr um eine philosophisch homogene Gesamtdeutung von StGs Werk im Zeichen des Mythos. Schließlich gehören noch die 1973 in Basel gehaltenen und 1974 erschienenen Vorträge über Stefan George von Georg Peter Landmann hierher, die einem breiteren Publikum Person und Werk näherzubringen versuchen. Neben dieser unmittelbar aus dem persönlichen Umfeld StGs hervorgegangenen Literatur gibt es noch eine Reihe von Büchern, die sich in Tonfall und geistiger Hal-

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tung StGs Erbe verpflichtet zeigen. Dazu rechnen Werner Pichts Besinnung auf Stefan George (1964), das StGs Werk als Richtmaß für die Deutschen in der orientierungslosen Gegenwart empfiehlt, Peter Lutz Lehmanns Meditationen um Stefan George (1965), die StG als sokratischen Weisen und als faunisches Wesen deuten, das das Göttliche mit dem Naturhaften synthetisiert, und die Aufsatzsammlungen Studien zur Dichtung Stefan Georges (1967) von Hans Stefan Schultz und Bilder und Motive in der Dichtung Stefan Georges (1971) von Victor A. Schmitz, der ähnlich wie Picht in StG einen archimedischen Punkt inmitten eines „Niedergangs geistiger Ordnungen“12 erblickt. Wenn auch in diesen Werken das Apriori waltet, StGs Selbstbildnis für die objektive Wahrheit zu nehmen, so enthalten sie doch auch unter wissenschaftlicher Perspektive wertvolle Aspekte. Zu nennen wären etwa Lehmanns Parallellektüre von StGs „Der Brand des Tempels“ (IX, 61–69) mit Kafkas Ein altes Blatt oder der Kommentar von Schultz zum Maximin-Kult, der seine religionsgeschichtlichen und mystischen Quellen erhellt und die Vorrede zum Maximin-Gedenkbuch als Legende interpretiert. 5.3.3.2. Fachwissenschaftliche Forschung Monographien Im Jahre 1947 erschien als erste umfangreiche Monographie nach dem Zweiten Weltkrieg das vergleichsweise erratische Werk von Jan M. M. Aler Im Spiegel der Form mit dem Untertitel Stilkritische Wege zur Deutung von Stefan Georges Maximindichtung. Es handelt sich allerdings nicht um eine Annäherung an den Maximin-Zyklus des Siebenten Rings, sondern um eine ,morphologische und interpretative‘ Lektüre des Sterns des Bundes, da Aler von der These ausgeht, dass dieser Gedichtband „reiner und direkter“13 mit dem Maximin-Erlebnis zusammenhänge. Dessen poetische Quintessenz begreift er als „Synthese des aesthetisch-ethischen Wertbereichs“,14 die StG aus der Haltung eines ,religiösen Sozialismus‘ heraus schaffe. Aler erklärt einleitend, seine Studie wolle „nicht einordnen, sondern ein-dringen“15 und „eine Charakteristik der dichterischen Wirklichkeit“16 bieten. Er gewinnt sie auf dem Weg eines close reading, das ihm „ein Koordinatensystem von Sprachmitteln und Ausdruckswerten“17 liefert und zum Schluss zur Erfassung des Kompositionsgesetzes des ganzen Sterns führt. Aler legt seiner Lektüre einen prozesshaften Gestalt-Begriff zugrunde und begreift die Struktur des Sterns als ,dynamische Monumentalität‘. Er nennt den Stern abschließend einen „Seelenmythos, der innerste Erfahrungen der Selbstreflexion in plastischer Bewusstheit projiziert“18 und der aus drei Einheitserlebnissen hervorgeht: „Eintracht mit dem Andern; Ueberwindung der leiblich-seelisch-geistigen Auf-

12 Schmitz, Bilder und Motive, S. 9. 13 Aler, Spiegel der Form, S. 29. 14 Ebd., S. 23. 15 Ebd., S. 14. 16 Ebd., S. 13. 17 Ebd., S. 34. 18 Ebd., S. 294.

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spaltung des Lebens in einer Euphorie, die im Einzelnen den Grund der Mannigfaltigkeit freilegt; versöhnende Unterscheidung von Dasein und Idee.“19 Alers Buch blieb wegen seines abseitigen Publikationsorts (Hertzberger in Amsterdam) und wohl auch wegen seiner zwischen mikrostrukturellem Positivismus und theologisierenden und heideggerisierenden Spekulationen schwankenden Argumentation gänzlich unbeachtet, obwohl seine These, dass in StGs Spätwerk das MaximinErlebnis implizit präsent sei, durchaus anschlussfähig ist. Schließlich ist es ein Widerspruch, das Maximin-Erlebnis als Paradigmenwechsel in StGs Werk und dichterischem Selbstverständnis zu werten, sich dann aber vorwiegend – wie dies immer wieder geschieht – auf den Maximin-Zyklus im Siebenten Ring zu konzentrieren und das Maximin-Erlebnis literaturwissenschaftlich somit quasi zu einer Episode einzuschmelzen. So folgenlos Alers Studie war, so folgenreich war das zweite umfangreiche Buch über StG nach 1945: Claude Davids Monographie Stefan George. Son Œuvre poe´tique von 1952. Allerdings ist erst die 1967 erschienene deutsche Übersetzung bei Hanser zu einem einschlägigen Referenzwerk avanciert.20 David hat für seine Monographie bereits vor der Veröffentlichung von Robert Boehringers Mein Bild von Stefan George indirekt auf dessen Materialsammlung zurückgreifen können, da Boehringer ihn mit vielen Auskünften unterstützte. Das bleibende Verdienst von Davids Monographie besteht darin, dass er sine ira et studio oder – in seinen eigenen Worten – „unvoreingenommen und ungläubig“21 StGs Gesamtwerk interpretiert und dabei seine wesentlichen Entwicklungslinien in einer Weise beschrieben hat, die heute noch als Basis dienen kann. David hat dabei die These einer bruchlosen Entwicklung vertreten, die von Ästhetizismus und Weltflucht zu Lehrhaftigkeit und Machtwillen führe, die aber beide Aspekte von Beginn an in sich vereint habe.22 Er hat zudem StGs Werk in den Kontext der europäischen Literatur- und Geistesgeschichte gestellt und seine Darstellung mit einer biographischen Skizze eingeleitet. Seine Werkinterpretation ist aufs Engste mit seiner Auffassung von der Persönlichkeit StGs verknüpft, ohne dass er in den Textanalysen biographisch verfahren würde. Er sieht StG in „der Rolle des Propheten und des platonischen Erziehers“,23 der mit unbeirrbarer Konsequenz sein Leben so geführt habe, „wie man einen Mythos aufbaut.“24 David nennt StGs Welt eine „Welt des reinen Stolzes“,25 die er „in fanatischer Reinheit“26 errichtet habe, und sein Werk „eine der fanatischsten und […] verzweifeltsten Auflehnungen des Menschen gegen sein Schicksal.“27 Die radikale Verwerfung seiner Gegenwart habe StG dazu gebracht, Formen aufzurichten, die der Feudalzeit entnommen scheinen. 19 Ebd., S. 290. 20 Die Übersetzung ist, was der Herausgeber Walter Höllerer in seiner Einführung unterschlägt, allerdings weit mehr als eine Übersetzung, da David vor allem in ausführlichen Anmerkungen vielfach Bezug auf die seit 1952 erschienene George-Literatur, besonders auf den Kommentar von Morwitz, nimmt. 21 David, Stefan George, S. 13. 22 Vgl. ebd., S. 392. 23 Ebd., S. 14. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 393. 26 Ebd., S. 394. 27 Ebd., S. 393f.

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David leitet aus diesem Vergleich eine Metapher ab, mit der er das Kompromisslose und Richterliche ins Bild setzen möchte: „Sich einen toleranten George wünschen, hieße, eine gotische Kirche ohne Spitzbogenfenster haben wollen.“28 Vor der Übersetzung von Davids großer Studie erfüllte Franz Schonauers 1960 erschienene Rowohlt-Monographie Stefan George die Funktion, eine erste von Friedrich Wolters’ ,Blättergeschichte‘ unabhängige Gesamtdarstellung zu geben. Sie ist aus einer kritischen Haltung gegenüber StGs Werk und Wirkung geschrieben, hat aber das Verdienst, viele sachliche Informationen zusammenzuführen. 1960 erschien auch die im Wesentlichen von 1952 bis 1954 entstandene Dissertation Das Kultische in der Dichtung Stefan Georges und seiner Schule von Hansjürgen Linke. Nicht zu Unrecht stellt Linke fest, dass es zu diesem Zeitpunkt „wissenschaftlich brauchbare Literatur nur in sehr geringem Ausmaße gibt.“29 ,Kult‘ wird von ihm eingangs definiert als „wiederholte oder doch wenigstens wiederholbare religiöse Handlung, die für gewöhnlich an bestimmte Orte oder an bestimmte Zeiten oder an beide zugleich gebunden ist“ und „in feststehenden liturgischen Vollzugs- und Ausdrucksformen ausgeführt“30 wird. Linke bezeichnet als Ziel seiner Studie „die zusammenschauende Darstellung des Kultischen als eines wesentlichen Gesamtkomplexes in der Dichtung Stefan Georges und seiner Schule.“31 Er stellt in positivistischer Manier die Belegstellen für kultische Handlungen in StGs Dichtung und der ihm nachstrebenden Autoren des George-Kreises zusammen und betrachtet den MaximinKult als Gipfel dieser Thematik. Dabei vertritt Linke die These, dass zwar die durch den Maximin-Kult „selbstgeschaffene Heiligung der Welt“ StG „zur praktischen Menschenformung“32 befähigt und „wahrhaft klassische Dichtungen“33 hervorgebracht habe, aber zugleich sein „Versuch einer neuen Sinngebung des Daseins“ über den engsten George-Kreis hinaus „an der Fragwürdigkeit von Maximin-Mythos und Maximin-Kult“34 gescheitert sei. Diesem Befund schließt sich die 1961 erschienene Dissertation Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und des Dichters in der Moderne von Paul Gerhard Klussmann an, die bereits zwischen 1950 und 1955 entstand. Klussmann geht bei der Rekonstruktion von StGs dichterischem Selbstverständnis von dessen Beziehung zur französischen Lyrik aus, wobei er darauf hinweist, dass StG nicht nur Impulse von den Symbolisten, sondern ebenso von der Autorengruppe der ,Parnassiens‘ aufgenommen habe. Im Folgenden untersucht er die ,Begründung der Wirklichkeit durch das Wort‘, erläutert die Schlüsselbegriffe ,Kunst für die Kunst‘ und ,Geistige Kunst‘ und kommt über Themen wie ,Herrschertum und Einsamkeit‘ und ,Naturentfremdung und Antifeminismus‘ im Schlusskapitel „Vergottung des Leibes“ ebenfalls auf die problematische Stiftung des Maximin-Kults zu sprechen. Klussmann erscheint er als „Umgestaltung christlicher Motive aus der Position des totalen Glaubensverlustes heraus.“35 StG gehe es hierbei quasi um eine ,greifbare‘ Umsetzung des vom Engel im 28 Ebd., S. 395. 29 Linke, Das Kultische, S. 11. 30 Ebd., S. 5. 31 Ebd., S. 15. 32 Ebd., S. 172. 33 Ebd., S. 182. 34 Ebd., S. 181. 35 Klussmann, George, S. 127.

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Vorspiel des Teppichs des Lebens verkündeten ,schönen Lebens‘. Die Erschaffung der Maximin-Gestalt mit den Mitteln der dichterischen Sprache sieht Klussmann als StGs Versuch, „dem verlorenen und nichtigen Dasein des modernen Menschen durch sein Wort eine neue Form und damit Wirklichkeit, Sinn und Würde zu geben.“36 Bis zuletzt gehe es StG um das durch diesen neuen Gott beglaubigte geistige Reich, weswegen er mit der These schließt, dass „der späte George genau wie der junge alles nur Gesellschaftliche und Politische aus seinem Bezirk“37 ausgrenze. 1967 erschien die bereits 1960 abgeschlossene Dissertation Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges von Hubert Arbogast, die zum einen den Versuch macht, StGs Anfänge auch im Kontext der deutschen Lyrik zu lesen, zum anderen mittels einer philologischen Stilanalyse seinen prinzipiellen Neuansatz auf der mikrostrukturellen Ebene der sprachlichen Verfahrensweisen zeigt. Arbogast beschränkt sich unter dieser stilanalytischen Perspektive auf Beispiele aus der Fibel und den Hymnen, um StGs Weg zu einem originären poetischen Ausdruckssystem zu rekonstruieren. Ebenfalls auf das Frühwerk StGs konzentriert sich Manfred Durzak in seiner auf eine Dissertation von 1963 zurückgehenden Studie Der junge Stefan George von 1968. Durzak stützt sich dabei ganz auf den Algabal, weil er in ihm die konsequenteste Realisierung von StGs Autonomieästhetik erblickt. Der Entwicklung dieser Kunsttheorie bei StG in Auseinandersetzung mit dem französischen Symbolismus und dem deutschen Naturalismus widmet Durzak den ersten Teil seiner Untersuchung, wobei er besonders die Selbstreflexivität der Sprache und ihren antimimetischen, eine dichterische Wirklichkeit stiftenden Charakter betont. Die eindringliche Interpretation des Algabal mündet in die These, StG habe hier die Autonomisierung der Kunst bis zu ihrer Selbstaporie gesteigert und damit eine rein ästhetizistische Position überwunden. 1968 wendet sich Eckhard Heftrich in seiner Monographie Stefan George gegen eine bloß ideologiekritische ,Entlarvung‘ StGs, wie sie sich in feuilletonistischen Artikeln zu StGs 100. Geburtstag vielfach artikuliert hatte, und hebt mit Nachdruck das rein Dichterische hervor. Heftrich verfolgt dabei die literarische Traditionsbindung StGs über den Symbolismus zurück bis zu Klassik und Romantik, wobei er den Anschluss an die Poetologie des Novalis und an die künstlerische Selbstgestaltung Goethes betont. Vorrang kommt in Heftrichs Werkdeutung dem Stern des Bundes zu, da er in der dichterischen Gründung des Bunds einen unabgegoltenen utopischen Gehalt erkennt. Eine solche ideologiekritische Studie, wie sie von Heftrich abgelehnt wird, ist die 1970 veröffentlichte Studie Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George von Gert Mattenklott. Sie liest StGs Werk als „Selbstbestätigung der Macht dichterischer Sprache“38 im Zeichen „der autoritären Affirmation der dichterischen Potenz“.39 Mattenklott stößt sich an der Ambition auf „die totale Integration alles Widerständigen“,40 die sich der kritischen Selbstreflexion der Moderne selbstgewiss 36 Ebd., S. 131. 37 Ebd., S. 132. 38 Mattenklott, Bilderdienst, S. 177. 39 Ebd., S. 176. 40 Ebd., S. 179.

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entschlägt. Sein besonderes Augenmerk gilt den arrangierten fotografischen Bildnissen StGs, die er als Medien einer allegorisch herbeigezwungenen Aura übergeschichtlicher Geltung deutet, mit denen sich letztlich der profane Zweck der Reklame maskiert habe. Die Verpflichtung auf die Ikone StG habe einen Hermetismus hervorgebracht, der sein exklusives Markenzeichen gegen alle übrigen Konkurrenten auf dem literarischen Markt durchsetzen wollte. Für die Gegenwart diagnostiziert Mattenklott das gerade Gegenteil, indem StGs Werk in eben die Verbannung geraten sei, die „sein Autor allen Göttern neben ihm bestimmt hatte.“41 StGs Totalitätsanspruch sieht Mattenklott durchaus in einer Vorläuferschaft zum Nationalsozialismus, denn es habe „die Gewalt des Wortes die des Apparates“42 vorbereitet. Der Diagnose, dass sich StGs Werk am ,Nullpunkt der Öffentlichkeit‘ (U. Jaeggi) befinde, stimmt Manfred Durzak in seiner Studie Zwischen Symbolismus und Expressionismus: Stefan George von 1974 durchaus zu. Aber ausgehend von den poetologischen Bezugnahmen Celans und Heißenbüttels auf StG versucht er, die Unabgegoltenheit von dessen Lyriktheorie, deren Kern in der Vorstellung einer autonomen, selbstreflexiven Sprache bestehe, zu erweisen. In diesem Teil rekurriert Durzak stark auf sein Buch von 1968; in den beiden folgenden Teilen diskutiert er den künstlerischen Rang der Kreis-Dichtung und zeigt den Nachhall von StGs Poetik bei einer Reihe von expressionistischen Autoren auf. Ebenfalls 1974 erschien die Dissertation Blätter für die Kunst von Karlhans Kluncker, die kenntnisreich die Entwicklung der ästhetischen und weltanschaulichen Positionen nachzeichnet, wie sie sich einerseits in den Einleitungen und Merksprüchen von StGs Zeitschrift und andererseits in den in ihr veröffentlichten Dichtungen manifestieren. Ein wertvolles Hilfsmittel ist Klunckers Darstellung darüber hinaus bis heute durch seine chronologischen und alphabetischen Register aller Beiträge und Autoren der BfdK. 1975 wurde das Buch Stefan George – Politik des Unpolitischen von Klaus Landfried veröffentlicht, das aus einer von Dolf Sternberger betreuten Dissertation von 1970 hervorgegangen war. Mit der Paradoxie des Untertitels spielt Landfried auf den Anspruch StGs an, einen auf der Ästhetik gründenden Staat im Staat zu errichten. Zum Nachweis dieses Anspruchs unternimmt er in seiner Studie „in mehreren Längsschnitten durch Georges Werk“ Wortfelduntersuchungen, die „die Helden- und Führerverehrung“ und den „irrationale[n] Gruppen-Kollektivismus“43 aus StGs Werk, seinen Äußerungen, den BfdK und dem Jahrbuch für die geistige Bewegung herausarbeiten sollen. Die soziologische Perspektive seiner Studie führt Landfried zu dem Ergebnis, StGs Projekt der Kulturerneuerung in den Kontext der Konservativen Revolution zu stellen, seinen Trägern aber einen Mangel „an verfassungspolitischer Einsicht und Erfahrung, an taktischer Klugheit, organisatorischem Rückhalt“44 zu bescheinigen, sodass ihre politisch ohnehin eher diffusen Vorstellungen nicht hätten wirksam werden können. Deutlich schärfer noch als bei Landfried fallen die Urteile, oder besser Verurteilungen, bei einer Reihe von Büchern aus, die exemplarisch für die ideologiekritische 41 Ebd., S. 182. 42 Ebd., S. 177. 43 Landfried, George, S. 18f. 44 Ebd., S. 248.

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Verfahrensweise der 70er-Jahre sind. Dazu gehört die 1973 abgeschlossene, aber erst 1978 publizierte Dissertation Politische Interpretationen von Stefan Georges Dichtung. Eine Untersuchung verschiedener Interpretationen der politischen Aspekte von Stefan Georges Dichtung im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1933 von Martin A. Siemoneit. Die Studie beschränkt sich auf den Zeitraum von 1933 bis 1935, weil – wie Siemoneit sachlich unzutreffend voraussetzt – „George nach 1935 im Dritten Reich abgelehnt und ignoriert wurde.“45 Ziel seiner Arbeit ist es zu zeigen, „dass Georges Dichtung und verschiedene mündliche Äusserungen […] Strukturen totalitärer Ideologie vorwegnahmen.“46 Im Zentrum solch totalitärer Strukturen, deren wichtigste Propagandisten Wolters und Friedrich Gundolf mit ihren Schriften Herrschaft und Dienst beziehungsweise Gefolgschaft und Jüngertum gewesen seien, sieht Siemoneit die „Glorifizierung des einen, schicksalgesandten Führers, der Deutschland und die Welt retten würde“,47 und das „Ideal der kritiklosen Unterwerfung“48 unter dessen geistige Gewaltherrschaft. Werner Strodthoff möchte in seiner Dissertation Stefan George. Zivilisationskritik und Eskapismus von 1976 zeigen, dass die „von George bewusst vollzogene Abwendung von einer rationalistisch und positivistisch bestimmten und sich ausrichtenden ,Alltagswelt‘“49 lediglich eine realitätsferne ,Gegenwelt‘ geschaffen habe, „deren antibürgerliche, artistische Revolte aus dem Bürgerlichen selbst hervorgeht.“50 Seine „soziologische als auch psychologische Gesichtspunkte“51 berücksichtigende Untersuchung widmet sich den Motiven Flucht und Exotismus ebenso wie den Themen Masochismus, Sadismus und Narzissmus. Strodthoff kommt zu dem Befund, dass StG „eine Mischung aus Bauer und Dandy, Asket und Bohemien, aus Solidität und – Hochstapelei, aus Revolte und Reaktion“52 darstelle und als Repräsentant für „jene gefährlich isolierte, kulturelle deutsche Sonderentwicklung, die schließlich in der totalen Katastrophe von 1945“53 mündete, gesehen werden müsse. Er glaubt, in der mythischen Überhöhung von Begriffen wie ,Gemeinschaft‘ und ,Führer‘ nicht nur einen ,gefährlichen Irrationalismus‘, sondern sogar eine ,gesinnungsmäßige Nähe‘ zum Nationalsozialismus erkennen zu können. Auch Bodo Würffel sieht in seiner Dissertation Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges von 1978 zumindest interpretatorische Leerstellen in StGs Dichtung, die einer solchen Einvernahme keinen entschiedenen Widerstand leisten. Er geht im Wesentlichen wirkungsgeschichtlich vor, indem er sich „auf eine Analyse der zeitgenössischen Rezeption“54 konzentriert. Insbesondere fragt er nach den Reaktionen auf die drei qualitativen Merkmale Esoterik, Sakralisierung und Prophetie, die er dem Georgeschen Werk entnimmt. Methodisch folgt Würffel dabei weitgehend den Spuren Mattenklotts, indem er StGs kalkulierten Wirkungs45 Siemoneit, Politische Interpretationen, S. 17. 46 Ebd., S. 16. 47 Ebd., S. 133. 48 Ebd., S. 135. 49 Strodthoff, Zivilisationskritik, S. 9. 50 Ebd., S. 11. 51 Ebd., S. 12. 52 Ebd., S. 287. 53 Ebd., S. 289. 54 Würffel, Wirkungswille, S. 10.

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willen ins Zeichen eines zur Reklame instrumentalisierten Anspruchs auf Exklusivität rückt. Quer zu dieser Rezeptionslinie steht die Aufsatzsammlung Symbol und Verkündung. Studien um Stefan George (1976) von Jan Aler, die teilweise bis in die 40erJahre zurückreicht. Sie enthält erhellende Beiträge über die Beziehung zwischen Verwey und StG, die wie etwa im Falle ihrer Auseinandersetzung über Rembrandts Luminiszenz sehr instruktiv sind. 1978 erschien die Dissertation Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges von Jürgen Wertheimer, die sich explizit um einen sachlichen Zugang zu ihrem Gegenstand bemüht. Wertheimer untersucht die Wandlungen in der „sprecherischen Intention“55 von StGs Werken, wodurch den sonst wenig beachteten frühen Dramenentwürfen und den dichterischen Zwiegesprächen im Spätwerk besondere Aufmerksamkeit widerfährt. Die im Werk sich vollziehende Entwicklung charakterisiert Wertheimer als Annäherung von „lyrischer und rhetorischer Rede.“56 Die 1980 erschienene Studie Stefan George von Werner Kraft versucht biographische Prägungen StGs und zentrale Themen und Haltungen seines Denkens zu skizzieren. Außerdem werden seine Beziehungen zu einer Reihe von Kreismitgliedern nachgezeichnet und etliche, vorwiegend knappe Gedichtinterpretationen geboten. Hervorzuheben ist an Krafts Buch, dass es als eines der ersten StGs Verhältnis zum Judentum aufgreift. Im Zeitraum von 1980 bis 1995 gab es keine Annäherung an das Gesamtwerk und die Person StGs, sondern nur fünf Spezialuntersuchungen. 1983 veröffentlichte Heidi E. Faletti ihre Dissertation Die Jahreszeiten des Fin de sie´cle. Stefan Georges ,Jahr der Seele‘, eine der wenigen umfangreichen Untersuchungen eines Einzelwerks. 1986 legte Günter Heintz sein Buch Stefan George. Studien zu seiner künstlerischen Wirkung vor, das den Nachhall von StGs Werk bei so unterschiedlichen Autoren wie u. a. Rilke, Loerke, Stadler, Zech, Benjamin oder Gomringer untersucht. Heintz geht es darum zu zeigen, dass in StGs Dichtung ästhetische Modelle und sprachliche Techniken ausgearbeitet sind, die jenseits ihres ideologischen Kontextes Anschlussmöglichkeiten für verschiedenste intellektuell-künstlerische Orientierungen bieten. Methodisch mit Heintz verwandt folgte 1994 die Dissertation Der Dichter als Führer? Zur Wirkung Stefan Georges im ,Dritten Reich‘ von Michael Petrow. Anders als Heintz konzentriert sich Petrow auf die Bereiche Publizistik und Fachwissenschaft und rekonstruiert auf differenzierte Weise die kulturpolitischen Auseinandersetzungen um die Wertung von StGs Werk in der Zeit des Nationalsozialismus. Er kommt dabei zu dem interessanten Resultat, dass sich zwar das Jahr 1935 als Umschlagspunkt von der versuchten Vereinnahmung zur diffamierenden Ausschließung ausmachen lässt, gleichwohl aber vorher wie nachher sich innerhalb des Systems abweichende Meinungen in nennenswerter Form behaupten. Petrow korrigiert in dieser Hinsicht die allzu schematische Studie von Siemoneit von 1978. Zuvor waren 1987 Marita Keilson-Lauritz’ Buch Von der Liebe, die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges und 1989 die musikwissenschaftliche Monographie Stefan George und „Les Deux Musiques“ von Wolfgang Osthoff, die eine umfassende Untersuchung der Vertonungen von George-Gedichten bietet, erschienen. 55 Wertheimer, Dialogisches Sprechen, S. 3. 56 Ebd., S. 5.

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1995 publizierte Stefan Breuer das Buch Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, das wie kein anderes zuvor Reaktionen in der Öffentlichkeit und heftige Kontroversen in der George-Forschung auslöste. Breuer betrachtet den George-Kreis als eine Art sozialen Laborversuch, in dem der ästhetische Fundamentalismus als die reinste „Durchführung des Prinzips der charismatischen Herrschaft“57 erprobt worden sei. Dabei stelle der George-Kreis ein auf sozialem, ökonomischem und politisch-rechtlichem Sektor regressives Phänomen dar, das der Komplexität der rationalisierten Moderne einfache, personale Strukturen entgegensetzen wolle. Breuers These läuft aber darauf hinaus, dass der ästhetische Fundamentalismus einer „Dialektik der Gegenaufklärung, die durch den Mythos die Rationalisierung befördert“,58 unterliege, also auf die mit Versachlichung, Mechanisierung und Vermassung einhergehende Entdifferenzierung nicht mit der Verteidigung kultureller Differenz, sondern dem Entwurf einer monolithischen, hierarchisch erstarrten Kultur antworte. Die innere Hierarchie des George-Kreises leitet Breuer aus dem Befund eines gestörten Narzissmus seiner Mitglieder ab, wobei er sich an den psychoanalytischen Theorien von Heinz Kohut orientiert. StG erlöse sich aus seiner psychischen Krise selbst durch die voluntaristische Geburt der vollkommenen Spiegelgestalt Maximin und nehme in der Folge die psychische Rolle einer ,Mutter‘ ein, welche die Teilhabe am Heiligtum kontrolliere. So wenig überzeugend der psychoanalytische Unterbau von Breuers Ausführungen gerade in der vereinseitigenden Rekonstruktion höchst verschiedener Lebensläufe ist, so anregend hat doch sein Gesamtaufriss des ästhetischen Fundamentalismus gewirkt. Dazu hat sicher auch sein Bemühen beigetragen, den politischen Ort des George-Kreises in dem Feld von Konservativer Revolution, Neuem Nationalismus und Nationalsozialismus zu bestimmen. 1997 erschien der zweite Teil von Wolfgang Braungarts Habilitationsschrift unter dem Titel Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur. Braungart erprobt hier am Werk StGs, das in der Moderne wohl am exponiertesten auf ästhetische Gestaltungstechniken des Rituals rekurriert, die theoretischen Konzepte, die er im ein Jahr zuvor publizierten ersten Teil Ritual und Literatur entwickelt hatte. Im Blick auf StG kommt es ihm darauf an, die bloße Beschreibung des Phänomens kultischer Formgebung bei Linke historisch zu kontextualisieren. In seiner Vorbemerkung begegnet Braungart dem möglichen Einwand, seine Perspektive vernachlässige die platonische, das heißt letztlich pagan-antike Imprägnierung von StGs Werk zugunsten der Katholizität mit der These, dass diese hellenisierende Selbstdeutung des Kreises „die für George entscheidende Verbindung von Ästhetischem, Religiösem und Sexuellem“59 kaschiere. Braungart geht es im Folgenden darum zu zeigen, dass bei StG „ästhetisches und soziales Ritual miteinander zusammenhängen“ und „als Modell poetischer Selbstauslegung und als Modell sozialer Gemeinschaft“60 fungieren. In diesem Konzept einer „Poesie als zelebriertes Sakrament“61 sieht Braungart den inneren Zusammenhang von StGs Werk und Leben, seinen spezifischen Versuch, eine religiös57 Breuer 1995, S. 239. 58 Ebd., S. 243. 59 Braungart 1997, S. IX. 60 Ebd., S. 79. 61 Ebd., S. 18.

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kultische Steigerung des Lebens mit den Erfordernissen der ästhetischen Moderne zu synthetisieren. Zwei umfangreiche Studien, die das Phänomen George-Kreis insgesamt unter einem spezifisch geschichtlichen Blickwinkel betrachteten, folgten 1997 und 1998. In ihrer Dissertation Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933 nimmt die Erziehungswissenschaftlerin Carola Groppe 1997 den George-Kreis als Paradigma zur Illustration exemplarischer bürgerlicher Sozialisationsprozesse und Bildungskarrieren. In ihrer sozial- und kulturgeschichtlichen Studie kombiniert sie biographische Porträts, die Beschreibung der wissenschaftlichen Aktionsfelder und die Einbettung in zentrale Diskurse wie Jugendbewegung oder Kulturkritik. Unter methodischem Aspekt ist bemerkenswert, dass sie wie die im Jahr darauf erschienene Habilitationsschrift Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945 von Rainer Kolk auf Pierre Bourdieus Kulturtheorie rekurriert. Kolk versteht seine Studie entsprechend als Beitrag zu einer kulturhistorisch ergänzten Sozialgeschichte der Literatur. Auch für sein Erkenntnisinteresse besitzt der George-Kreis paradigmatischen Charakter. An ihm möchte er die „Entstehung, Struktur und Funktion literarischer Gruppierungen“ im „relativ autonomen Kunst- und Literatursystem“62 untersuchen. Auf der Basis einer soziologischen Begriffsbestimmung analysiert Kolk die Herausbildung und die Wandlungen der Struktur des George-Kreises. Ein Schwerpunkt seiner Studie liegt auf der wissenschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion des Wirkens von Mitgliedern des George-Kreises im Universitätsbetrieb der Weimarer Republik. Wie Groppe hat auch Kolk eine Fülle von biographischen und institutionellen Dokumenten neu erschlossen. 2000 erschien die Dissertation Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung von Martin Roos, die an die Arbeiten von Mattenklott und Braungart anschließt und „Georges wirkungsintentionale Formen und rhetorische Praktiken zum Inhalt“63 hat. Roos lässt das literarische Werk ganz beiseite und „möchte darstellen, wie George in seinem außerliterarischen Schaffen auf Mittel und Strategien zurückgreift, die in der Rhetorik angelegt und entwickelt sind.“64 Unter diesem Blickwinkel untersucht Roos die Funktion der StG-Schrift, der Buchgestaltung, der Fotografie und der Rituale und Zeremonien. Seine Studie möchte „die ästhetischen, pädagogischen, kultischen und schließlich politischen Aktivitäten Georges und seiner Anhänger als persuasives Geschehen, als auf Überredung und Überzeugung abgezielte rhetorische Handlungen beschreiben.“65 Nach Roos sollte „Georges Ästhetik als persuasives Geschehen“66 die Kreismitglieder auf seine Schrift, sein Bild und seine Rituale verpflichten und ein Modell des ,schönen Lebens‘ entwerfen. Roos sieht in diesem Modell eine der ,artistischen Fluchtbewegungen‘ (N. Bolz) der Zeit und einen möglichen „Nährboden für die politische Fehlentwicklung.“67 2002 erschien die Dissertation Ästhetische Kritik der Moderne von Geret Luhr, die das Spektrum der rezeptionsgeschichtlichen Studien erweitert und speziell die Wir62 Kolk 1998, S. 5. 63 Roos, Georges Rhetorik, S. 9. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 11. 66 Ebd., S. 191. 67 Ebd., S. 11.

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kung von StGs Werk bei jüdischen Autoren und Intellektuellen untersucht. Einen besonderen Schwerpunkt bildet dabei die Analyse der Auseinandersetzung Walter Benjamins mit StG, der „mehr als irgend ein anderer Autor […] die antagonistische Bewegung von Benjamins kultur- und modernitätskritischem Diskurs motiviert“68 habe. Das weitergehende Interesse von Luhrs Studie gilt der „Bedeutung der jüdischen George-Rezeption für ein Verständnis der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte.“69 Armin Schäfer wählte in seiner 2005 publizierten Habilitationsschrift Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik einen medienästhetischen Zugang zu StGs Dichtung. Er geht von einem ,Lebensprojekt‘ StGs aus, das „die Einheit von Leben, Werk und Wirkung“ in einer „Politik des Symbolischen“ synthetisiert und dessen Spuren „in seinem Werk selbst nachgezeichnet“70 habe. Dabei, so Schäfer, werde „dieses Lebensprojekt von einer unablässigen Aktivität geprägt, die eine despotische Maschinerie antreibt und auf eine verbindliche, imperiale Repräsentation ausgerichtet ist.“71 Schäfer rückt dieses Projekt daher ins Zeichen des Totalitären. Der „intensive […] Einsatz von wortkünstlerischen Verfahren, rhetorischen Strategien und Medientechniken“72 diene der Artikulation „einer totalitären Sprache“,73 die Ausdruck eines ,Willens zur Form‘ sei und der formlosen Gegenwart ,eigene Ordnungsvorstellungen‘ entgegenstelle. Das Totalitäre von StGs Sprache, so Schäfer weiter, beruhe darauf, dass sie „sich von nahezu allen politischen Positionen, linken wie rechten, gebrauchen lässt und darüber hinaus fähig ist, sich allen möglichen Diskursen zu assimilieren.“ Diese arbiträre Instrumentalisierbarkeit resultiere aus dem Fehlen eines „konsistenten oder gar systematischen Zusammenhang[s]“ von StGs Sprache. Schäfer untersucht im Folgenden mit hohem Aufwand Lexik und Syntax, die Interdependenz von Bedeutung und Klang, die medienästhetischen Aspekte des Schriftbilds, des Hersagens, der Synästhesie und schließlich zahlensymbolische Verhältnisse. Dabei geht er davon aus, dass StGs Gedichte „als Sprachalgorithmen dechiffriert und als Befehlsfolgen decodiert werden“74 müssen, um der Verschlingung des Poetischen und des Politischen gerecht zu werden. Schäfers ambitionierte medienästhetische Lektüre leidet indes an allerlei sachlichen Irrtümern. Im selben Jahr erschien die Habilitationsschrift Fliehkräfte der Moderne. Zur IchKonstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts von Dirk von Petersdorff, die ein umfangreiches Kapitel über StG enthält. Petersdorff verwendet StG als Exemplum für seine mehrfach vorgetragene These, dass der „Hauptstrom der ästhetischen Moderne […] eine antagonistische Reaktion auf seine Umwelt, die gesellschaftlich-historische Moderne, darstellt.“75 Anders gesagt: Petersdorff reibt sich an dem Widerspruch zwischen der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bestehenden Tendenz zu einer offenen, die individuelle Freiheit anstrebenden bürgerlichen Gesellschaft einerseits und der Neigung der ästhetischen Moderne, sich ganzheitlichen, ,nicht-entfremdeten‘ Utopiemodellen zu verschreiben, andererseits. Es geht ihm also ähnlich wie 68 Luhr, Ästhetische Kritik, S. 21. 69 Ebd., S. 11. 70 Schäfer, Intensität der Form, S. 32. 71 Ebd., S. 33. 72 Ebd., S. 40. 73 Ebd., S. 41. 74 Ebd., S. 15. 75 Petersdorff, Fliehkräfte, S. 8.

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Schäfer um den Nachweis der Partizipation von StGs Dichtung am ideologischen Totalitarismus des 20. Jahrhunderts, wobei seine Methode nicht medienästhetisch orientiert ist, sondern sich als eine durch die subjektkritischen Positionen der Dekonstruktion geläuterte Hermeneutik versteht, die jedoch am Konzept einer „Identität als Selbsterfindung“76 festhält. StG gehört für Petersdorff zu den Autoren, die am radikalsten auf den Orientierungs- und Werteverlust der modernen Gesellschaft reagiert haben. Er habe mit dem George-Kreis „eine Ordnung, in der Notwendigkeit herrschte“,77 als autochthones Gegen-Reich errichtet. Petersdorff sieht als „Georges Antwort auf die Identitätsdebatte der Moderne“78 sein Angebot eines „in seiner Geltung nicht bezweifelbaren Zentrums“, das den in ihrer Identität von den Perturbationen der Moderne angefochtenen Einzelnen durch die Identifikation mit einem in sich geschlossenen Wertesystem und Verhaltenskodex „lebensgeschichtliche Kontinuität“ verbürgt. Die Pointe von Petersdorffs George-Deutung besteht darin, dass er eine „immer deutlicher zutage tretende gesellschaftliche Ortlosigkeit von Georges ästhetischem Anti-Modernismus“79 konstatieren zu können glaubt, die den Dichter zu einer Haltung der „Skepsis und Selbstdistanzierung“ geführt habe. So werde gerade in StGs letztem Gedichtband Das Neue Reich die Option konzediert, „die Welt nicht mehr zu verdammen, sondern sich auf ihre Veränderungen einzulassen“,80 worin Petersdorff einen Selbstwiderspruch zu dem ansonsten vorwaltenden „ästhetischen Fundamentalismus“81 StGs erkennt. Es sei hier allerdings einschränkend festgehalten, dass die Textanalysen, welche die These dieser Selbstkorrektur stützen sollen, wenig überzeugen. Der Philosoph Manfred Riedel unternahm 2006 mit seiner Studie Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg „Grenzgänge im Bereich von Dichtung, Geschichte und Politik“,82 die ihren gemeinsamen Ausgangspunkt in StGs Gedicht „Geheimes Deutschland“ (IX, 45–49) aus dem Neuen Reich haben. In ihm sieht Riedel die Vision eines europäischen Deutschland, die sich im Horizont von Hölderlins Hesperien-Entwurf und Nietzsches Traum von einem ,deutschen Delos‘ verstehen lässt. StGs Gedicht „Geheimes Deutschland“ führe den zeit- und kulturkritischen sowie den prophetischen Duktus fort und erahne die „Vernichtung mythisch-geschichtlicher Räume im globalisierten Raum.“83 Riedel wertet den 30. Januar 1933 und die Selbstzerstörung des George-Kreises als Zeichen dieser Vernichtung, während das tragische Geschehen des 20. Juli 1944 die Idee der Unabgegoltenheit der hesperischen Utopie an die Gegenwart weiterreiche. In diesem Kontext nährt für Riedel der deutsch-jüdische Dialog zwischen Alexander von Stauffenberg und Ernst Kantorowicz nach 1945 die Hoffnung auf die mögliche Fortexistenz eines Denkens und Dichtens mit Bezug auf einen ,alteuropäischen‘ StG. Die 2007 erschienene Habilitationsschrift Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert von Steffen Martus ent76 Ebd., S. 19. 77 Ebd., S. 6. 78 Ebd., S. 124. 79 Ebd., S. 131. 80 Ebd., S. 139. 81 Ebd., S. 135. 82 Riedel, Geheimes Deutschland, S. 2. 83 Ebd., S. 131.

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hält ein buchlanges Kapitel über StG, in dem dessen „Verfahren der Selbstkontextualisierung“84 im Mittelpunkt stehen. Es geht Martus um StGs mediengerechtes Erzeugen von Aufmerksamkeit, das er als implizites poetologisches Thema seines Werks begreift. Er möchte „die Spaltungen der George-Forschung in die Analyse der Kontexte, der Publikationsstrategien und der Werkanalyse überwinden“85 und StGs Schreiben als ,Werkpolitik unter den Bedingungen von Kritik und Philologie‘86 untersuchen. Damit skizziert Martus ein Forschungsprojekt, das eher als eine Monographie ein Handbuch zu realisieren vermag. Aus demselben Jahr stammt die Dissertation Muttermythos und Herrschaftsmythos von Georg Dörr, die ebenfalls ein langes Kapitel StG widmet und durchgehend auf sein Werk referiert. Dörrs Intention zielt auf den Nachweis von strukturellen Analogien in der Mythenrezeption bei den Kosmikern, StG und den Vertretern der Frankfurter Schule Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Er betont die Kontinuität der Mythenrezeption der Kosmiker in StGs Denken über die Zäsur des sogenannten ,Kosmikerkrachs‘ hinaus und plädiert im Anschluss an Breuer für einen extensiven Begriff von Religiosität, der es erlaube, StG als Religionsstifter zu verstehen. Dörr deutet die Maximin-Gestalt als Manifestation einer neopaganen und intramundanen Religion, die die Trennung von Diesseits und Jenseits explizit negiert und StGs Werk seit dem Siebenten Ring als „posteschatologisch“87 verstehen lässt, da ,das Heil bereits eingetreten‘ sei. Die Differenz zu der spezifisch kosmischen Position sieht Dörr in der apollinischen Aufhebung der dionysischen Kräfte in Form eines männlichen Herrschaftsmythos. 2010 legte Ernst Osterkamp die Monographie Poesie der leeren Mitte über StGs letzten Gedichtband Das Neue Reich vor. Osterkamp begründet seine Konzentration auf das Spätwerk mit dessen Attraktivität in einer postutopischen Gegenwart, der StGs prophetische Position als „fernste und exotischste aller deutschen Möglichkeiten“ und „finster verlockendes Gegenbild“ erscheine.88 Nach den soziologischen, wirkungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Akzentsetzungen will Osterkamp an das Primat des Poetischen erinnern, aus dem erst das Charisma StGs erwachsen konnte. Er rückt daher die ästhetische Gestalt und poetische Funktionsweise einiger ausgewählter Gedichte (u. a. „Goethes lezte Nacht in Italien“, „Hyperion“) ins Zentrum seiner Untersuchung, deren Methode er als Doppelbewegung von „Annäherung und Distanzgewinn“89 beschreibt. Sein Ziel besteht darin, „die Idee des ,Neuen Reichs‘ als eines metapolitischen Erlösungsphantasmas“90 aus den Texten zu destillieren. Die Einheit des entstehungsgeschichtlich heterogensten Werks StGs sieht Osterkamp in seinen „heilsgeschichtlichen Intentionen“.91 Die Analyse zeigt indes, dass damit keine Aussicht auf eine irgendwie konkretisierbare religiös überhöhte staatliche Ordnung gemeint ist, sondern das Festhalten an einer Idee des Einbruchs göttlicher Präsenz in das profane geschichtliche Kontinuum. Osterkamp weist überzeugend nach, dass eine 84 Martus, Werkpolitik, S. 527. 85 Ebd., S. 526. 86 Vgl. ebd., S. 9. 87 Dörr, Muttermythos, S. 289. 88 Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 12. 89 Ebd., S. 18. 90 Ebd., S. 21. 91 Ebd., S. 26.

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„hoch aufgeladene Temporalsemantik von Augenblick und Plötzlichkeit“92 das Spätwerk charakterisiert. Insofern der Eintritt des ,Neuen Reichs‘ an die plötzliche Erscheinungsform des Göttlichen geknüpft ist, sei es aus der Geschichte herausgesprengt und in einem „zeitlose[n] nu“ (VIII, 74) konzentriert. Bei aller Evidenz von Osterkamps Argumentation ist freilich daran zu erinnern, dass die prominente Formulierung von der ,Pflanzung des Neuen Reichs‘ (IX, 30) und die im Spätwerk manifeste Metaphorik von Same und Keim zugleich auch das Bild einer unterirdisch, d. h. im Geheimen wachsenden Utopie evozieren. Der spezifischen Zeitstruktur der Plötzlichkeit korrespondiere, so Osterkamp, „das zentripetale Erlösungsdenken des Spätwerks“,93 das den Begriff der Mitte neu definiert. Am „Hyperion“-Gedicht zeigt er die Transformation der Idee der Mitte zu einer nationalen Reichs-Idee, die die Verleiblichung des Gottes an die heimische ,scholle‘ rückbindet. Die Studien zur inneren Struktur des George-Kreises vermehrte Gunilla Eschenbach 2011 durch ihre Dissertation Imitatio im George-Kreis, die sich primär der oft als epigonal klassifizierten lyrischen Produktion der Kreismitglieder zuwendet. Eschenbach versteht diese Praxis als eine bewusste Imitatio, die die von StG selbst initiierte Funktion einer ästhetischen und ethischen Nachfolge erfüllt und (nach innen) der Selbstvergewisserung des Kreises dient wie (nach außen) allgemein kulturbildend wirkt. Imitatio erscheint dabei als Gemeinschaft stiftender Akt, der den ,abgeleiteten‘ Wesen durch die aktive Anverwandlung des schöpferischen Werks eines ,Urgeistes‘ erlaubt, sich zu optimieren, d. h. an der kulturerneuernden Mission des ,Urgeistes‘ zu partizipieren. Eschenbach gewinnt diese Nachahmungstheorie aus poetischen und poetologischen Zeugnissen des George-Kreises und differenziert sie in exemplarischen Untersuchungen (u. a. zu Friedrich Gundolf, Morwitz, Kommerell). Entscheidend für ihr Imitatio-Modell sind die beiden zusammengehörigen Bereiche von technischer Übung (exercitatio) und persönlicher Berührung (contagio). In ergänzenden Kapiteln skizziert sie die parodistischen Verfahrensweisen, die Mitglieder des Kreises anwandten (z. B. Wolfskehls Rilke-Parodien) beziehungsweise die auf StG angewandt wurden (z. B. Die Opfer des Kaisers. Kremserfahrten und die Abgesänge der hallenden Korridore von A. Schaeffer und L. Strauß). In einem Anhang werden einige bisher ungedruckte Beispiele für Imitatio und Parodie dokumentiert. Die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung des George-Kreises rückt Francesco Rossi in den Mittelpunkt seiner 2011 erschienenen Dissertation Gesamterkennen. Zur Wissenschaftskritik und Gestalttheorie im George-Kreis. Rossi geht von der Annahme aus, „dass epistemologische Grundüberzeugungen im George-Kreis vorhanden sind“,94 deren Entwicklung sich anhand der Kreisschriften rekonstruieren lässt. Seine diskursgeschichtliche Methode soll „sowohl Kontinuitäten als auch Bruchstellen und Widersprüchlichkeiten“95 sichtbar machen. Obwohl Rossi den antisystematischen Charakter seines Gegenstands betont, hält er doch daran fest, dass „sich die George-Wissenschaft als ein regelrechtes ,Paradigma‘ konstituiert.“96 Als dieses Paradigma macht Rossi eine Theorie der Gestalt geltend, die „innerhalb des Kreises 92 Ebd., S. 117. 93 Ebd., S. 132. 94 Rossi, Gesamterkennen, S. 13. 95 Ebd., S. 24. 96 Ebd., S. 25.

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individuen- und disziplinübergreifend Zuspruch findet.“97 Das erkenntnistheoretische Instrumentarium, das der Idee der Gestalt adäquat ist, findet Rossi am anspruchsvollsten und programmatischsten in Edith Landmanns Transcendenz des Erkennens formuliert und im Begriff der Gesamterkenntnis konzentriert. Die Genese dieses Konzepts entwickelt Rossi aus der mit Nietzsche einsetzenden Wissenschaftskritik und verfolgt sie u. a. über die Stationen der Jahrbücher, der Gestalt-Monographien und des Werturteilsstreites. Das Resultat ist eine präskriptive Wissenschaftsdoktrin, die eine Gesinnungsgemeinschaft konstituiert. Sammel- und Tagungsbände Zum Abschluss dieses Überblicks über die Sekundärliteratur seien noch die StGs Werk gewidmeten Sammel- und Tagungsbände in Auswahl genannt. Zum 25. Todestag StGs stellte Manfred Schlösser in der Schriftenreihe „Agora“ ein Gedenkheft unter dem Titel Kein ding sei wo das wort gebricht zusammen, das neben einigen Aufsätzen auch Stimmen lebender Autoren zu StG enthält. 1961 erschien der Band in wesentlich veränderter Gestalt neu. Die nächsten beiden Bände stehen im Zusammenhang mit der 100. Wiederkehr von StGs Geburtstag 1968. Eher als ehrendes Gedenken ist die Festschrift Stefan George. Lehrzeit und Meisterschaft angelegt, die die auf Initiative von Robert Wolff veranstaltete Binger Centenarfeier dokumentiert. Kritische Töne überwogen hingegen auf dem Stefan-George-Kolloquium, dessen Beiträge von Eckhard Heftrich, Paul Gerhard Klussmann und Hans Joachim Schrimpf veröffentlicht wurden. Hier wurde auch die Ansicht, StG befinde sich am ,Nullpunkt der Öffentlichkeit‘, von dem Soziologen Urs Jaeggi geäußert. 1978 hielt wiederum Robert Wolff, diesmal in Verbindung mit Peter Lutz Lehmann, in Bingen ein StefanGeorge-Seminar ab, das durch die Mitwirkung von Hans-Georg Gadamer und Wilhelm Emrich und durch die Präsentation entstehender Forschungsarbeiten auch fachwissenschaftlichen Ansprüchen Genüge tat. 1985 dokumentierte Hans-Joachim Zimmermann ein Symposium der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, das Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft untersuchte. Thematisch schloss daran die 2004 abgehaltene Tagung Wissenschaftler im George-Kreis an, deren Beiträge im Folgejahr von Bernhard Böschenstein, Jürgen Egyptien, Bertram Schefold und Wolfgang Graf Vitzthum publiziert wurden. Ihr Erkenntnisinteresse richtete sich auf die Prägung, die Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen – von der Nationalökonomie bis zur Kunstgeschichte, von der Klassischen Archäologie bis zur Rechts- und Staatswissenschaft – durch ihre Nähe zu StG erfuhren. Ebenfalls 2004 erschien beim Verlag Camden House (USA) der von Jens Rieckmann herausgegebene Sammelband A Companion to the Works of Stefan George. Das Buch bietet mit Rieckmanns solider „Introduction“ sowie mit neun Aufsätzen zu StGs Dichtung und bestimmten Aspekten des Kontextes eine umfassende und profunde Einführung, die mit den Beiträgen von William Waters zur Poetologie und Jeffrey D. Todd zur Kontinuität von StGs Ästhetik auch die deutschsprachige Forschung bereichert. Seit 1998 finden in dichter Folge größere Tagungen zu StG und dem George-Kreis statt. Den Reigen eröffnete der Kongress Stefan George: Werk und Wirkung seit dem 97 Ebd., S. 31.

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,Siebenten Ring‘ mit 27 Beiträgen, die 2001 Wolfgang Braungart, Ute Oelmann und Bernhard Böschenstein herausgaben. Im selben Jahr erschien der fünfzehn Vorträge enthaltende Sammelband ,Verkannte brüder?‘ Stefan George und das deutsch-jüdische Bürgertum zwischen Jahrhundertwende und Emigration, der eine Tagung in Potsdam 2000 dokumentierte und für den Gert Mattenklott, Michael Philipp und Julius H. Schoeps verantwortlich zeichneten. 2004 fasste der von Barbara Schlieben, Olaf Schneider und Kerstin Schulmeyer veröffentlichte Band Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft die insgesamt sechzehn Beiträge zweier Veranstaltungen zusammen. Die eine war die Sektionssitzung Stefan George und die Geschichtswissenschaft, die 2002 im Rahmen des Deutschen Historikertags stattfand, die andere das Frankfurter Symposium Mittelalterbilder im George-Kreis im selben Jahr. Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ wurde 2007 die Tagung Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis durchgeführt, deren vierzehn Vorträge in einem 2009 von Roman Köster, Werner Plumpe, Bertram Schefold und Korinna Schönhärl herausgegebenen Band publiziert wurden. Im Jahr 2008 richtete das Deutsche Literaturarchiv Marbach die Konferenz George und die Frauen aus, deren Ergebnisse 2010 von Ute Oelmann und Ulrich Raulff veröffentlicht wurden. Neben diesen aus Tagungen hervorgegangenen Sammelbänden ist noch das Jubiläumsheft 250 der Zeitschrift Castrum Peregrini aus dem Jahr 2001 zu erwähnen, das neunzehn Einzelinterpretationen zu Gedichten enthält, wovon mehrere von zeitgenössischen Lyrikern stammen. Der 2010 von Ute Oelmann und Ulrich Raulff herausgegebene Sammelband Frauen um Stefan George, der aus einer Marbacher Tagung hervorgegangen ist, versucht dem gängigen Urteil, der George-Kreis sei eine frauenfreie Zone, die Beobachtung entgegenzusetzen, dass Frauen eine eminente Rolle in StGs persönlichem Umfeld und auch für seine Dichtung spielten. In Form von elf Einzelporträts und einiger übergreifender Aufsätze zu Dichtung, Poetik und Kreis werden die Präsenz von Frauen und die Thematisierung des Weiblichen im George-Kreis rekonstruiert. Die Porträts schreiten chronologisch die Reihe von StGs Jugendfreundin Ida Coblenz bis zu Clotilde Schlayer, der Begleiterin seiner letzten Jahre in Minusio, ab und lassen dabei das ganze Spektrum von bedingungsloser intellektueller Hingabe (Edith Landmann) über geistige Autonomie auf der Basis der Freundschaft (Sabine Lepsius) und eigenständige Ausgestaltung erzieherischer Konzepte (Erika Schwartzkopff-Wolters) bis zur Errichtung eines ,Gegenlebens‘ (Elisabeth Salomon) erkennen. Der wesentliche Ertrag des Bandes dürfte in dem Nachweis liegen, dass trotz mancher programmatischer Exklusionsdeklarationen und der ,Annihilation der Frau im Spätwerk‘ (E. Osterkamp) das weibliche Element kontinuierlich ein lebensweltliches Ingredienz der Kreis-Realität war. Zu prüfen ist allerdings im Einzelfall, ob dieses Existenzrecht nicht an die Preisgabe der weiblichen Identität geknüpft war. 2010 erschien auch der umfangreiche Sammelband Stefan George. Dichtung – Ethos – Staat, für den Bruno Pieger und Bertram Schefold verantwortlich zeichnen und der auf zwei Frankfurter Tagungen zurückgeht. Grundlegend für seine Konzeption ist die produktive Aufnahme der von Manfred Riedel in seiner Monographie Das geheime Deutschland entwickelten Position, StGs Denken in den Horizont eines ,europäischen Deutschland‘ zu stellen. Dies geschieht in zwei (postumen) Beiträgen von Riedel selbst, die die Konstellation Goethe-Nietzsche-George fokussieren, und u. a. in

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der Deutung des Gedichts „Das Geheime Deutschland“ (Christophe Fricker), dem Nachweis einer bis ins Spätwerk reichenden, sich behauptenden Prägung durch Mallarme´ (Ludwig Lehnen) und dem interessanten Versuch, untergründige Filiationen zwischen Gadamers Hermeneutik und StG aufzuspüren (Jean Grondin). Nennenswert ist auch der Beitrag von Ray Ockenden über Mensch und Natur in der Dichtung Stefan Georges, der in einem motivischen Längsschnitt die geläufige These von der Naturferne StGs erschüttern möchte. Biographien zu Leben und Nachleben Georges Die erste umfassende Biographie StGs im Kontext seiner Kreise und seiner Zeit verfasste der amerikanische Germanist Robert E. Norton. Sie erschien 2002 in der Cornell University Press. Norton setzt an dem Widerspruch an, dass StG zu Lebzeiten zu den einflussreichsten Repräsentanten des deutschen Geistes gezählt wurde, nach dem Zweiten Weltkrieg aber zunehmend in Vergessenheit geriet. Er geht dabei von dem Phänomen aus, dass StG seine Biographie vor seinen Zeitgenossen weitgehend verbarg, und sieht seine Aufgabe darin, die erste biographische Gesamtdarstellung zu bieten, die die Materialfülle der Zeittafel nützt, ergänzt und von einem Standort jenseits aller Verbindung mit dem George-Kreis verfasst ist. Seine eigene Sehweise ist von kritischer Distanz bestimmt: „Hardly one aspect of George’s life – ranging from his political beliefs, his social conscience, his literary tastes, his religious convictions, even his sexual orientation – does not stand at some remove or even in direct opposition to my own experience.“98 Norton begreift StG und seinen Kreis als „a kind of miniature model of the way that state might look: enthusiastic followers who submitted themselves without questions to the example and will of their charismatic leader, who they believed possessed mysterious, even quasi-divine powers.“99 Zwar betont Norton, dass er das ,Geheime Deutschland‘ nicht mit dem ,Dritten Reich‘ identifiziere, unterstreicht aber zugleich, dass beide sich nicht voneinander trennen lassen. Er greift daher, ohne sie zu nennen, auf die alten Thesen von Benda, Capetanakis und den Autoren der 60er- und 70er-Jahre zurück und rückt StG und den George-Kreis in den Horizont einer geistig-kulturellen ,Vorläuferschaft‘: „I am convinced that George and his circle significantly contributed to the creation of a psychological, cultural, and even political climate that made the events in Germany leading up to and following 1933 not just imaginable, but also feasible.“100 Knapp 750 Seiten später kommt Norton nach einer intensiven Beschäftigung mit StG als Poet, Pädagoge, Politiker und Prophet zu dem Befund: George’s actions, words, and ideas had created an intellectual and psychological context that aided the Nazis in their subsequent rise to power [and] he had, in his works and those of his followers, helped to prepare his countrymen to believe that their salvation lay in submitting themselves to the will and guidance of an all-powerful Führer.101

98 99 100 101

Norton, Secret Germany, S. XV. Ebd., S. XI. Ebd., S. XVI. Ebd., S. 744.

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Nortons Argumentation lässt hier eine methodische Schwäche seiner Deutung erkennen. Er macht StG für eine popularisierende Lesart seiner dichterischen Sprache haftbar, die ihren Kunstcharakter kassiert. Das methodische Problem manifestiert sich auch in Nortons eigenen Übersetzungen Georgescher Gedichte, die ihnen eine Eindeutigkeit im Politischen verleihen, welche die Poetizität ihres Zeichensystems ignoriert. Einen hohen Stellenwert in der Forschung wird künftig die schon erwähnte Biographie StGs von Thomas Karlauf einnehmen, die 2007 erschien. Dabei liegt ihr Hauptverdienst weniger in dem Aufweis von StGs im Untertitel hervorgehobenen Charisma, das in der vorangegangenen Forschung schon mehrfach, etwa bei Breuer und Kolk, nachdrücklich als Bindemittel im George-Kreis herausgestellt wurde. Karlaufs Buch überzeugt durch drei darstellungstechnische bzw. methodische Verfahren. Zum Ersten verwirklicht er sein Vorhaben, mit StGs Biographie zugleich das „Abbild einer hypertrophen Epoche“102 zu zeichnen, durch die aufeinanderfolgende Konfrontation verschiedener Werkphasen StGs mit den Positionen von Georg Simmel, Max Weber und Walter Benjamin, wobei in den ersten beiden Fällen eine intensive persönliche und geistige Auseinandersetzung bestand. Besonders das Kapitel über die Beziehung zwischen StG und dem George-Kreis einerseits und Max Weber andererseits in der gemeinsamen Heidelberger Zeit gehört zu den dichtesten Passagen des Buchs. Zum Zweiten hat Karlauf seiner Biographie eine aufschlussreiche Struktur verliehen, indem er sie an den Auftritten immer neuer persönlicher und durchaus intimer Bezugsfiguren StGs orientiert. Damit macht seine Lebensbeschreibung so etwas wie den erotischen Pulsschlag in der pädagogischen Provinz des George-Kreises vernehmbar. Gleichzeitig wird das Gefüge des Kreises um StG auf diese Weise als ein dynamisches Gebilde sichtbar, in dem Eifersucht oder Liebesentzug zum strategischen Kalkül gehörten. Zum Dritten schließlich ist es Karlauf gelungen, die zentrale Bedeutung der Homosexualität für die Konstitution und Bindekraft des George-Kreises auf eine sensible, aber gleichwohl unzimperliche Weise zu demonstrieren. Dazu dienen seine feinsinnigen Gedichtinterpretationen, die den ästhetischen Gebilden ihr autobiographisches Substrat einer intimen confessio ablauschen, ohne ihr Dichterisches zu tilgen.103 Das Sensorium für das Ästhetische bewahrt Karlauf auch vor kurzschlüssigen Brückenschlägen zwischen der Sprache der Dichtung und der der Politik. Zudem betont Karlauf zu Recht, dass es in StGs Leben „so gut wie nichts [gab], was nicht von vornherein Inszenierung gewesen wäre oder nachträglich für die Inszenierung verwertet wurde.“104 Ein weiteres Verdienst von Karlaufs Biographie besteht nicht zuletzt darin, durch akribisches Quellenstudium manches unauffällige, aber wertvolle Detail auf dem Gebiet der praktischen Lebensführung StGs – etwa Wohnungen und Reisen betreffend – eruiert zu haben. Nicht unterschlagen sei der Aspekt, dass Karlauf – und das rückt ihn intentional in die Nähe von Norton – sein Buch als Beitrag zu einer Reflexion über das Verhältnis von Intellektualität und Freiheit verstanden wissen möchte. 102 Karlauf 2007, S. 770. 103 Diese Qualität ist Karlaufs Werk in einer eigens verfassten Gegenschrift abgesprochen worden, die u. a. die Verkürzung von StGs Eros-Begriff anmahnt. Vgl. Wolfgang Osthoff/Bruno Pieger, Eros und Ethos, Gegen Thomas Karlaufs George-Bild, Tonden 2009. 104 Karlauf 2007, S. 772.

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Als eine Biographie von Stefan Georges Nachleben ist Norton und Karlauf 2009 die umfangreiche Studie Kreis ohne Meister von Ulrich Raulff an die Seite getreten. Raulff rekonstruiert mit akribischer Akkuratesse und unter Auswertung zahlreicher bislang ungenutzter und bis in die jüngere Gegenwart reichender Quellen eine Reihe von Schlüsselszenen aus StGs Wirkungsgeschichte, die eine „Art negativer Phänomenologie“105 bildet und danach verlangt, als „eine Geschichte nicht des Erscheinens, sondern des Erlöschens“106 erzählt zu werden. Da es ihm um den zerfallenden Kreis des Dichters geht, setzt seine Untersuchung noch in den letzten Lebensjahren StGs an, weil die zunehmende politische Radikalisierung auch innerhalb des Kreises zu verschärften Auseinandersetzungen führte, die StGs lavierende Indifferenz nicht zu pazifizieren vermochte. Raulff zeichnet den Prozess des Verschwindens bis ins Jahr 1968 nach, das vielleicht nicht den verkündeten ,Nullpunkt der Öffentlichkeit‘, aber einen Paradigmenwechsel in den Formen des Nachlebens markiert. Im Nachweis des Fortwirkens von Impulsen, die auf StG zurückgehen und weit in die intellektuelle Geschichte der Bundesrepublik hineinreichen, liegt ein wesentlicher Erkenntnisgewinn von Raulffs Studie. Er spürt durch die Erschließung zahlreicher bisher unbekannter Quellen ein regelrechtes Rhizom an untergründigen Diskursen auf. Zu den fesselndsten Beispielen gehört die Einwirkung des Bildungspolitikers Hellmut Becker, Sohn des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, der in der Weimarer Republik die universitäre Karriere von Angehörigen des George-Kreises förderte, auf die bildungspolitischen Debatten bis in die 70er-Jahre. Erhellend ist weiterhin der Briefwechsel zwischen Edgar Salin und Marion Gräfin Dönhoff über den 20. Juli und das pädagogische Wirken von Georg Picht auf dem Birklehof. Nicht zuletzt ist Raulffs Seitenblick auf das Nachleben StGs in Amerika hervorzuheben, wo sich nicht nur Exilanten aus dem George-Kreis (wie Ernst Morwitz oder Clotilde Schlayer, in subkutaner Form auch Ernst Kantorowicz), sondern auch junge Sympathisanten wie Werner Vordtriede um die Bewahrung Georgeschen Erbes bemühten. Die heuristische Hypothese von Raulffs Studie lautet: „Aus dem Zerfall heraus kann sich ein Bild des intakten Kreises ergeben und aus der Dekomposition die einstige Gestalt.“107 Die Szenenfolge des fortschreitenden Zerfalls, der paradoxerweise aus den rivalisierenden Deutungsansprüchen der Hüter des Erbes resultiert, ergibt eine allegorische Bilderfolge, die von den zahlreichen und häufig bislang ungedruckten Abbildungen der Studie flankiert wird. Raulff nimmt damit ein erkenntnistheoretisches Motiv aus Benjamins Trauerspiel-Buch auf, nach dem sich in der Allegorie die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft zu erkennen gebe. Vor dem Auge des Betrachters verwandelt sich derart die erwartete ,Apostelgeschichte‘ in „eine Gespenstergeschichte.“108 Raulffs Rekonstruktion der Reliquienkämpfe fördert die Wahrung des Geheimnisses als den eigentlichen Kern von StGs Nachleben zutage. Im Rückblick auf die Forschung fällt auf, dass die 1960 einsetzende kontinuierliche Beschäftigung mit StG 1980 abreißt und erst Mitte der 90er-Jahre wieder einsetzt. Äußeres Symptom für das zu dieser Zeit neu erwachte Interesse ist die Tatsache, dass 105 106 107 108

Raulff 2009, S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 22.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

seit 1996 alle zwei Jahre das von Wolfgang Braungart und Ute Oelmann herausgegebene George-Jahrbuch erscheint. Es tritt als rein fachwissenschaftliches Organ neben die seit 1951 existierende Zeitschrift Castrum Peregrini, die aus dem Exilkreis um Wolfgang Frommel in Amsterdam hervorgegangen ist und Ende 2007 mit Heft 280 eingestellt wurde.109 Wenn man der Frage nachgeht, welche Arbeiten der Forschung die nachhaltigsten Impulse gegeben haben, so wird man sagen können, dass dies die Studien von Wolfgang Braungart und Stefan Breuer sind. Auch die Arbeiten von Groppe und Kolk sind für ihre Spezialgebiete einschlägig geworden. Biographisch und wirkungsgeschichtlich haben die Monographien von Karlauf und Raulff neue Maßstäbe gesetzt. Von den älteren fachwissenschaftlichen Büchern dürften sich die Gesamtdarstellung von Claude David, Durzaks Der junge Stefan George, Klunckers Monographie Blätter für die Kunst und ihres provokanten Zugriffs halber Mattenklotts Bilderdienst behauptet haben. Literatur Forschungsberichte Bruneder, Hans, Wandel des Georgebildes seit 1930, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 28/1954, S. 248–267. Egyptien, Jürgen, Entwicklung und Stand der George-Forschung 1955–2005, in: Stefan George, München 2005 (Text und Kritik 168), S. 105–122. Naumann, Heinrich, Stefan-George-Schrifttum zum Gedenkjahr 1968, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 92/1973, S. 560–581.

Monographien und Sammelbände Aler, Jan, Im Spiegel der Form. Stilkritische Wege zur Deutung von Stefan Georges Maximindichtung, Amsterdam 1947. Ders., Symbol und Verkündung. Studien um Stefan George, Düsseldorf, München 1976. Arbogast, Hubert, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges, Köln, Graz 1967. Böschenstein, Bernhard / Egyptien, Jürgen / Schefold, Bertram / Vitzthum, Wolfgang Graf (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005. Braungart, Wolfgang, Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997 [Braungart 1997]. Ders. / Oelmann, Ute / Böschenstein, Bernhard (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘, Tübingen 2001. Breuer, Stefan, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995 [Breuer 1995]. David, Claude, Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967. Dörr, Georg, Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule, Würzburg 2007. 109 Vgl. III, 8.1.

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

1043

Durzak, Manfred, Der junge Stefan George. Kunsttheorie und Dichtung, München 1968. Ders., Zwischen Symbolismus und Expressionismus: Stefan George, Stuttgart u. a. 1974. Eschenbach, Gunilla, Imitatio im George-Kreis, Berlin, New York 2011. Faletti, Heidi E., Die Jahreszeiten des Fin de sie`cle. Eine Studie über Stefan Georges ,Das Jahr der Seele‘, Bern u. a. 1983. Fricker, Christophe, Stefan George. Gedichte für Dich, Berlin 2011. Groppe, Carola, Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln u. a. 1997 [Groppe 1997]. Heftrich, Eckhard, Stefan George, Frankfurt/M. 1968. Ders. u. a. (Hrsg.), Stefan George Kolloquium, Köln 1971. Heintz, Günter, Stefan George. Studien zu seiner künstlerischen Wirkung, Hamburg 1986. Hildebrandt, Kurt, Das Werk Stefan Georges, Hamburg 1960 [KHW]. Im Zeichen von Stefan George. Lektüre seiner Dichtung, Amsterdam 2001 (CP 250). Karlauf, Thomas, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007 [Karlauf 2007]. Keilson-Lauritz, Marita, Von der Liebe, die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges, Berlin 1987. Kein ding sei wo das wort gebricht, hrsg. v. Manfred Schlösser, Darmstadt 1958 (2., wesentl. verb. Aufl. 1961). Kluncker, Karlhans, Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges, Frankfurt/M. 1974. Klussmann, Paul Gerhard, Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und des Dichters in der Moderne, Bonn 1961. Köster, Roman u. a. (Hrsg.), Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis, Berlin 2009. Kolk, Rainer, Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945, Tübingen 1998 [Kolk 1998]. Kraft, Werner, Stefan George, München 1980. Landfried, Klaus, Stefan George – Politik des Unpolitischen, Heidelberg 1975. Landmann, Georg Peter, Vorträge über Stefan George, Düsseldorf, München 1974. Lehmann, Peter Lutz, Meditationen um Stefan George, Düsseldorf, München 1965. Ders. / Wolff, Robert (Hrsg.), Das Stefan-George-Seminar 1978 in Bingen am Rhein. Eine Dokumentation, Bingen 1979. Linke, Hansjürgen, Das Kultische in der Dichtung Stefan Georges und seiner Schule, 2 Bde., München, Düsseldorf 1960. Luhr, Geret, Ästhetische Kritik der Moderne. Über das Verhältnis Walter Benjamins und der jüdischen Intelligenz zu Stefan George, Marburg 2002. Martus, Steffen, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007. Mattenklott, Gert, Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, München 1970. Ders. u. a. (Hrsg.), „Verkannte brüder“? Stefan George und das deutsch-jüdische Bürgertum zwischen Jahrhundertwende und Emigration, Hildesheim u. a. 2001. Morwitz, Ernst, Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, Düsseldorf, München 1960 (2. Aufl. 1969) [EM I]. Ders., Kommentar zu den Prosa- Drama- und Jugend-Dichtungen Stefan Georges, Düsseldorf, München 1962 [EM II]. Norton, Robert E., Secret Germany. Stefan George and his Circle, Ithaca, London 2002. Oelmann, Ute / Raulff, Ulrich (Hrsg.), Frauen um Stefan George, Göttingen 2010 (CP N.F. 3). Osterkamp, Ernst, Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010. Osthoff, Wolfgang, Stefan George und „Les Deux Musiques“, Stuttgart 1989.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Petersdorff, Dirk von, Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005. Petrow, Michael, Der Dichter als Führer? Zur Wirkung Stefan Georges im „Dritten Reich“, Marburg 1995. Picht, Werner, Besinnung auf Stefan George, Düsseldorf, München 1964. Pieger, Bruno / Schefold, Bertram (Hrsg.), Stefan George. Dichtung – Ethos – Staat, Berlin 2010. Raulff, Ulrich, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009 [Raulff 2009]. Rieckmann, Jens (Hrsg.), A Companion to the Works of Stefan George, Rochester 2005. Riedel, Manfred, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln u. a. 2006. Roos, Martin, Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, Düsseldorf 2000. Rossi, Francesco, Gesamterkennen. Zur Wissenschaftskritik und Gestalttheorie im George-Kreis, Würzburg 2011. Schäfer, Armin, Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, Köln u. a. 2005. Schlieben, Barbara / Schneider, Olaf / Schulmeyer, Kerstin (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004. Schmitz, Victor A., Bilder und Motive in der Dichtung Stefan Georges, Düsseldorf, München 1971. Schonauer, Franz, Stefan George in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg 1960. Schultz, H. Stefan, Studien zur Dichtung Stefan Georges, Heidelberg 1967. Siemoneit, Martin A., Politische Interpretationen von Stefan Georges Dichtung. Eine Untersuchung verschiedener Interpretationen der politischen Aspekte von Stefan Georges Dichtung im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1933, Frankfurt/M. u. a. 1978. Stefan George. Lehrzeit und Meisterschaft. Gedenk- und Feierschrift zum 100. Geburtstag des Dichters, Bingen 1968. Strodthoff, Werner, Stefan George. Zivilisationskritik und Eskapismus, Bonn 1976. Wertheimer, Jürgen, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen, München 1978. Würffel, Bodo, Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978. Zimmermann, Hans-Joachim (Hrsg.), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium, Heidelberg 1985. Jürgen Egyptien

5.4.

George in der nichtdeutschsprachigen Literaturkritik

5.4.1. Einleitung Anders als die künstlerische Rezeption ist die literaturkritische Auseinandersetzung mit StG und seinem Werk außerhalb des deutschen Sprachraums bisher von der Forschung nicht systematisch untersucht worden. Zwar hat Jörg-Ulrich Fechner neben den deutschen auch die ausländischen Rezensionen und StG gewidmeten Artikel der Jahre 1890 bis 1898 einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die folgenden 110 Jahre sind jedoch noch nicht aufgearbeitet worden. In den Forschungsberichten von Hans Bruneder und Jürgen Egyptien aus den Jahren 1955 und 2005 werden fremdsprachige Arbeiten nur am Rande erwähnt; der ausgezeichnete Aufsatz von

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

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Steffen Steffensen beschränkt sich auf die Aufnahme StGs in Skandinavien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der somit noch ausstehende umfassende Überblick zur internationalen literaturkritischen George-Rezeption, die sich in mittlerweile mehreren hundert Rezensionen, Aufsätzen, Dissertationen, Monographien und Sammelbänden niederschlägt, kann auch in diesem Beitrag nicht geleistet werden. Im Folgenden werden aber ihre wichtigsten Texte und Debatten vorgestellt und die entsprechenden Veränderungen im George-Bild nachgezeichnet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Frankreich und dem englischsprachigen Raum, in geringerem Maße werden auch Italien, Belgien und Skandinavien behandelt; die asiatische Rezeption ist dagegen nicht in die Darstellung eingegangen. Hervorzuheben ist, dass die besprochenen Arbeiten der Auslandsgermanistik nicht unabhängig von der deutschsprachigen Forschung entstanden sind und nicht einmal immer klar von ihr zu trennen sind. Im Ausland ansässige Forscher haben seit Beginn des 20. Jahrhunderts die deutschsprachige Literaturkritik zu StG intensiv rezipiert, was umgekehrt jedoch nur bedingt gilt. Zudem wird die Auslandsgermanistik, und das gilt in besonderem Maße für die sehr produktive amerikanische, oft stark von Deutschen geprägt, die aus verschiedenen Gründen ausgewandert sind. Diese und auch viele ihrer Kollegen, deren Muttersprache nicht deutsch ist, publizieren seit jeher sowohl auf Deutsch als auch in der Fremdsprache. Hier werden jedoch nur ihre in der Fremdsprache verfassten Beiträge diskutiert. Nicht berücksichtigt wurden zudem die fremdsprachlichen Beiträge von in Deutschland arbeitenden Germanisten. Die so definierte nichtdeutschsprachige Literaturkritik zu StG lässt sich in sechs Phasen gliedern. Bis 1898 sind StGs Schriften der Öffentlichkeit nur bedingt zugänglich: Sie zirkulieren vornehmlich unter ,Auserwählten‘, unter denen viele ausländische Schriftsteller sind, die in ihren Zeitschriften StGs frühe Gedichtbände besprechen. Mit der öffentlichen Verlegung der Werke beginnt dann eine zweite Phase, in der im Inund Ausland die Beschäftigung mit StG zunimmt. Im Vordergrund steht nun meist die literaturhistorische Einordnung des Autors, die in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich ausfällt. Einhelligkeit besteht jedoch insofern, als StG zumeist als ein sehr untypischer deutscher Schriftsteller beschrieben wird, dem es darum geht, einen Bereich der reinen Kunst für sich zu reklamieren. Zwischen 1933 und 1945 bestimmt dann die Auseinandersetzung um StGs Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie die Diskussion. Auch wenn die meisten Arbeiten betonen, dass Hitler und Goebbels vergeblich versuchten, StG zu vereinnahmen, konzedieren sie doch oft eine gedankliche Nähe zum ,Dritten Reich‘ und sehen die Lyrik StGs als dessen prophetische Ankündigung. Gleichzeitig entstehen in diesen Jahren auch die ersten fremdsprachigen Dissertationen und Monographien zu StG. Anders als die am politischen Gedankengut interessierten Aufsätze rücken diese oft die formal-ästhetische Analyse in den Vordergrund und sparen den historischen Kontext und mögliche Wirkungen aus. Es überrascht daher nicht, dass nach 1945, als das Deutschlandbild in West- und Südeuropa und in den USA wieder positivere Züge annahm, gerade diese Texte neu aufgelegt und teilweise sogar ins Deutsche übersetzt wurden. Ihre werkimmanente Herangehensweise erwies sich als maßgeblich für einen Großteil der Auslandsgermanistik: Bis Ende der 1950er-Jahre bilden Arbeiten, die StG im historisch-politischen Kontext seiner Zeit verorten und die ideologischen Implikationen seiner Texte analysieren, eher die Ausnahme. Zwischen 1960 und 1980 treten solche Fragestellungen hingegen wieder vereinzelt in den Vordergrund, jedoch lange nicht in dem

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Ausmaß wie in Deutschland, wo explizit ideologiekritische Ansätze in diesen Jahren ihre Hochzeit erleben. Die meisten Arbeiten der Periode verfolgen dieselben Erkenntnisinteressen wie die in den Jahren davor entstandenen Untersuchungen. Auch dadurch bedingt erreicht die internationale George-Forschung hier eine erste selbstreflexive Phase, in der einige Arbeiten das bisher Geleistete sichten, einer Kritik unterziehen und sich selbst explizit als innovativ zu legitimieren versuchen. Auch erscheinen nun erste Überblickswerke und Einführungen, die den Forschungsstand kondensiert präsentieren. In den letzten drei Dekaden ist dann eine Zweispaltung der George-Forschung im nichtdeutschsprachigen Raum zu beobachten. Einerseits gibt es noch immer eine große Zahl von Forschern, die sich weiterhin philologisch oder sogar werkimmanent mit StG beschäftigen; andererseits untersucht eine kleinere Gruppe von zumeist amerikanischen Wissenschaftlern StG und seinen Kreis auf Grundlage kulturwissenschaftlicher und (post)strukturalistischer Theorien und nimmt dabei unter anderem die Konstruktion von kollektiven und geschlechtlichen Identitäten in den Blick. 5.4.2. 1890–1898 Bis im November 1898 beim Berliner Verlag Peter Bondi die ersten Gedichtbände StGs in zweiter Ausgabe erschienen, wurden seine Werke sowie die erste bis vierte Folge der BfdK (bis 4/1897, 1/2) im Selbstverlag für Freunde und Gleichgesinnte vertrieben. Sie waren somit einer breiteren Öffentlichkeit nicht zugänglich und wurden aufgrund vielfältiger persönlicher Kontakte im französischsprachigen Raum zunächst intensiver rezipiert als in Deutschland selbst. Ob hinter dieser Form der Publikation eine bewusste Strategie stand, die durch gezielte Verknappung zunächst ein exklusives Publikum gewinnen und ein breiteres, ausgeschlossenes neugierig machen wollte, kann hier nicht geklärt werden.1 Jedenfalls entstand so in den frühen 1890erJahren eine transnationale Gemeinschaft von Dichtern, die sich auf Grundlage geteilter ästhetischer Überzeugungen gegenseitig lasen, rezensierten und aufeinander verwiesen.2 Erstmals erwähnt wird StG im Frühjahr 1891 in der belgischen Zeitschrift La Wallonie in einer Sammelrezension Albert Mockels, den er kurz zuvor in Paris kennengelernt hatte. Die wenigen Sätze, die dieser StGs Hymnen widmet, sind zwar insgesamt wohlwollend, wirken im Kontext der ansonsten sehr überschwänglichen frühen Rezeption im französischsprachigen Raum, wo die Symbolisten zumeist einen deutschen Geistesbruder feierten, jedoch recht kritisch. So nennt Mockel zum Beispiel die durchgängige Kleinschreibung „une innovation inutile“ ohne ersichtlichen Grund, die nur das Verständnis der Gedichte erschwere.3

1 Vgl. I, 3.5. 2 Mettler erkennt eine solche Strategie bei StG, Fechner bestreitet sie vehement. Vgl. Dieter Mettler, Stefan Georges Publikationspolitik. Buchkonzepte und verlegerisches Engagement, München 1979; Fechner (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“. 3 Albert Mockel, Les Livres, in: La Wallonie 6/1891, 3, S. 187 (wieder in: Fechner [Hrsg.], „L’aˆpre gloire du silence“, S. 32–33, hier: 32).

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

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Wesentlich positiver – und typischer – sind dagegen die Zeilen, die Albert SaintPaul seiner Übersetzung der Gedichte „Verwandlungen“ (II, 18) und „Strand“ (II, 21) in der Oktoberausgabe der Zeitschrift L’Ermitage voranstellt. Saint-Paul sieht StG als deutschen Symbolisten in der Tradition Mallarme´s und seiner Schüler: „Il augure ainsi en Allemagne, contre l’enhavissement du naturalisme, le meˆme mouvement de re´action que les Symbolistes franc¸ais“.4 Auch der Gegensatz zwischen StG und den Naturalisten, den Saint-Paul erstmals formuliert, wird schnell zu einem Topos insbesondere der französischen Literaturkritik, der in kaum einem Artikel der folgenden Jahre fehlt. Ebenso prägend ist seine durchweg positive Beurteilung StGs. Diese nimmt nicht nur in den zahlreichen von StGs Freunden Carl August Klein und Albert Verwey verfassten Besprechungen, sondern in fast allen französischsprachigen Dokumenten der Zeit mitunter so überschwängliche Züge an, dass Marie von Bunsens Kommentar zu einer belgischen Rezension, deren Lob auf sie „humoristisch wirkte“, nur zu verständlich erscheint.5 In geringerem Maße wird StG in diesen Jahren über die Zeitschriften der belgischen und französischen Symbolisten hinaus auch in Skandinavien rezipiert. So beschreibt ihn Johannes Jørgensen 1893 als den herausragenden Vertreter der antinaturalistischen Dichtung in Deutschland.6 Die wohlwollende Besprechung wird abgeschlossen von Jørgensens Übertragung der Gedichte „Die Gärten schliessen“ (II, 28) und „Beträufelt an baum und zaun“ (II, 53) ins Dänische, die den Lesern einen Eindruck von der Musikalität der Georgeschen Sprache vermitteln sollen. Fünf Jahre später behandelt Carl Gustaf Uddgren StG im schwedischen Nordisk Revy noch wesentlich ausführlicher. Er gesteht ein, dass ihn die durchgehende Kleinschreibung, die fehlende Interpunktion und das teilweise archaische Vokabular zunächst vor Probleme gestellt hätten; dann habe er die Gedichte aber schätzen gelernt. Er bespricht recht eingehend formale und thematische Aspekte des Algabal und der Pilgerfahrten und übersetzt das Gedicht „Frauenlob“ (III, 46–47), das für ihn das beste Beispiel für StGs „klassikt rena dikting“ ist.7 Uddgrens positive, aber dennoch ausgewogene und genaue Besprechung ist eher ungewöhnlich für die frühe literaturkritische Aufnahme StGs. Tatsächlich ist in dieser Phase von Literaturkritik im engeren Sinne kaum zu sprechen; vielmehr geht es darum, dass der Dichter von Rezensenten, die seine ästhetischen Überzeugungen teilen, einem sehr exklusiven und wohlgesinnten Publikum vorgestellt wird. Da StGs Texte noch nicht öffentlich zugänglich waren, sind unabhängige – und negative – Rezensionen die Ausnahme. Sie nehmen gegen Ende der Dekade zu, nachdem StG eine gewisse Reputation erworben hat, erreichen aber nicht die Schärfe, mit der Henri Albert im September 1898 Das Jahr der Seele verurteilt: Albert beschreibt StG im Mercure de France als „plus artiste que poe`te. Il s’est construit un ide´al admirable

4 Albert Saint-Paul, Deux Poe`mes de Stefan George, in: L’Ermitage 2/1891, 10, S. 585 (wieder in: Fechner [Hrsg.], „L’aˆpre gloire du silence“, S. 33–34, hier: 34). 5 Marie von Bunsen, Stefan George, ein Dichter und eine Gemeinde, in: Vossische Zeitung v. 9.1.1898 (wieder in: Fechner [Hrsg.], „L’aˆpre gloire du silence“, S. 317–323, hier: 317). 6 Vgl. Johannes Jørgensen, Stefan George, in: Samtiden 4/1893, 9, S. 326–330. 7 Gustaf Uddgren, Stefan George, in: Nordisk Revy 4/1898, 2, S. 125–132 (wieder in: Fechner [Hrsg.], „L’aˆpre gloire du silence“, S. 335–341, hier: 335).

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

qu’il s’efforce de faire prospe´rer dans une cave. C’est une fleur somptueuse et artificielle, sans se`ve et sans vie“.8 5.4.3. 1899–1933 Alberts harsche Kritik an der Weltferne und Künstlichkeit des Georgeschen Werks findet auch in den folgenden Jahrzehnten, nachdem die Gedichte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, kaum Resonanz. Vielmehr gewinnt StG bis zu seinem Tod 1933 stetig an internationaler Reputation. In immer mehr Ländern werden Kritiker auf ihn aufmerksam und widmen ihm Artikel, in denen sie ihn fast einhellig zum wichtigsten deutschen Dichter der Gegenwart erklären. Beinahe ebenso oft wird betont, dass StG in keinerlei Hinsicht ein typisch deutscher Dichter sei – eine These, die vor allem in den französischen und amerikanischen Texten der Zeit mit seiner Herkunft begründet wird. Für William K. Stewart ist StG „as a Rhinelander […] heir of the oldest civilization in Germany with a deep background of cultural tradition which would be rare in the more flatulent Prussia“.9 Ähnlich führt Fe´lix Bertaux StGs Internationalismus und seine, wie er impliziert, in Deutschland seltene Affinität zu Frankreich darauf zurück, dass StG als Rheinländer von einem Fluss stamme, „qui unit les terres plus qu’il ne les divise“.10 Weniger Einigkeit besteht dagegen bei Versuchen der literaturgeschichtlichen Einordnung, die zunehmend die sich herausbildende Forschung bestimmen. Gerade in Frankreich fehlt zwar in keinem Artikel der Verweis auf den Einfluss des dortigen Symbolismus; die Frage, ob StG selbst Symbolist sei, wird allerdings nicht mehr einhellig bejaht. Maurice Muret sieht StG in seiner Abhandlung über La litte´rature allemande d’aujourd’hui (1909) zusammen mit Hofmannsthal als Vertreter eines „ide´alisme nouveau“;11 Fe´lix Bertaux löst sich in seinem Buch zum selben Thema von 1928 dann von den etablierten Bezeichnungen und charakterisiert StGs Stil als „individualisme aristocratique“.12 Bei Bertaux macht sich zudem die durch StGs spätere Gedichtbände nötig gewordene Neubewertung des Werks bemerkbar. Zentral in StGs Spätwerk ist laut Bertaux „l’ide´e de peuple, d’un peuple conc¸u autrement que sous l’angle e´troit du social ou du national“.13 StG wird nun als Dichter gesehen, der als Ästhetizist begonnen, dann aber immer mehr in die Rolle des Propheten gewachsen sei, der bewusst eine gesellschaftliche Veränderung anstrebe. Ähnlich – und ähnlich positiv – wird StG von der italienischen Literaturkritik charakterisiert, die Mitte der 1920er-Jahre beginnt, sich mit ihm zu beschäftigen. Wie für Bertaux ist StG für Gina Gabrielli ein Seher – ein „poeta veggente“.14 Während Gabrielli in ihrem Aufsatz des gleichen Titels in sehr gedrängter und nicht immer 8 Henri Albert, Stefan George: Das Jahr der Seele, Berlin, Verlag der Blätter für die Kunst, in: Mercure de France 27/1898, 105, S. 856–859 (wieder in: Fechner [Hrsg.], „L’aˆpre gloire du silence“, S. 347). 9 Stewart, Poetry, S. 569. 10 Bertaux, Panorama, S. 141. 11 Maurice Muret, La litte´rature allemande d’aujourd’hui, Lausanne 1909, S. 386. 12 Bertaux, Panorama, S. 136. 13 Ebd., S. 138. 14 Vgl. Gina Gabrielli, Un poeta veggente, in: Nuova antologia 324/1926, S. 182–197.

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

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überzeugender Form der religiösen Dimension von StGs Werk nachgeht und diesen als Pantheisten charakterisiert,15 rückt Ittalo Maione in seiner vergleichenden Studie zu Dehmel, Rilke, Hofmannsthal und StG die Bezüge zu italienischen Dichtern wie Dante und D’Annunzio in den Vordergrund. Den französischen Einfluss spart seine umfassende Lektüre der Gedichte dagegen fast völlig aus.16 In Skandinavien bestimmt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor allem der Schriftsteller Anders Österling die George-Kritik. Bis in die 30er-Jahre bespricht er dessen Werke und deren Einfluss auf seine eigene schriftstellerische Entwicklung in mehreren Aufsätzen und übersetzt immer wieder einzelne Gedichte ins Schwedische. In dem Aufsatz Stefan George findet er neben anerkennenden abschließend auch kritische Worte zu StG und weist auf dessen fehlendes soziales Bewusstsein für die Mitglieder „einer niedriger gestellten leidenden Menschenklasse“ hin.17 Die amerikanische Auseinandersetzung mit StG schließlich beginnt recht spät und verläuft deutlich kritischer als die europäische. In einem 1917 in der Zeitschrift The Dial veröffentlichten Essay stellt William K. Stewart den deutschen Dichter der Leserschaft erstmals vor. Er rückt dabei bewusst inhaltliche Aspekte des Werks in den Vordergrund, um der Legende entgegenzuwirken, dass StG von Reim und Metrum besessen sei.18 Wie Bertaux diagnostiziert er eine „aristocratic aloofness“ und weist auf den Einfluss Nietzsches hin, der noch näher zu untersuchen sei.19 Kritisch merkt er an, dass StGs Gedichte einen „lack of humor“ verrieten und sein Versuch, innovative Reime zu benutzen, die Texte oft unnötig obskur mache.20 Denselben Vorwurf erhebt 1919 Taylor Starck in einem Aufsatz für die Modern Language Notes. StGs klarer und eigenwilliger Stil – das Fehlen von Großbuchstaben und Interpunktion sowie die extreme Verdichtung der Sprache – führe nicht zur beabsichtigten „limpid clearness“, sondern mache die Gedichte vielmehr oft unverständlich.21 Auch er verweist auf Parallelen zum Gedankengut Nietzsches und erkennt eine Sehnsucht und Glorifizierung der Trauer, die ihn an die Frühromantiker erinnert.22 Schärfer als die französischen und italienischen Literaturkritiker sieht er StGs Bewusstsein einer Mission, die er jedoch noch rein ästhetisch als Versuch auffasst, „to recreate the world in a poetic form“.23 Bezeichnenderweise geht es in der Auseinandersetzung, die sich im Anschluss an den Artikel zwischen Starck und Edwin H. Zeydel entspinnt, nicht um diese Mission und ihren gesellschaftlichen Einfluss, sondern um die Frage, inwiefern StG in seinen späteren Gedichtbänden Endreime durch freie Verse ersetzt. Die politische Dimension des Georgeschen Werks, die wenige Jahre später die Literaturkritik auf beiden Seiten des Atlantiks bestimmen wird, spielt hier noch überhaupt keine Rolle. 15 Vgl. ebd., S. 192. 16 Vgl. Italo Maione, Contemporanei di Germania: Dehmel, Rilke, Hofmannsthal, George, Torino 1931. 17 Anders Österling, Stefan George, in: Människor och Landskap: ett knippe studier och skisser, 1904–1910, Stockholm 1910; zit. im Original und in deutscher Übersetzung in Steffensen, Rezeption, S. 64. 18 Vgl. Stewart, Poetry, S. 570. 19 Ebd., S. 570, 571. 20 Ebd., S. 567. 21 Taylor Starck, Stefan George and the Reform of the German Lyric, in: Modern Language Notes 34/1919, 1, S. 1–7, hier: 4. 22 Vgl. ebd., S. 6. 23 Ebd., S. 5.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Der wichtigste Text dieser Periode der George-Forschung ist aber zweifellos Enid Lowry Duthies monumentale Studie L’influence du symbolisme franc¸ais dans le renouveau poe´tique de l’Allemagne. Les ,Blätter für die Kunst‘ de 1892 a` 1900, in der sie den immer wieder betonten Einfluss der französischen Dichter des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf StG und seinen Kreis systematisch aufarbeitet. Die noch immer zitierte Studie wurde 1974 neu aufgelegt. 5.4.4. 1933–1945 Mit StGs Tod am 4. Dezember 1933 beginnt eine neue Phase seiner Rezeption. In dutzenden Nachrufen, die während der nächsten Tage in allen großen europäischen und nordamerikanischen Zeitungen erscheinen, wird StG einerseits fast einhellig als der herausragende deutsche Lyriker seiner Zeit dargestellt. Für das niederländische Algemeen Handelsblad ist er „de grooste Duitsche dichter“,24 für den französischen Figaro „le plus grand poe`te de notre e´poque“25 und für den englischen Guardian „a true poetic genius“.26 Andererseits wird in der Mehrzahl der Artikel auch StGs Haltung zur nationalsozialistischen Bewegung diskutiert. Dabei fällt das Urteil zwar selten so harsch und undifferenziert aus wie im Journal de Gene`ve, wo StG als „l’anceˆtre spirituel de la nouvelle Allemagne“ beschrieben wird,27 doch auch die vielen Artikel, die betonen, dass die Nationalsozialisten auch nach seinem Tod noch versuchen, StG zu vereinnahmen, und darauf verweisen, dass dieser das Angebot Hitlers ablehnte, Präsident der neuen Akademie für Dichtung zu werden, kommen nicht umhin zu konzedieren, dass manche Aspekte im Werk StGs eine gewisse Affinität zur Ideologie des ,Dritten Reichs‘ nahelegten. Diese Diskussion über das Verhältnis StGs zum Nationalsozialismus bestimmt wenig überraschend in den folgenden Jahren sowohl in Europa als auch in den USA in immer größerem Maße die Literaturkritik. Wenn selbst die französischen und italienischen Kritiker, die vor 1933 StG meist als Vertreter einer reinen, von allen alltäglichen Belangen gelösten Kunst verstanden, nun sein Werk einer Relektüre im Hinblick auf dessen politische Dimension unterziehen, zeigt sich in beispielhafter Klarheit die Zeitgebundenheit jedweder Interpretation. Während Mario Pensa in seiner Monographie von 1935 StG eindeutig zum Vorläufer des Nationalsozialismus erklärt,28 überwiegt in Frankreich eine differenziertere Betrachtungsweise. So verneint Francus die Leitfrage seines Aufsatzes Stefan George – est-il pre´curseur d’Hitler?, betont aber, dass gewisse Passagen im Werk StGs es den Nationalsozialisten leicht gemacht hätten, dieses für ihre Zwecke zu reklamieren.29 Etwas kritischer sehen J. Gaudefroy-Demobynes und Jean-Edouard Spenle´ in ihren Beiträgen von 1934 StG. Während beide hervorheben, dass gerade in Hinblick auf die Rolle der Massen und die Methoden, mit denen das ,Neue Reich‘ geschaffen werden soll, vielfältige Unter24 Abendausgabe des Algemeen Handelsblad v. 4.12.1933, S. 14. 25 Le Figaro v. 9.12.1933, S. 5. 26 Manchester Guardian v. 8.12.1933, S. 17. 27 Journal de Gene`ve Nr. 335 v. 8.12.1933, S. 3. 28 Vgl. Mario Pensa, Stefan George. Saccio critico, Bologna 1935 (2. Aufl. 1961). 29 In: La grande revue 143/1934, S. 387–396.

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

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schiede zwischen den Nationalsozialisten und StG bestehen, erkennen sie dennoch eine gewisse geistige Nähe zwischen dem Dichter und den neuen Machthabern. Für Spenle´ ist StG daher der „poe`te d’une Allemagne nouvelle“,30 dessen Texte jedoch trotz gewisser rassistischer Tendenzen keine Legitimation des Nationalsozialismus leisten, sondern diesen lediglich antizipieren. Ähnlich argumentiert GaudefroyDemobynes, der StGs Werk zwar als Teil einer der kulturellen Strömungen sieht, die zu Hitler geführt hätten, aber auch unterstreicht, dass keine direkte Linie die beiden verbinde.31 Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen auch amerikanische Kritiker wie Zeydel, für den StG nun auch als Prophet des ,Dritten Reichs‘ erscheint,32 und S. D. Stirk, der zwar keine Ahnherrschaft erkennt, aber argumentiert, dass StG half, „the air of expectancy, which made men feel that the political Messiah and the empire of a thousand years were at hand“, hervorzurufen.33 In den Vereinigten Staaten entwickelt sich die Debatte über StGs (vermeintliche) Affinität zum Nationalsozialismus auch zu einer Diskussion über den deutschen Nationalcharakter. Während der frühen 1930er-Jahre werden StG und die Nationalsozialisten dabei noch meist als Aberrationen einer großen Kulturnation verstanden, die seit Kurzem mit all den Traditionen bricht, die ihr Geistesleben über Jahrhunderte bestimmt haben. Als sich aber das Deutschlandbild in den USA im Verlauf der Dekade verschlechtert und das derzeitige Regime zunehmend als Kulmination einer Jahrhunderte dauernden Entwicklung begriffen wird, erscheint auch StG, vor kurzem noch als der untypischste aller deutschen Dichter erachtet, nun als die Verkörperung des deutschen Geistes. In Peter Vierecks Metapolitics: From the Romantics to Hitler von 1941, einer Studie, die sich den „historical and psychological roots“ des ,Dritten Reichs‘ widmet,34 wird StG dementsprechend neben Nietzsche zum wichtigsten direkten Ahnherren von Goebbels und Hitler.35 Gegen diese in den 1940er-Jahren dominante Lesart wendet sich nur Stefan Rosenfeld, der auf der gewaltsamen Vereinnahmung von StG durch die Nationalsozialisten insistiert.36 5.4.5. 1946–1960 Neben diesen oft mehr ideologie- als literaturkritisch orientierten Studien erschienen zwischen 1933 und 1945 jedoch auch einige Arbeiten wie August Closs’ The Genius of German Lyric Poetry (London 1938) oder Cecil M. Bowras The Heritage of Sym30 Jean-Edouard Spenle´, Stefan George, poe`te de l’Allemagne nouvelle, in: Me´langes H. Lichtenberger. Hommage de ses e´le`ves et ses amis, Paris 1934, S. 389–403, hier: 391. 31 Vgl. J. Gaudefroy-Demombynes, Stefan George. Annonciateur du Nouveau Reich, in: Mercure de France 249/1934, S. 31–49. 32 Vgl. Edwin H. Zeydel, Stefan George as a Prophet of the ,New Empire‘, in: Books Abroad 12/1938, 3, S. 274–276. 33 S. D. Stirk, Stefan George and the „New Empire“, in: German Life and Letters 2/1937/38, S. 175–187, hier: 186. 34 Peter Viereck, Metapolitics. From the Romantics to Hitler, New York 1941, S. ix. 35 Vgl. ebd., S. 178. 36 Vgl. Stefan Rosenfeld, The Nazis and Stefan George, in: The New Republic 103/1940, S. 581–584.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

bolism (London 1943), die bewusst alles Politische ausklammern und vornehmlich die literarischen Einflüsse auf StG erörtern. Diese Studien antizipieren die Richtung, die die George-Forschung in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nimmt, weshalb sie in den späten 1940er- oder 1950er-Jahren auch neu aufgelegt (Closs) oder sogar ins Deutsche übersetzt werden (Bowra). Mit Beginn des Kalten Krieges wird Deutschland für Westeuropa und die USA, also gerade für diejenigen Länder, in denen Forscher sich am intensivsten mit StG beschäftigen, zu einem wichtigen Verbündeten. Analysen, die anhand des Georgeschen Werks den angeblich destruktiven deutschen Nationalcharakter bloßlegen, sind daher nun unerwünscht. Vielmehr fungiert StG jetzt – neben anderen Dichtern – als Exponent der großen deutschen Kultur, die von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Diese Repräsentationsfunktion übernimmt er in den Untersuchungen bis 1960 aber nur implizit, da der politisch-gesellschaftliche Kontext weiterhin meist komplett ausgespart wird. Wie in Deutschland überwiegen nun werkimmanente Studien, die allerhöchstens intertextuelle Bezüge und die Behandlung vermeintlich überzeitlicher und allgemein menschlicher Probleme diskutieren. Entsprechend liefert D. J. Enrights Aufsatz The Case of Stefan George37 von 1948 keine, wie der Titel vermuten ließe, politische Bewertung des Dichters, sondern eine rein ästhetische. Gleichzeitig verschiebt sich in der Einflussforschung der Akzent teilweise von der Rezeption der französischen Symbolisten zu derjenigen Goethes. Auch StGs Übersetzungen werden ersten Analysen unterzogen; seine Einstellung zum Theater wird ebenso untersucht wie der historische Gehalt des Algabal.38 Schließlich erforschen die amerikanischen Wissenschaftler Victor A. Oswald und Rene´ Breugelmans in einer Reihe von Aufsätzen die Parallelen in Ästhetik und Lebensstil zwischen StG und Oscar Wilde. Überhaupt wird StG in den 1950er-Jahren nirgendwo im nichtdeutschsprachigen Raum so ausführlich erforscht wie in den Vereinigten Staaten, wo viele Emigranten die dortige Germanistik stärken und offensichtlich auch unter ihren einheimischen Kollegen das Interesse an StG vergrößern. 1954 erscheint bei der Yale University Press die erste, von Edwin Keppel Bennett verfasste, amerikanische Monographie zu StG, die sich dem Gesamtwerk aus der Perspektive des New Criticism nähert.39 Die bedeutendste Studie dieser Zeit ist aber eine französische Arbeit, Claude Davids Monographie Stefan George, son œuvre poe´tique (Lyon 1952). Davids Untersuchung unterzieht das Gesamtwerk einer genauen formalen und inhaltlichen Analyse, scheut sich als eine der wenigen Arbeiten der Zeit aber auch nicht, abschließend StGs Verhältnis zum Nationalsozialismus kurz zu erörtern, wobei sie sich gegen Tendenzen der Kriegsjahre wendet, StG zu einem Sympathisanten der NS-Ideologie zu machen. Als beinahe einzige fremdsprachige Studie dieser Zeit ist Davids Arbeit auch in Deutschland breit rezipiert worden. Sie wird in Bruneders Forschungsbericht von 1954 ausgiebig diskutiert und 1967 auch ins Deutsche übersetzt. 37 In: Scrutiny 15/1948, 4, S. 242–254. 38 Vgl. Brian Rowley, The ,Ages of Man‘ in Goethe and George, in: Modern Language Quarterly 17/1956, S. 310–317; A. G. Barlow, A Critical Study of Stefan George’s Translations from English, considered in the light of his own poetic style, Diss., Manchester 1960; Ulrich K. Goldsmith, Stefan George and the Theatre, in: PMLA. Publications of the Modern Language Association of America 66/1951, 2, S. 85–95; Victor A. Oswald, The Historical Content of Stefan George’s ,Algabal‘, in: Germanic Review 23/1948, S. 193–205. 39 Edwin Keppel Bennett, Stefan George, Cambridge 1954.

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5.4.6. 1960–1980 Zwischen 1960 und 1980 entstehen im nichtdeutschsprachigen Raum mehr Arbeiten zu StG als jemals zuvor. Allerdings ist die allgemeine Expansion der Literaturkritik in diesem Zeitraum zu berücksichtigen, sodass die absoluten Zahlen gleichzeitig auf einen relativen Rückgang des Interesses an StG hinweisen. Während in Deutschland in diesen Jahren das Interesse an StG wieder zunimmt, wird er im Ausland nun zu einer Randfigur der Literaturkritik. Die rein quantitativ produktivsten Forscher dieser Periode sind Ulrich K. Goldsmith und Claude David, die StG, wie schon in den 1950er-Jahren, jeweils mehrere Publikationen widmen. Tatsächlich unterscheidet sich die Herangehensweise der meisten Arbeiten der 60er- und 70er-Jahre nur unwesentlich von derjenigen der 50er-Jahre. Der Theorie- und Methodenstreit, der in diesen Jahren die literaturwissenschaftlichen Disziplinen erschüttert und vielfach zu Neuinterpretationen kanonisierter Autoren beiträgt, geht an der internationalen George-Forschung praktisch spurlos vorbei. Dass sich das Forschungsinteresse im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten kaum verändert hat, zeigt sich sowohl an den Neuauflagen der Studien von Duthie und Pensa aus den 1930er-Jahren als auch den Aufsätzen und Monographien selbst, die in diesem Zeitraum geschrieben werden: Mario Pensas Stefan George e l’Italia,40 Rene´ Breugelmans Stefan George and Oscar Wilde,41 Raymond C. Ockendens Some Themes and Images in Stefan George’s Poetry (Oxford 1966), Maurice Maraches Du Tapis de la vie a` L’Etoile d’Alliance: L’Evolution de la pense´e de Stefan George a` la lumie`re de l’histoire des styles,42 William H. McClains Symbolic Extensions of the Hyperion Myth,43 Genevie`ve Roussels Des fleurs maladives a` la chanson simple: Stefan George entre Baudelaire et Verlaine,44 Ursula Franklins The Quest for the Black Flower: Baudelairean and Mallarme´an Inspirations in Stefan George’s ,Algabal‘,45 um nur einige Titel zu nennen, zeugen davon, dass weiterhin die literarische Einflussforschung und andere klassisch-hermeneutische Fragestellungen die kleine Zahl von George-Forschern bewegen. Daher überrascht es, wenn Walter Perl in einer Sammelrezension zu neueren Arbeiten über StG erklärt: „Claude David, the Germanist of the Sorbonne, has opened the road for an objective George research and an impressive number of younger scholars are following him“.46 Perl ist zwar insofern zuzustimmen, als David weiterhin die herausragende Gestalt der internationalen George-Forschung bleibt und in Deutschland in diesen Jahren wichtige Studien zu StG entstehen, die Situation der Auslandsgermanistik verzerrt er jedoch unfreiwillig. Diese wird akkurat einige Jahre später von David selbst beschrieben, der pointiert feststellt: „En 1968, George est mal

40 In: Il Veltro 6/1962, S. 227–242. 41 In: Proceedings of the Pacific Northwest Conference on Foreign Languages 15/1964, S. 40–55. 42 In: E´tudes Germaniques 21/1966, S. 206–224. 43 In: Lieselotte E. Kurth u. a. (Hrsg.), Traditions and Transitions. Studies in Honor of Harold Jantz, München 1972, S. 177–193. 44 In: Revue des Sciences Humaines 158/1975, S. 175–210. 45 In: Comparative Literature Studies 16/1979, S. 131–140. 46 Walter Perl, New Stefan George Literature 1960–61, in: Books Abroad 36/1962, 1, S. 26–29, hier: 27.

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aime´“.47 David erklärt diese ablehnende Haltung mit den Assoziationen zur Hitlerzeit, die der Name StG noch immer hervorrufe. Löse man StG aber aus dieser Umklammerung, ergebe sich nun, da immer mehr Details aus StGs Leben durch die Veröffentlichungen von Kreismitgliedern bekannt seien, ein George-Bild, das sehr dem des frühen 20. Jahrhunderts gleiche: Au fond, en 1968, George retrouve la place qui fut toujours la sienne, si l’on excepte les quelques anne´es ou` la conjuncture politique le poussa, un peu par contresens et malentendu, au premier plan. Il devient a` nouveau un poe`te pour les poe`tes, une grande ombre en marge de sie`cle: myste´rieux, mal compris, hautain, incommode, difficile a` aimer.48

Die Texte von Perl und David zeigen, warum es trotz der Parallelen zur Nachkriegszeit angebracht ist, ab 1960 von einer neuen Periode der George-Forschung zu sprechen. Diese erreicht jetzt nämlich eine erste selbstreflexive Phase. Literaturwissenschaftler sichten von nun an regelmäßig in Sammelrezensionen, wie Perl dies tut, die neuesten Studien zum Thema, und sie reflektieren, wie David dies tut, stärker die Standortgebundenheit und Zeitlichkeit ihrer eigenen Interpretationen, indem sie den Wandel des George-Bilds nachzeichnen. Wenn sie sich dabei von früheren Arbeiten zu StG abgrenzen, beziehen sie sich jedoch meist nur auf Arbeiten der 1930er- und 1940er-Jahre, kaum einmal auf Studien aus den 1950ern. Eine Ausnahme bildet lediglich der Aufsatz von Steffen Steffensen, der die George-Rezeption in Skandinavien von den Anfängen bis in die 1950er-Jahre verfolgt. Gleichzeitig transportieren die ab 1960 entstandenen Studien stärker als diejenigen aus den Dekaden zuvor die Überzeugung, dass StG mittlerweile ein kanonisierter Autor sei – wenn sie in ihrer Gesamtheit auch unfreiwillig bloßlegen, dass er wie viele Klassiker nicht mehr so häufig gelesen wird. StGs nun unumstrittener Status als Klassiker manifestiert sich insbesondere 1970 durch die Aufnahme des Buchs Stefan George von Michael und Erika Metzger in die „Twayne’s World Authors Series“, die in etwa mit der deutschen Reihe „Sammlung Metzler“ vergleichbar ist. Die programmatischen Eingangssätze dieser einführenden Studie bringen das George-Bild dieser Periode nochmals besonders deutlich auf den Punkt: The authors of this book intend to concentrate on Stefan George, the poet. The changing perspectives of German political life and literary criticism since 1933 have long made it difficult to evaluate the poetry of Stefan George as art in its time and in terms of its relevance to our contemporary situation.49

Konsequenterweise synthetisieren die Autoren im Folgenden die formalästhetischen Arbeiten zu StG, liefern in Ansätzen neue Interpretationen einzelner Gedichte und sparen den historisch-sozialen Kontext völlig aus.

47 Claude David, Stefan George aujourd’hui, in: Preuves. Les Idees qui changent le Monde 214/1969, S. 24–34, hier: 28. 48 Ebd., S. 35. 49 Michael M. Metzger/Erika A. Metzger, Stefan George, New York 1972, S. 5.

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5.4.7. 1980–2010 Auch in den letzten dreißig Jahren hat StGs Werk vornehmlich Wissenschaftler beschäftigt, die einen klassisch philologischen Ansatz bevorzugen. Die Parameter der George-Forschung haben sich somit seit dem Zweiten Weltkrieg nur minimal verschoben; ein methodischer Paradigmenwechsel hat nicht stattgefunden. StG ist, anders als zum Beispiel Rainer Maria Rilke, kein Dichter, der posthermeneutisch arbeitende Kritiker anzieht. Anders als in der Zeit von 1945 bis 1960 erreicht oder übertrifft die fremdsprachige Literaturkritik nur selten das Niveau der im deutschsprachigen Raum entstandenen Studien. Lediglich in den USA schlägt sich die kulturwissenschaftliche Neuausrichtung der Literaturwissenschaft seit den 80er-Jahren in beschränktem Maße auch in einigen Arbeiten zu StGs Werk nieder, die im Gegensatz zu vielen Arbeiten der gegenwärtigen italienischen oder französischen Literaturkritik auch im deutschsprachigen Raum rezipiert werden. Überhaupt hat sich das Zentrum der nicht deutschsprachigen George-Forschung seit 1945 von Frankreich und Italien immer mehr in die Vereinigten Staaten verschoben, was vor allem mit der schieren Größe der US-amerikanischen Germanistik zu erklären, aber wohl auch darin begründet ist, dass man dort neuen Ansätzen offener gegenübersteht und so zu innovativen Lektüren des Georgeschen Werks kommt. Dagegen entstehen in Italien während der letzten Jahrzehnte vornehmlich Arbeiten wie Enrico de Angelis’ Doppia verita`: Saggi su Kleist, Hölderlin, George (Casale Monferrato 1985) oder Margherita Versaris Il motivo del confine nella poesia di Stefan George,50 die solide, aber traditionelle Motivforschung betreiben. Ähnliches gilt für Frankreich, wo Claude David 1988 mit dem Aufsatz George et Baudelaire eine letzte Publikation zu StG vorlegt51 oder Isabelle Durand-Henriot das intertextuelle Verhältnis des Algabal zu Mallarme´s He´rodiade untersucht.52 Natürlich werden ähnliche Arbeiten auch weiterhin von amerikanischen Forschern verfasst. Beispiele hierfür sind Jerry Glenns Hofmannsthal, George, and Nietzsche,53 Michael Metzgers Language Redeemed by Form: Stefan George and the Diction of Poetry54 oder Raymond C. Ockendens Stefan George and the Heritage of Romanticism,55 die durch genaue Lektüre der Gedichte mehr oder weniger explizit alle StGs Status als ,großer‘ Dichter zu bestätigen versuchen. Gleiches geschieht in Edward Underwoods Buch A History That Includes the Self. Essays on the Poetry of Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, William Carlos Williams, and Wallace Stevens (New York 1988), für das der Autor jedoch in beschränktem Maße auch auf strukturalistische Konzepte zurückgreift, um StG im Kontext der modernistischen Literatur und deren Reaktion auf die Sprach- und Wertekrise um 1900 zu situieren.

50 In: Strumenti Critici 18/2003, 3, S. 345–356. 51 In: E´tudes Germaniques 43/1988, 2, S. 163–178. 52 Isabelle Durant-Henriot, L’Algabal de George face a` He´rodiade de Mallarme´: les strate´gies d’une re´vision critique, in: Recherches Germaniques 27/1997, S. 143–164. 53 In: Modern Language Notes 97/1982, 3, S. 770–773. 54 In: Theodor Binder (Hrsg.), Georg Peter Landmann zum 80. Geburtstag, Basel 1985, S. 197–212. 55 In: Hanne Castein (Hrsg.), Deutsche Romantik und das 20. Jahrhundert. Londoner Symposium 1985, Stuttgart 1986, S. 41–59.

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Carsten Strathausens The Look of Things: Poetry and Vision around 1900 aus dem Jahr 2003 dagegen verwirft die Idee einer allgemeinen Sprachkrise: Er liest die Werke von StG, Rilke und Hofmannsthal als Reaktion auf die Medienkonkurrenz von Fotografie und Film und betont das Vertrauen dieser Dichter in die Macht der Sprache: „Given this belief in the evocative power of language“, schließt er, „it is misleading to refer to a pervasive ,language-crisis‘ around 1900“.56 Strathausens theoretisch fundierte Arbeit ist ein Musterbeispiel für die gelungene Synthese von closereading und Verortung der Texte im historisch-kulturellen Kontext. So gelingt es ihm, den notorisch vagen Begriff des Ästhetizismus als eine „imploded version of romanticism“ zu definieren, die völlige Autonomie anstrebe, aber den Positivismus des 19. Jahrhunderts nicht komplett hinter sich lassen könne und daher konstant die Materialität der Sprache betone: „Writing a poem becomes synonymous with building a world, not only in the hermeneutic sense of producing meaning, but also in the material sense of constructing a visual object in space“.57 Dies wiederum erlaubt es ihm, das Verhältnis des Ästhetizismus zur Populärkultur, das traditionell simplifizierend als eines der Ablehnung verstanden wurde, neu zu bestimmen: „German high literary modernism is not simply opposed to modern science or popular culture, but also shaped by it“.58 Zudem haben sich seit Ende der 1980er-Jahre, beeinflusst durch Marita KeilsonLauritz’ Studie zur Homosexualität im Werk StGs,59 auch die in den USA besonders stark vertretenen Gay and Lesbian Studies verstärkt StG zugewandt. StG ist damit auch Forschungsobjekt von Autoren geworden, die mit Kategorien operieren, die wenig mit denen der germanistischen George-Forschung gemeinsam haben. So widmen die wichtigsten aus dieser Perspektive geschriebenen Literaturgeschichten und Überblickswerke wie die von Wayne R. Dynes’ herausgegebene Encyclopedia of Homosexuality (New York 1990), Claude J. Summers’ The Gay and Lesbian Literary Heritage (New York 1995) oder Gregory Woods’ A History of Gay Literature (New Haven 1998) StG längere Passagen oder Einträge. Meist repräsentiert StG in diesen Passagen, wie Gregory Woods es formuliert (S. 184), weniger das körperliche als das geistige Element der Homosexualität. StGs Homosexualität ist ebenfalls zentral für Robert E. Nortons 2002 erschienene monumentale Biographie Secret Germany. Stefan George and his Circle. Diese erste außerhalb des George-Kreises entstandene Studie zum Leben des Dichters ist nicht nur die Biographie einer einzelnen Person, sondern gleichzeitig eine Studie über die deutsche Kulturlandschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in der Norton StG – gerade in dessen Ablehnung derselben – überzeugend verortet. StGs Verhältnis zur nationalsozialistischen Ideologie betrachtet Norton kritisch, aber ausgewogen und kommt zu dem in der amerikanischen Forschung mittlerweile verbreiteten Schluss, dass StGs ,Geheimes Deutschland‘ natürlich nicht Nazideutschland ist, die beiden

56 Carsten Strathausen, The Look of Things. Poetry and Vision around 1900, Chapel Hill/NC 2003, S. 9. 57 Ebd., S. 12. 58 Ebd. 59 Marita Keilson-Lauritz, Von der Liebe, die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges, Berlin 1987.

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aber auch nicht voneinander zu trennen sind.60 Auf welch großen Widerspruch allerdings selbst solch ein moderater Schluss bei manchen George-Forschern noch immer stößt, zeigen Jürgen Egyptiens Bemerkungen, wenn er Norton in seinem Forschungsbericht von 2005 vorwirft, in seinen „Wertungen allzu sehr der amerikanischen political correctness verpflichtet“ zu sein.61 Egyptiens Urteil, so es denn berechtigt wäre, träfe ebenfalls auf den von Jens Rieckmann edierten Companion to the Works of Stefan George (Rochester/NY 2005) zu, dessen Beiträge sowohl die künstlerische Entwicklung StGs nachzeichnen als auch kontroverse Themen wie das Verhältnis zum Nationalsozialismus und zur frühen Homosexuellenbewegung behandeln. Nicht zufällig ist es mit Camden House ein amerikanischer Verlag, der StG ein eigenes Handbuch widmet, in dem vornehmlich amerikanische Germanisten publizieren, die auch schon auf Deutsch zu StG veröffentlicht haben. Dies zeigt einmal mehr, dass StG im Ausland ein kanonisierter Autor ist, dass das Zentrum der fremdsprachigen Literaturkritik zu StG seit einigen Jahrzehnten die USA sind und dass deren Arbeit im engen Dialog mit der deutschsprachigen Germanistik geschieht. Literatur Bertaux, Fe´lix, Panorama de la Litte´rature allemande contemporaine, Paris 1928. Bowra, Cecil M., Stefan George, in: The New Oxford Outlook 5/1934, S. 316–331. Bruneder, Hans, Wandel des Georgebildes seit 1930, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 28/1954, S. 248–267. Duthie, Enid Lowry, L’influence du symbolisme franc¸ais dans le renouveau poe´tique de l’Allemagne. Les ,Blätter für die Kunst‘ de 1892 a` 1900, Paris 1933. Egyptien, Jürgen, Entwicklung und Stand der George-Forschung 1955–2005, in: Stefan George, München 2005 (Text und Kritik 168), S. 105–122. Fechner, Jörg-Ulrich (Hrsg.), „L’aˆpre gloire du silence“. Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der ,Blätter für die Kunst‘ 1890–1898, Heidelberg 1998. Steffensen, Steffen, Die Rezeption Georges und Rilkes in Skandinavien, in: Peter Lutz Lehmann/Robert Wolff (Hrsg.), Das Stefan-George-Seminar 1978 in Bingen am Rhein. Eine Dokumentation, Heidelberg 1979, S. 60–64. Stewart, William Kilborne, The Poetry of Stefan George, in: The Dial 63/1966, S. 567–570. Michael Butter

60 Vgl. Robert E. Norton, Secret Germany. Stefan George and his Circle, Ithaca, London 2002, S. xvii. 61 Egyptien, George-Forschung, S. 120.

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5.5.

III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Georges Lyrik in Anthologien

5.5.1. Anthologien zu Lebzeiten des Dichters In Übereinstimmung mit seiner bis 1898 den „schutz“ der „abgeschlossenheit“1 von Privatdrucken suchenden und auch später auf Exklusivität bedachten Veröffentlichungspolitik hat sich StG – selbst ein herausragender Anthologist – anthologischen Vereinnahmungen weitgehend verweigert. Während daher Hans Benzmann in seiner Anthologie Moderne deutsche Lyrik (Leipzig 1904) zu dem Notbehelf griff, zwei Gedichte – „Juli-Schwermut“ und „Traum und Tod“ – in der Einleitung zu zitieren, musste Hans Bethge wenig später in seiner Deutsche[n] Lyrik seit Liliencron (Leipzig 1905) ebenso wie Hertha Federmann in Der Schatzbehalter. Ein Brevier zeitgenössischer Lyrik (Königsberg 1909) mitteilen, StG habe einen Abdruck aus seinen Gedichten nicht gestattet, und noch Ende der 20er-Jahre sah sich Albert Soergel in Kristall der Zeit (Leipzig, Zürich 1929) gezwungen, 49 Titel von Gedichten zu nennen, die er „gewählt“ hätte, wenn eine Veröffentlichungserlaubnis zu erhalten gewesen wäre. Ob StG Ausnahmen von dieser restriktiven Praxis machte, lässt sich wegen der im Einzelfall kaum möglichen Überprüfung nicht mit Bestimmtheit sagen. Wahrscheinlich ohne Zustimmung des Dichters nahm Johannes Meyer in Spiegel neudeutscher Dichtung. Eine Auswahl aus den Werken lebender Dichter. Mit einer geschichtlichen Einführung und biographischen Notizen (Leipzig 1905) „Flurgottes Trauer“, „Der Herr der Insel“, „Der Einsiedel“, „Erwachen der Braut“, „Kindliches Königtum“, „Dass ich deine unschuld rühre“, „Heisst es viel dich bitten“, „Umkreisen wir den stillen teich“, „Wo die strahlen schnell verschleissen“, „Wenn von den eichen erste morgenkühle“, „Nicht ist weise bis zur lezten frist“ und „Flammende wälder am bergesgrat“ auf. Für Schulbücher wie Carl Dietz’ / Jakob Kneips / Albert Streubers Deutsche Dichtung aus zwei Jahrhunderten (innerhalb von „Diesterwegs Deutschkunde“, Frankfurt/M. 1930) und Karl Leopold Mayers Deutsche Gedichte aus vier Jahrhunderten (Berlin 1931 – Aussaat. Deutsches Lesebuch für höhere Schulen aller Formen, Bd. 8) – beide Auswahlen brachten zahlreiche Gedichte StGs – bedurfte es keiner Abdruckrechte. Julius Petersen und Erich Trunz konnten in ihre Anthologie Lyrische Weltdichtung in deutschen Übertragungen aus sieben Jahrhunderten (Berlin 1933) je eine Nachdichtung Shakespeares, Baudelaires, Verlaines und Swinburnes aufnehmen. Rudolf Borchardt ließ im Nachwort seiner zuerst 1926 erschienenen Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie wissen: Stefan Georges Gedichte haben hier aus äusseren Gründen nicht erscheinen können und hätten anderenfalls den Auswählenden vor eine unlösbare Aufgabe gestellt, denn dies Werk hat sich noch keinem Urteilenden so glatt in ewige und vergängliche Teile geteilt, dass er auf die erstern den Finger legen dürfte.2

1 SW II, Vorrede der zweiten Ausgabe. 2 Ewiger Vorrat deutscher Poesie, besorgt v. Rudolf Borchardt, 4. Aufl., Stuttgart 1956, S. 434.

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5.5.2. Anthologische Werkauswahlen In Friedrich Wolters’ Briefwechsel mit StG kommt dessen Skepsis gegenüber der Wiedergabe seiner Gedichte in Anthologien bzw. „schulausgaben“ wie auch das darauf reagierende ältere, seit Längerem aufgegebene Projekt einer eigenen Zusammenstellung zur Sprache (G/W, 200f.). Auf die innerhalb einer „schullektüre-sammlung“ erschienene Auswahlausgabe seines diensteifrigen Schülers dürfte er starken Einfluss genommen haben, hatte dieser doch mit dem Versprechen um Zustimmung geworben, sich „meisterlicher aufsicht“ sowohl hinsichtlich der „auswahl“ als auch der „einleitung“ und in Bezug auf „schrift und zeichen“ zu unterwerfen (G/W, 231f.). Wolters gab im Anhang seiner ohne Einleitung gebliebenen Anthologie knappe Informationen zu StGs früher „Lebensgeschichte“, wobei er die seit 1892 erscheinenden BfdK als „Zentrum der neuen dichterischen Bewegung in Deutschland“ während der folgenden „Jahrzehnte“ herausstellte, wies die einschlägigen monographischen Darstellungen von Ludwig Klages, Friedrich Gundolf, Hermann Drahn sowie seine beiden eigenen nach und teilte den Plan der im Erscheinen begriffenen Gesamtausgabe des Dichters mit.3 Abgesehen vom frühesten Werk, Fibel, und den schwächer vertretenen letzten Bänden Der Stern des Bundes und Das Neue Reich gab Wolters einen Querschnitt durch StGs lyrisches Schaffen und stellte trotz der Bevorzugung des heroisch-hohen Tones auch einzelne liedhafte Gedichte wie „Keins wie dein feines ohr“ und „Mein kind kam heim“ heraus. Robert Boehringer, ein anderer George-Schüler, der Hitler-Deutschland nach 1933 nicht mehr betreten hatte, veröffentlichte dreißig Jahre nach Wolters eine zweite anthologische Zusammenstellung, Stefan George. Gedichte. Eine Auswahl (Stuttgart 1960). Er berücksichtigte mit den „Geleitverse[n]“ nun auch die frühe Fibel sowie „Übertragungen“ von Versdichtungen Ibsens, Jacobsens, Rolicz-Lieders, Ghils, Verweys, Baudelaires, Verlaines, Shakespeares und Dantes. Im Verhältnis zu Wolters fanden Der Stern des Bundes und Das Neue Reich stärkere Beachtung; auch Gedichte wie „Wenn ich heut nicht deinen leib berühre“ und „Templer“ (mit dem Schlussvers „Den leib vergottet und den gott verleibt“; VI/VII, 53) wurden aufgenommen, und aus dem Rückblick nach 1945 konnte das 1917 separat veröffentlichte Gedicht „Der Krieg“, das Wolters ausgeschlossen hatte, als frühe Warnrede gelten („[…] Angehäufte frevel / Von allen zwang und glück genannt · verhehlter / Abfall von Mensch zu Larve heischen busse . .“; IX, 23). Mit „Komm in den totgesagten park und schau“ und „Du schlank und rein wie eine flamme“ waren zwei auch in großen Lyrikanthologien der 50er-Jahre bevorzugte Gedichte ebenso vertreten wie das von Anton von Webern vertonte und von Theodor W. Adorno 1957 in der Rede über Lyrik und Gesellschaft herausgestellte Lied „Im windes-weben“. Obwohl in Reclams UniversalBibliothek erschienen, gibt sich Boehringers Auswahl ausgesprochen streng: in der ungewöhnlichen Drucktype Petit Futura, im Festhalten an der Interpunktion des Dichters wie auch im hochrhetorisierten konzisen Nachwort, in dem StGs Bedenken gegen anthologische Fremdbestimmung nachwirken, das zugleich aber die Werbungstradition des Kreises fortführt.

3 Stefan George, Gedichte. Auswahl. Mit einem Bilde des Dichters, ausgewählt u. hrsg. v. Friedrich Wolters, Breslau [1930], S. 61f.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Die Auswahl des von StG als Nachlassverwalter und alleiniger Rechtsinhaber eingesetzten Robert Boehringer blieb für über zwei Jahrzehnte die vorerst letzte. Dies dürfte, zumal nach Boehringers Tod 1974, auch der Tatsache geschuldet gewesen sein, dass StG den Gegenpol zu dem von der 68er-Generation mehrheitlich favorisierten instrumentellen Literaturbegriff bildete. Erst mit dessen Verblassen kam es seit den 80er-Jahren zu einer bis in die Gegenwart anhaltenden Renaissance des Dichters. Ernst Klett veröffentlichte 1983 innerhalb von „Cotta’s Bibliothek der Moderne“ eine dritte Auswahl aus StGs Werk. Das Gedicht, so Klett mit unmissverständlicher Stoßrichtung gegen die 68er, sei StG „das Höchste“ gewesen, „was Menschen erreichbar“ sei, und dieses Höchste wirke, heilend und steigernd, „durch Schönheit zum Guten“. Damit war einer ästhetizistischen ebenso wie einer instrumentalisierenden Reduktion der Dichtung entschieden widersprochen. Zwar ließ es Klett nicht an (historisch) relativierenden Worten gegenüber StGs Deutschland-Bild wie auch dem Maximin-Kult und noch weniger an Distanz zum „nicht mehr erträgliche[n]“ überhöhten Ton der „Schüler“ fehlen. Ungeachtet dessen gelte StGs Verständnis von Form als „sittliche[r] Tat“ gerade für die Gegenwart, sei die Demokratie doch in besonderer Weise der Gefahr ausgesetzt, „die Formen, die sie sich geschaffen hat, und in denen sie lebt“, zerfallen und die „ungeformten und deshalb unsittlichen kräfte obsiegen“ zu lassen.4 Für Klett bilden Das Jahr der Seele und Der Teppich des Lebens den Höhepunkt von StGs Schaffen. In der Auswahl kamen, stärker noch als bei Boehringer, die trauernd-sehnsüchtigen bzw. liedhaften Gedichte zur Geltung. Drei Jahre nach Klett stellte Albert von Schirnding nicht mehr den ästhetisch-sittlichen Anspruch des „Propheten“, „Führer[s]“ und „Richter[s]“ StG heraus, der „abgedankt“ habe, sondern den „Lyriker“, durch dessen ganzes Werk der „innig-unwiderstehliche Klang werbender und entsagender Liebe“ laut werde und dem bis zum Schluss „die leisen, zarten und unverkrampften Töne“ gelungen seien.5 Als „Triumph eines herrlich verstiegenen Traums von Lebensschönheit über die trostlos trivial gewordene Realität“ vermöge gegenwärtig selbst noch der an sich befremdliche Maximin-Kult zu interessieren.6 Lakonisch-nüchterner sprach dann Thomas Böhme in seiner in der Reihe „Poet’s Corner“ erschienenen Auswahl Stefan George von einer „schwule[n] Biographie“, auf deren Verklärung als „Selbstzucht und Seelengröße“ ruhig verzichtet werden könne.7 Seine knappe Auswahl, die auch die „Übertragungen“ sowie lyrische Prosa aus Tage und Taten berücksichtigt, würdige, so Böhme, StGs „Verdienst um eine Entschlackung und Verjüngung lyrischen Sprechens“ und verzichte „weitgehend auf Belehrendes, auf Verkündigungsgedichte und Sprüche sowie auf die aus heutiger Sicht vernutzten Texte“ wie „Hehre Harfe“.8 Die als Zeichen der bundesrepublikanischen George-Renaissance zu wertenden Auswahlausgaben Kletts und von Schirndings – die des Leipzigers Böhme fällt bereits in das vereinigte Deutschland – fanden ihre ostdeutsche Entsprechung in Horst Nalewskis 1987 bei Reclam Leipzig erschienener und trotz hoher Auflage schnell ver4 Stefan George, Gedichte, Auswahl u. Nachwort v. Ernst Klett, Stuttgart 1983, S. 103, 117, 122, 124. 5 Stefan George, Achtzig Gedichte, Auswahl u. einführendes Nachwort v. Albert von Schirnding, Kornwestheim 1986, S. 101. 6 Ebd., S. 103. 7 Stefan George, hrsg. v. Thomas Böhme, Berlin 1992, S. 46. 8 Ebd., S. 48.

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

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griffener Auswahl Stefan George. Gedichte, und auch die Stoßrichtung dieser Anthologie ist vergleichbar. In seinem umfänglichen Nachwort suchte Nalewski die in der DDR verbreiteten starken Vorurteile und Vorbehalte zu entkräften. Hatte es im Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller geheißen, StGs Lyrik bezeuge „die oft anzutreffende Verwandtschaft von Ästhetizismus und Barbarei“,9 und war fast gleichlautend in der Geschichte der deutschen Literatur vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917 von der „Nähe des Ästhetizismus zur Barbarei“10 die Rede gewesen, so sprach Nalewski von einem „Ästhetizismus“, der nur „partiell das Un-Menschliche [!]“ streife, und unternahm es, StG durch differenzierende Einschätzungen zu entlasten. In den „vollendetsten“ Sammlungen Das Jahr der Seele und Der Teppich des Lebens sei StG dem „Mit-Menschlichen“ am nächsten gekommen, das Interesse bzw. die Bewunderung Thomas Manns, Walter Benjamins, ja selbst Rosa Luxemburgs sollte zu denken geben, und im Übrigen sei es ja gerade der George-Verächter Brecht gewesen, der festgestellt habe, „daß wir ohne die Kategorie des Schönen in unserer Ästhetik nicht werden auskommen können“.11 Nalewskis Auswahl, doppelt so umfänglich wie die bis dahin erschienenen, berücksichtigte alle von StG veröffentlichten Bände, einschließlich der Fibel, mit deutlicher Bevorzugung – und auch dies in Übereinstimmung mit den in demselben Jahrzehnt in der Bundesrepublik erschienenen Auswahlausgaben – der Liebes- und liedhaften Lyrik. Zusätzliches Gewicht erhielt sie durch ein auf der hinteren Umschlagseite wiedergegebenes, nicht autorisiertes Zitat aus dem – taktisch motivierten – Verlagsgutachten des Lyrikers Wulf Kirsten, der ungeachtet aller Distanz zu den „aristokratische[n] und archetypische[n] sakrale[n] Vorstellungen, die auf Prophetentum und Führerkultus hinausliefen“, die „neue unverschlissene Sprache“ herausstellte, durch die StG die deutsche Lyrik „aus einer tiefen Sackgasse herausgeführt“ und den Expressionismus mit vorbereitet habe.12 Die vorerst letzten Autor-Auswahlen wurden von Günter Baumann und Ernst Osterkamp verantwortet. Die Auswahl Baumanns erschien unter dem Titel Stefan George. Gedichte 2004 im Reclam-Verlag, der mit seiner und Boehringers weiterhin aufgelegter Edition nun zwei sehr unterschiedliche George-Anthologien parallel anbietet. Baumann bringt ausführliche Literaturhinweise und einen Kommentar zu allen ausgewählten Gedichten. In Übereinstimmung mit dem im letzten Jahrzehnt gestiegenen Interesse an StGs späterem Werk finden Der Siebente Ring und Das Neue Reich besondere Beachtung; auch die „Übertragungen und Umdichtungen“ werden ausführlich berücksichtigt. Osterkamp verzichtet auf die Übersetzungen, stellt dafür aber im Nachwort Baudelaire als „wichtigste[n] künstlerische[n] Lehrmeister“ StGs heraus.13 Seine Auswahl dokumentiert breit die wechselvolle und gleichwohl folgerichtige Entwicklung des Dichters von der Fibel bis zu Das Neue Reich. Acht Porträts 9 Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller, hrsg. v. Albrecht Günter, Bd. 1, 2., überarb. Aufl., Leipzig 1972, S. 251. 10 Geschichte der deutschen Literatur vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917, bearb. unter Leitung v. Hans Kaufmann, Berlin 1974 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 9), S. 226. 11 Stefan George, Gedichte, hrsg. v. Horst Nalewski, Leipzig 1987, S. 151, 154, 165–168. 12 An dieser Stelle sei Wulf Kirsten, einem der wenigen, die in der DDR die Castrum Peregrini-Hefte bezogen, für seine Hinweise auf einschlägige Anthologien gedankt. 13 Stefan George, Gedichte, hrsg. u. mit e. Nachw. v. Ernst Osterkamp, mit Abbildungen, Frankfurt/M., Leipzig 2005, S. 238.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

StGs halten dessen erfolgreich auf „Breitenwirkung“ hin angelegte „Inszenierung von Exklusivität“14 eindrücklich vor Augen. 5.5.3. Umfassende deutschsprachige Anthologien Mit StGs Widerstand gegen anthologische Vereinnahmungen, der Ablehnung des Nationalsozialismus durch seinen Nachlassverwalter Robert Boehringer und der auf anfängliches Zögern folgenden Distanzierung vieler Nationalsozialisten von StG, seinem Kreis und der durch sie geprägten Literaturwissenschaft,15 der Ausgrenzung aus dem ,Erbe‘ der DDR, dem George-feindlichen Literaturbegriff vieler 68er und der in den 80er-Jahren einsetzenden Renaissance des Dichters sind wichtige Koordinaten für dessen Präsenz bzw. Absenz auch in den nicht autorspezifischen Anthologien benannt. In den zwischen 1933 und 1945 in Deutschland erschienenen Anthologien zeigt sich ein uneinheitliches Bild. Überzeugte Nationalsozialisten wie Will Vesper (Dennoch! Deutsche Gedichte, 2. Aufl., Gütersloh 1944, – Kleine Feldpost-Reihe) nehmen kein einziges Gedicht StGs auf.16 Auch in der von Heinz Ohlendorf und Mathias Wieman im Auftrag des Oberkommandos der Wehrmacht herausgegebenen Anthologie Unser Schatzkästlein. Aus ewigem deutschem Besitz (Neuaufl. in der „Soldatenbücherei“, Potsdam 1944) ist StG nicht vertreten (ebenso wenig freilich Rilke, Hofmannsthal und die Expressionisten, statt ihrer u. a. Heinrich Anacker, Walter Flex, Agnes Miegel, Börries von Münchhausen, Lulu von Strauß und Torney). Andererseits brachte Wilhelm von Scholz in Das deutsche Gedicht (Berlin 1941) mit „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“, „Wir stehen an der hecken gradem wall“, „Rückkehr“, „Ich weiss du trittst zu mir ins haus“, „Meine weissen ara haben safrangelbe kronen“, „Du schlank und rein wie eine flamme“ und „Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande“ nicht weniger als sieben Gedichte StGs in der befremdlichen Nachbarschaft u. a. Dietrich Eckarts, Baldur von Schirachs und Gerhard Schumanns. Auch Wolfgang Stammler und Ruth Westermann entschieden sich in ihrer Goebbels gewidmeten Anthologie Uns trägt ein Glaube. Verse aus der deutschen Revolution (Breslau 1934) für die Aufnahme StGs. „Auf neue tafeln schreibt der neue stand“ beschließt hier, mit normalisierter Orthographie und Interpunktion, unter dem Titel „Jugend“ den Abschnitt „Das junge Geschlecht“.17 Wolters’ Auswahl von 1930 wurde 1943 als Feldpostausgabe neuerlich aufgelegt, und auch in Deutsche Gedichte. Eine Sammlung für die Kriegszeit (Weimar 1943, – Feldpost / Feldgraue Reihe) war StG mit zahlreichen Gedichten vertreten. Wieder ein anderes Bild bieten 14 Ebd., S. 248. 15 Vgl. Hans Rößner, Georgekreis und Literaturwissenschaft. Zur Würdigung und Kritik der geistigen Bewegung Stefan Georges, Frankfurt/M. 1938. 16 Allerdings hatte Vesper StG noch in der 42. Auflage (= 341. – 355. Tausend) seiner zuerst 1906 veröffentlichten Anthologie Die Ernte der deutschen Lyrik (Ebenhausen bei München 1942) mit sieben Gedichten berücksichtigt. 17 Vgl. Rudolf Mirbt, Das deutsche Herz. Ein Volksbuch deutscher Gedichte, Berlin 1934, wo im Abschnitt „Junge Mannschaft“ StGs „Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande“ von Herbert Böhmes „Trompeter, blase!“ und Baldur von Schirachs „Des Daseins Sinn“ („Wir wollen unsres Daseins Sinn verkünden: / uns hat der Krieg behütet für den Krieg!“) gerahmt wird.

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die Anthologie Deutscher Gesang (Leipzig [1940]) des Eich-Freundes und vormaligen Kolonne-Herausgebers Martin Raschke mit der bemerkenswerten Auswahl von „Templer“, „Der Dichter in Zeiten der Wirren“ und dem in den 30er- und 40erJahren besonders geschätzten „Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande“ sowie Katharina Kippenbergs seit 1937 in der Leipziger Insel-Bücherei häufig aufgelegte schmale Sammlung Deutsche Gedichte. Von StG waren hier „All die jugend floss dir wie ein tanz“ und „Entrückung“ ausgewählt, jenes gerahmt von Nietzsches „Das trunkene Lied“ und „Ecce homo“, dieses von Trakls „Gesang des Abgeschiedenen“ und Nietzsches „Nach neuen Meeren“. Bei der Anordnung, so die Herausgeberin, habe sie versucht, „die Gedichte, damit sie um so frischer gelesen würden, möglichst aus jedem nicht künstlerischen Zusammenhang zu lösen“ (Nachwort 1941). Die Distanz zum zeitgenössischen Ungeist ist nicht zu übersehen, zumal in den beiden die Sammlung beschließenden Gedichten, Rilkes „Archaischer Torso Apolls“ („Du mußt dein Leben ändern!“) und Goethes Divan-Gedicht („Gottes ist der Orient! / Gottes ist der Okzident! / Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden seiner Hände“). Erwähnenswert sind auch die anthologischen Bemühungen von Emigranten um StG, so Martin Sommerfelds Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke (New York 1938) und Curt von Faber du Faurs und Kurt Wolffs Tausend Jahre deutscher Dichtung (New York 1949). Rene´ Schickele ließ StG im Anhang zu Das Vermächtnis. Deutsche Gedichte von Walther von der Vogelweide bis Nietzsche (Freiburg/Br. 1948, die erste Auflage bei Allert de Lange Amsterdam, 1938, wurde vernichtet) mit einem langen Zitat aus der Lobrede auf Hölderlin (XVII, 58–60) und den beiden Schlussstrophen seines „Nietzsche“-Gedichtes zu Wort kommen. Wie die Auswahl Katharina Kippenbergs kamen auch andere im nationalsozialistischen Deutschland veröffentlichte Anthologien, in der Regel ,gereinigt‘, nach 1945 neu heraus, als man nicht zuletzt in der lyrischen Tradition Halt und Orientierung suchte. Ein herausragendes Zeugnis solcher indirekter Selbstpositionierung im Medium der lyrischen Tradition ist das 1946 erschienene und 1958 wieder aufgelegte Lyrische Lebensgeleite von Eichendorff bis Rilke des von den Nationalsozialisten schon 1933 seines Professorenamtes enthobenen Rechtswissenschaftlers und früheren Reichsjustizministers Gustav Radbruch. Unter dem Titel „Unzeitgemäße“ war StG hier, neben Nietzsche und Rilke, mit „Sieh mein kind ich gehe“, „Komm in den totgesagten park und schau“, „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“, „Es lacht in dem steigenden jahr dir“, „Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten“, „In meinem leben rannen schlimme tage“, „Trübe seele – so fragtest du – was trägst du trauer?“, „Da waren trümmer nicht noch scherben“, „Wie dank ich sonne dir ob jeden dings“, „Eingang“, „Litanei“, „Bucht“ und „Wer je die flamme umschritt“ vertreten. Peter Wolfgang Heise nahm in die zweite, durchgesehene Auflage seiner erstmals ohne Herausgebernennung in der SBZ erschienenen Anthologie „Komm in den totgesagten park und schau“, „Es lacht in dem steigenden jahr dir“, „Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten“, „Ob schwerer nebel in den wäldern hängt“ und „Stimmen im Strom“ auf (Deutsche Gedichte. Von Goethe bis zur Gegenwart. Eine Gedichtsammlung für die Oberstufe, Berlin, Leipzig 1947). In den DDR-Anthologien blieb StG vielfach unberücksichtigt. Uwe Berger und Günther Deicke beispielsweise gaben in ihrem mehrfach aufgelegten umfangreichen Deutsche[n] Gedichtbuch aus acht Jahrhunderten (Berlin, Weimar 1959, 4. Aufl. 1972) nicht weniger als neun Gedichte Hofmannsthals und siebzehn Rilkes wieder,

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

ließen StG aber mit keinem einzigen Gedicht zu Wort kommen. Ebenso bezeichnend für die weitgehende Absenz StGs in DDR-Anthologien ist, dass der vielfach auch als Herausgeber hervorgetretene Heinz Czechowski weder in Sieben Rosen hat der Strauch. Deutsche Liebesgedichte von Walther von der Vogelweide bis zur Gegenwart (Halle/S. 1963, 3. Aufl. 1970) noch in Zwischen Wäldern und Flüssen. Natur und Landschaft in vier Jahrhunderten deutscher Dichtung (Halle/S. 1965) und in Unser der Tag unser das Wort. Lyrik und Prosa für Gedenk- und Festtage (Halle/S. 1966) StG auch nur den bescheidensten Platz einräumte. Sehr wohl ist StG hingegen in Walter Dietzes Die respektlose Muse. Literarische Parodien aus fünf Jahrhunderten (Berlin 1958) durch zwei Parodien Hanns von Gumppenbergs und je eine von Wilamowitz-Moellendorff und Robert Neumann vertreten. Freilich gab es Ausnahmen von dieser Distanz, die offensichtlich der offiziösen Einschätzung des Dichters entsprach. Johannes Bobrowski beispielsweise reihte „Porta Nigra“ unter seine „liebsten Gedichte“ ein, wobei allerdings unsicher ist, ob er je an eine Veröffentlichung dachte.18 Ingeborg Harnisch nahm in Ich denke dein. Deutsche Liebesgedichte (Berlin [1966]) „Nun lass mich rufen über die verschneiten“ auf, Bernd Jentzsch in Das Wort Mensch. Ein Bild vom Menschen in deutschsprachigen Gedichten aus drei Jahrhunderten (Halle/S. 1977), vier Jahre bevor er die DDR verließ und schwerlich ohne Hintersinn, „Die steine die in meiner strasse staken“. Ein bemerkenswertes verdecktes Zeugnis hoher Wertschätzung findet sich in Stephan Hermlins als Veröffentlichung der Akademie der Künste der DDR herausgegebenem Deutsche[n] Lesebuch. Von Luther bis Liebknecht (Leipzig 1976), das StG durch Wiedergabe von Hofmannsthals Gespräch über Gedichte zu Wort kommen ließ, in dem „Komm in den totgesagten park und schau“ und „Gemahnt dich noch das schöne bildnis dessen“ mit bewundernden Kommentaren wiedergegeben worden waren. Auch der Übersetzer und Nachdichter StG kam in der DDR gelegentlich zu Wort (so in den zweisprachigen Ausgaben von Kurt Schnelle, Französische Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart, Leipzig 1961, und Karlheinz Barck, Arthur Rimbaud, Gedichte, Leipzig 1989). In den westdeutschen Lyrik-Anthologien seit den 50er-Jahren ist StG regelmäßig gut vertreten, meist weniger als Rilke, doch selten mit den Vorbehalten, die aus Ludwig Reiners’ fast tausendseitiger Zusammenstellung Der ewige Brunnen. Ein Volksbuch deutscher Dichtung (München 1955, Jubiläumsausg. 3. Aufl. 2007) spricht, die Geibel und Heyse jeweils über zwei Dutzend, StG hingegen nur vier Gedichte zugesteht und überdies Wilamowitz’ Parodie „Nach Stefan George“ bringt. Sowohl Hans Egon Holthusen und Friedhelm Kemp (Ergriffenes Dasein. Deutsche Lyrik 1900–1950, Ebenhausen 1953) als auch Curt Hohoff (Flügel der Zeit. Deutsche Gedichte 1900–1950, Frankfurt/M. 1956) sowie Wolfgang Hädecke und Ulf Miehe (Panorama moderner Lyrik deutschsprechender Länder. Von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, [Gütersloh 1966]) räumen StG einen wichtigen Platz ein. Eine durchaus eigenwillige Auswahl verrät Walther Killys Zeichen der Zeit. Ein deutsches Lesebuch, dessen dem 20. Jahrhundert gewidmeter vierter Band, Verwandlung und Wirklichkeit (Frankfurt/M. 1958), außer der Lyrik mit „Der kindliche Kalender“ und „Sonntags auf meinem Land“, beide aus Tage und Taten, auch die lyrische Prosa 18 Johannes Bobrowski, Meine liebsten Gedichte. Eine Auswahl deutscher Lyrik von Luther bis Christoph Meckel. Mit zehn Wiedergaben nach der handschriftlichen Sammlung, hrsg. v. Eberhard Haufe, Berlin 1985, S. 198.

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

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berücksichtigt. Ulrich Karthaus bringt in dem Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil gewidmeten Band der Reihe „Die deutsche Literatur. Ein Abriß in Text und Darstellung“ (Stuttgart 1977) längere programmatische Äußerungen aus den BfdK sowie die Gedichte „Jahrestag“, „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“, „Wir werden heute nicht zum garten gehen“, „Der Freund der Fluren“ und „Das Wort“. An Benno von Wieses Bearbeitung des ,Echtermeyer‘ (Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1954, neu bearb. 1966, 18. Aufl. 2001) ist ein fortgeschrittener Grad der Kanonisierung einzelner Gedichte StGs ablesbar (u. a. von „Mühle lass die arme still“, „Komm in den totgesagten park und schau“ und „Es lacht in dem steigenden jahr dir“), der sich spätestens seit Wolters’ Auswahl herausgebildet und bis zur Gegenwart weiter verfestigt hat.19 Carl Otto Conrady (Das große deutsche Gedichtbuch, Königstein/Ts. 1978) nahm unter die achtzehn von ihm ausgewählten Gedichte nicht weniger als acht der dreizehn bereits bei Echtermeyer und von Wiese vertretenen auf. Originelle anthologische Auswahlen sind durch den fortgeschrittenen Grad der Kanonisierung eines Kerns von fünfzehn bis zwanzig Gedichten StGs schwer geworden. Wulf Segebrecht und Christian Rößner beispielsweise (Das deutsche Gedicht. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, [Frankfurt/M.] 2005) bringen mit „Komm in den totgesagten park und schau“, „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“, „Es lacht in dem steigenden jahr dir“ und „Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten“ ausschließlich längst kanonisierte Gedichte, nicht anders als Dietrich Bode (Deutsche Gedichte. Eine Anthologie, Stuttgart 1984) oder Joachim Hoof (Deutsche Gedichte. Von Walther von der Vogelweide bis Gottfried Benn, Leipzig 1999, München 2004). Eigene Wege ging Hartmut von Hentig (Meine deutschen Gedichte. Eine Sammlung, Velber 1999) mit der Aufnahme u. a. von „Wer seines reichtums unwert ihn nicht nüzt“ und „Was ist geschehn dass ich mich kaum noch kenne“, während Heinrich Detering in seiner ansonsten eher traditionellen Auswahl Reclams großes Buch der deutschen Gedichte vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert (Stuttgart 2007) mit der Aufnahme der Nachdichtungen von Jacobsens „I Serailets Have“ („Rosen senken ihr haupt so schwer“) und Shakespeares 18. Sonett („Soll ich vergleichen einem sommertage“) einen besonderen Akzent setzt. Auch in weiteren epochal oder thematisch enger gefassten Anthologien ist StG fast durchweg gut vertreten: so in drei Bänden der Epochen der deutschen Lyrik;20 in Killys innerhalb der Reihe „Die deutsche Literatur“ erschienenem Band 20. Jahrhundert. Texte und Zeugnisse. 1880–1933 (München 1967), der im Abschnitt „George und sein Kreis“ u. a.

19 Vgl. Hans Braam, der als die am häufigsten wiedergegebenen George-Gedichte „Komm in den totgesagten park und schau“ sowie, mit deutlichem Abstand, „Es lacht in dem steigenden jahr dir“, „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“ und „Der Herr der Insel“ anführt (Die berühmtesten deutschen Gedichte. Auf der Grundlage von 200 Gedichtsammlungen zusammengestellt, mit e. Vorw. v. Helmut Schanze, Stuttgart 2004). Der freundlicherweise mitgeteilten „Datenbank Hans Braam“ zufolge sind weitere anthologisch bevorzugte Gedichte, in abnehmender Häufigkeit: „Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten“, „Wer je die flamme umschritt“, „An baches ranft“ und „Du schlank und rein wie eine flamme“. 20 Bd. 8: Gedichte 1830–1900, nach den Erstdr. in zeitlicher Folge hrsg. v. Ralph Rainer Wuthenow, München 1970; Bd. 9.1: Gedichte 1900–1960, nach den Erstdr. in zeitlicher Folge hrsg. v. Gisela Lindemann, München 1974; Bd. 10.2: Übersetzungen, nach den Erstdr. in zeitlicher Folge unter Mitarb. v. Rüdiger von Tiedemann hrsg. v. Dieter Gutzen u. Horst Rüdiger, München 1977.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

einen Brief StGs an Hofmannsthal sowie poetologische Äußerungen bringt; ebenso in Moritz Baßlers Literarische Moderne. Das große Lesebuch (Frankfurt/M. 2010), in das neben den kanonischen oder kanonaffinen Gedichten „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“, „Vogelschau“, „Komm in den totgesagten park und schau“, „Ihr tratet zu dem herde“, „Nietzsche“, „Wer je die flamme umschritt“, „Das Wort“ und „Einem jungen Führer im ersten Weltkrieg“ auch „Das lied des zwergen I“ („Ganz kleine vögel singen“), „Der Teppich“ sowie die Prosa-Lobrede auf Mallarme´ Aufnahme fanden; desgleichen in Lyrik-Anthologien zu Natur (Alexander von Bormann, Die Erde will ein freies Geleit. Deutsche Naturlyrik aus sechs Jahrhunderten, Frankfurt/M. 1984) und Großstadt (Wolfgang Rothe, Deutsche Großstadtlyrik vom Naturalismus bis zur Gegenwart, Stuttgart 1973), zu Liebe (Hans Wagener, Deutsche Liebeslyrik, Stuttgart 1982) und Homosexualität (Joachim Campe, Andere Lieben. Homosexualität in der deutschen Literatur. Ein Lesebuch, Frankfurt/M. 1988), zur Melancholie (Ludwig Völker, „Komm, heilige Melancholie“. Eine Anthologie deutscher Melancholie-Gedichte, Stuttgart 1983) und zum Ikarus-Mythos (Achim Aurnhammer/Dieter Martin, Mythos Ikarus. Texte von Ovid bis Wolf Biermann, Leipzig 1998), zum Abschied (Margot Litten, Vom Abschied. Eine Gedichtsammlung, Frankfurt/M. 1987) und zum Freitod (Armin Strohmeyr, Der Freitod. Eine literarische Anthologie der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegegnwart, Tübingen 1999). Den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlangten kanonischen Rang bestätigen schließlich auch die mit Wiedergabe der Gedichte versehenen und insofern quasi-anthologischen Interpretationssammlungen von Wieses ( Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen. Von der Spätromantik bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1956), Jost Schillemeits (Deutsche Lyrik von Weckherlin bis Benn, Frankfurt/M. 1965) und Marcel Reich-Ranickis (Von Arno Holz bis Rainer Maria Rilke, Frankfurt/M., Leipzig 1994, – 1000 Gedichte und ihre Interpretationen 5).21 Unter den von maßgeblichen Lyrikern der Gegenwart herausgegebenen Anthologien verdient außer Wulf Kirstens Anthologie „Beständig ist das leicht Verletzliche“. Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan (Zürich 2010) Thomas Klings Sprachspeicher. 200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert (Köln 2001) mit der Auswahl von „Der Teppich“, „Gewitter“, „Ihr bangt der Obern pracht nie mehr zu nennen“, „Komm in den totgesagten park und schau“, „Langsame stunden überm fluss“, und „Wilder Park“ ebenso wie des Kommentars wegen22 besondere Beachtung. Nicht zuletzt Parodien wie Hans Magnus Enzensbergers „Wenn

21 Vgl. im Übrigen Reinhard Schlepper, Was ist wo interpretiert? Eine bibliographische Handreichung für das Lehrfach Deutsch, 8. Aufl., Paderborn 1991, und das Fundbuch der Gedichtinterpretationen, hrsg. v. Wulf Segebrecht, bearb. v. Rolf-Bernhard Essig, Paderborn u. a. 1997. 22 „Es ist der Mittzwanziger Stefan George […], der […] in der Klang-Stimmigkeit den wichtigsten Parameter des Gedichts erkannt hat. Eindeutig steht ,die klangliche stimmung‘ vor dem, was für den frankophilen Anti-Wilhelministen in sagenhafte Ferne entrückt ist und kaum bedauert wird, was man wohl früher mit dem ,idealischen‘ meinte. Georges Satz wendet sich gegen die ebenso notorische wie fahrlässige Rede vom geglückten, dem Autor gleichsam sterntalermäßig in den Schoß fallenden Gedicht. Er stellt den Werkprozeß, die Arbeit am Text in den Vordergrund: konzeptuelle Abgekühltheit (,gewisse ruhe‘), gesteuerte Euphorie (,freudigkeit‘) als Voraussetzung für das Entstehen eines guten Gedichts“ (S. 200).

5. Literaturkritische und literaturwissenschaftliche Rezeption

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einst dieser herd sich gereinigt von sosse“23 – nach „Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande“ – bestätigen StGs kanonischen Rang. 5.5.4. Fremd- und zweisprachige, außerhalb des deutschen Sprachgebiets erschienene Anthologien StG wurde früh in zahlreiche europäische Sprachen übertragen24 und war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Daisy Broichers German Lyrists of to-day. A selection of lyrics from contemporary German poetry done into English verse (London 1909) präsent. William Rose (A Book of German Verse 1890–1955, Oxford 1960) wählte dreizehn, Angel Flores (An Anthology from Klopstock to Rilke in English Translation, NewYork 1960) 23 Gedichte StGs aus. Unberücksichtigt blieb er freilich, anders als Hofmannsthal und Rilke, in Martin Swales’ German Poetry. An Anthology from Klopstock to Enzensberger, Cambridge 1987. Stark dem Kernkanon Georgescher Gedichte verpflichtet sind Hertha Perez, Gertrud Sauer und Michael Markel (Anthologie der deutschsprachigen Lyrik im 20. Jahrhundert, Bucures¸ti / Bukarest 1977) sowie Ferenc Szasz (Deutschsprachige Gedichte. Dichtungsgeschichtliche Anthologie zum Deutschunterricht in den höheren Klassen der Gymnasien und an den Hochschulen für die Lehrerausbildung, Sze´kesfehe´rva´r / Stuhlweißenburg 1994). JeanPierre Lefebvre hingegen traf für seine voluminöse Anthologie bilingue de la poe´sie allemande mit „Juli-Schwermut“, „Jahrestag“, „Komm in den totgesagten park und schau“, „Gemahnt dich noch das schöne bildnis dessen“, „Rückkehr“, „Drei weisen kennt vom dorf der blöde knabe“, „Du wirst nicht mehr die lauten fahrten preisen“, „Der Jünger“, „Schon war der raum gefüllt mit stolzen schatten“, „Selbst nicht wissend was ich suchte“, „Rückgekehrt vom land des rausches“, „Auf neue tafeln schreibt der neue stand“, „Ein wissen gleich für alle heisst betrug“ und „Das Wort“ eine sehr eigene Auswahl. Dem Ausschluss der liedhaften Lyrik entspricht die distanzierende Qualifizierung StGs als „poe`te voyant et e´litaire“, dessen Kreis „finit par sombrer dans la farce ne´ronesque du culte de ,Maximin‘“ und der 1933 „plutoˆt de la sympathie pour le nouveau cours des choses“ gezeigt habe, „tout en se tenant dans une aristocratique distance, a` la manie`re de Jünger“.25 5.5.5. Ergebnis Umfang und Vielfalt von StGs Lyrik wie auch die unzureichende Aufarbeitung der Gattung Anthologie erschweren zusammenfassende Tendenzbestimmungen. Vorläufig kann man festhalten: 1. Im nationalsozialistischen Deutschland und mehr noch in 23 Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten, vorgestellt v. Andreas Thalmayr [d. i. Enzensberger], Nördlingen 1985, S. 26f. 24 Vgl. Stefan George in fremden Sprachen. Übersetzungen seiner Gedichte in die europäischen Sprachen ausser den slawischen, zusammengestellt v. Georg Peter Landmann, Düsseldorf, München 1973. 25 Anthologie bilingue de la poe´sie allemande, hrsg. v. Jean-Pierre Lefebvre, Paris 1993 (zahlr. Neuaufl. bis 2004), S. 1617–1619.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

der DDR zeigten sich starke Vorbehalte gegenüber StG, die im ersten Fall gelegentlich, im zweiten regelmäßig – wenn auch nicht durchgängig – dazu führten, ihn in Anthologien nicht zu berücksichtigen. 2. Im westlichen Nachkriegsdeutschland kann der um 1968 vorherrschende instrumentelle Literaturbegriff den bereits zu Lebzeiten des Autors einsetzenden Prozess der Kanonisierung, der früh auch von nichtdeutschsprachigen Ländern getragen wird, nur mittelfristig verzögern. 3. Schon seit Längerem findet die Liebes- bzw. die liedhafte Lyrik wachsende Beachtung, vereinzelt auch seit den späten 80er-Jahren mit dem Hinweis auf die Homosexualität des Dichters. 4. Zunehmend berücksichtigt werden auch das Spätwerk und die Nachdichtungen, nach wie vor selten hingegen die lyrische Prosa. 5. In hundert Jahren anthologischer Rezeption hat sich ein Kernkanon von fünfzehn bis zwanzig Gedichten herausgebildet, innerhalb dessen „Komm in den totgesagten park und schau“ noch einmal eine Vorzugsstellung einnimmt; bereits seit den 1950er-Jahren und verstärkt in den letzten Jahrzehnten reagieren Anthologisten, positiv oder negativ, auf diese mit einer Enthistorisierung verbundene kanonische Verfestigung. Gerhard R. Kaiser

6.

Wissenschaftliche Rezeption

6.1.

Einführende Bemerkungen

,Angekreist‘ – so charakterisierte Ernst Kantorowicz 1925 in einem Brief an StG einen Wissenschaftler, der nicht im eigentlichen Sinn zum George-Kreis gehörte, der aber doch in seiner wissenschaftlichen Arbeit von der Persönlichkeit und dem Werk StGs geprägt war.1 Eine solche ,angekreiste‘, universitär verankerte Wissenschaft wurde im frühen 20. Jahrhundert in Deutschland institutionell möglich durch eine gezielte Berufungspolitik, wie sie in den 1920er-Jahren etwa an der Universität Frankfurt der dortige Kanzler Kurt Riezler betrieb.2 Während der Weimarer Republik stand der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker für eine ähnliche kreisnahe Berufungspolitik.3 Wie sehr noch die Hochschullandschaft der frühen Bundesrepublik durch den Bildungspolitiker Hellmut Becker (dem jüngeren Sohn von Carl Heinrich Becker) indirekt von StG beeinflusst war, hat Ulrich Raulff nachgezeichnet.4 StGs Wirkung auf die Wissenschaft lässt sich jenseits einer solchen institutionengeschichtlichen und netzwerkanalytischen Perspektive auf die gezielte Berufung ,angekreister‘ Wissenschaftler auch erforschen, wenn man den neuen, spätestens seit den 1910er-Jahren aufkommenden antipositivistischen Wissenschaftsstil beleuchtet und danach fragt, inwieweit Gegenstand, Beschreibungssprache und Methode dieser neuen geistesgeschichtlichen Wissenschaftsrichtung sich konkret auf den Einfluss StGs zurückführen lassen.5 Wenn auch das oft zitierte – aber nur von Edgar Salin bezeugte – George-Diktum „Von mir aus führt kein Weg zur Wissenschaft“ (ES, 49, 1 E. Kantorowicz an StG, undatiert [ca. Juni/Juli 1925], StGA. Kantorowicz zielte mit seiner Bezeichnung auf den Physiker und Astronomen Hugo Gramatzki. Gramatzki war um 1900 in München im Umkreis von Wolfskehl mit StG bekannt geworden. Im Maskenzug der Münchner Kosmiker soll Gramatzki 1904 den ,Irrfahrer‘ dargestellt haben; vgl. EM I, S. 317; Eckhart Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk ,Kaiser Friedrich der Zweite‘, Wiesbaden 1982, S. 69f. 2 Riezler gewann neben Ernst Kantorowicz in diesem ,angekreisten‘ Sinn für die Universität Frankfurt die Altphilologen Walter F. Otto und Karl Reinhardt. Vgl. Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule. Bd. 1: 1914–1950, Neuwied, Frankfurt/M. 1989, S. 78–95, 100–139. 3 Vgl. Carola Groppe, Neubeginn durch einen dritten Humanismus? Der preußische Kultusminister C. H. Becker und der George-Kreis in der Weimarer Republik, in: CP 49/2000, 244/245, S. 41–61. Zu Beckers vergeblichem Bemühen, Gundolf nach Berlin an die Universität zu holen vgl. Ernst Osterkamp, Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, hrsg. v. Christoph König u. Eberhard Lämmert, Frankfurt/M. 1993, S. 177–198. 4 Vgl. Raulff 2009, S. 436–439, passim. 5 In diesem Sinn untersuchen die drei in der Bibliographie genannten Sammelbände die Wirkung StGs auf die Wissenschaft.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

249f.) einige Zeit den Blick für solche Filiationen und Traditionsstiftungen versperrte oder zumindest ablenkte, so muss doch bei der Betrachtung der deutschen Geisteswissenschaften des frühen 20. Jahrhunderts festgehalten werden, dass von StG sehr oft ein Weg zu einer neuen und anderen Wissenschaft führte, die sich mit kulturkritischer Verve vom wilhelminischen Universitätsbetrieb abzusetzen suchte. Eine neue Fachsprache und Darstellungstechnik verdankten ihre terminologische Sensibilität auch der George-Lektüre.6 Hans-Georg Gadamer hat retrospektiv eine „indirekte Zugehörigkeit zu Werk und Wirken des Dichters“ in seiner eigenen Generation von Wissenschaftlern bestätigt.7 Und Eduard Spranger vermerkte 1929 zum Einfluss StGs auf die universitäre Qualifizierungspraxis, dass „ohne ein Körnchen vom Geiste Nietzsches oder Stefan Georges […] heut kaum eine Dissertation mehr entstehen“ könnte.8 Wissenschaft war für solche ,angekreisten‘ Gelehrte nicht unbedingt ungeliebter Broterwerb, sondern oft gab das Erlebnis der Dichtung StGs den Impuls, die Wissenschaft engagiert umzugestalten. Nicht Objektivität und Neutralität waren das Ideal, sondern die Person, die Weltanschauung und auch die Wertungen des Wissenschaftlers sollten in den akademischen Studien erkennbar werden. Die ,angekreisten‘ Wissenschaftler waren davon überzeugt, durch gezielte Torpedierung eingefahrener analytischer Verfahren eine neue und bessere Wissenschaft erzeugen zu können. Die universitäts- und wissenschaftskritische Haltung von Martin Heidegger ist vielleicht nicht zuletzt auch dem Einfluss StGs geschuldet.9 Die Wissenschaft im steilen Ton Le´on Daudets dabei erst einmal unter den Generalverdacht des Alexandrinismus und der sinnentleerten positivistischen Stoffhuberei zu stellen, war integraler rhetorischer Bestandteil dieser wissenschaftskritischen Wissenschaftsreform. Die Wissenschaftler kokettierten dabei durchaus selbstbewusst mit dem Vorwurf des ,Unphilologischen‘ und des ,Dilettantismus‘.10 Ernst Troeltsch sprach in dem Zusammenhang von einer 6 Wie eine solche georgianische Semantik auch in der Nationalökonomie wirksam werden konnte, zeigt Korinna Schönhärl, Wissen und Visionen. Theorie und Politik der Ökonomen im Stefan George-Kreis, Berlin 2009, S. 18–46, 231–243. 7 Hans-Georg Gadamer, Stefan George (1868–1933), in: Zimmermann (Hrsg.), Wirkung, S. 39–49, hier: 40. Zu generationenspezifischen Rezeptionsmustern vgl. Groppe 1997. 8 Eduard Spranger, Der Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Geisteswissenschaften, in: Ders., Grundlagen der Geisteswissenschaften, hrsg. v. Hans Walter Bähr, Tübingen 1980 (Gesammelte Schriften 6), S. 151–183, hier: 156. 9 Zu Heidegger vgl. Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst und Friedrich Georg Jünger 1920–1960, Göttingen 2007, S. 186–196; Jörg Appelhans, Martin Heideggers ungeschriebene Poetologie, Tübingen 2002, S. 285–306, 326–421. Auch Carl Schmitt hat in späteren Jahren eingeräumt, von StG beeinflusst worden zu sein, wenn auch indirekt vermittelt über Norbert von Hellingrath, Kurt Singer, Edgar Salin und Max Kommerell, vgl. dazu Reinhard Mehring, Hitler-Schiller. Carl Schmitts nachgelassene Hitler-Reflexionen im Licht von Max Kommerells Schiller-Deutung, in: Leviathan 33/2005, S. 216–239. Für den späten Schmitt scheint retrospektiv die Wiederentdeckung Hölderlins aus dem Geiste StGs der Dichtung StGs deutlich vorgelagert, so vermerkt er im Glossarium: „,Jugend ohne Goethe‘ (Max Kommerell), das war uns seit 1910 in concreto Jugend mit Hölderlin […]. Norbert von Hellingrath ist wichtiger als Stefan George und Rilke“, Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, hrsg. v. Eberhard Freiherr von Medem, Berlin 1991, S. 152 (v. 18. Mai 1948). 10 Den größten und weithin hörbarsten Rumor erzeugten in dieser Hinsicht Gundolf mit seinen Veröffentlichungen zu Cäsar, Goethe und Shakespeare sowie Kantorowicz mit seinem FriedrichBuch.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Einführung

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„wissenschaftlichen Revolution“, die maßgeblich vom George-Kreis ausgegangen sei und die auf „Vereinfachung und Konzentration, Lebendigkeit und Ursprünglichkeit, künstlerische[n] Geist und Sinn für Symbole, Befreiung von der Konvention und Hingabe an starke Persönlichkeiten“ gezielt habe.11 Elemente der neuen, an StG orientierten Richtung der Geisteswissenschaften waren die Vorliebe für heroische Stoffe, Wertschätzung der Form und immer wieder der Hinweis auf die ,Gestalt‘ als schillerndes Signalwort. Auch wenn der Gestalt-Begriff schon vor StG in der Wahrnehmungspsychologie um 1890 mit Rückbezug auf Goethe verwendet wurde, erlangte der emphatische Gebrauch des Begriffs im weiteren Umkreis StGs programmatischen Charakter.12 Mit dieser methodischen Leit-Vokabel zielten die ,angekreisten‘ Texte auf die Einheit und Ganzheitlichkeit von Leben und Werk, Geist und Körper. Der von StG beeinflusste antipositivistische Wissenschaftsstil konnte bisweilen begleitet werden von prononciertem sozialen Degagement und einer geistesaristokratischen Attitüde. Die methodische Erkenntnisleistung von Erlebnis, Schau und Intuition wurde betont und einer trockenen zergliedernden Analyse gegenübergestellt.13 Die Angst, dass in einer eingefahrenen herkömmlichen Wissenschaft das instinktsichere Erkennen verloren gehen könnte, grundierte die Darstellung. Monographien, die in den ,angekreisten‘ Geisteswissenschaften entstanden, konzipieren häufig regelrechte Mythographien um eine einzelne historische Gestalt herum, ohne im klassischen Sinn eine Biographie zu konstruieren. Sie betonen das Schicksalhafte und Dämonische der jeweiligen heroischen Gestalten und arbeiten ihre Opposition zur Umwelt heraus.14 Die beschriebenen Helden werden zu überzeitlichen Vorbildfiguren. Je nachdem, wie nahe diese ,angekreisten‘ Wissenschaftler StG standen, interpretierten sie die großen Männer der Weltgeschichte auch als dessen Vorgänger oder Wegbereiter. Man hat daher in diesem Zusammenhang auch von der „Johannes-Funktion“ dieser Monographien gesprochen.15 Einflüsse, Entstehungsbedingungen und gesellschaftliche Kontexte interessieren weniger. Quellenkritik wird betrieben, aber nicht immer sichtbar gemacht: Bibliographien sind die Ausnahme, Fußnoten werden gemieden oder in Endnoten transformiert. So entstehen Geistesgeschichten sans noms et sans dates. Das Bemühen, den wissenschaftlichen Apparat 11 Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft, S. 526. 12 Zum Gestalt-Begriff vgl. Gregor Streim, „Krisis des Historismus“ und geschichtliche Gestalt. Zu einem ästhetischen Geschichtskonzept der Zwischenkriegszeit, in: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hrsg. v. Daniel Fulda u. Silvia Serena Tschopp, Berlin 2002, S. 463–488; Gerhard Zöfel, Die Wirkung des Dichters. Mythologie und Hermeneutik in der Literaturwissenschaft um Stefan George, Frankfurt/M. 1987, S. 114–186; Annette Simonis, Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur, Köln 2001; Kurt Weigand, Von Nietzsche zu Platon. Wandlungen in der politischen Ethik des George-Kreises, in: Stefan George-Kolloquium, hrsg. v. Eckhard Heftrich, Köln 1971, S. 67–90. 13 Vgl. Gundolfs methodische Provokation: „Methode ist Erlebnis, und keine Geschichte hat Wert die nicht erlebt ist“, Friedrich Gundolf, Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 1911, S. VIII. Vgl. hierzu Michael Rißmann, Literaturgeschichte als Kräftegeschichte. Friedrich Gundolfs Beitrag zur Methodik geistesgeschichtlicher Literaturbetrachtung, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 42/1997, S. 63–105. 14 Vgl. Helmut Scheuer, Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979, S. 112–151. 15 Heinz Raschel, Das Nietzsche-Bild im George-Kreis, Berlin 1984, S. 36.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

nicht überhand nehmen zu lassen, bestimmt Duktus und Anlage dieser Texte. Das konnte den (ungerechtfertigten) Vorwurf der bloß „schöngeistigen Veranlagungen“ bei mangelnder „streng wissenschaftlicher Forschung“ nach sich ziehen.16 Das ästhetische Ziel der Unsichtbarkeit des Handwerks geht einher mit Sendungsbewusstsein: Dem „Bedürfnis nach dem starken Mann“17 in der Gegenwart wird in retrospektiven Heldengeschichten Ausdruck verliehen. Nicht zuletzt kann man es auch als eine Form der ,angekreisten‘ Rezeption in den Wissenschaften betrachten, wenn die Konfrontation mit der Persönlichkeit StGs und die staunende Beobachtung von sozialen Praktiken und Ritualen im George-Kreis vielen zeitgenössischen Wissenschaftlern zum Thema ihrer Wissenschaft wurde. Prominentestes Beispiel hierfür ist wohl Max Webers soziologische Theorie der charismatischen Herrschaft, die er in der Auseinandersetzung mit dem George-Kreis herausbildete.18 Ernst Troeltsch wiederum förderte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem George-Kreis, indem er 1919 dafür plädierte, dass die „Wissenschaftstheorien des George-Kreises“ zum Thema einer Preisaufgabe der Philosophischen Fakultät in Berlin erhoben werden sollten.19 Und die zeitgenössische Debatte um Max Webers Vortrag Wissenschaft als Beruf war durch die Heidelberger Gegenschrift von Erich von Kahler Der Beruf der Wissenschaft und die Replik von Arthur Salz Für die Wissenschaft gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern schon bald auch eine Auseinandersetzung mit Wissenschaftskonzepten um StG.20 In dieser institutionengeschichtlichen und wissenschaftshistorischen Hinsicht fragen die folgenden Beiträge danach, inwieweit die einzelnen Wissenschaften im 20. Jahrhundert sowohl vor als auch nach dem Tod StGs als ,angekreist‘ verstanden werden können. Dabei handelt es sich bis 1933 in erster Linie um eine deutsche Rezeptionsgeschichte, die dann aber durch die Exil-Biographien zahlreicher Wissenschaftler nach 1933 auch internationale Dimensionen erreicht. Literatur Kolk 1998. Böschenstein, Bernhard / Egyptien, Jürgen / Schefold, Bertram / Vitzthum, Wolfgang Graf (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005. 16 So das Urteil von Erich Schmidt in seinem Dissertationsgutachten über Gundolfs Cäsar-Arbeit, Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, zit. bei Kolk 1998, S. 384. 17 Friedrich Gundolf, Caesar. Geschichte seines Ruhms, Berlin 1924, S. 7. 18 Vgl. hierzu Wolf Lepenies, Stefan George, Georg Simmel, Max Weber, in: Ders., Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Reinbek b. Hamburg 1988, S. 335–355; Karlauf 2007, S. 396–426. 19 Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft, S. 561. Kurt Hildebrandt erläutert, dass Wilamowitz die Preisaufgabe in der Fakultät mit seiner Autorität unterbunden habe (KH, S. 48, Anm. 6). Troeltsch selbst lässt die Identität des Verhinderers im Ungewissen, wenn er lediglich anonymisiert erläutert, „ein anderer meinte […] sehr derb: ,Mit solchem Mist beschäftigen wir uns nicht‘“, Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft, S. 561. 20 Erich von Kahler, Der Beruf der Wissenschaft, Berlin 1920; Arthur Salz, Für die Wissenschaft gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern, München 1921; vgl. hierzu Richard Pohle, Max Weber und die Krise der Wissenschaft. Eine Debatte in Weimar, Göttingen 2009, S. 31–62.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Germanistik

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Rossi, Francesco, Gesamterkennen. Zur Wissenschaftskritik und Gestalttheorie im George-Kreis, Würzburg 2011. Schlieben, Barbara / Schneider, Olaf / Schulmeyer, Kerstin (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004. Troeltsch, Ernst, Die Revolution in der Wissenschaft. Eine Besprechung von Erich von Kahlers Schrift gegen Max Weber ,Der Beruf der Wissenschaft‘ (1920) und der Gegenschrift von Artur Salz ,Für die Wissenschaft gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern‘ (1921), in: Ders., Rezensionen und Kritiken (1915–1923), hrsg. v. Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Diana Feßl, Harald Haury u. Alexander Seelos, Berlin 2010 (Kritische Gesamtausgabe 13), S. 523–563. Zimmermann, Hans-Joachim (Hrsg.), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium, Heidelberg 1985. Barbara Beßlich

6.2.

Germanistik

StGs Beziehungen zur Germanistik blieben stets ambivalent. Obwohl er den Positivismus der akademischen Literaturgeschichtsschreibung verwarf, suchte er gezielt, eine strategische Brücke zur Germanistik zu schlagen, um die Kanonisierung seines Werks zu lenken. Seine universitären Kontakte beschränkten sich allerdings nicht nur darauf, einzelne Germanisten für sich zu gewinnen, sondern reichten bis hin zum Versuch, die Germanistik als Fach zu beeinflussen. Gemeint ist die Entwicklung einer neuen Methode der Literaturbetrachtung im George-Kreis, die StGs eigenes Dichtungsverständnis in wissenschaftliche Form gießen und die Disziplin nach seiner Poesiekonzeption neu fundieren sollte. Der erste Germanist, bei dem StGs Werk auf positive Resonanz stieß, war der Berliner Privatdozent und Scherer-Schüler Richard Moritz Meyer (1860–1914).1 Meyers Interesse an StG wurde durch Hofmannsthals Aufsatz Gedichte von Stefan George geweckt, der im März 1896 in der österreichischen Zeitschrift Die Zeit erschienen war. Über die Vermittlung seines ehemaligen Studenten Karl Wolfskehl nahm Meyer brieflichen Kontakt mit Hofmannsthal und StG auf. Am 17. Februar 1897 hielt er bei der Gesellschaft für deutsche Literatur in Berlin einen bahnbrechenden Vortrag über StG und Hofmannsthal unter dem Titel Ein neuer Dichterkreis, der StGs Werk erstmals einem größeren Publikum bekannt machte und somit dessen eigenem Wunsch entgegenkam, die strenge Esoterik der Anfangsjahre zu durchbrechen und sich auf dem literarischen Markt zu etablieren.2 Dies erklärt, weshalb Meyers Rede der Auslese der BfdK aus den Jahren 1892–1898 als Sonderdruck beigefügt wurde. Meyers Berliner Vortrag war für StG auch insofern von großer strategischer Bedeutung, als sein künftiger Verleger Georg Bondi unter den Zuhörern war. Da Meyer den Vortrag in seine Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts einfließen ließ,

1 Vgl. Richard M. Meyer – Germanist zwischen Goethe, Nietzsche und George, hrsg. v. Nils Fiebig u. Friederike Waldmann, Göttingen 2009; ¤Richard Moritz Meyer. 2 Meyers Vortrag erschien im April 1897 in den Preußischen Jahrbüchern sowie, in gekürzter Form, in der Deutschen Literaturzeitung und in der Vossischen Zeitung.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

verdankte StG ihm auch die erste Würdigung in der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung.3 Meyer brachte StG zwar große Sympathie entgegen, ohne dass aber die Begegnung mit dessen Werk ihn dazu geführt hätte, seine hermeneutischen Grundsätze zu revidieren. Die Entwicklung einer neuen Methode der Literaturbetrachtung aus dem Geist von StGs Werk vollzog sich erst im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, und zwar im George-Kreis selbst. Damit setzt die von der ersten Phase traditioneller Würdigung qualitativ abgehobene zweite Phase der Beziehung StGs zur Germanistik ein, die man als ,Assimilation der Disziplin‘ definieren könnte. Die im Kreis entwickelte Hermeneutik zielte nämlich nicht nur darauf ab, StGs Werk zu kanonisieren, sondern darüber hinaus aus seiner Dichtung neue Kriterien der Literaturbetrachtung abzuleiten und somit die Germanistik dem poetischen Selbstverständnis StGs anzuverwandeln. Zugleich reagierte die Literaturbetrachtung der George-Schule auf die grundsätzliche Krise des Historismus und der Philologie, wie sie etwa Nietzsche und Troeltsch konstatiert hatten.4 Als eine Spielart der geisteswissenschaftlichen Methode machte sie entschieden gegen den Positivismus der Scherer-Schule Front und erstrebte eine ebenso monumentale wie überzeitliche Heroisierung der Dichterfigur im Sinne von StGs Poetik.5 Der erste Germanist, der seine wissenschaftliche Produktion in den Dienst StGs stellte, ist Friedrich Gundolf (1880–1931).6 Sein Werk lässt sich grob in eine vitalistische und eine ästhetizistische Phase einteilen. Erstere findet 1911 in Gundolfs Habilitationsschrift Shakespeare und der deutsche Geist vor dem Auftreten Lessings ihren maßgeblichen Ausdruck. Die Monographie begreift Literaturgeschichte als Entfaltung von ,Lebenskräften‘ eines Zeitalters oder einer Nation – eine Konzeption, die im Zeichen Herders sowie des von Gundolf durch StG entdeckten Bergson und dessen e´lan vital steht. Gundolfs Theorie der ,Kräftegeschichte‘ wurde in akademischen Kreisen positiv rezipiert, da sie mit der traditionellen literarischen Historiographie methodologisch noch kompatibel war.7 3 Vgl. Richard M. Meyer, Die deutsche Litteratur des 19. Jahrhunderts, Berlin 1900, S. 914–917. 4 Vgl. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Leipzig 1874; Ernst Troeltsch, Die Krisis des Historismus, in: Die Neue Rundschau 33/1922, S. 572–590. 5 Dazu grundlegend: Kolk 1998, bes. Kap. 9.4, S. 384–406; ders., George-Kreis und zeitgenössische Germanistik 1910–1930. Eine Skizze, in: GJb 1/1996/1997, S. 107–123. Vgl. auch: Paul Böckmann, Tradition und Moderne im Widerstreit: Friedrich Gundolf und die Literaturwissenschaft, in: Hans-Joachim Zimmermann (Hrsg.), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium, Heidelberg 1985, S. 77–94. 6 Vgl. Victor A. Schmitz, Gundolf: Eine Einführung in sein Werk, Düsseldorf 1965; Ernst Osterkamp, Friedrich Gundolf (1880–1931), in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, hrsg. v. Christoph König, Berlin 2000, S. 162–175; Michael Thimann, Caesars Schatten. Die Bibliothek von Friedrich Gundolf. Rekonstruktion und Wissenschaftsgeschichte, Heidelberg 2003. 7 Vgl. Kolk 1998, S. 388. Vgl. etwa Helene Hermann (Rez. zu: F. Gundolf, Shakespeare, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 8/1913, S. 466–489), eine Schmidt- und Dilthey-Schülerin, welche die Synthese von Historie und Ästhetik lobt (S. 478–479), oder Ernst Stadler (Rez. zu F. Gundolf, Shakespeare, in: Das literarische Echo 14/1911/12, Sp. 88–90). Kritischer, aber im Grunde anerkennend, auch Oskar Walzel (Rez. zu F. Gundolf, Shakespeare, in: Shakespeare-Jahrbuch 48/1912, S. 259–274). Zur Rezeption der Shakespeare-Schrift vgl. auch Rudolf Sühnel, Gundolfs Shakespeare. Rezeption – Übertragung – Deutung, in: Euphorion 75/1981, S. 245–274. Aufgelistet ist die Sekundärliteratur zu Gundolfs Schriften bei Clemens

6. Wissenschaftliche Rezeption: Germanistik

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Mit seiner groß angelegten Monographie zu Goethe vollzieht Gundolf die Wendung von der ,Kräftegeschichte‘ vitalistischer Provenienz hin zu der von StG maßgeblich inspirierten Konzeption der ,Gestalt‘.8 Die Fundierung des Gestaltbegriffs in der symbolistischen Ästhetik des frühen StG wurde bisher nicht deutlich hervorgehoben, obwohl sie im Vorwort zu Gundolfs Goethe-Monographie unüberhörbar ist: Kunst ist weder die Nachahmung eines Lebens noch die Einfühlung in ein Leben, sondern sie ist eine primäre Form des Lebens, die daher ihre Gesetze weder von Religion, noch Moral, noch Wissenschaft, noch Staat, anderen primären oder sekundären Lebensformen, empfängt: keinen anderen Sinn hat der Satz l’art pour l’art.9

Als ,Gestalt‘ ist die Kunst keine bloße Abbildung von Lebenskräften, sondern selbst eine primäre Form von Leben. Die historische Dimension wird somit völlig zurückgedrängt.10 Der Dichter erscheint als Heros, d. h. nicht als Produkt einer Kräftegeschichte, sondern als überzeitliches Wesen, das über sein Zeitalter gebietet.11 Gundolfs Leitbegriff der Gestalt erwies sich für die zeitgenössische Germanistik als weitaus weniger anschlussfähig als die frühere lebensphilosophische Konzeption. Besonders anschaulich lässt sich dies an der Rezeption von Gundolfs Goethe-Monographie durch die zeitgenössische Germanistik darlegen, die im vierzehnten Ergänzungsheft des Euphorion 1921 dokumentiert ist. In der Sonderpublikation, die in neun Aufsätzen und drei Rezensionen gänzlich der Besprechung von Gundolfs Buch gewidmet ist, fehlt es nicht an überschwänglichen Würdigungen.12 Die philosophischen Voraussetzungen von Gundolfs Buch werden sorgfältig rekonstruiert, und auch der Wesensunterschied zwischen Gundolfs ,Gestalt‘ und Diltheys ,Erlebnis‘ wird scharfsichtig herausgearbeitet.13 Gundolfs Leitbegriff wird aber insgesamt einer schonungslosen Kritik unterworfen, die vor allem der Ahistorizität der Gestaltkonzeption gilt. Walter A. Berendsohn verwirft die von Gundolf postulierte Einheit von Leben und künstlerischem Ausdruck als Schlüssel für Goethes Werk und betrachtet sie als eine Konstruktion, die eher auf StGs Symbolismus als auf Goethe zutreffe.14 Die äsNeutjens, Friedrich Gundolf. Ein biobibliographischer Apparat, Bonn 1969. Erfasst ist die Rezeption der Kreis-Veröffentlichungen bei GPL, allerdings unvollständig. 8 Vgl. dazu Rißmann, Literaturgeschichte als Kräftegeschichte, S. 76–82. Zur ,Gestalt‘: Kolk 1998, S. 375–384; Rißmann, S. 76–82; Gerhard Zöfel, Die Wirkung des Dichters. Mythologie und Hermeneutik in der Literaturwissenschaft um Stefan George, Frankfurt/M. u. a. 1987, S. 114– 186. 9 Friedrich Gundolf, Goethe, Berlin 1916 (Nachdr. Darmstadt 1963), S. 2. 10 Dazu Rißmann, Literaturgeschichte als Kräftegeschichte: „Der Aspekt der Bewegung, der Entwicklung mußte soweit getilgt werden, daß er – obwohl vorhanden – an der statischen Gestalt nicht sichtbar wurde“, S. 79. 11 Vgl.: „es gibt keine Vergangenheit, nur verschiedene Wirkungsgrade der Ewigkeit“, Friedrich Gundolf, Dichter und Helden, Heidelberg 1921, S. 46–47. 12 So Siegfrid Aschner: Gundolf „ragt wie Lederers Bismarck kolossalisch, er ist umkleidet mit Jupitermajestät wie Klingers Beethoven. Er ist der literarische Bruder von Rodins Balzac, Goetheextrakt, der Geist-Phoenix, der sich aus der Asche des äußeren Lebens und des Werks verklärt zur Sonne hebt, eine hehre Vision unleugbar, während das ermordete Detail des Philologischen kläglich den Boden bedeckt“, Siegfrid Aschner, Gedanken und Eindrücke bei der Gundolflektüre, in: Gundolf-Heft, S. 75–83, hier: 79–80. 13 Vgl. dazu den bedeutenden Aufsatz von Leopold Magon, Die philosophischen Grundlagen von Gundolfs Buch, in: Gundolf-Heft, S. 45–75, bes. S. 51, 57. 14 Vgl. Walter A. Berendsohn: „Die geistreiche Behauptung Gundolfs von der Einheit des Erlebens

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

thetische Normativität, die Gundolf aus der Gestaltkategorie ableitet, erscheint Josef Nadler mit der geschichtlichen ,Neutralität‘ des Literaturhistorikers unvereinbar.15 Auch die metaphysische Wahrheitsfrage, die der Gestaltbegriff aufwirft, wird als unwissenschaftlich zurückgewiesen.16 An der kritischen Diskussion von Gundolfs Gestaltbegriff erwies sich vor allem, dass sich die Germanistik nicht über die Dignität ihrer Gegenstände, sondern lediglich über die Art ihrer Problemstellungen definieren konnte.17 Trotz Einwänden und Reserven genoss Gundolf in den 20er-Jahren auch in der germanistischen Fachwelt hohes Ansehen. Das Heidelberger Ordinariat, die Veröffentlichungen in prominenten Fachzeitschriften wie der Deutschen Vierteljahrsschrift, dem Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts oder der Zeitschrift für Deutschkunde und nicht zuletzt die didaktische Aufbereitung seiner Publikationen dokumentieren eine nicht geringe Resonanz in der zeitgenössischen Germanistik.18 In der Forschung noch nicht gründlich aufgearbeitet ist Gundolfs akademische Wirkung auf den germanistischen Nachwuchs.19 Zu den Doktoranden Gundolfs zählen Willi A. Koch (Das Fortleben Pindars in der deutschen Literatur von den Anfängen bis zu Gryphius, Stuttgart 1927), Erich Aron (Die Begründung des deutschen Hellenismus durch Winckelmann und Herder, ersch. u. d. T.: Die deutsche Erweckung des Griechentums durch Winckelmann und Herder, Heidelberg 1929), Käte Philip (Julianus Apostata in der deutschen Literatur, Berlin 1929) und Fritz Wölcken (Shakespeares Zeitgenossen in der deutschen Literatur, Berlin 1929). Horst Rüdigers Dissertation (Sappho. Ihr Ruf und Ruhm bei der Nachwelt, Leipzig 1933) wurde nach Gundolfs Tod von Max von Waldberg weiterbetreut.20 Ferner übte Gundolf einen bedeutenden Einfluss auf eine gesamte Generation junger Forscher aus. Gunund seines Ausdrucks in der Kunst […] ist unhaltbar. Sie tritt zugespitzt in der Form auf, dass Goethe Friederike begegnete, weil in ihm die Friederike-Lieder schwangen. Goethe aber unterscheidet sich von späteren Literaturmenschen eben dadurch, dass er zunächst in rückhaltloser Hingabe lebt und dann erst Dichtungen in sich reifen läßt.“ Walter A. Berendsohn, Friedrich Gundolf über Goethes Jugend, in: Gundolf-Heft, S. 83–94, hier: 90. 15 Dazu Josef Nadler: „[…] wo holt sich der Gesamtdarsteller die allgemein verpflichtende Entscheidung darüber, was noch eben ,bloße‘ Literatur und was gerade schon Dichtung ist; wer als ganz großer, durchschnittlicher und ganz kleiner Dichter anzusehen und sonach darzustellen ist? Der Geschichtsschreiber kann innerhalb einer Gesamtsynthese nur geschichtlich werten“, Josef Nadler, Einzeldarstellung und Gesamtdarstellung. Bei Gelegenheit von Gundolfs Goethe, in: Gundolf-Heft, S. 1–10, hier: 2. 16 Vgl. die Kritik Emil Ermatingers an Gundolfs „Weltanschauungsbildern“: „Über ihre Inhalte zu streiten, ihre Wahrheit zu bejahen oder zu verneinen, ist sinnlos“, Emil Ermatinger, Die deutsche Literaturwissenschaft in der geistigen Bewegung der Gegenwart, in: Zeitschrift für Deutschkunde 39/1925, S. 241–261, hier: 257; Kolk 1998, S. 400. 17 Dazu Kolk 1998, S. 401: „In der Auseinandersetzung mit Gundolfs Arbeiten setzt sich in den zwanziger Jahren die Einsicht durch, daß die institutionalisierte Wissenschaft, zu der auch die Vertreter der Geistesgeschichte wie Ermatinger oder Unger sich rechnen, ihr Konstitutionsprinzip unterminiert, wenn sie nicht mehr Problemstellungen, sondern die Dignität der Gegenstände zur Grundlage ihres Forschungsprozesses erhebt“. 18 Zur didaktischen ,Verwertung‘: Hans Dahmen, Die Darstellungen Friedrich Gundolfs im deutschen Unterricht, in: Zeitschrift für deutsche Bildung 6/1930, S. 386–400; Kolk 1998, S. 401–402. 19 Eine erste Bestandsaufnahme bietet Schmitz, Friedrich Gundolf. 20 Vgl. auch Horst Rüdigers Gedenkrede zu Gundolfs 100. Geburtstag, abgedruckt in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1980, 1. Lieferung, S. 80–87.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Germanistik

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dolfs wichtigster Schüler ist sein späterer Nachfolger Richard Alewyn.21 Jedoch auch andere Literaturwissenschaftler verdanken ihm Wesentliches, darunter Paul Böckmann, dessen formgeschichtliche Literaturbetrachtung von Gundolf wesentlich profitierte,22 Helmut Prang23 und Rudolf Fahrner.24 Einen wichtigen Schwerpunkt der Schüler Gundolfs bildete die Hölderlin-Forschung.25 Ihr widmeten sich – außer Norbert von Hellingrath – Paul Böckmann,26 Erich Aron,27 Paula Fischer,28 Ida Maria Ruppel29 und Werner Kirchner.30 Eine Vorbildfunktion hatte Gundolf auch für künftige Größen des Faches wie Benno von Wiese, der zwischen 1925 und 1927 bei Gundolf hörte, Julius Petersen, der ihm seine Schiller-Dissertation schickte,31 sowie Walther Rehm, dem Gundolf zu seinem Burckhardt-Buch gratulierte.32 Weiterhin 21 Alewyns Dissertation, Vorbarocker Klassizismus und griechische Tragödie (1926), ist in ihrer Aufwertung von Opitz gegenüber Luther und in ihrem rationalistischen Opitz-Bild Gundolfs Opitz-Monographie verpflichtet. Gundolf und Alewyn schieden sich offenbar an ihrer Gewichtung des Historischen in der Literaturbetrachtung, wie aus folgendem unveröffentlichten Brief Gundolfs v. 10.10.1929 an Alewyn anlässlich dessen Rezension der Dissertation Käte Philips (Deutsche Literaturzeitung 50/[1929], Sp. 1727–1731) hervorgeht: „Die Rüge am Schluß wegen der Omission der Epigonenlitteratur hab ich mit verdient. Eine genaue Studie gerade dieser hier ausgelassenen Bücher wäre mir selbst erwünscht, doch wollte ich sie nicht der vorliegenden Dissertation mit aufbürden lassen, da sie eine andre Betrachtungsart, – Perspektive und Maßstab – verlangt als die Historie der mindestens von uns aus (schon oder noch) ,geschlossenen‘ Jahrhunderte“, DLA Marbach. 22 Vgl. Schmitz, Friedrich Gundolf, S. 50. 23 Vgl. Prangs Dissertation Goethe und die Kunst der italienischen Renaissance (Berlin 1937) sowie dessen Formgeschichte der Dichtkunst (Stuttgart 1968). 24 Fahrners Marburger Dissertation Hölderlins Begegnung mit Goethe und Schiller (1925) wurde von Gundolf angeregt. Auch in seinen späteren Büchern zu Hölderlin, Gneisenau und Ernst Moritz Arndt blieb Fahrner Gundolf und Wolters verpflichtet. Dazu Schmitz, Friedrich Gundolf, S. 51. 25 Bereits Gundolfs Heidelberger Antrittsvorlesung war Hölderlin gewidmet (Friedrich Gundolf, Hölderlins Archipelagus, Heidelberg 1911, auch ins Französische und Englische übers.). 26 Hölderlin und seine Götter, München 1935. 27 Hölderlin. Der ewige und der deutsche Jüngling, München 1924. 28 Vgl. Stefan George. Dokumente seiner Wirkung, S. 43. 29 Vgl. Ruppels Dissertation Der antike Gehalt in Hölderlins Empedokles (Frankfurt 1925). Auszüge aus dem Briefwechsel Gundolfs mit seiner früh verstorbenen Schülerin in: Briefe Friedrich Gundolfs an Ida Maria Ruppel, ausgewählt v. Bernhard Böschenstein, eingeleitet v. Renate Böschenstein-Schäfer, in: Hölderlin-Jahrbuch 19/20/1975/77, S. 433–457. 30 Vgl. vor allem Kirchners Der Hochverratsprozeß gegen Sinclair. Ein Beitrag zum Leben Hölderlins, Marburg 1949 – eine Studie, die lange vor Bertaux die Aufmerksamkeit auf die politische Dimension von Hölderlins Schaffen lenkte. Vgl. Schmitz, Friedrich Gundolf, S. 52; Stefan George. Dokumente seiner Wirkung, S. 148. Zu den weiteren von Gundolf geprägten Schriftstellern, Verlegern und Journalisten zählen Friedrich Sieburg, Zenta Maurina, Carl Zuckmayer, Hans Schiebelhuth und Kurt Wolff (Schmitz, Friedrich Gundolf, S. 54). 31 Dazu vgl. folgenden unveröffentlichten Brief F. Gundolfs an C. Petersen v. 7.7.1903: „es ist mir bei der Lektüre zu meinem Staunen und Vergnügen eingefallen, daß eigentlich seit hundert Jahren klugen und dummen, biografischen und aesthetischen Geschreibes über den Dramatiker Schiller vor Ihnen noch niemand daran gedacht hat die realen Grundlagen und Bedingungen seiner Thätigkeit zu erforschen: Columbusei! Dabei kommt fürs ganze Goethische Zeitalter soviel Neues, Unerwartetes und bei seiner Selbstverständlichkeit Überraschendes heraus daß man wieder einige Hoffnung schöpft dem tausendmal durchackerten Boden noch neue Früchte zu entziehen. Das ist mir abgesehen von allen Resultaten, an ihrer arbeit noch besonders erwünscht“ (DLA Marbach). 32 Vgl. folgenden unveröffentlichten Brief v. 5.5.1930: „Sehr geehrter Herr: / Ich danke Ihnen sehr für die freundliche Zusendung Ihres Buches über Jakob Burckhardt. Bisher habe ich, durch ge-

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

stand er zwischen 1908 und 1913 mit dem späteren Hofmannsthal-Herausgeber Herbert Steiner in Briefwechsel.33 Zu Gundolfs Hörern zählte auch Joseph Goebbels, der allerdings nicht bei ihm promovierte. In den 20er-Jahren setzte ein auch von Rainer Kolk konstatierter Prozess der Trivialisierung von Gundolfs Methode ein:34 Exemplarisch dafür sind Herbert Cysarz (1896–1985) und Paul Hankamer (1891–1945). Der Prager Literaturhistoriker Cysarz preist den Verfasser des Goethe in geradezu hymnischen Tönen als Erneuerer des Faches,35 plädiert aber für eine vitalistisch-anthropologische Neufundierung des geisteswissenschaftlichen Ansatzes, um das von der Gestaltkategorie verengte literaturgeschichtliche Spektrum zu erweitern.36 Der Barockforscher Paul Hankamer lehrte Ende der 20er-Jahre Neuere Literatur in Köln neben Ernst Bertram und trat 1932 ein Ordinariat in Königsberg an. Hankamers Monographie über Jakob Böhme liefert ein weiteres Beispiel für die Entleerung von Gundolfs Gestaltbegriff.37 Mit dem Niedergang der geisteswissenschaftlichen Methode, der in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre einsetzte,38 und der damnatio memoriae, die Gundolf während des Nationalsozialismus widerfuhr,39 ebbte seine Wirkung ab. Trotz mancher Wiederbelebungsversuche, zu denen 1964 die Einrichtung eines Friedrich-Gundolf-Preises für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland durch die Deutsche Akademie

häufte Arbeit nach einer Reise sehr in Anspruch genommen, nur einige Abschnitte lesen können, den dritten, den fünften, den siebenten, und mich überall der genauen Kenntnis, des besonnenen Umblicks und der selbständigen Denkkraft gefreut, des Willens zur Gerechtigkeit über die leidenschaftlichen Bejahungen und Ablehnungen hinaus, und der Humanität mit dem geistigen Eifer […] also der persönlichen Anlagen die Sie zum Darsteller Burckhardts ermächtigen“ (DLA Marbach). 33 Vgl. Friedrich Gundolf, Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, eingel. u. hrsg. v. Lothar Helbing u. Claus Victor Bock, Amsterdam 1962. 34 Vgl. Kolk 1998, S. 398–403. 35 Vgl. Herbert Cysarz, Gundolf und die deutsche Geisteswissenschaft, in: Der Morgen 1/1925, S. 362–369. Vgl. auch sein Panegyrikum auf Gundolfs Kleist-Buch in: Ders., Gundolf und sein Kleist, in: Österreichische Rundschau 19/1923, S. 771–781. 36 Vgl. ders., Literaturwissenschaft als Geistesgeschichte. Kritik und System, Halle 1926, S. 44–46. 37 Vgl. Kolk 1998: „Der Gestalt-Begriff verliert seine Spezifik, wenn er tendenziell auch auf Gegenstände der zweiten Reihe übertragen wird; sie sind vielmehr durch die Abwesenheit ,gestalthafter‘ Merkmale charakterisiert“, S. 401. 38 Vgl. Marcel Janssens, Die Dämmerungsjahre der geistesgeschichtlichen Methode. 1925–1935. Ein Beitrag zu einer Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, in: Leuvense Bijdragen 52/1963, S. 113–155. 39 Intoniert wird sie schon in Ernst Bertrams Trauerrede, die unter dem Vorwand, den Verstorbenen zu ehren, ihn bereits als jüdischen Fremdling diffamiert: „Der leichte Hauch einer schön vergeistigten Fremdheit, wohl aus dem Bluterbe seines uralten Volkes der Schrift, erhöhte an ihm nur den Eindruck seines Besonderen, Einmaligen […]“, sowie: „Das Deutsche, ihm alte Heimat und Fremde zugleich […]“, Ernst Bertram, Möglichkeiten: ein Vermächtnis, Pfullingen 1958, S. 225, 238. Dazu Conrady, Völkisch-Nationale Germanistik, S. 46. Erst recht wurde Gundolfs „jüdische Persönlichkeit“ von Hans Rößner 1938 bloßgestellt, dessen von Karl Justus Obenauer betreute Dissertation Georgekreis und Literaturwissenschaft eine Quelle ersten Ranges für die Auseinandersetzung der NS-Germanistik mit der George-Schule darstellt: „Über dem Judentum Gundolfs wie des Kreises überhaupt hat lange Zeit ein geistiges, geschmackliches, gesellschaftliches Tabu gelegen. Die Macht dieses Tabu gilt es heute auch wissenschaftlich ebenso vorbehaltlos wie gründlich zu brechen […]“, Rößner, Georgekreis und Literaturwissenschaft, S. 157.

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für Sprache und Dichtung zählte, überwog in der Germanistik der Nachkriegszeit ein eher kritisches Gundolf-Bild.40 Ein weiterer prominenter Germanist des Kreises war Ernst Bertram (1884–1957), der auf den frühen Thomas Mann stark einwirkte.41 Der nationalistische Ansatz seiner Nietzsche-Monographie42 – die mit ihren acht Auflagen zwischen 1918 und 1965 auch einen beachtlichen editorialen Erfolg verzeichnete – verhalf Bertram 1922 in Köln zur Professur. So betonte die Kölner Fakultät in der Berufungsliste von 1921, dass Bertram in seinem Buch Nietzsches „geistes- und bildungsgeschichtliche Bedeutung und seinen spezifisch deutschen Charakter“ herausgearbeitet habe.43 Geringere Resonanz hatte Bertrams Nietzsche-Mythologie hingegen in der NS-Germanistik: Besonders seine Auflösung der Geschichte in ,Seelenkündung‘ war mit der nationalsozialistischen Geschichtsauffassung unvereinbar.44 In der Nachkriegszeit geriet Bertrams politische Verstrickung im ,Dritten Reich‘ in die Diskussion.45 Der Gundolf- und Wolters-Schüler Max Kommerell (1902–1944),46 der dritte Germanist des Kreises, erregte in der Fachwelt zunächst nicht das Aufsehen, für welches Gundolf gesorgt hatte. Kommerells Erstlingswerk Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (Berlin 1928) galt in der zeitgenössischen Germanistik als eine Neu-

40 Vgl. etwa die Gundolf-kritischen Stimmen Ernst Boehlichs, Hans Mayers, Theodor W. Adornos und Hans Egon Holthusens (Schmitz, Friedrich Gundolf, S. 54). Das Gedenkheft des Euphorion 1981 zu Gundolfs 100. Geburtstag klammert bezeichnenderweise die Frage nach der Anschlussfähigkeit von dessen Methode von vornherein aus. 41 Vgl. Inge Jens (Hrsg.), Thomas Mann an Ernst Bertram: Briefe aus den Jahren 1910–1955, Pfullingen 1960; Jens Rieckmann, Thomas Manns ,Betrachtungen eines Unpolitischen‘ und Ernst Bertrams ,Nietzsche‘, in: Modern Language Notes 90/1975, S. 424–430; Bernhard Böschenstein, Bertrams ,Nietzsche‘ – eine Quelle für Thomas Manns ,Doktor Faustus‘, in: Euphorion 72/1978, S. 68–83. 42 Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918. Vgl. vor allem die enthusiastische Rezension Hermann Hesses in: Vivos voco 1/1919, S. 78. Siehe auch Kurt Singer, Das Problem Nietzsche, in: Die Neue Rundschau 1/1919, S. 497–503. 43 Zit. nach Bernd Heimbüchel, Die neue Universität. Selbstverständnis – Idee und Verwirklichung, in: Ders./Klaus Pabst (Hrsg.), Kölner Universitätsgeschichte. Bd. 2: Das 19. und 20. Jahrhundert, Köln, Wien 1988, S. 495; Conrady, Völkisch-Nationale Germanistik, S. 30. 44 Dazu Rössner: „[…] bei aller Anerkennung der Bertramschen Leistung und seines Ethos muß doch heute entschieden ausgesprochen werden, daß seine ,Seelenkunde‘ als Geschichte ein äußerst gefährlicher Schritt auf dem Wege zu jenen modernen ,Psychographien‘, oft jüdischer Herkunft, war, die nicht nur ein fades Surrogat echter Geschichtsschreibung wurden, sondern deren geheimste Tendenzen schließlich in die Staatsfeindschaft intellektueller Quietisten und Pazifisten ausmündeten“, Georgekreis und Literaturwissenschaft, S. 174. Bei aller Kritik attestiert Rößner Bertram jedoch „deutsches Ethos“ und „innere nationale Haltung“, ebd., Anm. 108. 45 Unter den Kritikern: Conrady, Völkisch-Nationale Germanistik; Norbert Oellers, Dichter und Germanist im „Dritten Reich“. Ernst Bertram zum Beispiel, in: Neues Rheinland 39/1996, 8, S. 42–43. Apologetisch: Hajo Jappe, Ernst Bertram. Gelehrter, Lehrer und Dichter, Bonn 1969; Rainer Gruenter, Nachruf auf Ernst Bertram, in: Euphorion 52/1957, S. 489–491, kritischer Rainer Wuthenow, Der Fall Ernst Bertram. Philologie und Vorurteil, in: Neue deutsche Hefte 9/1962, 1, S. 89–96. Bertrams rassistische Einstellung ist bereits vor dem Ersten Weltkrieg bezeugt. Dazu Jappe, S. 149: „Instinktmäßig unkorrigierbar war seine […] Vorliebe für die Blonden und Blauäugigen, sein Vorbehalt gegen Frauen, gegen Juden, vor allem aber gegen alles ,Römische‘ und gegen Italiener“. 46 Zu Kommerell vgl. Walter Busch, Max Kommerell: Leben – Werk – Aktualität, Göttingen 2003; Storck, Max Kommerell.

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auflage der Heroen-Monographien a` la Gundolf,47 während in der NS-Zeit der von Kommerell vorgetragene Führungsanspruch des Dichters als „subjektivistisch“ und „individualistisch“ verworfen wurde.48 Walter Benjamin ist eine differenzierte Analyse der Strategie von Kommerells Erstlingsschrift zu verdanken: eine Liquidierung der Romantik, um den Weg für die ,klassische‘ Kanonisierung StGs im Zeichen des Philhellenismus des Kreises zu ebnen.49 Kommerells spätere auch methodologische Trennung vom George-Kreis, die mit seiner von Andreas Heusler betreuten Habilitation über die Stabkunst des deutschen Heldenliedes (1930) zusammenfiel, wurde von germanistischer Seite vielfach gewürdigt. So betonte der junge Fritz Martini in seiner Rezension des Jean-Paul-Buches (Frankfurt/M. 1933) dessen Abstand von der Führer-Monographie,50 und auch Walter Benjamin entging Kommerells methodologische Lösung vom Kreis nicht.51 Der Essaysammlung Geist und Buchstabe der Dichtung mit ihrer weltanschaulichen Enthaltsamkeit und ihrem philologischen „Zurückgehen auf das Einfachste“52 war ebenfalls eine positive akademische Aufnahme beschieden.53 47 Vgl. die kritische Besprechung Hermann Korffs, Rez. Max Kommerell, Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Zeitschrift für Deutschkunde 43/1929, S. 355. Noch kritischer Benno von Wiese, Rez. Max Kommerell, Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Deutsche Literaturzeitung 6/1929, S. 1337 (von Wiese kritisiert insbesondere Kommerells Pathos, das „weniger auf eine Übermittlung von Erkenntnissen, als von Bildern abzielt, nicht so sehr auf gedankliche und historische Artikulation, als auf Verehrung des Geschichtlichen, Anschauung des großen Menschen und Verherrlichung des Dichters als Symbol deutschen Wesens und deutschen Schicksals“). Der Gundolf-Schüler Böckmann sprach hingegen von einem „neuen weg“ im George-Kreis (Rez. Max Kommerell, Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Zeitschrift für Deutsches Altertum und deutsche Literatur 54/1929, S. 189–195, hier: 189). 48 Rößner, Georgekreis und Literaturwissenschaft, S. 188f. 49 „Jede dialektische Betrachtung der Georgeschen Dichtung wird die Romantik ins Zentrum stellen, jede heroisierende, orthodoxe kann nichts Klügeres tun, als sie so nichtig wie möglich zeigen“, Walter Benjamin, Wider ein Meisterwerk, in: Die Literarische Welt 6/1930, 33/34, S. 9–11, zit. nach ders., Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 3, Frankfurt/M. 1974, S. 252–259, hier: 254. 50 Vgl. Fritz Martini, Jean-Paul-Forschung und Jean-Paul-Literatur, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 14/1936, 2, S. 305–323, hier: 319. Kritischer, jedoch insgesamt anerkennend Benno von Wiese, Rez. Max Kommerell, Jean Paul, in: Dichtung und Volkstum 35/1934, S. 281–282. Enthusiastisch die Reaktion des Freundes Karl Reinhardt in seinem Brief vom 12.10.1933 an den Verfasser: „Sie sind mit Ihrem Buch bei weitem der erste Literarhistoriker des deutschen Sprachgebiets“, zit. nach Storck, Max Kommerell, S. 51. Ebenso Oskar Loerke, Einladung zu Jean Paul. Mit einem Dank an Max Kommerell, in: Neue Rundschau 45/1934, 5, S. 513–527, hier: 517f. 51 Vgl. Walter Benjamin, Der eingetunkte Zauberstab. Zu Max Kommerells ,Jean Paul‘, in: Frankfurter Zeitung v. 29.3.1934 unter dem Pseudonym K. A. Stempflinger, zit. nach ders., Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 3, Frankfurt/M. 1974, S. 409–427, hier: 410. 52 Max Kommerell, Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe – Schiller – Kleist – Hölderlin, Frankfurt/M. 1940, Vorbemerkung. 53 So bemerkt Hans Böhm in Bezug auf die „Vorbemerkung“: „Mit dieser in kaum verhüllter Ironie erhobenen Forderung betritt die Literaturwissenschaft nach langem Fremdgehen wieder eigenen Boden; schon um solcher methodischen Besinnung willen scheint die Sammlung berufen Epoche zu machen“, Rez. Max Kommerell, Geist und Buchstabe der Dichtung, in: Die Literatur 42/1939/40, S. 468–469, hier: 468. Ebenso anerkennend Wolfgang Müller, Vom Nutzen der Interpretation, in: Neue Rundschau 1942, S. 47–50. Auch Kommerells Vorliebe für die EssayForm findet die Gunst der Rezensenten. Vgl. Helmut Wocke, Rez. Max Kommerell, Geist und Buchstabe der Dichtung, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 66/1941, S. 110–111; eine „pro-

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Auch von Kommerell ging wiederum ein bedeutender Einfluss auf die zeitgenössische Germanistik aus: Zu seinen Schülern zählten Günter Schulz,54 Dorothea Hölscher-Lohmeyer55 und vor allem Arthur Henkel. Die Interpretationskunst seines Lehrers hat Henkel folgendermaßen charakterisiert: Ihre schwer beschreibliche Methode besteht darin, daß er Quellenkunde, Textkritik, biographische Arbeit, Gattungsgeschichte als Rohstoff behandelt und mit seiner Hilfe, ganz subjektiv die Figuren dieses Dichters auslegend, sich einfühlt in die produktive Phantasie eines west-östlichen Geistes, der sich unter Romanvorwand auf sehr moderne Weise den Urphänomenen des Daseins: Leib und Ich, Gott und Nichts, Tod und Liebe, Innerlichkeit und Phantasie und dem Fluch der Reflexion stellt. Diese Subjektivität, die sich einer verfeinerten Psychologie bedient, traut sich als Variation des hermeneutischen Satzes, daß man versuchen müsse, den Schriftsteller besser zu verstehen als er sich selbst verstand, zu, gleichwohl objektiv den Sinn der Texte zur Evidenz zu bringen.56

Am nachhaltigsten wirkte der George-Kreis auf die Germanistik durch die historischkritische Hölderlin-Ausgabe Norbert von Hellingraths (1888–1916) – ein Meilenstein der Hölderlin-Forschung. Hellingrath gelang die Entdeckung der Pindar-Übertragungen in der Stuttgarter Bibliothek, die er 1910 im Verlag der Blätter für die Kunst herausgab, sowie der Handschriften von Hölderlins noch unbekannten Spätdichtungen in Stuttgart und Homburg, darunter die Hymnen „Rousseau“, „Der Mutter Erde“, „Wie wenn am Feiertage“ sowie „Der Adler“ und „Mnemosyne“. Gegen die Pathologisierung des Spätwerks durch die pseudowissenschaftliche Studie Wilhelm Langes (Hölderlin. Eine Pathologie, Stuttgart 1909), die vom positivistischen Hölderlin-Forscher und -Editor Franz Zinkernagel angeregt wurde, betonte Hellingrath dessen herausragende poetische Qualität. Hellingrath verstand sich zwar weniger als George-Adept denn als Philologe.57 Gerade seine Wiederaufwertung von Hölderlins hermetischem Spätwerk wurde jedoch erst durch das von StG geförderte Interesse an Sprachstrukturen möglich. Hellingraths Bruch mit der damals vorherrduktive Zwischenstellung zu Dichtung und Wissenschaft“ attestiert Kommerell Joachim Günther, Von Faust zu Empedokles. Rez. Max Kommerell, Geist und Buchstabe der Dichtung, in: Das Reich Nr. 34 v. 24.8.1941. 54 Vgl. Günter Schulz, Max Kommerell als Dichter und Lehrer, in: Nationaltheater Mannheim, Bühnenblätter für die 177. Spielzeit 13/1955/56, S. 137–140. 55 Vgl. Dorothea Hölscher-Lohmeyer, Mit einem Streichholz angezündet. Gedenkblatt für Max Kommerell, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 46 v. 23.2.1962; dies., Lehrer in beschädigter Zeit. Max Kommerell in den dreißiger Jahren, in: Süddeutsche Zeitung (München) Nr. 47 v. 26./27.2.1977. 56 Arthur Henkel, Nachwort, in: Max Kommerell, Dame Dichterin und andere Essays, München 1967, S. 240–253, hier: 244. Zu Kommerells Sympathien für die NSDAP vgl. die Kontroverse zwischen Erich Kleinschmidt (Der vereinnahmte Goethe. Irrwege im Umgang mit einem Klassiker 1932–1949, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 28/1984, S. 461–482) und Dorothea Hölscher-Lohmeyer (Der vereinnahmte Kommerell. Zu dem Aufsatz von Erich Kleinschmidt ,Der vereinnahmte Goethe‘, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 29/1985, S. 536–538). 57 Hellingraths Beziehung zum George-Kreis war sehr reserviert und auch durch Distanz geprägt. Vgl. Jochen Schmidt, Der Nachlass Norbert von Hellingraths, in: Hölderlin-Jahrbuch 13/1963/64, S. 147–150, hier: 149. Wie Schmitz, Friedrich Gundolf, S. 52, betont, war Hellingrath zwar ein Schüler Gundolfs, kam aber zu seiner Hölderlin-Ausgabe auf selbstständigem Wege. Zum Bild Hellingraths in der neueren Hölderlin-Forschung vgl. etwa Friedrich von der Leyen, Norbert von Hellingrath und Hölderlins Wiederkehr, in: Hölderlin-Jahrbuch 11/1958/1960, S. 1–16; Kaulen, Der unbestechliche Philologe.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

schenden psychologisch-biographischen Hölderlin-Deutung58 hatte zur Folge, dass die akademische Rezeption seiner Hölderlin-Ausgabe zunächst durchgehend negativ ausfiel.59 Erst nach dem Krieg wurde auch in der Germanistik seine Leistung in ihrem ganzen Ausmaß anerkannt.60 Einfluss übte Hellingrath auch auf Martin Heidegger, der ihm 1936 seinen Vortrag Hölderlin und das Wesen der Dichtung widmete, und Walter Benjamin aus, dessen Übersetzungstheorie von Hellingrath wesentlich angeregt wurde.61 Hellingraths Neubewertung von Hölderlins Übersetzungen wurde später in den Studien Beißners,62 Reinhardts63 und Schadewaldts64 fortgesetzt. Vor allem aber bildete Hellingraths Ausgabe insofern die maßgebliche Grundlage für die gesamte spätere Hölderlin-Forschung, als sie erstmals die späten Dichtungen nicht länger als pathographisches Dokument behandelte, sondern als lyrischen Höhepunkt des Werkes erschloss. Zukunftsweisend war auch Hellingraths Versuch, den Entstehungsprozess von Hölderlins Dichtung zu dokumentieren – ein Grundsatz, dem später auch die textgenetische Editionspraxis der Stuttgarter und Frankfurter Ausgabe verpflichtet blieb.65 Literatur Kolk 1998. Conrady, Karl Otto, Völkisch-Nationale Germanistik in Köln. Eine unfestliche Erinnerung, Schernfeld 1990. Gundolf-Heft, Leipzig, Wien 1921 (Euphorion, 14. Ergänzungsheft). Kaulen, Heinrich, Der unbestechliche Philologe. Zum Gedächtnis Norbert von Hellingraths (1888–1916), in: Hölderlin-Jahrbuch 27/1990/1991, S. 182–209. Rißmann, Michael, Literaturgeschichte als Kräftegeschichte. Friedrich Gundolfs Beitrag zur Methodik geistesgeschichtlicher Literaturbetrachtung, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 42/1997, 1, S. 63–105. 58 Vgl. die Vorrede zur Hölderlin-Ausgabe: „Dass ich hier, wo ich das Werk zu geben habe, nicht die Lebensgeschichte, von der Krankheit schweige, mag mir als Feigheit auslegen, wer in dem Werk die persönlichen Schicksale des Dichters sucht statt der Dichtung die sie wurden“, Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 4, München, Leipzig 1916, S. XXI. 59 Virulent war die Kritik von Hellingraths Konkurrenten und ebenfalls Hölderlin-Editor Franz Zinkernagel. Vgl. dessen Rezension von Hellingraths Ausgabe in: Euphorion 21/1914, S. 356–363. Eine der wenigen Gegenstimmen war die Jonas Fränkels, der bereits 1917 Hellingraths Edition „als ein Höchstes editorischer Philologenarbeit“ rühmt. Vgl. ders., Dichtung und Wissenschaft, Heidelberg 1954, S. 75–83, hier: 83. Siehe auch: Kaulen, Der unbestechliche Philologe, S. 194, Anm. 27. 60 Vgl. Philipp Witkop, Neue Hölderlin-Literatur, Stuttgart, Berlin 1922. 61 Dazu: Heinrich Kaulen, Rettung und Destruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik Walter Benjamins, Tübingen 1987, S. 14, 81–84. 62 Friedrich Beißner, Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen, Göttingen 1933. 63 Karl Reinhardt, Hölderlin und Sophokles, in: Ders., Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung, hrsg. v. Carl Becker, Göttingen 1960, S. 381–397. 64 Wolfgang Schadewaldt, Hölderlins Übersetzung des Sophokles, in: Ders., Hellas und Hesperien, Bd. 2, Zürich, Stuttgart 1960, S. 275–332. 65 Vgl. Kaulen, Der unbestechliche Philologe, S. 201. Vgl. Hellingraths Vorrede zum ersten Band: Der Variantenapparat soll „den ganzen Nachlass buchstabentreu vor dem Leser ausbreiten und ihn in den Stand setzen, seine Auswahl daraus zu treffen“, S. XIII.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Klassische Philologie

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Rößner, Hans, Georgekreis und Literaturwissenschaft. Zur Würdigung und Kritik der geistigen Bewegung Stefan Georges, Frankfurt/M. 1938. Schmitz, Victor A., Friedrich Gundolf und seine Schüler, in: Ruperto Carola 33/1981, 65/66, S. 47–56. Stefan George. Dokumente seiner Wirkung. Aus dem Friedrich Gundolf Archiv der Universität London, hrsg. v. Lothar Helbing u. Claus Victor Bock mit Karlhans Kluncker, Amsterdam 1974 (CP 111/113). Storck, Joachim W. (Bearb.), Max Kommerell: 1902–1944, Marbach/N. 1985. Mario Zanucchi

6.3.

Klassische Philologie

Das Aufkommen einer Neuen Interpretationsmethode in der Klassischen Philologie, die in der Antike nach einer Epoche des historischen Relativismus „wieder Norm und Vorbild“ sehen möchte, hat Kurt von Fritz 1932 in kritischer Distanz nicht nur „mit der Entstehung jener Bewegung, die man den ,neuen Humanismus‘ zu nennen pflegt“, in Zusammenhang gebracht, sondern zugleich auch mit der „Verbreitung des scienzanuova-Ideals des George-Kreises“.1 Dieses Ideal hatte bereits Franz Josef Brecht 1929 in Analogie zur Wissenschaftstheorie Vicos als „neue geistige Gesamtauffassung“ in „Reaktion […] auf den entseelenden Wissenschaftsbetrieb […] des positivistischen Naturalismus“ interpretiert.2 Niemand repräsentiert diesen spektakulärer als Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931), der als Hauptvertreter einer Altertumswissenschaft historistischer und rationalistischer Prägung („Verständnis ist besser als Apotheose“3), nicht zuletzt als Antipode Nietzsches und philiströser George-Parodist,4 all jene Tendenzen verkörpert, die StGs ,revolutionärem Ethos‘ suspekt sind:5 1 Kurt von Fritz, Die Neue Interpretationsmethode in der Klassischen Philologie, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 8/1932, S. 339–354, hier: 340; vgl. zu dieser „neuen Grundhaltung den Dingen gegenüber“ (S. 343, 339) Solmsen, Classical Scholarship, S. 121: „The new attitude may be defined as a judicious combination of closeness to great thoughts and reverential distance from great minds“; eine übereinstimmende Lageanalyse in Snells Vortrag, Klassische Philologie. 2 Brecht, Platon und der George-Kreis, S. 6, 18; vgl. insgesamt die Kapitel „Die scienza nuova des Georgekreises“ (S. 6–21) und „Die neue Geschichtsbetrachtung“ (S. 22–30); vgl. die Rezension von Kurt von Fritz, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 7/1931, S. 356–363. 3 Kleine Schriften, Bd. 6, Berlin 1972, S. 151; vgl. ebd., S. 108: „Jenes Griechentum in seiner olympischen Vollkommenheit ist ebenso dahin wie in seiner Einheit. Die geschichtliche Wissenschaft hat es zerstört, indem sie die Griechen wirklich erst verstehen lehrte“. 4 Die Parodien abgedruckt bei Goldsmith, Wilamowitz and the ,Georgekreis‘, S. 587f.; ders., Wilamowitz as Parodist of Stefan George, in: Monatshefte (Univ. of Wisconsin Press) 77/1986, 1, S. 79–87, hier: 79–81. 5 Vgl. etwa ES, S. 251: „,Was bleibt von dem ganzen Wilamops?‘, sagte er [StG] einmal [6. Juli 1920]. ,Vielleicht der Schmutz, den er auf Nietzsches Rockschössen abgeladen hat.‘“ – Das revolutionäre Ethos bei Stefan George, so der Titel des Vortrags von Woldemar von Uxkull, Tübingen 1933, besteht „im unbarmherzig harten Willen zum Sturz“ aller Werte des 19. Jahrhunderts; zit. nach Schuller, Altertumswissenschaftler, S. 215.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

[Wilamowitz] hielt […] als sein Ideal das der ,historisch-kritischen‘ Wissenschaft fest, das doch, relativistisch, das Ideal der Klassik, der pädagogischen Norm zersetzt. Nicht der schöpferische Mensch, sondern der kritische Gelehrte stand für ihn auf der Spitze der Pyramide, und im Bewußtsein auf dieser Spitze zu stehen, kritisierte er Kunst, Dichtung, Kultur – ohne tieferes Verständnis für Dichtung, Kunst, Philosophie, allein mit der Autorität des historisch-kritischen Forschers. (KHW, 341)

Ganz konsequent beginnt die „Revolution der Wissenschaft“6 im ersten Band des Jahrbuchs für die geistige Bewegung von 1910 mit einem geistigen Attentat auf Wilamowitz, ausgeführt vom Nervenarzt und Rassenhygieniker Kurt Hildebrandt (1881–1966).7 Im März 1910 übersandte Hildebrandt Wilamowitz ein Jahrbuch-Exemplar. Im Begleitbrief kündigte er Rache für Nietzsche an und demonstrierte unbarmherzige Härte in zynischem Ton: „So sehr ich Ihre geistige Potenz bewundere, so verhasst sind mir Ihre geistigen Ziele“.8 Motiviert wird der Hass im Jahrbuch selbst (a) mit der ,proletarisch‘-formlosen Banalität von Wilamowitz’ Tragikerübersetzung,9 (b) seiner kleinbürgerlichen Verzeichnung des ,Ethos der Tragödie‘,10 (c) einem inadäquaten Verständnis Platons11 und (d) mit der Philologie überhaupt als der Bewahrerin „köstlichen erbguts“.12 Vom Erfolg von Hildebrandts Jahrbuch-Aufsatz war Friedrich Gundolf überzeugt: Ihr ,Hellas und Wilamowitz‘ fährt fort, die wissenschaftlichen Gemüter zu erregen! […] Im Allgemeinen ist den Leuten nicht wohl dabei, daß sie diesen Angriff so ernst nehmen müssen, und viele, die es W. persönlich gönnen, ärgern sich, daß ein homo novus einen Bonzen so attaquieren kann und darf. Contra professorem nemo nisi professor ipse! Aber die Wirkung auf die Jugend ist stark und unvermeidlich, da das wahre ausgesprochene Wort durch sein bloßes Dasein magisch wirkt.13

6 Uxkull, Revolutionäres Ethos, S. 10; bei Schuller, Altertumswissenschaftler, S. 222. 7 Kurt Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (Zum Ethos der Tragödie), in: Jb 1/1910, S. 64–117; vgl. II, 3.2. – Zur Affäre: Goldsmith, Wilamowitz and the ,Georgekreis‘; Groppe 1997, S. 640–650; Kolk 1998, S. 362–373. – Die Innenperspektive: KH, passim, so bes. (1) zur Entstehungsgeschichte: S. 36 Gasthörer bei Wilamowitz; S. 38 Hellas und Wilamowitz; S. 47ff. Konzeption des Jahrbuchs; (2) zum Methodenstreit: S. 36. 8 K. Hildebrandt an Ulrich von Wilamowitz v. 3.10.1910, zit. nach Goldsmith, Wilamowitz and the ,Georgekreis‘, S. 588. 9 Vgl. Jb 1/1910, S. 70: „Aber frevelhaft gegen hellas ist es, diese werke [der attischen Tragiker] der bürgerlichen bequemlichkeit und proletarischem geschmack anzupassen“. 10 Vgl. ebd., S. 89: „der [tragische] held muss aus einem härteren metalle sein“; ebd., S. 92: „Lieber will er noch für böse als für schwach oder unglücklich gelten“. 11 Vgl. ebd., S. 111: „Kaum bedarf es noch der belege dass Wilamowitz zum verständnisse Platos die grundlagen mangeln“. 12 Ebd., S. 64; vgl. außerdem ebd., S. 114: „Diese fragen des stiles und der lebensführung sollten heute im mittelpunkte der philologie stehen“; ebd., S. 109: „Aber er [der echte Humanist und Philologe: ein Porträt von H.’s früherem Lehrer in Magdeburg] verteilte mit zarten fingern das erbgut, sein auge leuchtete wenn er von Antigone sprach und Platons name klang in seinem munde wie der name eines geliebten heiligen“. 13 F. Gundolf an K. Hildebrandt v. 21.4.1910, zit. nach KH, S. 57, Anm. 14. Gundolf will dementsprechend den Bonzen „die Jahrbuchlehre eintrichtern“ (KH, 73).

6. Wissenschaftliche Rezeption: Klassische Philologie

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Führt nach dem initialen Putsch auf die Gelehrtenrepublik von StG kein (legaler) Weg zur Wissenschaft,14 so versucht er im nächsten Jahrzehnt durch philologisch-historische Ausbildung seiner ,Jünger‘ das philologische System systematisch zu unterwandern.15 Deren altertumskundliche Produktion verklärt StGs homoerotisch konnotierte Graecophilie und besingt die heilige Heirat zwischen Griechen- und Deutschtum:16 wenig Literarisches demgemäß (Vollmoeller,17 Mayer-Oehler,18 Blumenthal19), eher schon Historie (Woldemar von Uxkull, Alexander von Stauffenberg), mehr noch Archäologie,20 und ein deutlicher Schwerpunkt auf Platon, nicht dem Dialektiker („Die zeit des logischen turnens ist vorbei“21), sondern dem Erotiker, Züchter und Führer. Friedemanns Platon. Seine Gestalt (1914) eröffnet in diesem Sinne eine ganze Serie von platonisierendem Schrifttum,22 das, neben Edgar Salin,23 vor allem Hildebrandt durch hochwertige Übersetzungen sowie die beiden ,Normbücher‘ (Norm und Verfall des Staates sowie Norm und Entartung des Menschen, beide Dresden 1920) dominiert. Die Summe zieht 1933 Hildebrandts Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht. Keines dieser Bücher hat die klassisch-philologische Forschung auch nur in geringem Maße beeinflusst. Vielmehr sind es, nach Ende des Ersten Weltkriegs, gerade die Meisterschüler von Wilamowitz, die auf der Suche nach neuen Wegen und Meistern StG begegnen,24 um die Methodik der ,scienza nuova‘ auf höchstem Niveau und ohne esoterische Verbindlichkeiten für ihre Disziplin fruchtbar zu machen: Paul Friedländer25 wäre an erster Stelle zu nennen, dann, als größter Stilist unter den Philologen des 20. Jahrhunderts, 14 Vgl. KH, S. 125, und die rührige Exegese dieses Georgeschen Ich-Wortes bei ES, S. 249–254. 15 Vgl. KH, S. 73. – Unterwanderung: vgl. z. B. KH, S. 73; Groppe 1997, S. 633; vgl. Benda, Bildung des Dritten Reiches, S. 21, Anm. 7. 16 Vgl. das „Hellenische Wunder“ (BfdK 9/1910, S. 2; zuvor schon 4/1897, S. 25) und zum Antikenbild insgesamt Gert Mattenklott, Die Antike bei George, und Georgios Varthalitis, Die Antike und die Jahrhundertwende. Stefan Georges Rezeption der Antike, Diss., Heidelberg 2000. 17 Zu Vollmoellers Zusammenarbeit mit Max Reinhardt vgl. Karl Reinhardt, Wie ich klassischer Philologe wurde, S. 384. 18 Vgl. August Oehler, Der Kranz des Meleagros von Gadara. Auswahl und Übersetzung, Berlin 1920. Das Vorwort analysiert „die innere Form dieser kleinen Gedichte“ (1) und die „Ausdrucksmittel dieser Dichtung“ (2). 19 Vgl. insbesondere die von Gundolfs Gestalt-Begriff bestimmten Griechischen Vorbilder (Freiburg/Br. 1921) Blumenthals. 20 Vgl. Karl Schefold, Wirkungen Stefan Georges. Auf drei neuen Wegen der klassischen Archäologie, in: CP 35/1986, 173/174, S. 72–96; ders., Neue Wege der Klassischen Archäologie nach dem ersten Weltkrieg, in: Flashar (Hrsg.), Altertumswissenschaft, S. 183–204; Borbein, Zur Wirkung Stefan Georges in der Klassischen Archäologie. 21 Friedrich Wolters, Richtlinien, in: Jb 1/1910, S. 128–145, hier: 145. 22 Vollständige Liste: Mattenklott, Die Antike bei George, S. 244, Anm. 12. Vgl. insgesamt Brecht, Platon und der George-Kreis; Ernst Eugen Starke, Das Plato-Bild des George-Kreises, Diss., Köln 1959. 23 Vgl. auch Civitas Dei, Tübingen 1926 (Rez. von H. Fuchs, Gnomon 3/1927, S. 43–47). 24 So etwa der Althistoriker Fritz Taeger: „Dafür suchten wir den Anschluß an gleich gerichtete geistige Strömungen, die ihren markantesten Vertreter in der Dichtung in George besaßen, ohne daß einer von uns sich nun dem Geist des Georgekreises ausgeliefert hätte“; zit. nach Ines Stahlmann, „Nebelschwaden eines geschichtswidrigen Mystizismus“? Deutungen der Römischen Geschichte in den zwanziger Jahren, in: Flashar (Hrsg.), Altertumswissenschaft, S. 303–328, hier: 305. 25 Zu Friedländer: Vogt, Wilamowitz, S. 623ff.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Karl Reinhardt, zuletzt Werner Jaeger. Am 4. Juli 1921 schreibt Friedländer an Wilamowitz: Viel von dem besten, was ich habe, habe ich durch Sie. Aber was ich jetzt geworden bin – und das ist nun die Kehrseite – bin ich seit vielen Jahren im Kampfe gegen Sie oder vielleicht besser gegen den Wilamowitz in mir geworden. […] Und in den letzten Jahren ist es George der die größte Erschütterung und die stärkste Umlagerung aller Kräfte gebracht hat. Damit haben Sie kurz angedeutet meinen Weg und Sie werden verstehen was ich vorhin den Kampf gegen den Wilamowitz in mir nannte. […] Vor allem aber weiß ich, daß die Philologie über die Mikroskopie des Einzelnen und dem Aufsuchen von Beziehungen (Beides sind gewiß wichtige Dinge) arg versäumt hat nach dem Ganzen eines ,Werkes‘ einer ,Gestalt‘ zu fragen. […]. Dann aber hat der Krieg mich doch sehr verwandelt und ich konnte nicht wie andere 1919 dort einsetzen wo ich 1914 aufgehört hatte. Ich stelle jetzt viel höhere Anforderungen an die Notwendigkeit die die Dinge für mich haben müssen.26

Der Brief legt die „neue Haltung den Dingen gegenüber“ rückhaltlos offen: in der Tat das „Credo einer neuen Generation“, nicht nur „Friedländerei“.27 Die Plato-Monographie von 1928 markiert dann allein durch die Gesamtanlage (Eidos – Paideia – Dialogos) die schärfste Antithese zum „Marlittbuch des alten Wilamowitz“.28 Karl Reinhardts29 Poseidonios von 1921 lässt schon im Vorwort keinen Zweifel daran, dass sich in dem Buch (das auf Fußnoten vollständig verzichtet) ein epochaler Methodenwechsel vollzieht – vitalistisch gedachte „innere Form“ statt „Quellenkritik“ und „Biographismus“: Die alten Philosophen reden zu uns nicht mehr in der mitteilsamen Art, wie sie zu Zeller geredet haben. Wo sie noch so reden, haben sie aufgehört oder noch nicht angefangen, uns etwas zu sagen. […] Ihr Wort wird redend zu uns erst aus einer tieferen Mitte […]; das für wahr Gehaltene wird nun abhängig von einer inneren Form […]. Diese Form ist etwas anderes als die Persönlichkeit, der Mensch als Gegenüber seines Werks […]: die innere Form ist für uns das, was im Erstarrten und für wahr Gehaltenen selber für uns nicht erstarrt, so wenig wie die Lebenskraft in dem Fossil […]. Was wir innere Form nennen, steht nicht in unserem Belieben; für uns liegt darin ein unpersönliches und allgemeines Muß. Ein solches Muß, wo es bewußt wird, führt zur Wissenschaft. So wird die innere Form bedürftig und befähigt, wissenschaftliches Objekt zu werden. In ihrer Erfassung dürfen wir wieder hoffen, was man so nennt, Wissenschaft und Leben zu versöhnen. Unser Verfahren bedeutet einen Anfang. Wir wollen nicht leugnen, daß es noch recht unsicher,

26 Der Brief ediert von Calder III unter dem Stichwort The Credo of a new generation, hier: 94ff. Zwei Porträts (so die Kolportage Calders, S. 102) hingen zuletzt in Friedländers Arbeitszimmer im amerikanischen Exil: 1. Wilamowitz, 2. George. 27 So Ulrich von Wilamowitz an Eduard Schwartz, in: Classen, Klassische Philologie, S. 283, Anm. 29. 28 Als solches und als „biographische[n] Roman für alte Jungfern“ bzw. „Plato für Dienstmädchen“ bezeichnet Friedrich Gundolf Wilamowitz’ Platon (2 Bde., Berlin 1919), F. Gundolf an K. Hildebrandt v. 22.7.1919, in: KH, S. 55, Anm. 11; vgl. dazu Snell, Klassische Philologie, S. 114: „Ein moderner Platonismus würde die Biographie von Wilamowitz im wesentlichen unberücksichtigt lassen können“. 29 Zu Reinhardt: Vogt, Wilamowitz, S. 625–631; Hölscher, Karl Reinhardt; speziell: Uvo Hölscher, Karl Reinhardt und Stefan George, in: Hans-Joachim Zimmermann (Hrsg.), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium, Heidelberg 1985, S. 97–104; vgl. besonders die feine Charakterisierung bei KH, S. 96 (Wilamowitzschüler und Georgeleser).

6. Wissenschaftliche Rezeption: Klassische Philologie

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zum Teil im Überwundenen allzusehr befangen bleibt […]. Aber uns scheint, auf diesem Wege müsse es weiterführen.30

Bereits Pohlenz sieht hier jene „Strömung“ am Werke, die „letztlich von Stefan George und seinem Kreis“ ausgeht;31 wenige Jahre später (1926) bezeichnet dann die Vortragsreihe über Platons Mythen, 1926 vor Hamburger George-Anhängern gehalten,32 den (im Nachhinein peinlichen) Höhepunkt von Reinhardts GeorgeVerehrung.33 Eine persönliche Begegnung mit StG hat er, obwohl mit Hildebrandt verschwägert, vermieden. Waren im Werk Friedländers und Reinhardts die besten Ideale der ,scienza nuova‘ mit ,ordentlich gemachter‘ Philologie verbunden, geht es Werner Jaeger,34 nach dem Gipfelpunkt der Aristoteles-Monographie (Berlin 1923),35 um die propagandistische Ausbeutung ihrer staatspädagogischen Implikationen:36 Statt der ,inneren Form‘ von Poemen und Philosophien widmet sich seine ,Philologie‘ der ,Formung des (griechischen) Menschen‘, so der Untertitel seines Hauptwerkes Paideia (3 Bde., Berlin 1934–1947), der Programmschrift des Neuen (Dritten) Humanismus.37 Sämtliche Merkmale des Buches (ästhetisierender Stil ohne Anmerkungen; inflationärer Gebrauch von Wörtern wie ,Gestalt‘, ,Schau‘, ,Wesen‘, ,Geist‘, ,Staat‘, ,Form‘, ,Zucht‘ usw.) sind schon seit 1925 das Markenzeichen der Zeitschrift Die Antike,38 welche die Ära Wilamowitz noch zu dessen Lebzeiten pompös zu Grabe trägt, um StG ostentativ zu verleugnen: Die neue Zeitschrift setzt sich daher das Ziel, den Punkt zu suchen, wo sich die so gewaltig erweiterte Erkenntnis des Altertums […] unserer geistigen Bildung von neuem organisch einfügen kann. Daß dies jedenfalls nicht durch wahllose mechanische Popularisierung […] und Trivialisierung des Gegenstandes möglich ist, scheint uns die nachdenkenswerte Lehre einer Periode eifriger wissenschaftlicher Aufklärung zu sein, die wir jetzt hinter uns haben. 30 Karl Reinhardt, Poseidonios, München 1921 (Vorwort). 31 Max Pohlenz, Rez. Karl Reinhardt, ,Poseidonios‘ (1921), in: Ders., Kleine Schriften, hrsg. v. Heinrich Dörrie, Hildesheim 1965, S. 172–176, hier: 172. 32 Zu den Hamburger ,Georginen‘ vgl. Hubert Cancik, Die Götter Griechenlands 1929, in: AntikModern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, hrsg. v. Richard Faber, Stuttgart 1998, S. 139–163, hier: 151. 33 Karl Reinhardt, Platons Mythen, in: Ders., Vermächtnis, S. 219–269, zur „Zeitbedingtheit dieses Versuchs“ ebd., S. 219, Anm. 1; vgl. KH, S. 187 (Ausflug 1926 mit Singer u. a.). – Zur George-Verehrung: „jene gebrochenen Ausstrahlungen [der Dichtungen StGs] […], die man Georgiasmus nennt“, Paul Friedländer an Ulrich von Wilamowitz v. 23.12.1921, zit. nach Groppe 1997, S. 645. 34 Zu Jaeger: Vogt, Wilamowitz, S. 620–623; William Musgrave Calder III, Werner Jaeger, in: Michael Erbe (Hrsg.), Berlinische Lebensbilder. Bd. 4: Geisteswissenschaftler, Berlin 1989, S. 343–361; ders., Werner Jaeger, 30 July 1888 – 19 October 1961, in: Men in Their Books. Studies in the Modern History of Classical Scholarship, hrsg. v. John P. Harris u. R. Scott Smith, Hildesheim 1998, S. 129–143. 35 Das Buch (so das Vorwort) versteht sich zugleich als „Gesamtbild und Untersuchung“ und entwirft eine „Gesamtsicht“ auf die „geistige Gestalt des Aristoteles und die treibenden Kräfte seines Denkens“; vgl. dazu Solmsen, Classical Scholarship, S. 121; Snell, Klassische Philologie, S. 113f. 36 Schon die Antrittsvorlesung in Basel 1914 über „Philologie und Historie“ beschwor jedoch den Geist Nietzsches, als erster Beitrag in: Hans Oppermann (Hrsg.), Humanismus, Darmstadt 1970. 37 Vgl. Lothar Helbing (d. i. Wolfgang Frommel), Der dritte Humanismus, Berlin 1932. 38 Vgl. jedoch die gleichzeitige Gründung des unerbittlichen Rezensionsorgans Gnomon, das von Anfang an im reinen, um Objektivität ringenden Protokollstil gehalten war.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

[…] Solange uns [freilich] der bestimmende Repräsentant, der Dichter und geistige Führer fehlt [!], bleibt uns die letzte Sicherheit der Erkenntnis des ,Klassischen‘ auch im Vergangenen, Ererbten unerreichbar.39

Gleich der erste Beitrag, Paul Friedländers Die griechische Tragödie und das Tragische („So rettet Tragödie das Leben, daß es nicht gemein werde“40) setzt Kurt Hildebrandt mit seinem Jahrbuch-Beitrag von 1910 ins Recht. Was folgt, auch in den folgenden Nummern, ist wenig Literaturwissenschaft, eher Geschichte, mehr noch Archäologie, viel Platon, unendlich viel ,Geist‘ und (so ein sachkundiger Leser) „Geschwätz“.41 Eine viel beachtete Tagung in Naumburg zum Thema Das Problem des Klassischen und die Antike (Leipzig 1931) versucht eine erste Bilanz, indem sie deren Aktualität unter dem Aspekt von Stilbildung und Wertestiftung beleuchtet.42 „Also wir siegen“, so triumphiert Friedrich Wolters bereits 1927 angesichts der Tatsache, dass Jaeger „Friedemann und Hildebrandt ausschreibt, ohne sie zu nennen.“43 Man kann demgemäß den Neuen Humanismus insgesamt als voluminöses Plagiat der elitären Politik des Kreises beschreiben,44 als Kapitulation des philologischen Systems vor dem kerygmatischen Anti-Philologiebegriff der Georgianer.45 Die von Wolters anvisierte ,Umstempelung‘ sämtlicher ,philologischen Absichten‘ war damit, innerhalb der Zunft selber, vollzogen.46 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ist 39 Die Antike 1/1925, Einleitung des Herausgebers. 40 Die Antike 1/1925, S. 6. 41 Vgl. Ulrich von Wilamowitz an Wolfgang Schadewaldt v. Dez. 1930 / Jan. 1931: „Immer wenn ich ,Die Antike‘ lese, geht mir ein Mühlrad im Kopfe herum, aber Mehl mahlt das Rad nicht […]“, zit. nach: Calder III, The Credo, S. 455. Auch für Rudolf Herzog ist Die Antike „die Zeitschrift für Schwätzer“, vgl. Solmsen, Classical Scholarship, S. 131. 42 Vgl. Manfred Landfester, Die Naumburger Tagung „Das Problem des Klassischen und die Antike“ (1930). Der Klassikbegriff Werner Jaegers: seine Voraussetzung und seine Wirkung, in: Flashar (Hrsg.), Altertumswissenschaft, S. 11–40. 43 F. Wolters an StG v. 19.2.1927 (bei Groppe 1997, S. 649): „Nun möchten sie die gestohlenen Gedanken für sich allein fruchtbar machen, da nur Philologen über Platon reden und urteilen können“; vgl. Kurt Hildebrandts Sammelrez., Das neue Platonbild. Bemerkungen zur neueren Literatur, in: Blätter für Deutsche Philosophie 4/1930/31, 2, S. 190–202 (insgesamt eine Polemik gegen Jaeger, vgl. KH, S. 190) und sein Nachwort in der Neuauflage von Heinrich Friedemanns Platon (Berlin 1931 – Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst). 44 Vgl. seine rückstandslose Reduktion auf den George-Kreis bei Brecht, Platon und der George-Kreis; Benda, Die Bildung des Dritten Reiches. Die These bei Brecht, S. X: „den ausstrahlenden Kern der Wirklichkeit des neuen deutschen Humanismus schuf vielmehr der Dichter Stefan George, wie auch in früheren Gezeiten die großen Wandlungen im lebendigen Verhältnis zur Antike durch vorwiegend ,erotische‘, nicht durch vorwiegend ,logische‘, bestimmt waren“. – Die These bei Benda, S. 19f.: „[…] so muss man auch hier zu den ursprünglichen Quellen greifen, in denen die Tendenzen des ,dritten‘ Humanismus noch ungebrochen ans Licht treten. Das sind die Schriften des George-Kreises, der seit den Neunzigerjahren die Anregungen Nietzsches um- und zum geschlossenen System des ,dritten‘ Humanismus oder, wie es in der Sprache des Kreises lautet, zum ,neuen Reich des Geistes‘ fortgebildet hat“. 45 Vgl. Bruno Snells Rez. von Werner Jaeger, Paideia (in: Gnomon 1935, wieder in: Ders., Gesammelte Schriften, Göttingen 1966, S. 32–54). Die Summe: „Aber uns Philologen ist auch nicht die Aufgabe gesetzt, einen neuen Humanismus zu schaffen, denn wir können nicht mehr tun, als das Griechentum wahrhaft und rein zu erforschen und darzustellen“ (S. 54). 46 „An Hildebrandt hat herr Jaeger bei seinem habilitationsbesuch persönlich die bitte zur mitarbeit gerichtet – an andre freunde wird die aufforderung wohl noch ergehen: wie soll man sich dazu verhalten? Ich bin für völlige enthaltsamkeit aber andre freunde meinten man solle die zeitschrift durch die besten beiträge von unserer seite einfach umstempeln und die absicht der philologen

6. Wissenschaftliche Rezeption: Klassische Philologie

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sie, mit Snell zu sprechen, wieder ,nüchtern‘ geworden, um fortan auf weltanschauliche und philosophische Sinngebungen ihres Tuns weitestgehend zu verzichten.47 Literatur Groppe 1997. Benda, Oskar, Die Bildung des Dritten Reiches. Randbemerkungen zum Gesellschaftsgeschichtlichen Sinneswandel des deutschen Humanismus, Wien, Leipzig 1945 (1. Aufl. 1931). Böschenstein, Bernhard / Egyptien, Jürgen / Schefold, Bertram / Vitzthum, Wolfgang Graf (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005. Borbein, Adolf Heinrich, Zur Wirkung Stefan Georges in der Klassischen Archäologie, in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 239–258. Brecht, Franz-Josef, Platon und der George-Kreis, Leipzig 1929. Calder III, William Musgrave, The Credo of a New Generation: Paul Friedländer to Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, in: Antike und Abendland 25/1979, S. 90–102. Classen, Carl Joachim, Die Klassische Philologie in Deutschland 1918–1988, in: Ders., Zur Literatur und Gesellschaft der Römer, Stuttgart 1998, S. 273–299. Flashar, Hellmut (Hrsg.), Altertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und Impulse, Stuttgart 1995. Goldsmith, Ulrich K., Wilamowitz and the ,Georgekreis‘. New Documents, in: William M. Calder III u. a. (Hrsg.), Wilamowitz nach 50 Jahren, Darmstadt 1985, S. 583–612. Hölscher, Uvo, Karl Reinhardt (gestorben am 9. Januar 1958), in: Ders., Das nächste Fremde. Von Texten der griechischen Frühzeit und ihrem Reflex in der Moderne, hrsg. v. Joachim Latacz, München 1994, S. 239–247. Ders., Strömungen der deutschen Gräzistik in den Zwanziger Jahren, in: Flashar (Hrsg.), Altertumswissenschaft, S. 65–85. Latacz, Joachim, Reflexionen Klassischer Philologen auf die Altertumswissenschaft der Jahre 1900–1930, in: Flashar (Hrsg.), Altertumswissenschaft, S. 41–64. Mattenklott, Gert, „Die Griechen sind gut zum schnuppern, schmecken und beschwatzen“. Die Antike bei George und in seinem Kreis, in: Bernd Seidensticker/Martin Vöhler (Hrsg.), Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001, S. 234–248. Reinhardt, Karl, Vermächtnis der Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung, hrsg. v. Carl Becker, Göttingen 1960 (darin: Wie ich klassischer Philologe wurde, S. 380–388). Schuller, Wolfgang, Altertumswissenschaftler im George-Kreis: Albrecht von Blumenthal, Alexander von Stauffenberg, Woldemar von Uxkull, in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 209–224. Schwindt, Jürgen Paul, (Italo)Manie und Methode. Stefan Georges und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs Streit um das ,richtige‘ Antikebild, in: Wolfgang Lange/Norbert Schnitzler (Hrsg.), Deutsche Italomanie in Kunst, Wissenschaft und Politik, München 2000, S. 21–39 (auch u. d. T.: Plato, die ,Poesie der Kakerlaken‘ und das ,Literaturbonzentum‘. Stefan Georges und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs Streit um das ,richtige‘ Griechenbild, in: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 240–264). umkehren“: so F. Wolters an StG frisch nach der Lektüre von Die Antike, Bd. 1 am 25.3.1925 (zit. nach Groppe 1997, S. 648). 47 Vgl. Bruno Snell, Ernüchterte Altertumswissenschaft, in: Joachim Moras/Hans Paeschke (Hrsg.), Deutscher Geist zwischen Gestern und Morgen. Bilanz der kulturellen Entwicklung seit 1945, Stuttgart 1954, S. 289–297; vgl. die Bilanz von Classen, Klassische Philologie, S. 299.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Snell, Bruno, Klassische Philologie im Deutschland der zwanziger Jahre. Vortrag, gehalten in Amersfoort 1932, in: Ders., Der Weg zum Denken und zur Wahrheit. Studien zur frühgriechischen Sprache, Göttingen 1978, S. 105–121. Solmsen, Friedrich, Classical Scholarship in Berlin Between the Wars, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 30/1989, S. 117–139. Vogt, Ernst, Wilamowitz und die Auseinandersetzung seiner Schüler mit ihm, in: William Musgrave Calder III u. a. (Hrsg.), Wilamowitz nach 50 Jahren, Darmstadt 1985, S. 613–631. Christoph Hartmann

6.4.

Historische Wissenschaften

6.4.1. Geschichtswissenschaft Eine Auseinandersetzung mit den historischen Werken des George-Kreises und mit dem Einfluss des Dichters auf die Geschichtswissenschaft begann in Deutschland in den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. „Ohne ein Körnchen vom Geiste Nietzsches oder Stefan Georges möchte heut kaum eine Dissertation mehr entstehen“, behauptete Eduard Spranger 1929 in einem Vortrag vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin.1 Damit kennzeichnete er – mit einiger Übertreibung – das Resultat der Entwicklung, die die Geisteswissenschaften seit der Jahrhundertwende im „Kampf gegen das bloß positivistische Wissenschaftsideal und gegen die Fremdherrschaft naturwissenschaftlicher Methoden“2 in ihren Fächern genommen hatten. Ein Symptom dieser Entwicklung sei das Eindringen von ,e´lan vital‘ und ,imagination cre´atrice‘ in die wissenschaftliche Arbeit.3 Diese Entwicklung war einige Jahre zuvor von Ernst Troeltsch kritisch in seinem Aufsatz Die Revolution in der Wissenschaft untersucht worden.4 Im Zentrum von Troeltschs Analyse standen neben den Werken von Oswald Spengler, Rudolf Steiner, Hermann Graf Keyserling und anderen die geisteswissenschaftlichen Werke des George-Kreises. In der Auseinandersetzung mit Erich von Kahlers Schrift Der Beruf der Wissenschaft (Berlin 1920) diagnostizierte Troeltsch die Tendenz der von StG und Friedrich Gundolf geprägten literaturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Werke. Als Beispiele der „Revolution der Wissenschaft“ demonstrierten sie für ihn den

1 Eduard Spranger, Der Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Geisteswissenschaften, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 1/1929, S. 2–30, hier: 6 (Sitzung vom 10.1.1929). 2 Ebd. 3 Vgl. ebd. Der Begriff ,imagination cre´atrice‘ (schöpferische Phantasie) wurde von dem französischen Psychologen The´odule-Armand Ribot (1839–1916) geprägt in seinem Essai sur l’imagination cre´atrice (1900), der Begriff ,e´lan vital‘ (schöpferische Lebenskraft) von dem französischen Philosophen Henri-Louis Bergson (1859–1941) in seiner Abhandlung L’e´volution cre´atrice (1907). 4 Zuerst erschienen in Schmollers Jahrbuch 45/1921, wieder abgedruckt in: Ernst Troeltsch, Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hrsg. v. Hans Baron, Tübingen 1925 (Gesammelte Schriften 4), S. 653–677; vgl. dazu III, 6.6.2.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Historische Wissenschaften

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Beginn der großen Weltreaktion gegen die demokratische und sozialistische Aufklärung, gegen die rationale Selbstherrlichkeit der das Dasein hemmungslos organisierenden Vernunft und das dabei vorausgesetzte Dogma der Gleichheit und Verständigkeit der Menschen […]. Es ist neue Romantik.5

Vor dem Hintergrund der von Troeltsch und Spranger gefällten Urteile über die ,neue Wissenschaft‘ und damit über die historischen Werke des George-Kreises ist der Angriff Albert Brackmanns auf Ernst Kantorowicz’ Buch Kaiser Friedrich der Zweite zu sehen.6 Brackmann warf Kantorowicz vor, den Kaiser „als Persönlichkeit nicht nur erforscht, sondern ,geschaut, gefühlt, erlebt‘“ zu haben, und zwar in „mythischer Schau“, einer charakteristischen „Betrachtungsform der Georgeschule.“ Diese komme einem lebhaften Bedürfnis unserer Zeit entgegen, das sich mit dem reinen positivistischen Wissenschaftsideal nicht mehr begnügen und statt dessen der Phantasie, der Ästhetik oder dem religiösen Empfinden […] Tür und Tor öffnen will. Der Historiker aber verliert den Boden unter den Füßen, wenn er diesen Bestrebungen Raum verstattet.7

Brackmann sah am Beispiel des Friedrich-Buches die Gefahr, dass die Geschichtswissenschaft sich statt auf Arbeitshypothesen auf Dogmen gründe. Geschichte aber könne man „weder als George-Schüler noch als Katholik oder als Protestant oder als Marxist schreiben […], sondern nur als wahrheitssuchender Mensch.“8 Ernst Kantorowicz antwortete auf die grundsätzlichen Bemerkungen Brackmanns in seiner Rede auf dem Historikertag zu Halle/Saale im Jahr 1930. Da diese Rede – wie viele öffentliche Verlautbarungen von Mitgliedern des Kreises – mit StG abgestimmt war, kommt ihren zentralen Aussagen eine gleichsam ,kreisoffizielle‘ Bedeutung zu.9 Die für die Frage nach der Bedeutung und nach der Rezeption der Geschichtswerke aus dem George-Kreis entscheidenden Sätze lauten: Denn nicht, wie man so gerne glauben möchte, ein ästhetisches oder phänomenologisches oder sonstiges Dogma waltet hier [in den historischen Werken], sondern es ist lediglich das Dogma von der würdigen Zukunft der Nation und ihrer Ehre, von dem diese Werke getragen sind, für das sie sich selbstlos, ruhmgleichgültig und unehrgeizig einsetzen – bald mit glücklicher, bald vielleicht mit weniger glücklicher Hand –, und vor allem: nur durch den Glauben an das echtere Deutschland wurden jene Werke vielleicht auch zur Kunst.10

Systematische Untersuchungen zur Geschichtswissenschaft des George-Kreises erschienen in den Jahren 1929, 1932 und 1935. Der unkritische Artikel von Vı´teˇzka Pihertova´, Zur Geschichtsforschung des George-Kreises,11 wertet die Geschichtswerke als Ausdruck der von StG ausgehenden „weithin wirkenden deutschen geisti5 Ebd., S. 676. 6 Vgl. Brackmann, Kaiser Friedrich II. Vgl. dazu ¤ Ernst Kantorowicz; ausführlich wird die Kontroverse dargestellt in: Eckhart Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk ,Kaiser Friedrich der Zweite‘, Wiesbaden 1982, S. 86ff. 7 Brackmann, Kaiser Friedrich II., S. 548. 8 Ebd., S. 549. 9 Vgl. Kantorowicz, Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben; vgl. Grünewald, Sanctus amor; vgl. dazu auch II, 3.4. 10 Kantorowicz, Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben, S. 125. 11 In: Xenia Pragensia, Festschrift für Ernst Kraus und Joseph Janko, Prag 1929, S. 91–120.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

gen Bewegung“, die „alle Disziplinen der Geisteswissenschaft ergriffen und durchdrungen [hat]; ihrem Einfluss haben sich auch diejenigen, die sie ablehnten oder bekämpften, nicht zu entziehen vermocht.“12 Der Heroenkult sei „eines der gewichtigsten geistigen Elemente der ganzen Bewegung“ und „die Gestalt“ sei das Zentrum von Geschichtsauffassung, Weltanschauung und Leben.13 Geprägt seien die Werke des Kreises von Friedrich Gundolf, dessen historischer Sinn „die Intuition [ist], bei der die Anschauung als die wesentliche Erfüllung der Erkenntnis gilt.“14 Und es folgt eine gewagte Behauptung: „Fast alle Autoren der ganz bewunderungswürdig zahlreichen Biographien, die in den letzten zwei Dezennien [also von ca. 1918 bis 1929] in Deutschland erschienen sind, orientieren sich irgendwie an Gundolf, lösen die Grundfragen in seinem Sinne.“15 Drei Jahre später erschien die Leipziger Dissertation von Helmut Frenzel George-Kreis und Geschichtswissenschaft. Darstellung und Kritik der Auffassung des George-Kreises vom geschichtlichen Erkennen (1932). Der Autor bemüht sich, aus den Äußerungen und Verlautbarungen Gundolfs, Wolfskehls, Wolters’, Hildebrandts und anderer, die dem Kreis angehören oder von Frenzel dem Kreis zugerechnet werden, die Leitlinien einer kreisspezifischen Geschichtswissenschaft herauszufiltern. Dabei stützt er sich vor allem auf Gundolfs Dichter und Helden (1921), Wolters’ ,Blättergeschichte‘16 und auf Texte aus den Jahrbüchern für die geistige Bewegung. Frenzel läuft aber Gefahr, von Wolters geäußerte politische Propaganda, die gar nicht in wissenschaftssystematische Zusammenhänge gehört, zu missdeuten. So wertet Frenzel, um ein Beispiel zu nennen, ein volltönendes Ideologem – „Staaten und Völker, die keine herrschenden, schaffenden Männer mehr erzeugen, sind sterbende Gebilde, und ein lebenskräftiger Nachbar tut recht, die Entarteten aufzulösen und seine Reste zu knechten“17 – als normative Aussage der Historik des George-Kreises. Die „besonderen Objekte“ der Historiker des Kreises seien „große Menschen“, was eine besondere Methode der Darstellung zur Folge habe: Sie könnten „den großen Menschen nicht kühl reserviert, nicht innerlich unbeteiligt gegenüberstehen, sondern müssen sich ihnen mit andächtigem Ernste, mit Liebe und Ehrfurcht nähern.“18 Ihre Erkenntnishaltung sei deshalb nicht „objektiv“ – „und dessen sind sie sich auch selbst bewusst.“19 Die ebenfalls in Leipzig entstandene Dissertation von Wolfgang Heybey Glaube und Geschichte im Werk Stefan Georges. Die Gestaltidee des Dichters und die Geschichtsschreibung seines Kreises aus dem Jahr 1935 ist eng auf die Dichtung StGs bezogen – ein Jünger des Dichters hätte sie kaum ,kreisnäher‘ schreiben können. Die Geschichtswerke des Kreises betrachtet Heybey in ihrem Bezug zum „Glauben Georges“, und der Schlüssel dazu findet sich in der Gestalt Maximins:20

12 Ebd., S. 91. 13 Ebd., S. 102. 14 Ebd., S. 104. 15 Ebd., S. 108. 16 Hier besonders auf das Kapitel „Die Dichtung und die Wissenschaft“, S. 478–493. 17 Friedrich Wolters, Mensch und Gattung, in: Jb 3/1912, S. 138–154, hier: 147. 18 Frenzel, George-Kreis und Geschichtswissenschaft, S. 22. 19 Ebd. 20 Heybey, Glaube und Geschichte, S. 4.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Historische Wissenschaften

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Dieses Kristallisationszentrum, auf das alle Wertungen des Georgekreises ausgerichtet sind, liegt in der Idee der Gestalt, wie wir sie zumindest im Maximin-Mythus dargestellt sehen. Hier enthüllt sich der Glaubensgrund, die letzte Wahrheit vom Sinn des Lebens, aus der alle Werke Stefan Georges und seines Kreises zu verstehen sind. Alles, was im Kreis der Folger Georges gedacht, gesagt und getan wird – sei es auf dem Gebiete der Kunst oder der Wissenschaft, der Erziehung oder der Politik – entsteht im geheimen Hinblick [sic] auf das Urbild der Gestalt, das der Dichter in Maximin heilig verkörpert erschaute.21 (Herv. d. Verf.)

Dies sei der Grund dafür, dass „nicht von dem einsamen Professor und Propheten Nietzsche, sondern von den Jüngern des Dichters und Bildners George eine ,sciencia nuova‘ begründet werden konnte.“22 Als Ziel seiner Arbeit gibt Heybey an, das „Göttliche in der Dichtung Stefan Georges […] suchen“ zu wollen.23 Die Untersuchung der Geschichtswerke des Kreises ist ihm also nur ein Mittel zu diesem Zweck, sodass das Fehlen einer fachlichen oder gar politischen Kritik dieser Werke nicht verwundert. Das Göttliche erscheine im überhistorischen Bild, im „Idealbild der Gestalt“,24 und insofern diese Werke auf einem „in Georges Sinne richtig verstandenen Gestaltsbegriff“ gründeten, seien sie „zur Genüge gerechtfertigt“ durch ihre fruchtbare Wirkung „auf fast allen Gebieten des geistigen Lebens.“25 Dieses Urteil findet 50 Jahre später indirekt eine Art höchstinstanzliche Bestätigung durch Hans-Georg Gadamer, der in seinen Erinnerungen darlegt, daß besonders die vom George-Kreis initiierte Sicht der ,Gestalt‘, des großen Menschen wie des großen schöpferischen Werkes, welche nicht aus sozialen oder ideengeschichtlichen Zusammenhängen und Traditionen erklärt, sondern als schicksalhafte Einheit innerhalb einer bestimmten Epoche begriffen wurde, die geisteswissenschaftliche Forschung in den zwanziger Jahren geprägt habe.26

Mit dem Jahr 1933 begann die wechselvolle, zunächst vereinnahmende, später ambivalente, schließlich ablehnende und aggressive Einstellung der Nationalsozialisten zu StG und seinem Kreis.27 Vor diesem Hintergrund ist die letzte – vor dem Ende des ,Dritten Reichs‘ – seriöse Auseinandersetzung eines Wissenschaftlers mit der Historik des George-Kreises zu sehen, nämlich Walter Goetz’ Abhandlung Intuition in der Geschichtswissenschaft. Der Autor, emeritierter Historiker der Leipziger Universität, früherer Leiter des Lamprechtschen Instituts für Kultur- und Universalgeschichte, ein den Nationalsozialisten missliebiger Demokrat,28 geht ausführlich auf die Eigenarten der Historik des Kreises ein, wie sie von Friedrich Gundolf, Wolters, Salin, Kantorowicz und Wolfram von den Steinen, auch Ernst Bertram, gestaltet worden ist. Er sieht in ihr einen Zweig der ,Neuromantik‘, die schon vor dem Ersten Weltkrieg die Jugend, Literatur und Kunst erfasst habe. Als einen zentralen Punkt der neuroman21 Ebd., S. 154. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 156. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 155. 26 Groppe 1997, S. 399. Groppe bezieht sich hier auf den Vortrag von Hans-Georg Gadamer, Stefan George (1868–1933), in: Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium, hrsg. v. Hans-Joachim Zimmermann, Heidelberg 1985, S. 39–49. 27 Vgl. dazu Petrow, Der Dichter als Führer; Kolk 1998, S. 483–532. 28 Vgl. Wolf Volker Weigand, Walter Wilhelm Goetz (1867–1958). Eine biographische Studie über den Historiker, Politiker und Publizisten, Boppard 1992.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

tischen Geschichtsauffassung nennt er deren methodische Forderung nach Intuition oder Wesensschau, die allein „das wahre Wissen“ verbürge.29 Weit ausgreifend in die Tradition von Philosophie, Psychologie und Geisteswissenschaft klärt Goetz den Unterschied zwischen irrationaler Schau und wissenschaftlicher Intuition. Letztere sei „die Zwillingsschwester der verstandesmäßigen Forschung, denn sie kommt von der erkannten Wirklichkeit nicht los.“30 Eine Wissenschaft, die ihre Bindung an die Wirklichkeit verliere, sei „nicht Intuition, sondern Illusion.“31 „Wesensschau“ als ehrfurchtsvolles Versenken in die Geheimnisse der Geschichte akzeptierten „die Historiker von heute und von gestern“ durchaus, wolle aber der George-Kreis die verstandesmäßige Forschung in ihrer Notwendigkeit und Ehrlichkeit verkennen, sie nur als eine unvermeidliche Vorstufe ansehen und den schillernden Begriff der Wesensschau an die vordere Stelle setzen und ihm den Anschein einer neuen Methode geben, so wird er schwerlich dem Fortschritt unserer Geschichtswissenschaft dienen.32

Und Goetz endet mit einer seine damaligen Zuhörer sicher überraschenden Prognose: „Schafft der Stefan-George-Kreis Vorbilder wie das Buch von Kantorowicz über Kaiser Friedrich II., so wird das neuromantische Schlagwort von der Intuition sehr rasch an sich selber zerfallen.“33 Die öffentliche Auseinandersetzung im ,Dritten Reich‘ mit der Historik des George-Kreises endete in den Rüpeleien und Gehässigkeiten des Antisemiten Christoph Steding, Protege´ Walter Franks, des Präsidenten des nationalsozialistischen Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands.34 Im Zentrum seines grotesken Buches Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur steht die Idee der Polarität von Reich und Reichsfremdheit. Den George-Kreis kennzeichne „innere Reichsfremdheit und Staatsfeindschaft“.35 Er sei eine „Erscheinung der Verschweizerung, Verniederländerung, Verkleinstaatlichung deutschen Denkens“,36 seinem „gehaßten Gegensatz“, der bürgerlichen Demokratie, sei er in „verborgener Liebe“ verbunden.37 Es bestehe kein prinzipieller Unterschied zwischen den oft glänzenden Biographien, die aus dem George-Kreis hervorgingen und etwa denen Emil Ludwigs; sie und ihre Erfolge sind nur möglich 29 Walter Goetz, Intuition in der Geschichtswissenschaft, München 1935 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil. hist. Abteilung 1935, 5), S. 11. 30 Ebd., S. 27. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 29. 33 Ebd., S. 30. Der politische Hintergrund dieser Abhandlung kann hier nicht dargestellt werden. Es dürfte jedoch eine gezielte Demonstration des Demokraten Goetz gewesen sein, den Autor Kantorowicz gewissermaßen gegen Brackmann zu rehabilitieren und den Juden Kantorowicz als Vorbild hinzustellen. 34 Vgl. hierzu Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 501; Petrow, Der Dichter als Führer, S. 145–148; Helmut Gabel, „Seherische Wissenschaft“. Christoph Steding und die Niederlande, in: Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960), hrsg. v. Burkhard Dietz u. a., Teilbd. 2, Münster u. a. 2003, S. 1036–1059; sowie III, 7.5. 35 Christoph Steding, Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Hamburg 1938, S. 230. 36 Ebd., S. 60. 37 Ebd., S. 165.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Historische Wissenschaften

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im neutralisierten Deutschland des Wilhelminismus [für Steding sind das die Jahre von 1918 bis 1933], das, verschweizert und verniederländert, zu einer hohlen Mitte herabsank.38

Diese Art der Geschichtsschreibung lebe „von der Destruktion des Ganzen, des Schicksals“ und werde speziell von „den Juden der Bibliothek Warburg und des Georgekreises“ kultiviert (Herv. d. Verf.).39 Was für Heybey noch der große Gewinn der Wissenschaft des Kreises war, ist für Steding das Symptom des Niedergangs einer Kultur, die „die Geschichte in Biographien einzelner Männer auf[löst]. Der George-Kreis hat dieses Verfahren in ganz klassischer Weise herausgebildet und sogar aus seiner Gestalt-Lehre eine Weltanschauung gemacht.“40 Steding zieht schließlich eine klare politische Grenze zwischen dem Kreis und dem nationalsozialistischen Deutschland und konstatiert, „daß die gelegentlichen Hinweise Georges auf das ,Dritte Reich‘ nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben und unter keinen Umständen als Vorläufer des nationalsozialistischen Dritten Reichs zu fassen sind“ (Herv. d. Verf.).41 Abschließend sei erinnert an Ernst Kantorowicz’ Diktum aus dem Jahr 1930: „Es ist lediglich das Dogma von der würdigen Zukunft der Nation und ihrer Ehre, von dem diese Werke [des Kreises] getragen sind […] nur durch diesen Glauben an das echtere Deutschland wurden jene Werke vielleicht auch zu Kunst.“42 Die würdige Zukunft der Nation war 1945 total infrage gestellt, ihre Ehre durch die Verbrechen des ,Dritten Reichs‘ beschmutzt. An die Heldengestalten der Geschichte mochte niemand mehr glauben. So ist es kein Wunder, dass von einem Weiterwirken der Geschichtsauffassung StGs und seines Kreises in den folgenden Jahren bis in die Gegenwart nicht gesprochen werden kann. Das gilt für Deutschland ebenso wie für das Ausland,43 es galt für die ,alte‘ Bundesrepublik ebenso wie für die DDR,44 für die westdeutsche konservative Rechte wie für die marxistische Linke.45 Auch in neueren 38 Ebd., S. 120f. 39 Ebd., S. 422. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 302. 42 Kantorowicz, Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben, S. 125. 43 Exemplarisch das ,Nichtvorkommen‘ der George-Tradition in dem Überblick Hans Ulrich Wehlers, Geschichtswissenschaft heute, in: Stichworte zur „geistigen Situation der Zeit“. Bd. 2: Politik und Kultur, hrsg. v. Jürgen Habermas, Frankfurt/M. 1979, S. 709–753. Eine Ausnahme – für die historische Wissenschaft der Turkologie – scheint das Werk des bedeutenden Orientalisten Paul Wittek (1899–1978) zu sein, der nach seinem Studium in Wien und seiner Tätigkeit am deutschen Orient-Institut Istanbul 1934 nach Belgien emigrierte und 1940 nach England fliehen konnte, wo er 1948 Professor für Turkologie an der Londoner Universität wurde. Dem Einfluss StGs auf Witteks Werke geht Colin Heywood nach in seiner Untersuchung: „Boundless Dreams of the Levant“: Paul Wittek, the George-Kreis, and the Writing of Ottoman History, in: Journal of the Royal Asiatic Society 1989, S. 32–50; vgl. auch Heywoods weitere Aufsätze zu Wittek in seinem Sammelband Writing Ottoman History. Documents and Interpretations, Aldershot, Hampshire, U.K. 2002. Zur Klärung des tatsächlichen Einflusses StGs auf Witteks Werk sind noch weitere Untersuchungen notwendig. – Für Italien in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg weist Anna Maria Arrighetti, Mensch und Werk in kritischen Publikationen des Georgekreises. Zu Friedrich Gundolfs ,Goethe‘ und zu Ernst Bertrams ,Nietzsche – Versuch einer Mythologie‘, Heidelberg 2008, S. 237–258, ein gewisses Interesse an Gundolfs Goethe und Bertrams Nietzsche nach, das aber nicht der Historik des Kreises gilt. 44 Kein Wort zu StG findet sich in dem Übersichtsband Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung von der Reichseinigung von oben bis zur Befreiung Deutschlands vom Faschismus, hrsg. v. Joachim Streisand, Berlin (DDR) 1965. 45 Nicht der geringste Hinweis auf die Werke des Kreises in den beiden voluminösen Bänden Kritik

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Arbeiten zur Historiographiegeschichte wie der von Horst Walter Blanke46 finden sich keine Spuren der einstmals bedeutenden Geschichtswerke des George-Kreises. Eine über das Ende des Kreises hinausgehende Rezeption fand nicht statt. Repräsentativ für die Ablehnung, die diese Werke in der deutschen Historiographie am Ende des 20. Jahrhunderts erfahren haben, ist der ihren politischen Hintergrund ausleuchtende Aufsatz von Otto Gerhard Oexle Das Mittelalter als Waffe.47 Das Resümee, das Oexle in Bezug auf das Friedrich-Buch von Ernst Kantorowicz zieht, mag für alle historischen Werke des Kreises und für StGs Wirken auf die Geschichtswissenschaft gelten: dass sie neben ihrer hohen ästhetischen Qualität Waffen im Kampf gegen die Demokratie und die Weimarer Republik waren. Als solche hätten sie der Gegenwart nichts mehr zu sagen.48 Letztlich gilt für die Geschichtswerke des Kreises Georg Peter Landmanns lakonische Bemerkung zu StGs Tod: „Die Bewegung ging ganz von dem einen Menschen aus und verebbte.“49 6.4.2. Archäologie Karl Schefold hat mit seinem Aufsatz Wirkungen Stefan Georges. Auf drei neuen Wegen der Klassischen Archäologie50 die Diskussion über den Einfluss StGs auf die deutsche Archäologie in den letzten Jahrzehnten unter Beifall und Widerspruch bestimmt. Durch StG habe sie sich vom Klassizismus des 19. Jahrhunderts befreit [und] drei neue Wege beschritten: im tieferen Begreifen der vor- und nachklassischen Kulturen, im Deuten der Bildnisse großer schöpferischer Persönlichkeiten und im Erforschen des religiösen Gehalts aller großen Kunst.51

Diese neuen Wege seien von allen bedeutenden Gelehrten des Fachs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschritten worden. Diese These greift Suzanne L. Marchand in ihrem Buch Down from Olympus52 auf und unterstreicht, dass die jüngeren Wissenschaftler damals StGs Anschauungen von der Antike als ,Gegengift‘ zum uninspirierten Historizismus etwa eines WilamowitzMoellendorffs begrüßt hätten und mit dem Dichter ihre Verachtung der ungebildeten der bürgerlichen Geschichtswissenschaft (Berlin 1972) aus der Reihe „Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften“. 46 Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991. 47 Otto Gerhard Oexle, Das Mittelalter als Waffe. Ernst Kantorowicz’ ,Kaiser Friedrich der Zweite‘ in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik, in: Ders., Geschichtswissenschaft, S. 163–215. 48 Vgl. ebd., S. 215. 49 Georg Peter Landmann, Vorträge über Stefan George. Eine biographische Einführung in sein Werk, Düsseldorf, München 1974, S. 222. 50 In: CP 35/1986, 173/174, S. 72–97. Zu Karl Schefold (1905–1999) vgl. den Nachruf von Bruno Pieger in: CP 50/2001, 247/249, S. 205–210; vgl. auch Schefolds Autobiographie Die Dichtung als Führerin zur klassischen Kunst. Erinnerungen eines Archäologen, hrsg. v. Martha RohdeLiegle, Hamburg 2003. 51 Ebd., S. 72. 52 Down from Olympus. Archaeology and Philhellenism in Germany, 1750–1970, Princeton/N.J. 1996, S. 336f.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Historische Wissenschaften

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Massen und ihre Hoffnung auf eine kulturelle Erneuerung Deutschlands hätten teilen können.53 Dies erinnert an den anfangs geschilderten Befund Ernst Troeltschs zu den historischen Werken der „Revolution in der Wissenschaft“. Schefolds Thesen sind von Adolf Heinrich Borbein, einem Schüler des StG nahestehenden Archäologen Ernst Langlotz, wenn nicht angezweifelt, so doch stark relativiert worden.54 Die neuen Positionsbestimmungen in der Archäologie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg ähnelten zwar in vieler Hinsicht den Gedanken, die zur gleichen Zeit bei StG und seinem Kreis zu finden seien. Doch könne daraus nicht geschlossen werden, dass diese ,Verwandtschaft‘ von Anschauungen sich aus einer spezifischen Einwirkung StGs oder von Kreismitgliedern ergeben habe: Die Suche nach dem Wesentlichen und Vorbildlichen [in der Archäologie] war im ersten Drittel des 20. Jhs. auch ohne einen Rekurs auf George möglich […]. Im intellektuellen Diskurs, an dem viele in verschiedener Weise teilnahmen, war er eine zwar prominente, aber doch nur eine Stimme. Die von diesem Diskurs ausgehende Wirkung reichte bekanntlich tief in die Wissenschaft und das gebildete Bürgertum hinein, doch lassen sich ihre Quellen im Einzelfall nur schwer voneinander scheiden.55

Der tatsächliche Einfluss StGs auf die deutschen Archäologen, die auf den von StG gewiesenen Wegen gegangen sein sollen – und Schefold nennt alle wichtigsten dieser Zeit –, sei kaum stringent nachzuweisen. Interessanterweise unterbleibt ein solcher Nachweis dort, wo er hätte angebracht werden können und müssen: in dem souveränen Artikel Schefolds über Neue Wege der Klassischen Archäologie nach dem Ersten Weltkrieg.56 Unmittelbar aus dem Kreis – oder genauer: aus der Obhut Ernst Morwitz’ – hervorgegangen sind der Ägyptologe Bernhard von Bothmer und sein Bruder, der Archäologe Dietrich von Bothmer.57 Der Ältere verließ Deutschland 1938 aus politischen Gründen, der Jüngere ging nach einem Studienjahr in Oxford (1938/39) in die Vereinigten Staaten, wo beide als amerikanische Staatsbürger in ihren Arbeitsfeldern sowohl als Wissenschaftler wie als Museumskuratoren erfolgreich und international anerkannt wurden. Trotz ihrer Nähe zu Morwitz und ihrer – allerdings nur kurzzeitigen – Verbindung mit StG ist eine Wirkung des Kreises auf ihre Forschungen und Publikationen nicht nachzuweisen. So bleibt auf die Frage nach der Wirkung StGs auf die Archäologie wohl nur die Antwort, dass bei dem Kreismitglied Erich Boehringer und dem George-Verehrer Karl Schefold ein entscheidender Einfluss zu sehen ist; desgleichen vielleicht noch – nach dem Urteil Tonio Hölschers – bei dem charismatischen Wissenschaftler und Mittelpunkt einer kreativen Schule der Klassischen Archäologie, Ernst Buschor.58 Ihm und 53 Vgl. ebd. 54 Vgl. Borbein, Zur Wirkung. 55 Ebd., S. 247. 56 In: Altertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und Impulse, hrsg. v. Hellmut Flashar, Stuttgart 1995, S. 183–203. 57 Vgl. ¤ Bernhard und Dietrich von Bothmer. 58 Vgl. Tonio Hölscher, Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts: Tendenzen, Defizite, Illusionen, in: Die Wissenschaften vom Altertum am Ende des 2. Jahrtausends n. Chr., hrsg. v. Ernst-Richard Schwinge, Stuttgart, Leipzig 1995, S. 206.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

seiner Schule attestiert Hölscher eine „intuitive […], dem Kreis um Stefan George nahestehende […] Betrachtungsweise,“59 was allerdings nicht für einen direkten oder nachhaltigen Einfluss StGs auf dessen Arbeiten spricht. Buschor hatte 1925 das Buch Die Skulpturen des Zeustempels zu Olympia60 an StG geschickt, wofür dieser ihm durch Erich Boehringer danken ließ – kein Zeichen einer persönlichen Nähe zum Autor.61 Wenn überhaupt Archäologen von StG beeindruckt waren, so Borbein, konnten sie von ihm kein Dogma übernehmen, wohl aber die Forderung nach strenger Wissenschaftlichkeit: „Das erhielt sie frei und bewahrte sie vor Epigonentum.“62 Literatur Borbein, Adolf Heinrich, Zur Wirkung Stefan Georges in der Klassischen Archäologie, in: Bernhard Böschenstein/Jürgen Egyptien/Bertram Schefold/Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005, S. 239–257. Brackmann, Albert, Kaiser Friedrich II. in „mythischer Schau“, in: Historische Zeitschrift 140/1929, S. 534–549. Frenzel, Helmut, George-Kreis und Geschichtswissenschaft. Darstellung und Kritik der Auffassung des George-Kreises vom geschichtlichen Erkennen, Waldenburg/Sachsen 1932. Grünewald, Eckhart, Sanctus amor patriae dat animum – ein Wahlspruch des George-Kreises? Ernst Kantorowicz auf dem Historikertag zu Halle a. d. Saale im Jahr 1930, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 50/1994, S. 89–103. Heybey, Wolfgang, Glaube und Geschichte im Werk Stefan Georges, Stuttgart 1935. Kantorowicz, Ernst, Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben der Darstellung mittelalterlicher Geschichte, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 50/1994, S. 104–125. Oexle, Otto Gerhard, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996. Petrow, Michael, Der Dichter als Führer? Zur Wirkung Stefan Georges im „Dritten Reich“, Marburg 1995. Scheuer, Helmut, Biographie als Mythographie – Der George-Kreis, in: Ders., Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979, S. 112–151. Eckhart Grünewald

59 Ebd. 60 Ernst Buschor/Richard Hamann, Die Skulpturen des Zeustempels zu Olympia, Marburg 1924; das Buch befindet sich in StGs nachgelassener Bibliothek (StGA). 61 Vgl. die distanzierende Bemerkung StGs „Ich kann mich doch nicht hinsetzen und dem einen Dankbrief schreiben über das Werk“ (EL, 135). 62 Borbein, Zur Wirkung, S. 249.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Philosophie

6.5.

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Philosophie

Zwar ist von StG das Wort bekannt, von ihm aus führe kein Weg zur Wissenschaft,1 doch hat das eine beachtliche Zahl an Wissenschaftlern nicht daran gehindert, den Weg zu ihm zu finden. Unter ihnen dominieren die Historiker und Literaturwissenschaftler, während die Philosophen eine auffällig geringe Rolle spielen. Wahrscheinlich ist das auf StGs skeptische Haltung, ja seine „Abneigung“ gegenüber der Philosophie zurückzuführen (EL, 75).2 Allgemein lassen sich zwei Phasen und zwei Formen der Annäherung von Philosophen an StG unterscheiden: In der ersten Phase geht es allein um die Lyrik StGs, in der zweiten zunehmend um den Kreis bzw. Bund als ein soziales Phänomen mit politischen Implikationen. In der ersten Form der Annäherung steht der persönliche Kontakt im Vordergrund. Von den frühen Freunden bemüht sich etwa Ludwig Klages um eine philosophische Interpretation des Werkes von StG.3 Mitglieder des Kreises der BfdK sind die Philosophen Karl Joe¨l, Heinrich Rickert, Max Dessoir, Georg Simmel;4 die letzten beiden sind – neben Wilhelm Dilthey – StG auch persönlich verbunden.5 Die zweite Form wird gebildet aus distanzierteren sachlichen Stellungnahmen zum Wirken StGs und seines Kreises. Unter diesen kann man kaum von einer ,Wirkung‘ StGs sprechen, wenn damit eine positive Aufnahme von Anregungen gemeint ist; eher geht es um eine Auseinandersetzung, die auch einmal zu günstigen Bewertungen führen kann, von der aber – grundsätzlich gesehen – keine genuin philosophischen Impulse ausgehen.6 Die Gestalt StGs hat wahrscheinlich aber an zwei Stellen für philosophische Gedankengänge Pate gestanden, für das „individuelle Gesetz“ Georg Simmels7 und den „Edlen“ Nicolai Hartmanns.8 Vielleicht sind auch Max Schelers Überlegungen zu „Wertpersontypen“ und zur Vorbildethik durch ihn inspiriert.9 Aus der Umgebung StGs selbst stammen philosophische Arbeiten von Edith Landmann und Herman Schmalenbach.10

1 Vgl. ES, S. 40; vgl. dazu ebd., S. 249. 2 Vgl. EL, S. 45, 96, 98, 128, 151, 199; EA, S. 42, 46. 3 Vgl. ¤ Ludwig Klages. 4 Nach Stefan George. Dokumente seiner Wirkung, S. 296–300. 5 Vgl. allgemein LT, S. 8. Zu Rickert: RB II, S. 241f.; EL, S. 76. Zu den persönlichen Kontakten mit Dilthey: Stefan George. Dokumente seiner Wirkung, S. 30f.; SL, S. 43f.; EL, S. 59, 151; EM I, S. 16; FW, S. 114f. Vgl. ¤ Max Dessoir und ¤ Georg Simmel. 6 Anders dagegen FW, S. 114f., 122; Wolfgang Christian Schneider, „Heilige und Helden des Mittelalters“. Die geschichtliche „Schau“ Wolframs von den Steinen unter dem Zeichen Stefan Georges, in: Barbara Schlieben/Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004, S. 183–207, hier: 198f. 7 Vgl. Klaus Christian Köhnke, Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, Frankfurt/M. 1996, S. 503. 8 Vgl. Wolfgang Harich, Nicolai Hartmann. Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Martin Morgenstern, Würzburg 2000, S. 93f. Er bezieht sich auf: Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin, Leipzig 1926, S. 355–365. 9 Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 6., durchges. Aufl., Bern 1980, S. 568ff. (dort auch zum „Genius“). Vgl. dazu EL, S. 110. 10 Vgl. z. B. Edith Landmann, Die Transcendenz des Erkennens, Berlin 1923; Herman Schmalenbach, Die soziologische Kategorie des Bundes, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften 1/1922, S. 35–105.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

6.5.1. Die Lyrik Georg Simmel, Max Dessoir und Wilhelm Dilthey sind die ersten Hochschullehrer für Philosophie, die sich der Lyrik und Persönlichkeit StGs zugleich zuwenden. Hinzu kommt der Neukantianer Heinrich Rickert, der ebenfalls durch die Gedichte angezogen wird und diese ausdrücklich von seiner Kritik der auch im Kreis um StG einflussreichen Lebensphilosophie ausnimmt.11 Während es in Diltheys Schriften keine namentlichen Spuren gibt,12 hat Simmel den Gedichten StGs zwischen 1898 und 1909 gleich drei Aufsätze gewidmet. Zunächst sieht er ihr Charakteristisches darin, dass Gefühle hier nicht unmittelbar, nicht subjektiv zur Sprache kommen, sondern aus dem Abstand, als Mittel für den Kunstzweck: „Nicht irgend ein Inhalt soll in poetischer Form vorgetragen werden, sondern ein poetisches Kunstwerk soll geschaffen werden, für das der Inhalt keine andere Bedeutung hat als der Marmor für die Statue.“13 Drei Jahre später verfolgt er in einer zweiten „kunstphilosophisch“ genannten Studie diesen Gedanken weiter. An der Dichtung StGs soll eine wirklich ästhetische Betrachtung plausibel gemacht werden, die das Kunstwerk als einen „ganz auf sich ruhenden, völlig selbständigen Kosmos“ begreift, der „in absoluter Loslösung von seinem Schöpfer und allen Gefühlen“ aufzufassen sei.14 In der abschließenden Betrachtung über den Siebenten Ring sieht er in StG einen Lyriker, dessen Seele immer in sich beschlossen bleibe und nur aus sich heraus lebe, mit der besonderen Pointe, „daß jener Solipsismus der Seele in seinem Ausdruck monumentale Gestalt gewinnt.“ In der Kunst StGs vollziehe sich als Prinzip eine Synthese: „die Monumentalisierung des durchaus und rein lyrischen Erlebnisses“.15 StGs Gedicht „Der Krieg“ (IX, 21–26) führt schließlich zu einer Entfremdung.16 StG selbst legt rückblickend Wert darauf, dass das Verständnis der ihm persönlich bekannten Philosophen für das Dichterische sehr begrenzt geblieben sei.17 Für eine zweite Gruppe von Philosophen kommt ein persönlicher Kontakt zu StG nicht infrage, sie profilieren sich auf dem Gebiet des Politischen als scharfe Kritiker (s. u.) und sind doch bei aller Distanz unverkennbar von seiner Erscheinung und seinem Wirken angezogen. So ist etwa Georg Luka´cs nicht nur derjenige, der die 11 Vgl. Rickerts Brief an StG in: RB II, S. 241f.; Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens, 2. Aufl., Tübingen 1922, S. 10. 12 Vgl. allgemein: Lothar van Laak, „Dichterisches Gebilde“ und Erlebnis. Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Wilhelm Dilthey und dem George-Kreis, in: GJb 5/2004/2005, S. 63–81; Manfred Riedel, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln u. a. 2004, S. 78–80. 13 Georg Simmel, Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung (1898), in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen. 1894–1900, hrsg. v. Heinz-Jürgen Dahme u. David P. Frisby, Frankfurt/M. 1992 (Gesamtausgabe 5), S. 287–300, hier: 298. 14 Ders., Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie (1901), in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen. 1901–1908, Bd. 1, hrsg. v. Rüdiger Kramme u. a., Frankfurt/M. 1995 (Gesamtausgabe 7), S. 21–35, hier: 30. 15 Ders., Der siebente Ring (1909), in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen. 1909–1918, Bd. 1, hrsg. v. Rüdiger Kramme u. a., Frankfurt/M. 1995 (Gesamtausgabe 12), S. 51–54, hier: 53. Ein Brief an Wolters fasst Wesentliches zusammen. Vgl. Simmel, Briefe 1912–1918, S. 163–168. 16 Vgl. Simmel, Briefe 1912–1918, S. 852, 877f., vgl. auch S. 392ff. 17 Vgl. zu Dilthey EL, S. 151; zu Simmel EL, S. 69, 110; ZT, S. 297, und die überraschend ausgewogene Würdigung durch Wolters: FW, S. 115–117, 157–160, 211, 345–347, 458, 483.

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„imperialistisch-reaktionäre Parklyrik eines Stefan George“ verachtet, die in ihrer „barbarischen Gesinnung“ keinen weiteren Kommentar erfordere, weil sie unter vollständigem Niveauverlust auf den geistigen und menschlichen Standpunkt des Kleinbürgertums herabgesunken sei.18 Er bemüht sich ebenso in seinem Frühwerk Die Seele und die Formen (1911), mit Bewunderung und Anteilnahme Wesentliches an StGs lyrischem Stil herauszuarbeiten.19 Walter Benjamin hat offenbar früh eine „entscheidende Erschütterung“ durch die Lyrik erfahren, während die „Lehre“ StGs in ihm nur Misstrauen und Widerspruch weckt.20 Er gesteht in seiner Wider ein Meisterwerk überschriebenen Kommerell-Rezension zu, dass StG eine an der Romantik orientierte „Erneuerung deutscher Lyrik“ gelungen sei.21 Am deutlichsten findet sich diese Ambivalenz bei Theodor W. Adorno, der einige Gedichte StGs schonungslos kritisiert,22 andere wiederum feiert.23 Kennzeichnend für die trotz aller Aversion sich immer wieder durchsetzende Attraktion ist der Umstand, dass Adorno selbst Gedichte StGs vertont hat.24 Wie vielschichtig und schillernd Adorno über StG denkt, zeigt besonders prägnant folgendes Urteil: „Georges Lyrik war die des erfundenen Ornaments, einer Unmöglichkeit; in der Nötigung es zu erfinden aber mehr als bloß ornamental, Ausdruck eines ebenso kritischen wie hoffnungslosen Bedürfnisses.“25 Positiver steht eine dritte Gruppe von Philosophen zur Lyrik StGs. Martin Heidegger wird in den 1920er-Jahren durch Hannah Arendt und Hans-Georg Gadamer mit den Gedichten vertraut gemacht.26 In einer Vorlesung von 1939 zieht er ein Gedicht heran, um den das Leben verklärenden Charakter der Kunst zu veranschaulichen.27 In späteren Interpretationen (1957/58) beschäftigt er sich vor allem mit dem Vers „Kein ding sei wo das wort gebricht“;28 hier geht es ihm darum, „in der Nachbarschaft zum dichterischen Erfahren mit dem Wort eine Möglichkeit für eine denkende Erfahrung mit der Sprache zu finden“.29 Gadamer steht lebenslang unter dem 18 Georg Luka´cs, Schriften zur Literatursoziologie, 5. Aufl., Neuwied u. a. 1972 (Werkauswahl Bd. 1, ausgewählt u. eingeleitet v. Peter Ludz), S. 371, 474. 19 Vgl. ders., Die Seele und die Formen. Essays, Neuwied, Berlin 1971, S. 117–132. 20 Vgl. Walter Benjamin, Ästhetische Fragmente, in: Ders., Aufsätze, Essays, Vorträge, Bd. 2, S. 599–633, hier: 622–624. Allgemein: Michael Rumpf, Faszination und Distanz. Zu Benjamins George-Rezeption, in: Peter Gebhardt u. a. (Hrsg.), Walter Benjamin – Zeitgenosse der Moderne, Kronberg/Ts. 1976, S. 51–70; Geret Luhr, Ästhetische Kritik der Moderne. Über das Verhältnis Walter Benjamins und der jüdischen Intelligenz zu Stefan George, Marburg 2002. 21 Benjamin, Wider ein Meisterwerk, S. 253. 22 Vgl. z. B. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 31, 368f. 23 Vgl. z. B. ebd., S. 62; Adorno, Lyrik und Gesellschaft, S. 64, 66; ders., George, S. 531; ders., Zu den Georgeliedern (1959), in: Ders., Musikalische Schriften V, S. 411–417, hier: 411; ders., Schönberg / Webern, S. 421. 24 Vgl. ders., Vier Lieder nach Gedichten von Stefan George für Singstimme und Klavier, op. 7 (1967), in: Ders., Musikalische Schriften V, S. 552f.; vgl. III, 4.3. 25 Ders., George, S. 533. 26 Vgl. Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, aus dem Nachl. hrsg. v. Ursula Ludz, Frankfurt/M. 1998, S. 30, 269; Gadamer, Die Wirkung Stefan Georges, S. 262. 27 Vgl. Martin Heidegger, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis, hrsg. v. Eberhard Hanser, Frankfurt/M. 1989 (Gesamtausgabe 47), S. 155. 28 „Das Wort“ (IX, 107). 29 Martin Heidegger, Das Wesen der Sprache (1957/58), in: Ders., Unterwegs zur Sprache, S. 147–204, hier: 177, vgl. S. 147–204; ders., Das Wort (1958), in: ebd., S. 205–225; ders., Vom

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außerordentlichen Eindruck der frühen Begegnung mit der Lyrik;30 diese Erfahrung, verstärkt durch weitere Theoreme aus dem Kreis um StG, nährt ein besonderes Bewusstsein für die Möglichkeiten der Kunst und die Grenzen der Wissenschaft.31 Für Gadamer ist StG stets in erster Linie Lyriker (sogar der „bedeutendste Sprachkünstler deutscher Zunge“ im 20. Jahrhundert32), auch wenn er immer mehr als Erzieher oder Stifter eines neuen Kults hervortritt. 6.5.2. Die Gestaltästhetik Ein für philosophische Beobachter besonders interessantes theoretisch-praktisches Motiv des Kreises ist die Gestalt-Ästhetik, zu der ein Hof von weiteren ästhetischen Formeln gehört (Heros, Vorbild, Schau).33 Die eindringlichste und wirkungsreichste Kritik findet sich bei Heidegger,34 der schon früh (um 1920) auf das „Problem einer ursprünglichen historischen Existenzinterpretation“ aufmerksam macht, das durch eine an „Gestalten“ orientierte „ästhetische Haltung“ ganz und gar verfehlt werde.35 1923 arbeitet er in einer wichtigen Vorlesung die Mängel einer „Methode der universalen Gestaltvergleichung“ heraus,36 und 1927 setzt er die Kritik der Gestaltästhetik in § 77 von Sein und Zeit fort.37 Von Heidegger angeregt wendet sich der Theologe Rudolf Bultmann gegen eine „romantisch“ genannte Form der Auslegung: „Der Romantiker kennt den Menschen nur als Gestalt, als Persönlichkeit, d. h. letztlich als Kunstwerk, als geformten Stoff. Für ihn ist die eigentliche menschliche Weise zu existieren das ästhetische Schauen und Gestalten.“38 Als historische Vertreter einer solchen Richtung werden in erster Linie Gundolf und Bertram genannt. Wesen der Sprache. Die Metaphysik der Sprache und die Wesung des Wortes. Zu Herders Abhandlung ,Über den Ursprung der Sprache‘, hrsg. v. Ingrid Schüßler, Frankfurt/M. 1999 (Gesamtausgabe 85), S. 71f. 30 Vgl. Hans Georg Gadamer, Martin Heidegger – 85 Jahre (1974), in: Ders., Neuere Philosophie I. Hegel, Husserl, Heidegger, Tübingen 1987 (Gesammelte Werke 3), S. 262–270, hier: 263; ders., Der Dichter Stefan George, S. 217; ders., Die Wirkung Stefan Georges, S. 260. 31 Vgl. z. B. Gadamer, Selbstdarstellung, S. 481; ders., Rezension zu: Kurt Hildebrandt, Platon, der Kampf des Geistes um die Macht (1935), in: Ders., Griechische Philosophie I, Tübingen 1985 (Gesammelte Werke 5), S. 331–338, hier: 332; ders., Der Vers und das Ganze (1979), in: Ders., Ästhetik und Poetik II, S. 249–257, hier: 214, 254ff.; ders., Die Wirkung Stefan Georges, S. 261, 269f. 32 Ders., Im Schatten des Nihilismus (1990), in: Ders., Ästhetik und Poetik II, S. 367–382, hier: 367; vgl. zu seinen sprachlichen Mitteln: Ders., Der Dichter Stefan George, S. 221ff.; ders., Hölderlin und George, S. 238ff. 33 Vgl. z. B. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: Ders., Späte Schriften, S. 7–71, hier: 44; Benjamin, Wider ein Meisterwerk, S. 253, 255, 258. 34 Vgl. ausführlich: Michael Großheim, Geschichtlichkeit gegen Gestalt. Ein Kapitel aus der Genese der Existenzphilosophie, in: Philosophisches Jahrbuch 102/1995, S. 322–339. 35 Martin Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers ,Psychologie der Weltanschauungen‘, in: Ders., Wegmarken, hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1976 (Gesamtausgabe 9), S. 1–44, hier: 38–40, vgl. S. 23. 36 Vgl. ders., Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, hrsg. v. Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt/M. 1988 (Gesamtausgabe 63), S. 38f. 37 Vgl. besonders ders., Sein und Zeit. Erste Hälfte, 2. Aufl., Halle/S. 1929, S. 400. 38 Rudolf Bultmann, Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments, in: Zwischen den Zeiten. Eine Vierteljahresschrift 3/1925, S. 334–357, hier: 342.

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Der Gegensatz baut sich um die Begriffe ,Geschichtlichkeit‘ und ,Gestalt‘ auf. Wogegen sich die Kritiker wenden, ist die ästhetische, nur theoretisch betrachtende Einstellung gegenüber einem als abgeschlossen und fixiert gedachten Gegenstand. Wofür sie plädieren, ist eine dynamische, mitgehende, vollziehende Erfassung, die von der menschlichen Lebensführung, der praxis, ausgeht. Das wird als erweiterte Hermeneutik gefasst, die sich nicht auf die bloße Auslegung von Texten reduzieren lassen soll, sondern ebenso die eigene Situation des Hermeneuten umfasst. Die Auslegung des Textes gehe immer Hand in Hand mit der Selbstauslegung des Exegeten. Relativ neutral erläutert demgegenüber Gadamer die Bedeutung des Gestaltprinzips bei StG.39 6.5.3. Der Kreis Die Philosophen haben von den eigentlich ästhetischen Aspekten abgetrennt den George-Kreis als ein bedeutendes soziales Phänomen der Zeit behandelt. Bei Dilthey könnte man eine 1910 veröffentlichte, neutral gehaltene Passage über die gemeinsame Lebenserfahrung in einem „zueinandergehörigen Kreise von Personen“ auf StG beziehen.40 Simmel äußert sich in einer Phase wachsender Distanz zu StG über „Kreise“, „deren religiöse Bedürfnisse sich vom Christentum abwenden“ und „wunderlichen Neubildungen“ zuwenden. Er könne hier allerdings nirgends ein „wirklich lebenskräftiges Gebilde“ entdecken.41 Eine deutliche indirekte Kritik am Kreis formuliert Paul Natorp in seiner Auseinandersetzung mit der Platon-Interpretation Heinrich Friedemanns: Das Religiöse werde hier anthropozentrisch gedeutet und pädagogisch instrumentalisiert (im Sinne einer „schlechthin selbstherrlichen geistigen Führerrolle“), während es aber mitnichten „irgendein vom Menschen künstlich geschaffener Lebensmittelpunkt“ sei.42 Max Scheler beobachtet 1914, dass sich nach dem „erstaunlichen Vorbild einer inneren und letzten Unabhängigkeit vom Kapitalismus“, das der George-Kreis zuerst gegeben habe, eine Reihe analoger Gemeinschaftsbildungen formiert hätten.43 1926 beurteilt er den Kreis als eine „aus dem Geiste der schärfsten Opposition zur Vermassung des Lebens heraus geborene erotisch-religiöse, hocharistokratische gnostische Sekte, in deren Mitte ein genialer Dichter steht“. Die Gruppe vertrete eine „Metaphysik der Selbsterlösung“, dies jedoch weniger in Form von Ideen, die den Titel einer Philosophie verdienen würden, sondern eher als eine durch die persönliche Gestalt des Meisters vermittelte Geisteshaltung.44 Zwei Jahre später schließlich ist der Ton deutlich kritischer: Der Kreis gehört jetzt zu den „falschen Formen gnostischer 39 Vgl. Gadamer, Der Dichter Stefan George, S. 217; ders., Die Wirkung Stefan Georges, S. 261ff., 268. 40 Vgl. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hrsg. v. Bernhard Groethuysen, Stuttgart, Göttingen 1927 (Gesammelte Schriften 7), S. 133. 41 Georg Simmel, Wandel der Kulturformen (1916), in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen. 1909–1918, Bd. 2, hrsg. v. Klaus Latzel, Frankfurt/M. 2000 (Gesamtausgabe 13), S. 217–223, hier: 218f. 42 Paul Natorp, Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus (1920), Hamburg 1994, S. 509f. 43 Max Scheler, Die Zukunft des Kapitalismus, in: Ders., Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, Bern 1972 (Gesammelte Werke 3), S. 382–395, hier: 393. 44 Scheler, Wissensformen, S. 156f.

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Neuromantik“, die in Schelers Augen eine Gefahr für die Wissenschaft, namentlich die Philosophie darstellen.45 Helmuth Plessner nennt in seiner Kritik des Gemeinschaftsbegriffs von 1924 die heidnische Variante des Gemeinschaftsethos „Stern des Bundes“.46 Dass dies mehr als eine flüchtige Anspielung ist, zeigen die weiteren Ausführungen. Eine besonders charakteristische Form der Gemeinschaft ist für ihn der „Bund, der unter geistiger Idee steht“ und ein „emotional getragenes Führertum“ hervorbringe. Plessner hat hier ohne Zweifel den George-Kreis vor Augen: Hingabe heischend bildet der Herr und Meister den lebendigen Knüpfungspunkt aller unmittelbaren Beziehungen zwischen den Gemeinschaftsgliedern, die persönliche, vorbildliche Gestalt, um welche der Kreis sich schließt. Gemeinschaft ohne Mitte, Herrschaft ohne Dienschaft ist nicht denkbar.47

Während Plessner den Kreis als ein prägnantes Beispiel des sozialen Radikalismus kritisiert, sehen die Existenzphilosophen andere Probleme. Ihnen geht es um die objektivierende Selbsteinordnung und den damit verbundenen Verlust der Perspektive der ,Jemeinigkeit‘ mit ihren Chancen und Schwierigkeiten. So interpretiert Martin Heidegger in einer frühen Vorlesung die Sorge von Menschen, irgendwo hinzugehören, einem „Kreis“ anzugehören und in seiner Welt die eigene Öffentlichkeit zu haben, als „Reluzenz“ (das Weltverständnis strahlt auf das Selbstverständnis des Menschen zurück, welches so fixiert und objektiviert wird).48 Heidegger kritisiert die „Konventikel, Kreise, Bünde“ seiner Zeit, weil diese eine Auslegung menschlichen Lebens befördern, die aus der Distanz des Ästhetischen den Ernst und die Verantwortung für die eigene Lebensführung abnehmen. Die nähere Charakteristik durch Stichworte zeigt, dass er an den George-Kreis denkt: „Surrogate, Vorschübe, als überragend ausgegeben; schmeichelt den jetzt losgebundenen Bedürfnissen: Innerlichkeit – ,Seelentum‘ – Seelentechnik – Nichtwissenschaft – Führung – Halt, usf.“49 Einige Jahre später deutet Heidegger soziale Erscheinungen wie „Bünde, Kreise“ als eifrige Organisationen zur voreiligen Überwindung geistiger Not; dadurch bleibe jedoch gerade die „wesenhafte Bedrängnis“ des zeitgenössischen Daseins aus.50 StG gilt auch danach noch als derjenige, der durch die Kreisbildung als Krisenreaktion zeigt, dass er die eigentliche, die „metaphysische Not“ noch unterschätzt.51 Heideggers zeitweiliger Bündnisgenosse Karl Jaspers analysiert das „Sichwegwerfen […] an Kreise und Meister“ als das Verhalten einer nach Wiederherstellung ihrer 45 Vgl. Max Scheler, Philosophische Weltanschauung, in: Ders., Späte Schriften, S. 73–182, hier: 88f. 46 Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), in: Ders., Macht und menschliche Natur, Frankfurt/M. 1981 (Gesammelte Schriften 5), S. 7–133, hier: 38. 47 Ebd., S. 43, vgl. S. 48, 52. 48 Vgl. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die Phänomenologische Forschung, hrsg. v. Walter Bröcker u. Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt/M. 1985 (Gesamtausgabe 61), S. 129. 49 Ebd., S. 188. 50 Vgl. Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1992 (Gesamtausgabe 29/30), S. 243. 51 Vgl. ders., Nietzsche. Der Wille zur Macht als Kunst, hrsg. v. Bernd Heimbüchel, Frankfurt/M. 1985 (Gesamtausgabe 43), S. 192.

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verlorenen Substanz drängenden nihilistischen Seele. Der seiner selbst unsichere Mensch beruhige sich z. B. in einer Gemeinschaft, einer Persönlichkeit,52 suche die „endgültige Geborgenheit in selbst-losen Objektivitäten“.53 Hilfe biete die Autorität, die für eine Ausfüllung der inneren Leere, für ein „Selbstsein aus Gehorsam“ sorge.54 Davon abgesehen schätzt Jaspers die Versuche exklusiver Minoritäten, im Massenzeitalter einen nennenswerten Einfluss auszuüben, als hoffnungslos ein.55 Dass derartige anonyme idealtypische Charakterisierungen tatsächlich durch den George-Kreis angeregt sind, hat Jaspers selbst erklärt,56 und das zeigen auch spätere Notizen.57 Während die existenzphilosophische Kritik also die Gefahr oberflächlicher Stabilisierung des Selbstverständnisses von Individuen rügt, stören sich andere an ,Habitus-Sehnsucht‘ (Gert Mattenklott), Hierarchie, Exklusivität und aristokratischem Anspruch des Kreises. In einem Brief von 1913 kritisiert Georg Luka´cs den George-Kreis (nicht die Lyrik StGs) sehr grundsätzlich: Hier werde eine zufällige Persönlichkeit zum geschichtsphilosophischen Wegweiser übersteigernd stilisiert. So sei weder Kanonbildung noch Führung möglich, die wirkliche Not, der „Mangel eines umfassenden Lebensgefühls“ könne nicht überwunden werden, „denn dieser Bewegung wird jede wirklich werbende Allgemeinheit fehlen“.58 Ganz ähnlich äußert sich 1926 der Theologe Paul Tillich über StG.59 Ernst Bloch sucht den Kreis als eine inhaltsleere historische Imitation zu entlarven, deren heroisierender „Gestaltenkult“ nicht über ihre spießige Harmlosigkeit hinwegtäuschen könne. Er begegnet den „Rittern von der unechten Gestalt im sozusagen seherischen Georgekreis“60 ironisch und amüsiert sich über die „Kavalkade ästhetischer Rentner-Ritter“.61 Während Benjamin für die Gedichte und Übersetzungen durchaus Anerkennung zu finden imstande ist, ist für ihn das pädagogische Wirken StGs durch Schwäche und Lebensfremdheit gekennzeichnet,62 und der Kreis erscheint lediglich als ein SektenPhänomen,63 aus dem vor allem „Kulturrichter“ hervorgegangen seien.64 Auffälligerweise spricht er meistens von der „Schule“ StGs.65 52 Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 2., durchges. Aufl., Berlin 1922, S. 293. 53 Ders., Philosophie II, S. 106. 54 Vgl. ders., Die geistige Situation, S. 189; ders., Philosophie II, S. 43. 55 Vgl. ders., Die geistige Situation, S. 177. 56 Vgl. ders., Philosophische Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe, 2. Aufl., München, Zürich 1984, S. 105. 57 Vgl. Jaspers, Heidegger, S. 58. 58 Vgl. Georg Luka´cs, Briefwechsel 1902–1917, hrsg. v. E´va Kara´di u. E´va Fekete, Stuttgart 1982, S. 317f. 59 Vgl. Paul Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart, Berlin 1926, S. 58f.; vgl. III, 6.6. 60 Ernst Bloch, Literarische Aufsätze, Frankfurt/M. 1965 (Gesamtausgabe 9), S. 69. 61 Ders., Erbschaft, S. 201. 62 Vgl. Benjamin, Rückblick auf Stefan George, S. 393. 63 Vgl. ders., Wider ein Meisterwerk, S. 255; ders., Rückblick auf Stefan George, S. 394; ders., Zur Literaturkritik, in: Ders., Fragmente, Autobiographische Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991 (Gesammelte Schriften 6), S. 161–184, hier: 163. 64 Vgl. ders., Carl Albrecht Bernoulli, Johann Jacob Bachofen und das Natursymbol. Ein Würdigungsversuch (1926), in: Ders., Kritiken und Rezensionen, S. 43–45, hier: 44. 65 Vgl. z. B. ders., Ankündigung der Zeitschrift Angelus Novus, in: Ders., Aufsätze, Essays, Vor-

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Adorno übernimmt diesen Ausdruck von Benjamin. Auch er will hinter die Kulissen von StGs „kulturell-politische[m] Erneuerungsbund“ sehen und kann dort statt der erwarteten Teilnahme an verborgenen Gehalten nur „technische Kompetenz“ entdecken. Er wiederholt also den Formalismus-Vorwurf im pädagogisch-sozialen Bereich: „Je leerer das Geheimnis, desto mehr bedarf sein Wahrer der Haltung.“66 Vollends das Epitheton ,vornehm‘ macht ihm das Interesse am Habitus verdächtig. Der gesuchte „neue Adel“ wirkt auf ihn parvenüartig: „Peinlich ein sich selbst setzender, aus dem Stilwillen geborener Aristokratismus, dem es ersichtlich an Tradition, Sicherheit und Geschmack gebricht.“67 Für inkonsequent hält Adorno die Vorstellung, man könne die Dichtung von der Nachfrage des Publikums emanzipieren und dennoch in einem sozialen Zusammenhang („Bund“) verbleiben. Dieser trage zudem „monopolistische Züge“.68 Die Kritik der im weiteren Sinne marxistisch inspirierten Philosophen am Kreis um StG zielt allgemein also vor allem darauf, hinter der zur Schau getragenen Stärke die vielfältige verborgene Schwäche aufzuweisen. Daneben gibt es gelegentlich auch Verteidiger: In einem autobiographischen Rückblick vergleicht Max Dessoir StG kurz mit Rudolf Steiner, um dann den Unterschied deutlich herauszustellen: StG habe nie Ansprüche wie Steiner erhoben und seine Art, für Menschen seelisch zu sorgen, habe nichts mit priesterlichem Hochmut zu tun.69 Allgemeines Verständnis für das Projekt eines Bundes und eines neuen Mythos zeigt Gadamer, wenn er auch auf der anderen Seite die Institutionalisierung (infolge des Wirkens von Wolters) und die Nähe des Kreises zu einer Kirche problematisiert.70 6.5.4. Zeitkritik und Politik In diesem Kontext interessieren die Philosophen zwei Fragen: Stehen StG und sein Kreis für ein Modell erfolgreicher Zeitkritik, die aus einer ganz außerordentlichen und daher beachtlichen Distanz zur bestehenden Gesellschaft heraus möglich wird? Und wie muss das Verhältnis zum Nationalsozialismus beschrieben und bewertet werden? Simmel konstatiert, dass die geistigen Bewegungen in Deutschland immer mehr auf das „Ideal eines neuen Menschen“ zuliefen; eine der vier genannten, unterschied-

träge, Bd. 2, S. 241–246, hier: 243; ders., Karl Kraus (1931), in: Ders., Aufsätze, Essays, Vorträge, Bd. 1, S. 334–367, hier: 359; ders., Alte und neue Graphologie, in: Ders., Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen, hrsg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt/M. 1991 (Gesammelte Schriften 4.1), S. 596–598, hier: 598; ders., Zur Moral und Anthropologie, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1986, S. 54–89, hier: 78; ders., Zur Literaturkritik, in: ebd., S. 163. 66 Adorno, Prismen. Ohne Leitbild, S. 200. Vgl. aber Benjamins Apologie der „Haltung“ in: Adorno/Benjamin, Briefwechsel, S. 430 f. 67 Adorno, George, S. 526; vgl. ders., Ästhetische Theorie, S. 368f. 68 Ders., Prismen. Ohne Leitbild, S. 220f. 69 Vgl. Dessoir, Erinnerung, S. 136. 70 Vgl. Gadamer, Der Dichter Stefan George, S. 212f., 225f.; ders., Hölderlin und George, S. 235ff.; ders., Der Vers und das Ganze (1979), in: Ders., Ästhetik und Poetik, S. 251; ders., Die Wirkung Stefan Georges, S. 260; ders., Lehrjahre, S. 16f.

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lichen Idealbildungen ist die von StG.71 Scheler sieht in ihm den wichtigen Vertreter einer neuartigen, tiefen Entfremdung gegenüber der bestehenden Lebensordnung, die man auf einen „wahnbedingten Umsturz aller sinnvollen Ordnung der Werte“ zurückführe. StG denke aus dem Geist der „schärfsten Opposition zur Vermassung des Lebens“ heraus.72 Für Plessner gehört ähnlich die „heroisierende Georgeschule“ zu einer größeren Widerstandsbewegung gegen die Moderne, insbesondere gegen hemmungslosen Fortschritt, Vermassung, Ökonomisierung.73 Benjamin wirft StG im Grunde vor, dass er es nicht auf Gesellschaftsveränderung abgesehen habe: Eine Erneuerung des menschlichen Lebens könne nicht im kleinen Kreise, sondern nur im globalen Rahmen Erfolg haben. StG dagegen halte – freilich mit edleren Mitteln – die alte Ordnung weiter aufrecht.74 Benjamin grenzt sich ab, indem er sich selbst zur „Theorie, die den Bannkreis der Schau verläßt“, bekennt.75 Im Verhältnis zum Nationalsozialismus sieht er in StG einen durch Erfüllung seiner Prophetie geschlagenen Propheten.76 Adorno hat sich außerordentlich häufig zum Thema geäußert. Auch er betont einerseits die Nähe gewisser Motive zum Nationalsozialismus oder zur politischen Reaktion;77 anders als Luka´cs (s. u.) nimmt er aber die Differenzen ernst. Vor allem erkennt er – vielleicht wie kaum ein anderer Beobachter – die Bemühungen an, mit denen sich StG vom herrschenden Geist der Zeit zu distanzieren, „Transzendenz zur Gesellschaft“ zu gewinnen sucht. So zeigt er Verständnis für „die Rücksichtslosigkeit des Mallarme´schülers, der der Kommunikation, dem mittleren Einverständnis sich verweigerte“.78 Er konzediert sogar, dass aus der von StG geprägten Haltung mehr Widerstand gegen den Nationalsozialismus hervorgegangen sei als aus dem sich weltläufig gebenden Bürgertum.79 Adornos Vorliebe für Dialektik sorgt dafür, dass er nicht einfach bei der Diagnose „falsches gesellschaftliches Bewußtsein“ stehen bleibt. Er sucht vielmehr Verborgenes, Nicht-Intendiertes in den Gedichten zu entdecken, wie es etwa die verschiedenen Vertonungen zu erkennen geben.80 Auch politisch-gesellschaftlich sind die Gedichte 71 Georg Simmel, Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Grundfragen der Soziologie. Vom Wesen des historischen Verstehens. Der Konflikt der modernen Kultur. Lebensanschauung, hrsg. v. Gregor Fitzi u. Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1999 (Gesamtausgabe 16), S. 26f. 72 Scheler, Wissensformen, S. 156f., vgl. S. 143. 73 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, in: Ders., Die Verführbarkeit des bürgerlichen Geistes. Politische Schriften, hrsg. v. Günter Dux u. a., Frankfurt/M. 2003 (Gesammelte Schriften 6), S. 7–223, hier: 110. 74 Vgl. Benjamin, Rückblick auf Stefan George, S. 393f., 397. 75 Ders., Wider ein Meisterwerk, S. 258. 76 Vgl. W. Benjamin an Gershom Scholem v. 16.6.1933, in: Walter Benjamin, Gesammelte Briefe. Bd. 4: 1931–1934, hrsg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Frankfurt/M. 1998, S. 237. 77 Vgl. zur politisch problematischen Rolle StGs z. B.: Adorno, Ästhetische Theorie, S. 368f.; ders., Prismen. Ohne Leitbild, S. 214f., 225; ders., Lyrik und Gesellschaft, S. 64; ders., George, S. 526, 528, 530; ders., Situation des Liedes, S. 351; ders., The Musical Climate for Fascism in Germany (1945), in: Ders., Vermischte Schriften II, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1997 (Gesammelte Schriften 20.2), S. 430–440, hier: 430f.; Adorno/Benjamin, Briefwechsel, S. 429. 78 Adorno, Schönberg / Webern, S. 419f.; vgl. ders., Prismen. Ohne Leitbild, S. 208ff., 236f.; ders., Lyrik und Gesellschaft, S. 65. 79 Vgl. ders., Prismen. Ohne Leitbild, S. 206; ders., George, S. 524. 80 Vgl. zur Entdeckung von verborgener Humanität z. B. Adorno, Lyrik und Gesellschaft, S. 67; ders., George, S. 532; zu den Kompositionen ders., Lyrik und Gesellschaft, S. 64; ders., Situation des Liedes, S. 349; ders., Schönberg / Webern, S. 419f.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

für Adorno vielschichtig; daher hebt er überlebensfähige Schichten des Werkes ab, stellt Phasen und Zäsuren fest.81 Insgesamt geht es Adorno einerseits darum, StGs Radikalität deutlich werden zu lassen, sein selbst gewähltes, kompromissloses Außenseitertum;82 andererseits möchte er genau das leisten, wozu ihm Benjamin 1940 brieflich gratuliert: in so schwierigen Zeiten die „unzeitgemäße und undankbare Aufgabe: eine ,Rettung‘ Georges“ zu meistern.83 Allgemein wird StG in der Dialektik der Aufklärung als ein respektabler Fortschrittskritiker anerkannt, dessen Fehler jedoch darin bestehe, nicht auf eine Abschaffung des bestehenden Unrechts zu drängen.84 „Gesänge der Entlegenheit“ überschreibt Ernst Bloch 1935 seine Kritik des George-Kreises und verwandter Strömungen, in der er zu einem anderen Urteil als Adorno kommt.85 Der Dichter fühle sich inmitten des gesellschaftlichen Elends als letzter Edler, „Geniemoral“ schwebe „über den Nöten des massenhaften Daseins“. Trotz aller geäußerten Zeitkritik sei das Resultat nur eine Ästhetisierung der herrschenden Verhältnisse: „Scheinbar gegen die Zeit und doch so völlig mit ihr.“ Von Luka´cs, der in seiner Frühzeit feinsinnige Interpretationen von George-Gedichten verfasst hat, kommen nach 1945 harte Urteile. StG sieht er nun als einen politischen Schriftsteller, der „im Namen der irrationellen individuellen Erlebnisse“ sowohl Kapitalismus als auch Sozialismus ideologisch bekämpft, weil er sie beide als „Systeme der seelenlosen Vernunft“ betrachtet.86 Luka´cs nennt StG „ideologischer Vorläufer Hitlers“, auch wenn er Differenzen zwischen den persönlichen Vorstellungen StGs und dem Nationalsozialismus anerkennt; es komme aber auf die „objektiven“ Zusammenhänge an.87 Auch bürgerliche Kritiker sehen eine solche Vorläuferrolle. Jaspers spricht von einer „Analogie zum weltanschaulichen Wirken des Totalitären“.88 Für Karl Löwith spielt der Kreis um StG als „geistiger Wegbereiter der nationalsozialistischen Ideologie“ eine nicht zu unterschätzende Rolle, ja er habe sogar einen „Edelnazismus“ vertreten.89 Differenzierter geht der alte Weggefährte Max Dessoir in seinem Nachruf vor: Dass man StG als einen „geistigen Ahnherr des Nationalsozialismus“ betrachten könne, hänge mit der antinomischen Struktur seiner Kunst zusammen. Mutig muss der Zweifel genannt werden, den Dessoir im Jahr 1935 gegen die „ungezählte Male“ 81 Vgl. dazu ders., Lyrik und Gesellschaft, S. 67; ders., George, S. 523, 528, 530ff.; Theodor W. Adorno/Thomas Mann, Briefwechsel 1943–1955, hrsg. v. Christoph Gödde u. Thomas Sprecher, Frankfurt/M. 2002, S. 128 (Brief v. 1.12.1952). 82 Vgl. zu den Chancen des Außenseitertums: Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem gescheiterten Leben, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1997 (Gesammelte Schriften 4), S. 74. 83 Adorno/Benjamin, Briefwechsel, S. 429. 84 Vgl. Michael Großheim, „Die namenlose Dummheit, die das Resultat des Fortschritts ist“ – Lebensphilosophische und dialektische Kritik der Moderne, in: Logos. Zeitschrift für systematische Philosophie 3/1996, S. 97–133. 85 Vgl. zum Folgenden: Bloch, Erbschaft, S. 200f. 86 Georg Luka´cs, Existenzialismus oder Marxismus?, Berlin 1951, S. 29. 87 Ders., Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler, Berlin 1955, S. 28f. Vgl. ders., Schriften zur Literatursoziologie, 5. Aufl., Neuwied u. a. 1972 (Werkauswahl Bd. 1, ausgew. u. eingel. v. Peter Ludz), S. 473. 88 Jaspers, Heidegger, S. 58. 89 Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Frankfurt/M. 1989, S. 19f.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Philosophie

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vorgebrachte Behauptung zu richten wagt, StG habe mitgeholfen an dem politischen „Umschwung“ der jüngsten Vergangenheit: „Ist prophetische Scheltrede und Vorausschau eine Bedingung dafür, daß später eine wirkliche Tat geschieht?“90 Für Gadamer schließlich ist die Distanz der Georgianer zum allgemeinen Zeitbewusstsein unzweifelhaft: „Es waren Stimmen einer entschlossenen Kulturkritik.“91 Im Jahr 1933 sieht er weniger den Höhepunkt der großen öffentlichen Wirkung StGs als vielmehr den letzten Endpunkt.92 Literatur Adorno, Theodor W. / Benjamin, Walter, Briefwechsel 1928–1940, hrsg. v. Henri Lonitz, Frankfurt/M. 1994. Ders., Ästhetische Theorie, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1997 (Gesammelte Schriften 7). Ders., Kulturkritik und Gesellschaft. Bd. 1: Prismen. Ohne Leitbild, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1977 (Gesammelte Schriften 10.1). Ders., Noten zur Literatur, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1997 (Gesammelte Schriften 11), darin: Rede über Lyrik und Gesellschaft (1957), S. 49–68, George (1967), S. 523–535. Ders., Musikalische Schriften V, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1997 (Gesammelte Schriften 18), darin: Situation des Liedes (1928), S. 345–353, Arnold Schönberg: Fünfzehn Gedichte aus ,Das Buch der hängenden Gärten‘ von Stefan George, op. 15 / Anton Webern: Fünf Lieder nach Gedichten von Stefan George, op. 4 (1963), S. 418–421. Benjamin, Walter, Aufsätze, Essays, Vorträge, 3 Bde., hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1989 (Gesammelte Schriften 2.1–3). Ders., Kritiken und Rezensionen, hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels, 2. Aufl., Frankfurt/M. 2002 (Gesammelte Schriften 3), darin: Wider ein Meisterwerk. Zu Max Kommerell, ,Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik‘ (1930), S. 252–259, Rückblick auf Stefan George. Zu einer neuen Studie über den Dichter (1933), S. 392–399. Bloch, Ernst, Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt/M. 1962 (Gesamtausgabe 4). Dessoir, Max, Buch der Erinnerung, Stuttgart 1946. Gadamer, Hans Georg, Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt/M. 1977. Ders., Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer (1973), in: Hermeneutik. Bd. 2: Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register, Tübingen 1986 (Gesammelte Werke 2), S. 479–508. Ders., Ästhetik und Poetik. Bd. 2: Hermeneutik im Vollzug, Tübingen 1993 (Gesammelte Werke 9), darin: Der Dichter Stefan George (1968), S. 211–228, Hölderlin und George (1971), S. 229–244, Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft (1983), S. 258–270. Heidegger, Martin, Unterwegs zur Sprache, hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Hermann, Frankfurt/M. 1985 (Gesamtausgabe 12). Jaspers, Karl, Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1931. Ders., Philosophie II: Existenzerhellung, Berlin 1932. Ders., Notizen zu Martin Heidegger, hrsg. v. Hans Saner, 2. Aufl., München, Zürich 1978.

90 Max Dessoir, Stefan George, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 29/1935, S. 290–299, hier: 298f. 91 Gadamer, Selbstdarstellung, S. 481; vgl. ders., Lehrjahre, S. 16. 92 Vgl. ders., Der Dichter Stefan George, S. 215f.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Scheler, Max, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Bern 1980 (Gesammelte Werke 8). Ders., Späte Schriften, hrsg. v. Manfred S. Frings, Bern 1976 (Gesammelte Werke 9). Simmel, Georg, Briefe 1912–1918. Jugendbriefe, hrsg. v. Otthein u. Angela Rammstedt, Frankfurt/M. 2008 (Gesamtausgabe 23). Stefan George. Dokumente seiner Wirkung. Aus dem Friedrich Gundolf Archiv der Universität London, hrsg. v. Lothar Helbing u. Claus Victor Bock mit Karlhans Kluncker, Amsterdam 1974 (CP 111/113). Michael Großheim

6.6.

Theologie, Religionswissenschaft, Religionsphilosophie

Zum engsten Kreis um StG zählen einige bemerkenswerte Wissenschaftler aus Gebieten wie Historiographie, Philologie, Ökonomie und Philosophie, doch kein Theologe. Für dieses Fehlen lassen sich Gründe anführen, die im ersten Abschnitt des vorliegenden Beitrages genannt werden. Gleichwohl stießen StG und sein Kreis bei nicht wenigen christlichen und jüdischen Theologen, Religionswissenschaftlern und Religionsphilosophen auf beträchtliche Resonanz unterschiedlichster Art. Im Folgenden wird versucht, diese kaum erforschte Rezeptionsgeschichte zu skizzieren. Dabei zwingt der wissenschaftsüberschreitende Charakter des Religionsdiskurses in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zum Blick über die Fachwissenschaften hinaus in die Publizistik. Der Darstellung wird nicht die Gliederung Katholizismus, Protestantismus und Judentum zugrunde liegen. Denn trotz dieser spannungsreichen Dreiheit wurde damals im Großen und Ganzen „der Diskurs über ,Religion in der Krise der Moderne‘ in allen religiösen Lebenswelten in denselben neoromantisch kommunitären, vitalistischen oder lebenstheologischen Begrifflichkeiten geführt.“1 6.6.1. Jüngerschaft und Katholizismus StGs zeitweiliger Lieblingsjünger Percy Gothein soll seine Studienfreundin Gerda Walther Anfang der 20er-Jahre mit der durchaus herablassend gemeinten Auskunft beschieden haben, für sie sei es vielleicht so unrichtig nicht, katholisch zu werden. „Er selbst aber, als Jünger seines Meisters, habe so etwas wahrlich nicht nötig.“2 An der Anekdote lässt sich der Hauptgrund ablesen, weshalb die meisten Theologen von Fach keine Heimat im engeren George-Kreis suchten und fanden: Man kann nicht zwei Herren dienen. Die religiösen Konnotationen vieler Elemente von StGs Lyrik und ebenso der Kultcharakter der George-Verehrung wurden von vielen Zeitgenossen bemerkt.3 Ganz besonders das Katholische bei StG wurde wahrgenommen, mitunter auch be1 Graf, Wiederkehr, S. 49. 2 Gerda Walther, Zum anderen Ufer. Vom Marxismus und Atheismus zum Christentum, Remagen 1960, S. 312. 3 Vgl. Braungart 1997, bes. S. 176–204. Vgl. auch II, 7.4.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Theologie

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argwöhnt und geriet in die konfessionellen Deutungskämpfe seiner Zeit. Der Jesuit Friedrich Muckermann, Herausgeber der katholischen Kulturzeitschrift Der Gral, der von sich selbst sagte, er sei „mit nie gelöstem Zauber“ an StG gefesselt, empfand es als Kompliment, „Stefan Georges Sinn für Stufung der Werte katholisch [zu] nennen“; eigentlich strebe StG aber bloß „Natur“ an.4 Er wird doch schon angesehen als die stärkste Synthese von Deutschtum, Griechentum und Katholizismus, die wir je erlebt. Mag es ein Irrtum sein […], aber es ist schon ein Mythos da […]. Unsere stärksten Wortführer leben geradezu von Stefan George.5

Dem führenden katholischen Publizisten und langjährigen Herausgeber der Zeitschrift Hochland, Carl Muth, erschien „Goethe als der katholische Protestant, George als der heidnische Katholik“.6 Edgar Salin, der jüdische Ökonom aus dem George-Kreis, formulierte ähnlich: „George war nicht deutscher Katholik, sondern – wenn dies Wort verstanden wird – der erste katholische Nicht-Christ“ (ES, 278), denn christlicher Glaube schließe erstens alle anderen Götter aus und zweitens den Glauben an die Erbsünde ein – beide Bedingungen seien bei StG nicht erfüllt. Hingegen schrieb der evangelische Theologe und religiöse Sozialist Paul Tillich über StG: „Seine Vereinigung von klassischem mit katholischem Geist in strengster Formung war einer der machtvollsten Proteste gegen den Geist der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer Gleichmachung, Verflachung und Entgeistigung.“7 Karl Holl, als Historiker der Alten Kirche präzise, als Mitbetreiber einer Lutherrenaissance apologetisch und als Zeitkritiker borniert, machte sich 1923 Sorgen, „daß der Katholizismus im Begriff steht, den Protestantismus auf zahlreichen und wichtigen Gebieten der Kultur zu überflügeln“: Und welches sind die gelesensten Dichter? R. M. Rilke und Stefan George, beides Katholiken, und zwar Katholiken, deren Katholizismus durch alles hindurch spürbar ist. Und nun überlege man sich die Tatsache, daß Stefan George wohl im Begriff ist, Nietzsche bei uns abzulösen; vergegenwärtige man sich, daß Reinhardts Poseidonius, Bertrams Nietzsche von 4 Friedrich Muckermann, in: Haas (Hrsg.), Georges Stellung, S. 4, 6. 5 Ders., Rom und Europa in dichterischer Schau und Gestaltung, in: Stimmen der Zeit 109/1925, S. 56–65, hier: 61. Muckermann bezieht sich für den Synthesegedanken auf Einschätzungen wie die von Johannes Nohl, Stefan George und sein Kreis, in: Ludwig Marcuse (Hrsg.), Weltliteratur der Gegenwart. Bd. 1: Deutschland, Teil 1, Berlin 1924, S. 227–322, hier: 282. 6 Muth, Schöpfer, S. 14. Diese Sicht ist nicht weit entfernt von der Binnenperspektive des Kreises, vgl. Friedrich Gundolf/Friedrich Wolters, Einleitung der Herausgeber, in: Jb 3/1912, S. III–VIII, hier VII: „Unsre ablehnung des protestantismus hat darin seinen grund dass er die voraussetzung bildet zur liberalen, zur bürgerlichen, zur utilitären entwicklung. […] Überall wo der katholizismus herrschte war er ein bollwerk gegen diese welt. Dass wir uns dem heutigen katholizismus nicht zuwenden können hat darin seinen grund dass er selbst auf dem weg ist protestantisch zu werden und seine große aufgabe, die erhaltung des ewig vitalen, des heidnischen prinzips, nicht mehr erfüllt, obwohl er auch heut noch im sinnlichen kult das bewahrt was für das leben – auch das materielle – wichtiger ist als alle ,errungenschaften‘. Überall wo die protestantische form des christentums eingang findet kapitalisiert, industrialisiert, modernisiert sie die völker. Kein kannibalismus, kein menschenhandel, keine inquisition, keine despotie hat dem gesamtmenschentum solche wunden geschlagen wie die heute betriebenen ,segnungen der zivilisation‘, wäre es auch nur deshalb weil heute jede territoriale korruption alsbald weltgültig wird.“ Zu dieser explizit an Max Webers Studie Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus angelehnten Protestantismus-Kritik vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart, München 2006, S. 87f. 7 Tillich, Die religiöse Lage, S. 51.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

diesem Standpunkt aus geschrieben sind, um von Gundolfs Büchern gar nicht zu reden, so sieht man, wie weit dieser Einfluß bereits reicht.

Demgegenüber empfahl Holl seinen protestantischen Mitchristen, auf diejenigen Kräfte ihrer Konfession zu setzen, über die der Katholizismus nicht verfügt. Wir vermögen von unserem Gemeinschaftsgedanken aus den Staat besser zu würdigen; wir sehen in ihm die unumgängliche Form, in der ein Volk die ihm von Gott gesetzte Aufgabe in der Geschichte löst.8

In solch religiöser Überhöhung des eigenen Volkes sah hingegen der Katholik Cornelius Schröder gerade die Gefahr des Glaubens von StG: Weil dieser sich innerlich von der katholischen Kirche entfernt habe, sei er zum „Religionsstifter“ geworden und habe auf „die ewigen unfaßbaren Mächte des Blutes und Geistes“ gesetzt. „Sein ,Gott‘ ist ein deutsch-völkischer Gott“, ein „Scheingott“, wohingegen der Katholik bereit sein müsse, nur in Bezug auf den wahren Gott Christi „für seinen ruhm in nacht und tod zu gehen“, wie Schröder aus dem Teppich des Lebens zitierend schloss.9 Der protestantische Theologe Christian Geyer ergriff Partei für den Dichter StG, sah in ihm aber einen Denker, der wie Nietzsche ohne das Kreuz leben wollte und darum letztlich auf eine Vorstufe des Christlichen zurückgefallen sei. StGs bester Dienst könne darin liegen, dass er durch die unzweifelhafte Echtheit seines ,Erlebnisses‘ in den Zeitgenossen Vertrauen in die Echtheit des Erlebnisses der Jünger Jesu wecke; zudem sei bei StG die Überwindung der nicht wirklich christlichen, sondern nur katholischen Leibfeindlichkeit zu erlernen10 – den hierin implizierten Vorwurf reichte ein katholischer Kritiker sogleich zurück, denn StG berufe sich gerade nicht auf Luther, und „leibliche Gebärden und Zeichen sind nur vom Katholizismus ganz in das hohe, helle Licht eines höheren Willens einbezogen worden, das beweisen seine Dome wie seine Liturgie.“11 Der Jesuit Friedrich Muckermann rühmte zwar, „Ahnung des Göttlichen“ umschwebe StGs „Bilder und Gestalten“, nur habe der Dichter anscheinend „den Ehrgeiz gehabt, eine neue Liturgie und eine neue Religion stiften zu wollen“, er habe sogar „Symbole verschmäht, die nicht einmal Goethe missen wollte“, darum leider auch „Christus durch Maximin“ ersetzt und mithin „das Problem Symbol und Transzendenz […] nicht gelöst im Sinne der abendländischen Kultur.“ Dennoch versagt ihm Muckermann seine Bewunderung nicht: Mag in manchen Jüngern die Weise des Meisters zur Manier erstarrt sein, er war und ist doch ein Meister, der Jünger gehabt hat. In der atomisierten Gesellschaft ist dieser Kreis eine lebendige Zelle gewesen, und seine Wirkung spüren wir noch fort und fort.12

Das Phänomen der zumeist in christlich konnotierter Terminologie als Jüngerkreis bezeichneten Gruppe um StG provozierte kontroverse Stellungnahmen. Max Kommerell, der mit seinem Buch Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik 1928 die 8 Karl Holl, Der Protestantismus in seiner Kulturbedeutung [1923], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 3, Tübingen 1928, S. 514–519, hier: 514f., 519. 9 Cornelius Schröder, Der Glaube Stefan Georges in katholischer Schau, Warendorf/Westf. 1934, S. 66, 61, 71 (Zitat aus „Wir sind dieselben kinder die erstaunt“; V, 32). 10 Vgl. Christian Geyer, Die Religion Stefan Georges, Rudolstadt 1924. 11 Hans Dahmen, Die Religion Stefan Georges, in: Hochland 23/1925/26, 1, S. 169–173, hier: 170. 12 Friedrich Muckermann, in: Haas (Hrsg.), Georges Stellung, S. 6.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Theologie

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literarhistorische Fundierung des geistigen Führungsanspruchs von StG geliefert hatte, gab zwei Jahre später nach dem schmerzhaften Bruch mit StG zu, der Jüngerkreis habe sich selbst „die Ansicht des Kirchlichen gegeben, hat Gegnerschaften von Rang mit kleinen Gesten der Sekte erledigt“.13 Martin Buber, der jüdische Religionsphilosoph, empfand StGs Stern des Bundes 1914, als ob ein geheimer Orden seine Regel, die in dunklen und bedeutenden Worten gehalten ist, drucken und verkaufen ließe. […] man darf nicht befehlen ,Hier schließt das Tor‘ und – den Schlüssel aus dem Schlüsselloch nehmen, damit die von draußen doch hereinschauen können.14

Die Bewertungen konnten stark variieren. Während Tillich bemängelte, StG habe es an einem gemeinschaftsbildenden religiösen Gehalt gefehlt,15 befand Hermann Drahn, der „religiöse Individualismus“ sei „durch Georges Liebesreligion überwunden, das religiöse Gemeinschaftsgefühl ist wieder erweckt.“16 Schon der erste der drei Auswahlbände der BfdK beginnt mit einem in der ersten Person Plural abgefassten Gruppenmanifest, in dem es heißt: „Dass unser anhang nur langsam wuchs war uns so sehr freude dass wir ein schnelleres zunehmen sogar für bedenklich gehalten hätten.“17 Friedrich Gundolf steuerte für den letzten Ausleseband einen grundlegenden Essay bei, der die Außenwahrnehmung des Kreises fortan bestimmte, obgleich kein Name außer dem Namen Christus darin fällt: Gefolgschaft und Jüngertum.18 In bewusster Abstraktion wird dort gegen das aufklärerische Ideal des selbstbestimmten, freiheitlichen Menschen das Ideal des wahren Führers und seiner Jüngerschaft entworfen. Davon abgesetzt werden das zeitgenössische Unverständnis für „gestalt und begriff des ,jüngers‘“, sodann „die unechte anhängerschaft“ („solchen liegt nicht an der sache sondern an ihrer eitelkeit und das licht gilt ihnen nur wenn es in ihren spiegel fällt“), und: „Unter die gecken gemischt gewahrt man bei jeder neuen schar die pfaffen / die wortgläubigen eiferer“. In Wahrheit gelte: Die Liebe. Wem der führer nur die sache vertritt der hat ihn nicht begriffen: wem er nur eine person ist der kann ihm nicht dienen. Wessen sehnsucht nach einem ewigen in diesem sterblichen menschen und dem wort das er bringt erfüllt wird / wer in ihm gränzenlosen gehalt

13 M. Kommerell an J. Anton v. 7.12.1930, in: Ders., Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, hrsg. v. Inge Jens, Olten, Freiburg 1967, S. 195f. 14 Martin Buber an K. Singer v. 7.2.1914, in: Buber, Briefwechsel, Bd. 1, S. 356. Tatsächlich hatte StG zehn Vorausexemplare des Sterns des Bundes zunächst nur für seine engsten Freunde anfertigen lassen; „die gegenüber dem Jüngerkreis Christi kleinere Zahl unterstrich den Anspruch auf höchste Exklusivität“. Raulff 2009, S. 234. 15 Vgl. Tillich, Die religiöse Lage, S. 51. 16 Hermann Drahn, Das Werk Stefan Georges. Seine Religiosität und sein Ethos, Leipzig 1925, S. 100. 17 Einleitungen und Merksprüche, in: Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1892–98, hrsg. v. Carl August Klein, Berlin 1899, S. 10–27, hier: 23. 18 Friedrich Gundolf, Gefolgschaft und Jüngertum, in: Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1904–1909, hrsg. v. Carl August Klein, Berlin 1909, S. 114–118 (erst 1910 in den BfdK erschienen). Vgl. dazu Norton, Secret Germany, S. 408–412. Im Ausleseband von 1909 finden sich S. 156–159 auch Proben aus Friedrich Wolters’ Herrschaft und Dienst (Berlin 1909). Wolters’ Text verhält sich komplementär zu Gundolfs Ausführungen und spricht statt vom Meister des Jüngerkreises lieber vom Herrscher, der als geistige Tat der ganzen Kultur seinen Stempel aufdrückt, sodass die Jünger eher Mittel der Durchsetzung sind.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

begränzte gestalt werden sieht und wem dieser meister unersetzbar ist der darf sich jünger nennen.

Das Paradigma eines charismatischen Führers und seiner Gefolgschaft in Gestalt des George-Kreises und die kreisinternen, Deutungshoheit anstrebenden Darstellungen des Phänomens haben direkte Wirkungen auf das religionswissenschaftliche und theologisch-exegetische Verständnis von charismatischen Gruppen überhaupt und Jesu Jüngerkreis im Besonderen gezeitigt. Zu nennen sind hier etwa Bezüge zu Max Webers Analysen und Typologien charismatischer Herrschaft19 und insbesondere die Arbeiten von Joachim Wach. Dieser aus der Familie Mendelssohn-Bartholdy stammende Religionswissenschaftler, der 1935 in die USA emigrierte, hatte nach Studium und Promotion bei Gelehrten wie Friedrich Heiler, Ernst Troeltsch und Max Weber 1922/23 bei Friedrich Gundolf in Heidelberg weiterstudiert und davon angeregt im Folgejahr seine Probevorlesung zur Habilitation in Leipzig unter den Titel Meister und Jünger gestellt.20 Als Motti dienen zwei Verse aus dem Stern des Bundes und ein Vers aus dem Evangelium nach Matthäus. Wach bietet eine ausführliche Typologie, in der es beispielsweise heißt: Man wird Schüler aus eigenen Kräften und durch eigene Kraft. Zum Jünger gehört die Erwählung, die Berufung. Das Verstehen des Meisters bedeutet das Ergriffensein von seiner Erscheinung […]. Der Jünger wird niemals ein Meister werden. Daher ist der Lehrer das Haupt der Schule, der Meister bildet um sich einen Kreis […]. Die Meister-Jünger-Beziehung besteht wesentlich in einem Verhältnis wechselseitiger Bedeutsamkeit […] der Meister wird erst zum Meister am Jünger.21

An anderer Stelle erörtert Wach die „tiefe und geheime Tragik“ jedes Meisters, die Jünger einerseits an sich zu ziehen, sie andererseits auch von sich fort weisen zu müssen.22 Der Bund um den Meister verstehe diesen nicht. Mit Belegen für solche Beobachtungen geht Wach sparsam um; offensichtlich hatte er primär die Gestalt des George-Kreises vor Augen. Er durfte bald darauf den Artikel Jüngerschaft im Flaggschiff der deutschen protestantischen Theologie schreiben, dem Lexikon Die Religion in Geschichte und Gegenwart, und seine Ideen werden bis heute diskutiert.23 19 StG und sein Kreis werden im entsprechenden Kapitel von Webers Wirtschaft und Gesellschaft mit Ironie erwähnt (vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss einer verstehenden Soziologie, 5. Aufl., hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1980, S. 142). Zu den Beziehungen der beiden Männer vgl. Manfred Riedel, Asketische Kunstübung, Charisma und Prophetentum. Stefan George und Max Weber, in: Vernunft und Glauben. Ein philosophischer Dialog der Moderne mit dem Christentum. Pe`re Xavier Tiliette SJ zum 85. Geburtstag, hrsg. v. Steffen Dietzsch u. Gian Franco Frigo, Berlin 2006, S. 343–359; Alf Christophersen, Stefan George. Gelöst vom Bann der Begriffe, in: Ders./Friedemann Voigt (Hrsg.), Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II., München 2008, S. 186–189; ¤ Max Weber. 20 Vgl. Rainer Flasche, Die Religionswissenschaft Joachim Wachs, Berlin 1978; zur George-Imitatio bei Wach vgl. Gunilla Eschenbach, Imitatio im George-Kreis, Berlin, New York 2011, S. 83–90. 21 Joachim Wach, Meister und Jünger. Zwei religionssoziologische Betrachtungen, Leipzig [1925], S. 8f. 22 Ebd., S. 40f. Später ist Wach in seiner Sociology of Religion, Chicago 1944 (deutsche Übers. Tübingen 1951) erneut und nüchterner auf die Phänomene zurückgekommen. 23 Joachim Wach, Jüngerschaft, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, 2. Aufl., Tübingen 1929, Sp. 504–506. Vgl. Karl Heinrich Rengstorf, Mathetes, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 4, Stuttgart u. a. 1942, S. 417–464, hier: 417; Roland Kany, Jünger, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 19, Stuttgart 2001, Sp. 258–364, hier: 262.

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Auch in anderen Zusammenhängen kann die Erfahrung von StGs Jüngerkreis die Erforschung religiöser Vergesellschaftung beeinflusst haben; so entwickelte die oben bereits genannte Gerda Walther unter Einbeziehung von Gedanken und Versen StGs in ihrer 1923 in Husserls Jahrbuch erschienenen Dissertation Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften die These, gerade in religiösen Gemeinschaften gelte das Ganze der Gemeinschaft mehr als die Summe seiner Teile.24 6.6.2. Religion und Ästhetik Die Affinität von Religion und Dichtung im Kreis um StG dürfte in der Wilhelminischen Ära und der Weimarer Republik ästhetische Betrachtungsweisen von Religion gefördert haben. Zudem konnte der Stilwille gerade der Wissenschaftler aus dem George-Kreis auch Theologen zu neuen Weisen des Schreibens anregen. Die Rezeption StGs und seines Kreises mischt sich auf diesen Ebenen allerdings vielfach mit Einflüssen zahlreicher anderer Denker und Künstler des Symbolismus, der Lebensphilosophie und ähnlicher Strömungen. Wenn etwa Rudolf Otto 1917 das Heilige als das numinose mysterium tremendum und mysterium fascinans phänomenologisch zu fassen suchte, dann fügt sich dies bruchlos in den Zeitkontext der ästhetischen Religiosität, in dem auch Rilke und StG stehen, ohne dass direkte Einflüsse auf Otto behauptet werden müssten.25 StGs Jünger und späterer halboffizieller Biograph Friedrich Wolters übersandte am 3.12.1920 StG den Aufsatz Schweigender Dienst von Rudolf Otto. Im Begleitbrief nannte er zwar diesen Verfasser den „besten protestantischen Theologen“ in Marburg, den Aufsatz aber ein bezeichnendes Beispiel „für die hülflose suche dieser menschen, die dabei nicht einmal – wie ich aus seinem munde weiss – an eine neuende kraft des protestantismus glauben“ (G/W, 159). Wolters selbst suchte ein Potenzial an Erneuerung eher in den Hymnen des antiken und mittelalterlichen Christentums, die er im Stile der Übersetzungen StGs ins Deutsche übertrug.26 Hans Urs von Balthasar fand zwar, Wolters habe „alles ins Georgianische hinein verfälscht“, blieb Wolters aber in der Ansicht verbunden, die Dichtung des frühen Christentums werde unterschätzt – nach Balthasars Überzeugung, „weil die Leute immer meinen, Dichtung sei wesenhaft heidnisch“.27 Balthasar erinnerte sich noch 24 Gerda Walther, Ein Beitrag zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 6/1923, S. 1–158. 25 Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917. Vgl. Wolfgang Braungart, Ästhetische Religiosität oder religiöse Ästhetik? Einführende Überlegungen zu Hofmannsthal, Rilke und George und zu Rudolf Ottos Ästhetik des Heiligen, in: Ders. u. a. (Hrsg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 2: Um 1900, Paderborn u. a. 1998, S. 15–29, hier: 25–28. 26 Vgl. Friedrich Wolters, Hymnen und Sequenzen. Übertragungen aus den lateinischen Dichtern der Kirche vom vierten bis fünfzehnten Jahrhundert, Berlin 1914; 2. Aufl. innerhalb einer dreibändigen Serie „Hymnen und Lieder der christlichen Zeit“, Berlin 1922–1923 (1: Lobgesänge und Psalmen. Übertragungen der griechisch-katholischen Dichter des I. bis V. Jahrhunderts; 2: Hymnen und Sequenzen. Übertragungen aus den lateinischen Dichtern der Kirche vom IV. bis XV. Jahrhundert; 3: Minnelieder und Sprüche. Übertragungen aus deutschen Minnesängern des XII. bis XIV. Jahrhunderts). 27 Hans Urs von Balthasar an Alois Dempf v. 9.2.1962, zit. nach Manfred Lochbrunner, Hans Urs von Balthasar und seine Philosophenfreunde. Fünf Doppelporträts, Würzburg 2005, S. 130.

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an Wolters, als er um 1950 den (nie verwirklichten) Plan einer neuen Bibliothek der Kirchenväter in deutschen Übersetzungen entwarf, die gerade solche Dichtungen des frühen Christentums umfassen sollte.28 Dass der 1938 nach Oxford emigrierte Komponist und Musikhistoriker Egon Wellesz als Erforscher der byzantinischen Kirchenhymnen und weltlichen Musik internationale Geltung errang, könnte nicht zuletzt in seiner Sensibilität für die musikalische Dimension religiös konnotierter Dichtung begründet sein, die er in jüngeren Jahren durch die Vertonung von Gedichten StGs gewonnen hatte.29 Ein weiterer Historiker religiöser Themen, Gerhart B. Ladner, erlangte 1930 über die Vermittlung von Ernst Kantorowicz sogar eine Audienz bei StG. Sie verlief so bizarr wie enttäuschend.30 Dennoch kann man in der konstruierenden Vorgehensweise sowohl seines 1936 publizierten Buches Theologie und Politik vor dem Investiturstreit wie auch seines in der Emigration verfassten theologiegeschichtlichen Hauptwerkes The Idea of Reform Anklänge an eine Historiographie vom Typus der Schriften Kantorowicz’ sehen. Ladners Spätwerk Handbuch der frühchristlichen Symbolik verrät noch Jahrzehnte später das Interesse für die Ästhetik der Religion.31 Angesichts der 1924 begonnenen, von poetischem Gestaltungswillen zeugenden Übersetzung der hebräischen Bibel ins Deutsche durch Franz Rosenzweig und Martin Buber sind StGs Übersetzungen etwa von Dante und Baudelaire durchaus als Einflussfaktoren zu erwägen.32 Als Willy Haas 1928 einige Persönlichkeiten fragte, welche Rolle StG in ihrer inneren Entwicklung spiele, antwortete Rosenzweig:

28 Vgl. Manfred Lochbrunner, Hans Urs von Balthasars ,Plan einer neuen Bibliothek der Kirchenväter‘. Rekonstruktionsversuch eines nicht verwirklichten patristischen Großprojektes (um 1950), in: Ders., Hans Urs von Balthasar als Autor, Herausgeber und Verleger. Fünf Studien zu seinen Sammlungen (1942–1967), Würzburg 2002, S. 257–315. 29 Vgl. Egon Wellesz, Idyllen. Fünf Klavierstücke zu Gedichten von Stefan George, Wien, Leipzig 1917 (op. 21); ders., Lieder nach Dichtungen von Stefan George für mittlere Singstimme und Klavier, Wien 1917 (op. 22); ders., Erinna (Text: Stefan George). Für Sopran und Klavier, Wien, New York 1925 (ohne op.-Nr.) (allerdings setzte Wellesz ebenso Gedichte von Hölderlin, Rilke und anderen in Töne); ders., A History of Byzantine Music and Hymnography, 2. Aufl., Oxford 1961; ders., Byzantinische Musik. Ein Vortrag, hrsg. v. Gerda Wolfram, Wien 2000. 30 Vgl. Gerhart B. Ladner, Erinnerungen, hrsg. v. Herwig Wolfram u. Walter Pohl, Wien 1994, S. 41–46. Vgl. Norton, Secret Germany, S. 718f.; III, 6.7.3. 31 Gerhart B. Ladner, Theologie und Politik vor dem Investiturstreit. Abendmahlsstreit, Kirchenreform, Cluni und Heinrich III., Baden b. Wien 1936, Nachdruck mit einer Vorbemerkung, Darmstadt 1968; ders., The Idea of Reform. Its Impact on Christian Thought and Action in the Age of the Fathers, Cambridge/Mass. 1959; ders., God, Cosmos, and Humankind. The World of Early Christian Symbolism, Berkeley, London 1995 (deutsch: Handbuch der frühchristlichen Symbolik. Gott – Kosmos – Mensch, Wiesbaden 1996). 32 Anleihen bei StG (aber auch bei Richard Wagner) behauptete schon 1926 Siegfried Kracauer in seiner aufsehenerregend scharfen, eine Replik und eine Duplik nach sich ziehenden Kritik der Buber-Rosenzweig-Übersetzung in der Frankfurter Zeitung (erneut in: Ders., Werke, hrsg. v. Inka Mülder-Bach u. Ingrid Belke, Bd. 5.2, Frankfurt/M. 2011, S. 374–390; nur die Rezension in: Ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M. 1963, S. 173–186). Vgl. dazu Klaus Reichert, „Zeit ist’s“. Die Bibelübersetzung von Franz Rosenzweig und Martin Buber im Kontext, Stuttgart 1993. Neben StGs Einfluss erwägt Walter Kaufmann insbesondere Rilkes Übersetzungen und die stilisierten Buddha-Übersetzungen von Karl Eugen Neumann als Hintergründe; vgl. Walter Kaufmann, Bubers religiöse Bedeutung, in: Paul Arthur Schilpp/Maurice Friedman (Hrsg.), Martin Buber, Stuttgart 1963, S. 571–588, hier: 576.

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Ich habe George zu spät kennen gelernt, als daß er noch eine Rolle in meiner Entwicklung spielen konnte. Damals, 1907, bewegte ich mich schon, ob auch blind, auf den Pol des geistigen Kraftfelds zu, der jenem andern Pol, um den George kreist, genau entgegenliegt.33

Diese Selbstdeutung muss indessen nicht den Tatsachen entsprechen.34 Ob etwa Rosenzweigs Stern der Erlösung (1921) mit seiner Ausrufung eines von ,Ereignis‘ und ,Augenblick‘ bestimmten ,Neuen Denkens‘ wirklich unbeeinflusst von StGs Stern des Bundes (1914) war, sei dahingestellt. Buber wies Haas zwar auf bleibende Eindrücke seit seinem achtzehnten Lebensjahr hin, antwortete jedoch auch eher reserviert.35 Dabei unterhielt Buber im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg und dann wieder ab 1933 gute Beziehungen zu Karl Wolfskehl; zu Bubers näherem Freundeskreis zählte der Georgianer Kurt Singer.36 1934 musste Singer feststellen: in Deutschland in das ich zweimal hineingeboren bin, durch die eltern und durch George, ist jetzt wohl für mich kein raum, so sehr sich die meisten neuerungen auf wirtschaftlichem und im engsten sinne politischem gebiet in den bahnen bewegen […] die ich seit jahren für richtig gehalten habe. Ich bleibe dem toten George so verpflichtet wie ich es dem lebenden war, als angehöriger des stamms der auf die stimme aus dem brennenden busch zu hören hat, auch wenn sie von dem Gott von Midian ausgeht.37

1955 dann schrieb Singer: „Rückschauend aber wird mir deutlich dass alle menschen die ich gewonnen habe, nicht George sondern der chassidischen lehre gewonnen waren.“38 Buber antwortete: „Was Sie mir von George und den Menschen, die Sie gewonnen haben, sagen, ist mir ungemein wertvoll. Das reicht tief.“39 Gershom Scholem, der Erforscher der Kabbala und der jüdischen Mystik überhaupt, erinnert sich, als Sechzehn-, Siebzehnjähriger StGs Gedichte kennengelernt zu haben, darunter 1914 den Stern des Bundes. Acht Jahre später habe der Band, „einiger wunderbarer Gedichte ungeachtet“, ihn aber so aufgebracht, dass er ihn einem Vetter schenkte, „der einige Neigung zur Schule Georges hatte.“ „Aber vieles aus dem ,Jahr der Seele‘, dem ,Teppich des Lebens‘ und dem ,Siebenten Ring‘ ist bei mir hängengeblieben.“40 Was der glänzende Stilist Scholem, der auch für das Apokalyptische und die Zusammenhänge von Religion und Politik ein waches Sensorium besaß, von 33 Franz Rosenzweig, in: Haas (Hrsg.), Georges Stellung, S. 6, erneut in: Ders., Kleinere Schriften, Berlin 1937, S. 503. Vielleicht hat Rosenzweig dabei jene Szene im Blick, die er in seinem Brief an die Mutter vom 6.1.1925 schildert: 1907 sei er „ins Hauptquartier des Feindes“ gegangen, indem er nämlich „den Berliner Georgeaniern Apoll den Entdecker“ von Spitteler vorgelesen habe; er fiel damit durch, sie nannten Spitteler einen neuen Liliencron, „der Gipfel der Verachtung“ (Ders., Briefe, hrsg. v. Edith Rosenzweig, Berlin 1935, S. 524). 34 Im Nachwort zu den Hymnen und Gedichten des Jehuda Halevi (1922/23) schreibt Rosenzweig beispielsweise, in der deutschen Literatur habe seit dem siebzehnten Jahrhundert das Prinzip absolut geherrscht, die Prosabetonung der Worte im Vers zu bewahren; dieses Prinzip habe ein Verständnis der neuhebräischen Poesie mit ihrer eher schwebenden Metrik sehr erschwert, doch sei endlich „durch die Georgesche Schule mit ihrer Forderung des gleichschwebenden Tons“ eine Modifikation des alten Prinzips gelungen (Ders., Kleinere Schriften [Anm. 33], S. 207f.). 35 Vgl. Martin Buber, in: Haas (Hrsg.), Georges Stellung, S. 3f. 36 Vgl. Grete Schaeder, Einleitung, in: Buber, Briefwechsel, Bd. 1, S. 53. 37 K. Singer an Martin Buber v. 16.2.1934, in: Buber, Briefwechsel, Bd. 2, S. 524. 38 K. Singer an Martin Buber v. 8.7.1955, in: Buber, Briefwechsel, Bd. 3, S. 395. 39 Martin Buber an K. Singer v. 22.7.1955, in: ebd., S. 396. 40 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Erweiterte Fassung, Frankfurt/M. 1994, S. 18f., vgl. ebd., S. 55.

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StG näherhin gelernt hat, wäre zu erforschen. Scholems Freund Walter Benjamin, der bereits am 18. März 1933, keine sieben Wochen nach Hitlers Machtübernahme, ins Pariser Exil gegangen war, konnte am 12. Juli 1933 in der Frankfurter Zeitung gerade noch einen Aufsatz zu StGs 65. Geburtstag veröffentlichen, allerdings unter dem Pseudonym K. A. Stempflinger. Er beginnt in theologischer Terminologie: „Stefan George schweigt seit Jahren. Indessen haben wir ein neues Ohr für seine Stimme gewonnen. Wir erkennen sie als eine prophetische […]. Was der Prophet voraussieht, sind die Strafgerichte.“41 Nachdem Benjamin den Aufsatz Scholem zugesandt hatte, antwortete dieser im Herbst 1933 eigentümlich knapp darauf und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass Benjamin seine „aktuelle, wenn auch nicht gerade zur Zeit anerkannte, Ansicht an einem neutralen Ort direkt und ohne alle Abschwächung und Diplomatie“ auszusprechen versuchen werde. Scholem traute Benjamin offenbar eine Deutung StGs zu, die den Kern des Wandels von der Weimarer Republik zur Herrschaft des Nationalsozialismus aufdecken würde können: Schließlich, so oder so, liegt hier und nirgends anders der Hund des dritten Reichs begraben, und die Perspektiven, die sich nun angesichts des traurigen Sieges einem nachdenklichen Beobachter wie Dir in diesem Werk eröffnen dürften, sollten nicht durch Zensurrücksichten gebrochen oder abgeschwächt werden.42

Die Wissenschaftler des George-Kreises erstrebten eine veränderte Wissenschaftsund Phänomenauffassung, eine neue Fachsprache und Darstellungstechnik. Zwar waren hierbei Nietzsche und andere vorangegangen, und nicht wenige Zeitgenossen StGs strebten unabhängig von ihm Ähnliches an. Dennoch schufen Bertram, Gundolf, Kantorowicz und weitere Georgianer einen neu anmutenden Typus künstlerisch stilisierter Sprache, visionärer Totalerfassung und ,Gestalt‘-Deutung. Walter Benjamin fand 1930 den „phraseologischen Donner“, der in den Büchern des Kreises dröhne, „kraftlos“ und „weitschweifig“.43 Doch eine Reihe von Geisteswissenschaftlern seiner Generation orientierte sich an den Männern des Kreises und ihrem ostentativen Fortpusten des gelehrten Fußnotenstaubes bei gleichzeitig großer Sachkenntnis. StG und sein Kreis waren darum auch in vielen von Theologen geführten wissenschaftstheoretischen und hermeneutischen Debatten der Zeit als oft polemisch angeführte Bezugsgröße im Blickfeld. Als etwa Emil Brunner 1924 meinte, gegen die Konfusionen der Zeit zum „Entscheidungskampf“ für die Besinnung auf den reinen Glauben plä41 Walter Benjamin, Rückblick auf Stefan George. Zu einer neuen Studie über den Dichter, in: Ders., Kritiken, S. 392–399, hier: 392f. Schon am 16. Juni 1933 hatte Benjamin geklagt, der Auftrag zu diesem Aufsatz habe ihn „in die sehr leidige Zwangslage, jetzt, und vor einem deutschen Publikum, über Stefan George sprechen zu müssen“, versetzt (an Gershom Scholem, in: Benjamin/Scholem, Briefwechsel, S. 78). – Benjamin war auf Honorare von Zeitungen und Zeitschriften angewiesen. Bereits am 28. Februar 1933 hatte er Scholem von der offenbar politisch bedingten, voranschreitenden „Desorganisation der Frankfurter Zeitung“ berichtet (ebd., S. 38). Am 6. April 1933 warb Hans Hinkel, der für die damals sogenannte ,Entjudung‘ des preußischen Kulturlebens zuständige neue Leiter des Preußischen Theaterausschusses, in derselben Zeitung für das Verschwinden von Juden aus dem Kulturleben (vgl. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 3. Aufl., Sonderausgabe München 2007, S. 21). Im Herbst 1933 wurde Juden die Zugehörigkeit zum Journalistenverband verboten (ebd., S. 45). 42 Gershom Scholem an Walter Benjamin v. 4.9.1933, in: Benjamin/Scholem, Briefwechsel, S. 98. 43 Walter Benjamin, Wider ein Meisterwerk. Zu Max Kommerell, ,Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik‘ [1930], in: Ders., Kritiken, S. 252–259, hier: 254f.

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dieren zu müssen, machte er in dem verkappt heidnischen, genialisch-enthusiastischen, religiösen „Panästhetizismus“ den Hauptgegner aus, den er mit dem Begriff „Mystik“ umschrieb und der in StG einen „Wortführer“ habe.44 Auch der oft expressionistisch genannte Auslegungsstil von Karl Barths Römerbrief-Exegese (1919/22) konnte in den Kontext des Kreises um StG gestellt werden. Barth meinte, dass seine Form von Auslegung nicht unwissenschaftlicher sei als die viel gerühmte historisch-kritische Exegese, wohl aber deren Beschränktheit sprenge und darum den radikalen und vollen Sinn der paulinischen Gedankenwelt überhaupt erst wieder sichtbar mache.45 Als die Debatte um die richtige Bibel-Hermeneutik sich verselbstständigte, auch durch Joachim Wachs Geschichte der Hermeneutik 1926 befeuert,46 wurde um die Möglichkeit einer (Barth gegen dessen Willen zugeschriebenen) ,pneumatischen Exegese‘ gestritten.47 Erich Seeberg etwa sah in ihr die Chance, etwas Metaphysisches, Objektives, die Geschichte Transzendierendes zu thematisieren; dabei erkannte er Berührungen mit der „expressionistischen Art der Gedankenentwicklung, wie sie unsere Zeit in breiter Linie, nicht bloß bei den Georgeanern, charakterisiert“, nämlich anhand der Ausdeutung einer historischen „Gestalt“ eigene Einsicht auszudrücken.48 Verwandte Zusammenhänge standen Friedrich Gogarten in seiner säkularisierungstheoretischen Studie Der Mensch zwischen Gott und Welt vor Augen, in der er die Verdrängung des Glaubens durch naturwissenschaftliches Wissen nachzeichnet. Einen Gipfelpunkt dieser Entwicklung sieht er in Max Webers (bereits gegen den George-Kreis gerichteten) Vortrag Wissenschaft als Beruf (1919) mit seinem Ideal der wertfreien Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge. Als radikale Alternative dazu betrachtet Gogarten Erich von Kahlers ganz unter dem Einfluss von StG stehende Gegenschrift Beruf der Wissenschaft (1920 bei Bondi, dem Verlag des Kreises, erschienen). Nach Kahler ist der Beruf der Wissenschaft „ein tief inneres Zu Sich Selbst Kommen“, ein „Bannen“ und „Bezaubern“, ein „aus seiner innersten Mitte, aus seiner Idee heraus Beleben, Auf- und Weiterschöpfen“.49 Gogarten geht es darum, den Ort der evangelischen Theologie innerhalb dieser Alternativen zu verorten.50 Der Gegensatz zwischen den Wissenschaftskonzepten Max Webers einerseits und Erich von Kahlers andererseits hatte bereits 1921 den von Gogarten abgelehnten protestantischen Theologen und Geschichtsdenker Ernst Troeltsch zu einem souveränen, kritischen Überblick angeregt. Troeltsch betont die zeitdiagnostisch hohe Bedeutung und das Ausmaß der vom George-Kreis und verwandten Richtungen ausge44 Emil Brunner, Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Friedrich Schleiermachers, Tübingen 1924, S. 4f. 45 Vgl. Karl Barth, Der Römerbrief, 2. Aufl., München 1922, Vorwort. 46 Joachim Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorien im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Tübingen 1926. 47 Vgl. zum Folgenden Bruce L. McCormack, The Significance of Karl Barth’s Theological Exegesis of Philippians, in: Karl Barth, The Epistle to the Philippians. 40th Anniversary Edition, Louisville 2002, S. V–XXV. 48 Erich Seeberg, Zum Problem der pneumatischen Exegese, in: Sellin-Festschrift. Beiträge zur Religionsgeschichte und Archäologie Palästinas, Leipzig 1927, S. 127–137, hier: 134. 49 Erich von Kahler, Beruf der Wissenschaft, Berlin 1920, S. 57. 50 Vgl. Friedrich Gogarten, Der Mensch zwischen Gott und Welt, 3. Aufl., Stuttgart 1956 [1. Aufl. 1952], S. 290–310.

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henden ,Revolution der Wissenschaft‘ und leuchtet ihre Kontexte, Binnendifferenzierungen und theologischen Implikationen aus. Vereinfachung, künstlerischer Geist und Sinn für Symbole, Befreiung vom Positivismus, vom relativistischen Historismus, Überwindung des Neukantianismus, Richtung auf Erlebnisunmittelbarkeit, bewusste Formung und Sinngebung des Historischen, Erfassenwollen des Ganzen: Dies sind nach Troeltsch Elemente der zeitgenössischen wissenschaftlichen Revolution, die zudem zur Sehnsucht nach einer starken Persönlichkeit und nach dem Dogmatischen neige. Letzteres lasse sie zum Katholizismus tendieren: Die Leute suchen verschiedene Führer […]. Eine besondere Gruppe aber sammelt sich mit größter Wirkung um Stefan George […]. Das Wesentliche ist nur, daß George in seinem ganzen Wesen Gesetz und Dogma, die Fleisch gewordene neue Werttafel ist und in einer lauteren und strengen Erziehertätigkeit voll Disziplin und fast asketischer Strenge sein Ideal seinen Schülern einbildet […]. Er will wie das aristokratische, spartanophile Hellenentum eine strenge, Geist und Leib in volle Harmonie stellende Aristokratie schaffen, verbunden mit romanisch-germanischen Ideen der Gefolgschaft, des Heldentums und mit katholischen Ideen des mysterienhaften Kommunionbundes.51

Die Schule StGs überführe dessen Dogma in die Wissenschaft, die sie durch Intuition, Wesensschau und Erlebnis umzuwälzen suche. Troeltsch skizziert Hauptwerke der George-Schule, ihre Wirkung auf nicht zum Kreis gehörende Wissenschaftler und er benennt geistesverwandte Werke der wissenschaftlichen Revolution. So sieht er bei den katholischen Schelerianern eine ähnliche Betonung von Dogma und Gesetz wie bei StG. Das Dante-Buch (1921) des katholisch-theologischen Essayisten und Historikers Hermann Hefele gleiche „etwas“ Gundolfs George-Buch „in der Schärfe und Kunst der historischen Vision sowie in der Abstraktheit und Begrifflichkeit.“52 Troeltsch konzediert, dass „vieles tot und konventionell in unserem Wissenschaftsbetrieb“ ist. Darum sei der „Generationenumschlag“ unbedingt ernst zu nehmen. Doch hoffe er, „daß dieser Umschlag die Berührung mit der strengen und eigentlich methodischen positiven Wissenschaft wieder finden wird“.53 Troeltschs Hauptkritik an Kahlers von StG beeinflussten Thesen lautet, daß v. Kahler drei Dinge vereinerleit, die die geistige Entwicklung scharf getrennt hat, und die auch wirklich in der Sache tief verschieden sind: die positiven, mehr oder minder exakten Wissenschaften, die aufs Ganze gehende Philosophie und die praktisch-persönliche Lebenshaltung. Diese drei Dinge wollen die jungen Herren mit einem Sprunge nehmen, und unter ihnen ist ihnen das dritte in Wahrheit das Entscheidende. Durch diese gewaltsame Vereinerleiung kommen sie zu einer geheimnisvollen Mystik […]. Aber diese Esoterik soll zugleich Wissenschaft sein und ersetzen und überdies das ganze deutsche Volk schließlich praktisch formen und erlösen. Das sind drei absolute Widersprüche in einem Atem.54

Während Troeltsch klar zwischen dem berechtigten Unbehagen an der Wissenschaftskultur und der ruinösen Wissenschaftskonfusion des George-Kreises unterscheidet, ließen sich manche anderen Theologen trotz gewisser Reserven faszinieren. Unter den 51 Troeltsch, Revolution, S. 658. 52 Ebd., S. 667. 53 Ebd., S. 676. 54 Ebd., S. 672f. Zum werkgeschichtlichen Kontext vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Einleitung, in: Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch, hrsg. v. F. W. Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger, Berlin, New York 2008, S. 1–82, hier: 24f., 31.

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protestantischen Theologen ist der bedeutende Neutestamentler Ernst Lohmeyer öfter als ,Georgeschüler‘ bezeichnet worden.55 Die neueste und bisher detaillierteste Untersuchung durch Andreas Köhn hat allerdings ergeben, dass zwar Lohmeyers Ehefrau laut Familiensaga seit 1918 Friedrich Gundolf kannte, persönliche Beziehungen von ihm selbst zum George-Kreis jedoch kaum nachweisbar sind. Zudem findet sich in seinem umfangreichen Gesamtwerk offenbar nur in der 1919 publizierten Habilitationsschrift an einer Stelle ein ausdrücklicher literarischer Verweis auf StGs Dichtung. Gleichwohl zeigt Köhn, dass Lohmeyers Auffassung der Nähe von Dichtung und Religion, sein ausgeprägtes poetisches Formempfinden und sein starkes Interesse für die Idee des kommenden ,Neuen Reiches‘ den Ideen StGs und Gundolfs eng verwandt sind. In Lohmeyers rhythmisierter Übersetzung der Johannesapokalypse stehen unübliche Worte und Formulierungen, die charakteristisch für StG sind.56 Eine Gegenprobe steht jedoch aus; womöglich fände sich bei genauer Prüfung ebenso Nietzsche-, Hofmannsthal- oder Rilketypisches bei Lohmeyer. Unter den Katholiken waren gerade diejenigen bereit, sich vom Sirenengesang des George-Kreises oder auch von Rilkes Lyrik locken zu lassen, die sich von der als lebensfern und staubtrocken empfundenen Neuscholastik lösen wollten. Hugo Rahner etwa, der Erforscher der Kirchenväter, hoch gebildet und musisch veranlagt, zitiert am Schluss des 1945 verfassten Vorworts zu seinem kunstvoll stilisierten Hauptwerk über die frühchristliche Deutung der griechischen Mythologie das Wort von Friedrich Wolters, Augustinus habe den Schatz des griechischen Geistes bewahrt „bis zur schöneren Geburt“. Rahner endet: „Und Stefan George, sein Meister, leihe uns das abschließende Wort zum Ausdruck dessen, was der beste Sinn auch dieses Buches sein soll: ,Aus diesen Trümmern hob die Kirche dann ihr Haupt […]‘“.57 1960 zeigte Hugo Rahner mehr Distanz; jetzt betonte er in Bezug auf StG und Spengler: „Darin barg sich die Vergötzung einer Gemeinschaft, die selber nur in ihren Führern geschichtlich bedeutsam zu sein wähnte und diesem geschnitzten Bild auch die personale Würde der Masse opferte.“58 Bei Ildefons Herwegen und Odo Casel, zwei Benediktinern aus Maria Laach, könnte man im Konzept der Liturgie als Mysterienfeier ebenso wie in der Diktion Anklänge an den Kreis um StG vermuten, zumindest aber gewisse ähnliche Ideen. Das christliche Opfermysterium wurde nämlich von diesen Vertretern der Liturgischen Bewegung als Fortführung und Überbietung paganer Mysterienfeiern verstanden, gerade auch in der gemeinschaftsbildenden Funktion des Kultes. Der Philosoph Peter Wust rühmte „die wunderbare Einheitlichkeit des Georgekreises“ und erwog, „einen solchen Kreis […] in die liturgische Bewegung von Abt I. Herwegen einzugliedern“, wobei dann an die Stelle Maximins wieder die „reale Idealgestalt Christi“ treten müsse.59 Romano Guardini, der programmatisch-theologische Vordenker der Litur55 Erstmals durch Hans Windisch in seiner Rezension von Ernst Lohmeyers Kyrios Jesus (Heidelberg 1928), in: Theologische Literaturzeitung 54/1929, Sp. 246–248, hier: 247. 56 Vgl. Andreas Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer. Studien zu Biographie und Theologie, Tübingen 2004, S. 173–223. 57 Hugo Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung, Darmstadt 1957 (zuerst 1945), S. 17. Das Zitat aus StGs „Ursprünge“ (VI/VII, 117). 58 Ders., Sinn der Geschichte [1960], in: Ders., Abendland. Reden und Aufsätze, Freiburg 1966, S. 69–89, hier: 83. 59 Peter Wust, Aufsätze und Briefe, hrsg. v. Wilhelm Vernekohl, Münster 1966 (Gesammelte Werke

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gischen Bewegung, begrüßte 1923, dass jetzt „die Wende“ weg von der Herrschaft der „subjektiven Haltung“ „eingesetzt“ habe. „Die objektive Haltung drängt wieder hervor“, in der phänomenologischen Philosophie ebenso wie „auf künstlerischem Gebiet (der Kreis um Stefan George).“60 Dagegen bemängelt Guardini in seinem Rilke-Buch (1953), die Verehrung StGs habe zeitweise „eine Art religiöser Unbedingtheit“ erlangt, die jegliche Kritik als unerlaubt zurückweisen konnte.61 Der genialisch-idiosynkratische Jesuit Erich Przywara beobachtete, dass die von Guardini mitgeprägte „liturgische Bewegung in der Tat nur die katholische Ausprägung einer allgemeinen Bewegung unseres Geisteslebens, jenes Aristokratismus der Form, als dessen Priester in feierlich gedämpfter Helle Stefan George vor uns steht“, gewesen sei. Allerdings sei die liturgische Bewegung dabei nicht stehen geblieben, sondern habe, typisch katholisch, den Willen zur Gemeinschaft und zur individuellen Lebensführung ausgebildet.62 Przywara lieferte 1935 eine schillernde Analyse von Versen StGs, die er in ein Tableau von Essays über Heroismus und Prophetie von Heraklit bis Sigrid Undset einfügte. Er macht bei StG einen Widerspruch aus zwischen der vollmundigen Verkündigung eines heroischen Geschlechts und der Wiederkehr der unheimlichen Nacht der Verzweiflung.63 Für dieses Büchlein Przywaras gilt, was Karl Barths Freund Eduard Thurneysen einmal schrieb, nachdem er den Jesuitenpater 1930 mit einem Vortrag über Das Angesicht der Zeit anhand von Scheler, StG und Barth gehört hatte. Thurneysen erzählt, dass Przywara diese Vordenker dann auch gleich noch alle drei auf Kierkegaard bezog und sie sich gegenseitig selber beleuchten und aufheben ließ. Ein ganz heilloses Kunststück! […] Wie eine Tanzmaus rannte er hin und her zwischen allen Gestalten der gegenwärtigen Weltbühne, heißen sie nun Heidegger oder Gogarten oder Buber oder Grisebach oder Husserl, benagte sie alle und äugte dann plötzlich aus dem eigenen Loch noch schnell siegreich heraus, um ungreifbar darin zu verschwinden.64

Eine unzweideutig harte Kritik hallte StG und seinem Kreis mehrfach in Carl Muths Zeitschrift Hochland entgegen, die in Fragen einer katholisch-theologisch begründeten Beurteilung kultureller Phänomene die führende Rolle einnahm.65 Muth hatte in 7), S. 185f., zit. nach Richard Faber, Politischer Katholizismus. Die Bewegung von Maria Laach, in: Hubert Cancik (Hrsg.), Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 136–158, hier: 137. Faber geht auch den Verbindungslinien nach, die vom Gemeinschafts- und Totalitätsideal der Liturgischen Bewegung zum Nationalsozialismus geführt haben. Zum Hintergrund bei StG vgl. Wolfgang Braungart, Kult, Ritual und Religion bei Stefan George, in: Richard Faber/Volkhard Krech (Hrsg.), Kunst und Religion. Studien zur Kultursoziologie und Kulturgeschichte, Würzburg 1999, S. 257–273. Zu den Verbindungslinien zwischen Liturgischer Bewegung und Carl Schmitt vgl. Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“, Darmstadt 1995, S. 34–44. 60 Romano Guardini, Liturgische Bildung. Versuche, Burg Rothenfels 1923, S. 70. 61 Ders., Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der Duineser Elegien, 3. Aufl., München 1977, S. 15. 62 Erich Przywara, Gottgeheimnis der Welt [1923], in: Ders., Schriften, Bd. 2, Einsiedeln 1962, S. 121–242, hier: 140ff. 63 Vgl. ders., Heroisch, Paderborn 1936, S. 55–64. 64 Eduard Thurneysen an Karl Barth v. 26.1.1930, in: Barth/Thurneysen, Briefwechsel, S. 708. 65 Vgl. zu Muth besonders Jutta Osinski, Katholizismus und deutsche Literatur im 19. Jahrhundert, Paderborn u. a. 1993, S. 339–402; Fritz Vollhardt, ,Hochland‘-Konstellationen. Programme, Konturen und Aporien des Kulturkatholizismus am Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Wilhelm Kühlmann/Roman Luckscheiter (Hrsg.), Moderne und Antimoderne. Renouveau Catholique und die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, Freiburg 2008, S. 67–100.

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der Debatte um die wissenschaftliche und kulturelle Inferiorität der Katholiken, die kurz vor 1900 durch den katholischen Philosophen und Politiker Georg von Hertling angestoßen worden war, die literarische Bedeutungslosigkeit der sogenannten ,katholischen Literatur‘ und die ästhetische Inkompetenz der von Klerikern beherrschten katholischen Literaturkritik gerügt und wollte mithilfe der von 1903 bis zum Verbot 1941 erscheinenden Zeitschrift das katholische Bürgertum zu einer kritischen Zeitgenossenschaft heranführen. So treffend Muths Zeitdiagnose war, so wenig konnten seine an Romantikern wie Friedrich Schlegel und Martin Deutinger orientierten, eklektisch auch Dilthey und manche anderen Autoren aufnehmenden ästhetischen Maßstäbe einen wirklichen Zugang zur literarischen Moderne eröffnen. Im Hochland, das auch Literatur publizierte, dominierte eine weitgehend binnenkatholische, zweite Garnitur der zeitgenössischen Literatur. Doch gelang es Muth, eine Reihe hellsichtiger Köpfe von keineswegs einheitlicher Ausrichtung zu Mitarbeitern zu gewinnen. Zum Thema StG erschienen darum Artikel unterschiedlicher Position. Theodor Haecker, der brillante, 1921 zum Katholizismus konvertierte Essayist, versteckte 1924 in einem Aufsatz Über Francis Thompson und Sprachkunst eine Volte gegen StG, die es in sich hatte. Es gebe Verse bei StG, die zweifellos sehr schön klängen. Doch bei genauerer Betrachtung finde man „bei George entweder keinen Gedanken […] oder nur den eines substanzlosen, ja banalen und, wenn nicht, bösen Heidentums“. Er habe kürzlich in einer englischen Anthologie übersetzte Gedichte StGs gefunden: „Die Übersetzung ist nicht einmal schlecht. Aber was sind es nun für Verse geworden? Einfach harmlose Albumverse.“ Jede Übersetzung sei aber ein Prüfstein, „ob Gedanke und Herz da sind“.66 Kurze Zeit später holte Haecker noch weiter aus: Der höchste geistige Raum des Humanen sei der Humor, der nach Kierkegaard die äußerste Annäherung des Humanen an das eigentlich Christlich-Religiöse ist. Mit der peinigenden Humorlosigkeit StGs und seiner Schule sei „das lederne Zeitalter der deutschen Literatur angebrochen“. Haecker entwickelt anhand einiger Zeilen StGs satirisch den Idealtypus des Albumverses, zu dem „Verwaschenheit der Bilder“, „magenverderbende Sentimentalität und Süßigkeit“ sowie „gigantische, Herz und Hirn erschlagende Banalität“ gehören: Was der westliche Humor schlechthin nicht duldet, ist eben das Georgesche Laster: eine trockene Hieromanie im Profanen, eine Göttliches auf Menschliches nivellierende sakrale Tonart, dort, wo sie leicht auch sakrilegisch wird, ein Priestertum, dessen Gott nur eine Kreatur oder eine ,Idee‘ ist, und dessen Vertreter eben deshalb komisch sind.67

Carl Muth urteilte mit der ihm eigenen, nicht scharf durchdachten Mischung ästhetischer und theologisch-moralischer Werturteile ähnlich vernichtend. Zwar sei zu begrüßen, dass der Kreis um StG sich bemühe, die Gestalten großer Menschen zu entwerfen, doch der Maximin-Kult wie auch der Rummel um StGs Apotheose seien

66 Theodor Haecker, Über Francis Thompson und Sprachkunst, in: Hochland 22/1924/25, 1, S. 68–80, 206–215, hier: 70f. (erneut in: Ders., Christentum und Kultur, 2. Aufl., München, Kempten 1946, S. 182–226). 67 Ders., Der katholische Schriftsteller und die Sprache mit einem Exkurs über Humor und Satire, in: Wiederbegegnung von Kirche und Kultur in Deutschland. Eine Gabe für Karl Muth, München 1927, S. 151–194, hier: 165–176 (erneut in: Ders., Über Humor und Satire, in: Ders., Opuscula, München 1949, S. 367–385, hier: 375–380).

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

abstoßend.68 Im Oktober 1922 allerdings hatte Muth in seiner Zeitschrift einen Aufsatz von Werner Picht publiziert, der eine streckenweise georgianisch anmutende Würdigung StGs bot, doch auch die Grenzen einer christlichen Akzeptanz StGs absteckte. Picht erblickt in StG den Seher, der eine Vision eines zweiten Paradieses zeige, wenn dereinst „Hellas und Golgatha sich einen – in ferner Zeit […]. So wird der heute größte Gegenspieler des Christentums zum tiefsten Künder seiner Erfüllung.“ Der Christ wisse, dass „die Zeit erst erfüllt, ,das Reich‘ erst gegründet ist, wenn der Löwe beim Lamme liegt und die in leidvoller Gebärde erstarrten Glieder des Gekreuzigten sich lösen.“69 6.6.3. Kairos und Apokalypse 1928 promovierte der 23-jährige Hans Urs von Balthasar, der heute weltweit bei vielen Theologen als der bedeutendste katholische Fachvertreter des zwanzigsten Jahrhunderts neben und nach Karl Rahner gilt, in Zürich als Germanist. Thema seiner Dissertation war die von der Renaissance bis Nietzsche und StG sich vollziehende fortwährende Steigerung dieses Bewußtseins der Einzigartigkeit der letzten Periode, der eschatologischen Exponiertheit der ,letzten‘ Zeit. […] So steht der Mensch in der äußersten Einsamkeit, im Rücken der Welt, die ihm nicht helfen kann, das Unerhörte zu verwirklichen, vor sich die Aufgabe und das Nichts.70

Die Lyrik StGs markiert für Balthasar einen Höhe- und Endpunkt dieser Entwicklung. „Für George hat sich dann das Utopische wirklich vollzogen: Riss ich nicht ins enge leben / Durch die stärke meiner liebe / Einen stern aus seiner bahn?“71 Bei StG, „der wie keiner die Einmaligkeit des Lebens betont hat“, werde der Gedanke der ewigen Wiederkehr mit demjenigen des erfüllten Augenblicks vereint: „So scheint er die Metempsychose nur als Deutung des Kairos, der Wirklichwerdung eines Göttlichen anzuerkennen.“72 StGs Gedicht „Kairos“ aus den Tafeln im Siebenten Ring – „Der tag war da: so stand der stern. / Weit tat das tor sich dir dem herrn … / Der heut nicht kam bleib immer fern! / Er war nur herr durch diesen stern.“ (VI/VII, 166) – wies mit seinem Titel unmittelbar auf einen theologisch geprägten Terminus, der von Gundolf weiterpropagiert und bald von zahlreichen Intellektuellen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg aufgenommen wurde. ,Kairos‘ wurde im Rekurs auf den seit Paulus (1 Kor 7, 29 usw.) und dem Markusevangelium (1, 15) ins Christentum eingeführte Terminus zum Inbegriff einer Vorstellung vom Einfall des Absoluten, Göttlichen in einen besonderen Moment der Zeit, in dem die Kontinuität aller bisherigen Geschichte gesprengt und durchbrochen wird. 68 Vgl. Karl Muth, Stefan George und seine Apotheose durch den „Kreis“, in: Hochland 31/1933/34, 2, S. 99–116, 258–271 (erneut in: Ders., Schöpfer, S. 133–196). 69 Werner Picht, Stefan George als Richter unserer Zeit, in: Hochland 20/1922/23, 1, S. 80–94, hier: 94. Vgl. dazu und zu Pichts weiterer Karriere Raulff 2009, S. 450f. 70 Balthasar, Geschichte, S. 60f. 71 Ebd., S. 42 (das Zitat „Über wunder sann ich nach“; VIII, 70). 72 Ebd., S. 54.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Theologie

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Für Balthasar ist StG „der größte Verkünder des ,Kairos‘“.73 Kein Wunder, dass er in seinem ersten großen Werk Apokalypse der deutschen Seele (1937–1939) StG auf nicht weniger als 70 Seiten regelmäßig zitiert. Balthasar versucht in diesem dreibändigen Opus, wichtige Figuren der deutschen Geistesgeschichte von Lessing bis Karl Barth auf ihre „letzten Haltungen“ hin darzustellen, die er an ihrer Eschatologie abliest. Das Werk beginnt mit den Worten „Apo=kalypsis heißt Enthüllung, heißt also soviel wie Offenbarung: revelatio. Offen liegt aber das Außen, verschleiert das Innen. Seele ist dieses Innen. ,Vorstürmt aus dunkelster kammer die seele und aufrauscht und schluchzend / Rüttelt an stäben des süßen verliesses‘“.74 Den Autor des zitierten Gedichts verrät Balthasar nicht: ein Versteckspiel unter Freunden, denn die Verse stammen von seinem Schweizer Freund Johannes Oeschger, der aus Enthusiasmus für StG Kontakt zum Kreis und zu StG gesucht hat.75 Eine Sammlung von Jugendgedichten Oeschgers, die Balthasar 1929 „in schönster George-Kalligraphie“ abgeschrieben hat, ist noch erhalten.76 Das Apokalypse-Werk Balthasars endet mit einem „Kairos“ überschriebenen Kapitel. Dieses Kapitel beginnt Balthasar mit einem Blick auf den religiösen Sozialismus von Paul Tillich, der den Begriff des ,Kairos‘ prominent verwandte: Tillichs ,Kairos‘ ist […] noch keine Synthese von ,Utopie‘ und ,Augenblick‘, sondern eine Absolutsetzung des Kreatürlichen (utopischen) im ,Augenblick‘. Damit steht er in der Nachbarschaft des Kairosbegriffes Stefan Georges. Scheinbar ,gläubig‘ sich gegen ein Ewiges öffnend, ist hier die Öffnung doch nicht weniger ein magischer Anlaß, daß das Göttliche sich inkarnieren kann.77

Die Kritik Balthasars, dass in solchen Konzeptionen der Mensch Gottes Wirken vorgreifen, es magisch erzwingen will, dürfte zu den Gründen gehören, weshalb in den späteren Werken Balthasars StG keine große Rolle mehr spielte, selbst in der großen theologischen Ästhetik nicht. Auch die Geschichte der Entfremdung Balthasars von Ludwig Derleth, der dem Kreis um StG zeitweise zugehörte,78 mag zu dieser Entwicklung beigetragen haben.79 Zu „Bünden wie denen Georges, […] zu den Ordensentwürfen Derleths und den nazistischen ,Ordensburgen‘“ sagt Balthasar 1963: „Hier überall weht apokalyptische Luft, aber hin auf ein innergeschichtliches Endreich.“80

73 Ebd., S. 65. 74 Balthasar, Apokalypse, Bd. 1, S. 3. 75 Vgl. Remigius Mettauer [d. i. Johannes Oeschger], Wermut und Balsam. Gedichte, Stuttgart 1965 (Drucke der Stefan-George-Stiftung), S. 23. Vgl. CP 111/113/1974, S. 196–198, und zur Freundschaft mit Balthasar: Lochbrunner, Balthasar und seine Literatenfreunde, S. 58–66. 76 Vgl. Lochbrunner, Balthasar und seine Literatenfreunde, S. 61. Das Manuskript befindet sich in Privatbesitz (Nachlass Emil Lerch, Luzern). Dass Lochbrunner den Einfluss StGs auf Balthasar gegen Hans Küngs Vermutung (Erkämpfte Freiheit. Erinnerungen, München 2002, S. 164) eher gering einschätzt, ist nicht ganz überzeugend; selbstverständlich bedeutet solcher Einfluss bei einem originellen Denker nie einfache Übernahme: Balthasar war kein unkritischer George-Jünger. 77 Balthasar, Apokalypse, Bd. 3, S. 424. 78 Vgl. ¤ Ludwig Derleth. 79 Vgl. dazu Lochbrunner, Balthasar und seine Literatenfreunde, passim. 80 Hans Urs von Balthasar, Das Ganze im Fragment. Aspekte der Geschichtstheologie, Einsiedeln 1963, S. 159.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Mit dem Vergleich von Tillich und StG hatte schon der junge Balthasar Gespür für Zusammenhänge, Koinzidenzen und hintergründige Vernetzungen des Religionsdiskurses in den ersten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts bewiesen. Dass Tillichs Kairos-Begriff sein Pendant oder auch zum Teil seine Herkunft im George-Kreis hatte, fiel auch anderen auf. Karl Barth etwa berichtete von einem Auftritt Tillichs: Er redet viel von Bedingtem und Unbedingtem und weiß von unbedingten (,theonomen‘) Perioden in der Geschichte, in denen dann auch ein unbedingtes Ethos Platz zu greifen habe. Eine solche breche jetzt wieder an, mein Römerbrief sei ein wichtiges Symptom dafür, und nun gelte es, in der Richtung einer Art Kulturbeseelung durch Errichtung einer verbesserten sozialistischen Philosophie und Theologie, dem ,Kairos‘ (ein in Berlin und bei den Stefan Georgianern beliebtes Stichwort) durch unbedingten Ernst gerecht zu werden.81

Alf Christophersen hat in einem jüngst erschienenen Buch die hochkomplexen Zeitdeutungskämpfe um diese Thematik aus den Jahren der Weimarer Republik einer bestechenden Analyse unterzogen und umfassend kontextualisiert. Der Begriff des ,Kairos‘ dient dabei als Zentrum einer Konstellation verwandter suggestiver Formeln wie: „der rechte Augenblick, die erfüllte Zeit, der besondere Moment, oder auch: Forderung des Tages, der Stunde“.82 In der Variante des religiösen Sozialismus, der in Berlin und anderswo florierte, wurde der Begriff samt seiner Aura benutzt, um die Gegenwart als den Augenblick radikaler Gesellschaftsumbildung und konsequenter Entscheidung zu feiern. Carl Mennicke, der den Kairos-Begriff in die Diskussion um den Religiösen Sozialismus eingeführt hatte, bemerkte 1921, dass „soviel von ,Eschatologie‘ die Rede“ sei, „daß allenthalben die Frage darnach geht, ob man warten solle oder zur praktischen Bestätigung schreiten“ müsse.83 Werke der Georgianer Gundolf und Bertram zählte Mennicke zu denen, die vom Willen getragen seien, „um die Erfassung des lebendigen Gehaltes zu ringen“84 – Grundvoraussetzung, um vom blutleeren Intellektualismus zur Tat zu eilen, zu welcher Tat auch immer. Für Tillich enthält die Idee des Kairos das Hereinbrechen der Ewigkeit in die Zeit, den unbedingten Entscheidungs- und Schicksalscharakter dieses geschichtlichen Augenblicks, aber sie enthält zugleich das Bewußtsein, daß es keinen Zustand der Ewigkeit in der Zeit geben kann, daß das Ewige wesensmäßig das in die Zeit Hineinbrechende, aber nie das in der Zeit Fixierbare ist.85

Tillich war sich bewusst, dass der Terminus im George-Kreis zentral war. Auch wenn die grundlegenden Differenzen zwischen dem Sozialismus und dem elitären Zirkel unübersehbar waren und heftig diskutiert wurden,86 nannte Tillich StG „die wichtigste dichterische Erscheinung der Zeit“.87 81 Karl Barth, Rundbrief an Freunde v. 2.4.1922, in: Barth/Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, S. 64. 82 Christophersen, Kairos, S. 3. 83 Carl Mennicke, Der Stand der Debatte, in: Blätter für religiösen Sozialismus 2/Nr. 2 v. Juni 1921, S. 21–24, hier: 22 (zit. nach Christophersen, Kairos, S. 48). 84 Carl Mennicke, Zur Überwindung des Intellektualismus, in: Blätter für religiösen Sozialismus 1/Nr. 5 v. Oktober 1920, S. 17–19, hier: 18 (zit. nach Christophersen, Kairos, S. 51). 85 Paul Tillich, Kairos. Ideen zur Geisteslage der Gegenwart [1926], in: Ders., Der Widerstreit von Raum und Zeit, Stuttgart 1963 (Gesammelte Werke 6), S. 29–41, hier: 35. 86 Vgl. Christophersen, Kairos, passim. 87 Tillich, Die religiöse Lage, S. 51.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Theologie

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Trotz ihrer Bedenken und ihres Wissens um die Problematik einer innerweltlichen Eschatologie und politischen Theologie partizipierten auf diese Weise manche bedeutenden Theologen des zwanzigsten Jahrhunderts an der religiös aufgeladenen, radikalen Entscheidungs- und Augenblicksrhetorik, die nicht nur vom George-Kreis ausging, aber dort einen ihrer wirkmächtigsten Orte hatte. Der prophetische Habitus StGs konnte auf diese Weise auch bei manchen Theologen zu einem Element ihrer Sehnsucht nach radikalem Aufbruch und ihrer Erwartung eines nahen Heilsbringers werden. Nach dem Ende des nationalsozialistischen Grauens wurde man nüchterner. Tillich schreibt in seiner vier Jahrzehnte nach seiner Feier des Kairos verfassten Systematischen Theologie: Das Reich Gottes ist immer gegenwärtig, aber die Erfahrung von seiner die Geschichte erschütternden Macht ist es nicht. Kairoi sind selten, und der große kairos ist einmalig, aber zusammen bestimmen sie die Dynamik der Geschichte in ihrer Selbst-Transzendierung.88

Literatur Braungart 1997. Balthasar, Hans Urs von, Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen, 3 Bde., Salzburg 1937–1939. Ders., Geschichte des eschatologischen Problems in der modernen deutschen Literatur [1930], 2. Aufl., Einsiedeln 1998. Barth, Karl / Thurneysen, Eduard, Briefwechsel, Bd. 2, hrsg. v. Eduard Thurneysen, Zürich 1974. Benjamin, Walter, Kritiken und Rezensionen, hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M. 1972 (Gesammelte Schriften 3). Ders. / Scholem, Gershom, Briefwechsel 1933–1940, hrsg. v. Gershom Scholem, Frankfurt/M. 1980. Buber, Martin, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, hrsg. v. Grete Schaeder, 3 Bde., Heidelberg 1972–1975. Christophersen, Alf, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008. Graf, Friedrich Wilhelm, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, 2. Aufl., München 2004. Haas, Willy (Hrsg.), Stefan Georges Stellung im deutschen Geistesleben. Eine Reihe autobiographischer Notizen [1. Teil], in: Die literarische Welt Nr. 28, 4. Jg. v. 13.7.1928, S. 3–6. Lochbrunner, Manfred, Hans Urs von Balthasar und seine Literatenfreunde, Würzburg 2007. Muth, Carl, Schöpfer und Magier, Leipzig 1935. Norton, Robert E., Secret Germany. Stefan George and his Circle, Ithaca, London 2002. Tillich, Paul, Die religiöse Lage der Gegenwart [1926], in: Ders., Writings on Religion / Religiöse Schriften, Berlin, New York 1988 (Main Works / Hauptwerke 5), S. 27–97. Troeltsch, Ernst, Die Revolution in der Wissenschaft [1921], in: Ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hrsg. v. Hans Baron, Tübingen 1925 (Gesammelte Schriften 4), S. 653–677. Roland Kany

88 Ders., Systematische Theologie, Bd. 3, 4. Aufl., Darmstadt 1984, S. 422f.

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6.7.

III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Kunstwissenschaft

Eine direkte Wirkung StGs auf die akademische Kunstgeschichte ist im deutlichen Unterschied zu Germanistik, Geschichts- und Altertumswissenschaften ausgeblieben. Das Wirken StGs fiel mit den Jahren von ca. 1890 bis 1933 in einen Zeitraum, in dem sich das Fach Kunstgeschichte seiner Methodik erst vergewissert hat, indem es sich von dem seit Vasari verbindlichen Paradigma der Biographik, vom positivistischen Historismus sowie vom Hegelianismus des 19. Jahrhunderts löste. Form- und Stilanalyse, kulturwissenschaftliche Bildforschung und ikonologische Inhaltsdeutung sind als zentrale Schlagwörter mit diesem Prozess der Methodenentwicklung nach 1900 verbunden. Heinrich Wölfflin, Aby Warburg und Erwin Panofsky als Exponenten der drei Richtungen, die über den engeren Bereich ihres Faches hinaus gewirkt haben, seien hier genannt.1 Mit jedem von ihnen gibt es über Mitglieder des Kreises, Friedrich Gundolf und Ernst Kantorowicz, sogar direkte Berührungen mit der Welt StGs. Doch blieben diese punktuell und eher bedeutend für die intellektuellen Biographien der genannten Gelehrten. Eine direkte Rezeption StGs in der Kunstwissenschaft, ja ein Einfluss auf Methoden und Diskurse des Faches lässt sich in Hinblick auf die überaus große Ausstrahlung StGs auf alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen allerdings leichter behaupten als rekonstruieren. Und so versteht sich dieser Artikel auch eher als eine Spurensuche denn als ein ausgemaltes Tableau aller möglichen Rezeptionsweisen und Einflussnahmen, die StGs Verhältnis zur Kunstwissenschaft berühren könnten. Im Mittelpunkt stehen objektbezogene kunsthistorische Forschungen, wogegen die Einflussnahme auf allgemeine ästhetische, kunstphilosophische und kunstsoziologische Diskurse hier nicht zur Sprache kommen kann. Natürlich ist auf Georg Simmels kunstphilosophische Aufsätze und Bücher zu Themen der bildenden Kunst, etwa zu Michelangelo, Rembrandt, Arnold Böcklin, Auguste Rodin und zur Gattung Landschaft zu verweisen, auf deren Entstehung StG mehr oder weniger intensiv eingewirkt haben mag.2 Doch die Rezeption dieser Arbeiten in der Kunstwissenschaft muss hier als Teil der philosophisch-ästhetischen Rezeptionsgeschichte von der direkten Wirkung auf das Fach Kunstgeschichte abgegrenzt werden.3 1 Aus der nunmehr unübersehbaren Forschungsliteratur zur Wirkungsgeschichte dieser drei Kunsthistoriker im Fach seien herausgehoben: Meinhold Lurz, Heinrich Wölfflin. Biographie einer Kunsttheorie, Worms 1981; Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, hrsg. v. Horst Bredekamp u. a., Weinheim 1991; Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions Hamburg 1992, hrsg. v. Bruno Reudenbach, Berlin 1994. Zur Methodendiskussion in den Geisteswissenschaften nach 1900, an der die Kunstgeschichte nicht unbeteiligt war, siehe König/Lämmert (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 2 Vgl. dazu Stephan E. Hauser, Stefan George und die bildenden Künste. Malerei – Plastik – Bildnis, in: GJb 4/2002/2003, S. 79–111. Ein Großteil der kunstbezogenen Schriften Simmels, mit Ausnahme der Monographie Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch (1916), jetzt in: Georg Simmel, Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie, hrsg. v. Ingo Meyer, Frankfurt/M. 2008. 3 Zu Georg Simmels Verhältnis zur akademischen Kunstgeschichte vgl. zuletzt Michael Diers, Bande a` part. Die Außenseite(r) der Kunstgeschichte. Georg Simmel, Carl Einstein, Siegfried Kracauer, Max Raphael, Walter Benjamin und Rudolf Arnheim, in: In der Mitte Berlins. 200 Jahre Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität, hrsg. v. Horst Bredekamp u. Adam S. Labuda, Berlin 2010, S. 273–292. Zu einzelnen kunsthistorischen Aspekten von Simmels Werk

6. Wissenschaftliche Rezeption: Kunstwissenschaft

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6.7.1. Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen um George Grundsätzlich ist weniger der Einfluss StGs auf Methoden und Gegenstände als sein Einwirken auf bestimmte Repräsentanten und Angehörige des Faches zu beschreiben. Es ist daher deutlich zwischen den Kunsthistorikern im Kreis und dem Einfluss StGs auf das Fach Kunstgeschichte zu unterscheiden. Und im Fall der Kunstgeschichte bedeutet die Wirkung auf einzelne Personen noch keine Wirkung auf das Fach. Ja, bei den Kunsthistorikern des Kreises – Museumsleuten, Universitätslehrern und Publizisten – dürfte es sich zudem kaum um überdurchschnittliche Exponenten der kunsthistorischen Wissenschaft handeln. Das überproportional große Interesse, das ihnen geschenkt wurde, haben sie in der Regel durch ihren persönlichen Umgang mit StG auf sich gezogen, jedoch nicht durch Leistungen im eigenen Fach. 6.7.1.1. Raffael und Holbein: Wilhelm Stein (1886–1970) Selbst im engsten Umfeld StGs lässt sich kaum von einer Kunstwissenschaft in seinem Geist sprechen. Ausnahme ist der Versuch in Wilhelm Steins Raffael von 1923, in dem die Heuristik des Maximin-Erlebnisses auf den Ausnahmekünstler der italienischen Renaissance, auf Raffael, übertragen wird.4 Stein schrieb damit ganz dezidiert auf den Dichter hin eine von der George-Pädagogik angeregte Legende vom göttlichen Künstler ohne Fußnoten und im sprachlichen Duktus der „Werke der Wissenschaft aus dem Kreis der Blätter für die Kunst“. Es handelt sich im Falle des Raffaels – dem einzigen von StG sanktionierten Kunstbuch der Reihe – nicht um einen kunsthistorischen Forschungsbeitrag, sondern um eine dem Muster von Gundolfs Goethe und Bertrams Nietzsche folgende Gestaltmonographie, die Raffaels Erscheinung analog zu StGs Maximin-Erlebnis als eine Epiphanie des Göttlichen inszeniert und die Fakten dementsprechend umdeutet. Nicht seine Zeit habe Raffael hervorgebracht, sondern schon der junge Raffael habe – wie Maximin auf StG – als christusgleich in die Welt gekommener Kunstheiland auf die älteren Künstler zurückgewirkt. Es geht Stein also um das Wirken einer schönen Gestalt in ihrer eigenen Zeit. Analog zu Gundolfs Goethe, der allgemein gefeierten Abkehr vom literaturhistorischen Positivismus und Biographismus, entwickelt Stein auch die ,Gestalt‘ Raffaels aus der Eigengesetzlichkeit des großen Schöpfers, der unabhängig von äußeren Einflüssen sich ganz in Leben und Werk selbst ausspricht. „Er war ein Götterkind“ soll StG gesagt haben, als ihm Stein das vollendete Buch übergab. Darin wird weniger ein wissenschaftlicher Forschungsgesiehe u. a. Richard Hoppe-Sailer, Simmels Begriff der ,Landschaft‘ als Bildbegriff, in: Vermessen. Landschaft und Ungegenständlichkeit, hrsg. v. Werner Busch u. Oliver Jehle, Zürich, Berlin 2007, S. 131–142; Annette Wauschkuhn, Georg Simmels Rembrandt-Bild. Ein lebensphilosophischer Beitrag zur Rembrandtrezeption im 20. Jahrhundert, Worms 2002; Alois Kölbl, Das Leben der Form. Georg Simmels kunstphilosophischer Versuch über Rembrandt, Wien u. a. 1998; Jain Elenor, Das Rembrandt-Bild bei Georg Simmel, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 33/1988, S. 259–269; Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende. Georg Simmel, hrsg. v. Hannes Böhringer u. Karlfried Gründer, Frankfurt/M. 1976. 4 Wilhelm Stein, Raffael, Berlin 1923. Zur Analyse dieses Werks im Kontext der Gestaltmonographien des George-Kreises siehe Osterkamp, Wilhelm Stein; ders., Art History and Humanist Tradition in the George Circle, in: Comparative Criticism 23/2001, S. 211–230.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

genstand ausgebreitet, in dem sich Stein bestens auskannte, sondern eine esoterische Geheimlehre verhüllt in der Lebensgeschichte und Gestaltwerdung einer historischen Künstlerfigur. Raffaels Leben und der sich schon im 16. Jahrhundert herausbildende Raffael-Kult, der namentlich im 19. Jahrhundert zu einem gesamteuropäischen Phänomen geworden war, lieferten dazu die Topik: Der engelsgleiche Raffael, der mit Sanftmut, Bescheidenheit und guten Sitten begnadet war, schuf Werke von großer Anmut und göttlicher Beseeltheit. Raffael war zum Exponenten einer Kunst geworden, die höchste Schönheit mit einem hohen Ethos verband. Dagegen wurde der Hedonist und Erotiker Raffael, der, wovon schon Vasari berichtet, Frauen liebte und sich mit diesen umgab, in der Legende vom Künstlerheiligen Raffael ausgeblendet. Auch Wilhelm Stein steht in der Tradition dieser Rezeptionsgeschichte des jugendlichen Raffael, wie ihn die kunsthistoriographische Topik der Romantik herausgestellt hatte. Dass es auch ihm wesentlich um eine Heiligenlegende, um die Erzählung vom Eintritt des Göttlichen in die Welt des Profanen ging, verdeutlicht schon die Tatsache, dass sein Raffael wesentlich Text, also ,heilige Schrift‘, ist und ohne Abbildungen auskommt. Steins Buch ist kein kunsthistorischer Forschungsbeitrag, auch kein Bildband, sondern eine bilderlose Hagiographie des Götterknaben Raffael. Mit dem Gegenstand des Buches distanzierte sich Stein darüber hinaus deutlich von den Geschmacksvorlieben der Zeit, hatte doch namentlich die Generation der Expressionisten sich vom Kanon des deutschen Idealismus gelöst und dem dunklen und schwierigen Genie des Michelangelo unter den Renaissancekünstlern den Vorzug gegeben.5 Kaum ein klassischer Künstler war von der Moderne so sehr mit Vergessen gestraft worden wie Raffael. Im Fach, dem Stein ja als wissenschaftlicher Assistent der Berliner Museen, später als Professor in Bern durchaus zugehörig war, blieb die Monographie daher auch komplett folgenlos, ja sie erlangte noch nicht einmal den Status einer in den Fußnoten anstandshalber mitzitierten Fachmeinung. Die in Steins Korrespondenz überlieferten Reaktionen der Fachleute – von Heinrich Wölfflin, Adolph Goldschmidt, Max J. Friedländer, Wilhelm von Bode, Heinrich Bodmer, Friedrich Rintelen – blieben reserviert bis kritisch.6 In fachlichen Rezensionen von Oskar Fischel, Max Osborn und Otto Benesch wurde gegen das Buch der für die ,Geistbücher‘ des Kreises übliche Vorwurf erhoben, nicht der Sphäre der Wissenschaft, sondern derjenigen der Kunst anzugehören. Dabei sei Stein, wie Otto Benesch schreibt, noch unter dem angestrebten Niveau geblieben: „Es hat das Federkleid von Georges hoher Dichtersprache erborgt und entweiht es, indem es die Armut und Inhaltslosigkeit des eigenen Gedankenkreises vergebens darin zu verhüllen sucht.“7 Abgesehen von Steins Raffael lassen sich wenige Spuren von StGs Wissenschaftsverständnis in kunsthistorischen Arbeiten finden. Die Kunsthistoriker aus dem Kreis neigten in ihren wissenschaftlichen Arbeiten zum konventionellen methodischen Vorgehen, sodass die Gestaltmonographie in der Kunstwissenschaft der George-Schüler kein Äquivalent fand. Auch Wilhelm Steins im Berliner Verlag Julius Bard erschie5 Vgl. Joseph Imorde, Michelangelo Deutsch!, Berlin 2009, bes. S. 114–118, Kap.: „Raffael versus Michelangelo“; ders., Antiklassik. Deutsche Michelangelo-Identifikation, in: Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne, hrsg. v. Joseph Imorde u. Jan Pieper, Tübingen 2008, S. 81–99. 6 Nachweise bei Osterkamp, Wilhelm Stein, S. 225f. 7 Otto Benesch, Ein neues Raffaelbuch, in: Österreichische Rundschau 19/1923, S. 849–857, hier: 857. Nachweise weiterer Rezensionen bei Stettler, Wilhelm Stein, S. I–XXIX, hier: XII.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Kunstwissenschaft

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nenes Holbein-Buch von 1929 mag man kaum in diese Richtung deuten. Möglicherweise empfing Stein zu diesem Werk eine Anregung von StG, der Holbein schätzte.8 Im Sinne der alten ,Italia und Germania‘-Thematik kann im Holbein durchaus ein nordisches Pendant zum Südländer Raffael gesehen werden, was wiederum nahelegt, dass nicht wissenschaftliche Notwendigkeit, sondern normative Setzung die Auswahl des Gegenstandes bestimmt haben mag. Schon die Romantik sah in Holbein den eigentlichen nordischen Gegenspieler Raffaels, seine Darmstädter Madonna (resp. ihre in Dresden befindliche und für das Original gehaltene Kopie) wurde zum nordischen Gegenbild der Sixtinischen Madonna verklärt.9 In Steins Monographie bestimmt wieder der Verlauf der Biographie die Argumentation, doch fehlt in dieser mit 135 Abbildungen illustrierten Lebens- und Werkschau der sakralisierende Legendenton des Raffael. Ausgebreitet wird das Leben des nüchternen Porträtisten und Fassadenmalers Holbein, eines gediegenen Handwerkers aus dem spätmittelalterlichen Augsburg, der in Basel und den Niederlanden mit den Humanisten verkehrte und zuletzt am englischen Königshof arbeitete. Stein macht im Gegensatz zum immanenten Erklärungs- und Darstellungsmodus der Gestaltmonographie auch äußere biographische Gründe und räumliche Veränderungen für die Entwicklung des Künstlers verantwortlich. Doch ist auch Holbein ein Künstler der ,Gestalt‘, wie ein Passus der Einleitung über den Charakter seiner Porträts herausstellt: „Nicht eine Ansicht – sei sie auch noch so persönlich und pittoresk – bestimmt den holbeinischen Bildniseindruck, vielmehr die Gesamthaltung des Menschen, das heißt also eine Besammlung verschiedener Ansichten zum geschlossenen Bilde.“10 Holbein gehörte unter den frühneuzeitlichen Künstlern zum Kanon des Kreises, was mit der ,Wahrheit‘ seiner Bildnisse, ihrem hohen mimetischen Anspruch und auch der Tatsache in Zusammenhang stehen mag, dass Holbein vornehmlich ein Meister des Männerporträts war. Holbeins Kunst wurde, so auch von Stein, mit der Schöpfung eines neuen, nachmittelalterlichen und wirklichkeitsverhafteten Menschenbildes bei den Deutschen identifiziert.11 Holbeins hohe Naturnähe, ja die greifbare Realität der dargestellten Personen machte den Künstler auch für die Neue Sachlichkeit interessant, und kaum zufällig erschien Steins Buch am Ende der 1920er-Jahre, als die historische Wiederentdeckung Holbeins auch mit den ästhetischen Prämissen der eigenen Zeit in Einklang stand. Die neusachliche Nähe zum Naturvorbild im Bildnis kennzeichnet auch die plastische Bildnisproduktion des Kreises in dieser Zeit.12 Erstaunlicherweise werden diese Zusammenhänge – George-Kreis und Neue Sachlichkeit – nicht in dem Buch selbst, aber durch den Paratext auf dem als Werbemaßnahme zu verstehenden Schutzumschlag hervorgehoben: Dem Holbeinbuch Wilhelm Steins, der dem Kreis der Blätter für die Kunst angehört, darf man denselben hohen Rang anweisen, der den historischen und literaturgeschichtlichen Werken des Kreises von allen Maßgebenden zugesprochen wird. Wesen und Werk des Mannes,

8 Vgl. II, 2.2.1. 9 Vgl. dazu u. a. Till Borchert, Hans Holbein and the Literary Art Criticism of the German Romantics, in: Hans Holbein. Paintings, Prints, and Reception, hrsg. v. Mark W. Roskill u. John Oliver Hand, New Haven 2001, S. 187–209. 10 Stein, Holbein, S. 10. 11 Vgl. ebd., S. 11. 12 Vgl. II, 2.3.3.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

den Stefan George ,unsrer ganzen schönheit höchste zinne, Holbein den einzigen‘ nennt, wird in ihm von Grund auf erfaßt und neuem Erleben dargeboten. Als Vorbild wird Holbein in unsere Zeit gestellt, die allem Faustischen und Romantischen abgekehrt, die neue Sachlichkeit als ihren Wahlspruch verkündet.13

Dass mit dem Namen StGs auch für ein kunstwissenschaftliches Buch geworben werden konnte, macht zumindest deutlich, wie weit die Wissenschaftsreform und -politik aus dem George-Kreis in der öffentlichen Wahrnehmung das Bild einer modernen und ganzheitlichen Geisteswissenschaft geformt hatte. Einer nicht überprüfbaren Überlieferung zufolge hätte es StG auch gerne gesehen, wenn ihm Stein das Buch für die „Werke der Wissenschaft aus dem Kreis der Blätter für die Kunst“ angeboten hätte. Für den Holbein fiel die Rezeption in der Fachwelt ähnlich ungünstig aus wie für den Raffael. Der Basler Holbein-Forscher Heinrich Alfred Schmid, der sich 1892 über den Künstler habilitiert hatte, grenzt Steins Buch mit scharfen Worten aus dem Fachdiskurs aus und wird grundsätzlich: „Wenn unsere Wissenschaft trotzdem noch vor der Öffentlichkeit den Namen einer Wissenschaft beanspruchen will, muß sie jedenfalls Leistungen wie die von Stein ablehnen.“14 Schmids Meinung musste als Autorität gelten, da der Burckhardt-Schüler, der seit 1919 Professor in Basel und zugleich Leiter der Öffentlichen Kunstsammlungen war, in der sich Hauptwerke des Malers befinden, namentlich zum Frühwerk grundlegende stilgeschichtliche und maltechnische Untersuchungen vorgelegt hatte. 6.7.1.2. Apologet der Konservativen Moderne: Ludwig Thormaehlen (1889–1956) Auch von dem zweiten Kunsthistoriker des Kreises, Ludwig Thormaehlen, der Stein erst zu StG geführt hatte, sind kaum wissenschaftliche Impulse ausgegangen.15 Thormaehlen hatte 1913 an der Universität Freiburg im Breisgau bei Wilhelm Vöge eine Dissertation zur mittelalterlichen Architekturgeschichte verfasst, danach aber keine genuin wissenschaftliche Abhandlung mehr publiziert.16 War Thormaehlen als Doktorand durchaus noch in der akademischen Kunstgeschichte integriert und lernte wichtige Repräsentanten des Faches wie Georg Dehio, Paul Clemen, Friedrich Winkler, Kurt Steinbart, Theodor Hetzer, Friedrich Antal, Kurt Badt, Walter Friedländer und Panofsky als Lehrende und Kommilitonen kennen, machte auch zusammen mit Richard Hamann und Hans Jantzen eine kunsthistorische Exkursion nach Frankreich (LT, 62–65), so hat er mit der Entscheidung für den Museumsdienst und das eigene Künstlertum die aktuellen methodischen und fachinternen Debatten nicht mehr mitgeprägt. Seine Bedeutung für das Fach liegt eher in seiner Rolle als Kurator an der Berliner Nationalgalerie, wo er sich weniger mit alter als mit zeitgenössischer Kunst auseinandersetzte. Ab 1914 arbeitete Thormaehlen zunächst als wissenschaftlicher 13 Anonymer Text auf der Vorderseite des Schutzumschlags der Erstausgabe von 1929. 14 Heinrich Alfred Schmid, Holbein von Wilh. Stein, in: Belvedere 9/1930, 10, S. 118–123. 15 Vgl. Blume, Im Bannkreis; Doris Schuhmacher, Ludwig Thormaehlen – Bildhauer und Kunsthistoriker zwischen George-Kreis und Brücke-Künstlern, in: „Ihre Bindung beruht auf gegenseitiger Wertschätzung“. 50 Jahre Arbeitsgemeinschaft bildender Künstler am Mittelrhein, Bonn 1999, S. 29–55. 16 Ludwig Thormaehlen, Der Ostchor des Trierer Doms. Ein Kapitel aus der Architekturgeschichte der ehemaligen Kirchenprovinz Trier im 12. Jahrhundert, Phil. Diss., Berlin 1914.

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Hilfsarbeiter, dann ab 1925 als Kustos an der Berliner Nationalgalerie und übte sich nebenbei als autodidaktischer Bildhauer. Bis 1933 war er die rechte Hand Ludwig Justis und prägte die zeitgenössische Abteilung der Nationalgalerie im Berliner Kronprinzen-Palais entscheidend, auch wenn er sich bis 1918 um die zeitgenössische Kunst kaum gekümmert hatte. Abgesehen von seinem rigiden Antisemitismus, wird sein Engagement für die Moderne durchaus zwiespältig bewertet. Thormaehlen hatte sehr klare Vorstellungen von der Gegenwartskunst, vertrat aber eher die neusachlichkonservative Richtung und lehnte den Expressionismus ab. Er ließ nur wenige Künstler gelten, so etwa Erich Heckel, den er einer festeren Formenwelt zuzuführen gedachte.17 Über seine Auffassungen von moderner Kunst hat er in Museumsführern und Ausstellungskatalogen zu Christian Rohlfs, Lyonel Feininger, Otto Mueller und Erich Heckel Zeugnis abgelegt. So begrüßte er anlässlich einer Ausstellung moderner italienischer Kunst im Kronprinzen-Palais die „Gewinnung klassischer Formen und traditioneller Gehalte aus den bizarren Versuchen des Futurismus, Kubismus und Dadaismo metafisico.“18 Es verwundert nicht, dass Thormaehlen seit etwa 1931 in hohem Maße von Hitler und dem Nationalsozialismus affiziert war und sich vom ,Dritten Reich‘ in ästhetischer Hinsicht die Einlösung seiner Vorstellungen einer neuen deutschen Kunst erhoffte, die sehr wohl auf den Errungenschaften nordischer Vertreter der Moderne wie Barlach, Heckel und Nolde beruhen sollte. Da er die völkische Option von Runenkunst ablehnte, war er froh, dass die Nationalsozialisten den Weg des heroischen Menschenbildes im Sinne einer an der Antike geschulten Körperlichkeit einschlugen.19 Die 1932 von ihm in Oslo kuratierte Ausstellung Neuere Deutsche Kunst war diesen ästhetischen Grundsätzen verpflichtet. Er verachtete den kleinbürgerlichen Geschmack von Nazi-Bonzen wie Rosenberg, Haberstock und Streicher und hielt an dem von StG geprägten heroischen Menschenbild fest. In einem unpublizierten Vortrag beschrieb er Hitler und StG als Visionäre eines neuen Gesamtmenschentums, das der Formzersplitterung der Expressionisten entgegenstehe.20 6.7.1.3. Märchenstil: Gertrud Kantorowicz (1876–1945) Die frühen kunsthistorischen Arbeiten von Gertrud Kantorowicz, die um 1900 an der Berliner Universität Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Philosophie studierte und deren Gedichtzyklus Einer Toten … StG in die vierte Folge der BfdK von 1899 aufnahm, sind hinsichtlich der Gegenstandswahl und des methodischen Vorgehens weitgehend den fachlichen Konventionen der Zeit geschuldet.21 So ist ihre 1903 17 Vgl. Blume, Im Bannkreis, S. 51; Janina Dahlmanns, Die „innere Gemeinschaft“ – Erich Heckel und der Kreis von Stefan George, in: Magdalena M. Moeller (Hrsg.), Erich Heckel. Aufbruch und Tradition. Eine Retrospektive, Ausstellungskatalog Schleswig / Berlin, München, Berlin 2010, S. 132–141. 18 Ludwig Thormaehlen, Neue italienische Malerei im Kronprinzen-Palais, in: Museum der Gegenwart 2/1933, S. 140. 19 Vgl. Blume, Im Bannkreis, S. 55. 20 Ludwig Thormaehlen, Stefan George und die Kunst, Vortrag in der Deutschen Gesandtschaft in Oslo, Typoskript, [Ende 1931], StGA. 21 Zu Leben, wissenschaftlichem Werk und ihrem Verhältnis zu StG siehe Barbara Paul, Gertrud Kantorowicz (1876–1945). Kunstgeschichte als Lebensentwurf, in: Hahn (Hrsg.), Frauen in den Kulturwissenschaften, S. 96–109; Philipp Redl, Vorwort, in: Gertrud Kantorowicz, Lyrik. Kri-

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an der Universität Zürich abgeschlossene Dissertation eine stilkritische Untersuchung zur venezianischen Renaissancemalerei und hat das heute vornehmlich Vittore Carpaccio zugeschriebene Gemälde Christus in Emmaus in San Salvatore zum Gegenstand.22 Kantorowicz’ Zuschreibung des Bildes an Giorgione konnte sich nicht durchsetzen. Eine Aufnahme kunsthistorischer Berufstätigkeit in Museum oder Universität blieb ihr als Frau versagt, ihre finanzielle Unabhängigkeit als Posener FabrikantenTochter machte diese allerdings auch nicht zwingend notwendig. Eine weitere wissenschaftliche Arbeit widmete sie 1910 der italienischen Kunst der Frührenaissance, nämlich der bis dato relativ unerforscht gebliebenen sienesischen Malerei des 15. Jahrhunderts.23 Deren stilistische Phänomene, die Verbindung harter Realismen und eines neuartigen Empirismus mit einem traditionellen Hang zur Transzendenz der Erscheinungen, wie sie im Werk von Giovanni di Paolo und Sassetta greifbar wird, versuchte sie mit dem ausführlich definierten Begriff des ,Märchenstils‘ zu fassen, der sich jedoch nicht im Fach etablieren konnte. Methodisch lässt sich bei der Definition des ,Märchenstils‘ eine Verlagerung von der stilkritischen zur phänomenologischen Betrachtung erkennen. Ungewöhnlich ist im zeithistorischen Kontext einer terminologisch um Exaktheit ringenden Kunstwissenschaft das Ausweichen auf den poetischen Gattungsbegriff des Märchens, den Kantorowicz metaphorisch verwendet. Klingt in der Übertragung des Märchen-Begriffs auf stilistische Phänomene sakraler Malerei des Spätmittelalters vielleicht sogar jene ästhetizistische Traumwelt an, die Kantorowicz mit StG verbindet? Der Aufsatz, dessen Publikationsort ein ausschließlich von Frauen geschriebener Sammelband mit kunsthistorischen Arbeiten zur italienischen Kunst war, fand nicht die angemessene Würdigung im Fach, sondern wurde nahezu ausschließlich im Umfeld der Frauenbewegung rezipiert. In einer erst postum 1961 veröffentlichten Arbeit, der ihre Bemühungen seit den 1920er-Jahren bis zu Verschleppung und Tod im KZ Theresienstadt galten, hat sie versucht, das Wesen der griechischen Kunst zu ergründen.24 Diese spiegele in ihrer Vollkommenheit das ,ganze Leben‘, ihr Klassizismus sei eine Steigerungsform des empirischen Lebens und der Wirklichkeit. Ja, die griechische Kunst sei Ausdruck eines „schönen Lebens“ gewesen und augenfälliger Beweis, „dass es ein heroisches Dasein gegeben hat“.25 Hier wird deutlich, dass ihre Auffassung von der Kunst, vermutlich unter dem Einfluss Simmels, einerseits stark lebensphilosophisch geprägt war, ja dass sie sich von der Beschäftigung mit der griechischen Antike eine Vorbildfunktion für das Leben in der Gegenwart erhoffte. Andererseits konvergiert ihre Auffassung von der griechischen Klassik mit dem neuklassischen Griechen-Kult und dem Postulat des unbedingten Lebensbezuges von Dichtung und Kunst, wie es im George-Kreis ins moderne Leben übersetzt wurde. tische Ausgabe, hrsg. v. Philipp Redl, Heidelberg 2010, S. 9–33; Michael Philipp, „Was ist noch, wenn Er nicht lenkt“. Gertrud Kantorowicz und Stefan George, in: Oelmann/Raulff (Hrsg.), Frauen um Stefan George, S. 118–141. 22 Gertrud Kantorowicz, Über den Meister des Emmausbildes in San Salvatore zu Venedig, Phil. Diss., Neuruppin 1904. 23 Dies., Über den Märchenstil der Malerei und die Sienesische Kunst des Quattrocento, in: dies./Edith Landmann-Kalischer/Gertrud Kühl-Claassen, Beiträge zur Ästhetik und Kunstgeschichte, Berlin 1910, S. 137–254. 24 Gertrud Kantorowicz, Vom Wesen der griechischen Kunst, hrsg. v. Michael Landmann u. Lambert Schneider, Heidelberg, Darmstadt 1961. 25 Ebd., S. 91.

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6.7.1.4. „komm in den totgesagten park“ – Marie Luise Gothein (1863–1931) Nur in entfernter Weise ist die Kunsthistorikerin Marie Luise Gothein zum George-Kreis zu rechnen, auch wenn sie als Mutter von Percy Gothein und von drei weiteren Söhnen sowie als Gattin des Kulturhistorikers Eberhard Gothein in Heidelberg seit 1910 Friedrich Gundolf und auch StG zeitweise nahestand.26 Als Literaturhistorikerin und Übersetzerin, die sich in der englischen Dichtung bestens auskannte, hatte sie sich wissenschaftliche Anerkennung erworben und galt in Heidelberg neben Marianne Weber als geistige Instanz und geschätzte Gastgeberin. Kunsthistorisch hatte sie sich als Autodidaktin und durch ausgedehnte Studienreisen zur Expertin für Gartenkunst ausgebildet, da ihr als Frau im ausgehenden 19. Jahrhundert noch ein Universitätsstudium versagt geblieben war. Enge persönliche und fachliche Verbindungen unterhielt sie zu dem Kunsthistoriker Paul Clemen, dem Bonner Nachfolger von Carl Justi, und zu dem Archäologen Georg Karo. 1914 veröffentlichte sie ihre Geschichte der Gartenkunst im Verlag Eugen Diederichs, die auf ihre Weise dem ,schönen Leben‘, nämlich der vom Menschen gestalteten Natur, gewidmet ist. Das Buch ist bis heute ein Standardwerk geblieben, das mehrfach wiederaufgelegt und übersetzt wurde. Theodor Heuss, Max Dvora´k, Georg Luka´cs, Paul Clemen u. a. haben dem Buch positive Rezensionen gewidmet.27 Dem Fach Kunstgeschichte hatte Marie Luise Gothein damit einen eher peripheren Gegenstand erschlossen, dessen Erforschung erst um 1900 in Gang gekommen war.28 Möglich, dass hier die ästhetischen Vorlieben der englischen Präraffaeliten und des Fin de sie`cle für Parklandschaften und eine gleichsam kultivierte Natur, wie sie sich auch in StGs Frühwerk finden, auf die Wahl des Gegenstandes eingewirkt haben. In ihrem Buch breitet sie die Analyse aber den Standards des Faches gemäß streng sachlich und entwicklungsgeschichtlich von den frühen Hochkulturen bis in die Gegenwart aus, wobei Renaissance und Barock einen großen Raum einnehmen. Kulturgeschichte wird hier zu einer Art Lebenswissenschaft, die im Gegenstand des Gartens kulminiert: Denn wenn in der Kunst überhaupt, so zeigt sich besonders auf unserm Gebiete, wie künstlerisches und gesellschaftliches Leben sich aufs innigste durchdringen. Die Kunstgeschichte selber wird hier zu einem Stück Geschichte der Gesellschaft. Alle großen geistigen Strömungen haben auch irgendwie an das Schicksal des Gartens gerührt, und die bedeutendsten Gestalten der Weltgeschichte erscheinen als seine Pfleger und Förderer oft in ganz neuer Beleuchtung. Für das Verständnis der andern Künste aber, zumal der Villenbaukunst, dann aber auch der Skulptur in wichtigen Zeiten, ist der Garten bestimmend und bestimmt von größter Bedeutung.29

Als Friedrich Gundolf 1931 für Marie Luise Gothein die Laudatio anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Heidelberg hielt, hob er mit 26 Vgl. Göttler, Marie Luise Gothein; Maurer, Marie Luise Gothein. Biographisches Material zur Freundschaft mit Mitgliedern des Kreises in den Briefwechseln: Friedrich Gundolf, Briefe. Neue Folge, hrsg. v. Lothar Helbing u. Claus Victor Bock, Amsterdam 1965; Im Schaffen genießen. Der Briefwechsel der Kulturwissenschaftler Eberhard und Marie Luise Gothein (1883–1923), hrsg. v. Michael Maurer u. a., Köln u. a. 2006. 27 Nachweise bei Göttler, Marie Luise Gothein, S. 295. 28 Vgl. etwa Christoph Ranck, Geschichte der Gartenkunst, Leipzig 1909; August Grisebach, Der Garten. Eine Geschichte seiner künstlerischen Gestaltung, Leipzig 1910. 29 Gothein, Geschichte der Gartenkunst, Bd. 1, S. VI.

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einer bedenklichen Rollenzuweisung weiblichen Erkenntnisstrebens die „weibliche Lust – ja Neugier – am schönen Überfluß der Welt“ hervor, die er – die Geschlechtermetaphorik fortführend – mit „mannhafter Helle, Tatkraft, Werkfreude“ kontrastierte, die der Antrieb ihrer Forschungen gewesen seien.30 Geradezu verklärt erscheint hier der Blick auf das ,schöne Leben‘ und den elitären Ästhetizismus der Jahre vor 1914, dessen Frucht die Geschichte der Gartenkunst zweifellos genannt werden kann. Von Wilhelm Stein, dem Autor der einzigen kunsthistorischen Monographie aus dem Kreis der BfdK, bis zu Michael Stettler (1913–2003), dem bis ins 21. Jahrhundert letzten lebenden Kunstwissenschaftler, der StG noch persönlich gekannt hatte, sind die direkten Einflüsse des Dichters auf die akademische Kunstgeschichte also recht spärlich.31 Gerade im wissenschaftlichen Werk des ausgebildeten Architekten, Denkmalpflegers und Museumsleiters Michael Stettler, der in Bern und der Schweiz insgesamt ein außerordentliches Engagement für kulturelle Stiftungen (Abegg-Stiftung, Gottfried Keller-Stiftung, Schweizerischer Nationalfonds, Pro Helvetia) und Museen entfaltet hat, sind Spuren StGs kaum zu finden. Vereinzelte der Spätantike und der mittelalterlichen Architektur und Kunst gewidmete Arbeiten,32 auch die Erinnerungen an Heinrich Wölfflin – den StG 1913 in München besucht hatte –,33 lassen sich kaum als wissenschaftliche Umsetzung eines im George-Kreis gepflegten Kanons begreifen. Auch sind es nicht Methode und Inhalte, sondern im Fall Stettlers eher, wie es Adolf Heinrich Borbein für die Repräsentanten Georgeschen Geistes in der Klassischen Archäologie beschrieben hat,34 die Haltung, ein ungebrochenes Arbeitsethos, eine Neigung zur ganzheitlichen ,Schau‘ und die Verpflichtung gegenüber Kultur, Tradition, Bildung und Dichtung, welche das wissenschaftliche Werk und die Lebensführung im Sinne StGs bestimmt haben mögen. Georgesche Stimmung durchweht am ehesten 30 Universitätsbibliothek Heidelberg, zit. nach Maurer, Marie Luise Gothein, S. 195. Vgl. auch Edgar Salin, Marie Luise Gothein, in: Ruperto Carola 15/1963, S. 81–85, hier: 85. 31 Über Ludwig Thormaehlen kam ein weiterer Kunsthistoriker, Walther Greischel, sein Freund aus Magdeburger Tagen, in den Umkreis StGs. Greischel gab 1962 Thormaehlens Erinnerungen heraus und arbeitete jahrelang, stets in Verbindung mit Robert Boehringer, an einem Verzeichnis der George-Plastiken des Kreises (1976 hrsg. v. Walther Greischel u. Michael Stettler). Seine wenigen eigenen kunsthistorischen Publikationen sind nicht von StG beeinflusst. Vgl. ¤ Walther Greischel. 32 Vgl. etwa Michael Stettler, St. Gereon in Köln und der sogenannte Tempel der Minerva Medica in Rom, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 4/1957, S. 123–128; ders., Vom römischen zum christlichen Rundbau. Eine raumgeschichtliche Skizze, in: Museum Helveticum 8/1951, 2/3, 260–270; ders., S. Costanza. Beispiel des Übergangs, in: Kunstchronik 4/1951, S. 110–111; ders., Zur Rekonstruktion von S. Costanza, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Römische Abteilung 58/1943, S. 76–86; ders., Das Baptisterium zu Nocera superiore, in: Rivista di archaeologia cristiana 16/1940, S. 62. Stettlers Arbeit zu dem Bau wurde 2007 in italienischer Sprache wiederaufgelegt: Ders., Il battistero di Nocera Superiore, in: Il battistero di Nocera Superiore. Un capolavoro dell’architettura paleocristiana in Campania, hrsg. v. Umberto Pappalardo, Neapel 2007, S. 19–69. 33 Michael Stettler, Über Heinrich Wölfflin, Bern 1970; ders., Besuch im Sihlgarten. Erinnerung an Heinrich Wölfflin, in: Robert Boehringer. Eine Freundesgabe, hrsg. v. Erich Boehringer u. Wilhelm Hoffmann, Tübingen 1957, S. 655–664. Vgl. zur Begegnung Stettlers mit berühmten Kunsthistorikern und Archäologen wie Wölfflin, Berenson und Ludwig Curtius auch ders., Rat der Alten. Begegnungen und Besuche, Bern 1962. 34 Vgl. Adolf Heinrich Borbein, Zur Wirkung Stefan Georges in der Klassischen Archäologie, in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 239–257.

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einen publizistischen Spätling dieses schweizerischen Kreis-Ablegers, nämlich die 1983 unter dem Titel Von Angesicht zu Angesicht erschienene Festschrift für Stettler, in der kunsthistorische und archäologische Studien zum Porträt, u. a. auch zur Plastik des George-Kreises, versammelt sind.35 Bezeichnenderweise wurde mit dieser als Freundesgabe bezeichneten Reminiszenz an von StG inspirierte ,Gesichtlichkeit‘ und Gesichtsprosa zugleich ein Forschungsgegenstand, nämlich die Gattung Porträt, aufgenommen, der im Fach Kunstgeschichte – im Gegensatz zu Klassischen Archäologie – zuvor eher marginal behandelt worden war.36 Schon mit Robert Boehringers Genius des Abendlandes (Düsseldorf 1970) war dem Gesichts-Kult um die Heroen des Geistes aus Kreisperspektive ein Denkmal gesetzt worden, das jedoch keineswegs den Anspruch erhob, ein Beitrag zur Erforschung der Gattung Porträt zu sein. Das dort in Fotografien von plastischen Bildnissen ausgebreitete Pantheon der großen Männer von Homer bis StG – über Sophokles, Platon, Alexander, Caesar, Vergil, Dante, Michelangelo, Shakespeare, Napoleon und Goethe – war eine späte Bestätigung und Neuauflage des Kanons des George-Kreises.37 6.7.2. Historische Bildforschung und George-Kreis: Friedrich Gundolf (1880–1931) und Ernst Kantorowicz (1895–1963) Bemerkenswert ist, dass sich StGs Wirkung auf die dem Bild zugewandten Wissenschaften, die Kunstgeschichte, die Klassische Archäologie, die Geschichtswissenschaften und partiell die Germanistik, auch auf andere Weise nachzeichnen lässt. Zu erwähnen ist hier die Anziehung, die ein Wissenschaftler wie Friedrich Gundolf auf die kritischen Bildforscher der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in Hamburg ausgeübt hat.38 Das Erstaunen aufseiten der ,Warburgianer‘, hier mit dem herausragenden Repräsentanten StGs in den Geisteswissenschaften in einen für beide Seiten produktiven Austausch treten zu können, lässt sich den Quellen entnehmen. Gundolf, der neben Germanistik, Anglistik und Nationalökonomie auch Kunstgeschichte studiert und zwischen 1900 und 1903 zu den begeisterten Hörern Heinrich Wölfflins an der Berliner Universität gehört hatte,39 war mit eher konventionell arbeitenden Kunsthistorikern wie August Grisebach, Paul Clemen und Wilhelm Pinder 35 Deuchler (Hrsg.), Von Angesicht zu Angesicht. 36 Erst 1985 erschien Gottfried Boehms bahnbrechende Habilitationsschrift zu der vernachlässigten Gattung, vgl. Gottfried Boehm, Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance, München 1985. Vgl. aber auch Harald Keller, Das Nachleben des antiken Bildnisses von der Karolingerzeit bis zur Gegenwart, Freiburg/Br. 1970. 37 Vgl. dazu Raulff 2009, S. 359. 38 Vgl. dazu Ulrich Raulff, Der Bildungshistoriker Friedrich Gundolf, in: Friedrich Gundolf, Anfänge deutscher Geschichtsschreibung von Tschudi bis Winckelmann, aufgrund nachgelassener Schriften Friedrich Gundolfs bearb. u. hrsg. v. Edgar Wind, Neuausg. hrsg. v. Ulrich Raulff, Frankfurt/M. 1993, S. 115–154; Michael Thimann, Caesars Schatten. Die Bibliothek von Friedrich Gundolf. Rekonstruktion und Wissenschaftsgeschichte, Heidelberg 2003, bes. S. 104–167; ders., Vorbilder und Nachbilder. Friedrich Gundolf (1880–1931), in: Probst/Klenner (Hrsg.), Ideengeschichte der Bildwissenschaft, S. 75–96. 39 Vgl. dazu Ernst Osterkamp, Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis, in: König/Lämmert (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, S. 177–198.

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persönlich bekannt. Doch erst mit den Forschern der Bibliothek Warburg ergab sich auch ein Austausch auf wissenschaftlicher Ebene. Gundolf, der in seinem CaesarBuch von 1924 die Bildwerdung und den Bildverlust der ,Gestalt‘ Julius Caesars in der Gedächtnisgeschichte beschrieben und damit ein Thema des ,Nachlebens der Antike‘ aufgegriffen hatte, dem die Forschungen der Bibliothek Warburg verpflichtet waren, wurde 1929 von Aby Warburg nach Hamburg eingeladen. Die persönliche Begegnung kam jedoch nicht mehr zustande, weil Warburg am 26. Oktober des Jahres verstarb. Schon seit 1916 hatte Gundolf mit dem Philosophen Ernst Cassirer korrespondiert; er befreundete sich zudem mit Raymond Klibansky, Fritz Saxl und Erwin Panofsky. Auch das ,Wunderkind der Kunsthistorie‘, den Michelangelo-Forscher Karl von Tolnay (Charles de Tolnay), der als eine der großen Hoffnungen des Faches galt, aber bereits 1933 zunächst nach Paris, dann in die USA emigrierte, lernte Gundolf 1929 in Hamburg kennen.40 Gundolfs Freundschaft mit Panofsky gründete zunächst auf persönlicher Sympathie. Der Kontakt intensivierte sich allerdings so weit, dass sich Gundolf 1929 federführend mit Alfred Weber und Karl Jaspers für die – gescheiterte – Berufung von Panofsky auf den verwaisten Lehrstuhl von Carl Neumann in Heidelberg einsetzte. Gundolfs Engagement mag seine Sensibilisierung für eine kulturwissenschaftlich und neuhumanistisch ausgerichtete Bildforschung belegen, wie sie ihm aus Hamburg bekannt geworden war. Möglicherweise wollte er sie fächerübergreifend an der Universität Heidelberg etablieren. Panofsky bemühte sich nämlich beim Ministerium erfolglos um eine Stärkung seines Faches und die Aufhebung der räumlichen Trennung von Altertumswissenschaftlern und Kunsthistorikern zugunsten der Zusammenführung in einem Institut nach Vorbild der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg: Heidelberg würde mit der auf diese Weise erreichten Vereinigung des Ägyptologischen, Archäologischen, Altphilologischen, Althistorischen und Kunstgeschichtlichen Institutes ein Arbeitsinstrument besitzen, das ihm eine in Deutschland schlechthin einzigartige Sonderstellung sichern und zweifellos einen fühlbaren Aufschwung der geisteswissenschaftlichen Studien ermöglichen würde.41 40 Vgl. F. Gundolf an E. von Kahler v. 6.11.1929 (Leo-Baeck-Institute New York, Nachl. Kahler): „In Hamburg wars schön und viel . . besonders haben wir uns mit Panofskys angefreundet, die wir leider leider nicht hierherbekommen . . er ist nicht nur ein erstaunlicher Gelehrter, sondern auch ein kindlich frischer und warmer Mensch. Warburg, der mich eingeladen hatte, war gerade gestorben, ich sah nur die Wittwe [sic!] und Kinder, und unter Saxls Führung die unheimliche Bibliothek. Auch Cassirer . . Singer . . Karl Tolnai, das Wunderkind der Kunsthistorie, ein höchst erfreuliches und bewundernswürdiges Individuum.“ Gundolf widmete Tolnay handschriftlich ein Exemplar seiner Gedichte (Berlin 1930): „Für Karl v. Tolnay herzlich von Friedrich Gundolf“ (München, Zisska & Schauer, Auktion 56, November 2010, Lot 1436). 41 Erwin Panofsky an Gustav Mittelstraß v. 3.8.1929 (Ministerium des Kultus und Unterrichts Karlsruhe), in: Erwin Panofsky. Korrespondenz 1910–1936, hrsg. v. Dieter Wuttke, Wiesbaden 2001, S. 315. Die Ereignisse um die gescheiterte Berufung nach Heidelberg sind dort (S. 314–349) umfassend von Dieter Wuttke kommentiert. Vgl. auch die jüngere Darstellung von Golo Maurer, August Grisebach (1881–1950). Kunsthistoriker in Deutschland. Mit einer Edition der Briefe Heinrich Wölfflins an Grisebach, Ruhpolding, Mainz 2007, S. 94–97. Grisebach, der sich mit Gundolf befreundete, gelangte gewissermaßen als ,vierte Wahl‘ auf den Heidelberger Lehrstuhl, nachdem nach Hans Jantzen und Panofsky auch Heinrich Wölfflin, um den sich Gundolf ebenfalls bemühte, den Ruf abgelehnt hatte. Siehe dazu Meinhold Lurz, Wölfflins geplante Professur in Heidelberg und seine Beziehungen zur Heidelberger Universität, in: Ruperto Carola 54/1975, S. 35–40.

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Es liegt nahe, dass Gundolf in Panofskys Pläne eingeweiht war. Panofsky hatte bereits seine ersten großen ikonologischen Arbeiten wie das zusammen mit Saxl 1923 verfasste Hauptwerk der Warburg-Schule, Dürers Melencolia I,42 vorgelegt und damit eine ganz andere Kunstgeschichte – nämlich eine stärker textbasierte Bedeutungsforschung – vorgeführt als denjenigen formalistischen Ansatz, den Gundolf bei dem verehrten Wölfflin kennengelernt hatte. Den Gedanken einer epochen- und fächerübergreifenden Rezeptionsgeschichte, welche das Medium Bild einschließt, hat Gundolf in seinem für die hier erörterte Fragestellung wohl wichtigsten Buch Caesar. Geschichte seines Ruhms von 1924 selbst am intensivsten genutzt. In drei Kapiteln verfolgt er die Überlieferung von der ,mythischen Gestalt‘ Caesars in der Antike über die Zauberwirkung seines ,magischen Namens‘ im Mittelalter bis zu seiner Überführung in eine ,geschichtliche Person‘ durch die sammelnde Arbeit der Humanisten und das Erwachen historischer Forschung. Doch liefert das Buch alles andere als eine kritische Rezeptionsgeschichte. ,Ruhm‘ ist für Gundolf ,mythische Bildwerdung‘: ,Ruhm‘ erzeugt ,Bilder‘ und neue Bilder erzeugen neue ,Kräfte‘, so und ähnlich formuliert Gundolf immer wieder. Sein Caesarbild entspricht ganz den Vorstellungen des George-Kreises, da Caesar eine ahistorische und statische Konzeption der absoluten Größe bleibt („der wahre Gebieter“, „der kolossalste Mensch“ etc.). Gundolfs Caesarbild ist Teil einer metapolitischen Heilslehre, die den historischen ,Täter‘ zum fernstrahlenden Urbild eines zukünftigen Heilsbringers werden lässt. Hier scheint das Bild des von einem Dichterseher und Herrscherweisen angeführten Staates auf, wie sich ihn der George-Kreis auf der Grundlage seiner Nietzsche- und Platon-Lektüre imaginiert hatte. Caesars Nachleben fasst Gundolf als eine Geschichte der Bildwerdung und des Bildverlustes auf. Bemerkenswert ist, und das setzt ihn in einen deutlichen Kontrast zur zeitgenössischen Historikerzunft, dass er den ,Ruhm‘ oder das ,Bild‘ Caesars, also die immateriellen Vorstellungsbilder, Legenden, Mythen und Stilisierungen, die sich als Folgen der Gedächtnisarbeit an die historische Figur angereichert haben, als integrativen Teil der historischen Wahrheit versteht. Gundolf hat seinen Gegenstand neben dem legendären Nachleben auch auf die bildliche Überlieferung ausgeweitet, die namentlich in der italienischen Renaissance neue Caesarbilder entstehen ließ. Bedingungslos subjektive Bildbeschreibungen nutzt Gundolf hier zur Illustration seiner Thesen vom Nachruhm des Herrschers. Dabei verweigert er geradezu, wie im Falle von Michelangelos Brutus, die Diskussion der auf der Hand liegenden politischen Aspekte seiner Ikonographie, die in der Forschung oft und immer wieder diskutiert wurden.43 Gundolf entzieht das Bildwerk der Sphäre des Politischen, indem er ein allein subjektives Bekenntnis des Künstlers in ihm sieht. Politikferne wurde dem Zirkel ästhetischer Fundamentalisten, als welcher der George-Kreis wiederholt beschrieben wurde, immer wieder attestiert.44 Gundolfs Beschreibung der Brutus-Büste spiegelt diesen Ästhetizismus wider, indem sie das Bildwerk aus seinen historischen Bedeutungskontexten herauslöst und es zu einem im zeitlosen Raum geschöpften künstlerischen Selbst42 Erwin Panofsky/Fritz Saxl, Dürers ,Melencolia I‘. Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung, Leipzig, Berlin 1923. 43 Vgl. dazu u. a. Horst Bredekamp, Repräsentation und Bildmagie der Renaissance als Formproblem, München 1995; Alois Riklin, Gianotti, Michelangelo und der Tyrannenmord, Bern 1996. 44 Vgl. Breuer 1995.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

bekenntnis werden lässt. An derartigen Deutungen offenbart sich die Ferne, die Gundolfs Vorgehen von Arbeiten der kritischen Bildforschung, wie sie in den Vorträgen der Bibliothek Warburg in den 1920er-Jahren erschienen, bei aller sachlichen Nähe doch trennt. Möglich, dass manche Projekte, die dem Bild und dem ,Nachleben der Antike‘ eine höhere Aufmerksamkeit schenken sollten, aufgrund von Gundolfs frühem Tod 1931 unausgeführt blieben. Die späten Korrespondenzen, die Gundolf mit dem Forscherkreis der Bibliothek Warburg führte, weisen auf die Existenz solcher Pläne zumindest hin. Sein Begriff des ,Nachlebens der Antike‘ blieb jedoch ein grundsätzlich anderer. Er ist gekennzeichnet von einer weitest möglichen Enthistorisierung des Gegenstands und der ahistorischen Konzeption eines Urbildes, das von einem fernen Zentrum her aus- und nachstrahlt. Seine Brechungen in künstlerischen und literarischen Spiegelungen lassen sich beschreiben, doch wird die metaphysische Größe des Urbildes dadurch nicht berührt oder gar historisch und wissenschaftlich relativiert. Gundolf hat die Kulturwissenschaft als Erinnerungsgeschichte ganz konkret selbst betrieben, indem er eine Bibliothek und Sammlung zum Nachleben Julius Caesars von der Antike bis in die Gegenwart aufgebaut hat, die Bücher des 15. bis 19. Jahrhunderts sowie andere Text- und Bildzeugnisse enthielt. Sie wurde, vermittelt durch Klibansky, zusammen mit der Bibliothek Warburg im Dezember 1933 nach London verschifft und befand sich als Leihgabe von Elisabeth Gundolf bis in die 1940er-Jahre im Warburg Institute. Doch wurde das Nachleben Caesars nach Abzug der Leihgabe von Gundolfs Bibliothek nicht als Forschungsthema weitergeführt, obgleich sich Fritz Saxl dafür interessiert hatte. Lohnender ist es, die Einwirkung StGs auf die Kunst- und Bildwissenschaft an einer anderen zentralen Figur des Kreises, an Ernst H. Kantorowicz, zu beschreiben. StG mag nämlich Anstoß zu den Lebensthemen – Dante, die politische Theologie des mittelalterlichen Kaisertums, die Epiphanie des Herrschers, die Souveränität des Künstlers etc. – im wissenschaftlichen Werk des Historikers gegeben haben, mit dem der Dichter schon in den 1920er-Jahren anlässlich der Abfassung des erfolgreichsten historischen Werks aus dem Kreis der BfdK, der Monographie über den Staufer Kaiser Friedrich der Zweite (1927), in engster Weise zusammengearbeitet hatte.45 Bis weit in Emigration und Exil hinein hat Ulrich Raulff die Wirkungsgeschichte StGs als ein intellektuelles Nachleben rekonstruiert.46 Kantorowicz hat in seinen späteren historischen Werken auf intensive Weise Bildzeugnisse – Handschriften, Münzen, Grabmäler etc. – einbezogen und Motivwanderungen und Kontinuitäten der Symbolsprache zwischen Antike und christlichem Mittelalter – insbesondere Apollo (Sol) und Christus – untersucht. In seinem amerikanischen Umfeld ist vor allem Erwin Panofsky als Anreger und Gesprächspartner für bildgeschichtliche Probleme zu nennen.47 Soll45 Vgl. Eckhart Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahr 1938 und zu seinem Jugendwerk ,Kaiser Friedrich der Zweite‘, Wiesbaden 1982. 46 Vgl. Raulff 2009. 47 Vgl. umfassend Barbara Picht, Erzwungener Ausweg. Hermann Broch, Erwin Panofsky und Ernst Kantorowicz im Princetoner Exil, Darmstadt 2008; Ulrich Raulff, Das Lächeln am Fuß der Seite. Noten zu einer Gelehrtenfreundschaft. Ernst Kantorowicz und Erwin Panofsky, in: BildGeschichte. Festschrift für Horst Bredekamp, hrsg. v. Philine Helas u. a., Berlin 2007, S. 183– 193.

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ten sich die wissenschaftlichen Themen, die Kantorowicz in den amerikanischen Jahren zu Monographien ausarbeitete, wirklich zumindest teilweise auf Anregungen aus dem George-Kreis und die politische Metaphorik vom ,Geheimen Deutschland‘ zurückführen lassen, so wäre hier ein zumindest indirekter Einfluss StGs auf die bildhistorische Forschung der Nachkriegszeit zu beschreiben.48 Denn Kantorowicz’ Hauptwerk The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology (Princeton 1957; 2. Aufl. 1966) hat, weit mehr als seine genuin ikonographischen Aufsätze zur politischen und religiösen Symbolsprache des Mittelalters, in der Kunstwissenschaft deutliche Spuren hinterlassen. In der historischen Mediävistik ist dem Buch dagegen mit viel größeren Vorbehalten begegnet worden. In ihm untersuchte Kantorowicz erstmals die englischen und französischen Königsgräber dezidiert auf ihre politisch-theologische Bedeutung hin. Für die Erforschung der politischen Ikonographie mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Denkmäler gab er hier entscheidende Anregungen. Namentlich die an der Verbildlichung und Metaphorik politischer ,Körper‘ interessierte neuere kunsthistorische Memoria- und Grabmalforschung ist ohne Kantorowicz’ Konstruktion von den beiden Körpern des Königs undenkbar. Sie ist geradezu fester methodischer Bestandteil von Untersuchungen zur politischen Ikonographie von Grabmälern geworden.49 Doch ist auch schon auf die von den Denkmälern selbst ausgehenden Schwierigkeiten hingewiesen worden, welche sich bei der formelhaften Übertragung von Kantorowicz’ Konzept der ,Zwei Körper des Königs‘, namentlich für den Typus des sogenannten ,Doppeldecker-Grabmals‘, ergeben.50 Es ist keineswegs eine ausgemachte Sache, dass bei Grabmälern, gerade von Adligen und Geistlichen, die eben keine souveränen Könige waren, die Darstellung von zwei Körpern (einem verwesenden und einem intakten) immer auf die Repräsentation eines 48 Vgl. Ulrich Raulff, Apollo unter den Deutschen. Ernst Kantorowicz und das ,Geheime Deutschland‘, in: „Verkannte brüder“? Stefan George und das deutsch-jüdische Bürgertum zwischen Jahrhundertwende und Emigration, hrsg. v. Gert Mattenklott u. a., Hildesheim u. a. 2001, S. 179–197. Diesen Ansatz, gerade in der Verbindung zum Forschungsprogramm der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, vertieft Klenner, Souveränes Kleingeld. 49 Zu den Anknüpfungspunkten für Kunstgeschichte und Bildwissenschaft in Kantorowicz’ Werk siehe einführend Hans Belting, Images in History and Images of History, in: Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Frankfurt am Main / Princeton, hrsg. v. Robert L. Benson u. Johannes Fried, Stuttgart 1997, S. 94–103. Zu Einzelaspekten vgl. u. a. Ralph E. Giesey, The Royal Funeral Ceremony in Renaissance France, Genf 1960; Erwin Panofsky, Grabplastik, Köln 1964; Louis Marin, Das Porträt des Königs [1981], Berlin 2005; Hans Belting, Repräsentation und AntiRepräsentation. Grab und Porträt in der Frühen Neuzeit, in: Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, hrsg. v. Dietmar Kamper u. Martin Schulz, München 2002, S. 29–52; Kristin Marek, Körperförmiges Rechtsdenken und bildförmige Politik. Repräsentation und Körperbild des Königs in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 32/2005, S. 39–56; Michael Viktor Schwarz, Clichele’s Two Bodies. Ein Grabmal in der Kathedrale von Canterbury, in: Ders., Visuelle Medien im christlichen Kult. Fallstudien aus dem 13. bis 16. Jahrhundert, Wien 2002, S. 131–171; Tanja Michalski, Memoria und Repräsentation. Die Grabmäler des Königshauses Anjou in Italien, Göttingen 2000; Alain Boureau, Le simple corps du roi. L’impossible sacralite´ des souverains franc¸ais, XVe – XVIIIe sie`cle, Paris 2000; Horst Bredekamp, Politische Zeit. Die zwei Körper in Thomas Hobbes’ ,Leviathan‘, in: Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz, hrsg. v. Wolfgang Ernst u. Cornelia Vismann, München 1998, S. 105–118; ders., Thomas Hobbes. Visuelle Strategien, Berlin 1999. 50 Vgl. dazu Ulrich Pfisterer, Zwei Körper des Königs, in: Handbuch der politischen Ikonographie, hrsg. v. Uwe Fleckner, Hamburg, Berlin 2011 [im Druck], mit weiterführender Literatur; Kristin Marek, Die Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit, München 2009.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

vergänglichen, natürlichen, individuellen Körpers und eines unsterblichen, politischen Körpers hin zu deuten ist. Auch Kantorowicz’ weit in Mittelalter und Frühe Neuzeit zurückgreifende Untersuchung zur Souveränität des Künstlers, für deren empirische Existenz – sit venia verbo – er ja im Umgang mit StG einige biographische Erfahrungen gesammelt haben dürfte, wird in jüngerer Zeit erneut produktiv diskutiert.51 An Kantorowicz und Gundolf bleibt bemerkenswert, dass ihre Impulse zur Bildforschung eher in die kulturwissenschaftliche und ikonographisch-ikonologische Richtung der Warburg-Schule tendierten, als dass aus dem George-Kreis heraus ein eigenständiger formalanalytischer Ansatz, eine kunsthistorische Phänomenologie oder Gestaltdeutung, ja gar ein kunsthistorisches Äquivalent zur Gestaltmonographie angeregt worden wäre. Ein ausgeprägter Formalismus wäre ein methodisches Terrain gewesen, auf dem unter dem Einfluss StGs ein eigenes kunsthistorisches Betätigungsfeld hätte ausgebildet werden können, doch blieb dieses unbearbeitet bzw. dem im Kreis geschätzten Heinrich Wölfflin überlassen. 6.7.3. Kryptoporträts: Gerhart B. Ladner (1905–1993) Neben der Konversion zum Katholizismus hat der Wiener Emigrant Gerhart Burian Ladner den bestimmenden Einfluss auf seine geistige Welt in der Berührung mit StG und seinem Kreis ausgemacht. Der Mediävist Ladner, der sowohl kirchen- wie kunsthistorische Arbeiten vorgelegt, aber auch Gedichte geschrieben und diese an StG geschickt hat,52 war seit den späten 1920er-Jahren mit Wolfram von den Steinen und Ernst Kantorowicz befreundet. StG traf er einmalig am 10. Dezember 1930.53 Dieses Treffen verlief recht ungünstig für Ladner, der StG nicht für seine Person interessieren konnte. Doch blieb seine Bewunderung für die Dichtung StGs und die Lebenshaltung des Kreises ungebrochen. In Ladners Forschungsfeldern mag man davon einen Abglanz finden, befasste er sich doch mit den spätantiken und mittelalterlichen Bildnissen der Päpste, also der visuellen Repräsentation geistlicher Herrscher,54 mit christlicher Symbolik, mit weltlichen Herrscherbildern, dem theologischen wie bildhistorischen Problem der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und zuletzt, 1983 in der Festschrift für Michael Stettler, in einer wegweisenden Studie mit den Anfängen des Kryptoporträts. Die Analyse der Kryptoporträts, jener „Bilder von Heiligen oder von Assistenzfiguren in religiösen Darstellungen, auch von mythologischen oder allego51 Ernst Kantorowicz, The Sovereignity of the Artist. A Note on Legal Maxims and Renaissance Theories of Art, in: De artibus opuscula XL. Essays in Honor of Erwin Panofsky, hrsg. v. Millard Meiss, New York 1961, S. 267–279. Vgl. Horst Bredekamp, Antipoden der Souveränität. Künstler und Herrscher, in: Vom Künstlerstaat. Ästhetische und politische Utopien, hrsg. v. Ulrich Raulff, München 2006, S. 31–41; Ulrich Raulff, Die Souveränität des Künstlers, in: Die Wissenschaft vom Künstler. Körper, Geist und Lebensgeschichte des Künstlers als Objekte der Wissenschaften, 1880–1930, hrsg. v. Bettina Gockel u. Michael Hagner, Berlin 2004, S. 129–138; Raulff 2009, S. 332–343. 52 Gerhart B. Ladner, Gedichte. 1923–1978, Privatdr., o. O. 1980. 53 Vgl. ders., Erinnerungen, hrsg. v. Herwig Wolfram u. Walter Pohl, Wien 1994, S. 41–46. 54 Ders., Die Papstbildnisse des Altertums und des Mittelalters, 3 Bde., Citta` del Vaticano 1941–1984.

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rischen Figuren, denen die Gesichtszüge lebender Personen verliehen worden sind, wodurch sie in einer Art von ,öffentlichem Geheimnis‘ zu Bildnissen werden“,55 eröffnet Ladner bemerkenswerterweise mit einer späten Würdigung von Steins Raffael. Dessen gewagte Projektion des George-Kreises mit Maximin im Zentrum auf Raffael und die Gesellschaft der Renaissance lobt Ladner erstaunlicherweise als methodische ,Inspiration‘: Ich will nicht versäumen, in diesem Zusammenhang auf das Raffael-Buch von Wilhelm Stein hinzuweisen, nicht nur weil er ein Freund des Freundes war, dem dieser Band gewidmet ist [d. i. Michael Stettler], sondern auch weil ich überzeugt bin, dass seine Identifizierungen von Kryptoporträts oder Kryptoselbstporträts Raffaels und anderer Künstler der Hochrenaissance – wenn auch vielleicht nicht in jedem Fall zutreffend – doch immer von hohem methodischen Wert bleiben werden, weil sie einen neuen und unmittelbaren Zugang zu den bedeutendsten künstlerischen Personenkreisen jenes Jahrhunderts eröffnet haben.56

Ladners Freundschaft mit Kantorowicz dauerte in der Emigration fort, beide Gelehrte trafen sich im Institute for Advanced Studies in Princeton wieder. Neben dem direkten Einfluss von Kantorowicz sind für Ladner aber auch diejenigen Forschungen zu Insignien und Herrschersymbolik wegweisend gewesen, die der Historiker Percy Ernst Schramm – auch er ein Freund von Kantorowicz – vorgelegt hatte.57 6.7.4. Die Aura des Meisters: George und George-Kreis als Anregung und Verpflichtung Mit der Wirkung StGs kann zumindest die Anregung von Themen verknüpft werden, auch wenn aus seinem Kreis heraus – mit der Ausnahme von Steins Raffael – keine eigenständige kunsthistorische Heuristik entwickelt worden ist. Die Berufung auf StG dürfte in vielen Fällen in der Geste verblieben sein, hier einer großen und unbürgerlichen ,Bewegung‘ nahezustehen, ja am ,schönen Leben‘ einer elitären Gemeinschaft wenn nicht persönlich teilzunehmen, so zumindest um ihre Existenz zu wissen. Derartige Berufungen auf StG sind in der Fachgeschichte bisher nicht gesammelt oder beachtet worden, und auch hier lassen sich nur Splitter dieser verzweigten Rezep-

55 Ders., Die Anfänge des Kryptoporträts, in: Deuchler (Hrsg.), Von Angesicht zu Angesicht, S. 78–97, hier: 78. 56 Ebd., S. 78. 57 Vgl. die Hauptwerke von Percy Ernst Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio. Studien und Texte zur Geschichte des römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit, 2 Bde., Leipzig, Berlin 1929; ders. (Hrsg.), Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert, 4 Bde., Stuttgart 1954; ders., Sphaira, Globus, Reichsapfel. Wanderung und Wandlung eines Herrschaftszeichens von Caesar bis zu Elisabeth II. Ein Beitrag zum „Nachleben“ der Antike, Stuttgart 1958. Schramms biographische Beziehungen zum George-Kreis und zur Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg sind mittlerweile aufgearbeitet, vgl. u. a. David Thimme, Percy Ernst Schramm und Mittelalter. Wandlungen eines Geschichtsbildes, Göttingen 2006; Lucas Burkart, Verworfene Inspiration. Die Bildgeschichte Percy Ernst Schramms und die Kulturwissenschaft, in: Bilder als historische Quellen? Dimension der Debatten um historische Bildforschung, hrsg. v. Jens Jäger u. Martin Knauer, München 2009, S. 71–96; Klenner, Souveränes Kleingeld.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

tionsgeschichte aufzeigen. Sie ist eben keine direkte Einflussgeschichte mehr, sondern lediglich eine vermittelte. Ob nun Wilhelm Worringer, Autor der bahnbrechenden Dissertationsschrift Abstraktion und Einfühlung,58 die zu einem Gründungstext der Klassischen Moderne, namentlich des Expressionismus, geworden ist, um 1903/04 wirklich im Schwabinger ,Vorhof‘ StGs antichambrierte und mit Mitgliedern des Kreises wie Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl, in dessen Haus ja auch Franz Marc, Paul Klee, Kandinsky und Alfred Kubin ein- und ausgingen, in engeren Kontakt geriet – darüber lässt sich spekulieren.59 Dass diese biographische Berührung einen Einfluss auf Ton und Inhalt seiner 1907 erschienenen Berner Dissertation gehabt hat, ist allerdings eher zu bezweifeln. Der Freiburger Kunsthistoriker Wilhelm Vöge, an den Stein ein Exemplar seines Raffaels schickte,60 stand in entfernter Weise mit dem George-Kreis in Kontakt, da sein Schüler Ludwig Thormaehlen zu diesem gehörte.61 Thormaehlen schätzte den schwierigen und sensiblen Gelehrten offensichtlich sehr und blieb mit ihm lange in Kontakt (LT, 62–65). Vöges Arbeiten zur mittelalterlichen Skulptur, sein unbedingtes Festhalten an einer emphatischen und sprachlich durchstilisierten Künstlergeschichte, der das schöpferische Individuum alles gilt, ist gewiss nicht von StG beeinflusst oder bedingt, auch wenn seine Sicht gewissermaßen als kreiskonform gelten könnte. Doch hegte der Nebenstundenpoet Vöge eine Verehrung für die Lyrik StGs, ja setzte sich in eigenen Gedichten, also gleichsam aus einer medial vermittelten Ferne, mit dessen Persönlichkeit auseinander. Vöges Bewunderung für StG blieb ambivalent, die ausgeprägte Herrschaftsstruktur, die er in seinem Kreis ausübte, war ihm fremd. Eine Sonderprovinz der Rezeption StGs stellen die kunsthistorischen Themen im Publikationsprogramm der 1951 gegründeten Zeitschrift Castrum Peregrini dar, deren Erscheinen 2007 eingestellt wurde.62 Hier nehmen kunsthistorische und archäologische Beiträge nur eine geringe Rolle neben den genuin dichterischen Beiträgen, den geistesgeschichtlichen Studien und den Erinnerungen an StG und seinen Kreis ein. Da der Kunst- und Kulturhistoriker Wilhelm Fraenger mit Wolfgang Frommel zu den

58 Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, Neuwied 1907 (2., öffentliche Ausg. München 1908). Durch die zahlreichen Neuauflagen und Übersetzungen gilt das Buch als erfolgreichste kunsthistorische Dissertationsschrift, die jemals publiziert wurde. Zur Erfolgs- und Rezeptionsgeschichte des Buches vgl. die Einleitung von Claudia Öhlschläger zur jüngsten Neuauflage: Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, hrsg. v. Helga Grebing, München 2007, S. 13–45; vgl. zudem Claudia Öhlschläger, Abstraktionsdrang. Wilhelm Worringer und der Geist der Moderne, München 2005; Wilhelm Worringers Kunstgeschichte, hrsg. v. Hannes Böhringer u. Beate Söntgen, München 2002. 59 Vgl. dazu Helga Grebing, Die Worringers. Bildungsbürgerlichkeit als Lebenssinn – Wilhelm und Marta Worringer (1881–1965), Berlin 2004, S. 24–25. 60 Vgl. Stettler, Wilhelm Stein, S. VIII. 61 Vgl. Achim Aurnhammer, Die Lyrik des Kunsthistorikers Wilhelm Vöge. Zur Krise der Beschreibungssprache in der klassischen Moderne, in: Wilhelm Vöge und Frankreich. Akten des Kolloquiums aus Anlaß des 50. Todestages von Wilhelm Vöge (16.2.1868 – 30.12.1952) am 2. Mai 2003, hrsg. v. Wilhelm Schlink, Freiburg/Br. 2004, S. 117–138. 62 In dem jüngsten Resümee der wissenschaftlichen Bedeutung des Castrums Peregrini kommen die kunst- und bildhistorischen Veröffentlichungen allerdings nur am Rande vor, vgl. Ray Ockenden, Der wissenschaftliche Beitrag des ,Castrum Peregrini‘, in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 67–81.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Kunstwissenschaft

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Gründungsmitgliedern der Zeitschrift gehörte, war aber eine Öffnung zu kunsthistorischen Themen durchaus intendiert.63 Wilhelm Fraenger selbst, der in den Heidelberger Jahren Friedrich Gundolf nahestand, hatte mit seinem ausgeprägten Sinn für abseitige Bildthemen und deren ikonographisch-ikonologische Exegese, für die niederländische Kunst und deren bildliche Ausprägungen von popular culture (z. B. Sprichwörter) und vor allem für die Aspekte des Komischen einen Weg abseits des klassischen Kanons eröffnet.64 Doch wurde dieser Weg nur bedingt, zumindest nicht programmatisch verfolgt. Fraenger, der in den frühen Jahrgängen der Zeitschrift regelmäßig zu kunsthistorischen Themen veröffentlichte, war Kulturwissenschaftler und verband in seinen Studien Kunstgeschichte und Volkskunde mit der allgemeinen Geistesgeschichte, um zu teils hermetischen Deutungen von Werken frühneuzeitlicher Kunst zu gelangen. Sein Hauptaugenmerk galt der altdeutschen und niederländischen Malerei. Gerade durch seinen Willen zur fachlichen Grenzüberschreitung liegen von ihm wegweisende Beiträge zu Matthias Grünewald, Hieronymus Bosch – davon mehrere im Castrum Peregrini –, zu Pieter Brueghel, zu Hercules Seghers, zu Jörg Ratgeb und zu Rembrandt vor. Und doch kann man nicht von einem spezifischen Wissenschaftsstil sprechen, mit dem das Bekenntnis zu StG das Castrum Peregrini möglicherweise in Hinblick auf die Kunstgeschichte geprägt hat. Eher sind viele der kunst- und bildbezogenen Beiträge auf den neuhumanistischen Zusammenhang von klassischer Kunst (Antike, Renaissance, gegenständliche Kunst der Moderne), Schönheit und Homoerotik zu beziehen, wobei der Wille zum schönen Leben ,im Kreis der Freunde‘ sich hier durchaus als kanonbildend erweist. Christoph Luitpold Frommels immer noch grundlegende Studie zu Michelangelo und Tommaso de’ Cavalieri, die 1979 erschien, deutet das berühmte Liebesverhältnis, wenn man so will, im Lichte einer Georgeschen Meister-Jünger-Beziehung, als Zeugnis der erotischen Anziehung und Liebe von Ausnahmepersonen, in der es vor allem auch um Poesie, nämlich Michelangelos Sonette, geht.65 Doch bleibt die Argumentation des mit Wolfgang Frommel eng verwandten Kunsthistorikers streng den Konventionen der wissenschaftlichen Darstellung und Quellendeutung verpflichtet. Schon der frühere Aufsatz Caravaggio und seine Modelle, der sich insbesondere den fraglos homoerotischen Verflechtungen des Del Monte-Kreises widmet, war gewissermaßen dem genius loci des Publikationsortes angemessen, in dem George-Pädagogik und Homophilie, wenn auch oft mit einem Bildungsmäntelchen verhüllt, einen festen Stellenwert hatten.66 Möglich, dass mit diesen Epiphänomenen der Erforschung des 63 Zu Fraengers Biographie und Bedeutung als Kulturwissenschaftler siehe Petra Weckel, Wilhelm Fraenger (1890–1964). Ein subversiver Kulturwissenschaftler zwischen den Systemen, Potsdam 2001; Neue Kunst – lebendige Wissenschaft. Wilhelm Fraenger und sein Heidelberger Kreis, 1910 bis 1937, hrsg. v. Susanne Himmelheber u. Karl-Ludwig Hofmann, Ausstellungskatalog Heidelberg, Heidelberg 2004; Der Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger 1890–1964. Eine Sammlung von Erinnerungen mit der Gesamt-Bibliographie seiner Veröffentlichungen, hrsg. v. Ingeborg Baier-Fraenger, Amsterdam 1994. 64 Vgl. dazu Olaf Peters, Die Physiognomik des Grotesken. Wilhelm Fraenger und das Komische, in: Das Komische in der Kunst, hrsg. v. Roland Kanz, Köln u. a. 2007, S. 259–280. 65 Christoph Luitpold Frommel, Michelangelo und Tomaso dei Cavalieri. Mit der Übertragung von Francesco Diaccetos ,Panegirico all’amore‘, Amsterdam 1979 (CP 139/140), „Wolfgang Frommel zum 8.7.1977 gewidmet“. 66 Ders., Caravaggio und seine Modelle, in: CP 20/1971, 96, S. 21–56. Einen ähnlichen Ton in der Betonung der Erotik der Bildthemen schlägt auch an: Bert Treffers, Caravaggio. Die Bekehrung

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

,schönen Lebens‘ in historischen Präfigurationen der Frühen Neuzeit auch die kleine Wirkungsgeschichte StGs auf die Kunstwissenschaft ihr Ende gefunden hat. Literatur Blume, Eugen, Im Bannkreis des Meisters – Ludwig Thormaehlen, in: Überbrückt. Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus. Kunsthistoriker und Künstler 1925–1937, hrsg. v. Eugen Blume u. Dieter Scholz, Köln 1999, S. 50–58. Böschenstein, Bernhard / Egyptien, Jürgen / Schefold, Bertram / Vitzthum, Wolfgang Graf (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005. Deuchler, Florens (Hrsg.), Von Angesicht zu Angesicht. Porträtstudien. Festschrift für Michael Stettler, Bern 1983. Gothein, Marie Luise, Geschichte der Gartenkunst, 2 Bde., Jena 1914. Göttler, Christine, Marie Luise Gothein (1863–1931). „Weibliche Provinzen“ der Kultur, in: Hahn (Hrsg.), Frauen in den Kulturwissenschaften, S. 44–62. Hahn, Barbara (Hrsg.), Frauen in den Kulturwissenschaften. Von Lou Andreas-Salome´ bis Hannah Arendt, München 1994. Klenner, Jost Philipp, Souveränes Kleingeld. Ernst Kantorowicz (1895–1963), in: Probst/Klenner (Hrsg.), Ideengeschichte der Bildwissenschaft, S. 137–160. König, Christoph / Lämmert, Eberhard (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, Frankfurt/M. 1993. Maurer, Michael, „Weibliche Kultur“ oder „Aristokratie des Geistes“? Marie Luise Gothein, in: Oelmann/Raulff (Hrsg.), Frauen um Stefan George, S. 192–212. Oelmann, Ute / Raulff, Ulrich (Hrsg.), Frauen um Stefan George, Göttingen 2010 (CP N.F. 3). Osterkamp, Ernst, Wilhelm Stein (1886–1970), in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 225–238. Probst, Jörg / Klenner, Jost Philipp (Hrsg.), Ideengeschichte der Bildwissenschaft. Siebzehn Porträts, Frankfurt/M. 2009. Stein, Wilhelm, Holbein, Berlin 1929. Stettler, Michael, Wilhelm Stein 1886–1970, in: Wilhelm Stein: Künstler und Werke, hrsg. v. Hugo Wagner, Bern 1974. Michael Thimann

des Künstlers, Amsterdam 2002 (CP 255). Treffers liefert allerdings in der Monographie vor allem kontextbezogene, kunsthistorische Bildlektüren.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Staatswissenschaften

6.8.

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Staatswissenschaften (Nationalökonomie, Staats- und Völkerrecht)

6.8.1. Der Einfluss der ,anderen richte‘ auf die Staatswissenschaften1 Der George-Kreis lässt sich als eine Wissenskultur auffassen, in der vom Dichter auf den Kreis, von älteren Mitgliedern auf jüngere und vom Kreis nach außen eine besondere Bildung vermittelt wurde, die angesichts der Zerfallserscheinungen der Moderne zu einer Mitte zurückführte. So schlicht die Formen des Gesprächs und des festlichen Beisammenseins nach gelungener wissenschaftlicher oder künstlerischer Hervorbringung waren,2 so vielfältig gegliedert war die in diesem Wissen bewahrte Deutung der Welt. Sie drängt zur Umgestaltung des Bestehenden. Um die ,Implikationen‘ näher zu fassen, muss StGs Werk mit einer Systematik ausgelegt werden, die, soweit es sich nicht um Lehrgedichte handelt, dem Dichterischen entgegensteht. StG selbst arbeitete deshalb mit Gegensätzen: Heute schallt die „eifernde posaune“, morgen klingt das „stille flötenlied“ (VI/VII, 7). Selbst im Neuen Reich hält „Das Lied“ die politische Botschaft in der Schwebe. Es gibt freilich durch jene Polaritäten umrissene Grundmuster im Denken StGs, die wiederkehrend den Freundeskreis prägten und, umgesetzt, in die Wissenschaft ausstrahlten. In der Maximin-Gedenkrede heißt es: „Die knechtende gegenwart verlor ihr alleinrecht seitdem sie sich einer anderen richte zu bequemen hatte“ (XVII, 64). StG griff dabei nicht auf die Kodizes eines alten Rechts zurück. Er suchte auch nicht ein neues Recht als solches, sondern, wie es im Neuen Reich heißt, das „ewige recht wo grosses wiederum gross ist“ (IX, 30). Dieses „ewige recht“ und jene „andere richte“ – pointierte Wendungen auch gegen den Positivismus – näher zu bestimmen, konnte nicht Gegenstand der Dichtung sein. Das war vielmehr eine wissenskulturelle Aufgabe im Kreis. Die wenigen Juristen im Kreis um StG beteiligten sich kaum an dieser Aufgabe.3 Demgegenüber entstand eine 1 „Staats-Wissenschafft“, das deutsche Wort für „Prudentia civilis“ nach Zedlers Lexicon von 1744, umfasste im weiteren Sinn die dem praktischen Leben dienende Philosophie, im engeren die rechtlichen und ökonomischen Maßregeln einer der ,Glückseligkeit‘ dienenden staatlichen Politik. Die Einträge des verbreiteten Handwörterbuchs der Staatswissenschaft (vier Auflagen 1890–1929) stellten eine moderne Fortsetzung dieser Wissenschaftstradition dar, der die Rechtsund Wirtschaftswissenschaftler des George-Kreises noch zuzurechnen sind. Von den einzelnen Disziplinen der Staatswissenschaften – ein somit von der Mitte des 18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts gebräuchlicher Ausdruck, umfassend die auf Staat bezogenen Teilgebiete von Recht, Wirtschaft und Gesellschaft – werden nachfolgend vornehmlich die Wirtschaftswissenschaften behandelt, weniger die Soziologie und Politologie. Hinsichtlich der Zweige der Rechtswissenschaften interessieren vor allem das Staats- und das Völkerrecht, sowohl aus rechtsdogmatischer als auch aus rechtsgeschichtlicher, -theoretischer und -politischer Sicht. Einflüsse StGs auf das Privatrecht oder auf Teile der Wirtschaftswissenschaften wie die zu seiner Zeit so genannte Privatwirtschaftslehre waren nicht zu erwarten und hat es nicht gegeben. 2 Vgl. EA. – Am Signet der BfdK erkannte man die Zugehörigkeit zur georgianischen Wissenskultur. Das Zeichen wurde immer von StG verliehen, um die Verbindlichkeit des Wissens zu gewährleisten. 3 Vgl. Vitzthum, Rechts- und Staatswissenschaften. Eine Verbindungslinie zu aktuellen, etwa steuerungswissenschaftlichen Methoden lässt sich von „ewigem recht“ her nicht ziehen, womöglich aber (Regulierungsansatz) von der „anderen richte“ her.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

umfangreiche Literatur über Platons Staatsphilosophie,4 verfasst von Philosophen und Ökonomen.5 Für das Verständnis des mit der „anderen richte“ Gemeinten legen die Platonbücher den Grund. „Wer soll herrschen im Staat – Redekunst oder Gerechtigkeit?“6 fragte Hildebrandt. Die Antwort muss natürlich „gerechte Ordnung“ lauten, bezogen auch auf den Staatslenker selbst. Ob König oder Volksversammlung – auch sie haben sich an die Gesetze zu halten. Dem alten Kampf gegen die Sophisten entsprach der neue gegen die Inszenierungen der Moderne. Deren Willkürform, der Faschismus, stellte sich als gefährlichster Gegner heraus.7 6.8.2. Der Dichtung entspringende Normen Wie ein philosophischer Zusammenhang hinter StGs Dichtung gefunden werden mag, zeigt am Beispiel des Teppichs des Lebens Oestersandfort.8 Ideale einer Ordnung werden dichterisch in Bildern sichtbar, welche, philosophisch umgesetzt, Leitbilder, Methodik und Wissenschaftsverständnis der Staatswissenschaftler prägen sollten, vergleichbar einer hellenischen Philosophie, die homerische Bilder und Ideale auf den Begriff brachte. Wo Homer in der Odyssee wohlgeordnetem Landbau und edlem Heldentum den verschlagenen, eigennützigen Händler gegenüberstellt, kontrastiert Aristoteles die ihrer Grenzen bewusste natürliche Erwerbskunst der widernatürlichen Chrematistik, die in Wucher gipfelt.9 Der entsprechende Vorgang lässt sich im George-Kreis am ehesten auf der Ebene der Methodologie erkennen, wie Schönhärl gezeigt hat,10 wobei diese Methodologie den Geisteswissenschaften näher als den Naturwissenschaften steht. Es wurden aber auch StGs der Dichtung entspringende Leitbilder wissenschaftlich umgesetzt. Zudem erfuhr der in der Weimarer Zeit verbreitete Universalismus11 eine besondere Ausprägung: Vorrang des Ganzen vor den Teilen.12 Die Ökonomen und Sozio4 Stefan Rebenich, „Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel“. Platon im George-Kreis, in: GJb 7/2008/2009, S. 115–141, enthält zahlreiche Verweise. 5 Die Platonbücher wurden in der Absicht geschrieben, Maßstäbe für die eigene Zeit zu gewinnen. Die Autoren (u. a. Kurt Hildebrandt, Edgar Salin, Kurt Singer) blieben sich des historischen Abstands und der Gefahr von Anachronismen bewusst. – Greifbarere Resultate erzielte der umgekehrte Deutungsvorgang: Die Kreis-Erfahrung half, ein lebendigeres Bild von der Entwicklung des platonischen Denkens und der Akademie zu gewinnen. 6 Kurt Hildebrandt, Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht, Berlin 1933, S. 123. 7 Vgl. Partsch, Hoffen (mit autobiographischen Bezügen). 8 Vgl. Christian Oestersandfort, Platonisches im ,Teppich des Lebens‘, in: GJb 7/2008/2009, S. 100–114. 9 Vgl. Bertram Schefold, Spiegelungen des antiken Wirtschaftsdenkens in der griechischen Dichtung, in: Ders., Wirtschaftsstile, Bd. 1, Frankfurt/M. 1994, S. 158–248. 10 Vgl. Schönhärl, Wissen und Visionen. 11 Dem Universalismus (radikal vertreten von Othmar Spann) stand der methodologische Individualismus Schumpeters gegenüber, von J. S. Mill und Menger herkommend, von Max Weber aufgenommen und weitergeführt. 12 Eine gewisse Parallele wäre, cum grano salis, das noch für das erste Jahrzehnt unter dem Grundgesetz konstatierte „Denken vom Staat [nicht: vom Individuum] her“; vgl. Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München 2004. Im Völkerrecht dagegen kam es damals schon zum Durchbruch der Menschenrechtsidee (vgl. etwa Partsch, Hoffen), also einer den Staat entmythologisierenden und

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logen des Kreises setzten sich zum Ziel, das Erkenntnisobjekt als Ganzes zu erfassen, also etwa eine umfassende Darstellung des modernen Kapitalismus, des Wesens des Geldes oder des gewandelten Verhältnisses von Staat und Gesellschaft zu geben. Ein verwandter methodologischer Topos war der von Oberfläche und Tiefe.13 Wie StG von Grundprinzipien des Rechts als vom „ewigen recht“ spricht, das sich geltend machen muss, wirken in der Tiefe ökonomische Faktoren, heute mit massenpsychologischen Begriffen wie Keynes’ ,animal spirits‘ der Unternehmer beschrieben, die in der Wirtschaft beispielsweise einen Aufschwung durch einen nicht auf die individuelle Psychologie reduzierbaren Pessimismus abbrechen lassen. Das Prinzip des methodologischen Individualismus wurde als zu eng empfunden. Unter den normgebenden Gedichten ragen solche aus dem Stern des Bundes heraus, in ihrer Prägnanz manchmal Maximen gleichend. Nicht der Willkür, sondern einer Sendung sollte die Ordnung entsprechen: „Aus einem staubkorn stelltest du den staat / Gingst wie geführt und wusstest dich erkoren / […] / Bestimmtest währung sprache und gesetz / Nach dem verrichte […] / […] zogst gelassen fort in weitre welten“ (VIII, 23). Bei den Staatswissenschaftlern des Kreises um StG findet sich beim Aufbau der Institutionen von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Staatengemeinschaft ein Widerschein jener Leitvorstellungen – daher ihre mit Kritik und Zweifeln verbundene Faszination durch die russische Revolution, durch Mussolini, durch Israel.14 Immer finden wir die Leitvorstellungen gespiegelt, nur ganz selten den direkten und expliziten Bezug auf die der Dichtung entspringenden Normen. Auf die Wirtschaftspolitik übertragen entstand so eine spezifische Form „politischer Ökonomie“,15 mit Überschneidungen und Differenzen zum Ordoliberalismus.16 Das Wissen ist ganzheitlich („So weit eröffne sich geheime kunde / Dass vollredimensionierenden Entwicklung, bei der freilich, weltweit gesehen, normatives Gebot und reale Befolgungsbereitschaft nach wie vor weit auseinander klaffen. 13 Formung und Auflösung, Zentrum und Peripherie, Dezision und Integration sind weitere Beispiele für sprachliche Ausdrücke, die im Kreis um StG wie in einem Wittgensteinschen Sprachspiel der Verständigung dienten, sinngewinnend etwa in der Betrachtung wirtschaftlicher, parteiendemokratischer oder völkerrechtspolitischer Phänomene. Schönhärl, Wissen und Visionen, charakterisiert diese Denk- und Verständigungsformen mit Luhmann als Semantiken; zuvor Tim Schuster, Wissen und Vision. Das Gesellschaftsbild des George-Kreises im Kontext des Krisendiskurses zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Magisterarbeit, Frankfurt/M. 2004. 14 Die Spannweite reicht hier von intensiven Diskussionen über zionistische Zielsetzungen (Arthur Salz) bis zu Edgar Salins entwicklungspolitischem Engagement für den israelischen Staat. – Selbst Julius Landmanns Entwürfe für das Steuersystem im Fürstentum Liechtenstein wurden als staatsbildend interpretiert; vgl. Salin, Lynkeus, S. 24. 15 Salin, Lynkeus, S. 153ff., insbes. 213ff. Leidenschaftlich setzte sich Salin für die europäische Einigung als wirtschaftlich begonnene, aber – durchaus im Sinne StGs – kulturell begründete Staatsbildung ein und löste eine der größten ökonomischen Kontroversen der Nachkriegszeit aus, als er, den Ordoliberalismus herausfordernd, wirtschaftliche Konzentration als eine Voraussetzung des Bestehens im Integrationsprozess benannte. 16 Salin nahm den Wachstumszwang im Kapitalismus als gegeben an und stand diesem insofern skeptisch gegenüber, denn StG stellte den Wert nur wirtschaftlichen Wachstums infrage, selbst im besten Staat. Das Leben sei reich durch den Geist: „Alles habend alles wissend seufzen sie: / ›Karges leben! drang und hunger überall! / Fülle fehlt!‹ / Speicher weiss ich über jedem haus / Voll von korn das fliegt und neu sich häuft – / Keiner nimmt . .“ (VIII, 29). Dem mangels Aufmerksamkeit für das Wesentliche empfundenen Mangel steht zerstörerische Betriebsamkeit gegenüber: „Ihr baut verbrechende an maass und grenze“ (VIII, 31). Auch Technikkritik ist ein wiederkehrender Topos. Er zwang zumal die Staatswissenschaftler in eine widersprüchliche Haltung. Keiner

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zahl mehr gilt als der teile tucht“; VIII, 101), und es ist gestuft („Ein wissen gleich für alle heisst betrug. / Drei sind des wissens grade“; VIII, 95).17 In diesen Zeilen mag man ein ganzes erkenntnistheoretisches Programm lesen,18 obwohl sie zunächst nur auf die Schichten unreflektierter, rational verarbeiteter und rational allein nicht fassbarer Zusammenhänge zu verweisen scheinen. Gemäß der Stufung des Wissens sind die Erkenntnis und die Darstellung des Schönen nicht allen gleich gegeben. Die Menge zumal bedarf der Aufklärung durch Wissenschaft. Letztlich aber bleibt auch die Wissenschaft ihrerseits19 auf höheres Wissen angewiesen.20 Die im Neuen Reich ausgesprochene Verheißung einer künftigen Verbindung griechischen Lebens mit deutschem erinnerte an antike Begriffe von Ordnung und Schönheit. Das Maß ist ein bestimmtes, das Maß ist dem Sich-Verlieren entgegengesetzt, jede Tugend entspricht einer Mitte. Weitergehende Versuche, aus StGs Werk gesellschaftliche Normvorstellungen herauszulesen, knüpfen an Wolters’ Herrschaft und

konnte übersehen, dass die bestehenden Systeme auf Wachstum und technische Neuerung gegründet waren. Hier entstand eine nicht überwindbare innere Spaltung zwischen ästhetischmoralischen Gefühlen und einem Handlungszwang, der bei dem Industriellen Robert Boehringer, der Friedrich Wolters skeptisch gegenüberstand, am deutlichsten hervortrat. StGs Gedicht „Der Mensch und der Drud“ (IX, 53–56) handelt, mehr fordernd als rational kalkulierte Minimierung von Umweltschäden, von der nötigen Ehrfurcht vor der Natur und ihrer geheimen Kraft. 17 Nämlich die Ahnung der Menge, die wissenschaftliche Erkenntnis und ein göttliches Wissen. 18 Vgl. Edith Landmann, Die Transcendenz des Erkennens, Berlin 1923. 19 Dass die Gipfel der Wissenschaft sich den Visionen ihrer bedeutendsten Repräsentanten verdanken, hat Schumpeter betont. Große neue Ideen beschäftigen dann Generationen von Normalwissenschaftlern. Die Rolle der mit außergewöhnlichen Fähigkeiten des Empfindens, Auffassens, Formulierens ausgestatteten Wissenschaftler ist außerhalb der Naturwissenschaften anders als in diesen. Zwar setzen gerade die exakten Naturwissenschaften bei ihren Fortschritten als genial empfundene Intuitionen voraus, aber die vor der konkreten Erfahrung gegebene mathematische Sprache und die standardisierten Messverfahren erlauben eine im Prinzip allgemein nachvollziehbare Reproduktion der Ergebnisse, während in den Geistes-, insbesondere in den Kunstwissenschaften die Begriffe aus der Anschauung fortwährend umgebildet und angereichert werden, also nicht durch eine einmalige Definition mit einem abgeschlossenen Inhalt versehen sind. Der Interpret knüpft an frühere große Interpreten an, indem er sich in Wahrnehmung und Ausdruck ihrer Seh- und Sprechweise anzugleichen sucht. Es entsprach deshalb einem mit StGs Denken zusammenhängenden Wissenschaftsideal, wenn die Staatswissenschaftler im Kreis sich bevorzugt geisteswissenschaftlicher Verfahren bedienten, obwohl in einer Epoche des Vordringens der Modellkonstruktionen mit naturwissenschaftlichem Vorbild lebend. Freilich, unter den „Werken der Schau und der Forschung“ des George-Kreises ist kein wirtschaftswissenschaftliches. Die Rechtswissenschaftler im Kreis, dem Freiheitsmodell gewiss näher als einem Sozialgestaltungsmodell, bewegten sich in den Bahnen ihrer professionellen Verständigung. Die Konkretheit ihrer normativen Befundnahme und damit auch ihrer wissenschaftlichen Darstellung zeigt Einflüsse StGs, der, auch ein Pragmatiker, seine Um- und Mitwelt deutlich wahrnahm und realistisch einschätzte. Der hinter ,Steuerungsmodellen‘ stehenden instrumentellen Vernunft misstraute man. 20 Mit diesem Wissenschaftsideal hängt zusammen, dass die Erkenntnistheorie Edith Landmanns zu einer Form des Universalismus führt. Sie nimmt an, dass wir Gegenstände wahrnehmen, über Zusammenhänge urteilen und Werte erkennen, wobei keine dieser Formen elementarer Erkenntnis als gewiss gelten kann, sondern jede durch einen Glauben verbürgt werden muss. In diesem eingeschränkten Sinn sind auch Werte empirisch. Insoweit führte diese Erkenntnistheorie den Werturteilsstreit fort. Das Erkennen ganzheitlicher Zusammenhänge erfolgt auf einer höheren, die Teilerkenntnis legitimierenden Stufe.

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Dienst an.21 Boehringers Antwort mag man in seinem Aufsatz über die Cortesia del Cuore in Dantes Divina Commedia sehen.22 6.8.3. Die Rezeption der Nationalökonomen um George Da die Staatswissenschaften aus dem Historismus des 19. Jahrhunderts herausgewachsen waren, stand insbesondere den Nationalökonomen im George-Kreis, die alle bei Vertretern der Historischen Schule studiert hatten,23 der Weg offen, ihr Fach wenigstens teilweise im Sinn der vorstehend genannten Forderungen zu heben. Damit war freilich nichts gesagt zu der weiteren, entscheidenden Frage: Wie weit sollten StGs normative Vorstellungen über das Dichterische hinaus gegebenenfalls ins übrige Leben ragen? War an der Grenze des Kreises Halt zu machen oder kam es darauf an, diese zu überschreiten, auch in der Verfolgung der beruflichen Pflicht und ihrem gängigen Gebot zur ,reinen‘ Wissenschaft? Die George-Forschung hat dieses Problem noch kaum bearbeitet. Die Versuche, StGs Vorstellungen auf den dichterischen Bezirk zu beschränken oder sie umgekehrt als Ausdruck des wachsenden Ungeists der Zeit zu denunzieren, markieren polare Vereinfachungen. Die Antwort auf die Herausforderung kann auch hier nur angedeutet werden.24 Es genüge, kurz auf Ähnlichkeit und Verschiedenartigkeit der von 21 Vgl. die Beiträge von Bruno Pieger und Wolfgang Christian Schneider in: Köster (Hrsg.), Das Ideal. 22 Statt ,Herrschaft und Dienst‘ also ,Herzenshöflichkeit‘. Die Gebildeten erkennen die Fähigkeiten der anderen an, tauschen ihr Wissen und ihre Kunst aus, kommen den Nöten des Gegenübers entgegen. Sie handeln wie die Seelen in Dantes Paradiso. Sie bringen das ins Himmlische gesteigerte Prinzip des Austauschs der freien und gebildeten Bürger, das auch die gesellschaftliche Ordnung bestimmt, zum Ausdruck. Vgl. Bertram Schefold, Stefan George als Übersetzer Dantes, in: CP 56/2007, 276/277, S. 77–115. 23 Die Juristen im Kreis waren durchweg von Vertretern der Historischen Rechtsschule und des Rechtspositivismus ausgebildet worden, teilweise wohl auch schon durch Neukantianer bzw. durch eine von diesen in Gang gesetzte neue Naturrechtsdiskussion. Berthold Stauffenbergs Vorwurf eines ,Verlusts der Rechtsgefühle‘ durch die NS-Ideologie und -Praxis deutet in letztere Hinsicht; vgl. Wolfgang Graf Vitzthum, Weimarer Republik und Völkerbund aus der Sicht von Berthold Graf Stauffenberg, in: Köster (Hrsg.), Das Ideal, S. 213–236. Das ,Gefühl‘ für über dem Staat und seinem Recht stehende Ordnungen mag, wie das Naturrecht, das positive Recht legitimieren oder delegitimieren. Jedenfalls kommt ihm eine (im platonischen Sinne) ,wächterliche‘ Funktion zu. Eben diese prüfende, die Staatsmacht begrenzende Wirkung, so Stauffenbergs Vorwurf, sei im ,Dritten Reich‘ verloren gegangen – und damit das ,Gefühl‘ für die normativen Maßstäbe, für die Richt- und Haltepunkte: die höheren Rechtsprinzipien wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit. 24 Vgl. dazu aus jüngster Zeit: Bertram Schefold, Political Economy as ,Geisteswissenschaft‘. Edgar Salin and Other Economists around George, in: A Poet’s Reich. Politics and Culture in the George Circle, hrsg. v. Melissa S. Lane u. Martin A. Ruehl, Rochester, New York 2011, S. 164–203; ders., Politische Ökonomie als ,Geisteswissenschaft‘. Edgar Salin und andere Ökonomen um Stefan George, in: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie, Bd. 26, hrsg. v. Harald Hagemann, Berlin 2011, S. 149–210; ders., Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 1–23; Wolfgang Graf Vitzthum, Staatsdichtung und Staatslehre. Das Beispiel Stefan George, in: Neue Juristische Wissenschaft 2000, S. 2138–2147; vgl. bereits Hans-Joachim Zimmermann (Hrsg.), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium, Heidelberg 1985. Als herandrängende ,neue Wissenschaftsrichtung‘ wurde das Denken StGs und seines Kreises schon 1932 qualifiziert von Frenzel,

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den Nationalökonomen im Kreis individuell gesuchten Lösungen zu verweisen – ein erster Schritt zu den Legenda aurea in der Nachfolge StGs. Der Kulturhistoriker und Nationalökonom Eberhard Gothein, Nachfolger Max Webers in Heidelberg, kann kaum als von StG beeinflusst angesehen werden. Der Dichter schätzte seine umfassende Bildung, empfand aber seinen goetheschen Humanismus als rückwärtsgewandt. Die Freunde Julius Landmann und Robert Boehringer trennten dann, wie später auch die Juristen im Kreis, die Sphären von StGs Dichtung einerseits und seiner Einwirkung im praktischen Leben andererseits: Landmann als wirtschaftspolitischer Berater, Boehringer als Geschäftsmann und Philanthrop. Ersterer, anfangs liberal, in seiner Jugend Sozialist, neigte später dem Universalismus zu.25 Wolters hat als Schüler Schmollers beachtenswerte Beiträge zur ökonomischen Dogmengeschichte und Wirtschaftsgeschichte geleistet und einen genialen Aufsatz über Colbert verfasst, der auch den Beifall StGs fand. Aber zwischen Wolters’ poetologischer Schrift Herrschaft und Dienst und seinen von StG weit weniger geschätzten Vaterländischen Reden gab es keine für die Staatswissenschaft konstruktive Vermittlung. Das George-Buch von Wolters enthält den neben dem von Gundolf umfassendsten frühen Versuch, Wissenschaftsprinzipien des Kreises zu formulieren. Bei Arthur Salz, Wilhelm Andreae, Kurt Singer und Edgar Salin finden wir Versuche, zeitgenössische staatliche Entwicklungen an Staatsvorstellungen des Kreises zu messen, mit erheblicher Spannweite auch bei den Schlussfolgerungen, bezogen auf Deutschland, Europa, die Weltwirtschaft, den Zionismus und selbst Japan.26 Seine Erfahrungen in Basel führten Salin zu aktiver Teilnahme an der dortigen direkten Demokratie.27 Für die den Kreisökonomen gemeinsame Bemühung, allgemeine methodische Grundsätze in eine historisch orientierte Nationalökonomie einzubringen, steht repräsentativ Salins bekannte und viel diskutierte Einführung des Begriffs der ,anschaulichen‘ Theorie. Dieser wurde von Spiethoff übernommen, ging in die Wirtschaftsstilforschung ein und wird heute noch gelegentlich verwendet. Er entsprang Salins Auseinandersetzung mit Sombart. In dessen Der moderne Kapitalismus (1927) sah Salin eine historische Theorie, mit einer bestimmten Entwicklungslogik. Diese setzt zu ihrer Durchführung eine Verbindung ,rationaler‘ Theorie voraus, eingebettet in die anschaulich dargestellte Entwicklungslogik qualitativer Merkmale. Salins Verständnis der Anschauung greift auch auf Goethe und Gundolfs Goethe-Interpretation zurück. So wie für Goethe (nach Gundolf) jedes einzelne Phänomen symbolisch war George-Kreis. Vor dem Hintergrund der damaligen Breitenwirkung hatte es Wolters gewagt, sein Werk Stefan George und die Blätter für die Kunst (1930) im Untertitel Deutsche Geistesgeschichte seit 1890 zu nennen. StG wirkte nicht allein über seine Dichtung, sondern auch über die Wissenschaft seiner Freunde. 25 Vgl. Schönhärl, Wissen und Visionen; Salin, Lynkeus, S. 16ff.; Bertram Schefold, Robert Boehringer: Unternehmer und Helfer, Wissenschaftler und Dichter, in: GJb 7/2008/2009, S. 240–253; Annette Baudraz, Julius Landmann (1877–1931). Le´gislateur du Prince, Me´moire de licence, Universite´ de Lausanne 1997. 26 Berühmt wurde das kultursoziologische Buch von Kurt Singer, Spiegel, Schwert und Edelstein. Strukturen des japanischen Lebens, Frankfurt/M. 1991. 27 Vgl. Jacques Stohler, Der Basler Arbeitsrappen. Eine Studie zur Beschäftigungstheorie und Beschäftigungspolitik regionaler Körperschaften, Basel 1957.

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„für die gesamte Wirkung der Gottnatur“, und so wie Goethe das Absolute in die Erscheinung verlegte, suchte Salin nach einer die Einheit und die Vielfalt des modernen Kapitalismus zugleich treffenden Darstellung. Sie hatte Kausalabläufe mithilfe der rationalen Theorie zu erklären, zugleich aber auch die großen geistigen Veränderungen, wie sie Weber mit seiner Protestantismusthese zu erfassen gesucht hatte, zu beschreiben.28 Gemeinsam war ferner, dass die wichtigsten Kreisökonomen sich zugleich als Soziologen verstanden. Vom Standpunkt beider Disziplinen interessierten sie sich besonders für die Geldtheorie. In der Geldsoziologie ist an Simmel zu erinnern, dessen Beeinflussung durch StG bekannt ist. In der Geldtheorie ging für die Kreisökonomen eine besondere Faszination von Georg Friedrich Knapps Staatliche Theorie des Geldes (1905) aus, im Einklang mit im Kreis vertretenen Staatsvorstellungen. So erklärt sich die Offenheit der Kreisökonomen für Keynes, dessen Geldtheorie von Knapp angeregt war.29 Insgesamt hat der George-Kreis in den Staatswissenschaften keine so herausragende Einzelleistung hinterlassen wie etwa in der Geschichte mit Kantorowicz’ Friedrich II. In der Summe freilich haben jedenfalls die Nationalökonomen ein vielfältiges, beeindruckendes und von StG bei näherem Hinsehen deutlich beeinflusstes Werk hinterlassen. Aber gerade dieser Einfluss wurde oft getarnt, und es ging in dessen Wirkungen auf die Fachwelt das Wissen von den Ursprüngen in StG bald verloren. Wenn ein Robert Boehringer schärfer als andere zwischen Beruf und Leben trennte, blieb die Kreiszugehörigkeit in seiner Arbeitswelt ganz unsichtbar. Salin ließ eher Hintergründe seiner geistigen Orientierung durchscheinen, legte ,Bekenntnisse‘ aber auch nur in besonderen Lagen und gegenüber Ausgewählten ab; so schuf er keine einheitliche Schule. Die kreisexternen Einflüsse StGs beruhen im ökonomischen Bereich auf der wissenschaftlichen Stellung, dem persönlichen Charisma und der Offenherzigkeit der damit befassten Staatswissenschaftler im Kreis, sind also indirekt vermittelt, und ihrer künftigen Darstellung muss die gegenwärtige Bemühung vorausgehen, sich ein genaueres Bild vom kreisinternen Verständnis von Wirtschaft und Staat zu verschaffen. 6.8.4. Die Rezeption der Rechtswissenschaftler um George Mit Ernst Morwitz und Berthold Vallentin gehörten zwei bedeutende Juristen – Richter am Berliner Kammergericht der eine, erfahrener Anwalt der andere – zu den ältesten Freunden des Dichters. Hervorgetreten ist Morwitz mit disziplinierten, nachhaltig wirkenden Kommentaren zur Dichtung StGs (EM I; EM II), deren Vorzug in der Nähe zum Text und der Darstellung des Erlebnishintergrunds besteht, die aber wenig zur Erschließung von StGs staatphilosophischem Denken hergeben. Vallentin verfasste historische Monographien, zumal über Napoleon.30 Der von Goethe ver28 Vgl. Bertram Schefold, Edgar Salin and his Concept of ,Anschauliche Theorie‘ (,Intuitive Theory‘) during the Interwar Period, in: Annals of the Society for the History of Economic Thought (Japan) 46/2004, S. 1–16. Zu Gundolfs Goethe vgl. II, 3.3. 29 Dieser Zusammenhang wurde von Schönhärl aufgedeckt; vgl. Schönhärl, Wissen und Visionen. 30 Vgl. Berthold Vallentin, Napoleon, Berlin 1923, S. 521ff.

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ehrte Kaiser erscheint in einer an Max Weber erinnernden Denkfigur als das im selbst geschaffenen Regierungsapparat erstarrende Genie, das durch seine Schöpferkraft doch immer wieder einen die Moderne transzendierenden Geist verrät, als ob auch hier verknöcherte formale zugunsten ewiger Rechte gesprengt werden sollten. Eine höchst eigentümliche und originelle Staatsvorstellung hat Vallentin in einer der Festschriften für Schmoller publiziert:31 Er findet, dass – halb verborgen – „auf den Fundamenten der Patristik mit Bausteinen aus der jüdischen und arabischen Philosophie“ dem theologischen Lehrgebäude des Mittelalters „Partien gesellschaftswissenschaftlichen Charakters eingefügt“ seien. Dieselbe Festschrift enthält eine Analyse der staatstheoretischen Begründung des Absolutismus im 17. Jahrhundert von Wolters.32 Um Rechtswissenschaft im engeren Sinne handelt es sich bei alledem nicht, aber es war diesen Autoren in erstaunlichem und dem praktisch orientierten Fachwissenschaftler kaum nachvollziehbarem Maße gegeben, ihr Unvermögen bei der Konkretisierung neuer Ordnungen für die Gegenwart durch Utopie und Deutung der Geschichte für ihr gemeinsames inneres Erleben zu kompensieren. Letzteres gilt im Grunde auch von Johann Anton. Der hochbegabte junge Dichter, Historiker, Jurist und angehende Diplomat kritisierte in Prüfungs- und Qualifizierungsarbeiten die vorgefundenen verfassungs- und völkerrechtlichen Konstellationen.33 Antons eigenes Bild von einer national und international ,anderen‘ öffentlichen Ordnung lässt sich der negativ formulierten Befundnahme nicht entnehmen – Aufschlüsse zu inhaltlichen Kategorien und Grundpostulaten einer gerechten Ordnung waren nicht sein Thema. Die Konturen dieses Bildes sind, im Unterschied zu der Dichtung von Anton, zudem wohl stärker von Wolters und Elze34 als von StG bestimmt. Die knappen, stets ganz rechtstechnisch gehaltenen Schriften des Völkerrechtlers Berthold Schenk Graf von Stauffenberg geben keine Einflüsse StGs und seiner Freunde zu erkennen.35 Anders steht es mit dem Widerstand gegen das NS-Regime. Die Überzeugungen und Pläne der Brüder Stauffenberg schlugen sich Anfang Juli 1944 auch in einem ,Schwur‘ nieder, der, deutsche und abendländische Rechtstraditionen aufgreifend und bekräftigend, in Sprache und Inhalt – mehr als ein Jahrzehnt nach dem Tod StGs – auch dessen Normvorstellungen widerspiegelt.36 Berthold Stauf31 Vgl. ders., Der Engelstaat, in: Kurt Breysig u. a. (Hrsg.), Grundrisse, S. 41–120. 32 Vgl. Friedrich Wolters, Über die theoretische Begründung des Absolutismus im siebzehnten Jahrhundert, in: Breysig (Hrsg.), Grundrisse, S. 201–222. 33 Vgl. Vitzthum, Rechts- und Staatswissenschaften, S. 83, 95–97, 101f., passim. – Auch bei der Verfassungsgebung 1918/19 ging es um Dezisionen: um die Entscheidung für die Restauration der Monarchie, für westliche parlamentarische Demokratie oder für das Rätesystem. Anton wie seine älteren (geisteswissenschaftlichen) Freunde Wolters und Walter Elze waren mit dem Herzen bei keinem dieser Modelle. Ihre Alternative blieb undeutlich, mochte auch an deren rechtsstaatlichem Kern nicht zu zweifeln sein. 34 Diese sahen ihn auch als Hoffnungsträger, der in Deutschland oder Österreich eine politische Rolle spielen sollte. Vgl. Franz K. von Stockert, Johann Anton und der jüngere George-Kreis, Typoskript, 255 S., unveröffentlicht. 35 Vgl. Vitzthum, Rechts- und Staatswissenschaften, S. 97f., 102–104. Gleiches gilt von den Schriften Helmut Strebels. 36 „[…] Wir wollen eine neue Ordnung, die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt, verachten aber die Gleichheitslüge und beugen uns vor den naturgegebenen Rängen. Wir wollen ein Volk, das in der Erde der Heimat verwurzelt, den natürlichen Mächten nahe bleibt, das im Wirken in den gegebenen Lebenskreisen sein Glück und

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fenbergs wichtigste Veröffentlichung wird als solche zudem nach wie vor stark rezipiert.37 Die von Karl Josef Partsch, einem Staats- und Völkerrechtslehrer von methodisch und thematisch beeindruckender Breite, lebenslang in Wissenschaft und Beratungspraxis ausgezogene menschenrechtsschützende Linie, seine Betonung also der staatsgerichteten Rechte des Individuums und sein transnationales Denken insgesamt weisen Verbindungen auf zu Widerstandsmotiven und ,staatsumgestaltenden‘ Leitvorstellungen der Brüder Stauffenberg sowie – nicht nur damit – zur Welt des Dichters und seines Kreises. Bei näherem Hinsehen ist in einzelnen Arbeiten von Partsch, der seine ,Herkunft‘ von StG stets unerwähnt ließ, ein gewisser georgianischer Zug zu entdecken.38 Dieser wurde in der Zunft als „merkwürdig veraltet“ und „legitimationsuntauglich“ bekämpft.39 Bei allem gemeinsamen Engagement für die Menschenrechtsidee und die für ihre Durchsetzung erforderliche Menschenrechtskultur bildet die Schülerschaft von Partsch keine an StG orientierte Schule. Die Vorstellungen StGs und seiner Freunde von der „anderen richte“ und vom „ewigen recht“ erlangten demnach auch nach dem Zweiten Weltkrieg keine wesentliche staats- oder völkerrechtswissenschaftliche Bedeutung. Weniger die nur indirekten Anklänge an den Dichter etwa bei Gustav Radbruch, Carlo Schmid und Erik Wolf40 sein Genügen findet und in freiem Stolze die niederen Triebe des Neides und der Missgunst überwindet. Wir wollen Führende, die, aus allen Schichten des Volkes wachsend, verbunden den göttlichen Mächten, durch großen Sinn, Zucht und Opfer den anderen vorangehen.“ – Zur Tat von Claus Stauffenberg vgl. Karl Josef Partsch, Stauffenberg – Das Bild des Täters, in: EuropaArchiv 5/1950, S. 3196–3200; Riedel, Geheimes Deutschland; Hartmut von Hentig, Nichts war umsonst. Stauffenbergs Not, Göttingen 2008; Wolfgang Graf Vitzthum, Bürgschaft für das geheime Deutschland. Zu Widerstandstat und Staatsverständnis der Brüder Stauffenberg, in: Hans G. Richardi/Gerald Steinacher (Hrsg.), Für Freiheit und Recht in Europa. Der 20. Juli 1944 und der Widerstand gegen das NS-Regime in Deutschland, Österreich und Südtirol, Innsbruck 2008, S. 127–148. 37 Ein aktueller Kommentar zum Statut des Internationalen Gerichtshofs (IGH) rühmt im Vorwort „the admirable [work] written in 1934 by just one person [Berthold Stauffenberg] – who was trying to uphold international law at a time when the authorities of his country began to undermine it“; Andreas Zimmermann u. a. (Hrsg.), The Statute of the International Court of Justice. A Commentary, Oxford 2006, S. V. Am 18.11.2008 wurde Stauffenbergs gerichtsfreundliche Kommentierung von Art. 35 StIGH (S. 226–239 in seinem StIGH-Kommentar von 1934) im IGH-Fall Kroatien gegen Serbien in zwei Richtervoten intensiv aufgegriffen. Im aktuellen IGH-Kommentar zitiert Zimmermann bei seiner Erläuterung von Art. 35 IGH-Statut Stauffenbergs Vorarbeit sechsmal. Vgl. auch die zahlreichen Bezugnahmen auf Stauffenbergs Kommentar bei Markus Benzing, Das Beweisrecht vor internationalen Gerichten und Schiedsgerichten in zwischenstaatlichen Streitigkeiten, Heidelberg u. a. 2010. 38 Vgl. Karl Josef Partsch, Von der Würde des Staates, Tübingen 1967 (der „Erinnerung an Ernst Kantorowicz“ gewidmet), S. 9 („Staatswürde“ als „ein geistiger Wert“, als [S. 12] „ein Rechtswert“, „ein Rechtsanspruch des Staates auf Anerkennung dieses Wertes“). 39 Vgl. Dimitris Th. Tsatsos, Von der Würde des Staates zur Glaubwürdigkeit der Politik. Zu einem verfassungsrelevanten Legitimationsverständnis, Berlin 1987, S. 34ff. Tsatsos’ scharf distanzierende Sicht überrascht umso mehr, als er ein Schüler von Partsch ist. 40 Vgl. Erik Wolf, Grosse Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tübingen 1963, S. 674, 748; Petra Weber, Carlo Schmid 1896–1979. Eine Biographie, München 1996, S. 12 (Schmid wusste „sich der Geisteswelt [StGs] verpflichtet“), S. 68 („stand 1934 im Banne [StGs]“), S. 82f., S. 85 („Arnold Bergstraesser, der bei Wolters studiert hatte, war ein Bewunderer [StGs]“), S. 98 („Schmid wäre nicht zu dem geworden, das er wurde, ohne den prägenden Einfluss der Geisteswelt [StGs]“), S. 771 („der dem Geiste [StGs] verbundene Kulturkritiker konnte [1979] die Fortschrittsskepsis der Grünen gut nachempfinden“).

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

sind dabei bemerkenswert als die schroffen Distanzierungen und ritualisierten Ablehnungen.41 Hegel oder Kant, Denken vom Staat oder vom Individuum her, Rechtsstaat oder Sozialstaat, Schmitt- oder Smend-Schule, dezisionistischer Positivismus also oder Rezeption geisteswissenschaftlicher Kategorien – so lauteten wichtige Alternativen in der Staats- und Verfassungsrechtslehre der Nachkriegszeit, später dann, im Zeichen von Europäisierung, Internationalisierung und Globalisierung, erweitert um die Frage nach geschlossener oder offener Staatlichkeit. Diese Großthemen wurden – wie in der Völkerrechtswissenschaft etwa der internationale Schutz der Menschenrechte und in der Staatsrechtslehre das Problem einer postnationalen (europäischen) Demokratie – ohne Rückbezug auf StG formuliert und traktiert. Die Staatsrechts- und Völkerrechtslehrer unter dem Grundgesetz hatten, zumal unter den Erschwernissen des Kalten Krieges, die Wiedervereinigung Deutschlands, die Westintegration42 und die Unterwerfung des Staates unter die Völkerrechtsordnung abzusichern – bei gleichzeitiger ideeller, kultureller und nationaler Selbstbehauptung. Jener zum 20. Juli 1944 führende Entscheidungsprozess der Brüder Stauffenberg freilich, auch durch ihre lebenslange Verbundenheit mit StG bestimmt,43 das Beharren der Patrioten auf der ,Staatsträgerschaft‘ aller Deutschen, ihr opferbereiter Einsatz für die Grund- und Menschenrechte und die Sicherung eines Basisbestandes ethischer Bindungen – das wurde ein Schlüsselelement der rechtsstaatlich-demokratischen Fundierung und Traditionsbildung der zurückgezogen agierenden Bonner Republik.44 6.8.5. Zum Abschluss Die Zukunft ist offen. Das gilt auch für Rezeptionsvorgänge. Die wiederholten ,Renaissancen‘ der humanistischen Bildung, der Religion, des Föderalismus (als eines Helfers der Freiheit) oder der Europaidee sind Beispiele. Die gesteigerte Präsenz StGs, das lebhafter gewordene Interesse also an seiner Dichtung und an seinem Kreis, an seiner ,Staatsbildung‘45 und an seiner auch wissenschaftsbezogenen Normgebung – 41 Vgl. etwa Horst Dreier/Walter Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Horst Dreier u. a. (Hrsg.), Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, Berlin, New York 2001, S. 9–147, hier: 143 (Schlusswort). 42 In den Staatswissenschaften der DDR hat StG keine Rezeptionsspuren hinterlassen. 43 Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum, Kein Stauffenberg ohne Stefan George. Zu Widerstandswirkungen des Dichters, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, Heidelberg 2007, S. 1109–1126. 44 Vgl. das Bekenntnis des Grundgesetzes in Artikel 1 Absatz 2 zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“, ein Verweis also auf eine allen Staaten gemeinsame Werteordnung. Vgl. auch Karl Michaelis, Die Deutschen und ihr Rechtsstaat, Berlin 1980, S. 47: „ohne den Mut einer großen Anzahl von Bürgern, für das Recht auch dann einzutreten, wenn es etwas kostet, wird der Rechtsstaat auf die Dauer keinen Bestand haben. Auch diesen Mut kann das Recht nicht schaffen, der Rechtsstaat setzt ihn schon voraus.“ Partsch hatte im Zweiten Weltkrieg Francesco Guicciardinis Ricordi von 1530 ins Deutsche übersetzt und publiziert. Diese kritische Erörterung des Spannungsfeldes von Politik und Moral und von Mensch und (,entartungsgefährdetem‘) Staat war im totalitären Deutschland dann in wenigen Wochen ausverkauft. Das Thema der italienischen Renaissance im Kreis um StG und dessen weiterem Umfeld lohnt weitere Recherchen. 45 StG ließ sich freilich weder auf eine bestimmte Staatsform noch gar auf eine Parteilinie festlegen. „An Grenzziehungen oder an der Staatsform war [StG] nie gelegen, wenn nur die Besten atmen und wirken konnten“ (Ernst Gundolf, Werke, hrsg. v. Jürgen Egyptien, Amsterdam 2006,

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seit einem Jahrzehnt nicht nur in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften Deutschlands zu spüren –, ist ein anderes Beispiel. Das Thema wird, wie oben belegt, in Aufsätzen und Dissertationen aufgegriffen. Bei tieferem Graben und näherem Betrachten mögen sich diese Spuren zahlreicher, vielfältiger, deutlicher abzeichnen und neue Anschlüsse ermöglichen. StGs auf die Dichtung und sein Bild des ,schönen Lebens‘ gegründete gemeinschaftsbildende Kraft erwies sich an der Lebensführung und der geistigen Hinterlassenschaft seiner Jünger und an deren Wirkung auf ihre Schüler. Sie war, wie bereits aus dieser Übersicht ersichtlich sein mag, so stark und wesentlich, dass es nicht nur eine fac¸on de parler ist, wenn von ,Staatsbildung‘ gesprochen wurde.46 In der Rückbesinnung auf die Antike und die athenische Polis schien die Verbindung von Staat und Gemeinschaft organisch sinnvoll und staatsphilosophisch begründet. Dass sich der Charakter solcher Staatsbildung in den Begriffen der betroffenen modernen Disziplinen nur unzureichend festhalten lässt, kann heute leicht übergangen oder ohne große Anstrengung des Denkens in einen dem Kreis entgegengebrachten Vorwurf verwandelt werden. Schwieriger ist die Frage, inwieweit im noch bestehenden Unvermögen, die Vermittlung zu erfassen, ein Anlass zur Kritik der Staatswissenschaft des Kreises gegeben wird und inwieweit darin ein Mangel gegenwärtiger Wissenschaft zum Ausdruck kommt. Literatur Böschenstein, Bernhard / Egyptien, Jürgen / Schefold, Bertram / Vitzthum, Wolfgang Graf (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005. Breysig, Kurt u. a. (Hrsg.), Grundrisse und Bausteine zur Staats- und zur Geschichtslehre. Zusammengetragen zu den Ehren Gustav Schmollers, Berlin 1908 (Repr. Keip 1996). Frenzel, Helmut, George-Kreis und Geschichtswissenschaft. Darstellung und Kritik der Auffassung des George-Kreises vom geschichtlichen Erkennen, Diss., Leipzig 1932. Köster, Roman u. a. (Hrsg.), Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis, Berlin 2009. Partsch, Karl Josef, Hoffen auf Menschenrechte. Rückbesinnung auf eine internationale Entwicklung, Zürich 1994. Riedel, Manfred, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln u. a. 2006. Salin, Edgar, Lynkeus. Gestalten und Probleme aus Wirtschaft und Politik, Tübingen 1963. S. 191). Insofern lassen sich StGs ,staatliche‘ Vorstellungen nicht auf den Begriff bringen, auch nicht unter Bezugnahme etwa auf die ständisch-korporative Idee, den monarchischen Konstitutionalismus, den Staatsratsgedanken oder personalistische Konzepte. StG suchte nach einer anderen Moderne (vgl. Bertram Schefold, Stefan George: Dichter einer anderen Moderne, in: CP 48/1999, 237/238, S. 15–21), gewiss, doch blieb umstritten, was dieses außerhalb der Dichtung bedeuten könne. 46 Keinesfalls beschränkte sich StGs ,Staat‘ auf die geistige Fortsetzung vergangener Bewegungen in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter. StG gab sich mit einem rückwärtsgewandten Humanismus nicht zufrieden. Wissenschaft sollte schöpferisch sein. Sie sollte nicht als Endzweck angesehen werden, sondern in Weisheit münden. Man erkenne gute Wissenschaft an ihrer erzieherischen Wirkung. Vgl. auch Stefan George. Dichtung – Ethos – Staat. Denkbilder für ein geheimes europäisches Deutschland, hrsg. v. Bruno Pieger u. Bertram Schefold, Berlin 2010.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Schefold, Bertram, Nationalökonomie als Geisteswissenschaft – Edgar Salins Konzept einer Anschaulichen Theorie, in: List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik 18/1992, 4, S. 303–324. Schönhärl, Korinna, Wissen und Visionen. Theorie und Politik der Ökonomen im Stefan George-Kreis, Diss., Berlin 2009. Vitzthum, Wolfgang Graf, Rechts- und Staatswissenschaften aus dem Geiste Stefan Georges? Über Johann Anton, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg und Karl Josef Partsch, in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 83–113. Bertram Schefold/Wolfgang Graf Vitzthum

6.9.

Soziologie

Die Zeit, in der der George-Kreis stärker in die Öffentlichkeit drängte – die Jahre vom Siebenten Ring bis zu den Jahrbüchern für die geistige Bewegung –, war auch die Zeit, in der sich die deutsche Soziologie institutionell konstituierte. Im Januar 1909 gründete sich in Berlin die Deutsche Gesellschaft für Soziologie unter der Präsidentschaft von Ferdinand Tönnies, dem im Vorstand Georg Simmel und Heinrich Herkner (später: Werner Sombart) zur Seite standen; Max Weber nahm die Funktion eines Schatzmeisters wahr. Im Oktober 1910 fand in Frankfurt der Erste Deutsche Soziologentag statt, im Oktober 1912 der Zweite in Berlin. Erst in der Weimarer Republik setzte dann allerdings die Etablierung als universitäres Lehr- und Studienfach ein, die bis 1932/33 zur Errichtung von sechs ausschließlich der Soziologie gewidmeten und fünfzehn weiteren auch mit Soziologie bezeichneten Lehrstühlen führte.1 Dirk Käsler hat in einer Auswertung der Protokolle der ersten sieben Soziologentage eine Gliederung der Teilnehmer in eine Kerngruppe, einen inneren und einen äußeren Rand sowie eine Peripherie ausgemacht, von der hier nur die ersten drei namentlich spezifiziert seien. Der Kern bestand aus Franz Oppenheimer, Werner Sombart, Ferdinand Tönnies, Max Weber und Leopold von Wiese; der innere Rand aus Max Adler, Hans Kelsen, Karl Mannheim, Max Scheler, Georg Simmel, Othmar Spann, Hans Lorenz Stoltenberg, Ernst Troeltsch und Alfred Weber; der äußere Rand aus Ladislaus von Bortkiewicz, Kurt Breysig, Carl Brinkmann, Rudolf Goldscheid, Paul Honigsheim, Hermann Kantorowicz, Robert Michels, Alfred Ploetz und Erich Rothacker.2 Nicht wenige dieser Wissenschaftler haben freilich eher in anderen Fächern profilbildend gewirkt: Sombart in der Nationalökonomie, Kelsen und Kantorowicz in der Rechtswissenschaft, Troeltsch in der Theologie, Breysig in Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie, Ploetz in der ,Rassenhygiene‘ und Rothacker in der Philosophie. Von den Mitgliedern der Kerngruppe kommt vor allem Max Weber aufgrund seiner persönlichen Beziehungen zum George-Kreis als Kandidat für mögliche Rezeptionsprozesse in Betracht.3 In der Forschung wird dies auch meist so gesehen, allerdings 1 Vgl. Käsler, Soziologie, S. 294, 299. 2 Vgl. ebd., S. 37f. 3 Zu den Beziehungen zwischen Max Weber und dem George-Kreis vgl. Edith Weiller, Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnungen zweier Kulturen, Stuttgart 1994, S. 61ff.; Groppe 1997, S. 561ff.; Francesco Ghia, Max Weber und die Kunst. Versuch einer Rekonstruktion der Weberschen Ästhetik, Hamburg 2005, S. 187ff.

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mit der Einschränkung, dass die Rezeption hauptsächlich als Reaktionsbildung, als Profilierung in eine antipodische Richtung verstanden wird, von der aus der Kreis allenfalls als Studienobjekt für die soziologische Untersuchung von Sekten infrage kam.4 In Wahrheit verdankt Max Weber der Begegnung mit StG jedoch mehr. Der Begriff der Sekte, wie er ihn in der Erstfassung der Protestantischen Ethik (1904/05) sowie in dem Aufsatz über Kirchen und Sekten in Nordamerika (1906) entwickelte, beschränkte sich auf das religiöse Feld und hob vor allem zwei Merkmale hervor: das „voluntaristische“ Prinzip des Beitritts und die Konstituierung als „Gemeinschaft der persönlich Gläubigen und Wiedergeborenen“, die auf permanenter Bewährung und Anerkennung der religiösen Qualifikation durch die Gruppe beruhe.5 Beide Merkmale entdeckte Weber auch in den Vereinen und Klubs Nordamerikas, die bei aller Weltlichkeit der Zielsetzungen doch durch die „Schule der Sekten“ gegangen seien. Ihrem Wesen nach handele es sich um ,Artefakte‘, in der Terminologie von Ferdinand Tönnies gesprochen: ,Gesellschaften‘, und nicht ,Gemeinschaften‘. Das heißt: sie ruhen weder auf ,Gemüts‘-Bedürfnissen, noch erstreben sie ,Gemütswerte‘; der Einzelne sucht sich selbst zu behaupten, indem er sich der sozialen Gruppe eingliedert; es fehlt jene undifferenzierte bäurisch-vegetative ,Gemütlichkeit‘, ohne die der Deutsche keine Gemeinschaft pflegen zu können glaubt. Die kühle Sachlichkeit der Vergesellschaftung fördert die präzise Einordnung des Individuums in die Zwecktätigkeit der Gruppe – sei diese Football-Club oder politische Partei –, aber sie bedeutet keinerlei Abschwächung der Notwendigkeit für den Einzelnen, für seine Selbstbehauptung konstant besorgt zu sein […]. Und nie ist daher der soziale Verband, dem der Einzelne zugehört, für ihn etwas ,Organisches‘, ein mystisch über ihm schwebendes und ihn umschließendes Gesamtwesen, stets vielmehr ganz bewußt ein Mechanismus für seine eigenen, materiellen oder ideelen [sic] Zwecke.6

Von dieser ursprünglichen Fassung unterscheidet sich diejenige, die Weber 1910 seinen Beiträgen zum Ersten Soziologentag zugrunde legte, in zwei wesentlichen Punkten. Zum einen generalisierte er den Begriff der Sekte und wandte ihn auch auf Erscheinungen außerhalb des religiösen Feldes an: auf die Wiener psychoanalytische Vereinigung, auf die Gesellschaft für Rassenhygiene und: auf den George-Kreis. Aehnliches kann z. B. auch auf dem Gebiete des Aesthetischen: der künstlerischen Sektenbildung, sich ereignen, ja, die von künstlerischen Weltgefühlen getragenen Sekten gehören in soziologischer Hinsicht – sie bieten auch sonst ein erhebliches Interesse – oft zu dem Interessantesten, was es geben kann; sie haben noch heute, ganz wie eine religiöse Sekte, ihre Inkarnationen des Göttlichen gehabt – ich erinnere an die Sekte Stefan Georges –, und die Prägung der praktischen Lebensführung, der inneren Attitüde zum gesamten Leben, die sie in ihren Anhängern erzeugen, kann eine sehr weitgreifende sein.7

Zum anderen fasste Weber nun auch die Möglichkeit eines Sektentypus ins Auge, der mehr ,Gemeinschaft‘ als ,Gesellschaft‘ war. Dieser Gedanke bestimmte seine Ausführungen zum östlichen Christentum und den russischen Sekten, mit denen er Troeltschs Vortrag über Das stoisch-christliche Naturrecht ergänzte.8 4 Vgl. Kruse, Heidelberger Soziologie, S. 263ff. 5 M. Weber, Protestantische Ethik, S. 152f.; ders., Kirchen und Sekten, S. 390. 6 Ders., Kirchen und Sekten, S. 394. 7 Ders., Geschäftsbericht, S. 446. 8 Vgl. ebd., S. 467. Hier wie schon 1906 im oben angeführten Zitat bewegt sich Max Weber noch

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Es dürfte kein Zufall sein, dass Weber diese beiden Veränderungen zu einem Zeitpunkt vornahm, als sich sowohl seine persönlichen Kontakte zum George-Kreis als auch die sachliche Auseinandersetzung mit dessen Gedankenwelt vertieften, wofür der Brief an Dora Jellinek vom 9. Juni 1910 ein eindrucksvolles Zeugnis ist.9 Und damit nicht genug: Es war eben dieser ganz auf den George-Kreis bezogene Brief, in dem Weber erstmals den Begriff des ,Charisma‘ aus dem rein religiösen Kontext herauslöste und damit den Weg zu dessen Generalisierung zu einem soziologischen Typus im Rahmen der Herrschaftssoziologie eröffnete. Kurz darauf, in dem zwischen 1911 und 1913 entstandenen Manuskript Staat und Hierokratie, hat Weber diese begrifflichen Innovationen zusammengeführt und die Sekte als „eine Gemeinschaft rein persönlich charismatisch qualifizierter Personen“ definiert, als „ein aristokratisches Gebilde“, das auf dem freiwilligen Zusammenschluss von Einzelnen beruht, die qualifiziert sind „entweder kraft göttlicher Prädestination“ oder „kraft spezifischer pneumatischer Begabung“ oder „kraft eines anderen ihm gegebenen oder von ihm erworbenen spezifischen Charisma“.10 Später, in der Endfassung von Wirtschaft und Gesellschaft, wird als ein weiteres Merkmal solcher charismatischen Vergemeinschaftungen noch die Wirtschaftsfremdheit bzw. „Enthebung aus den Wirtschaftskämpfen durch Begrenzung der im eigentlichen Sinn Berufenen auf ,wirtschaftlich Unabhängige‘ (also: Rentner)“ hinzugefügt, doch ist dabei zu beachten, dass sich diese Bestimmung im Abschnitt über das „reine Charisma“ findet, nicht in dem folgenden über die Veralltäglichung des Charisma.11 Die soziale Verortung im ,Rentnertum‘ kann deshalb nicht als Webers letztes Wort in dieser Sache gelten. Dass „George und sein Kreis Webers Wissenschaft im positiven Sinne nicht beeinflusst haben“,12 wird man nach alledem nicht sagen können. Es spricht im Gegenteil viel dafür, die spezifische Bedeutung, die zentrale Begriffe wie Sekte und Charisma in Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie erhalten haben, auf eine produktive Verarbeitung der Begegnung mit StG und seinem Kreis zurückzuführen. Mit den genannten Begriffen hat Weber Richtpunkte gesetzt, die bis heute die Debatte über den George-Kreis bestimmen. Das kann hier nicht in seiner ganzen Breite ausgeleuchtet werden, zumal viele Adaptionen fachlich nicht der Soziologie, sondern der Literatur-, Religions- oder Erziehungswissenschaft zuzurechnen sind. Zwei Beiträge verdienen jedoch Beachtung, da sie von Fachsoziologen stammen und sowohl Einflüsse vonseiten Max Webers als auch vonseiten des George-Kreises erkennen lassen. Joachim Wach (1898–1955), der in Leipzig, München, Freiburg, Berlin und Heidelberg studierte und nicht nur Friedrich Heiler, Ernst Troeltsch und Adolf ganz im Kategoriensystem von Tönnies. Das änderte sich erst im Zuge der Arbeit an seinen Beiträgen zum Grundriß der Sozialökonomik und erst recht mit dem sogenannten ,Logos-Aufsatz‘ von 1913, in dem ,Vergesellschaftung‘ zu einem Unterfall von ,Gemeinschaftshandeln‘ wird. Vgl. dazu Klaus Lichtblau, ,Vergemeinschaftung‘ und ,Vergesellschaftung‘ bei Max Weber. Eine Rekonstruktion seines Sprachgebrauchs, in: Zeitschrift für Soziologie 29/2000, S. 423–443. 9 Vgl. M. Weber an Dora Jellinek v. 9.6.1910, in: Max Weber, Briefe 1909–1910, hrsg. v. M. Rainer Lepsius u. Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard u. Manfred Schön, Tübingen 1994 (Gesamtausgabe 2/6), S. 559–563. 10 Ders., Wirtschaft und Gesellschaft, Teilbd. 4: Herrschaft, hrsg. v. Edith Hanke in Zusammenarbeit mit Thomas Kroll, Tübingen 2005 (Gesamtausgabe 1/22–24), S. 668f. 11 Ders., Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., besorgt v. Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 1976, S. 142. 12 Kruse, Heidelberger Soziologie, S. 263.

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von Harnack als akademische Lehrer hatte, sondern auch Max und Alfred Weber sowie Friedrich Gundolf, nahm seit 1927 einen Lehrauftrag für Religionssoziologie an der Universität Leipzig wahr, war mit einem einschlägigen Artikel 1931 im Handwörterbuch der Soziologie vertreten und publizierte noch im gleichen Jahr eine Einführung in die Religionssoziologie.13 Auch wenn sein Interesse für Bünde, Sekten, Bruderschaften und Orden sowie das Verhältnis zwischen Meister und Jünger nicht allein seiner Faszination für StG zugeschrieben werden kann, sondern ebenso viele Impulse von seinen Aktivitäten in der Deutschen Freischar empfing,14 ist doch dem Urteil Rainer Flasches zuzustimmen, dass sich bei den von Wach entwickelten Typen immer wieder der George-Kreis über das dargebotene religionsgeschichtliche und -soziologische Material schiebt.15 Während dies im späteren Schrifttum meist nur implizit geschieht,16 erfolgt es explizit in den Texten von Anfang der 20er-Jahre: zum einen in der Studie über den Erlösungsgedanken, die dem Wirken StGs und seines Kreises das Verdienst zuschreibt, die „grundsätzliche Bedeutung von der Auffassung von der Einheit des Menschen für alle Wissenschaft und Kunst, die sich mit ihm beschäftigt, darüber hinaus für alle ,Politik‘, die mit ihm zu rechnen hat“, herausgestellt zu haben;17 zum anderen in den beiden „religionssoziologischen Betrachtungen“ über Meister und Jünger, die mit einem Zitat von StG beginnen und mit einer Laudatio der Leistungen von Wissenschaftlern des Kreises sowie einer Referenz auf Schmalenbachs Begriff des Bundes enden.18 Als die Schrift im Druck vorlag, fragte Wach bei Gundolf an, ob er es wagen dürfe, „ein Exemplar des bescheidenen Büchleins dem Manne zu übersenden, dessen Gestalt mir bei der Abfassung so oft vor der Seele stand, dessen Werk meine heiße Liebe und Bewunderung gilt.“19 Als „eine Deutung aus der Sicht Max Webers“ war auch der Aufsatz Stefan George und sein Kreis überschrieben, den der norwegische Soziologe Arvid Brodersen 1970 im Castrum Peregrini veröffentlichte.20 Der Aufsatz stellte die wichtigsten Äußerungen Webers zum Thema zusammen und verteidigte dessen Sichtweise gegen Kritiken, 13 Vgl. Joachim Wach, Religionssoziologie, in: Alfred Vierkandt (Hrsg.), Religionssoziologie, Berlin 1931, S. 479–494; ders., Einführung in die Religionssoziologie, Tübingen 1931. In diesen Band hat Wach auch seinen zuerst 1927 erschienenen Aufsatz Max Weber als Religionssoziologe aufgenommen, der neben einer Würdigung von Webers Leistung auch eine Kritik enthält, die sich vor allem daran entzündet, dass Weber zu wenig auf die subjektive Seite der Religion, auf das religiöse Erlebnis, geachtet habe: vgl. ebd., S. 65–98. 14 Vgl. Jerry Z. Muller, The Other God that Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism, Princeton 1987, S. 282. 15 Vgl. Rainer Flasche, Die Religionswissenschaft Joachim Wachs, Berlin 1978, S. 42. 16 Wie erst kürzlich nachgewiesen werden konnte, stammt der Aufsatz Stefan George: Poet and Priest of Modern Paganism, den der Herausgeber von Wachs Nachlass in den Band Joachim Wach, Understanding and Believing. Essays, mit e. Einl. hrsg. v. Joseph M. Kitagawa, New York, Evanston 1968, S. 11–29, aufgenommen hat, nicht von Wach, sondern von dem niederländischen Religionswissenschaftler Gerardus van der Leeuw. Vgl. dazu Kippenberg, Joachim Wachs Bild, S. 316ff. 17 Joachim Wach, Der Erlösungsgedanke und seine Deutung, Leipzig 1922, S. 4. Vgl. dort auch die Würdigung der Arbeiten von Gundolf und Hildebrandt, S. 8f., 79. 18 Vgl. ders., Meister und Jünger, S. 5, 74f. Der erste dieser beiden Aufsätze wurde 1922 für die Freideutsche Jugend geschrieben. Näher dazu Kippenberg, Joachim Wachs Bild, S. 326ff. 19 Zit. nach Kippenberg, Joachim Wachs Bild, S. 328. 20 Vgl. Arvid Brodersen, Stefan George und sein Kreis. Eine Deutung aus der Sicht Max Webers, in: CP 19/1970, 91, S. 5–24.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

wie sie aus dem Kreis, etwa von Wolters, geäußert worden waren. Brodersen (1904–1996) hatte 1931 in Berlin bei Werner Sombart promoviert und bald darauf gemeinsam mit Rolf Gardiner und Wolfgang Frommel den Versuch unternommen, den Nationalsozialismus zur Schaffung einer neuen europäischen Elite nach dem Vorbild des George-Kreises zu bewegen.21 Zwei Jahre später publizierte er in Frommels Runde-Verlag einen ganz dem Werk StGs gewidmeten Beitrag,22 übrigens unter dem Lektorat eines weiteren Soziologen, der zu dieser Zeit dort arbeitete und später zu den bedeutendsten Repräsentanten der bundesrepublikanischen Soziologie gehörte – Rene´ König.23 In Norwegen besorgte Brodersen die Übersetzung von Texten Max Webers, arbeitete während der Besatzungszeit mit dem Widerstand zusammen und ging schließlich 1949 an die New School of Social Research, wo er bis 1980 als Soziologe wirkte.24 Von den verbleibenden Repräsentanten der Kerngruppe haben Oppenheimer und von Wiese keine Impulse aus dem George-Kreis aufgenommen. Auch für Tönnies ist nichts dergleichen belegt, doch kann man sich unschwer ausmalen, dass die Stellungnahme eines Autors, der sich kritisch über den Nietzsche-Kultus (1897) geäußert hatte, nicht unbedingt positiv ausgefallen wäre. Immerhin unternahm ein informeller Schüler, der zugleich ein solcher von Simmel war, Herman Schmalenbach,25 einen bemerkenswerten Versuch, seine wie immer auch kurzen Erfahrungen mit dem George-Kreis für eine Erweiterung von Tönnies’ berühmter Zweiteilung des Gegenstandsbereiches der Soziologie in ,Gemeinschaft‘ und ,Gesellschaft‘ fruchtbar zu machen. Schmalenbach bezeichnete diese Unterscheidung als „die wichtigste Erkenntnis der jüngeren Soziologie“, die geeignet sei, den größten Teil der sozialen Phänomene einzufangen, von den naturhaften, im Unbewussten wurzelnden wie Familie, Verwandtschaft und Nachbarschaft bis zu den künstlichen, die „wesenhafte Separiertheit der Individuen“ voraussetzenden, wie sie vor allem für die wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Ordnungen charakteristisch seien.26 Dennoch werde von diesem Dual eine bedeutende Verbandsform nicht erfasst, auf die sich vor allem „das soziale

21 Vgl. Rolf Gardiner/Arvid Brodersen/Karl Wyser (d. i. Wolfgang Frommel), Nationalsozialismus vom Ausland gesehen, Berlin 1933. Vgl. dazu Günter Baumann, Dichtung als Lebensform, S. 202ff. 22 Vgl. Arvid Brodersen, Stefan George. Deutscher und Europäer, Berlin 1935. 23 Rene´ König (1906–1992) war nach seiner Promotion in Berlin über Die naturalistische Ästhetik in Frankreich und ihre Auflösung über seinen Studienfreund Gerhard Bahlsen zum Verlag gekommen, der 1933 dort als Teilhaber eingetreten war. Ob Königs spätere Darstellung zutrifft, Bahlsen habe ihn „als eine Art Wachhund“ geholt, der verhindern sollte, „daß allzu bildungsmäßige Publikationen aus dem George-Kreis übernommen wurden“, sei dahingestellt (Rene´ König, Leben im Widerspruch. Versuch einer intellektuellen Autobiographie, München, Wien 1980, S. 112). Sein 1935 im Runde-Verlag erschienenes Buch Vom Wesen der deutschen Universität lässt aber irgendwelche Einflüsse aus diesem Kreis so wenig erkennen wie sein in dieser Zeit sich herausbildendes soziologisches Denken, das sich an der positivistischen Tradition im Sinne der Durkheim-Schule orientiert. Zu Königs Rolle im Runde-Verlag vgl. Baumann, Dichtung als Lebensform, S. 157, 201f., sowie das Nachwort von Hans Peter Thurn zur Neuausgabe von Königs Buch über das Wesen der deutschen Universität (Opladen 2000, S. 243–270). 24 Vgl. Rune Slagstad, Arvid Brodersen – en verdikonservativ eksistensialist, in: Dagbladet v. 14.7.1996. 25 Vgl. ¤ Herman Schmalenbach. 26 Vgl. Schmalenbach, Kategorie des Bundes, S. 35, 41, 71, 76.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Soziologie

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Verlangen der heutigen Jugend“ richte: der Bund.27 Dieser basiere weder auf natürlichen Zusammengehörigkeiten noch auf zweckrational motivierten Vertragsbeziehungen, sondern sei ein Drittes, Eigenständiges: ein aus Gefühlserlebnissen, aus der Begeisterung für ein Ideal, einen Heros oder Meister hervorgehender Zusammenschluss ursprünglich voneinander Getrennter, der sich durch „schlechthinige Hingabe, Opferbereitschaft, rest- und rückhaltloses Sichschenken, nicht zunächst von Sachen, sondern des Selbst“ auszeichne.28 Für die Abgrenzung von der ,Gemeinschaft‘ zog Schmalenbach StG heran, für die Abgrenzung von der ,Gesellschaft‘ Max Webers Begriff des ,Charisma‘, auch wenn er Webers Soziologie insgesamt als „rationalistisch“ verurteilte.29 Die Gegenwart und auch noch die nahe Zukunft sah Schmalenbach von der Dominanz der ,Gesellschaft‘ bestimmt, die er ganz in der Tonlage der Jahrbücher für die geistige Bewegung beschrieb. Zugleich machte er jedoch erste Anzeichen einer neuen, ,spätzeitlichen‘ Epoche aus, die durch den Einbruch der Barbaren einerseits, die Formierung neuer Bünde als Träger neuer Religion und Kultur andererseits bestimmt sei.30 Schmalenbach vermied es, seine Gegenwartsdiagnose mit aktuellen politischen Erscheinungen zu verbinden.31 In der Folgezeit fand sein Konzept des Bundes jedoch insofern Resonanz, als es schon bald auf eine bestimmte Form modernen politischen ,Bündlertums‘ bezogen wurde: den Faschismus. Publizisten wie Fritz Schotthöfer und Johann W. Mannhardt deuteten das italienische Original als Bündlertum, als ein „System von ausgesprochenen Männerbünden“,32 Soziologen wie Sigmund Neumann und Heinz Marr übertrugen diese Charakterisierung auf das deutsche Pendant, die NSDAP,33 der Erstere in kritischer, der Letztere in affirmativer Absicht und damit zugleich den Boden bereitend für nationalsozialistische Adaptionen des Themas.34 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Konzept von Maurice Duverger aufgegriffen und insofern generalisiert, als die spezifische Differenz nicht nur der faschistischen, sondern auch der kommunistischen Parteien an ihrer Eigenschaft als Bund festge27 Ebd., S. 41. 28 Ebd., S. 62, 67, 73. Vgl. dazu auch das Echo bei Joachim Wach: „Das Jüngererlebnis des Meisters ist als solches bereits ein soziales, es ist, wie differenziert es im übrigen sein mag, Teil eines Kollektiverlebens. Es steht unter der Gesetzlichkeit der Gemeinschaften. Die entsprechende soziologische Kategorie ist, wie uns neuerdings so schön gezeigt worden ist, der Bund“ (Wach, Meister und Jünger, S. 44). 29 Vgl. Schmalenbach, Kategorie des Bundes, S. 42f., 97f., 93. 30 Vgl. ebd., S. 102ff. 31 Zu Schmalenbachs Wirkung in der Soziologie vgl. Markus Zürcher, Unterbrochene Tradition. Die Anfänge der Soziologie in der Schweiz, Zürich 1995, S. 26ff. Der Gegensatz zu Tönnies wird hier allerdings stark überzeichnet. 32 Vgl. Fritz Schotthöfer, Il fascio. Sinn und Wirklichkeit des italienischen Faschismus, Frankfurt/M. 1924, S. 64; Johann W. Mannhardt, Der Faschismus, München 1925, S. 164, 173f. 33 Vgl. Sigmund Neumann, Die politischen Parteien der Weimarer Republik (1932), 5. Aufl., Stuttgart 1986, S. 83; Heinz Marr, Die Massenwelt im Kampf um ihre Form, Hamburg 1934, S. 458ff. 34 Dafür steht etwa die in Frankfurt zunächst von Karl Mannheim und Norbert Elias, später von Heinz Marr und Ernst Krieck betreute Dissertation von Wolfgang Brobeil, Die Kategorie des Bundes im System der Soziologie (1936) oder die in München bei dem NS-Philosophen Hans Alfred Grunsky vorgelegte Arbeit von Max Nitzsche, Bund und Staat. Wesen und Formen der bündischen Ideologie (1942). Nitzsches Schrift enthält eine heftige Attacke gegen den George-Kreis auf der Linie von Hans Rößner (S. 3–27). Vgl. dazu III, 7.5.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

macht wurde. Duverger schloss sich an Schmalenbachs Bestimmung des Bundes als einer zwischen ,Gemeinschaft‘ und ,Gesellschaft‘ angesiedelten Kategorie an, die wie die Letztere auf freiwilliger Zugehörigkeit beruhe, zugleich aber wie die Erstere die ganze Persönlichkeit, und hier speziell das Gefühlsleben, ergreife. Während normale Parteien stets eine Mischung aus gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen und bündischen Elementen darstellten, seien Parteien wie die faschistischen und kommunistischen durch das Übergewicht der bündischen Komponente bestimmt und eben dadurch totalitär. So entsprechen schließlich die kommunistischen und faschistischen Parteien dem Begriff des Bundes, wie ihn Schmalenbach beschrieben hat. Die Nationalsozialisten haben dies ausdrücklich bestätigt und die meisten faschistischen Parteien sind diesem Beispiel gefolgt.35

Das Echo dieser Vorstellung reicht bis in die jüngsten Forschungen zum Faschismus.36 Von den Soziologen des inneren und äußeren Randes haben sich Scheler, Simmel und Alfred Weber auf den George-Kreis bezogen. Scheler, der nicht nur Philosoph, sondern auch Soziologe war – neben Karl Mannheim der bedeutendste Vertreter einer „Soziologie des Wissens“ – hat das nur in obiter dicta getan.37 Seine Absicht, darüber hinauszugehen, ist nicht in Erfüllung gegangen. In der Einleitung zu dem 1924 von ihm herausgegebenen Sammelwerk Versuche zu einer Soziologie des Wissens musste er bedauernd bekennen, dass sich für den George-Kreis kein Bearbeiter gefunden habe. Scheler selbst konnte dies nicht mehr nachholen, er starb 1928. Weitaus größere Bedeutung haben StG und sein Kreis dagegen für Georg Simmel gehabt, allerdings, wie sogleich hinzuzufügen ist, mehr für den Kunstphilosophen und Ästhetiker als für den Soziologen, der sein entsprechendes Schrifttum stets nachdrücklich von seinen philosophischen und ästhetischen Schriften getrennt hat.38 Zentrale Bausteine seines soziologischen Werks entwickelte er bereits in seiner frühen Schrift Über soziale Differenzierung (1890), als er StG noch nicht kannte und Göttern huldigte, die der Kreis später strikt aus seinem Pantheon verbannte: dem evolutionistischen Positivismus im Stil Herbert Spencers, der den gesellschaftlichen Fortschritt als Wechselspiel von Differenzierung und Integration verstand, und dem Naturalismus, wie ihn Simmel im Werk Gerhart Hauptmanns als der „erste[n] künstlerische[n] Gestaltung“ der ,sozialen Weltanschauung‘ verkörpert sah.39 In seinem Aufsatz über Soziologische Ästhetik von 1896 erweiterte Simmel seine Perspektive zwar, indem er die moderne Kultur von einem Konflikt zwischen einem ,ästhetischen Pantheismus‘ 35 Maurice Duverger, Les partis politiques, Paris 1951 (dt.: Die politischen Parteien, Tübingen 1959, S. 145). Anregungen in dieser Hinsicht mögen von Raymond Arons Überblick über La sociologie allemande contemporaine (Paris 1935, 2. Aufl. 1950) ausgegangen sein, der einen längeren Abschnitt über den „hervorragenden Artikel“ Schmalenbachs enthält: vgl. Raymond Aron, Die deutsche Soziologie der Gegenwart, Stuttgart 1953, S. 21ff. 36 Vgl. Emilio Gentile, Storia del partito fascista 1919–1922. Movimento e Milizia, Roma, Bari 1989, S. 525; Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln u. a. 2002, S. 390ff. 37 Vgl. III, 6.5. 38 Vgl. Lichtblau, Kulturkrise, S. 116f. 39 Vgl. ebd., S. 208. Die Nähe des jungen Simmel zur naturalistischen Bewegung erörtert Klaus Köhnke, Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, Frankfurt/M. 1996, S. 243ff.

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und einem ,ästhetischen Individualismus‘ geprägt sah, von denen der eine davon ausgehe, dass prinzipiell allein Manifestationen des modernen Lebens ein ästhetischer Bedeutungsgehalt abgewonnen werden könne, wohingegen der andere gerade die Rangordnung der Dinge betone, doch lag auch dies noch vor der Begegnung mit StG und ergab sich aus Simmels zu dieser Zeit einsetzenden Nietzsche-Rezeption.40 Die Philosophie des Geldes von 1900 ließ in ihren kulturkritischen Passagen gewiss auch Einflüsse StGs erkennen,41 bezog aber mit ihrem „Perspektivenwechsel von der Substanz zur Relation“ schon Gegenpositionen zu zentralen Auffassungen des Kreises, insbesondere Gundolfs, noch bevor diese formuliert waren.42 In der großen Soziologie von 1908, die den Themenkreis der frühen Differenzierungsschrift erheblich erweiterte, andererseits aber auch ganze Passagen daraus übernahm, ist ein Einfluss StGs nicht zu erkennen, wenn man denn nicht im Abschnitt über „Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft“ eine Art vorwegnehmende Soziologie des George-Kreises sehen will.43 Immerhin war es über einen Schüler Simmels, Kurt Singer,44 dass Themen und Topoi des George-Kreises auch in die Soziologie Eingang fanden. Singer war zwar von seiner Ausbildung her Nationalökonom, doch gehörte er zwischen 1905 und 1907 zu den regelmäßigen Hörern Simmels in Berlin. 1907 stellte er dessen Soziologie der Religion in einem kurzen Beitrag in der Neuen Rundschau vor.45 Seine erste längere Einlassung zur Soziologie, eine im Mai 1920 vor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg gehaltene Probevorlesung, war freilich auch schon gleich sein Abschied von diesem Fach, das ihm in keiner Hinsicht ausgereift schien: nicht in seiner positivistischen Gestalt, aber auch nicht in der verfeinerten Ausformung, die Simmel und Weber ihm verliehen hatten. Dabei ergriff Singer ausdrücklich Partei für die Kritik, die Erich von Kahler an Webers Wissenschaftsverständnis geübt hatte und warf diesem vor, zur Erfassung des „lebendigen irrationalen Kern[s]“ ungeeignet zu sein.46 Noch im gleichen Jahr schrieb er allerdings einen Nachruf auf den eben Gestorbenen, in dem er dessen Ambivalenz gegenüber dem Rationalisierungsprozess würdigte.47 Auf dem Züricher Soziologentag 1928 beteiligte er sich wohl noch einmal an der soziologischen Debatte über den Verstehensbegriff,

40 Vgl. Lichtblau, Kulturkrise, S. 210f., 108. 41 Vgl. Breuer 1995, S. 175f. 42 Vgl. Willfried Geßner, Der Schatz im Acker. Georg Simmels Philosophie der Kultur, Weilerswist 2003, S. 88; Otto Gerhard Oexle, Georg Simmels Philosophie der Geschichte, in: Schlieben u. a. (Hrsg.), Geschichtsbilder, S. 19–50, hier: 21, 34ff. 43 Vgl. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968, S. 257ff. Zur Rolle des Geheimnisses in der Dichtung StGs und im Kreis vgl. Friedrich Gundolf, George, 2. Aufl., Berlin 1921, S. 27, 205, 250, 265 passim. Vgl. auch Ulrich Raulff, „In unterirdischer Verborgenheit“ – Das geheime Deutschland – Mythogenese und Myzel, in: Schlieben u. a. (Hrsg.), Geschichtsbilder, S. 93–115, hier: 114: „Für die Georgeaner haben der Glaube an das Geheime und der Respekt vor ihm einen besonderen Wert gehabt“. 44 Vgl. ¤ Kurt Singer. 45 Vgl. Kurt Singer, Anmerkung zu Simmels ,Religion‘, in: Die neue Rundschau 18/1907, 9, S. 1145–1146. 46 Vgl. ders., Die Krisis der Soziologie, in: Weltwirtschaftliches Archiv 16/1920/21, S. 246–261. 47 Vgl. ders., [Max Weber und diese Zeit], in: Ders., Staat und Wirtschaft seit dem Waffenstillstand, Jena 1924, S. 95–99.

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hatte aber längst sein Interesse anderen Themen und Disziplinen zugewandt, insbesondere der Philosophie und später auch der Japanologie.48 Von Alfred Weber (1868–1958) ist gesagt worden, er habe die Muster georgianischer Kulturkritik in heuristische Prinzipien der Kultursoziologie transformiert.49 Sieht man davon ab, dass sich die Kritik des George-Kreises primär auf die moderne Zivilisation und nur vermittelt auf die von dieser hervorgebrachte zeitgenössische Kultur bezog, insofern also eher Zivilisations- als Kulturkritik genannt zu werden verdient, fügt man außerdem hinzu, dass neben dem George-Kreis auch noch andere Einflüsse in dieser Richtung wirkten, insbesondere Bergson und die Jugendbewegung,50 dann ist dieser Charakterisierung durchaus zuzustimmen. Alfred Weber selbst hat StG, dem er nur ein einziges Mal persönlich begegnet ist,51 als denjenigen „wirkenden Menschen“ bezeichnet, dem er sich „so nah und so zu Dank verpflichtet“ fühle wie keinem anderen;52 und auch sein Bruder hat diesen Enthusiasmus bezeugt.53 Als Schüler von Gustav Schmoller, dessen frühe Arbeiten sich mit Themen wie Hausindustrie und volkswirtschaftliche Standortlehre befassten, wurde Alfred Weber 1908 auf einen nationalökonomischen Lehrstuhl in Heidelberg berufen, wo er bald in engem Kontakt mit der dortigen Dependance des ,Staates‘ stand.54 Friedrich Gundolf gehörte zu seinen Gesprächspartnern, Edgar Salin, Arthur Salz, Wolfgang Heyer und Norbert von Hellingrath zählten zu seinen Schülern und Freunden.55 Sein zunehmendes Unbehagen an der Moderne, das sich 1910 in einem auch für Max Weber richtungsweisenden Vortrag über Bürokratie niederschlug, erfuhr durch diese Kontakte bedeutende Verstärkung, sowohl was die Krisendiagnose als auch was die daraus abgeleitete Fragestellung betraf, wie der „Gefahr des Untergehens der Bevölkerung im Apparat“ zu begegnen sei.56 Nicht anders als die Autoren des Jahrbuchs für die geistige Bewegung bestimmte Alfred Weber die Moderne als Zivilisation, als eine Sphäre, die von der ,ordnenden Kraft‘, in Webers Sprache: der Zweckrationalität, ihre Prägung empfing; nicht anders als jene grenzte auch Weber von dieser Sphäre, in der alles Funktion war, das Reich der Kultur ab, der ,schaffenden Kraft‘, von der her allein die Impulse kommen konnten, die dem Fortschritt Sinn und Ziel verliehen. 48 Vgl. Tilman Allert, Das gebrochene Pathos der Auserwähltheit. Zwischen Stefan George und Kurt Simmel: Eine intellektuelle Biographie Kurt Singers, in: Saeculum 51/2000, 1, S. 100–157, hier: 149, 124ff. 49 Vgl. Kruse, Heidelberger Soziologie, S. 269. 50 Vgl. Demm, Ein Liberaler, S. 48, 127ff.; Wolfgang Schluchter, Max Weber und Alfred Weber. Zwei Wege von der Nationalökonomie zur Kultursoziologie, in: Hans G. Nutzinger (Hrsg.), Zwischen Nationalökonomie und Universalgeschichte: Alfred Webers Entwurf einer umfassenden Sozialwissenschaft in heutiger Sicht, Marburg 1995, S. 199–222; ders., Max Weber und Alfred Weber: zwei Begründungen der Kultursoziologie, in: Ders., Handlung, Ordnung und Kultur, Tübingen 2005, S. 124–136, hier: 132. 51 Vgl. Alfred Weber an Else Jaffe´ v. 7.5.1911, in: A. Weber, Ausgewählter Briefwechsel, S. 479. 52 Vgl. Alfred Weber an F. Gundolf v. 9.7.1909, in: ebd., S. 116. 53 So bezeichnet er ihn brieflich nachgerade als „Stefan-George-Jünger“: vgl. M. Weber an Marianne Weber v. 14.9.1916, in: Ders., Briefe 1915–1917, hrsg. v. Gerd Krumeich u. M. Rainer Lepsius in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard u. Manfred Schön, Tübingen 2008 (Gesamtausgabe 2/9), S. 540f. 54 Zur Biographie vgl. Demm, Ein Liberaler; ders., Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik. 55 Vgl. ders., Ein Liberaler, S. 58ff. 56 Vgl. Alfred Weber, Der Beamte, in: Die neue Rundschau v. Oktober 1910, S. 1321–1339 (auch in: Ders., Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie, S. 98–117, hier: 105).

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Im Unterschied zu den Jahrbuch-Autoren neigte Alfred Weber allerdings dazu, den Zivilisationsprozess als eine „Fortsetzung der biologischen Entwicklungsreihe der Menschheit“ aufzufassen, als eine Erhaltung und Erweiterung ihrer naturalen Existenz, welche als solche nicht zur Disposition stand.57 Daraus ergab sich eine deutliche Abschwächung der Zeitkritik gegenüber derjenigen des George-Kreises. Es ging nun nicht mehr darum, dem Fortschritt in toto den Kampf anzusagen, sondern darum, ihn in einen von der Kultur her geprägten normativen Rahmen einzubetten, wie dies etwa auch Houston Stewart Chamberlain in seinen viel gelesenen Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts gefordert hatte. Alfred Weber teilte diese Prämisse, dehnte aber die These von der Irreversibilität des Fortschritts auch auf die moderne Massendemokratie und den Sozialstaat aus und gelangte von dort aus zu gänzlich anderen politischen Konklusionen als der Vordenker des völkischen Nationalismus – Konklusionen, die ihn nach 1918 in die Spitze der Deutschen Demokratischen Partei führten.58 Seine Bereitschaft zur „Welteinfügung“59 trennte ihn schließlich auch vom George-Kreis. Denn obschon er dessen geistesaristokratische Ambitionen in vielem teilte, wollte er diese doch mit dem Fortschritt, und nicht gegen ihn, zur Geltung bringen. In einem autobiographischen Rückblick würdigte er an den Georgianern unter seinen Schülern die hohen Maßstäbe, denen sie sich verpflichtet hätten, erklärte es aber für bedenklich, dass sie „gegenüber den klaren demokratischen Notwendigkeiten der Zeit einen romantischen Heroenkult nicht bloß des ,Meisters‘, sondern der eigenen Gemeinsamkeit“ praktizierten, „welcher als lebenspraktischen Kern eine Selbstbespieglung der in die Lehre Eingeweihten enthielt, einen ausgesprochenen Snobismus der ,Auserlesenen Schar‘“.60 In der Weimarer Republik zählte Alfred Weber zu den bekanntesten Repräsentanten der deutschen Soziologie. Bei aller Bedeutung, die das von ihm gegründete und bis 1933 geleitete Institut für Staatswissenschaften besaß,61 wird man jedoch feststellen müssen, dass die von ihm entwickelte Kultursoziologie wissenschaftsgeschichtlich in einen Seitenarm mündete, der schon bald versandete. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil die aus dem George-Kreis übernommenen heuristischen Prinzipien zwar geeignet sein mochten, eine gewisse Problemsensibilität zu wecken, jedoch in dem Maße, in dem sie wörtlich genommen wurden, von der Soziologie wegführten und stattdessen einen mächtigen Sog in Richtung Wissenschaftsfeuilleton entfalteten. Als Talcott Par57 Vgl. ders., Der soziologische Kulturbegriff, in: Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziologentages 20.–22.10.1912 in Berlin, Tübingen 1913, S. 1–20 (auch in: Ders., Schriften zur Kulturund Geschichtssoziologie, S. 60–75, hier: 66). 58 Vgl. die bereits angeführten Arbeiten von Demm sowie seine Studie: Entfremdung durch ,Mechanisierung‘ und Bürokratisierung. Die Kulturkritik Alfred Webers und des Stefan George-Kreises, in: Ders., Geist und Politik im 20. Jahrhundert. Gesammelte Aufsätze zu Alfred Weber, Frankfurt/M. u. a. 2000, S. 99–109. 59 Alfred Weber, Gedanken zur deutschen Sendung, Berlin 1915 (auch in: Ders., Politische Theorie und Tagespolitik (1903–1933), hrsg. v. Eberhard Demm, Marburg 1999 [Gesamtausgabe 7], S. 116–177, hier: 169). 60 Ders., Die Jugend und das deutsche Schicksal (1955). Persönliche Rückblicke und Ausblicke, in: Ders., Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie, S. 617–633, hier: 623f. Weitere Zeugnisse einer offenbar schon relativ früh einsetzenden Distanzierung bei Demm, Ein Liberaler, S. 57. 61 Vgl. Reinhard Blomert, Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit, München, Wien 1999.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

sons in den 50er-Jahren während eines Kongresses Alfred Weber so scharf angriff, dass dieser verzweifelt fragte, ob er denn sein ganzes Lebenswerk in Zweifel ziehen wolle, erhielt er die Antwort: „Keineswegs, Herr Professor, ich würde es nur nicht als Soziologie bezeichnen.“62 Parsons, dieser bedeutende Systematiker der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte übrigens 1927 als letzter Doktorand Edgar Salins in Heidelberg promoviert und war damit gewissermaßen ein Produkt des George-Kreises. Literatur Breuer 1995; Groppe 1997. Baumann, Günter, Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Würzburg 1995. Böschenstein, Bernhard / Egyptien, Jürgen / Schefold, Bertram / Vitzthum, Wolfgang Graf (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005. Demm, Eberhard, Ein Liberaler in Kaiserreich und Republik. Der politische Weg Alfred Webers bis 1920, Boppard 1990. Ders., Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik. Der politische Weg Alfred Webers 1920–1958, Düsseldorf 1999. Käsler, Dirk, Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs-Milieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung, Opladen 1984. Kippenberg, Hans G., Joachim Wachs Bild vom George-Kreis und seine Revision von Max Webers Soziologie der religiösen Gemeinschaften, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 61/2009, S. 313–331. Kruse, Volker, Die Heidelberger Soziologie und der Stefan George-Kreis, in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler, S. 259–276. Lichtblau, Klaus, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt/M. 1996. Schlieben, Barbara / Schneider, Olaf / Schulmeyer, Kerstin (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004. Schmalenbach, Herman, Die soziologische Kategorie des Bundes, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften 1/1922, S. 35–105. Wach, Joachim, Meister und Jünger. Zwei religionssoziologische Betrachtungen, Tübingen 1924. Weber, Alfred, Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie (1906–1958), hrsg. v. Richard Bräu, Marburg 2000 (Gesamtausgabe 8). Ders., Ausgewählter Briefwechsel, hrsg. v. Eberhard Demm u. Hartmut Soell, Marburg 2003 (Gesamtausgabe 10). Weber, Max, ,Kirchen‘ und ,Sekten‘ in Nordamerika, in: Ders., Soziologie, weltgeschichtliche Analysen, Politik, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 4. Aufl., Stuttgart 1968, S. 382–397. Ders., Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 6. Aufl., Tübingen 1972, S. 17–206. Ders., Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, hrsg. v. Marianne Weber, 2. Aufl., Tübingen 1988, S. 431–449. Stefan Breuer 62 Zit. nach Demm, Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik, S. 90.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Pädagogik

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6.10. Pädagogik Erziehung und Bildung genossen im George-Kreis bekanntlich einen hohen Stellenwert. Zugleich waren sie in Verknüpfung mit dem pädagogischen Eros Teil jenes offenen und darum vielfach so attraktiven Geheimnisses des Kreises.1 Zu den vielen Stilisierungen in Wolters’ ,Blättergeschichte‘ gehört denn auch die von StG als dem Erzieher des ,Geheimen Deutschlands‘. Vorerst noch „vor den Augen der Öffentlichkeit“ verborgen habe dieser, so Wolters, „in den Jahren wo er die Eignung in sich fühlte, sich ununterbrochen der Erziehung gewidmet“. Gegenüber all jenen jedoch, die „zu ihm kamen und ihn um seine Meinung über Erziehung befragten, um sie anzuwenden auf die Dutzende neu hervorschießender Erziehungsanstalten, verhielt er sich ablehnend, weil er an eine Übertragung auf diesem Wege nicht glaubte“ (FW, 515). Wer dennoch das „Versuchsfeld für die Pflege und Ertüchtigung der Jugend“ bestellte und „sich auf Platon und George berufend das erotische Ideal der Jugenderziehung verkündete“, wurde schroff als „Süchtling“ gebrandmarkt, der dieses hohe Ideal „zu persönlichen Reizungen“ missbrauche (FW, 519f.). Der scharfe Ton solcher Abgrenzung vor allem gegen die Reformpädagogik der Zeit, die sich auch bei StG selbst, etwa in „Erzieher“ (IX, 87), oder vermittelt in den Periodika der Jugendbewegung findet,2 war dabei in der exklusiven Logik des Kreises begründet. Schließlich bewegte sich der George-Kreis in einem übergreifend kulturkritischen Diskursnetz,3 an dem seit der Jahrhundertwende die diversen lebensreformerischen, weltanschaulichen und eben auch reformpädagogischen Kreise knüpften. Hier galt es daher zumindest beim Gedanken einer Erziehung durch Dichtung oder der Wiederentdeckung der sokratisch-platonischen Päd-agogik gegenüber den anderen Konkurrenten um die Aufmerksamkeit der bildungsbürgerlichen Jugend so etwas wie den eigenen ,Markenkern‘ zu bewahren. Die Schärfe solcher Abgrenzungsversuche stand jedoch in einem auffälligen Widerspruch zur tatsächlichen Rezeption StGs. Denn obwohl immer wieder auch von Pädagogen auf „den Dichter“4 als kritischen Maßstab verwiesen wurde und zudem zahlreiche Querverbindungen des Kreises in einzelne Reformschulen bekannt sind, kann auf der Ebene der Erziehungskonzepte, also der pädagogischen Theorie im engeren Sinne, weder in der sich gerade institutionell emanzipierenden pädagogischen 1 Vgl. II, 6.6.; vgl. auch das Kapitel zur „hermetischen Pädagogik“ bei Groppe 1997, S. 412–497; Groppe, Erziehungskonzept. 2 Vgl. z. B. Henko [d. i. Emil Henk], In Wickersdorf (Ein Brief), in: Der Bund 1920, S. 189–193; vgl. die von Edgar Salin angeführte Äußerung StGs: „Wyneken ist ein dürrer Rationalist ohne Glauben und Ehrfurcht. Wer durch seine Schule geht, hat die Grundeigenschaft verlernt, mit der in jeder pädagogischen Provinz das Leben beginnt“ (ES, 33). 3 Vgl. Groppe, Reformpädagogik, S. 311ff. 4 Hans Blüher, Die Wiedergeburt der platonischen Akademie, Jena 1920, S. 18; Heinrich Deiters, Die Lebensform der Schule, in: Hermann Nohl/Ludwig Pallat (Hrsg.), Handbuch der Pädagogik, Bd. 4, Langensalza 1928, S. 3–47, hier: 42. Bekannt sind auch die George-Imitationen Hanns Meinkes, eines jugendbewegten Lehrers aus Streckenthin bei Pritzwalk, dem StG einen Spruch widmete („H. M:“; IX, 78); vgl. dazu III, 1.2., S. 845f., 858f.; Würffel, Wirkungswille, S. 68ff. Schließlich wäre noch Otto Kiefer zu nennen, der sich als Gründungsmitglied der ,Gemeinschaft der Eigenen‘ und Lehrer an der Odenwaldschule um die Rehabilitation des pädagogischen Eros bemühte und sich dazu auch auf StG stützte; vgl. Otto Kiefer, Der Eros bei Stefan George, in: Geschlecht und Gesellschaft 14/1926, S. 301–309.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Wissenschaft noch in der Reformpädagogik von einer nennenswerten Wirkung StGs oder der Ideen des Kreises gesprochen werden.5 StG mag also ein „Dichter für Pädagogen“ gewesen sein,6 ein Dichter für die Pädagogik, zumal für die zeitgenössische, war er sicher nicht. Dies lag einmal daran, dass die – zwar theoretisch untermauerte – Erziehungspraxis des Kreises nie in eine ausformulierte Erziehungstheorie mündete, an der die pädagogische Wissenschaft hätte anschließen können.7 Hinzu kommt, dass sowohl die von Carola Groppe eingehend untersuchten Erziehungsformen des Kreises, vor allem das Mentorensystem, als auch die Orientierung an eher traditionellen Bildungsgütern und bürgerlichen Wertvorstellungen (Disziplin, Arbeitsaskese, Emotionskontrolle) weder eine neue noch eine spezifische Pädagogik bedeuteten, sondern sich weitgehend in den Bahnen bürgerlicher Lebensführung und Erziehungsideale bewegten.8 Dass von individuellen Erlebnissen mit StG und dessen Dichtung sowie durch Freundschaften mit Kreismitgliedern dennoch Impulse für die Arbeit einzelner Pädagogen ausgehen konnten, bleibt gleichwohl unbenommen und ist – soweit ideengeschichtlich überhaupt rekonstruierbar – von Ulrich Raulff für Georg Picht, Josef Liegle u. a. untersucht worden.9 Für diejenigen Teile der reformpädagogischen Bewegung schließlich, die aus der Jugendbewegung kamen und mit dem George-Kreis die Gegnerschaft gegen einige moderne Zeittendenzen (Großstadt, Technisierung, Auflösung der Werthierarchien durch Wissenschaft und neue Lebensformen etc.) sowie die Autoritäten (Platon, Nietzsche und ein jugendbewegter StG10) teilten, kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu, den Einfluss StGs genauer zu fassen. So weisen die ideologischen Texte etwa Gustav Wynekens oder Hans Blühers zwar zahlreiche – selbst wiederum nicht exklusive – Topoi des George-Kreises auf (z. B. das Meister/Jünger- bzw. Führer/Gefolgschaft-Modell und der daraus erwachsende kulturelle „Adel der Menschheit“,11 die ordensähnlichen Sozialformen, Schmalenbachs Kategorie des ,Bundes‘, den Freundschaftskult etc.), doch waren diese Texte weitgehend eklektisch und darum semantisch auch keineswegs festgelegt. Zur Stabilisierung der eigenen weltanschaulichen 5 Vgl. Groppe, Reformpädagogik, S. 326f. Untersuchungen zur Wirkung StGs etwa in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik bei Nohl, Spranger, Litt u. a. fehlen denn auch gänzlich. 6 So die These bei Raulff 2009, S. 431f. 7 Vgl. Groppe 1997, S. 456. 8 Vgl. Groppe, Bürgerliche Lebensführung. 9 Vgl. Raulff 2009, S. 428–496. 10 Nach Elisabeth Busse-Wilson, einer frühen Chronistin der Jugendbewegung und selbst dem SeraKreis nahestehend, wurden hier von StG vor allem die besonders esoterischen Gedichte aus dem Siebenten Ring und dem Stern des Bundes gelesen. Vgl. Elisabeth Busse-Wilson, Stufen der Jugendbewegung, Jena 1925, S. 132; zum Verhältnis StG und Wyneken vgl. ebd., S. 134. Eine Untersuchung der starken Wirkung StGs auf die Jugendbewegung ist, obwohl vielfach unterstellt, allerdings noch immer ein Desiderat. Vgl. bisher lediglich die kurzen Bemerkungen bei Gerhard Ziemer, Zum Verhältnis Jugendbewegung und Stefan George, in: Jahrbuch des Archivs der Deutschen Jugendbewegung 3/1971, S. 8–11; Wilhelm Riegger/Otto Weise, Stefan George und die Jugendbewegung. Begegnungen und Kontakte, in: Jahrbuch des Archivs der Deutschen Jugendbewegung 13/1981, S. 129–134; Würffel, Wirkungswille, S. 51–79; exemplarisch zum Almanach Weisser Ritter Kolk 1998, S. 441–449; für die bündische Jugend vgl. III, 7.4. 11 Gustav Wyneken, Schule und Jugendkultur, Jena 1913, S. 69; ders., Wandervogel und Freie Schulgemeinde (1913), in: Ders., Der Kampf für die Jugend. Gesammelte Aufsätze, Jena 1919, S. 129; ders., Jugendkultur (1914), in: ebd., S. 125.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Pädagogik

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Grundlagen integrierten viele Reformpädagogen nämlich Elemente und Schlagworte aller geläufigen Theorieangebote und damit auch des George-Kreises in die eigenen Konzepte, wobei diese Quellen zumeist weder reflektiert noch überhaupt angegeben wurden, sodass mit Bezügen auf StG tatsächlich ganz unterschiedliche Ziele verfolgt werden konnten.12 In der Hauptsache jedenfalls blieb die Erziehung den Reformpädagogen stets die zentrale, auch der Dichtung vorgeordnete Instanz zur Erneuerung der Welt, während Bildung und Erziehung im George-Kreis immer nur ein Teilmoment in einer umfassenderen Rekonstitution von Dichtung, Wissenschaft und Lebensform ausmachten.13 Jenseits dieser konzeptionellen Ebene, auf der eine Wirkung entweder ausblieb oder aber kaum mehr identifizierbar ist, gab es jedoch einige Berührungspunkte, wobei allerdings auch hier Konkurrenz und kritische Auseinandersetzung überwogen. 6.10.1. Stefan George in der pädagogischen Provinz In den neu gegründeten Landerziehungsheimen, die als Vorbilder pädagogischer Provinz innerhalb der Reformpädagogik viel Beachtung fanden, hatte StG eine vergleichsweise starke Wirkung. Vor allem in Wynekens Freier Schulgemeinde Wickersdorf stieg StG zeitweilig (neben Spitteler und Wyneken selbst) zu einem wichtigen Identifikationsobjekt für Schüler und Lehrer auf.14 Ausdruck fand dies bereits in ersten beinahe kultischen ,George-Stunden‘, die Ernst Schertel dort zwischen 1914 und 1915 in eigenen Kameradschaften zelebrierte, wobei nach dem Vorbild der Münchner Kosmiker neben Maskentänzen und Musik auch Gedichte StGs feierlich vorgetragen wurden. Erst mit Paul Reiner jedoch, der von 1919 bis 1925 in Wickersdorf und anschließend bis 1932 an der „Schule am Meer“ auf Juist tätig war, wurde StG zum festen und rituellen Bestandteil des Wickersdorfer Alltags. So gründete Reiner, der sich 1913 noch mit einem kritischen Aufsatz über Wyneken bei Friedrich Gundolf und StG vorgestellt hatte, sich dann aber doch wieder Wyneken zuwandte und dessen Kontakt zum Kreis daraufhin abbrach,15 eine eigene ,George-Kameradschaft‘, hielt Morgenandachten mit strenger Deklamation der Gedichte StGs und versuchte, „Die Hüter des Vorhofs“ (VI/VII, 54–55) zu einer der ,Tafeln der Schulgemeinde‘ zu erheben. Reiner war es zudem, der in seinem ,staatspolitischen Seminar‘ die Richtkom12 Vgl. Jürgen Oelkers, Reformpädagogik, in: Dietrich Benner/Jürgen Oelkers (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim u. a. 2004, S. 783–806, hier: 794; zur Vorgeschichte und zu den weltanschaulichen Quellen der Reformpädagogik auch ders., Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim, München 2005. Zum Umgang mit Zitaten StGs bei Wyneken vgl. auch Ehrentreich, Wickersdorf, S. 73ff. 13 Vgl. Groppe, Reformpädagogik, S. 317f. Vgl. auch schon Hermann Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie (1935), 11. Aufl., Frankfurt/M. 1987, S. 72, der am Beispiel von Führer und Gefolgschaft ebenfalls die mehr „allgemeine politische und kulturelle Bedeutung“ des George-Kreises gegenüber der Reformpädagogik betont. 14 Vgl. zum Folgenden Ehrentreich, Wickersdorf; Groppe 1997, S. 343–348. 15 Das Schwanken zwischen StG und Wyneken war denn auch ein nicht untypisches Problem etwa bei Max Kommerell, Walter Benjamin, Rudolf Rahn oder eben Paul Reiner. Auch Elisabeth Salomon, die spätere Frau Gundolfs, war eine Schülerin und Verehrerin Wynekens. Vgl. zu den Lebensläufen Groppe 1997, S. 352ff.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

petenz des Dichters auf alle gesellschaftlichen Fragen ausweitete und so auch in Wickersdorf und bei Wyneken eine stärker gesellschaftspolitische Ausrichtung beförderte, was letztlich aber die Entscheidung für Wyneken oder StG nur noch dringlicher werden ließ.16 Wyneken selbst hat von StG nach der Episode mit Reiner und den wiederholten Distanzierungen des George-Kreises dagegen wieder Abstand genommen und auf Spitteler als offenbar geeigneteren Mythopoeten gesetzt. Darüber, ob StG auch in anderen Reformschulen – etwa in Schloss Salem am Bodensee, wo Kurt Hahn 1920 einen an Platon angelehnten ,Schulstaat‘ gründete17 – in ähnlicher Weise Eingang fand, ist wenig bekannt. Von den übrigen prominenten Schulgründern (Hermann Lietz, Paul Geheeb, Berthold Otto, Georg Kerschensteiner, Peter Petersen oder Wilhelm Paulsen) sind jedenfalls keine Kontakte zum George-Kreis nachgewiesen und kämen vielfach auch nicht infrage. Verbindungen gab es allerdings in die Odenwaldschule, wo Percy Gothein 1926 als Lehrer tätig war, sowie in den Birklehof, wo Josef Liegle von 1922 bis 1928 u. a. Georg Picht in Latein unterrichtete und in die Gedankenwelt StGs einführte.18 Picht leitete später den Birklehof und gründete das dortige Platon-Archiv. ,Akademie‘– oder Schulgründungen aus dem Geiste StGs gab es keine, obwohl auch dazu verschiedentlich Überlegungen angestellt wurden, etwa von Woldemar von Uxkull19 mit Blick auf die englischen public schools oder aus der Peripherie des Kreises von Wolfgang Frommel, der selbst auch reformpädagogische Ambitionen hatte.20 Einzig das aus dem Überlinger Kreis um Gemma Wolters-Thiersch 1928 gegründete Kinderheim auf Juist (der „Weberhof“), in dem neben der Gründerin Nanna Cremer auch Fanny Thiersch und später Rudolf Fahrner wirkten, könnte als eine solche gelten, wenn sich dort nicht neben dem obligatorischen Lektürekanon des Kreises weitere Idiosynkrasien (aus Anthroposophie, Kunsthandwerk und Theater) entwickelt hätten.21 6.10.2. Wissenschaft und Humanismus Ähnlich der Reformpädagogik ging es auch der zumeist als ,geisteswissenschaftlich‘ bezeichneten, dominierenden Strömung innerhalb der Pädagogik darum, einen Ausweg aus der durch die Modernisierung hervorgerufenen ,Tragödie der Kultur‘ (Georg Simmel) zu finden. Pädagogen wie Hermann Nohl, Eduard Spranger oder Theodor Litt versuchten dabei zunächst, die gegebene Erziehungswirklichkeit zu ,verstehen‘, 16 So berichtet Ehrentreich, Wickersdorf, S. 77, über eine Abendansprache Reiners vom März 1923, in der dieser Angriffe auch des George-Kreises auf die ideellen Grundlagen der Schulgemeinde thematisierte. 17 Vgl. Groppe, Reformpädagogik, S. 323ff. 18 Zum Birklehof vgl. Teresa Löwe, Georg Picht. Vom Birklehof zur Bildungsoffensive, in: Neue Sammlung 44/2004, S. 517–528; Raulff 2009, S. 458ff. 19 Vgl. W. v. Uxkull an StG v. 3.5.1924, zit. bei Groppe, Reformpädagogik, S. 325f. 20 Frommel hielt etwa 1924 am Berliner Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht einen Vortrag über den Reformpädagogen Albrecht L. Merz und trug sich mehrfach mit dem Gedanken einer Schulgründung. Vgl. Günter Baumann, Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Würzburg 1995, S. 103ff. 21 Vgl. Raulff 2009, S. 204ff.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Pädagogik

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um dann vermittels einer wissenschaftlich begründeten Pädagogik und unter Anführung eines geeigneten Bildungsideals einen Weg aus der Krise weisen zu können.22 Gerade weil sich von dieser Position zahlreiche Parallelen zum George-Kreis etwa in der Krisendiagnose oder der Überzeugung von der Notwendigkeit eines einheitlichen Bildungsideals ziehen lassen, fällt auf, dass es auch hier kaum Bezugnahmen auf StG oder den George-Kreis gab.23 Einzig Eduard Spranger hat sich mehrfach mit dem George-Kreis auseinandergesetzt, wobei es wiederum für das Bemühen um die Selbstständigkeit der Pädagogik bezeichnend ist, dass es hierbei vornehmlich um den ,Beruf der Wissenschaft‘ (Erich von Kahler) ging.24 Spranger, der den George-Kreis grundsätzlich auch als wissenschaftliche Schule schätzte,25 nahm in den 1920er-Jahren immer wieder Bezug auf das erst in den Jahrbüchern für die geistige Bewegung und dann von Kahler formulierte Wissenschaftsideal des Kreises.26 Dabei erkannte er durchaus das Bemühen um eine neue Verbindung von Wissenschaft, Kunst und Mythos an, wies aber zugleich den damit verbundenen „pädagogischen Pragmatismus“ zurück, der eben nicht allein der Wahrheit oder dem „reinen Sinn der Erkenntnis“ diene, sondern – im besten Fall und wie bei Kahler – dem „Leben“.27 Da Spranger angesichts des bereits verblassenden Bildungsideals Fichtes oder Humboldts aber auch die Gegenposition Max Webers von der Wertfreiheit der Wissenschaft nicht teilen wollte, versuchte er, Werturteile aufgrund von Wissenschaft zu begründen, und bezog sich dazu auf den ,Dritten Humanismus‘ Werner Jaegers – ohne allerdings die Verbindung zur ähnlich gelagerten Antike-Rezeption des George-Kreises zu ziehen.28 Dass diese Verbindung andernorts dennoch gesucht wurde, zeigen besonders die Schriften und Vorträge Carl Heinrich Beckers aus den 1920er-Jahren.29 22 Vgl. Jürg Blickenstorfer, Pädagogik in der Krise. Hermeneutische Studie mit dem Schwerpunkt Nohl, Spranger, Litt zur Zeit der Weimarer Republik, Bad Heilbrunn 1998. 23 Zu den beiden anderen großen pädagogischen Strömungen der Weimarer Republik, der positivistischen empirischen Erziehungswissenschaft (Ernst Meumann, Aloys Fischer) und den Neukantianern (Hermann Cohen, Paul Natorp), gab es ebenfalls keine Berührungspunkte. Allenfalls bei Natorp hatte die Auseinandersetzung mit Heinrich Friedemann und dem neuen Platon-Bild eine gravierende Umorientierung zur Folge. Vgl. Paul Natorp, Platons Ideenlehre, 2. durchges. u. um einen metakritischen Anhang verm. Aufl., Hamburg 1922, S. 459–513, bes. 509ff. 24 Vgl. Erich von Kahler, Der Beruf der Wissenschaft, Berlin 1920. Vgl. zur Debatte Richard Pohle, Max Weber und der Beruf der Wissenschaft. Eine Debatte in Weimar, Göttingen 2009. 25 So hat sich Spranger im letztlich gescheiterten Habilitationsverfahren Hildebrandts ausdrücklich für einen Vertreter des George-Kreises an der Berliner Universität ausgesprochen. Vgl. KH, S. 188f. 26 Vgl. etwa Eduard Spranger, Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule, Leipzig 1922, S. 39ff.; ders., Psychologie des Jugendalters, 4. Aufl., Leipzig 1925, S. 184f. 27 Ders., Zur geistigen Lage der Gegenwart, in: Die Erziehung 6/1930, S. 211–234, hier: 225; ders., Wissenschaft als Beruf, in: Frankfurter Zeitung. Hochschulblatt v. 1.12.1921, S. 3. Spranger hatte neben Kahler stets auch den ambitionierten Volksschullehrer Ernst Krieck im Blick, der sich mit seiner Revolution der Wissenschaft (Jena 1920) ebenfalls auf Kahler und dessen Wissenschaftsideal bezog. Vgl. etwa Ernst Krieck, Die Revolution von innen, in: Die Tat 12/1920, S. 668–674. 28 Vgl. Eduard Spranger, Das deutsche Bildungsideal der Gegenwart in geschichtsphilosophischer Beleuchtung, 2. Aufl., Leipzig 1922, S. 58ff., wo zwar „auf Platos hohen Wegen“ (S. 71) nach einem deutschen Bildungsideal gesucht wird, im dazu entworfenen weltanschaulichen Panorama StG aber ungenannt bleibt. 29 Vgl. Carola Groppe, Neubeginn durch einen dritten Humanismus? Der preußische Kultusminis-

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Auch bei Oskar Benda findet sich diese Verknüpfung und mit ihr eine der schärfsten Warnungen vor dem ,Geistesaristokratismus‘ des George-Kreises. Benda, der seit 1911 im österreichischen Staatsschuldienst und von 1925 bis 1938 als Wiener Landesschulinspektor tätig war, will mit seiner Schrift über Die Bildung des Dritten Reiches ausdrücklich jene Pädagogen warnen, die, geblendet vom Glanz dieses ,Geistes‘, aber ohne Bewußtsein der sozialpsychologischen Sinngehalte, die er verdeckt, ihre pädagogische Theorie oder ihre pädagogische Praxis auf ihn und seine ,Ausgliederungen‘ gründen. Insbesondere richtet sie ihren Mahnruf zur Selbstbesinnung an jene […] wahrhaft bewundernswürdige ,kleine Schar‘, auf deren Fahnen die Losung leuchtet: ,Hellas ewig unsere Liebe!‘ […] Aber wo sie zur Zeit im Winde wehen, locken sie auf falsche Bahnen: nicht zum neuen Aufstieg zur Menschheitssonne ,Humanitas‘, sondern zu ihrem unwiderruflichen Untergang. Denn ihre Gefolgschaft glaubt, mit dem ,Dritten Humanismus‘ ,Geist‘ zu säen, und ernten würde sie, wenn die Saat in die Halme schösse, das ,Dritte Reich‘.30

Um also davor zu warnen, legt Benda zunächst die „sozialgeschichtliche Funktion“ des „Dritten Humanismus“ dar und demaskiert ihn kurzerhand als „Rechtfertigungsideologie des humanistischen Gymnasiums“ mit dem Ziel der „pädagogischen Aussonderung einer bildungsaristokratischen Oberschicht“.31 Die „ursprünglichen Quellen“ dieser Ideologie sieht er jedoch in den Schriften des George-Kreises seit den 1890er-Jahren, wobei es abgesehen von einigen Gedichten StGs erkennbar Wolters’ gerade erschienene ,Blättergeschichte‘ ist, an der er sich abarbeitet.32 Es führte zu weit, alle Vorwürfe gegen den Kreis darzustellen, reichen sie doch von einfacher „Amoralität“ in den Gedichten über „Subjektivierung der Wissenschaft“ und „Entbürgerlichung des Bürgers“ bis hin zum Hauptvorwurf, nämlich der Vorbereitung der Diktatur des ,Dritten Reiches‘ durch „Erzeugung einer geistigen Atmosphäre, der mit der entsprechenden Theorie der zünftlerischen ,Dichter‘ auch die entsprechende Tat des ,Helden‘ entspringen würde.“33 Dass dieser Held nur mehr Hitler sein konnte, galt Benda aufgrund der großen Affinität zwischen dem Bildungsprogramm dieses „Dritten Humanismus“ und der „staatstheoretischen Vision des ,Dritten Reiches‘“ jedenfalls bereits 1931 als ausgemacht.34 Unabhängig davon, wie berechtigt diese Kritik im Einzelnen war – mit seiner Verve war Bendas Pamphlet ganz sicher eine große Ausnahme in der Rezeption StGs und seines Kreises, nicht nur in der Pädagogik.

ter Carl Heinrich Becker und der George-Kreis in der Weimarer Republik, in: CP 49/2000, 244/245, S. 41–61. 30 Benda, Bildung, S. 6. 31 Ebd., S. 10f. 32 Ebd., S. 14. 33 Ebd., S. 18, 21, 22, 25, 29. Damit aber nicht genug, denn „auch die Dolchstoßlegende [scheint] im George-Kreis entstanden oder zumindest die Sanktion des ,Geistes‘ empfangen zu haben“, ebd., S. 18, Anm. 9. 34 Ebd., S. 30; mit Verweis auf Hitler S. 14, Anm. 7.

6. Wissenschaftliche Rezeption: Pädagogik

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Literatur ES; FW; Groppe 1997; KH; Kolk 1998; Raulff 2009. Benda, Oskar, Die Bildung des Dritten Reiches. Randbemerkungen zum gesellschaftsgeschichtlichen Sinnwandel des deutschen Humanismus, Wien, Leipzig 1931. Ehrentreich, Alfred, Stefan George in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, in: CP 21/1972, 101, S. 62–79. Groppe, Carola, „Dein rechter lehrer bin ich wenn ich liebe, mein rechter hörer bist du wenn du liebst.“ Erziehungskonzept und Erziehungsformen im George-Kreis, in: GJb 2/1997/1998, S. 107–140. Dies., Stefan George, der George-Kreis und die Reformpädagogik zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik, in: Bernhard Böschenstein/Jürgen Egyptien/Bertram Schefold/Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005, S. 311–327. Dies., Bürgerliche Lebensführung im Zeichen der Balance. Funktionen und Ideale der Bildung in Theorie und Praxis des George-Kreises in der Weimarer Republik, in: Roman Köster u. a. (Hrsg.), Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis, Berlin 2009, S. 137–150. Würffel, Bodo, Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978. Richard Pohle

7.

Politische Rezeption

7.1.

Vorklärungen

Die politische Rezeption eines Autors oder einer Autorengruppe von Rezeption schlechthin abzugrenzen, ist kein leichtes Unterfangen, ist doch das Politische, nach der Einsicht Carl Schmitts, zu jedem Lebensgebiet hin offen und vielfach von anderen, nicht-politischen Handlungen und Ideen nur durch eine bestimmte Färbung, einen bestimmten Intensitätsgrad unterschieden.1 Da es jedoch zugleich in ausdifferenzierter Gestalt existiert, als politischer Verband/Staat (Max Weber), politisches System (Niklas Luhmann) oder politisches Feld (Pierre Bourdieu), ist es möglich, die Untersuchung auf Politik in diesem engeren Sinne zu beschränken: auf Handlungszusammenhänge, die einen direkten Bezug zur politischen Macht und zu den politischen Entscheidungen haben. Die indirekt politischen Effekte einer vorrangig literarisch oder religiös interessierten Rezeption können damit ebenso ausgespart bleiben wie die bloß private George-Rezeption von Einzelnen, deren politische Bedeutsamkeit außer Frage steht.2 Aus forschungspragmatischen Gründen wird außerdem nur die Rezeption in solchen Zusammenhängen verfolgt, die in einer gewissen Wahlverwandtschaft zum George-Kreis stehen: zu seiner Präferenz für Ordnungen der Ungleichheit und für den Strukturtypus der ,Bewegung‘, wie sie in den Jahrbüchern für die geistige Bewegung zum Ausdruck kommt. Als Untersuchungsgegenstand ist damit die politische Rechte bezeichnet, soweit sie sich als Ensemble politischer Bewegungen fassen lässt. Politische Bewegungen sind soziale Bewegungen, die durch ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der Akteure, gemeinsame Leitideen sowie einen sozialen Träger bestimmt sind, und die das Ziel verfolgen, durch Interventionen im politischen Feld grundlegenden politischen und meist auch sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen.3 Für die Erreichung dieses Ziels werden sicher auch Verbände im Sinne von Vereinen, Gesellschaften, Bünden etc. sowie nicht 1 Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit e. Vorw. u. drei Corollarien, Berlin 1979, S. 38f. 2 Zu denken wäre hier etwa an Theodor Heuss, Erich Mühsam, Rosa Luxemburg, Klaus Mann, Carl Heinrich Becker, Theodor Haubach oder Carlo Schmid. Vgl. Petrow, Der Dichter als Führer?, S. 13f. 3 In dieses Verständnis sind Bestimmungen eingegangen, die von der Soziologie sozialer Bewegungen entwickelt wurden: vgl. Rudolf Heberle, Hauptprobleme der politischen Soziologie, Stuttgart 1967, S. 8ff., 95ff.; Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt/M., New York 1985, S. 77; Dieter Rucht, Rechtsradikalismus aus der Perspektive der Bewegungsforschung, in: Thomas Grumke/Bernd Wagner (Hrsg.), Handbuch Rechtsradikalismus, Opladen 2002, S. 75–86; Donatella della Porta/Mario Diani, Social Movements. An Introduction, 2. Aufl., Malden u. a. 2006, S. 25.

7. Politische Rezeption

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zuletzt auch Medien hervorgebracht, doch sind politische Bewegungen, verglichen mit politischen Parteien, durch eine deutlich lockerere (wie heute gerne gesagt wird: netzwerkförmige) Organisation gekennzeichnet, die sowohl eine größere Vielfalt von Meinungen zulässt als auch ein Zurücktreten von Tagesfragen zugunsten prinzipieller Erörterungen.4 Im Rahmen der politischen Rechten Deutschlands zur Zeit des George-Kreises lassen sich grob vier solcher Bewegungen unterscheiden, die die Leitpräferenz für Ungleichheit durch eine Reihe von Zusatzpräferenzen konkretisierten:5 die Ring-Bewegung, die bestrebt war, unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung und ohne diese im Prinzip anzutasten, ein Gefüge funktionsübergreifender Statuspositionen aufzubauen, das tendenziell geburtsständisch fixiert werden sollte, freilich zumeist auf halbem Wege, dem der Elitenbildung, stehen blieb; die rassenhygienische und nordische Bewegung, die die Teilnahme am Herrschaftsstand von erbbiologischen Kriterien abhängig machen wollte; die bündische Bewegung, die dieser Teilnahme die Zugehörigkeit zu bestimmten Formen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung vorschaltete; und die völkische Bewegung, die vor allem daran interessiert war, die reflexive Modernisierung einzudämmen, was sie sich nicht nur, aber auch von bestimmten Modalitäten sozialer Schließung erhoffte.6

7.2.

Die Ring-Bewegung

In Darstellungen der Geschichte der Weimarer Republik sucht man oft vergeblich nach dem Stichwort, das diesem Abschnitt als Überschrift dient. Das ist einerseits verständlich, denn es handelt sich um eine Erscheinung beträchtlich bescheideneren Zuschnitts, als es sonst für politische oder soziale Bewegungen üblich ist. Um 1924 dürfte der von ihr erfasste Kreis bei etwa tausend Personen gelegen haben, auf ihrem Höhepunkt 1932 vielleicht bei fünftausend.7 Andererseits handelte es sich nicht nur um einen Zirkel oder einen Klub (auch wenn der 1919 gegründete „Juniklub“ eine wichtige Rolle spielte), sondern um ein Netzwerk von Akteuren, das über das ganze Reich verbreitet war, über ein entsprechendes Selbstverständnis als ,Bewegung‘ verfügte8 und, nach anfänglichem Schwanken zwischen unterschiedlichen Optionen, auch über eine gemeinsame Doktrin. Mit Zeitschriften wie dem Gewissen, dem Ring, den Preußischen Jahrbüchern sowie zeitweilig der Deutschen Rundschau und der Standarte, des weiteren mit persönlichen Verbindungen zu Zeitungen wie dem Tag, 4 Vgl. Hein, Partei und Bewegung, S. 75. 5 Vgl. Stefan Breuer, Grundpositionen der deutschen Rechten (1871–1945), Tübingen 1999. Es ließe sich darüber diskutieren, ob auch dem Renouveau catholique der Charakter einer Bewegung zuzusprechen wäre. Bis auf einige Ausnahmen sind jedoch die Verbindungen zu StG nicht stark genug, um eine genauere Untersuchung zu rechtfertigen. Vgl. Klaus Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929–1934), München 1969, S. 124f. Zu den dort genannten Ausnahmen – Carl Muth, Friedrich Muckermann – wäre noch hinzuzufügen: Otto Steinbrinck, Die abendländische Sendung Stefan Georges, in: Abendland 1/1925/26, S. 249–250. (StG als ,falscher Prophet‘). 6 In der Forschung wird mitunter auch der Nationalsozialismus als Bewegung gedeutet (vgl. Hein, Partei und Bewegung, S. 87ff.). Er ist jedoch besser als Sammlung und Überlagerung verschiedener Bewegungen zu verstehen, die durch die Form der Partei zusammengehalten werden. 7 Vgl. Petzinna, Erziehung, S. 139, 226. 8 Vgl. ebd., S. 127.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

der Deutschen Allgemeinen Zeitung oder der Deutschen Tageszeitung sowie einer Reihe von Provinzblättern9 besaß die Bewegung einen beachtlichen publizistischen Einfluss, der über ein ausgedehntes Netz von Beziehungen zu Verbänden und Parteien der Rechten auch politisch wirksam wurde. 1932 gelangte der Ring durch die Berufung Franz von Papens zum Reichskanzler unmittelbar an die Schalthebel der Macht; und obschon Papen diese binnen Kurzem wieder abgeben musste, standen er und seine Entourage doch an vorderster Stelle, als es um die Entwicklung einer Strategie ging, die Krise der Weimarer Republik mithilfe der Nationalsozialisten zu lösen. Für das Verständnis dieser Bewegung ist es wichtig, dass es sich zunächst um ein lockeres Bündnis heterogener Akteure handelte, das vor allem durch gemeinsame Gegenstellungen zusammengehalten wurde: gegen die in Versailles beschlossene Nachkriegsordnung und die in Weimar verabschiedete Verfassung. Während der außenpolitische Revisionismus immerhin auch eine positive Gemeinsamkeit stiftete – die Überzeugung, dass Deutschland den Status einer Weltmacht nur mit den Mitteln der modernen kapitalistischen Wirtschaft sowie ihrer wissenschaftlich-technischen Substruktur wiedererlangen könne, nicht ohne oder gar gegen sie –, drifteten die Ansichten hinsichtlich des innenpolitischen Revisionismus auseinander. Eine vor allem mit dem Namen von Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925) verbundene Richtung hielt dafür, auch in der Sozialdimension mit der Zeit zu gehen und dem für die nationale Kriegsführung wichtigsten Bevölkerungsteil, der Arbeiterschaft, mehr Einfluss zu gewähren als in der Vorkriegsordnung.10 Für die Gegenposition stand Heinrich von Gleichen (1889–1959), der Diskussionen über die soziale Frage im Juniklub regelmäßig unterband und für eine oligarchische Struktur eintrat, die typologisch gesehen zunächst dem alten Nationalismus wilhelminischer Provenienz nahestand, aufgrund der faktischen Bevorzugung des Adels aber zunehmend einen neoaristokratischen, auf eine „kontrollierte Zusammenführung ausgesuchter Teilgruppen aus Adel und Bürgertum“ hinauslaufenden Einschlag aufwies.11 Aufgrund seines hohen Ansehens hätte Moeller wohl eine einseitige Festlegung der Ring-Bewegung auf die elitären Vorstellungen Gleichens verhindern oder wenigstens verzögern können, doch erlitt er im Herbst 1924 einen Nervenzusammenbruch und beging wenige Monate später Suizid. Heinrich von Gleichen wandelte daraufhin den Juniklub in den Deutschen Herrenklub um, der sich von Anfang an durch eine überproportional 9 Vgl. ebd., S. 131f. 10 Vgl. meine Studie: Arthur Moeller van den Bruck, Politischer Publizist und Organisator des Neuen Nationalismus in Kaiserreich und Republik, in: Gangolf Hübinger/Thomas Hertfelder (Hrsg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart, München 2000, S. 138–151, 327–331. In persönlichen Kontakt mit dem George-Kreis kam Moeller im Ersten Weltkrieg während seiner Tätigkeit in der Militärischen Stelle des Auswärtigen Amtes, für die auch Friedrich Gundolf arbeitete. Über diese Bekanntschaft schrieb er später an Hans Grimm: „Von Gundolf, nach dem Sie fragen, habe ich nichts mehr gehört. Er ist zu sehr im George-Kreis festgehalten, und somit im Katholischen, als daß sich Beziehungen aufrecht erhalten ließen, die doch irgendwie politische sein müßten. Aber ich habe ihn in Erinnerung, als den einzigen Juden, der eine reine Gestalt ist.“ Arthur Moeller van den Bruck an Hans Grimm v. 22.9.1919, Nachl. Hans Grimm, DLA Marbach. 11 Vgl. Petzinna, Erziehung, S. 138. Zu den Differenzen zwischen Moeller und Gleichen vgl. ebd., S. 220ff.; Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003, S. 422ff.; zu den Kontinuitätslinien dieser bis auf Lagarde zurück verfolgbaren Konzeption vgl. ebd., S. 299ff.

7. Politische Rezeption

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große adlige Komponente auszeichnete, darüber hinaus aber auch erfolgreich um Mitglieder aus Bank-, Industrie- und Regierungskreisen bemüht war.12 Es ist diese Verschiebung des sozialen Profils in Richtung Exklusivität, die plausibel macht, warum nun auch ein Name häufiger fiel, den Moeller van den Bruck lange Zeit lieber auf dem Index gesehen hätte: derjenige Stefan Georges. Moeller war, entgegen anderslautenden Darstellungen,13 alles andere als ein Bewunderer StGs. In seinen Vorkriegsschriften hatte er sich zweimal ausführlicher über ihn geäußert, das erste Mal ambivalent,14 das zweite Mal mit massiver Ablehnung, die aus ihm einen Dichter des Niedergangs, einen Problematiker machte, der mit sich und der Welt nicht zurechtkomme und sich „zu einem armseligen, schwächlichen, kläglichen Gegenwartsflüchtling“ entwickelt habe.15 Seine an anderen Stellen entwickelten Vorstellungen liefen in nahezu jedem Punkt auf das Gegenteil dessen hinaus, was StG und seinem Kreis heilig war. Kunst, so Moellers Überzeugung, könne nicht erlösen, nur das ,Leben‘ könne dies; die Kunst habe deshalb das Leben zu verherrlichen, und dies bedeute: „die Wirklichkeit heilig sprechen, sie unmittelbar heilig machen, in sie unseren Kult, einen ganzen großen Naturkult hineinlegen“.16 Kunst dürfe deshalb nicht antagonistisch zur Zeit, zur ,Zivilisation‘ stehen. Sie müsse „Ausdruck des Zeitwillens“ sein, „Form gewordener Zeitinhalt“, „Umsetzung von Zivilisation in Kultur“: eine Verdichtung und Überhöhung aller in Technik, Wirtschaft und Politik wirksamen Kräfte.17 Den Künstler sah Moeller dabei nicht in der Rolle des abgesonderten Genius, sondern in derjenigen eines Verstärkers dessen, was im Leben, im Volke, schon vorhanden war. „Die Genies“, so verkündete er, sind niemand anders […] als wir selbst in einem besonders großen Ausdruck. Was Genies schaffen, fühlen, leiden, das schaffen, fühlen, leiden sie für uns. Das Volk aber macht ihnen ihr Werk erst möglich, gibt ihnen den lebendigen Stoff, über dessen Not sich ihr Inneres auf eine so große Weise erregen kann, bietet ihnen Voraussetzungen, zu denen sie die Erfüllungen finden, und ist so die Frage zu ihrer Antwort, das Menschliche zu ihrem Göttlichen.18

Und da der Weg vom einen zum anderen so kurz war, ging es auch in umgekehrter Richtung sehr schnell. Aufgabe der Gegenwart sei es, die „individuelle Kultur, die die Persönlichkeiten schaffen“, mit der Nation zu verbinden, zu einer „massiven Kultur, die die Nation dann ausdrückt und darstellt“.19 Da diese Kultur aus der modernen Zivilisation hervorgeht, ist sie präzedenzlos. Sie bezieht sich auf keinerlei ,Urseinsformen‘, hat keine Vorbilder und keine Tradition. Sie verdankt sich keiner ,Heiligen Heirat‘ mit dem griechischen Geist, sondern kon12 Vgl. Manfred Schoeps, Der deutsche Herrenklub. Ein Beitrag zur Geschichte des Jungkonservatismus in der Weimarer Republik, Diss., Erlangen 1974, S. 22ff., 36, 46, 48; Yuji Ishida, Jungkonservative in der Weimarer Republik. Der Ring-Kreis 1928–1933, Frankfurt/M. 1988, S. 72ff. 13 Etwa bei Petzinna, Erziehung, S. 61. 14 Vgl. Arthur Moeller van den Bruck, Die moderne Literatur in Gruppen und Einzeldarstellungen, Berlin, Leipzig 1902, S. 621ff., 653ff. 15 Vgl. ders., Die Zeitgenossen, S. 201f. 16 Ders., Die Deutschen, Bd. 5, 1907, S. 270, 284. 17 Ders., Zum Wesen der Karikatur, in: Magazin für Litteratur 73/1904, S. 251–253, hier: 251; Zur Entwickelung der Aesthetik, ebd., S. 5–8, hier: 6; Überwindung der Gründerjahre, in: Straßburger Post v. 6.10.1912; Die Zeitgenossen, S. 122f. 18 Ders., Die Deutschen, Bd. 8, 1910, S. 286. 19 Ders., Die Deutschen, Bd. 7, 1909, S. 10.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

stituiert sich gerade in der Abkehr von aller „Südkultur“, in einem „Zug zum Norden“, der entsprechend einem von Herder und der deutschen Romantik geprägten Topos der Ort des Uncodierten, Natürlichen und Ursprünglichen, damit auch der Regeneration und der Zukunft ist.20 Was immer die Moderne mit der Tradition verbindet, mit der griechisch-römischen Antike, mit der Universalkultur des Mittelalters, ja selbst mit der deutschen Klassik, wird als überflüssiger Ballast deklariert und mit einem Gestus abgeschüttelt, der bereits den Futurismus und den frühen Ernst Jünger vorwegnimmt.21 Moeller gehörte denn auch zu den ersten in Deutschland, die diese neue Kunstrichtung begrüßten und verteidigten: als eine Bewegung von „modernen, unreaktionären, eher proaktionären Menschen“, die das 19. Jahrhundert zu den Zwecken des 20. Jahrhunderts überwunden und die Last einer steril gewordenen Vergangenheit abgestreift habe.22 Die Herauslösung der Kunst aus der Tradition, aus dem passatismo, geschah bei Moeller freilich nur in der Absicht, sie desto wirksamer für die Gegenwart in Dienst zu nehmen. Kunst und Kultur sollten nicht nur mit der Zivilisation, sondern auch und vor allem mit der Politik verbunden werden.23 Sie sollten „Mittel zur Politik“ sein, einer Politik, die im 20. Jahrhundert nur nationale Politik sein könne.24 Kunst sei immer national, eine „Auswirkung volklicher Kraft“;25 und wenn dieses Volk, wie heute das deutsche, zu den jungen, raumbegehrenden Völkern gehöre, so habe die Kunst dieses Verlangen auszudrücken. Sie habe einen neuen Monumentalstil zu entwickeln, der dem „neuen Geist des Imperialismus“ die angemessene Form gebe, habe den Anspruch auf Weltgeltung, ja Weltherrschaft anzumelden, der sich gleichsam naturwüchsig aus der Gründung des Zweiten Kaiserreiches ergebe.26 Ein großer und moderner „Rassestaat“; eine diesem gemäße „Rassekultur“: dies seien die Voraussetzungen für das kommende „germanische Weltreich“, in dem es möglich sein werde,

20 Vgl. ebd., S. 10; Die Deutschen, Bd. 5, 1907, S. 169; Die Zeitgenossen, S. 213ff. Vgl. ferner Karl Heinz Bohrer, Der Mythos vom Norden. Studien zur romantischen Geschichtsprophetie, Diss., Heidelberg 1961. Das Schlusskapitel belegt die Reaktualisierung dieses Mythos seit den 1890erJahren, etwa bei Heinrich Hart, Friedrich Lienhard und vor allem Theodor Däubler, für dessen ,Nordlicht‘ sich Moeller stark engagiert hat. Zum Kontext vgl. Julia Zernack, Anschauungen vom Norden im deutschen Kaiserreich, in: Puschner u. a. (Hrsg.), Handbuch, S. 482–511. 21 Besonders aufschlussreich hierzu das Goethe-Buch in der Reihe über die Deutschen (Bd. 6, Minden 1907). Fast zur selben Zeit entstanden wie StGs „Goethes lezte Nacht in Italien“ (1908), markiert es in der völligen Verwerfung der Italienischen Reise und ihrer literarischen Ergebnisse den äußersten Gegenpol im Verhältnis zur Antike. Vgl. dazu auch meine Studie: Moeller van den Bruck und Italien, in: Archiv für Kulturgeschichte 84/2002, S. 413–437. 22 Vgl. Moeller van den Bruck, Die Probleme des Futurismus, in: Der Tag v. 18.7.1912; Die radikale Ideologie des jungen Italien, in: Deutsch-Österreich 1/1913, S. 1269–1272; sowie meine Studie: Der Futurismus und die deutsche Kulturkritik, in: Gilbert Merlio/Ge´rard Raulet (Hrsg.), Linke und rechte Kulturkritik. Interdiskursivität und Krisenbewußtsein, Frankfurt/M. 2005, S. 205–222. 23 Vgl. Moeller van den Bruck, Herrschaft durch Stil, in: Das neue Deutschland 1/1913, S. 348–350, hier: 349. 24 Vgl. ders., Kulturpolitik, in: Deutsch-Österreich 1/1913, S. 300–306, hier: 302. 25 Ders., Nationalkunst für Deutschland, Berlin 1909 (Flugschriften des Vaterländischen Schriftenverbandes 1), S. 4f. 26 Ders., Kaiser Wilhelm II. und die architektonische Tradition, in: Die Tat 5/1913, S. 595–601, hier: 598.

7. Politische Rezeption

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unsere Weltanschauung über die Erde wirklich zu verbreiten und in ihrer Anwendung als Formenwelt, Stil, Kunst die Gestaltung des Lebens so zu bestimmen, wie etwa einst die Gestaltung des allgemein hellenischen Daseins vom engeren Griechentum ausging.27

Moeller van den Bruck hatte schon recht, wenn er das Werk StGs für diesen Zweck als untauglich empfand. Noch zu Lebzeiten Moellers mehrten sich in der Ring-Bewegung freilich die Anzeichen für einen Kurswechsel. Im April 1924 erschien im Gewissen ein Artikel von Heinz Brauweiler, der für eine „Gliederung der Gesellschaft nach Berufsständen“ eintrat, deren Führung einer „neue[n] Oberschicht“ zu übertragen sei, die allerdings nicht im Sinne des alten Geburtsadels staatsrechtlich privilegiert und kastenmäßig geschlossen sein dürfe.28 In die gleiche Kerbe schlug Heinrich von Gleichen, der in den Preußischen Jahrbüchern eine Umwandlung der parlamentarischen Demokratie in eine Oligarchie forderte, bestehend aus unabhängigen Persönlichkeiten, freien deutschen Herrenmenschen, ein[em] Adel nordischer und auch christlicher Gesinnung, der den Willen hat, sich gegen die bestehende organisierte Massenherrschaft, gegen Parlamentarismus und Demokratie auf alle Fälle durchzusetzen.29

Auf der Folie einer solchen Einstellung konnte eine Neubewertung StGs nicht ausbleiben, und sie ließ denn auch nicht auf sich warten. Moeller selbst gab noch ein erstes Signal in diese Richtung, als er sein gerade erschienenes Buch Das dritte Reich an Friedrich Gundolf schickte, als Gegengabe für dessen George, den er seinerzeit von ihm erhalten hatte. Das Buch, hieß es im Begleitschreiben, sei der Ausdruck einer Bewegung, die hier nach 1918 einsetzte, und gibt deren geistige Grundanschauung in der politischen Zusammenfassung. Sie werden gewiss gerne lesen, wie dieser Kreis zu Stefan George steht. Diese Haltung ist einmal ausgesprochen worden, von einem unserer Freunde, Erich Brock, in einer Nummer unserer Kampfzeitschrift ,Gewissen‘. Ich lasse Ihnen einige Folgen desselben zugehen und bitte um die Freundlichkeit der Übermittlung auch an Stefan George oder an wen sonst aus dem Kreise der ,Blätter für die Kunst‘, Sie den Beitrag vielleicht werden gehen lassen wollen.30

Deutlicher noch als Brock äußerte sich freilich der enge Vertraute und spätere Nachlassverwalter Moellers, Hans Schwarz (1890–1967), als er, sicher nicht ohne Wissen Moellers, StG zum Erneuerer des Humanismus und zum Wegbereiter einer ,politischen Wendung‘ desselben erklärte, deren Ziel die „Revolution von oben“ sei, die

27 Ders., Die Deutschen, Bd. 7, S. 243f. 28 Heinz Brauweiler, Neuer deutscher Adel, in: Gewissen 6/1924, Nr. 15, v. 14.4.1924. 29 Heinrich von Gleichen, Adel, eine politische Forderung, in: Preußische Jahrbücher 197/1924, S. 131–145, hier: 143f. Vgl. auch ders., Oberschicht und Nation, in: Alfred Bozi/Alfred Niemann (Hrsg.), Die Einheit der nationalen Politik, Stuttgart 1925, S. 233–259. 30 Arthur Moeller van den Bruck an F. Gundolf v. 30.10.1923, BArch Koblenz, R 118/34. Bei dem im Brief angesprochenen Artikel von Erich Brock dürfte es sich um „Geist und Macht“, in: Gewissen 5/1923, Nr. 33, v. 20.8.1923 handeln. Wesentlich aufschlussreicher als dieser Text – eine Doppelbesprechung zu Fritz von Unruhs Goethe und wir und StGs Drei Gesänge – ist der im folgenden Jahr erschienene Aufsatz, der sich weitgehend mit den gleich vorzustellenden Auffassungen von Hans Schwarz deckt: Vgl. Erich Brock, Ein Prophet des Weltkrieges, in: Gewissen 6/1924, Nr. 31, v. 4.8.1924.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Neugestaltung des Volkes durch einen Adel.31 Nach dem Tod Moellers griff Schwarz noch heftiger in die Tasten. StG, heißt es in dem 1926 in der Schriftenreihe des Politischen Kollegs erschienenen Werk Europa im Aufbruch, sei „der einzige Seher inmitten der wilhelminischen Unkraft“ gewesen, „die einzige Person dieses Reiches von tragischer Hoheit“, der „Hüter des heiligen Stromes gen Westen, während sein Volk schon diesem Westen verfiel. Er rettete ein Feuer hinüber und wurde der Dichter der drei Gesänge, der im Glauben das Land der Freiheit erschaute. Er litt und rief einer sterbenden Welt, in die er geboren war. Er offenbarte eine neue Gewalt vor Gott und wachte über das heimliche Reich einer Wiederkehr.

Das Unglück habe es jedoch gefügt, dass er sich mit einer Schar von Jüngern umgeben habe, die eben jener Gestalt des Humanismus entstammten, die StG überwunden habe: Seine Jünger verdunkelten ihn. Die Zukunft darf keine Jünger haben, sie werde denn eine Lehre. Sie machten ihn, der die Hand in das Feuer hielt, zum Mal der Verehrung. Darum blieben sie in einem Reiche, dem schon der Meister entschritten war. Erfüllte sich sein Geschick als Seher, so ward es zur Hybris, aus ihm einen König zu machen. Sie aber deuteten Napoleon wie George und George wie Napoleon. Sie durchdrangen Goethe mit ihm und glaubten, Georges Licht zu erhöhen. Sie verschuldeten, daß George, der Sprößling alter Kulturen, ein Bildungserlebnis wurde. Sie bemächtigten sich seines Werkes und verflachten die Magie seines Wortes literarisch.32

Die von Schwarz herausgestellte Rolle des Sehers, die auch von Erich Brock bekräftigt wurde, ließ sich unschwer mit derjenigen des Erziehers verbinden. 1926 warf Gustav Steinbömer (1881–1972), der gemeinsam mit dem Kronprinzen erzogen worden war, späterer Generalstabsoffizier und promovierter Kunsthistoriker, dem deutschen Adel vor, es nicht wie die Oberschichten anderer Länder zu einer ,Vergeistigung‘ im platonischen Sinne gebracht zu haben, zu einer Bildung, die stufenmäßig aus vitalen und gesinnungsmäßigen Grundlagen hervorwachse. Der Humanismus, der in Italien, Frankreich und England dem Adel nicht nur einen bestimmten Stil, sondern auch ein politisches Standesethos vermittelt habe, sei in Deutschland zu einer Angelegenheit des Bürgertums, ja des Kleinbürgertums geworden, der ihm ein gelehrtes, weltfernes Gepräge verliehen habe; geblieben sei dem Adel eine „ausschließende Erziehung in einer starren Berufskonzentration“, die seinen Mitgliedern wohl beachtliche fachliche Leistungen, namentlich auf militärischem Gebiet, ermöglichte, ein „höheres und überberufliches Führertum“ aber schon im Ansatz erstickte. Aus dieser, sich in manchem mit den Weltkriegsschriften Max Webers berührenden Diagnose zog Steinbö31 Vgl. Hans Schwarz, Die Stunde des Humanismus, in: Gewissen 5/1923, Nr. 34, v. 27.8.1923; ders., Wesen der Führung, in: Gewissen 6/1924, Nr. 33, v. 18.8.1924. Einiges zu Leben und Werk in: Oswalt von Nostitz (Hrsg.), Ein Preusse im Umbruch der Zeit. Hans Schwarz 1890–1967, Hamburg 1980. 32 Hans Schwarz, Europa im Aufbruch, Berlin 1926, S. 248f. In der später von Schwarz mit herausgegebenen Zeitschrift Der Nahe Osten, die sich nicht zuletzt dem Kampf gegen die „Latinität des Reichsgedankens“ widmete, spielte StG keine Rolle mehr. Vgl. Michel Grunewald, Die jungkonservative Zeitschrift Der Nahe Osten und ihr Kampf für ,Reichseuropa‘ (1928–1936), in: Ders./Hans M. Bock (Hrsg.), Le discours europe´en dans les revues allemandes (1933–1939), Bern u. a. 1999, S. 265–309.

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mer allerdings nicht den Schluss, in Zukunft auf die erzieherischen Wirkungen der modernen, parlamentarischen Politik zu vertrauen, die den Aufstieg von Führungskräften aus allen Schichten ermöglichen sollte. Vielmehr hielt er an der Überzeugung fest, „daß der Adel […] im Erbe seines Blutes ein eingeborenes Wissen um den Mythos bewahrt“, damit aber auch allein über die Fähigkeit verfüge, „Träger der lebendigen Tradition und des Willens zur Dauer aus den Erfahrungen des Blutes zu sein.“ Zwar sei der heutige Adel „durch die Haupttendenzen des Zeitalters zum Berufstypus mechanisiert und zum Zivilisationstypus liberalisiert“ und scheide damit als „Anwärter auf geistige Führerschaft“ aus; doch enthalte er immer noch das Potenzial, aus dem sich durch Auslese, „Vergeistigung“ und „Bewußtmachung“ eine neue Elite bilden lasse. Dazu bedürfe es allerdings des genialen Täters und großen Menschen, der hierfür die nötigen Bedingungen schaffe.33 Gründe zur Hoffnung sah Steinbömer in der „großen ästhetischen Bewegung“, die, im späten 19. Jahrhundert aus Frankreich kommend, in Deutschland mit Nietzsches Kulturkritik zusammengetroffen sei und „eine neue inhaltliche Gegenposition gegen den Vordrang und die Vorherrschaft des zivilisatorischen Wertnihilismus“ hervorgebracht habe.34 Von zentraler Bedeutung erschien dabei StG, „der der deutschen Sprache der schöpferische Erneuerer, der deutschen Volkheit das vorgelebte Sinnbild heroischen Menschentums, der deutschen Jugend der Rufer zu künftiger Sende und Größe geworden“ sei. Anlässlich der Verleihung des Goethe-Preises an StG zeichnete Steinbömer den Weg des Dichters von der antiken zur germanisch-deutschen Welt nach und legte dar, wie sich das anfängliche Interesse an Geschichte und Landschaft zu einer Kritik an der Zeit und zu einer immer direkter formulierten politischen Stellungnahme verdichtet habe; wobei Steinbömer unter dem einen Erscheinungen wie den Burenkrieg und die Herrschaft der Parteien, unter dem anderen die üblichen Formeln von „Führer und Gefolgschaft, von Herrschaft und Dienst, von Mensch und Gemeinschaft“ verstand. Vage wie dies insgesamt blieb, enthielt es doch zwei erkennbare Aussagen: dass StGs Entwicklung durch eine „Hinwendung und Heimkehr zum Deutschen“ charakterisiert sei, die ihn heute als den „politischen Dichter der Nation“ erscheinen lasse; und dass sein Werk die Grundlagen einer Erziehung der Oberschicht „nach dem Vorbilde des Plato“ enthalte, die Basis für eine neue Aristokratie. „Das Bekenntnis zu George“ bedeute deshalb nicht bloß die Anerkennung einer bedeutenden Leistung auf ästhetisch-literarischem Gebiet, es bedeute vielmehr „die höchste Verpflichtung zur Nachfolge in der Tat, die Verpflichtung zu einer äußersten Kampfstellung gegen die heutige Welt.“35 Worauf genau diese Kampfstellung sich bezog, lässt sich besser als an Steinbömer an einem anderen Mitglied des Herrenklubs demonstrieren, der zwar zunächst dort eine eher einzelgängerische Sonderrolle einnahm, dann jedoch eine zunehmend wichtigere Position gewann, indem er ab Herbst 1932 zum damaligen Reichskanzler Franz von Papen in Verbindung trat, für den er dann im Wahlkampf von 1933 alle Wahlreden ausarbeitete: dem Anwalt und Publizisten Edgar Julius Jung (1894–1934).36 33 Gustav Steinbömer, Oberschicht und Adel, in: Gewissen 8/1926, Nr. 12, v. 22.3.1926. 34 Ders., Abtrünnige Bildung, Heidelberg 1929, S. 12f. 35 Ders., Der Dichter in Zeiten der Wirren, in: Gewissen 9/1927, Nr. 37, v. 12.9.1927. Zu Steinbömers George-Rezeption vgl. auch seine Rezension von Wolters’ ,Blättergeschichte‘, in: Germania 5/1930 (Beilage Das Ufer); ders., Die Gestalt Stefan Georges, in: Der Ring 7/1934, 4. 36 Vgl. Petzinna, Erziehung, S. 233; Joachim Petzold, Franz von Papen. Ein deutsches Verhängnis,

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Schon während des Studiums, im Sommersemester 1919, war Jung mit dem George-Kreis zumindest sphärisch in Berührung gekommen, als er für ein Semester in Heidelberg studiert und dabei auch Vorlesungen Gundolfs besucht hatte;37 aus der Ferne mag er damals einen Blick auf die große Versammlung geworfen haben, die der ,Staat‘ dort zu Pfingsten abhielt. Tieferen Eindruck scheint indes erst das 1928 veröffentlichte Neue Reich auf ihn gemacht zu haben. Während in der ersten, 1927 erschienenen Auflage von Jungs Opus magnum mit Ausnahme einiger dem Schlusskapitel vorangestellter Verse keine Bezüge auf StG enthalten sind, erweist die zweite Auflage (1929) bereits im Untertitel diesem ihre Reverenz. Statt Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung hieß es nun: Ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich. Das nunmehr fast doppelt so starke Werk wurde der Aufgabe gewidmet, „den Gedanken des Neuen Reiches in seiner vielgestaltigen und allwirksamen Einheit zu entwickeln“, was nicht nur in einem neu hinzugekommenen Abschnitt über StG geschah, sondern auch unter Zuhilfenahme von Werken aus dem Kreis oder seiner Peripherie, wie z. B. Kurt Singers Buch über Plato oder die Schriften von Ludwig Klages, auf die sich Jung wiederholt zustimmend berief.38 Für Jung war StG das Sinnbild einer Re-volution im eigentlichen Sinne des Wortes. Zum einen habe seine Dichtung eine Rückwälzung aus der ,Verdiesseitlichung und Loslösung des Menschen aus dem Kosmos‘ vollzogen, die die Kunst des letzten Jahrhunderts in einen fortschreitenden Niedergang verstrickt gehabt habe. In der großen Gestalt Stefan Georges erstand mitten in trostlosester Zeit plötzlich die alte große Kunst zu neuem Leben, und auf ihm baut – bewußt oder unbewußt – ein neues Geschlecht an dem Tempel einer Kunst, die ,ihren Dienst willfährig wieder treibt: Den Leib vergottet und den Gott verleibt‘.39

Zum anderen hatte diese Rückwälzung, so Jung, auch eine politische und soziale Dimension, handelte es sich doch um nicht weniger als um die Rückkehr aus der dekadenten Zivilisation in die genuine Kultur, aus der ,stumpfen Seelendürre‘ und ,schamlos wimmelnden Minderwertigkeit‘ der Zeit in das überzeitliche Reich, „in dem Gott und Leib, Geist und Macht, Tugend und Schönheit wieder eins sind“. Indem StG die „Gestaltungskraft seiner gott-leiblichen Kunst“ auf die „Schöpfung eines Volkes“ übertragen habe, sei er – wie einst Plato – zum „Gründer“ geworden, zum Stifter einer „neuen Gemeinschaft“, die mit zwingender Notwendigkeit aus seiner Dichtung erwachse:

München, Berlin 1995, S. 129, 175ff. Zu Leben und Werk Jungs siehe Friedrich Grass, Edgar Julius Jung (1894–1934), in: Pfälzer Lebensbilder, hrsg. v. Kurt Baumann, Bd. 1, Speyer 1964, S. 320–348; Graß, Edgar Jung; Jenschke, Zur Kritik; Gilbert Merlio, Edgar J. Jung ou l’illusion de la ,Re´volution Conservatrice‘, in: Louis Dupeux (Hrsg.), La ,Re´volution Conservatrice‘ dans l’Allemagne de Weimar, Paris 1992, S. 223–236; Helmut Jahnke, Edgar Julius Jung. Ein konservativer Revolutionär zwischen Tradition und Moderne, Pfaffenweiler 1998; Alexandra Gerstner, Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008, S. 88ff., 464ff. 37 Vgl. Graß, Edgar Jung, S. 13. 38 Vgl. Jung, Herrschaft, S. 665, 372f., 26, 42, 63; ders., Deutschland und die konservative Revolution, in: Deutsche über Deutschland. Die Stimme des unbekannten Politikers, München 1932, S. 369–383, hier: 374. 39 Ders., Herrschaft, S. 111.

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Die Wiedergeburt der deutschen Dichtersprache, die George gelang, dies Umschmelzen, Neuformen, Bereichern zu neuer lebendiger Gestalt, ist genau der gleiche Schöpfungsvorgang, der als anderen Ausdruck ein neues Reich schafft. Es ist kein Abbiegen von seiner ursprünglichen Richtung, wenn George das Zepter des Tätigen und Gründers ergreift, es ist der notwendige Zuwachs an Macht, der ihm von selbst zufällt, nachdem er sein Reich in der Dichtung vorgebildet. Durch seine Spracherneuerung hat George diesem Reich erst die seelischen Möglichkeiten geschaffen, das Organ in dem doppelten Sinne als Lebenswerkzeug und als kündende Stimme. Es ist nur ein Schritt, es ist die natürliche Entwicklung eines lebendigen Keimes, wenn die Erneuerung nicht beim Sprachleib halt macht, sondern sich auf alle Gestaltungen des Lebens erstreckt, die übrigens mit der Sprache in innerster Verbindung stehen. Das Wort ward Fleisch und aus dem geistgesättigten Wort wird das Fleisch unseres gesamten Lebens um- und umgestaltet.40

Die überaus hohe Wertschätzung, die Jung StG entgegenbrachte – kein anderer zeitgenössischer Dichter wurde von ihm so überschwänglich gefeiert –, wurzelte in zahlreichen sachlichen Übereinstimmungen, wenn nicht mit StG selbst, der sich hierzu selten explizit und eindeutig äußerte, so doch mit der Kreisideologie, wie sie im Jahrbuch für die geistige Bewegung zum Ausdruck kam. Einig war man sich zunächst im Verdikt über viele Erscheinungen der Gegenwart, von der behaupteten Herrschaft des Mittelmaßes und der Massen über die „artverschlechterung“ und die um sich greifende „feminisierung von ganzen völkern“ bis hin zur Trias von Protestantismus, Liberalismus und Rationalismus, um von den Invektiven gegen Großstadt und Presse, Sozialpolitik und Sozialismus, Bürokratismus und Zentralismus zu schweigen. Einigkeit aber bestand auch in nicht wenigen positiven Bezugspunkten: in den, wie das Jahrbuch sich ausgedrückt hatte, ,katholisierenden tendenzen‘; im mythisierenden Verständnis der deutschen Geschichte, wie es bereits in einzelnen Gedichten des Siebenten Rings, vollends dann in Texten wie „Burg Falkenstein“ (IX, 41–44) oder „Geheimes Deutschland“ (IX, 45–49) entfaltet wurde; in der Beschwörung des Heiligen Römischen Reiches als einer ebenso über den Nationalstaat westlicher Prägung wie über das Preußentum hinausweisenden Institution; in der Verklärung des Männlichen, Heroischen, Aristokratischen, die auch eine Rechtfertigung des Tätertums und der politischen Gewalttat einschloss. Wenn StG seinen Algabal als ein revolutionäres Buch bezeichnete, wenn er eine Revolution für nötig und unabwendbar hielt, darunter freilich weniger eine Erhebung des Volkes als die eines charismatischen Führers nach der Art Bonapartes oder Mussolinis verstand,41 dann befand er sich in vollständiger Übereinstimmung mit Jung, für den „die Gewalt ein Element des Lebens“ und die „konservative Revolution“ ein Akt der Entpolitisierung und Entdemokratisierung war, der von einer ,geschichtsbildenden Minderheit‘ unter der Führung eines herausragenden Täters, etwa in der Art Mussolinis, vollzogen wurde.42 40 Ebd., S. 391f. 41 Vgl. Ernst Robert Curtius, Stefan George im Gespräch, in: Ders., Kritische Essays zur europäischen Literatur, Bern 1950, S. 138–157, hier: 153; Kurt Singer, Aus den Erinnerungen an Stefan George, in: Die Neue Rundschau 68/1957, S. 298–310, hier: 305; EL, S. 65, 64, 94; BV, S. 102f. 42 Vgl. Jung, Herrschaft, S. 82, 277f.; ders., Sinndeutung, S. 62, 70. Der Begriff der ,konservativen Revolution‘ ist bekanntlich nach 1945 in der Forschung zu einem Sammelbegriff für die politische Rechte zwischen den Deutschnationalen und der NSDAP erweitert worden. Da er nicht nur in sich paradox ist, sondern auch konträr entgegengesetzte Positionen wie z. B. den neuen Nationalismus und den ästhetischen Fundamentalismus einschließen soll, wird er hier als analytisches Instrument nicht verwendet. Vgl. dazu Stefan Breuer, Gab es eine ,konservative Revolution‘ in

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Übereinstimmungen gab es also, und keineswegs wenige. Dennoch wich der von Jung skizzierte Neue Staat a` la Papen in Entscheidendem vom ,Neuen Reich‘ StGs ab. Ein erster Unterschied lag darin, dass Jung, aller gegenteiligen Rhetorik zum Trotz, die Zeitablehnung nicht so weit trieb wie StG. Ging es diesem darum, eine Ordnung zu schaffen, die ganz darauf ausgerichtet war, den ,Urgeistern‘ und ihren Jüngern ein ,schönes Leben‘ zu ermöglichen, was nicht weniger verlangte als eine nach ästhetischen Prinzipien gestaltete Sozialökologie, so war jener vor allem besorgt, die Differenzierung zwischen Wirtschaft, Politik und Kultur wiederherzustellen, die im Zuge der Entwicklung zur Massendemokratie und zum Sozialstaat zu verwischen drohte. Jung sah im Privateigentum eine „zur Rüstung des abendländischen Menschen gehörende Einrichtung, die dem Persönlichkeitsbegriff unserer Kultur entspricht“;43 und obschon er daraus keinen Freibrief für schrankenlosen Individualismus in oeconomicis ableitete, bestätigte er nichtsdestoweniger ein System, das auf Leistung und Konkurrenz beruhte. Sein Ziel war der „gesunde Kapitalismus“,44 ein Kapitalismus, der nachfrage-, nicht angebotsorientiert war, der auf ,Bedarfsreizung‘ verzichtete, den Eigennutz dem Gemeinnutz unterordnete und dies insbesondere auch im Hinblick auf die Chancen, welche die wachsende weltwirtschaftliche Verflechtung bot: der ,gesunde‘ Kapitalismus war nicht kosmopolitisch und international (wie der ,kranke‘, d. h. ,jüdische‘ Kapitalismus), sondern national; er transferierte die national produzierten Reichtümer nicht ins Ausland, sondern ließ sie in die eigene Volkswirtschaft zurückfließen. Ein derart autark gewordener Kapitalismus, so Jungs Hoffnung, würde keiner politischen Stützen mehr bedürfen. Die Wirtschaft würde sich selbst regulieren, die Arbeit ihren angemessenen Lohn finden, der Steuer- und Sozialstaat überflüssig und die „reinliche Scheidung von Wirtschaft und Staat“ wiederhergestellt werden – ein Programm, das unbeschadet seines demonstrativ zur Schau getragenen Antiliberalismus bis ins Detail den Deregulierungskonzepten entsprach, wie sie zur gleichen Zeit von führenden Liberalen wie Müller-Armack, Eucken oder Rüstow vorgetragen wurden.45 Gewiss, gemessen an der allgemeinen Tendenz des Kapitalismus zur Globalisierung wies Jungs Autarkieprogramm deutlich nach rückwärts. Aber es wies doch nicht zurück bis nach ,Hellas‘, wie dies für StG und seinen Kreis gilt, sondern allenfalls bis ins 19. Jahrhundert, in die ,Sattelzeit‘ des Kapitalismus, in der es bereits industriell produzierten Reichtum, aber nur erst relativ schwache Einwirkungen des Weltmarktes gab, in der beträchtliche Kapitalien akkumuliert wurden, aber noch vorwiegend in der Form des Privatkapitals, nicht in derjenigen des Aktienkapitals, in der ein Marx „die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalisWeimar?, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2000, 2, S. 145–156. Dass dieses Konzept auch für das Verständnis der George-Rezeption eher hinderlich ist, zeigt meine Studie Stefan George und die Phantome der ,Konservativen Revolution‘. 43 Edgar Julius Jung, Die Bedeutung des Faschismus für Europa, in: Deutsche Rundschau 58/1931, S. 178–186, hier: 182. 44 Ders., Herrschaft, S. 487. 45 Ebd., S. 468f., 302. Zum Hintergrund vgl. Dieter Haselbach, Autoritärer Liberalismus und Soziale Marktwirtschaft, Baden-Baden 1991. Das (wirtschafts-)liberale Element bei Jung betonen besonders Heide Gerstenberger, Der revolutionäre Konservatismus, Berlin 1969, S. 96, 146; Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S. 487ff.

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tischen Produktionsweise selbst“ gesehen hat.46 Angesichts einer Lage, in der beträchtliche Teile der deutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig waren, wollten Jung, Papen und die ihnen assoziierten Kreise die Wirkung der Faktoren abschwächen, die dieses Resultat gezeitigt hatten; eine Revolutionierung des Systems hingegen lag außerhalb ihres Horizonts. Niemand sah dies klarer als die Wirtschaftskapitäne, die Jungs publizistische Aktivitäten bereitwillig mit Argumentations- und Finanzhilfen unterstützten.47 Vom radikalen Antimodernismus StGs, der nicht nur den zeitgenössischen Kapitalismus, sondern auch Markt und Geld, Buchführung und ,Rechenhaftigkeit‘ (Max Weber) verwarf und das 19. Jahrhundert zu weiten Teilen am liebsten aus der Geschichte gestrichen hätte, war eine solche Haltung um Welten entfernt. Von Distanz muss man auch bezüglich der Sozialdimension sprechen, da sich Jung hier für eine Mischung von gentilcharismatischen und berufsständischen Elementen aussprach, die mit StGs Geniekult kaum zur Deckung zu bringen war. Zwar erklärte auch Jung, nicht an den herkömmlichen Adel anknüpfen zu wollen, doch verlangte er nichtsdestoweniger, die Repräsentation des Staatswillens einer Oberschicht zu übertragen, „die sowohl biologisch als auch soziologisch den Gesamtwillen des Volkes in sich verkörpert.“48 Gedacht war dabei an eine Leistungselite, die ihre Erfahrung und ihre Qualifikation auf dem Vererbungswege weitergeben und damit gewissermaßen „Leistungsprinzip“ und „Seinsprinzip“, bürgerliche und ständische Hierarchiemuster verbinden sollte.49 Folgerichtig plädierte Jung für ein Ordnungskonzept, das, im Anschluss an den Universalismus Othmar Spanns, eine Art Herrschaftsteilung vorsah. Die im engeren Sinne politischen Funktionen sollten dabei den staatsbildenden Ständen vorbehalten bleiben – also jenen Gruppen, aus denen sich der geplante Neuadel rekrutieren sollte –, während in Wirtschaft und Kultur Berufsstände zu bilden seien, von denen sich Jung einen Ausgleich für die aus der Arbeitsteilung entstandene Vereinzelung erhoffte. Zugleich sollten sich Querverbindungen in Form von Arbeitsgemeinschaften und organischen Erzeugungsgemeinschaften bilden, in denen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zusammengeschlossen sein würden. Als Spitze dieser Körperschaften war eine Reichsständekammer vorgesehen, die weitreichende Selbstverwaltungsrechte erhalten sollte.50 Dass ein solches korporatistisches Modell auch für Georgianer eine gewisse Anziehungskraft besaß, wurde an anderer Stelle für Kurt Hildebrandt und Wilhelm Andreae gezeigt.51 Ebenso evident ist jedoch, dass die darin liegende weitgehende Anerkennung der modernen Berufswelt wie auch der etatistische Vorbehalt – der Staat sollte das Recht zur Festlegung der Wirtschaftsziele und zur Aufsicht über ihre Durchführung behalten52 – in diametralem Gegensatz zu den im Jahrbuch-Kreis formulierten Vorstellungen standen. Solche Differenzen wurden freilich innerhalb der Ring-Bewegung nicht thematisiert. Worum es hier ging, war, sich des Namens George für die Legitimierung der 46 Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, Berlin/DDR 1969, S. 452. 47 Vgl. Larry E. Jones, Edgar J. Jung. The Conservative Revolution in Theory and Practice, in: Central European History 21/1988, S. 142–174, hier: 147. 48 Jung, Herrschaft, S. 188. 49 Vgl. ders., Sinndeutung, S. 51. 50 Vgl. ders., Herrschaft, S. 299ff. 51 Vgl. II, 8. 52 Vgl. Jenschke, Zur Kritik, S. 134.

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eigenen, neoaristokratischen Ambitionen zu bemächtigen, und diese Absicht wurde mit einer Einstimmigkeit verfolgt, die fast schon an Verabredung denken lässt. Neben Jung, Steinbömer und Schwarz wären noch zu erwähnen: der zeitweilige Herausgeber der Grenzboten und Leiter des Instituts für Grenz- und Auslandsstudien Max Hildebert Boehm (1891–1968), der Ende der 20er-Jahre von seiner zunächst neonationalistischen Orientierung abrückte und sein neues Credo mit George-Zitaten eröffnete und beschloss;53 der Literaturkritiker und -historiker Paul Fechter (1880–1958), der sich wie Boehm und Schwarz von seiner Freundschaft zu Moeller van den Bruck nicht davon abhalten ließ, StG zum eigentlichen Überwinder des 19. Jahrhunderts zu erklären;54 der sonst nicht weiter bekannte Autor einer enthusiastischen Besprechung von Wolters’ ,Blättergeschichte‘, der dort die Ansicht verkündete, „daß die von George erzeugte dichterische Bewegung unsere eigentliche Lebensbewegung darstellt“;55 oder die Preußischen Jahrbücher, die dem Werk StGs vor dem Krieg ausschließlich literaturwissenschaftliche Betrachtungen gewidmet hatten,56 unter der Herausgeberschaft des Herrenklub-Mitglieds Walther Schotte das Schwergewicht nun auf die weltanschaulichen Aspekte verlagerten.57 Schließlich muss auch Hans Blüher (1888–1955) hier noch genannt werden, allerdings mit einer doppelten Einschränkung: zum einen, weil sich die wichtigsten expliziten Bezugnahmen auf StG in seinen vor der Ring-Bewegung entstandenen Schriften finden, speziell in der skandalträchtigen Studie über Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft;58 und zum anderen, weil eben diese Studie vermutlich der Anlass war, Blüher die formelle Mitgliedschaft im Herrenklub zu verwehren, und dies, obwohl er im Juniklub häufig als Gast anwesend war und im Gewissen wie im Ring publizieren durfte.59 Die Unterteilung der Menschheit in eine primäre und eine sekundäre Rasse, die Blüher 1921 entwickelte, sowie die Bestimmung der Ersteren durch das Monopol auf die Fähigkeit zur Wahrnehmung des Schönen, zur Erkenntnis der Urphänomene im Sinne Platons 53 Vgl. Max Hildebert Boehm, Das eigenständige Volk. Grundlegung der Elemente einer europäischen Völkersoziologie, Darmstadt 1965 (reprograf. Nachdr. d. Ausg. Göttingen 1932), S. 9, 318. Boehm war allerdings schon in jungen Jahren stark vom George-Kreis beeindruckt, wie seine unveröffentlichten Erinnerungen belegen. Vgl. ders., Um das gefährdete Deutschtum. Erlebnisse und Begegnungen in der Volkstumsbewegung, BArch Koblenz, N/1077, Nr. 1, S. 51. 54 Vgl. Paul Fechter, Der Führer. Der Dichter, in: Deutsche Allgemeine Zeitung v. 8.7.1928; ders., Stefan George, in: Deutsche Rundschau 238/1934, S. 8–12. In seine während der NS-Zeit erschienene Literaturgeschichte hat Fechter diesen Nachruf integriert, ihn dann allerdings mit deutlich kritischeren Akzenten und antisemitischen Ausfällen gegen den Kreis versehen; vgl. Geschichte der deutschen Literatur vom Naturalismus bis zur Literatur des Unwirklichen, 5. Aufl., Leipzig 1938, S. 249ff. 55 Friedrich Kollmeyer, Der Weltgang des Dichters Stefan George, in: Der Ring 3/1930, 1. 56 Vgl. Richard M. Meyer, Ein Neuer Dichterkreis, in: Preußische Jahrbücher 88/1897, S. 33–54; Bruno Baumgarten, Stefan George. Eine stilistische Untersuchung, ebd. 128/1907, S. 428–469; Melitta Gerhard, Stefan George und die deutsche Lyrik des 19. Jahrhunderts, ebd. 171/1918, S. 205–225. 57 Vgl. Richard H. Grützmacher, Stefan Georges geistige Haltung, in: Preußische Jahrbücher 213/1928, S. 40–56; Kurt Busse, Stefan Georges ,Neues Reich‘, ebd. 215/1929, S. 175–180. 58 2 Bde., Jena 1917–1919. 59 Vgl. Hans Blüher, Werke und Tage. Geschichte eines Denkers, München 1953, S. 328ff.; Petzinna, Erziehung, S. 134, 230. Blühers Aufsätze im Gewissen und im Ring sind erfasst bei BerndUlrich Hergemöller, Hans Blüher (1888–1955). Annotierte und kommentierte Biobibliographie (1905–2004), Hamburg 2004.

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sowie zu genialischem Schöpfertum zeigen jedoch ebenso sehr den anhaltenden Einfluss des George-Kreises auf sein Denken wie die Affinität zum Neoaristokratismus der Ring-Bewegung – ist die primäre Rasse doch nicht gleichzusetzen mit dem alten Geburtsadel, sondern eine Ansammlung von Genies, denen die ,Autarkie der Zeugung‘ fehlt, sodass es ihnen nicht vergönnt ist, sich zur stabilen Art auszubilden.60 Angesichts dieser Fülle an positiven Referenzen überrascht es nicht, wenn man in den Medien der Ring-Bewegung auf eine beachtliche Zahl von Autoren stößt, die selbst dem George-Kreis oder wenigstens seiner Peripherie entstammten. So war Kurt Hildebrandt im Gewissen mit einem Aufsatz, im Ring immerhin mit fünf Texten vertreten, Ernst Kantorowicz konnte sich im Ring über Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben der Darstellung mittelalterlicher Geschichte verbreiten und sogar StG war mit einem Abdruck seines Textes über Hölderlin präsent.61 Im Gewissen finden sich überdies sechsundzwanzig Aufsätze von Helmut von den Steinen, der gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Wolfram und weiteren Geschwistern während der JahrbuchZeit in Kontakt mit Friedrich Wolters gestanden hatte.62 Auch wenn sich die Beziehungen nach dem Krieg gelockert haben mögen, zeigen doch die Gegenstände dieser Aufsätze wie auch die in ihnen transportierten Wertungen, wie sehr der Autor dem Kreis verpflichtet war. Der Beitrag Völkische Gesichte stellte Wolters’ Der Wanderer vor, Dante und das Reich war der Dante-Übertragung StGs gewidmet, Das deutsche Lesebuch dem von Wolters zusammengestellten fünfteiligen Lehrbuch Der Deutsche, Heilige und Helden den von seinem Bruder verfassten Büchern über Dante, Bernhard von Clairvaux und Franziskus, Reden über das Vaterland dem Buch gleichen Titels von Friedrich Wolters.63

7.3.

Die rassenhygienische und nordische Bewegung

Die beiden Bewegungen, um die es im Folgenden geht, gehören hinsichtlich ihrer geistigen Grundlagen eng zusammen, unterscheiden sich aber in ihren politischen Konsequenzen. Die Ideen der Rassenhygieniker fanden bereits in der Weimarer Republik Eingang in gesundheits- und bevölkerungspolitische Planungen, um ab 1933 auch gesetzgeberisch umgesetzt zu werden (Erbgesundheitsgesetz, Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens, Ehegesundheitsgesetz usw.).64 Die Ideolo60 Vgl. Hans Blüher, Die Aristie des Jesus von Nazareth, Prien 1921, S. 167, 59, 64, 85. 61 In: Der Ring 1/1928, 29; vgl. ¤ Kurt Hildebrandt und ¤ Ernst Kantorowicz. 62 Vgl. Wolfgang Christian Schneider, „Heilige und Helden des Mittelalters“. Die geschichtliche ,Schau‘ Wolframs von den Steinen unter dem Zeichen Stefan Georges, in: Barbara Schlieben/Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004, S. 183–207, hier: 184f. 63 Vgl. Helmut von den Steinen, Völkische Gesichte, in: Gewissen 7/1925, Nr. 24, v. 15.6.1925; Dante und das Reich, ebd. 7/1925, Nr. 41, v. 12.10.1925; Das deutsche Lesebuch, ebd. 9/1927, Nr. 21, v. 23.5.1927; Heilige und Helden, ebd. 9/1927, Nr. 32, v. 8.8.1927; Reden über das Vaterland, ebd. 9/1927, Nr. 47, v. 21.11.1927. 64 Vgl. Paul Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870–1945, Oxford u. a. 1989; Hans-Walther Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung ,lebensunwerten‘ Lebens 1890–1945, 2. Aufl., Göttingen 1992; Peter Weingart u. a., Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt/M. 1992.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

gie der nordischen Bewegung gelangte zu politischer Bedeutung vor allem durch den Einfluss, den sie auf die SS-Führung, insbesondere Heinrich Himmler und Richard Walther Darre´, besaß.65 Das von Darre´ geleitete Rasse- und Siedlungshauptamt rekrutierte seine Mitglieder gemäß den von dieser Ideologie bereitgestellten Selektionskriterien, gewährte oder verweigerte Heiratserlaubnisse unter rassenkundlichen Gesichtspunkten und machte sich während des Krieges daran, ganz Osteuropa rassenpolitisch umzustrukturieren.66 Im Altreich waren die Auswirkungen beschränkter, doch zeichneten sich auch dort in der Familien- und Bevölkerungspolitik sowie in den Plänen zu einer Evaluierung der Landbevölkerung unter eugenischen Gesichtspunkten entsprechende Ansätze ab.67 Die rassenhygienische Bewegung, um mit der älteren zu beginnen, entstand im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck der Forschungen Darwins und Galtons, zu denen bald auch noch die Wiederentdeckung Mendels hinzukam.68 Ihre wichtigsten Autoren und Propagandisten waren Alfred Ploetz (1860–1940), Wilhelm Schallmayer (1857–1919), Eugen Fischer (1874–1967) und Fritz Lenz (1887–1976); ihr publizistisches Organ das seit 1904 erscheinende Archiv für Rassenund Gesellschafts-Biologie mit ungefähr 1200 Beziehern; ihr organisatorisches Zentrum die 1905 gegründete Gesellschaft für Rassenhygiene, die überwiegend aus Medizinern, Anthropologen und Naturwissenschaftlern bestand und über Ortsgruppen in Berlin, München, Freiburg, Stuttgart, Dresden, Tübingen und Graz verfügte, mit 1911 etwa vierhundert Mitgliedern.69 Gleichsam kanonische Gestalt erhielt die Doktrin dieser Bewegung in dem 1921 im Münchner J. F. Lehmanns Verlag erschienenen Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, dem Baur/Fischer/ Lenz. Die Anhänger dieser Lehre waren davon überzeugt, dass der allgemeine Fortschritt, dessen technische Seite sie durchaus begrüßten, auf biologischer Ebene einen Rückschritt bedeutete. Humanitarismus, Sozialreform und verbesserte Hygiene führten dazu, dass immer mehr Individuen überlebten und sich fortpflanzten, die unter Bedingungen normaler Selektion dazu außerstande wären. Gleichzeitig schränkten die tüchtigsten Gruppen der Gesellschaft – die gebildeten Mittelklassen – die Zahl ihrer Kinder immer mehr ein, sodass sich, aufs Ganze gesehen, die genetische Beschaffenheit des Volkskörpers verschlechtere. Wolle man Staat und Nation so ausstatten, dass sie für den Konkurrenzkampf optimal gerüstet seien, so seien tiefe Ein65 Vgl. Josef Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen u. a. 1970, S. 111; Heinemann, Rasse. 66 Vgl. Heinemann, Rasse, S. 76, 31, 10. 67 Vgl. Gabriele Czarnowski, Das kontrollierte Paar. Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus, Weinheim 1991; Wolfgang Voegeli (Hrsg.), Nationalsozialistische Familienpolitik zwischen Ideologie und Durchsetzung, Hamburg 2001; Wolfram Pyta, ,Menschenökonomie‘. Das Ineinandergreifen von ländlicher Sozialraumgestaltung und rassenbiologischer Bevölkerungspolitik im NS-Staat, in: Historische Zeitschrift 273/2001, S. 31–94. 68 Für einen knappen und konzisen Überblick vgl. Sheila F. Weiss, Die Rassenhygienische Bewegung in Deutschland, 1904–1933, in: Christian Pross/Götz Aly (Hrsg.), Der Wert des Menschen, Berlin 1989, S. 153–199. 69 Vgl. Thomas Pickhardt, Sozialdarwinismus. Ein Panoramabild deutscher bevölkerungskundlicher Fachzeitschriften vor dem Ersten Weltkrieg, in: Historische Mitteilungen 10/1997, S. 14–55, hier: 18; Niels C. Lösch, Rasse als Konstrukt. Leben und Werk Eugen Fischers, Frankfurt/M. u. a. 1996, S. 96f.

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griffe ins reproduktive Verhalten unerlässlich. Schallmayer erklärte den „Ausschluß der Degenerierten oder beträchtlich unter dem Durchschnitt ausgefallenen Individuen von der Fortpflanzung“ auf lange Sicht für wünschenswert und forderte schon für die Gegenwart die Einführung von erbbiographischen Personalbögen und Gesundheitszeugnissen für die Eheschließung. Der Geburtenbeschränkung in den oberen Schichten solle durch materielle Anreize sowie durch eine Wahlrechtsreform zugunsten der Familienväter entgegengewirkt werden.70 Noch detaillierter waren die Vorschläge, die Fritz Lenz in dem von ihm allein verfassten zweiten Band des Baur/Fischer/Lenz entwickelte. Um zu erreichen, „daß die Begabten und Tüchtigen sich stärker vermehren als die Untüchtigen und Minderwertigen“, forderte Lenz die freiwillige Sterilisation für Minderwertige, eine höhere Besoldung der Beamten und der geistigen Arbeiter, eine Steuerermäßigung mit steigender Kinderzahl, einen Familienlastenausgleich vermittels einer Ersetzung indirekter Steuern durch Einkommensbesteuerung sowie eine familienbegünstigende Reform der Erbschaftssteuer. Hinzukommen sollte für die bäuerliche Bevölkerung die Schaffung von staatlichen Lehen, deren Weitervererbung an eine ausreichende Kinderzahl gebunden sein sollte. Abgerundet wurde der Katalog durch Forderungen nach einer rassenhygienischen Ausgestaltung der Einwanderungspolitik sowie einer Gesundheitspolitik, die die Schäden durch Geschlechtskrankheiten, Alkohol, Tabak etc. verringern sollte.71 Die meisten dieser Forderungen, die schon in der Vorkriegszeit in zahlreichen Publikationen, auf Tagungen und sogar in Ausstellungen ventiliert wurden, finden sich auch in den beiden zwischen 1911 und 1917 entstandenen Normbüchern Kurt Hildebrandts. Es überrascht deshalb nicht, dass sie im Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie zunächst zustimmend, ja enthusiastisch zur Kenntnis genommen wurden. Dem Rezensenten erschien das Doppelwerk als schönster Beweis für die in ihm ausgesprochene Behauptung, „daß die Naturwissenschaft ihre volle geistige Kraft und Bedeutung nur aus der primären heroischen Philosophie schöpfen kann.“ Das Buch sei von ,hohem Rang‘, es künde in Gehalt und Form, Ton und Gebärde von der „Unersetzbarkeit des wertvollen Blutes und der Macht des zeugenden Geistes“ und müsse als ein weiteres Zeugnis dafür angesehen werden, „daß ein neuer geistiger Wille vom edlen Blute unseres Volkes Besitz ergriffen und den Keim zu naher Blüte untilgbar gepflanzt hat“.72 Ähnlich positiv fiel einige Jahre später die Besprechung von Hildebrandts Gedanken zur Rassenpsychologie durch den gleichen Rezensenten aus.73 Ganz andere Töne schlugen dagegen die von Fritz Lenz und seiner Frau Kara Lenz-v. Borries verfassten Besprechungen aus den Jahren 1926 und 1930 an. Zwar wurde die vorangegangene Würdigung bekräftigt, doch zugleich hervorgehoben, dass es sich nicht um rein naturwissenschaftliche Werke handle, da der Verfasser, etwa mit seiner Annahme einer ,gestaltenden Kraft‘, auf unklare Weise metaphysische Elemente in seine Darstellung mische. Hildebrandts Behauptung, die Rassenhygiene erhalte erst dann einen Sinn, wenn ein festumrissenes Normbild als Zuchtziel den Men70 Wilhelm Schallmayer, Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker, Jena 1903, S. 258. 71 Vgl. Baur/Fischer/Lenz, Grundriß, Bd. 2, S. 172, 247, 185, 178, 207ff., 236, 163ff. 72 Jablonski [ohne Vorname, ohne Titel], in: Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 15/1923, S. 219–221. 73 Jablonski, in: Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 18/1926, S. 120–121.

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schen vorschwebe, wird mit dem Argument zurückgewiesen, dass es für die praktische Rassenhygiene durchaus genüge, „wenn wir sie nach unseren allgemeinen im Leben bewährten Urteilen von Tüchtigkeit und Untüchtigkeit richten, die Bejahung des dauernden Lebens dabei als selbstverständlich vorausgesetzt.“74 Ob dies Letztere bei Hildebrandt der Fall sei, sei im Übrigen zweifelhaft, übernehme er doch die lebensfeindliche Lehre des George-Kreises mit seiner Abwertung der Frau und seiner Betonung der Jünglingsliebe.75 Dies sei „allzu Platonisch“, und zwar nicht nur in Bezug auf die darin eingeschlossenen „lebensfeindliche[n] Wertungen“, sondern auch in Bezug auf die politisch-sozialen Konsequenzen. Hildebrandt habe wohl, wie der George-Kreis insgesamt, „mit der landläufigen demokratisch-individualistischen Wertung [gebrochen], nicht aber mit der aristokratisch-individualistischen“, woraus sich bei ihm „eine ganz ähnliche Klassen-, ja Kastengliederung wie bei Platon“ ergebe. Trotz vieler Übereinstimmungen könne Hildebrandt deshalb nicht als der „geistige Führer, auf den wir warten“, gelten. Die Erträge seiner Forschungen seien überwiegend negativ, „und es ist daher kaum zu hoffen, daß wir von einem künftigen Buche Hildebrandts die Werte des ,Neuen Lebens‘ selbst erwarten dürften.“76 Das war, besonders was den Vorwurf (neo-)aristokratischer Ambitionen angeht, eine unzutreffende Kritik, hatte Hildebrandt sich doch eindeutig gegen eine starre Kastengliederung ausgesprochen. Immerhin war richtig, dass in seinem Konzept gerade die im bürgerlichen Sinne Tüchtigen, auf deren Förderung der von Lenz repräsentierte Strang der Rassenhygiene so großen Wert legte, aus der Sphäre von Herrschaft, Geist und Bildung exkludiert waren, welche Letztere ganz denjenigen vorbehalten wurde, die die Norm der Kalokagathia erfüllten. Die Abweisung galt also dem antimodernen Zug, der sich in der Abwertung von Arbeit und Leistung einerseits, der Hypostasierung von Ästhetik und Metaphysik andererseits manifestierte. Sie dokumentierte, positiv ausgedrückt, die generelle Affinität der Rassenhygiene zur bürgerlichen Moderne, speziell zum wissenschaftlich-technischen Fortschritt und den mit ihm gegebenen Manipulationsmöglichkeiten, bei Lenz darüber hinaus auch zu den Trägerschichten dieses Fortschritts, deren Anteil an der Nation mit den Mitteln des Steuerrechts und der Medizin zu fördern eines seiner wesentlichen Anliegen war. Dass sich das Gros der deutschen Rassenhygieniker letztlich weniger für die Probleme der Rasse als die der Klasse interessierte, war nach dem Ersten Weltkrieg der Anlass für eine Sezession, die sich als ,nordische Bewegung‘ präsentierte.77 Anknüpfend an einen Diskursstrang, der in Frankreich mit den Namen Gobineau und Vacher de Lapouge, in Deutschland mit den Namen Otto Ammon und Ludwig Woltmann verbunden war, setzten Hans F. K. Günther (1891–1968) und Ludwig Ferdinand Clauß (1892–1974) mit ihren Aufsätzen und Büchern ab 1920 die Maßstäbe für eine neue Betrachtungsweise, die den Rassenbegriff in weit stärkerem Maße als die Ras74 Kara Lenz-v. Borries, Besprechung von Kurt Hildebrandt, ,Staat und Rasse‘, in: Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 22/1930, S. 221–223, hier: 223. 75 Vgl. Fritz Lenz, Besprechung von Kurt Hildebrandt, ,Norm und Entartung des Menschen‘; ,Norm und Verfall des Staates, 2. Aufl. 1923‘, in: Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 18/1926, S. 121–126. 76 Ders., Besprechung von Kurt Hildebrandt, Wagner und Nietzsche, in: Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 18/1926, S. 126–128. 77 Vgl. Stefan Breuer, Die „Nordische Bewegung“ in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57/2009, S. 485–509.

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senhygieniker normativ auflud, vor allem durch die Einbeziehung ästhetischer und psychologischer Kriterien, und daraus einen entschiedenen Primat der Rasse sowohl gegenüber der Klasse als auch gegenüber Volk und Nation ableitete.78 Von Gobineau übernahm man das Theorem vom alleinigen kulturellen Schöpfertum der arischen bzw., wie es jetzt hieß, ,nordischen‘ Rasse sowie die damit verbundene Lehre von der Entartung durch Rassenmischung;79 von den Rassenhygienikern die Vorstellung, die Entartung durch eugenische und bevölkerungspolitische Maßnahmen mindestens aufhalten oder sogar umkehren zu können. Obwohl nach Günther nur noch etwas über die Hälfte der in Deutschland lebenden Bevölkerung mehr als 50% nordischen Bluts besitzen und überhaupt nur 6–8% als rein nordisch gelten sollten,80 erschien ihm denkbar, „durch eine Mehrung höherwertiger Erbanlagen, d. h. durch die höhere Kinderzahl der Erblich-Tüchtigsten und eine Hemmung der Fortpflanzung der Erblich-Minderwertigen“81, die Zusammensetzung der Bevölkerung so zu verändern, dass der sonst unvermeidliche Untergang der Kultur qua Allvermischung abgewendet werden könne. Während allerdings die Rassenhygieniker die Eugenik in den Dienst der Erhaltung aller Rassen stellen wollten und vor der Bevorzugung eines bestimmten Typus warnten,82 ging es Günther um eben diese Letztere. Der nordische Gedanke ziehe nicht, wie der Rassengedanke früherer Prägung, einen Graben um das eigene Volk als einer in seiner Gemischtrassigkeit zu verteidigenden Größe. Vielmehr wende er sich von außen nach innen, indem er ein „leiblich-seelisches Vorbild für die Auslese im deutschen Volk“ aufstelle.83 Er beruhige sich deshalb nicht beim Status quo, sondern bringe Unruhe, indem er für eine „erbgesundheitliche und rassische Reinigung“ sowie den „Geburtensieg der vorwiegend nordischen Menschen innerhalb aller deutschen Stämme“ eintrete.84 Da Günther gleichzeitig betonte, dass „die einzelnen deutschen Stämme durch das jedem von ihnen eigene Mischungsverhältnis der in Deutschland vertretenen Rassen voneinander verschieden sind“,85 und zwar verschieden nicht 78 Vgl. u. a. Hans F. K. Günther, Ritter, Tod und Teufel, München 1920; ders., Rassenkunde des deutschen Volkes; ders., Rassenkunde Europas; ders., Der Nordische Gedanke; Ludwig Ferdinand Clauß, Die nordische Seele; ders., Rasse und Seele, München 1925–1926. 79 Vgl. Günther, Der Nordische Gedanke, S. 75. Der Begriff ,race nordique‘ wird zumeist auf den französisch-russischen Anthropologen Joseph Deniker zurückgeführt, der ihn um die Jahrhundertwende eingeführt hat. Er ist jedoch schon früher in der deutschsprachigen Rassenanthropologie verwendet worden, etwa von Karl Penka oder von Ludwig Wilser, die sich einen jahrelangen Streit über die Priorität lieferten. Vgl. Ingo Wiwjorra, Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006, S. 238ff. 80 Vgl. Günther, Rassenkunde Europas, S. 78ff.; ders., Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes (1929), Neudr. der 3. Aufl., München u. a. 1943, S. 92f., 126. 81 Ders., Der Nordische Gedanke, S. 13. 82 So vor allem Schallmayer in der 2. Aufl. seines oben zitierten Werkes, 1910, S. 374ff.; Baur/Fischer/Lenz, Grundriß, Bd. 2, S. 270; Otmar Freiherr von Verschuer, Rasse, in: Wilhelm Berensmann u. a. (Hrsg.), Deutsche Politik. Ein völkisches Handbuch, Frankfurt/M. 1926, S. 1–15, hier: 9f. An anderer Stelle beruft sich Verschuer, zu dieser Zeit ein Anhänger Othmar Spanns, auf Hildebrandts Normbücher; vgl. ders., Sozialpolitik und Rassenhygiene, in: Nationalwirtschaft. Blätter für organischen Wirtschaftsaufbau 1/1928, 6, S. 719–737, hier: 722f. Vgl. Ludger Weß, Humangenetik zwischen Wissenschaft und Rassenideologie. Das Beispiel Otmar von Verschuer (1896–1969), in: Karsten Linne/Thomas Wohlleben (Hrsg.), Patient Geschichte, Frankfurt/M. 1993, S. 166–184. 83 Günther, Der Nordische Gedanke, S. 39f. 84 Ebd., S. 62, 25. 85 Ebd., S. 42.

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einfach nur im empirischen Sinne, sondern im Wertsinne – der Anteil an wertvollen nordrassigen Menschen sollte in Norddeutschland größer als in Süddeutschland sein –, da weiterhin die nordrassigen Deutschen den Trägern nordischen Blutes in anderen Gebieten wie Skandinavien oder England näher stehen sollten als den durch „dinarische“ oder gar „ostische“ Einsprengsel bastardisierten Populationen Süddeutschlands, folgte aus diesem Ansatz nicht bloß eine Option für ein neues, rassenanthropologisch begründetes Stratifikationsmodell,86 sondern, wie die Kritiker sofort erkannten, ein „Angriff auf die Nationalstaatsidee“, der auf die „Abspaltung des nordwestlichen, protestantischen Deutschland vom katholischen Süd- und Ostdeutschland“ hinauslief sowie auf den „Aufbau eines nordischen Imperiums, das alle Regionen Nordwesteuropas mit der Dominanz ,nordischen Blutes‘ umfassen sollte.“87 Günther versuchte dies zwar immer wieder mit dem Argument zu entkräften, dass auch das von ihm anvisierte Ausleseprogramm notwendigerweise auf das Volk zurückgreifen müsse, und speziell auf ein Volk wie das deutsche, das bei aller Degeneration doch noch ein vergleichsweise hohes Potenzial an nordischem Blut aufweise,88 doch waren die separatistischen und internationalistischen Implikationen seiner Lehre so evident, dass es schon erheblicher Anstrengungen bedurfte, sie abzudunkeln. Da sich die nordische Bewegung, wie schon die Ring-Bewegung, nicht als Massenbewegung verstand, sondern als die „Bewegung eines neuen Adels“,89 legte sie wenig Wert auf die Gewinnung größerer Anhängerkreise. Verkündete Günther 1925, die Bewegung sei einstweilen in der Hauptsache eine Bewegung unter der Jugend, womit er vor allem den 1923 gegründeten Jung-Germanischen Bund meinte, der sich 1926 in Jungnordischer Bund umbenannte,90 so waren es ein Jahr darauf immer noch nur einige Jugendbünde wie die Adler und Falken, die Artamanen, die Geusen und die Hochschulgilden, die sich zum nordischen Gedanken bekannten; und selbst von diesen musste eingeräumt werden, dass bei ihnen der Rassengedanke „nur ein den anderen Zielen nebengeordnetes oder gar untergeordnetes Ziel“ bildete.91 Die beiden wichtigsten Zeitschriften, die sich der Verbreitung der nordischen Lehre gewidmet hatten, die Nordischen Blätter und Die Sonne, schwenkten bald wieder auf einen völkischen Kurs um. Erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gelang es, mit der von Günther und Clauß herausgegebenen Zeitschrift Rasse ein rein nordisches Blatt zu installieren, aus dem sich die Herausgeber allerdings schon nach vier Jahren wieder zurückzogen.92 Trotz zahlreicher Ehrungen blieb Günther unter dem 86 Günther spricht explizit vom „Neuen Adel“ (ebd., S. 23) und versteht darunter „alle erblichgesunden, erblich-tüchtigen, erblich-klugen Menschen gleich reinen nordischen Blutes“, Adel und Rasse, S. 83. Einen „Adel der Entscheidung“ kennt auch Clauß, Die nordische Seele, S. 159. 87 Cornelia Essner, Im „Irrgarten der Rassenlogik“ oder Nordische Rassenlehre und nationale Frage (1919–1935), in: Historische Mitteilungen 7/1994, S. 81–101, hier: 88. Essner bezieht sich vor allem auf nationalsozialistische Kritiker wie Friedrich Merkenschlager (Götter, Helden und Günther. Eine Abwehr der Güntherschen Rassenkunde, Nürnberg 1926) und antisemitische Katholiken wie Wilhelm Schmidt (Rasse und Volk, Salzburg, Leipzig 1927). 88 Vgl. Günther, Der Nordische Gedanke, S. 105ff. 89 Ders., Die nordische Bewegung unter den Deutschen, Forts., in: Jung-Germanische Blätter. Zeitschrift für nordisch-arische Kultur 1/1924, 8. 90 Vgl. Günther, Der Nordische Gedanke, 1. Aufl. 1925, S. 121. 91 Kurt Holler, Jungnordische Bewegung, in: Nordische Blätter 2/1926, 1. 92 Schriftleiter des Blattes war bis 1941 der Leipziger Privatdozent Michael Hesch, der 1929 für

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Regime ein Außenseiter. Clauß verstrickte sich gar in ein vom Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, Walter Groß, angezetteltes Parteiordnungsverfahren, das 1943 mit dem Ausschluss aus der NSDAP endete.93 Mit der ,geistigen Bewegung‘ hatte diese nordische Bewegung auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Im Jahrbuch-Kreis teilte man weder die Hypostasierung der Abstammung noch das deterministische Verständnis von Rasse, schon gar nicht die Verklärung des Nordens, die mit einer Abwertung alles Südlichen einherging. Von der Germanenidolatrie, wie sie ihm bei Ludwig Klages entgegentrat, hat StG nichts gehalten, dem nordischen Geist gar attestiert, dass er den deutschen nicht viel zu lehren habe, sehr im Unterschied zum romanischen, von dem es „klarheit weite sonnigkeit“ zu lernen gebe (GK, 25). Es sei fast die hervorragendste und natürlichste aller deutschen stammeseigenheiten: in dem süden die vervollständigung zu suchen, in dem süden von dem unsere vorfahren besitz ergriffen, zu dem unsre kaiser niederstiegen um die wesentliche weihe zu empfangen, zu dem wir dichter pilgern um zu der tiefe das licht zu finden […]. (GK, 26)

In seinen Gedanken zur Rassenpsychologie, die sich kritisch mit Günther auseinandersetzten, nahm Kurt Hildebrandt genau diese Punkte zum Anlass, eine Grenze zwischen dem George-Kreis und dem Nordizismus zu ziehen. Auch wenn es zuträfe, dass die nordische Rasse die edelste sei, sei damit doch keineswegs erwiesen, „daß Reinheit der nordischen Rasse und Höhe der Kultur zusammenfallen muß.“94 Die Befähigung zu kulturellem Schöpfertum sei nicht an rassische Reinheit, sondern an Mischung gebunden, das höchste Leben deshalb dort entstanden, „wo die nordische Rasse wohl die führende war, sich aber mit anderen Rassen mischte, von ihnen Kultur annahm.“95 Dies sei in Griechenland geschehen, dem deshalb auch immer wieder die Sehnsucht der wahrhaft schöpferischen Nordmenschen gegolten habe. Auch das Herz der deutschen Kultur habe nicht im rassenreinen Norden, sondern in den gemischten Rheinlanden gelegen. Überhaupt sei die „Sehnsucht des Nordmenschen nach dem Süden […] so elementar, daß man in ihr die tiefste Bedeutung suchen muß.“ Sie sei Ausdruck eines „metaphysischen Dranges, die höchste Lebensnorm zu erfüllen“, der seine angemessene Verwirklichung nicht im Norden, sondern nur im Süden finden könne, weshalb es die edelsten Exemplare der nordischen Rasse stets dorthin gezogen habe. „Anders ist Dürer, Winckelmann, Goethe, Hölderlin, Nietzsche, George so wenig zu erklären wie die Kreuzzüge und die Hohenstaufen-Kaiser.“96 Angesichts der für den Nordizismus charakteristischen „Ueberschätzung der Rassenreinheit“ stand Volk und Rasse eine überaus positive Besprechung von Hildebrandts Buch Staat und Rasse verfasst hat (4/1929, 1, S. 55f.). In der darin aufscheinenden Sympathie für das Konzept der „deutschen Rasse“ ist Heschs spätere Distanzierung von Günther vorweggenommen. Vgl. Lutzhöft, Der Nordische Gedanke, S. 249ff. 93 Vgl. Elvira Weisenburger, Der ,Rassepapst‘. Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde, in: Michael Kissener/Joachim Scholtyseck (Hrsg.), Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1997, S. 161–199; Peter Weingart, Doppel-Leben. Ludwig Ferdinand Clauss. Zwischen Rassenforschung und Widerstand, Frankfurt/M., New York 1995. 94 Hildebrandt, Rassenpsychologie, S. 10. 95 Ebd., S. 13. 96 Ebd., S. 14.

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Hildebrandt nicht an, von „Rassen-Chauvinismus“ zu sprechen97 und insbesondere der Forderung nach „Aufnordung“ eine scharfe Absage zu erteilen, die auch dem impliziten Materialismus galt: „Rasse an sich ist nur Stoff – es gehört die Form, die Idee dazu, ihr wirklichen Wert zu verleihen, und diese Idee im höchsten Sinne ist die nationale Idee.“98 Der Gegensatz relativiert sich freilich erheblich, wenn man sieht, wie sehr Hildebrandt bereit war, die praktischen Folgerungen zu unterschreiben, die Günther aus seiner Lehre zog99 – und wie viel Günther andererseits den beiden Normbüchern Hildebrandts verdankte. Das beginnt bereits mit der dezidiert antipositivistischen Methode, Rassen intuitiv, mittels Anschauung, der „Kraft körperhaften Sehens und Erfassens“ zu identifizieren,100 setzt sich fort in der Übernahme der Ahnenreihe des George-Kreises (Platon – Hölderlin – Nietzsche) und kulminiert in der weltanschaulichen Begründung, in der sich Günther als gelehriger Schüler Hildebrandts erweist.101 In seiner Schrift Der Nordische Gedanke unter den Deutschen, sogleich bei ihrem Erscheinen von den Gefolgsleuten als „Zielplan“ und „Richte“ der nordischen Bewegung gefeiert,102 wies Günther den gegen die Rassenlehren gerichteten Vorwurf des Materialismus zurück und reklamierte für den rassenhygienischen wie für den nordischen Gedanken die Bezeichnung „Idealismus“.103 Der nordische Gedanke gehe nicht vom Stoff aus, sondern vom Geist, von einer „Norm“ in exakt dem Sinne, wie ihn Hildebrandt entwickelt habe – nicht als Durchschnittstyp, als arithmetisches Mittel aus allen in einer Bevölkerung vertretenen Rassenmerkmalen, vielmehr als Vorbild, an dem sich die Auslese zu orientieren habe. Dieses Vorbild ergebe sich aus dem „Schönheitsbild“, dem „Inbild“, welches sich ein Volk vom „schönen und führenden Menschen“ mache.104 In den vorwiegend von der nordischen Rasse geprägten Gebieten Europas sei es fast stets identisch mit dem Bild des schönen, harmonisch proportionierten Jünglings, wie es schon früh von der griechischen Plastik, aber auch von der Literatur entworfen worden sei.105 97 Ebd., S. 15, 8. 98 Ders., Staat und Rasse, S. 13. Es überrascht deshalb nicht, dass Hildebrandts Überlegungen vor allem bei den Vertretern einer nichtselektionistischen ,Volkshygiene‘ Anklang fanden; vgl. Ignaz Kaup, Volkshygiene oder selektive Rassenhygiene, Leipzig 1922, S. 96f. Zu dem von Hildebrandt präferierten Konzept einer „deutschen Rasse“, das bald darauf auch von neonationalistischen Autoren wie Friedrich Merkenschlager und Karl Saller der nordischen Rassenlehre entgegengehalten wurde, vgl. Cornelia Essner, Die ,Nürnberger Gesetze‘ oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn 2002, S. 62ff. sowie mit Bezug auf Hildebrandt S. 47f. 99 Vgl. Hildebrandt, Rassenpsychologie, S. 15ff. Trotz mancher Vorbehalte gegen Günthers zu negative Darstellung der ostischen Rasse erklärte sich Hildebrandt mit der Forderung einverstanden, die „Einwanderung vom Osten her zu hindern“, da sie das Deutschtum bedrohe; dies gelte auch für die stark ostisch bestimmten Ostjuden. Mischungen seien allenfalls mit der mittelländischen und dinarischen Rasse zuzulassen. 100 Vgl. Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 1. 101 Vgl. auch die anerkennenden Bemerkungen, mit denen Günther die Platon-Deutung Wilhelm Andreaes und die Präsentation der nordischen Sagenwelt durch Wolters und Petersen bedacht hat: Platon als Hüter des Lebens, München 1928, S. 69; ders., Der Nordische Gedanke, S. 94f. 102 Dietrich Bernhardi, Uebersicht, in: Nordische Blätter 2/1926, 2. 103 Vgl. Günther, Der Nordische Gedanke, S. 103. 104 Ebd., S. 50. 105 Vgl. ders., Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 185. Vgl. auch ebd., S. 174: „Der nordische Mensch bleibt länger kindlich und in seiner Gesichtshaut auch als Jüngling öfters geradezu

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Im ganzen Kreis der Völker indogermanischer Sprache zeigen die Dichtungen oder auch bildliche Darstellungen, daß Götter und Helden in der allgemeinen Vorstellung immer hohe, schlanke Gestalten mit blondem Haar und blauen Augen waren. Schön galt Hellenen und Römern nur der nordische Mensch.106

Mit dem leiblichen Bild untrennbar verbunden sei das seelische Bild: das vornehme Auftreten, Würde der Haltung, Höflichkeit, Männlichkeit, Kriegertum, Selbstbeherrschung, die besondere Befähigung zu künstlerischem Schaffen, speziell auf den Gebieten der Dichtkunst und der Baukunst – Eigenschaften, die durch Erziehung wohl gefördert, aber nicht geschaffen werden könnten und letztlich angeboren seien.107 Dieser, wenn man so will, real existierende Idealtypus, diese „lebende Gestalt“,108 sei als bevölkerungspolitische Zielgröße zu verstehen, als „Geist, der sich seinen Leib erschaffen will“, „sich im edelsten Leib darstellen will“: eine Formulierung, die fast wörtlich an StGs Wort von der Verleibung des Gottes erinnert, obwohl StG nirgends im Werk Günthers auftaucht – „merkwürdigerweise“, wie schon Erich Voegelin in einem frühen Kommentar notiert hat.109 Dass er diese Denkfigur gleichwohl einem Jünger StGs verdankte, hat Günther nicht verschwiegen: Die Nordische Bewegung sieht als erste Aufgabe, was Hildebrandt auch fordern muß: die Errichtung eines Vorbildes für das deutsche Volk. ,Es gilt ein Bild des nordischen Helden aufzurichten‘, muß auch Hildebrandt schreiben, nachdem er in seinem Buch ,Norm und Entartung des Menschen‘ (1923) erkannt hatte, daß einem Ertüchtigung suchenden Volk nur der Held Vorbild sein kann.110

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mädchenhaft weich und blühend.“ Dass das „Normbild“ des edlen Menschen auf bleibend gültige Weise in der griechischen Plastik Gestalt geworden sei, schreibt auch Hildebrandt, vgl. Staat und Rasse, S. 31, 35. Als Beispiel dient hier die von Polyklet geschaffene Statue des Doryphoros. Schon für StG selbst hat eine neuere Studie nachgewiesen, dass das Fundament seiner kultischen Verehrung des Leibes auf eine Rezeption der antiken Skulptur zurückzuführen ist. Der Kult um Maximin trägt alle Züge einer pygmalionesken Verlebendigung einer antiken Götterstatue, vgl. Esther Sophia Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945, Berlin 2004, S. 219, 223. Auch die Inkorporation Winckelmanns in die Heldengalerie des George-Kreises geht auf StG selbst zurück, vgl. ebd., S. 217ff.; sowie Kurt Singer, Platon der Gründer, München 1927, S. 80ff.; Berthold Vallentin, Winckelmann, Berlin 1931. Günther, Adel und Rasse, S. 36. Vgl. ebd., S. 40, 42, 75; ders., Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 212f. Ders., Der Nordische Gedanke, S. 18. Vgl. Erich Voegelin, Rasse und Staat, Tübingen 1933, S. 223. Wie kürzlich gezeigt wurde, hat sich Voegelin zu dieser Zeit den „geistigen Rassebegriff des George-Kreises“ weitgehend zu eigen gemacht, was auch den durchaus wohlwollenden Ton seiner Darlegungen zur nordischen Bewegung erklärt, vgl. William Petropoulos, Stefan George und Eric Voegelin, Occasional Papers LI, Eric-Voegelin-Archiv Ludwig-Maximilian-Universität München 2005, S. 34. – Die bei einem von der Literaturwissenschaft herkommenden Autor wie Günther immerhin erstaunliche George-Abstinenz dürfte mit seiner Zugehörigkeit zur Ibsen-Generation zusammenhängen. In Günthers Erstling Ritter, Tod und Teufel ist Ibsen ein häufig zitierter Gewährsmann. Günther, Der Nordische Gedanke, S. 87. Zu zahlreichen weiteren Verweisen auf Hildebrandts Werke vgl. ebd., S. 16, 24, 41, 50, 55f., 72, 80, 83, 90, 93. Auch der von Günther stark abhängige Richard Walther Darre´, der Leiter des Agrarpolitischen Apparats der NSDAP und spätere Reichsbauernführer, hat sich im Hinblick auf das „züchterische Zielbild“ auf Hildebrandt berufen: Vgl. Neuadel aus Blut und Boden, München 1930, S. 183, 199.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Die Anerkennung dieses Einflusses hat Günther nicht gehindert, sich in einigen Punkten von Hildebrandt abzugrenzen. Aber dies geschah behutsam und mit so viel Respekt, dass überall der Wunsch durchschien, Hildebrandt zum Mitstreiter für eine als gemeinsam unterstellte Sache zu gewinnen. Das unter strikt selektionistischen Prämissen unhaltbare Konzept einer ,Deutschen Rasse‘ wurde nicht schlankweg verworfen, sondern als Produkt eines „hochtrachtenden vaterländischen Empfindens“ vorgestellt, gegen das hauptsächlich Gründe der Praktikabilität sprächen.111 Der im Prinzip abgelehnten These von der kulturschöpferischen Bedeutung der Rassenmischung wurde zugestanden, dass zwar nicht die Mischung mit anderen Rassen, wohl aber die Rassenschichtung in gemischten Populationen die nordische Rasse zu ihren von Hildebrandt zu Recht herausgestellten Höchstleistungen stimuliert habe.112 Sogar die von Hildebrandt anvisierte geistige Gemeinschaft von Deutschen und Juden sei irgendwann einmal denkbar – allerdings erst dann, „wenn das jüdische Volk den Nordischen Menschen als das Auslesevorbild für das deutsche Volk durch die Tat anerkannt hat“; wobei unter „Tat“ dem Kontext zufolge der Verzicht auf die dem Judentum angeblich zu Gebote stehenden Machtmittel in Bankwesen und Presse zu verstehen war, „mit denen es die nicht-jüdischen Völker in einer tiefgehenden Weise mit seinem diesen Völkern artfremden Geist durchdringen kann.“113 Der einzige Punkt, über den es wirklich gar keine Verständigung gab, war die Stellung zu den Zeitmächten von Wissenschaft und Technik, die bei Hildebrandt entsprechend der Jahrbuch-Doktrin negativ ausfiel, bei Günther hingegen, nach Ausbrennung einiger aus seinen völkischen Anfängen stammender Schlacken, uneingeschränkt positiv: Die Errungenschaften der Technik, alle die äußeren Güter des Lebens, verneint der Nordische Gedanke nicht, wie es diese oder jene ,geistige‘ Bewegung immer wieder versucht. Sie bejaht sie durchaus als die Mittel zur Entlastung einer Umwelt, welche den Menschen nicht nur zum Schauen frei, sondern seines Schauens froh werden lassen soll […]. Die nordgesinnten Menschen dürfen nicht der Gefahr verfallen, dieses Jahrhundert und seine Umweltbedingungen, so auch die zu oft und zu oberflächlich geschmähten Großstädte, bloß – wie genug Schwärmer es tun – zu verneinen und sich verneinend abseits zu stellen. Das Jahrhundert muß von der Nordischen Bewegung überwunden werden. Da es aber ganz auf Geldmacht einerseits und Beherrschung der Massen andererseits beruht, sind Geldmacht und eine gewisse Einwirkung auf die öffentlichen Meinungen der Massen zu erstrebende Mittel zur Überwindung des Jahrhunderts.114

Drei Jahre später hat Günther noch einmal versucht, Hildebrandt zur nordischen Bewegung hinüberzuziehen, in einer ausführlichen Besprechung, die er dem Buch Rasse und Staat zuteilwerden ließ. Zwar wurde nun die Idee der Mischrasse bzw. Rasse zweiter Ordnung mit deutlicheren Worten verabschiedet als zuvor und die Notwendigkeit einer rassischen Schichtung unterstrichen, doch wurde Hildebrandt als „ein reicher, von platonischem Denken durchdrungener Geist“ tituliert, der der nordischen Bewegung „mit diesem wie mit seinen früheren Büchern nicht wenig zu geben hat und haben wird.“ Zumal der von ihm in kritischer Auseinandersetzung mit 111 Vgl. ebd., S. 58. 112 Vgl. ebd., S. 84; sowie in ausführlicher Entgegnung auf Hildebrandt: Hans F. K. Günther, Rasse, Rassenmischung und Gesittung in Skandinavien. Bemerkungen zu Kurt Hildebrandts Gedanken zur Rassenpsychologie, in: Deutschlands Erneuerung 9/1925, 7, S. 410–416. 113 Günther, Der Nordische Gedanke, S. 81. 114 Ebd., S. 125f.

7. Politische Rezeption

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Lenz entwickelte Begriff der Norm sei zu begrüßen, eröffne er doch die Möglichkeit, die Lenzsche Auffassung „auf das rein naturwissenschaftliche Gebiet, auf eine nichtwertende Betrachtung“ einzuschränken, „während der Hildebrandtsche Begriff auf das Gesamtgebiet [!] der menschlichen Erblichkeitslehre anzuwenden sein wird“, was nicht weniger hieß, als den Primat ganzheitlich-normativer Konzepte gegenüber der Naturwissenschaft zu behaupten.115 Hildebrandt hatte zunächst keinen Anlass, die ausgestreckte Hand zu ergreifen. Als sich seit 1935/36 jedoch der Ton gegen die Georgianer verschärfte (s. u.), scheint er erkannt zu haben, welchen Wert dieses Bündnisangebot hatte und nahm gern die Möglichkeit des Reputationsgewinns wahr, die mit Publikationen in Rasse, der Monatsschrift des Nordischen Rings, verbunden war. 1936 erklärte er dort Ludwig Ferdinand Clauß’ Buch Rasse und Charakter zum Musterbeispiel einer nichtpositivistischen Rassenkunde, die ihre Grundlegung durch „vorwissenschaftliche Anschauungen von Rassengestalt“ erfahre, von einer „intuitive[n] Auffassung der Gestalten, der Stileinheiten“. Rassenforschung, hieß es in endloser Abwandlung des gleichen Gedankens, müsse beherrscht sein „von der Anschauung der Gestaltganzheiten, des ,Stiles‘“. Sie müsse im Leib den „Ausdruck der Seele“ erkennen und auf diese Weise ihre „Verwandtschaft mit der platonischen Idee“ unter Beweis stellen. Als einzigen möglichen Einwand deutete Hildebrandt an, dass es nicht nur wertgleiche Rassen gebe, wie Clauß zu glauben scheine, sondern „sicher auch wertungleiche“, aber das war eine Differenz, die er wiederum mit Günther teilte.116 Zu diesem Zeitpunkt, soviel bleibt festzuhalten, hatte sich der Abstand zwischen Hildebrandts Version der Rassenlehre und dem Nordizismus auf ein Minimum verringert. Es erscheint deshalb nicht übertrieben, im Letzteren eine wie immer auch selektive Fortführung zentraler Ideen des George-Kreises zu sehen.

7.4.

Die bündische Bewegung

Von einer bündischen Bewegung lässt sich nicht im gleichen Sinne reden wie im Fall der Ring- oder der nordischen Bewegung. Während die beiden Letzteren primär durch ihre leitenden Ideen bestimmt sind, deren Verwirklichung sie sich verschrieben haben, also durch sachliche Ziele, meint ,bündisch‘ zunächst nichts weiter als eine Form der persönlichen Beziehungen im Sinne Friedrich H. Tenbrucks.117 Diese erfah115 Hans F. K. Günther, Besprechung von Kurt Hildebrandt, Staat und Rasse, in: Die Sonne 5/1928, 10, S. 476–480. 116 Kurt Hildebrandt, Grundsätzliche Betrachtungen zu L. F. Clauß, Rasse und Charakter, in: Rasse 3/1936, S. 362–365. 117 Vgl. Friedrich H. Tenbruck, Freundschaft. Ein Beitrag zu einer Soziologie der persönlichen Beziehungen, in: Ders., Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, 2. Aufl., Opladen 1990, S. 227–250: „Persönlich sind alle Beziehungen, welche Menschen auf der Breite des Daseins und nicht vorwiegend oder ausschließlich in engen, zweckbestimmten und leistungsorientierten Rollen zusammenführen“ (S. 227). Tenbruck rechnet dazu explizit nicht nur Freundschaftsbeziehungen zwischen zwei Personen, sondern auch Freundschaftsbünde, Geheimbünde, Logen, Orden, Sekten, Bruderschaften und ähnliche mehr (S. 238). Aus der Vielzahl möglicher Belege sei hier nur eine Stellungnahme des Wandervogel e.V. vom Juni 1921 angeführt: „Darum ist auch unser Wandervogelsein nicht zu deuten durch die Anführung irgendeines Zweckes, den vielleicht unsere Satzung nennt. Es geht auf den ganzen Menschen aus,

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

ren im Bund eine Ausformung in doppelter Richtung. Auf der horizontalen Achse akzentuieren sie Beziehungen der Freundschaft, die aus eigenständigen Gefühlen hervorwachsen und eine wechselseitige Erfüllung der eigenen Individualität ermöglichen, dabei nicht selten eine Intensität der Übereinstimmung erreichend, die den Beteiligten als Brüderlichkeit oder Bruderschaft erscheint.118 Auf der vertikalen Achse begründen sie die freiwillige Unterordnung unter einen selbstgewählten, meist charismatischen und daher dem von Max Weber beschriebenen Zwang zur ,Bewährung‘ unterliegenden Führer, wodurch der Bund zugleich Züge einer ,Gefolgschaft‘ annimmt119 – einer Figuration, die aufgrund ihres charismatischen Charakters hochgradig labil ist und deshalb immer wieder Versuche auslöst, sie durch eine Aufladung mit weltanschaulichen bzw. ideologischen Zügen zu stabilisieren.120 Obwohl Bünde von daher die Tendenz aufweisen, in Vereine oder Parteien überzugehen, bei denen eine sachliche Motivation im Vordergrund steht, behält doch die horizontale Ebene meist einen bestimmten Eigenwert, der aus dem Bund mehr als ein bloß neutrales Mittel zur Verfolgung beliebiger Zwecke macht. Zumal in der ,bündischen Jugend‘, die nach 1918 aus der um die Jahrhundertwende entstandenen deutschen Jugendbewegung hervorging, und den ,politischen Kampfbünden‘, die an die Freikorps der Nachkriegszeit anknüpften,121 hat dies zu der Vorstellung geführt, die Avantgarde einer neuartigen Bewegung zu sein, die den herkömmlichen Vergesellschaftungen in Gesinnungsund Zweckvereinen bzw. -parteien überlegen sei, da sie auf der Einbeziehung der ganzen Person beruhe.122 Ob die politischen Ziele dabei mehr von der politischen Rechten übernommen wurden, wie im Falle der nordischen oder völkischen Bünde, oder mehr von der politischen Linken, wie in Teilen des Bundes Oberland oder bei

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einer Totalität des Charakters strebt die Jugendbewegung letzten Endes zu“. Zit. nach Dokumentation der Jugendbewegung, S. 84. Diesen Aspekt betont die stark an Tönnies orientierte Definition Herman Schmalenbachs, der sich zeitweise an der Peripherie des George-Kreises bewegt hat, vgl. Herman Schmalenbach, Die soziologische Kategorie des Bundes, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften, hrsg. v. Walter Strich, Bd. 1, München 1922, S. 35–105. Vgl. ¤ Herman Schmalenbach. Reiches Anschauungsmaterial zur Rolle von Gefühl, Freundschaft und Brüderlichkeit bieten wiederum die Texte, in denen die bündische Jugend ihr Selbstverständnis reflektiert hat, vgl. Dokumentation der Jugendbewegung, S. 48, 74, 220, 404, 963 passim. Als eine „brüderliche Gemeinschaft“ haben sich auch die „Adler und Falken“ definiert, vgl. Der Falke 6/1925, 11/12, S. 326. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., hrsg. v. Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 1976, S. 21. Zeitgenössisch etwa Werner Laß, Ketzerische Jugend, in: Die Kommenden 4/1929, 34; Fritz Anker, Die Gefolgschafts-Struktur als Prinzip in der Geschichte, in: Die Kommenden 5/1930, 28; Gerhard Warneck, Führer und Gefolgschaft, ebd.; Wolfgang Ehrig, Die Gefolgschaft als soziologische Erscheinung, ebd. Allgemein zur Rolle des Führertums in den Bünden: Felix Raabe, Die Bündische Jugend, Stuttgart 1961, S. 48ff. In einem stark an Schmalenbach anknüpfenden Text führt Rudolf Stauka die Akzentuierung glaubensmäßiger Komponenten auf den Einfluss StGs zurück, durch den „eine aristokratische Strömung“ in die Jugend gekommen sei. Vgl. Der Begriff des Bündischen, in: Bündische Welt 4/1931, S. 90. Zur bündischen Jugend nach wie vor grundlegend: Raabe, Bündische Jugend; zu den Kampfbünden vgl. den Überblick von Ernst H. Posse, Die politischen Kampfbünde Deutschlands, Berlin 1930 (2. erw. Aufl. 1931). Vgl. zu diesem Aspekt Sigmund Neumann, in dessen Parteisoziologie das „bündische Prinzip“ konstitutiv für den in der Weimarer Republik aufkommenden neuartigen Typus der „absolutistischen Integrationspartei“ ist, vgl. Die Parteien der Weimarer Republik (zuerst 1932), zit. nach der 5. Aufl., Stuttgart u. a. 1986, S. 105ff.

7. Politische Rezeption

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den Eidgenossen des Jahres 1933, war stets sehr stark situationsbedingt und gegenüber der Hochschätzung des Bundes als solchem nicht selten von nachrangiger Bedeutung, sodass die Bezeichnung ,bündische Bewegung‘ trotz der damit verbundenen Probleme ein gewisses Recht beanspruchen mag. Für das Verständnis der Beziehungen, die zwischen der bündischen Jugend, ihren Vorläufern und dem George-Kreis bestanden, ist es zunächst wichtig zu wissen, dass sich StG selbst zu keinem Zeitpunkt in diesem Feld um Einflussnahme bemüht hat. Die Wandervögel mitsamt ihrer Kluft und ihrem Liedgut erschienen ihm degoutant, ihre Neigung zur Massierung verdächtig. Die Reformpädagogik, eines der großen Projekte dieser Bewegung, lehnte er ab und beteiligte sich auch nicht am berühmten Treffen auf dem Hohen Meißner im Oktober 1913.123 Ebenso wenig greift die Annahme, ein solcher Einfluss hätte sich über ,Mittler‘ wie Gustav Wyneken oder Hans Blüher vollzogen.124 Wyneken bezog sich trotz mancher Berührungspunkte nicht auf StG und war viel zu sehr auf die Bildung einer eigenen Gemeinde bedacht, als dass er andersartige Einflüsse hätte dulden können.125 Blüher ließ wohl wichtige Kapitel seines Werkes über Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft mit George-Zitaten enden,126 würdigte StG außerdem als großen Dichter der Jünglingsliebe neben Schiller sowie als Kronzeugen einer Auffassung, die im Geist eine exklusiv männliche Eigenschaft sah.127 Zugleich rief er aber mit seiner Zurückführung der Männerbünde auf eine latente Inversionsneigung einen derart heftigen Widerspruch in der bündischen Jugend hervor, dass er als Vermittler wovon auch immer nicht mehr in Frage kam.128 Dass StGs Werk nichtsdestoweniger beachtliche Resonanz fand, lag deshalb in erster Linie in diesem selbst begründet: in seiner Apotheose der Jugend,129 in seinen Erlösungsversprechen und vor allem in der dort beschworenen Bilderwelt, die von Rittern und Helden, von verschworenen Gemeinschaften, Orden, Burgen und dergleichen erfüllt war und damit einer Jugend entgegenkam, die sich nach festeren und dauerhafteren Bindungen sehnte, als sie die lockeren Gruppen der Wandervogelzeit boten. Besonders deutlich zeigt dies das Beispiel des Bundes Deutscher Neupfadfinder (BDN), der sich 1918/19 zunächst innerhalb des Deutschen Pfadfinderbundes for123 Vgl. Karlauf 2007, S. 397. 124 Vgl. Elisabeth Busse-Wilson, Stufen der Jugendbewegung. Ein Abschnitt aus der ungeschriebenen Geschichte Deutschlands, Jena 1925, S. 131f. 125 Vgl. Carola Groppe, Stefan George, der George-Kreis und die Reformpädagogik zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik, in: Bernhard Böschenstein/Jürgen Egyptien/Bertram Schefold/Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York 2005, S. 311–327, hier: 321, 327. 126 Vgl. Hans Blüher, Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft, 2 Bde., Jena 1917–1919, Bd. 1, S. 236, 240, 248; Bd. 2, S. 224. 127 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 75, 234. 128 Eine Auswahl der Reaktionen ist über das Stichwort „Blüher“ im Register der wichtigsten Quellenedition zur bündischen Jugend leicht zu erschließen, vgl. Dokumentation der Jugendbewegung. Vgl. auch Ulfried Geuter, Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung, Frankfurt/M. 1994, S. 92ff. Dass Blühers Lehren vom Männerbund und vom neuen Adel in vieler Hinsicht am Vorbild des George-Kreises abgelesen waren, habe ich an anderer Stelle ausführlicher gezeigt, vgl. George und die Phantome der ,Konservativen Revolution‘, S. 149ff. 129 Vgl. Michael Winkler, Der Jugendbegriff im George-Kreis, in: Thomas Koebner u. a. (Hrsg.), „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend, Frankfurt/M. 1985, S. 479–499.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

mierte, um sich nach dem Ausschluss seiner Führer Martin Voelkel (1884–1950) und Franz Ludwig Habbel (1894–1964) im Januar 1921 als selbstständiger Bund zu konstituieren. Das in der Führerzeitschrift dieses Bundes, dem Weißen Ritter, wie auch in den Publikationen des gleichnamigen Verlages formulierte Gedankengut verdankte sich gewiss nicht nur der Lektüre von Werken StGs und einzelner Mitglieder seines Kreises (wie z. B. Bertrams Nietzsche). Hermann Burtes Wiltfeber gab hier ebenso wichtige Stichworte wie Friedrich Lienhard mit seiner Adaptierung des Gralsstoffes oder Richard Benz mit seiner Übersetzung der Legenda aurea.130 Unverkennbar Georgescher Provenienz war jedoch die von Voelkel verkündete Selbstverpflichtung, „das neue Reich“ zu bauen, war der Wunsch, „aus der ursprünglichen und noch lockeren Form unseres neuen Bundes ein Volk von ,neuen Menschen‘“ erwachsen zu lassen, war die Beschwörung eines von der „Gewißheit des Schönen“ durchdrungenen „Jugendreichs“, in dem man nicht alt werden könne, war endlich auch der ganze Bundesgedanke mit seiner Betonung von „Herrschaft und Dienst“, „Führertum und Gefolgschaft“, die weit über die Bünde hinausreichende Implikationen besaßen, verband sich mit ihnen doch die Hoffnung auf eine „endliche Beherrschung des Volkslebens durch die bündische Jugend“.131 Die Zeit sei vielleicht nicht ferne, hieß es in einer Besprechung von Friedrich Gundolfs George-Buch, „wo man erkennen wird, daß eben die Jugendbewegung das Volk ist, dessen Kommen George geschaut hat, und daß hier, wenn irgendwo, eine Gesamtheit erwächst, die Träger der neuen Kultur zu sein berufen ist.“132 Mitglieder des Bundes wie die Brüder Berthold, Alexander und Claus Schenk von Stauffenberg, die zu Beginn der 20er-Jahre bei den Stuttgarter Neupfadfindern aktiv waren, waren von da aus bestens vorbereitet für den Eintritt in den George-Kreis.133 Im Verlag des „Weißen Ritters“ erschien 1925 als 12. und 13. Band der „Bücher der Waldverwandtschaft“ das Buch Königsbühl von Joachim G. Boeckh (1899– 1968). Mit ihm meldete sich die „Jungmannschaft Königsbühl“ zu Wort, eine Untergruppe des aus protestantischen Bibelkreisen Württembergs hervorgegangenen Bundes der Köngener, der seit 1920 unter der Führung Jakob Wilhelm Hauers stand.134 Während Hauer und mit ihm die Mehrheit der Köngener für das Ideal eines umfassenden Lebensbundes eintraten, in dem alle Altersstufen vereint sein sollten, bekannte sich Boeckh, zu dieser Zeit bereits Student, zum Gedanken der Jungmannschaft in der Form des geschlossenen Jungenbundes.135 Die Inkompatibilität beider 130 Vgl. Justus H. Ulbricht, Ein „Weisser Ritter“ im Kampf um das Buch. Die Verlagsunternehmen von Franz Ludwig Habbel und der Bund Deutscher Neupfadfinder, in: Walter Schmitz/Herbert Schneidler (Hrsg.), Expressionismus in Regensburg, Regensburg 1991, S. 149–174, hier: 151ff. 131 Die Zitate sind der Zusammenstellung von Texten des BDN aus den Jahren 1920 bis 1924 im dritten Band der Dokumentation der Jugendbewegung entnommen, vgl. S. 400, 405, 409, 419, 427, 420. Zu den George-Bezügen im Weißen Ritter vgl. mit zahlreichen Belegen Kolk 1998, S. 447ff. 132 Arnold Bork, in: Der Weiße Ritter, Beiblätter 1920/1922, 6, v. Januar 1922, S. 301–304, hier: 304. 133 Vgl. Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992, S. 46. 134 Vgl. die Kurzchronik dieses Bundes in Dokumentation der Jugendbewegung, S. 180. 135 Boeckh studierte nach der Heimkehr aus dem Krieg Theologie, Philosophie und seit 1924 auch Pädagogik in Tübingen. Von 1926 bis 1931 war er als Lehrer an den Lietzschen Landerziehungsheimen Haubinda und Ettersburg tätig sowie zeitweise auch in Wickersdorf (Wyneken).

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Konzepte führte im Januar 1924 zum Ausschluss Boeckhs aus den Köngenern, woraufhin dieser mitsamt seiner Gefolgschaft dem BDN beitrat.136 Boeckh vermied es zwar, wie die Neupfadfinder von einem ,neuen Adel‘ zu reden, da man nicht einfach schon deshalb, weil man ,bewegt‘ sei, auch schon in einem neuen ,Stand‘ sei.137 Wenn er jedoch von der „Gestalt“ sprach, die sich in der bündischen Lebensgemeinschaft enthülle, wenn er „die Botschaft, die Prophetie Hölderlins“ zur Leitlinie erklärte und der Idee des Dienstes seine Reverenz erwies,138 dann war deutlich, woher er seine Anregungen bezog. Ohne sich selbst als ,Georgianer‘ zu bezeichnen, ja unter expliziter Zurückweisung dieses „törichten Wortes“, ließ Boeckh doch niemanden im Unklaren darüber, dass es die Botschaft StGs war, die ihn „aufs Tiefste erschüttert“ und, wenn auch erst nach schwersten inneren Kämpfen, „bereit“ gemacht habe – bereit zu einem neuen Glauben, bereit, „Maximin so anzusehen und so zu verehren, wie es allein nach der Botschaft Georges möglich und statthaft ist.“139 Nach Königsbühl erschienen im Verlag des „Weißen Ritters“ noch zwei weitere Werke mit starkem George-Bezug. Eher implizit war dies der Fall in Leonardo, Brief und Siegel (Potsdam 1926), dessen Hauptfigur StGs Algabal nachgestaltet war und Meister-Jünger-Verhältnisse ganz in dessen Manier schilderte.140 Hinter dem Pseudonym des Verfassers verbarg sich der Schweizer Chemiker Alfred („Fred“) Schmid (1899–1968), der von Basel aus beträchtlichen Einfluss auf die südwestdeutsche Jugendbewegung ausübte und 1930 das „Graue Corps“ gründete, einen etwa 300 bis 400 Mitglieder umfassenden Bund, der vornehmlich im Westen des Reiches verankert war.141 Durchaus explizit war der Bezug bei Wilhelm Kusserow (geb. 1901), einem Mitglied des Altwandervogels sowie des Deutschnationalen Jugendbundes, der 1926 bei Max Dessoir mit einer Arbeit über Friedrich Nietzsche und Stefan George pro-

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Zu seinem weiteren Lebensweg, der ihn später in die UdSSR, an die Odenwaldschule und schließlich in der DDR an die Pädagogische Hochschule Potsdam führte, vgl. den Abriss in: Dokumentation der Jugendbewegung, S. 1756. Vgl. ebd., S. 181. Wie polarisierend das Bekenntnis zu StG wirken konnte, zeigte sich Jahre später erneut, als Boeckh bei Hauer promovieren wollte. Während Boeckh Nietzsche und StG als Angelpunkte seines Denkens bezeichnete, lehnte Hauer eine einseitige Fixierung auf StG ab und wollte ihn allenfalls als einen Anreger unter vielen in die Ahnenreihe seiner „Deutschen Glaubensbewegung“ aufnehmen: Vgl. Jakob Wilhelm Hauer an Joachim Boeckh v. 22.12.1933; Joachim Boeckh an Jakob Wilhelm Hauer v. 12.1.1934, in: Nachl. Hauer, BArch Koblenz, N 1131/66. Vgl. Joachim G. Boeckh, Schicksal Königsbühl, in: Der Weiße Ritter 6/1926, Sonderheft Königsbühl, hier zit. nach Dokumentation der Jugendbewegung, S. 228–237, hier: 230. Ebd., S. 232f., 236. Ebd., S. 234. In Königsbühl muss sich Maximin freilich noch mit anderen die Rolle des Helden teilen, darunter nicht zuletzt Winnetou. Vgl. Joachim G. Boeckh, Königsbühl, Potsdam 1925, S. 74f. Zu den George-Bezügen vgl. ebd., S. 62ff., 135ff. Vgl. Georg Sebastian Faber, Leonardo. Brief und Siegel, Potsdam 1926. Hierzu auch Michael Jovy, Jugendbewegung und Nationalsozialismus. Zusammenhänge und Gegensätze. Versuch einer Klärung, Münster 1984, S. 54f. Vgl. die Kurzchronik in Dokumentation der Jugendbewegung, S. 931ff. Schmid, der ab 1932 in der Industrieforschung in Berlin tätig war, trug zu dieser Zeit wesentlich zur Finanzierung der von Harro Schulze-Boysen geleiteten Zeitschrift Der Gegner bei: Vgl. Hans Coppi, Harro Schulze-Boysen – Wege in den Widerstand, Koblenz 1995; Alexandra Gerstner/Gregor Hufenreuter, Bewegung ohne Programm. Das Intellektuellen-Netzwerk um die Zeitschrift ,Gegner. Für neue Einheit‘ (1931–1933), in: Pierre Be´har u. a. (Hrsg.), Mediation et conviction. Me´langes offerts a` Michel Grunewald, Paris 2007, S. 651–666, hier: 661.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

movierte.142 Obwohl in dieser vergleichenden Betrachtung, die vor allem der Ästhetik und der Weltanschauung beider Autoren galt, Nietzsche eine gewisse Anerkennung fand, galt diese doch nur dem Vorläufer und Wegbereiter StGs. Mit seinem Übermenschenideal sei er im Individualismus des liberalen 19. Jahrhunderts stecken geblieben. Erst StG sei es gelungen, das Bild vom vornehmen Menschen in eine größere, ideelle Gemeinschaft einzufügen und so den Individual- zu einem Gruppenaristokratismus zu erweitern, der in seiner Ausrichtung auf einen „Gottesstaat“ sowohl religiöse als auch politische Aspekte habe.143 „Von dem ,Gründer‘ ausgehend“, so beschrieb Kusserow den von StGs Jünger Wolfram von den Steinen in seiner Studie über Bernhard von Clairvaux vorgezeichneten Prozess, entsteht zunächst der engere Kreis der Führer, um diese an den verschiedenen Orten herum die Gemeinschaften, aus diesen die Gaue und aus deren Vereinigung wiederum der Bund, dessen Herrscher ,Anfang und Ende und Mitte‘ des Volkslebens werden soll. Dies ist das großentworfene Bild des Rahmens der neuen Kultur, das als Muster hinter jeder Bestrebung des Kreises um George steht. Es ist keineswegs eine Utopie idealistischer Phantasie, wie man im nüchternen Zeitalter der kapitalistischen Wirtschaftsformen und der Welt umspannenden Technik gemeint hat. Es ist der Prototyp jeder Gemeinschaftsbildung, und im Verhältnis zu Nietzsche um so realer, als sich Ansätze dazu sowohl im Kreis um George selber als auch in der deutschen Jugendbewegung zeigen.144

Eine sich eng hieran anlehnende, nur die zivilisationskritischen Züge des George-Kreises schärfer akzentuierende Deutung konnte man einige Jahre später bei dem ehemaligen Pfadfinder, Wandervogel und Mitglied der Akademischen Freischar Wolfgang Heybey lesen.145 Auch im zweiten großen Verlag der Jugendbewegung, dem Greifenverlag in Rudolstadt, spielten Einflüsse aus der George-Sphäre eine Rolle. Das Verlagspersonal, so erinnerte sich der Hausgraphiker und Mitglied des Altwandervogels Wilhelm Geißler später, „setzte sich vorwiegend aus Lebens- und Schulreformern, rotwangigen Maiden mit Schneckenfrisuren und ,eingefleischten‘ Vegetariern (wie dem Verlagsleiter

142 Vgl. die Angaben in Kusserows Autobiographie: Geleitgeister. Lebensbeichte 1901–1981, Berlin 1982, S. 8, 11, 14. 143 Vgl. Wilhelm Kusserow, Friedrich Nietzsche und Stefan George, Potsdam [1927], S. 41, 47, 58. 144 Ebd., S. 46. Es dauerte allerdings nicht lange, bis Kusserow den „Gruppenaristokratismus“ in der „nordischen Rasse“ lokalisierte, der er 1934, inzwischen zum stellvertretenden Leiter der „Nordischen Glaubensbewegung“ avanciert, das „Nordische Artbekenntnis“ widmete. Vgl. Das Nordische Artbekenntnis. Erläutert im Auftrage der Hauptleitung der Nordischen Glaubensbewegung. Flugschriften der Nordischen Glaubensbewegung, Heft 1, Berlin 1934. An seiner Verehrung für StG änderte dies allerdings nichts, wie sein 1934 in der Nordischen Zeitung veröffentlichter Nachruf belegt, vgl. Stefan George als völkischer Dichter und Seher, in: Nordische Zeitung 3/1934, 1, Januar. 145 Vgl. Wolfgang Heybey, Glaube und Geschichte im Werk Stefan Georges. Die Gestaltidee des Dichters und die Geschichtsschreibung seines Kreises, Diss., Leipzig 1935. Das Archiv der deutschen Jugendbewegung besitzt ein unveröffentlichtes Manuskript, in dem Heybey über seine Stationen in der Jugendbewegung und seine George-Verehrung berichtet. Typisch etwa der Bericht über ein Zeltlager der Akademischen Freischar Pfingsten 1930. „Am Abend lagen und saßen wir dann ums Lagerfeuer, sangen die alten Lieder oder lasen vor. Es waren nur Worte von Dichtern, die wir in diesem Lager hörten: Stefan George, Spitteler, Goethe, Rilke. Es war alles schön und gut, wie es sich geziemt.“ Wolfgang Heybey, Bilder aus der deutschen Jugendbewegung wie ich sie erlebte in den Jahren zwischen den Weltkriegen 1921 bis 1933, Ms. 1984.

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selber) und Stefan-George-Anhängern zusammen.“146 Der Verlag trug dem Rechnung, indem auch er eine Schrift über StG in sein Programm aufnahm, Christian Geyers Die Religion Stefan Georges. Ein Beitrag zur Wiedergeburt unsres Volkes aus dem Geist der Jugend.147 Der Verfasser, von Beruf Hauptprediger in Nürnberg, verfolgte mit seinem Büchlein allerdings in erster Linie den Zweck, StG als Kronzeugen für ein reformiertes, überkonfessionelles und nicht-asketisches Christentum anzuführen, was nicht ohne erhebliche Gewaltsamkeiten abging. So hörte er aus der „Maximinstimme“ nur „die mit einem anderen Namen bezeichnete Christusstimme“ heraus, machte aus der Religion StGs eine „literarische Nachahmung, eine Dittographie der angeblichen christlichen Mythenbildung“ und funktionierte die Gedichte in eine Art Vorschule zum Christentum um.148 Was in dieses Schema nicht hineinpasste – die Verklärung der Antike, die aristokratischen Ambitionen, die sexuellen, in Richtung der Knabenliebe weisenden Konnotationen – wurde mit Warntafeln umstellt, die den Weg zur wahren Erlösung im Zeichen des Kreuzes wiesen: Was George in seiner Weise versucht hat, die Erstürmung des Reiches der Freiheit, hat in ihrer Art die in Bewegung geratene Jugend probiert. Jetzt weiß sie, daß es so einfach, wie sie sich das Freiwerden vorgestellt hat, nicht geht. Und nun übt das Kreuz wieder seine Anziehungskraft aus, nachdem es abgestoßen hat.149

Mit dem Greifenverlag personell und finanziell verbunden, wiewohl organisatorisch eigenständig war der Zwiespruch-Verlag, in dem die lange Zeit führende Zeitschrift der bündischen Jugend, Der Zwiespruch, erschien. Seit Dezember 1927 war das Blatt, wie man damals sagte, ,amtliches‘ Organ der Deutschen Freischar, die im Jahr davor aus der Vereinigung mehrerer Bünde entstanden war: des Altwandervogels, der Deutschen Jungenschaft, des Wandervogels Deutscher Jugendbund und des Großdeutschen Pfadfinderbundes, seinerseits ein Zusammenschluss des BDN und des Bundes Deutscher Ringpfadfinder.150 Ebenfalls ihren Beitritt erklärten der Reichsstand, Gefolgschaft deutscher Wandervögel, der allerdings im Oktober 1928 wieder ausschied, sowie der Bund der Köngener, sodass zeitweise alle Gruppen, die einen besonders engen Bezug zu StG hatten, in der Freischar vereinigt waren, die mit ihren etwa 12.000 Mitgliedern ungefähr ein Fünftel der bündischen Jugend umfasste.151 Wie sehr man sich hier StGs Gedankengut verpflichtet fühlte, zeigt der lange, an herausragender Stelle platzierte Geburtstagsartikel, der am 17.6.1928 im Zwiespruch erschien.152 Sein Verfasser, Dr. Rudolf Ibel (1905–1965), würdigte darin den Sechzigjährigen als vorbildlichen Kämpfer gegen die Zeit, eine Zeit, die vom „Widergeist“, vom „Amerikanismus“ beherrscht sei: dem Massendenken und Massenhandeln; der 146 Wilhelm Geißler, Die Anfangszeit des Greifenverlages, in: Dokumentation der Jugendbewegung, S. 9. 147 Die Schrift erschien 1924 als Band 5 in der Reihe „Jugend und Religion“. Zum Greifenverlag vgl. Justus H. Ulbricht, Bücher für die „Kinder der neuen Zeit“. Ansätze zu einer Verlagsgeschichte der deutschen Jugendbewegung, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 17/1988/1992, S. 77–140, hier: 86ff. 148 Vgl. Geyer, Die Religion Stefan Georges, S. 30, 56. 149 Ebd., S. 61. 150 Vgl. Dokumentation der Jugendbewegung, S. 1052, 438, 446. 151 Vgl. ebd., S. 151ff., 1052; Raabe, Bündische Jugend, S. 68. 152 Vgl. Rudolf Ibel, Stefan George, dem Sechzigjährigen!, in: Der Zwiespruch 10/1928, Blatt 24.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Reklame- und Rekordsucht; der „Ehrfurchtlosigkeit gegen das Wunder des Lebens“; der „Tyrannis der Wirtschaft über den Menschen“, des „Gelddenken[s] in Politik, Wirtschaft und Religion“. Dieser „Massenzivilisation“ sei StG mit einem Erneuerungsprogramm entgegengetreten, das im Kern religiös sei, wenn auch in einem ganz anderen Sinn als das im Dualismus verharrende Christentum. Wie Kusserow hob Ibel den Aristokratismus StGs hervor, wie Voelkel und Boeckh das „Gesetz von Herrschaft und Dienst“, wie die Bündischen allgemein die Kreisbildung, die eine neue Lebensform und Lebenshaltung zunächst im Kleinen verwirkliche, um von dort aus „auf das Leben des ganzen Volkes“ auszustrahlen, das auf diese Weise von Grund auf neu gestaltet werde. Das kam StG sicherlich recht nahe, erhielt dann allerdings eine Wendung, die den Geburtstagstrank mit einem mächtigen Schuss Essig versah. Als Mitglied des „Reichsstandes“ gehörte Ibel einem Bund an, der sich dem im Wandervogel geltenden „Gaubann“, dem Verbot gemeinsamen Wanderns und Feierns beider Geschlechter, nicht gebeugt und von Anfang an Mädchen in seine Gruppen aufgenommen hatte.153 Folgerichtig stieß Ibel sich denn auch daran, dass das Reich StGs der Frau keine Wirkungsmöglichkeiten bot und empfahl zur Ergänzung das Werk Fritz von Unruhs, der das Heil in der Frau gesehen und damit StGs Einseitigkeit ausgeglichen habe.154 Sieben Jahre später entdeckte Ibel, inzwischen Gymnasiallehrer in Hamburg und stark unter dem Einfluss von Ludwig Klages, dass es um StG nicht nur zu wenig Frauen, sondern auch zu viele Juden gab, was es ihm ermöglichte, dem neuen Kurs entsprechend von ,Hosiannah‘ auf ,Kreuziget ihn‘ umzuschalten.155 Auch sonst gehörte StG im Zwiespruch zu den Autoritäten, deren man sich gern versicherte, um die eigene Position zu stärken. So bemühte ihn ein „H.B.“, um sein Plädoyer für eine neue Frömmigkeit zu untermauern,156 ein anderer begründete seinen Eliteanspruch damit und ernannte StG zugleich zum Kronzeugen einer „ganz konservativen Haltung“,157 während ein weiterer in ihm den Vorkämpfer für die „wieder wichtig werdende Einheit zwischen Geist und Leib“ sah, der den „Versuch zur Volkwerdung“ „aus religiöser Schau“ unternommen habe.158 Der Verfasser des zuletzt genannten Beitrags, Karl Otto Paetel (1906–1975), kam aus dem Bund der Köngener, zählte dort allerdings zu den Fürsprechern der ausgeschlossenen Jungmannschaft Kö153 Vgl. Dokumentation der Jugendbewegung, S. 151. Die Zugehörigkeit Ibels zum Reichsstand geht aus den Angaben auf S. 153 und 159 hervor. 154 Vgl. in diesem Sinne bereits Rudolf Ibel, Begegnung Stefan George, Fritz v. Unruh, Würzburg 1926. 155 Vgl. Rudolf Ibel, Stefan George in dieser Zeit, in: Völkische Kultur 3/1935, 12, S. 553–560. Zu Ibel, der 1933 zu den Gründungsmitgliedern des Arbeitskreises für biozentrische Forschungen gehörte, einer von Klages inspirierten lockeren Vereinigung, die sich um den Brückenschlag zwischen dessen Fundamentalismus und dem völkischen Strang des NS-Regimes bemühte, vgl. Petrow, Der Dichter als Führer?, S. 80f.; Ralf Klausnitzer, Opposition zur ,Stählernen Romantik‘? Der Klages-Kreis im ,Dritten Reich‘, in: Walter Delabar u. a. (Hrsg.), Banalität mit Stil. Zur Widersprüchlichkeit der Literaturproduktion im NS. Zeitschrift für Germanistik N.F. 9/1999, 1, S. 43–78. Einige knappe biographische Angaben auch bei Claudia Albert (Hrsg.), Deutsche Klassiker im Nationalsozialismus, Stuttgart, Weimar 1994, S. 265. 156 Vgl. H. B., Gedanken über das Christliche in Stefan George, in: Der Zwiespruch 10/1928, Blatt 26. 157 Vgl. Rüdiger Robert Beer, Was kümmert uns die Form?, in: Der Zwiespruch 10/1928, Blatt 41, 46. 158 Karl Otto Paetel, Schulungstagung der Deutschen Freischar Ostern 1928, in: Der Zwiespruch 10/1928, Blatt 23.

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nigsbühl, für die er sich im Zwiespruch beredt einsetzte.159 Der für ihn prägende, aus der Lektüre des Weißen Ritters übernommene Wunsch, die verschiedenen Bünde in einem Hoch- oder Großbund zu vereinen, der von einer gemeinsamen „bündischen Religiosität“ in „heidnischem“ Geiste beseelt sein sollte,160 führte ihn 1930 zu einer anderen bündischen bzw. überbündischen Zeitschrift, Die Kommenden, die sich zu dieser Zeit aus ihren ursprünglich völkischen Bezügen herauszulösen und unter der Herausgeberschaft von Ernst Jünger und Werner Laß zu einem Organ des neuen Nationalismus zu entwickeln begann.161 Paetel, der seit Januar 1930 dort als Schriftleiter wirkte, tat sein Möglichstes, diese Entwicklung zu verstärken, setzte sich aber bald zwischen alle Stühle. Im März 1930 schloss ihn die Deutsche Freischar wegen eines Angriffs auf Hindenburg aus, und noch im August desselben Jahres musste er sein Amt als Schriftleiter der Kommenden wieder räumen. Als Autor blieb Paetel freilich in den Kommenden ebenso präsent wie in deren Nachfolgeorgan, das unter dem Titel Wille zum Reich von 1934 bis 1941 erschien. Den ersten Artikel nach seiner Entlassung widmete Paetel der Erinnerung an StGs Stern des Bundes, dessen Botschaft vergessen zu haben er der bündischen Jugend vorhielt. Noch zu Zeiten des Weißen Ritters sei StG „dem bündischen Menschen Deuter eigener Lebensvorgänge, Sprachrohr und Prophet eigener Werte“ gewesen, der jenen „Umbruch im Geiste“ in Verse gefasst habe, „der in Eros und Logos Menschen zu einer Schicksalsgemeinschaft bündigte“. Heute sei dieser Hintergrund kaum noch präsent, doch wo immer noch etwas lebe „von dem Wissen um Herrschaft und Dienst, um die Gesetze von Zucht und Liebe, um die Größe von Führung und Gefolgschaft, da wird Stefan George verstanden, wird Georges Botschaft auch gelebt werden.“162 Sein im Januar 1933 erschienenes, alsbald beschlagnahmtes Nationalbolschewistisches Manifest beginnt mit einem Gedicht aus dem Stern des Bundes und weist gegen Ende auf StG als Vorkämpfer eines neuen Heidentums hin, „einer neuen, in Blut, Boden und Rasse, im göttlichen Hauch diesseitigen Lebens wurzelnden, kosmisch begründeten Religiosität“ – in einer Reihe mit Pannwitz, Klages und Ludendorff.163 Das war auch der Tenor in einem wenig später im Nachfolgeorgan der Kommenden veröffentlichten Beitrag, in dem Paetel StGs Werk zur „symbolkräftige[n] Verdeutlichung des im deutschen Menschen angelegten religiösen Fühlens“ erklärte und es zur Aufgabe der Gegenwart erhob, „die Lehre Georges aus der Höhenluft der eifernden Verse in die gemeinschaftsschaffende Symbolkraft einfacher Denk- und Gefühlsvorgänge zu übersetzen, aus der Esoterik die Exoterik herauszufiltern“.164 Als Kern dieser Lehre bestimmte er zutreffend die „Verkündung Maximins“, mit der StG das christliche Zeitalter, in dessen Mittelpunkt der menschgewordene Gott gestanden habe, durch ein neues religiöses Zeitalter abgelöst habe, das „unter der Vision des Gottgewordenen Menschen: Maximins“ stehe. Paetel, der 1935 den Weg ins Exil 159 Vgl. seine Besprechung von Königsbühl, in: Der Zwiespruch 7/1925, Blatt 37; auch in Dokumentation der Jugendbewegung, S. 225ff. 160 Vgl. ders., ,Bündische‘ Religiosität?, in: Der Zwiespruch 11/1929, Blatt 35. 161 Vgl. dazu Stefan Breuer/Ina Schmidt, Die Kommenden. Eine Zeitschrift der Bündischen Jugend (1926–1933), Schwalbach 2010. Zu Paetel dort S. 76ff. 162 Wolf Lerson [d. i. Karl Otto Paetel], Der ,Stern des Bundes‘. Die Botschaft Stefan Georges, in: Die Kommenden 5/1930, Folge 35. 163 Karl Otto Paetel, Das Nationalbolschewistische Manifest, Berlin 1933, S. 57. 164 Ders., Stefan Georges religiöse Botschaft, in: Wille zum Reich 9/1934, Folge 7.

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wählte, beeilte sich, den primär religiösen Charakter dieser Lehre zu betonen und jegliche Konfundierung mit dem aktuellen politischen Geschehen zurückzuweisen. Wenn er es gleichwohl zur Aufgabe erklärte, „die Geschehnisse unserer Zeit zu begreifen als den Aufstand deutschen Seelentums gegen geistige und seelische Überfremdung und diese zu zerbrechen durch Rückkehr zu dem Gesetz, nach dem wir angetreten“, dann zeigte er damit, dass es nicht der ästhetische Fundamentalismus war, der seine Auslassungen trug, als vielmehr ein wie immer auch ins Religiöse transponierter Nationalismus, der auf unklare Weise zwischen völkischen und sozialrevolutionären Optionen oszillierte. Dass er auch noch über andere Möglichkeiten verfügte, zeigte dieser vielleicht allzu wendige, aber immerhin lernfähige Geist im Exil, als er auf die Seite der demokratischen Gegner des NS-Regimes wechselte.165 Wille zum Reich, dieser letzte Ausläufer der bündischen Jugend während der NSZeit, ist noch mehrmals auf StG zurückgekommen. Anfang Dezember 1934 verwahrte sich der Schriftleiter, Günther Mann, gegen die Verdächtigungen, mit denen StGs arische Herkunft in Zweifel gezogen wurde, und drohte denjenigen, die solche Behauptungen wiederholten, an, „aus dem geistigen Kulturbewußtsein der Nation vertilgt zu werden auf die gleiche schonungslose Art, wie man das mit schädlichen Maulwürfen tut“.166 Die nächste Folge feierte in einer im Kern zustimmenden Besprechung von Gottfried Benns Kunst und Macht StG und die Expressionisten als Überwinder des Nihilismus und zitierte die Stelle, die „in der Kunst Georges wie im Kolonnenschritt der braunen Bataillone“ den „Geist des imperativen Weltbildes“ ausmachte.167 Im Mai 1935 reihte Eberhard Menzel StG zusammen mit Gertrud von le Fort und Markus Wehner unter die „Reichsmystiker“ ein und postulierte einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Wollen der Jugend und den Dichtungen StGs. „Sicher ist, daß das Denken Georges nirgendwo auf besseres Verständnis gestoßen ist als gerade bei den kleinen, menschenformenden Gemeinschaften der Jugendbewegung.“168 Menzels Ausführungen stießen zwar bei der Schriftleitung nicht auf Zustimmung, die es für geboten hielt, in einer Vorbemerkung ihre Vorbehalte festzuhalten, doch bezog sich dies nur auf den Georgeschen Reichsgedanken; mit dem „Überwinder des Bürgertums“ dagegen erklärte man sich noch 1936 solidarisch, nachdem bereits allenthalben der Kurswechsel gegenüber StG eingesetzt hatte.169 Die intrikate Verbindung, die in Zeitschriften wie Die Kommenden und Wille zum Reich zwischen StG und dem neuen Nationalismus geknüpft wurde, erscheint weniger ungewöhnlich, wenn man sich dem Schrifttum der politischen Kampfbünde zuwendet. Ein Aktivist dieser Bünde wie Friedrich Wilhelm Heinz (1899–1968), zu dessen Stationen Jungdeutscher Orden, Marinebrigade Ehrhardt, Organisation Consul, Bund Wiking, NSDAP und Stahlhelm gehörten, war laut seiner Biographin schon 165 Vgl. ders., Reise ohne Uhrzeit. Autobiographie, London, Worms 1982; ders., Ein Deutsches Tagebuch, hrsg. v. Franz-Joseph Wehage, New York 1995. Auch im amerikanischen Exil ist Paetel noch einmal auf StG zurückgekommen, vgl. Stefan George, in: Deutsche Blätter (Santiago de Chile) 2/1944, 5, S. 20–25. 166 G. M., Ahnennachweise, in: Wille zum Reich 9/1934, Folge 19. 167 Vgl. Hans-Joachim Neitzke, Der Stil des neuen Erdzeitalters, in: Wille zum Reich 9/1934, Folge 20. 168 Eberhard Menzel, Der Mythos vom Reich, in: Wille zum Reich 10/1935, Folge 7/8. 169 Vgl. W. H., Ueberwinder des Bürgertums, Stefan George, in: Wille zum Reich 11/1936, Folge 3.

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früh von der Vision einer elitären Herrschaft kriegerischer Männerbünde fasziniert und verband diese mit dem Werk StGs, das für ihn zeitlebens richtungweisend war.170 In einem Aufsatz, der im Übrigen zu den aggressivsten Dokumenten des deutschen Radikalantisemitismus zählt, bezeichnete er zwar Gundolfs George-Buch als sehr bedenklich, zählte aber StG selbst unter die „einzigen großen Täter, Denker und Dichter“ des 19. Jahrhunderts.171 An anderer Stelle, in dem stark autobiographischen Roman Sprengstoff, ließ Heinz seinen Helden Georg (!) bei den Vorbereitungen zum Buchrucker-Putsch sagen, er werde StG in Marburg eine Ehrenwache vor das Haus stellen, sobald er die Macht übernommen habe. „Sein Wort hat uns das Reich bewahrt, zu dem wir jetzt aufbrechen!“172 Das Reich, das „heimliche Deutschland“: das waren für Heinz die Putschisten des Jahres 1923 und schon die Freikorpskämpfer der Jahre davor, die vom „offiziellen Deutschland“ verraten worden seien.173 Auch ein anderer Aktivist dieser Bewegung, der 1926 mit einer Kampagne zum Zusammenschluss der Kampfbünde von sich reden machte – Ernst Jünger (1895–1998) –, erwies dem Syntagma seine Reverenz, als er, ohne den Verfasser zu nennen, die Vorbemerkung zu Kantorowicz’ Friedrich-Buch anführte und zustimmend kommentierte: Fast scheint es fraglich, ob Deutschland noch in die Reihe der Großmächte zu rechnen ist, und doch, was sind Armeen und Flotten gegen die geheime Überzeugung, die ein Volk von seiner Berufung besitzt? Während der 700-Jahr-Feier der Universität Neapel im Jahre 1924 wurde von unbekannter Hand am Sarkophage Friedrichs des Zweiten, ihres Stifters, in Palermo ein Kranz niedergelegt, der die Inschrift trug: ,Seinem Kaiser und Helden – das geheime Deutschland.‘ Es ist eine eigentümliche Magie, die sich hinter diesen wenigen Worten verbirgt, und wer fühlte nicht, daß, obwohl Ereignisse und Persönlichkeiten so wenig dazu berechtigten, es dieses geheime Deutschland ist, diese unsichtbare und von den zarten Quellen des Glaubens genährte Wurzel des Zukünftigen, die keinen Grad der Zuversicht, der Arbeit und des Einsatzes umsonst erscheinen läßt.174

StG gehörte zwar nicht zu den Autoren, die in seinem Werk stärkere Spuren hinterlassen haben, doch hat die Vorstellung, dem ,Geheimen Deutschland‘ anzugehören, Jünger so fasziniert, dass er noch einmal, in der Schrift über Die totale Mobil170 Vgl. Susanne Meinl, Nationalsozialisten gegen Hitler. Die nationalrevolutionäre Opposition um Friedrich Wilhelm Heinz, Berlin 2000, S. 20. Eine persönliche Nähe zum George-Kreis war dabei allerdings nicht gegeben. Der an „F. W:“ gerichtete 23. Spruch im Neuen Reich bezieht sich nicht auf F. W. Heinz, wie dies auf der Internet-Seite von dessen Sohn Michael behauptet wird, sondern auf Friedrich Wolters (EM I, 462). – Auch der mit Heinz befreundete, ebenfalls zur Ehrhardt-Gefolgschaft zählende Hans Schwarz van Berk (1902–1973) berichtet in einer Skizze seines Lebenslaufs von einer starken Faszination durch StG. Vgl. Zur Klärung der Vergangenheit. Nachl. Hans Schwarz van Berk, BArch Koblenz, N/1373, Mappe 14. 171 Friedrich Wilhelm Heinz, Die Ursachen des Antisemitismus, in: Klärung. Zwölf Autoren – Politiker über die Judenfrage, Berlin 1932, S. 97–115, hier: 110. Möglicherweise stammt bereits der ungezeichnete Geburtstagsartikel, der 1928 in den Nationalsozialistischen Briefen erschien, aus der Feder von Heinz, der zu dieser Zeit häufig dort geschrieben hat. (Die Briefe waren seit April 1927 kein offizielles Parteiorgan mehr, sondern ein privates Blatt Gregor Straßers). Vgl. [ohne Verfasserangabe]: Stefan George, der Dichter-Prophet des Neuen Nationalismus, in: Nationalsozialistische Briefe 4/1928/29, 2. 172 Ders., Sprengstoff, Berlin 1930, S. 233. 173 Ders., Die Nation greift an. Geschichte und Kritik des soldatischen Nationalismus, Berlin 1933, S. 151. 174 Ernst Jünger, Luftfahrt ist not! (1928), in: Ders., Politische Publizistik, S. 397–407, hier: 403.

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machung, auf sie zurückgekommen ist, in einem Text also, der in allem Übrigen die maximale Gegenposition zur Zeitkritik des George-Kreises bezieht.175 Neben solchen eher beiläufigen Äußerungen finden sich indes auch längere Einlassungen über die Bedeutung StGs. Den 60. Geburtstag feierte die Standarte, die Wochenschrift des neuen Nationalismus, mit einem Artikel von Dr. Eugen Schmahl,176 der auch fünf Jahre später zur Stelle war, als es galt, einen weiteren Glückwunsch und bald darauf den Nekrolog zu verfassen.177 In einem weiteren Nachruf war gar davon die Rede, das „geheime Deutschland“ werde auch durch den neuen Staat nicht aufgehoben, es lebe weiter als Kraft und Auftrag.178 Der Text stammte von Wulf-Dieter Müller (geb. 1910), einem Journalisten, der auch für bündische Organe wie Die Kommenden schrieb und ein Jahr später mit der ersten Monographie über Ernst Jünger hervortrat. Noch fünf Jahre später, als es längst nicht mehr opportun war, sich auf StG zu berufen, präsentierte er in den Propyläen StGs Werk als einen noch immer gültigen Aufruf an die Jugend, als „Stimme des ,geheimen Deutschlands‘, das immer wieder in den Herzen großer Dichtung, großer Kunst gelebt und von hier aus den Auftrag für die Wirklichkeit erteilt hat und uns den Glauben gibt.“179 Auch der Stahlhelm erwies dem Dichter gern und häufig die Ehre. Der Jungstahlhelm, eine Beilage zur Bundeszeitung, veröffentlichte in der Ausgabe vom 15.7.1928 unter der Überschrift „An die Toten“ ein Gedicht aus dem Neuen Reich („Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande“; IX, 90) sowie einen mit „v.B.“ gezeichneten Artikel, wohinter sich vermutlich Lothar Freiherr von Biedermann (1898– 1945) verbirgt, bis 1925 Bundeshauptmann der aus dem Jungwandervogel hervorgegangenen „Nibelungen“, der nach einem gescheiterten Versuch, diesen Bund als Prätorianergarde in den Jungstahlhelm einzubauen, sich ganz dem Letzteren gewidmet hat.180 Weitere Beiträge folgten am 14.10.1932 in der Rundfunkzeitschrift des 175 Vgl. ders., Die Totale Mobilmachung (1930), ebd., S. 558–582, hier: 579. 176 Vgl. Eugen Schmahl, Stefan George, in: Standarte 3/1928, 14, v. 22.6.1928. Die zu diesem Zeitpunkt noch selbstständige Standarte wurde am 1. Oktober 1928 vom Ring-Verlag übernommen. – Eugen Schmahl, geb. 1892, studierte von 1911 bis 1914 und wieder ab 1920 an den Universitäten Gießen, Heidelberg und Prag Theologie und Philologie, u. a. auch bei Gundolf. 1924 promovierte er in Gießen mit Untersuchungen zu Lenau und Heine (Die Beziehungen zwischen Form und Inhalt in der Lyrik, Berlin). Ein Aufsatz in den Nationalsozialistischen Briefen (Was ist konservativ?, 5/1929/30, 5) stellt ihn als Redakteur der Preußischen KreuzZeitung vor; 1932 und 1933 ist er in Ernst Niekischs Zeitschrift Widerstand vertreten. 1933 erschien von ihm: Der Aufstieg der nationalen Idee, Stuttgart u. a. (darin über StG S. 116–119). Nach dem Zweiten Weltkrieg leitete Schmahl die Volkshochschule in Friedberg. Vgl. seinen Briefwechsel mit Ernst Niekisch im Nachl. Niekisch, BArch Koblenz, N 1280/21f. 177 Vgl. ders., Richttag der Nation. Zu Stefan Georges 65. Geburtstag am 12. Juli, in: Deutsche Zeitung Nr. 159 v. 9.7.1933; Stefan George †, in: Burschenschaftliche Blätter 48/1933, 3, Dezember. 178 Wulf [-Dieter] Müller, Das Vermächtnis Stefan Georges, in: Ehrhardt-Zeitung 2/1933, 19, Mitte Dezember. Die Ehrhardt-Zeitung war das Organ der Gefolgschaft des ehemaligen Kapp-Putschisten und Wiking-Bund-Führers Hermann Ehrhardt. 179 Wulf-Dieter Müller, Dichtung als Tat. Zum 70. Geburtstag Stefan Georges am 12. Juli, in: Die Propyläen 35/1937/38, 41, v. 8.7.1938. 180 Vgl. Dokumentation der Jugendbewegung, S. 162ff. Das „Heimliche Reich der Deutschen“ gehörte zu Biedermanns Standardvokabeln. Zu seiner Biographie vgl. ebd., S. 1756. Die Zugehörigkeit zum Jungstahlhelm ergibt sich aus seinem Artikel: Jungstahlhelm und Jugendbewegung, in: Der Jungstahlhelm v. 31.3.1929 (auch in: Die Kommenden 4/1929, Folge 16).

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Wehrverbandes, am 16.7.1933 sowie am 10.12.1933, diesmal gleich doppelt in Gestalt eines ungezeichneten Artikels im Hauptteil der Bundeszeitung und eines mit Verfassernamen ausgewiesenen Textes in der von Franz Schauwecker geleiteten Beilage Helden und Zeiten.181 Die meisten dieser Texte, die in teils variierter, teils erweiterter Form auch an anderen Orten erschienen,182 stammten aus der Feder des Journalisten Curt Hotzel (1894–1967). Durch sein Studium in Heidelberg, u. a. bei Gundolf, war Hotzel schon früh mit der George-Sphäre in Berührung gekommen, hatte sich allerdings zunächst mehr den Völkischen zugewandt, wovon neben frühen Arbeiten über Ernst Wachler und andere einschlägige Sujets seine Tätigkeit am deutschvölkischen Deutschen Tageblatt zeugt. Auch sein erster Artikel über StG – mehr oder weniger eine Paraphrase von Gundolfs Buch über den gleichen Gegenstand – erschien in diesem Kontext, einem von Ernst Wachler herausgegebenen völkischen Organ.183 Seine beachtliche Fähigkeit zum intellektuellen Spagat erlaubte es ihm, diesen Ausgangspunkt festzuhalten,184 sich daneben in der expressionistischen Künstlergruppe Jung-Erfurt zu engagieren,185 für den Jungdeutschen, die Tageszeitung des Jungdeutschen Ordens, zahllose Artikel zu schreiben, gegen Ende der 20er-Jahre den neuen Nationalismus zu adaptieren, wie er vor allem im Kreis um Friedrich Hielscher gepflegt wurde, und sich schließlich dem Stahlhelm anzunähern, der mit seiner Melange von „monarchistischen, jungkonservativen, (neu-)nationalistischen und völkischen Positionen“186 das optimale Forum für Hotzel war. Von 1932 bis 1935 war er Schriftleiter des Stahlhelm-Senders sowie von dessen Nachfolgeorgan Welt und Welle und kam auch in der Bundeszeitung selbst immer wieder zu Wort.187 In seinen Beiträgen erklärte Hotzel StG zum „größten Dichter“ der deutschen Nation. In der Nachfolge Nietzsches sei er zum Verkünder eines ,dionysischen Glaubens‘ geworden, des Glaubens „an eine Jugend, die nicht stirbt“. Von dieser Warte aus 181 Vgl. Curt Hotzel, Stefan George – Nobelpreisträger?, in: Der Stahlhelm-Sender 1/1932, 25, v. 14.10.1932; ders., Stefan George. Dem Künder des Neuen Reiches zum 65. Geburtstage, dem 12. Juli, in: Der Stahlhelm 15/1933, 29, v. 16.7.1933 (Beilage Helden und Zeiten); [anonym], Dem Kämpfer Stefan George. Ein soldatischer Dank, in: Der Stahlhelm 15/1933, 50, v. 10.12.1933; Stefan George †, ebd. (Beilage Helden und Zeiten). 182 Vgl. ders., Georges Zeitgedichte, in: Der Jungdeutsche 8/1927, 4, v. 6.1.1927; ders., Der Toten Zurückkunft, in: Deutsche Zeitung v. 7.7.1928; Seher des Reiches, in: Goetz Otto Stoffregen (Hrsg.), Aufstand. Querschnitt durch den revolutionären Nationalismus, Berlin 1931, S. 131–140; ders., Stefan George †, in: Deutsche Tageszeitung v. 4.12.1933; ders., Der Seher des Reiches. Von der Sendung Stefan Georges, in: Deutsche Tageszeitung v. 5.12.1933; ders., Stefan George, der Seher deutscher Volkwerdung, in: Berliner Börsen-Zeitung v. 4.12.1933; ders., Der Seher deutscher Volkwerdung, in: Münchner Zeitung. Beilage Propyläen 30/1933. 183 Vgl. ders., Blutweihe. Gedanken über deutsche Kultur, München 1919; ders., Ernst Wachler, Kassel 1921; ders., Stefan George, in: Die Krone. Zeitschrift zur Pflege des monarchischen Gedankens und der nationalen Überlieferung im Sinne Steins und Bismarcks 2/1921, 7, S. 212–216. 184 Vgl. ders., Hanns Johst, Berlin 1934. 185 Vgl. Cornelia Nowak u. a. (Hrsg.), Expressionismus in Thüringen, Erfurt 1999, S. 34, 100ff., 110. 186 Joachim Tautz, Militaristische Jugendorganisationen in der Weimarer Republik, Regensburg 1998, S. 14. 187 Vgl. seinen für die Parteiamtliche Prüfungskommission „zum Schutze des N.S.-Schrifttums“ verfassten Lebenslauf, BArch RKK Box 0541, File 10, 2101; sowie die biographische Skizze bei Ina Schmidt, Der Herr des Feuers. Friedrich Hielscher und sein Kreis zwischen Heidentum, neuem Nationalismus und Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Köln 2004, S. 56ff.

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habe er den „Westen“ einer Kritik unterzogen, die auch das eigene, zunehmend verwestlichte Land nicht geschont habe. Während der von ihm geformte Kreis sich teils zerstreut, teils dem herrschenden Literaturbetrieb unterworfen habe, habe StG allein an der Sendung des Deutschtums festgehalten, deren Inhalt Hotzel vage genug als die Aufgabe bestimmte, wie einst beim Fall des Römerreichs die „Erlösung vom Verfall“ zu bringen. Den Träger dieser Sendung habe er in der Jugend erkannt und mit dem Stern des Bundes den Besten aus ihren Reihen die Fähigkeit und die Kraft verliehen, das deutsche „Seelentum“ zu erfassen und das „Reich“ zu schaffen. George war, das fühlten sie, in einer Tiefe zum deutschen Volkstum vorgestoßen, die bisher unerhört war […]. Wir finden also das Bekenntnis zu George bei den Frontsoldaten, bei den Freikorpskämpfern, bei den neuen Nationalisten, den Nationalsozialisten und bei den Bekennern deutschen Volkstums in Kunst und Sitte.

Mit der Verwendung von Vokabeln wie Blutschmach und Blutweihe schloss Hotzel nahtlos an Redeweisen an, wie sie auch in der völkischen Bewegung in Gebrauch waren, doch unterschied ihn von dieser das elitäre Verständnis, das im Volk eine Größe sah, die erst durch den Bund bzw. dessen Schöpfer, StG, ihre wahre Gestalt erhielt. „Er schuf dieses Volk, das da kommt, selber. George gehört schon jetzt zu den ,ewigen Deutschen‘“.188 An dieser Wertschätzung StGs hat Hotzel auch zu einem Zeitpunkt noch festgehalten, als das Regime längst andere Entscheidungen getroffen hatte.189

7.5.

Die völkische Bewegung

Während die bisher dargestellten Bewegungen, ungeachtet mancher Vorläufer, erst nach dem Ersten Weltkrieg zur Entfaltung gelangten, hatte die völkische Bewegung schon davor einen beachtlichen Entwicklungsstand erreicht. Es gab völkische Vereine wie den Deutschbund (gegr. 1894), die Gobineau-Vereinigung (1894), den WerdandiBund (1907) oder den Reichs-Hammerbund (1912), völkische Parteien wie die Antisemitenparteien, die sich 1914 zur Deutschvölkischen Partei zusammenschlossen,190 und nicht zuletzt eine breit gefächerte völkische Medienlandschaft, zu der sowohl Tageszeitungen wie die ab 1896 vom Gründer des Deutschbundes herausgegebene Deutsche Zeitung gehörten als auch Periodika wie die Deutsch-Sozialen Blätter, der Hammer, der Volkserzieher, Heimdall oder Das Zwanzigste Jahrhundert, um 188 Curt Hotzel, Stefan George, der Seher deutscher Volkwerdung, in: Deutsches Adelsblatt 51/1933, 36. 189 So enthalten seine zahlreichen Beiträge zur Beilage der Münchner Zeitung, Die Propyläen, immer wieder positive Bezugnahmen auf StG. Vgl. Curt Hotzel, Vom Heiligen Geist deutscher Sendung (33/1935/36, 35. Lieferung); Olympische Götter und deutsche Heimat (33/1935/36, 36. Lieferung); Dreiklang deutschen Wesens (33/1935/36, 42. Lieferung); Stefan George, der Seher deutscher Volkwerdung, in: Die Deutsche Literatur 40/1938, S. 741. Die von Eduard Engels geleiteten Propyläen gehörten zu den wenigen Zeitschriften, die der 70. Wiederkehr von StGs Geburtstag gedachten. 190 Gute Überblicke dazu bei Dieter Fricke (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), 4 Bde., Köln 1983–1986; Puschner u. a. (Hrsg.), Handbuch.

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von kleineren, oft nur kurzlebigen Blättern wie Heinrich Driesmans’ Deutscher Kultur oder Ernst Wachlers Gründungen Kynast, Iduna, Die Jahreszeiten zu schweigen. Hinzu kamen weitere Organe, die zwar nicht pauschal der völkischen Bewegung zugeordnet werden können, gleichwohl deren Propagandisten immer wieder ein Forum boten, wie z. B. der Kunstwart, der Türmer, die Gesellschaft oder die Bayreuther Blätter. Einen Eindruck von der Breite der Bewegung vermittelt die 1913 von Adolf Bartels und Wilhelm Schäfer ins Leben gerufene Deutschvölkische Vereinigung (Hauptstelle deutschvölkischer Verbände), der insgesamt siebzehn Vereine angehörten, darunter auch ein deutschvölkischer Schriftstellerverband sowie deutschvölkische Studentenverbände.191 Von allen Bewegungen der Rechten hat die völkische am wenigsten mit StG anfangen können.192 Große Werke wie Der Siebente Ring, Der Stern des Bundes oder Das Neue Reich wurden in der völkischen Presse kaum zur Kenntnis genommen, die runden Geburtstage StGs ebenso ignoriert wie sein Tod.193 Ausführlichere Stellungnahmen finden sich nicht bei den führenden politischen Repräsentanten der Bewegung, sondern bei Autoren, die sich von Berufs wegen mit Literatur befassten, bei Redakteuren wie Willy Pastor und Friedrich Lienhard oder bei Literarhistorikern wie Adolf Bartels und Josef Nadler. Die Ursache für diese Vermeidungsstrategie dürfte in den nicht unbeträchtlichen Irritationen liegen, die ein konsequenter ästhetischer Fundamentalismus auf den völkischen Nationalismus ausüben musste. Teilte man einerseits neben der wertrationalen Leitpräferenz die Ablehnung, die der George-Kreis wesentlichen Zügen der modernen Massengesellschaft entgegenbrachte – von der (fortgeschrittenen) Arbeitsteilung über die Atomisierung der Gesellschaft bis zur sozialen Mobilität –, so waren die Völkischen doch andererseits nicht bereit, in ihre Modernitätskritik auch die ,erste‘, bürgerliche Moderne einzuschließen, die mit ihrer Akzentuierung der ,synthetisch-harmonisierenden Denkfigur‘ vielmehr den Maßstab bildete, an dem man die ,zweite‘ Moderne mit ihrer ,analytisch-kombinatorischen Denkfigur‘ maß und verwarf.194 Aus dieser Grundhaltung heraus musste der George-Kreis in mehrfacher Hinsicht suspekt erscheinen. Dem mittelständischen Bewusstsein der Völkischen konnte das Distinktionsgebaren des Kreises nur als Ausdruck eines sozialreaktionären Habitus gelten, den nationalen Machtstaatsprätentionen die totale Zeitablehnung als kontraproduktiv, dem Harmoniestreben der Autonomieanspruch der Kunst, ihre 191 Vgl. Puschner, Bewegung, S. 263ff., 284; Breuer, Die Völkischen, S. 142ff. 192 Der Text, der als Ausnahme von dieser Regel angeführt werden könnte, Adalbert Reinwalds Rede Stefan George, Hindenburg, Adolf Hitler (in: Dramaturgische Blätter für deutsche Bühnen 1934/35, Folge 8), stammt aus einer Zeit, in der der ursprünglich zur völkischen Bewegung gehörende Autor, früher bekannt unter dem Namen Adalbert Luntowski, explizit mit dieser gebrochen hat. 193 Zu Stichproben herangezogen wurden die Jahrgänge 1907, 1908, 1928 und 1933 des Hammers; 1907 und 1928 des Volkserziehers; 1915/16 des Neuen Lebens sowie 1928 und 1933 des Reichswarts. Wie jede Regel, hat auch diese ihre Ausnahmen, so z. B. Alfred Ehrentreich, Der Weg zu Stefan George, in: Der Volkserzieher 38/1934, Blatt 3, März, S. 57–59, der seine Würdigung allerdings wieder dadurch entwertet, dass er StGs Leistung darin sieht, zwölf Jahre vor der großen nationalen Erhebung diese vorweggenommen zu haben. 194 Vgl. Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991; zur Anwendung auf die Völkischen vgl. meine Studie Die Völkischen.

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Loslösung von sozialen bzw. didaktischen Aufgaben sowie die Verteidigung der Form als ebenso viele Schritte zur Zerstörung der Synthese und damit zur Forcierung der analytischen Kombinatorik, die als undeutsch perhorresziert wurde. Die in dieser Richtung schon vor 1933 ventilierten Vorbehalte gewannen während des NS-Regimes breitere Resonanz und wurden zur Grundlage der politischen Exkommunikation des George-Kreises. Entzündet hat sich die völkische Kritik nicht, wie man vermuten könnte, am hohen Anteil von jüdischen Mitgliedern des Kreises, sondern an dessen Ästhetizismus und Hermetismus. Typisch hierfür ist die frühe Abfertigung der ersten Gedichtbände StGs durch den Schriftleiter der Täglichen Rundschau, Willy Pastor (1867–1933), der als Mitglied des Friedrichshagener Kreises sowie als Freund und Bekannter der Brüder Hart, Julius Meier-Graefes und Stanisław Przybyszewskis mit der ästhetischen Kommunikation der Moderne immerhin nicht ganz unvertraut war.195 Für Pastor, der sich einige Jahre später dem Werdandi-Bund anschloss, handelte es sich bei StGs Gedichten um eine sinn- und gedankenfreie, gänzlich monotone Kunst, die einzig den Zweck verfolgte, ihre Rezipienten in eine „weiche, schläfrige Stimmung“ zu versetzen, einen „müde[n], dämmerige[n] Zustand“, wie er für die Mystik oder für bestimmte Rituale der „Wilden“ typisch sei. Dass sie in Antiqua gesetzt waren, wurde dabei ebenso übel vermerkt wie der priesterliche Ton, in dem StG seine Werke vorzutragen pflegte. Am meisten aber stieß sich Pastor an dem um die Jahrhundertwende forcierter formulierten Anspruch des Blätter-Kreises, auf die „Kultur“ Einfluss zu nehmen: Mag jeder nach seiner eigenen Fac¸on selig werden. Ob junge Hysteriker sich an Absinth berauschen oder an Georgeschen Offenbarungen, das ist schließlich ihre Sache, und solange die kleine Gemeinde Stefan Georges intern blieb, mochte sie ungestört ihre impotenten Orgien feiern, ,wo frommer Wunsch mit süßer Gier sich mischt‘. Heute aber trifft das nicht mehr zu. Herr Stefan George ,glaubt den wachsenden Wünschen nachgeben und auf den Schutz seiner Abgeschlossenheit verzichten zu dürfen‘. Wo Herr Stefan George auf den Schutz seiner Abgeschlossenheit verzichtet, wird seine Gemeinde zudringlich. Ihre frechen Stimmen, die für Ideen und Werke ernster Arbeit nur höhnische Worte haben, sind nachgerade recht laut geworden, und da ist es denn doch an der Zeit, ihnen ein wenig Bescheidenheit beizubringen.196

Ähnliche Anwandlungen überkamen den Mitbegründer des Deutschvölkischen Schriftstellerverbandes, Adolf Bartels (1862–1945), bei der Lektüre von StGs Gedichten. Wie Pastor sah er im Blätter-Kreis einen ,poetischen Geheimbund‘, der erst seit der Jahrhundertwende den Weg in die Öffentlichkeit suche, dabei aber einer Selbstbezüglichkeit der Kunst das Wort rede, die es rechtfertige, von „künstlerischer ,Nabelkauerei‘ zu persönlichen Genußzwecken“ zu sprechen. Die Charakteristika dieser „Kunstclique“ seien:

195 Vgl. Ingo Wiwjorra, Willy Pastor (1867–1933) – Ein völkischer Vorgeschichtspublizist, in: „Trans albim fluvium“. Forschungen zur vorrömischen, kaiserzeitlichen und mittelalterlichen Archäologie. Festschrift für Achim Leube, hrsg. v. Michael Meyer, Rahden/Westfalen 2001, S. 11–24, hier: 12f. 196 Willy Pastor, Bung-Bung (Stefan George) (1899), in: Ders., Studienköpfe. Zwanzig essayistische Porträts, Leipzig, Berlin 1902, S. 186–192, hier: 191f. Zuvor schreibt Pastor zweimal „Offenbahrung“ und gibt damit die geheime Richtung seiner Wünsche preis (S. 188).

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Schwächlicher (femininer) Verzicht auf die Persönlichkeit bei priesterlichem Größenwahn, Perhorrescierung des Lebens, raffiniertester Gebrauch gewisser zum Teil sehr äußerlicher Stimmungskunstmittel (die man übrigens den Franzosen und Engländern abgelernt hatte), […] eine Art esoterischer Haschischpoesie,

die sich in bloßer Pose erschöpfe und es nicht zu echter Dichtung bringe. Lediglich Hofmannsthal sei ein bedeutenderes Talent zuzubilligen, während StG „halb und halb für einen poetischen Charlatan“ zu gelten habe. Über das Schicksal, das er all diesen Spätdecadents an den Hals wünschte, sprach sich Bartels, der aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen pflegte, deutlich aus: „Durchweg hat man dieser ganzen Poesie gegenüber immer wieder die Empfindung, daß ein gehöriges geschichtliches Donnerwetter, das die faule Friedensluft von den Miasmen reinigte, der deutschen Jugend von heute äußerst heilsam sein würde.“197 Wesentlich respektvoller ist die Reaktion Friedrich Lienhards (1865–1929) ausgefallen, der 1893/94 das völkisch-antisemitische Zwanzigste Jahrhundert redigierte, anschließend wie Pastor für die Tägliche Rundschau schrieb und mit Bartels in der Zeitschrift Heimat zusammenarbeitete.198 Für den Verkünder einer kulturellen Regeneration aus dem Geiste Weimars und Bayreuths stand der dichterische Rang StGs außer Zweifel – er habe, wie auch Hofmannsthal, „ganz wundervolle Verse geschrieben, für Ohr und Geschmack mit Recht ein Entzücken“ –, doch fehle seinen Werken, wie der neueren Literatur überhaupt, „der Pulsschlag der Volksseele“.199 Gewiss sei im Zeitalter der Massendemokratie das allererste, was man von einer künstlerisch-geistigen Persönlichkeit ,verlangen‘ kann (sie tut’s von selbst): daß sie sich zurückziehe und frei mache vom Amerikanismus unseres öffentlichen Lebens, dieser neuesten Barbarei einer aufgeregten Kultur.200

Doch komme es darauf an, in diesem Rückzug nicht zu verharren, sondern die gewonnene Distanz zur Neugestaltung zu verwenden. Und eben dies werde von StG und seinen Anhängern versäumt: Andere Zeitgenossen ergaben sich einem vornehmen und strengen, fast starren Kultus der Form und zogen sich, in Böcklins Art, auf ein Eiland der Schönheit zurück: An ihrer Spitze

197 Adolf Bartels, Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen, 3. Aufl., Leipzig 1900 (zuerst 1897), S. 265. Zu Bartels vgl. Steven Nyole Fuller, The Nazi’s Literary Grandfather. Adolf Bartels and Cultural Extremism, 1871–1945, Frankfurt/M. u. a. 1996; Thomas Rösner, Adolf Bartels, in: Puschner u. a. (Hrsg.), Handbuch, S. 874–894. Ein ähnliches Verdikt findet sich noch Jahre später in der Zeitschrift Bühne und Welt, in der mit Bartels, Chamberlain, Dinter, Dietrich Eckart und Ernst Wachler die völkische Prominenz vertreten war. Im dritten Teil seiner Artikelserie über Germanisch-dichterische Monumentalkunst attestiert Paul Schulze-Berghof StG „seelisches Siechtum vor dem Verfall der Sinne“ und diagnostiziert den „geistige[n] Tod vor dem leiblichen Absterben“, in: Bühne und Welt 17/1915, Nr. 6. 198 Vgl. Hildegard Chaˆtellier, Friedrich Lienhard, in: Puschner u. a. (Hrsg.), Handbuch, S. 114–130; sowie meine Studie, Das ,Zwanzigste Jahrhundert‘ und die Brüder Mann, in: Manfred Dierks/Ruprecht Wimmer (Hrsg.), Thomas Mann und das Judentum, Frankfurt/M. 2004, S. 75–95. Lienhard gehörte zwar nicht zu den zentralen Figuren der völkischen Bewegung, war aber als förderndes Mitglied der Gobineau-Vereinigung und des Werdandi-Bundes in sie eingebunden: Vgl. Puschner, Bewegung, S. 73, 132. 199 Friedrich Lienhard, Neue Ideale nebst Vorherrschaft Berlins, 2. Aufl., Stuttgart 1913, S. 68, 76. 200 Ebd., S. 87.

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Stefan George. Hier schaltet ägyptische Tempelstimmung, an geheime Schulung und Mysterien gemahnend.201

Lienhard und Bartels, aber auch Wachler und Langbehn rangierten hoch im vierten Band von Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, einem Werk, dessen Autor zwar in akademischer Distanz zur völkischen Bewegung stand, ihren Repräsentanten aber zu einiger Reputation verhalf, indem es sie jenem „Ansatz von Gesinnungen und Strebungen“ zuordnete, „die jenseits des deutschen Unheils den vollen Schwung ihres Laufes erhielten.“202 StG dagegen erschien darin als ein Versager, der die ihm von seiner Landschaft gestellte „erlösende Frage“ nicht getan habe und auch nicht tun konnte, war er doch ein Landfremder, wallonischer und lothringischer Abkunft. „Bis wir einwandfrei eines anderen belehrt sind, glauben wir an Georges Keltenschädel, glauben wir, daß er zwar aus keltisch-lateinischer Vorvergangenheit, aber nicht durch rheinisches Erbe, sondern durch rheinischen Erwerb geworden ist.“203 Diese Herkunft sah Nadler auf der Werkebene manifestiert in der Obsession durch den „Dämon der Gewalt“, in der Betonung des Dienstes, in kindlicher Frommheit sowie allerlei „böse[n] Gelüsten“, im barocken Stil und in der Prädominanz des Rhetorischen. Mit dem Teppich des Lebens eigentlich ausgeschrieben, habe StG im Siebenten Ring noch einmal literarische Geltung zu erlangen versucht, dies jedoch nur um den Preis des „tragischen Frevels“ vermocht: durch die Ausrufung eines armen Jungen zum Gott, zu dessen Feier die Ritenformen und die Ritensprache der römischen Kirche instrumentalisiert, „preisgestellt“ wurden.204 Was sich so als immerhin „großartige Erneuerung des antiken Heidentums und der morgenländisch griechischen Mysteriensucht“ präsentiere, sei letztlich „unheimlich deutschfremd“, eine westliche Parallelerscheinung zu dem, was Nietzsche für den Osten geworden sei und damit: Zeichen der gescheiterten Synthese, Symbol der nach wie vor bestehenden deutschen Zerrissenheit. „Unter solchen Umständen traten die Deutschen 1914 ihren Schicksalsgang gegen Osten und Westen an, den zwiespältigen Urgeist des Ostens und Westens, Nietzsches und Georges, im Leibe.“205 Das Heilmittel für diese Problematik hatte Nadler bereit. In einer Zeitschrift mit dem sprechenden Namen Völkische Kultur gab er seinen Fachkollegen, implizit aber auch der deutschen Öffentlichkeit, den Rat, sich in Zukunft vom ausschließlich Geistigen und Gestaltlichen abzuwenden und „an Stelle des rein ästhetischen den nationalen Wertbegriff zu setzen.“206 Mit dem bisher Gesagten soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass antisemitische Momente in der frühen völkischen Polemik ganz abwesend gewesen wären. In 201 Ders., Deutsche Dichtung in ihren geschichtlichen Grundzügen, Leipzig 1917, S. 136. 202 Nadler, Literaturgeschichte, S. 649. Zu Lienhard vgl. ebd., S. 647f., 782f.; zu Bartels S. 647, 737f.; zu Wachler S. 647; zu Langbehn S. 742ff. Über Nadler (1884–1963) vgl. Sebastian Meissl, Germanistik in Österreich. Zu ihrer Geschichte und Politik 1918–1938, in: Franz Kadrnoska (Hrsg.), Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938, Wien 1981, S. 475–496; ders., Zur Wiener Neugermanistik der dreißiger Jahre, Stamm, Volk, Rasse, Reich. Über Josef Nadlers literaturwissenschaftliche Position, in: Klaus Amann/Albert Berger (Hrsg.), Österreichische Literatur der dreißiger Jahre, Wien u. a. 1985, S. 130–146. 203 Nadler, Literaturgeschichte, S. 794. 204 Vgl. ebd., S. 798. 205 Ebd., S. 800. 206 Ders., Wo steht die deutsche Literaturwissenschaft, in: Völkische Kultur 1/1933, S. 308f.

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der Staatsbürger-Zeitung, einem führenden Organ des völkischen Antisemitismus im Kaiserreich, findet sich etwa am 15.12.1912 in der Rubrik Briefkasten ein Leserbrief eines „Dr. med. B.W.“ aus Berlin-Wilmersdorf mit der Behauptung, StG sei Jude und heiße in Wahrheit „Heinz Abeles“. Beweis: „die Reklame der Judenprofessoren und die Verbreitung dieses ,dtschn‘ Dichters im Ausland durch Uebersetzungen der Aufsätze der Chawrusse [?]“, wie sie für einen Mann nichtjüdischen Blutes auf dieser Welt nie gemacht werde.207 Ein Jahr später führt der von Philipp Stauff, einem völkischen Multifunktionär, verfasste Semi-Kürschner eben diesen Leserbrief als Hauptquelle für StGs Zugehörigkeit zum Judentum an und listet darüber hinaus auch Gundolf und Wolfskehl auf.208 In Max Geißlers Führer durch die deutsche Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts ist aus dem Heinz ein Heinrich Abeles geworden und aus seinem Werk eine bloße Karikatur, die als „närrisch undeutsch“ gelten müsse.209 Erstaunlicherweise verstummten diese Anwürfe 1933 zunächst, als mit der NSDAP eine Partei an die Macht gelangte, die zwar nicht mit der völkischen Bewegung deckungsgleich war, jedoch eine starke völkische Komponente aufwies. In der veröffentlichten Meinung der beiden ersten Jahre des Regimes überwogen positive Äußerungen, die StGs Wandlung vom reinen Ästheten zum politischen Dichter, ja zum Propheten betonten und ihn als Ahnherren und Künder des ,Dritten Reiches‘ darstellten.210 Die Gründe dafür lagen zweifellos im Legitimitätsbedarf der neuen Machthaber, die sich über die Anerkennung StGs Anerkennung bei der aktuellen wie der künftigen Elite zu sichern versuchten.211 Sie lagen umgekehrt aber auch bei den Verfassern, die mit ihrer Apotheose StGs das zu diesem Zeitpunkt noch diffuse Profil des Nationalsozialismus in einer Weise zu schärfen trachteten, die ihren eigenen ideellen und materiellen Interessen entsprach. Dass dabei nicht bloß völkische Einflüsse zum Tragen kamen, sondern auch solche, die im Elitedenken der Ring-Bewegung und der 207 Vgl. Staatsbürger-Zeitung Nr. 294 v. 15.12.1912. Ihren Ursprung dürfte diese Behauptung in einer kritischen Glosse haben, mit der Karl Kraus einen Aufsatz in der Ostdeutschen Rundschau über StG kommentierte, vgl. Die Fackel 3/1901, 79, S. 21. Von dort fand die Behauptung Eingang in die Frankfurter Zeitung und später auch in Bartels’ Literaturgeschichte; vgl. Karlauf 2007, S. 506, 734. 208 Vgl. Philipp Stauff (Hrsg.), Semi Kürschner oder Literarisches Lexikon der Schriftsteller, Dichter, Bankiers, Geldleute, Ärzte, Schauspieler, Künstler, Musiker, Offiziere, Rechtsanwälte, Revolutionäre, Frauenrechtlerinnen, Sozialdemokraten usw. jüdischer Rasse und Versippung, die von 1813–1913 in Deutschland tätig oder bekannt waren, Berlin 1913, S. 118, 141, 571. Zu Stauff vgl. Gregor Hufenreuter, Philipp Stauff (1876–1923). Leben und Wirken eines völkischen Ideologen, MA-Arbeit, FU Berlin 2003. 209 Vgl. Max Geißler, Führer durch die deutsche Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts, Weimar 1913, S. 148. 210 Vgl. die Zusammenstellung und Analyse bei Martin A. Siemoneit, Politische Interpretationen von Stefan Georges Dichtung. Eine Untersuchung verschiedener Interpretationen der politischen Aspekte von Stefan Georges Dichtung im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1933, Frankfurt/M. 1978, S. 45ff.; Stefan BodoWürffel, ,Der Dichter in Zeiten der Wirren‘. Zum George-Bild des Dritten Reiches, in: Jörg Thunecke (Hrsg.), Leid der Worte. Panorama des literarischen Nationalsozialismus, Bonn 1987, S. 227–248. Die beiden 1934 und 1935 im Stürmer publizierten antisemitischen Attacken gegen StG und seinen Kreis müssen vor diesem Hintergrund als Ausnahme gelten, vgl. Petrow, Der Dichter als Führer?, S. 76f. 211 Vgl. Franz Karl v. Stockert, Stefan George und sein Kreis. Wirkungsgeschichte vor und nach dem 30. Januar 1933, in: Beda Allemann (Hrsg.), Literatur und Germanistik nach der ,Machtübernahme‘, Bonn 1983, S. 52–89, hier: 72f.

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Jugendbewegung ihren Ort hatten, zeigt vielleicht am schlagendsten der Beitrag des Volkskundlers Hans Naumann (1886–1951), für den alle Volkskultur nichts weiter war als abgesunkenes Kulturgut der Oberschichten und die politische Geschichte Germaniens „nichts anderes als eine Zirkulation von Führern und Eliten“.212 Mit dem ,Dritten Reich‘ schien ihm eine neue, „ethische Aristokratie“ nach der Macht zu greifen, die ihre Leitideen, ihre geistige Substanz dem Werk StGs verdankte. StG habe die Dichtung, die Wissenschaft, ja das Volk „neu geadelt“, indem er der „bündischen Idee“ ihre zeitgemäße Gestalt verliehen habe. Aus einem Präzeptor der Kunst sei er zu einem „Präzeptor des ganzen völkischen Daseins“ geworden, und dies so nachhaltig bis ins Politische und Staatliche hinein, dass der Umbruch von 1933 als „rasende Erfüllung“ seiner Prophetie verstanden werden müsse. Selbst wenn der Meister sich und seine Prophetie nicht in allen Stücken der eingetretenen Erfüllung wiedererkannt hätte, so könnte das doch an der Sache nichts ändern. Hätte die Welt diesen Dichter besser gekannt, sie wäre von den Vorgängen in Deutschland nicht so überrascht worden, wie sie es wurde. Sie hätte sie bei ihm vorausgespiegelt gesehen.

Was dann freilich auch heißt: viel Neues hat der Nationalsozialismus, hat Hitler diesem Vorentwurf nicht hinzugefügt. Nationalsozialisten, die sich darüber echauffierten, bot sich ab 1935 die Gelegenheit zum Gegenstoß. Zu diesem Zeitpunkt war das Regime fest etabliert und im Begriff, die Bevölkerung kriegstauglich zu machen, wozu neben der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht und den Aufrüstungsprogrammen des Vierjahresplans auch eine Zurückdrängung vermeintlich antiquierter, auf der Autonomie des ,Geistes‘ beharrender Methoden in den Wissenschaften gehörte. Im Rahmen dieser Offensive, deren Spuren sich auf vielen Gebieten, von der Soziologie bis zur Biologie nachweisen lassen,213 gerieten auch StG und sein Kreis ins Visier, in dessen ,drittem Humanismus‘ man sowohl eine potenzielle Opposition als auch eine dem Wissenschaftsfortschritt eher hinderliche ,holistische‘ Orientierung witterte.214 Anlässlich der 70. Wiederkehr von StGs Geburtstag erging von Rosenbergs Hauptamt Wissenschaft eine von Alfred Baeumler verfasste Sprachregelung, in der es hieß, es sei heute noch nicht möglich, „den Dichter George von dem Verkünder eines neuen Lebensstiles zu trennen, der nicht der unsre ist, und für den sich ein kleiner sektiererischer Kreis sehr emsig eingesetzt hat und noch einsetzt.“215 Obwohl die Völkischen, rein machtpoli212 Hans Naumann, Stefan George und das Neue Reich, in: Zeitschrift für Deutschkunde 48/1934, S. 273–286. Zu Naumann vgl. Thomas Schirrmacher, „Der göttliche Volkstumsbegriff“ und der „Glaube an Deutschlands Größe und heilige Sendung“. Hans Naumann als Volkskundler und Germanist im Nationalsozialismus, 2 Bde., Bonn 1992. 213 Vgl. Otthein Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933–1945, Frankfurt/M. 1986, S. 107ff.; Anne Harrington, Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren. Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung, Reinbek b. Hamburg 2002, S. 318ff. 214 Vgl. Hans Rößner, Dritter Humanismus im Dritten Reich, in: Zeitschrift für deutsche Bildung 12/1936, S. 186–192. Allgemein zum Neuhumanismus und seinem Verhältnis zum George-Kreis vgl. Michael Großheim, Neuhumanismus als Individualismuskritik – Eine Debatte zwischen Altphilologen und Philosophen, in: Bernd Wirkus (Hrsg.), Die kulturelle Moderne zwischen Demokratie und Diktatur. Die Weimarer Republik und danach, Konstanz 2007, S. 189–232. 215 Hauptamt Wissenschaft Collection, Film no. 4. Institut für Zeitgeschichte, München, 2888/59, MA–116/4 und 5.

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tisch gesehen, nicht eben zu den Gewinnern der Machtergreifung gehörten, wurden die von ihnen bereitgestellten Topoi dankbar aufgegriffen, um StG als persona non grata und die ,geistige Bewegung‘ als volksfremd und den Interessen Deutschlands schädlich zu diskreditieren. In besonders aggressiver Weise geschah dies in einem von Walter Frank, dem Präsidenten des Reichsinstitutes für Geschichte des neuen Deutschlands herausgegebenen Werk, dessen Verfasser, Christoph Steding, 1938 gestorben war. Das Buch, das postum unter dem Titel Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur erschien, war eine Art mixtum compositum aus den Schriften Carl Schmitts und Alfred Rosenbergs.216 An den Ersteren erinnerte u. a. der Leitgedanke, die wilhelminische und die Weimarer Epoche im Zeichen der ,Neutralisierung‘ zu sehen, der machtpolitischen Depotenzierung und Desintegration Deutschlands, die einhergegangen sei mit einer Aufwertung der Kultur zuungunsten der Politik sowie einer „Invasion schweizerischen und niederländischen Geistes“.217 Für den Letzteren wie für das völkische Denken generell war die Koppelung dieses Vorgangs mit dem Prozess der Urbanisierung typisch, der als Entwurzelung und Denaturalisierung gedeutet wurde, als Schwächung des völkischen Organismus, die allerlei Krankheitskeimen die Gelegenheit zum Eindringen geboten habe.218 Als ein solcher fremder Eindringling wurde StG präsentiert, der rassisch dem Keltentum zugehörig und kulturell von Frankreich geprägt gewesen sei, was sich nicht nur in seinen Übersetzungen, sondern auch darin zeige, dass er seine Anhänger zur Verehrung eines erklärten Reichsfeindes wie Napoleon ermuntert habe.219 Fremdkörper im deutschen Volk seien auch viele Mitglieder seines Kreises, die aus dem Judentum kämen und/oder aus der ,ostbaltischen‘ Welt, auf jeden Fall aus Schichten, die am Aufbau der deutschen Welt „nicht primär beteiligt“ waren und auch nicht beteiligt sein konnten, waren sie doch ihrer ,rassenseelischen‘ Disposition nach zu allem Konstruktiven unfähig.220 Unter ihrer Einwirkung habe Deutschland nicht nur die letzten ihm noch verbliebenen Reste an politischer Macht eingebüßt, wie sich in Versailles und Locarno zeigte, vielmehr sei die gesamte Ordnung aus den Fugen gegangen, indem sich einzelne Teilsphären wie Kunst oder Wirtschaft verselbstständigten, wofür die „Verabsolutierung des Ästhetischen“, der „Ästhetizismus“ des George-Kreises, als Beispiel standen.221 Dass „die ,Kultur‘ in ihrer Entwurzeltheit und Bodenlosigkeit überhaupt des Daseins und der Wirklichkeit nicht mehr positiv ,mächtig‘“ gewesen sei, habe sich bis in die intimsten Beziehungen aus-

216 Vgl. Steding, Das Reich, bes. S. 302. Zu Steding (1903–1938) vgl. Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 501ff.; Helmut Gabel, „Seherische Wissenschaft“. Christoph Steding und die Niederlande, in: Burkhard Dietz u. a. (Hrsg.), Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1945), 2 Bde., München, Berlin 2003, Bd. 2, S. 1037–1059. 217 Steding, Das Reich, S. 89. Schmitt hat sich denn auch für diese Allusion mit einer ebenso wohlwollenden wie ausführlichen Besprechung des Buches bedankt, vgl. Carl Schmitt, Neutralität und Neutralisierungen (1939), in: Ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit WeimarGenf-Versailles 1923–1939, Berlin 1988 (Nachdr. d. Ausg. Hamburg 1940), S. 271–295. 218 Vgl. Steding, Das Reich, S. 58. 219 Vgl. ebd., S. 58, 416f., 592f. 220 Vgl. ebd., S. 270, 414, 732, 705f. 221 Vgl. ebd., S. 382, 333.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

gewirkt.222 Georgianisch seien der „Narzismus“ [sic], die „Selbstbegattung“ und „Selbstvergottung“, eine „Verkehrung der Triebe“ und die daraus resultierende „Unfruchtbarkeit“, die das Land einer vorzeitigen Vergreisung habe anheimfallen lassen.223 Typisch für Stedings assoziatives, vage Ähnlichkeiten verknüpfendes und zugleich ressentimentgeladenes Denken war dann, dass er von hier aus einen Bogen zur SAFührung unter Röhm mit ihren bekannten homosexuellen Verstrickungen schlug und das Massaker vom 30. Juni 1934 in einer verdrehten Argumentation zum Befreiungsschlag gegen die geistigen und seelischen Urheber all dieser Perversionen erhob: Es unterliegt keinem Zweifel, daß auch noch im Reich die Ansteckungsgefahr der Negation wirken kann. Sofern nämlich die Zeit und die sie tragende Schicht, welche die Aufgabe zugewiesen bekommen hat, die Negation zu negieren, dieser Aufgabe in der Weise erliegen können, daß sie auch dann noch in der das Positive vorbereitenden Negation verharren, wenn die Negation bereits hinlänglich negiert und die Position bereits alle ihre Möglichkeiten so weit herausgebildet und alle ihre ,Positionen‘ bezogen hat, daß es wesentlich nicht mehr der Negation der Negation bedarf. Es ist sogar historisch die Regel, daß auch die Negation der Negation noch aus derjenigen Welt und aus derjenigen Ebene erwächst, die selbst der ,Kultur‘ im reichsfeindlichen Sinne zugehört. Langbehn und Lagarde und Burckhardt wie Nietzsche und Overbeck oder George ,negieren‘ ja alle die ,moderne‘ Welt, die seit 1789 mit dem Bourgeois und dem Kapitalismus aufkam. Trotzdem leben sie gerade jenseits der Welt, die das Reich bedeutet. Es war das Wesentliche an den Ereignissen des 30. Juni 1934, daß an diesem Tag die Negation der Negation vom Kanzler des Reichs liquidiert wurde, als sie gezeigt hatte, daß sie ihre Haltung nicht zu wandeln vermocht hatte, als die Zeit erfüllt war.224

Von hier aus gesehen hatte StG durchaus Glück gehabt, dass er bereits im Dezember 1933 eines natürlichen Todes gestorben war. In Walter Franks Reichsinstitut fand im Juli 1939 eine Arbeitstagung zur Erforschung der Judenfrage statt, auf der es zu einem weiteren heftigen Angriff kam, der sich nur vordergründig gegen „Friedrich Gundolf und das Judentum in der Literaturwissenschaft“ richtete, in Wahrheit aber dem George-Kreis insgesamt galt. Der Referent, der Münchner Ordinarius für Germanische Philologie und Volkskunde Otto Höfler (1901–1987), gehörte als ,Kenner der nordischen Länder‘ zum Sachverständigenrat des Reichsinstituts und war darüber hinaus seit 1937 als gelegentlicher Mitarbeiter mit dem SS-Ahnenerbe verbunden, im Übrigen seit 1922 in der nationalsozialistischen Bewegung Österreichs und Deutschlands aktiv, wenn auch erst seit 1937 als förmliches Parteimitglied.225 Das „Phänomen Gundolf“, so Höflers Botschaft, sei keine Sache der Literaturwissenschaft, sondern „ein Politikum hohen Ranges.“226 Mit den Mitteln der Lüge und Verdrehung, darunter einer irreführenden Heine-Kritik, hätten Gundolf und die Seinen in Deutschlands dunkelster Zeit sich als 222 223 224 225 226

Ebd., S. 382. Vgl. ebd., S. 205f., 302, 604. Ebd., S. 482f. (Herv. i. Orig. gestrichen). Vgl. Gajek, Germanenkunde, S. 197, 199, 178. Otto Höfler, Friedrich Gundolf und das Judentum in der Literaturwissenschaft, in: Forschungen zur Judenfrage, Bd. 4. Sitzungsberichte der Vierten Münchner Arbeitstagung des Reichsinstitutes für Geschichte des neuen Deutschlands vom 4. bis 6. Juli 1939, Hamburg 1940, S. 114–132, hier: 127.

7. Politische Rezeption

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das echte, wenngleich erst ,geheime‘ Deutschland präsentiert und sich mit einigem Erfolg darum bemüht, „die geistige Führung der Nation auch organisatorisch in ihre Gewalt zu bekommen.“ Nur zum Schein habe sich dieser ahasverische Geist, dieser ,echtheitszerstörende Dämon des Verfalls‘, in Goethe eingefühlt, um diesen dann desto wirkungsvoller degradieren zu können: zum bloßen Improvisator und Vorläufer StGs. Noch ärger sei der Anspruch des Kreises gewesen, eine neue Herrenschicht zu verkörpern, die kraft ihres Geistes erst ein deutsches Volk geschaffen habe.227 Damit sei es beinahe gelungen, die von Herder und Goethe eingeleitete „Revolution“ rückgängig zu machen, die in der „Wiedereroberung der Volkseinheit“ bestanden habe, in der Entdeckung, „daß das Größte, Fruchtbarste, das im Genie lebt und wirksam ist, eins ist mit dem Genius des Volks.“228 Zum Glück habe der Nationalsozialismus diese Strategie durchkreuzt, deren Ziel es gewesen sei, „das uralte Wunschbild des Alten Testaments“ auf deutschem Boden zu verwirklichen: „eine mitleidlose Herrschaft der Auserwählten“, „eine Herrschaft über versklavte Massen, kein Staat, sondern eine Tempelgemeinde, abgesondert, unbarmherzige Feindin der Ungläubigen, denen jede Menschenwürde abgesprochen wird“.229 Mit dieser Wendung gegen eine „exklusive Absonderung“230 erweist sich Höfler trotz seines Bekenntnisses zum ,nordischen Gedanken‘231 als Vertreter des völkischen Flügels der NSDAP. Eine weniger aggressive und insgesamt deutlich intelligentere Begründung fand die Absage an den George-Kreis in der Dissertation, mit der Hans Rößner 1938 in Bonn promoviert wurde. Rößner (1910–1997), der seit 1933 SA-Mitglied war, danach bis 1936 zum SD gehörte und ab 1939 als Referent für Volkskultur und Kunst in der Gruppe IIIC Kultur des Reichssicherheitshauptamtes arbeitete,232 unterschied zwischen dem dichterischen Werk StGs, dem er gewisse Qualitäten nicht absprechen wollte, und der Weltanschauung des Kreises, die er als „gefährliche Bedrohung der völkisch-politisch verantwortlichen Wissenschaft von der deutschen Dichtung“ bezeichnete.233 Als ihre Merkmale arbeitete er, durchaus zutreffend, das „Streben zu einem ästhetischen Primat“ sowie den Anspruch heraus, die Wirklichkeit restlos von der Gestaltidee her zu durchdringen.234 Ebenso klar erkannte er die Gegenstellung zum Fortschritt, ja zu Zeit und Geschichte überhaupt als gestaltenden Faktoren, die zentrale Bedeutung des (als „pseudoreligöses Trugbild und subjektivistische Heilssehnsucht“ qualifizierten) Maximin-Mythos235 und die wissenschaftskritische Haltung des Kreises.236 Den Beiträgen Gundolfs, Kommerells und Hellingraths zur Germanistik wurde sogar ein gewisser Respekt gezollt, doch nur, um dem darauf folgenden Generalangriff nicht von vornherein jegliche Glaubwürdigkeit zu nehmen. Die Hauptvorwürfe zielten auf den fehlenden Zugang zum Elementaren, zu den „überin227 228 229 230 231 232 233 234 235 236

Ebd., S. 119, 124f. Ebd., S. 130. Ebd., S. 128. Ebd., S. 131. Vgl. Gajek, Germanenkunde, S. 186. Vgl. Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003, S. 385ff. Vgl. Rößner, Georgekreis, Vorbemerkung. Vgl. ebd., S. 60. Vgl. ebd., S. 23ff., 81ff., 20. Vgl. ebd., S. 102ff., 1088.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

dividuellen bluthaften, noch ungeformten Kräfte[n] von Volkstum und Rasse“, auf den „aristokratischen Bildungsdünkel des Kreises“, die „Trennung von Dichter und Volk“, von „Literaturgeschichte und Volksgeschichte“ sowie auf den Heroenkult, der letztlich auf eine „Überhöhung und Sublimierung des Individualismus“ hinauslaufe, damit aber auch auf eine „Staatsfremdheit“, die – wie bei allen humanistisch-kulturellen Bewegungen des 19. Jahrhunderts – stets in der Gefahr sei, in „Staatsfeindschaft“ umzuschlagen.237 Vom Befund des Individualismus und Subjektivismus war es dann nicht mehr weit zu den üblichen antisemitischen Invektiven, die eine Verbindung mit der angeblichen Wurzellosigkeit des jüdischen Volks- oder Rassengeistes insinuierten, auch wenn Rößner dann in concreto einräumen musste, dass aus der Gemengelage von „sehr ausgeformten, bildungsmäßigen Überlagerungen und tiefen Durchsetzungen […] das wesenhaft Jüdische schwer auszusondern sein wird.“238 Das hielt Rößner indes nicht davon ab, dem Kreis „rassisch-biologische und rassenseelische Instinktlosigkeit“ zu bescheinigen, und auch die andere „Verfallserscheinung der Zeit“, der der Kreis seinen Tribut gezollt habe, blieb nicht unerwähnt: „die Herrschaft des mannmännlichen Sexus.“239 Dass Rößner und Steding damit so etwas wie das letzte Wort des Regimes gesprochen hatten, mag zum Abschluss ein Blick in die offizielle Literaturwissenschaft bestätigen, die dieses Bild mit nur wenigen Nuancen übernahm. Arno Mulots Buch über Das Reich in der deutschen Dichtung unserer Zeit, das in dieser Hinsicht als symptomatisch gelten kann, konzedierte zwar dem Werk des späten StG einige Ansätze zur Anerkennung der „Blut- und Formwerte von Führertum und Gefolgschaft, Zucht und Härte, Ehre und Heldentum“, ließ aber zugleich nicht im Zweifel, wie fern dieser von der Spätantike, der römischen Kirche und dem zivilisatorischen Westen geprägte Dichter „unserer Welt- und Geschichtsauffassung“ stand.240 So treffend einzelne seiner Urteile seien, seine Zeitkritik sei selbst zeitgebunden, „ein Zeichen der untergangsreifen Epoche“, unfähig, die Kräfte des Wandels zu erkennen. Der Dichter habe wohl die Form- und Maßlosigkeit seiner Zeit erkannt, aber was er als Form gepriesen habe, sei nicht „Wuchs von innen, sondern Zwang von außen.“ Er habe um die „unschöpferische Müdigkeit überalterter Tradition“ gewusst, sei aber selbst im „Bann einer zukunfts- und fruchtlosen Vergangenheit“ geblieben. Er habe die „Verrassung“ gegeißelt, aber er preist das Blut der käuflichen Lustknaben, sieht in Nordmenschen und Wüstenbewohnern gleiches Wesen und huldigt in weihevollen Sprüchen den Juden seines Kreises. Er prangert die Vergötzung des Gottbildes an […] und schafft selbst das schlimmste Götzenbild Maximins.241

Das von ihm verkündete Reich sei ein „unfruchtbare[r], von jeder Berührung mit den politisch-sozialen und völkisch-seelischen Kräften abgeschlossene[r] Bereich“, in dem „die mütterliche Frau, das nordische Menschentum, die völkische Geschichte und das

237 238 239 240

Vgl. ebd., S. 154f., 172, 71, 208. Ebd., S. 158. Ebd., S. 10f. Mulot, Das Reich, S. 22, 12. Ähnlich ders., Die Deutsche Dichtung unserer Zeit, Stuttgart 1944, S. 209ff. 241 Mulot, Das Reich, S. 18f.

7. Politische Rezeption

1223

volkhafte Wesen keinen Platz“ hätten.242 Ein Urteil das, doktrinär wie es war, der Sache gleichwohl recht nahe kam.

7.6.

Fazit

Die Frage, ob es in der deutschen Rechten eine Rezeption der Ideen StGs und seines Kreises gegeben hat, muss nach alledem mit einem klaren Ja beantwortet werden. Aber diese Antwort bedarf sogleich der Spezifizierung, und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens: Die Rezeption brachte nichts in diese Rechte, was nicht zuvor schon in ihr enthalten gewesen wäre. Die Ring-Bewegung ging aus der Initiative von Moeller van den Bruck und Heinrich von Gleichen hervor, von denen der eine von StG nichts hielt und der andere ihn womöglich nicht einmal kannte. Die rassenhygienische und nordische Bewegung fußte auf dem Rassendiskurs der medizinischen Anthropologie und die bündische Bewegung vollzog sich bei den George-abstinenten Bünden wie Adlern und Falken, Geusen oder Schilljugend nach exakt denselben Mustern wie bei denen, die gern auf George-Formeln rekurrierten. Für die völkische Bewegung, deren Anfänge bis in die 70er- und 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts zurückreichen, war StG ohnehin nur eine Größe, von der man sich abgrenzte. Sichtweisen, die diesen Kontext ausblenden und dadurch zu einer Überzeichnung des Einflusses von StG, auch und gerade in politicis, gelangen,243 sind von hier aus zu relativieren. Zweitens: Die Rezeption bezog sich nur auf einzelne Komponenten, nicht auf das Ganze der Weltanschauung, wie sie im Siebenten Ring und in den Jahrbüchern für die geistige Bewegung ihren Niederschlag gefunden hat. Zwar wurde StG gern als Begründer eines neuen Glaubens in Anspruch genommen, doch wurden dessen Kernelemente – die ästhetische Soteriologie und die um den Maximin-Kult zentrierte Theophanie – in einer Weise ins Unverbindlich-Diffuse gerückt, dass bis auf wenige Ausnahmen Zweifel nicht nur an der Übernahme, sondern schon an der bloßen Kenntnisnahme bestehen. Ebenso wenig Resonanz fand die Radikalität der Zeitablehnung bei Bewegungen, die allesamt danach strebten, sich in der Moderne zu behaupten, und nicht gegen sie. Wenn StG als Kämpfer gegen die Zeit gefeiert wurde, dann bezog sich dies zumeist auf Komplexe, die mit Chiffren wie ,Weimar‘ oder ,Versailles‘ belegt wurden, also die parlamentarisch-demokratische Form des modernen Verfassungsstaates, den Sozialstaat sowie eine internationale Ordnung, die Deutschland den Status einer Macht minderen Ranges zuwies. Schon die Kritik am Kapitalismus fand ein sehr verhaltenes Echo und wurde deutlich entschärft, diejenige an der experimentellen Wissenschaft und der auf ihr fußenden Technologie überhaupt revoziert. Was blieb, waren die Elemente, die in Richtung auf Selektion und soziale Schließung wiesen: die Ideen eines ,neuen Adels‘, einer Herrschaft der Genies und Gottmenschen, die den neoaristokratischen Bestrebungen der Ring-Bewegung ebenso entgegenkamen wie dem Rassenaristokratismus der Nordischen oder den elitären Ambitionen der Bündischen. All dies hätte es auch ohne StG gegeben. Aber da sein Werk nun einmal da war und einige Anerkennung genoss, lag es nahe, sich seiner zur 242 Ebd., S. 20, 15. 243 Vgl. etwa Robert E. Norton, Secret Germany. Stefan George and his Circle, Ithaca, London 2002, S. X, 688, 744.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Verstärkung zu bedienen. In diesem Sinn war die politische Rezeption StGs, wie wahrscheinlich jede Rezeption, eine Instrumentalisierung; mit Blick auf all das, was dabei weggelassen wurde, wohl auch: eine Umdeutung.

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7. Politische Rezeption

1225

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8.

Institutionelle Rezeption

8.1.

Castrum Peregrini

8.1.1. Autopsie einer Zeitschrift „Um zu verstehen, was wir meinen, müsste man eigentlich alle unsre Hefte gelesen haben, muss man vor allem entziffern können, was in den Gedichten verborgen ist.“1 Anlässlich seines 78. Geburtstags hielt Wolfgang Frommel am 8. Juli 1980 eine Rede, die sich Einigen Erwartungen für die Weiterführung der Zeitschrift „Castrum Peregrini“ – so der nachträglich gesetzte Titel – widmete und in überarbeiteter Form und mit einiger Verzögerung in der Zeitschrift veröffentlicht wurde. Der Autor war zu diesem Zeitpunkt schon rund fünf Jahre tot – er starb im Dezember 1986. Seine Erwartungen an die Zukunft bezüglich der „Wege ins eigene Selbst“, der „Überlieferung“ und dem dokumentierenden „Lebensgang einzelner Menschen“ entsprachen den rückwärtsgewandten Grundüberzeugungen, die von jeher die Grundkoordinaten des Castrum Peregrini bestimmten bzw. den „geometrischen Ort“, wie Frommel sie 1971 als „Besinnung zum 10. Heft“ übertitelte. Der Anspruch auf Erkenntnis, den Frommel erhob, war per se unerfüllbar, worin insofern Methode lag, als dies den Fortbestand der Zeitschrift zu sichern half: Wer könnte je endgültig ,entziffern‘, was in den Texten verborgen war? Und solange noch Hefte erschienen, fehlte immer ein Mosaiksteinchen dessen, was zum Verständnis des von Frommel und seiner Runde Gemeinten notwendig war. Nachdem die Zeitschrift im Jahr 2007 mit dem 280. Heft ihr Erscheinen – nach 56 Jahren – eingestellt hat, steht zumindest formal ein abgeschlossener Textbestand zur Verfügung: Bei einem programmatisch angestrebten Jahrgangsumfang von 400 Seiten umfasst er rund 22.400 Seiten. Dabei erschöpfte sich das Unternehmen Castrum Peregrini nicht in der Presse, der neben der gleichnamigen Zeitschrift auch monographische Titel angehörten, sondern es gehörte in gleicher Gewichtung der Frommelsche ,Freundeskreis‘ hinzu, der mittels eines feinmaschigen personalen Netzwerks und unter Zuhilfenahme einer teils subjektiven, teils legendären Aufarbeitung der eigenen, mitunter schicksalhaften Geschichte sowie nicht zuletzt durch die StG bzw. dessen Ethos verpflichtete Publizistik eine lückenlose genealogische Folge vom George-Kreis über den zeitweiligen Jünger Percy Gothein, den Verlag Die Runde bis hin zur Freundesrunde selber erstellte.2 Die Zeitschrift Castrum Peregrini erschien seit 1951 in Amsterdam, mit Ausnahme der Hefte 21 (1955) bis 35 (1958), die vom Verlag L. J. C. Boucher in Den Haag 1 Wolfgang Frommel, Einige Erwartungen für die Weiterführung der Zeitschrift ,Castrum Peregrini‘. Eine Rede, in: CP 41/1992, 202, S. 5–11, hier: 6, dort auch die folgenden Zitate. 2 Vgl. II, 6.2.

8. Institutionelle Rezeption

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ausgeliefert wurden. Nach außen hin trat der niederländische Anthroposoph J. Emanuel Zeylmans van Emmichoven (1926–2008) als Begründer und erster Herausgeber auf. Bis Heft 268/269 (2005) standen neben ihm mehrere sogenannte ,Paten‘ für die Zeitschrift ein – für ein Periodikum eine ungewöhnliche, zweckfreie Einrichtung klingender Namen. Als Vorlage mag Klaus Manns Exilzeitschrift Die Sammlung (1933–1935) gedient haben, die Andre´ Gide, Aldous Huxley und Heinrich Mann als Paten aufführte und damit den internationalen Anspruch unterstrich. Ähnlich nahm später das Castrum Peregrini mit den ,Paten‘, StGs frühem Weggefährten Carl August Klein – als Greis nur noch Symbolfigur –, dem volkskundlich interessierten Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger und dem zunächst im Verborgenen agierenden Spiritus rector des Castrum Lothar Helbing (d. i. Wolfgang Frommel), eine ideelle Verortung vor. Ihnen zur Seite gesellte sich als Schirmherrin die Malerin Gise`le d’Ailly van Waterschoot van der Gracht (geb. 1912), die 1939 eine Etage im Haus an der Herengracht bezogen und ihre Zimmer ab den frühen 1940er-Jahren für die Flüchtlinge um Frommel zur Verfügung gestellt hatte, während sie noch in Bergen aan Zee wohnte. 1958 kaufte Gise`le das Haus, zeitgleich wurde die gemeinnützige „Stichting Castrum Peregrini“ gegründet. Von 1965 bis 1982 verbrachte sie – zunächst gemeinsam mit ihrem Mann, dem ehemaligen Amsterdamer Bürgermeister Arnold J. D’Ailly (1902–1967) – etliche Monate des Jahres auf Paros. Formal ist eine Unterscheidung zwischen Patronage und Schirmherrschaft bei gleicher Ehrerbietung allenfalls graduell möglich – die Schirmherrin ist in Verbindung mit der Überführung in eine juridische Stiftung zu sehen, die Paten eher im Kontext der religiösen Ethik. Von 1959 bis 1967 zeichnete Michiel Valeton als Herausgeber verantwortlich. Manuel R. Goldschmidt (geb. 1926), Intimus Wolfgang Frommels und hinter den Kulissen bereits seit 1955 Leiter der Zeitschrift, wurde 1962 zunächst als Schriftleiter, seit 1967 als Herausgeber genannt, bis die Herausgeberschaft an die Stiftung übertragen wurde. Doch selbst diese geringfügigen Bewegungen im Stammpersonal hatten keine Auswirkungen auf das Profil der Zeitschrift, die sich ohnehin über Jahre hinweg vom Adressbuch Frommels, d. h. von seinen Kontakten, her speiste und in allen programmatischen Teilen bis zu seinem Tod 1986 (und mit dem Nachlass auch darüber hinaus) seine Handschrift trug. Dem Eindruck des bloß Erlebnishaften, der aufs Private reduzierten Erinnerungsliteratur, versuchte Frommel in den 1960er-Jahren durch einen philologischen Anstrich entgegenzuwirken – ohne dass das Postulat des ,gelebten Lebens‘ aufgegeben worden wäre. Zum professionellen, d. h. marktorientierten Erscheinungsbild verhalfen seit 1961 die Aufnahme von Verlagswerbung, von 1962 an die Buchbesprechungen und seit 1966 auch ergänzende Nachrichten und Mitteilungen, die sich in jüngeren Jahrgängen durch Autorenkürzel sowie durch variierende Schriftgrößen als Meldungen pro domo oder als literaturkritischer Apparat zu erkennen gaben. Von 1978 an wurde ein sogenannter ,Beirat‘ namentlich vorgestellt, der dem wissenschaftlichen Anspruch genügen und zudem die europäische und interkulturelle Ausrichtung hervorheben sollte: Claus Victor Bock, Professor der Germanistik in London, Karlhans Kluncker, Wissenschaftler in Bonn, sowie der Niederländer C. M. Stibbe, Klassischer Archäologe in Rom, später in Leiden. Dieser Beirat blieb bis 1993 unverändert, als mit Heft 206 Kluncker, mit Heft 209/210 Stibbe entfielen und durch Ingeborg Baier-Fraenger, Wolf Meyer von Cassel und Mario U. Hambitzer, später dann Bernard Aikema, Wolfgang Hempel, Klaus Landfried, Reimar Schefold, Wolf-

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

gang Christian Schneider, Bert Treffers, Thomas H. Weyland ersetzt bzw. ergänzt wurden. Anders als die Paten, die über den Tod hinaus als Bezugspersonen – im George-Kreis hätte man sie wohl als ,Staatsstützen‘ bezeichnet – präsent blieben und der Idee eine gewisse Unangreifbarkeit verliehen, konnte die Fluktuation im Beirat kaum darüber hinwegtäuschen, dass ein Periodikum dem Wandel unterworfen ist, sei es durch Tod und Trennung oder durch zeitliche Zwänge bedingt. Auf dem weiteren Weg zur philologischen Publikation wurde der Beirat zunächst um die ,redaktionelle Mitarbeit‘ erweitert und schließlich durch diese bzw. eine professionelle Redaktion ersetzt (C. V. Bock, Marc Brüssel, Jürgen Egyptien, Christophe Fricker, M. R. Goldschmidt, Raymond C. Ockenden, Bruno Pieger, R. Schefold). Michael Defuster, für kurze Zeit Mitherausgeber neben Goldschmidt, wurde schließlich Direktor, umgeben von Kollegen und Kolleginnen mit administrativen, Lektorats- und PR-Aufgaben (Lars Ebert, Gabriela Hamböck, Andrea Korte, Katinka Müller, Marinus Pütz, Wijnand Scholten). Gedruckt wurde die Zeitschrift bis zuletzt nach den typographischen Angaben von Piet C. Cossee, den Druck besorgte bis Heft 35 (1958) Trio Den Haag, von Heft 36 (1959) bis Heft 130 (1977) Mouton & Co. Den Haag und seit Heft 131 (1978) in raschem Wechsel Geuze & Co. Dordrecht, Ars Nova bv, Hendrik-Ido-Ambacht, Drukkerij Bariet bv, Ruinen, und E.P.A. van de Geer bv, Badhoevedorp. In Einzel-, Doppel- und selteneren Dreifachnummern erschien die Zeitschrift mit einem Jahresumfang von etwa 400 Seiten; die Auflagenhöhe lag bei maximal 1.000 Exemplaren, wobei monographische Auskoppelungen nicht berücksichtigt sind. Das Erscheinungsbild war über rund fünf Jahrzehnte von einer unaufdringlichen Monumentalität gekennzeichnet. Der Titel castrvm peregrini in Majuskeln weist als Besonderheit den Buchstaben „U“ in römischer bzw. Renaissance-Antiqua als geschriebenes „V“ auf; die Heftnummer wie das Erscheinungsjahr stehen in römischer Zählung. Das Verlagssignet zeigte bis Heft 268/269 (2005) eine fünfblättrige Rose mit einem im Kreis eingezeichneten Dreifuß – identisch mit dem von Friedrich ,Martinotto‘ Kotzenberg 1930 entworfenen Zeichen des Verlags Die Runde. Das Fehlen von Jahrgangszählung, bis 1991 auch der Nummerierung, überhaupt die äußerliche Vermeidung von Buchhandelsangaben entsprachen dem Ideal zeitloser Gültigkeit. Sowohl der Name Castrum Peregrini (Pilgerburg) als auch das Rosensignet und der Dreifuß verweisen auf den Symbolcharakter der Zeitschrift, die – hier ganz ideologisches Spielfeld Wolfgang Frommels – neben ihrer Rückbezüglichkeit auf StG auch Verweise auf die Rosenkreuzer- und Tempelrittertradition geltend gemacht hat. Mit der Aufgabe des deutlich auf die hermetische Emblematik verweisenden, abstrahierten Rosen-/Dreifußsignets zugunsten einer typographischen Lösung innerhalb der noch vage angedeuteten Rose (Entwurf: Leo Verhallen) und mit der Verankerung einer Rückseitenfotografie mit einer Aufnahme des Verlagshauses (Foto: Jeannine Govaers) wurden in den letzten Ausgaben des Castrum Peregrini – das mit der veränderten Ausstattung seit Heft 270 (2005) auch den auf dem Einband sichtbaren Untertitel Zeitschrift für Literatur Kunst- und Geistesgeschichte erhielt, wie es bislang nur in Prospekten des Verlags zu lesen war – die Signale für eine wohl schon länger geplante Abkehr von Frommels Zeitschriftenkonzept verstärkt. Über die Website www.castrumperegrini.nl sollte ein Wissenschaftlerforum von 2005 an auch den Austausch über StG auf diesem Weg fördern.

8. Institutionelle Rezeption

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Dass mit der zeitlichen Entfernung zu StG, dessen abtrünnigem Jünger Percy Gothein und selbst zu Wolfgang Frommel, letztlich mit dem altersbedingten Ausscheiden von dessen ehemaligen Zöglingen Manuel R. Goldschmidt und Claus Victor Bock 2005 aus dem inneren Kreis des Castrum eine Entfremdung von der generationsweise ihre Kraft immer stärker einbüßenden Inspirationsquelle einherging, war absehbar. Da zudem die Archivbestände der Zeitschrift nach über einem halben Jahrhundert an substanziellem Gewicht verloren – ohne freilich erschöpft zu sein, berücksichtigt man zudem das noch nahezu unberührte, bedeutsame, wenn auch eigenständige Briefarchiv der Malerin Gise`le – und der Blick auf StG notgedrungen historisch werden musste, ergaben sich zunehmend mehr Schnittstellen mit dem seit 1996 erscheinenden George-Jahrbuch im Auftrag der Stefan-George-Gesellschaft. Die letzte erschienene Nummer des Castrum Peregrini listet (bei gleichzeitiger Entfrachtung der Personnage) auf der Impressumsseite erstmals den Vorstand der Stiftung auf, dem neben Jan Petrus Rozenbroek, Bernard Aikema, Marijn Bakker und Carla Delfos auch Ute Oelmann angehört, die Mitherausgeberin des Jahrbuchs ist. Die Nachfolge der Amsterdamer Zeitschrift (und der gleichnamigen Verlagspublikationen) tritt die Reihe „Castrum Peregrini. Neue Folge“ an, die im Göttinger Wallstein Verlag erscheint. Mit dem Wechsel versuchte die Redaktion des Castrum Peregrini den „veränderten Bedingungen“ Rechnung zu tragen und ihre „beiden Schwerpunkte“, die eigene Geschichte mit ihrem Freundschaftskult und die George-Verehrung, voneinander zu trennen.3 8.1.2. Vorgeschichte als Geschichte Das Castrum Peregrini nahm nicht erst mit der ersten Nummer seinen Anfang. Bereits 1945 erschien unter diesem Titel ein Gedenkbuch, das in einer Auflage von 400 Exemplaren dreier Freunde gedachte, die den Naziterror bzw. die Notzeit in den besetzten Niederlanden nicht überlebt hatten: Percy Gothein (1896–1944), wichtigste Verbindungsperson zwischen StG und Frommel, der aufgrund homosexueller Vorwürfe oder möglicherweise wegen seiner nicht endgültig erwiesenen Verbindungen zum Widerstand (Kreisauer Kreis, indirekt auch zur Verschwörung um Stauffenberg) im KZ Neuengamme ermordet wurde; dem niederländischen Dichter und George-Übersetzer Vincent Weyand (1921–1945), den Frommel in der Bergener Künstlerund Dichterkolonie (Adriaan Roland Holst, Edgar du Perron, Charley Toorop, Jaap Weyand u. a.) kennengelernt hatte, und der im KZ Buchenwald umkam; der Jüdin Liselotte van Gandersheim (d. i. L. Brinitzer) aus Hamburg, die kurz nach Kriegsende ertrank. Die Textsammlung wurde von R. van Rossum du Chattel – ein Aliasname Wolfgang Frommels, nach dem jugendlichen Freund Reinout Vreijling (d. i. Jaap Gerhard van Rossum du Chattel) – herausgegeben. Wichtig an dem Gedichtband war zum einen die frühe Nennung des Begriffs Castrum Peregrini, zum anderen die inhaltlichen Rückbezüge auf die Gedichtanthologie Huldigung, die 1931 in Frommels Verlag Die Runde erschienen war und – unausgesprochen – StG gewidmet war. Die Zeitschrift Castrum Peregrini und der Verlag Castrum Peregrini Presse lassen verlegerisch Parallelen zur Zeitschrift BfdK und zum Verlag der Blätter für die Kunst 3 Vgl. Michael Defuster in einem Schreiben an die Leser vom 7. Mai 2008.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

vermuten, so wie sie im Freundschaftskult auch eine inhaltliche Nähe zu diesen finden. Dabei muss man jedoch anmerken, dass das Castrum sich selbst als Wirkung des George-Kreises empfand und dass das Meister-Jünger-Verhältnis sich nach 1945 anders gestalten musste als um 1900. Der Begriff Castrum Peregrini tauchte in den frühen 1940er-Jahren als Deckname für eine nicht klar zu definierende Gruppe von Menschen in den von den Nationalsozialisten besetzten Niederlanden auf, die sich als Gemeinschaft um Wolfgang Frommel scharten, der wiederum in den 1920er-Jahren mit Percy Gothein verkehrte und gemeinsam mit jüngeren Gefährten einen der randständigen, von StG nur noch inspirierten George-Kreise bildete. In dieser Lebens- und Notgemeinschaft entstanden illegale Drucke in geringen Auflagen, die jedoch nicht mit einem Castrum-Vermerk versehen waren, sowie unpublizierte Texte und Übertragungen, die sich dann teilweise später in der Zeitschrift wiederfinden. Die Adresse des Castrum Peregrini ist bis heute die Herengracht 401 in Amsterdam: das Haus, das Gise`le d’Ailly van Waterschoot van der Gracht den Exilierten zur Verfügung gestellt hatte und in dem Frommel bis zu seinem Tod wohnte. Um das Jahr 1967 erwarb die Stiftung einen Gebäudekomplex in der Amsterdamer Innenstadt, der als ,Komturei‘ bezeichnet wurde und somit die Templer-Assoziationen noch vermehrte. Bei allem StG nahen Selbstverständnis kann man das Castrum Peregrini nicht als George-Zeitschrift bezeichnen, was schon in den programmatischen Notizen zum Ausdruck kommt. StG stellte den unumstrittenen Richtwert dar, seine Geisteshaltung entsprach aber nicht dem Zuschnitt des Publikationsorgans. Ein Beiträger wie der Mitbegründer Wilhelm Fraenger – so wird oft ins Feld geführt – habe auf seinen „über 500 Seiten […] nie ein Wort über George geschrieben“.4 So wichtig Fraengers Erforschung der abgelegenen kunsthistorischen Seitenwege samt den Abwegen in esoterische und ethnologische Bereiche auch sein mag, ist sie als Argument freilich eine Schutzbehauptung, schließlich ist der kanonische Grundtext von Freundesrunde, Zeitschrift und Verlag das 1923/24 entstandene Opus Petri des Percy Gothein, mit dem die Castrum-Hefte in den ersten Jahrgängen jeweils beginnen. Auch wenn Gothein die für Frommels Ideologie existenziell wichtige Verbindung zu StG darstellt, lässt sich deshalb noch nicht eine direkte Linie von StG zu Frommel konstruieren: Aus Frommels Sicht beobachtete StG den Abweichlerkreis um Gothein wohlwollend; aus der Kreisperspektive dürfte die Ablehnung überwiegen, auch was den HuldigungsBand angeht. So muss man Frommels Castrum eher als eine von StG unabhängige, rund 50 Jahre andauernde Bewährungsinstanz ansehen, die von einer dem Dichter verpflichteten und im Exil gebildeten Freundesrunde errichtet wurde – Bewährungsinstanz deshalb, weil die zum Teil aus dem Nachlass veröffentlichten Texte der Kreismitglieder (Gundolf, Morwitz, Wolters u. a.) und die der Personen, die dem Kreis und/oder dem Castrum nahestanden (Frommel, Michael Landmann, Renata von Scheliha u. a.), in der Zeitschrift Castrum Peregrini den Gründungsmythos aus dem Geist StGs heraus untermauern sollten, ohne dass die Autoren dabei zwingend mit Frommel oder dem Castrum in persönlichem Kontakt standen. Ähnlich disparat stellt sich die Bewertung als Exilzeitschrift dar. Das Castrum Peregrini ist eine Nachkriegsgründung, also kein Forum, das den während des Na4 Karlhans Kluncker, 25 Jahre Castrum Peregrini Amsterdam: Dokumentation einer Runde, in: Philobiblon 20/1976, 4, S. 254–297, hier: 283.

8. Institutionelle Rezeption

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tionalsozialismus ins Ausland geflohenen Dichtern als Sprachrohr hätte dienen können. Da sich andererseits das Castrum Peregrini als Gemeinschaft und als Verlag schon in der niederländischen Emigrationszeit herausbildete, ist das Exilthema unmittelbar präsent – so wird die Castrum Peregrini Presse als einer der letzten noch existierenden Exilverlage angesehen. Die deutsch-niederländische, zum Teil jüdische Emigrantengruppe um Frommel gehörte der literarischen, konservativen Opposition an, wobei man anmerken muss, dass sie sich in einem freien Land zusammenfand – nachdem der weder aus rassischen noch aus politischen Gründen verfolgte Frommel freiwillig seinen Wohnsitz in Holland suchte, wo er sich schon besuchsweise in den 1920er-Jahren aufgehalten hatte. Verblieb er auch nach Überfall und Besetzung der Wehrmacht in den Niederlanden in einer Art innerer Emigration auf fremdem Boden, wurden seine jüdischen Zöglinge – darunter Manuel R. Goldschmidt und Claus Victor Bock – ins Exil gezwungen und waren zwangsläufig nach 1940 zum Untergrunddasein verdammt. Mit privaten Abschriften (P. Gothein, Opus Petri), Privatdrucken (W. Frommel, Templer und Rosenkreuz), teilweise illegalen Drucken (Kentaur- und Argonauten-Drucke mit Texten von Herder, Seume, R. Pannwitz, E. Jünger usw.) und Veröffentlichungen humanistisch oder neuromantisch orientierter Schriften etwa im Tiefland-Verlag / Akademische Verlagsanstalt Pantheon (Wolfgang Cordan/W. Frommel, Spiegel der Niederlande) oder im fingierten Pegasos-Verlag (P. Gothein, Tyrannis) gehörte die Gruppe der nicht militanten und nicht organisierten, aber tendenziell geheimbündischen Untergrundbewegung an. Vor allem Frommels Templer-Buch, das zunächst nur in zwei, später nochmals sieben Exemplaren gedruckt wurde – das Papier stammte von der Künstlerin Gise`le van Waterschoot –, kursierte als Kultbuch und fand wie das Opus Petri später Eingang in die Zeitschrift Castrum Peregrini. Diese ist, als deutschsprachiges Periodikum im Nachkriegs-Amsterdam entstanden, kein Exilblatt im engeren Sinn, aber der Zusammenschluss in den Notzeiten der NaziDiktatur gab nach 1945 den Anlass, das Erlebte auch öffentlich zu machen. Da wiederum das Erlebnis im Zentrum des Castrum stand, ist es zudem schwer, die Zeitschrift überhaupt als Zeitschrift für Literatur Kunst- und Geistesgeschichte aufzufassen. Anfangs erfüllten die Hefte, von der periodischen Erscheinung abgesehen, kaum die Minimalanforderungen an eine Zeitschrift – aktuelle Informationen wurden erst später aufgenommen, pluralistische Inhalte waren nie angestrebt, ein Meinungsaustausch fand kaum statt. Der Essayist und Übersetzer Paul Schuster beschrieb das Castrum Peregrini als „eine Art literarischer Museumsdienst für Liebhaber vergessener oder verschollener Kostbarkeiten aus allen Literaturen aller Jahrhunderte“.5 Dennoch hat der Denkmal- und Memorialcharakter des Castrum Peregrini Methode genug, um als Programm einer ideell geprägten Zeitschrift fungieren zu können. Der behandelten Literatur nach, die von Hafis bis Norbert Hummelt, von Ernesto Cardenal bis Konstantinos Kavafis reicht, ist das Castrum komparatistisch angelegt, die Themen sind interdisziplinär, in etlichen Beiträgen jenseits von bestimmbaren Disziplinen (transdisziplinär) orientiert – das Spektrum reicht von der Symbolik bei Hieronymus Bosch über die sufische Mystik, den Argonauten-Mythos bis hin zur Sage um den Zauberer Merlin. Zu diesem Koordinatensystem gehören auch – sich mit den anderen Linien überschneidend – eine mann-männliche, homosexuell inspirierte 5 Paul Schuster, Literatur- und Kulturzeitschriften, in: Klaus Briegleb/Sigrid Weigel (Hrsg.), Gegenwartsliteratur seit 1968, München 1992, S. 616–639, hier: 639.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Dichtung und demgegenüber fast überraschend Erinnerungsprosa auch von und über Frauen, die im George-Kreis und für die Runde um Frommel eine wichtige Rolle gespielt haben. Gesucht wird nach der gemeinsamen Gesinnung, die im privaten Umfeld entstanden ist und die in der Amsterdamer Zeitschrift eine kulturgeschichtliche Objektivierung anstrebt. Wenn man den Gesamtbestand vor Augen hat und nach Vergleichen sucht, wird man sie nicht bei StGs Jahrbuch für die geistige Bewegung und nicht bei den von Albert Verwey herausgegebenen Zeitschriften finden, auf dessen Freundschaft mit StG die deutsch-niederländischen Themen im Castrum Peregrini zurückgehen. Frommels ausdrücklich wichtigstes Vorbild war Herbert Steiners und Martin Bodmers Corona (1933–1944), ein Seitenzweig der Neuen Deutschen Blätter. Eine Verwandtschaft lässt sich mit Karl Kere`nyis Eranos-Jahrbüchern (1933ff.) sowie mit Gerard den Brabanders, Wolfgang Cordans und Jac. Van Hattums deutsch-niederländischer Zeitschrift Centaur (1939; 1945–1946) herstellen; bezeichnenderweise auch sie Publikationen, die vor dem Erscheinen des Castrum entstanden. Als Keimzelle der Zeitschrift wurde von Beginn an das freundschaftliche Moment betont. Doch erst die letzten Nummern stellen jeweils ein Motto ins Zentrum („Lebenswege“, „Living together“, „Dichtung & Charisma“, „Irrfahrten – Pilgerfahrten“, „Freundschaft“). Die Mottos greifen die von jeher für die Gruppe bestimmenden, ihre Identität stiftenden Stichworte auf und formulieren den bis dahin allenfalls mitgedachten Slogan aus: „… wo Freundschaft Kultur hat“. Wo man explizit auf geheimnisvolle Ausstrahlungsphänomene aufmerksam machen muss, verliert die Ausstrahlung auch schon ihre Kraft. Marita Keilson-Lauritz sah gerade in dieser Konkretisierung des Leitbilds die Gefahr von Brüchen innerhalb der Gemeinschaft: Als die Zeitschrift in ihrer letzten Phase ihr Imago auf ,Freundschaft‘ umzustellen unternahm, wurde das von den Altgedienten des inneren Zirkels in den Niederlanden übrigens als homoerotisches Outing empfunden, was wahrscheinlich nicht zuletzt daran liegt, dass ,Freundschaft‘ (vriendschap) im Niederländischen als Deckwort eine gewisse Tradition hat.6

Das widersprach sozusagen der „eindeutigen Uneindeutigkeit“7 bei StG, die im Castrum durchaus auch gepflegt wurde, wobei sie keineswegs nur und auch nicht wesentlich auf Fragen zur Sexualität beschränkt war. Thomas Karlauf befürchtete anderes: „Indem sie sich von ihren Ursprüngen lossagte, verlor die Zeitschrift das Wichtigste überhaupt, ihre Authentizität.“8 Möglicherweise war die Aufgabe der „schwebenden Identität“ zugunsten einer ausgesprochenen verhängnisvoll für den Fortbestand des Castrum Peregrini.

6 Marita Keilson-Lauritz, Ende einer Epoche. Schwebende Identität im Geiste Stefan Georges, in: Die Welt v. 24.5.2008, S. 7. 7 Ulrich Raulff in: Literatur im Foyer, SWR, 23.1.2010, 0.00–0.30 Uhr. 8 Thomas Karlauf, Meine Jahre im Elfenbeinturm, in: Sinn und Form 61/2009, März/April, S. 262–271, hier: 271.

8. Institutionelle Rezeption

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Literatur Baumann, Günter, Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Würzburg 1995. Bock, Claus Victor, Besuch im Elfenbeinturm. Reden, Dokumente, Aufsätze, Würzburg 1990. Defuster, Michael u. a., Im Kreis der Freunde. Die Freundeskreise um Gleim, Stefan George und Castrum Peregrini. Eine Ausstellung des Gleimhauses und der Stichting Castrum Peregrini in Zusammenarbeit mit der Stefan George-Stiftung, Halberstadt 2003. Goldschmidt, Manuel R. / Philipp, Michael (Hrsg.), Argonaut im 20. Jahrhundert. Wolfgang Frommel. Ein Leben in Dichtung & Freundschaft. Eine Ausstellung der Stiftung Castrum Peregrini in Verb. mit dem Oberrheinischen Dichtermuseum Karlsruhe 1994, Amsterdam 1994. White, Donald O., Castrum Peregrini and the Heritage of Stefan George, Yale 1963 (Typoskript). Günter Baumann

8.2.

Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen

8.2.1. Geschichte Die Vorgängervereinigung der heutigen Stefan-George-Gesellschaft wurde am 7. April 1976 von Robert Wolff gegründet. Wolff war Rektor des Stefan-GeorgeGymnasiums in Bingen und war dort für die im Gymnasium untergebrachte StefanGeorge-Gedenkstätte verantwortlich. In der Gedenkstätte wurden Bilder und Bücher aus dem Nachlass StGs ausgestellt, bei denen es sich zum einen Teil um Leihgaben der Stefan George Stiftung und aus Privatbesitz handelte, zum anderen Teil gehörten die Exponate dem Gymnasium selbst.1 Letztere waren 1967 von der Stadt Bingen an die Schule – vertreten durch Wolff – übergeben worden; 1968 war dann die Gedenkstätte anlässlich des hundertsten Geburtstags StGs mit dem Segen Robert Boehringers gegründet worden.2 Wolff, selbst George-Verehrer seit seiner Jugend, leitete die Gedenkstätte mit großem Engagement. Auf seine Initiative gingen die mit Spendengeldern finanzierten „Veröffentlichungen der Stefan-George-Gedenkstätte“ zurück. Um der Gedenkstätte einen eigenen Rechtsstatus zu verschaffen, rief Wolff gemeinsam mit weiteren sieben Lehrkräften der Schule die „Gesellschaft zur Förderung der StefanGeorge-Gedenkstätte im Stefan-George-Gymnasium e.V.“ ins Leben. Die Verbindung zum Gymnasium wurde dadurch gewährleistet, dass laut Satzung der jeweilige Schulleiter Mitglied im Vorstand der Gesellschaft sein sollte. Mit der neuen Gesellschaft sollte „die wissenschaftlich-kulturelle Arbeit und die Mittelverwaltung der Stefan-

1 Vgl. Stefan George: Bilder und Bücher aus dem Nachlaß. Mit Katalog der Stefan-George-Gedenkstätte Bingen, bearb. v. Robert Wolff, hrsg. v. Stefan-George Gymnasium Bingen, Heidelberg 1973. 2 Vgl. Robert Wolff, 25 Jahre Stefan-George-Gedenkstätte in Bingen am Rhein, in: Neue Beiträge zur George-Forschung 20/1994, S. 63–67.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

George-Gedenkstätte auf eine rechtlich gesicherte Grundlage gestellt werden.“3 Wolff selbst übernahm die Geschäftsführung; zum Vorsitzenden der Gesellschaft wurde der Deutschlehrer Siegfried Grimm gewählt. Für Irritationen zwischen der kaum aus der Taufe gehobenen Gesellschaft und der George Stiftung sorgte eine Notiz in der Welt vom 26.8.1976, in der missverständlich die Nachricht von der Gründung eines Stefan-George-Zentrums in Bingen verbreitet wurde. Unter den Mitgliedern des Stiftungsrats kursierten daraufhin erregte Briefe. Man befürchtete ein Konkurrenzverhältnis zur neuen Gesellschaft, deren Anspruch als „anmaßend und eigentlich irreführend“4 verstanden wurde. Die Stiftung verlangte daraufhin von Wolff eine Auflistung ihrer der Gedenkstätte anvertrauten Deposita. Wolff bemühte sich zwar, die Wogen zu glätten, doch blieb das Verhältnis zur Stiftung in den nächsten 16 Jahren, während der er die Geschäftsführung innehatte, immer etwas gespannt. Nicht zuletzt deshalb verhinderte der Stiftungsrat zwei Mal die schlichte Umbenennung in „Stefan-George-Gesellschaft“. 1985 wurde Robert Wolff als Schulleiter in den Ruhestand versetzt. Die neue Direktion zeigte sich gegenüber der Arbeit der Gedenkstätte in den Räumlichkeiten des Stefan-George-Gymnasiums wenig aufgeschlossen, versuchte vielmehr, diese zu boykottieren. Die Gedenkstätte zog daher im Sommer 1988 in ein Interimsquartier im Binger Ämterhaus um. Als zukünftige dauerhafte Heimat stellte die Stadt Bingen der Gedenkstätte das in der Nähe des früheren, im Krieg zerstörten George-Hauses gelegene, historische Gebäude ,Haferkasten‘ zur Verfügung, welches jedoch zuerst noch renoviert werden musste. Anlässlich der geplanten Sanierungsarbeiten wurde eine beratende „Kommission für die Gedenkstätte“ eingesetzt, der u. a. der Binger Bürgermeister Erich Naujack und der Präsident der Universität Kaiserslautern Klaus Landfried angehörten.5 Aus diesem sogenannten ,Haferkasten-Gremium‘ heraus wurde im Dezember 1990 zusätzlich zur Gedenkstätten-Fördergesellschaft eine „Stefan-George-Gesellschaft Bingen e. V.“ gegründet, deren Vorsitz Landfried übernahm. Weitere Gründungsmitglieder mit internationalem Renommee waren Hans-Georg Gadamer (der seit Oktober 1990 auch Ehrenmitglied der Gedenkstätten-Fördergesellschaft war), der Germanist Peter Lutz Lehmann (Chicago, langjähriges Mitglied der Gedenkstätten-Fördergesellschaft) und der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Die neue Gesellschaft wollte StG nicht museal verehren, sondern ihn – in Form einer wissenschaftlichen ,Vortragsakademie‘ – jungen Menschen aus aller Welt näherbringen. Nach dem amerikanischen Vorbild eines Center for Creative Writing sollte das neue George-Haus zu einer internationalen Begegnungsstätte werden, wobei George als einer der großen europäischen Dichter die Durchdringung und Vergegenwärtigung der abendländischen Zivilisation in ihrer geschichtlichen Einheit wie in ihrer lebendigen Utopie als beinahe prophetische Figur symbolisieren könnte.6

3 Siegfried Grimm, Die Gesellschaft zur Förderung der Stefan-George-Gedenkstätte im StefanGeorge-Gymnasium Bingen e. V., in: Neue Beiträge zur George-Forschung 3/1979, S. 41. 4 Tula Huber-Simons an G. P. Landmann v. 31.8.1976, StGA. 5 Der Soziologe Landfried hatte 1970 über Stefan George. Politik des Unpolitischen (Heidelberg 1975) promoviert. 6 Hans-Georg Gadamer/Klaus Landfried/Peter Lutz Lehmann, [Vorwort], in: [Aufgaben einer künftigen Stefan-George-Gesellschaft], hrsg. v. der Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen, Kaiserslautern 1991, S. 7.

8. Institutionelle Rezeption

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Bei der Verwirklichung dieses hochgesteckten Ziels sollte ein beratendes Kuratorium, dessen sieben bis 15 Mitglieder auf Lebenszeit berufen wurden, den Vorstand unterstützen. Robert Wolff erfuhr erst im Januar 1992 von der „verborgenen Existenz“7 dieser Gesellschaft mit dem Namen, den er seiner eigenen Gesellschaft gerne gegeben hätte. Eine Zusammenarbeit mit ihr lehnte er ab. So wurde geplant, dass im ,Haferkasten‘, dem nunmehrigen Stefan-George-Haus, mit dessen Renovierung im Mai 1992 begonnen wurde, die Stefan-George-Gesellschaft das Erdgeschoss beziehen sollte; für die Gedenkstätten-Fördergesellschaft war dagegen der erste Stock mit separatem Eingang vorgesehen. Am 8.1.1993 übertrug Wolff jedoch bei der Feier des 25-jährigen Bestehens der Gedenkstätte die Geschäftsführung an seinen am 3.10.1992 gewählten Nachfolger Jörg Müngersdorff, einem Unternehmer und Germanisten aus Mainz. Unter Müngersdorff schlossen sich beide Gesellschaften – mit wohlwollender Billigung der Stefan George Stiftung – nach vielen vorbereitenden Gesprächen am 1.1.1994 zur heutigen „Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen“ zusammen. Die nun stärker wissenschaftliche Ausrichtung der Gesellschaft spiegelte sich u. a. darin wider, dass in den folgenden Jahren dem Vorstand ein Kuratorium, das vor allem aus den Gründungsmitgliedern der aus der ,Haferkasten‘-Kommission hervorgegangenen Stefan-George-Gesellschaft bestand, sowie ein wissenschaftlicher Beirat mit sieben Universitätsprofessoren an die Seite gestellt wurde. 1995 löste Bertram Schefold (Universität Frankfurt/M.),8 der bis dahin den stellvertretenden Vorsitz innehatte, Siegfried Grimm, der schon der Gedenkstätten-Fördergesellschaft vorgestanden war, als langjährigen ersten Vorsitzenden ab. Schefold leitete die Stefan-George-Gesellschaft 14 Jahre lang. Im Oktober 2009 wurde Wolfgang Braungart (Universität Bielefeld) zum Präsidenten der Gesellschaft gewählt. Zweite Vorsitzende ist seit 1995 Gisela Eidemüller, die schon 1976 die Gedenkstätten-Fördergesellschaft mitbegründet hatte. Am 22. Juni 1996 wurde nach vierjähriger Renovierung schließlich das neue StefanGeorge-Haus, das zugleich das Stefan-George-Museum mit der von Müngersdorff konzipierten und zusammen mit dem Mainzer Institut für Mediengestaltung realisierten Dauerausstellung beheimatet, feierlich eröffnet. Nach Rückzug von Müngersdorff liegt seit 1997 die Geschäftsführung bei Gisela Eidemüller; stellvertretende Vorsitzende waren bzw. sind seit 2000 Wolfgang Graf Vitzthum (Universität Tübingen, seit 2009 auch Vorsitzender der Stefan George Stiftung), von 2000 bis 2006 Jürgen Egyptien (Universität Aachen) und seit 2006 Ulrich Raulff (Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach). 8.2.2. Aufgaben Die Aufgaben der Stefan-George-Gesellschaft umfassen im Wesentlichen drei Bereiche, die schon von der Gedenkstätten-Fördergesellschaft wahrgenommen wurden: die 7 Robert Wolff an den Stiftungsrat der Stefan George Stiftung v. 27.1.1992, StGA. Vgl. seinen Brief an Hans-Georg Gadamer v. 5.8.1992, StGA, in dem Wolff mitteilt, dass er von der neuen Gesellschaft erst durch einen versehentlich „irregeleiteten Bankauszug“ Kenntnis erhalten habe. 8 Schefolds Mutter war die Schwester von Helmut und Wolfram von den Steinen (vgl. ¤ Helmut und Wolfram von den Steinen).

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Veranstaltung von Tagungen, die Betreuung der Gedenkstätte bzw. seit 1996 des George-Museums und die Herausgabe von Veröffentlichungen. Auf den satzungsgemäß jährlich stattfindenden Mitgliederversammlungen legt der Vorstand in seinem Geschäftsbericht Rechenschaft über die Aktivitäten der Gesellschaft ab. Seit ihren Anfängen als Gedenkstätten-Fördergesellschaft gibt die Stefan-GeorgeGesellschaft eine eigene Zeitschrift heraus. Die von 1975 bis 1994 in insgesamt 20 Heften erschienenen Neuen Beiträge zur George-Forschung versammelten neben Fachbeiträgen insbesondere Nachrichten der Gesellschaft; die Beiträge richteten sich also dezidiert an die Mitglieder der Gesellschaft und hatten mehr oder weniger den Charakter eines internen Publikationsorgans. Das erste Heft der Neuen Beiträge erschien 1975 noch unter dem Titel Binger Annalen. Zeitschrift für Geschichte und Kultur am Mittelrhein. Erst ab Heft 2 (1977) zeichnete die Gesellschaft als Herausgeberin. Im November 1993 kam mit Heft 19 die letzte Ausgabe der Neuen Beiträge zur George-Forschung unter der Schriftleitung von Robert Wolff heraus. Ab Oktober 1993 koordinierte Müngersdorff das Erscheinen der Zeitschrift, die er nun „zu einem ernstzunehmenden wissenschaftlichen Periodikum“9 ausbauen wollte. Er berief daher einen wissenschaftlichen Beirat ein, zu dessen Mitgliedern u. a. die späteren Herausgeber des George-Jahrbuchs, Wolfgang Braungart (Universität Bielefeld) und Ute Oelmann (Stefan George Archiv Stuttgart), zählten. Im Rundbrief an die Mitglieder der George-Gesellschaft vom November 1993 präzisierte Müngersdorff: Die ,Neuen Beiträge zur George-Forschung‘ sollen zu einem wissenschaftlichen Periodikum und ,Stefan-George-Jahrbuch‘ ausgebaut werden, welches unter bestimmten Bedingungen auch zum Organ für Mitteilungen aus dem Stefan-George-Archiv werden könnte. (StGA)

1994 wurde das letzte Heft der Neuen Beiträge veröffentlicht. Seit Band 1 (1996/97) erscheint das George-Jahrbuch als neues Publikationsorgan im Auftrag der StefanGeorge-Gesellschaft im Zweijahresrhythmus; bisher sind acht Jahrbücher erschienen. Beim Jahrbuch handelt es sich um eine germanistische Fachzeitschrift mit wissenschaftlichen Aufsätzen, Quellenpublikationen aus dem Stefan George Archiv, zahlreichen Rezensionen und einer abschließenden knappen Rubrik „Aus der StefanGeorge-Gesellschaft“, die den Jahresbericht der Geschäftsführung, Nachrufe u. a. umfasst. Im Oktober jeden Jahres findet im Binger George-Haus die Jahrestagung der Stefan-George-Gesellschaft statt, bei der auch die jährliche Mitgliederversammlung abgehalten wird. Es handelt sich dabei jeweils um eine Fachtagung mit spezifischem Themenschwerpunkt zu StG und seinem Kreis. Werden die Tagungsbeiträge außerhalb des Jahrbuchs veröffentlicht, entstehen gleichsam flankierend zur Arbeit der George-Gesellschaft einschlägige wissenschaftliche Sammelbände, wie z. B. der von Wolfgang Braungart und Ute Oelmann herausgegebene Band über Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘ (Tübingen 2001) oder der von Bernhard Böschenstein u. a. verantwortete Band über Wissenschaftler im George-Kreis (Berlin, New York 2005). Auch die frühere Gedenkstätten-Fördergesellschaft veranstaltete bereits Tagungen. Weitreichende Wirkung hatte das 1978 zum 110. Geburtstag StGs von Peter Lutz Lehmann zusammen mit Robert Wolff initiierte Stefan-George-Seminar in Bingen, dessen Vorträge 1979 veröffentlicht wurden. 9 Jörg Müngersdorff an Hans-Peter Geh v. 6.10.1993, StGA.

8. Institutionelle Rezeption

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Neben der Pflege der Gedenkstätte selbst veranstaltete die Gedenkstätten-Fördergesellschaft auch kleinere Sonderausstellungen von wenigen Vitrinen, so etwa über StG als Schüler (1978/79) oder zu Friedrich Gundolf (1981). Die wichtigste Sonderausstellung war die noch mit Rorbert Boehringers Zustimmung zustande gekommene Ausstellung Stefan George in Darstellungen der bildenden Kunst anlässlich des 50. Todestags StGs (Katalog: Heidelberg 1983). Im heutigen Museum wird der Besucher über sieben Großvitrinen mit den Lebensstationen StGs bekannt gemacht; neben StGs Schreibpult und Teilen seiner Bibliothek sind auch Erstausgaben und Lechtersche Prachtausgaben von StGs Werken ausgestellt, des Weiteren Fotos und Porträtplastiken aus dem Kreis. Über aktuelle Termine, die Öffnungszeiten des George-Museums und die Inhalte der Dauerausstellung, über neuere Publikationen und die Möglichkeit, Mitglied zu werden, aber auch über die vergangenen Jahrestagungen seit 2006 (jeweils mit Fotogalerie) gibt die Homepage der Stefan-George-Gesellschaft Auskunft. Birgit Wägenbaur

8.3.

Stefan George Stiftung und Stefan George Archiv

Gemäß einer testamentarischen Bestimmung StGs gründete Robert Boehringer die Stefan George Stiftung, auch als Trägerin des von ihr eingerichteten Stefan George Archivs: Kraft der Errichtungsgenehmigung des Kultusministeriums Baden-Württemberg vom 30. Juli 1959 ist sie eine gemeinnützige Stiftung bürgerlichen Rechts. Der Stefan George Stiftung steht ein Stiftungsrat vor, der aus bis zu sieben Personen besteht. Die Stiftung verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke […]. Sie fördert Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, indem sie im Sinne Stefan Georges der Wirkung seines Werkes dient. Zu diesem Zweck unterhält sie das Stefan George-Archiv, das für Wissenschaftler und Interessenten zugänglich ist.1

Das George Archiv ist Geschäftsstelle der George Stiftung, beide Institutionen haben ihren Sitz in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart. Diese Situierung in einer der größten wissenschaftlichen Bibliotheken Deutschlands mit ihren reichen historischen Beständen, laufenden Neuerwerbungen und einem Kollegium, das sich aus den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen zusammensetzt, ist dabei Grundlage für die erfolgreiche Arbeit von Stiftung und Archiv. So ist das Stefan George Archiv heute nicht nur der zentrale Ort für die internationale George-Forschung und die Erforschung seines Kreises, sondern bietet durch seine breit gefächerten Bestände auch Material zur Erforschung diverser universitärer Fachgeschichten sowie des europäischen Symbolismus und der neuromantischen Bewegungen.

1 Satzung der Stefan George Stiftung, genehmigt vom Regierungspräsidium Stuttgart am 5. November 2001, zit. nach Fünfzig Jahre Stefan George Stiftung, S. 59.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

8.3.1. Zur Geschichte der Stiftung und des Archivs2 Ende der 1920er-Jahre plante StG nicht nur eine Gesamtausgabe seiner Werke, die 1928 bei Georg Bondi in Berlin zu erscheinen begann, sondern führte mit einem engen Kreis von Freunden eine Diskussion über die Gründung einer Stiftung, die das Fortbestehen seines Werkes garantieren und fördern sollte. StG selbst, wie auch seine Geschwister, war ohne Nachkommen, und so sahen erste Überlegungen den Germanisten Max Kommerell sowie die Juristen Johann Anton und Ernst Morwitz, früh ersetzt durch Robert Boehringer, als Erben und zukünftigen Stiftungsrat vor. Dieser Plan misslang, da Kommerell sich von StG abwandte. Ebenso erwies sich eine geplante Stiftungsgründung zu Lebzeiten StGs in der Schweiz („Stiftung zur Fortführung des Werkes von Stefan George“) unter den Reichsgesetzen als nicht möglich, obwohl der aus Winnenden bei Stuttgart stammende Nationalökonom Robert Boehringer, der seit 1905 zum Kreis um StG gehörte, schon drei Jahrzehnte in der Schweiz lebte und in den letzten Lebensjahren StGs dessen juristische und finanzielle Angelegenheiten regelte. Mit dem Testament vom 31. März 1932 benannte StG Boehringer dann gleichwohl zum alleinigen Erben und Nachlassverwalter. Zum Nacherben wurde Berthold Graf Schenk von Stauffenberg bestimmt. Dieser wiederum setzte den ebenfalls aus Stuttgart stammenden Bildhauer Frank Mehnert und Claus Graf Schenk von Stauffenberg als weitere Nacherben ein. Robert Boehringer, der während des Zweiten Weltkriegs in Genf leitend für das Internationale Rote Kreuz tätig war und die Schweizer Staatsbürgerschaft erhalten hatte, arbeitete nach 1945 als Industrieberater.3 Er hat sich mit Engagement dem Werk StGs und dessen Nachlass gewidmet. 1959 gründete er, wie von StG testamentarisch festgelegt, die Stefan George Stiftung als künftige Nachlassverwalterin und Rechtsnachfolgerin StGs sowie, ebenfalls gemäß einer testamentarischen Bestimmung, das Stefan George Archiv. Zentraler Bestand des Archivs war zunächst der Nachlass von StG, der nach dem Tod von StGs Schwester Anna (2. Dezember 1938) und damit noch vor dem Zweiten Weltkrieg zu Robert Boehringer nach Genf gelangte: Dabei handelte es sich vor allem um die Werkhandschriften und umfangreiche Konvolute von Briefschaften. Ein zweiter Teil von StGs Nachlass, Papiere und Bücher umfassend, wurde von Berthold von Stauffenberg in seine Berliner Wohnung, später zu seiner Mutter nach Schloss Lautlingen in Württemberg mitgenommen. Dort wurde dieser Teil Anfang Dezember 1944, nach dem Attentat vom 20. Juli 1944, mit dem Besitz Stauffenbergs von der Geheimen Staatspolizei beschlagnahmt und nach Markkleeberg bei Leipzig, von dort ins Leipziger Völkerschlachtdenkmal verbracht. 1961 gelang es unter schwierigen Umständen, diesen Bestand unversehrt nach Genf zu überführen. Ein von Frank Mehnert vor Kriegsbeginn bei Freunden in Überlingen deponierter Nachlassteil konnte schließlich 1983 mit dem Bestand des George Archivs vereinigt werden. Umfangreiche Korrespondenz bezeugt die Aktivitäten des Erben und der beiden designierten Nacherben Stauffenberg und Mehnert in den Jahren zwischen StGs Tod und dem Tod Stauffenbergs (20. Juli 1944) und Mehnerts (1943): So hatten die Erben der Stadt Bingen als zukünftigen Gedenk- und möglichen Standort eines Archivs das 2 Zur Stiftungsgeschichte vgl. vor allem Fünfzig Jahre Stefan George Stiftung. 3 Vgl. ¤ Robert Boehringer.

8. Institutionelle Rezeption

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Elternhaus StGs überschrieben, das jedoch am 29. Dezember 1944 den Bomben zum Opfer fiel. Auch aus den Jahren vor der Stiftungsgründung sind zahlreiche Briefwechsel zwischen Robert Boehringer und Überlebenden des Kreises im Exil und in Deutschland erhalten: Boehringer ging Briefen StGs und anderen Lebensspuren nach und versuchte, sie für das zukünftige Archiv zu gewinnen. Dies gelang in vielen Fällen, und so konnte schon 1938 der von Boehringer herausgegebene Briefwechsel zwischen StG und Hugo von Hofmannsthal erscheinen. Entscheidend für die Gründung der Stiftung und die Wahl des Archivstandortes war die kurz nach dem Krieg stattfindende Begegnung zwischen Robert Boehringer und dem nach Kriegsende eingesetzten Leitenden Direktor der Württembergischen Landesbibliothek, Wilhelm Hoffmann, der maßgeblich für die Gründung der Großen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe (1941) und des Hölderlin-Archivs im Kloster Bebenhausen verantwortlich war, später Mitbegründer des Deutschen Literaturarchivs und langjähriger Präsident der Deutschen Schillergesellschaft. Er schlug als Sitz von Stiftung und Archiv das Marbacher Literaturarchiv vor, aber Boehringer „wollte mit dem Archiv zu Hölderlin und nach Bebenhausen“, wie Hoffmann schreibt: „Dort war es dann von seiner Gründung 1959 bis zum Jahre 1970, von da an im Neubau der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart […] in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hölderlin-Archiv“.4 8.3.2. Der Archivbestand Das Stefan George Archiv verfügt heute über folgende Bestände: – den Nachlass StGs, bestehend aus Werkhandschriften (393 einschließlich umfangreicher Konvolute), Korrespondenz StGs (ca. 8.950 Stücke), sonstigen Papieren und Dokumenten, seinen nachgelassenen Büchern, Zeitschriften, Zeitungsartikeln und Bildmaterial verschiedenster Techniken; – Fotografien (ca. 3.000) und künstlerische Bildnisse (ca. 900) StGs und der Kreisangehörigen (ein großer Bestand an plastischen Arbeiten befindet sich als Leihgabe im Deutschen Literaturarchiv Marbach); – Nachlässe, Teilnachlässe und Briefschaften von Angehörigen des George-Kreises5 (erschlossen sind bisher ca. 26.500 Schriftstücke);

4 Wilhelm Hoffmann, Das Stefan-George-Archiv, in: Stefan-George-Seminar (Bingen 1978). Eine Dokumentation, hrsg. v. der Gesellschaft zur Förderung der Stefan-George-Gedenkstätte im Stefan-George-Gymnasium Bingen e. V., Heidelberg 1979, S. 115–126, hier: 115. 5 Hauptsächlich die Nachlässe und Bestände Leopold von Andrian, Johann Anton, Hanna BauerHilsdorf, Ernst Bertram, Robert Boehringer, Georg Bondi, Hans Brasch, Erben StGs, Rudolf Fahrner, Mercedes Gaffron, Anna George, Ernst Glöckner, Percy Gothein, Walther Greischel, Ernst Gundolf, Friedrich Gundolf, Kurt Hildebrandt, Hugo von Hofmannsthal, Erich und Fine von Kahler, Ernst Kantorowicz, Walter Kempner, Max Kommerell, Maximilian Kronberger, Edith und Julius Landmann, Melchior Lechter, Frank Mehnert, Kurt Osswald, Karl Josef Partsch, Edgar Salin, Clotilde Schlayer, Kurt Singer, Alexander von Stauffenberg, Berthold von Stauffenberg, Claus von Stauffenberg, Wilhelm Stein, Michael Stettler, Ludwig Thormaehlen, Walter Wenghöfer, Karl Wolfskehl und Friedrich Wolters.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

– das Archiv der BfdK (schon von StG und seinen Freunden angelegt und geführt) sowie die Korrespondenz mit dem Verlag Georg Bondi, Berlin, in dem StGs Werke und die Publikationen seines Kreises seit 1898 erschienen; – Partituren der Vertonungen von Gedichten StGs; – eine Präsenzbibliothek mit sämtlichen Veröffentlichungen der Werke StGs und der mit ihm verbundenen Autoren sowie der von ihm begründeten Zeitschriften, mit umfassendem Bestand der (Forschungs-)Literatur über StG und den George-Kreis, ergänzt durch Übersetzungen der Werke StGs in viele Sprachen.

Bestandserhaltung und Bestandserweiterung gehören zu den zentralen Aufgaben des Archivs. Das gilt für alle oben angegebenen Teilbereiche. So kamen in den letzten Jahren große und bedeutende Nachlässe und Einzelarchivalien ins Archiv. 8.3.3. Erschließung, Benutzung und eigene Forschungsaktivitäten Die Katalogisierung des Nachlasses von StG ist abgeschlossen. Weit fortgeschritten ist die Erschließung von Nachlässen und Beständen von Freunden StGs; einige sehr umfangreiche wie zentrale Nachlässe und Briefschaften harren allerdings noch der Bearbeitung. Bei der Handschriftenkatalogisierung wird Wert auf inhaltliche Einzelerschließung gelegt; im Falle der Korrespondenz StGs wurden zusätzlich Regesten angefertigt. Auch der umfangreiche Bestand an Fotografien und Kunstwerken ist durch eine Datenbank erfasst und kann detailliert durchsucht werden. Die Datenbanken sind vorläufig nur im Stefan George Archiv einzusehen, sollen aber in absehbarer Zeit über das Internet genutzt werden können. Alle im Stefan George Archiv verwahrten Nachlässe und Bestände sind allerdings bereits über die Handschriftendatenbank der Staatsbibliothek zu Berlin (Kalliope) und die Zentrale Datenbank Nachlässe des Bundesarchivs (ZDN) recherchierbar: Findbücher für den Erstzugriff stehen seit 2011 auf der Homepage des Archivs online. Die Stefan George-Bibliographie-online verzeichnet mit ca. 19.000 Titeln die gesamte Literatur zu StG und zum George-Kreis seit 1890. Sie wird laufend aktualisiert und ist über die Homepage der Württembergischen Landesbibliothek abrufbar. Die zugrunde liegende Datenbank ist zugleich Bestandsverzeichnis der Druckwerke im Archiv. Für das Archiv liegen eine Benutzungsordnung und ein Benutzungsantrag vor. Das Archiv ist allgemein zugänglich und steht der wissenschaftlichen Forschung unentgeltlich zur Verfügung (vgl. Benutzungsordnung vom 11. Dezember 2003). Die eigenen Forschungsaktivitäten der Stiftung und des Archivs konzentrieren sich zunächst auf wissenschaftliche Editionen der Werke StGs. So ist das George Archiv Arbeitsstelle für die kritische Ausgabe der Sämtlichen Werke in 18 Bänden6 wie für diverse Briefwechsel StGs. Zudem werden Ausstellungen, Tagungen und wissenschaftliche Publikationen mit Exponaten und Forschungsbeiträgen unterstützt.

6 Stefan George, Sämtliche Werke in 18 Bänden, [hrsg. v. der Stefan George-Stiftung], bearb. v. Georg Peter Landmann u. Ute Oelmann, Stuttgart 1981ff.

8. Institutionelle Rezeption

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Literatur Fünfzig Jahre Stefan George Stiftung, für die Stefan George Stiftung in Verbindung mit Ute Oelmann u. Wolfgang Graf Vitzthum hrsg. v. Christoph Perels, Berlin, New York 2009. Maik Bozza/Ute Oelmann

8.4.

Stefan George und sein Kreis in Ausstellungen

Neben den Dichtergesellschaften und Literaturmuseen des 19. Jahrhunderts haben sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts literarische Ausstellungen als öffentlichkeitswirksame Medien der Literaturrezeption neu herausgebildet.1 Sie erheben Anspruch auf Dokumentation, Präsentation und Deutung von Epochen oder von Leben und Werk einzelner Autoren. Sie intendieren, einerseits eine breitere Leserschaft anzusprechen, indem sie lebensgeschichtliche Realien und Zeugnisse der künstlerischen Produktion und Wirkung möglichst im Original dem gedruckten Werk zur Seite stellen, und andererseits neue Kontexte aufzuzeigen, indem sie literarische und außerliterarische Quellen in einen Dialog bringen. Obwohl die breitenwirksame Struktur von Ausstellungen der inszenierten Exklusivität StGs widerspricht, liegt seit den 1960er-Jahren eine kontinuierliche Rezeption von Leben, Werk und Kreis StGs in literarischen Ausstellungen vor, die neben der 1996 im Stefan-George-Museum in Bingen eingerichteten Dauerausstellung in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden einer interessierten Öffentlichkeit gezeigt wurden. Die bisher mehr als 25 Sonderausstellungen lassen sich nach ihrer Funktion untergliedern in 1. Huldigung und selektive Dokumentation, 2. Werkbiographische Gesamtschau, 3. Thematische Kontextualisierung und 4. Werkbiographische Kontextualisierung des Umfeldes. In ihnen spiegelt sich eine zunehmende Internationalisierung und eine literaturhistorische wie ästhetische Kontextualisierung StGs. 8.4.1. Huldigung und regional-selektive Dokumentation Der „Gedächtnis-Raum für den Dichter Stefan George“, der vom 6. Mai bis 3. Juni 1934 im Rahmen der vierten Sonderausstellung ausgewählter Werke von Melchior Lechter in der Galerie Gurlitt in Berlin gezeigt wurde, war die erste öffentliche Präsentation von Werken, Bildnissen und Autographen StGs. Die 79 Exponate wurden eingeleitet durch die von Lechter 1900 angefertigte Porträtstudie und Bildentwürfe, welche, wie die Gravure nach der Weihe am mystischen Quell, auf einzelne Werke StGs zurückgingen. Der Hauptteil der Schau versammelte in chronologischer Reihe Buchgestaltungen von Lechter in Erstausgaben sowie 14 „Original-Handschriften des 1 Vgl. Stefanie Wehnert, Literaturmuseen im Zeitalter der neuen Medien: Leseumfeld – Aufgaben – Didaktische Konzepte, Kiel 2002, S. 33–40; Susanne Ebeling/Hans-Otto Hügel/Ralf Lubnow (Hrsg.), Literarische Ausstellungen von 1949 bis 1985: Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik: Diskussion, Dokumentation, Bibliographie, München 1991.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

Dichters Stefan George“.2 Die kleine Galerieausstellung zeigte die Wechselbeziehung beider Künstler und machte damit erstmals im Zusammenhang das buchkünstlerische Programm StGs anschaulich. An diese erste Huldigung knüpften unter veränderten Bedingungen in den frühen 1960er-Jahren kleinere Ausstellungen an, die Dokumente und Realien zu ausgewählten Personenkontexten StGs versammelten. So die im Rahmen der ,Holländischen Tage‘ 1964 in Ingelheim gezeigten Zeugnisse der Freundschaft zwischen StG und Albert Verwey und die 1965 in der Volksschule BingenBüdesheim ausgestellten Materialien zur Dante-Rezeption StGs. Im gleichen Jahr fand in Münster, der Heimatstadt Melchior Lechters, eine Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag statt, die das Programm der Berliner Galerieausstellung wieder aufnahm und auf die kongeniale Gestaltung der Bücher StGs durch Lechter einging. Zu den kleineren selektiven Präsentationen gehören auch die Jubiläumsausstellung Bilder und Bücher aus dem Nachlaß zum 40. Todestag in Bingen sowie die Sonderausstellung des George-Museums Stefan George als Schüler (1978/79). Einen regionalen Bezug betonten andererseits die Schweizer Ausstellungen Stefan Georges Literatenkreis in der Universitätsbibliothek Basel 1978 und die von Martin Bircher in Zusammenarbeit mit dem Stefan George Archiv konzipierte Ausstellung Stefan George. Kult und Kunst in Zürich 1997, die StGs Aufenthalte in der Schweiz in den Mittelpunkt rückte. 8.4.2. Werkbiographische Gesamtschau Die erste umfassende Ausstellung zu Leben, Werk und Kreis im zeitgeschichtlichen Kontext fand anlässlich des 100. Geburtstags StGs 1968 im Schillernationalmuseum in Marbach statt. Die vom Deutschen Literaturarchiv unter Leitung von Bernhard Zeller besorgte große Gedenkausstellung Stefan George 1868 – 1968. Der Dichter und sein Kreis (Katalog München 1968) wurde erst möglich, nachdem Robert Boehringer trotz anfänglicher Skepsis als Leihgeber und Berater gewonnen werden konnte. Die Konzeption der Ausstellung setzte Maßstäbe, indem sie einer konsequent werkbiographischen Darstellung folgte, StG in der europäischen Moderne kontextualisierte und die Dichte des spannungsreichen Beziehungsnetzes auf jeder Lebensstufe erkennen ließ. Die Auswahl und Präsentation der Exponate orientierte sich an der George-Monographie Boehringers von 1951, die sich auf einen großen Teil der erstmals zu sehenden Dokumente und Materialien stützt.3 Gegliedert nach drei Schaffensphasen (1868–1900 / 1900–1914 / 1914–1933), die jeweils von zentralen Gedichtbänden markiert werden, bildete die Gedenkausstellung weitgehend StGs Selbstinszenierung in Werketappen ab. Ebenso von Innen heraus wurde der Kreis „der Freunde und Schüler“ als „Arbeitsgemeinschaft“ dargestellt, in deren Mitte StG als Inspirationsquelle wirkte. Die letzte Rubrik StG „im Spiegel der Freunde und im Urteil seiner Zeit“ bot allerdings auch kritische Blicke auf den Dichter und seinen 2 Vgl. Vierte grosse Sonder-Ausstellung in der Galerie Gurlitt von Werken von Melchior Lechter, mit einem Gedächtnis-Raum für den Dichter Stefan George, mit e. Geleitwort v. Wolfgang Frommel, Berlin 1934. 3 Vgl. Ute Oelmann, Wilhelm Hoffmann, der schwäbische Weltbürger, in: Christoph Perels (Hrsg.), Fünfzig Jahre Stefan George Stiftung 1959–2009, S. 35–48, hier: 46.

8. Institutionelle Rezeption

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Kreis. Trotz der strukturellen Nähe von Konzeption und Selbstdeutung fand die Ausstellung eine breite Resonanz. Die Sachlichkeit, mit der die Vielzahl der Dokumente, Bildnisse und Drucke präsentiert wurde, korrigierte einerseits verehrende wie missachtende Stereotype über StG, regte andererseits dadurch die Rezeption und Erforschung des Werks an und lenkte den Blick auf die erstmals in dieser Detaillierung aufgezeigte Gruppenstruktur. An dieser Konzeption orientierte sich auch die Überblicksausstellung Stefan George, die von Hans Peter Althaus und Ulrich Ott an der Universitätsbibliothek Trier aus Anlass des 50. Todestags mit Exponaten einer privaten Sammlung und des Stefan George Archivs bestückt wurde. Neben der Werkbiographie und der Geschichte des Kreises illustrierte ein Teil der 148 Objekte auch die Wirkung von der zeitgenössischen Parodie bis zur Forschung der Gegenwart. Beklagte Althaus im Vorwort zum Ausstellungskatalog noch, dass StGs Werk weitgehend vergessen sei,4 konnte 1995 die große Gesamtschau zu Leben und Werk StGs in Bingen bereits auf eine ganze Reihe von thematischen und personenbezogenen Ausstellungen und Studien aus den 1980er-Jahren aufbauen. Die sieben Vitrinen, die kreisförmig um eine ,cella‘ angeordnet waren, aus der vom Tonband Gedichtrezitationen erklangen, bilden seit 1996 den Kern der Dauerausstellung im George-Museum. Die multimediale Präsentation aus Text-, Ton- und Bilddokumenten bot etwa mit einem Herbarium aus Jugendzeiten und fotografischen Momentaufnahmen Einblicke in das Leben StGs auch jenseits seiner Selbstinszenierung und machte die Brüche einer mit der Moderne konfrontierten Kunstelite sichtbar. 8.4.3. Thematische Kontextualisierung Abgesehen von der Trierer Jubiläumsausstellung war das Gedenkjahr zum 50. Todestag StGs geprägt von einer Reihe thematischer Sonderausstellungen, die Einzelaspekte der Werkbeziehung, Biographie und Rezeption beleuchteten. So stellte Robert Wolff für die Stefan-George-Gesellschaft unter dem Titel Stefan George in Darstellungen der bildenden Kunst in der Kreissparkasse Bingen eine Sammlung von Gemälden, Bronzen und Grafiken zusammen, die von den ersten Porträts aus den 1890er-Jahren bis hin zu Gedenkmedaillen zum Jubiläumsjahr reichten und die bildkünstlerische Verehrung wie Interpretation StGs dokumentierten. Weniger der Person als der Kontextualisierung des Werks war die von der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart besorgte Ausstellung Stefan George und der Symbolismus gewidmet, die ebenfalls zur Wiederkehr des Todesjahrs gezeigt wurde und die internationalen Bezüge im Werk StGs herausstrich. Eingeleitet wurde die Exposition mit StGs Biographie anhand von 92 chronologisch gereihten Exponaten, die überwiegend aus dem Stefan George Archiv stammten, darunter zahlreiche Fotografien und Zeugnisse aus der Jugendzeit. Im Zentrum der Konzeption standen jedoch Fotografien, Briefdokumente und Bücher, die einerseits die Vorgeschichte des europäischen und deutschen Symbolismus veranschaulichten und andererseits die intertextuellen und persönlichen Bezüge zwischen StG und den französischen, belgischen sowie niederländischen Symbolisten offenlegten. Zu Werner Sohnles Konzep4 Vgl. Hans Peter Althaus, Vorwort, in: Ders., Stefan George. Ausstellung zum 50. Todestag, Universitätsbibliothek Trier 1983, S. 5.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

tion der Ausstellung gehörte auch, Formen der habituellen Anlehnung etwa der Münchner Kosmiker oder der Maximin-Verehrung an den französischen Okkultismus zu thematisieren und anhand von Fotografien zu dokumentieren. Die Rubrik „Dichtkunst Georges im Vergleich mit der zeitgenössischen Malerei“ unternahm neben der Kontextualisierung den Versuch einer intermedialen Deutung einzelner Gedichte nach Stilelementen, die mit Bildern von Redon, Beardsley, Gauguin, Böcklin, Delville und anderen in einen Dialog gesetzt wurden. Wie auch in Bingen erweiterte die Stuttgarter Jubiläumsausstellung den Horizont der reinen Literaturausstellung zugunsten einer umfassenderen ästhetischen Auseinandersetzung mit Leben und Werk StGs. Die dritte thematische Ausstellung, die im Jubiläumsjahr 1983 in Amsterdam gezeigt wurde, griff die 1964 in Ingelheim gezeigte Beziehung zu Verwey auf und zeugte von dem zum 50. Todestag vorherrschenden Bemühen um eine Internationalisierung StGs. Die vor allem aus dem Verwey-Archiv der Universitätsbibliothek bestückte Schau Stefan George und Holland (Katalog Amsterdam 1984) untermauerte mit mehr als 180 Objekten zwar vornehmlich die Dichterfreundschaft mit Verwey, ergänzte die Perspektive aber auch um neue Aspekte, wie die niederländische George-Rezeption und die Beziehung zu Jan Toorop. In jüngster Zeit knüpften Ausstellungen einerseits an die Modelle einer thematisch selektiven Aufbereitung von Leben, Werk und Wirkung an, andererseits gewann aber auch die mediale Inszenierung ein zunehmendes Gewicht, um neue Perspektiven auf StG zu eröffnen. So wurden 2003 im Gleimhaus in Halberstadt in Zusammenarbeit mit der Stiftung Castrum Peregrini die Struktur der Freundeskreise von Johann Wilhelm Ludwig Gleim und StG historisch vergleichend gegenübergestellt und um das Nachleben der Kreisstruktur im Castrum Peregrini in Amsterdam ergänzt. Die Ausstellung führte damit die seit der großen Werkschau in Marbach angestoßene Diskussion um das Beziehungsgeflecht im Umfeld StGs im historischen Vergleich weiter. Damit konnte das Klischee von der Singularität des Kreises korrigiert und die soziale Gruppenstruktur neu beleuchtet werden. Auch die 2007 von Hans-Michael Koetzle und Ulrich Pohlmann in der Fotoabteilung des Münchner Stadtmuseums gezeigte Ausstellung Münchner Kreise. Der Fotograf Theodor Hilsdorf 1868–1944 (Katalog Bielefeld 2007) betonte den gesellschaftlichen Kontext, in dem sich der George-Kreis neben anderen etablierte. Das noch in Marbach 1968 vorgestellte Bild vom Kreis, dessen Mitte StG als Inspirationszentrum bildete, wurde in den nachfolgenden Ausstellungen dahingehend modifiziert, dass an die Stelle eines symmetrischen mehrere Kreise traten, die sich teilweise überschnitten. In diese Gruppe von Ausstellungen, die sich einzelnen Aspekten verpflichtet haben, gehört auch die im Rahmen der 48. Stuttgarter Antiquariatsmesse gezeigte Schau Das doch nicht äusserliche (Katalog Stuttgart 2009) zur Schrift- und Buchkunst StGs, die vom Stefan George Archiv unter Leitung von Ute Oelmann zusammengestellt wurde und die den buchkünstlerischen und typographischen Stilwillen StGs auch unabhängig von der Zusammenarbeit mit Melchior Lechter in seiner Modernität vor allem an Titelblättern aus allen Schaffensphasen beleuchtete. In der ersten ganz ohne Textzeugnisse auskommenden Literaturausstellung Das geheime Deutschland. Eine Ausgrabung (Katalog Marbacher Magazin 121/2008), die 2008 annähernd 200 Köpfe, Büsten und Porträtskulpturen aus dem George-Kreis im Literaturmuseum der Moderne in Marbach zeigte, wurden die Köpfe auf einem

8. Institutionelle Rezeption

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Podest so arrangiert, dass der Kreis als Feld im soziologischen Sinn Bourdieus anschaulich wurde. So rätselhaft der Zweck der Porträtplastiken schien, die seit dem Ersten Weltkrieg im Kreis zunächst von Thormaehlen, später auch von Zschokke und Mehnert ausgeführt wurden, so deutlich wurde in ihrer ikonographischen Vergleichbarkeit die Dichte und wechselseitige Verflechtung des Feldes.5 Die archäologische Ästhetik der Präsentation dokumentierte wortlos, was in werkbiographischen Ausstellungen zum Umfeld StGs seit den 1960er-Jahren erarbeitet wurde: die literatursoziologische Beschreibung eines Feldes wechselseitiger künstlerischer wie persönlicher Abhängigkeiten. 8.4.4. Werkbiographische Kontextualisierung des Umfelds Bereits die ersten Ausstellungen zu Melchior Lechter in Münster 1965 und Karl Wolfskehl in Darmstadt und London 1969, die noch weitgehend unabhängig vom Gedenken an StG konzipiert waren, widmeten einzelne Rubriken dem Kreis um StG, thematisierten ihn jedoch, wie insbesondere die Ausstellung zu Wolfskehl zeigte, aus der Perspektive des Einflusses, der von StG und seinen Schülern ausging, während die Wechselbeziehung nur am Rande behandelt wurde.6 Dies änderte sich in den 1980erJahren, als einzelbiographische Darstellungen zu Max Kommerell, Paul Ge´rardy und Lechter den Fokus auf das Wirken im Umfeld StGs legten. Wie schon die Jubiläumsausstellungen in Amsterdam und Stuttgart dokumentierte 1985 auch die von JörgUlrich Fechner für das Belgische Haus in Köln konzipierte Erinnerungsschau am Beispiel des Dichterfreunds Ge´rardy den internationalen Kontext von Leben und Werk StGs (Katalog Lie`ge 1985). Aus der Perspektive des Bruchs bot im gleichen Jahr die Marbacher Ausstellung zu Max Kommerell (Katalog Marbacher Magazin 34/1985) Einblicke in die innere Struktur des Bundes und deckte am Fall des einstmaligen Lieblingsjüngers Anziehung und Abstoßung als Wirkprinzipien auf. Die Ausrichtung auf Kommerells Verhältnis zu StG überdeckte allerdings weitergehende kollektivbiographische Interpretationen des Lebenswegs.7 Zwei groß angelegte Sonderausstellungen Melchior Lechter in heutiger Zeit und Melchior Lechters GegenWelten, die 1988 und 2006 im Westfälischen Landesmuseum und der Kunstbibliothek in Berlin gemeinsam mit der Stiftung Castrum Peregrini gezeigt wurden, konnten trotz des werkbiographischen Fokus aufgrund der erweiterten Zahl an Exponaten auch Lechters Affinität zu StG und der Dichtkunst deutlicher veranschaulichen,8 als 5 Vgl. Wilhelm Trapp, In Ewigkeit, starr und schön. Der Dichter Stefan George und all seine Köpfe: Eine Ausstellung, die so befremdend wie aufregend ist, in: Die Zeit Nr. 13 v. 19.3.2008. 6 Vgl. Manfred Schlösser, Karl Wolfskehl. 1869–1969. Leben und Werk in Dokumenten. Katalog zur Ausstellung, Darmstadt 1969, S. 70–143. Diese Gewichtung bestimmte auch noch die Gedenkausstellungen zum 30. Todestag in der Saalbau-Galerie Darmstadt und der Universitätsbibliothek Bonn. 7 Vgl. zur Schlüsselrolle Kommerells für die Darstellung des Kreises Frank Schirrmacher, Ein Abtrünniger im Zelt des Magiers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24.8.1985 und zur Kritik an der Ausrichtung auf StG Wilfried F. Schoeller, Erinnerung an ein fernes Genie, in: Süddeutsche Zeitung v. 9.8.1985. 8 Vgl. Jürgen Krause/Sebastian Schütze (Hrsg.), Melchior Lechters Gegen-Welten. Kunst um 1900 zwischen Münster, Indien und Berlin, Münster 2006, hier vor allem S. 128–205.

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III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises

dies in der vom Westfälischen Kunstverein veranstalteten Gedenkausstellung zum 100. Geburtstag 1965 gelungen war. Eine Sonderrolle in der Erschließung des Umfeldes von StG besitzt die 1977 zuerst in Hamburg, danach in Berlin, Bochum, Darmstadt und Karlsruhe gezeigte Wanderausstellung 25 Jahre Castrum Peregrini Amsterdam. Dokumentation einer Runde (Katalog Hamburg 1977). Die gemeinsam von der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg und der Stiftung Castrum Peregrini unter Leitung von Karlhans Kluncker besorgte Auswahl zeigte darüber hinaus Exponate, die das Nachwirken StGs in Zeugnissen und Arbeiten von Ludwig Derleth, Friedrich Gundolf, Karl Wolfskehl, Edith Landmann bis zu Wilhelm Fraenger, Konstantin Kavafis und Donato Gianotti dokumentieren. Thorsten Fitzon

IV. Personen

Vorbemerkung Dem vierten Teil dieses Handbuchs fällt die Aufgabe zu, einen kompakten Überblick über Leben und Werk aller Personen zu geben, die zum engeren und weiteren Kreis um StG gehörten bzw. für dessen Lebensweg eine Rolle spielten. Dazu haben sich die Herausgeber, die diesen Teil gemeinsam koordiniert haben, auf einige Vorgaben verständigt, die zwar im Einzelfall flexibel gehandhabt werden konnten, gleichwohl Auswahl und Gewichtung bestimmt haben. Ohne hier näher in die Diskussion über den Kreisbegriff einzutreten, lässt sich doch so viel sagen, dass er auf ein soziales Beziehungsgeflecht abstellt, in dem sich, um es mit den Soziologischen Grundbegriffen Max Webers auszudrücken, „ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer“1 manifestiert. Ausgehend von diesem Verständnis wurden aus dem Personenlexikon alle Fälle von bloß einseitiger Orientierung ausgeschieden, also sowohl diejenigen Personen, denen StG eine bestimmte Bedeutung zugemessen hat, ohne dass daraus eine Beziehung entstanden wäre, als auch diejenigen, die sich einseitig an StG orientiert haben, ohne bei ihm Resonanz zu finden. Aus dem verbleibenden Beziehungsgefüge wurden diejenigen herausgehoben, die über die Ebene rein persönlicher Kontakte hinaus ein gewisses literatur- und kulturgeschichtliches Interesse beanspruchen können, was wiederum eng mit einem bestimmten Maß an entsprechender Produktivität bzw. ,Objektivierung‘ zusammenhängt. Diese Kriterien sind zweifellos dehnbar und der Gefahr subjektiver Willkür ausgesetzt, in einigen Fällen auch nicht streng durchzuhalten, doch stehen bessere nicht zur Verfügung. Immerhin wird die Willkür dadurch eingegrenzt, dass in der Forschung seit vielen Jahren eine gewisse Übereinstimmung im Hinblick auf die als bedeutsam anzusehenden Personen besteht, auf die die Auswahl hier Bezug nehmen kann. Erheblich größere Schwierigkeiten bereitete die Gewichtung, weil es hier darauf ankam, die Auswahlprinzipien (wechselseitige und objektive Bedeutsamkeit) ins Verhältnis zu setzen. Zwar ließe sich argumentieren, dass es sich bei der Welt StGs nach der übereinstimmenden Sicht der Beteiligten um ein zentriertes Beziehungsgefüge handelte, in dem Nähe und Abstand zum Zentrum die Rangordnung bestimmten. Eine solche Sichtweise würde jedoch nur die Akteursperspektive reproduzieren und unerwünschte Effekte erzeugen: lange Artikel über, aus einem gewissen Abstand betrachtet, vergleichsweise unbedeutende Figuren wie z. B. Walter Anton und kurze über intellektuelle ,Schwergewichte‘ wie Simmel oder Klages. Vor allem um eine Aufwertung von Belanglosigkeiten zu vermeiden, musste deshalb neben der Akteursperspektive (auf die sicher nicht verzichtet werden kann) die objektive Signifikanz berücksichtigt werden, die sich freilich nicht auf ein Werturteil gründet, sondern lediglich auf die Tatsache, dass ein gewisses Maß an Objektivierung sowie eine damit verbundene Beachtung, mindestens innerhalb des Kreises, vorliegen. 1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., rev. Aufl., Studienausgabe, hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1976, S. 13.

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Vorbemerkung

Für die Gewichtung wurde der Umstand genutzt, dass beide Kriterien auf eine starke wie auf eine schwache Weise erfüllt sein können. Daraus ergeben sich vier Merkmalskombinationen: – ,hohe Intensität der Beziehung zu StG‘ und ,hohe literatur- und kulturgeschichtliche Bedeutung‘ (A); – ,hohe Intensität der Beziehung zu StG‘ und ,geringe literatur- und kulturgeschichtliche Bedeutung‘ (B1); – ,schwache (d. h. kurzfristige, über andere Personen vermittelte oder auf einen engen Funktionsbereich eingeschränkte) Beziehung zu StG‘ und ,hohe literatur- und kulturgeschichtliche Bedeutung‘ (B2); – ,schwache (d. h. kurzfristige, über andere Personen vermittelte oder auf einen engen Funktionsbereich eingeschränkte) Beziehung zu StG‘ und ,geringe literatur- und kulturgeschichtliche Bedeutung‘ (C). Für Personen der Kategorie A wurden Artikel im Umfang von zwölf Spalten vorgesehen, für Personen der Kategorie C vier Spalten. Personen der Kategorien B1 und B2 erhielten je acht Spalten. Aufgrund der unterschiedlichen Materiallage ließen sich diese Vorgaben nicht immer durchhalten (so variiert der Umfang etwa bei C-Artikeln zwischen 3,5 und 6 Spalten), doch waren damit immerhin Richtwerte gegeben, an denen sich die Verfasserinnen und Verfasser orientieren konnten. Sämtliche Personenartikel folgen einem einheitlichen Aufbau nach den Rubriken ,Person und Werk‘ bzw. nur ,Zur Person‘ und ,Verbindung zu StG und seinem Kreis‘ (in manchen Fällen auch nur ,Verbindung zu StG‘), mit dem Schwerpunkt auf der zuletzt genannten Rubrik. Diese bildet auch den Referenzpunkt für die Auswahlbibliographien und die Hinweise auf vorhandene Nachlassbestände, insbesondere Korrespondenzen.

Andreae, Friedrich

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Andreae, Emil Friedrich Adolf

Person und Werk geb. am 12.10.1879 in Magdeburg. gest. am 17.1.1939 in Breslau, begraben im Familiengrab in Magdeburg. religionszugehörigkeit: evang. vater: Hans (gest. 1901), Reeder und Besitzer mehrerer Schiffe der Elbe-Fluß-Schiffahrt. mutter: Martha, geb. Müller (gest. 1940). geschwister: ¤ Wilhelm (1888–1962); Hannah, verh. Ackermann. ehefrau: Maria, geb. Reichl, Tochter eines jüd. Bankiers aus Prag, eheschliessung: um 1910/11 (emigrierte 1939 nach England). kinder: Lida Maria Renate, verh. Milne (geb. 1.12. 1916).

A. besuchte ab 1890 das Gymnasium zum Kloster Unser Lieben Frauen in Magdeburg, wo Kurt Hildebrandt sein Klassenkamerad war. Nach dem Abitur Ostern 1900 begann er im Wintersemester 1900/01 in München ein Studium der Geschichte, Nationalökonomie, Literatur- und Kunstgeschichte und Philosophie. Zum Sommersemester 1901 wechselte A. nach Berlin, um

dort u. a. bei Kurt Breysig, Max Lenz und Theodor Schiemann Geschichtswissenschaft mit Schwerpunkt auf osteuropäischer Geschichte zu studieren. Er unternahm zwei Studienreisen nach St. Petersburg. Am 12. August 1905 wurde er bei Max Lenz mit einer Arbeit über die Krisen in der preußisch-russischen Politik vor der Zweiten Polnischen Teilung promoviert. Von 1902 bis 1908 war A. Mitglied des neugegründeten Seminars für osteuropäische Geschichte und Landeskunde in Berlin. 1909 verlobte er sich mit der Gymnasiastin Maria Reichl, dere