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German Pages 219 [222] Year 2017
Geschichte Franz Steiner Verlag
h i s to r i s ch e m it te i lu ng en – b e i h e f t e 9 7
Frederick Bacher
Friedrich Naumann und sein Kreis
Frederick Bacher Friedrich Naumann und sein Kreis
h i s to r i s c h e m it t e i lu n g e n – b e i h e f te Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V. herausgegeben von Jürgen Elvert
Wissenschaftlicher Beirat: Winfried Baumgart, Michael Kißener, Ulrich Lappenküper, Ursula Lehmkuhl, Bea Lundt, Christoph Marx, Jutta Nowosadtko, Johannes Paulmann, Wolfram Pyta, Wolfgang Schmale, Reinhard Zöllner
Band 97
Frederick Bacher
Friedrich Naumann und sein Kreis
Franz Steiner Verlag
Veröffentlicht mit finanzieller Unterstützung des Vereins der Freunde des Historischen Instituts der Universität Stuttgart e. V.
Umschlagabbildung: Max Liebermann, „Der Theologe und Sozialpolitiker Friedrich Naumann“ © bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Bild-Nr.: 00032124. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Univ.-Diss., Stuttgart D 93 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11672-5 (Print) ISBN 978-3-515-11677-0 (E-Book)
„Wie er etwas sagt und sich dabei zur Schau stellt, nicht was er sagt, ist das, das meine Bewunderung herausfordert, dachte ich.“ (Thomas Bernhard)
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort................................................................................................................
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Einleitung ............................................................................................................ 11 I. Der Pastor Naumann als Prediger in seiner Zeit ........................................ 19 II. Genesis des Naumann-Kreises ................................................................... 32 III. Exkurs über das Charisma (I): Die geistigen und körperlichen Gaben Naumanns ..................................... 50 IV. Exkurs über das Charisma (II): Die Ästhetik der Performativen ................................................................. 67 V. Ein Liberaler im Deutschen Reichstag....................................................... 80 VI. Charisma (III): Die Ästhetisierung des Politischen ............................................................ 97 VII. Naumann im Kriege. Erfolg und körperlicher Zerfall ............................... 111 VIII. Der überparteiliche Parteiführer in den Wirren der Nachkriegszeit (1918–1919) ............................................................................................... 128 IX. Naumanns Nachleben ................................................................................ 147 X. Naumann in der Zeit des Nationalsozialismus........................................... 160 XI. Exkurs über das Charisma (IV): Der Naumann-Erbe Theodor Heuss ........................................................... 173 XII. Vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. Naumann als objektivierte Kultur .............................................................. 184 Fazit..................................................................................................................... 193 Zusammenfassung/Summary .............................................................................. 197 Quellen- und Literaturverzeichnis ...................................................................... 199 Abbildungsverzeichnis........................................................................................ 215 Personenregister .................................................................................................. 217
VORWORT Das vorliegende Werk ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Doktorarbeit, die im Dezember 2015 von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Stuttgart angenommen wurde. Zuallererst möchte ich mich bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Wolfram Pyta bedanken. Er stand mir nicht nur mit fachlichen Ratschlägen während meines ganzen Studiums zur Seite, sondern brachte mir überhaupt erst bei, was es heißt, wissenschaftliche Forschung zu betreiben. Ohne die langjährige Tätigkeit als studentische Hilfskraft an seinem Lehrstuhl hätte ich bestimmt einen anderen Weg eingeschlagen. Besonders danken möchte ich darüber hinaus Dr. Carsten Kretschmann und Dr. Frieder Günther. Beide unterstützten mich unermüdlich mit vielfältigen Hinweisen und Anmerkungen. Danken möchte zudem Prof. Dr. Ursula Rombeck-Jaschinski, Dr. Norman Domeier, Dr. Michael Matthiesen, Dr. Peter Theiner, PD Dr. Martin Cüppers, Prof. Dr. Joachim Radkau, Dr. Thomas Hertfelder, Christiane Ketterle, Ruth Maier, Ingrid und Wolfgang Zeh sowie allen Bibliothekaren und Archivaren, ohne die das Suchen, Finden, Entziffern und Transkribieren viel schwieriger gewesen wäre. Trotz finanziellen Engpässen denke ich gerne an die Zeit der Promotion zurück. Auf dem Prenzlauerberg konnte ich mir in der Schlussphase der Promotion zum Beispiel ein Refugium errichten, das nur aus beschriebenen Zetteln, Büchern, dem Rauschen meines Notebooks und dem blauen Dunst des Zigarettenrauchs bestand. Zum Glück gab es zu diesem Zeitpunkt viele Menschen, auf die ich immer zählen konnte. Florian Krauss, Sebastian Graf, Jochen Moravek, Fabian Zeh, Jörg Freitag, Simon Heinze, Rebecca Ohlenburg, Samuel Knapp und Jasmin Huber: Danke, dass ihr immer für mich da wart. Widmen möchte ich die vorliegende Arbeit meinen Eltern. Trotz Scheidung, konnte ich mich immer glücklich schätzen, solche Eltern zu haben. Besonders mein Vater entpuppte sich während seines wohlverdienten Ruhestandes zu einem echten Historiker. Hierfür noch einmal herzlichen Dank. Stuttgart, im Herbst 2016 Frederick Bacher
EINLEITUNG Friedrich Naumann war zu seinen Lebzeiten eine schillernde Gestalt. Zu seinem 50. Geburtstag am 25. März 1910 bedankten sich einige Leser der ‚Süddeutschen Monatshefte‘ mit einer kleinen Erzählung bei ihm für sein bisheriges Lebenswerk. In dieser fiktiven und liebevollen Geschichte reist ein Japaner namens Kibu mit dem Zug von Stuttgart nach Berlin. Auf der Fahrt lernt er allerlei Leute kennen, lauscht den Unterhaltungen und notiert das Gehörte eifrig in sein Notizbuch. In Berlin angekommen, berichtet er einem Landsmann von der Zugfahrt: „Friedrich Naumann, anscheinend bedeutender Religionslehrer im Deutschen Reich; anscheinend bedeutender Redner unter den Deutschen; anscheinend politischer Neuerer; anscheinend deutscher Natur- und Kunstverständiger. […] Dichterische Kraft; anscheinend alles in allem genommen ein prächtiger deutscher Mann – – Wer ist Friedrich Naumann?“1 Für die Autoren der in München erschienenen Kulturzeitschrift war Naumann schlichtweg ein außergewöhnliches Multitalent. Als Naumann am 24. August des Jahres 1919 an einem Schlaganfall in Travemünde starb, griffen unzählige Naumannianer zur Feder, um ihrem „politischen Lehrer und Führer“2 die letzte Ehre zu erweisen. So würdigte auch der Naumannianer Wilhelm Hausenstein in einer stilistisch glänzend formulierten Schrift den seiner Meinung nach „stärkste[n] Ideologe[n] des wilhelminischen Deutschland[s].“3 Doch ging es dem Reiseschriftsteller und Essayisten weniger darum, das Leben des einstigen Pastors nachzuzeichnen; vielmehr versuchte der studierte Kunsthistoriker „das Geheimnis [der Naumannschen] Dimension“4 zu lüften. Hausenstein ging es in diesem Essay in erster Linie um Naumanns „erschütternde Wirkung auf die Psyche des einzelnen Zuschauers,“5 der auch er erlegen war. Er wollte eine Erklärung dafür finden, weshalb sich ein Kreis um Naumann bildete, dem auch er Jahrzehnte angehörte: „Sie kamen, scharten sich um ihn […] und fanden in ihm den Mittelpunkt einer politischen Kristallisation.“6 Der 1882 geborene Wilhelm Hausenstein lernte einen weiteren Naumannianer im Jahre 1903 in München im Zuge einer Vorlesung des Nationalökonomen Lujo Brentano kennen: Theodor Heuss. Neben den Vorlesungen bei Brentano, der Theodor Heuss’ Doktorvater war, hörte Hausenstein auch Vorlesungen in Geschichte bei dem Naumannianer Walter Goetz. Der auch körperlich auffallende Friedrich Naumann war zu dieser Zeit auf Agitationsreise; in den Zentralsälen an der Neu1 2 3 4 5 6
Anonymus, Notizen, in: Süddeutsche Monatshefte, 7 (1910), Erster Band, S. 441–444, hier S. 444. Otto Nuschke, Führer des Volks. Friedrich Naumann (Heft 3/4), Berlin 1919, S. 13. Wilhelm Hausenstein, Naumann in seiner Zeit, in: Der Neue Merkur. Monatshefte, Dritter Jahrgang 1919–1920, S. 420–433, hier S. 421. Ebd., S. 425. Ebd., S. 424. Ebd., S. 426 f.
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turmstraße in München stand er auf dem Podium: „Alsbald aber tauchte hinter dem Namen und der weißbärtigen, warmäugigen Erscheinung Brentanos ein anderer Name, eine andere Gestalt auf, wahrhaftig nicht minder imponierend und für uns Studenten in einem spezifischen Sinne sogar noch stärker bestimmend. Es war Friedrich Naumann […] – gewichtig als geistige und moralische wie als körperliche Erscheinung. […] An der Spitze der Schar lernender junger Männer, die den antiken Mann in München umgaben, standen Sie selbst.“7 Am 4. Juli 1953 wurde Wilhelm Hausenstein zum ersten deutschen Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Paris ernannt, bevor er zuvor bereits von Heuss als Generalkonsul in Paris vorgeschlagen wurde.8 Wenige Monate später hielt er zu Ehren des Geburtstages seines Freundes Theodor Heuss am 30. Januar 1954 eine Ansprache. Erstaunlich ist, dass der Name Friedrich Naumann noch immer in jedem zweiten Satz auftauchte und als das Bindeglied ihrer gemeinsamen Geschichte fungierte: „Friedrich Naumann war für Theodor Heuss wie für alle jungen Männer, die in jenem Kreise standen, wie zum Beispiel auch für den Archäologen Ludwig Curtius, die Historiker Walter Goetz und Max Maurenbrecher, den Mediziner Georg Hohmann, den Schriftsteller Wolf Dohrn, wie endlich für viele andere, zu denen auch ich mich rechnen durfte, – ich sage: Friedrich Naumann war für alle jungen Männer seines Kreises ein Lehrer ohnegleichen. Niemand, der das erste Jahrzehnt unseres inzwischen so unheimlich veränderten Jahrhunderts als Student nicht mehr miterlebt hat, kann sich von der die Geister der Jünglinge formenden Gewalt Naumanns eine zureichende Vorstellung machen. […] Die gehobenen Gedanken zur deutschen Politik in des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn wurden von Naumann mit ungeheurer sachlicher und formaler Intensität, mit großartiger Beredsamkeit vorgetragen. Theodor Heuss nun wurde sein Lieblingsschüler. Er redigierte dem verehrten Lehrer alsbald denn auch dessen Zeitschrift ‚Die Hilfe‘.“9 Auch nach Naumanns Tod wurde diese Wochenzeitschrift von Seiten der Naumannianer weitergeführt. Das Herausgebergremium der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ teilte selbst noch im verhängnisvollen Jahr 1933 in einem Rundbrief mit, dass es nun an der Zeit sei, „den Gang der deutschen Politik und die Entwicklung des deutschen Geistes aus der Gesinnung heraus zu verfolgen, die Friedrich Naumann in seiner großen Anlage gegeben und uns hinterlassen hat.“10 Neben der konsequenten Weiterführung der von Friedrich Naumann 1895 gegründeten Zeitschrift folgte durch den Lieblingsschüler Heuss 1937 ein weiterer Schritt, um das Erbe Naumanns zu bewahren: Dessen Biographie „Friedrich Naumann. Der Mann, das 7 8 9 10
Wilhelm Hausenstein, Theodor Heuss, in: Begegnungen mit Theodor Heuss, hg. v. Hans Bott u. Hermann Leines, Tübingen 1954, S. 274–280, hier S. 274 f. Vgl. dazu Ernst Wolfgang Becker u. Martin Vogt, Einführung, in: Theodor Heuss, Theodor Heuss, Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954, hg. u. bearb. v. Ernst Wolfgang Becker, Martin Vogt u. Wolfram Werner, Berlin 2012, S. 25. Wilhelm Hausenstein, Theodor Heuss. Ansprache zu seinem siebzigsten Geburtstag vor den Deutschen in Paris am 30. Januar 1954 gehalten, abgedruckt in: Ders., Pariser Erinnerungen, Aus fünf Jahren diplomatischen Dienstes 1950–1955, S. 234. Rundschreiben an die Freunde der ‚Hilfe‘, in: Theodor Heuss, In der Defensive. Briefe 1933– 1945, hg. u. bearb. v. Elke Seefried, München 2009, S. 133.
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Werk, die Zeit“11 war das „Vermächtnis der Naumanngemeinde“ schlechthin, das die Freunde wieder in die „gemeinsame Zeit des gemeinsamen Kampfes für […] Volk und Vaterland“12 führen sollte. Sicherlich dachte damals niemand daran, dass der eben genannte Autor dieses Werkes 1949 der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland werden sollte: ein Schüler Naumanns als Staatsoberhaupt. 1958 wurde auf Initiative von Heuss die ‚Friedrich Naumann-Stiftung‘ gegründet, die sich auch heute noch zur Aufgabe macht, „allen Interessierten, insbesondere der heranwachsenden Generation, Wissen im Sinne der liberalen, sozialen und nationalen Ziele Friedrich Naumanns zu vermitteln.“13 Friedrich Naumann ist nun zur objektivierten Kultur14 geworden, denn die Zeitzeugen und Schüler Naumanns sollten bald verstummen, da die letzten von ihnen verstarben. Der Historiker und Literaturwissenschaftler Ulrich Raulff hält in seinem Werk über das Nachleben des George-Kreises Ausschau nach den „elementaren Bindekräften“ einer Gruppe und benützt zu diesem Zweck das begriffliche Instrumentarium Émile Durkheims, dem „ideale[n] Soziologe[n] des George-Kreises.“ Der ideale Soziologe des Naumann-Kreises heißt ohne Zweifel Max Weber, der Spiritus Rector der ‚Verstehenden Soziologie‘, welcher selbst zu denjenigen gehörte, die mit Friedrich Naumann in enger Verbindung standen. Das Ziel dieser vorliegenden Arbeit ist es, die elementaren Bindekräfte des Naumann-Kreises in der Zeit von 1896 bis 1958 aufzuzeigen und daher gewissermaßen in Anlehnung an Raulff zu fragen, was den Kreis um Naumann eigentlich über all die Jahre zusammenhielt.15 Die zwischen Kultur- und Politikgeschichte angesiedelte Arbeit über den Naumann-Kreis soll daher von drei Fragestellungen geleitet werden. Erstens gilt es, sich mit der Wirkungsmächtigkeit Naumanns auseinanderzusetzen. Was war das Besondere an Friedrich Naumann? Nur auf diesem Wege können die Mechanismen der Vergemeinschaftung (zweite Frage) aufgezeigt werden, die dazu führten, dass sich um Friedrich Naumann ein nach ihm benannter Kreis bildete. Die begriffliche Offerte, die den Erkenntniszuwachs für die ersten beiden Fragestellungen der Dissertation bereithält, ist das von Max Weber entwickelte Charisma-Konzept. Anhand der bildenden Figur Friedrich Naumann kann mit Hilfe kulturwissenschaftlicher 11 12 13 14 15
Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, Stuttgart 1937. Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus (hinfort SBTH), Nachlass Heuss, N 1221, 55 (=Bundesarchiv Koblenz, hinfort BArch), Willy Dürr an Theodor Heuss am 12. Dezember 1937. Die Stiftungsurkunde der Friedrich Naumann Stiftung ist abgedruckt bei: Monika Faßbender, „… auf der Grundlage des Liberalismus tätig.“ Die Geschichte der Friedrich-Naumann-Stiftung, Baden-Baden 2009, S. 226. Vgl. Wulf Kansteiner, Postmoderner Historismus – Das kollektive Gedächtnis als neues Paradigma der Kulturwissenschaften, in: F. Jaeger und J. Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2, Stuttgart 2004, S. 123. Die schöne Formulierung Ulrich Raulffs lautet: „Zu den wunderbaren Kinderfragen, die der Soziologie in ihrer Jugend keine Ruhe ließen, bis sie, wie alle erwachsenen und erfolgreichen Wissenschaften, es vorzog, sich auf Methodendiskurse zu kaprizieren, gehörte die Frage nach den elementaren Bindekräften der Gesellschaften: Was hält den Laden eigentlich zusammen?“ In: Ders., Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 245 f.
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Ansätze die Genese des Charisma aufgezeigt werden. Drittens gilt es, sich mit dem Nachleben Naumanns auseinanderzusetzen und dabei gezielt zu fragen, was den Kreis nach dem Tod Naumanns eigentlich noch am Leben hielt. Durch das von Jan und Aleida Assmann entwickelte Konzept des kommunikativen bzw. kulturellen Gedächtnisses soll diese Form der Traditionsbildung und Mythenbildung systematisch veranschaulicht werden. Das Projekt über „Friedrich Naumann und sein Kreis“ erstreckt sich daher über einen Zeitraum von siebzig Jahren, in denen sich die zu untersuchende Gruppe immer wieder aufs Neue den wandelnden Kontexten anpassen musste. Max Weber hat einmal geschrieben, dass Begriffe nicht die Wirklichkeit abbilden, sondern jene „in gültiger Weise denkend ordnen.“16 Begriffe dienen dem Historiker daher als heuristisches Hilfsmittel, die es ihm ermöglichen, die komplexe historische Wirklichkeit zu erfassen und zu strukturieren. In Anlehnung an HansUlrich Wehler könnte man daher von einem begrifflichen Ordnungsschema sprechen, das die Komplexität der historischen Realität reduziert.17 Durch die genannten Begriffe – Charisma und kommunikatives bzw. kulturelles Gedächtnis – können die Mechanismen der Vergemeinschaftung des Naumann-Kreises aufgezeigt und erschlossen werden. Das Charisma-Konzept ist daher mit einem Mikroskop zu vergleichen; es hilft den Gegenstand anschaulicher zu machen, ihn zu vergrößern, ihn bildlicher darzustellen. Mit dem bloßen Auge übersieht man oft die entscheidenden Dinge; Begriffe können den Blick auf das Wesentliche lenken. Die Literatur über Friedrich Naumann ist im Ganzen noch immer überschaubar.18 Neben dem Standardwerk von Peter Theiner19 aus dem Jahr 1983, sind im Besonderen die zahlreichen Aufsätze von Jürgen Frölich20 und die ideengeschicht16 17 18
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Max Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Schutterwald/Baden 1995, S. 100. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, in: Ders., Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815 (Erster Band), München 1987, S. 9. Zum Forschungsstand zu Naumann und seinem Kreis vgl. Karl Heinrich Pohl, Liberalismus und Bürgertum, in: Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegungen in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert (HZ, Sonderheft, Band 17), hg. v. Lothar Gall, München 1997, S. 251–257; vgl. auch Alfred Milatz, Friedrich Naumann-Bibliographie, Düsseldorf 1957 u. Hans Cymorek, Und das soll Naumann sein? Wege zu einer Biographie Friedrich Naumanns, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 14 (2002), S. 245–257. Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983. Jürgen Frölich, Friedrich Naumanns ‚Mitteleuropa‘. Ein Buch, seine Umstände und seine Folgen, in: Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, S. 245–267; Ders., Von Heilbronn in den Reichstag. Theodor Heuss, Friedrich Naumann und die „HottentottenWahlen“ in Heilbronn 1907, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte, 67 (2008), S. 353–366; Ders., „Jede Zeit hat ihre Freiheiten, die sie sucht.“ Friedrich Naumann und der Liberalismus im ausgehenden Kaiserreich, in: Detlef Lehnert, Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 135–157; Ders., „Wirklich staatsmännisch veranlagter Kopf“ oder eher „Prophet und Lehrmeister“? Friedrich Naumann als liberaler Politiker im Kaiserreich, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 23. Jahrgang 2011, S. 81–93; Ders., „Rechts steht Rom und Ostelbien, links steht Königsberg und Weimar.“ Friedrich Naumann, die Gegner und die potentiellen Verbünde-
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liche Arbeit von Stefan-Georg Schnorr21 hervorzuheben. Eine moderne, der Geschichtswissenschaft genügende klassische Biographie über den einstigen Pastor fehlt noch immer. Die einzigen Arbeiten über den Naumann-Kreis stammen von Inho Na22 und Ursula Krey23. In Kreys Arbeiten, es handelt sich um vier Aufsätze, wird unter anderem auch das Charisma-Konzept Webers herangezogen, um den Kreis um Naumann zu erfassen. Kreys sozialgeschichtlicher Ansatz gilt es durch kulturwissenschaftliche Zugriffe zu erweitern und auszubauen. Über die Zeit nach 1919 liegt dem Historiker keine systematische Darstellung über den NaumannKreis vor. Nur mit Bezug auf den Naumannianer Theodor Heuss und andere liberale Personengruppen lassen sich Arbeiten erwähnen, welche die Kontinuität von Naumann zu den Naumannianern abzeichnen.24 Dabei sind vor allem die wertvollen Aufsätze des Theodor Heuss-Experten Thomas Hertfelder zu erwähnen.25 Die bisherige Forschung bietet mithin eine solide Basis, um den Gegenstandsbereich kulturwissenschaftlich zu erweitern. Der heuristische Neuansatz für den ersten Teil des Projekts besteht darin, die Genese des Naumannschen ‚Charisma‘ mit kulturwissenschaftlichen Fragen in den Blick zu nehmen. Um dies zu bewerkstelligen, bedarf es nach Thomas Mergel neben einer „ethnologischen Perspektive“ eines „kommunikationstheoretischen Vorbehalt[s].“ Politik wird daher im Folgenden als „soziales Handeln [verstanden],
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ten des Liberalismus, in: Liberalismus als Feindbild, hg. v. Ewald Grothe u. Ulrich Sieg, Göttingen 2013, S. 113–133. Stefan-Georg Schnorr, Liberalismus zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Reformulierung liberaler politischer Theorie in Deutschland und England am Beispiel Friedrich Naumann und Leonard T. Hobhouse, Baden-Baden 1990. Inho Na, Sozialreform oder Revolution. Gesellschaftspolitische Zukunftsvorstellungen im Naumann-Kreis 1890–1903, Marburg 2003. Ursula Krey, Der Naumann-Kreis. Charisma und politische Emanzipation, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, S. 116–147; Dies., Demokratie durch Opposition. Der Naumann-Kreis und die Intellektuellen, in: Kritik und Mandat. Intellektuelle in der Deutschen Politik, hg. v. Gangolf Hübinger u. Thomas Hertfelder, Stuttgart 2000, S. 71–92; Dies., Von der Religion zur Politik. Der Naumann-Kreis zwischen Protestantismus und Liberalismus, in: Religion im Kaiserreich. Milieus-Mentalitäten-Krisen, hg. v. Olaf Blaschke u. Frank-Michael Kuhlemann, Gütersloh 1996, S. 350–381; Dies., Der NaumannKreis im Kaiserreich. Liberales Milieu und protestantisches Bürgertum. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 7. Jahrgang 1995, S. 57–81. Eric Kurlander, Living with Hitler. Liberal Democrats in the Third Reich, Yale 2009; Barthold C. Witte, Theodor Heuss und Naumanns Nachleben in der Bundesrepublik Deutschland, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger von Bruch, Berlin 2000, S. 361–367; Elke Seefried, Einführung, in: Theodor Heuss, In der Defensive. Briefe 1933–1945, hg. u. bearb. v. Elke Seefried, München 2009, S. 15–68; Michael Dormann, Einführung: Theodor Heuss als Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, in: Theodor Heuss, Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. u. bearb. v. Michael Dormann, München 2008, S. 15–55. Thomas Hertfelder, Meteor aus einer anderen Welt. Die Weimarer Republik in der Diskussion des Hilfe-Kreises, in: Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik, hg. v. Andreas Wirsching u. Jürgen Eder, Stuttgart 2008, S. 29–55; Ders., Friedrich Naumann, Theodor Heuss und der Gründungskonsens der Bundesrepublik, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 32. Jahrgang 2011, S. 113–145; Ders., Von Naumann zu Heuss. Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland,Von Naumann zu Heuss, Stuttgart 2013.
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als ein Netz von Bedeutungen, Symbolen, Diskursen, in dem […] Realitäten konstruiert werden.“26 Die Arbeiten der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte bieten einen weiteren Anknüpfungspunkt, um das Charisma-Konzept Webers kulturwissenschaftlich zu flankieren.27 Der zweite Teil der Arbeit leistet in erster Linie einen Anschluss an die historische Gedächtnisforschung. Darüber hinaus gilt es im Speziellen literaturwissenschaftliche Ansätze mit einzubeziehen, die der Literatur die Fähigkeit zuerkennen, Produzentin eines politischen Deutungskampfes zu sein.28 Somit steht auch die Genese des Naumann-Mythos unter einem „kommunikationstheoretischen Vorbehalt“. Doch wie bei jeder historischen Studie bedarf es der Überprüfung an den Quellen, die den Historiker davor bewahren, in Mutmaßungen zu verfallen. Neben einer breiten Quellenbasis soll durch den Rekurs auf begriffsbildende Nachbardisziplinen die hier angedeutete Fragestellung präzisiert und auf den historischen Gegenstand unter Anerkennung derer kontingenten Entstehungsbedingungen übertragen werden. Nicht nur die positivistische „Kleinstarbeit“ steht daher im Zentrum dieser Dissertation, sondern die Wahrnehmungsweisen von Naumanns sinnstiftendem Wirken innerhalb eines zeitlichen und lokalen Rahmens.29 In Anlehnung an Niklas Luhmann kann hier von einer „Beobachtung zweiter Ordnung“30 gesprochen werden, bei der nicht nur der Historiker von heute das Wirken Naumanns interpretiert, sondern bei der die Beobachter Naumanns beobachtet werden. Ein methodisches Problem kann somit umgangen werden, obwohl die Gefahr vor Zirkelschlüssen zwangsläufig besteht. Denn wie geht man damit um, dass der Naumann-Kreis, den man analysieren will, quellenmäßig maßgeblich von diesem zu untersuchenden Naumann-Kreis geschaffen wurde? Zumal die gegnerischen Stimmen sowohl spärlich, als ebenfalls emotional gefärbt sind. Der Weg führt daher unweigerlich zur Person Friedrich Naumann. Er und sein Werk – man lässt die Quellen sprechen – stehen im Zentrum dieser Arbeit. Nur über ihn und seine Reden und Schriften können die Leitfragen angemessen beantwortet werden. Das Herzstück der Quellen waren somit die Schriften (Bücher, Aufsätze, Briefe und Vortragsnotizen) Friedrich Naumanns, welche noch immer nicht vollständig erschlossen und editiert sind. Neben dem Naumann-Nachlass31 im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde wurde vor allem der Theodor Heuss-Nachlass32 im Archiv der 26 27 28 29 30 31 32
Vgl. dazu den glänzenden Aufsatz von Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft, 28 (2002), Heft 4, S. 574–606, hier S. 588, S. 591 u. S. 605. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt 2004. Vgl. dazu die Überlegungen von Wolfram Pyta, Politikgeschichte und Literaturwissenschaft, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur, 2011, Band 36, Heft 2, S. 381–400, hier S. 388. Ute Daniel spricht hier von einem Spezifikum der „kulturalistischen Wende.“ Dazu Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, Frankfurt am Main 2001, S. 12. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1998, S. 766 oder S. 1117. Nachlass Friedrich Naumann, Bestand N 3001 (Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs, Bd. 55), bearb. v. Ursula Krey u. Thomas Trumpp, Koblenz 1996. Nachlass Theodor Heuss, Bestand N 1221 (Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs, Bd. 50), bearb. v. Frauke Laufhütte u. Jürgen Real, Koblenz 1994.
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Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart hinsichtlich der Fragestellung ausgewertet. Daneben wurden auch Archivalien aus den Nachlässen Anton Erkelenz, Heinrich Hohmann, Wilhelm Heile, Erich Eyck, Gottfried Traub, Gertrud Bäumer und Walter Goetz (Bundesarchiv Koblenz) berücksichtigt. Zudem wurden die in Frage kommenden Archivalien des Hauptstaatsarchivs in Stuttgart (Nachlass Conrad Haußmann), des Wilhelm Rein Archivs in Duisburg-Essen (Nachlass Wilhelm Rein), des Staatsarchivs in Hamburg (Nachlass Carl Petersen), des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem, sowie die begrenzten Bestände des Werkbundarchivs in Berlin-Kreuzberg näher unter die Lupe genommen. Neben den Quellen aus den Archiven und Bibliotheken (Briefe, Kondolenzschreiben, Tagebücher, Autobiographien, unveröffentlichte Manuskripte) können die zahlreichen Presseartikel über Naumann als Schlüsselquelle bezeichnet werden. Daneben waren die Lebenserinnerungen der Naumannianer gerade auf Grund ihrer Apologetik eine wichtige Quelle im Bezug auf die Fragestellungen, zumal die Deutungen der Naumannianer auch nicht zwangsläufig falsch sein müssen. Die Akten der Deutschen Demokratischen Partei und die Protokolle der Verhandlungen im Reichstag wurden ergänzend als Quelle hinzugezogen. Dieser Korpus wurde erweitert um editierte Tagebücher, zeitgenössische historiographische Arbeiten sowie Bildmaterialien (Gemälde, Zeichnungen, Fotos oder Wahlplakate). Somit war ein Quellenfundament gegeben, dass neue Einblicke rundum Friedrich Naumann gewährte. Zu Beginn der Studie „Friedrich Naumann und sein Kreis“ gilt es einen Blick auf die zeitlichen Umstände zu werfen, in der Friedrich Naumann lebte und wirkte. Die „Frage nach den Konstitutionsbedingungen des politischen Handeln“33 steht somit am Anfang der Arbeit. Der Lebensweg Naumanns als Prediger im Kaiserreich muss erst nachgezeichnet werden, bevor die Genese des Naumann-Kreises geschildert werden kann. Dabei richtet sich das Augenmerk des Kapitels besonders auf die Funktion der Wochenzeitschrift ‚Die Hilfe‘ und der Partei ‚Nationalsozialer Verein‘. Im dritten Kapitel wird das Charisma-Konzept Max Webers im Zentrum der Betrachtung stehen. Neben der sozialen Dimension des Charisma-Konzeptes, gilt es das Webersche Modell durch kulturwissenschaftliche Kategorien zu erweitern. Sowohl körpergeschichtliche Ansätze als auch Begriffe aus der Theaterwissenschaft spielen bei der Modifizierung und Ausdifferenzierung des Weberschen Konzeptes eine wichtige Rolle. Neben den geistigen und körperlichen Gaben Naumanns werden daher Naumanns öffentliche Auftritte im und außerhalb des Reichstages (viertes und fünftes Kapitel) besonders unter die Lupe genommen. Außerdem gilt es, einen näheren Blick auf Naumanns Rolle als Künstlerpolitiker (sechstes Kapitel) zu werfen, bevor im siebten Kapitel Naumanns Durchbruch, den er durch seine Schrift ‚Mitteleuropa‘ während des Ersten Weltkriegs erzielte, dargestellt wird. Der Blick auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg (achtes Kapitel) zeigt zusammenfassend, dass Naumann nicht zuletzt auf Grund seiner Doppelfunktion als Redner und Schriftsteller, kreisübergreifend wahrgenommen wurde. 33
Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, S. 240.
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Einleitung
Den Ausgangspunkt der Geschichte von Naumanns Nachleben bildet die Genese des Naumann-Mythos (neuntes Kapitel). Dabei wird vor allem die besondere Rolle des Naumannianers Theodor Heuss in der Zeit des Nationalsozialismus (zehntes Kapitel) und in der Bundesrepublik Deutschland (zwölftes Kapitel) herausgearbeitet, da der Lieblingsschüler von Naumann eine Brücke vom ‚kommunikativen‘ zum ‚kulturellen‘ Gedächtnis errichtete, die nicht auf die Konstruktionspläne der Historiker angewiesen war. Sowohl dessen Naumann-Biographie aus dem Jahre 1937, als auch die Gründung der ‚Friedrich Naumann-Stiftung‘ im Jahre 1958 zeugen von dieser Historisierung Naumanns ohne einen Historiker. Der erste Bundespräsident verstand es einen Politiker aus dem Kaiserreich in die noch junge Bundesrepublik Deutschland zu integrieren. Auf diesem Weg wurde Heuss der wahre Naumann-Erbe, auch weil Heuss wie Naumann von einem Charisma der Rede und Schrift umgeben war (elftes Kapitel).
I. DER PASTOR NAUMANN ALS PREDIGER IN SEINER ZEIT Wenn sich der Historiker mit den grundlegenden Prägungen einer Person auseinandersetzt, so bedarf es immer einer Analyse der Zeit, in der die Person lebte und wirkte. Doch jede Charakterisierung einer Epoche hat von vornherein etwas Künstliches beziehungsweise Selektives; zu unterschiedlich sind „die Betrachtungsweisen“, zu facettenreich das „empirisch Vorhandene.“1 Im Folgenden soll daher weniger der Zeitgeist einer Epoche dargestellt, als vielmehr nach den existentiellen Erfahrungen Naumanns gefragt werden.2 Friedrich Naumann muss als Kind des späten 19. Jahrhunderts betrachtet werden, als Zeitgenosse Wilhelms II. In diesem Sinne schrieb bereits Theodor Heuss in seiner Naumann-Biographie: „In diese Epoche fällt Naumanns öffentliches Wirken; […] Indem wir diese zeitlichen Grenzen scharf betonen, deuten wir unsere Aufgabe: Naumann in dieser Zeit, die auch seine Zeit ist, zu zeigen.“3 Ganz ähnlich wie Heuss argumentiert auch der Naumannianer Wilhelm Hausenstein, wenn er nach dem Ersten Weltkrieg feststellte: „In der Tat wurde dies der Sinn seines Auftretens: Auseinandersetzung mit dem wilhelminischen Deutschland zu sein und zu suchen.“4 Friedrich Naumann wurde 1860 in Störmt(h)al in der Nähe Leipzigs geboren. Unter „denkbar einfachen ländlichen Verhältnissen“5 wuchs der junge Naumann in einem protestantischen Elternhaus auf. Sein Vater, Friedrich Hugo Naumann, war lutherischer Pfarrer in Lichtenstein, einer kleinen Gemeinde am Fuße des Erzgebirges, seine Mutter, Marie Agathe Naumann, die Tochter des bekannten Leipziger Pfarrers Friedrich Ahlfeld. Im Jahre 1874 wechselte der junge Naumann auf das Nikolaigymnasium nach Leipzig, 1876 dann auf die Fürstenschule in St. Afra in Meißen, die er 1879 als Abiturient verließ. Dass der Sohn ganz dem Elternhaus hinsichtlich der Wahl des Berufes folgen sollte, zeigt auch folgender Passus eines Briefes Naumanns an seine Eltern: „Was mich zur Theologie brachte, waren Wunsch und Tradition der Familie und lebendige Vorbilder, die ich vor Augen hatte.“6 1879 begann Naumann sein 1
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Vgl. dazu den so oft zitierten Satz von Johann Gustav Droysen: „[…], dass es in der Geschichte so wenig Epochen gibt, wie auf dem Erdkörper die Linien des Äquators und der Meriankreise, dass es nur Betrachtungsformen sind, die der denkende Geist dem empirisch Vorhandenen gibt, um es desto gewisser zu fassen.“ In: Ders., Texte zur Geschichtstheorie, hg. v. Günter Birtsch und Jörn Rüsen, (2 Bände), Göttingen 1972, S. 20. Vgl. Georg J. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 2007, S. 14. Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, München/Hamburg 31968, S. 27; vgl. auch William O. Shanahan, Friedrich Naumann. A Mirror of Wilhelmian Germany, in: The Review of Politics, 13 (1951), Nr. 3, S. 267–301. Wilhelm Hausenstein, Naumann in seiner Zeit, in: Der Neue Merkur. Monatshefte, Dritter Jahrgang 1919–1920, S. 420. Margarete Naumann, Friedrich Naumanns Kindheit und Jugend, Gotha 1928, S. 1. Zitiert nach Heuss, Naumann (wie Anm. 3), S. 45.
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Theologiestudium in Leipzig; ein klassischer Lebenslauf für einen Spross aus einer Pfarrersfamilie.
Friedrich Naumann, „Wohnstube in Langenberg“ (1889) Quelle: Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Archiv des Liberalismus, N 46-5 (10)
1871 wurde König Wilhelm I. von Preußen in Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen und das Deutsche Reich wurde de facto ein Nationalstaat. Diese durch drei Kriege errungene Einigung Deutschlands ermöglichte eine „neue Legitimationsbasis staatlicher Herrschaft“. Das „Ideensystem“ des Nationalismus im Allgemeinen oder dessen „emphatische Erhöhung“ als eine Art Ersatzreligion im Besonderen fungierten als eine neue Form der „Sinnstiftung“7. Unter der Ägide des noch jungen Wilhelms II. entwickelte sich zudem eine neue Form der Außenpolitik, wovon beispielsweise das Wettrüsten gegen England und der Wunsch nach einem ‚Platz an der Sonne‘ zeugen. Doch die 1871 entstandene äußere Grenze konnte die viel beschworene innere Zerrissenheit des deutschen Volkes nicht beseitigen und so stand die innere Bildung der Nation noch immer bevor.8 Das Aufkommen der Sozialdemokratie zu einer 7
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Vgl. zu diesem Abschnitt besonders Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Von der „Deutschen Doppelrevolution bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1894–1914, München 1995, hier: S. 941, S. 942 u. S. 943; vgl. über den Nationalismus als „Ideensystem“ Ders., Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2001. Vgl. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1988, S. 128; oder pointiert bei Hans Peter Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, München 1999, S. 2 f.
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organisierten politischen Kraft einerseits und dem „politischen Katholizismus in Gestalt des Zentrums“9 andererseits zeigen deutlich, dass nicht alle an einem Strang zogen. Die innenpolitischen Reaktionen des bis 1890 amtierenden Reichskanzlers Otto von Bismarck demonstrieren, dass sich die Zeiten auch parteipolitisch geändert hatten. Die organisierte Arbeiterschaft in Form einer Partei wurde zu einer ernst zu nehmenden Größe innerhalb der deutschen Parteienlandschaft erklärt. Dieser eben skizzierte politische Wandel ging wiederum einher durch eine industrielle und technische Revolution: Deutschland verwandelte sich um die Jahrhundertwende vom Agrar- zum Industriestaat. Die Bevölkerungszahl schnellte explosionsartig in die Höhe, die Schlote der Fabriken verzierten von nun an die Landschaften und die Maschinen bestimmten den Arbeitsalltag der Werktätigen. Zugleich entstand eine bis dato noch nie da gewesene Dynamik auf den Straßen der immer größer werdenden Städte. Straßenbahnen schlängelten sich durch die Metropolen Deutschlands, Glühbirnen strahlten in den Wohnungen, Stahlbauten sprossen aus dem Boden empor. Diese durch die technische Entwicklung bedingte Veränderung hatte unter anderem wieder Auswirkungen auf die stetig wachsende Medienlandschaft: die so genannte Massenpresse wurde geboren, bei der das Lichtbild eine immer größere Rolle spielte.10 Neben dem Aufstieg der Massenkultur ist im Besonderen der wachsende Einfluss der Naturwissenschaft zu nennen, deren Fachdisziplinen – allem voran die Biologie – an großer Bedeutung gewannen. Im Reichstag, auf der Straße, in der Werkhalle, neben der Druckerpresse oder im Hörsaal der Universität; es veränderte sich etwas in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts. Dieser Veränderungsprozess spiegelt sich am besten in der Kunstszene wieder, wo die ‚Moderne‘ in Berlin und Wien proklamiert wurde.11 Doch nicht nur neue literarische Strömungen und Stile entstanden um die Jahrhundertwende; vielmehr vollzog sich im ganzen ästhetischen Empfinden ein Umbruch.12 Die Forderung nach einer „Ästhetisierung der modernen Lebenswelt“13 durch die Lebensreformbewegung kann wie das Entstehen der Jugendbewegung im Allgemeinen als „Ausdruck einer tiefen gesellschaftlichen und kulturellen Orientierungskrise“14 interpretiert werden. Inmitten dieses hier angedeuteten Strudels der Veränderung begann der Pfarrerssohn erwachsen zu werden. In jener „Übergangszeit von der Hausindustrie zum Fabrikbetrieb“15 begann Naumann sein Studium, das er in Leip9 10 11 12 13 14 15
Wehler, Doppelrevolution (wie Anm. 7), S. 898. Corey Ross, Media and the Making of Modern Germany. Mass Communications, Society and Politics from the Empire to the Third Reich, Oxford 2008. Vgl. dazu ausführlich Helmuth Kiesel, Geschichte der Literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004. Vgl. Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, Wien 1998, S. 269. Inge Baxmann, Ästhetisierung des Raums und nationale Physis, in: Ästhetik des Politischen. Politik des Ästhetischen, hg. v. Karlheinz Barck u. Richard Faber, Würzburg 1999, S. 79–95, hier S. 79. Vgl. dazu Detlev J. K. Peukert, Jugend zwischen 1880 und 1930, in: Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930 (Band 1), hg. v. August Nitschke, Detlev J. K. Peukert, Gerhard A. Ritter, Rüdiger vom Bruch, Hamburg 1990, S. 176–201, hier S. 184. Naumann, Kindheit und Jugend (wie Anm. 5), S. 17.
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zig und Erlangen absolvierte und 1881 mit dem theologischen Examen erfolgreich abschloss. Naumann sah sich während dieser Jahre als ein Missionar; es galt den christlichen Glauben unter die Arbeiterschaft zu bringen, wovon auch ein Gedicht aus Naumanns Feder zeugt, dem als melodische Vorlage das berühmte Studentenlied ‚gaudeamus igitur‘ diente. Das folgende Gedicht war dem evangelischen Arbeiterverein gewidmet: „Neue Zeit voll Himmelsglut Neue Glaubensfreude! Gott rief uns in großen Tagen Heil’ge Wahrheit anzusagen, Auf, ihr Christenleute! Laßt die Winkel, laßt die Angst, Tretet auf die Bretter, Christus will jetzt Jünger haben, Die mit Trotz und Geist und Gaben Steigen in die Wetter! Brecht der Pharisäer Stolz, Helft den Mammon beugen, Blast hinweg des Wahnes Wolke, Schaffet Licht dem blinden Volke, Streiten und nicht schweigen! Gehet hin in alle Welt, Geht zu allen Ständen, Weckt die Dörfer, ruft die Städte, Schließt die ehrne Bruderkette, Bohrt an allen Enden!“16
Folgerichtig verschlug es Naumann daraufhin nach Hamburg, wo er im ‚Rauhen Haus‘, das von Johann Hinrich Wichern im Jahre 1833 gegründet worden war, seinen ersten Beruf ausübte. Dieses „Rettungshaus für verwahrloste Kinder“ stand ganz im Zeichen der „evangelischen Karität“, der Nächstenliebe. Durch die Verarmung und Verelendung vieler Menschen einerseits und dem Aufstieg des Großstadtproletariats andererseits ergab sich nach Wichern ein neuer Aufgabenbereich der Kirche: Die Kirche sollte sich der modernen Zeit stellen und aktiv an der „christlichen Wiedergeburt des deutschen Volkes“ mitarbeiten. Es war „der Kampf gegen die Verderber des Volkes“, die Heimholung der Proletarier in die Kirche, was Wichern dazu verleitete, ein Programm der „Inneren Mission“ aufzustellen.17 Neben der klassischen Schul- und Erziehungsarbeit lernte der junge Oberhelfer Naumann in Hamburg andere Tätigkeiten kennen: die Schriftstellerei und das Vorträge halten. In diesem Umfeld verfasste Naumann seine ersten Artikel für die ‚Fliegenden Blätter des Rauhen Hauses‘ und die ‚Kyffhäuser Zeitung‘, eine Zeitung des ‚Vereins Deutscher Studenten‘. Seine Frau bemerkte bezüglich dieser neuen Leidenschaft: „Er merkte, daß seine Feder sich leicht bewegte, sobald ihm das Bild klar vor der 16 17
BArch Berlin, Nachlass Naumann, N 3001, 97, Friedrich Naumann, Die neue Zeit. Vgl. dazu Karl Kupisch, Zwischen Idealismus und Massendemokratie. Eine Geschichte der evangelischen Kirche in Deutschland von 1815–1945, Berlin 1955, S. 95–102, hier: S. 97, S. 95 u. S. 98.
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Seele stand. Er erfuhr, daß sich der Satz von selbst gestaltete in einfacher, durchsichtiger Sprache.“18 Von dieser Begabung wird später noch mehr zu berichten sein, zumal Naumann die genannte Schreibarbeit weiter perfektionierte. Circa drei Jahre war Naumann mehr Sozialarbeiter als Pfarrer gewesen, was sich auch 1886 nicht ganz ändern sollte, obwohl er eine Stelle als Pfarrer in Langenberg, einer industriell geprägten Landgemeinde bei Chemnitz, antrat. Hier sah Naumann die Schlote der Fabriken, den Massenbetrieb und die Technik der Zahnräder aus nächster Nähe; in dieser industriellen Umgebung begannen die Menschen, Naumann als „Pastor der armen Leute“19 wahrzunehmen. Hier im sächsischen Pfarramt führte Naumann beispielsweise sogenannte „Waldgottesdienste ein, [zu denen] zweitausend Menschen ström[t]en […]; und er [stieg] auf die Kanzel und predigt[e] in – Versen.“ Ein „Dichterpfarrer“20, der sowohl in einem geschlossenen Raum, als auch unter freiem Himmel für Aufsehen sorgte. Während dieser Jahre befasste sich Naumann mit den Schriften von Karl Marx, August Bebel und Ferdinand Lassalle, was sich auch in seinen Predigten niederschlug. So predigte Naumann vor allem am Morgen, damit die Arbeiter vor der Schicht das Wort Gottes hören konnten.21 Friedrich Naumann war eine Art „Menschenfischer“22 in der Industrielandschaft. Neben den zeitlichen und örtlichen Rahmenbedingungen sind es immer die sozialen Beziehungen, die eine Person prägen. Als Adolf Stoecker im Jahr 1909 verstarb, schrieb Naumann in einem Nachruf: „Wenn ich mir jetzt nach Stoeckers Tode noch einmal alles vergegenwärtige, was er für mich gewesen ist, so ist es meine Pflicht, ihm einen dankbaren und in sein Wesen eindringenden Nachruf zu schreiben, […] selbst wenn dieses dem einen oder dem anderen nicht gefallen sollte.“23 Die Worte Naumanns bezeugen, dass Naumann ein Schüler Stoeckers gewesen war. Der 1835 geborene Berliner Hofprediger Adolf Stoecker kann wie Wichern nur im Kontext der ‚Sozialen Frage‘ verstanden werden. Dessen Versuch, die Arbeiterschaft wieder zu „Vaterland und Kirche zurückzuführen“, wurde getragen von einer „antisemitischen Propaganda.“24 In dem letztem Punkt stimmte Naumann nicht mit Stoecker überein: „Es ist nicht nötig, an dieser Stelle nochmals zu sagen, was uns von ihm trennt, wir stehen links, und er steht rechts. Aber das gebührt sich, an diesem Grabe zu sagen, daß 18 19 20 21 22
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Naumann, Kindheit und Jugend (wie Anm. 5), S. 91. Martin Wenck, Die Geschichte der Nationalsozialen von 1895 bis 1903, Berlin 1905, S. 2. Heuss, Naumann (wie Anm. 3), S. 73. Vgl. dazu Olaf Lewerenz, Zwischen Reich Gottes und Weltreich. Friedrich Naumann in seiner Frankfurter Zeit unter Berücksichtigung seiner praktischen Arbeit und seiner theoretischen Reflexion (zugl. Diss.), Sinzheim 1994, S. 288. „Diesen treffenden Ausdruck verdanke ich Prof. Dr. Marcus Gräser aus Linz, den ich jüngst auf einer Tagung kennenlernte. Er ist auch deswegen passend, weil sich Naumann als Pfarrer hier in den Fußstapfen von Jesus bewegte, der ja bekanntlich in der Szene der Rekrutierung seiner ersten Jünger zu Petrus sagte, daß dieser künftig Menschen fischen werde.“ (Prof. Dr. Wolfram Pyta an Frederick Bacher am 12.10.2013) Friedrich Naumann, Adolf Stoecker, in: Friedrich Naumann, Werke (Erster Band, Religiöse Schriften), bearb. v. Walter Uhsadel, Köln/Opladen 1964, S. 753. Vgl. Kupisch, Idealismus (wie Anm. 17), S. 102–106, hier S. 103.
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auch wir in der Periode seiner Kraft von seiner sozialen Stimmung bewegt wurden und ihm dafür dankbar geblieben sind, auch dann noch als die Wege sich geschieden hatten. Er ruhe in Frieden!“25 Stoecker, der mit seiner christlich-sozialen Arbeiterpartei scheitern sollte, hatte Naumann stark beeinflusst; über ihn erhielt Naumann die entscheidenden Denkanstöße für sein sozialpolitisches Engagement. Als Stoecker 1890 den ‚Evangelischen-Sozialen Kongress‘ gründete, hatte sich Naumann noch nicht ganz von dem Berliner Hofprediger gelöst.26 Wilhelm Kulemann, späterer Reichstagsabgeordneter und Vorsitzender des ‚Freien evangelischen Zentralausschusses‘, hob in seiner Studie aus dem Jahr 1911 hervor, dass sich der ‚Evangelisch-Soziale Kongress‘ in erster Linie mit der sozialen Frage auseinander setzte. Das christliche Evangelium und die ‚Moderne‘ bildeten sozusagen die Rahmenbedingungen für die jährlich stattfindenden Tagungen.27 Erst nachdem Naumann im Jahre 1890 als Vereinsgeistlicher zur ‚Inneren Mission‘ nach Frankfurt am Main zurückgekehrt war, begann er sich von Stoecker allmählich abzusetzen. Stoecker galt zu Beginn als „die überragende Persönlichkeit“ des Kongresses. Durch Naumanns Auftreten sollte sich diese Monopolstellung langsam ändern: „So bildeten sich im Kongress allmählich zwei Flügel, von denen der rechte in Stöcker, der linke in Naumann seinen Führer sah.“28 Immer stärker sollte von nun an das politische Moment Naumanns Handeln bestimmen. Die christliche Nächstenliebe und der Sozialismus, das war für Naumann ein „Geschwisterpaar“.29 Auch in diesem Punkt unterschied sich Naumann von seinem einstigen Vorbild. Der Aufenthalt Naumanns in Frankfurt am Main und die dortige christlichsoziale Bewegung kann zugleich als weitere Etappe seiner publizistischen und politischen Tätigkeit betrachtet werden. Hier begann er verstärkt, Menschen mit seinen Reden und Schriften anzusprechen und jene damit zu faszinieren; dort sprach er von dem „Christ im Zeitalter der Maschine,“30 der nun mit der Dampfmaschine und der neuen Form der Armut zurecht kommen müsse, von einem „Jesus als Volksmann,“31 der heute als Industriearbeiter zu den Proletariern spräche, und immer wieder von der sozialen Frage, „d[er] eigentlichste[n] Aufgabe unserer Zeit“32. Das waren die Jahre, in denen Naumann versuchte, eine christliche Antwort auf die Moderne zu geben.33 Und das rechneten ihm seine Leser hoch an. Noch in einem Brief aus dem Jahre 1919 wurde auf die Wirkungskraft Naumanns während dieser Frankfurter Jahre verwiesen: „Des unvergeßlichen Führers […] Noch sind vielen von uns seine Predigten im Vereinshaus Westend unvergeßlich, Predigten, die das 25 26 27 28 29 30 31 32 33
Naumann, Stoecker (wie Anm. 23), S. 762. Vgl. dazu Kupisch, Idealismus (wie Anm. 17), S. 107 f. Vgl. Wilhelm Kulemann, Politische Erinnerungen. Ein Beitrag zur neueren Zeitgeschichte, Berlin 1911, S. 167. Ebd., S. 171 f.; vgl. auch Jochen-Christoph Kaiser, Naumann und die Innere Mission, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, S. 11–26. Vgl. Heuss, Naumann (wie Anm. 3), S. 86. Friedrich Naumann, Der Christ im Zeitalter der Maschine, in: Ders., Werke (wie Anm. 23), S. 311. Friedrich Naumann, Jesus als Volksmann, in: Ders., Werke (wie Anm. 23), S. 371. Friedrich Naumann, Die Zukunft der inneren Mission, in: Ders., Werke (wie Anm. 23), S. 97. Vgl. Lewerenz, Naumann in seiner Frankfurter Zeit (wie Anm. 21), S. 267.
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alte Evangelium von Jesus Christus als unserm Heiland und Seligmacher, den breitesten Schichten der Bevölkerung lieber und vertrauter machten.“34 Naumann war nie ein klassischer Pfarrer gewesen. Zu stark wirkte seine sozialpolitische Handschrift in den Predigten. Naumann stellte die ganze ‚Inneren Mission‘ in Frankfurt auf den Kopf. Man wusste nicht, wie man mit dem politischen Pfarrer Naumann umgehen sollte. Einerseits kamen durch Naumann wieder Arbeiter zu den Gottesdiensten, andererseits hatte man Angst, alte Kirchgänger zu verlieren. Conrad Kayser, der Vorsitzende der ‚Inneren Mission‘, schilderte bereits in einem Brief aus dem Jahre 1893 das angesprochene ethische Dilemma: „Was du über Naumann schreibst, hat auch uns viel bewegt. Wir stehen vor einer Krisis, – ob sich Innere Missionsarbeit [sic!] vereinigen läßt mit Naumanns wirtschaftlichen Ideen und seinem agitatorischen Ton. – Das ist sehr fraglich. […] Naumann verwischt entschieden Geistliches und Irdisches in unevangelischer Weise. […] Eine ganze Schar junger Geister jubelt ihm zu, die evangelischen Arbeiter schauen auf ihn als auf ihren Apostel, und die Sozialdemokraten sehen einen so respektablen Gegner in ihm, daß sie ihm alle Achtung schenken. Wenn Naumann nicht als Geistlicher, sondern als Laie seine Arbeit triebe, – wer dürfte ihn darin hemmen?“35 Wenige Jahre später gab es dieses Problem nicht mehr; Naumann verließ die Kanzel und sprach von nun an von der politischen Rednerbühne zu den Menschen herab. An dieser Stelle kann man bereits festhalten, dass der Modernisierungsprozess des späten 19. Jahrhunderts als das eigentliche Motiv für Naumanns öffentliches Auftreten angesehen werden muss. Erst durch die komplexen Konsequenzen der janusköpfigen Moderne36 ist Naumanns Persönlichkeit und Anziehungskraft zu verstehen. Der ungemeine Fortschrittsoptimismus auf der einen und die Konflikte und Ängste auf der anderen Seite waren entscheidend für Naumanns Werdegang. Georg Schott, ein bayrischer Pfarrer und früher Weggefährte Adolf Hitlers, bezeichnete Naumann daher zurecht als „erste[n] Prediger des […] wirtschaftlich-technischen Zeitalters“37 Dass Friedrich Naumann im Besonderen auf die Jugend großen Eindruck machte, zeigt eine Darstellung Marianne Webers: „Auf der dritten Kongreßtagung erscheint auch Friedrich Naumann, damals Vereinsgeistlicher der inneren Mission in Frankfurt a. M., schon bekannt als ‚Pastor der armen Leute‘ und Führer der jüngeren christlichen Richtung. Er ist in diesem Kreise der feurige Stürmer und Dränger.“38 1892 sprach Naumann auf dem ‚Evangelisch-Sozialen Kongress‘ über das Christentum und die Familie, die in erster Linie zum Zweck der Kindererzeu-
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BArch, Nachlass Naumann, N 3001, 48, {?} an Margarethe Naumann vom 25. August 1919. Conrad Kayser im Jahre 1903, zitiert nach Martin Jaeger, Werden und Wirken von D. Conrad Kayser. Geheimer Konsistorial-Rat in Frankfurt a. M., Frankfurt a. M. 1931, S. 153. Vgl. den interessanten Aufsatz von Detlev J. K. Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, S. 55. Georg Schott, Von der Technik im allgemeinen und vom Rundfunk im besonderen, in: Die Schott-Briefe, 2. Jahrgang, Brief 5, September 1933, S. 5. Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 31984, S. 141.
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I. Der Pastor Naumann als Prediger in seiner Zeit
gung diente; das schockierte die Zuhörer.39 Das hatte einen einfachen Grund: Naumann entsprach nicht mehr den klassischen Erwartungshaltungen, die an die Rolle eines Geistlichen gestellt wurden. Er entfernte sich immer stärker von der einstigen Ursprungsidee, die sozialen Probleme der Zeit von einem rein christlichen Standpunkt in den Griff zu bekommen. Die Religion war während des Kaiserreichs schon lange nicht mehr das einzige „Deutungs- und Orientierungssystem“. Der Nationalismus, aber auch die Naturwissenschaften oder die Künste, übernahmen nach und nach die gesellschaftliche Funktion der Religion. Naumann bewegte sich daher innerhalb eines „gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesses“.40 Unter diesem Gesichtspunkt ist es verständlich, warum Naumanns Reden auf die eher konservativ Denkenden verstörend und abschreckend wirkten und die Jüngeren in ihm hingegen einen Vorkämpfer erblickten. Ein Naumannianer der ersten Stunde, der politische Publizist Hellmut von Gerlach, beschrieb in seinen Lebenserinnerungen aus dem Jahre 1924 das eben erwähnte Auseinanderdriften der Generationen auf dem dritten ‚Evangelisch-Sozialen Kongress‘ wie folgt: „Anfang der neunziger Jahre auf dem Evangelisch-Sozialen Kongreß in Berlin hörte ich zum ersten Mal Friedrich Naumann. Der Eindruck war unauslöschlich. Dieser junge Pastor sprach so ganz anders als alle die ehrwürdigen alten Herren, die selbst neue und tapfere Gedanken nur in theologischer Verbrämung vorzubringen wagten. […] Das war so herzerfrischend natürlich, daß ein förmliches Zittern durch die Versammlung ging: die jungen Mädchen senkten errötend die Augen, die Mütter fanden es skandalös, die Herren schüttelten die Köpfe. […] Im Ganzen war der Eindruck der: Ein Wolf ist in unsere Herde eingedrungen! Seit dieser Rede hatte ich ein persönliches Verhältnis zu Naumann.“41 Gerlach war von Naumanns Rede so sehr fasziniert, dass er von nun an mit Naumann zog und ab 1896 dessen kurzlebige Tageszeitung ‚Die Zeit‘ redigierte.42 Die eben zitierte Quelle zeigt darüber hinaus deutlich, dass Naumann mit seinen Anschauungen provozierte und faszinierte.43 Er 39
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Vgl. dazu Fritz Auer, Friedrich Naumann, in: Persönlichkeiten. Illustrierter Essay über führende Geister unserer Tage (Heft IV.), Charlottenburg 1908, S. 16; vgl. Klaus Erich Pollmann, Friedrich Naumann und der Evangelisch-soziale Kongreß, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, S. 49–62, hier S. 49 f. Vgl. dazu Peter Walkenhorst, Nationalismus als „politische Religion“? Zur religiösen Dimension nationalistischer Ideologie im Kaiserreich, in: Religion im Kaiserreich, Milieus-Mentalitäten-Krisen, hg. v. Olaf Blaschke u. Frank-Michael Kuhlemann, Gütersloh 1996, S. 503–529, hier S. 506 f.; vgl. auch Ursula Krey, Von der Religion zur Politik. Der Naumann-Kreis zwischen Protestantismus und Liberalismus, in: Religion im Kaiserreich. Milieus-MentalitätenKrisen, hg. v. Olaf Blaschke u. Frank-Michael Kuhlemann, Gütersloh 1996, S. 350–381, hier bes. S. 372. Hellmut von Gerlach, Erinnerungen eines Junkers, Berlin 1924, S. 87 f.; vgl. hier Gerrit Schulte, Der Publizist Hellmut von Gerlach (1866–1935). Welt und Werk eines Demokraten und Pazifisten, München 1988; vgl. dazu auch Wilhelm Spael, Friedrich Naumanns Verhältnis zu Max Weber, Königswinter 1985, S. 19; vgl. dazu auch Ursula Krey, Der Naumann-Kreis. Charisma und politische Emanzipation, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, S. 116–147, hier S. 130. Vgl. dazu auch Auer, Naumann (wie Anm. 39), S. 15. Vgl. dazu Hartmut Ruddies, „Kein spiegelglattes, problemloses Christentum.“ Über Friedrich Naumanns Theologie und ihre Wirkungsgeschichte, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg.
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fiel allein dadurch auf, wie er etwas sagte. Naumanns Auftritte werden deshalb in einem gesonderten Kapitel als performative Leistung betrachtet. Die Naumannianer beschrieben immer wieder, dass Naumann wie ein „stürmischer Prophet“44 auf die Menschen wirkte. Die meisten Darstellungen der Naumannianer lassen zudem darauf schließen, dass in dem prophetischen Habitus Naumanns eine Eigenschaft innewohnte, die dessen Wirkungsmächtigkeit erklärt. Schon im Jahre 1905 schrieb der Germanist Heinrich Meyer-Benfey in seiner Naumann-Biographie, dass es der „Volksprediger“ Naumann gewesen sei, der dank seiner einfachen aber phantasievollen Sprache auf die Zuhörer wirkte.45 Wie auch der ausgebildete Theologe Emil Fuchs, der noch im Jahr 1919 über den Propheten Naumann hervorhob: „Als ich im Winter 1894/95 ihn zum erstenmal [sic!] reden hörte, da wurde er mir eins mit dem, was mir gleichzeitig im alttestamentlichen Kolleg aus Amos entgegenklang. […] [Aber] das deutsche Volk hörte die Stimme seines Propheten nicht.“46 Von Naumann schien eine besondere Wirkung auszugehen, die vor allem junge Menschen in ihren Bann zog. Dazu bemerkte der evangelische Pfarrer Martin Wenck in seiner nicht publizierten Autobiographie, die im Naumann-Nachlass in Berlin überliefert ist: „Die jugendfrische überzeugende Art, mit der er diese Gedanken unter die gespannt aufhorchenden Zuhörer warf, war von starker Wirkung. Auch wer wie Naumanns alter Universitätslehrer Professor Frank und andere ältere Theologen ihm sachlich wiedersprachen [sic!] stand doch unter seinem Bann. Wie vielmehr wir Jungen, die in ihm einen Propheten des sozialen Evangeliums ahnten!“47 Was sich hinter dem Propheten verbirgt, erfährt man einmal mehr bei Max Weber. In seinen religionssoziologischen Schriften betonte der Soziologe ausdrücklich diese „persönliche Gabe“ und sprach von dem „magische[n] Charisma“48, auf das sich die Jünger in der Regel stützen. Ein Begriff, mit dem es weiter zu arbeiten gilt. Sicher wäre es übertrieben und falsch, Naumann als einen gottberufenen Seher zu interpretieren. Doch darf man die pastorale Form seiner Reden und Schriften nicht unkommentiert lassen. Naumann war schließlich ein gelernter Prediger.49 Auch die
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v. Rüdiger vom Bruch, Berlin/New York 2000, S. 317–343, hier S. 318; vgl. auch Stefan-Georg Schnorr, Liberalismus zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Reformulierung liberaler politischer Theorie in Deutschland und England am Beispiel Friedrich Naumann und Leonard T. Hobhouse, Baden-Baden 1990, bes. S. 223–229. Gottfried Traub, Erinnerungen. Wie ich das ‚Zweite Reich‘ erlebte. Tagebuchnotizen aus der Hitlerzeit, Stuttgart 1998, S. 29. Heinrich Meyer-Benfey, Friedrich Naumann. Seine Entwicklung und seine Bedeutung für die deutsche Bildung der Gegenwart, Göttingen 1905, S. 59. Emil Fuchs, Von Naumann zu den religiösen Sozialisten 1894–1929, in: Schriften der religiösen Sozialisten, Nr. 12, Mannheim 1929, S. 4. BArch, Nachlass Naumann, N 3001, 70, Martin Wenck, Wandlungen und Wanderungen. Ein Sechziger sieht auf sein Leben zurück, S. 83–85. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Religiöse Gemeinschaften, hg. v. Hans G. Kippenberg, in: Ders., Gesamtausgabe (Band I/22–2), Tübingen 2001, S. 178 f. Albrecht Grözinger, Friedrich Naumann als Redner. Ein Beitrag zur gegenwärtigen homiletisch-rhetorischen Diskussion (zugl. Diss. 1978), Mainz 1978.
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politischen Gegner betonten bei jeder Gelegenheit, dass Naumann anders sprach als die anderen Politiker. So schilderte der einstige Reichskanzlers Bernhard von Bülow in seinen umfangreichen Erinnerungen, dass sich Naumann noch selbst im Deutschen Reichstag sprachlich wie ein Pastor zur Geltung brachte: „Aus den Reden von Naumann sprach immer der frühere Kanzelredner mit schönem Vortrag, aber mit etwas zu pastoraler Betonung, hier und da mit nicht ganz echtem Ton.“50 Unter Predigt wird im Folgenden in erster Linie eine „rhetorische Aufgabe“ verstanden, bei der der „Redeinhalt“, die „Redeform“, die „Redesituation“ und die „Situation der Hörer“ miteinander verschmelzen.51 Aber auch Naumanns Schriften geben Auskunft über die Funktion der Predigt: „Die Predigt ist noch immer eine bedeutende Macht im evangelischen Volke. Um die Redner der Kirche scharen sich noch jeden Sonntag Hunderttausende.“ Doch dann ergänzte er mit Blick auf die Industrialisierung und die damit einhergehenden Erfolge der deutschen Sozialdemokratie: „Freilich ist es wahr, daß in den Zentren des Volkslebens die Predigt nicht mehr an die Menge herankommt.“52 Von daher erscheint es nur konsequent und verständlich, wenn Naumann am Ende des 19. Jahrhunderts auf Rudolph Sohm und Max Weber setzte; zwei renommierte Hochschulprofessoren, die Naumann in den neunziger Jahren politisch und menschlich stark beeinflusst hatten. Max Webers Antrittsrede an der Universität in Freiburg im Breisgau über den ‚Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik‘ im Jahre 1895 machte auf Naumann einen sehr starken Eindruck.53 Durch Weber erkannte Naumann, dass es erst eine starke Machtpolitik nach außen bedürfe, um eine soziale Politik nach innen zu gewährleisten. Am besten wird dieser Standpunkt in einem oft zitierten Aufsatz von Naumann aus der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ vom 14. Juli 1895 sichtbar, in dem er sich mit Webers Freiburger Antrittsvorlesung auseinandersetzte: „Hat er [Max Weber] nicht recht? Was nützt uns die beste Sozialpolitik, wenn die Kosaken kommen. Wer innere Politik betreiben will, der muß erst Volk, Vaterland und Grenzen sichern, er muß für nationale Macht sorgen.“54 Nach den Forschungsstudien von Dirk Kaesler liefen sich Weber und Naumann das erste Mal im April 1892 auf dem dritten ‚Evangelisch-Sozialen Kongress‘ in Frankfurt am Main über den Weg. Seitdem fühlte sich Weber für Naumann verantwortlich; gerade weil er inhaltlich selten mit ihm übereinstimmte. Weber versuchte Naumann immer wieder auf die argumentativen Ungereimtheiten in dessen Programm hinzuweisen; ihn zum Weiterdenken anzuregen.55 Ohne Zweifel war auch Max Weber von Friedrich Naumann beeindruckt; 50 51 52 53 54 55
Bernhard Fürst von Bülow, Denkwürdigkeiten (Erster Band), Berlin 1930, S. 202. Vgl. dazu im Folgenden Gert Otto, Predigt als rhetorische Aufgabe. Homiletische Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 1987, S. 13. Friedrich Naumann, Die Predigt der Kirche, in: Ders., Werke (wie Anm. 23), S. 231–241, hier S. 231 f. Vgl. dazu Dirk Kaesler, Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn, Eine Biographie, München 2014, S. 430 f.; vgl. auch Heuss, Naumann (wie Anm. 3), S. 124 f.; oder Spael, Naumann und Weber (wie Anm. 41), S. 43–45. Friedrich Naumann, Wochenschau, in: Die Hilfe 1 (1895), Nr. 28, S. 2; Zitat z. B. bei Spael, Naumann und Weber (wie Anm. 41), S. 45. Vgl. dazu ausführlich Kaesler, Weber (wie Anm. 53), S. 420–444.
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eine „unendliche Sehnsucht nach Menschenglück“56 hatte Weber aus Naumanns Reden herausgehört. Zudem wurde Naumann für Weber eine der wichtigsten Bezugspersonen. Ein echter Freund, der ihn zugleich am politischen Tagesgeschehen teilhaben ließ.57 Vom Nationalsozialen Verein bis hin zur Deutschen Demokratischen Partei stand Weber an Naumanns Seite. Neben Weber baute Naumann in erster Linie auf den 1841 geborenen Rudolf Sohm. Dieser streng gläubige Rechtsgelehrte und Professor des Kirchenrechts begann zu jener Zeit Staat und Christentum zu trennen, was Naumann in seiner Auffassung bestärkte, dass Religion und Staat „um der Nation willen“ getrennt werden müssen.58 Naumann sollte später diesen wichtigen Schritt in einem Nachwort seiner „Briefe über Religion“ kommentieren: „Schon als ich vor dreizehn Jahren meine Briefe schrieb, war mir klar geworden, daß es eine Sozialpolitik der Bergpredigt nicht geben könne.“ Aber, so ergänzte Naumann in seinem Nachwort aus dem Jahre 1917: „So lebt er [der Glaube] noch heute und wird gefunden und erlebt. So geht er auch durch die ungeheure Prüfung des großen Krieges hindurch, eine heimliche, vielgestaltige Kraft, ein Segen der Zerbrochenen und ein Trost derer, denen die Last der Opfer zu schwer wird.“59 Für viele Leser waren Naumanns siebenundzwanzig „formvollendete[n]“ Leserbriefe aus dem Jahre 1903 eine „wahrlich, herzerquickende, stärkende […] Lektüre“ die eine Antwort auf die Frage gaben, wie man „gleichzeitig Christ, Darwinist und Flottenschwärmer“60 sein konnte: „Wir kehren zum alten großen Doktor deutschen Glaubens zurück, indem wir politische Dinge als außerhalb des Wirkungskreises der Heilsverkündung betrachten. Ich stimme und werbe für die deutsche Flotte, nicht weil ich Christ bin, sondern weil ich Staatsbürger bin und weil ich darauf verzichten gelernt habe, grundlegende Staatsfragen in der Bergpredigt entschieden zu sehen.“61 Das Echo, das die „Briefe“ auslösten, lag nicht zuletzt an der Tatsache, dass Naumann die Zeit theologisch umdeutete und dadurch einen Ausweg aus der „Krise des zeitgenössischen Christentums“ bereitstellte. Es ging ihm um die Frage, wie Christentum und moderne Weltanschauung zusammenpassten.62 Sein bildhafter Schreibstil, die „popularisierende Form“ und die „dialogische Situation“ machten es darüber hinaus möglich, dass 72.000 Exemplare der „Briefe“ bis 1927 verkauft wurden.63 Naumann war ein Meister der ausdrucksvollen und bildhaften Stilmittel. Zu Recht betonte der Hamburger 56 57 58 59 60 61 62 63
Zitiert nach Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005, hier S. 225; auch Spael, Naumann und Weber (wie Anm. 41), S. 19 f. Kaesler, Weber (wie Anm. 53), hier S. 421 u. S. 423. Vgl. Heuss, Naumann (wie Anm. 3), S. 124–129, hier S. 325; vgl. wieder Spael, Naumann und Weber (wie Anm. 41), S. 45 f. Friedrich Naumann, Briefe über Religion. Mit einem Nachwort „Nach 13 Jahren,“ Berlin 1917, S. 111 f. Rezension zu Briefe über Religion von Friedrich Naumann, in: Preußische Lehrerzeitung vom 7. November 1903, S. 3. Naumann, Briefe (wie Anm. 59), S. 84. Vgl. zur Wirkungsgeschichte der Briefe Hartmut Kramer-Mills, Wilhelminische Moderne und das fremde Christentum. Zur Wirkungsgeschichte von Friedrich Naumanns Briefe über die Religion (zugl. Diss.), Neukirchen 1997, hier S. 1 f., S. 7 u. S. 54. Ebd., S. 1, S. 31 u. S. 33.
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Naumannianer Carl Petersen in einem kleinen Aufsatz aus dem Jahre 1919 die „ans Biblische erinnernde Schriftform“64 Naumanns. Naumanns bewusste Mobilisierung einer christlich-ästhetischen Metaphorik zeigte sich auch in dem 1899 erschienen Buch „Asia“65 – eine Art kolonialer Reisebericht – deutlich. In dem äußert populären Werk schrieb Naumann gleich zu Beginn: „Ein Theologe, ein politischer Pastor [!] ist es, der das folgende schreibt.“ In dem Buch „Asia“ schimmerten zudem Naumanns politische Standpunkte durch. „In allen Rändern des Mittelmeers sitzen Deutsche. […] Ihr habt alle etwas vom deutschen Zukunftsleben in der Hand. Es ist nicht leicht zwischen Armeniern, Griechen, Syrern, Türken, Franzosen, Russen und Engländern zu stehen. Aber ihr dürft auf keinen Fall euren Posten aufgeben!“ Immer wieder sprach Naumann den Leser direkt an, bis er sich wieder daran macht, die Landschaft mit seiner bildhaften Sprache zu beschreiben: „Einige alte Ölbäume sind von wahrhaft abenteuerlicher Schönheit. Sie haben soviel Drehungen, Windungen, Schnörkel, daß es schwer ist, ihnen keine Seele zuzutrauen.“ Zwischendurch verzierten Naumanns Skizzen das Geschriebene, um dann wieder seine imperialistischen Vorstellungen an den Mann zu bringen: „Jetzt gilt es, die Zwischenmächte zu sammeln, damit die Weltmächte nicht alles erdrücken. In diesem Sinne nimmt Deutschland das schwankende Österreich, das hungernde Italien, das zerfressene Osmanenreich an der Hand und sagt zu ihnen: Laßt uns tapfer sein. […] Unsere Parole heißt: mit dem ganzen Kontinent gegen England; mit Österreich gegen Rußland. […] Das ist eine verzweifelt schwere Lage. In dieser Lage sollte man ganz einig sein wie ein Mann. Statt dessen bewirft man die aufstrebende deutsche Arbeiterschaft mit Steinen.“66 Dieser Grundgedanke Naumanns – mit der Arbeiterschaft für ein mächtiges Deutschland – hatte sich bereits in dem Programm einer nun zu behandelnden Partei manifestiert. Der einstige Pastor der armen Leute wurde 1896 der Führer einer Partei, in der das Programm der christlichen Nächstenliebe im Gegensatz zur sozialen Frage und dem Nationalstaat nur noch eine nachgeordnete Rolle spielte.67 Was blieb, waren die erlernten homiletisch-rhetorischen Fähigkeiten, die er auf der politischen Bühne geschickt anzuwenden vermochte. Man muss die Quellen sprechen lassen, um zu verstehen, wie Naumann schrieb: „Der Strom des Maschinenlebens wird breit wie die Elbe bei Hamburg. Es hat etwas Erhabenes, ihn fluten zu sehen. Das sind also die berühmten Milliarden eisernen Sklaven! Das sind unsere schwarzen Knechte! Was für ein freies Herrenvolk könnten wir alle mit diesen Sklaven sein, wenn die Technik allein den Gang der Menschheitsentwicklung bestimmte! Fern in der Zukunft leuchtet eine Zeit, wo
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Carl Petersen, Dem Gedächtnis Friedrich Naumanns, in: Demokratische Partei-Korrespondenz vom 6. Oktober 1919, Titelseite. Friedrich Naumann, ‚Asia‘. Athen, Konstantinopel, Baalbek, Damaskus, Nazaret, Jerusalem, Kairo, Neapel, Berlin 61907. Ebd., S. 2, S. 162, S. 59 u. S. 154. Vgl. dazu auch Walter Göggelmann, Christliche Weltverantwortung zwischen Sozialer Frage und Nationalstaat. Zur Entwicklung Naumanns 1860–1903, Baden-Baden 1987.
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die Maschine alle Arbeitsgebiete ergriffen hat und wo sie allen dient.“68 So predigte Naumann von der Maschine und anderen weltlichen Gegenständen. Naumann verstand es mit Menschen umzugehen, sie durch seine Worte einzufangen und selbst komplexe Inhalte durch eine plastische Sprache verständlich zu machen. Gerade seine „Formen der Verkündung“69 spielten eine wichtige Rolle, um zu verstehen, warum Naumann auf die Menschen wirkte. Nicht nur Wilhelm Hausenstein war sich darüber bewusst, dass „das sogenannte Pastörische“70 bei Naumann entscheidend war, um die Genese des Naumann-Kreises zu verstehen. Auch Hugo Canditt hätte dieser Zuschreibung ohne wenn und aber zugestimmt. Denn für den Juristen war Naumann viel mehr Prediger, als Tagespolitiker. Wie John Ruskin und Thomas Carlyle hätte Naumann ein „Prophetenbuch schreiben“ müssen: „Damals waren viele Augen auf ihn gerichtet. […] Er sammelte sich idealistische und ernsthafte, manchmal schwärmerische und sektiererische Jugend um ihn, nicht übermäßig viel an der Zahl, aber doch mehr als zu seiner Zeit ein Politiker zur Nachfolge gewann.“71
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Friedrich Naumann, Das Blaue Buch von Vaterland und Freiheit. Auszüge aus seinen Werken, Leipzig 1913, S. 142. Grözinger, Naumann (wie Anm. 49), S. 127. Hausenstein, Naumann (wie Anm. 4), S. 420–433, hier S. 425. GStA PK, VI. HA Familienarchive und Nachlässe, Nl. Canditt, Nr. 294, Hugo Canditt, Friedrich Naumann, hier Bl. 2. u. Bl. 3.
II. GENESIS DES NAUMANN-KREISES In der 1929 erschienenen Lebenserinnerung des Bodenreformers und Naumannianers Adolf Damaschke wurde auf ein bestimmtes Phänomen der Gruppenbildung Bezug genommen, dem ein besonderes Ordnungsgefüge zu Grunde liegt: „In jeder Großstadt gibt es, und in jener Zeit des gesicherten Reichtums gab es noch mehr als heute Kreise von sozial unabhängigen Menschen, namentlich auch Frauen, denen es eine Erlösung ist, durch irgendeinen großen Gedanken herausgegriffen zu werden aus dem gewohnten, träge fließenden Alltag. […] Sie scharen sich nun […] dankbar um den Träger des neuen Gedankens. Sie bilden einen Kreis unbedingter wortgläubiger Anhänger.“1 Für den Mathematiker ist ein Kreis per definitionem eine geschlossene ebene Kurve, deren Punkte alle den gleichen Abstand (Radius) von einem festen Punkt (Mittelpunkt) haben.2 In der Kulturwissenschaft suggeriert die Kreismetapher eher eine allein im Zentrum stehende Person, die sternförmig nach außen strahlt und die restlichen Mitglieder des Kreises auf Grund ihrer besonderen Stellung bündelt.3 Hier haben die Punkte Namen, und der Mittelpunkt nimmt eine besondere Rolle innerhalb dieses Körpers ein. Die Kreismetapher ist daher im Gegensatz zu dem sonst äquivalent verwendeten Gruppen- oder Gemeinschaftsbegriff besonders gut dazu geeignet, diese Form der „asymmetrischen Beziehung“4 zu beschreiben. Das von dem Pädagogen angesprochene Phänomen der Kreisbildung war zudem gerade gegen Ende des 19.- und am Anfang des 20. Jahrhunderts anzutreffen: Man denke in diesem Zusammenhang nur an den prominenten Kreis um den charismatischen Dichter Stefan George5, an den unter dem Stern von Richard Wagner stehenden Bayreuther-Kreis6 oder auch an den weniger bekannten Kreis um den protestantischen Theologen Johannes Müller7. Gab es, so wurde in einem 1 2 3 4
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7
Adolf Damaschke, Aus meinem Leben, Berlin 1928, S. 205. Vgl. die Definition im Brockhaus, Der Brockhaus in drei Bänden, (Band 2), Leipzig 32004, S. 447. Vgl. Barbara Schlieben / Olaf Schneider / Kerstin Schulmeyer, Geschichtsbilder im GeorgeKreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004, S. 13. Vgl. zu dem Begriff der asymmetrischen Beziehung den Text von Christian Stegbauer, Weak und Strong Ties. Freundschaft aus netzwerktheoretischer Perspektive, in: Ders. (Hrsg.), Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma der Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, S. 105–119, hier S. 108. Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007; Robert E. Norton, Secret Germany. Stefan George and his Circle, Ithaca/London 2002; Zum Nachleben siehe Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009. Winfried Schüler, Der Bayreuther Kreis. Von seiner Entstehung bis zum Ausgang der Wilhelminischen Ära. Wagnerkult und Kulturreform im Geiste Völkischer Weltanschauung, Münster 1971; Udo Bermbach, Richard Wagner in Deutschland. Rezeption – Verfälschungen, Stuttgart/ Weimar 2011. Harald Haury, Von Riesa nach Schloß Elmau. Johannes Müller (1864–1949) als Prophet, Unternehmer und Seelenführer eines völkisch naturfrommen Protestantismus, Gütersloh 2005.
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Sammelband aus dem Jahre 1924 gefragt, typische Merkmale solcher „moderner Lebenskreise“8? Der Germanist und Georgianer Friedrich Gundolf beschrieb das Spezifikum des George-Kreises einst mit folgenden Worten: „[V]ereinigt durch die unwillkürliche Verehrung eines großen Menschen.“9 Nach dieser Definition wird deutlich, dass die Wirkungsmächtigkeit einer charismatischen Persönlichkeit unabdingbar ist, um die Vergemeinschaftung – mit dem soziologischen Begriff der Vergemeinschaftung wird im Folgenden der dynamische Prozess des Werdens einer Gemeinschaft bezeichnet10 – dieser Kreise zu verstehen. Ist der Naumann-Kreis mit den eben erwähnten Gruppierungen zu vergleichen? Im Gegensatz zu der sektenähnlichen Gruppe um George kann man den Naumann-Kreis eher als ein „luftiges [und] ‚ideales‘ Gebilde“ bezeichnen.11 Denn, um es in den Worten der liberalen Politikerin Hildegard Hamm-Brücher zu sagen: „Eine wirklich geschlossene Gruppe ist diese Bewegung nie gewesen. Sie war immer ein lockerer Zusammenhang von sehr unterschiedlichen Individualitäten und Temperamenten, die von Naumann fasziniert, angezogen und beeinflusst wurden.“12 Nicht nur der Naumannianer Theodor Heuss sprach in seinen Aufsätzen von dieser besonderen Qualität des Naumann-Kreises.13 Auch viele andere Autoren betonten in ihren Schriften die besondere Stellung Friedrich Naumanns innerhalb dieser Gruppe. Sie schrieben von „Naumann und [den] andern“14, von „[ihm] und seine[n] Freunde[n]“15 oder von „[Naumann] und sein[em] Kreis“16. Mehr noch: Alle schriftlichen Quellen hoben hervor, dass Naumann der geistige und menschliche Mittelpunkt des Kreises war. Selbst Marianne Weber sprach in ihrer WeberBiographie davon, dass die Naumannianer „an Naumanns Seite“ kämpften. Für
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Wilhelm Vollrath, Zur Soziologie moderner Lebenskreise um Stefan George, Johannes Müller, Grag Keyserling, Rudolf Steiner, in: Versuche zu einer Soziologie des Wissens, hg. v. Max Scheler, München/Leipzig 1924, S.347–364; vgl. auch den Sammelband Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen, hg. v. Richard Faber u. Christine Holste, Würzburg 2000. Friedrich Gundolf, George, Berlin 1920, S. 31. Vgl. Hartmut Rosa et al., Theorien der Gemeinschaft. Zur Einführung, Hamburg 2010, S. 66– 75, besonders S. 66. Joachim Radkau, Theodor Heuss, München 2013, S. 46. Hildegard Hamm-Brücher / Hermann Rudolph, Theodor Heuss. Eine Bildbiographie, Stuttgart 1983, S. 46. Theodor Heuss, Im Naumann-Kreis, in: Ders. Erinnerungen 1905–1933, Tübingen 1965, S. 22–34; Ders., Friedrich Naumann und sein Kreis, in: Vom Gestern zum Morgen. Eine Gabe für Gertrud Bäumer, Berlin 1933, S. 102–113. Rudolf Breitscheid, Naumann und die andern, in: Das Blaubuch. Wochenschrift für öffentliches Leben, Literatur und Kunst, 4 (1909), Heft 13, S. 299. Wilhelm Schack, Die um Naumann und der neue Liberalismus, in: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben, hg. v. Richard Nordhausen, 33 (1904), Band 65, S. 81. Vgl. z.B. den Eintrag von Walter Goetz am 3. November 1917, zitiert nach Wolf Volker Weigand, Walter Wilhelm Goetz 1867–1958. Eine biographische Studie über den Historiker, Politiker und Publizisten, Boppard am Rhein 1992, S. 171.
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Weber war der Naumann-Kreis schlichtweg „ein ganzer Kreis enthusiastischer […] Menschen“17. Die Sozialhistorikerin Ursula Krey hat in ihren wichtigen Aufsätzen über den Naumann-Kreis den Versuch unternommen, das Gebilde um Naumann nach statistischen Merkmalen zu strukturieren. Diese gewinnbringende Studie wird an dieser Stelle ausgewertet werden.18 Die aus der Bielefelder-Schule stammende Historikerin Krey untergliedert den Kreis dabei in drei Teilgruppen, die sich auf Grund der Intensität und Form der Beziehung zwischen Naumann und den Weggefährten, Multiplikatoren und Rezipienten ergeben. Sie beziffert die Weggefährten, die eine freundschaftliche Beziehung zu Naumann pflegten, auf 170 Personen, die Multiplikatoren auf 750 Personen und die Rezipienten auf ca. 1.700 Personen. Neben der Qualität der sozialen Beziehung lassen sich zudem Aussagen über die Berufsgruppen des Naumann-Kreises treffen. Krey kommt zu folgendem Ergebnis: 24 % der untersuchten Naumannianer waren Wissenschaftler, wobei die Geisteswissenschaft einen Anteil von 80 % stellte, 15 % waren Pfarrer und Geistliche, 12 % kamen aus der Pressearbeit und Publizistik, 11 % hatten einen höheren Beamtenstatus inne, 7 % waren beim Militär und weitere 7 % waren Lehrer und Angestellte. Weniger vertreten hingegen waren Rechtsanwälte, Ärzte, Arbeiter, Unternehmer oder Handwerker. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Inho Na in seiner Dissertation über den Naumann-Kreis während der Zeit des Nationalsozialen Vereins. Denn blickt man auf die Berufe der Delegierten auf den Vertretungstagen des Nationalsozialen Vereins, so fällt auf, dass Angehörige des Bildungsbürgertums den Ton angaben. In erster Linie waren Geistliche, Professoren, Höhere Beamte und Schriftsteller vertreten.19 Darüber hinaus versucht Krey den Kreis nach Konfession und Geschlecht zu gliedern. Die Frage nach der Konfession ergibt ein nicht allzu überraschendes Bild, wobei die Katholiken und Juden mit 8 bzw. 12 % der 484 Naumannianer in Kreys Datensatz doch eine beachtliche Größe darstellen, wenn man bedenkt, dass Naumann ein protestantischer Pfarrer war. Auch wenn laut Krey nur ca. 10 % aller Naumannianer dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind, so sticht der hohe Anteil der emanzipierten, bürgerlichen Frauenrechtlerinnen – wie Gertrud Bäumer, Elly Heuss-Knapp oder Ricarda Huch – sofort ins Auge.20 Mit welchem Begriff lässt sich der Naumann-Kreis am besten fassen? Krey spricht in ihren Aufsätzen von einem „personenzentrierte[n] Milieu in einer politischen Emanzipationsbewegung“. Ergänzt jedoch auch, dass dieser Begriff nur „wenig über die Qualität des Zusammenhalts“ des Kreises aussagt.21 Obwohl Krey 17 18 19 20
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Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 31984, S. 142. Vgl. im Folgenden Ursula Krey, Demokratie durch Opposition. Der Naumann-Kreis und die Intellektuellen, in: Kritik und Mandat. Intellektuelle in der Deutschen Politik, hg. v. Gangolf Hübinger u. Thomas Hertfelder, Stuttgart 2000, S. 71–92 u. bes. S. 76–79. Vgl. auch Inho Na, Sozialreform oder Revolution. Gesellschaftspolitische Zukunftsvorstellungen im Naumann-Kreis 1890–1903, Marburg 2003, S. 62 f. Vgl. Angelika Schaser, Bürgerliche Frauen auf dem Weg in die linksliberalen Parteien (1908– 1933), in: Historische Zeitschrift 263 (1996), S. 641–680, bes. S. 649; vgl. dazu Ursula Krey, Der Naumann-Kreis. Charisma und politische Emanzipation, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, S. 116–147, hier S. 123–124, S. 141. Vgl. Krey, Charisma und politische Emanzipation (wie Anm. 20), hier S. 124; vgl. dazu auch
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daraufhin selbst von dem „‚Charisma‘ als zentraler Schlüssel zum Verständnis des Naumann-Kreises“ spricht, geht sie nur am Rande und nicht systematisch auf die charismatischen Eigenschaften Naumanns ein. Zudem heißt es bei Krey in aller Deutlichkeit „Für den Naumann-Kreis ergibt sich aus dieser Vorgabe ein Wechsel in der methodischen Perspektive, und zwar weg von der Konzentration auf Naumann hin zu den Erwartungen der Angehörigen des Kreises.“22 Um die Kreisbildung zu verstehen, muss man sich auf den Kreisbildner konzentrieren. Nur über Naumanns Persönlichkeit – eine Verknüpfung von Leben und Werk – kann die Genese des Naumann-Kreises nachvollzogen werden. Nur über diesen Weg kann man verstehen, warum Elly Heuss-Knapp schreiben konnte: „Die Jugend aber liebte ihn und bildete seine freiwillige Gefolgschaft.“23 Das bedeutet natürlich nicht, dass die Erwartungshaltungen der Naumannianer unter den Tisch gekehrt werden. Vielmehr führt der Weg über die gesellschaftlichen, politischen und auch ästhetischen Angebote Naumanns hin zu den Vorstellungen der Naumannianer. Wer war dieser Friedrich Naumann? Man kann es nur noch einmal wiederholen: Friedrich Naumann ist der Schlüssel des Naumann-Kreises. Der Journalist Georg Bernhard schilderte den Naumann-Kreis mit folgenden Worten: „Ein großer Teil der Professoren deutscher Hochschulen war um Naumann versammelt, und inmitten dieses Kreises wirkte Naumann wie ein politischer Missionar, nicht wie ein Parteiführer. Um seinen Verein und um seine Zeitschrift bildete sich eine Gemeinde von Gläubigen, eine Schar von Männern und Frauen, die ihn verehrten, die ihm Ehrfurcht und Liebe entgegenbrachten.“24 Der Zeitungsartikel aus dem Jahre 1919 zeigt zudem deutlich, dass sowohl Naumanns Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ als auch dessen 1896 gegründeter Nationalsoziale Verein eine wichtige vergemeinschaftende Funktion innerhalb des Naumann-Kreises einnahmen.25 Wenn man sich auf eine offizielle Geburtsstunde des Naumann-Kreises einigen müsste, dann fällt der 23. November des Jahres 1896 ins Auge. Über die Gründungsversammlung des Nationalsozialen Vereins im Kaisersaal in Erfurt schrieb Naumann in seiner kurzlebigen Tageszeitung ‚Die Zeit‘ passend: „Denn lange genug haben sie empfunden, was es heißt politisch heimatlos sein, was es heißt nirgends einen Kreis zu haben.“26 Doch schon vor der Parteigründung sammelte
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26
die Argumentation von Thomas Hertfelder, Meteor aus einer anderen Welt. Die Weimarer Republik in der Diskussion des Hilfe-Kreises, in: Vernunftrepublikaner in der Weimarer Republik, hg. v. Andreas Wirsching u. Jürgen Eder, Stuttgart 2008, S. 29–55, hier bes. Fußnote Nr. 29 aus S. 36. Krey, Charisma und politische Emanzipation (wie Anm. 20), S. 125. Elly Heuss-Knapp, Gedenkworte an Friedrich Naumann, in: Dies., Alle Liebe ist Kraft. Aufsätze und Vorträge von Elly Heuss, hg. u. eing. von Anna Paulsen, München/Hamburg 1965, S. 85. Georg Bernhard, Friedrich Naumann, in: Vossische Zeitung vom 28. August.1919, S. 1 f. Franz Gerrit Schulte, Der Publizist Hellmut von Gerlach (1866–1935). Welt und Werk eines Demokraten und Pazifisten, München 1988, S. 38; vgl. dazu schon ausführlich Ursula Krey, Der Naumann-Kreis im Kaiserreich. Liberales Milieu und protestantisches Bürgertum, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 7. Jahrgang 1995, S. 57–81, bes. S. 72–77. Die Begrüßungsversammlung in Erfurt, in: Die Zeit 1 (1896), 24.11.1896, S. Beiblatt; vgl. dazu auch Na, Naumann-Kreis (wie Anm. 19), S. 50.
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Naumann Menschen um sich. Naumann besaß bereits als Vereinsgeistlicher in Frankfurt am Main eine Personalgemeinschaft, die „in alle Stände und Schichten reichte.“27 In einem Brief an seine Mutter aus dem Jahre 1890 berichtete der protestantische Pfarrer Naumann, dass zu den abendlichen Vorträgen bis zu zweihundert Hörer strömten, wobei der Mangel an Raum weitere Zuhörer ausschloss.28 Auch der Pfarrer Martin Wenck zeichnete in seinen Erinnerungen ein interessantes Bild dieser Frankfurter Jahre und danach: „In meinem Lebensweg wurde er [seitdem] bestimmendes Schicksal. Ich verliess [sic!] meinen theologischen Beruf, um für seine Ideen mitzuwerben [sic!]. Ohne diese Bekanntschaft und die persönliche Freundschaft mit ihm sässe [sic!] ich voraussichtlich heute in irgend einem badischen Kirchenamt, hätte ein relativ sorgenloses und geruhsames Leben führen können.“29 Von Naumann schien eine besondere Wirkung auszugehen, die vor allem junge Menschen in ihren Bann zog. Der spätere Journalist Wenck sollte einer dieser jungen Menschen sein, die wie Theodor Heuss Naumann „ihr Herz und ihren Glauben schenkten; [die sich] von Konventionen und Bindungen [trennten], [um] ihm zu folgen, bedingungslos.“30
Friedrich Naumann, „Lesen Sie die Hilfe“ (1905–1914) Quelle: Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Archiv des Liberalismus, N 46-15 (51) 27 28 29 30
Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, München/Hamburg 31963. S. 90. Vgl. ebd., S. 91 BArch N 3001, 70, Martin Wenck, Wandlungen und Wanderungen. Ein Sechziger sieht sein Leben zurück, S. 216. Heuss, Naumann (wie Anm. 27), S. 133.
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Heuss kam in seiner penibel recherchierten Naumann-Biographie auch auf die Entstehung des Naumann-Kreises zu sprechen: „Als im Dezember 1894 die Wochenschrift ‚Die Hilfe‘ ihre Probenummern hinaussandte, war sie nicht bloß der publizistische Versuch eines einzelnen, vielmehr das Sprachrohr einer Gruppe. Die war noch ungeformt, aber sie war vorhanden. Sie würde sich als Kreis der ‚jüngeren Christlich-Sozialen‘ bezeichnet haben.“31 Ebenfalls hob Martin Wenck in einem Aufsatz hervor, dass nur über „die Entwicklung der jüngeren Christlichsozialen“ […] die Entstehung der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘“ zu verstehen ist: Es bedurfte eine Zeitung, um Naumanns „sozialpolitische Anschauungen zu vertreten.“32 Im Jahre 1890 war die Drucktechnik schon so weit fortgeschritten, dass es ohne Probleme möglich war, hunderttausend vier-Seitige Tageszeitungen in einer Stunde zu drucken. Die Zeitungslektüre gehörte Ende des neunzehnten Jahrhunderts zum modernen Lebensalltag des industrialisierten Deutschlands dazu. Neben der Innovation der Linotype-Setzmaschine war es vor allem die Zunahme der Lese- und Schreibfähigkeit, die zu diesem Boom der Tagespresse im Reich führte, wodurch die Auflagen der Zeitungen und Zeitschriften bis zum Kriegsbeginn kontinuierlich stiegen. Zeitungen und Zeitschriften wurden vermehrt der Quell neuer Informationen, waren Ratgeber und Instrukteur für Millionen von Menschen.33 Wie der Name schon andeutet, wollte der Herausgeber Naumann mit der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘, die zu Beginn den markanten Untertitel ‚Gotteshilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe, Selbsthilfe‘ trug, dem Leser durchaus helfen; oder anders ausgedrückt, dem Leser eine Orientierung bieten. Die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ war somit eine Informationsbroschüre und ein Ratgeber. Darüber hinaus kann die Zeitschrift ab einem gewissen Zeitpunkt zurecht als „ein Ideenlabor in Deutschland“34 bezeichnet werden. Vor allem in der Zeit nach der Auflösung des Nationalsozialen Vereins wurde man von einem reichhaltigen Themenangebot nahezu erschlagen: Paul Schubring schrieb über „Boccaccio“35, Wilhelm Heile machte sich Gedanken über die „Zollpolitik und Fleischversorgung“36, Friedrich Naumann forderte „Mehr Kinder!“37, Paul Rohrbach vermerkte „Kritisches zur deutschen Kolonialpolitik“38, Theodor Heuss grübelte über „Stefan George und seinen Kreis“39, Richard Charmatz in-
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Ebd., S. 111. Martin Wenck, Die Entwicklung der jüngeren Christlichsozialen. Ein Beitrag zur Geschichte der ‚Hilfe‘, in: Patria. Jahrbuch der Hilfe 1901, S. 34–67, hier S. 49. Vgl. zu diesem Abschnitt die vorzügliche Arbeit von Corey Ross, Media and the Making of Modern Germany, Oxford 2008, S. 20 f. Philippe Alexandre, ‚Die Hilfe‘ 1894–1944. Revue libérale et laboratoire d’idées, in: Die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ 1894–1944. Ein Ideenlabor in Deutschland, Bern, Berlin et. al. 2011, S. 3– 27, zu den Themenschwerpunkten bes. S. 19. Paul Schubring, Boccaccio, in: Die Hilfe vom 11. September 1913, Nr. 37, S. 559–566. Wilhelm Heile, Zollpolitik und Fleischversorgung, in: Die Hilfe vom 18. September 1913, Nr. 38, S. 596 f. Friedrich Naumann, Mehr Kinder!, in: Die Hilfe vom 2. Oktober 1913, Nr. 40, S. 626–628. Paul Rohrbach, Kritisches zur deutschen Kolonialpolitik, in: Ebd., S. 628–630. Theodor Heuss, Über Stefan George und seinen Kreis, in: Ebd., S. 632–634.
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formierte über „die österreichische Verwaltung“40, Hugo Preuß belehrte „zur Verwaltungsorganisation größter Städte“41 und Helene Voigt-Diederichs dachte über das „Frauenstimmrecht“42 nach. Es wird einem auch klar, warum die Zeitschrift zu dieser Zeit bereits den Untertitel „Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst“ führte und nicht mehr wie zuvor als „Nationalsoziale Wochenschrift“ bezeichnet wurde. Neben den Aufsätzen zu Politik, Kultur und Wirtschaft fand der Leser zudem zahlreiche Gedichte und Auszüge anderer literarische Gattungen wieder. Die Wochenzeitschrift ‚Die Hilfe‘ wirkte darüber hinaus auf ganzer Linie vergemeinschaftend und kreisbildend.43 Die spätere Ehefrau von Heuss, Elly Knapp, schrieb dazu in ihren Lebenserinnerungen aus dem Jahre 1934: „Ich hatte von Friedrich Naumann zunächst die Andachten kennengelernt, die jede Woche in seiner ‚Hilfe‘ standen. Das war eine ganz neue Sprache. […] Naumann war ein Mann unsrer Tage, man lernte bei ihm neues Fragen. […] Daß Naumann aus dem Pfarramt in die Politik gegangen war, erfuhr ich beim Tanzen von […] Walter Leoni, und ‚Die Hilfe‘ hielt ich von meinem Taschengeld.“44 Der erfrischende Stil Naumanns hatte es der jungen Knapp angetan. Genauso deutlich und voller Eifer vermerkte die überzeugte Naumannianerin in einem Brief, den die damalige Schülerin an ihren verehrten Naumann im Jahre 1902 gesandt hatte: „Hochverehrter Herr Pfarrer, als mir in diesen Tagen ganz unerwartet ein kleines Legat zufiel, war es mein erster Gedanke und meine erste Freude, Ihnen einen Teil davon für die nationalsoziale Sache zur Verfügung zu stellen. […] Ich möchte so gerne die Gelegenheit benutzen, um Ihnen zu danken für alles, was Sie seit Jahren, ohne es zu wissen, für mich getan haben. Ich kann sagen, dass Sie keinen geringen Teil an meiner Erziehung hatten, ich war fast noch ein Kind, als ich mir schon von meinem ersten Taschengeld ‚Die Hilfe‘ hielt.“45 Denn nur mit finanzieller Hilfe konnte ‚Die Hilfe‘ im Jahre 1895 endgültig wöchentlich erscheinen. An dieser Stelle können die Darlehensgeber Adolf von Harnack, Professor der Kirchengeschichte, Hans Delbrück, Militärhistoriker, Max Weber, Nationalökonom und besonders der Philanthrop und Bankier Charles Hallgarten46 genannt werden, ohne deren finanzielle Unterstützung das Zeitungsprojekt nicht hätte umgesetzt werden 40 41 42 43
44 45 46
Richard Charmatz, Die österreichische Verwaltung, in: Die Hilfe vom 6. November 1913, Nr. 45, S. 707 f. Hugo Preuß, Zur Verwaltungsorganisation größter Städte, in: Die Hilfe vom 20. November 1913, Nr. 47, S. 740–743. Helene Voigt-Diederichs, Frauenstimmrecht, in: Die Hilfe vom 11. Dezember 1913, Nr. 50, S. 792 f. Vgl. dazu schon Krey, Charisma und politische Emanzipation (wie Anm. 20), S. 135–136; vgl. Dies., Von der Religion zur Politik. Der Naumann-Kreis zwischen Protestantismus und Liberalismus, in: Religion im Kaiserreich. Milieus-Mentalitäten-Krisen, hg. v. Olaf Blaschke u. Frank-Michael Kuhlemann, Gütersloh 1996, S. 350–381, S. 364 f. Elly Heuss-Knapp, Ausblicke vom Münsterturm. Erinnerungen, Stuttgart 2008, S. 38. Elly Knapp an Friedrich Naumann, in: Elly Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten. Ein Leben in Briefen und Aufzeichnungen, hg. v. Margarethe Vater, Tübingen 21961, S. 32; Zitat auch bei Krey, Charisma und politische Emanzipation, (wie Anm. 20), S. 139. Vgl. BArch Berlin Nachlass Naumann N 3001, 147, Friedrich Naumann an Charles Hallgarten vom 29. November 1907.
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können. Zudem ergänzte Heuss: „Neben der Werbung für den christlich-sozialen Gedanken“ [diente der Darlehensvertrag auch Naumann] „eine unabhängige Lebensstellung zu verschaffen.“47 Diese Großzügigkeit der renommierten Professoren kann als Beweis für deren Glaube an Naumann gewertet werden. Ein charismatischer Führer – so die Argumentation im nächsten Kapitel – arbeitet nicht für das Einkommen, sondern für die Sache. Die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ war das Presseorgan der Naumanngemeinde. Mit Hilfe dieses Mediums konnten die Ideen Naumanns das erste Mal breiteren Kreisen zugänglich gemacht werden, wobei in erster Linie ein gebildetes Publikum zu der Wochenzeitschrift griff.48 Noch in einem Brief des Historikers Carl Jakob Burckhardt an Theodor Heuss aus dem Jahre 1950 kam man auf die vergemeinschaftende Rolle dieser Zeitschrift zu sprechen: „Mit der Gestalt Naumanns verbindet mich eine persönliche Erinnerung aus meiner Jugend. Mein im Jahr 1915 verstorbener Vater war ein sehr aufmerksamer Leser des großen Sozialpolitikers. Er erhielt regelmäßig ‚Die Hilfe‘, und ich erinnere mich daran, als sei es erst gestern gewesen, wie er mir einmal aus der Schrift ‚Österreich und Deutschland‘ vorlas.“49 Dass es mit der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ darüber hinaus möglich war, raumübergreifend zu kommunizieren, verdeutlicht eine nette Geschichte des Archäologen Ludwig Curtius über ein Treffen mit dem Historiker Walter Goetz: „Ich lernte das ausgezeichnete von Naumann herausgegebene und von ihm und seinen Anhängern geschriebene, so bescheidene Wochenblättle ‚Die Hilfe‘ kennen und weil ringsum im Reich die Leser der ‚Hilfe‘ sich zusammenschlossen, forderte ich in einer Anzeige in der ‚Hilfe‘ im Frühjahr 1896 die ‚Hilfe‘-Leser in München zum Zusammenschluß unter Angabe meiner Adresse auf. Zu meiner Überraschung stand in der gleichen Nummer der ‚Hilfe‘, die mein Aufruf brachte, ein zweiter gleichlautender aus München mit der Unterschrift Dr. Walter Goetz. Ich überlegte mir gerade, diesen Herren aufzusuchen, da klingelte es an meiner Tür.“50 In einer Dissertation über die „Publizistik der national-sozialen Bewegung“51 aus dem Jahre 1934 wurde die „Bedeutung der periodischen Druckschrift bei der Gruppenbildung“ um Naumann bereits minutiös herausgearbeitet. Im Besonderen trugen die eben erwähnten Anzeigen in der Wochenzeitschrift dazu bei, dass sich die Naumannianer persönlich kennen lernten. Durch die in dem Medium enthaltene Briefkasten-Rubrik konnten die Leser des Naumann-Blattes zudem direkt miteinander in Kontakt treten und weitere Vorgehen planen. So wurden beispielsweise auch während des ‚Evangelisch Sozialen Kongresses‘ unter dem Namen „Versammlung von Freunden der Hilfe“ Kolloquien abgehalten, an denen die Leser des
47 48 49 50 51
Heuss, Naumann (wie Anm. 27), S. 113. Vgl. Fritz Auer, Friedrich Naumann, in: Persönlichkeiten. Illustrierte Essays über führende Geister unserer Tage (Heft IV), hg. v. Willy Leven, Charlottenburg 1908, S. 14. Carl Jakob Burckhardt an Theodor Heuss am 24.8.1950, in: Carl Jakob Burckhardt, Briefe. 1919–1969, Bern/München/Wien 1971, S. 251. Ludwig Curtius, Deutsche und Antike Welt. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1950, S. 157. Im Folgenden Carl Schneider, Die Publizistik der national-sozialen Bewegung 1895–1903 (zugl. Diss.), Berlin 1934, S. 12 u. S. 24–26.
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Wochenblattes teilnahmen.52 Ohne die Wochenzeitschrift wären diese Treffen der Naumannianer nicht in diesem Ausmaße zustande gekommen. Die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ wirkte in hohem Maße kreisbildend. Nicht nur die Leser fanden zusammen, gerade die Autoren des Blattes wurden durch die gemeinsame Arbeit zusammengeschweißt. Die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer sprach diesen Aspekt in ihren Erinnerungen direkt an: „Ende 1912 hatte Friedrich Naumann mich eingeladen, in die Schriftleitung seiner Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ einzutreten. Ich hatte die redaktionelle Verantwortung für den nicht-politischen Teil und sollte an dem politischen mitarbeiten. In der bescheidenen Etage des furchtbar hässlichen Mietshauses in Schöneberg mit dem schönen Blick auf den Friedhof begann eine Arbeitsgemeinschaft, die immer enger wurde und sich mit der Wärme einer tiefen Freundschaft füllte.“53 Es war die vertraute Arbeitsatmosphäre an sich, die vergemeinschaftend auf die Naumann-Gemeinde wirkte und Strukturen schuf, so die Argumentation im zweiten Teil der Arbeit, die noch lange nach Naumanns Tod bestehen sollten. Doch bevor das Nachleben Naumanns im Fokus der Betrachtung steht, gilt es an dieser Stelle die Bedeutung des Nationalsozialen Vereins hervorzuheben. Naumann wurde im Jahre 1896 zum Führer einer Partei ernannt, die sich ‚nationalsozial‘ nannte. Mit der Gründung dieses Vereins wuchs der Naumann-Kreis noch enger zusammen. Der Historiker Erich Eyck schrieb in einer undatierten Schrift über die Naumannsche Partei: „Naumann, a former protestant pastor, an idealist and sincere personality of the highest eloquence, had in the last years of the nineteenth century tried to combine the two strongest tendencies of the time, the national and the social, in a unified movement.“54 Zynisch hingegen illustrierte die sozialdemokratisch gesinnte ‚Leipziger Volkszeitung‘ die Gründung des Nationalsozialen Vereins: „Um Naumanns Panier scharen sich die rücksichtslosen Elemente des Gelehrtenproletariats, Kandidaten der Theologie, die achtbare und sozialpolitisch beschränkte Gruppe der Hungerpastoren. […] Eine farbige Schar verschiedener Elemente, Deklassierte und unaufgeklärte Proletarier, Kleinbürger, Leute, die an dem bestehenden [sic!] verzweifeln, […], die das Feuer der sozialen Idee mit dem Wasser des Kapitalismus einen wollen, mit einem Wort gute Leute und schlechte Musikanten, das ist die Waffe, woraus sich das Naumann’sche Aufgebot rekrutiert. Dieses kunterbunte Allerlei des Programmentwurfs von positiver Sozialpolitik, von Militär- und Flottenpatriotismus, der mit Hurra jede neue Volksbelastung bewilligt, kennzeichnet auf das Schärfste die völlige Verworrenheit der Naumannianer. Sie fordern Arbeiterschutz, allgemeines Stimmrecht, Vereinigungsfreiheit und verpflichten sich zugleich, den Militarismus […] zu stärken, zu verewigen.“55
52 53 54 55
Vgl. Wilhelm Kulemann, Politische Erinnerungen. Ein Beitrag zur neueren Zeitgeschichte, Berlin 1911, S. 188. Gertrud Bäumer, Lebenswege durch die Zeitenwende, Tübingen 1933, S. 250. BArch Koblenz, Nachlass Erich Eyck, N 1724, 2, Erich Eyck, Friedrich Naumann, Naumann’sches, zitiert nach N. [Friedrich Naumann], Wochenschau, in: Die Hilfe 2 (1896), Nr. 39, S. 1; Zitat auch bei Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983, S. 60.
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Arbeiterschaft und Bürgertum waren in den Augen vieler Sozialdemokraten nicht kompatibel. Der einstige Vereinsgeistliche Friedrich Naumann wurde mit der Parteigründung des Nationalsozialen Vereins zu einem weltlichen Parteiführer, worüber auch das ‚Frankfurter Journal‘ mit ironischem Unterton berichtete: „Den deutschen Landen ist jetzt ein neuer, kleiner Reformator geweckt worden, Friedrich Naumann, der mit dem alten, großen Luther gar Manches gemein hat oder bis vor Kurzem wenigstens gehabt hat: die theologische Vorbildung wie den theologischen Beruf. […] Luther der Kleine alias Naumann […] hat sich […] von Anfang an aufs weltliche Reformieren gekürzt und hier sein Programm von Tag zu Tag erweitert: zuerst wollte er den Arbeitern helfen, jetzt ist er schon so weit gediehen, daß er Allen helfen, Alle retten will, Arbeiter und Bürger zugleich; er will als Reformator unseres gesamten politischen, öffentlichen Lebens genommen werden.“56 Ein interessanter Vergleich, wenn man bedenkt, welche Erfolge Luther letzten Endes aufweisen konnte. Doch der anonyme Autor des zynisch formulierten Beitrags erkannte, dass Naumann sich sowohl für die Belange der Bürger als auch für die Anliegen der Arbeiter einsetzte. Energisch kämpfte Naumann für die gesellschaftliche und politische Integration des Proletariats. Neben den politischen Zugeständnissen (Tarifverträge, Arbeiterschutz, Wahlreform in Preußen) für die Arbeiterschaft, lag Naumann vor allem die Sensibilisierung des Bürgertums für die soziale Frage am Herzen. Im Gegenzug verlangte Naumann von den Arbeitern ein klares Bekenntnis zum Nationalstaat. Innenpolitik und Außenpolitik bedingten sich bei Naumann gegenseitig: „Dieser neudeutsche Patriotismus ist seinem Wesen nach eine Fortsetzung des liberalen Patriotismus des vorigen Jahrhunderts, nur unterscheidet er sich von ihm in seinen Aufgaben. […] Mit den Schiffen stärken wir das Deutschtum nach außen und mit den sozialen Gesetzen nach innen. Machtpolitik und Reformpolitik ist der Inhalt des neudeutschen Patriotismus.“57 Das Parteiprogramm kann daher zurecht als eine „Synthese von Sozialismus und Nationalismus“ bezeichnet werden.58 In dem nationalsozialen Katechismus, der sich auch in formaler Hinsicht – eine Art Frage-und-Antwort-Spiel – von anderen Parteiprogrammen unterscheidet, wurden die Grundlinien der Partei dargestellt: „1. Warum nennt ihr euch nationalsozial? Weil wir glauben, daß das Nationale und das Soziale zusammengehören. 2. Was ist das Nationale? Es ist der Trieb des deutschen Volkes, seinen Einfluß auf der Erdkugel auszudehnen. 3. Was ist das Soziale? Es ist der Trieb der arbeitenden Menge, ihren Einfluß innerhalb des Volkes auszudehnen. 4. Wie hängt beides zusammen? Die Ausdehnung des deutschen Einflusses 56 57 58
„Reformator“ Naumann, in: Frankfurter Journal vom 19. Oktober 1901, Titelblatt. Friedrich Naumann, Vertiefung der Vaterlandsliebe [Vorwort], in: Patria. Jahrbuch der Hilfe 1903, S. I–II. Vgl. dazu ausführlich Dieter Düding, Der Nationalsoziale Verein 1896–1903. Der gescheiterte Versuch einer parteipolitischen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus, München/Wien 1972, bes. S. 63–108; oder auch Theiner, Naumann (wie Anm. 55), S. 53–105; vgl. dazu auch Naumanns Diktum an prominenter Stelle „Das Bekenntnis zur Nationalität und zur Menschwerdung der Masse sind für uns nur zwei Seiten ein und derselben Sache“, in: Friedrich Naumann, Das Blaue Buch von Vaterland und Freiheit. Auszüge aus seinen Werken, Leipzig 1913, gleich nach der Titelseite unter seinem Porträt; handschriftlich.
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auf der Erdkugel ist unmöglich ohne Nationalsinn der Masse.“59 Die genannten Antworten unterstreichen deutlich die nationalistische und imperialistische Haltung der Naumannschen Partei.60 Aber Alys Behauptung, dass der Liberalismus „unter der Ägide von Friedrich Naumann“ zerstört wurde, verkennt Naumanns liberale und vor allem auch soziale Handschrift.61 Versuchte Naumann nicht vielmehr, den deutschen Liberalismus durch nationale und soziale Ideen zu erweitern? Ein Liberalismus, der unter dem Dach eines starken und mächtigen Staates, die Demokratisierung vorantreiben sollte?62 Zumindest für die Naumannianer war die Symbiose von nationalen, sozialen und liberalen Gedanken ausschlaggebend und richtungsweisend, wie der Naumannianer Georg Hohmann in der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ hervorhob: „[Der Liberalismus] hatte seine große Zeit hinter sich und sich schneller an Kraft ausgegeben, als man hätte erwarten sollen. Er schien uns in nationaler Beziehung verflacht und zur Phrase geworden, und was wir an Auffassung von der sozialen Frage fanden, war zum Teil recht hausbacken und trocken. […] Die Jugend aber verlangte und 59
Vgl. Friedrich Naumann, Nationalsozialer Katechismus, in: Ders., Werke (Fünfter Band, Schriften zur Tagespolitik), bearb. v. Alfred Milatz, Köln 1967, S. 199–233, hier S. 200 f. 60 Vgl. Moshe Zimmermann, A Road not Taken. Friedrich Naumann’s Attemp at a Modern German Nationalism, in: Journal of Contemporary History 17 (1982), S. 689–708; oder auch Ludwig Dehio, Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1961, S. 72 u. S. 77 ff.; vgl. auch Werner Conze, Friedrich Naumann. Grundlagen und Ansatz seiner Politik in der nationalsozialen Zeit (1895–1903), in: Schicksalswege deutscher Vergangenheit. Beiträge zur geschichtlichen Deutung der letzten hundertfünfzig Jahre, Düsseldorf 1993, S. 355– 386 u. die ausgewogene Bewertung von Friedrich C. Sell, Die Tragödie des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1953, S. 290–295, bes. S. 290: „Naumann ist menschlich die anziehendste Gestalt in der Geschichte des deutschen Liberalismus. Anziehend aber auch problematisch, so viel Widersprüche begegneten sich in ihm.“ Ähnlich argumentiert Ralph Raico, Die Partei der Freiheit. Studien zur Geschichte des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1991, S. 146: „Die endgültige Kapitulation des deutschen Liberalismus bewirkte Friedrich Naumann.“ 61 Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800– 1933, Frankfurt am Main 2011, hier. S. 10 u. bes. auch S. 136–143; differenzierter hingegen ist Frank Fehlberg, Protestantismus und Nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politisches Denken um Friedrich Naumann (zugl. Diss. 2011), Bonn 2012, S. 424; vgl. dazu Thomas Hertfelder, Rezension zu Frank Fehlberg, Protestantismus und Nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politisches Denken um Friedrich Naumann, Bonn 2012, in: H-Soz-u-Kult, 08. Oktober 2012, („http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-4-024“); vgl. dazu auch Jürgen Frölich, „Wirklich staatsmännisch veranlagter Kopf“ oder eher „Prophet und Lehrmeister“? Friedrich Naumann als liberaler Politiker im Kaiserreich, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 23. Jahrgang 2011, S. 81–93, hier S. 82; oder Ders., „Jede Zeit hat ihre Freiheiten, die sie sucht.“ Friedrich Naumann und der Liberalismus im ausgehenden Kaiserreich, in: Detlef Lehnert, Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 135–157, hier S. 136; vgl. auch Peter Merseburger, Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident, München 2012, S. 62–67. 62 Vgl. zur Rolle des Staates bei Naumann vor allem Stefan-Georg Schnorr, Liberalismus zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Reformulierung liberaler politischer Theorie in Deutschland und England am Beispiel Friedrich Naumann und Leonard T. Hobhouse, Baden-Baden 1990, S. 229–241, bes. S. 236 f.: „Der Staat ist die zentrale Bezugsinstanz für Naumanns reformpolitische Vorstellung. […] Das Ergebnis ist somit neben Parlamentarisierung und Demokratisierung auch eine Stärkung des Staates.“
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suchte etwas anderes als den bloßen handwerksmäßigen technischen Parlamentarismus und Parteibetrieb, der sich ihr zeigte, sie suchte Gedanken, an denen sie sich in Höhe ziehen konnte. Und so war es wie eine Erfüllung, als Friedrich Naumann das aussprach, was viele fühlten.“ Als Hohmann diese Zeilen schrieb, waren genau zehn Jahre vergangen, seitdem der Nationalsoziale Verein aufgelöst wurde. Naumanns Vision von einer Integration der Arbeiter in die Gesellschaft faszinierte den damaligen Medizinstudenten immer noch. Für Hohmann war Naumann ein Erneuerer des Liberalismus, der es zudem verstand, Inhalte in formaler Hinsicht zu veredeln: „Was Naumann vortrug, das war eine durchaus neuartige Verbindung alter Gedanken, eine vertiefte Herausarbeitung der politischen Begriffe, ein Neudurchdenken des alten Stoffes, der durch die Eigenart der Bearbeitung, durch Beleuchtung und Formulierung von uns als ein völlig Neues erlebt wurde.“63 Auch der Philologe und Naumannianer Heinrich Meyer-Benfey bemerkte dazu in der ersten Naumann-Biographie: „Nationalismus, Liberalismus und Sozialismus gehören zusammen, denn nur vereint ergeben sie eine gesunde deutsche Politik.“64 Neu war vor allem, dass eine staatstragende und nationale Partei sozial dachte! Wenn man so will, träumte Naumann von einer Überwindung der Klassengegensätze auf demokratischem Wege: „Es gilt, den Industrieproletarier ebenso zu befreien, wie man zum Heil des Staates vor 100 Jahren den Bauern befreit hat. […] Aus Industrie-Untertanen müssen Industriebürger gemacht werden!“65 Gerade dieser Gedanke beeindruckte die Naumannianer. Welche kaisertreue und organisierte Gruppierung stellte sich zudem während des Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896/9766 demonstrativ auf die Seite der Arbeiter und rief zu einer Spendenaktion auf? Friedrich Naumann, Eduard Baumgarten und auch Ferdinand Tönnies unterstützten mit dieser kontrovers diskutierten Aktion die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, was der gegnerischen Presse missfiel: „Wir wollen uns die Namen dieser Herren merken, die, anstatt ihren Berufsgeschäften obzuliegen, sich um Dinge kümmern, von denen sie nicht verstehen und die sie nichts angehen. […] Wir rechnen bestimmt darauf, daß die zuständigen Behörden in allen Bundesstaaten die Sammlungen, zu denen Naumann und ‚Genossen‘ einladen, verbieten und die Urheber zur Verantwortung ziehen.“67 Naumann musste sich daraufhin vor Gericht verantworten. Naumanns Versuch eine milieuübergreifende Partei zu bilden, kann ohne Zweifel als etwas Einzigartiges in der deutschen Parteienlandschaft im Kaiserreich interpretiert werden. Für den Historiker Friedrich Meinecke war der Nationalsoziale Verein gar einer „der edelsten Träume der deutschen Geschichte“. Zudem vermu63 64 65 66 67
Georg Hohmann, Von den jungen Nationalsozialen, in: Die Hilfe vom 28. August 1913, Nr. 35, S. 548. Heinrich Meyer-Benfey, Friedrich Naumann. Seine Entwicklung und seine Bedeutung für die deutsche Bildung der Gegenwart, Göttingen 1905, S. 193. Friedrich Naumann, Patria! [Vorwort], in: Patria. Jahrbuch der Hilfe 1907, S. IV. Vgl. dazu Düding, Der Nationalsoziale Verein (wie Anm. 58), S. 109–113. Der Artikel befindet sich in den ‚Hamburger Nachrichten‘ vom 22. Januar 1997, zitiert nach Carl Legien, Der Streik der Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg-Altona. Darstellungen der Ursachen und des Verlaufs des Streiks, sowie der Arbeits- und Lohnverhältnisse der im Hafenverkehr beschäftigten Arbeiter, Hamburg 1897, S. 71.
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tete er: „Wäre es ihm gelungen, die Vereinigung der beiden Wellen zu erreichen, d. h. Bürgertum und Arbeiterschaft in den großen Hauptfragen des öffentlichen Lebens in Harmonie zu bringen. Wäre es ihm gelungen, so würde es wohl nie zu einer Hitlerbewegung gekommen sein.“68 Aber Naumann gelang es nicht, viele Wähler für sein Programm zu gewinnen. Der Nationalsoziale Verein scheiterte deutlich bei den Reichstagswahlen um die Jahrhundertwende, weil die Kluft zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum zu tief war. Das lag in erster Linie daran, dass Naumann nicht in der Lage war, sozialdemokratische Wählerstimmen zu mobilisieren.69 Auf der anderen Seite konnten sich wiederum einige Vertreter aus dem Bürgertum nicht mit dieser arbeiterfreundlichen Partei anfreunden. Der deutsche Ökonom und Finanzwissenschaftler Adolph Wagner schilderte in einem Brief seine Vorbehalte gegenüber Naumanns Partei: „Ich schätze Naumann persönlich und politisch, und ebenso manchen seiner Anhänger, aber ich bedaure, daß diese Nationalsozialen sich immer mehr einseitig doktrinär und agitatorisch verrennen. […] Die Nationalsozialen, Naumann voran, thun [sic!] immer so, als ob die sozialdemokratischen Arbeiter, das einzige wären, was zu berücksichtigen sei. Das ist keine geringere Einseitigkeit, als wenn andre nur die Interessen der Börse oder der Großindustrie oder des Großgrundbesitzes gelten lassen. Mit diesem Standpunkte Naumanns ist nicht mehr auszukommen.“70 In der von Damaschke herausgegebenen Zeitschrift ‚Bodenreform‘ betonte man, dass Naumann „Brücken“ schlagen wollte, „zwischen Kaisertum und Demokratie, Vaterland und Freiheit, Bildung und Arbeit und dem nationalen und dem sozialen Gedanken.“71 Doch die wenigsten wollten diese Brücken nutzen, die Naumann zu errichten versuchte. Ironisch kommentierte ein Sozialdemokrat die nationalsoziale Bewegung als „sauren Hering mit süßer Schlagsahne.“72 Der Misserfolg bei den Reichstagswahlen 1898 und 1903 schien den politischen Gegnern Recht zu geben; das Heil der Zukunft lag für die meisten Wähler eben (noch) nicht in der Verbindung von nationalen und sozialen Gedanken.73 Da war Friedrich Meinecke einer der wenigen Naumann-Wähler, die das anders sahen.74 Auch die 1896 von Naumann begründete Tageszeitung ‚Die Zeit‘ wurde nach nur einem Jahr wieder eingestellt. Die von finanziellen Problemen, unprofessioneller Herangehensweise und innerparteilicher Querelen heimgesuchte Tageszeitung konnte den Spagat zwischen Sozialdemokratie und Kaisertreue nicht aushalten. Da der Nationalsoziale 68 69 70 71 72 73 74
Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 21946, S. 34. Vgl. dazu Friedrich Sponsel, Friedrich Naumann und die deutsche Sozialdemokratie (zugl. Diss.), Erlangen 1952. Adolph Wagner an die Redaktion der Täglichen Rundschau am 6. März 1901, in: Adolph Wagner. Briefe, Dokumente, Augenzeugenberichte 1851–1917, hg. v. Heinrich Rubner, Berlin 1978, S. 351 f. Anonymus, Wie Friedrich Naumann suchte und lehrte, in: Bodenreform. Deutsche Volksstimme, 36 (1921), Nr. 1, S. 4. Anonymer Sozialdemokrat, zitiert nach Martin Wenck, Friedrich Naumann. Ein Lebensbild, Berlin 1920, S. 83. Vgl. Ebd. Vgl. Friedrich Meinecke, Erlebtes. 1862–1901, Leipzig 1941, S. 209.
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Verein nie eine eindeutige „Interessenpolitik“ vertrat, konnte sich die NaumannPartei in dem „ideologisch erstarrten Parteiensystem“ im Kaiserreich nicht durchzusetzen.75 Die nationalsoziale Partei Naumanns stand seit der Gründung „zwischen den Fronten“ und war „eine Programmpartei ohne Wählerbasis“76. Nur die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ erlebte nach 1896 einen Boom. 12.000 Exemplare wurden im Februar 1896 wöchentlich an feste Adressen versandt.77 Die Zeitschrift blieb dem Naumann-Kreis auch nach der Auflösung der Vereins als effektives Sprachrohr erhalten. Schon im Jahr 1900 erschien eine weitere „politische Bekenntnisschrift“78 des Nationalsozialen Vereins. Das auch außerhalb des Kreises wahrgenommene Buch trug den markanten Titel „Demokratie und Kaisertum“79; ein Titel, der das Naumannsche Integrationsvorhaben beim Namen nannte: „Wir stehen auf dem Boden der deutschen Reichsverfassung und wünschen ein kräftiges Zusammenwirken der Monarchie und Volksvertretung. Wir sind für Unantastbarkeit des allgemeinen Wahlrechts zu Reichstage und für Ausdehnung desselben auf Landtage und Kommunalvertretungen.“80 Auch der Wunsch nach einer parlamentarischen Monarchie sollte vorerst nicht in Erfüllung gehen; erst später bildete dieses politische Gebilde für kurze Zeit den Rahmen der deutschen Verfassung. August Bebel zog in der sozialdemokratischen Zeitschrift ‚Die Neue Zeit‘ ein vernichtendes Fazit von der Vision Naumanns: „Ein eigenartiges Gebilde sind die Nationalsozialen, die ihre Partei ins Leben riefen um ausgesprochenermassen die Arbeiter der Sozialdemokratie zu entfremden, sie für das ‚soziale Kaisertum‘ einzufangen und für Heer-, Flotten- und Weltpolitik zu begeistern. Herr Naumann, der Gründer dieser Partei, hat nie begriffen, daß ein soziales Kaisertum ein Widerspruch in sich selbst ist, und Heer-, Flotten- und Weltpolitik nur auf Kosten der Arbeiter aufrechterhalten werden kann. Darum geht er mit seiner Partei zugrunde.“81 Nach dem schlechten Abschneiden des Nationalsozialen Vereins bei den Wahlen im Jahre 1903 – Naumann kandidierte im Wahlkreis Oldenburg – griff Naumann zur Feder. In dem Artikel „Die Niederlage“ erklärte Naumann: „Wir Nationalsozialen kommen als geschlagene Truppe aus dem Kampf. […] Was tun wir, nachdem klar geworden ist, daß wir im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht parteibildend auftreten können? […] Die große Welle hat uns verschlungen. Der Bruder der Sozialdemokratie war zu schwach, um sich zu halten. […] Das große Ereignis der Reichstagswahl ist also das Anwachsen der Sozialdemokratie.“82 Auf der Sitzung des erweiterten Vorstands am 19. Juni des Jahres 1903 blickte Naumann in die Zukunft und versprach, dass er „literarisch die 75 76 77 78 79 80 81 82
So das überzeugende Fazit von Düding, Der Nationalsoziale Verein (wie Anm. 58), S. 128. Theiner, Naumann (wie Anm. 55), hier S. 53 u. S. 78–105. Vgl. Schneider, Publizistik (wie Anm. 51), S. 15. Heuss, Naumann (wie Anm. 27), S. 132 ff. Friedrich Naumann, Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik, BerlinSchöneberg 1900. Ebd., S. 229. August Bebel, Das Fazit des Wahlkampfes, in: Die neue Zeit. Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie, 21 (1903), Heft 40, S. 420–425, hier S. 424; vgl. dazu auch Sponsel, Naumann und die SPD (wie Anm. 51), S. 105. Friedrich Naumann, Die Niederlage, in: Die Hilfe vom 28. Juni 1903, Nr. 26, S. 2 f.
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Politik von ‚Demokratie und Kaisertum‘ konsequent weiterführen [werde]. Eventuell als isolierter Mensch.“83 Dass die Isolierung nicht eintraf, lag nicht zuletzt an dem Charisma Naumanns. Denn trotz der Niederlage, konnte Naumann weiterhin auf den größten Teil seiner Anhänger setzen und im Jahre 1913 zufrieden feststellen: „Und wie steht es nun? Unsere Auflösung hat segensreiche Folgen gehabt, denn sie war der erste Schritt zu Einigung des deutschen Liberalismus.“84 Die Geschichte des Nationalsozialen Vereines wurde von dem Naumannianer Martin Wenck bereits im Jahre 1905 erzählerisch dargestellt.85 Wenck, der erste Sekretär dieses Vereines, kam aus dem gleichen sozialen Umfeld wie Naumann; er war ein evangelischer Pfarrer aus der ‚wilhelminischen Generation‘. Doch auch die anderen führenden Köpfe dieser Partei, sei es der Journalist und spätere Sozialdemokrat Hellmut von Gerlach, der evangelische Pfarrer Paul Göhre, der Theologe Otto Baumgarten, der Bodenreformer Adolf Damaschke, der Kunsthistoriker Erich Schlaikjer oder der Journalist Friedrich Weinhausen, alle waren sie damals um die 35 Jahre alt. Bis auf die schon in den 40er Jahren geborenen Professoren Rudolph Sohm und Caspar René, die mit Naumann die geistige Speerspitze des Vereins bildeten, stammten die übrigen Mitstreiter Naumanns aus der Alterskohorte Wilhelms II. Viele der genannten Personen standen zudem mit Naumann schon während der Studienjahre in engem Kontakt. Die gleichen lebensweltlichen Erfahrungen, wie das Studium der Theologie, die gleichen zukünftigen Erwartungen, die Idee einer Symbiose von nationalem und sozialem Gedankengut, das gleiche Alter, sowie die gemeinsame Arbeit innerhalb einer von ihnen ins Leben gerufenen politischen Institution, wirkten zwangsläufig auf die Mitglieder dieses Vereins vergemeinschaftend.86 Friedrich Naumann war immer der eigentliche Kopf dieser Gruppe gewesen, da er von Anfang an den Rhythmus der Partei bestimmte: „Es war für Naumann charakteristisch, dass er sich von den Referaten persönlich zurückhielt und durchweg Fachleute reden ließ. Er wollte nicht, dass der Nationalsoziale Verein eine Personalgemeinde sei, auf ihn zugeschnitten. […] Aber wenn er in die Debatte eingriff, dann war er doch meist, ohne seine Absicht, die überragende Persönlichkeit, deren Einfluß sich niemand entziehen konnte.“87 Naumann, so belegen die Quellen einheitlich, hielt den erfolglosen Verein allein durch die Kraft seiner Persönlichkeit am Leben. Er war an der Gründung maßgeblich beteiligt, schlichtete bei Streitigkeiten, er entschied bei Programmfragen und er war am Ende auch derjenige, der den Antrag stellte, den Verein wieder aufzulösen. In diesem Sinne fasste Hellmut von Gerlach die Jahre des Nationalsozialen Vereins mit folgenden Worten zusammen: „Nur Naumanns Autorität und Diplomatie gelang es, äußerlich den Riß zu kitten. Aber innerlich blieben unvereinbare Gegensätze bestehen. Es ist ausschließlich 83 84 85 86 87
Sitzung des erweiterten Vorstands vom 19. 6. 1903, zitiert nach Düding, Der Nationalsoziale Verein (wie Anm. 58), S. 178. Friedrich Naumann, An die alten Nationalsozialen, in: Die Hilfe vom 29. August 1913, Nr. 35, S. 547 f. Martin Wenck, Die Geschichte der Nationalsozialen von 1895 bis 1903, Berlin 1905. Vgl. dazu Krey, Charisma und politische Emanzipation (wie Anm. 20), S. 128 f. Martin Wenck, Friedrich Naumann. Ein Lebensbild, Berlin 1920, S. 93.
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Naumanns Verdienst, daß der National-soziale [sic!] Verein immerhin von 1896 bis 1903 am Leben erhalten werden konnte“88 Auch ein Brief aus dem Jahre 1900 beweist, dass der Nationalsoziale Verein allein von Friedrich Naumann getragen wurde: „Hiermit zeige ich Ihnen meinen Austritt aus der national-sozialen Partei an nach reiflicher Überlegung und mit schwerem Herzen; aber es geht nicht anders. […] Schon damals liess ich mich eigentlich hauptsächlich durch Sie und unter dem Einflusse Ihrer Persönlichkeit bestimmen auch weiter mitzumachen. […] Denn ich betrachte es als eine der schwersten und glücklichsten Wendungen meiner Lebensschicksale, daß ich Ihnen habe näher treten dürfen.“89 Der Nationalsoziale Verein war auch in den Worten Naumanns immer nur „eine Personalgemeinde“ gewesen; „[d]as war politisch seine Schwäche.“90 Nach dem schlechten Abschneiden der Nationalsozialen bei den Wahlen im Jahre 1903 – es gab reichsweit nur circa 30.500 Stimmen für Naumanns Truppe91 – schlug Naumann in dem Aufsatz „Unsere Zukunft“ vor, einen Parteienwechsel zu vollziehen: „Wir lösen den Berliner Hauptverein auf und sehen in Zukunft den Wahlverein der Liberalen (Schrader, Barth, Gothein und ihre Freunde) als unsern politischen Mittelpunkt an. Ein Gesinnungswechsel ist mit diesem Eintritt in eine befreundete Organisation nicht verknüpft, da wesentliche Unterschiede in politischen Hauptfragen heute nicht mehr bestehen.“92 Die Lokalorganisationen und die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ wurden beibehalten. Das war der Plan Naumanns; doch er brauchte die Unterstützung prominenter Nationalsozialer. In einem Brief an den bekannten Pädagogen Wilhelm Rein schlug Naumann deshalb vor: „Wenn Sie ihn [den Plan] für möglich halten, dann bitte ich Sie sehr, sich in der Hilfe für den Anschluß an Barth u. Rösicke zu äußern. Je zahlreicher wir dort mitwirken, desto mehr füllen wir den Kongress mit unserer Seele.“93 Der Plan glückte; bis zum Ersten Weltkrieg kämpften die Naumannianer von nun an der Seite von Theodor Barth, Theodor Mommsen oder Georg von Siemens und warben für eine starke Flotte und eine mächtige Großindustrie; zudem setzten sie sich vehement für die Umgestaltung des liberalen Lagers ein.94 Trotz heftiger Debatten bei den Nationalsozialen, gelang es Naumann die Mehrheit der Parteimitglieder zu überzeugen, mit ihm den Schritt in das liberale Par88 89 90 91 92 93 94
Hellmut v. Gerlach, Erinnerungen an Friedrich Naumann, in: Die Weltbühne, 15 (1919), S. 407–411, hier S. 409. BArch Berlin, Nachlass Naumann 3001, 134, Blatt 36, [?] an Friedrich Naumann am 11. Oktober 1900. Friedrich Naumann, An die alten Nationalsozialen, in: Die Hilfe vom 29. August 1913, Nr. 35, S. 547 f. Vgl. das genaue Wahlergebnis bei Düding, Der Nationalsoziale Verein (wie Anm. 58), S. 177, Fußnote 177. Friedrich Naumann, Unsere Zukunft, in: Die Hilfe vom 2. August 1903, Nr. 31, S. 2. Arbeitsstelle für internationale Herbartianismusforschung am Lehrstuhl für Allgemeine Didaktik der Universität Duisburg-Essen. Wilhelm Rein Archiv, K 6, Nr. 114b, Friedrich Naumann an Wilhelm Rein am 16. Juli 1903. Vgl. dazu Jürgen Frölich, „Wirklich staatsmännisch veranlagter Kopf“ oder eher „Prophet und Lehrmeister“? Friedrich Naumann als liberaler Politiker im Kaiserreich, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 23. Jahrgang 2011, S. 81–93, hier S. 81 u. 86.
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teienlager zu wagen.95 „Das nationalsoziale Experiment“96 war damit Geschichte und zehn Jahre später waren manche Naumannianer so weit, um sagen zu können: „Man tat recht daran!“97 Selbst Naumannianer, die später zur SPD wechselten, konnten nachträglich feststellen: „Und doch ist es richtig und sogar beweisbar, daß die Fusion als völlig geglückt anzusehen ist.“98 Aber nicht alle Nationalsozialen hätten den Aussagen aus den Jahren 1913 und 1907 zugestimmt. Gustav Stresemann gehörte beispielsweise zu denjenigen, die nach der Auflösung nicht mehr zu Naumann zurück fanden. Im Jahre 1919 bemerkte der spätere Reichskanzler und langjährige Außenminister: „Wie ganz anders sprach die feurige Glut des Pastors zur Jugend der damaligen Zeit als die Rede des Parteiredners. […] Die Glocken, die einst Naumann läutete und die Sturm über Lande trugen und aufjauchzende Begeisterung entfachten, die verstummten später, als nur noch die Partei bestimmte, welche Glocken geläutet werden dürften.“99 Stresemanns Kommentar macht deutlich, dass Naumann im Zuge der Fusion mit der Freisinnigen Vereinigung einen Wandel vollzog, dem nicht alle Naumannianer wohlgesonnen waren. Auch der Mediziner und Psychologe Willy Hellpach stellte in seinen treffend benannten Lebenserinnerungen „Wirken in Wirren“ fest, dass der Entschluss des „vergötterten Führers“ die „mit besonders hohem Pathos aufgeladene Bewegung“100 aufzulösen, große Emotionen bei den Anhängern auslöste.101 Doch wurde der Platz derer, die Naumann für immer verließen, von anderen gefüllt, die für immer blieben. Theodor Heuss umschrieb dieses Kommen und Gehen der Naumannianer in einer Schrift aus dem Jahre 1927 wie folgt: „Manche von denen, die sein frühes Auftreten mit herzlicher Gefolgschaft begleitet hatten, wandten sich ab, als der Weg des Lebens zu Parteikampf und Wirtschaftstheorie sich kehrte, und andere Gruppen, denen Herkunft und Vergangenheit verdächtig gewesen, beugten sich dem zur Reife Gewachsenen.“102 Heuss lernte Naumann beispielsweise erst im Jahre 1902 auf einer Wahlveranstaltung in Hannover persönlich kennen und gehörte dadurch eher zu den Naumannianern der zweiten Generation. Wie Stresemann, jedoch unterschiedlich bewertend, hob Heuss hervor, dass Naumann sich zu einem reifen Parteipolitiker entwickelt hatte. Ob Naumann nach 1903 ein Parteipolitiker im klassischen Sinne war, gilt es im weiteren Verlauf der Arbeit jedoch zu hinterfragen. 95
Vgl. Wenck, Verein (wie Anm. 85), S. 98; vgl. dazu die zahlreichen Leserbriefe, in: Die Hilfe vom 2. August 1903, Nr. 31, S. 2–5. 96 Max Maurenbrecher, Das nationalsoziale Experiment, in: Die Hilfe vom 28. Juli 1913, Nr. 35, S. 551–553. 97 Martin Wenck, Nach 10 Jahren, in: Die Hilfe vom 28. August 1913, Nr. 35, S. 549. 98 Hellmut von Gerlach, Die freisinnige Vereinigung im Parlament, in: Patria. Jahrbuch der Hilfe 1907, S. 211–227, hier S. 211. 99 Gustav Stresemann, Zum Tode Friedrich Naumanns, in: Ders., Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles. Reden und Aufsätze von Dr. Gustav Stresemann, Berlin 1919, S. 216. 100 Willy Hellpach, Wirken in Wirren (Band 1), Hamburg 1948, , S. 396–405, hier S. 397. 101 Vgl. dazu die emotionalen Leserbriefe der Skeptiker, in: Die Hilfe vom 9. August 1903, Nr. X, S. 1–3. 102 Theodor Heuss, Führer aus Deutscher Not. Fünf politische Porträts, Berlin 1927, S. 8.
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Mit Hausenstein lässt sich zusammenfassend feststellen, dass durch die Gründung des Nationalsozialen Vereins im Jahre 1896 der Naumann-Kreis „eine kurze Konzentration“103 erfuhr. Trotz des Scheiterns der Naumannschen Partei schaffte es Naumann, einen großen Teil seiner Anhänger weiter an sich zu binden. Denn auch wenn das Parteiprogramm zum Teil seine Gültigkeit verlor, war es noch immer Naumanns außeralltägliche Persönlichkeit und dessen Idee von einer Demokratie im Kaisertum, die die Naumannianer faszinierte. Dass Naumann für manche Naumannianer geradezu eine beängstigende Position einnahm, verdeutlicht eine immer wieder gern zitierte Aussage von Elly HeussKnapp: „Wenn Naumann damals Mohammedaner gewesen wäre, hätten wir es sicher nachgemacht.“104 Auch in den Augen Gertrud Bäumers war Naumann trotz politischer Niederlagen „ein zum Führer geborener Politiker.“105 Man kann es nur noch einmal wiederholen: „Naumanns überragende Persönlichkeit [sein Charisma] hatte [die Naumannianer] zusammen geführt.“106
103 Wilhelm Hausenstein, Naumann in seiner Zeit, in: Der Neue Merkur. Monatshefte, Dritter Jahrgang 1919–1920, S. 420–433, S. 427. 104 Elly Heuss-Knapp, Ausblicke vom Münsterturm. Erinnerungen, Stuttgart 2008, S. 38. 105 BArch Koblenz, Nachlass Bäumer, N 1076, 19, Gertrud Bäumer, Friedrich Naumann [unveröffentlichtes Manuskript], S. 2. 106 Gerlach, Erinnerungen (wie Anm. 88), S. 408.
III. EXKURS ÜBER DAS CHARISMA (I): DIE GEISTIGEN UND KÖRPERLICHEN GABEN NAUMANNS Friedrich Naumann war nach Meinung des Nationalökonomen Gustav Schmoller „einer der bedeutendsten Propheten und Führer“ des deutschen Kaiserreichs. In einer Laudatio auf Friedrich Naumann schrieb Schmoller 1913: „Er ist einer der größten und am liebsten gehörten politischen und sozialen Redner unserer Tage. […] Und er hat seine Leser in der Hütte der Arbeiter, in den Studierstuben der akademischen Jugend, in dem Boudoir der Millionärsfrau wie in den Kabinetten der Geheimräte und Minister.“1 Auch wenn Schmoller Naumann in dieser Passage zu idealisieren versuchte, verdeutlicht diese zeitgenössische Quelle doch, dass man Naumann eine milieuübergreifende Wirkung zutraute. Für Schmoller war Naumann eine Integrations- und Führerfigur; nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass Naumann schreiben und reden konnte. Zumindest für die Naumannianer war der einstige Pastor ein zum Führen geborener Politiker. Auch Theodor Heuss schrieb dazu rückblickend: „[Das] menschliche Ethos, das Naumann ausstrahlte, das junge Männer band und junge Frauen aufhorchen ließ auf einen reinen Klang, der hier zwischen dem Gewirr der Tageskämpfe ertönte. […] Er war wohl ein Führer und war sich seiner lenkenden Kraft über Seelen bewusst, aber er empfand eine heimliche Scheu, fremde Wesen zu besitzen und zu beherrschen.“2 Welche Erwartungshaltungen im Kaiserreich bedürfen einer besonderen Betonung, um Naumanns Führer-Rolle zu verstehen? Schon die Wilhelminische Epoche war dafür prädestiniert, dass „charismatische Heilserwartungen“ eine neue Beliebtheit erlangten.3 Weder der deutsche Kaiser noch eine andere Führungspersönlichkeit aus der Politik konnte diese Erwartungshaltung langfristig erfüllen. Im Besonderen die noch später zu behandelnde Fragmentierung der deutschen Gesellschaft verschärfte den Wunsch nach einer parteiübergreifenden politischen Persönlichkeit, die diese Sehnsucht nach mehr Einheit im Volk erkannte, verkörperte und aufgriff. Die zugleich aufkommende „Konjunktur des Gemeinschafts-Denkens“ während des Ersten Weltkriegs begünstigte das innige Verlangen vieler Menschen nach einer überparteilichen Führungspersönlichkeit, was sich auch am Wahlergebnis der Reichspräsidentenwahl im Jahre 1925 deutlich zeigte.4 Die beiden Schlüsselbegriffe ‚Führertum‘ und ‚Volksgemeinschaft‘ drückten den Willen nach Versöhnung zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum aus, 1 2 3 4
Gustav Schmoller, Charakterbilder, München/Leipzig 1913, S. 294 u. S. 302. Theodor Heuss, Friedrich Naumann und sein Kreis, in: Vom Gestern zum Morgen. Eine Gabe für Gertrud Bäumer, Berlin 1933, S. 102–113, hier S. 112 f. Vgl. Wolfgang Hardtwig, Der Bismarck-Mythos. Gestalt und Funktion zwischen politischer Öffentlichkeit und Wissenschaft, in: Ders., Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, S. 61–90, hier S. 77 f. Vgl. Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007, S. 461–476.
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die durch die starke Hand eines parteiübergreifenden Führers ermöglicht werden sollte.5 Fühlt man sich bei dieser Interpretation nicht auch an das Parteiprogramm des Nationalsozialen Vereins unter der Führung Naumanns erinnert?
Die geheimnisvollen Strandkorb-Konferenzen, in: Kladderadatsch. Humoristisch-satirisches Wochenblatt 60 (1907), S. 650 5
Vgl. Michael Wildt, Volksgemeinschaft und Führererwartung in der Weimarer Republik, in: Poltische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren, hg. v. Ute Daniel, Inge Marszolek, Wolfram Pyta u. Thomas Welskopp, München 2010, S. 181–204, besonders S. 202; vgl. auch Thomas Mergel, Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik, in: Hardtwig, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 91–127; vgl. Frank-Lothar Kroll, Volksgemeinschaft. Zur Diskussion über einen umstrittenen Integrationsfaktor nationalsozialistischer Weltanschauung, in: Deutsche Kontroversen. Festschrift für Eckard Jesse, hg. v. Alexander Gallus, Thomas Schubert u. Tom Thieme, Baden-Baden 2013, S. 99–112; so wie Wolfgang Hardtwig, Volksgemeinschaft im Übergang. Von der Demokratie zum rassistischen Führerstaat, in: Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept „Volksheim“ im Vergleich 1900–1938, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 227–253, hier bes. S. 229 u. S. 235.
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III. Exkurs über das Charisma (I)
Als Naumann lebte, war die Arbeiterschaft noch kein gleichberechtigter Teil der deutschen Gesellschaft; die politische und gesellschaftliche Integration des ‚Proletariats‘ stand noch immer bevor. Im Jahre 1896 hielt der Naumannianer Rudolph Sohm einen Vortrag vor den Mitgliedern des ‚Sozialen-Wissenschaftlichen Vereinigung‘, auf der er feststellte: „Gerade um die Zeit, wo die politische Einheit des deutschen Volkes, die langersehnte, endlich zu uns errungen wurde, bereitete sich in Deutschland […] der innere Zwiespalt vor. Die Deutsche Nation trennt sich in zwei verschiedene Völker.“6 Im selben Jahr gründete Naumann den Nationalsozialen Verein. Wie bereits erwähnt, wollte Naumann eine Brücke bauen, die von der Arbeiterschaft bis zum Bürgertum reichte. Ganz ähnlich kommentierte der christlich-völkische Ideologe Arthur Bonus bereits 1896 den mileuübergreifenden Integrationsversuch Naumanns: „Weit in die rechten und rechtesten Gruppen der kirchlichen Parteien reichen sie hinein und ganz von links her, in Kreisen die für völlig unchristlich gelten, regen sich gleichgebürtige Kräfte. Ich wüßte nur einen Mann, in dem sie einigermaßen gesammelt als bewußte geschlossene Kraft wirken, eben Friedrich Naumann.“7 Dass Naumann für manche die Erwartung an eine innerdeutsche Einheit verkörperte, zeigt nicht zuletzt ein Brief aus dem selben Jahr: „Heute wollte ich nur den Schluss der Schule abwarten, um Ihnen die Johannesfrage vorzulegen. Bist du [es], der da Kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten? Nun kann ich mir die Ausführungen sparen und Sie beglückwünschen zu dem Schritte, der heute in der ‚Hilfe‘ angekündigt wird. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich mich freue, da Sie nun in großen Zügen den christlichen Sozialismus ins Volk werfen wollen und eine politische Partei gründen, durch die sie einen bestimmten Einfluss auf die {Gremien?} unseres Vaterland gewinnen müssen. Wir erwarten viel, sehr viel von Ihnen, wir halten Sie für einen Gott berufenen Mann, die traurige Zerrissenheit im Inneren unseres Volkes zu beseitigen, aus den Trümmern der alten Parteien eine große mächtige neue Partei zu bilden, die wirklich das Wohl Aller vertreten wird. Viel mehr Männer und auch Frauen [warten] schon jetzt mit Spannung auf Sie. Der Augenblick ist außerordentlich günstig und kehrt vielleicht in Jahren nicht so wieder.“8 Naumann wurde als ein Retter des deutschen Volkes gesehen; als ein Führer, der die segmentierte deutsche Gesellschaft des Kaiserreichs vereinen sollte. Aber nicht nur dieser Lehrer sah in Naumann einen heilbringenden Führer, der dafür prädestiniert war, die Kluft des deutschen Volkes zu beseitigen. Auch das Fazit einer Naumann-Biographie aus dem Jahre 1905 lenkte den Blick auf den Einheitsgedanken Naumanns: „Die Ausbildung und Verbreitung der politischen 6 7
8
Rudolph Sohm, Die sozialen Pflichten der Gebildeten, Leipzig 1896, S. 11. Arthur Bonus, Von Stöcker zu Naumann. Ein Wort zur Germanisierung des Christentums, Heilbronn 1896, S. 84; vgl. zu Arthur Bonus Frank Fehlberg, Protestantismus und Nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politisches Denken um Friedrich Naumann (zugl. Diss. 2011), Bonn 2012, S. 49–93. BArch N 3001, 308, Bl. 92, {Goerbig?} an Friedrich Naumann vom 14. August 1896; Zitat auch bei Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main. Vom Ende der Freien Stadt bis zum Ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main 1987, S. 78 u. Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983, S. 54.
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Gesamtauffassung […], ist das eigentliche Lebenswerk Naumanns.“9 In diesem Sinne stellte auch der Arzt und Naumannianer Franz Schede in seiner Lebenserinnerungen fest: „Naumanns Ziel war es, das deutsche Volk in gemeinsamer sozialer Verantwortung wieder zu einem geschlossenen Ganzen zusammenzuführen.“10 Wenn man so will, war Naumann für manche geradezu der geborene Führer der Volksgemeinschaft avant la lettre. Nach Naumanns Tod sprachen die Schriften der Naumannianer eine eindeutige Sprache. So schrieb der Naumannianer Johannes Schneider in einer Biographie über Naumann aus dem Jahre 1929: „Um das Volksganze und die Volksgemeinschaft ging es ihm.“11 Weitere zwanzig Jahre später betonte die Naumannianerin Gertrud Bäumer in einem unveröffentlichten Manuskript aus dem Jahre 1949, dass „eine umfassende Idee der wirtschaftlichen und geistigen Volksgemeinschaft sich in den Formen und mit den Mitteln der politischen Wirkung [Naumanns] verkörpert“12 hatte. Bereits in ihren 1933 publizierten Lebenserinnerungen verwies Bäumer auf das umfassende Gemeinschafts- und Ganzheitsbewusstsein Naumanns. „Und wir fühlten in dem Mann, […] daß in ihm [das] Volk gegenwärtig und verkörpert war, […] dass er mehr als die andern Gattung in sich trage. In einer genialen Unmittelbarkeit waren in ihm die drei Elementarkräfte des Volkstums: der nationale Lebenswille, das umfassende Gemeinschafts- und Ganzheitsbewußtsein und der religiöse Sinn – Frommsein – verbunden.“13 Es war nicht nur der Wunsch Bäumers, die segmentierte Weimarer Gesellschaft zu überwinden. Die Sehnsucht nach Einheit spiegelte ein Verlangen einer ganzen Generation wider. Deshalb klang Friedrich Naumanns „Synthese von nationalem Geltungswillen und innerer Reform“14 für viele Bürger neu und aufrichtig. In der dritten Auflage seiner „Neudeutschen Wirtschaftspolitik“ gebrauchte Naumann zum Ersten Mal den Begriff ‚Volksgemeinschaft‘: „Man sagt, daß das deutsche Land dem deutschen Volke gehört, es gehört aber nicht der Volksgemeinschaft, sondern den einzelnen, und zwar bei weitem nicht allen einzelnen.“15 Ein weiteres Mal sprach Naumann in seinem populären Werk „Von Vaterland und Freiheit“ aus dem Jahr 1913 von der ‚Volksgemeinschaft‘, die durch das Leid des Krieges von 1813/14 entstanden war. In der Schriftensammlung von Naumann konnte man lesen: „Die Volksgemeinschaft ist niemals größer und beweglicher, als wenn zusammen gestorben werden muss.“16 Für Naumann war die Volksgemeinschaft 9 10 11 12 13 14 15 16
Heinrich Meyer-Benfey, Friedrich Naumann. Seine Entwicklung und seine Bedeutung für die deutsche Bildung der Gegenwart, Göttingen 1905, S. 193. Franz Schede. Rückblick und Ausblick. Erlebnisse und Betrachtungen eines Arztes, Stuttgart 1960, S. 76; vgl. auch Hermann Bousset, Friedrich Naumann und sein Erbe, in: Jungdeutsche Stimmen. Rundbriefe für den Aufbau einer wahrhaften Volksgemeinschaft, 1 (1919), S. 319 ff. Johannes Schneider, Friedrich Naumanns soziale Gedankenwelt, Berlin 1929, S. 17. BArch N 1076, 19, Gertrud Bäumer, Friedrich Naumann, S. 2. Gertrud Bäumer, Lebenswege durch die Zeitenwende, Tübingen 1933, S. 222. Vgl. Holger Afflerbach, Kurt Riezler. Ein politisches Profil, in: Kurt Riezler, Tagebücher, Aufsätze Dokumente, hg. v. Karl Dietrich Erdmann, Göttingen 2008, S. 19. Friedrich Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, Berlin 31911, S. 56. Friedrich Naumann, Das Blaue Buch von Vaterland und Freiheit. Auszüge aus seinen Werken, Leipzig 1913, S. 103; dazu bereits Detlef Lehnert, Zur Geschichte und Theorie des Gemein-
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daher in erster Linie eine Notgemeinschaft.17 Naumann wusste zu diesem Zeitpunkt noch nichts von dem „Geist von 1914“, der die deutsche Nation über die Stände und Konfessionen stellte.18 Durch die Folgen des Ersten Weltkriegs wurde Naumanns integrativer Gesellschaftsentwurf zur Norm: „Und diese Einheit wird jetzt angerufen, um aus dem Chaos der Zwiespältigkeit und Vielzüngigkeit herauszukommen bis zur Klarheit einer nationalen Politik.“19 Eine Entwicklung, auf die in einem späteren Kapitel gesondert eingegangen wird. Schon in dem populärem Werk „Demokratie und Kaisertum“ aus dem Jahre 1900 betonte Naumann die vergemeinschaftende Rolle der Kultur: „[…] Alles, alles, was deutsch spricht, denkt, fühlt, soll eine große Einheit werden. […] Das ganze Deutschland soll es ein.“20 Naumann selbst griff den Gedanken einer nationalen Einheitspolitik immer wieder auf. Auf einem Vortrag über die „politischen Aufgaben im Industrie-Zeitalter“ bekräftigte Naumann: „Die Gemeinschaftlichkeit der Arbeiter, der Arbeiterbewegung und der Fertigindustrie gegenüber dem Agrariertum und der schweren Industrie muß weit mehr als dies heute der Fall ist, in das Bewußtsein aller Beteiligten, ebensogut der Arbeiter wie der betreffenden Unternehmer kommen. […] Wer ist der Staat? Er ist […] zusammengesetzt aus allen Schichten der Bevölkerung mit verschiedener Machtverteilung.“21 Die vorhandenen Klassengegensätze mussten in den Augen Naumanns überwunden werden; erst dann war an eine politische Einheit in Deutschland zu denken. Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges veröffentlichte Naumann eine kleine Schrift mit dem Titel „Die deutsche Einheit.“ Emphatisch stellte Naumann fest: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen noch Gefahr! Wir wollen Deutsche sein! Gedenke, daß du ein Deutscher bist! Wir wollen nicht verzweifeln, sondern die Nationalität retten: von den Alpen bis zum Meer! Jede Umwandlung wollen wir auf uns nehmen, aber wieder das einstige zerbrochene partikularische Knechtvolk sein? Nein, das wollen wir nicht! Nein!“22 Naumann bezog sich hier auf Friedrich Schillers Drama „Wilhelm Tell.“ Doch bei Naumann stand die deutsche Einheit unmissverständlich vor der Freiheit eines In-
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schaftsdenkens im 20. Jahrhundert. Schweden in Vergleichsperspektiven, in: Ders., Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept „Volksheim“ im Vergleich 1900–1938, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 103. So auch bei Hardtwig, Volksgemeinschaft im Übergang (wie Anm. 5), S. 227–253. Steffen Bruendel, Die Geburt der „Volksgemeinschaft“ aus dem „Geist von 1914“. Entstehung und Wandel eines „sozialistischen“ Gesellschaftsentwurfs, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Fronterlebnis und Nachkriegsordnung. Wirkung und Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges, Mai 2004, http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/die-geburt-der-volksgemeinschaft-ausdem-geist-von-1914 (abgerufen am 3.11.2014), hier S. 6. Friedrich Naumann, Der Weg zum Volksstaat, in: Ders., Werke (Zweiter Band, Schriften zur Verfassungspolitik), bearb. v. Wolfgang J. Mommsen, Köln/Opladen 1966, S. 532. Friedrich Naumann, Demokratie und Kaisertum, in: Ebd., S. 247 f. Friedrich Naumann, Die politischen Aufgaben im Industrie-Zeitalter, in: Ders., Werke (Dritter Band, Schriften zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik), bearb. v. Wolfgang Mommsen, Köln/Opladen 1964, S. 1–24, hier S. 19 u. S. 23. Friedrich Naumann, Die deutsche Einheit, in: Ders., Werke (Fünfter Band, Schriften zur Tagespolitik), bearb. v. Alfred Milatz, Köln 1967, S. 645–648, hier S. 648.
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dividuums. Nicht zuletzt auf Grund dieser Politik einer nationalen Einheit wurde Naumann von den Naumannianern zu einem politischen Führer auserkoren. In der Familie Weber gab es Stimmen, die Naumann als den Führer schlechthin huldigten. Vor allem Marianne Weber sprach von Naumann als „[…] dem einzigen menschlichen großen Führer jener Epoche […].“23 Aber auch deren Schwiegermutter Helene Weber sah Naumann als den Führer an, der die schlafende Masse erwecken sollte.24 Theodor Heuss benutzte in der Schrift „Führer aus deutscher Not“ aus dem Jahr 1927 einen nun näher zu bestimmenden Terminus, der das besondere soziale Gebilde um Naumann zu verstehen versucht: „Viele aber ließen, fast ohne zu fragen, ihr Lebensschiff seinem Kielwasser nachziehen; denn er gehörte zu den Menschen, deren Charisma Menschen band, ganze Menschen, nicht Teilüberzeugungen und gleichmäßige Interessenlagerungen.“25 Man kann davon ausgehen, dass der Bildungsbürger Heuss die Schriften seines Parteigenossen Max Webers gut kannte, und damit wusste, was sich hinter dem Begriff ‚Charisma‘ verbarg. In diesem Kapitel wird gezeigt, dass das Charisma-Konzept Webers die nötige Anschlussfähigkeit bietet, um die besondere Form der sozialen Beziehung zwischen Friedrich Naumann und den Naumannianern treffend zu beschreiben.26 Immer wieder taucht der schillernde Begriff in den Schriften Webers auf, ohne dem Leser jedoch am Ende eine einheitliche Definition zu bieten. Der bekannte Soziologe macht es daher dem Rezipienten nicht einfach, zumal er den Begriff darüber hinaus sowohl in seiner Herrschaftssoziologie als auch in seinen Schriften zur Religionssoziologie überproportional oft, und in seinen Feinheiten auch unterschiedlich akzentuierend, verwendet. Da das Charisma-Konzept von Max Weber nicht sehr präzise erklärt wurde27, muss man sich auf eine Definition des Universalgelehrten einigen. Im Folgenden gilt: Eine charismatische Persönlichkeit ist ein „Träger spezifischer, als übernatürlich (im Sinne von: nicht jedermann zugänglich) gedachter Gaben des Körpers und Geistes.“ Dabei ist zu betonen, dass der Begriff „Charisma“ [von Weber] „wertfrei“ gebraucht wird.28 Diese Definition hebt die „extraordinäre[n] Fähigkeit[en]“29 des Charismatikers hervor, auf Grund derer die 23 24 25 26
27 28 29
Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 31984, S. 473. Vgl. Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005, S. 53; vgl. auch Bärbel Meurer, Marianne Weber. Leben und Werk, Tübingen 2010, S. 91 u. 92. Theodor Heuss, Führer aus Deutscher Not. Fünf politische Porträts, Berlin 1927 S. 8. Vgl. dazu schon Ursula Krey, Der Naumann-Kreis. Charisma und politische Emanzipation, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, S. 116–147, bes. S. 125–128; Dies., Demokratie durch Opposition. Der Naumann-Kreis und die Intellektuellen, in: Kritik und Mandat. Intellektuelle in der Deutschen Politik, hg. v. Gangolf Hübinger u. Thomas Hertfelder, Stuttgart 2000, S. 74; vgl. auch Radkau, Weber (wie Anm. 24), S. 519 f. u. S. 603. Vgl. Wolfgang Lipp, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Berlin 1985, S. 67; vgl. auch generell Thomas E. Dow, The Theory of Charisma, in: Sociological Quarterly 10, 3 (1969), S. 306–318; vgl. Radkau, Weber (wie Anm. 24), S. 600–613. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Herrschaft, hg. v. Edith Hanke, in: Ders.: Gesamtausgabe (Band I/22–4), Tübingen 2005, S. 460. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Von der ‚Deutschen Doppelrevolution‘ bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. 1849–1914, München 1995. S. 368–376.
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Anhänger sich um ihn scharen. Aus diesem Grund kann das Charisma einer Persönlichkeit vergemeinschaftend wirken.30 In diesem Kapitel werden die besonderen geistigen und körperlichen Fähigkeiten Naumanns aufgezeigt. Dabei kann zugleich der heuristische Ertrag des Konzepts von charismatischer Herrschaft dargestellt werden: Friedrich Naumann bildete eine Gemeinschaft, „[k]raft [seiner] Gabe (‚Charisma‘).“31 Es muss deshalb in erster Linie nach Naumanns Gabe(n) gefragt werden. Oder anders ausgedrückt: Welche Eigenschaften fanden die Naumannianer an Naumann so außergewöhnlich? Der Leipziger Naumannianer Hermann Barge versuchte in einer Schrift eine Antwort auf die Frage zu finden, „was [es war], das die Menschen so unwiderstehlich in den Bannkreis Friedrich Naumanns zog?“32 Aber auch andere Naumannianer waren bemüht, diese Frage zu beantworten. Für den einen war es Naumanns „optimistisches Lebensgefühl“33, für den anderen dessen „Macht seiner überragenden, siegfriedhaften Persönlichkeit.“34 Heuss sprach in seiner Naumann-Biographie darüber hinaus von Naumanns „natürlicher Unbefangenheit,“ von dessen „vollendete[r] Natürlichkeit des Vortrags“ und er gestand seinem Meister sogar „Pathos und […] Zorn“ zu. Aber hilft diese Beschreibung, um zu verstehen, weshalb „Seelen sich unter der Macht seines sicheren Wortes beugten?“35 So unterschiedlich der Antwortenkatalog auf den ersten Blick ausfällt, sticht doch eine Eigenschaft Naumanns besonders ins Auge, auf die sich quasi alle Naumannianer einigen konnten: dessen Sprachkunst. Es gibt nahezu keinen Text über Naumann, in dem nicht von dieser nun zu behandelnden Doppelbegabung berichtet wird. Naumann konnte reden und schreiben wie kaum ein Zweiter zu seiner Zeit; zumindest behauptete der Architekt Fritz Schumacher in seinen Memoiren, dass es außer August Bebel und Heinrich von Treitschke nur Friedrich Naumann gegeben hätte, der die Kunst der Rede beherrschte.36 Man muss daher an dieser Stelle noch einmal fragen: Wie sprach er und was sagte er; Inhalt und Form sind entscheidend! Der Historiker Walter Goetz beschrieb in seinem Tagebuch ein Treffen mit dem späteren Vizekanzler Friedrich von Payer, der von Naumanns Sprachkunst sichtlich angetan war: „Als ich [Walter Goetz] damals einige Minuten mit Payer zum Bahnhof fuhr, […], fiel von Payers Seite das Wort, das Ihn mir von seiner innersten Seite zeigte: Er sagte: Wie komme ich mir vor, wenn ein solcher Mann wie Naumann auf mich spricht!“37 30 31 32 33 34 35 36 37
Vgl. Radkau (wie Anm. 24), S. 604 u. S. 607. Weber, W. u. G. (wie Anm. 28), S. 461. Hermann Barge, Friedrich Naumann. Seine Persönlichkeit und sein Lebenswerk, Leipzig 1920. Samuel Saenger, Friedrich Naumann, in: Neue Rundschau 21 (1910), S. 403–405, hier S. 404. Paul Göhre, Friedrich Naumann. Eine Skizze, in: Die Gesellschaft. Halbmonatsschrift für Literatur, Kunst und Sozialpolitik, Jahrgang 1898. Zweites Quartal, S. 745. Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, München/Hamburg 31968, S. 235 u. S. 239 f. Vgl. Fritz Schumacher, Stufen des Lebens. Erinnerungen eines Baumeisters, Stuttgart 31949, S. 155 f. Tagebucheintrag von Goetz vom 10. und 11. November 1906, zitiert nach: Wolf Volker Weigand, Walter Wilhelm Goetz 1867–1958. Eine biographische Studie über den Historiker, Politiker und Publizisten, Boppard am Rhein 1992, S. 90.
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Obwohl es technisch durchaus möglich gewesen wäre, liegen dem heutigen Historiker keine Tonbandaufnahmen von Naumann vor. Doch Heuss hat recht, als er schrieb, dass bestimmte Techniken erst nach Naumanns Zeit an Einfluss gewannen: „Die Zeit, in der Naumann Deutschlands stärkste rednerische Kraft war, liegt vor der Ausweitung der technischen Möglichkeiten, wie sie mit Riesenhallen, Mikrophon, Lautsprecher, Radio gegeben ist.“38 So bleiben allein die Schriftstücke aus der Vergangenheit, die über Naumanns Redequalität berichten. Max Weber selbst sprach in seinem Werk von dem „Charisma der Rede“39. Theodor Heuss versuchte in seiner Biographie das Charisma der Rede von Naumann zu verschriftlichen. Doch er haderte mit sich und dem richtigen Vokabular: „Das Geheimnis des unmittelbaren Eindrucks von Naumanns Redekunst ist nicht ganz leicht zu erklären. Das Material, die Stimme, war wenig günstig. Der Hörer mußte zunächst über den Gegensatz hinwegkommen: da schritt ein übergroßer, fast massiger Mann zur Tribüne, mit einem mächtigen Haupt auf den breiten Schultern, die Stimme aber war, wenn er zu reden begonnen hatte, lag hoch, klang fast dünn. Schmelz und natürliche Kraft fehlten ihr: eine leise sächsische Dialektfärbung war nicht völlig verloren gegangen […].“40 Die Stimme selbst muss daher als Werkzeug und Medium verstanden werden: Deren Tonhöhe, Lautstärke oder Klangfarbe sind entscheidend für die Wirkungsmächtigkeit einer Rede.41 Der Ausschnitt von Heuss zeigt zugleich deutlich, dass „mit der Stimme zusammen stets der Körper [spricht.]“42 Eine Feststellung, die es immer mitzuberücksichtigen gilt, wenn man dem innovativen Potential des Charisma-Konzepts auf die Spur kommen will. Ein kulturwissenschaftlicher Ansatz, dem der Schriftsteller Hermann Bousset nicht zu hundert Prozent zugestimmt hätte, obwohl auch er Naumanns Ästhetentum (sechstes Kapitel) und dessen performative Leistung (viertes Kapitel) in einer Schrift aus dem Jahre 1919 betonte: „Jede seiner Reden [war] ein Kunstwerk. Ihre machtvolle, auch den Gegner bezwingende Wirkung lag ja keineswegs im Äußerlichen. Im Gegenteil: Naumanns Sprache war im Dialekt unrein, und sein Organ schwach, oft krankhaft zerbrochen, heißer und dünn. Aber aus den Worten trat die Seele eines Mannes hervor – und es kundtat in ganz besonderer Weise.“43 Bevor später ausführlich auf Naumanns ästhetische Ader eingegangen wird, darf man an dieser Stelle mit Blick auf das nächste Kapitel vorsichtig fragen: Wirkte Naumann nicht gerade auch auf Grund des geschilderten Gegensatzes zwischen korpulenter Körpermasse und heller Stimme? Dass die Stimme und der Körper zwei mediale Formen sind, die sich gegenseitig verstärken, hemmen und durchkreuzen können,44 hob auch der Journalist Georg 38 39 40 41 42 43 44
Heuss, Naumann (wie Anm. 35), S. 243. Weber, W. u. G. (wie Anm. 28), S. 505. Heuss, Naumann (wie Anm. 35), S. 241. Vgl. Karl-Heinz Göttert, Geschichte der Stimme, München 1998, S. 13. Ebd. Hermann Bousset, Friedrich Naumann †, in: Reclams-Universum vom 4. 9. 1919, Heft 49, S. 258–262, hier. S. 260. Vgl. Dieter Mersch, Posthermeneutik, Berlin 2010, S. 276; vgl. dazu auch den kleinen aber klugen Beitrag von Ernst Jünger, Sprache und Körperbau, Frankfurt a. M. 1949, bes.: „In sol-
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Bernhard in einem klugen Zeitungsartikel über Friedrich Naumann hervor. Naumanns Tenorstimme und dessen riesengroßer Körper – ein nicht nur auf den ersten Blick deutlich auffallender Gegensatz – schien die Wirkung auf die Zuschauer in der Tat zu verstärken: „Naumann als Redner ist Millionen deutscher Menschen bekannt geworden. Er war vielleicht der größte Redner, den Deutschland in den letzten Jahrzehnten gehabt hatte […] Der Zuhörer, der ihn hörte, musste sich erst an die überhohe Tenorstimme gewöhnen, die umso merkwürdiger anmutete, als sie von einer riesengroßen Gestalt ausging. Umso bedeutender war der Eindruck des Inhalts der Worte, der schon nach kurzer Dauer des Vortrages die Mängel der Stimmgebung vergessen ließ. […] Der Eindruck der schönen Form war umso tiefer, als bei keiner Naumannschen Rede jemals der Eindruck des Vorbereiteten aufkam. Der Hörer hatte die Empfindung, daß alle Vergleiche und Argumente des Redners aus völliger Improvisation hervorwuchsen. Dieser Eindruck wurde durch die wundervoll bezeichnende Geste seiner Hand verstärkt. Er schien, wie der Bildhauer, der am Ton arbeitet, die Wendungen der Rede aus den Gedanken heraus zu formen. Und in Augenblicken besonderer Erfasstheit von den eigenen Worten schien Naumann mit beiden Händen den nun zu vollem Glanz geschliffenen Gedanken gleichsam seinem Publikum emporhebend zu zeigen.“45 Bernhard zeigte sich tief beeindruckt von der Redekunst Naumanns. Eindrucksvoll beschrieb er dessen Gestik, dessen Stimmintonation und dessen Körpersprache. Auch in einem österreichischen Zeitungsartikel aus dem Jahre 1917 wurde auf Naumanns helle Stimme Bezug genommen: „Friedrich Naumann spricht und seine helle Stimme füllt jedes Winkelchen des großen prächtigen preußischen Abgeordnetenhauses.“46 Man darf an dieser Stelle festhalten: Nicht nur der Inhalt der Rede kann wirken; auch die Art und Weise der Darbietung ist entscheidend. Ein performativer Ansatz, den es im nächsten Kapitel auszubauen gilt. Doch um auf die gestellte Frage zurückzukommen: Wie sprach Friedrich Naumann? Der Kunsthistoriker Paul Schubring zeichnete in einem Aufsatz aus dem Jahre 1919 ein Bild von Naumanns sprachlichen Fähigkeiten: „In seiner Sprache liegt ein eigentümliches Melos der Ruhe und Einheit; der Folgerichtigkeit der Gedanken entsprach der knappe und doch bildhafte, der frische und doch nie gesuchte Ausdruck. Seine Gabe, in Gleichnissen und Bildern zu sprechen, war fast homerisch zu nennen.“47 Naumann war ein Meister der Metaphorik. Besonders Tiermetaphern hatten es ihm angetan. Hätte man Naumann nach den zwei wichtigsten Spezifika der Moderne gefragt, wären ihm vielleicht die Begriffe ‚Maschine‘ und ‚Masse‘ über die Lippen gekommen. Auf einer Rede in Straßburg am 24. Oktober 1904 verkündete er: „Wollen wir aber unter den vielen verschiedenen Ursachen die zwei hauptsächlichsten herausgreifen, so sind es zwei Dinge, die Maschine und die Masse, Maschine und Masse, die zwei Grundelemente der Veränderung in der
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chem Sinne ist der Körper Werkzeug, die Sprache Element; und beide sind aufeinander angelegt wie Flosse [sic!] und Wasser, Auge und Lichtstrahl“ auf S. 8. Georg Bernhard, Friedrich Naumann, in: Vossische Zeitung vom 28. August 1919, S. 1 f. Wir lernen uns kennen, in: Armeeblatt vom 16. Juni 1917, S. 4. Paul Schubring, Friedrich Naumann als Künstler, in: Die Hilfe vom 4. September 1919, Nr. 36, S. 86.
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neuen Zeit. Die Maschine auf der einen Seite, dieses merkwürdige eiserne Tier, das in tausendfach verschiedener Gestaltung unter uns zu wohnen begonnen hat. […] Zur Maschine kommt die Masse; zur Maschine kommt die Vermehrung der Bevölkerung, die uns jetzt in einem Jahre einen Bevölkerungszuwachs von 900.000 ins Land hereingebracht hat. […] Dieser ganze Umschwung, den ich dargestellt habe, kann nicht ohne politische Folgen bleiben.“48 Der Naumannianer Ludwig Curtius schrieb über Naumanns schriftstellerische und rednerische Fähigkeiten, wobei er in erster Linie auch den besonderen Aufbau einer Naumann-Rede hervorhob: „Er schrieb und sprach eine Prosa wie keiner seiner Zeitgenossen. Er hatte ein klangvolles, helles Organ mit leicht sächsischem Unterton, das jede Schärfe vermied. […] Es gab niemanden, der Gedanken übersichtlicher anordnen, sie anschaulicher gestalten, ihren Inhalt wirkungsvoller steigern, ihre Folgerung logisch zwingender erzeugen konnte als er. Er sprach langsam. […] Der Genuß, ihm zuzuhören, war für mich so groß, daß ich wie bei einem großen Musiker jedes mal von der Angst befallen wurde, er möchte zu bald, zu früh aufhören.“49 Naumann beherrschte den Aufbau einer Rede; eine Gabe die er in den Predigerseminaren erlernt hatte. Diese Aussagen der Naumannianer beweisen allesamt, dass Naumann nicht zuletzt auf Grund seiner sprachlichen Begabung auf die Zuhörer wirkte. Immer wieder berichten die historischen Quellen von diesem Charisma der Rede: „In der Prägnanz und werdenden Macht des gesprochenen Wortes. So ist es zu verstehen, daß er eine so große Anziehungskraft ausgeübt hat.“50 Neben dem gesprochenen Wort des ehemaligen Pastors war es vor allem Naumanns anschaulicher und direkter Schreibstil, der Eindruck machte. Naumann war „ein Meister der Sprache, als Redner wie als Schreiber.“51 Naumann hatte sozusagen eine Doppelfunktion inne: Er war sowohl ein gern gehörter Redner als auch ein viel gelesener Publizist. Naumann war, um es in den Worten Hans Ulrich Gumbrechts zu sagen, sowohl in der „Präsenzkultur“ als auch in der „Sinnkultur“ zuhause.52 An dieser Stelle gilt es, sich noch einmal näher mit dem Schriftsteller Naumann auseinanderzusetzen, denn Naumann war für seine Anhänger „ein Meister des deutschen Stils, der eine höchst schlichte, einfache, sachliche und zugleich äußerst lebendige, anschauliche und farbige Sprache schreibt.“53 Nur über seine Schriften kann man herausfinden, wie Naumann schrieb. Die französische Gemeinde Mont-Saint-Michel schilderte Naumann beispielsweise fol48
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Naumann, Industriezeitalter (wie Anm. 21), S. 2 f.; vgl. zu Naumanns Dialog über die Masse und die Maschine Stefan-Georg Schnorr, Liberalismus zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Reformulierung liberaler politischer Theorie in Deutschland und England am Beispiel Friedrich Naumann und Leonard T. Hobhouse, Baden-Baden 1990, bes. S. 212–218. Ludwig Curtius, Deutsche und Antike Welt. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1958, S. 109. Heinz Holldack, Die moderne Zentralperson. Aus Friedrich Naumanns national-sozialer Zeit, in: Deutsche Beiträge. Eine Zweimonatsschrift, 1 (1947), S. 252 f. GStA PK, VI. HA Familienarchive und Nachlässe, Nl. Canditt, Nr. 294, Bl. 3, Hugo Canditt, Friedrich Naumann. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004, S. 99 ff. Heinrich Meyer-Benfey, Vorwort, in: Naumann-Buch. Eine Auswahl klassischer Stücke aus D. Friedrich Naumanns Schriften, hg. v. Heinrich Meyer-Benfey, Göttingen 1904, S. IV.
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gendermaßen: „Das Meer kommt! Das entschwundene Meer kommt wieder! Die unübersehbare Fläche sandig-nassen Landes wird wieder Wasserspiegel. Seht ihr, wie es dahinten schießt und rauscht. Es frißt das Land. Erst schiebt es nasse Arme vor sich her und dann umschlingt es den Zwischenraum. Die Fischer, die mit Stangen im Sande waten, fliehen zum Berge. Hört ihr die Brandung? Jetzt sind die Klippen erreicht! Jetzt wirft es sich an die Mauern! Es spritzt zu Höhe. Wie die Wälle verschwinden. Das Meer kommt, die Sonne geht unter, der Mond geht auf, und silbernes Licht umgibt den Berg des heiligen Michel.“54 Naumanns pittoresker Schreibstil war geradezu richtungsweisend, was ein Brief aus dem Werkbund-Archiv deutlich zeigt: „Gestern habe ich Ihr Manuscript fertig gelesen; der Eindruck ist sicher ein guter, in einzelnen Teilen muß die Sache nur noch plastischer, Naumann’scher [sic!] werden […].“55 Vor allem Tiermetaphern waren Naumanns Markenzeichen: „Der Staat ist ein Chamäleon, ein Proteus, ein verwandelbares Tier. […] Dieses StaatsIch mit Logik und Dialektik verfolgen zu wollen, ist eine Jagd nach einem Eber, der die Kraft hat, gelegentlich ein Hirsch zu sein.“56 Mit Hausenstein kann man einmal mehr feststellen: Naumanns „Kunst der Formulierung [ist] eines der Geheimnisse der Anziehung, die Naumann ausübte.“57 Charismatiker – so kann man auch im Allgemeinen feststellen – formulieren ihre Ziele anschaulich. Nur auf diesem Wegen können sie an die Gefühle der Leser appellieren. Texte sind auf Grund ihrer „Sinndimension“ wie geschaffen dafür, ganze Welten umzugestalten.58 Naumann war sich dieser Funktion durchaus bewusst. In einem seiner wenigen autobiographischen Skizzen schrieb Naumann unmissverständlich: „Alle meine Schriftstellerei ist Hilfsmittel für ein großes vor mir liegendes Ziel. Ich habe nie Schriftsteller werden wollen, bin es aber geworden, weil man ohne Schriftstellerei keine Ideen sozialer und politischer Art verwirklichen kann.“59 Naumanns Skizze „Auf dem Berg St. Michel“ zeigt deutlich, dass Naumann schrieb, als ob er zu den Lesern spräche. Er sprach sie direkt an. Das wurde auch von den Lesern bemerkt und positiv aufgenommen: „Ein rednerisches Element ist nun auch in seiner Prosa zu finden: wenn Naumann schreibt, so ist es ihm unwillkürlich, als rede er zu einer großen Versammlung. […] In Wahrheit agitiert er immer: er will nicht nur sich aussprechen, sondern etwas wirken.“60 Naumanns Doppelfunktion als Redner und Schriftsteller war nur eine Seite der Medaille. Denn große Bedeutung hatte auch – wie schon angesprochen – sein markanter Körper. Nicht nur der Naumannianer Paul Göhre beschrieb Naumanns 54 55 56 57 58 59 60
Friedrich Naumann, Auf dem Berg St. Michel, in: Ders., Werke (Sechster Band, Ästhetische Schriften), Köln 1964, S. 503 f. Werkbundarchiv-Museum der Dinge Berlin, Bestand Deutscher Werkbund, D 876, Karl Schmidt an Else Meissner am 27. 3. 1917. Naumann, Von Vaterland und Freiheit (wie Anm. 16), S. 9. Wilhelm Hausenstein, Naumann in seiner Zeit, in: Der Neue Merkur. Monatshefte, Dritter Jahrgang 1919–1920, S. 420–433, hier S. 427 Gumbrecht, Präsenz (wie Anm. 52), S. 99 ff. Friedrich Naumann, Autobiographische Skizze, in: Das literarische Echo. Monatsschrift für Literaturfreunde, 1. März 1915, (Heft 11), Sp. 750–752, hier Spa. 751. Ernst Lissauer, Friedrich Naumann als Prosaiker, in: Die Rheinlande, 1909, S. 345–348, hier S. 345.
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auffallenden Körper: „[E]ine schon durch seine körperliche Größe auffallende Erscheinung, blondhaarig, blauäugig, ein echter Germane, ohne übrigens die geringste Ähnlichkeit mit dem üblichen Typus eines deutschen evangelischen Geistlichen.“61 Ein ähnliches Bild von Naumanns riesenhaften Körper entwarf der Archäologe Curtius in seinen Erinnerungen: „Nun tauchte unter uns in einem solchen getafelten Hinterzimmer bald Friedrich Naumann selber auf. Er war beinahe zu groß für den kleinen Raum. Er war auch ebenso breit wie groß. […] Alle die politischen Parteipersönlichkeiten schrumpften neben ihm beinahe in reines Nichts zusammen.“62 Auch durch den Körper kann man sich von der Masse abgrenzen. Wie sah Friedrich Naumann aus? „Er hatte auf seiner mächtigen, schlicht gekleideten Figur einen niedersächsisch quadratischen Kopf sitzen, dessen blondes Gesicht ganz von der breiten wie hohen Stirn beherrscht wurde. Die Gerade, mit der im Profil die Stirne nach kurzer Einsenkung in die scharfe, aber auch behagliche, breite Nase überging, verlieh seinem Kopfe etwas Kühnes. Er hatte viel witzigen Humor, und dieser saß in seinen etwas tiefliegenden, lebhaften, hellen, blau-grauen Augen. Er war eine männliche Natur, der nichts Menschliches fremd war. Das konnte man dem breiten, energischen Kinn und dem von einem langen blonden Schnurrbart bedeckten resignierten Munde ansehen, um den er aber, ehe er einen neuen Treffer formulierte, oft so behaglich schmunzelte.“63 Friedrich Naumann war physisch auffallend. Oder anders ausgedrückt: Naumann war, im wahrsten Sinne des Wortes, auch körperlich eine herausragende Gestalt. Der Körper ist erst seit Mitte der 80er Jahre zu einem ernstzunehmenden Gegenstand der Geschichtswissenschaft geworden; zu einer Kategorie, mit der es sich zu arbeiten lohnt.64 Was verbirgt sich hinter dieser geschichtlichen Teildisziplin? Physiognomik muss immer als Einheit von „Gestenforschung, Ausdruckspsychologie, Gestaltpsychologie, Ethnologie, Zoographie, Konstitutionslehre und […] Anatomie“65 verstanden werden. Körper-geschichtliche Ansätze sind im Besonderen zeitgebunden. So gilt auch hier: Ohne die kulturelle Verfasstheit einer Epoche, lassen sich keine Aussagen über das (Außer-)Gewöhnliche eines Körpers machen. Umso wichtiger ist daher die Feststellung, dass während der Zeit, in der Naumann lebte, die Physiognomik Hochkonjunktur besaß.66 Durch eine „ethnologische
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Paul Göhre, Friedrich Naumann. Eine Skizze, in: Die Gesellschaft. Halbmonatsschrift für Literatur, Kunst und Sozialpolitik, Jahrgang 1898. Zweites Quartal, S. 745. Ludwig Curtius, Deutsche und Antike Welt. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1958, S. 106 u. 110; vgl. auch Joachim Radkau, Theodor Heuss, München 2013, S. 34 u. S. 536. Ebd., S. 109. Vgl. dazu den Sammelband Körper Macht Geschichte. Geschichte Macht Körper. Körpergeschichte als Sozialgeschichte, hg. v. Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte, Bielefeld 1999, S. 7 f. Claudia Schmölders, Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, Berlin 1996, S. 8 u. S. 17. Vgl. hierzu Maren Möhring, Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur 1890– 1930, Köln 2004; Vgl. auch Wolfgang Brückle, Kein Portrait mehr? Physiognomik in der deutschen Bildnisphotographie um 1930, in: Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000, S. 131–150.
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Perspektive“67 im Sinne Thomas Mergels wird im Folgenden die Bedeutung des Körpers von Friedrich Naumann aufgezeigt werden. Als erstes fällt die literarisch-künstlerische Ästhetisierung des Körpers von Friedrich Naumann ins Auge. In den Schriften der Naumannianer findet man immer zahlreiche Passagen, die dessen korpulente Körperlichkeit betonen: „Unvergeßlich wird uns seine mächtige Erscheinung sein mit dem ausdrucksvoll gemeißelten Kopf, einem wahren Haupt.“68 Neben der Körpergröße, mit der Naumann sich schon zu Schulzeiten von seinen Altersgenossen abhob,69 waren es in erster Linie die Augen, die in den Schriften der Naumannianer Erwähnung fanden: „Von hellen Sonnen umgeben, inmitten der erwachten Frühlingsnatur stand er mit leuchtendem Auge aufrecht da, ein Hüne von Gestalt, den breitkrempigen Hut in der Hand: Ein echter deutscher Mann.“70 Otto Nuschke hatte diese Zeilen nach Naumanns Tod verfasst. Der Psychiater Ernst Kretschmer beschrieb in seinem populären Werk „Körperbau und Charakter“ Naumann als „Held“ und „Führer“ auf Grund dessen „pyknisch-cyklotymer Konstitution.“71 Auch wenn man den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Körperbau und Charakter aus nahe liegenden Gründen nicht teilt, erscheint es doch angebracht, die Rede nicht nur als Text zu untersuchen. Performanz, Stimme und Körperlichkeit sind immer mit einzubeziehen. Besaß Naumann auf Grund seiner außergewöhnlichen Körperlichkeit Charisma? Es wirkt auf den ersten Blick unverständlich, warum ein schwerfälliger großer Mann von einem Neurologen zu einer Führergestalt erhoben wurde. Interpretiert man jedoch wie Joachim Radkau die wilhelminische Ära als ein nervöses Zeitalter, und somit Neurasthenie als Zeitstil, so versteht man dessen Logik. Naumann scheint, so die aufgestellte These, durch seine leibliche Masse eine unerschütterliche Ruhe verkörpert zu haben, die in dem nervösen Zeitalter auf die Menschen beruhigend wirkte.72 Ein Bollwerk, auf das man sich verlassen kann. Der wuchtige Körper Naumanns strahlte eine Ruhe aus; eine Beständigkeit, von der auch Hugo Canditt, Oberverwaltungsgerichtsrat am Preußischen Oberverwaltungsgericht in Berlin, in einem undatierten Manuskript nach Naumanns Tod eindrucksvoll zu berichten wusste: „Er war ein großer breiter, schwerer Mann. Er hatte schöne ausdrucksvolle Augen. Sein Gesicht war in jüngeren Jahren voll, hatte etwas gewöhnliches, wurde aber im Alter hagerer und edler. Eine breite Stirn, eine kräftig schmale Nase, ein festes Kinn 67 68 69 70 71 72
Vgl. dazu den wegweisenden Aufsatz von Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Geschichte und Gesellschaft, 28. Jahrgang 2002 / Heft 4, S. 574– 606, im Besonderen S. 591 u. S. 596. Georg Hohmann, Ein Arzt erlebt seine Zeit. Ansprachen Lebensbilder, Begegnungen, München 1954, S. 186. Heuss, Naumann (wie Anm. 35), S. 44. Otto Nuschke, Führer des Volks. Friedrich Naumann, Berlin 1919, S. 13. Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten, Berlin/Göttingen/Heidelberg 241961, S. 389. Diese Anregung verdanke ich Joachim Radkau; vgl. dazu Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, Wien 1998; sowie Ders., Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter, oder: Die Nerven als Netz zwischen Tempo- und Körpergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft (Heft 2, Sozialgeschichtliche Probleme des Kaiserreichs), 20 (1994), S 211–241.
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konnten wohl als schön gelten. […] Seine Bewegungen waren langsam. Er wußte auch in hitzigen Debatten die Ruhe zu wahren.“73 Naumann wurde nicht zuletzt aufgrund seiner massiven Körperlichkeit als eine „bismarckähnliche Gestalt“74 wahrgenommen und beschrieben. Zwischen Körperbau und Charismatismus besteht ein ausdrücklicher Zusammenhang. Das außeralltägliche Erscheinungsbild einer Person, so lässt sich an dieser Stelle mit Weber sagen, kann dessen Wirkungsmächtigkeit beeinflussen. Auch das im nächsten Kapitel herangezogene begriffliche Instrumentarium Erika FischerLichtes unterstreicht diesen körperbetonten Ansatz: „Es ist die spezifische Materialität [des] beweglichen und sich bewegenden Körpers, mit der der Schauspieler unmittelbar auf den Körper des Zuschauers einwirkt [und] ihn ansteckt.“75 Dieses „Wirkpotential“76 von Körperlichkeit und Sprache brachte Hausenstein auf den Punkt, indem er feststellte: „Dem Blick seiner prachtvollen blauen Augen wohnte eine Tiefe inne, die als Intransigenz empfunden werden konnte. Die Anstrengung der Stirn, des Gesichts trug dem Schauenden und Hörenden in die Sphäre höchster menschlicher Verantwortung. […] Stand der schwere Mann, eine Gestalt des lutherischen und bismarckischen Zuschnitt (die indes viel sympathischer war als beide) auf dem Rednerpodium, so fielen die Silben, distinkt wie ein Tropfen, mit schwerem Aufschlag in unsere Seelen. Hier sprach jemand, der mehr war als ein Politiker. Hier sprach ein priesterlicher Mensch.“77 So lautete Hausensteins eindrucksvolles Fazit über die Wirkungsmächtigkeit des mit außergewöhnlichen Gaben ausgestatteten Friedrich Naumann. Naumann besaß auf Grund seiner sprachlichen und körperlichen Fähigkeiten Charisma. Der Weber-Experte weiß, dass der Soziologe in erster Linie Idealtypen bildete. Doch man darf annehmen, dass selbst der wertfreie Analytiker von der historischen und sozialen Umgebung geprägt wurde. Zumindest sollte man an dieser Stelle fragen dürfen, ob Weber nicht auch an Friedrich Naumann dachte, als er seine Schriften über das Charisma verfasste? Fest steht, dass sich Max Weber in seinen zahlreichen Schriften über Kreise, Sonderfälle von Gemeinschaft, Gedanken machte. So berichtete beispielsweise dessen Freund und Weggefährte Paul Honigsheim in einem Aufsatz über den Max Weber-Kreis: „Max Weber [hat] selbst […] den Wert einer soziologischen Untersuchung des George-Kreises und analoger Erscheinungen betont.“78 Blickt man auf die Geschichte des Charisma-Konzeptes wird darüber hinaus deutlich, dass sich Weber das begriffliche Instrumentarium von dem Kirchenrechtler und Naumannianer Rudolph Sohm aneignete. Sohm bezeichnete in seinen 73 74 75 76 77 78
GStA PK, VI. HA Familienarchive und Nachlässe, Nl. Canditt, Nr. 294, Bl. 2, Hugo Canditt, Friedrich Naumann. Erika von Watzdorf-Bachoff, Im Wandel und in der Verwandlung der Zeit. Ein Leben von 1878 bis 1963, aus dem Nachlass hg. v. Reinhard R. Doerries, Stuttgart 1997, S. 92. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt 2004, S. 138. Ebd. Hausenstein, Naumann (wie Anm. 57), S. 429. Paul Honigsheim, Der Max-Weber-Kreis in Heidelberg. Besprechung des zweiten Bandes der Hauptprobleme der Soziologie, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, 5 (1925/1926), S. 270–287, hier S. 279 f.
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III. Exkurs über das Charisma (I)
Schriften die frühe Verfassung der Kirche als eine „charismatische Organisation“79. Max Webers Verdienst bestand darin, den Charisma-Begriff enthistorisiert und entinstiutionalisiert zu haben. Zudem übertrug er das Chrisma-Konzept von der Religion in die Politik.80 In den Lebenserinnerungen Marianne Webers findet man zudem eine direkte Gegenüberstellung des Dichters Stefan George mit Friedrich Naumann. In einem der vielen Briefe an ihren Mann, die sie in ihre Lebenserinnerung einbaute, heißt es: „Polaritäten sind sie [George und Naumann], ich bin froh von beiden eine Anschauung zu haben. Müßten wir wählen zwischen ihnen als lebenformende Mächte, so würden wir wohl nach Naumann greifen, weil er die durch Bruderliebe weltdurchdringende Kraft vereint mit starkem und plastischem Wirklichkeitssinn.“81 Dieser Brief ist deswegen von Relevanz, da Weber noch im Jahre 1910 George als Charismatiker bezeichnete,82 den Namen Friedrich Naumann aber nicht explizit in seinen Charisma-Studien einbaute. Der Historiker kann an dieser Stelle nur Vermutungen anstellen, doch scheinen die Überschneidungen zumindest auffällig. Radkau zum Beispiel vermutet, dass selbst innerhalb des Œuvres Webers eine ‚Menge‘ Naumann zu finden sei: „In Naumann und seinem Kreis ist ein Ursprung des WeberMythos zu suchen.“83 Wie schon erwähnt, lernte Weber Naumann 1894 auf dem ‚Evangelisch-Sozialen Kongress‘ kennen und schätzen. Über eine Begegnung der beiden wuchtigen Gestalten im Jahr 1905 berichtete ein österreichischer Bankier namens Felix Somary: „Als nun der Gründer der Nationalsozialen Partei, Pastor Naumann, in glänzender Rede und heißer Leidenschaft für den Gewerkschaftszwang eintrat, wurde jeder Satz von rauschendem Beifall begrüßt, der sich bis zum Fanatismus steigerte. Selbst Weber ließ sich in der Erregung dieser Stunde von einem scharfen Zwischenruf gegen die unabhängigen Arbeiter hinreißen.“84 Neben dieser quellentechnisch sehr problematischen Erinnerung Somarys könnte Immanuel Birnbaum, der Gründer der ‚Deutschen Studentenschaft‘, Radkaus These ein Stück weit untermauern. Er schrieb – jedoch ebenfalls erst nach Webers Tod – dass Weber Naumann seit langem als den „gegebenen Führer Deutschlands auf dem Weg zur Demokratie“85 ansah. War am Ende also Naumann das historische Vorbild, als Weber versuchte die drei Herrschaftstypen im Amt des Reichspräsidenten zu vereinen? So schön sich diese These auch anhören mag, mehr als spekulieren kann der Historiker auf Grund der Quellenlage nicht. Das Charisma-Konzept von Max Weber bewegt sich auf klassisch soziologischen Gewässern. Das Stiften einer sozialen Beziehung durch eine Zuschreibung 79 80 81 82 83 84 85
Weber, W. u. G. (wie Anm. 28), Fußnote auf S. 462. Vgl. Radkau, Weber (wie Anm. 24), S. 600 u. 602. Marianne Weber, Max Weber (wie Anm. 23), S. 472. Vgl. Radkau, Weber (wie Anm. 24), S. 603. Ebd., S. 520. Felix Somary, Erinnerungen aus meinem Leben, Zürich 1959, S. 43. Immanuel Birnbaum, Erinnerungen an Max Weber, in: Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit, hg. v. René König u. Johannes Winckelmann, Köln 1964, S. 19–21; vgl. dazu auch Wilhelm Spael, Friedrich Naumanns Verhältnis zu Max Weber, Königswinter 1985, S. 168 u. Dirk Kaesler, Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn, Eine Biographie, München 2014, S. 877.
III. Exkurs über das Charisma (I)
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steht unzweifelhaft im Zentrum des Konzeptes. Das Webersche Konzept erscheint auf den ersten Blick dafür prädestiniert, das Ordnungsgebilde des Naumann-Kreises zu beschreiben, die dortige Beziehungsstruktur zwischen ‚Führer‘ und ‚Gefolgschaft‘ aufzudecken. Das Konzept schafft Ordnung in das soziale Gebilde des Naumann-Kreises; es hilft die besondere Struktur der sozialen Beziehung zu erfassen. Über die persönlichen Eigenschaften des Charismatikers – körperliche und geistige – und die kulturelle Verfasstheit der Gesellschaft kann die Wirkungsmächtigkeit einer Persönlichkeit nachvollzogen werden. Doch steckt nicht noch mehr dahinter? Ganz in diesem Sinne stellte schon die Naumannianerin Elly Knapp fest: Denn dass Friedrich Naumann besondere Fähigkeiten besaß, nämlich ein „glänzender Redner und ein ebenso guter Schriftsteller“ war, „genügt ja nicht“, um zu erklären, weshalb Naumann eine Gemeinschaft der Geführten sein Eigen nennen konnte.86 Nur mit Hilfe der Theorien und Methoden aus der Theater- und Kulturwissenschaft kommt man dem Naumannschen Charisma auf die Schliche. Die Vorträge Naumanns wurden, wie schon Hans Cymorek in einer Miszelle hervorgehoben hatte, für die Naumannianer zu einem Schlüsselerlebnis87. Cymorek leitete seinen Beitrag über Naumann zudem mit einer interessanten Beobachtung des Dichters Ferdinand Avenarius ein, den jener im Jahre 1919 nach Naumanns Tod verfasst hatte. In der Zeitschrift „Der Kunstwart und Kulturwart“ schrieb er über Friedrich Naumann: „Und nun kommt Naumann. Welch ein dicker Koloß! Dieser asthmatische Todeskandidat mit dem kleinen Kopf da, das ist er? Zwar gescheit sah er aus, der Kopf! Aber das Stimmchen, und so ein hohes! Gottlob, pathetisch gab er sich wenigstens nicht. Nicht einmal, als wenn er da zu einer Masse sprach, die er zu einem Wir zusammenwerben wollte. So einfach war das, daß es bald jedem klang, wie ein Du zum Ich. Und gute Vergleiche! Vergleiche? Er zeigte Bilder hin! Nicht doch: er formte sie vor einem aus der Luft, mitunter schien es: sogar die Hand half dabei, so wenig er sie bewegte. Bald störte weder das üble Organ noch das seltsame der Erscheinung – der Geist hatte sie wie gleichgültige Zufälligkeiten ausgelöscht.“88 Diese Beschreibung eignet sich hervorragend, um auf das nächste Kapitel überzuleiten. Denn die körperlich und sprachlich auffallende Erscheinung – Naumann – verstand es, den Zuhörer während seiner Auftritte miteinzubeziehen; er ließ sozusagen durch seine Rede eine Gemeinschaft entstehen. Diese besondere Beziehung zwischen Redner und Zuhörer muss herausgearbeitet werden. Um der Faszination der Vorträge Naumanns auf die Schliche zu kommen, bedarf es einer weiteren kulturwissenschaftlichen Erweiterung. Naumanns Vorträge müssen als ein ästhetisches Arrangement begriffen werden. „Auf nichts anderes 86 87
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Elly Heuss-Knapp, Gedenkworte an Friedrich Naumann, in: Dies., Alle Liebe ist Kraft. Aufsätze und Vorträge von Elly Heuss, hg. v. Anna Paulsen, München/Hamburg 1965, S. 85. Hans Cymorek, Und das soll Naumann sein? Wege zu einer Biographie Friedrich Naumanns, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 14 (2002), S. 245–257, hier S. 245: „Das NaumannErlebnis durchzieht in jeweils individueller Färbung die Erinnerungsliteratur einer ganzen Generation. Auf Neugier folgte Staunen, zuweilen Befremdung, dann aber Begeisterung, ja Verehrung – oder nicht minder affektgeladene Ablehnung.“ Ferdinand Avenarius, Zum Gedächtnis Naumanns, in: Der Kunstwart und Kulturwart 32 (1919), Heft 24, S. 229–231, hier S. 229; dazu schon Cymorek, Naumann (wie Anm. 87), S. 245.
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III. Exkurs über das Charisma (I)
zielt der Begriff der Performanz: Er stellt dem Sinn, dem Inhalt der Rede ein anderes gegenüber. Das andere ist die Wirkung, die spezifische Macht der Rede, ihre Kraft, die über den Sinn hinausschießt und ihn zuweilen verbiegt oder unterläuft.“89
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Mersch, Posthermeneutik (wie Anm. 44), S. 222.
IV. EXKURS ÜBER DAS CHARISMA (II): DIE ÄSTHETIK DER PERFORMATIVEN Über die konstituierende Sitzung des Naumann-Kreises im November des Jahres 1896 in Erfurt berichteten auch die von Friedrich Naumann herausgegebenen Tages- und Wochenzeitungen: „Der Redner ist Pfarrer Naumann, mit lebhaftem Beifall begrüßt, der die Versammlung bittet, forthin nur das Sachliche, nicht das Persönliche vorwalten zu lassen. […] Am Ende der Rede ertönt ‚stürmischer‘ Beifall.“1 Wie man am 25. November in der nationalsozialen Zeitschrift ‚Die Zeit‘ nachlesen kann, sprach Friedrich Naumann an diesem für den Naumann-Kreis wichtigen Tag ganze drei Stunden lang! Ein richtiger Redemarathon: „‚Eine physische Leistung‘ meinte spöttisch ein gegnerischer Journalist. Mit Verlaub, meines Erachtens vielmehr eine geistige und rednerische Leistung, die ihm so leicht kein Zweiter im deutschen Vaterlande nachmacht.“2 Friedrich Naumanns Auftritte wurden als etwas Außergewöhnliches empfunden. Das stundenlange Reden, das kannte man vorher nur von den Predigern in der Kirche. Auch Prinz Max von Baden kam in seinen Erinnerungen auf Naumanns Auftritte zu sprechen: „Friedrich Naumann […] ist einer der bewegendsten Redner Europas, er packt die Menschen immer wieder durch die stets sich erneuernde Eigenart seiner Sprache. Unerwartet bricht durch wohlgeformte Perioden das Feuer eines großen mitleidenden Herzens.“3 Die Art und Weise, wie er etwas sagte, wirkte auf das Publikum: „Naumann gehört zu jenen Meistern der Rede, bei denen es manchmal viel weniger darauf ankommt, was sie sagen, sondern wie sie es sagen. Naumann jongliert gern mit Worten“4; so die Wortwahl in einer sozialdemokratischen Tageszeitung aus dem Jahre 1913. Politische Kommunikation ist immer – so heißt es nicht nur bei Peter Baumgart – „auf Wirkung bedacht“5. In den folgenden Kapiteln gilt es, den Blick auf die Darstellungsformen Friedrich Naumanns zu richten. Dieser Ansatz kann zugleich als eine „Geschichte des Wahrnehmens“6 bezeichnet werden. Über die Wahrnehmungsweisen der Naumannianer kann die Genese des Naumann-Kreises nachvollzogen werden. Dass die ästhetische Komponente des sinnlichen Erkennens und Erlebens bei der Vergemeinschaftung einer Gruppe eine große Rolle spielt, hob schon Hermann Schmalenbach in seinem 1922 veröffentlichtem Aufsatz über die „Soziologische Kategorie des Bundes“ hervor. Er verwies ausdrücklich auf die „Gefühls1 2 3 4 5 6
Die Begrüßungsversammlung in Erfurt, in: Die Zeit vom 24. November 1896, S. Beiblatt. Die Erfurter Versammlung, in: Die Zeit vom 25. November 1896, S. Beiblatt. Prinz Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, Berlin/Leipzig 1927, S. 72. Naumann über 1813, in: Volksstimme. Sozialdemokratisches Organ für Südwestdeutschland vom 10. November 1913, 1. Beilage zu Nr. 264 der Volksstimme, ohne Seitenangabe. Wolfgang Baumgart, Ästhetik der Politik, Ästhetik des Politischen. Ein Versuch in Thesen, Göttingen 2012, S. 11. Ebd., S. 13.
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IV. Exkurs über das Charisma (II)
erlebnisse“7, die die Gruppe tragen und entstehen lassen. Während in diesem Kapitel der Schwerpunkt auf den „emotionale[n] Gefühlslagen“8 der Naumannianer liegt, wird später der Fokus auf Naumanns Stellung als Ästhet liegen. Beide Male gilt es den systematischen Stellenwert des Ästhetischen im Charisma aufzuzeigen. Es wird daher der Versuch unternommen, das Charisma-Konzept Webers mit Hilfe kultursoziologischer Ansätze zu ästhetisieren; das primär soziologische Konzept kulturwissenschaftlich zu erweitern. Besonders hilfreich für die Modifikation des Charisma-Konzeptes erwies sich dabei die Arbeit der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte, die mit ihrem Werk „Ästhetik des Performativen“9 nicht nur in der Kulturwissenschaft für neue Denkanstöße sorgte. Friedrich Naumann war ein gern gehörter und gesehener Redner. In einem Brief Naumanns an den Nationalökonomen Lujo Brentano vom 30. Oktober 1899 findet man eine Auflistung der Redestätten. Es gab Zeiten, da war Naumann immer auf Reisen: „Es wird Ihnen schwer begreiflich sein, dass ich Ihre freundl. Briefe vom 8., 13. u. 18. Okt. erst jetzt beantworte. Ich war auf Agitation und habe soviel geredet und verhandelt, dass meine Korrespondenz darunter gelitten hat. Ich besuchte Eisenach (Sitzung des Ev. Arb. Ver.), Minden (Kanalrede), Bielefeld, Hamm, Dortmund (Kanal), Elberfeld, Krefeld und war in Bochum. Meist volle Versammlungen aber leider weniger Arbeiter als Bürgertum“10. Ein Ungleichgewicht, das Naumann nicht beheben konnte. Im Januar des Jahres 1905 verschlug es den umtriebigen Redner nach Hamburg und erneut konnte er sich nicht über einen Mangel an Zuschauern beklagen. In dem Nachlass11 des Naumannianers Carl Petersen, dem einstigen ersten Bürgermeister der Hansestadt (1924–1929 u. 1932–1933), lassen sich Zeitungsschnipsel der ‚Neuen Hamburger Zeitung‘ finden, in denen über dieses Ereignis berichtet wird: „Der weiße Saal von Sagebiel war gestern noch weit stärker besucht, als am ersten Naumann-Vortrag. Der Redner, der neulich an einer kleinen stimmlichen Disposition litt, war diesmal im Vollbesitz seines Organs. […] Am Schluß erscholl stürmischer sich wiederholender Beifall.“12 Naumanns Vorträge machten die Runde; immer mehr Hamburger wollten den außeralltäglichen Politiker reden hören: „Der Vorsitzende des Liberalen Vereins konnte gestern einen sich immer noch steigenden Besuch konstatieren.“13 Und in einer Beilage der Hamburger Tageszeitung findet man ergänzend: „In dem Sagebielschen Saale war gestern durch einige neue Stuhlreihen wieder neuen Raum für die Zuhörer Naumanns geschaffen worden.“14 Zeitungsberichte, die die Ereignishaftigkeit der öffentlichen Vorträge Naumanns verdeutlichen. 7 8 9 10 11 12 13 14
Hermann Schmalenbach, Die Soziologische Kategorie des Bundes, in: Die Dioskuren (1) 1922, S. 35–105, hier S. 59. Ebd., S. 51. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt 2003. BArch N 3001, 108, Bl. 6, Friedrich Naumann an Lujo Brentano am 30. Oktober 1899. Staatsarchiv Hamburg, Nachlass Carl Petersen 622–1/80, L 50. Zweiter Vortrag des Herrn D. Friedrich Naumann, in: Neue Hamburger Zeitung vom 10. Januar 1905. Naumann-Vorträge, in: Neue Hamburger Zeitung vom 13. Januar 1905. Naumann-Vorträge, in: Neue Hamburger Zeitung vom 13. Januar 1905. (Erste Beilage zu Nr. 22)
IV. Exkurs über das Charisma (II)
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Naumann referierte an fünf Tagen über die deutsche Geschichte der letzten Jahrzehnte: Über das politische Erbe Bismarcks, die Weltpolitik Wilhelms II, die vermeintliche Vorherrschaft des Zentrums, die politische Aufgabe der Sozialdemokratie und das Prinzip des Liberalismus. Naumann sprach an fünf Tagen über „Die Politik der Gegenwart.“15 Über die Geschichtsstunden Naumanns schrieb der Historiker Franz Schnabel rückblickend: „Was er vorbrachte war Deutung der Gegenwart aus der Geschichte.“16 Eine wichtige Feststellung hinsichtlich Naumanns Wirkungsmächtigkeit. Naumann erklärte die Gegenwart mit und aus der Vergangenheit. Er war sozusagen ein „historisch-politischer Denker“17. Am deutlichsten wird der geschichtsbewusste Ansatz Naumanns an einer Schrift aus dem Jahre 1910 sichtbar: Sein Werk „Die politischen Parteien“ war „der erste Versuch eines Gesamtüberblicks über die neuere deutsche Parteiengeschichte“18. Auch diese Schrift entstand aus vier zuvor gehaltenen Reden. Das hatte einen einfachen Grund: Damit das gesprochene Wort nicht verloren ging, mussten die Vorträge publiziert werden. Naumann lebte vor der Zeit der Speichertechniken!19 Doch wie gezeigt wurde, war Naumann eine Art zweidimensionales Wesen, das sowohl das Schreiben als auch die öffentliche Rede beherrschte. So wirkte er sozusagen mit ein und der selben Idee doppelt. Ein weiteres Beispiel, das den Blick auf das geschichtliche Bewusstsein Naumanns richtet, ist Naumanns Engagement bei der 100-Jahr-Feier anlässlich der Befreiungskriege. In zahlreichen Reden und Schriften setzte sich Naumann mit diesem historischen Ereignis auseinander und nahm die Geschichte mit in die Gegenwart.20 Am 9. November 1913 sprach Naumann in Frankfurt über die Freiheitskriege: „Im gefüllten Saale des Kaufmännischen Vereins sprach gestern Mittag Reichstagsabgeordneter Dr. Friedrich Naumann auf Veranlassung der Fortschrittlichen Volkspartei über das Jahr 1813. […] Von 1813 ließ der Redner die Gedanken herübergleiten zur Gegenwart.“21 In der liberalen ‚Frankfurter Zeitung‘ wurde die Rede wiedergegeben: „Vor fast zweitausend Hörern, die sich gestern aus Einladung des Fort15 16
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Friedrich Naumann, Die Politik der Gegenwart. Wissenschaftliche Vorträge (gehalten in Hamburg und Heidelberg), Berlin 1905. Franz Schnabel, Erinnerungen an Friedrich Naumann, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur u. Kunst, Fünftes Heft, 36 (1938/39), S. 437–440; vgl. dazu das Standardwerk von Thomas Hertfelder, Franz Schnabel und die deutsche Geschichtswissenschaft. Geschichtsschreibung zwischen Historismus und Kulturkritik (Erster Teilband), Göttingen 1998, hier S. 169. Walter Goetz, Friedrich Naumann als historisch-politischer Denker, in: Die Hilfe vom 11. September 1919, Nummer 37, S. 499 f. Thomas Nipperdey, Einleitung. Schriften zum Parteiwesen, in: Friedrich Naumann, Werke (Vierter Band, Schriften zum Parteiwesen und zum Mitteleuropaproblem), bearb. v. Thomas Nipperdey u. Wolfgang Schieder, Köln/Opladen 1966, S. XIII; vgl. Friedrich Naumann, Die politischen Parteien, Berlin/Schöneberg 1910. Vgl. dazu die hervorragende Studie von Reinhart Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 213. Vgl. z.B. Friedrich Naumann, Das Wagnis von 1813, in: Die Hilfe vom 13. März 1913, S. 162 f.; vgl. BArch N 3001, Nr. 96, Auflistung der Vorträge Naumanns im Jahre 1913. Naumann über 1813, in: Volksstimme. Sozialdemokratisches Organ für Südwestdeutschland vom 10. 11. 1913, 1. Beilage zu Nr. 264 der Volksstimme.
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IV. Exkurs über das Charisma (II)
schrittlichen Volksvereins im Saal des Kaufmännischen Vereinshauses versammelt hatten, sprach Friedrich Naumann über ‚1813‘. […] So brachte diese Gedenkfeier für die Volksbewegung von 1813 den Versammelten nicht nur einen ästhetischen Genuß, sondern auch eine Bereicherung des Wissens und des Willens.“ Naumann sprach von der Entstehung des deutschen Staates, von der Geburt der deutschen Nation: „Aber das Große ist, das damals das Volk etwas erlebte. […] In dieser Lust entstand das Gefühl in den Leuten: Wir sind das Volk, wir sind der Staat. […] Noch haben wir die Hemmung des Herrenhauses und diesen Landtag, der noch immer da ist. Noch einmal müßt ihr ringen! Der Geist jener Zeit darf nicht tot sein.“22 Eine Parole, die sowohl an Georg Büchner, als auch an die Montagsdemonstrationen im Jahre 1989 erinnert. Für Naumann war die „Volkserhebung“23 von 1813 die eigentliche Geburtsstunde der deutsche Nation. Neben einer Parlamentarisierung und Demokratisierung des Staates setzte Naumann sich wiederholt für ein mächtiges Kaisertum ein. Wie beispielsweise am 19. und 20. November des Jahre 1903, als Naumann in München über den deutschen Kaiser Wilhelm II. sprach. Dabei stellte er dem Publikum die nach seiner Meinung nach alles entscheidende Frage: „Was würde sein, wenn wir das Kaisertum und den Kaiser nicht hätten? Was würde sein, wenn wir heute parlamentarisches Regiment allein in Deutschland hätten?“ Naumann antwortete: „Dann würden wir ein konservativ-klerikales Regiment da haben.“ Kaiser Wilhelm II. war für Friedrich Naumann „ein Garant für die erworbenen Rechte der Vergangenheit“. Denn – so führte Naumann am Anfang seiner Rede aus – „das deutsche Kaisertum in seiner Entstehung ist […] ein Kompromiss zwischen der alten Königszeit […] und dieser neuen liberalen gewerblichen Bewegung.“ Auf die Frage, was denn „der politische Inhalt [sei], der in der Persönlichkeit Wilhelms II. steckt“, antwortete Naumann kurz und knapp: das Nationale und das Industrielle. Kaiser Wilhelm II. repräsentierte für Naumann die neue emporstrebende Weltmacht in Mitteleuropa. Naumann schloss mit den Worten: „Wenn man im Auslande gewesen ist […] und hat draußen einmal die Republik, die Luft der Republik Frankreich, die Luft des Kalifen in Konstantinopel und die Luft anderer Königtümer […] um sein Haupt wehen gefühlt, und man kommt dann nach Hause von draußen, so kommt man doch mit der Empfindung, die in den Worten liegt: Gott erhalte den Kaiser“24. Am Ende der Rede ertönte – so konnte man im Vorabendblatt der ‚Münchner Neusten Nachrichten‘ nachlesen – „stürmischer, langanhaltender Beifall“25. Naumanns Idee von einer Demokratie im Kaisertum fand vor allem Gefallen bei dem Bildungsbürgertum. Erst im Zuge der Daily-Telegraph-Affäre im Oktober des Jahres 1908 kehrte Naumann dem Monarchen ein Stück weit den Rücken. „Der deutsche Kaiser hat es seit 18 Jahren versucht, sein eigener Reichskanzler zu sein. Diese Zeit genügt, um ein Urteil zu gewinnen, und das Ergebnis ist, daß der Kaiser nicht alle Eigenschaften besitzt, die 22 23 24 25
Naumann über 1813, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt vom 10. 11. 1913, Erstes Morgenblatt Nr. 313, S. 3. Vgl. BArch N 3001, Nr. 96, Vortrags-Skizzen von Naumann, Die Volkserhebung von 1813. Friedrich Naumann, Die Politik Kaiser Wilhelms II., München 1903, S. 5, S. 16 u. S. 23 Naumanns Vorträge in München II, in: Münchner Neuste Nachrichten vom 21. November 1903, S. 2 f.
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dazu gehören.“26 Naumann forderte seitdem mehr Mitbestimmung. Die erhoffte „Integrationsfähigkeit“ des Kaisers stand sozusagen auf wackligen Füßen.27 In einem immer wieder gern zitierten Satz kam der Archäologe Ludwig Curtius auf sein Naumann-Erlebnis zu sprechen. Er bezog sich auf die bereits erwähnte Kaiser-Rede von Naumann in München: „Das rednerisch größte Erlebnis, dessen ich mich entsinne, war ein Vortrag Naumanns im Mathildensaal in München über Wilhelm II. Damals war sein Ruf schon so groß, daß das ganze intellektuelle München versammelt war. Alle waren Gegner des Kaisers. Und nun brachte Naumann in seinem damaligen Glauben, daß deutsches Volk und sozialer Kaiser sich gegenseitig verstehen und für die Neugestaltung des Reichs zusammenfinden müßten, fertig, diesen von uns allen gehaßten Mann […] verständlich […] zu machen. Ich entsinne mich noch, wie wir uns nach verrauschtem Beifall gegenseitig verwundert ansahen, ob wir nicht von einem indischen Fakir verzaubert, eine Distel als Dattelpalme angesehen und Früchte von ihr gepflückt hätten.“28 In diesem Sinne beschrieb auch die Lyrikerin Erika von Watzdorf-Bachoff ihr persönliches NaumannErlebnis in München: „[U]nd so trocken [das] Thema auch klang, er hob es in eine geistige, ja geradezu dichterische Höhe, die mich begeisterte.“29 Neben der schon erwähnten einzigartigen Fähigkeit Naumanns, der ars rhetoricae, und dessen schon erwähntem Ziel, Demokratie und Kaisertum zu verbinden, eignet sich dieser Passus hervorragend, um Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen auf den Redner Naumann und seine Zuhörer zu übertragen. Der emotionale Publikumsbezug der Rede und das hier unter dem Stichwort Erlebnis erwähnte Moment der Verzauberung bilden die begriffliche Offerte dafür. Schon der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer bemerkte, dass öffentliche Rede immer „inkrustiert und inszeniert“ sei und dass sie „sich gleichzeitig an Ohr und Augen wende […] und doppelt an das Ohr, denn das Brausen der Menge, ihr Applaus, ihr Ablehnen wirk[e] auf den Einzelhörer gleich stark, mindestens gleich stark wie die Rede an sich.“30 Auch Josef Kopperschmidt schrieb diesbezüglich in seiner wegweisenden Studie über „Hitler der Redner“, dass das Anschlussprinzip als das Elementarprinzip der Rhetorik angesehen werden müsse.31 Nun gilt es diese Beobachtungen Kopperschmidts durch das begriffliche Instrumentarium der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte zu untermauern, 26
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Friedrich Naumann, Die Politik des Kaisers, in: Die Hilfe 14 (1908), S. 718–720; vgl. dazu Peter Winzen, Das Kaiserreich am Abgrund. Die Daily-Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908, Darstellung und Dokumentation, Stuttgart 2002, S. 47–48 und S. 179–183, hier S. 180. Gangolf Hübinger, „Maschine und Persönlichkeit“. Friedrich Naumann als Kritiker des Wilhelminismus, in: Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, S. 167–187, bes. 182–184. Ludwig Curtius, Deutsche und Antike Welt. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1950 S. 162. Erika von Watzdorf-Bachoff, Im Wandel und in der Verwandlung der Zeit. Ein Leben von 1878 bis 1963, aus dem Nachlass hg. v. Reinhard R. Doerries, Stuttgart 1997, S. 92. Victor Klemperer, LTI. Die unbewältigte Sprache, München 1960, S. 61. Vgl. über die eben aufgestellte These den ausgezeichneten Aufsatz von Josef Kopperschmidt, Darf einem zu Hitler auch nichts einfallen? Thematisch einleitende Bemerkungen, in: Ders., Hitler der Redner, München 2003, S. 11–27, hier S. 18–19.
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die in ihrer „Ästhetik des Performativen“ die leibliche Ko-Präsenz von Akteur und Zuschauer und die performative Hervorbringung von Materialität vor allem die Ereignishaftigkeit einer Aufführung betont.32 Anders ausgedrückt: Der „performative turn“ richtet den Blick auf die „Ausdrucksdimension von Handlungen und Handlungsereignissen“ und untersucht die verschiedenen „Wahrnehmungserfahrungen“33 der Anwesenden. Dieter Mersch ergänzt Performativität um eine soziologische Komponente: „Performativität meint diese Vollbringung einer Arbeit oder die Herbeiführung oder Vorführung einer Praxis, ihre Selbstausstellung in einer Handlung, die, indem sie sich vollbringt oder setzt, zugleich eine soziale Tatsache evoziert“34: der Naumann-Kreis. Über Naumanns performative Leistung ist die Genese des Naumann-Kreises nachzuvollziehen. Am Anfang der Geschichte des Naumann-Kreises stand sozusagen die Ereignishaftigkeit einer Naumann-Aufführung. Der begnadete Redner wirkte daher durch seine Auftritte kreisbildend. Schon in einem Zeitungsartikel vom 25. März 1910 aus der ‚Preußischen Lehrerzeitung‘ wurde darüber eindrucksvoll berichtet: „Wenige Männer haben es so verstanden, einen großen Kreis von Menschen […] für sich zu gewinnen, wie er. Nicht bloß durch eine außerordentlich umfassende schriftstellerische und rednerische Tätigkeit, auch durch seine ganze Persönlichkeit und die besondere Art seiner Darbietungen!“35 Am Anfang des Werkes von Fischer-Lichte steht die Sprechakttheorie von John L. Austin, die davon ausgeht, dass durch sprachliche Äußerungen weniger Beschreibungen als vielmehr Handlungen vollzogen werden.36 Neben der Anerkennung der Welten veränderten Kraft durch Sprache, ist es der Aufführungsbegriff an sich, der im Zentrum des Werkes von Fischer-Lichte steht. Eine Aufführung ist für Fischer-Lichte immer dann gegeben, wenn diese als Resultat einer Interaktion zwischen Darsteller und Zuschauer hervorgebracht wird. Eine Aufführung kann daher als eine „leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern“ verstanden werden. Fischer-Lichtes Hervorhebung der Interaktivität einer Aufführung grenzt sich daher deutlich von dem klassischen Werkbegriff ab und betont stattdessen die Ereignishaftigkeit einer jeden Aufführung: „Die Aufführung hat vielmehr ihre spezifische Ästhetizität in ihrer Ereignishaftigkeit.“37 Ähnlich beschreibt der Philosoph Dieter Mersch die Qualität dieses kulturwissenschaftlichen Ansatzes: „Denn hier werden nicht Urteile und Überzeugungen zu Argumenten, sondern die Ereignisse selbst und die Erfahrungen, die sie stiften.“38 Das bedeutet natürlich nicht, dass der In32 33 34 35 36 37 38
Vgl. auch den zusammenfassend Aufsatz von Erika Fischer-Lichte, Performativität und Ereignis, in: Performativität und Ereignis, hg. v. Erika Fischer-Lichte / Christian Horn / Sandra Umathum / Matthias Warstat, Tübingen/Basel 2003, S. 11–37. Doris Bachmann-Medick, Performative Turn, in: Dies., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 22007, S. 104–143, hier S. 104 u. S. 129. Dieter Mersch, Posthermeneutik, Berlin 2010, S. 227. Karl Schrader, Friedrich Naumann, in: Preußische Lehrerzeitung vom 25. März 1910, S. 1. John L. Austin, Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart 1979; vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik (wie Anm. 9), S. 31–57. Ebd. S. 55. Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002, S. 20.
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halt der Rede keine Rolle mehr spielt. Viel mehr darf angenommen werden, dass sich der Inhalt und die Ereignishaftigkeit einer Rede gegenseitig bedingen. Mehr noch: wenn der Zuhörer mit dem Inhalt der Rede übereinstimmt, desto stärker die langfristige Wirkung der Rede. Die Ereignishaftigkeit verpufft schnell; Wörter hingegen können lange nachhallen. Anhand eines weiteren Beispiels wird deutlich, was Mersch und FischerLichte damit meinen: „Ich sah und hörte Friedrich Naumann das erste Male bei einer Sonnwendfeier der Münchner Studenten auf dem Nokherberg. Er war wohl einer der besten Redner unserer Zeit. Für mich wurde dieser Abend zu einem entscheidenden Erlebnis.“39 Naumanns Rede auf der Sonnwendfeier wurde für den Arzt Franz Schede zu einem Schlüsselereignis. Es drängt sich an dieser Stelle geradezu auf, Fischer-Lichtes „Ästhetik des Performativen“ im Hinblick auf die Genese des Naumann-Kreises zu übertragen. Mit Fischer-Lichte kann man überspitzt sagen: „Was sich in Aufführungen ereignet, lässt sich zusammenfassend als eine Wiederverzauberung der Welt und eine Verwandlung der an ihnen Beteiligten beschreiben.“40 Eine Feststellung, die ohne Zweifel auch „in den Bereichen der Politik“41 anzutreffen ist. Der eben zitierte Passus aus den Erinnerungen Curtius’ verwies auf das Moment der Verwandlung, das durch das Ereignis des öffentlichen Vortrages von Naumann ausgelöst wurde. Zudem war nicht nur der Inhalt der Rede entscheidend; auch und gerade die Ereignishaftigkeit der Aufführung erzeugte bei dem Naumannianer ein Gemeinschaftsgefühl. Bereits Max Weber hat auf das Phänomen bei einer charismatischen Rede hingewiesen: „Je mehr Massenwirkung [bei einer politischen Rede] beabsichtigt ist […] desto nebensächlicher wird dabei die Bedeutung des Inhalts der Rede. Denn ihre Wirkung ist […] rein emotional.“ Darüber hinaus betonte er, „daß alle emotionale Massenwirkung notwendig gewisse „charismatische“ Züge an sich trägt.“42 Man darf daher ohne Skrupel zusammenfassend sagen, dass Charisma und Performanz sich gegenseitig bedingen. Ohne öffentliche Bühne und Auditorium kein Charisma der Rede. Der Historiker Franz Schnabel schrieb über die Wirkungsmächtigkeit der Naumann-Auftritte zutreffend: „Dann kam er selbst, zu irgendeinem Vortrag, und der Eindruck war ungeheuer. Noch heute klingen ganze Abschnitte der Reden im Ohre wider, mit dem Tonfall der Stimme, mit der lebendigen Verknüpfung von Redner und Zuhörer.“43 Passender kann man die von Fischer-Lichte erwähnte Interaktivität einer Aufführung und die Ko-Präsenz zwischen Redner und Zuhörer kaum beschreiben. In einem Brief aus der Kaiserzeit berichtete Elly Knapp von einem Faschingsfest des Süddeutschen Nationalsozialen Vereins in Berlin, bei dem Naumann mit 39 40 41 42 43
Franz Schede, Rückblick und Ausblick. Erlebnisse und Betrachtungen eines Arztes, Stuttgart 1960, S. 76. Fischer-Lichte, Ästhetik (wie Anm. 9), S. 315. Ebd. S. 316. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Herrschaft, hg. v. Edith Hanke, in: Ders.: Gesamtausgabe (Band I/22–4), Tübingen 2005, S. 506. Schnabel, Friedrich Naumann (wie Anm. 16), S. 437–440.
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den Jugendlichen zusammen das Tanzbein schwang: „Als er aber eine zeitlang zugeguckt hatte, wurde er von der Stimmung, die über dem ganzen lag, so gepackt, daß er blieb, sich von mir einen Efeukranz aufsetzen ließ, wundervolle Debatten […] führte und schließlich redete. Das war das Wunderbarste: Wir alle auf dem Fußboden lagernd um ihn herum, er groß in der Mitte ragend und über das süddeutsche Wesen redend. […] Als er fertig war, tanzten wir um ihn herum – es war wie in einer anderen Welt, alle Gesetze der Schwere schienen aufgehoben […].“44 Wie der Archäologe Curtius wurde die noch junge Elly Knapp durch Naumanns leiblichen Auftritt angesteckt und überwältigt. Darüber hinaus fällt auf, dass der Inhalt der Rede nur beiläufig Erwähnung findet, die körperliche Präsenz Friedrich Naumanns dafür um so mehr. Unter Präsenz versteht Fischer-Lichte „die spezifische Ausstrahlung eines Darstellers, die er durch seine bloße physische Anwesenheit im Raum vermittelt“45 Dass ein „Präsenzeffekt“ bei einem ästhetischen Erlebnis eine wichtige Rolle spielt, zeigen darüber hinaus einmal mehr die Schriften Hans Gumbrechts: „Sofern der Körper in einer Präsenzkultur der wichtigste Gegenstand des Selbstbezugs ist, muß […] der Raum, also jene Dimension, die sich im Umkreis der Körper konstituiert, der ureigentliche Bereich sein, in dem das Verhältnis zwischen verschiedenen Menschen und das Verhältnis zwischen den Menschen und den Dingen dieser Welt ausgehandelt werden.“46 Die ästhetischen Erlebnisse der Naumannianer waren auf die physische Präsenz von Naumann zurückzuführen, was auch Theodor Heuss in seiner Naumann-Biographie treffend schilderte: „Er mochte bei einer behaglichen Schilderung die Hände in die Taschen des Rocks oder der Hose verstauen, trat dann wohl auch seitlich vom Pult weg, um den Hörern fast körperhaft näher zu kommen […].“47 Die Theaterwissenschaft stellt noch einen weiteren Begriff zur Verfügung, mit dem eine weitere Wesensart Naumanns an Konturen gewinnt. Mit dem Begriff der ‚Inszenierung‘ lässt sich jeder „Vorgang [einer] Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien [verstehen], nach denen die Materialität der Aufführung performativ hervorgebracht [wird]“48. War Naumann zuletzt ein Stratege gewesen, der darauf aus war, seine Aufführungen zu optimieren, um besser auf die Zuhörer zu wirken? Zumindest die Quellen der Naumann-Skeptiker sprechen diese Sprache: Ein Dragoner-Rittermeister namens von Faber du Faur berichtete in einem Brief von einer Rede Naumanns an der Westfront, die er 1918 vor Soldaten gehalten hatte: „Naumann hielt mehrere Male […] Ansprachen. […] Die Ansprachen waren vorzüglich, voller Anlaß – ich erinnere, wie er einen plötzlichen Regenguß zur Verdeutlichung der allgemeinen Situation benutzte –, aber die Erregung war schon 44 45 46 47 48
Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp, in: Elly Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten. Ein Leben in Briefen und Aufzeichnungen, hg. v. Margarethe Vater, Tübingen 21961, S. 59. Fischer-Lichte, Performativität (wie Anm. 32), S. 30. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004, S. 18, S. 99 ff. u. S. 128, Zitat auf S. 103. Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, München / Hamburg 31968, S. 241. Fischer-Lichte, Ästhetik (wie Anm. 9), S. 327.
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zu groß.“49 Naumann wird hier als Prediger an der Front geschildert, der selbst ein Naturschauspiel ausnutzte, um seine Rede im Zeichen der Krise zu versinnbildlichen und zu verstärken und mit Fischer-Lichte gesprochen, dadurch eine „ästhetische Erfahrung“50 par excellence erzeugte. Laut Faber du Faur blieb der Moment der Ansteckung in diesem Fall aus; das tödliche Schauspiel des Krieges war wohl wirkungsmächtiger, als der inszenierte Auftritt Naumanns. Doch Naumann war an sich der richtige Mann, die Truppen an der Westfront durch seine emotionalen Vorträge aufzubauen. In einem Brief des Leiters der Aufklärungstätigkeit vom 4. Armeeoberkommando vom 4. September 1917 wird deutlich, wie die Kriegsbühne von Naumann genutzt werden konnte: „Ich weiss sehr wohl, wie stark Ihre Kraft durch amtliche und öffentliche Tätigkeit in Anspruch genommen ist und dass Sie sich ähnlichen Bitten, die gewiss häufig an Sie herantreten, oft verschliessen müssen. In diesem Fall aber, wo es sich um die geistige Stärkung, um die Erhaltung und Erhöhung der Widerstandskraft der an der Front stehenden Truppe handelt, bitte ich Sie dringend, der ausgesprochenen Bitte zu willfahren. Bedenken Sie freundlichst, dass Ihre Worte und Gedanken auf diese Weise das Ohr nicht von Tausenden, sondern von Hunderttausenden deutscher Krieger erreichen.“51 Naumann bekam mehrere dieser Anfragen; doch es war nicht immer einfach, wie ein Brief an den Leiter der Feldzeitung des 3. Armeeoberkommandos bezeugt: „Da ich schon zweimal im Westen und einmal im Osten ähnliche Vorbereitungen getroffen hatte und jedesmal militärische Hindernisse eingetreten sind, so würde es mir selbst eine gewisse Befriedigung bereiten, wenn dieses Mal der Plan zur Ausführung kommen könnte.“52 Die Rahmenbedingungen des Krieges waren wie geschaffen für Naumanns Wirkungsmächtigkeit; eine Feststellung die sich in dem Kapitel über den Ersten Weltkrieg noch einmal deutlich herauskristallisiert. Weniger erfolgreich war Naumann hingegen bei den Veranstaltungen der deutschen Arbeiterschaft. Eine Geschichte des Schriftstellers Friedrich Burschell klingt folgendermaßen: „Freunde nahmen mich zu einer Massenveranstaltung mit, in der gegen das in Preußen noch immer herrschende Dreiklassenwahlrecht protestiert werden sollte. Der Hauptredner war der berühmte Liberale Friedrich Naumann, ein behäbiger gemütlicher Mann mit den Allüren eines Pastors. Seine Aufführungen erschienen der meist aus sozialdemokratischen Arbeitern bestehenden Versammlung offenbar zu zahm. […] Schließlich erhob sich die Menge von den Stühlen und stimmte die Internationale an. Während des Tumultes hatte sich Friedrich Naumann eine Virginia angezündet und wie mit einem Taktstock dirigierte er damit den mächtig anschwellenden Chorgesang.“53 Der ehemalige Pastor Naumann wurde als ein Schauspieler ersten Ranges geschildert, da er selbst Hymnen eines anderen Milieus aufgriff, um die Zuhörer für sich zu gewinnen. Naumann wusste, wie man sich mit Symbolpolitik in Szene setzte. Dieses mit Vorsicht zu genießende Beispiel 49 50 51 52 53
Zitiert nach Heuss, Naumann. (wie Anm. 47), S. 471. Fischer-Lichte, Ästhetik (wie Anm. 9), S. 332. BArch N 3001, Nr. 28, Bl. 143, {?} an Friedrich Naumann am 4. September 1917. BArch, N 3001, Nr. 28, Bl. 145, Brief Friedrich Naumanns an {Hauptmann} Munsingen am 2. September 1917. Friedrich Burschell, Erinnerungen 1889–1919, Ludwigshafen 1997, S. 70.
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zeigt zudem, dass Naumann die direkte Auseinandersetzung mit der organisierten Arbeiterschaft suchte. Naumann sprach oft auf den Kundgebungen und öffentlichen Veranstaltungen der Sozialdemokratie. Man kann Heuss in diesem Punkt nur recht geben: „Wem fiel das sonst ein, Bebel und Ledebour im Norden, Clara Zetkin im Osten Berlins entgegenzutreten?“54 Es war der Versuch Naumanns, den gemäßigten Teil der deutschen Sozialdemokratie für seine Ideen zu gewinnen; mit stimmungserzeugenden Auftritten und einer ausgetüftelten Symbolpolitik. In der Naumann-Biographie von Heuss kann man über Naumanns Versuch die Arbeiterschaft zu gewinnen, lesen: „Die sozialistische Grundgesinnung aus der Marxschen Enge zu befreien und sie in nationalen Machtwillen einströmen zu lassen – das war der seelische Einsatz [Naumanns] gewesen.“55 Ein im Großen und Ganzen vergeblicher Einsatz, wie sich später herausstellte. Fest steht jedoch, dass Naumann seine Zuhörer durch Emotionen auf seine Seite bringen wollte. Selbst sein Schüler Theodor Heuss musste eingestehen, dass Naumann nicht mit Emotionen bei seinen öffentlichen Ansprachen sparte: „Er konnte Gefühle erregen und wollte es gelegentlich, aber er war damit sparsamer als es bei denen den Eindruck machte, die neidisch oder bestürzt erlebten, wie Seelen sich unter der Macht seines sicheren Wortes beugten.“56 Auf einer Tagung des ‚Vereins für Sozialpolitik‘ in Mannheim im Oktober des Jahres 1905 wurde Naumann von dem bekannten Ökonomen Gustav Schmoller öffentlich als Demagoge bezeichnet.57 Daraufhin antwortete ihm Naumann in seiner Zeitschrift ‚Die Hilfe‘: „Und was ist Demagogie? Soviel ich verstehe, ist es der Versuch, das klare Ueberlegen und die Beobachtung realer Sachverhalte durch einen Überschuß von Gefühlen und Leidenschaften zu stören. Nun leugne ich gar nicht, daß ich im politischen Kampf Gefühle und Leidenschaften habe, und daß ich gelegentlich auch einmal eine Rede halte, wo ich sie frei ausströmen lasse, wiewohl das gar nicht allzu häufig ist, da ich auf Gefühlserfolge wenig gebe.“58 Zehn Jahre später äußerte sich Heuss noch einmal zynisch zu diesem Vorwurf: „Seltsam genug, daß in Deutschland die Meisterschaft der Rede den Inhalt verdächtig macht.“59 Was steckt dahinter? An dieser Stelle lohnt sich ein erneuter Blick auf die Schriften Naumanns. Denn Naumann war sich durchaus der Chancen und Möglichkeiten einer öffentlich wirksamen Rede bewusst. Seine eigenen Schriften legen davon ein interessantes Zeugnis ab: „Rede ist ein Zwiegespräch, bei der einer spricht und die anderen hörend mitreden. Wer dieses hörende Mitreden nicht begreift, ist nicht rednerisch veranlagt.“60 In dem überaus interessanten Aufsatz über „Die Kunst der Rede“ betonte Naumann 54 55 56 57 58 59 60
Heuss, Naumann (wie Anm. 47), S. 145. Ebd., S. 191; vgl. dazu Friedrich Sponsel, Friedrich Naumann und die deutsche Sozialdemokratie (zugl. Diss.), Erlangen 1952. Heuss, Naumann (wie Anm. 47), S. 240. Vgl. ebd. Friedrich Naumann, Im Verein für Sozialpolitik, in: Die Hilfe vom 8. Oktober 1905, S. 1 f. Theodor Heuss, Naumann, in: Vossische Zeitung vom 26.8.1919, S. 2 f. Friedrich Naumann, Die Kunst der Rede, in: Ders., Werke (Fünfter Band, Schriften zur Tagespolitik), bearb. v. Alfred Milatz, Köln 1967, S. 666.
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zudem die in diesem Kapitel herausgearbeitete Ko-Präsenz zwischen Redner und Zuhörer. Er schilderte die Rede darüber hinaus passend als „Zwiegespräch“. Dass Naumann ebenso an die vergemeinschaftende Kraft einer Rede glaubte, beweist dieser zentrale Passus aus seiner Feder: „Es entsteht in Kürze eine Gemeinschaft, oder sie entsteht auch nicht. Ob sie aber entsteht, dass ist das Entscheidende für den inneren Erfolg der Rede. Diese Gemeinschaft aus unbekannten menschlichen Elementen zusammenzubauen, ist die Kunstaufgabe des Redners. Er bildet Gemeinde, und sei es nur für eine oder eine halbe Stunde.“61 Friedrich Naumann war sich demnach über die Wirksamkeit eines öffentlichen Auftrittes im Klaren. Darüber hinaus verwies er zurecht auf die Augenblicklichkeit einer jeden Aufführung. Denn „als absolute Singularität verweigert sie sich jeglicher Wiederholung.“62 Die Überwältigung des Augenblicks ist etwas anderes als die Überzeugung auf Dauer. Nur Schriften und Institutionen können helfen, dieses Problem zumindest ein Stück weit zu beheben. In einem späteren Kapitel wird gezeigt, dass Naumann selbst den kurzlebigen „Bann der Gemeinschaft“63 zu institutionalisieren versuchte. Emil Dovifat war von Naumanns Aufsatz so sehr begeistert, dass er sich noch in den 60er Jahren dafür einsetzte, dessen Gedanken über die Rede erneut zu veröffentlichen: „Sehr geehrter Herr Dr. Witte! […] Es freut mich sehr, daß in Band 5 der Naumann-Auswahl auch die Schrift ‚Kunst der Rede‘ erscheint. Herrn Dr. Alfred Milatz möchte ich allerdings nahelegen, diese ausgezeichnete Arbeit in einer volkstümlichen Einzelausgabe herauszubringen. Sie würde die gegenwärtige so verwilderten Redegebräuche sicher verbessern können.“64 Für den Publizistikwissenschaftler waren Naumanns Gedanken über das gesprochene Wort einzigartig und lehrreich. Auf einer Tagung der ‚Friedrich-Naumann-Stiftung‘ mit dem Titel „Bildung der öffentlichen Meinung – manipuliert oder frei“, die vom 11. bis zum 13. November 1965 in Bad Soden stattfand, stellte Dovifat während seines Referats fest: „Neu und unbedingt erwähnenswert ist m. E. Naumanns Wertung des Zuhörers. Er prägt den Ausdruck ‚hörend mitreden‘ und weist darauf hin, dass der Weg zum Reden über das richtige und geübte Hören geht. […] Die Hauptaufgabe des Redners“, so Dovifat weiter, ist es „die Zweiheit Redner-Zuhörer zu einer Einheit des Wollens und Meinens zu vereinigen.“65 Der öffentlichen Rede wird hier eine vergemeinschaftende Funktion beigemessen. Eine Bedeutung, die Naumann ohne Zweifel erkannt hatte. Wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, erlebten die Naumannianer die Aufführungen von Naumann als ein stimmungserzeugendes Ereignis. Zudem wirkten sich die öffentlichen Vorträge Naumanns vergemeinschaftend auf die Gruppe aus. Nicht nur der Inhalt einer Rede kann auf den Zuhörer wirken; auch die Ereignishaftigkeit einer Aufführung kann eine Gemeinschaft entstehen lassen. Ob sie 61 62 63 64 65
Ebd., S. 668 f. Mersch, Ereignis (wie Anm. 38), S. 240. Naumann, Rede (wie Anm. 60), S. 704. GStA PK, VI HA Familienarchive und Nachlässe, Nl Dovifat, Nr. 458, Bl. 2, Emil Dovifat an Barthold C. Witte am 10. November 1965. GStA PK, VI HA Familienarchive und Nachlässe, Nl Dovifat, Nr. 2286, Emil Dovifat, Friedrich Naumann über Rede und Rhetorik.
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bestehen bleibt, liegt nicht zuletzt daran, ob der Charismatiker Strukturen herstellt, die die Anhänger langfristig an die Gruppe binden. Hätte Naumann keine eigenen Ideen gehabt, hätte er keine eigenen Ziele verfolgt und keine eigenen Werte vertreten, so wären die Zuhörer schon unmittelbar nach der Aufführung alleine nach Hause gegangen. In einem Aufsatz über „Naumanns Wirksamkeit“ schrieb Eugen Katz passend: „Wie verstand er es damals, die Synthese von staatlicher Macht und Hebung der Masse in die Köpfe zu hämmern! […] Naumann diente die Meisterung der Rede und Schrift als Hilfsmittel, aber Form allein kann blenden, zünden, jedoch nicht wärmen. Es war mehr der Mann, weniger das Wort.“66 Noch deutlichere Worte fand der österreichische Journalist Richard Charmatz, indem er feststellte: „Von der nationalsozialen Bewegung wusste man an der Donau nicht allzuviel; nur die dunkle Kunde, daß ihr eine eigenartige Persönlichkeit Inhalt und Richtung gebe, war nach Wien gedrungen. Und nun hielt Naumann im Ronacher Saale seine Vorträge, und der Fremde hatte sofort die Zuhörer für sich gewonnen. Seine Reden wurden zu einem Ereignisse, zu einem Erlebnisse. […] Da wirkte Naumanns wunderbare, gedankenreiche, sittlich geläuterte Art zu sprechen, die den Vortrag zum Kunstwerk erhob und den Zuhörer zum Mit- und Weiterdenken zwang, wie eine Offenbarung. Der Pastor hatte eine andächtige Gemeinde zu seinen Füßen, als er einmal […] mit Fichtes Worten schloß, daß deutsch sein frei sein heiße.“67 Man kann es nur noch einmal wiederholen: Über die Ereignishaftigkeit einer Aufführung entstehen Gruppen; gerade wenn die Rede sowohl inhaltlich als auch formell als etwas Außeralltägliches wahrgenommen wird. In den Jahren um die Jahrhundertwende blieben Naumanns engagierte Wahlkämpfe jedoch ohne Erfolg. Der nationalsoziale Pfarrer a. D. aus Frankfurt flog bereits im ersten Wahlgang des Jahres 1898 aus dem Rennen. Naumann lag mit 4.218 Wählerstimmen deutlich hinter dem populären nationalliberalen Abgeordneten Ernst Bassermann (6.784 Stimmen) und dem sozialdemokratischen Herausforderer Paul Leutert (6.087 Stimmen).68 Zu sehr stand Naumann zwischen den beiden Stühlen der Arbeiterschaft und dem Bürgertum. Der „nationalsoziale Demagoge Naumann“69 – eine Zuschreibung der konservativen Presse – wurde sowohl von den Nationalliberalen als auch von den sozialdemokratischen Wählern nicht ernst genommen. Trotz der Niederlage in Jena sorgte Naumann mit seinem Wahlkampf für Aufregung. Ganz begeistert erzählte der evangelische Pfarrer Paul Drews von dem Wahlkampf in Thüringen: „Nur wenige Worte über die große Naumann-Woche! Ja, ganz Jena stand unter diesem Zeichen! Naumann hat einen glänzenden 66 67 68 69
Eugen Katz, Naumanns Wirksamkeit, in: Die Hilfe vom 11. September 1919, Nummer 37, S. 501 f. Richard Charmatz, Naumann und Österreich, in: Die Hilfe vom 11. September 1919, Nummer 37, S. 500 f. Vgl. Wahlergebnis, in: Jenaische Zeitung. Amts-, Gemeinde- und Tageblatt vom21. Juni 1898, Titelseite; vgl. dazu auch Lothar Kreiser, Gottlob Frege. Leben – Werk – Zeit, Hamburg 2001, S. 528 f. u. S. 553 f. Zur Wahlbewegung im 3. Weimarischen Wahlkreise Jena-Neustadt, in Jenaische Zeitung. Amts-, Gemeinde- und Tageblatt vom 14. Juni 1898, Titelseite.
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Erfolg davongetragen. […] Naumann ist ganz großartig – ein Politiker von eminent großem Stil, ein Redner, wie es selten einen zweiten geben wird. All seine glänzende Begabung kam zum schönsten Ausdruck und der Beifall, das Interesse, die Liebe, die ihm von der Universität vor allem entgegengebracht wurde, muß ihm zeigen, wie er weiter zu arbeiten hat.“70 Auch der Naumannianer Georg Hohmann beschrieb rückblickend, was für eine Welle der Faszination Naumanns Wahlkampf in Jena auslöste: „Als 18 jähriger Student, es war im Sommer 1898, erlebte ich die ungewöhnliche Erscheinung Friedrich Naumanns in Jena, als dieser sich zum ersten Male um ein Reichstagsmandat bewarb. Was war das damals für das kleine stolze Jena für eine geistige stille Erregung, als von diesem Manne, der zu den größten Rednern seiner Zeit gehörte, neue bis dahin nicht gehörte Gedanken und Formulierungen in das eingefahrene Geleise der politischen Parteien mit ihren Schlagworten und Bindungen hineingeworfen wurden, als die Freunde Naumanns von überall her nach Jena kamen und für ihn warben.“71 Erst neun Jahre später konnte Naumann in den Reichstag einziehen. Bis dahin mussten die Naumannianer hoffen: „Leider findet er seine Zeit noch nicht, es müßte ein Genuß sein, ihn in den Schranken des Reichstages zu hören, wo so wenig Sehnsucht nach Geisteskämpfe wohnt, obwohl auch ihre Zeit wiederkommt. Sie kündigt sich schon an.“72 Naumanns spätere Reden im Reichstag waren von außergewöhnlicher Natur; mit seinen Vorträgen konnte er das Berliner Abgeordnetenhaus geradezu auf den Kopf stellen, wovon viele Beispiele zeugen. Dass Naumann darüber hinaus einflussreiche Persönlichkeiten wie Eugen Diederichs, Karl Robert Langewiesche oder Wilhelm Ruprecht für sich und sein Wahlprogramm zu gewinnen vermochte, gilt es ebenfalls anhand vieler Quellen zu zeigen: „Das ist ein Kerl! So kam denn bald ein freundschaftlicher und geschäftlicher Verkehr in Gang und Naumann wohnte bei mir, so oft er nach Göttingen zu Vorträgen und Versammlungen gerufen wurde, und kehrte auch wohl ein, wenn er auf der Rückreise von erschöpfenden Vorträgen sich ein paar Tage still erholen wollte. Das waren Festtage für meine Frau und mich.“73
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Paul Drews an Martin Rade vom Juni 1898, zitiert nach Wilhelm Ruprecht, Väter und Söhne. Zwei Jahrhunderte Buchhändler in einer deutschen Universitätsstadt, Göttingen 1935, S. 215. SBTH, Nachlass Heuss, N 1221, 152, Georg Hohmann, Erinnerungen eines Freundes an Lujo Brentano. Carl Sonnenschein, Politische Seelsorger. Stöcker – Naumann – Hitze, in: Jugendland. Halbmonatsschrift für die kaufmännische u. gewerbliche Jugend, Elberfeld 1906, S. 6–8, hier. S. 8. Wilhelm Ruprecht, Wilhelm Ruprecht und das Haus Vandenhoeck & Ruprecht, in: Der deutsche Buchhandel der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1925, S. 125–155, hier S. 143.
V. EIN LIBERALER IM DEUTSCHEN REICHSTAG Naumanns Auftritte waren für die Naumannianer ein ästhetisches Erlebnis, wovon die unzähligen Schriften der Jünger Naumanns zeugen. Die Genese des Naumannschen Charisma ist nur nachzuvollziehen, wenn die Ästhetik des Performativen mitberücksichtigt wird. Der ehemalige Pastor wusste sich zu inszenieren; auch als Abgeordneter des deutschen Reichstags im Kaiserreich. Am 24. März 1910 titelte die ‚Heilbronner Neckar-Zeitung‘: „Die Vereinigung der sogenannten Linksliberalen, die sich in den letzten Wochen im Reich und in unserem Land vollzogen hat, ist von der nationalliberalen Partei mit freudiger Teilnahme begrüßt worden. […] Der Gruß, den diese Zeilen ihm bieten sollen, gilt darum auch nicht dem Parteimann als solchem, sondern er entspringt der Gewißheit, daß Naumann weit über die Grenzen der Parteien hinausreicht und daß sein Leben und Wirken für die Deutschen eine große, nachhaltige und in vielen Beziehungen glückliche Bedeutung gewonnen hat.“1 Der Zeitungsartikel nahm Bezug auf die Gründung der Fortschrittlichen Volkspartei am 6. März des Jahres 1910. Die Vereinigung der Freisinnigen Volkspartei, der Freisinnigen Vereinigung und der Deutschen Volkspartei war zugleich ein „neue[r] organisatorische[r] Rahmen“2, in dem sich Naumann und seine Anhänger nunmehr bewegten. Der Naumann-Kreis war somit ohne Zweifel „ein Teil der liberalen Gesamtbewegung“3! Vor dem Jahr 1903 findet der Leser der Schriften Naumanns die Vokabel ‚Liberalismus‘ im Gegensatz zu den beiden Losungsworten der Wilhelminischen Epoche – ‚Nationalismus‘ und ‚Sozialismus‘ – nur vereinzelnd an.4 Auch wenn liberale Themen – wie beispielsweise Naumanns Kampf gegen die Schutzzollpolitik – schon vor 1903 für heftige Diskussionen sorgten.5 In dem Jahrbuch der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ schrieb Naumann in seinem metaphorischen Stil: „Zölle sind jenen medizinischen Hilfsmitteln vergleichbar, die im Notfalle gut wirken, bei längerer Gewohnheit den Körper zerrütten. Der Herzkranke bittet um Digitalis. Je öfter er nimmt, desto öfter will er haben. Endlich kommt der Tag, wo es nicht mehr hilft […]. Alle Zölle aber fallen einmal bei einem Staate, der Welthandel als Spezialität treiben will und muß“6; wirtschaftspolitische Überlegungen, die Nau1 2 3 4 5 6
Professor Lechler begrüßt die Verdienste Naumanns besonders um die deutsche Jugend, in: Heilbronner Neckar-Zeitung vom 24. März 1910, Titelblatt. Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983, S. 129. Vgl. Ralf Dahrendorf, Friedrich Naumann. Der politische Volkserzieher, in: Ders., Liberale und andere Portraits, Stuttgart 1994, S. 151–159, hier S. 152 f. Vgl. Richard Nürnberger, Imperialismus, Sozialismus und Christentum bei Friedrich Naumann, in: Historische Zeitschrift, 170 (1950), S. 525–548, bes., S. 526 f. Vgl. dazu Hermann Losch, Brotwucher oder – kühles Blut? Fünf Briefe an Herrn Friedrich Naumann, Berlin 1901. Friedrich Naumann, Die Politik der Bauern, in: Patria, Jahrbuch der Hilfe 1901, S. 68–91, hier S. 87.
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mann in seiner Schrift „Neudeutsche Wirtschaftspolitik“7 weiter ausbaute und verfeinerte. Wurde der technische Fortschritt von Naumann schon immer als ein „unvermeidliches Phänomen“8 angesehen, sah er den Kapitalismus erst seit der Jahrhundertwende als unvermeidlich und zukunftsweisend an.9 Doch noch immer hielt Naumann an der Tatsache fest, dass machtpolitisch und sozialpolitisch gedacht und gehandelt werden müsse.10 Eine starke Flotte und ein guter Arbeiterschutz gehörten für Naumann zusammen. Ein Ansatz, den man bei keiner anderen Partei im Kaiserreich so wiederfindet. In den Jahren nach der Fusion mit der Freisinnigen Vereinigung sprach sich Naumann in erster Linie für eine „bürgerlich-sozialdemokratische Allianz“, für eine „organisatorische Straffung des Liberalismus“ und für eine „moderne Industrieverfassung“ aus.11 Die liberalen Parteien, so muss man an dieser Stelle mit Langewiesche sagen, hatten ihre ‚goldenen Jahre‘ damals eigentlich schon hinter sich. Ihr Telos war mit der Reichsgründung durch Bismarck verloren gegangen, oder besser gesagt, verwirklicht worden. Die Geschichte des Liberalismus im frühen Kaiserreich war daher im Grunde eine Geschichte des Niedergangs, die durch deren parteipolitische Zersplitterung ihren Ausdruck fand.12 Naumann setzte sich in seinen Schriften immer wieder mit dieser „Leidensgeschichte des deutschen Liberalismus“ auseinander: „Die politischen Denker des alten Liberalismus sind heute alle veraltet, das heißt ihre Formulierungen passen nicht mehr ohne weiteres auf das heutige deutsche Volk, auf unsere Betriebs- und Herrschaftsverhältnisse. […] Was wir aber brauchen, ist eine frische Kultur des politischen Denkens. Ohne sie bleiben wir im Opportunismus und im Parteihandwerk stecken“13. In einem „Weckruf“14 aus dem Jahre 1906 forderte Naumann von den Liberalen ein Umdenken. An anderer 7
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Friedrich Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, Berlin 1906; vgl. dazu Patricia Commun, Friedrich Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik 1906. De la défense du capitalisme en crise, in: Die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ 1894–1944. Ein Ideenlabor in Deutschland, Bern, Berlin et. al. 2011, S. 81–97. Vgl. dazu Stefan-Georg Schnorr, Liberalismus zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Reformulierung liberaler politischer Theorie in Deutschland und England am Beispiel Friedrich Naumann und Leonard T. Hobhouse, Baden-Baden 1990, S. 125–130. Vgl. Traugott Jähnichen, Neudeutsche Kultur- und Wirtschaftspolitik. Friedrich Naumann und der Versuch einer Neukonzeptualisierung des Liberalismus im Wilhelminischen Deutschland, in: Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, S. 151–166. Vgl. dazu besonders den Aufsatz von Jürgen Frölich, „Jede Zeit hat ihre Freiheiten, die sie sucht.“ Friedrich Naumann und der Liberalismus im ausgehenden Kaiserreich, in: Detlef Lehnert, Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 135–157, S. 143. Theiner, Naumann (wie Anm. 2), S. 129–168, hier S. 129, S. 140 u. S. 155; vgl. Jürgen Frölich, „Wirklich staatsmännisch veranlagter Kopf“ oder eher „Prophet und Lehrmeister“? Friedrich Naumann als liberaler Politiker im Kaiserreich, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 23 (2011), S. 81–93. Vgl. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1988, S.133 ff. Friedrich Naumann, Die Leidensgeschichte des deutschen Liberalismus, in: Ders., Freiheitskämpfe, Berlin 1913, S. 20–46, S. 30. Friedrich Naumann / Theodor Barth, Die Erneuerung des Liberalismus. Ein politischer Weckruf, Berlin-Schöneberg 1906.
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V. Ein Liberaler im Deutschen Reichstag
Stelle schrieb er genauso deutlich: „Es ist wieder ein allgemeiner deutscher Liberalismus nötig, eine Volkspartei, in der Demokratie und Nationalsinn beieinander wohnen, eine breite schaffende Mehrheitspartei mit freien neuen Gedanken. […] Der Liberalismus muß um seiner eigenen Selbsterhaltung willen für die Industrieverfassung sein, für freie Koalition, für Tarifverträge, für Arbeiterschutz, für alles, was den Wert der einzelnen Person in der Menge der Angestellten erhöht.“15 In einer fiktiven Geschichte aus dem Jahr 1907, die auch auf Grund ihrer dialogischen und sprachlichen Gestaltung aus dem Werk Naumanns herausragt, zeichnete Naumann die verschiedenen liberalen Schreibweisen liebevoll nach, um auf den Reformbedarf des deutschen Liberalismus anzuspielen.16 Ein schwieriges Unterfangen, wenn man bedenkt, dass der Liberalismus auf kein klassisches Sozialmilieu17 bauen konnte. Die „Zersplitterung des Liberalismus“18 auf der einen und das Fehlen eines „stabilen, ideologisch gebundenen und organisatorisch verfestigten ‚liberal-protestantischen Sozialmilieus‘“19 auf der anderen Seite zeigen deutlich, dass der Liberalismus auf andere Steine bauen musste, um sein Wahlprogramm an die Leute zu bringen. Es waren daher nicht kulturimmanente Strukturen und Organisationen, die die liberalen Parteien trugen, sondern in erster Linie einflussreiche Personen innerhalb eines bunten Netzes von Bekanntschaften. In diesem Sinne ist auch der Name Honoratiorenpartei zu verstehen, welcher in der Forschung nicht zu unrecht auf die liberalen Parteien übertragen wurde.20 Doch Friedrich Naumann verstand es wie kaum ein anderer, diese einflussreichen Persönlichkeiten für sich und sein Wahlprogramm zu gewinnen. Denn Naumann war in der Tat ein „ingeniöser Netzwerker“21. An dieser Stelle gilt es zu zeigen, dass viele Honoratioren gerade in Naumann einen Vermittler ihrer Interessen erkannten und ihn deshalb finanziell und symbolisch unterstützten.22 In erster Linie sind die so genannten ‚Kathedersozialisten‘ 15 16
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Friedrich Naumann, Das Blaue Buch von Vaterland und Freiheit. Auszüge aus seinen Werken, Leipzig 1913, S. 35 u. S. 86. Friedrich Naumann, Eine liberale Vereinsdebatte, in: Ders., Werke (Vierter Band, Schriften zum Parteiwesen und zum Mitteleuropaproblem), bearb. v. Thomas Nipperdey u. Wolfgang Schieder, Köln/Opladen 1966, S. 283–290; vgl. dazu ausführlich Schnorr, Liberalismus (wie Anm. 8), S. 242–250. Vgl. zum Begriff des Sozialmilieus Peter Lösche / Franz Walter, Katholiken, Konservative und Liberale. Milieus und Lebenswelten bürgerlicher Parteien in Deutschland während des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (2000), S. 471–492. Langewiesche, Liberalismus (wie Anm. 12), S. 136; vgl. auch Lösche/Walter, Lebenswelten (wie Anm. 17), S. 479. Langewiesche, Liberalismus (wie Anm. 12), S. 134. Vgl. Langewiesche, Liberalismus (wie Anm. 12), S. 145; vgl. auch Ursula Krey, Von der Religion zur Politik. Der Naumann-Kreis zwischen Protestantismus und Liberalismus, in: Religion im Kaiserreich. Milieus-Mentalitäten-Krisen, hg. v. Olaf Blaschke u. Frank-Michael Kuhlemann, Gütersloh 1996, S. 350–381, hier S. 352 f. Wolfgang Hardtwig, Friedrich Naumann in der deutschen Geschichte, in: Jahrbuch für Liberalismus-Forschung, 23. Jahrgang 2011, S. 9–28, hier S. 24. Vgl. Ursula Krey, Der Naumann-Kreis. Charisma und politische Emanzipation, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, S. 116–147, hier S. 135 f., vgl. Dies., Von der Religion zur Politik. (wie Anm. 20), S. 356 f.
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zu nennen, die sich für Naumann stark machten. Neben Max Weber, Alfred Weber, Hans Delbrück, Werner Sombart, Felix Somary und Gustav Schmoller war es vor allem der Münchener Professor für Nationalökonomie Lujo Brentano, der den Liberalismus Naumannscher Provenienz förderte. Brentano brachte darüber hinaus mehrere jüngere Schüler zu Naumann, die nach der Auflösung des Nationalsozialen Vereins eine aktive Rolle in dessen Kreis zu spielen begannen. Neben Theodor Heuss, der bei Brentano im Jahre 1905 seine Dissertation „Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn am Neckar“23 verfasste, sind an dieser Stelle vor allem der politische Publizist Wilhelm Cohnstaedt, der Schriftsteller und Kulturpolitiker Wolf Dohrn, der Arzt Georg Hohmann, sowie der Journalist Eugen Katz zu erwähnen.24 Brentano war wie Weber oder Delbrück kein ‚Geführter‘ im engeren Sinne, dafür waren sie zu sehr der Alma Mater verbunden. Vielmehr verstand sich dieser Gelehrtentypus als „Berater der Regierenden“25, als Berater Naumanns. Heuss beschrieb die Beziehung zwischen Brentano und Naumann mit folgenden Worten: „Er [Brentano] war nie ganz zufrieden, er konnte in seiner unbedingten Wahrhaftigkeit schroff und grob werden, aber er kam innerlich von Naumann nicht los, dessen rednerische und schriftstellerische Kunst er […] bewunderte.“26 Die Aussage des Naumannianers Heuss zeigt darüber hinaus, dass sich auch Brentano von den außerordentlichen Fähigkeiten Naumanns beeindrucken ließ; selbst wenn er nicht immer mit Naumann inhaltlich übereinstimmte. Dank der Hilfe dieser renommierten Personen konnte Naumann viele seiner Projekte verwirklichen und umsetzen. Kontinuierlich halfen sie Naumann, indem sie beispielsweise dessen Fahrtkosten und Unterbringung in den Wahlkämpfen finanzierten. Auch Naumanns Sprachrohr – die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ – konnte nur wegen der finanziellen Unterstützung der einflussreichen Personen unter die Leute gebracht werden. Des Weiteren unterstützten die gelehrten Wissenschaftler Naumann immer auch ideell, indem sie die Werke des einstigen Pastors in den Tagesund Wochenzeitungen – auch auf Grund der sprachlichen Qualitäten – wohlwollend besprachen.27 In seinen Erinnerungen schrieb Brentano, dass „das öffentliche Leben in dem vorausgegangenen Jahrzehnt keine Persönlichkeit hervorgebracht [hat], die wärmeres Interesse zu erwecken geeignet war, als Friedrich Naumann; er hatte das große Verdienst die heranwachsende Jugend mit einem neuen Ideal erfüllt zu haben. Unmittelbar vor seinem Auftreten hat es unter der Jugend, abgesehen von Strebern, nur reaktionär oder sozialdemokratisch Gesinnte gegeben. Naumanns Lehre, dass die Zukunft des deutschen Volkes und die der deutschen Arbeiter auf das Innigste verbunden seien, daß es, um beider Glück zu versuchen, notwendig sei, 23 24 25 26 27
Theodor Heuss, Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn a. N. (zugl. Diss. 1905), Heilbronn 1906. Vgl. Theodor Heuss. Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, München/Hamburg 31968, S. 201. Vgl. dazu die Studie von Rüdiger vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914), 1980 Husum, bes. S. 415. Heuss, Naumann (wie Anm. 24), S. 200. Vgl. Lujo Brentano, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands (1931), hg. v. Richard Bräu u. Hans G. Nutzinger, Marburg 2004, S. 293.
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das Deutsche Reich sozial und die deutschen Arbeiter national denkend zu machen, mit seinem alles bestrickenden Zauber vorgetragen, hatte ein neues Ziel gesteckt, das die Besten der Jugend beseelte. Dem Wunsch dem öffentlichen Leben einen solchen Mann, der dies geleistet hatte, zu sichern, bestimmte mich nachzugeben.“28 Neben dem sprachlichen Können Naumanns verwies der Sozialreformer Brentano ausdrücklich auf Naumanns Wunsch, die Arbeiter in das Reich zu integrieren. Deshalb ist es zu verstehen, warum auch der Ökonom und Soziologe Werner Sombart in Naumann für kurze Zeit den „Praeceptor Germaniae“29 gesehen hatte. Der Führer des Naumann-Kreises verstand es ohne Zweifel, herausragende Personen aus der Wissenschaft, des Unternehmertums, der Kunst und des öffentlichen Lebens für sich zu gewinnen. Doch auch der aus einem ganz anderen Milieu kommende Historiker Hans Delbrück stellte sich demonstrativ hinter den Politiker Friedrich Naumann. In einem Zeitungstext mit dem Titel „Ein agraischer Konservativer über Naumann“ schrieb er im Hinblick auf die anstehende Reichstagswahl im Jahre 1907: „Wie wenig wirklich bedeutende Persönlichkeiten aber haben die letzten Reichstage aufzuweisen gehabt! Endlich in Herrn Dr. Naumann hat ein Wahlkreis einmal einen Mann, mit dem er in der großen Volksvertretung Staat machen kann. Ein selbstständiger Denker, ein glänzender Redner, ein großer Schriftsteller, eine charaktervolle, tapfere Persönlichkeit. Der Mann, der eben wegen dieser Eigenschaften [!] viele Gegner hat, aber dem auch alle seine Gegner diese Eigenschaften nicht absprechen können.“30 Ein Wahlaufruf, der noch einmal auf Naumanns Doppelbegabung zu sprechen kam. Zudem wird erneut sichtbar, dass der Sachse und Wahlberliner auch in dem schwäbischen Heilbronn ein Netzwerk besaß, das ihn tatkräftig unterstützte. Besonders die Naumannianer Ernst Jäckh, Theodor Heuss und Peter Bruckmann waren für Naumanns Wahlerfolg in Heilbronn verantwortlich.31 Am 25. Januar des Jahres 1907 fand im Deutschen Reich die Wahl zum zwölften Deutschen Reichstag statt. Friedrich Naumann trat für die Freisinnige Vereinigung im Wahlkreis Heilbronn (Wahlkreis Württemberg 3) an. Am 17. Januar konnte man dazu in der liberalen ‚Neckar-Zeitung‘ auf der Titelseite lesen: „Mit Spannung sehen Tausende in unserem deutschen Vaterland auf die alte Reichshauptstadt Heilbronn, in der Naumann für den Reichstag kandidiert. Weit über den Kreis seiner engeren Parteifreunde hinaus findet man es weithin als Unverständlichkeit, dass dieser Mann im Vollsinn des Wortes noch nicht im Reichstag seine Politik vertreten kann.“ Weiter schrieb der Naumannianer Traub: „[W]enn es darum zu tun ist, daß in den Reichstag eine volle, scharf umrissene Persönlichkeit einzieht, der zweifle keinen Augenblick und gebe ihm seine Stimme. […] Er wäre wahrhaftig ein Pfarrer geworden, der durch seine Redegabe und sein Verständnis für persönliche Not 28 29 30 31
Ebd., S. 295. Werner Sombart, An Friedrich Naumann, in: Morgen. Wochenzeitschrift für deutsche Kultur, September 1907, Heft13/14, S. 421. Hans Delbrück, Ein agraischer Konservativer über Naumann, in: Neckar-Zeitung vom 19. Januar 1907, S. 2. Vgl. dazu Christhard Schrenk, Friedrich Naumann und Heilbronn. Einblicke in das Netzwerk Jäckh, Bruckmann, Heuss, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 23 (2011), S. 29–45.
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hätte viel Berühmtheit erlangen können. Er tat es nicht.“32 In den Erinnerungen des Naumannianers Johannes Fischer wird ersichtlich, was die ‚Neckar-Zeitung‘ war: „ein [weiteres] wirksames Sprachrohr“ des Naumann-Kreises, hinter dem der Naumannianer Ernst Jäckh steckte. Mit Theodor Heuss zusammen organisierte Fischer den Wahlkampf in Heilbronn. Fischer, der Wahlsekretär Naumanns reüssierte rückblickend: „Naumann selbst kam durchschnittlich jedes Jahr zu etwa zwanzig Versammlungen in den Wahlkreis. […] Naumanns Art, Politik zu treiben, zog auch viele junge Kräfte, besonders die Frauen an. Es herrschte in jenen fünf Jahren bis 1912 in Heilbronn ein so reges politisches Leben, daß oft auch Besuche von auswärts kamen, um sich die Dinge anzusehen.“33 Es muss nicht weiter erklärt werden, dass Friedrich Naumann ein begnadeter Wahlkämpfer war. Durch dessen bereits erwähnte rhetorische und körperliche Qualitäten wurden die Wahlkämpfe Naumanns für die Zuhörer zu einem performativen Ereignis ersten Ranges. Denn gerade der Wahlkampf stützt sich auf eine als außeralltäglich wahrgenommene symbolische und sprachliche Kommunikation. Es verwundert daher nicht, dass sich auch andere liberale Ortsvereine um den Wahlkämpfer Naumann bemühten: „Als Privatmann erlaube ich mir die Anfrage an Sie zu richten, ob Sie bereit sind, als Candidat der vereinigten liberalen Partei des Wahlkreises Barmen-Elberfeld aufzutreten. […] Ich glaube, wenn Sie ihre Kraft hier einsetzen würden, {wird} es gelingen, daß die vereinigten Liberalen in die Stichwahl kommen und dann würde, daran ist nicht zu zweifeln, die {christl. sociale} Partei geschloßen für Sie eintreten.“34 Die ‚Heilbronner Zeitung‘ berichtete am Tag der Wahl von Naumanns letzter Wahlkampfrede: „Die letzte Kraftprobe wurde gestern abend [sic!] von den Parteien gemacht. Der Kandidat der vereinigten Liberalen Dr. Friedrich Naumann sprach in den Kilianshallen zu den Wählern. […] Schon um ½ 8 Uhr war nirgends mehr ein Plätzchen zu finden und immer neue Scharen rückten an, die den kampferprobten Führer sehen und hören wollten. Hunderte mussten wieder umkehren. Eine begeisterte Stimmung durchwehte die Riesenversammlung […].“35 Eine eindringliche Beschreibung des Wahlkampfes von Naumann, die an das Kapitel ‚Die Ästhetik des Performativen‘ anknüpft. Naumanns Auftritte waren für die Zuhörer Erlebnisse. Neben den Wahlkampfauftritten von Naumann war die württembergische Zeitung aus Heilbronn voll von Wahlempfehlungen: „Hofrat Peter Bruckmann, der ausführte, daß es ihn in dieser ernsten Stunde dränge auf die Bedeutung der morgigen Wahl hinzuweisen. Als Mann, der keiner politischen Partei angehört, richte er an alle die, die noch schwanken, die Bitte, morgen an die Urne zu treten und ihre Stimme Naumann zu geben. […] Die Jugend jubelt Naumann zu, sie fühlt 32 33
34 35
Gottfried Traub, Pfarrer Lincentiat Traub über Naumann, in: Neckar-Zeitung vom 17. Januar 1907, Titelblatt. Johannes Fischer, Aus fünfzig Jahren. Eine Niederschrift von 1933/34, Stuttgart 1990, S. 38; vgl. dazu schon Jürgen Frölich, Von Heilbronn in den Reichstag. Theodor Heuss, Friedrich Naumann und die „Hottentotten-Wahlen“ in Heilbronn 1907, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte, 67 (2008), S. 353–366, hier S. 356. BArch, N 3001, 207, {?} an Friedrich Naumann am 16. Dezember 1906. Wählerversammlung für Friedrich Naumann, in: Heilbronner Zeitung vom 25. Januar 1907, Titelseite.
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den Pulsschlag der neuen Zeit. […] Jeder Bürger muß fühlen, daß er nicht mehr gleichgültig sein darf, gegen das was uns bewegt, allen rufe er zu, es handelt sich morgen nicht bloß um die engere Heimat, sondern es handelt sich darum, dem ganzen deutschen Bürgertum einen Vorkämpfer in den Reichstag zu senden, nämlich Friedrich Naumann.“36 Für die Naumannianer war der Wahlkampf ein richtiger Kraftakt. In einem Brief von Theodor Heuss an Elly Knapp wird der ganze Arbeitsaufwand eines Wahlkampfes ersichtlich: „Soll ich noch von unserer Arbeit hier erzählen. Wir haben uns wütend angestrengt. Naumann hat – gottlob bei guter Gesundheit – 60 Versammlungen gemacht. Nach ihm rangieren Fischer-Reutlingen und ich mit 25–30. Dann noch eine Reihe lokaler Kräfte. Auch Cohnstaedt hat zusammen mit Harald Dohrn auf dem Bureau eine große Arbeit erledigt. Die letzte Woche ist sogar mein unpolitischer Bruder Hermann mit auf den Dörfern herumgezogen. Am letzten Tag 30 Stunden von Tübingen nach Stuttgart.“ Der engagierte Wahlkampf war für alle Beteiligten ein großer Erfolg. Naumann und seine Naumannianer konnten zufrieden sein mit dem Wahlergebnis: „Als wir ihm [Naumann] das Resultat telefonierten, hat er mit dem Luisle getanzt, und der Stotzle hat Kopfstände auf den Tischen gemacht. So was Unbändiges von begeistertem Gebrüll habe ich in meinem Leben noch nie mitgemacht. Ich habe Naumann das erstemal wirklich gerührt gesehen. Der Abend war wert, erlebt zu werden.“37 Nur selten berichten die Quellen von einem so ausgelassenen Naumann. Friedrich Naumann erreichte bei der ersten Runde der sogenannten „Hottentotten-Wahlen“ 31,6 % der Wählerstimmen, knapp vor den Sozialdemokraten mit 30,8 % und hinter den Konservativen, die 37,5 % der Stimmen für sich erzielten. Mit Hilfe der sozialdemokratischen Wählerstimmen gewann Friedrich Naumann letzten Endes die Stichwahl gegen den konservativen Titelverteidiger Theodor Wolff.38 Ein Sieg, der von den politischen Gegnern auch nicht durch ein Schulgedicht verhindert werden konnte: „Den Wolff den guten Schwaben wollen wir in den Reichstag haben. Was aber soll mit Naumann sein, fort mit ihm dem Preußen, er soll wieder reisen! Die Redekunst allein tut’s nicht: Denn sie besitzt auch mancher Wicht.“39 Naumann, das zeigt nicht nur diese Quelle, eckte immer wieder an den Tischen der Konservativen an. In einer Schrift aus dem Jahr 1910 wurde auf Naumanns Rolle im Deutschen Reichstag Bezug genommen: „Unter allen Männern der linken Seite des Reichstags ist keiner moderner wie Friedrich Naumann, obgleich er vor 24 Jahren Pfarrer in dem kleinen Orte Langenberg bei Glauchau war.“40 Wie wurde Naumann im Deutschen Reichstag wahrgenommen? Der evangelische Theologe und Naumannianer Otto Baumgarten erwähnte in seinen 1929 erschienenen Lebenserinnerungen 36 37 38 39 40
Ebd. Theodor Heuss an Elly Knapp am 28. Januar 1907, in: Theodor Heuss, Aufbruch im Kaiserreich. Briefe 1892–1917, hg. u. bearb. v. Frieder Günther, München 2009, 189 f. Vgl. auch hier wieder Frölich, Hottentotten-Wahlen (wie Anm. 33), S. 362 f. Zaber-Bote vom 4. Februar 1907, S. 2; Zitat auch bei Schrenk, Naumann und Heilbronn, (wie Anm. 31), S. 33. Rudolf Martin, Deutsche Machthaber, Berlin/Leipzig 1910, S. 535.
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von Naumanns erstem Auftritt im Deutschen Reichstag: „Wer wie der Chronist seit Jahren den innigsten Wunsch gehegt hat, diese seltene Geistes- und Willensmacht in den Dienst der parlamentarischen Aktion gestellt zu sehen, mußte dieser Rede und ihrer Wirkung mit großer Spannung folgen. Sie war dann auch der Erwartung würdig.“41 Auch Theodor Heuss betonte in seiner Naumann-Biographie, dass „Naumanns Redeart […] im Reichstag, dem er seit 1907 angehörte, zunächst fremd [wirkte].“42 Aus den Reichstagsprotokollen wird ersichtlich, dass Naumanns Andersartigkeit und Einzigartigkeit gerade von den Gegnern wahrgenommen wurde. Während einer Reichstagsrede am 26. März 1908 griff der Deutschsoziale Abgeordnete Wilhelm Lattmann den Reichstagsabgeordneten Naumann scharf an: „Ich muß sagen – diese Anerkennung will ich dem Herrn Kollegen gerne aussprechen -, das Zittern und Schlottern der Beine war ein Zeichen eines schauspielerischen Talents Nr. 1a. Aber sonst zeigte gerade dieses Beispiel, wie sehr der Herr Abgeordnete Naumann die Fühlung mit dem wirklichen Volksleben verloren hat […].“43 Der Naumannianer Heinz Potthoff, wie Naumann ein Abgeordneter der Freisinnigen Vereinigung, erwiderte darauf: „Er hat ihm mit aller Schärfe den Vorwurf der Demagogie und Schauspielerei gemacht. Das muß auffallen, nachdem Herr Lattmann selbst erklärt hat, daß er ja ein früherer Anhänger Naumanns gewesen ist. Er muss dann wohl ein sehr schlechter Menschenkenner sein, sonst würde er den Unterschied zwischen Schauspielerei und Gemütsbewegung etwas richtiger erkennen.“44 Ein Abgeordneter eines württembergischen Wahlkreises namens Christian Storz von der DVP schlug sich ebenfalls auf Naumanns Seite, indem er sagte: „Nun, meine Herren, habe ich heute zu meinem Bedauern mehrfach scharfe Angriffe gegen meinen Freund Naumann gehört. […] Er ist ja eine eigenartige Persönlichkeit, er hat eine glänzende Rhetorik, eine rege Phantasie, und er schweift manchmal mit einer gewissen Eleganz über die Realität hinweg. […] Ich will den Herrn Abgeordneten Naumann so charakterisieren, wie er sich mir vorstellt. Daran habe ich noch nie auch nur den geringsten Zweifel gehabt, daß er aus vollem, reinem Herzen, optima fide spricht. […] Er spricht, so wie er spricht, aus Liebe zu seinem Volke.“45 Naumann wird von Storz als eine besondere Gestalt beschrieben, die nicht so recht in das Schema der sonstigen Reichstagsabgeordneten passte. Naumann wirkte anders als die anderen Reichstagsabgeordneten. Oder anders ausgedrückt: Naumann „[hob] durch seine bloße Anwesenheit im Reichstag die Atmosphäre.“46 Mit Gernot Böhme kann man Atmosphäre darüber hinaus als eine kulturwissenschaftliche Kategorie verstehen, die den Blick auf die hervorgerufene Wirkung des Raumes lenkt.47 41 42 43 44 45 46 47
Otto Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, Tübingen 1929, S. 235. Heuss, Naumann (wie Anm. 24), S. 244. Wilhelm Lattmann, Rede im Reichstag, 131. Sitzung. Donnerstag den 26. März 1908, in: Verhandlungen des Reichstags (Band 231. 1907/1908), S. 4286. Heinz Potthoff, Rede im Reichstag, 131. Sitzung. Donnerstag den 26. März 1908, in: Verhandlungen des Reichstags (Band 231. 1907/1908), S. 4302. Christian Storz, Rede im Reichstag, 131. Sitzung. Donnerstag den 26. März 1908, in: Verhandlungen des Reichstags (Band 231, 1907/1908), S. 4308. Samuel Saenger, Friedrich Naumann, in: Neue Rundschau 21 (1910), S. 403–405, hier S. 405. Vgl. Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, München 2006.
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Der Deutsche Reichstag war der Sitz des Parlaments einer konstitutionellen Monarchie.48 Betrachtet man den Reichstag mit Thomas Mergel zudem als ein „Interaktionsereignis,“49 wird deutlich, dass der Platz im Reichstag wichtig für die Außenwirkung Naumanns war. Auch wenn das von den Naumannianern anders bewertet wurde: „Naumann hat jetzt die Stätte gefunden, die seiner Wirksamkeit gebührt, den Reichstag. Wir denken dabei, trotz der glänzenden rednerischen Begabung Naumanns nicht einmal in erster Linie an die Tribüne, als vielmehr an die geräuschlose aber hoch notwendige und wichtige Vorarbeit in den Kommissionen.“50 Durch das Wählermandat stand dem einstigen „Prediger in der Wüste“51 nun ein öffentlicher Raum zur Verfügung, in dem er seine Standpunkte einem einflussreichen Auditorium vortragen konnte. Der ganze öffentliche Wirkungsradius Naumanns erweiterte sich.52 Denn das „Parlament [ist] ein Ort der institutionellen politischen Kontroverse über die Angelegenheit der Nation.“53 Der Reichstag war nun der Ort, an dem Naumann für Personen- und Arbeiterrechte warb, oder sich für die Einführung von Tarifverträgen stark machte.54 In seiner verständlichen, vertrauenswürdigen und sprachgewaltigen Art. Naumanns öffentliche Wahrnehmung wurde durch dessen Anwesenheit im Reichstag gestärkt. Neben der Funktion des Reichstags als öffentliche Bühne, darf die Bedeutung des architektonischen Raumes nicht unterschätzt werden. Erika Fischer-Lichte – die sich wiederum auf den Theaterwissenschaftler Max Herrmann beruft – schreibt diesbezüglich in einem Aufsatz, dass das Miterleben des „wirklichen Raumes“ von entscheidender Bedeutung sei, um überhaupt von einer „ästhetischen Erfahrung“ sprechen zu können.55 Interessant ist, dass sich Friedrich Naumann der Bedeutung des wirklichen Raumes im Bezug auf die Vergemeinschaftung einer Gruppe durchaus bewusst war: „Eine große Bedeutung für den inneren Erfolg haben die äußeren Umstände, vor allem der Raum, in dem sich die geistige Gemeinschaftsbildung abspielt.“56 Der 1894 in Berlin eingeweihte deutsche Reichstag war dafür prädes48 49 50 51 52
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Vgl. dazu Stefan Paulus, Das bauliche Herz der Demokratie. Parlamentsarchitektur im öffentlichen Raum, in: Parlamentarische Kulturen in Europa. Das Parlament als Kommunikationsraum, hg. v. Andreas Schulz u. Andreas Wirsching, Düsseldorf 2012, S. 394. Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002, hier S. 18. Hermann Weinheimer, Friedrich Naumann. Ein Gruß zu seinem fünfzigsten Geburtstag, in: Der Schwabenspiegel. Wochenschrift der Württemberger Zeitung, geleitet von Eduard Engels, 3. Jahrgang, 22. März 1910, S. 193–194, hier S. 194. Rudolf Breitscheid, Naumann und die anderen, in: Das Blaubuch. Wochenschrift für öffentliches Leben, Literatur und Kunst, 4. Jg. 25. März 1909, S. 299–302, hier S. 301. Vgl. dazu Andreas Schulz, Vom Volksredner zum Berufsagitator. Rednerideal und parlamentarische Redepraxis im 19. Jahrhundert, in: Parlamentarische Kulturen in Europa. Das Parlament als Kommunikationsraum, hg. v. Andreas Schulz u. Andreas Wirsching, Düsseldorf 2012, S. 295. Andreas Schulz, / Andreas Wirsching, Parlamentarische Kulturen in Europa. Das Parlament als Kommunikationsraum, in: Parlamentarische Kulturen in Europa. Das Parlament als Kommunikationsraum, hg. v. Andreas Schulz u. Andreas Wirsching, Düsseldorf 2012, S. 16. Vgl. Frölich, Naumann und der Liberalismus (wie Anm. 10), S. 145 f. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 54. Friedrich Naumann, Die Kunst der Rede, in: Ders., Werke (Fünfter Band, Schriften zur Tages-
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tiniert, dass der Zuhörer die Stimme des Redners hören und auf sich wirken lassen konnte.57 Naumann stellte sich daher die Frage: „War es der Mühe wert, einen anstrengenden Wahlkampf zu machen, um hierher zu gelangen?“58 Der Naumannianer Walter Goetz vermerkte nach dem Wahlsieg Naumanns in sein Tagebuch: „Der linke Liberalismus ein wenig verstärkt. Aber er schließt sich jetzt im Reichstag wenigstens zu einem Bündnis zusammen. Naumanns Wirkungssphäre erweitert sich. Seine Wahl in Heilbronn ist endlich ein Erfolg für ihn. Für Württemberg bedeutet der Heilbronner Wahlkampf und Naumanns Sieg eine große Steigerung in Naumanns Einfluss. Fortwährend Gründung von Liberalen Vereinen in Württemberg, fast 30 schließlich.“59 Die eben von Goetz angesprochene Fraktionsgemeinschaft innerhalb des Reichstages zwischen der Freisinnigen Volkspartei, der Freisinnigen Vereinigung und der Deutschen Volkspartei konnte erst im Jahre 1910 realpolitisch verwirklicht werden. Durch das Zustandekommen einer vereinigten linksliberalen Partei, der Fortschrittlichen Volkspartei, war eines der großen Ziele Naumanns erreicht: Der Linksliberalismus hatte sich weitgehend konsolidiert.60 Am 25. März des Jahres 1910 feierte Friedrich Naumann seinen fünfzigsten Geburtstag. In einem Brief bedankten sich die Naumannianer bei ihrem nun titulierten „Führer des deutschen Liberalismus“ mit einer großzügigen finanziellen Spende: „Heute aber naht Ihnen ein enger Kreis von Verehrern, dankbaren und verständnisvollen Herzens. Glückwünschend überreicht er Ihnen als Geburtstagsgabe die Summe von rund vierzigtausend Mark zu persönlicher Verwendung. Er bezweckt damit der Zukunft der Ihren zu sichern zu helfen, daneben Ihre eigene Erholung und Ausspannung zu fördern, wobei er die Verwendung für politische oder buchhändlerisch-geschäftliche Zwecke ausschließt. […] Freunde in Nord und Süd.“61 Das Schreiben beweist einmal mehr, dass Naumann in Webers CharismaKonzept passt; denn der Führer wird „[…] durch individuelle Mäzenate oder durch Ehrengeschenke, Beiträge und andere freiwillige Leistungen derjenigen, an welche er sich wendet, ausgestattet.“ Ein charismatischer Führer, so argumentierte Weber weiter, hat keine Zeit, sich um den „planvollen rationalen Geldgewinn“62 kümmern zu können.
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politik), bearb. v. Alfred Milatz, Köln 1967, S. 669; vgl. GStA PK, VI HA Familienarchive und Nachlässe, Nl Dovifat, Nr. 2286, Emil Dovifat, Friedrich Naumann über Rede und Rhetorik: „Was in den vergangenen Referaten recht wenig beachtet wurde und wegen der erheblichen Bedeutung von Naumanns Erfahrung zeugt, ist die gebührende Beachtung des äusseren Umstände für den Redner beispielsweise die Auswahl des Raumes.“ Vgl. dazu Karl-Heinz Göttert, Geschichte der Stimme, München 1998, S. 344. Friedrich Naumann, Reichstagseindrücke, in: Ders., Werke (wie Anm. 56), S. 385–391, hier S. 385. Walter Goetz, Tagebucheintrag vom 21. Januar 1907, zitiert nach Volker Weigand, Walter Wilhelm Goetz 1867–1958. Eine biographische Studie über den Historiker, Politiker und Publizisten, Boppard am Rhein 1992, S. 116. Vgl. über den politischen Zusammenschluss der Liberalen Theiner, Naumann (wie Anm. 2), S. 140–201. BArch N 3001, 214, Brief an Friedrich Naumann am 25. März 1910; vgl. dazu schon Ursula Krey, Von der Religion zur Politik. (wie Anm. 20), hier S. 361. Max Weber, Charismatismus, in: Ders., Wirtschaft und Gesellschaft, Die Wirtschaft und die
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Während dieser Jahre fiel der Versuch einer „Reformkoalition der linken Mitte“63. Dabei handelte es sich um ein Bündnis der Linksliberalen mit den Nationalliberalen und den gemäßigten Sozialdemokraten. Naumanns Ziel war es, die verhasste Zentrumspartei in der Stichwahl zu schlagen. Naumanns politische Gegner waren die Vertreter des katholischen Deutschlands und die sogenannten Großgrundbesitzer aus Ostelbien: „Das wirtschaftlich aufsteigende Deutschland wird von den preußischen Rittergutsbesitzern und den katholischen Priestern regiert! Das ist es, weshalb ein Patriotismus der Masse nicht aufkommt, deshalb sind unsere Sozialdemokraten verbittert und boshaft, deshalb kann eine freie Hingabe an den Staat sich so schwer entwickeln. Unser Nationalsinn leidet am preußischen Landtag und am Zentrum.“64 Deutliche Worte, mit denen er zum Teil punkten konnte, aber auch Unbehagen hervorrief. Für Ernst Bassermann war Naumann ein Phantast, als dieser bereits im Jahre 1909 einen Block „von Bassermann bis Bebel“ forderte.65 Naumanns Idee eines linken Bündnisses scheiterte letzten Endes ebenso, wie die Behauptung seines Mandates in der Industriestadt Heilbronn. Die Sozialdemokraten gingen bei der Wahl am 12. Januar 1912 als klarer Sieger hervor. Resigniert stellte die Frau von Max Weber fest: „Im Jahre 1912 verlor Naumann sein mit so vieler Mühe errungenes Mandat […] Abermals versagte das Volk einem seiner Besten, vielleicht dem einzigen menschlichen großen Führer jener Epoche Gefolgschaft.“66 Zusammenfassend darf man feststellen: Durch Friedrich Naumanns Auftritte im Plenum des Reichstages konnte er seine Wirkungsmächtigkeit zweifelsohne ausbauen. Zudem hatte er durch die Wahlkämpfe ein weiteres Forum gefunden, um vergemeinschaftend auf die Zuhörer zu wirken. Der große politische Erfolg blieb Naumann noch immer versagt. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde Naumann der Parteiführer der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Partei. In den Jahren der politischen Konsolidierung hatte Naumann die Absicht, ein ‚Deutsches Staatslexikon‘ auf die Beine zu stellen, das den politischen Willen der Linken zu stärken versuchte.67 Anknüpfend an das ‚Rotteck-Welckersche Staatslexikon‘, das die politische Gesinnung der 1848er widerspiegelte, sollte dieses Werk den „Standpunkt einer liberalen Gesamtanschauung“68 wiedergeben und veranschaulichen. Zu den Mitarbeitern gehörten unter anderem: Ernst Bassermann, Gustav Stresemann, Carl Legien, Max Weber, Adolf Harnack und Walter Goetz. Es war
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gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Herrschaft, hg. v. Edith Hanke, in: Ders.: Gesamtausgabe (Band I/22–4), Tübingen 2005, S. 464. Vgl. dazu Theiner, Naumann (wie Anm. 2), S. 195–223, hier S. 195. Friedrich Naumann, Patria! [Vorwort], in: Patria. Jahrbuch der Hilfe 1907, S. IV. Vgl. Ernst Bassermann, Rede im Reichstag, 237. Sitzung. Dienstag, den 30. März 1909, in: Verhandlungen des Reichstags, Band 236. 1909, S. 7842; vgl. dazu auch Friedrich Naumann Diktum, „Wer in Zukunft die Mehrheit von Bassermann bis Bebel will, muss heute die Verständigung der Liberalen untereinander wollen“, in: Die Hilfe 17 (1911), S. 114. Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 31984, S. 473. Heuss, Naumann (wie Anm. 24), S. 232; vgl. dazu den ausführlichen Aufsatz von Helen Müller, Im Zeitalter der Sammelwerke. Friedrich Naumanns Projekt eines „Deutschen Staatslexikons“ (1914), in: Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, S. 189–207. Heuss, Naumann (wie Anm. 24), S. 232.
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der Versuch, bis zum Jahre 1915 zwei Bände zu je 50 Bögen zu veröffentlichen. Letzten Endes war es der Erste Weltkrieg, der dieses Vorhaben verhinderte. Erst im Zuge einer Ersatzwahl im Wahlkreis Waldeck-Pyrmont konnte Naumann sein Reichstagsmandat wiedererlangen. Noch vor dem Ersten Weltkrieg publizierte der nimmermüde Schriftsteller das Werk mit dem Titel „Wirtschaftliche Landesbeschreibung der Fürstentümer Waldeck und Pyrmont“69. Auch hier konnte Naumann erst in der Stichwahl mit Hilfe der sozialdemokratischen Wählerstimmen seinen Kontrahenten Georg Vietmeyer schlagen. Für die Fragestellung ist interessant, dass Naumann auch im Zuge dieses Wahlkampfes auf Grund seines außeralltäglichen Auftretens von der gegnerischen Presse scharf angegriffen wurde. Der Naumannianer Heile schrieb nach dem erfolgreichen Wahlkampf in der Zeitschrift des Naumann-Kreises ‚Die Hilfe‘ über die Attacken der Gegner: „Wir können uns dieses Sieges mit besonderer Genugtuung freuen. Nicht bloß wir vom Hilfe-Kreise, weil es Naumann ist, der wieder in den Reichstag einzieht. […] Wer Naumann kennt – und wer kennt ihn nicht! – ,mag erstaunt fragen, wie es bloß möglich ist, gerade gegen Naumann persönlich vorzugehen.“70 Denn während des Wahlkampfes konnte man in der konservativen Presse abwertende Sätze über Naumann lesen: „Ein schöner Erfolg wäre es von größter Tragweite, wenn es gelänge, dem viel gefeierten phantasievollen Politiker Naumann eine wohlberechtigte Niederlage zu bereiten. Dann würde auch in Waldeck die Wahrheit zu ihrem Recht kommen, daß in der Politik ein Charakter wertvoller ist als ein Genie.“71 Eine ähnliche Beschreibung über Naumanns Art zu sprechen fand der Leser in der von Axel Ripke herausgegebenen Zeitschrift ‚Der Panther‘ wieder. Dort schrieb man über Naumanns Reichstagskandidatur in Waldeck: „Allerdings ist auch zu bedenken, daß Friedrich Naumanns Stärke nicht in der parlamentarischen Wirksamkeit liegt. Naumann ist auch heute noch einer unserer besten, wenn sich auch leider in ihm der Hang zur Demagogie gegenüber früher in bedauerlichem Maße bemerkbar macht. Aber auch er hat während seiner Tätigkeit im Reichstage erkennen müssen, ein wie großer Gegensatz zwischen Volksversammlungsreden und parlamentarischer Tätigkeit besteht.“72 Für den Publizisten Georg Bernhard – eine jüdische Stimme des Naumann-Kreises – war Naumanns Andersartigkeit ein wichtiger Grund dafür, warum der ehemalige Pastor keine wichtigere Rolle in der Realpolitik zu spielen vermochte: „Bei ein paar Gelegenheiten, durfte er rednerisch hervortreten, und seine parlamentarischen Reden bildeten schon vor dem Kriege eine Oase innerhalb der breiten Geschwätzigkeit der alten Reichstagsdebatten. [Aber] Naumanns Art, 69
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Friedrich Naumann, Wirtschaftliche Landesbeschreibung der Fürstentümer Waldeck und Pyrmont, Pyrmont 1914, hier S. 3: „Nachdem ich im am 19. Juni 1913 zum Reichstagsabgeordneten für die Fürstentümer Waldeck und Pyrmont gewählt worden bin, ist es meine Pflicht gewesen, mich mit den Verhältnissen des Landes genau vertraut zu machen.“ Wilhelm Heile, Unser Wahlsieg in Waldeck, in: Die Hilfe vom 26. Juni 1913, S. 404 f. Konservative {Nationalliberale?} Korrespondenz vom 13.Juni. 1913 [Jahrgang nicht auffindbar]; zitiert nach Wilhelm Heile, Unser Wahlsieg in Waldeck, in: Die Hilfe vom 26. Juni 1913, S. 404. Wilhelm Schmidthals, Naumanns Reichstagskandidatur, in: Der Panther vom 10. Mai 1913; S. 58 f.; vgl. auch die Berichterstattung in der Waldeckischen Landeszeitung vom 17. Juni.1913, S. 2.
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politische Probleme künstlerisch aufzufassen [und] auch seine vielfachen rednerischen Reisen in alle Teile Deutschlands und ins Ausland waren seinem Emporkommen im Parlament hinderlich.“73 Mit dieser Interpretation stand der Verleger und Hochschullehrer nicht alleine da. Auch der Historiker Wilhelm Mommsen schrieb in einer Rezension der Naumann-Biographie von Heuss: „Äußerlich ist das Jahrzehnt […] durch Naumanns Tätigkeit im Reichstag ausgefüllt. Er konnte hier keine führende Rolle spielen, zumal gerade die Eigenart seiner Rednerbegabung vor diesem Forum nicht wirken konnte.“74 Für die Sozialdemokraten hatten Naumanns Reden und Schriften nichts mit Sozialpolitik zu tun: „In seinen Schriften hört man jetzt einen Musiker von künstlerischen Anlagen und Neigungen auf einem gänzlich verstummten Klapperkasten herumpauken. […] Herr Naumann spielt mit bunten Begriffen wie mit bunten Glaskugeln, die er als geschickter Jongleur durch – und übereinanderwirft [sic!]. Dabei erzielt er manche Farbeneffekte, die das Auge auf den Augenblick blenden, aber das Gehirn nimmermehr [sic!] erleuchten können.“75 Während des Wahlkampfes im Juni 1913 lieferte sich der Naumann-Kreis mit der Wirtschaftlichen Vereinigung – einer antisemitischen Fraktionsgemeinschaft diverser Parteien – einen heftigen Schlagabtausch.76 Zur Rolle der Juden im Naumann-Kreis findet man in der Lebenserinnerung des Orthopäden Franz Schede einen kleinen Hinweis: „Bemerkenswert war die starke Teilnahme bedeutender jüdischer Persönlichkeiten – nicht nur wegen ihrer geistigen Qualitäten, sondern wegen ihres tiefinnerlichen Willens, mit dem deutschen Volke eins zu werden und Deutschland für ihr wirkliches Vaterland zu gewinnen.“77 Friedrich Naumann war kein Antisemit, doch er teilte mit vielen anderen Liberalen die Meinung, dass sich die deutschen Juden der deutschen Nation nähern sollten; nicht umgekehrt.78 Deshalb gehörten die deutschen Juden für Naumann erst seit dem Ersten Weltkrieg definitiv zur deutschen Nation dazu. In seinem Buch ‚Mitteleuropa‘ sprach sich Naumann öffentlich gegen den Antisemitismus aus: Die „israelitischen Soldaten [haben] während des Krieges ihre Pflicht getan […] wie jeder andere und ihre Staatsbürgerlichkeit wie alle andern in vielen Fällen mit dem Tode bekräftigt […]. Nach dem Kriege muß Schluß gemacht werden mit allen gegenseitigen Verhetzungen, denn im Hintergrund liegt der gemeinsame Schützengraben. Der ist politisch ebenso viel wert als die Taufe.“79 Schon auf einem Vortrag im Jahre 1900 sagte 73 74 75 76 77
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Georg Bernhard, Friedrich Naumann, in: Vossische Zeitung vom 28. August 1919, S. 1 f. Wilhelm Mommsen, Zur Biographie Friedrich Naumanns, in: HZ 3 (1940), S. 539–548, hier S. 543. Rezension zu Friedrich Naumanns Freiheitskämpfe, in: Die neue Zeit / Feuilleton, 31 (1913), Heft 56, S. 117 f. Vgl. Friedrich Naumann, Vom Wahlkampf, Die Hilfe vom 26. Juni 1913, S. 403 f.; vgl. auch den Artikel „Traurige Helden“ in der Waldeckischen Landeszeitung vom 11.Juni 1913, S. 2. Franz Schede, Rückblick und Ausblick. Erlebnisse und Betrachtungen eines Arztes, Stuttgart 1960, S. 75–76, hier S. 76; vgl. dazu schon Ursula Krey, Demokratie durch Opposition. Der Naumann-Kreis und die Intellektuellen, in: Kritik und Mandat. Intellektuelle in der Deutschen Politik, hg. v. Gangolf Hübinger u. Thomas Hertfelder, Stuttgart 2000, S. 71–92, hier S. 88. Vgl. dazu Karl-Josef Kuschel, Theodor Heuss, die Shoah, das Judentum, Israel. Ein Versuch, Tübingen 2013, S. 113–117. Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915, S. 71; vgl. dazu schon Moshe Zimmermann, A
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Naumann, dass „Nationalitätskraft sich als erwerbend, aufnehmend, assimilierend zeigen muß. Wo eine Nation ängstlich jeden Fremden ansieht, der zu ihr kommt, hat sie ihre nationale Sicherheit entweder noch nicht gewonnen, oder schon wieder verloren. Große, sichere Nationen können und müssen großherzig gegen Fremde sein.“80 An anderer Stelle schrieb Naumann: „Was es zur Nation machte, ist Sprache und Geschichte, das gemeinsame Werden.“81 Für Naumann ist der „Nationalismus [der] Maßstab des sittlichen Denkens“82 geblieben; und auch nach der Auflösung des Nationalsozialen Vereins dachte er in machtpolitischen Kategorien. Was Naumann von afrikanischen Völkern und Ethnien dachte, zeigt sich nicht nur in einem Sammelband aus dem Jahre 1913. „Das Blaue Buch von Vaterland und Freiheit“ war Naumanns politischer Beitrag für die von Karl Robert Langewiesche – auch er war von Naumann angetan – herausgegebenen ‚Blauen Bücher‘83; eine Art „nationale Architekturbiographie“. Die äußerst populären Bild- und Textbände beschäftigten sich in erster Linie mit der deutschen Kunstund Architekturgeschichte. Aber auch ethnische und politische Themen ergänzten die auflagenstarke Schriftenreihe aus dem Hause Langewiesche. In diesem Werk, für das eigentlich den Untertitel „Wir alle sind der Staat“84 angedacht war, schrieb Naumann unmissverständlich: „Auch sind die 64 Millionen eigentliche Neger sicherlich nicht dasselbe wie 64 Millionen deutsche Reichsangehörige. Man mag innerhalb der religiösen Verkündung den Satz vertreten, daß jede Menschenseele vor Gott den gleichen Wert habe, in der Politik gilt dieser Satz für absehbarer Zeiten nicht! Hier entscheidet neben der Quantität die Qualität, die Organisation, Bildung, Moral, Technik und Leistung.“85 Dieser darwinistische und machtpolitische Blick wird am deutlichsten bei der Armenischen Frage sichtbar, bei der Naumann eine klare Position bezog. Da Deutschland mit dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg verbündet war, stellte er sich demonstrativ hinter die Türkei. Auch wenn er wusste, dass hunderttausende Armenier gewaltsam unter dem Sultan Abdülhamit II. in den 1890er getötet wurden. Denn mit einer Verurteilung des Verbrechens an den Armeniern würde man – so Naumann – den Engländern in die Arme spielen und die deutsche Position letzten Endes schwächen. Auch nach dem Völkermord
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Road not Taken. Friedrich Naumann’s Attemp at a Modern German Nationalism, in: Journal of Contemporary History 17 (1982), S. 689–708, hier bes. S. 703. Friedrich Naumann, Deutschland und Österreich, in: Ders., Werke (Vierter Band, Schriften zum Parteiwesen und zum Mitteleuropaproblem), bearb. v. Thomas Nipperdey u. Wolfgang Schieder, Köln/Opladen 1966, S. 429. Friedrich Naumann, Briefe über Religion, in: Ders., Werke (Erster Band, Religiöse Schriften), bearb. v. Walter Uhsadel, Köln/Opladen 1964, S. 566; vgl. dazu schon ausführlich [aber mit inhaltlichen Fehlern] Wilhelm Happ, Das Staatsdenken Friedrich Naumanns, Bonn 1968, S. 78–95, hier bes. S. 88. Rolf Hosfeld, Johannes Lepsius. Eine deutsche Ausnahme, in: Ders., Johannes Lepsius – Eine deutsche Ausnahme. Der Völkermord an den Armeniern, Humanitarismus und Menschenrechte, hg. v. Rolf Hosfeld, Göttingen 2013, S. 16 f., S. 9–26. Vgl. dazu im Folgenden Britta Fritze, Die Blauen Bücher. Eine nationale Architekturbiographie? (Zugl. Diss. 2012), Darmstadt 2014, hier bes. S. 10, S. 47–49 u. S. 58–70; vgl. BArch N 3001, 112, Karl Robert Langewiesche an Friedrich Naumann am 17. Februar 1915. BArch N 3001, 27, Karl Robert Langewiesche an Friedrich Naumann am 28. Oktober 1913. Naumann, Das Blaue Buch (wie Anm. 15), S. 265.
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an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges vertrat Naumann und in erster Linie Ernst Jäckh die Interessen des deutschen Bündnispartners86 weiter, obwohl man vorsichtig festhalten kann, dass zumindest nach 1913 in der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ differenzierter über die Armenierpogrome berichtet wurde.87 In einem Brief Naumanns aus dem Jahr 1918 wurde auf einen möglichen autonomen Staat der Armenier Bezug genommen: „Ich bin auch dessen nicht gewiss, ob vom türkischen Standpunkt aus eine armenische Autonomie nicht gleichzeitig das endgültige Aufgeben der gesamten arabischen Landesstelle bedeuten würde. Das liegt selbstverständlich im Wunsche der Engländer, kann aber doch von unserer Seite aus den Türken niemals geraten werden.“88 Vor allem Naumanns und Paul Rohrbachs Schriften zur Kolonialpolitik vor 1903 zeugen von einer kulturchauvinistischen und machtpolitischen Haltung. Beispielsweise kommentierte Naumann die sogenannte ‚Hunnenrede‘ von dem Kaiser Wilhelm II. vom 27. Juli 1900 in der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ mit folgenden deutlichen Worten: „Wir halten die ganze Zimperlichkeit für falsch. Die Sache liegt doch einfach so, daß unsere asiatischen Truppen gar nicht in der Lage sind, größere Gefangenenbestände aufzunehmen. Was sollen wir machen, wenn es 50000 Chinesen einfällt, sich uns zu ergeben? Dann bewachen und ernähren wir diese gelben Brüder und sind dadurch kampfunfähig! Ein Expeditionskorps im Barbarenland kann sich die Last einer Gefangenenversorgung […] nicht auf die Schultern lagern lassen.“89 Er widersprach damit auch den Linksliberalen und Sozialdemokraten, da diese die Stellungnahme des Kaisers in Bremerhaven während des Boxeraufstandes auf Grund der Wortwahl kritisierten. Seitdem nannte man Naumann auch einen „Hunnenpastor“.90 Naumann dachte immer in machtpolitischen Kategorien; Schlachtschiffe und wirtschaftliches Wachstum gehörten für ihn immer zusammen: „Unsere Kultur in ihrer Gesamtheit soll Platz in der Menschheitsgeschichte gewinnen. […] Unser deutsches Volk muß Macht gewinnen wollen. Für manche verfeinerte Ohren ist das Wort Macht zu hart, aber ohne Macht gibt es keinen Staat, keinen Fortschritt der Gesamtnation. […] Man muß etwas, irgend etwas in der Welt erobern wollen, um selbst etwas zu sein.“91 Ein guter Onkel ist Naumann nie gewesen, auch wenn manch Künstler Naumann so porträtiert hatte: „Ihr schwarz-weiss 86
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Vgl. dazu den wichtigen und kaum beachteten Aufsatz von Hans-Walter Schmuhl, Friedrich Naumann und die Armenische Frage. Die Deutsche Öffentlichkeit und die Verfolgung der Armenier vor 1915, in: Deutsch-Armenische Korrespondenz 129/130 (2005), S. 13–20, bes. S. 18; vgl. auch M. Rainer Lepsius, Johannes Lepsius’s politische Ansichten, in: Hosfeld, Lepsius (wie Anm. 81), hier S. 30–32, S. 27–58. Eberhard Demm, Friedrich Naumann. ‚Die Hilfe‘ und die orientalische Frage, in: Die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ 1894–1944. Ein Ideenlabor in Deutschland, hg. v. Philippe Alexandre u. Reiner Marcowitz, Bern, Berlin et. al. 2011, S. 135–157, bes. S. 149–153. BArch N 3001, 45, Friedrich Naumann an Ewald Stier am 4. März 1918; dazu ausführlich Schmuhl, Naumann und Armenien (wie Anm. 86), S. 17 f. u. Fußnote 29. [Friedrich Naumann], Politische Notizen, in: Die Hilfe vom 5. August 1900, Nr. 31, S. 2 f. Vgl. dazu Dieter Düding, Der Nationalsoziale Verein 1896–1903. Der gescheiterte Versuch einer parteipolitischen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus, München/ Wien 1972, S. 73–75; vgl. auch Demm, Orientalische Frage (wie Anm. 87), S. 141 f. Friedrich Naumann, Patria [Vorwort], in: Patria, Jahrbuch der Hilfe 1901, S. IV.
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Porträt für den Band zu zeichnen ist leider misslungen. Sie sind bei ihm [Hans-Curt Köster] zum guten Onkel geworden, der seinen braven Enkeln und Nichten hübsche Geschenklein mitbringt. Und das genügt doch nicht ganz.“92 In einer Rede Naumanns in Oslo aus dem Jahre 1917 wird erneut ersichtlich, was Naumann von außereuropäischen Ethnien hielt: „Wenn […] die Engländer und Franzosen zur Stärkung ihrer Armeen Zehntausende und Hunderttausende von Singalesen, Aschantis, Tonkinesen, Indiern und anderen Mitmenschen gegen uns versammeln, so muß diese Anhäufung von Unzivilisierten und Halbzivilisierten auf die Väter und Mütter des deutschen Volkes einen Eindruck eines ungeheuren Unrechts machen. Daß man einem deutschen Sohne ein französisches und englisches Kind gegenüberstellt, ist moralisch ohne weiteres verständlich. Daß wir aber unserer Kinder in Ausgleich stellen sollen gegenüber den Halbwilden, muß als Ungerechtigkeit empfunden werden.“93 Obwohl es aus heutiger Sicht unglaublich schwer fällt; man muss Naumann mit der Zeit sehen. In Rassenkategorien zu denken, war während der Kolonialzeit keine Seltenheit.94 Nicht nur für den Historiker Alexander Cartellieri waren diese Worte Naumanns damals einleuchtend. „Eben las ich hübsche ‚Zwei Reden‘ von Friedrich Naumann aus Kristiana. […] Naumann hat wieder sehr hübsche Gedanken. Er findet überall Goldkörner und lässt sie im Lichte funkeln. Ein fabelhaft geschickter Mann.“95 Naumann war ein wirkungsbewusster Redner und Schriftsteller, der es verstand auch harte machtpolitische Themen stilistisch zu veredeln. In einem Vorwort seines Jahrbuchs aus dem Jahre 1903 sind die wirkungsvollen Bilder des Flottenschwärmers Naumann deutlich sichtbar: „Patria heißt unser Schiff. Eben kommt es von der Werft und gleitet in die blanke Flut. Seht ihr die Wellen spritzen? Es ist Salzwind, der uns anweht. Glückauf!“96 Der Patriotismus war für Naumann neben dem Kaisertum das staatstragenden Moment.97 Naumann wurde auf Grund seines besonderen Auftretens im Reichstag verstärkt wahrgenommen. Ganz egal ob man seine Positionen nun teilte oder nicht; er hob sich von den anderen Reichstagsabgeordneten allein durch seine besondere Art und Weise der Darbietung ab. Naumann war eben kein Parteipolitiker im klassischen Sinne. Denn Naumann war – so die These im nächsten Kapitel – immer auch ein Ästhet gewesen. Obwohl die Sozialdemokraten über die „viel gerühmte Künstlernatur“ [Naumann] normalerweise eher schmunzelten, stellten sie in einer biogra92 93
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BArch N 3001, 27, Karl Robert Langewiesche an Friedrich Naumann am 28. Oktober 1913. Friedrich Naumann, Die deutsche Sache, in: Ders., Die deutsche Sache, Die deutsche Seele. Zwei Vorträge, gehalten in Kristiania am 3. und 5. Februar 1917, Berlin 1917, S. 22; vgl. zu den Vorträgen auch Frank Fehlberg, Protestantismus und Nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politisches Denken um Friedrich Naumann (zugl. Diss. 2011), Bonn 2012, S. 414 f. Vgl. dazu Christina Stange-Fayos, Kolonialfragen in der ‚Hilfe‘, in: Die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ 1894–1944. Ein Ideenlabor in Deutschland, hg. v. Philippe Alexandre u. Reiner Marcowitz, Bern/Berlin et. al. 2011, S. 99–111, bes. S. 108–110. Alexander Cartellieri am 1. April 1917, in: Ders., Tagebücher eines deutschen Historikers. Vom Kaiserreich bis in die Zweistaatlichkeit (1899–1953), hg. u. bearb. v. Matthias Steinbach u. Uwe Dathe, München 2014, S. 269; vgl. zu Cartellieris positivem Naumann-Bild, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena. Nachlass Cartellieri, 23/5, Friedrich Naumann. Naumann, Patria (wie Anm. 91), S. V. Vgl. dazu ausführlich Happ, Naumann (wie Anm. 81), hier S. 99.
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phischen Skizze zu Naumann aus dem Jahre 1908 voller Sarkasmus fest: „Und das ist freilich das ungeschmälerte Verdienst Naumanns, die bürgerlichen Köpfe mit ästhetischer Achtung vor den Formen des Kapitalismus gefüllt zu haben.“98 Naumann predigte in seinen Schriften und Reden von einem deutschen Stil; denn auch die Kunst war laut Naumann dazu in der Lage, die Zerrissenheit Deutschlands zu beseitigen: „Unser Volk sucht nach seiner politischen Einigung, seinen eigenen geistigen Stil. […] Kommt, ihr Dichter, Denker, Maler, Propheten, kommt und zündet Lichter an für unsere Städte und Dörfer“99. Deutschland, so Naumann im Jahre 1907, „müsse sich als Nation, als Geistesmacht, als Charakter, als geschichtliche Kunstform [!] durchdrücken wollen, weil es an seinen Wert für alle Völker glaubt.“100
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A. K., Friedrich Naumann, in: Die neue Zeit / Feuilleton, 26 (1908), Heft 8, S. 732–736, hier S. 734 f. 99 Naumann, Patria (wie Anm. 91), S. V. 100 Friedrich Naumann, Patria! [Vorwort], in: Patria. Jahrbuch der Hilfe 1907, S. III.
VI. CHARISMA (III): DIE ÄSTHETISIERUNG DES POLITISCHEN Theodor Heuss kommentierte im Jahre 1929 einen geplanten Beitrag des Lehrstuhlinhabers für Kultur- und Universalgeschichte (Universität Leipzig) Walter Goetz über Friedrich Naumann: „In der Gesamtlinie würde ich noch die spezifisch pädagogische Technik in Naumanns Schriftstellerei irgendwie betonen und dann in dem Schlußteil doch etwas über Naumanns Bedeutung als Stilist und Sprachkünstler sagen. Denn ich denke, Sie sind mit mir einer Meinung, dass er rein als Schriftsteller, von dem Eindruck abgesehen, den seine Arbeiten inhaltlich auf uns gemacht haben, eine sehr große Erscheinung gewesen ist.“1 Es ist interessant, dass Heuss den renommierten Historiker Goetz hinsichtlich Naumanns Wirkung belehren wollte. Doch spätestens nach dem Schicksalsjahr des Naumann-Kreises (1919) war Naumann für Heuss ein „Künstler und Dichter [geworden]. Das Vordenken, Ordnen, das Rhythmisieren war seine schöpferische Freude. Lebt in jener Sprache, die bewegt, voll Tempo, Sinnlichkeit und Frische nach klarer Verständlichkeit strebt. Ein unendlicher Reichtum angeschauter Welt liegt in ihm und strömt mühelos aus seiner Feder.“2 Aber Heuss war nicht der einzige Mitstreiter in den Reihen des Naumann-Kreises, der Naumann einen „künstlerich-sprachschöpferische[n] Mensch[en]“3 nannte. So wurde auch in einer Schrift des Theologen Johannes Herz aus aus dem Jahre 1935 hervorgehoben, „[d]aß Friedrich Naumann auch ein Künstler war. […] Von der plastischen Gestaltungskraft seiner Sprache und von dem unerschöpflichen Reichtum seiner Bilder, die ihn zu einem Meister der Rede und zu einem der eindrucksvollsten Schriftsteller machten, wird jeder, der seine Worte liest, einen unmittelbaren Eindruck erhalten.“4 Es galt der Nachwelt mitzuteilen, dass Naumann ein Ästhet war. Naumanns „ästhetische Weltbetrachtung“ war entscheidend für dessen Wirkungsmächtigkeit; bereits zu Naumanns Lebzeiten. In dem von Heinrich Meyer-Benfey herausgegebenen „Naumann-Buch“ aus dem Jahre 1904 wurde bereits einleitend festgestellt, dass „es […] meine Überzeugung [ist], daß Friedrich Naumann in hervorragender Weise geeignet ist, dem heißen, ehrlichen Ringen unserer Zeit nach vertiefter Bildung zum Führer zu dienen und daß wir nicht so reich sind an führenden Geistern, um ihn dabei entbehren zu können.“5 In der Zeit, in der Naumann lebte und wirkte, begannen sich die Menschen verstärkt mit Kunst auseinanderzusetzen. Museen, Gemäldegalerien oder Theaterstät1 2 3 4 5
BArch N 1215, 35a, Theodor Heuss an Walter Goetz am 29. Januar 1929. Theodor Heuss, Naumann, in: Vossische Zeitung vom 26. August 1919, S. 2 f. Ludwig Curtius, Deutsche und Antike Welt. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1958, S. 110. Johannes Herz, Nationales und soziales Christentum. Ein Auszug aus Friedrich Naumanns Gedächtnis, Berlin 1935, S. 13. Heinrich Meyer-Benfey, Vorwort, in: Naumann-Buch. Eine Auswahl klassischer Stücke aus D. Friedrich Naumanns Schriften, hg. v. Heinrich Meyer-Benfey, Göttingen 1904, S. III u. V.
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ten waren seit 1800 in den stetig wachsenden Großstädten in Deutschland nicht mehr wegzudenken. Zudem verdrängten revolutionäre Neuansätze in der Kunst das bisher nur für eine kleine Schicht Zugängliche und Dagewesene.6 Friedrich Naumann stellte daher in einer Schrift aus dem Jahre 1906 fest: Es „gab […] noch nie eine Zeit, wo so viele Menschen so viele wirkliche Kunstwerke zu sehen bekamen. Das aber bedeutet eine wesentliche Verschiebung des Verhältnisses der Menschen zur Kunst.“7 Doch nicht nur die Quantität an Kunstwerken schnellte in die Höhe, auch die Stellung der Kunst und des Künstlers innerhalb der Gesellschaft veränderte sich auf eine bisher noch nie dagewesene Art und Weise. Mit der historischen Forschung lässt sich feststellen, dass die Kunst an sich eine neue Funktion für die Gesellschaft einnahm: Denn durch „den Geltungsverlust der Religion in der Moderne“8 übernahm die Kunst – mit Max Weber gesprochen – „die Funktion einer innerweltlichen Erlösung“9. Die Kunst sollte von nun an eigenständig eine moderne Welt zu erklären versuchen, an welcher Religion, Wissenschaft und Politik so oft gescheitert waren. Ästhetische Erfahrungen waren für viele Menschen ein neuer Weg, der Moderne samt ihrer sozialen Komplexität und institutionellen Abstraktion zu entfliehen.10 Es darf daher nicht verwundern, wenn nun vermehrt Künstler eine Führer-Rolle innerhalb der Gesellschaft einzunehmen vermochten.11 Der leitende „Gedanke an eine ästhetische Gesellschaft […], die nach künstlerischen Gesetzen aufgebaut ist“12 war auch Friedrich Naumann nicht fremd. Seine Aussage – „[w]ir haben also das Ideal eines ästhetisch durchgebildeten Volkes“13 – steht ganz im Zeichen dieses neuen Diskurses über eine ästhetischen Politik. Für Naumann war Kunst nicht von Gesellschaft und Politik zu trennen. Der heuristische Neuansatz dieser Arbeit besteht darin, die Genese des Naumannschen Charisma mit kulturwissenschaftlichen Fragen in den Blick zu nehmen. Um dies zu bewerkstelligen, bedarf es eines Blickes auf die vom Charismatiker zu erbringenden ästhetischen Leistungen. Max Weber hob bereits hervor, dass die Kunst auf Grund ihrer Erlebnissensitivität soziale Beziehungen zu stiften vermag: „Das Charisma […] ruht in seiner Macht […] auf der emotionalen Überzeugung von der Wichtigkeit und dem Wert einer Manifestation religiöser, ethischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, politischer oder welcher Art [auch] immer.“14 In die6 7 8 9 10 11 12 13 14
Vgl. dazu besonders Thomas Nipperdey, The Rise of the Art in Modern Society, London 1990. Friedrich Naumann, Das Wissen der Kunst, in: Ders., Werke (Sechster Band, Ästhetische Schriften), bearb. v. Heinz Ladendorf, Köln 1967, S. 5–7, hier S. 6. Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006, S. 13. Wolfgang J. Mommsen, Die Kultur der Moderne im Deutschen Kaiserreich, in: Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, hg. v. Wolfgang Hardtwig u. Harm-Hinrich Brandt, München 1993, S. 254–274, S. 263. Vgl. Lutz Koepnick, Walter Benjamin and the Aestethics of Power, Lincoln/London 1999, S. 29. Vgl. dazu Lothar Gall, Walter Rathenau. Portrait einer Epoche, München 2009, S. 124. Peter Ulrich Hein, Jahrhundertwende, Kunstenthusiasmus und Jugendbewegung, in: Ders., Peter Ulrich Hein (Hg.), Künstliche Paradiese der Jugend. Zur Geschichte und Gegenwart Ästhetischer Subkultur, Münster 1984, S. 14–38, S. 22. Friedrich Naumann, Kunst und Volk, in: Ders., Werke (wie Anm. 7), S. 78–93, hier S. 81. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen
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sem Kapitel gilt es, die Modifizierung des Charisma-Konzeptes weiterzuführen, indem gefragt wird, ob Naumann nicht auch auf Grund seiner Rolle als eine Art ‚Künstlerpolitiker‘ vergemeinschaftend wirkte. Lag der Schwerpunkt im letzten Kapitel noch auf den emotionalen Gefühlslagen der Naumannianer, so stehen in diesem Kapitel Naumanns ästhetische Betrachtungen im Fokus der Schilderung. Der Privatsekretär Naumanns Erich Schairer hob in einer Schrift anlässlich des Todes seines Mentors in der ‚Heilbronner Neckarzeitung‘ hervor: „In Friedrich Naumann lebte ein Künstler. Seine politischen Gegner pflegten das mit einer gewissen Absichtlichkeit anzuerkennen, nämlich um ihn dadurch als Politiker gleichsam zu diskreditieren. […] Und in den Dienst des politischen Handelns hat er auch seine künstlerische Gestaltungskraft gestellt, der er einen großen Teil seiner Erfolge in der Öffentlichkeit verdankte.“15 Im gleichen Tonfall schrieb der Kunsthistoriker Paul Schubring über das ästhetische Wirken Naumanns: „In Naumann war neben dem religiösen der künstlerische Trieb am unmittelbarsten wirksam.“16 Besaß Naumann also auch auf Grund seiner ästhetischen Ader Charisma?17 Wer dem Charisma Naumanns auf die Spur kommen will – so die These dieses Kapitels – muss Naumann als Ästhet betrachten. Denn Naumann begeisterte sensible Bürger für die Politik, die ansonsten dem politischen System verloren gegangen wären. Zudem nahm Naumann die Rolle eines Kunstpädagogen ein, der darauf aus war, die Arbeiterschaft für die Kunst zu begeistern. Viele seiner ästhetischen Schriften unterstreichen diese erzieherische Absicht. Der Philosoph Theobald Ziegler ging in seinem erstmals 1899 erschienenen Werk über „Die geistigen und sozialen Strömungen Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert“18 auch auf Friedrich Naumann ein. In Zieglers „geistige[m] Fazit“ des neunzehnten Jahrhunderts war Naumann schließlich auch weniger ein Politiker, sondern vielmehr ein Ästhet: „Dieses Unstaatsmännische aber zeigt, daß er, so seltsam das klingen mag, überhaupt kein Politiker ist; […] sondern – Ästhet, der sich unglücklicherweise in die Politik verirrt hat und sie durch dieses Ästhetisieren dieses Machtgedankens anderen ebenso unpolitischen Menschen scheinbar mundgerecht macht, in Wirklichkeit aber nicht nur nichts ausrichtet, sondern vielfach politisch schadet.“19
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und Mächte. Nachlaß. Herrschaft, hg. v. Edith Hanke, in: Ders., Gesamtausgabe (Band I/22–4), Tübingen 2005, S. 481. Erich Schairer, Zum Gedächtnis Naumanns, in: Heilbronner Neckar-Zeitung vom 26. August 1919, Titelseite; vgl. auch den nahezu identischen Text von Erich Schairer, Zum Gedächtnis Naumanns, in: Der Kunstwart und Kulturwart 32 (1919), Heft 24, S. 227–229. Paul Schubring, Friedrich Naumann als Künstler, in: Die Hilfe vom 4. September 1919, Nr. 36, S. 490. Vgl. zu Naumanns ästhetischen Vorstellungen den kurzen, aber innovativen Aufsatz von Rüdiger vom Bruch, Ästhetik, Sozial- und Lebensreform. Friedrich Naumanns Projekt der Moderne, in: Die Lebensreform (Band 1), hg. v. Kai Buchholz, Darmstadt 2011, S. 91–95; sehr kritisch dazu Gangolf Hübinger, „Maschine und Persönlichkeit“. Friedrich Naumann als Kritiker des Wilhelminismus, in: Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, S. 167–187, bes. S. 185. Theobald Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1916. Ebd., S. 1 u. S. 447.
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Aus einem kulturhistorischen Blickwinkel könnte man heute in entgegengesetzter Richtung argumentieren. Politik muss eine ästhetische Komponente besitzen, um wirken zu können. Man denke in diesem Zusammenhang auch an „die Verschmelzung von Politik und Kunst, der Produktion des Politischen als Kunstwerk“ durch die Nationalsozialisten.20 Dass Naumanns ästhetischer Politikstil letzten Endes weniger die Arbeiterschaft als viel mehr das gebildete Bürgertum ansprach, verweist einmal mehr auf die Sozialstruktur des Naumann-Kreises. Akademiker waren deutlich in der Überzahl: „Der [Naumann] mehr noch als auf Massen durch das Ästhetische seines Auftretens auf gebildete Hörer wirkte.“21 Um von einer ästhetischen Ausstrahlungskraft Naumanns sprechen zu können, bedarf es daher erneut eines Lackmustests: Die Egodokumente der Naumannianer müssen dieser These standhalten. Doch auch Friedrich Naumann hatte für sich erkannt, dass die Kunst auf Grund ihrer Erlebnissensitivität Sinn stiftet. So schrieb er in seinem typischen Stil: „Mit Musik allein gewinnt man keine Schlachten, aber auch nicht ohne Musik, denn alle große Leistung braucht Rhythmus und Klang. Der Fehler unserer ästhetischer Menschen ist, daß sie sich zu wenig in die wahrhaft schaffenden Seelen versenken und zu viel an der Außenseite der Künste hängen bleiben. […] Indem ich dieses schreibe, arbeite ich nicht gegen die Ästhetik, sondern für sie.“22 Friedrich Naumann war ein kunstinteressierter Mensch. Neben dem Schreiben war es in erster Linie die Malerei, die ihn faszinierte und anzog. Auch persönlich nahm er Pinsel und Stift zur Hand. Heuss beispielsweise bezeichnete Naumann in seiner Biographie als „eifrige[n] Aquarellist[en]“23. Es waren jedoch weniger Naumanns Gemälde, die Aufsehen erregten, als vielmehr dessen Schriften zur Kunst, die er im übrigen nur in Fraktur drucken ließ.24
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21 22 23 24
Vgl. dazu Philippe Lacou-Labarthe / Jean-Luc Nancy, Der Nazi-Mythos, in: Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, hg. v. Elisabeth Weber u. Georg Christoph Tholen, Wien 1997, S. 158-S. 190, hier S. 179; vgl. auch Inge Baxmann, Ästhetisierung des Raumes und nationale Physis. Zur Kontinuität politischer Ästhetik. Vom frühen 20. Jahrhundert zum Nationalsozialismus, in: Ästhetik des Politischen. Politik des Ästhetischen, hg. v. Karheinz Barck u. Richard Faber, Würzburg 1999, S. 79–95, hier S. 84 f. Ziegler, Strömungen (wie Anm. 18), S. 446. Friedrich Naumann, Der ästhetische Mensch und die Politik, in: Ders., Werke (wie Anm. 7), S. 543–551, hier S. 548 f. Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, München/Hamburg 31968, S. 254. Vgl. ebd., S. 236; vgl. dazu Friedrich Naumann, Antiqua oder Fraktur? In: Ders., Werke (wie Anm. 7), S. 577–582.
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Friedrich Naumann, Selbstporträt (o. D.) Quelle: Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Archiv des Liberalismus, N 46-5 (33)
Die Form einer Sache hatte es Naumann schon immer angetan. Unzählige Aufsätze über Kunst und Kunstgeschichte stehen für dessen Interesse für das Formale und Schöne. Als des Kunstverständigers Visitenkarte kann das 1909 erschienene Werk „Form und Farbe“25 gelten. In diesem Buch sind nahezu alle ästhetischen Schriften Naumanns gesammelt. Der Blick in das Inhaltsverzeichnis verrät einmal mehr Naumanns Interesse für ästhetische Belange. Er schrieb über „Rembrandt“ genauso wie über den „proletarischen Maler,“ betrachtete „Menzels Lebenswerk“ und machte sich Gedanken über den „Bahnhof als Landschaft.“ Ein Werk mit dem sich sogar die Sozialdemokraten anfreunden konnten: „Das zweite Werk [„Form und Farbe“] müsste von rechts wegen im Feuilleton besprochen werden, aber eigentlich gehört ja der ganze Herr Naumann unter den Strich. […] Er ist kein Politiker, sondern ein Ästhetiker, der mit seinen Sinnen für die Kunstgewächse des zwanzigsten Jahrhun25
Friedrich Naumann, Form und Farbe, Berlin 1909, S. 1–3.
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derts begabt ist. […] Und nicht nur, weil er einen feinen Blick für das Wesentliche hat, sondern auch, weil er kein Kaffeehausliterat ist, vielmehr in dem pulsierenden Leben des Tages steht, und nicht zuletzt, weil er klar und formvollendet ausspricht, was er klar denkt und empfindet, lesen sich seine […] gesammelten Betrachtungen über allerhand Erscheinungen der bildenden Kunst sehr angenehm und genußreich und wirken belehrend, indem sie zum Selbstschauen anregen.“26 Naumann machte sich als Kunstverständiger auch außerhalb des NaumannKreises einen Namen, indem er sich mit dem Verhältnis von Kunst und Politik auf theoretischer und praktischer Ebene auseinandersetzte. Vor allem versuchte er dem „Verhältnis zwischen Masse und Kunst“27 auf die Spur zu kommen. Darüber hinaus tendierte Naumann dazu, den Politikgedanken an sich zu ästhetisieren. Im Folgenden gilt es, seine schon erwähnte Idee „eines ästhetisch durchgebildeten Volkes“28 darzustellen und nach dessen Anschlussfähigkeit zu fragen. Naumanns Vorhaben, das Volk – und im Besonderen die Arbeiterschaft – ästhetisch zu erziehen, stand ohne Zweifel im Zentrum seiner Ästhetisierung des Politischen.29 In einem Aufsatz Naumanns wird der Gedanke eines ästhetisch durchgeformten Volkes am deutlichsten sichtbar: „Dieses Volk soll ein Kunstwerk werden? Wer soll es glauben? Ja, wer hat uns vor einem halben Jahrhundert denn überhaupt geglaubt, daß wir ein Volk werden würden?“30 Inhalt und Form eines politischen Gebildes gehörten für Friedrich Naumann wie die Arbeiterschaft und das Kaisertum zusammen. Naumann war in den Augen der Naumannianer „nicht nur ein interessanter Politiker, sondern [auch] ein ästhetisch erquickender Schriftsteller“31. Immer wieder schrieben die Naumannianer über Naumann, als den Künstler: „Er war ein großer Deutscher in der Politik, aber er war kein großer Politiker. Wie Rathenau mehr Philosoph als Politiker, so war er mehr Künstler als Politiker.“32 Egal ob man wie Johannes Schneider dessen „künstlerische Gestaltungskraft“ und dessen „leidenschaftliche Teilnahme an dem Kampf der damals modernen Kunst“33 hervorhob, oder wie der Historiker Goetz, Naumann einfach als Ästhet34 betrachtete: Naumann wirkte nicht zuletzt auf Grund dieser Tatsache auf eine Gruppe von Menschen vergemeinschaftend. In den Schriften Naumanns gibt es zahlreiche Passagen, in denen er ein Loblied auf die Moderne sang. Für Naumann war die Moderne das Schöne; im Gegensatz 26 27 28 29 30 31 32 33 34
Hermann Wendel, Literarische Rundschau, in: Die neue Zeit. Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie, 27 (1909), Heft 36, S. 316 f. Friedrich Naumann, Kunst und Volk, in: Ders., Werke (wie Anm. 7), S. 78–93, hier S. 80. Ebd., S. 81. Heinrich Meyer-Benfey, Friedrich Naumann. Seine Entwicklung und seine Bedeutung für die deutsche Bildung der Gegenwart, Göttingen 1905, S. 78. Friedrich Naumann, Deutsche Gewerbekunst, in: Ders., Werke (wie Anm. 7), S. 288. Arthur Bonus, Friedrich Naumann und die Kunst, in: Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen, Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben. 14 II, (1900/01), S. 341. Hellmut von Gerlach, Erinnerungen eines Junkers, Berlin 1924, S. 96. Johannes Schneider, Friedrich Naumanns soziale Gedankenwelt, Berlin 1929, S. 15. Vgl. Walter Goetz, Friedrich Naumann, in: Deutsches Biographisches Jahrbuch, hg. v. Verbande der Deutschen Akademien, Band IV, Das Jahr 1922, Berlin/Leipzig 1929, S. 311.
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zu vielen anderen Politikern und Künstlern sah der einstige Pastor in der Moderne ein ästhetisches Ideal. Für Naumann bedingten sich Kunst und Technik gegenseitig: „Der Geist des Maschinenzeitalters weht durch die großen Markthallen für Bildende Kunst.“35 Eindrucksvoll lässt sich die Verbindung von Form und Zeit anhand Naumanns Schriften aufzeigen: „Man gehe abends, wenn die Dämmerung alle Gestaltungen vereinfacht, am Rande der Großstadt! Straßen, Villen, Kirchen, Schulen und dazwischen ein formloser Koloß, die Gasanstalt! Das ungefüge moderne Riesentier lässt mich nicht los.“36 Naumann war ein eigenwilliger Schriftsteller, der die Kunst des Formulierens beherrschte. Mit seinen geistreichen und bildhaften Metaphern konnte er den Leser in andere Welten versetzen; das gefiel den Naumannianern. Die politischen Gegner hingegen belächelten Naumann auf Grund seiner unkonventionellen Art, Politik zu betreiben. Naumanns ästhetische Ader hatte für die deutsche Sozialdemokratie nichts mit Politik zu tun: „Nur unheilvolle Verblendung kann noch wähnen, daß hinter der bestechenden Phraseologie dieses Schönredners und Stildrechslers sich noch etwas befindet, das politischem Charakter und politischer Konsequenz auch nur von ferne ähnelt! Herr Naumann ist eben ein ins Pastorale übersetzter Maximilian Harden, ein Mann dessen höchster Ehrgeiz es zu sein scheint, sich in der Bewunderung von Aesthethen [sic!] und anderen politischen Kindern zu sonnen.“37 Naumanns Art Politik zu betreiben polarisierte die Menschen. Für Naumann war die Moderne sowohl identisch mit der Weberschen Konzeption einer „wissenschaftlich-technische[n] Weltbemächtigung,“38 als auch mit „dem Wille[n] zum Neuen“39, der für die literarische Moderne kennzeichnend war. Der Geschichtenerzähler Naumann fühlte sich wohl im „Zeitalter der Hochöfen“40. Dessen pittoreske Geschichten über die Schönheit der Gasanstalt waren für die Naumannianer eine beliebte Lektüre, weil sie andersartig waren: „Eine Leuchte auf dem Weg solcher Suchender, eine Stimme, die ihnen Mut einspricht, ein Aufrüttler für die Trägen und Anreger für die ernsthaft Ringenden, das ist Friedrich Naumann der Schriftsteller.“41 Selbst aus einem anderen Milieu kommende Leser rezipierten die ästhetischen Schriften Naumanns mit Wohlwollen. Der Wagnerianer Paul Schubring bezeichnete die Schriften Naumanns in den ‚Bayreuther Blättern‘ im Jahre 1900 als eine „dichterische Schönheit“. Der Kunsthistoriker Schubring war so angetan von Naumann, dass er auf dem Bayreuther Hügel viel und bewundernd von dem einstigen Pastor sprach: „Es ist mir ein Herzensbedürfnis, von Naumann 35 36 37 38 39 40 41
Friedrich Naumann, Die Kunst im Zeitalter der Maschine, in: Ders., Werke (wie Anm. 7), S. 186–201, hier S. 187. Friedrich Naumann, Neue Schönheiten, in: Ders., Werke (wie Anm. 7), S. 214. Freisinniges aus Eisenach-Dermbach, in: Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 27. Januar 1910, Nr. 22, Titelseite. Detlev J. K. Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, S. 64. Vgl. Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im 20. Jahrhundert, München 2004, S. 9. Naumann, Neue Schönheiten (wie Anm. 36), S. 216. Helen Raff, Friedrich Naumann als Schriftsteller, in: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde vom 1. März 1913, (Heft 11), Sp. 745–750, hier Sp. 750.
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in einem Kreis zu reden, der sich in der Hingabe an eine führende Persönlichkeit zusammen geschlossen hat.“42 Auch in anderen Dichterkreisen war Naumann nicht zuletzt auf Grund seiner ästhetischen Schaffenskraft bekannt: „Später, im Winter 1918 in Wien, sprach mir Hofmannsthal viel und sehr bewundert von Naumann.“43 Naumanns ästhetische Schriften waren wie dafür geschaffen, eine Welt zu imaginieren, die die Gegensätze zwischen Romantik und Moderne überwinden konnte.44 Anlässlich des fünfzigsten Geburtstages von Naumann stellte der evangelische Pfarrer Gottfried Traub in der ‚Württemberger-Zeitung‘ fest, „daß Naumann heute von Tausenden verehrt wird, die seine politischen Wege gar nicht teilen. […] Er läßt Maschinen reden, daß man meint es seien Seelen. […] Wer einmal die Geschichte der Beredsamkeit schreiben mag, er wird ihm einen der vordersten Plätze einräumen. […] Hier erscheint die ästhetische Ader in Naumanns Wirken.“45 In einer anderen Wochenzeitung hieß es über Naumanns kunsterzieherische Fähigkeit: „Ich weiß nicht, wie viele Arbeiter schon durch Naumann die Schönheit eines Schwungrades und die überwältigende Wucht grosser Fabriksäle bewundern lernten […].“46 Es lässt sich an dieser Stelle bereits festhalten, dass Naumann nicht zuletzt auf Grund seiner Rolle als Ästhet auf die Menschen wirkte. Dessen Rolle als eine Art ‚Künstlerpolitiker‘ lässt sich am deutlichsten bei dem ‚Deutschen Werkbund‘ erkennen, an dessen Gründung Naumann im Jahre 1907 maßgeblich beteiligt war. Der ‚Deutsche Werkbund‘ war „ein ganzer Bund, der zur künstlerischen und gewerblichen Qualität erziehen [wollte]“47. Der ‚Deutsche Werkbund‘ beschäftigte sich sowohl mit der Form von Möbeln, der Funktionalität des Geschirrs, dem Zeitstil von Tischlampen oder mit der Qualität von Sitzgelegenheiten; ganze Wohnanlagen und Gartenstätte standen auf der Agenda des ‚Deutschen Werkbunds‘. Der Naumannianer Theodor Heuss betonte in einer kleinen Schrift über die eben angesprochene künstlerische Vereinigung: „Die Versuche, zu guten Möbeln, zu anständigen Gebrauchsgegenständen zu kommen, die Bemühungen, zu einer erneuerten Architektur zu gelangen, sollten in einer Bewegung sich sammeln, die sich von 42 43
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Paul Schubring, Friedrich Naumanns „Asia“, in: Bayreuther Blätter. Deutsche Zeitschrift im Geiste Richard Wagners, 23 (1900), S. 363–367. Carl Jacob Burckhardt an Theodor Heuss am 24. August 1959, in: Ders., Briefe 1919–1969, Bern/München/Wien 1971, S. 251; vgl. auch Theodor Heuss, Hugo von Hofmannsthal, in: Ders., Würdigungen. Reden, Aufsätze und Briefe aus den Jahren 1949–1955, Tübingen 1955, S. 63–76, hier S. 63: „Vor etwa 20 Jahren, bei der Durchsicht des brieflichen Nachlasses von Friedrich Naumann, kam ein längerer, in angenehm ebenmäßiger Schrift niedergelegter Brief aus Wien – er mag aus dem Jahre 1916 gestammt haben – in meine Hände. […] Nicht ohne Rührung las ich die Unterschrift Hugo von Hofmannsthal. […] Ich weiß auch nicht ob dieser Brief beantwortet wurde.“ Heuss bezieht sich auf BArch, N 3001, Nr. 16, Blatt 109 f., Hugo von Hofmannsthal an Friedrich Naumann am 21. Dezember [1915?]. Vgl. dazu Peter Ulrich Hein, Jahrhundertwende, Kunstenthusiasmus und Jugendbewegung, in: Ders., Peter Ulrich Hein (Hg.), Künstliche Paradiese der Jugend. Zur Geschichte und Gegenwart Ästhetischer Subkultur, Münster 1984, S. 14–38, S. 16 f. Gottfried Traub, Friedrich Naumann, in: Württemberger-Zeitung vom 24. März 1910. Anonymus, Friedrich Naumanns 50. Geburtstag, in: Das Neue Jahrhundert. Wochenschrift für religiöse Kultur, Zweiter Jahrgang, 10. April 1910, S. 176–178, hier S. 178. Herrmann Erhard, Der Deutsche Werkbund, in: Der Neue Merkur. Monatshefte, Dritter Jahrgang 1919–1920, S. 436–438, hier S. 436.
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der rein ästhetischen Wertung lösen und in eine sozialökonomische und pädagogische Behandlung eingebettet werden konnte. Diese Aussprache ist mir unvergesslich geblieben.“48 Innerhalb dieser neuartigen, an die englische ‚Arts and Crafts‘Bewegung angelehnte Organisation, welche sich zur Aufgabe machte, die Kluft zwischen Kunst und Industrie zu überwinden und die hergestellten Produkte durch eine spezifische Form und Qualität, auf dem internationalen Weltmarkt gewinnbringend zu verkaufen, nahm Friedrich Naumann eine besondere Stellung ein. Er kann neben Hermann Muthesius und Henry van de Velde als Gründungsvater dieser Organisation bezeichnet werden.49 Darüber hinaus war Naumann ohne Zweifel die „politische Stimme des ‚Deutschen Werkbunds‘“50. Der Archäologe und Musikwissenschaftler Walter Riezler umschrieb die Idee des ‚Deutschen Werkbundes‘ als eine „Überwindung des Individuellen und damit Entstehung eines Stils, der nicht nur in einzelnen Leistungen deutlich wird, sondern die allgemeine Form der Zeit darstellt.“51 Der ‚Deutsche Werkbund‘ kann daher als ein Versuch angesehen werden, das Verhältnis von Kunst und Politik in der Praxis umzusetzen.52 Dieses politische Moment wird vor allem in den unzähligen Reden und Schriften Naumanns sichtbar, in denen er sich über das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft auseinandersetzte.53 Kunst hatte bei Naumann ohne Zweifel ein nationale Funktion: „Die deutsche Nation begann eine Nation zu werden, indem sie einheitliche Dichter schuf. […] Dann kommen die Philosophen als weiteres nationales Band und auf dem Gebiete der Volkswirtschaft der Zollverein. […] Jene Kunst da drüben, die Bauernkunst, das ist die alte Kunst der partikularischen Richtung. Aber sie ist überwunden, und es ist gut, daß diese Richtung überwunden ist auf diesem Gebiet der Kunst und wir haben die Hoffnung, daß die Deutschen in künstlerische Qualitätsarbeit so viel leisten werden, daß man das Volk, das früher das Volk der Dichter und Denker war, für ein künstlerisch-praktisches Volk halten wird. […] Wenn wir aber zu dieser national umgewandelten Kunst gekommen sind, so werden wir wiederum ein gutes Stück Nationalgeschichte erlebt haben, die in diesen Dingen lange noch nicht fertig ist.“54 Die ästhetische Gestaltung von Tischen war für Naumann primär eine nationale Aufgabe, die die Einheit der Nation beflügeln und Arbeiterschaft und Bürgertum zusammenführen sollte.55 Die Produkte des Werkbundes standen für eine neue Form der Politik, bei der sowohl Tische, als auch Lampen und Messer ihren Teil dazu beitrugen. 48 49 50 51 52 53 54 55
Theodor Heuss, Was ist Qualität. Zur Geschichte und zur Aufgabe des Deutschen Werkbundes, Tübingen 1951, bes. S. 5 f. Vgl. das Standardwerk von Joan Campbell, Der Deutsche Werkbund 1907–1934, München 1989, bes. S. 7–42. Frederic J. Schwartz, Der Werkbund. Ware und Zeichen 1900–1914, Dresden 1999, S. 41. Walter Riezler, Die Kulturarbeit des Deutschen Werkbundes, München 1916, S. 33. Vgl. Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, Wien 1991, S. 293. Vgl. z.B. Friedrich Naumann, Kunst und Volk, Berlin-Schöneberg 1902, S. 3. Werkbundarchiv-Museum der Dinge Berlin, Bestand Deutscher Werkbund, D 300, Friedrich Naumann, Kunst und Industrie. Vgl. Schwartz, Der Werkbund (wie Anm. 50); vgl. Kurt Junghanns. Der Deutsche Werkbund. Sein erstes Jahrzehnt. Berlin 1982, S. 11.
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Da Naumann dafür verantwortlich war, dass der Werkbund organisatorische Gestalt annahm, scheint es kaum zu überraschen, dass dessen Schüler herausragende Positionen innerhalb dieses Gebildes einnahmen. Neben den Naumannianern Theodor Heuss und Wolf Dohrn ist im Besonderen der Naumannianer Ernst Jäckh zu nennen, der den ‚Deutschen Werkbund‘ für einundzwanzig Jahre als Geschäftsführer leitete.56 Zu dem engeren Umfeld gehörten zudem die Architekten Hans Poelzig, Paul Bonatz, Otto Wagner und Fritz Schumacher, sowie die Künstler Peter Behrens und Richard Riemerschmid. Auf der Seite der Industriellen ist neben Karl Schmidt-Hellerau, der Gründer der deutschen Werkstätten in Heilbronn, vor allem Peter Bruckmann, der Heilbronner Silberwarenfabrikant, zu nennen. Die Geschichte des ‚Deutschen Werkbunds‘ steht daher in direkter Verbindung zu derjenigen des Naumann-Kreises; nicht nur weil Riemerschmid, ein Künstler des Jugendstils, den Titelkopf der Naumannschen Zeitschrift „Die Hilfe“ gestaltete.57 Dass Friedrich Naumann darüber hinaus zum „Lieblingsredner der Werkbund-Tagungen“58 mutierte, verwundert nach dem bisher Geschilderten kaum. Für solche Anlässe war Naumann gut vorbereitet: Ein paar dutzend Karteikärtchen mit sauberen Notizen aus dem Nachlass Naumanns zeugen noch heute von dessen Rolle als Lieblingsredner und ‚Künstlerpolitiker‘.59 Fünfzehn Jahre nach Naumanns Tod, am 18. November des Jahres 1934, kam man auf der Abschiedsveranstaltung des ‚Deutschen Werkbunds‘ auch auf den Redner Naumann zu sprechen: „Friedrich Naumann begeisterte mit seiner hinreißenden Rednergabe an öffentlichen Tagungen.“60 Naumann war, um es in den Worten Theodor Heuss zu sagen, ohne Frage „der geistige Motor“61 des ‚Deutschen Werkbunds‘ gewesen. In dem Archiv des ‚Deutschen Werkbunds‘ findet man heute noch Briefe, die auf Naumanns Rednertätigkeit eingehen: „Da morgen Herr Dr. Naumann bei Ihnen ist, möchte ich ihn doch sehr empfehlen, ihn zu fragen, ob er nicht über ein wirtschaftlich-kunstgewerbliches Thema einen Vortrag halten will. Sie dürfen versichert sein, dass er viel neues bringt. Herr Dr. Naumann hat schon einmal einen Vortrag gehalten […] Wenn ein solcher Vortrag statt finden sollte, bitte ich mir die Zeit mitteilen zu wollen, da ich dann nach Berlin kommen würde.“62 In einem weiteren Brief Karl Schmidt-Helleraus hieß es über Naumanns rhetorische Gabe: „Vielleicht kommen wir einmal dazu, daß wir durch wundervolle Architektur, reine Formen, Farben, edelste Stimmung und Musik, also durch gesteigerte künstlerische Wirkung die Form finden, durch die wir uns wirklich erheben und vertiefen können, dazu vielleicht Redner wie Friedrich Naumann, die eben wirklich etwas 56 57 58 59 60 61 62
Vgl. Ernst Jäckh, Der goldene Pflug, Stuttgart 1954, bes. S. 195–208. Vgl. Junghanns. Der Deutsche Werkbund (wie Anm. 55), S. 12. Schubring, Naumann (wie Anm. 16), S. 491. Nachlass Naumann, BArch N 3001, 96, 2/13, Friedrich Naumann, Vortragsskizzen, in:, S. 260– 276. Werkbundarchiv-Museum der Dinge Berlin, Bestand Deutscher Werkbund, D 281, Fritz Hellwag, Abschied vom Deutschen Werkbund, Theodor Heuss, Der Werkbund in München, in: Breslauer Zeitung vom 25. Mai 1921, S. 4. Werkbundarchiv-Museum der Dinge Berlin, Bestand Deutscher Werkbund, ADK 1–161/05, Karl Schmidt an Hermann Muthesius am 24. Juli 1905,
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zu sagen haben.“63 Doch auch Naumanns schriftstellerische Begabung wurde in den Briefen eindrucksvoll versprachlicht: „Ich finde aber bei Naumann gerade so ausgezeichnet, dass er bei aller Begeisterung für seinen Gegenstand nie in Phrasen verfällt, nie Dinge sagt, die man gleich mit Fragezeichen versehen könnte, sondern auf alle Einwände eingeht. […] Ich meine, ein Buch, mit dem wirklich etwas erreicht werden soll, muss etwas von suggestiver Kraft haben, aber doch zugleich so ruhig und sachlich bleiben, dass auch der nüchternste Kritiker, wenn er an sich gutwillig ist, überzeugt werden kann. Das ist das, was Naumann nach meiner Meinung so sehr gut erreicht, und das gibt dem Naumannschen Buch [hier: Mitteleuropa] zugleich den wissenschaftlichen und den Propagandawert.“64 Naumann wurde auf Grund seiner schon geschilderten Doppelbegabung als Publizist und Redner von den Werkbündlern bewundert: „Am stärksten aber offenbarte sich sein Künstlertum in dem, was er schrieb und sprach. Naumann ist einer der wirkungsvollsten und wuchtigsten Volksredner gewesen. Und als Schriftsteller war er ein meisterhafter Stilist.“65 Die Geschichte des ‚Deutschen Werkbundes‘ zeigt nicht zuletzt, dass Naumann weniger als Parteipolitiker wahrgenommen wurde. Vielmehr wirkte er gerade auf Grund seiner ästhetischen Schaffenskraft auf die Zuhörer und Leser seiner Reden und Schriften: „Auch die politischen Gegner Naumanns werden bei näherer Betrachtung erkennen, daß Naumann nicht nur im politischen Leben ein bedeutender Faktor ist, sondern daß er auch durch seine ästhetische Weltbetrachtung […] ein deutender Erzieher unseres deutschen Volkes ist.“66 Gerade diese Rolle Naumanns als ‚Künstlerpolitiker‘ wirkte vergemeinschaftend. Wilhelm Hausenstein, der Cicerone dieser Arbeit, schrieb über Naumanns Rolle im ‚Deutschen Werkbund‘: „Unter denen, die der industriellen Produktion des Programms der materiellen und formalen Qualität entgegenriefen, war er in Deutschland ein Führer – oft und für viele der Führer. Hier liegt ein entscheidendes historisches Verdienst. Hier ist ein Gipfel seiner ästhetischen Kraft.“67 Naumann besaß ohne Zweifel auch auf Grund seiner Rolle als ‚Künstlerpolitiker‘ Charisma. Es zeugt von Naumanns Popularität, dass gerade der weit über die deutschen Grenzen bekannte Impressionist Max Liebermann ein Porträt von Friedrich Naumann erstellte. In einem 1907 veröffentlichten Aufsatz über Liebermann beschrieb Naumann die generelle Aufgabe eines Malers: „Nicht, was der Mensch spricht, interessiert den Maler, sondern wie er den Mund aufmacht, nicht, wohin er geht, sondern wie er seine Füße setzt.“ Naumann schilderte den Maler als einen Beobachter, der die Ästhetik des Performativen verbildlichen sollte. Für Naumann war Liebermann 63 64 65 66 67
Werkbundarchiv-Museum der Dinge Berlin, Bestand Deutscher Werkbund, D 906, Karl Schmidt-Hellerau an Else Meissner am 13. September 1917. Werkbundarchiv-Museum der Dinge Berlin, Bestand Deutscher Werkbund, D 856, Karl Schmidt an Else Meissner am 8. August 1916. Johannes Schneider, Friedrich Naumanns soziale Gedankenwelt, Berlin 1919, S. 15. Anonymus {E. St.?}, Dr. Friedrich Naumann, ein Erzieher des deutschen Volkes, in: Leipziger Lehrerzeitung, 12 (1904), Nr. 4, S. 59–61, hier S. 59. Wilhelm Hausenstein, Naumann in seiner Zeit, in: Der Neue Merkur. Monatshefte, Dritter Jahrgang 1919–1920, S. 420–433, hier S. 432.
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ein „Philosoph der Sichtbarkeiten“68. Es zwingt sich an dieser Stelle die Frage auf, wie Liebermann Naumann darstellte; was er also an Naumann hervorhob und sichtbar machte. Auf dem von ihm 1909 gefertigten Ölgemälde blickt Naumann in die weite Ferne; sein durchgestreckter Körper wirkt kräftig, sein Blick zielsicher, die Hand gestikulierend, sein Haupt ist wie in Stein gemeißelt. Der impressionistische Maler verwandt das Motiv der stehenden Halbfigur und zeigt Naumann als Redner, Seher und Prophet.69 Der renommierte Historiker Erich Marcks bemerkte dazu in einem Brief aus dem Jahre 1910, dass es „schade [sei], dass ein Mann dieses Zuges so Demagog u. Parteitaktiker“ geworden sei. „Zur Strafe [so der Historiker an seinen Schüler] habe ihn Max Liebermann sehr übel porträtiert u. das Beste seines Wesens unterdrückt. Hat nur Liebermann kein Maß dafür, oder trocknet es Naumann selber ein?“70 Der Hamburger Kunsterzieher Alfred Lichtwark war da anderer Meinung. Für ihn war es eine große künstlerische Leistung, „Pathos zu geben, ohne pathetisch zu wirken“71. Liebermann porträtierte Naumann nicht als einen Mann der Alltagspolitik; sondern als außeralltägliche Gestalt. In einem Brief des Begründers der Kunsterziehungsbewegung an den deutsch-jüdischen Maler schrieb Lichtwarck zudem: „Die Naumannlithographie ist famos! Das wird ein ganz populäres Kunstwerk!“72 Geschmäcker sind eben verschieden. Seit 1924 war das Naumann-Bildnis der Öffentlichkeit in der Kunsthalle von Hamburg zugänglich. Auch Friedrich Naumann hatte sich „außerordentlich gefreut, daß Liebermann ihn gemalt hat, [so dass] er […] während der Sitzungen mit dem Maler lebhaft und witzig disputier[e].“73 Der Naumannianer Werner Stephan war bestimmt nicht der einzige Besitzer einer Kopie dieses Gemäldes: „Bald hatte ich mir ein Foto von Friedrich Naumann beschafft. Es zeigte – nach dem berühmten Gemälde von Max Liebermann – den Redner, aber auch den Propheten. An der Wand meiner Bude fiel der wuchtige Mann mit der mächtigen Stirn jedem Besucher auf.“74 Selbst auf einem Foto schien Naumanns Körperlichkeit hervorzustechen; eine Art „Memorieren im Zeichen des Bildes“75, wie es bei der Kulturwissenschaftlerin Schmölders in einem anderen Zusammenhang heißt. Ein Foto, welches niemals ohne Naumanns ästhetischer Weltbetrachtung vervielfältigt worden wäre. Da der „Verfasser von ‚Form und Farbe‘ und den ‚Ausstellungs-Briefe[n]‘ – das tätige Mitglied des Werkbundes – ein Pfadfinder in das Neuland eines der Welt künstlerisch und technisch voranschreitenden Deutschlands“76 gewesen [war]. In den erwähnten „Ausstellungsbriefe[n]“ be68 69 70 71 72 73 74 75 76
Friedrich Naumann, Max Liebermann, in: Ders., Form und Farbe (wie Anm. 25), S. 71 u. S. 75. Vgl. dazu Bernd Küster, Max Liebermann. Ein Maler-Leben, Hamburg 1988, S. 189 f. Erich Marcks an Willy Andreas, zitiert nach Jens Nordalm, Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861–1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft, Berlin 2003, S. 156. Zitiert nach Anna von Zeromski, Ein Führer zu deutscher Zukunft, Jena 1924, S. 180. Alfred Lichtwark an Max Liebermann am 4.1.1910, in: Alfred Lichtwark, Briefe an Max Liebermann, hg. v. Carl Schellenberg, Hamburg 1947, S. 229. Schubring, Naumann (wie Anm. 16), S. 490. Werner Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland. Ein Liberaler in vier Epochen, Düsseldorf 1983, S. 38. Claudia Schmölders, Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, Berlin 1996, S. 12. BArch N 3001, 214, S. 10 u. 11, Brief an Friedrich Naumann am 25. März 1910,; vgl. auch Friedrich Naumann, Ausstellungsbriefe, Berlin 1909.
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schrieb Naumann die Berliner Gewerbeausstellung im Jahre 1896, den Eiffelturm oder das Maschinenleben. Auch in dieser Sammlung der ästhetischen Schriften aus dem Jahre 1909 findet man viele Passagen über Deutschlands zukünftige Rolle als Weltmacht wieder: „Deutschland will Weltmacht werden. […] Als Erdmacht aber brauchen wir Kolonien, Erdhandel und Flotte. Die Flotte wieder braucht Kriegsschiffe, diese aber brauchen Geld. […] Man weiß, daß wir alle Ursachen haben, nicht blind allen Kaisergedanken zuzustimmen, aber die Meeresbegeisterung des Kaisers ist zeitgemäß und muß vom deutschen Volke angeeignet werden.“77 Naumann war auch noch nach der Flottenvorlage durch Tirpitz im Jahre 1898 ein Verfechter der Flottenpolitik des Kaisers. Naumann, so heißt es in dem Werk „Die Tragödie des deutschen Liberalismus“ passend, „sah mit Befriedigung die Zahl blitzender Kreuzer und Schlachtschiffe im Kieler Hafen wachsen.“78 Die Flottenfrage war für Naumann sowohl „ein Stück der auswärtigen Politik [als auch] ein Stück [der] inneren Politik.“79 Vor allem in den Schriften über den Krieg zeigt sich Naumanns ästhetischer Blick auf die Dinge. Dass Naumann über das Sterben in einer ganz besonders ausdrucksvollen Sprache zu schreiben verstand, beweist nicht nur folgender Auszug seines Beitrages zu Peter Paul Rubens’ Höllensturz der Verdammten: „Unsere Kriegsbilder – Gott erhalte sie! […] Man kann sagen, daß dieses Bild eine Predigt ist, nur gibt es keinen Prediger, der so sprechen kann. […] Seht, seht, wie sie alle sich nicht mehr halten können! Das Ich ist gestorben, aber sein Todeslaut umzischt noch die Leiber. Es ist vorbei! Die Welt vergeht mit ihrer Lust – wer aber den Willen Gottes tut, der bleibet in Ewigkeit.“80 Hier zeigt sich einmal mehr, dass Naumanns kunsthistorische Texte wie Gottesdienste klangen und deshalb nicht nur von den Naumannianern als „kleine […] Kunstwerk[e]“ aufgefasst wurden.81 Naumanns Schriften wurden nicht zuletzt auf Grund dieser „funktionale[n] Einbindung des Ästhetischen“82 als außergewöhnlich wahrgenommen. Hausenstein brachte es erneut auf den Punkt, als er rückblickend feststellte: „Radikal war immer aufs neue die Kunst des Aussagens, mit der Naumann vor seine Hörer trat. Radikal war seine Beredsamkeit (seine Beredsamkeit als formales Phänomen).“83 Naumanns politische Schriften zeugen von seiner künstlerischen Ader. Selbst ein Sachbuch wie ‚Mitteleuropa‘ steht für eine metaphorische Sprachmächtigkeit: „Nach dem Kriege werden Grenzverschanzungen vorliegen. Neue Römerwälle entstehen, neue chinesische Mauern aus Erde und Stacheldraht.“84 77 78 79 80 81 82 83 84
Naumann, Ausstellungsbriefe (wie Anm. 76), S. 29. Friedrich C. Sell, Die Tragödie des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1953, S. 293; Zitat auch bei Peter Merseburger, Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident, München 2012, S. 62. Friedrich Naumann, Flotte und Reaktion. Vortrag von Friedrich Naumann (gehalten in öffentlicher Versammlung zu Berlin am 15. November 1899), Berlin-Schöneberg 1899, S. 2. Friedrich Naumann, Massenphantasie, in: Ders., Werke (wie Anm. 7), S. 51–53. Meyer-Benfey, Naumann (wie Anm. 29), S. 60. Andreas Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannmythos: zur Entstehung des Nationalbewußtseins der Deutschen, Hamburg 1966, S. 37. Hausenstein, Naumann (wie Anm. 67), S. 429. Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915, S. 7.
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Naumann war in den Augen von Heuss ein „Augenmensch“85; ein Politiker, der seine Eindrücke von der Wirklichkeit in erster Linie visuell gewinnt. Nicht nur Naumanns Schriften über die Kunst beweisen dessen photographisches Auffassungsvermögen, wo er seine visuellen Eindrücke versprachlichte. Diese Auffassungsgabe hatte viel mit Naumanns früherer Pastorentätigkeit zu tun, als es darauf ankam, die Zuhörer durch plastische, gleichnishafte und bildhafte Umschreibungen zum Beispiel auf die Missstände in der Welt hinzuweisen. Auch Elly Heuss-Knapp kam auf diese Eigenschaft Naumanns in einer Radioansprache vier Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zu sprechen: „Er war der beste Redner seiner Generation, obwohl er keine gute Stimme hatte. Ich denke da an einen Abend des ‚EvangelischSozialen Kongresses‘ in Heilbronn, wo er unter einem Dach von frisch grünem elektrisch angestrahlten Gesträuch wie unter einem Baldachin stand, und eine Rede hielt, über Deutschland, das Land der Dichter und Denker. […] Es sah die Welt mit Maleraugen an.“86
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So Theodor Heuss, Friedrich Naumann und die deutsche Demokratie, Wiesbaden 1960, S. 16. HstASt, R 5/001, D 451087/007, Elly Heuss-Knapp, Friedrich Naumanns Schaffen wirkt auf die Jungend (Tondokument der SDR – Wortdokumentation vom 24. August 1949); vgl. Elly Heuss-Knapp, Gedenkworte an Friedrich Naumann, in: Alle Liebe ist Kraft. Aufsätze und Vorträge von Elly Heuss, hg. u. eing. v. Anna Paulsen, Stuttgart 1965, S. 82–85.
VII. NAUMANN IM KRIEGE. ERFOLG UND KÖRPERLICHER ZERFALL Nachdem der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni des Jahres 1914 von dem serbischen Nationalisten Gavrilo Princip in Sarajewo ermordet worden war, begann sich Europa radikal zu verändern. Dieser in seiner Intensität und Wirkung noch nie zuvor dagewesene Krieg sollte auch für Friedrich Naumann und seinen Kreis gravierende Folgen haben, die es in diesem Kapitel darzustellen gilt. Der Erste Weltkrieg war ohne Zweifel ein gewaltiger Umwälzer. Während des Ersten Weltkrieges schrieb Friedrich Naumann an seinem Buch ‚Mitteleuropa‘1, mit dem er den internationalen Durchbruch erlangte. 1899 reiste Naumann das erste Mal nach Österreich, um einer Einladung des österreichischen Sozialdemokraten Engelbert Pernerstorfer – eine Art österreichischer Naumann – zu folgen. Anfang 1900 wurde der Vortrag Naumanns ausgearbeitet und in einer Schrift mit dem Titel „Österreich und Ungarn“ publiziert; als „eine Vorform von ‚Mitteleuropa‘“ sozusagen. Zugleich war es das erste Mal, dass sich Naumann mit der Doppelmonarchie auseinandersetzte.2 1914 und 1915 reiste Naumann erneut nach „Wien, Budapest, Prag, fragt[e], hört[e], sammelt[e], notiert[e], [verglich], hundert Stimmen [drangen] auf ihn ein“, wie Heuss in seiner Naumann-Biographie berichtet hatte. Seitdem stapelten sich die Bücher über Österreich-Ungarn auf Naumanns Schreibtisch, um aus dem Begriff ‚Mitteleuropa‘ eine geschichtliche Größe zu formen.3 In Naumanns Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ berichtete seit 1914 zudem ein gewisser Richard Charmatz über die „Lösung der Nationalitätenfrage“, wie es Heuss in seiner Naumann-Biographie genannt hatte; darüber hinaus begann die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ „Teilbetrachtungen“4 aus Naumanns ‚Mitteleuropa‘ abzudrucken. Im Februar des Jahres 1915 hielt Friedrich Naumann einen Vortrag in Österreich. Ein Eintrag im Tagebuch des österreichischen Politikers Joseph Maria Baernreither lautete: „Er spricht so klar und durchdacht, wie es bei uns selten ist.“5 1
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Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915; vgl. zur Entstehung Jörg Villain, Zur Genesis der Mitteleuropakonzeption Friedrich Naumanns bis zum Jahre 1915, in: Jahrbuch für Geschichte, 15 (1977), S. 207–215; vgl. auch Maria Enste, Das Mitteleuropabild Friedrich Naumanns und seine Vorgeschichte (zugl. Diss), Marburg 1941. Friedrich Naumann, Österreich und Ungarn. Erweiterter Vortrag, Schöneberg 1900; vgl. dazu Wolfgang Schieder, Einleitung. Schriften zum Mitteleuropaproblem, in: Friedrich Naumann, Werke (Vierter Band, Schriften zum Parteiwesen und zum Mitteleuropaproblem), bearb. v. Thomas Nipperdey u. Wolfgang Schieder, Köln/Opladen 1966, S. 378 u. S. 500. Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, München/Hamburg 31968, S. 361 f. Ebd. Joseph Maria Baernreither, Tagebucheintrag vom 28. Februar 1915, zitiert nach Fritz Fellner, Denkschriften aus Österreich. Die österreichische Mitteleuropa-Diskussion in Wissenschaft und Politik 1915–1916, in: Geschichte zwischen Freiheit und Ordnung. Gerald Stourzh zum
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Friedrich Naumann war beileibe nicht der erste Politiker und Publizist, der sich des schillernden Begriffes bediente. Denn schon vor dem Krieg gab es mehrere Ansätze zu einer mitteleuropäischen Wirtschaftseinigung.6 Sowohl im Deutschen Reich als auch in Österreich-Ungarn tauchte der geopolitische Begriff ‚Mitteleuropa‘ auf. Im Juli des Jahres 1915 erschien in Österreich eine „Denkschrift aus Deutsch-Österreich“. Der Hauptinitiator war der österreichische Historiker Heinrich Friedjung. Zusammen mit dem Wirtschaftspolitiker Michael Hainisch, dem Ökonom Eugen Philippovich und dem Osteuropahistoriker Hans Uebersberger forderten sie in ihrer vorerst vertraulichen Schrift ein „engeres politisches Bündnis als bisher, […] einen Wehrverband zu gegenseitiger Verteidigung [und] ein Zoll- und Handelsbündnis gegenüber dem Ausland.“7 Es gilt als sicher, dass Friedrich Naumann zu dem erlesenen Kreis zählte, der diese Schrift in die Hände bekam.8 Wie auch der deutsche Reichskanzler von Bethmann Hollweg, der zu den prominentesten Mitteleuropa-Vertretern in Deutschland gehörte. Denn der Diskurs über die wirtschaftliche Vereinigung der beiden Mittelmächte war durch den Krieg aktueller denn je.9 Auch der damalige Chef des Generalstabes Erich von Falkenhayn dachte nach den ersten deutschen Siegen über Russland über die Schaffung eines „mitteleuropäischen Staatenbundes“ nach.10 Falkenhayn plädierte Ende August 1914 für die Schaffung eines „mitteleuropäischen Staatenbundes“ und von Bethmann Hollweg sah in ‚Mitteleuropa‘ sogar „das Ziel der deutschen Politik.“11 „An dem großen Zukunftsgedanken des neuen Mitteleuropas“12 war Naumann maßgeblich beteiligt. Mehr noch; letzten Endes war es sein ‚Mitteleuropa‘, das sich gegen die anderen inhaltsähnlichen Konzepte durchsetzte. Das hatte zwei einfache Gründe: Erstens erlag Friedrich Naumann nicht den alldeutschen größenwahnsinnigen Phantasien, und zweitens konnte er selbst ein Sachbuch mit einem komplexen Gegenstand sprachlich veredeln. Wie die meisten Schriften Naumanns ist ‚Mitteleuropa‘ nicht für den Experten bestimmt; sondern für den Laien, der sich in der Materie nicht auszukennen braucht. Theodor Heuss sagte einmal dazu: „Es ist von einer wunderbaren Freiheit der sprachlichen Gestaltung, volkstümlich beredt, eindringlich in der geduldigen Entwirrung schwieriger Dinge und dann wieder
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60. Geburtstag, hg. v. Emil Brix, Thomas Fröschl u. Josef Leidenfrosch, Graz/Wien/Köln 1991, S. 145–162, hier S. 152. Vgl. hier besonders Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961, S. 20. Denkschrift aus Deutsch-Österreich, Leipzig 1915, S. 101. Vgl. zu Friedjungs Mitteleuropa-Denkschrift den glänzenden Aufsatz von Fritz Fellner, Denkschriften aus Österreich. Die österreichische Mitteleuropa-Diskussion in Wissenschaft und Politik 1915–1916, in: Geschichte zwischen Freiheit und Ordnung. Gerald Stourzh zum 60. Geburtstag, hg. v. Emil Brix, Thomas Fröschl u. Josef Leidenfrosch, Graz/Wien/Köln 1991, S. 145–162, bes. S. 145, S. 148 u. S. 157. Vgl. dazu auch Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien/Köln/Weimar 2013, S. 496 f. Jürgen Elvert, Mitteleuropa. Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918–1945), Stuttgart 1999, S. 40. Fischer, Weltmacht (wie Anm. 6), S. 241 f. Friedrich Weinhausen, Das neue Mitteleuropa, in: Deutsches Volksblatt vom 24. Oktober 1915, S. 2 f.
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von pathetischem Schwung.“ ‚Mitteleuropa‘ wurde von nun an mit dem Namen Naumann in Verbindung gebracht: „Fast schien es doch, als ob es sich um seine Erfindung handle.“13 Es war ohne Zweifel Naumanns ‚Mitteleuropa‘, das in späteren Diskursen als Bezugsgröße herhalten musste.14 Nachdem Friedrich Naumann im Jahre 1915 sein ‚Mitteleuropa‘ auf den Büchermarkt gebracht hatte, war er zu einem der bekanntesten Kriegsschriftsteller Europas geworden. Für viele Leser war Naumanns ‚Mitteleuropa‘ eine literarische Sensation.15 Nicht nur Max Weber bezeichnete Naumanns Publikation während des Krieges als „Propagandabuch“16. Auch so manch anderer Weggefährte Naumanns konnte seinen einstigen Führer nicht mehr wiedererkennen. So schrieb der Nationalökonom Brentano noch im Jahre 1931 über Naumanns Werk: „Seine nie ganz erstorbenen alldeutschen Ideengänge sind während des Krieges in seinem glänzenden aber unsinnigen Buch über ‚Mitteleuropa‘ wieder zur Herrschaft gelangt […] Das Buch wirkte um so mehr, je glänzender es geschrieben wurde.“17 Anderen wiederum war Naumann zu vorsichtig und zu ängstlich: „Großen dank sind sowohl das deutsche Volk als auch die übrigen Völker der Zentralmächte Friedrich Naumann für sein Buch ‚Mitteleuropa‘ schuldig. […] Diese Vorsicht und die Furcht […] haben Naumann zu einer Zurückhaltung in seinen Vorschlägen geführt. [Doch] diese Vorsicht und Furcht kommt selten zum Ziel. Ein mitteleuropäischer Zollverein und selbst ein Wirtschaftsbund scheint nach den Erfahrungen der Vergangenheit sowohl, wie grundsätzlich unzureichend, um das zu leisten, was ‚Mitteleuropa‘ braucht.“18 Naumann mit den Alldeutschen in ein und dasselbe Boot zu werfen, würde viel zu weit gehen. Allein Naumanns Rolle bei der Friedensresolution im Juli 1917 zeugt von seiner „illusionslose[n] Einschätzung der außenpolitischen Situation“19. Das Jahr 1917 war zudem ein kleiner Wendepunkt in der Geschichte des NaumannKreises, was in einem späteren Kapitel noch einmal zur Sprache kommen wird. Denn für eine Handvoll Naumannianer ging Naumanns Friedensaktion zu weit. Viele der Briefe Naumanns unterstreichen den erfolglosen Versuch, ab 1917 einen Verständigungsfrieden herbeizuführen. Vor allem der prominente Briefwechsel mit Erich Ludendorff kann als ein Beleg für Naumanns wichtige Rolle bei der Friedensresolution angesehen werden.20 Naumann glaubte nicht mehr an einen Sieg der 13 14 15
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Heuss, Naumann (wie Anm. 3), S. 363. Vgl. dazu Elvert, Mitteleuropa (wie Anm 10), S. 26. Vgl. dazu besonders den glänzenden Aufsatz von Jürgen Frölich, Friedrich Naumanns ‚Mitteleuropa‘. Ein Buch, seine Umstände und seine Folgen, in: Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, S. 245–267; aber auch Joachim Radkau, Theodor Heuss, München 2013, S. 102–104: „Das größte und abgründigste literarische Kriegsereignis“. Max Weber an Friedrich Naumann am 2. November 1915, in: Ders., Gesamtausgabe (Band II/9), hg. v. Gerd Krumeich u. M. Rainer Lepsius Tübingen 2008, S. 157. Lujo Brentano, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands (1931), hg. v. Richard Bräu u. Hans G. Nutzinger, Marburg 2004, S. 403. Konrad Eichhorn, Mitteleuropa. Eine Stellungnahme zu Naumanns Buch, Hildesheim/Leipzig 31916, S. 3 u. 5. Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983, hier: S. 272 u. S. 275 f. Eingabe Friedrich Naumanns, Professor Jäckhs, Dr. Robert Boschs und anderer an General
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deutschen Truppen; die Gegner waren zahlenmäßig einfach in der Überzahl. Nach dem Krieg ließ er einem seiner Kritiker ausrichten: „Seine Meinung im ganzen ist die, dass nie ein Volk mehr geleistet hat als das unsrige und dass in Anbetracht der jetzigen Waffentechnik unser ermüdetes Heer unvergleichlich viel mehr geleistet hat als die Truppen Friedrich II. Auch in den letzten Jahren. Es ist ganz unmöglich gewesen, von Volk und Heer noch weitere Leistungen zu vergleichen. Dass Herr Dr. Naumann die Flinte zu zeitig ins Korn geworfen habe, wird von ihm energisch bestritten.“21 Letzten Endes wurde Naumann sogar von der ‚Kaiserlich Deutsche Gesandtschaft‘ in der Schweiz auserkoren, um eine Rede im Interesse der deutschen Regierung zu halten. Es war deren Absicht, den über den Parteien stehenden und sprachlich versierten Naumann für einen Vortrag in der neutralen Schweiz zu gewinnen. Anders ausgedrückt: Friedrich Naumann sollte für Deutschland werben! So hieß es in einem Brief vom 8. Februar des Jahres 1918: „Die Ansicht von der politischen Rückständigkeit des deutschen Volkes spielt sowohl in der gegen uns gerichteten feindlichen Propaganda eine große Rolle. Die hierdurch erweckte mißtrauische Abneigung beruht jedoch nicht allein auf einer weitgehenden Unkenntnis über die innerpolitischen Verhältnisse Deutschlands, sondern vor allem auch darauf, daß sich die Vertretung des deutschen Standpunkts ebenso wie auf aussenpolitischem so auch auf innerpolitischem Gebiet zu sehr auf die sachliche Abwehr feindlicher Vorwürfe und auf Anklagen der Gegner beschränkt, statt eigene politische Ideale zu entwickeln. […] Beispielsweise wäre es sehr willkommen, wenn etwa Friedrich Naumann seine Anschauungen über den demokratischen Gedanken im deutschen Staatswesens gelegentlich auch an hervorragender Stelle in der hiesigen Stelle zum Ausdruck brächte.“22 Naumann schien der geeignete Mann für die deutsche Propaganda zu sein; denn er wirkte integer und konnte gut reden und schreiben. Auch Carl Meyer vom Deutschen Hilfswerk in Zürich stellte sich trotz der logistischen Probleme hinter den bekannten Redner Naumann: „Die Vorträge von Herrn Naumann werden wahrscheinlich doch auf deutsche Kreise beschränkt bleiben müssen, wenn man auf die fast ängstliche Neutralität Bedacht nimmt, welche die schweizer Behörden allen Deutschen gegenüber einnehmen. Jedenfalls ist es ganz etwas anderes, wenn Naumann [die] Gelegenheit hat, zu hunderten von hervorragenden Westschweizern zu reden und sogar in die Entente-Länder hinein wirken kann. Einem Manne von der Begabung Naumanns kann es doch nicht schwer sein, in Benutzung dieser günstigen Gelegenheit einen eigenen Artikel mit Ausführungen zu schaffen,
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Erich Ludendorff vom 11. 2. 1918 u. Erich Ludendorff an Friedrich Naumann vom 22. 2. 1918, in: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung in der Gegenwart. (Zweiter Band, Der militärische Zusammenbruch und das Ende des Kaiserreichs), hg. v. Herbert Michaelis u. Ernst Schraepler, Berlin 1958/59, S. 245–250; vgl. dazu auch Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2013, S. 677. BArch N 3001, 45, Friedrich Naumann an Carl Strünckmann am 21. November 1918. BArch R 901/71899, Bl. 1–2, Kaiserlich Deutsche Gesandtschaft an Seiner Exzellenz dem Herrn Reichskanzler [Graf Georg von Hertling], Bern, den 8. Februar 1918.
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die nun gerade für dieses Blatt geeignet sind.“23 Vor 1915 wäre Naumann noch nicht der richtige Mann gewesen; er war noch zu unbekannt. Für die meisten Leser kam Naumanns Schrift zur rechten Zeit. Durch ‚Mitteleuropa‘ wurde Naumann zu einem politischen Führer in einem immer mehr zermürbenden und sinnlosen Kriege. Der Historiker Hermann Oncken urteilte bezüglich der Wirkungskraft des Buches: „Mitteleuropa ist in unseren Tagen zu einem verheißungsvollen Schlagwort geworden, das weit über den Kreis der politisch Denkenden hinaus eine eigentliche Anziehungskraft ausübt.“24 Noch in Briefen aus der Zeit nach 1919 wird ersichtlich, dass Naumann seit 1915 über den Kreis hinaus wirkte: „Ihr Gatte war vor einigen Jahren bei uns in Bremen, als wir noch mit ihm eine glänzende Zukunft Deutschlands erhofften und wir uns über den Gedankenreichtum seines schönes Buches ‚Mitteleuropa‘ freuten. Ich habe damals unter Zustimmung unserer Freunde gesagt, dass er durch seinen Idealismus und seine wundervollen Schriften […] sich dauerhaft einen Platz in der Walhall unter den deutschen Grössen erobert hat.“25 Ein Schreiben, das die Verbindung zwischen dem Charisma und der Programmschrift ‚Mitteleuropa‘ hervorhebt. Auch Werke können als etwas Außeralltägliches wahrgenommen werden; zumal wenn sich Inhalt und Form von den anderen Schriften abgrenzen. Während auf den Schlachtfeldern das Blut floss, saß Naumann am Schreibtisch und schrieb: „Während ich dies hier schreibe, wird im Osten und Westen gekämpft. Absichtlich schreibe ich mitten im Krieg, denn nur im Krieg sind die Gemüter bereit, große umgestaltende Gedanken in sich aufzunehmen.“26 Naumann wusste, was es heißt, in Kriegszeiten ein in formaler und inhaltlicher Sicht einzigartiges Buch auf den Markt zu bringen. Und er war sich auch der Wirkung seiner darauf folgenden Auftritte als Redner bewusst. So begann dessen Charisma der Rede erneut zu wirken: „Eines Tages las ich in den Zeitungen, daß der deutsche Reichstagsabgeordnete Friedrich Naumann in Brünn angekommen sei, um einen Vortrag über Mitteleuropa zu halten. […] Sein Vortrag war ein großes Ereignis. Die ganze ‚gute Gesellschaft‘ war da, natürlich nur die deutsche, und seine vollendende Redekunst, die ich oft bewundert hatte, machte einen starken Eindruck. […] Bei Naumann hatte der Beifall gerauscht.“27 Wie in den vorigen Kapiteln schon dargestellt, wurden Naumanns Auftritte als öffentliche Ereignisse wahrgenommen, bei denen die Menge tobte. Um Naumanns Erfolg besser verstehen zu können, bedarf es noch eines genaueren Blickes auf die besondere historische Situation. Der Erste Weltkrieg kann nach Weber als charismatische Situation par excellence angesehen werden: es herrschte eine „psychische, 23 24 25 26 27
BArch R 901/71899, Bl. 14, Carl Meyer [Deutscher Hilfsverein Zürich] an {die Kaiserlich Deutsche Gesandtschaft?}, am 5. März 1918. Hermann Oncken, Das alte und das neue Mitteleuropa. Historisch-politische Betrachtungen über deutsche Bündnispolitik im Zeitalter Bismarcks und im Zeitalter des Weltkrieges, Gotha 1917, S. IX; vgl. dazu schon Frölich, Mitteleuropa (wie Anm. 15), S. 243. BArch, Nachlass Friedrich Naumann, N 3001/48, Blatt 89, {?} an Margarethe Naumann am 3. September 1919. Naumann, Mitteleuropa (wie Anm. 1), S. 1. Friedrich Stampfer, Erfahrungen und Erkenntnisse. Aufzeichnungen aus meinem Leben, Köln 1957, S. 201 f.
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physische, ökonomische, ethische, religiöse, [und] politische Not.“28 Eine Notsituation, in der Naumann als politischer Führer zusehends wahrgenommen wurde. Friedrich Naumann war durch die Schrift im Kriege zweifelsohne auf dem Höhepunkt seiner Wirkungsmächtigkeit. Zudem wurden seine rhetorischen und schriftstellerischen Fähigkeiten das erste Mal grenzübergreifend wahrgenommen. Besonders in Österreich, wo Naumanns Kriegsschrift aus gegebenen Anlass besonders intensiv gelesen wurde, strömten die Menschen zu Naumanns Lesungen. So bemerkte der einstige Naumannianer Gustav Stresemann, dass es vor allem die Deutsch-Österreicher waren, welche Naumanns Werk ‚Mitteleuropa‘ geradezu als Erlösung empfanden und ihn aufgrund dessen ausgiebig feierten.29 In der österreichischen „Danzer’s Armeezeitung“ wurde Naumanns Buch ‚Mitteleuropa‘ als eine „epochemachende Arbeit“ rezipiert: „Mit jener überlegenen Sachkenntnis und mit jenem sicheren Urteil, entwickelt der Führer der Nationalsozialen Partei [!] im Deutschen Reiche – er steht hier aber hoch über den Parteien! – das Problem von allen Seiten. Er erkennt hellseherisch die Notwendigkeit des engeren wirtschaftlichen und militärischen Zusammenschlusses der beiden großen mitteleuropäischen Mächte zu einem starken zentralen Kern und wirkt mit Aposteleifer für die Verbreitung seiner Erkenntnisse.“30 Der über den Parteien stehende Führer des NaumannKreises wusste, dass er den richtigen Ton getroffen hat. Am 7. November des Jahres 1915 sprach Naumann im Hochschullehrer-Verein im Riedhof bei Wien über sein ‚Mitteleuropa‘. Der deutschnationale Politiker Josef Redlich vermerkte hierzu in sein Tagebuch: „Samstagmittag Friedrich Naumann bei mir zum Speisen und dann bis [16.30] Uhr. Ein großer reiner Mann.“31 Die österreichische Presse berichtete von nun an auch über dessen Auftritte in Deutschland. Über zwei Seiten schrieb etwa die ‚Tiroler Soldaten-Zeitung‘ über einen Vortrag Naumanns. Naumann war nun der „bekannte Verfasser des Werkes ‚Mitteleuropa‘“32. Naumanns Werk ‚Mitteleuropa‘ wirkte gerade in den deutschsprachigen Teilen Österreichs; immer mehr Deutsch-Österreicher begannen sich für den einstigen Pastor zu interessieren. Neben dem bereits erwähnten österreichischen Lyriker Hugo von Hofmannsthal33 gilt 28 29 30 31
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Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Herrschaft, hg. v. Edith Hanke, in: Ders.: Gesamtausgabe (Band I/22–4), Tübingen 2005, S. 460. Vgl. Gustav Stresemann, Zum Tode Friedrich Naumanns, in: Ders., Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles. Reden und Aufsätze von Dr. Gustav Stresemann, Berlin 1919, S. 216 f.; vgl. Frölich, Mitteleuropa (wie Anm. 15), S. 262. Einige wichtige neue Bücher, in: Danzer’s Armeezeitung vom 18. November 1915, S. 4 f.; vgl. dazu auch Heuss, Naumann (wie Anm. 3), S. 370. Josef Redlich, Tagebucheintrag vom 8. November 1915, in: Schicksalsjahre Österreichs. Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs 1896–1936. Tagebücher Josef Redlichs 1915– 1936 (Band 2), hg. v. Fritz Fellner u. Doris A. Corradini, Wien/Köln/Weimar 2011, S. 102; dazu schon Günther Ramhardter, Geschichtswissenschaft und Patriotismus. Österreichische Historiker im Weltkrieg 1914–1918, München 1973, S. 37. Weltmächte. Vortrag von Dr. Friedrich Naumann, in: Tiroler Soldaten-Zeitung vom 8. Januar 1916 (Literarische Beilage), S. 9 f. BArch, N 3001, Nr. 16, Blatt 109 f., Hugo von Hofmannsthal an Friedrich Naumann am 21. Dezember [1915?]: „Indessen ist ihr Buch Mitteleuropa erschienen, das alles diese Dinge mit unendlich viel {Tact?}, Menschlichkeit und Weitblick an ihre richtige Stelle rückt, zum größten
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es in erster Linie den späteren österreichischen Bundespräsidenten Karl Renner zu erwähnen, der auf Grund Naumanns Konzeption von ‚Mitteleuropa‘ zu dessen Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ gestoßen war, um dort unter dem Pseudonym Rudolf Springer selbst Artikel zu verfassen.34 Oder den Nationalökonomen Gustav Stolper, der Naumann das erste Mal auf einer Reise in Deutschland im Jahre 1915 kennenlernte. Die „schicksalhafte Begegnung“ zwischen Naumann und Stolper könnte man sich folgendermaßen vorstellen: „Als Stolper in seinen frühen Zwanzigerjahren die deutsche öffentliche Szene zu betrachten unternahm, stand der über Fünfzigjährige als ragende politische Figur eigener Prägung in voller Statur da, im Kreise einer wachsenden Anhängerschaft beschwingter Freunde und Jünger.“35 Stolper selbst schrieb in einem Brief über die Wirkungsmächtigkeit Naumanns: „Donnerstag Abend bei Naumann in der Urania. Vortrag inhaltlich nicht sehr reich, aber daß der größte deutsche Redner wahrscheinlich auch der herrlichste deutsche Mensch ist, wirkt wunderbar tröstlich. […] Ich will zu seinem Ruhm beitragen, was ich vermag.“36 Naumanns Vorträge in der Urania wurden in einer kleinen Schrift mit dem Titel „Kriegsgedanken zur Welt- und Seelengeschichte“37 publiziert. Im selben Jahr veröffentlichte Stolper sein Buch mit dem Titel „Das mitteleuropäische Wirtschaftsproblem.“38 Gustav Stolper war nicht der einzige Naumannianer, der Naumanns ‚Mitteleuropa‘ aufgriff. Ernst Jäckhs ‚Mitteleuropa‘ reichte beispielsweise bis in den Orient: „Dieses Mitteleuropa […] die neue Einheit des alten Habsburgischen Reichs deutscher Nation und des alten Osmanischen Reiches türkischer Nation, einst durch die Donau in diese beiden Reiche und Teile getrennt, dann nördlich und südlich je in einzelne Volksteile aufgelöst, jetzt endlich und innerlich als ein Weltteil zusammengefügt, in dem die Völker als verschiedene Organe zum einheitlichen Organismus einer Welt zusammenwachsen.“39 Als Ernst Jäckh den Vortrag auf der Jahresversammlung des Deutschen Werkbundes in Bamberg am 14. Juni des Jahres 1916 hielt, lagen die türkischen Siege bei Gallipoli nur wenige Monate zurück. Es darf jedoch nicht unterschlagen werden, dass es auch viele kritische Stimmen zu dem „politischen Verwandlungskünstler“ Naumann und dessen Werk ‚Mitteleuropa‘ gab: „Nun hatte auch die schöne Gartenstadt an der Mur ihr Ereignis. […] Vor einer tausendköpfigen Menge [sprach] Friedrich Naumann über sein Mitteleuropa, natürlich unter dem stürmischen Beifall seiner Zuhörer. […] Die glänzende Beredsamkeit dieses ‚interessanten‘ Mannes kann aber denkende Menschen doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß er eine Sache verficht, die einfach aussichtslos ist und
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Komplex verknüpft, nichts erledigt, aber alles klärt und ermöglicht nur für uns Österreicher {?} mehr noch als eine Publikation, ja eine richtige geistige und politische {Wohltat?} bedeutet.“ Vgl. Jacques Hannak, Karl Renner und seine Zeit. Versuch einer Biographie, Wien 1965, S. 224–232; vgl. auch Heuss, Naumann (wie Anm. 3), S. 361. Toni Stolper, Ein Leben in Brennpunkten unserer Zeit: Wien, Berlin, New York/Tübingen 1960, S. 92 f. Ebd., S. 94 f.; vgl. dazu auch den Artikel „Abg. Dr. Friedrich Naumann in der Urania“, in: Oesterreichische Volkszeitung vom. 6. November 1917, S. 5. Friedrich Naumann, Kriegsgedanken zur Welt- und Seelengeschichte, Wien 1917. Gustav Stolper, Das mitteleuropäische Wirtschaftssystem, Wien 1917. Ernst Jäckh, Werkbund und Mitteleuropa, Weimar 1916, S. 6 f.
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immer bleiben wird. […] Ein solcher Mann ist und bleibt trotz seiner glänzenden Gaben ein falscher Prophet für das deutsche Volk, vor dem nicht genug gewarnt werden kann.“40 Naumann polarisierte. Für die einen war er auf Grund seiner Beredsamkeit ein Führer, für die anderen hingegen ein Demagoge und Agitator. Wovon handelte Naumanns ‚Mitteleuropa‘? Naumann wollte im Zuge des Verlustes der deutschen Kolonien die überseeische Weltpolitik durch die europäische Kontinentalpolitik ersetzen und zog quasi eine neue ‚großdeutsche‘ Lösung in Betracht.41 Naumann selbst fasste seine Schrift mit folgenden Worten zusammen: „Das, wovon ich reden will, ist das Zusammenwachsen derjenigen Staaten, die weder zum englisch-französischen Weltbunde gehören, noch zum russischen Reiche, vor allem aber ist es der Zusammenschluss des Deutschen Reiches mit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie.“42 ‚Mitteleuropa‘ war eine Frucht des Weltkrieges; ein Versuch, das Kämpfen und Sterben mit Sinn auszustatten. Es war zugleich eine „Politik des Schützengrabens“43, wie Naumann das Werk in einer publizistischen Vorbereitung einmal passend bezeichnet hatte. Naumann schrieb sein ‚Mitteleuropa‘ kurz nach der Schlacht bei Tannenberg; sozusagen in Siegeslaune. „Inzwischen sind viele treue Kinder Mitteleuropas weiterhin in den Tod gegangen oder verwundet worden, viele gute, edle Menschen, die ein Leben vor sich hatten. Sie starben aber nicht vergebens, denn unsere gemeinsamen Heere drängten den Feind vor sich her, machten Galizien frei und lösten die Polen vom hundertjährigen russischen Bann. Vom Mai an dauert der Vormarsch. Unter den Nachrichten dieses größten siegreichen Angriffs der Weltgeschichte ist diese Arbeit gewachsen. […] Mitteleuropa ist Kriegsfrucht. Zusammen haben wir im Kriegswirtschaftgefängnis gesessen, zusammen haben wir gekämpft, zusammen wollen wir leben.“44 So endete Naumanns ‚Mitteleuropa‘ mit einem kleinen Hoffnungsschimmer. Naumanns Buch ‚Mitteleuropa‘, so erfährt man in einem Brief an den Verleger Karl Robert Langewiesche, war also auch eine Art Masterplan für die Zeit nach dem Krieg. Es war eine Programmschrift sowohl für die Gegenwart, als auch für die ungewisse Zukunft: „Ihr freundlicher Brief vom 17. Februar hat zunächst warten müssen, bis ich aus Österreich-Ungarn zurückgekehrt bin, dann aber hat er mit ziemliches Kopfzerbrechen gemacht, denn ich bin gegenwärtig sehr voll von einem anderen Plan. Ich will hinter Schluss des Reichstage, also im April, an die Arbeit gehen, um ein Buch mit der Überschrift Mitteleuropa zu schreiben, das den Ausgang des Krieges mit vorbereiten hilft. […] Immerhin hat dieses Buch Mitteleuropa nur einen Zweck, wenn es zum richtigen geschichtlichen Zeitpunkt erscheint.“45 40 41 42 43 44 45
Naumann in Graz und Wien, in: Deutsche Presse. Zeitung für alldeutsche Politik vom 5. November 1916, S. 3 f. Vgl. Theiner, Naumann (wie Anm. 19), S. 240. Naumann, Mitteleuropa (wie Anm. 1), S. 1. Friedrich Naumann, Die Politik des Schützengrabens, in: Ders., Werke (Vierter Band, Schriften zum Parteiwesen und zum Mitteleuropaproblem), bearb. v. Thomas Nipperdey u. Wolfgang Schieder, Köln/Opladen 1966, S. 468–471. Naumann, Mitteleuropa (wie Anm. 1), S. 262 f. BArch N 3001, 112, Bl. 11 f., Friedrich Naumann an Karl Robert Langewiesche am 3. März 1915.
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Innerhalb nur kurzer Zeit verkaufte sich dieses umstrittene, doch ohne Zweifel erfolgreichste Werk Naumanns über hunderttausenmal und war schon im Jahr 1916 als ‚Volksausgabe‘ im Buchhandel erhältlich. Nach Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“46 der größte Sachbucherfolg im Kaiserreich.47 Ein schriftstellerischer Erfolg, der seinesgleichen suchte. Immer wieder musste Naumann sein ‚Mitteleuropa‘ erweitern, um auf die neue Kriegslage zu reagieren. So etwa als Bulgarien sich auf die Seite der Mittelmächte stellte: „Als ich noch vor einem Jahre mein Buch ‚Mitteleuropa‘ schrieb, konnte ich noch nicht von Bulgarien reden, denn damals war für die europäische Öffentlichkeit die Haltung dieses Staates noch völlig zweifelhaft. […] Während ich nun die dadurch geschaffene Erweiterung des mitteleuropäischen Gedankens hier zu erörtern unternehme, sitze ich am Schreibtisch des glänzenden Dampfers Herzogin Sophie von der königlichen Ungarischen Fluß- und Seeschiffahrtsgesellschaft und fahre von Belgrad aus nordwärts bis Budapest.“ Einführende Worte, die mehr nach einem Reiseführer klingen, als nach einer Auseinandersetzung mit dem wirtschaftspolitischen Gebilde ‚Mitteleuropa.‘ Seine erweiterte Schrift endete mit einem euphorischen Ausruf: „Wenn dieser Völkerbund zu wachsen beginnt, dann war der Tod unzähliger Tapferer nicht vergeblich; denn es entsteht für Kind und Kindeskind, eine breite, weite, wohlgesicherte Heimat für Völker, die nicht russisch und englisch zu sein vermögen und doch in der Welt noch etwas bedeuten wollen. Sie schließen sich zusammen und tragen Last und Freude gemeinsam. Einen herzlichen Gruß allen Waffenbrüdern am Rhein, an der Donau, an der Mariza und am Euphrat!“48 Schon vor ‚Mitteleuropa‘ veröffentlichte Friedrich Naumann in der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ markante und von der Naumann-Forschung nur am Rand wahrgenommene Kriegsprosa: „Weihnachten! Jetzt lebt der Krieg, er will auch noch weiter leben, denn noch ist er nicht durchgefochten.“ Und weiter schrieb der Kriegsprediger Naumann: „Dieselbe Hand, die heute Abend die Weihnachtskerze vorsichtig an den Rand des Grabens aufstellt, damit sie dort traulich glimme, schießt morgen den Feind, sobald er sich zeigt. Ob das systematisch zusammenpasst, ist dabei gleichgültig, denn in diesem wunderbaren Jahre leben wir nur praktisch.“49 Friedrich Naumann ist zu einem Prediger auf dem Schlachtfeld geworden. Ein Jahr später setzte er sich in der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ mit dem Tod auseinander: „Sterben fürs Vaterland, denn darin liegt einesteils ein naturhafter Stammesgedanke und andererseits ein geistiges Kulturziel. Man stirbt für das Volk, weil es ist und weil es noch etwas Besseres werden soll, für die gemeinsame Existenz und für die gemeinsame Entfaltung.“ Weiter schrieb Naumann in diesem pathetisch und sakral 46 47 48 49
Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, in: Gesammelte Werke (Band 4), hg. v. Michael Epkenhans und Holger Afflerbach, Paderborn 2012. Vgl. Schieder, Mitteleuropaproblem (wie Anm. 2), S. 385 u. S. 486; vgl. auch Heuss, Naumann (wie Anm. 3), S. 363 u. S. 486. Friedrich Naumann, Bulgarien und Mitteleuropa, Berlin 1916, S. 1 u. S. 57. Friedrich Naumann, Weihnachten 1914, in: Ders., Werke (Erster Band, Religiöse Schriften), bearb. v. Walter Uhsadel, Köln/Opladen 1964, S. 847 f.; dazu schon Frank Fehlberg, Protestantismus und Nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politisches Denken um Friedrich Naumann (zugl. Diss. 2011), Bonn 2012, S. 398, Fußnote 281.
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anmutenden Ton: „Es siegt nicht nur die Leistung und Bewaffnung, es siegt das Innerliche, das den Tod überwindet. […] Es könnte mancher Glaubensverkünder etwas lernen vom Kriegsglauben.“50 Als er im Jahre 1917 die Ostfront kurz vor dem deutschen Sieg besuchte, hatte Naumanns Kriegsprosa ihren formalen Höhepunkt erreicht. Der Krieg ist für Naumann zu einer Art modernen Kunstwerk geworden, in dem sich Mensch und Maschine in der vom Krieg bearbeiteten Naturlandschaft die Hand reichen: „Die Menschen werden Diener ihrer Apparate und leben für sie. Um der Kanone nahe sein zu können, graben sie sich ein, wie wohl vor Zeiten die alten Römer bei ihren Belagerungen in Gallien. Das Eingraben aber ist Kunst geworden.“ Friedrich Naumann schien begeistert von der noch nie zuvor dagewesenen Materialschlacht zu sein: „Das große metallene Tier selber wird mit Fichten zugedeckt, damit sein Fell nicht glänzt, vor uns aber enthüllt es seine Glieder und zeigt seine Beweglichkeiten und wunderbare Technik inmitten fast endloser Natur.“ Hätte Naumann nach einem Besuch an der Westfront ein ähnlich apokalyptisches Bild gemalt? „Ihm [dem Naturmenschen] gefällt es hier draußen ganz gut, und ohne viel darüber zu sagen, kann man doch auch hier viel sehen: Bäume, Vögel, Wacholderbüsche, Preißelbeeren, Mäuse, Eichhörnchen, und außerdem sorgt der Russe dafür, daß man immer etwas zu schaffen hat. […] Die größte Lebensgefahr bietet hier zugleich höhere Möglichkeiten des Erlebens. Vieles schleicht daheim in der Luft des rationierenden Genusses nur müde vor sich hin, hier aber wird fröhlich gegessen, kräftiger geflucht, bei Bedarf straffer gearbeitet und, wenn es sein muß, ohne viel Ziererei gestorben.“51 Doch der Erste Weltkrieg bewirkte nicht nur bei Friedrich Naumann eine Verformung der kulturellen Werthaltungen und ästhetischen Ideale. Auch viele andere Künstler, Pfarrer, Intellektuelle und Schriftsteller zeugen mit ihren Schriften und Reden von dieser hier angesprochenen kulturellen Überhöhung des Krieges.52 Neben Naumanns Name findet man noch 92 weitere Namen unter dem sogenannten „Manifest der 93“. Nach dem Krieg schrieb Naumann an den Friedensaktivisten Hans Wehberg: „Nachdem ich den Aufruf an die Kulturwelt aus dem Jahre 1914 gelesen habe, bedauere ich mich, dass ich ihn seinerzeit auf Wunsch von Geheimrat v. List ohne eigene Nachprüfung mitunterzeichnet habe. Das sollte man nicht tun.“53 Ist diese Aussage nach dem bisher Geschilderten glaubwürdig? Setzt man seinen Namen einfach unter ein Manifest, ohne es zuvor gelesen zu haben? Im Ersten Weltkrieg waren Naumanns Schriften in der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ beliebte Lektüre. Naumann versuchte durch die eben zitierten Schilderungen des Frontalltages, dem Krieg einen höheren Sinn zuzusprechen. Denn gerade literari50 51 52
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Ders., Kriegsglaube, in: Ebd., S. 850 f.; vgl. Fehlberg, Protestantismus und Nationaler Sozialismus (wie Anm. 49), S. 407 f. Friedrich Naumann, Besuch an der Front, in: Ders., Werke (wie Anm. 42), S. 596–604; vgl. wieder Fehlberg, Protestantismus und Nationaler Sozialismus (wie Anm. 49), S. 412 f. Vgl. dazu Wolfgang J. Mommsen, Einleitung. Die deutschen kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg, in: Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, hg. v. Wolfgang J. Mommsen, München 1996, S. 1 f.; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 22003, S. 21–26. BArch N 3001, 14, Bl. 257, Hans Wehberg an Friedrich Naumann am 24. April 1919.
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sche Texte – oder auch die Kriegsprosa Naumanns – besitzen die Fähigkeiten, eine Welt zu erzeugen und in das Innerste der Rezipienten vorzudringen.54 So schrieb ein Leutnant im Jahre 1916 beispielsweise an Naumann: „Bei reichlich Arbeit im Felde findet der Offizier und besonders der einer technischen Truppe wenig Zeit, über das nächstliegende hinauszudenken. {Musestunden?} fehlen auch die Anhaltspunkte, um ein geschlossenes Bild über den Sinn dieses unheimlichen Krieges und die Richtung, nach der einmal der ganze Strudel abflauen wird, zu zeichnen. Da ist ein Buch wie ‚Mitteleuropa‘ eine willkommene Gabe, zumal der Aufbau des Buches gestattet, sich mit Einzelgebieten in der Richtung einer großen Idee zu beschäftigen. Gerade die Unterteilung in fast selbstständige Abschnitte ist dem Genuß für den morbiden Soldaten sehr förderlich. Auch wo Zweifel u. Widerspruch entstehen, Dinge, deren man sich sonst im Felde gewaltsam entledigt, zwingt ihr Werk zu eingehendem Studium, denn es stellt sich nach Möglichkeit aus dem Standpunkt des Zweiflers und Gegners. Unter den mir bekannten Offizieren hat sich ihr Werk schon eine Gemeinde erworben, die sich aus Freunden aus Süddeutschland, Zweiflern aus alten Teilen Mitteleuropas u. Gegnern aus Norddeutschland zusammensetzt.“ Über Naumanns Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ schrieb der Kreigsteilnehmer: „Da ist die ‚Hilfe‘ […] der rechte Nothelfer.“55 Naumann war für die Soldaten an der Front und die Bevölkerung der Heimat zu einem Sinnstifter in den Zeiten der Not geworden. Denn durch die Schriften Naumanns über den Krieg konnte der Betrachter am Kriegserlebnis teilhaben und nach Lösungsansätzen suchen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg betonte Naumann, dass die Vollkommenheit des Einzelnen […] auf seinem Gemeinschaftsgefühl“56 beruhe. Die historische Forschung konnte eindrucksvoll zeigen, dass der Erste Weltkrieg Vergemeinschaftungshoffnungen und Partizipationsansprüche freisetzte und erzeugte.57 Diese „politikmächtigen Vergemeinschaftungsenergien“ und „Ordnungsdiskurse“ lassen sich auch auf den Naumann-Kreis übertragen. In diesem Sinne schrieb der politische Publizist Erich Schairer am 21. Dezember 1916 in einem Brief an Friedrich Naumann: „Jetzt wäre die Zeit für die Nationasozialen [sic!] gekommen! Ihre geschichtliche Aufgabe wäre im werdenden Mitteleuropa eine ähnliche gewesen wie die der Nationalliberalen nach 1870, und sie könnten, dessen bin ich gewiss, aus den jetzigen Parteien, von den Konservativen bis zu den Sozialdemokraten, Anhänger um ihre Fahnen scharen. […] Ich meine immer noch, die Hilfe müsste das Organ einer kommenden mitteleuropäischen Regierungspartei, einer neuen natio54
55
56 57
Vgl. dazu Wolfram Pyta, Der Erste Weltkrieg und seine Folgen in Deutschland und Frankreich. Kulturelle Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen 1914–1933, in: Union sacrée. Literarische Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frankreich 1914–1933, hg. v. Wolfram Pyta u. Carsten Kretschmann, München 2011, S. 1–31, hier S. 14 f. Nachlass Naumann, N 3001, Nr. 9, Bl. 86, Brief Roeslers an Naumann vom 4. April 1916; vgl. dazu schon Ursula Krey, Demokratie durch Opposition. Der Naumann-Kreis und die Intellektuellen, in: Kritik und Mandat. Intellektuelle in der Deutschen Politik, hg. v. Gangolf Hübinger u. Thomas Hertfelder, Stuttgart 2000, S. 71–92, hier S. 86. Friedrich Naumann, Das Blaue Buch von Vaterland und Freiheit. Auszüge aus seinen Werken, Leipzig 1913, S. 104. Vgl. dazu wieder Pyta, Sammelband (wie Anm. 54), S. 10 u. S. 12; vgl. auch Naumann, Mitteleuropa (wie Anm. 1), S. 11, hier: „Der Krieg vereint.“
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nasozialen [sic!] Partei (wie ausgezeichnet würde der Name passen!) werden. Sie ist es ja in gewissem Sinne schon jetzt und während des Krieges mehr und mehr geworden, aber es ist eine unsichtbare Gemeinde […].“58 Zudem waren auch Naumanns Ideen von einer Demokratie im Kaiserreich aktueller denn je. Sein Kampf gegen das Dreiklassenwahlrecht in Preußen trug nun die ersten Früchte. Hatte der Erste Weltkrieg nicht noch viel mehr erreicht, wofür Naumann all die Jahre zuvor gekämpft hatte? Gab es nicht letzten Endes für circa 30 Tage das politische Gebilde, was Naumann schon vor mehr als zwanzig Jahren heftig propagierte? Ein nach innen geeintes Reich, umrahmt von Parlament und Kaiser? War das nicht Naumanns Idee von Demokratie und Kaisertum? Ganz in diesem Sinne schrieb Goetz in sein Tagebuch: „Die ganze Lage in Berlin für unseren Kreis von höchster Gunst. […] Freilich – Naumann war der Prophet dieser Zeit; sein ‚Demokratie und Kaisertum‘ erfüllt sich während des Krieges und so steigt er von selber in den Vordergrund unseres politischen Lebens. Sein ‚Mitteleuropa‘ hat ihm dann den Weg gebahnt.“59 Während der Revolution verfasste Goetz in der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ einen Aufruf an alle Naumannianer: „Laßt uns der Vergangenheit denken, wo wir unter Friedrich Naumanns Führung unser Werk begannen und im Sturmtrupp neuer Gedanken waren, laßt uns vergessen, was den und jenen im Lauf der Jahre von uns trennte, laßt uns nicht grübelnd vorwegnehmen, was die Zukunft vielleicht wieder an Trennenden bringen könnte – laßt uns jetzt wieder die alten Freundeshände ergreifen und sie in dem Bewußtsein schütteln, daß die alten Ideale jetzt zur Pflicht des Augenblicks geworden sind!“60 Der Naumann-Kreis wuchs durch den Ersten Weltkrieg wieder enger zusammen. Auch für diejenigen Naumannianer, die sich nach der Auflösung des Nationalsozialen Vereins von ihm getrennt hatten, schien jetzt der Zeitpunkt gekommen, wieder von vorne anzufangen: „Seit 15 Jahren haben wir in verschiedene, teilweise in gegnerischen Lagern gestanden. Aber haben wir nicht immer das Bewusstsein behalten, dass wir eigentlich doch zusammen gehören? Jener junge Kreis, in dem wir in jüngeren Jahren gemeinsam gearbeitet haben, blieb doch unsere seelische Heimat […]. Wir wollen keine nationalsoziale ‚Partei‘. Das war der Ur = und Grundfehler unserer früheren Arbeit, dass wir ‚Partei‘ werden wollten und damit alle Parteien gegen uns aufbrachten. Wir wollen eine Gesinnungsgemeinschaft sein […].“61 Der Naumann-Kreis, so lässt sich an dieser Stelle zusammenfassen, erlebte durch den Ersten Weltkrieg eine Renaissance und ging gefestigter denn je aus den Kriegsereignissen hervor. Der Erfolg der Programmschrift ‚Mitteleuropa‘ und das daraus sich ergebende vermehrte öffentliche Interesse an Naumann wirkte auf die Naumannianer zwangsweise vergemeinschaf58 59 60 61
Nachlass Naumann, N 3001, Nr. 9, Bl. 85, Brief Schairers an Naumann vom 21. Dezember 1916. Walter Goetz, Tagebucheintrag vom 3. November 1917, zitiert nach Wolf Volker Weigand, Walter Wilhelm Goetz 1867–1958. Eine biographische Studie über den Historiker, Politiker und Publizisten, Boppard am Rhein 1992, S. 171. Walter Goetz, An die alten Freunde!, in: Die Hilfe (24) 1918, S. 570. BArch Koblenz, Nachlass Traub N 1059, 43, Fol. 182 f., Max Maurenbrecher, August Pfannkuche, Gottfried Traub, An die Mitglieder und Freunde des ehemaligen Nationalsozialen Vereins! Vgl. dazu schon Inho Na, Sozialreform oder Revolution. Gesellschaftspolitische Zukunftsvorstellungen im Naumann-Kreis 1890–1903/04, Marburg 2003, S. 263.
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tend. Der Krieg hatte auch die Naumannianer wieder in Bewegung gesetzt. Während des Ersten Weltkrieges musste Naumann jedoch eingestehen, dass sein Körper die beruflichen Strapazen nicht mehr auszuhalten vermochte. Die erschwerten Lebensbedingungen im Reich und seine durch ‚Mitteleuropa‘ aufkommende Popularität brachten den Körper Naumanns an seine Grenzen. Am 25. März des Jahres 1960 wäre Naumann hundert Jahre alt geworden. Auf einer Gedächtnisveranstaltung anlässlich dieses Ereignisses hielt der nunmehr sich im Ruhestand befindende Naumannianer Theodor Heuss in Heilbronn ein Rede. Neben einigen Erinnerungen und Anekdoten über seinen Ziehvater, kam Heuss unter anderem auch auf die Zeit während des Ersten Weltkrieges zu sprechen: „Naumann ist an dem Krieg physisch zu Grunde gegangen. Er war ein Mensch von großer, fülliger Statur, 54jährig, als der Krieg begann, ein in den Kleidern schlotternder Greis, als das Ende kam.“62 Noch deutlicher wurde Heuss in seinen 1963 erschienenen Erinnerungen: „Der Krieg hatte mir, wie jedem meiner Generation, nahe Freunde geraubt, die Familie hatte er verschont. Doch an seinen Folgen starb im Spätsommer 1919 zu unserer jähen Bestürzung Friedrich Naumann, erst neunundfünfzigjährig. […] Es war bislang der stärkste menschliche Verlust, den ich so unvorbereitet erlebt hatte – denn er hatte von den späteren Knabenjahren mein wie auch Ellys Leben und Gesinnungen nicht nur beeinflußt, sondern bestimmt.“63 Nicht nur die Naumannianer betonten Naumanns angeschlagene Physis, auch andere Zeitgenossen verwiesen auf Naumanns angeschlagenen Körper. So vermerkte beispielsweise der Schriftsteller Alfons Paquet am 23. Oktober 1918 in sein Tagebuch, dass „Naumann, […] ganz veraltet, dürr und zerstört aussieht.“64 Ähnlich umschrieb der dänische Politiker und Journalist Hans Peter Hanssen den körperlichen Verfall Naumanns in seinem Tagebuch: „Naumann was much disturbed. His forehead was covered with big drops of sweat. […] The last few days have been hard on him. His face is furrowd with even deeper lines.“65 Betrachtet man neben den schriftlichen Überrestquellen noch die überlieferten Lichtbilder von Naumann aus den Kriegsjahren und danach, stimmt man dem Naumannianer Heuss ohne wenn und aber zu.66 Nach dem Ersten Weltkrieg sah Naumann aus, wie ein zusammengefallener kranker Mann. Man muss daher ohne wenn und aber sagen: Der Erste Weltkrieg war maßgebend für den gesundheitlichen Verfall Friedrich Naumanns verantwortlich. Auch der Mitbegründer der ‚Bekennenden Kirche‘ schrieb 62 63 64
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Theodor Heuss, Friedrich Naumann und sein Vermächtnis an unsere Zeit, in: Axel Hans Nuber, D. Friedrich Naumann. Katalog der Gedächtnisausstellung in Heilbronn anläßlich seines 100. Geburtstages am 25. März 1960, Heilbronn 1962, S. 25. Theodor Heuss, Erinnerungen 1905–1933, Tübingen 1963, S. 171 f. Alfons Paquet, Tagebucheintrag vom 23. Oktober 1918, in: Von Brest-Litovsk zur deutschen Novemberrevolution. Aus den Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen von Alfons Pauets, Wilhelm Groener und Albert Hopman. März bis November 1918, hg. v. Winfried Baumgart, Göttingen 1971, S. 195. Tagebucheintrag vom 5. Oktober 1918, in: Hans Peter Hanssen, Diary of a Dying Empire, Indiana 1955, S. 327. Vgl. dazu eine der letzten Aufnahmen von Friedrich Naumann, in: Zeitbilder. Beilage zur Vossischen Zeitung vom 31. August 1919, Titelseite; vgl. auch „Das letzte Bild“ von Friedrich Naumann, in: Nuber, Naumann Katalog (wie Anm. 60), Heilbronn 1962, S. 78.
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Friedrich Naumann als Redner in einer Frauenversammlung, in: Zeitbilder. Beilage zur Vossischen Zeitung vom 31. August 1919, Titelseite
in seinen Erinnerungen aus dem englischen Exil: „My starting-point in the undertaking is the man who seems to have remained on the whole little known in England: Friedrich Naumann, a protestant clergyman. […] His programme was a kind of summons of missionary vigour. As I listened to him in Frankfort in 1904 he filled me with enthusiasm. […] The last time I saw Naumann was in November 1918. He was wearing that enormous broad-brimmed black hat of his and walking through the deserted lobbies of the reichstag, a patheitc picture of utter helplessness.“67 Für die Naumannianer kam das gerade recht. Nun konnten sie schon zu Lebzeiten an ihrem Naumann-Mythos arbeiten und Naumann als Leidensmann porträtieren. Naumann konnte so als Abbild des kriegsleidenden deutschen Volkes dargestellt werden. Auch der Naumannianer Hellmut von Gerlach schilderte den Verfall des korpulenten Körpers von Friedrich Naumann während des Ersten Weltkrieges eindrucksvoll: „Ich traf Naumann noch von Zeit zu Zeit. Er sah körperlich immer jämmerlicher aus. Der starke Mann, der zu seiner Ernährung das Doppelte eines Durchschnittsmenschen brauchte, hielt sich aus Patriotismus streng an die Rationierungsvorschriften. So verfiel er. Als er im dritten oder vierten Kriegsjahr notgedrungen dies System aufgab und Vorträge nur noch gegen Naturalien übernahm, da war es zu spät. Sein vorzeitiger Tod ist zweifellos durch die Entbehrung verursacht worden, die er sich in patriotischer Askese auferlegt hat.“68 Eine einfühlsame Interpretation des Naumannianers Hellmut von Gerlach. 67 68
Hans P. Ehrenberg, Autobiography of a German Pastor, London 1943, S. 89–91. Hellmut von Gerlach, Erinnerungen eines Junkers, Berlin 1924, S. 94–95; die sonderbare Vorgeschichte lautet: „Ein paar Monate später hatte ich Hasen von der Jagd mitgebracht. Meine
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Naumann litt seit seiner Kindheit an einer asthmatischen Krankheit. Auf Grund dieser chronischen Atemwegserkrankung konnte er keine großen Wanderungen unternehmen, wurde vom Militärdienst freigestellt und musste gar kurzzeitig um seine berufliche Karriere bangen.69 Obwohl sich Naumanns gesundheitlicher Zustand nach dem Studium ein wenig verbessert hatte, musste er doch zeitlebens auf seinen Körper achtgeben. In einer Laudatio auf Friedrich Naumann aus dem Jahre 1898 hieß es dazu: „Leider ist er nicht so gesund wie er aussieht: ein starkes Asthmaleiden quält ihn, hemmt häufig seine Schaffenskraft und belastet ihn auch mitunter mit nervösen Depressionen. Um so bewundernswürdiger ist seine bisher geleistete Arbeit. Sein Wille zwingt seinen kranken Körper.“70 Schon am 14. März des Jahres 1916 brach Naumann während einer Sitzung des ‚Ausschusses für Mitteleuropa‘ zusammen. Viele seiner engsten Vertrauten waren sichtlich um ihn besorgt. Am stärksten Max Weber, der gleich seiner Frau schrieb: „Naumann liegt noch zu Bett, ich gehe übermorgen hin ihn zu bereden, in den „Weißen Hirsch“ [ein Sanatorium bei Dresden] zu gehen. Einen Arzt läßt ja diese unglaubliche Frau nicht an ihn heran, selbst wenn er es thäte. Und diese Ohnmacht bedeutete doch einen tüchtigen Erschöpfungszustand, wenn auch nichts bedenkliches.“71 In einem drei Monate später aufgesetzten Brief dachte Weber noch immer, dass Naumann dringend Erholung benötigte.72 Der umtriebige Redner hätte sich diese Auszeit gönnen müssen, denn drei Jahre später starb er auf Grund der Belastungen an einem Schlaganfall. Auch Friedrich Naumanns Bruder Johannes hob in seiner Lebenserinnerung hervor, wie sich Naumanns Körper während der Kriegsjahre verändert hatte: „Es erschreckte uns, wie sehr er körperlich zusammengefallen war. Mit seinem riesenhaften Körper hatte er die Entbehrung der Unterernährung nicht ohne Schaden überstehen können, zumal er sich aus Pflichtgefühl strenger als die meisten anderen an die gesetzlichen Vorschriften hielt.“73 Auffallend ist, dass Naumanns Bruder Johannes davon ausging, Friedrich Naumann habe aus Opferbereitschaft nur das Nötigste zu sich genommen. Der Soziologe Wolfgang Lipp verdeutlicht in seiner Habilitationsschrift, „dass charismatische Prozesse auf Selbststigmatisierung beruhen“ und „Charisma und
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Frau wollte Naumann einen davon schicken. Sie telephonierte ihm deshalb. Er erwiderte: ‚Ehe ich Ihnen eine Antwort darauf gebe, muß ich fragen, ob es wahr ist, daß Sie unfreundlich über das Vaterland gesprochen haben‘. Meine Frau war starr. Sie hatte ja nur einem Freunde Naumanns gegenüber ihrem Abscheu gegen den Krieg Ausdruck gegeben. Sie erwiderte: ‚Ich sehe nicht ein, was der Hase mit dem Krieg zu tun hat. Wollen Sie ihn haben oder nicht?‘ Naumann bestand darauf, daß erst die Vaterlandfrage geklärt werde. Worauf meine Frau anhängte.“ Vgl. Margarete Naumann, Friedrich Naumanns Kindheit und Jugend, Gotha 1928, S. 57 u. S. 74. Paul Göhre, Friedrich Naumann. Eine Skizze, in: Die Gesellschaft. Halbmonatsschrift für Literatur, Kunst und Sozialpolitik, Jahrgang 1898. Zweites Quartal, S. 745 f. Max Weber an Marianne Weber am 16. März 1916, in: Weber. Briefe (wie Anm. 16), S. 346. Vgl. Max Weber an Marianne Weber am 6. Mai 1916, in: Ebd., S. 408. Johannes Naumann, Wie wir unseren Weg fanden. Lebenserinnerungen eines Schwesternhausrektors, Gotha 1929, S. 229 f.
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Stigma zusammengehören.“74 Im Folgenden wird der Versuch unternommen, diesen Ansatz auf Friedrich Naumann zu übertragen. Naumann wurde von seinen Jüngern oft auf Grund seines „asketisch disziplinierte[n] Tatsachensinn[s]“75 bewundert. Lipp versucht in seiner Schrift Selbststigmatisierung typologisch zu präzisieren.76 Die Askese stellt er als eine der vier Haupttypen von sozialer Abweichung dar.77 Askese, so lässt sich allgemein sagen, ist immer ein „Indikator von Mißständen“ innerhalb der Gesellschaft. Asketen, so führt Lipp weiter aus, treten als Seismograph eines übergeordneten Prinzips in die Öffentlichkeit.78 „An die Stelle von Lebenslust, Verschwendung und Prunk“, so schreibt Lipp, „setzen sie auf Enthaltsamkeit.“79 Asketen wollen auf Missstände hinweisen und projizieren diese sichtbar auf sich selbst. Selbst Max Weber betonte immer wieder, dass Charisma auch auf „Grund der Askese“ entfaltet werden könne.80 War Friedrich Naumann letzten Endes ein charismatischer Asket, der das Unheil des Krieges direkt an seinem eigenen Leibe verkörperte und versinnbildlichen wollte? Um diese Frage zu beantworten, muss der Körper Naumanns mit dem Philosophen Mersch als ein Medium verstanden werden: „Der Körper erweist sich als Schauplatz, an dem unablässig Bedeutung geschaffen, umgesetzt, und vermittelt werden.“81 Diese Bedeutungen des Körpers müssen im Folgenden verdeutlicht werden. Im Februar des Jahres 1915 hielt der Reichstagsabgeordnete Naumann eine viel beachtete Rede im königlich-preußischen Ministerium des Inneren. In der „Kriegsernährungsrede“ Naumanns ging es in erster Linie um die Zwangsvorschriften der Regierung: „Die Selbstzucht am Essen ist besser als patriotisches Reden. Du kannst dem Vaterlande helfen, du und deine Familie. Sei ein Vorbild! Handle so, daß dein Handeln die Richtschnur für das Handeln aller sein kein!“82 Naumann übernahm den Kantschen Imperativ und machte diesen Kernsatz zu dem Imperativ seines eigenen Lebens: Handle verantwortungsvoll und sozial. Nicht egoistische Aspekte bestimmten sein Leben, er richtete sein Handeln an Gemeinschaftsinteressen aus, wie er es schon als Pfarrer gelebt hatte. Dieses Diktum galt auch für ihn als Politiker. War Friedrich Naumann ein Vorbild? Der Historiker Wilhelm Mommsen pflichtete dieser Frage bei, indem er noch im Jahre 1940 schreibt: „Es entspricht im Grunde seiner Eigenart, wenn er, der nicht eigentlich soldatisch dachte, ein ziviles 74 75 76 77 78 79 80 81 82
Vgl. Wolfgang Lipp, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Berlin 1985, S. XII. Johannes Schneider, Friedrich Naumanns soziale Gedankenwelt, Berlin 1929, S. 11. Vgl. Lipp, Stigma (wie Anm. 74), S. 190. Vgl. Ebd., S. 149 f. Ebd. Ebd. S. 152. Max Weber, Umbildung des Charismas, in: Ders., W. u. G. (wie Anm. 28), S. 481. Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materie, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 59. Friedrich Naumann, Kriegsernährungsrede, in: Volksernährung im Kriege. Vorträge, Berlin 1915, S. 267; vgl. zur Lebensmittelversorgung im Ersten Weltkrieg den Aufsatz von Anne Roerkohl, Die Lebensmittelversorgung während des Ersten Weltkrieges im Spannungsfeld kommunaler und staatlicher Maßnahmen, in: Durchbruch zum modernen Massenkonsum. Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters, Münster 1987, S. 309–370.
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Opfer brachte, das unter den Millionen an der Heimatfront kaum einer brachte, der es nicht mußte. Er hielt sich streng an die Vorschriften über Lebensmittel und kämpfte durch das eigene Beispiel gegen die Umgehung der strengen Rationierung, die, wenn sie überhaupt ausreichte, für seinen großen Körper jedenfalls nicht genügte. Naumann hat sich im gewissen Sinne zu Tode gehungert.“83 Nicht nur Mommsen betonte Naumanns Opferbereitschaft. Auch Theodor Heuss bemerkte, dass Naumann ein „Opfer des Hungerkrieges“84 war. Ohne den Bogen der Interpretation überspannen zu wollen, darf man an dieser Stelle doch festhalten, dass Naumann mit seinem ausgemergelten Körper Aufmerksamkeit erzeugte. Asketen, so stellt Lipp weiter fest, „bringen Werte, Wertmöglichkeiten und neue, gerade praktische Ziele zu Bewußtsein, die einleuchten können und parate soziale Gefolgschaften dynamisch an sich binden.“85 Auch wenn Naumann beileibe nicht der einzige war, der durch die Zwangshungerkur des Krieges an leiblicher Fülle verlor, erregte er doch durch seine öffentlich propagierte Askese für Aufsehen. Sein durch den Krieg verursachter Tod war zudem wie geschaffen dafür, dass ein Naumann-Mythos in den Köpfen der Naumannianer entstand, auf den es im übernächsten Kapitel gesondert einzugehen gilt. Zuerst gilt es auf die in der Naumann-Forschung eher stiefmütterlich behandelte unmittelbare Zeit nach dem Ersten Weltkrieg einzugehen, in der Naumanns Idee von einer Demokratie im Kaisertum für kurze Zeit verwirklicht wurde. Naumann schrieb seit jeher über das Verhältnis von Kaisertum und Demokratie: „Der Kaiser führt die Nation als Diktator der neuen Industrie. Indem das Kaisertum aber diese tut,- braucht es die Masse, die Demokratie. Das ist der Entwicklungsgang den unsere deutsche Geschichte gehen wird. Eins nur lässt sich nicht vorhersagen: mit welchen Zwischenstufen, über welche Hindernisse dieser Weg gegangen werden wird. Jetzt ist zwischen Demokratie und Kaisertum noch volle Spannung auf beiden Seiten.“86 Er ahnte noch nicht, dass der Kaiser am 28. November 1918, kurz nach der Ausrufung der Republik, abdankte.
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Wilhelm Mommsen, Zur Biographie Friedrich Naumanns, in: Historische Zeitschrift 3 (1940), S, 539–548, hier S. 543. Heuss, Naumann (wie Anm. 3), S. 360. Lipp, Stigma (wie Anm. 74), S. 155. Naumann, Das Blaue Buch (wie Anm. 56), S. 31.
VIII. DER ÜBERPARTEILICHE PARTEIFÜHRER IN DEN WIRREN DER NACHKRIEGSZEIT (1918–1919) Schon während des Ersten Weltkrieges sprach Friedrich Naumann im Deutschen Reichstag von der Zeit nach dem Großen Krieg: „Wenn nach diesem Krieg das Millionenheer nach Hause kommt, dann bleibt sicher nicht alles genau so, wie es vorher gewesen ist.“ Zum Schluss prophezeite er in dieser umjubelten Reichstagsrede – „stürmischer Beifall und Händeklatschen, auch auf der Tribüne“ – vom 11. Oktober des Jahres 1916: „Der Krieg als Erzieher in seiner Gewalt schafft ein Volk, das anders wird.“1 Nach dieser Rede, so schrieb man posthum, brach Naumann in Tränen aus: „Er hatte seine Arme auseinandergebreitet, als wollte er das auseinanderstrebende Volk umfassen und zusammenhalten. Die Abgeordneten drängten von allen Seiten zur Rednertribüne hin. Auf der Rechten war kein Widerspruch zu hören, man fühlte das Erschauern im ganzen Saal. Dann kam plötzlich eine große Traurigkeit über ihn und er brach in Tränen aus. Eine lähmende Resignation lag in dieser unverstellten Rührung.“2 Naumann verkörperte die Leitbilder einer sich im Krieg befindenden Gesellschaft. Zudem sprach er erneut wie in einer Predigt mit ganzem Körpereinsatz über weltliche Themen, um die Wirkungsmächtigkeit zu erhöhen. Wie in dem vorigen Kapitel schon angedeutet, kann die Atmosphäre während einer Rede Naumanns im Deutschen Reichstag als eine „ergreifende Gefühls[macht]“3 verstanden werden. Die Rahmenbedingungen der stürmischen Kriegs- und Nachkriegszeit waren wie geschaffen für den „Gefühlspolitiker“4 Naumann. Knapp ein Jahr später, im Mai 1917, stand Naumann erneut im Deutschen Reichstag und „segelte mit vollen Segeln in den Völkerfrühling“, wie der Abgeordnete Hermann Kreth von der Deutschkonservativen Partei in seiner Reichstagsrede abfällig behauptete. Für Kreth war Naumanns Rede ein „Trompetengeschmetter“5. Denn Naumann kämpfte an diesem Tag erneut mit seinen Worten für das gleiche, allgemeine und geheime Wahlrecht in Preußen, indem er die Gleichheit des Todes als Garant für ein gleiches Wahlrecht ansah: „Inzwischen wissen wir, was staatserhaltend ist. Das ist die Tüchtigkeit bis an die Grenze des Todes hin, die der Krieg gelehrt hat. In dieser Staatstüchtigkeit hat es keine Klassifikation gegeben, da hat ein einheitliches Volk ohne Klassen sich bewährt. […] Aus den Untertanen werden 1 2 3 4 5
Friedrich Naumann, Rede im Deutschen Reichstag am 11. Oktober 1916, in: Verhandlungen des Reichstags (Band 308. 1916), S. 1722 f. Prinz Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, Berlin/Leipzig 1927, S. 74; dazu auch Hans Voelter, Friedrich Naumann und der Deutsche Sozialismus, Heilbronn 1950, S. 62. Vgl. Gernot Böhme, Architektur und Ästhetik, München 2006, S. 16. Werner Conze, Friedrich Naumann. Grundlagen und Ansatz seiner Politik in der nationalsozialen Zeit (1895–1903), in: Schicksalswege deutscher Vergangenheit. Beiträge zur geschichtlichen Deutung der letzten hundertfünfzig Jahre, Düsseldorf 1993, S. 386. Hermann Kreth, Rede im Deutschen Reichstag am 16. Mai 1917, in: Verhandlungen des Reichstags (Band 310. 1917), S. 3447 u. S. 3448.
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durch den Krieg Bürger, und dieselben Massen, die Träger des Kriegs gewesen sind, wollen auch die Träger des Friedens und wollen die Träger weiterer Erneuerungsgedanken werden. […] So wird es keine irdische Gewalt geben, die hinter diesem Kriege der Gleichheit des Todes dem preußischen Volke eine Ungleichheit des Wahlrechts übrig lassen wird.“6 Naumann sollte mit dieser Prophezeiung recht behalten, auch wenn er von dem Zentrumspolitiker Karl Matthias Schiffer damals eines Besseren belehrt wurde: „Dagegen möchte ich vor seinen Prophezeiungen und Ausblicken einigermaßen warnen. Es ist immer ein mißliches und meist ein unfruchtbares Ding, prophezeien zu wollen, besonders in politischen Angelegenheiten.“7 Eine typische Reaktion: Die einen kritisierten Naumanns Prophezeiungen und die anderen schätzten gerade diese Eigenschaft an ihm. Das Jahr 1918 kann als eines der großen „Umbruchjahr[e]“8 in der neueren deutschen und auch weltweiten Geschichte betrachtet werden. Die Folgen des Ersten Weltkrieges und die damit einhergehenden politisch-gesellschaftlichen Veränderungen waren gravierend. Im Zuge der sich im Herbst anbahnenden deutschen Niederlage an der Westfront und dem sukzessiven Abfallen der Alliierten im Osten zeichneten sich im Deutschen Reich weitreichende verfassungspolitische Reformen an, die den Weg zu einer parlamentarischen Monarchie ebneten. Der Erste Weltkrieg war ein Umwälzer sondergleichen. „Pax durch Max“9 lautete die Devise, die letzten Endes nur vierzig Tage währte. Für diese „Parlamentarisierung des deutschen Nationalstaates unter einer monarchischen Staatsform“10 hatte Friedrich Naumann seit jeher gekämpft. Doch letzten Endes war es die demokratische Republik von Weimar, die für viele als eine Art „Notlösung“11 von 1919 bis zur Ernennung Adolf Hitlers als Reichskanzler im Jahre 1933 existierte. Seit dem 3. Oktober 1918 hatte das deutsche Volk mit Prinz Max von Baden einen neuen Reichskanzler. Wenige Tage später, am 25./26. Oktober, wurde die Regierungsgewalt „parlamentarisiert“12. Am 10. Oktober dieses ereignisreichen Herbstes hielt Friedrich Naumann einen vielbeachteten Vortrag über den „Volksstaat“13 in der Berliner Philharmonie: „In seiner eindringlichen Art, Geschichte mit seiner Persönlichkeit zu beleben“, wie es in der ‚Vossischen Zeitung‘ vom 11. Oktober hieß, 6 7 8 9 10 11 12 13
Friedrich Naumann, Rede im Deutschen Reichstag am 15. Mai 1917, in: Verhandlungen des Reichstags (Band 310. 1917), S. 3426 u. S. 3428. Karl Matthias Schiffer, Rede im Deutschen Reichstag am 16. Mai 1917, in: Verhandlungen des Reichstags (Band 310. 1917), S. 3436. Vgl. dazu Jörg Duppler, Einführung, in: Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, hg. v. Jörg Duppler u. Gerhard P. Groß, München 1999, S. 3 f. Vgl. Wolfram Pyta, Überlebenschancen der Monarchie 1918, in: Geschichte, Öffentlichkeit und Kommunikation, hg. v. P. Merziger, Rudolf Stöber, Esther-Beate Körber, Jürgen Michael Schulz, Stuttgart 2010, S. 363–381, S. 364 f. Wolfram Pyta, Hugo Preuß und die Parlamentarisierung der Monarchie im Ersten Weltkrieg, in: Hugo Preuß 1860–1925. Genealogie eines modernen Preußen (Sonderdruck), Köln/Weimar/Wien 2011, S. 267 Vgl. dazu die Zusammenfassung von Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, München 62002, S. 1. Vgl. dazu ausführlich Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, hier S. 8. Friedrich Naumann, Der Weg zum Volksstaat, Berlin 1918.
130 VIII. Der überparteiliche Parteiführer in den Wirren der Nachkriegszeit (1918–1919) sprach Naumann in Berlin-Kreuzberg über die Chancen einer Parlamentarisierung im Kaisertum.14 Auch der liberale Politiker Conrad Haußmann gehörte zu den Kommentatoren des Vortrages: Der Vertraute Prinz Max von Badens Kurt „H[ahn] und [der Geheimrat] K[urt] R[iezler] sind in dem Vortrag von Naumann über den Volksstaat. Er sehe sehr gealtert aus. Kein Wunder, er hat sein ‚Mitteleuropa‘ begraben müssen.“15 Die Entbehrungen des Krieges nagten weiter an Naumann. Zudem konnte er sich durch seine vermehrten öffentlichen Auftritte keine Ruhe gönnen. Doch nur wer redet, kann auch wirken! An Naumann haftete eben ein zermürbendes Charisma. Charismatiker können sich keine Pause gönnen, zumal Naumann gerade in der Nachkriegszeit sein wichtigsten Trumpf ausspielen konnte: Die politische Partizipation der Massen in einem Kaisertum. Naumanns Idee von einem Volksstaat konnte ab 1918 verwirklicht werden. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen hatten es möglich gemacht! Die Zeit war in den Augen Naumanns nicht nur reif für eine Parlamentarisierung der Reichsleitung und eine Demokratisierung des Wahlrechtes, sondern auch für ein „grundsätzlich neues Verhältnis von Regierung, Staat und Gesellschaft“, für eine Einheit von Volk und Staat.16 Friedrich Naumann war nicht der einzige Politiker, der den Krieg als Katalysator betrachtete, der eine Parlamentarisierung vorantrieb: „Aus Untertanen werden Staatsbürger, im Frieden langsam, im Kriege schnell.“ Naumanns ‚Demokratie und Kaisertum‘ war damit aktueller denn je. So betonte Naumann auf der Rede vom 10. Oktober über den Volksstaat gleich zu Beginn, dass sich Demokratie und Kaisertum am 3. Oktober versöhnt hätten: „Und nun kam der Tag, der merkwürdig war, einfach, aber merkwürdig, wo nämlich auf der einen Seite der Thronfolger einer der ältesten reichsdeutschen Dynastien, Prinz Max von Baden, und auf der anderen Seite Scheidemann, Bauer, Gröber, Erzberger als Volk voll zusammentraten. Der eine als Deputierter Seiner Majestät, die anderen als Deputierte der Massen, und sie gaben sich die Hände: Demokratie und Kaisertum! […] Und diese Einheit wird jetzt angerufen, um aus dem Chaos der Zwiespältigkeit und Vielzügigkeit herauszukommen bis zur Klarheit einer nationalen Politik.“ Naumann hatte sein lang ersehntes Ziel erreicht: „Das parlamentarische Volkskaisertum.“17 Benötigte Naumann also wirklich „das Kaisertum um zu wirken“18, wie der Historiker Alexander Cartellieri in seinen Tagebüchern feststellte? Dass Naumann im Jahre 1918 noch immer an der „Monarchie als Institution“19 festhielt, wurde 14 15 16 17 18 19
Der Volksstaat, Naumann über Demokratie und Parlamentarisierung, in: Vossische Zeitung vom 11. Oktober 1918, S. 3. Conrad Haußmann, Schlaglichter. Reichstagsbriefe und Aufzeichnungen, hg. v. Ulrich Zeller, Frankfurt a. M. 1924, S. 245. Wolfgang Hardtwig, Volksgemeinschaft im Übergang. Von der Demokratie zum rassistischen Führerstaat, in: Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept „Volksheim“ im Vergleich 1900–1938, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 227–253, hier S. 231 f. Zitate aus Naumann, Volksstaat (wie Anm. 13), bes. S. 5 u. S. 11. Alexander Cartellieri am 10. August 1919, in: Ders., Tagebücher eines deutschen Historikers. Vom Kaiserreich bis in die Zweistaatlichkeit (1899–1953), hg. u. bearb. v. Matthias Steinbach u. Uwe Dathe, München 2014, S. 380. Vgl. dazu auch Peter Theiner, Sozialer Liberalismus. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1880–1919), Baden-Baden 1980, hier S. 280 f.
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von den Naumannianern nach der Revolution nicht mehr besonders hervorgehoben. Vielmehr betonten die Naumannianer nun Naumanns Idee eines Volksstaates; das Kaisertum wurde in diesem Kontext nicht mehr erwähnt: „Das Ziel seines Wollens war der Staat, der aus dem Volke gebildet, vom Volke getragen ist und dem Volke dient, der freie deutsche Volksstaat.“20 Der demokratische Volksstaat wurde in der Weimarer Republik die gemeinsame Bezugsgröße der Naumannianer.21 Am Ende kam alles ganz anders; es ging Schlag auf Schlag. Am 9. November des Jahres 1918 wurde die Republik ausgerufen, am 10. November ein Rat der Volksbeauftragten gebildet, am 11. November der Waffenstillstand unterzeichnet und am 19. Januar schließlich eine Nationalversammlung gewählt.22 Der sozialistischen Räterepublik wurde durch die Mehrheit der Stimmen von SPD, Zentrum und DDP eine klare Absage erteilt. Mit 18,5 % der Stimmen wurde die Deutsche Demokratische Partei die drittstärkste Kraft in der Weimarer Nationalversammlung. Das beste Wahlergebnis, das die Deutsche Demokratische Partei jemals erzielen sollte. Obwohl Friedrich Naumanns Name im Gründungsaufruf der DDP in der liberalen Tageszeitung ‚Berliner Tageblatt‘ am 16. November 1918 noch nicht fiel, traten er und viele andere Naumannianer, wie zum Beispiel Heuss, Bäumer, Erkelenz, dieser „große[n] demokratische[n] Partei für das einige Reich“23 bei. Die DDP war aus den politischen Trümmern der Nachkriegszeit hervorgegangen und kann daher mit recht als eine neuartige Partei innerhalb dieser neuen Zeit interpretiert werden.24 Darüber hinaus war gerade die DDP eine Partei der Mitte, die wie keine andere Partei zu Beginn der Weimarer Republik auf eine demokratische Volksgemeinschaft ohne Klassen und Stände setzte.25 Auch hinsichtlich der Bündnispolitik setzte die DDP mit Naumann auf eine breite Koalition aus DDP, MSPD und Zentrum: „Wir können auch insbesondere die Einheitlichkeit und Zusammengehörigkeit des ganzen deutschen Volkes, indem wir uns zu einer großen Mehrheit fügen, in viel anderer Weise garantieren, als es durch irgendeine andere Gruppierung denkbar und möglich ist. Wenn Mehrheitssozialdemokratie, Deutsche Demokratie und Zentrum mit allen ihren Verbindungen in Nord und Süd, und wo überhaupt Deutsche sind, ihre Hände ineinander legen, so ist das an sich schon 20 21
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Wilhelm Heile, Naumanns Staatsgedanke, in: Die Hilfe vom 11. September 1919, Nr. 37, S. 498. Vgl. Thomas Hertfelder, „Nur die Demokratie kann Deutschland wieder aufrichten“. Staat und Demokratie im Hilfe-Kreis 1918–1933, in: Die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ 1894–1944. Ein Ideenlabor in Deutschland, hg. v. Philippe Alexandre u. Reiner Marcowitz, Bern, Berlin et. al. 2011, S. 277–315, hier S. 284. Vgl. die genannten Eckpunkte bei Kolb, Die Weimarer Republik (wie Anm. 11), S. 6–19. Die große Demokratische Partei, in: Berliner Tageblatt vom 16. November 1918, Titelseite. Vgl. Bruce B. Frye, Liberal Democrats in the Weimar Republic. The History of the German Democratic Party and the German State Party, Southern Illinois 1985, bes. S. 47; vgl. auch Joachim Stang, Die Deutsche Demokratische Partei in Preussen 1918–1933, Düsseldorf 1994, hier S. 20. Vgl. dazu Jürgen C. Heß, Das ganze Deutschland soll es sein. Demokratischer Nationalismus in der Weimarer Republik am Beispiel der Deutschen Demokratischen Partei, Stuttgart 1978, S. 35 u. S. 330 f.; vgl. auch Thomas Hertfelder, Staat und Demokratie im Hilfe-Kreis 1918– 1933 (wie Anm. 21), S. 288.
132 VIII. Der überparteiliche Parteiführer in den Wirren der Nachkriegszeit (1918–1919) ein nationales Werk: wir wollen zusammen trotz aller Eigenart und trotz aller Differenzen ein gemeinsames deutsches Einheitsreich bilden, wir wollen gemeinsam die eine große Gruppe der Neuaufrichter des Staates sein.“26 Nicht zuletzt dieser Gedanke einer großen Koalition, einer Volksgemeinschaft, die durch das Parlament vertreten wurde, erinnert an Naumanns Versuch aus dem Kaiserreich, ein Bündnis von Bassermann bis Bebel zu wagen; mit dem feinen Unterschied, dass das katholische Zentrum in Weimar nun mit im Boot sitzen sollte. Im Gegensatz zu der Bildung einer sogenannten Weimarer Koalition scheiterten die Bemühungen, eine großen liberale Einheitspartei zu erschaffen. Die DDP, die hauptsächlich aus der Fortschrittlichen Volkspartei und dem liberalen Flügel der Nationalliberalen Partei hervorgegangen war, kann daher nicht als ein liberales Sammelbecken bezeichnet werden. Denn die Fusion mit der DVP um Gustav Stresemann, einem früheren Anhänger Friedrich Naumanns, kam nach langen Verhandlungen nicht zustande.27 Auf dem Gebiet der Außenpolitik war keine Einigung zu erzielen. Trotz dieser Schwierigkeiten stand die DDP am Anfang der Weimarer Republik für einen ausgewogenen und neuartigen Politikstil. Auch der Weltenbummler Harry Graf Kessler malte in seiner Rathenau-Biographie ein extrem positives, aber auch idealisiertes Bild dieser demokratischen Partei: „Diese Partei war durch Naumann und ihren starken gewerkschaftlichen Einschlag von vornherein sozial, durch große Intellektuelle wie Max Weber und Hugo Preuß auf die Vernunft des Geistes, durch einen starken Zustrom von Diplomaten und Pazifisten weltpolitisch auf Verständigung eingestellt.“28 Am 13. Februar des Jahres 1919 hielt Friedrich Naumann in der eben erst gegründeten Nationalversammlung eine vielbeachtete Rede. „[Ich grüße] die Deutsch-Österreicher in Ober-und Niederösterreich, in Steiermark und Tirol, im Salzkammergut und sonst im Gebirge, diese Deutschen, die so oft in schweren Zeiten treu ausgehalten haben, denen wir im Jahre 1866 die Hand nicht reichen konnten, die zwei Menschenalter hindurch abgeschlossen waren von der gemeinsamen Fühlung mit der Nation und die nun nach Hunger und Not, nach Opfern ohne Zahl zu uns, zum Reiche kommen, von der Donau zum Rhein, von der Etsch bis zum Belt, um wieder Familienblut zu fühlen, damit wir und unsere Deutsch-Österreicher aus dem Kriegsgefängnis herauswandern ins neue Leben als Brüder einer Mutter, die sich wiedergefunden haben in wunderbaren [!] und schweren Erlebnissen. Wir grüßen die österreichischen Brüder. Kommt: Wir warten!“29 Erst ertönte stürmi26 27
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Friedrich Naumann, Rede in der Nationalversammlung am 13. Februar 1919, in: Verhandlungen des Reichstags (Band 326, 1919/1920), S. 55; vgl. dazu Ernst Portner, Die Verfassungspolitik der Liberalen 1919. Ein Beitrag zur Deutung der Weimarer Reichsverfassung, Bonn 1973, S. 40. Vgl. hierzu die ausführliche Studie von Lothar Albertin, Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik, Düsseldorf 1972; vgl. hier auch Stang, DDP (wie Anm. 24), S. 24; vgl. Frey, Liberal Democrats (wie Anm. 24), S. 49–53; BArch, N 3001, 45, Bl. 97, Friedrich Naumann an B. J. Wilcken am 4. November 1918, : „Ich […] bin mit Ihnen in dem Grundgedanken einig, dass nach dem Krieg der Zusammenschluss der beiden Liberalen Parteien versucht werden muss.“ Harry Graf Kessler, Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk, Berlin 1928, S. 271. Friedrich Naumann, Rede in der Nationalversammlung am 13. Februar 1919, in: Verhandlungen des Reichstags (Band 326, 1919/1920), S. 59.
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scher Beifall von allen Seiten und dann begannen die Abgeordneten in die Hände zu klatschen. Die Glocke des Präsidenten läutete und der Vizepräsident und Naumannianer Conrad Haußmann rechtfertigte die Unterbrechung mit den Worten, dass „es nicht Sitte der Volksvertretung [sei], den Beifall durch Klatschen zum Ausdruck zu bringen.“ Theodor Heuss behauptete später in einem Brief aus dem Jahre 1955, dass es sich dabei um ein Novum in der Geschichte der Parlamentskultur gehandelt habe.30 Wilhelm Ziegler, während der NS-Zeit als Ministerialrat für die sogenannten ‚Judenfragen‘ zuständig, meinte, dass „Naumanns Rede vom 13. Februar […] nach dem Zeugnis der Zuhörer zu den besten Leistungen seiner parlamentarischen Redekunst“31 gezählt hätte. Schaut man auf die Protokolle der Verhandlungen im Reichstag, zeigt sich, dass man bis auf wenige Ausnahmen keine Anmerkungen wie „Händeklatschen“ wiederfindet. Das hatte einen einfachen Grund: Schon „vereinzeltes Händeklatschen“ reichte aus, um von der Glocke des Präsidenten geahndet zu werden.32 Naumanns Reden im Reichstag können als etwas Außergewöhnliches bezeichnet werden. Der Abgeordnete Naumann verlieh der Nationalversammlung von Weimar einen Funken Theatralik; eine Ästhetik des Performativen. Naumann sprach direkter, emotionaler und bildhafter als die anderen Abgeordneten des Reichstages. Naumann schöpfte zudem noch weiterhin aus dem Fundus der Bibel und sprach mit den Armen und Beinen. Das war allen verständlich. Obwohl der einstige Pastor nun zum ersten Mal Mitglied einer Regierungspartei war und in den Ausschüssen mitarbeitete, wirkte er mehr denn je wie ein Seelsorger. Naumann war in den Worten Koch-Wesers „der hervorragendste Redner und der feinste Kopf in der Partei, der, auf den richtigen Platz gestellt, immer wieder Vortreffliches für die Partei leisten wird. Nur darf er nicht verhandeln, weil ihm dazu jegliche Härte fehlt.“33 Naumann sprach den Menschen in den Zeiten der Not vor allem Mut zu. Zumindest sahen seine Weggefährten diese Eigenschaft in ihm: „Naumann war ein Seelsorger, ein Mann unserer Liebe und unseres Vertrauens. Seine Worte klangen wie Zuspruch und Herzstärkung. […] Sein Amt war: In jeder Situation uns aufzurichten.“34 Naumanns Kampf um die Deutsch-Österreicher musste schließlich mit dem Artikel 80 des Friedensvertrages – Der Verbot des Anschlusses an Deutschland35 – ad acta gelegt werden. Doch bis dahin galt, was der ehemalige Naumannianer Stresemann in einer Reichstagsrede dichtete: „Dem Kollegen Naumann ist ja Deutschland schon zu klein, sein Vaterland muss größer sein. Er hat den 30 31 32 33 34 35
Vgl. Theodor Heuss an Paul Löbe am 7. März 1955, in: Theodor Heuss, Der Bundespräsident. Briefe 1954–1959, hg. v. Ernst Wolfram Becker, Martin Vogt u. Wolfram Werner, Berlin/Boston 2013, S. 180. Wilhelm Ziegler, Die deutsche Nationalversammlung 1919/1920 und ihr Verfassungswerk, Berlin 1932, S. 48. So beispielsweise auf einer Reichstagssitzung am 21. Mai 1900, in: Verhandlungen des Reichstags (Band 171, 1898/1900), S. 5674; oder auch am 2. April 1906, in: Verhandlungen des Reichstags (Band 216, 1905/1906), S. 2527. Erich Koch-Weser, Aufzeichnungen vom 13. Februar 1919, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 17 (1969), Heft 1, S. 95–115, hier S. 110 f. A. Kuhnert, Realpolitik und Ideologie, in: Die Hilfe vom 6. November 1919, Nr. 45, S. 637 f. Vgl. Kolb, Weimar (wie Anm. 11), S. 32.
134 VIII. Der überparteiliche Parteiführer in den Wirren der Nachkriegszeit (1918–1919) großen Gedanken ‚Mitteleuropa‘ uns als den Kernpunkt des künftigen wirtschaftlichen und politischen Strebens vor Augen geführt.“36 Mit der Kritik an den Bestimmungen des Versailler Vertrages hatte Naumann sein neues Leib- und Magenthema gefunden.37 Noch im Jahre 1930 erinnerte sich der liberale preußische Finanzminister Hermann Höpker-Aschoff an Friedrich Naumanns heftige Protesthaltung gegen den Versailler Vertrag: „Ich erinnere an den leidenschaftlichen Protest, den Naumann vor der Abstimmung gegen das Versailler Diktat erhoben hat und wie er den passiven Widerstand erklärte. Diesen Protest wachzuhalten, ist die Aufgabe der Deutschen Staatspartei. Diese Stimme des Protestes darf nicht ruhig werden, weil das Unrecht zu gross ist und zu gross wird, wenn es fortgesetzt wird, und das deutsche Volk daran zugrundegeht.“38 Naumanns Reden und Schriften gegen den Versailler Vertrag waren für die Naumannianer richtungsweisend und sinnstiftend. Die alliierten Forderungen an das besiegte Deutsche Reich überstiegen die Vorstellungskraft vieler Demokraten. Nicht nur Naumann und seine DDP sahen die Friedensbedingungen als unannehmbar an.39 Sogar der sonst eher gemäßigte Naumannianer Anton Erkelenz bezeichnete den Versailler Vertrag als einen „Gewaltfriede[n]“; und jede „Unterzeichnung [als] eine Lüge.“40 Am 11. Mai des Jahres 1919 titelte beispielsweise das liberale ‚Berliner Tageblatt‘: „Deutsches Volk! In dieser schweren Stunde deutscher Geschichte darf nur eine Stimme zu hören sein – das ‚Nein‘, mit dem das deutsche Volk in gerechter Empörung den Gewaltfrieden ablehnt.“41 Die großen Gebietsforderungen an Deutschland, die krassen Reparationszahlungen oder auch der Kriegsschuldartikel an sich schockierten und bestürzten selbst die größten Pessimisten in Deutschland, wie Eberhard Kolb treffend in seiner Gesamtdarstellung über die Weimarer Republik feststellt.42 Der Versailler Vertrag ging den Menschen an die Nieren. Auch für den Naumann-Verehrer Karl Schmidt-Hellerau war der Vertrag eine Schmach, der nach einer Revanche geradezu schrie: „Ich bin weiter der Meinung, dass die Entente, wenn sie uns zur Annahme der Friedensbedingungen zwingen will, erfährt, dass in Deutschland eine Million oder mehr oder weniger Männer sich zu einem Geheimbund zusammenschliessen, die den Schwur ablegen, jeden Alliierten, der sich in Deutschland sehen lässt, über den Haufen zu schiessen. Die Leute müssen wissen, wie furchtbar ernst es ist und dass wir zum Äussersten entschlossen sind, und dass sich genügend 36 37 38 39 40 41 42
Gustav Stresemann, Rede im Reichstag am 19. März 1918, in: Verhandlungen des Reichstags (Band 311, 1917/1918), S. 4459. Vgl. dazu Albertin, Liberalismus (wie Anm. 27), bes. S. 352 f.; zurückhaltender ist Theiner, Naumann (wie Anm. 19), bes. S. 301. Ausführungen Höpker-Asc‚hoffs auf dem 3. außerordentlichen Parteitag der DDP am 8.11.1930 in Hannover, in: Bundesarchiv Berlin, R 45/III, 8, Blatt 50–52; dazu schon Heß, Deutschland (wie Anm. 25), S. 182. Vgl. zu den Liberalen Heß, Deutschland (wie Anm. 25), S. 76–111, bes. S.76 f., S 97 u. S. 102. BArch Koblenz, Nachlass Anton Erkelenz, N 1072, 84, Fol. 92, Anton Erkelenz, Notizen vom 8. Mai 1919; vgl. dazu schon Heß, Deutschland (wie Anm. 25), S. 102. Die Kundgebung der Deutschen-demokratischen Partei, in: Berliner Tageblatt vom 11. Mai 1919, Titelseite. Vgl. Kolb, Weimar (wie Anm. 11), S. 23–37, hier bes. S. 33.
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Männer in Deutschland finden werden, die das fertig bringen. Für einen frdl. Rat wäre ich Ihnen sehr dankbar.“43 Auch Naumann äußerte sich, wenn auch weniger martialisch als der Werkbündler, alles andere als zurückhaltend. Der körperlich schon gezeichnete Führer des Naumann-Kreises fand in seinen Schriften und öffentlichen Reden die richtigen Worte für die omnipräsente Empörung der deutschen Öffentlichkeit. Am 10. Mai 1919, drei Tage nachdem der Vertrag den deutschen Delegierten in dem Pariser Vorort Versailles überreicht wurde, konnte man in Naumanns Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ lesen: „Der vorliegende Friedensentwurf ist Volksmord. Auch die pessimistischsten Beurteiler haben nicht geglaubt, daß etwas Derartiges innerhalb der Menschheit möglich ist.“44 Das waren deutliche Töne. Eine Woche später stellte Naumann die alles entscheidende Frage, ob der Friedensvertrag unterzeichnet werden kann. Sein klare Antwort klang folgendermaßen: „Das Unterzeichnen des ‚Friedens‘ ist noch schlimmer als das Nichtunterzeichnen. Auch in schwachen Menschen entstehen Entschlüsse, wenn die Quälerei zu groß wird. Und sie ist zu groß geworden.“45 Das war eine Kampfansage. Wieder eine Woche später schrieb Naumann in einem Artikel in seiner typisch aufbauenden Art und Weise: „Als Volk sind wir durch den Pariser Frieden proletarisiert. Das ist schrecklich, aber es muss als Tatsache erkannt werden. Man macht uns alle zu Lohnsklaven der Herrenvölker. Von da an, wo wir das wissen, fängt ein anderes politisches Denken an: wir wollen sein, was wir sind, damit wir wieder mehr werden. Wir organisieren die Menschheit von unten her, vom Keller aus. Das ist die deutsche Lebenshaltung.“46 Doch Naumann zog es in die Öffentlichkeit. Denn „nur im Auftreten kann ein Körper vom Kollektiv als Fleischwerdung eines spezifischen Typus von Individualität gesehen werden“47, wie der Romanist Gumbrecht in einem anderen Zusammenhang bemerkte. So konnte Naumann wie ein Volkstribun auf die aufgescheuchte Öffentlichkeit der Nachkriegszeit wirken. Gerade in der Weltstadt Berlin sprach Naumann den Menschen aus der Seele, wenn er öffentlich den Versailler Friedensentwurf anprangerte. Naumann verstand es, sich den zeitlichen Gegebenheiten anzupassen. Zuerst sprach Naumann am 14. Mai 1919 in den Germaniasälen in Berlin gegen den Versailler Vertrag: „Dieser Friede ist beim besten Willen unerfüllbar und daher auch unannehmbar für uns.“48 Ein Tag später, am Vormittag des 15. Mai, sprach Naumann ohne Lautverstärker auf der Freitreppe des Reichstages. Auf einem der wenigen von ihm überlieferten Lichtbilder erkennt man den körperlich auffallenden Naumann deutlich; auf dem Sockel einer Säule stehend, scheint er 43 44 45 46
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BArch N 3001, 14, Bl. 141 f., Karl Schmidt-Hellerau an Friedrich Naumann am 20. Mai 1919. Friedrich Naumann, Kriegschronik, in: Die Hilfe vom 15. Mai 1919, Nr. 20, S. 248. Friedrich Naumann, Was soll geschehen, in: Die Hilfe vom 22. Mai 1919, Nr. 21, S. 252. Friedrich Naumann, Was ist der Friede, in: Die Hilfe, 25 (1919), Nr. 27, S. 344; vgl. dazu Julia Schroda, 1918–1919. Das Umbruchjahr im Spiegel der nationalsozialen Wochenschrift ‚Die Hilfe‘, in: Die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ 1894–1944. Ein Ideenlabor in Deutschland, hg. v. Philippe Alexandre u. Reiner Marcowitz, Bern, Berlin et. al. 2011, S. 247–274, hier S. 268. Hans Ulrich Gumbrecht, 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt a. M. 2001, S. 223. Gegen den Erdrosselungsfrieden. Berliner Protestversammlungen, in: Vossische Zeitung vom 15. Mai 1919, S. 4.
136 VIII. Der überparteiliche Parteiführer in den Wirren der Nachkriegszeit (1918–1919) die ihn herum stehende Schar junger Männer alle zu überragen.49 Im ‚Berliner Tageblatt‘ hieß es über die Massenveranstaltung in Berlin: „Der Königsplatz ist zum Demonstrationsplatz geworden. […] Die Hunderttausenden, die gestern in ernster und würdiger Stimmung die Reden mitanhörten, die von mehreren Stellen des weiten Platzes gehalten wurden, wußten, um was es geht. […] Von der Freitreppe des Reichstagsgebäudes herab sprach Dr. Naumann vor einer nach zehntausenden zählenden Menge.“50 Vor so einem großen Publikum hatte Naumann noch nie gesprochen.
Naumann spricht gegen den Versailler Vertrag am 15. Mai 1919 © bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Bild-Nr.: 30008698
Aber Naumann hatte schon oft außerhalb von Sälen gepredigt; man denke nur an die schon erwähnten Waldgottesdienste aus seiner Zeit als Pfarrer. Jetzt konnten 49 50
Friedrich Naumann hält auf dem Berliner Königsplatz eine Rede gegen die Friedensbedingungen der Sieger, Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Bildnummer 30008698. Neue Massenkundgebungen in Berlin, in: Berliner Tageblatt vom 16. Mai 1919, S. 4.
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Tausende den einstigen Pastor auf diesem denkwürdigen Platz der deutschen Geschichte unter freiem Himmel reden hören. Eine perfekte Möglichkeit, um seine außeralltäglichen Qualitäten auszuspielen und zugleich den deutschen Reichstag und damit den Willen des Volkes symbolisch aufzuwerten. Auch wenn vielleicht nicht jedes seiner Worte im Meer der Menschenmenge verstanden wurde, zeigte der perfekt inszenierte Auftritt seine Wirkung: „Von jubelnden Zurufen begrüßt, sprach […] Naumann. Seine ergreifenden Worte riefen anhaltende Bewegung hervor. Nachdem er geschlossen, entblößten die Massen schweigend das Haupt und leisteten durch Handaufhebung einmütig [ein] Treuegelübde.“51 Eine Aufführung, bei der man sowohl die leibliche Kopräsenz von Akteur und Zuschauer, als auch die Ereignishaftigkeit deutlich wiederfindet. Eine performative Meisterleistung. Naumann sprach an diesem Tage nur kurz; dafür umso deutlicher: „Nachdem die Grossstaaten Russland und Oesterreich-Ungarn im Kriege zerbrochen wurden, bemüht sich die Entente, Deutschland durch den Frieden völlig zu vernichten. Das schöne und hoffnungsvolle Wort Friede wird gemissbraucht zu einem gewalttätigen Strafverfahren. […] Heute sind wir hier an den Stufen des Reichstags versammelt, um als Volksmenge das Wort zu wiederholen, das in der Nationalversammlung der Ministerpräsident gesprochen hat: Dieser Friede ist unannehmbar! Wirtschaftlich macht er uns zu Knechten der Fremden, politisch reißt er unsere Brüder von uns los. Obwohl wir matt und hungernd sind, so können wir auf jede Gefahr hin nichts anderes tun, als die ungeheuerlichen Zumutungen abzuweisen, die von Paris aus an uns gerichtet werden. Darin wollen wir alle miteinander einig sein und jene Treue geloben, ohne die kein grosses Volk bestehen kann!“52 Gerade vor der Erfindung des Mikrophons oder der Lautsprecherbox offenbart sich die Stimme in ihrer vollen Nacktheit; die rhetorische Technik war entscheidend für die Ausdruckskraft eines Redners!53 Der einstige Pastor konnte an diesem Tage durch seine sprachlichen Fähigkeiten niedergeschlagene Zuhörer aufrichten und ermutigen. Dank seiner plastischen Sprache hatte der Volksredner Naumann seinen Platz in der Öffentlichkeit gefunden. Die historischen Rahmenbedingungen waren wie geschaffen dafür, eine milieuübergreifende Wirkung hervorzurufen. Doch auch Naumann wusste, dass einer den Vertrag unterschreiben musste. Letzten Endes wurde das Vertragswerk am 22. Juni 1919 ohne das Zutun der liberalen Partei Naumanns unterzeichnet, da das Kabinett Scheidemann zwei Tage zuvor zurückgetreten war.54 Obwohl Naumann nicht der einzige Politiker war, der sich weigerte, den Vertrag zu unterzeichnen, fällt doch dessen besondere Hartnäckigkeit im Zuge der Kämpfe um die Annahme des Friedensvertrages ins Auge. Der sich für die Annahme des Vertrags besonders einsetzende Zentrumspolitiker Matthias Erzberger schrieb in seinen Erinnerungen über das Verhalten Naumanns: „Unmittelbar vor der Abstimmung sagte mir der demokratische Führer Friedrich 51 52 53 54
Berlins größte Kundgebung. Auf der Freitreppe des Reichstages, in: Vossische Zeitung vom 16. Mai 1919, S. 4. BArch, N 3001, Umschlag 96, 2/97, Friedrich Naumann, Ansprache gegen den Versailler Vertrag, S. 347–348. Reinhart Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 3. Kolb, Weimar (wie Anm. 11), S. 34.
138 VIII. Der überparteiliche Parteiführer in den Wirren der Nachkriegszeit (1918–1919) Naumann: ‚Heute brauchen wir Sie notwendig, aber in wenigen Monaten, wenn die Situation anders ist, werfen wir Sie weg.‘“55 Erzberger wurde im Jahre 1921 von der rechtsstehenden Organisation Consul ermordet. Darf man Erzberger Glauben schenken? Neben seinen wirkungsmächtigen Reden gegen den Versailler Vertrag sprach sich Naumann nach dem Krieg erneut für eine klassenlose Volksgemeinschaft aus; ein Weg, um aus der politischen und ökonomischen Krise herauszukommen. In der Stadtkirche zu Jena konnten die Zuhörer am 4. März 1919 folgende aufbauenden und bildhaften Worte vernehmen: „Es kommt unter Blitz und Donner und Ungewitter, unter dem Zusammenbruche des Krieges, unter der Umwälzung aller unserer Verhältnisse. In dieser ernsten, schweren, das Innerste aufwühlende Lage versammeln wir uns mit dem Gedanken an Volk, Vaterland, Zukunft und Kindeskinder hier im Gotteshause, eine große politische Volksgemeinde [!], um miteinander zu durchdenken, wie es werden soll mit dem Aufbau, und wie wir wieder in Ordnung kommen. […] Wir müssen die ganze Krisis mit Geduld durchleben und nicht ohne Hoffnung. Denn wenn wir sie ohne Hoffnung durchleben, dann sinken wir jetzt. Der Mensch braucht Aufrichtung“56 Die Kirche war der perfekte Ort, um aus der Notgemeinschaft durch Sprache eine handlungsfähige Volksgemeinschaft zu formen!57 Vier Monate später wurde Naumann zum Parteivorsitzenden der Deutschen Demokratischen Partei gewählt. Nicht zuletzt auf Grund seiner wirkungsvollen und aufbauenden Reden und Schriften in der Nachkriegszeit. Die ‚Vossischen Zeitung‘ berichtete am 22. Juli über einen Parteitag der DDP, auf dem auch Friedrich Naumann referierte: „Der Parteitag zeigte sich für diese Stunde der Erbauung von Herzen dankbar.“ Nachdem Naumann zuerst dem Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg wählerwirksam im Namen der ganzen Partei den Dank ausgesprochen hatte, begann er über das Verhältnis von Staat und kultureller Orientierung zu predigen: „Die Vermischung von Weltanschauung und Politik wird fortan in viel größerem Maße als bisher stattfinden müssen. Soldaten, Beamte und Bürger müssen wieder lernen, an den Staat zu glauben. Wenn wir auch im Gefängnis der Menschheit sitzen; das heilige Feuer unserer Weltanschauung kann uns nicht geraubt werden. Im Mittelpunkt des demokratischen Parteilebens müsse der Gedanke des Zusammenschlusses alles dessen, was deutsch ist, stehen. Der alte großdeutsche Gedanke muß der Mittelpunkt des Parteilebens werden. […] Der Parteitag bereitete Naumann nach diesen Ausführungen eine lange stürmische Kundgebung, die der Vorsitzende Koch in einer Ansprache an Naumann noch besonders unterstrich.“58 Gerade die Jugend huldigte den nunmehr in die Jahre gekommenen 55
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Matthias Erzberger, Erlebnisse im Weltkrieg, Stuttgart/Berlin 1920, S. 383; vgl. zur Glaubwürdigkeit der Aussage Naumanns Klaus Epstein, Erzberger und der Kampf um die Ratifizierung des Versailler Vertrages, in: Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, hg. v. Eberhard Kolb, Köln 1972, S. 324 u. Fußnote Nr. 37 auf S. 329; vgl. zur Unglaubwürdigkeit Theiner, Naumann (wie Anm. 19), S. 300 f. Friedrich Naumann, Demokratie als Staatsgrundlage, in: Ders., Werke (Zweiter Band, Schriften zur Verfassungspolitik), bearb. v. Wolfgang J. Mommsen, Köln/Opladen 1966, S. 557–573, hier S. 557 f. u. S. 573. Vgl. zu diesem Zusammenhang Hartdtwig, Volksgemeinschaft (wie Anm. 16), bes. S. 238. Deutsch-demokratischer Parteitag, in: Vossische Zeitung vom 22. Juli 1919, S. 9.
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Naumann, der auf dem Parteitag in einer spontanen Aktion zum Parteiführer vorgeschlagen wurde. Die Zeitungen berichteten von dem Ereignis folgendermaßen: „Dann kam der erste Parteitag der Deutschen demokratischen Partei. […] Wie eine Erlösung aus bangen Zweifeln hörte die deutsche Jugend zunächst leise, dann immer machtvoller anschwellend den einen Grundakkord in allen Erörterungen des Parteitages: national-sozial. Und als dann vollends am Schlusse der Tagung die Leitung der Partei in die Hände Friedrich Naumanns gelegt wurde, da wurde die Hoffnung zur Gewissheit, wenn der Geist Friedrich Naumanns die Deutsche Demokratische Partei durchdrängt, dann ist diese Partei die Partei der Jugend!“59 Wie dieser Zeitungsartikel zeigt, hatte Naumann noch immer einen Draht zur Jugend. Ein intergenerativer Prozess, wenn man bedenkt, dass sich gerade die jungen Menschen einer jungen Partei hinter einem im Kaiserreich sozialisierten ehemaligen Pastor stellten, der wieder national-sozial dachte. Zugleich zeigt die Wahl Naumanns zum Parteiführer, dass ihm keiner das Wasser reichen konnte. Er war der unumstrittene Star unter den Parteimitgliedern. Das hatte er sich durch seine unzähligen Reden und Schriften gegen den Versailler Vertrag erkämpft. Es erscheint also verständlich, wenn auch die Naumannianer noch im Sommer des Jahres 1919 zufrieden auf ihren Naumann blickten. In diesem Sinne hielt Walter Goetz in seinem Tagebuch fest: „Guter Verlauf. Naumanns Wahl zum Vorsitzenden beinahe überraschend mit solcher Einmütigkeit vollzogen. Gutes geistiges Niveau des Parteitages.“60 Naumann setzte sich gegen die Kandidaten Petersen, Koch und Fischbeck durch.61 Sowohl Erich Koch-Weser, als auch Carl Wilhelm Petersen gingen durch die Schule Naumanns. Naumann selbst stimmte laut Heuss jedoch für Otto Fischbeck. Erst „als ihn die Ziffern an die Spitze trugen, ließ er die Abwehr fahren.“62 Glaubt man Heuss, so stellte Naumann seine eigenen Interessen immer hinter die der Gemeinschaft: „[Naumann] brauchte die Partei nicht, um jemand zu sein, der gehört wurde. Ja, die vielen guten Freunde meinten, früher, damals, später, seine ‚Wirkung‘ auf die Gesinnung der Deutschen würde stärker bleiben oder werden, wenn er sich von Parteizweckhaftigkeit und -rücksicht frei halte. Das ließ sich hören. Aber eben dies, bloßer Prediger von Einsichten […] wollte er nicht sein, sondern er wollte in die Verantwortung der Machtteilnahme.“63 Am 11. August des Jahres 1919 trat die Weimarer Reichsverfassung in Kraft. In den Monaten zuvor tagte der Verfassungsausschuss, an dem auch Naumann mitarbeitete. Dabei fiel er in erster Linie durch seinen Versuch auf, „volksverständliche 59 60 61 62 63
BArch Berlin, R/8034/II, 8485, Berliner Börsen Zeitung vom 21. August 1919, Die deutschdemokratische Jugendbewegung,, S. 42. Goetz, Tagebucheintrag vom Juli 1919, zitiert nach Wolf Volker Weigand, Walter Wilhelm Goetz 1867–1958. Eine biographische Studie über den Historiker, Politiker und Publizisten, Boppard am Rhein 1992, S. 193. Vgl. Albertin, Liberalismus (wie Anm. 27), S. 100 f. Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, München/Hamburg 31968, S. 531. Theodor Heuss an Max Hildebert Boehm am 19. Januar 1948, in: Theodor Heuss, Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949, hg. u. bearb. v. Ernst Wolfgang Becker, München 2007, S. 341–352, hier S. 350 f.
140 VIII. Der überparteiliche Parteiführer in den Wirren der Nachkriegszeit (1918–1919) Grundrechte“64 einzuführen. Aber seine zum Teil wohl sehr eigen formulierte Gesetzesvorschläge – „Weltverkehr ist Lebensluft“, „Kunst ist Nationalangelegenheit“ oder „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!“ – fanden zwar Beachtung bei der Bevölkerung, aber kein Gefallen bei den anderen Teilnehmern des Verfassungsausschusses.65 Nur die Naumannianer versuchten Naumanns Rolle im Verfassungsausschuss nach dessen Tod gesondert hervorheben: „Ich möchte, da Sie die Gelegenheit hatten, seine [Naumanns] Schaffensart in dem wichtigen Stoff der Grundrechte zuletzt […] zu beobachten, bei Ihnen anregen, dass Sie selbst eine Niederschrift Ihrer Eindrücke über seine Schaffens- und Wesensart machen und mir eine Abschrift davon zugehen lassen.“66 Der katholische Rechtshistoriker Konrad Beyerle kam der Bitte des Naumannianers Conrad Haußmann in einem Aufsatz nach.67 Auch wenn Naumanns Vorhaben letzten Endes scheiterte, kann an dieser Stelle festgestellt werden, dass Naumann mit diesem Vorhaben – Gesetze in einer volksnahen Sprache zu verfassen – auffiel; auch wenn viele über das „halb liturgische Alterswerk“ Naumanns schmunzelten.68 Als der Naumann-Schüler Heuss knapp dreißig Jahre später im Parlamentarischen Rat vor dem neuen Grundgesetz stand, kam er wie zu erwarten auch auf seinen Mentor zu sprechen: „Und dann kam Friedrich Naumann mit seinem Entwurf sogenannter volksverständlicher Grundrechte, der aus der Empfindung entstand: der Katalog der klassischen Grundrechte reicht nicht für die neue sozialwirtschaftliche, seelische Gesamtstruktur. Seine Grundrechte hatten wesentlich die moralische Aufgabe der Integration dieses neuen Staates im Volksbewußtsein. Dann sind die Juristen darüber gekommen, und da passiert meist ein Unglück. (Heiterkeit.)“69 Man darf an dieser Stelle nicht unterschlagen, dass es auch Parteimitglieder gab, die mit der Wahl Naumanns zum Parteiführer haderten. Schaut man beispielsweise in die Tagebücher des Journalisten Theodor Wolff, wird deutlich, dass die Naumannianer innerhalb der Partei eine Naumannsche Glaubensgemeinschaft darstellten und gleichzeitig die intellektuelle Meinungsführerschaft für sich reklamier64 65
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Friedrich Naumann, Versuch volksverständlicher Grundrechte, in: Ders., Werke (wie Anm. 56), S. 573–579. Vgl. dazu Reinhard Rürup, Entstehung und Grundlagen der Weimarer Verfassung, in: Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, hg. v. Eberhard Kolb, Köln 1972, S. 218–243, hier S. 237; vgl. auch Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S. 75 u. S. 117; vgl. auch Thomas Hertfelder, Staat und Demokratie im Hilfe-Kreis 1918–1933 (wie Anm. 21), S. 293. HStASt, Nachlass Conrad Haußmann, Q 1/2, Bü 119, Conrad Haußmann an Konrad Beyerle am 29.8. 1919, Vgl. Konrad Beyerle, Wesen und Entstehung der Grundrechte in der Reichsverfassung von Weimar, in: Deutsche Einheit, Deutsche Freiheit. Gedenkbuch der Reichsregierung zum 10. Verfassungstag, 11. August 1929, Berlin 1929, S. 148– S. 161, bes. S. 153. Zitiert nach Wilhelm Happ, Das Staatsdenken Friedrich Naumanns, Bonn 1968, S. 187 f.; vgl. auch Theiner, Naumann (wie Anm. 19), S. 293. Theodor Heuss, Zwei Reden im Parlamentarischen Rat über das Grundgesetz. Dritte Sitzung des Plenums am 9. September 1948, in: Theodor Heuss, Vater der Verfassung. Zwei Reden im Parlamentarischen Rat über das Grundgesetz 1948/49, hg. u. bearb. v. Ernst Wolfgang Becker, München 2009, S. 68; Zitat auch bei Joachim Radkau, Theodor Heuss, München 2013, S. 303 f.
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ten.70 Ein Eintrag lautete zum Beispiel: „Fischbeck wird von den Naumannianern etc., d. h. von allen unklaren Köpfen und Dilettanten der Fraktion, aber stark in den Hintergrund gedrängt.“71 Die unveröffentlichten Erinnerungen des jüdischen Rechtsanwaltes malten hingegen ein harmonischeres Bild der Lage innerhalb der DDP: „Sie [die Partei] litt wenigstens auch sichtbar nicht unter dem engeren Zusammenschluss der sich unter Naumann-Anhaengern, den frueheren NationalSozialen erhalten hatte.“72 Ohne Zweifel bildeten die Naumannianer eine eigene Partei innerhalb der Deutschen Demokratischen Partei. Wolff schrieb beispielsweise in Bezug auf eine mögliche Nominierung Naumanns als Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt: „Haußmann erzählt, daß Naumann das Unterstaatssekretariat im Ausw. Amte abgelehnt habe, obgleich er es offenbar gern übernommen hätte. Seine Jünger und Jüngerinnen hätten nicht dulden wollen, daß ihr Prophet sich mit einem solchen Posten begnüge.“73 Auch diese Aussage unterstreicht noch einmal die besondere Stelle der Naumannianer innerhalb der noch jungen Partei. Naumann wirkte nicht hinter verschlossenen Türen; er sollte gehört und gesehen werden und nicht in der Realpolitik aufgehen. Mit Max Weber gesprochen: Ein Charismatiker darf sich nicht in der Alltagspolitik abnutzen.74 Der Naumannianer Erich KochWeser vermerkte dazu passend in seinen „Aufzeichnungen vom 13. Februar 1919“: „Erfreulich bleibt, daß Naumann nicht, wie er das selbst wünschte, Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amte wird. Mir scheint es geradezu unglaublich, daß eine so große Kanone sich in einem so kleinem Amte unterbringen lassen will.“75 Wo hätte Naumann denn stehen sollen? Darf man an dieser Stelle vorsichtig fragen, ob Naumann nicht der ideale Reichspräsident gewesen wäre? Der Weimarer Reichspräsident war mit überaus starken Kompetenzen ausgestattet. Das von Hugo Preuß konzipierte Amt war ohne Zweifel für eine starke und charismatische Einzelpersönlichkeit zugeschnitten. Eine Art „Ersatz-Kaiser“, der mit seinen überaus wirksamen Exekutivbestimmungen die Politik Deutschlands bestimmen konnte; wenn er das auch wollte. Er war das regulierende Gegengewicht von Parlament und Regierung, der zudem das Reich nach außen vertrat und den Oberbefehl über das Militär inne hatte. Gerade in kritischen Situationen besaß der
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Vgl. Thomas Hertfelder, Meteor aus einer anderen Welt. Die Weimarer Republik in der Diskussion des Hilfe-Kreises, in: Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik, hg. v. Andreas Wirsching u. Jürgen Eder, Stuttgart 2008, S. 36. Theodor Wolff, Tagebucheintrag vom 8. Februar 1919, in: Ders., Tagebücher 1914–1919 (Zweiter Teil), eing. u. hg. v. Bernd Sösemann, Boppard am Rhein 1984, S. 683. BArch, Nachlass Bernhard Falk, N 1641/1, fol.123, Bernhard Falk, Lebenserinnerungen 1867– 1944; vgl. dazu schon Ludwig Richter, Der Reichspräsident bestimmt die Politik und der Reichskanzler deckt sie. Friedrich Ebert und die Bildung der Weimarer Koalition, in: Friedrich Ebert als Reichspräsident. Amtsführung und Amtsverständnis, hg. v. Eberhard Kolb, München 1997, S. 17–44, S. 39, Fußnote 99. Wolff, Tagebucheintrag vom 13. Februar 1919, in: Ders., Tagebücher (wie Anm. 71), S. 687 ff. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Herrschaft, hg. v. Edith Hanke, in: Ders., Gesamtausgabe (Band I/22–4), Tübingen 2005, S. 489. Koch-Weser, Aufzeichnungen vom 13. Februar 1919 (wie Anm. 33), S. 113.
142 VIII. Der überparteiliche Parteiführer in den Wirren der Nachkriegszeit (1918–1919) Reichspräsident dank des verhängnisvollen Artikels 48 ein sogenanntes Notverordnungsrecht.76 Hätte Naumann diese Position einnehmen können? Wie bereits erwähnt, war Naumann bei der Bevölkerung beliebter denn je. Eine Namensschwester wandte sich in einem Brief vom 14. April 1919 an Naumann: „Und wer schreibt dieses Brieflein? Eine Namensschwester! – Ich heiße Else Naumann […] u. seit ich – schon als heranwachsender Mensch – unter neue Menschen trete klingt mir sehr häufig die Frage entgegen: Sind Sie verwandt mit Friedrich Naumann, oder – so vor 20 Jahren vielleicht – mit Pfarrer Naumann? […] Seit ich nämlich das blaue Buch von Vaterland u. Freiheit gelesen habe, fühle ich mich Ihnen so wohl verwandt, daß tief in mir der Wunsch aufklang: Ach, fändest Du doch ein Stück Verwandtschaft zwischen diesem verehrenswerten Manne u. Dir! Ich muß Ihnen eingestehen: mit Jauchzen fast las ich manchen Ihrer herrlichen, hohen Gedanken meiner Mutter vor; nationale Weihstunden bedeuteten mir während des Krieges Ihre […] Ausführungen im Reichstag. […] Für mich, die ich in Ihnen den geistigen Führer verehre, an dessen starker Hand ich auch durch die Stürme unseres nationalen Zusammenbruchs u. so viele begründeter u. unbegründeter innenpolitischer Wirren ruhigen und festen Schrittes sicherschreiten konnte. […] Einen herrlichen Glückwunsch, daß es Ihnen vergönnt ist, mit all Ihrem Gemüts- u. Gedankenreichtum an einem Neubau mitzuschaffen, der – so hoffen wir – für alle wahren Deutschen ein besseres, geliebteres Vaterland werden soll.“77 Trotzdem kann der Historiker an dieser Stelle nur Vermutungen aufstellen. Denn es gibt keine Belege dafür, dass Naumann ernsthaft an dem Amt interessiert war. Vielmehr waren es die Naumannianer, die von dieser Besetzung träumten. Fest steht: Die DDP schielte zumindest mit einem Auge nach dem Amt des Reichspräsidenten; zudem brodelte die Gerüchteküche.78 Bei Haußmann erfährt man, dass Naumann durchaus im Gespräch war: „Von Wiesner höre ich: Die Sozialdemokratie will 1. den Reichskanzler, 2. den Reichstagspräsidenten, 3. nicht den Reichspräsidenten, den sie der Demokratie lasse. […] So tauchen vielleicht plötzlich große Personenfragen ganz in unserer Partei auf: Payer, Naumann, Prinz Max sind schon genannt.“79 Glaubt man jedoch den Aufzeichnungen des Sozialdemokraten Paul Löbes, so wollte Naumann einen parteilosen Reichspräsidenten; er dachte dabei nicht an seine Person: „Naumann legte das Hauptgewicht auf den Reichspräsidenten und brachte dafür Groener, Wermuth oder dergleichen zur 76
Vgl. hier Walter Mühlhausen, Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006, S. 191–205, bes. S. 195; vgl. Heinz Hürten, Reichspräsident und Wehrpolitik. Zur Praxis der Personalauslese, in: Friedrich Ebert als Reichspräsident. Amtsführung und Amtsverständnis, hg. v. Eberhard Kolb, München 1997, S. 189–206; vgl. Richter, Der Reichspräsident bestimmt die Politik (wie Anm. 72), S. 17–44, bes. S 21 f.; Ders., Das präsidiale Notverordnungsrecht in den ersten Jahren der Weimarer Republik. Friedrich Ebert und die Anwendung des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung, in: Ebd., S. 207–257. 77 BArch N 3001, 14, Bl. 3–5, Else Naumann an Friedrich Naumann am 14. April 1919. 78 Vgl. wieder Richter, Der Reichspräsident bestimmt die Politik (wie Anm. 72), bes. S. 28 u. S. 30. 79 Conrad Haußmann am 4. Februar, in Schlaglichter. Reichstagsbriefe und Aufzeichnungen, hg. v. Ulrich Zeller, Frankfurt a. M. 1924, S. 276.
VIII. Der überparteiliche Parteiführer in den Wirren der Nachkriegszeit (1918–1919)
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Benennung.“80 Könnte „oder dergleichen“ auch für Naumann stehen? Zumindest gab der Schweizer Botschafter in Deutschland – Philippe Mercier – zu Protokoll, dass er „zu einer Kandidatur Naumanns nur zustimmende Äußerungen gehört [und] wahrgenommen habe“81. Zum Missfallen von Theodor Wolff, wie man in den Tagebüchern des Naumann-Skeptikers erfährt: „Das Zentrum will nun nicht zulassen, daß außer dem Präsidium der Nationalversammlung auch der Reichspräsident u. der Ministerpräsident an die Sozialdemokraten kommen, und ein Teil der Demokraten, besonders Naumann, den die Fraktionsdiener für einen Staatsmann halten, und Payer u. Haußmann scheinen sich dieser Idee immer mehr anzuschließen.“82 In einem Schreiben der Gesandtschaft Berlin vom 31. Januar 1919 an das Staatsministerium des Äußeren heißt es wiederum: „Zur inneren Politik erfahre ich, daß die Bildung eines Koalitionskabinetts aus Mehrheitssozialisten (Ebert, Scheidemann, Noske), Demokraten (Dernburg und Naumann oder Preuß) und Zentrum (Erzberger und Giesberts) in sicherer Aussicht stehen soll. Als Reichspräsident wird vielfach Dernburg, aber auch Wermuth genannt.“83 Letzten Endes ist das alles nur Spekulation, denn bereits am 11. Februar wurde Friedrich Ebert von der Nationalversammlung zum „vorläufigen“ Reichspräsidenten gewählt;84 mit keinem überragenden Ergebnis, da sich zum Beispiel die Naumannianer mit großer Wahrscheinlichkeit der Stimme enthielten.85 Zu diesem Zeitpunkt war die Hoffnung noch nicht gänzlich gestorben, denn die eigentliche Volkswahl des Reichspräsidenten stand noch immer bevor; obwohl der Termin immer weiter verschoben werden musste, so dass der Name Naumann bald nicht mehr zur Debatte stand.86 Paul von Hindenburg war daher der erste und einzige Reichspräsident, der vom Volk am 26. April 1925 direkt gewählt wurde. Hätte Naumann die Weimarer Koalition als Reichspräsident führen können? Zumindest der Naumann-Historiker Walter Goetz hätte dieser Frage ohne Wenn und Aber zugestimmt: „Eben an die führende Stelle in der Partei gelangt, der Möglichkeit seine Ideen zu entwickeln näher als je, zu entscheidender Stellung im Staate bestimmt – er wäre der Kandidat für den Reichspräsidenten gewesen – griff das Schicksal ein!“87 Darf man Goetz in diesem Punkt zustimmen? Der Stuttgarter Historiker Pyta kommt in einem seiner politik- und kulturgeschichtlichen Aufsätze auf die visuellen Defizite der Weimarer Republik zu spre80 81 82 83 84
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Paul Löbe am 6. Februar 1919, in: Friedrich Ebert als Reichspräsident. Amtsführung und Amtsverständnis, hg. v. Eberhard Kolb, München 1997, S. 47. Zitiert nach Mülhausen, Ebert (wie Anm. 76), S. 174, Fußnote 38. Wolff, Tagebucheintrag vom 8. Februar 1919 (wie Anm. 71), S. 683. BayHStA, MA 3086, Nr. 69, Schreiben vom 31. Januar 1919; vgl. dazu bereits Mülhausen, Ebert (wie Anm. 76), S. 174, Fußnote 37. Eberhard Kolb, Vom „vorläufigen“ zum definitiven Reichspräsidenten. Die Auseinandersetzungen um die „Volkswahl“ des Reichspräsidenten 1919–1922, in: Friedrich Ebert als Reichspräsident. Amtsführung und Amtsverständnis, hg. v. Eberhard Kolb, München 1997, S. 109– 156. Vgl. dazu Mülhausen, Ebert (wie Anm. 76), S. 181: „Mit hoher Wahrscheinlichkeit kam deren Mehrzahl aus den Reihen der DDP, in der die Besetzung des höchsten Staatsamtes mit einem Sozialdemokraten nicht unumstritten gewesen war.“ Vgl. Kolb, vorläufiger Reichspräsident (wie Anm. 84), hier bes. S. 139–156. Goetz, Tagebucheintrag vom Herbst 1919, zitiert nach Weigand, Goetz (wie Anm. 60), S. 197.
144 VIII. Der überparteiliche Parteiführer in den Wirren der Nachkriegszeit (1918–1919) chen. Mängel, die von den republiktragenden Parteien nicht behoben werden konnten. Erst die Nationalsozialisten stellten sich neuen ästhetischen Herausforderungen, indem die Partei zum Beispiel auf ihren Wahlplakaten die Person Adolf Hitler in den Vordergrund der visuellen Aufmerksamkeit rückte.88 Vergleicht man an dieser Stelle den ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik mit Naumann, muss man feststellen, dass die beiden Persönlichkeiten unterschiedlicher hätten kaum sein können. Obwohl Ebert überparteiliche Brücken zu errichten versuchte, wurde er doch immer wieder als ein nüchterner und schwungloser sozialdemokratischer Parteisoldat aufgefasst.89 Naumann hingegen war ohne Zweifel ein über den Parteigrenzen wahrgenommener, eher pathetischer und schwungvoller Redner und Schriftsteller. Ebert war ein „farblose[r] Bürokrat ohne Fleisch und Blut“ und Naumann ein farbenfroher Künstlerpolitiker und Pastor außer Dienst. Ebert stand für „Ausgewogenheit und Mäßigung in der Wortwahl“90 und Naumann hingegen für neue Wortschöpfungen und Theatralik. Anders ausgedrückt: Die Zweckrationalität Eberts trifft auf das Naumannsche Charisma. Naumann wäre daher ohne Zweifel ein Kontrastpunkt zum vorläufigen Reichspräsidenten Ebert gewesen, da er der Weimarer Republik zumindest ein performativ ansprechendes Gesicht geben hätte können. Obwohl das Amt des Reichspräsidenten ideal auf einen wortmächtigen Charismatiker zugeschnitten gewesen war, darf man bei aller Spekulation nicht vergessen, dass Naumann eben doch nur für wenige Menschen eine Führungsfigur war.91 Der Naumann-Kreis war zwar eine einflussreiche, aber auch eine kleine Gruppe. Denn hätte Naumann wirklich die konservativen und sozialdemokratischen Wähler überzeugen und vertreten können? Auch wenn Naumann sich für eine Volksgemeinschaft aussprach, darf an dieser Stelle nicht vergessen werden, dass Naumann nur der Führer des Naumann-Kreises war, obwohl er weit über die Grenzen mit seinen Reden und Schriften wirkte. Zudem wurde er immer wieder aufgrund seiner Andersartigkeit belächelt und nicht Ernst genommen. Ganz in diesem Sinne schrieb der deutschnationale Kuno von Westarp in seinen Erinnerungen: „Bei der dritten Lesung des Etats am 15. 5. 1917 empfahl D. Naumann den Übergang zur parlamentarischen Regierungsweise mit der ihm eigenen schwungvollen und weit ausgreifenden, von überzeugtem Pathos getragenen Beredsamkeit. Seine Rede waren stets gehaltvoll und durch Form und Inhalt von großem Eindruck. Deshalb hielten wir es um der politischen Wirkung willen für nötig, seinem begeisterten Schwung 88 89
90 91
Wolfram Pyta, Visualizing Democratic Legitimacy and Authority. The Case of the Weimar Republic, in: Visual Cultures – Transatlantic Perspectives, hg. v. Volker Depkat u. Meike Zwingenberger, Heidelberg 2012, S. 69–83. Vgl. Eberhard Kolb, Vorwort, in: Friedrich Ebert als Reichspräsident. Amtsführung und Amtsverständnis, hg. v. Eberhard Kolb, München 1997, S. 8: „Wie schon von den Zeitgenossen immer wieder herausgearbeitet wurde, ging von Ebert kein faszinierendes Fluidum aus, er konnte und wollte sich nicht in Szene setzen, er war kein Mann der Phrase, der Pose, des hohlen Pathos.“ So lautet ein populäres Urteil von Kurt Tucholsky über Friedrich Ebert, zitiert nach Mühlhausen, Ebert (wie Anm. 76), S. 21, vgl. auch S. 165–168. So auch das Fazit von Portner, Die Verfassungspolitik der Liberalen (wie Anm. 26), S. 46.
VIII. Der überparteiliche Parteiführer in den Wirren der Nachkriegszeit (1918–1919)
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die nüchternen Tatsachen entgegenzustellen.“92 Noch viel schwerer wiegt die Tatsache, dass Naumanns gesundheitlicher Zustand eine Amtsführung überhaupt nicht zugelassen hätte. Wenige Wochen später, am 24. August 1919, starb er an den Folgen eines Schlaganfalls. In den unveröffentlichten Erinnerungen Wencks erfährt man, wie es um Naumanns angeschlagene Gesundheit bestellt war: „Jedes mal schon, wenn ich nach Weimar kam oder Naumann vorübergehend sich in Berlin aufhielt, war ich über sein Aussehen erschreckt. Die Nachwirkungen des Krieges mit ihren Entbehrungen, die er allzu gewissenhaft auf sich nahm, anstatt sich Erleichterungen zu verschaffen, prägten sich in seinem Gesicht, in seinem schlaff gewordenen Körper aus.“93 Im ‚Berliner Tageblatt‘ konnte man ein Tag nach Naumanns Tod in einer Drahtmeldung nachlesen: „Die Freunde Naumanns [haben] sein Ende bereits seit einiger Zeit erwarten [müssen], da er sich sehr erholungsbedürftig zeigte und in Weimar bereits vor kurzem einen leichten Schlaganfall erlitten hatte.“94 Das Ableben Naumanns erreichte sogar die amerikanische Tageszeitung ‚New York Times‘: „Friedrich Naumann, President of the German Democratic Party, died at Travemuende. He had been suffering from a heart disease […] He wrote many books dealing with religious and economic topics. In March, 1917, he published ‚Mitteleuropa‘ which caused a sensation. The book was discussed the world over.“95 Es war ein schwerer Schlag für die Naumannianer, die jetzt allesamt ihre Stifte erhoben, um ihren Meister zu ehren: „Die Glocken, die Naumann heimgeleiteten, klangen nicht nur ihm; sie klangen über das sterbende Kaisertum, sie klangen über die zwölf Millionen Toten, die jetzt auf den Schlachtfeldern vorzeitig zur Ruhe kamen. Das ist der Trost, mit dem die letzte Generation von Genies nach Hause ging. Was für eine Dämmerung.“96 Die zeitlichen Umstände waren wie geschaffen dafür, dass ein Naumann-Mythos entstehen konnte. Die Herstellung einer Verbindung zwischen dem Tod Naumanns und der Niederlage der Deutschen im Esten Weltkrieg wurde das zentrale Motiv des werdenden Naumann-Mythos: „Die Deutsche Demokratische Partei hat ihren ersten selbstgewählten Führer verloren, und dieser Führer ist einer der ersten Deutschen gewesen. Deutschland hat Grund, in seiner weltgeschichtlichen Trauer diesen Tod als einen weiteren schweren Verlust zu fühlen. Die schweren Entbehrungen in der Ernährung durch die Hungerblockade unter der er körperlich so schwer litt wie seelisch unter dem Unheil des Weltkrieges, sind mit Schuld an seinem frühen Tod.“97 Der Ausgang des Krieges mit all seinen Folgen ging einher mit der körperlichen Entkräftung Naumanns: „Oder war es des Todes Barmherzigkeit, die dem am Elend seines Vaterlandes leiblich zer92 93 94 95 96 97
Graf Westarp, Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, Zweiter Band, Berlin 1935, S. 252 f. BArch, N 3001, Nr. 70, Martin Wenck, Wandlungen und Wanderungen. Ein Sechziger sieht sein Leben zurück, S. 214. Drahtmeldung der Vossischen Zeitung, Die letzten Stunden, in: Berliner Tageblatt vom 25. August 1919, S. 2. Anonymus, Joseph [sic!] F. Naumann dead, in: New York Times vom 26. August 1919. A. Kuhnert, Realpolitik und Ideologie, in: Die Hilfe vom 13. November 1919, Nr. 46, S. 655. Conrad Haußmann, Nachruf für Friedrich Naumann, in: Aus Conrad Haußmanns politischer Arbeit, hg. v. seinen Freunden, Frankfurt a. M. 1923, S. 148–153, hier S. 148.
146 VIII. Der überparteiliche Parteiführer in den Wirren der Nachkriegszeit (1918–1919) brochenen Mann weiteres Leid und neue Enttäuschung ersparen wollte?“98 Erneut wurde Naumann zu einem Propheten erkoren, da er schon vor Jahrzehnten die politische Entwicklung in Deutschland vorausgesehen hatte; obwohl der historische Lauf der Dinge weder zu ‚Demokratie und Kaisertum‘ noch zu ‚Mitteleuropa‘ geführt hatte: „Uns war er damals Künder und Führer, jetzt in seinem Tode steht er lebendig vor dem deutschen Volke als der Prophet des deutschen Werdens. Welch eine tiefe Tragik liegt in dem Prophetentum!“99 Dieser Naumann-Mythos war ein echter Glücksfall für das Weiterbestehen des Naumann-Kreises, was sich im nächsten Kapitel zeigen wird.
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Hermann Bousset, Friedrich Naumann †, in: Reclams-Universum vom 4. September 1919, Heft 49, S. 258–262, hier. S. 259. Ebd.
IX. NAUMANNS NACHLEBEN Wie in dem vorigen Kapiteln gezeigt wurde, hinterließ der Erste Weltkrieg bei Friedrich Naumann sichtbare Narben an seinem Körper, wovon er sich nie wieder erholen konnte. Der nunmehr international bekannte Führer des Naumann-Kreises starb mitten in den Wirren der Nachkriegszeit; nur wenige Monate nachdem der deutsche Kaiser abdankte. Ein neue Meistererzählung der Naumannianer war geboren; ein Mythos, den es in diesem Kapitel darzustellen gilt. Nicht nur der Hamburger Naumannianer Walter Classen machte den Ersten Weltkrieg für Naumanns plötzlichen Tod in seinen Lebenserinnerungen verantwortlich: „Als Friedrich Naumann, von den Entbehrungen der Kriegsjahre erschöpft, am Strand von Travemünde tot zusammen sank, da war das ein schweres Unglück für Deutschland. Er wäre der rechte Nachfolger Eberts als Reichspräsident gewesen.“1 Auch in einem der vielen Beileidsschreiben an Naumanns Gattin wird ersichtlich, wer der Schuldige an dem Tod des erhofften Nachfolgers Friedrich Eberts war: „Der Krieg hat den auch körperlich Gewaltigen in seiner Kraft zerrieben; auch er ist pro patria gestorben. […] Ein omnisenter Schriftsteller, ein glänzender Redner. […] Sein Haupt ruht, aber sein Gedanke wacht: tausend Geister haben ihn empfangen u. segnen ihn.“2 Ein Kondolenzschreiben, in dem zugleich die körperlichen und geistigen Gaben Naumanns noch einmal erwähnt werden. Darf hinsichtlich des werdenden Naumann-Mythos gefragt werden: Starb er nicht zur rechten Zeit? Überall in Deutschland veranstalteten die Naumannianer nun öffentliche Trauerfeiern, worüber der württembergische Naumannianer Conrad Haußmann in einem Brief an den Naumannianer Wilhelm Heile berichtete: „Wir haben beschlossen, am Sonntag eine öffentliche Trauerfeier für Naumann in Stuttgart zu machen, in welcher das Schwabenland ihm dankt. Ich werde die Ansprache halten. […] Wir sollten möglichst viele persönliche Eindrücke sammeln, um unter der Bewegung, die sein Verlust erzeugt, möglichst viele lebendige Spiegelungen seines Wesens zu erhalten.“3 Auch Haußmann kam in seiner Ansprache vom 31. August sowohl auf Naumanns geistige und körperliche Geben zu sprechen als auch auf die Ästhetik des Performativen: „Das demokratische Schwabenland nimmt tiefsten Anteil an der Trauer, heute noch stolz darauf, daß der dritte württembergische Wahlkreis den nationalen Wert Naumanns für das parlamentarische Leben zuerst erkannt […] hat. Ueberlebensgroß steht sein Bild vor uns. Seine ragende Gestalt, sein blauer Blick und die Falten seiner Stirne waren in der Nüchternheit vieler Dinge die lebendige Verkörperung der Gedankenwelt. […] Zu der makellosen Selbstlosigkeit trat sein 1 2 3
Walter Classen, Lebenserinnerungen, in: Walter Classen, Ein Hamburger Pädagoge zwischen Tradition und Moderne, hg. u. eing. v. Rainer Hering, Herzberg 2001, S. 96 f. BArch Nachlass Naumann, N 3001, 48, Blatt 238, {?} an Magdalena Naumann am 28. September 1919. HstASt, Nachlass Conrad Haußmann, Q1/2, Bü 119, Conrad Haußmann an Wilhelm Heile am 28. August 1919.
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IX. Naumanns Nachleben
an das Geniale heranreichende Talent: die Gabe des Wortes, des geschriebenen wie des gesprochenen, war […] so groß, daß es zu höchsten Kunst wurde. Seiner freien Gedankenentwicklung zuzuhören, war trotz seines nicht starken Organs ein hoher ästhetischer Genuß.“4 In Niedersachsen wiederum veranstaltete der Ortsverein der Deutschen Demokratischen Partei im alten Rathaus von Hannover eine Gedächtnisfeier. Hier referierte unter anderem der Hainhölzer Pastor Adolf Chappuzeau über „Naumann als [den] Führer“5. Theodor Heuss schilderte in der knapp zwanzig Jahre später erscheinenden Naumann-Biographie die Beerdigung seines geistigen Ziehvaters in einer für ihn untypischen blumigen und auch sakral klingenden Sprache: „Als der Sarg in die Erde des Zwölf-Apostels-Friedhofes [in Berlin-Schöneberg] gebettet wurde, fuhr ein plötzlicher wilder Regen nieder.“6 Auch viele andere schriftliche Quellen aus dem Jahr 1919 zeugen davon, dass die Naumannianer selbst ihre Sprache auf Grund der Kontingenzerfahrung des Todes umstellten. Das hatte einen einfachen Grund. Mythen müssen an semantische Traditionen und an die kulturellen Strukturen einer Gesellschaft anknüpfen.7 Am Grab Naumanns in Berlin-Schöneberg konnte man folgenden kriegerischen Sprachduktus vernehmen: „Der Führer ist gefallen, der Freund von uns gegangen. Der Kämpfer hat seinen Kampf ausgekämpft und ist aus dem Kampf geschieden. Wir aber sind zurückgeblieben auch im Kampf.“8 Wie unschwer zu erkennen, war der Krieg schuld an Naumanns Tod. Weiter betonte Schiffer in dieser kriegerisch anmutenden Metaphorik: „Ihm hat der Tod die Fahne aus der Hand genommen, wir müssen sie wieder aufnehmen.“9 Der Tod Naumanns hatte plötzlich wieder einen kleinen Sinn bekommen. Der Naumann-Mythos war geboren. Klassische Mythen sind immer Produkte des Krieges; das wusste auch der eben zitierte Jurist und Vizekanzler im Kabinett Scheidemann, Eugen Schiffer. Naumanns Tod trägt daher deutlich die Züge eines Martyriums im Namen des Ersten Weltkrieges. Am 11. September des Jahres 1919 verkündeten die Naumannianer in der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘: „Wir haben unseren Führer verloren. Wir dürfen und wollen uns jetzt aber nicht damit begnügen, in Schmerz und wehmütiger Trauer sein Gedächtnis zu ehren, sondern wir scharen uns mit der alten „Hilfe“-Gemeinde weiter um seinen Namen. Wir heben die Fahne auf, die seinem Arm entfallen ist, entschlossen, den alten und neuen Freunden voranzuziehen im Kampfe und in der Arbeit der nationalen und sozialen Gedanken, dessen Künder unser Führer war.“10 Und am 18. September 1919 titelte die bis vor kurzem noch von Naumann selbst 4 5 6 7 8 9 10
Conrad Haußmann, Nachruf für Friedrich Naumann, in: Aus Conrad Haußmanns politischer Arbeit, hg. v. seinen Freunden, Frankfurt a. M. 1923, S. 148–153, hier S. 148–150. Vgl. BArch N 3001, 48, Blatt 92, Friedrich Naumann, Gedächtnisfeier der Deutschen Demokratischen Partei für Niedersachsen, das Manuskript der Rede gilt als verloren. Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, München 31969, S. 534. Andreas Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannmythos: zur Entstehung des Nationalbewußtseins der Deutschen, Hamburg 1966, S. 61 Rede Schiffers im Jahre 1919, zitiert nach Martin Wenck, Friedrich Naumann. Ein Lebensbild, Berlin 1920, S. 160. Ebd. An die Freunde und Leser der „Hilfe“! In: Die Hilfe, 25 (1919), Heft 37, S. 497.
IX. Naumanns Nachleben
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herausgegebenen Zeitschrift: „Friedrich Naumann ist dahingegangen. Er hinterläßt ein geistiges Erbe, das nicht nur als Erinnerung gepflegt, sondern als eine geschichtliche Kraft weiterentwickelt werden muß. […] Aus dem Glauben an die bleibende Kraft der Ideen, die Friedrich Naumann vertreten hat, haben sich die Unterzeichneten zusammengeschlossen, um als Herausgeber der ‚Hilfe‘ Naumanns Werk weiterzuführen.“11 Sieben Naumannianer unterzeichneten dieses wichtige Dokument: Wilhelm Heile, Gertrud Bäumer, Anton Erkelenz, Walter Goetz, Ludwig Haas, Ernst Troeltsch und Wilhelm Vershofen. Doch nicht nur diese sieben Personen sahen nun ihre Aufgabe darin, Naumanns Werk aus dem Kaiserreich in die soeben neu entstandene Deutsche Republik zu tragen. Auch andere Naumannianer versuchten mit ganzer Kraft, das Werk Naumanns fortzusetzen. Denn nach Ansicht der Naumannianer durfte ihr Führer unter keinen Umständen in den Trümmern der Nachkriegszeit verloren gehen. Dafür war er den Weggenossen zu sehr Mittelpunkt ihres bisherigen Lebens gewesen. Gerade jetzt – in den Wirren der Nachkriegszeit – bedurfte es einer starken Persönlichkeit. Ganz in diesem Sinne bemerkte Haußmann: „Nie brauchte Deutschland Führer notwendiger. Das Fahrzeug Deutschland ist im Sturm ein Wrack mit geborstenem Mast, nur ein guter Lotse, der sich im Dunkel an den Sternen der Menschheit orientiert, kann durch diesen Sturm führen. Naumann sollte uns seine Richtung steuern. Wir haben ihn verloren! Aber wir können ihn zurückgewinnen. Aus der Andacht der Erinnerung muß der Wille der Aneignung steigen. Das ‚Stirb und werde‘ hat sich nicht bloß an dem großen Dichter bewahrheitet, der dieses tiefe Wort gesprochen hat. Auch Naumann wird ‚werden‘.“ Und dann sprach Haußmann den alles entscheidenden Satz aus: „Wir haben einen toten Führer, an dem wir emporschauen können […]. Wie den Cid Campeadour wollen wir Friedrich Naumann in den Geisteskämpfen voranreiten lassen. […] Wir denken und danken ihm und glauben seine Stimme zu hören und Ihr anderen schließt die Glieder.“12 Naumann wurde zu einer Legende, mit dem man noch immer einen glänzenden Sieg erringen konnte. Den Ausgangspunkt dieser Geschichte bildet zweifelsohne das Verschwinden des Mittelpunktes des Naumann-Kreises. Der Soziologe Georg Simmel bemerkte einmal, dass mit dem Tod der Bienenkönigin der ganze Staat in völlige Anarchie gerate.13 Um dieses Szenario des Verfalls des Naumann-Kreises zu umgehen, bedarf es bestimmter Maßnahmen, die dieser Gruppenauflösung entgegensteuern. Neben dem sich Klammern der Naumannianer an übrig gebliebene Bruchstücke14 Naumanns, das Flüchten in die Vergangenheit mit den dazugehörigen gemeinsamen Erinnerungen,15 war es vor allem die Konstruktion eines Naumann-Mythos, der die Vergangenheit mit der Gegenwart verband.16 Mythen sind das integrierende 11 12 13 14 15 16
An die Freunde und Leser der „Hilfe“! In: Die Hilfe, 25 (1919), Heft 38, Titelblatt. Haußmann, Naumann (wie Anm. 4), S. 152 f. Vgl. Georg Simmel, Die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe, in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen. 1894 bis 1900 (Band 5), hg. v. Heinz-Jürgen Dahme u. David P. Frisby, Frankfurt 1992, S. 311–372, bes. S. 322. Vgl. dazu Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 15. Vgl. Ebd., S. 247. Vgl. dazu Wolfgang Hardtwig, Der Bismarck-Mythos. Gestalt und Funktion zwischen politi-
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Moment einer jeden Gemeinschaft: Sie prägen die Lebensform und statten die Widerfahrnisse des Lebens mit Sinn aus.17 Mythen sind das „mimetische Instrument par excellence“18. In einem Brief vom 9. Oktober 1919 kommentierte die deutsche Schriftstellerin Ricarda Huch die Mythologisierung Naumanns durch die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer: Friedrich Naumann „muß ein sehr guter und auch persönlich sehr anziehender Mensch gewesen sein, aber den Versuch der Bäumer, einen Helden aus ihm zu machen, finde ich ganz verfehlt.“19 Der heutige Historiker weiß, dass Naumann politisch nicht die Relevanz besaß, die ihm damals von Seiten seiner Mitstreiter zugeschrieben wurde. Schaut man aber auf die Schriften der Naumannianer, die nun im Zuge des „Weltbrand[s] und [der] Götzendämmerung“20 wie Pilze aus dem Boden sprossen, könnte man beim Lesen der Schriften den Eindruck gewinnen, dass Naumann die politische Größe eines Bismarcks besaß. So dichtete der spätere stellvertretende Ministerpräsidenten der DDR, Otto Nuschke: „Am Pfingstsonntag des Jahres 1913 stiegen wir zu zweien auf die Berge […] und Friedrich Naumann hielt von der höchsten Spitze Ausschau ins Deutsche Vaterland, und als wir die stillen Dörfer und die bewaldeten Hügel betrachtet und der ratternden Eisenbahn und dem fernen Kirchengeläut andächtig gelauscht haben, da sagte er in seiner sachlichen Frömmigkeit den Vers aus des Schäfers Sonntagslied: ‚Das ist der Tag des Herrn!‘“21 Für Nuschke war Naumann ein Prophet und ein Hirte, dessen Stecken und Stab die Herde der Naumannianer tröstete, die sich trotz Maschine und Eisenbahn nicht zu fürchten brauchte. Naumann, der Prophet, der auf den Zuhörer strahlte und dessen ganze Person in Besitz nahm. Der evangelische Theologe Hermann Bousset schrieb darüber ebenso emotional, ganz von Naumanns plötzlichem Tod eingenommen: „Und ich will auch hier meinen Meister, dem ich mehr als 25 Jahre die Treue hielt, und über das Grab hin Treue und Dank bewahre, selbst zum Schluß als ein Gruß das Wort geben […].“22 Der Naumann-Mythos verhalf den Naumannianern den Kreis weiterhin „als eine handlungsfähige und sinnvolle, gleichsam historische gemeinte Einheit wahrzunehmen.“23 Der Theologe Adolf Deißmann war daher realistisch und weit-
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scher Öffentlichkeit und Wissenschaft, in: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, hg. v. Wolfgang Hardtwig, Göttingen 2005, S. 62. Vgl. Franz Koppe, Mythos, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (Band 2: H-O), hg. v. Jürgen Mittelstraß, Stuttgart/Weimar 2004, S. 952–953. Philippe Lacou-Labarthe / Jean-Luc Nancy, Der Nazi-Mythos, in: Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, hg. v. Elisabeth Weber u. Georg Christoph Tholen, Wien 1997, S. 158S. 190, hier S. 172. Ricarda Huch, Briefe an die Freunde, hg. v. Marie Baum, Zürich 1986, S. 86; dazu schon Angelika Schaser, Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln/ Weimar/Wien 22010, S. 132. Gertrud Bäumer, Max Weber (Nekrolog), in: Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente von Werk und Persönlichkeit, hg. v. René König u. Johannes Winckelmann, Köln 1964, S. 47–48. Otto Nuschke, Führer des Volks. Friedrich Naumann (Heft 3/4), Berlin 1919, S. 13. Hermann Bousset, Friedrich Naumann und sein Erbe, in: Jungdeutsche Stimmen. Rundbriefe für den Aufbau einer wahrhaften Volksgemeinschaft, 1 (1919), S. 319 ff., spez. S. 321. Dörner, Politischer Mythos (wie Anm. 7), S. 59.
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sichtig, wenn er während Naumanns Trauerfeier richtig bemerkte: „Er war es [das ewige Licht], er bleibt es, und er bleibt es um so mehr, je mehr sich das, was irdisch an ihm war nunmehr verklärt im ewigen Lichte.“24 Das ewige Licht ist eine Metapher zur Erinnerung an die omnipräsenten Gegenwart Gottes. Deißmann, ein Experte auf dem Gebiet der neutestamentlichen Sprachgeschichte, war schon seit 1896 ein treuer Weggefährte Friedrich Naumanns. Nicht nur Deißmanns Beiträge über Naumann in der Zeitung ‚Evangelischer Wochenbrief‘ zeugen von dieser lebenslangen Freundschaft; auch Naumanns Ernennung zum Ehrendoktor im Jahre 1903 war nach dem Vorschlag des Professors aus Heidelberg und Berlin erfolgt.25 Wie ging es nun weiter mit dem Naumann-Kreis? Die meisten Naumannianer hielten zur Zeit, als Naumann starb, das Parteibuch der frisch gegründeten Deutschen Demokratischen Partei in ihren Händen. Alleine dem Vorstand der jungen Partei gehörten im Jahre 1919 mit Friedrich Naumann drei weitere Naumannianer an: Gertrud Bäumer, Otto Nuschke und Max Weber. Mit der Liste der Mitglieder des Hauptvorstandes ließ sich die Reihe noch erweitern: Wilhelm Heile, Elly HeussKnapp, Georg Hohmann, Marianne Weber und Martin Wenck.26 Auch zu späteren Zeiten beeinflussten die Naumannianer – wie beispielsweise Anton Erkelenz, Wilhelm und Hermann Bousset, Peter Bruckmann, Erich Eyck, Hellmut von Gerlach, Gerhard von Schulze Gaevernitz, Walter Goetz, Willy Hellpach, Gustav Stolper, Werner Stephan und natürlich Theodor Heuss – die politische Ausrichtung der DDP maßgebend. Der Vizekanzler im Kabinett Scheidemann Bernhard Dernburg, der ab dem Jahre 1926 bestellte Innenminister Wilhelm Külz und der preußische Finanzminister Hermann Höpker-Aschoff kamen ebenfalls von Friedrich Naumann, den sie in ihrer Jugend allesamt bewunderten.27 Die Deutsche Demokratische Partei war für die Naumannianer ohne Zweifel die neue Heimat. In einem von Anton Erkelenz herausgegebenen „Handbuch für republikanische Politik“ aus dem Jahr 1928, an dem auch die Naumannianer Otto Nuschke, Erich Koch-Weser, Theodor Heuss, Walter Goetz, Werner Stephan und Gertrud Bäumer mitarbeiteten, stellte man fest: „Die Demokratische Partei war von Naumanns Ideen stark erfüllt, zahlreiche alte Nationalsoziale gehörten zur demokratischen Fraktion der Nationalversammlung. […] Als Naumann an die Spitze der Partei trat, kam für alle Welt unzweideutig zum Ausdruck, daß die Demokratische Partei für die Verwirklichung seiner Forderungen eintreten wolle. Wurde auch dieser Wille durch Naumanns Tod nicht erschüttert, so war sein Tod doch ein unersetzlicher Verlust. […] Die Partei verlor mit ihm ihren schöpferischen [eine ästhetische Kategorie!] geistigen Führer, die Nation aber eine Persönlichkeit, in der sich Prophet, Erzieher und Bußprediger vereinten.“28 24 25
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Rede Deißmanns im Jahre 1919, zitiert nach Wenck, Naumann (wie Anm. 8), S. 156. Vgl. dazu ausführlich Albrecht Gerber, Protestantism and Social Liberalism in Imperial Germany. Gustav Adolf Deissmann (1866–1937) and Friedrich Naumann (1860–1919) in: Australian Journal of Politics and History, Heft 57/2, Juni 2011, S. 174–187, bes. S. 177; vgl. dazu auch Jürgen Kaube, Max Weber. Der Heidelbergmensch, in: F. A. Z. Vom 11. Januar 2014, S. 5. Vgl. BArch Berlin R/45/III, Nr. 15, provisorischer Vorstand und Mitgliederliste, S. 1–7. Vgl. dazu Reinhard Opitz, Der deutsche Sozialliberalismus 1917–1933, Köln 1973, S. 21. Walter Goetz, Die demokratischen Fraktionen im Reich und in den Ländern, in: Zehn Jahre deutsche Republik. Ein Handbuch für republikanische Politik, hg. v. Anton Erkelenz, Berlin 1928, S. 148–168, hier S. 151–153.
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IX. Naumanns Nachleben
Schon unmittelbar nach Naumanns Ableben richtete der Parteivorstand der DDP einen Appell an alle Freunde und Mitarbeiter „das Erbe Friedrich Naumanns [zu] wahren.“29 Vom 13. bis zum 15. Dezember 1919 fand der zweite außerordentliche Parteitag der Deutschen Demokratischen Partei in Leipzig statt. Der Parteitag stand ganz im Zeichen des verstorbenen ehemaligen Parteiführers Naumann: „Dieser Parteitag sollte Friedrich Naumann als Leiter unserer Partei sehen, es war die Erfüllung seines Lebens, seines Programms, als er an die Spitze der neuen Demokratie berufen wurde. Er ist von uns gegangen und hat das Werk nicht mehr vollenden können. […] Er ist von uns gegangen und hat uns ein Erbe hinterlassen, und auch hier gilt, daß man das Erbe erwerben muß, um es zu besitzen.“ Neben dem Naumannianer Petersen war es der Jurist Erich Koch-Weser, der an Naumanns Leistung mit einer Rede gedachte: „Lange verkannt, hat er am Schluß seines Lebens noch die Genugtuung gehabt, daß eine große neue Partei sich hinter ihn und seine Gedanken gestellt hat. Es bleibt für alle Zeiten unser Stolz, daß wir mit der Wahl Naumanns zum Vorsitzenden ihm den Dank für seine Lebensarbeit abgestattet haben.“ Richard Frankfurter stellte abschließend fest: „Wir sitzen und warten auf einen Kopf und einen Mann, und wir haben diesen Mann einmal unter uns gehabt, das war Friedrich Naumann. Vergessen Sie nicht, das Beste in diesem Werk ist doch Naumanns Werk.“30 Der verstorbene Naumann fungierte noch immer als Bindeglied der jungen Partei! Auf ihm fußte schließlich das Parteiprogramm.31 Darüber hinaus ging es den Naumannianern innerhalb der Deutschen Demokratischen Partei in erster Linie um die Gründung eines nach Naumann benannten Vereins. Doch auf einer Sitzung des Vorstandes der DDP am 25. Oktober 1920 wurde der „Aufruf zur Gründung des Vereins Friedrich Naumann“32 heftig diskutiert. Denn die Naumannianer Carl Petersen, Eugen Schiffer, Anton Erkelenz, Otto Nuschke und Friedrich Weinhausen mussten sich auf der Sitzung unter anderem gegen den Teil der DDP zu Wehr setzen, welche in dem Naumann-Verein eine „Sonderbündelei“ vermuteten. Doch die Partei-Spitze – Naumannianer – konnte letzten Endes die Gründung des Naumann-Vereins zumindest in Gross-Berlin durchsetzen. Obwohl die Naumannianer in der DDP auch in den folgenden Jahren sich regelmäßig auf Naumann beriefen33, fand das Nachleben des Naumann-Kreises in erster Linie auf einer narrativen Ebene statt. Und das verwundert nicht: Denn Literatur erinnert und ist zugleich „Produzentin politischer Deutungskultur.“34 In diesem Sinne ist auch die Funktion des seit 1921 von dem Demokratischen Verlag herausgegebenen Friedrich Naumann-Kalenders zu verstehen. In dem Vorwort des 29 30 31 32 33 34
BArch Berlin R/45/III, Nr. 22, Antrag des Hauptvorstandes der DDP, Anlage 1, S. 51. Bericht über die Verhandlungen des 2. außerordentlichen Parteitages der Deutschen Demokratischen Partei, abgehalten in Leipzig vom 13.–15. Dezember 1919, S. 7, S. 11 u. S. 153. Vgl. dazu auch Joachim Stang, Die Deutsche Demokratische Partei in Preussen 1918–1933, Bonn 1994, S. 42, Fußnote 1. BArch Berlin, R/45/III, Nr. 16, Sitzung des Vorstandes der Deutschen Demokratischen Partei am 25. Oktober 1920, S. 71–74. Vgl. BArch Berlin, R/45/III, Nr. 17, Das Protokoll der Vorstandssitzung der Deutschen Demokratischen Partei vom 10. November 1921, S. 96. Wolfram Pyta, Politikgeschichte und Literaturwissenschaft, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur, 2011, Band 36, Heft 2, S. 383.
IX. Naumanns Nachleben
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zweiten Jahrgangs konnte man nachlesen: „Zum zweiten Male geht unser Kalender hinaus, um während eines Jahres als treuer Weggenosse die Freunde und Verehrer der großen und reinen Persönlichkeit Friedrich Naumann zu begleiten. […] Die Aufsätze, eine Auslese aus Naumanns Schriften, wollen dazu beitragen, bei allen Lesern des Kalenders den Wunsch zu stärken, den großen Menschen, Führer und Politiker Naumann durch seine gesamten Werke zu verstehen und ihm in seiner Größe nachzufolgen.“35 Kalender erinnern und schützen vor dem Vergessen. Um so besser, wenn der Kalender mit Texten und Bildern von und über Naumann ausgestattet war. Darüber hinaus war es ab 1919 möglich, Naumann-Postkarten käuflich zu erwerben.36 Der Naumann-Mythos bekam so eine visuelle Komponente dazu. Die unsichere Nachkriegszeit, das Erstarken der republikfeindlichen Kräfte und die sich abzeichnende Inflation versetzten den republiktreuen bürgerlichen Parteien, zu denen die DDP gehörte, in eine starke Krise. Was sollte die maßgeblich an der Weimarer Reichsverfassung beteiligte Partei den nunmehr immer stärker werdenden Erwartungshoffnungen nach einem Führer entgegensetzen?37 Besaß der Nationalliberalismus mit dem ehemaligen Naumannianer Gustav Stresemann noch eine starke Persönlichkeit, so fehlte der linksliberalen DDP spätestens seit dem plötzlichen Tod Naumanns das integrierende Zentrum.38 Dessen Nachfolger, der Naumannianer Carl Petersen, konnte diese Rolle nicht ausfüllen. Betrachtet man die Entwicklung der Stimmenanteile der DDP bei den folgenden Reichstagswahlen, so würde man leicht eine Verbindung zwischen dem Ableben Naumanns auf der einen und dem Niedergang der Partei auf der anderen Seite feststellen. Hatte die DDP mit Naumann noch besagte 18, 5 % der Stimmen erringen können, so schrumpfte sie ohne Naumann im Juni 1920 auf 8, 3 %, im Jahr 1924 auf 6, 3 % und 1928 gar auf nur 4, 9 % der Wählerstimmen. Sicher war es nicht nur das Fehlen einer Führer-Persönlichkeit, die die DDP in eine Krise stürzte. Die ökonomische Entwicklung, wie die Hyperinflation des Jahres 1923 und die Deflation des Jahres 1929 taten ihr übriges, dass die DDP immer mehr potentielle Wähler verlor. Um so mehr blickten die Naumannianer innerhalb der Deutschen Demokratischen Partei zurück auf die Vergangenheit und erkoren Naumann erneut zu ihrem geistigen Führer. Sogar auf einem Wahlplakat aus dem Jahre 1924 warb die DDP mit dem wuchtigen Kopf Naumanns. Unter der Skizze Liebermanns von Naumann standen folgende schwarze Lettern: „Wir suchen den deutschen Volksstaat auf geschichtlicher Grundlage! – Friedrich Naumann. Wählt Deutsch Demokratisch“39. Das Porträt Naumanns war somit das erste Mal im ganzen Reich zu sehen! Die DDP versuchte auf diesem Wege das Visualisierungspotential der markanten und wuchti35 36 37 38 39
Zum Geleit, im: Naumann-Kalender 1922, hg. v. Demokratischen Verlag, S. 28. Vgl. Briefkasten, in: Die Hilfe vom 4. September 1919, S. 406. Vgl. Michael Wildt, Volksgemeinschaft und Führererwartung in der Weimarer Republik, in: Poltische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren, hg. v. Ute Daniel, Inge Marszolek, Wolfram Pyta u. Thomas Welskopp, München 2010, S. 182. Vgl. Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2000, S. 18; vgl. auch Bruce B. Frye, The German Democrativ Party 1918–1933, in: The Western Political Quarterly, Vol. 16, No. 1 (1963), S. 167–179, bes. S. 169–171. Wahlplakat der DDP zur Reichstagswahl 1924, Stiftung Schloß Friedenstein Gotha: Museum für Regionalgeschichte und Volkskunde, Inv. Nr. MRV 7110.
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gen Erscheinung Naumanns auszunutzen. Zugleich zeigt das Wahlplakat aber auch deutlich, dass der Partei ein vorzeigbarer Kopf aus der Gegenwart fehlte. Willy Hellpach, Carl Petersen oder Erich Koch-Weser kamen nicht an den verstorbenen – aber immer noch populäreren – Friedrich Naumann heran.
Wahlplakat der DDP zur Reichstagswahl 1924 © Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, Inv.-Nr. 7110
Resigniert stellte der Naumannianer Erkelenz auf einer Sitzung des Hauptvorstandes der DDP im Jahre 1929 fest: „Er gedenkt des vor 10 Jahren verstorbenen Freundes und Führers Dr. Naumann, dem wir ein treues Andenken bewahren. Manches wäre wohl besser geworden, wenn er unter uns gewesen wäre und mit den grossen Akkorden, die er anzuschlagen wusste, die Situation geklärt hätte; […] Eines möchte er heute besonders feststellen, dass unsere Partei vielleicht nicht genug getan habe, um das Andenken Naumanns wachzuhalten. Die Zeit sei nun gekommen, in der eine gute Schilderung des Lebenswerkes Naumanns auf den Markt gebracht werden müsste.“40 Bevor im nächsten Kapitel auf die Naumann-Biographie von 40
BArch Berlin, R/45/III, Nr. 21, Sitzung des Hauptvorstandes der DDP am 28. August 1929,, S. 96.
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Theodor Heuss Bezug genommen wird, gilt es in diesem Kapitel den narrativen Deutungskampf der Naumannianer in der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ darzustellen. Darüber hinaus gilt es zu fragen, welche Textsorten den Naumannianern zur Verfügung standen. Wie wurde der Naumann-Mythos erzählt? Man kann leicht feststellen, dass der Name Naumann in der im Kaiserreich entstandenen Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ auch in der Weimarer Republik noch regelmäßig anzutreffen ist. Doch die realpolitische Ausgangssituation hatte sich verändert. Wie schon erwähnt, hatten es die liberalen Parteien in der Weimarer Republik nicht leicht, Menschen von ihren politischen Standpunkten zu überzeugen. Lag die Auflage dieser ‚Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst‘ unter Naumanns Leitung noch bei fünfzehntausend Stück, so wurden im Jahre 1929 nur noch achttausend Exemplare gedruckt, und 1933 lediglich tausend Exemplare verkauft.41 Nicht nur auf Grund dieser Tatsache versuchte Theodor Heuss in einem kleinen Buch aus dem Jahre 1927 die aus seiner Sicht wichtigsten Vertreter der Weimarer Demokratie zu ehren. Die Schrift trug den markanten Titel „Führer aus Deutscher Not. Fünf politische Porträts“.42 Neben dem ersten Reichspräsidenten Weimars, Friedrich Ebert, behandelte Heuss folgende in den letzten Jahren verstorbene Naumann-Anhänger: Max Weber, Conrad Haußmann und Hugo Preuß. Doch an erster Stelle stand – wie zu erwarten – eine andere Person aus der Vergangenheit, dessen Mentor und Ziehvater Friedrich Naumann. Sein Fazit lautete: „Denn eine Geister und Seelen sammelnde Persönlichkeit, wie sie der junge Naumann gewesen ist, fehlt heute Deutschland.“43 In Deutschland sollte nun bald die Notverordnung des Präsidenten stärker sein als das Parlament, die republikfeindlichen Kräfte mächtiger als die Demokraten. Für die Naumannianer wurde es nun immer charakteristischer, dass sie ganz im Sinne des Historismus das Sinnhafte in der Vergangenheit suchten; in einer Vergangenheit, in der ihr Führer Naumann noch lebte. Das war ein Identitätsbedürfnis des ganzen Bildungsbürgertums.44 Anfang des Jahres 1929 planten die Naumannianer eine Sondernummer der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ auf den Markt zu bringen: „Ende August ist der zehnjährige Todestag Naumanns. Es ist selbstverständlich, dass ‚Die Hilfe‘ zu diesem Tage eine besondere Nummer herausgibt, deren Inhalt dem Andenken Naumanns gewidmet ist.“45 In diesem Gedächtnisheft wurden sowohl Schriften von als auch über Naumann veröffentlicht. Der Naumannianer und Gewerkschaftsführer Anton Erkelenz beispielsweise pries Naumann in einem Aufsatz als den „letzten großen Prophet[en], Prediger und Erzieher, der im Kaiserreich noch gewirkt“ habe. 41 42 43 44 45
Vgl. Thomas Hertfelder, Meteor aus einer anderen Welt. Die Weimarer Republik in der Diskussion des Hilfe-Kreises, in: Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik, hg. v. Andreas Wirsching u. Jürgen Eder, Stuttgart 2008, S. 29–55, S. 27. Theodor Heuss, Führer aus Deutscher Not. Fünf politische Porträts, Berlin 1927. Ebd. S. 45. Bernhard Giesen, Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2, Frankfurt 1999, S. 214–224, hier S. 224. BArch Koblenz, Nachlass Anton Erkelenz, N 1072, 52, Anton Erkelenz an Theodor Heuss am 2. Mai 1929.
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Da seine Ideen von Kaisertum und Demokratie nicht erhört wurden, so Erkelenz, stürzte das Reich in das Verderben, von dem es noch heute zehre.46 Ob dessen Pläne von einem „Naumannzimmer“ diese Entwicklung hätten stoppen können, gilt es mit Theodor Heuss allerdings zu bezweifeln: „Vor einem Naumannzimmer habe ich etwas Angst, weil mir erstens diese Art von Heroenehrung nicht Naumann zu entsprechen scheint, weil der Charakter seiner Stube von spezifischer Bibliothek bestimmt war und weil die Bilder und christlichen Embleme, die dem eigentlichen Arbeitsraum den Charakter gaben, überall eher hinpassen als in den Demokratischen Club in der Viktoriastraße.“47 Diese Kritik hinderte Heuss jedoch nicht daran, in seinem späteren Altersdomizil in Stuttgart auf dem Killesberg ein persönliches Naumann-Zimmer – dessen Arbeitsraum – einzurichten, das von Max Liebermanns Studie zu Friedrich Naumann geschmückt wurde.48 In einem immer wieder gern zitierten Brief schrieb Max Weber, dass Naumann entweder zu früh oder zu spät kam.49 Für Gertrud Bäumer jedenfalls war Friedrich Naumann seiner Zeit weit voraus. In einem Aufsatz in der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ aus dem Jahre 1929 stellte die Naumannianerin fest: „Er wird erst dann richtig auferstehen, wenn er den Vermittler zum Heute findet.“50 Wer könnte dazu besser geeignet sein als die Naumannianer selber? Zwei Jahre später, im Jahre 1931, nach Wirtschaftskrise und weiterem Verlust der Wählerstimmen für die nunmehr Deutsche Staatspartei (DStP), war sich der Hilfe-Kreis einig, dass Friedrich Naumann der Führer in die Zukunft sei.51 Ein verstorbener Pfarrer wurde als Heilsbringer für die Zukunft interpretiert – und das in Zeiten – in welcher die NSDAP 18,30 % der Stimmen holte! „Es ist die innere und äußere Lage selbst, die heute nach führender Kraft, führenden Ideen, führender Schau verlangt.“ Seine Idee einer „Lebenseinheit des Volkes“, einer Volksgemeinschaft, welche sich in dem „Miteinander biologischer Mächtigkeit, seelischer Kräfte, geistiger Formen, wirtschaftlicher Organisation, geopolitischer Lage“ ausdrückte, war zugleich „die Brücke von der Vergangenheit zur Zukunft.“52 Wie unschwer zu erkennen, passte sich die Sprache erneut 46 47 48
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Anton Erkelenz, Prophet, Prediger und Erzieher, in: Die Hilfe 35 (1929), Nr. 16, S. 389–390, bes. S. 389. BArch N 1072, 55, Theodor Heuss an Anton Erkelenz am 21. November 1929. Vgl. Theodor Heuss an Alfred Wiener am 22. April 1951, in: Theodor Heuss, Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954, hg. u. bearb. v. Ernst Wolfgang Becker, Martin Vogt u. Wolfram Werner, Berlin 2012, S. 231; Theodor Heuss, Tagebuchbriefe 1955–1963, hg. v. Eberhard Pikart, Tübingen/Stuttgart 1970, S. 49 u. 451. Max Weber an Magdalena Naumann am 27.8.1919, in: Max Weber, Briefe 1918–1920, hg. v. Gerd Krumeich u. M. Rainer Lepsius, in: Ders., Gesamtausgabe (Band II/10,2), Tübingen 2012., S. 743. Gertrud Bäumer, Friedrich Naumann heute, in: Die Hilfe 36 (1929), Nr. 16, S. 387–389, bes. S. 389. Anonymus, Friedrich Naumann als Führer in die Zukunft, Die Illusion in der Politik, in: Die Hilfe 37 (1931), Nr. 35, S. 829. Die DStP wurde bereits vor der Reichstagswahl 1930 gegründet. Die Linksliberalen fusionierten für kurze Zeit sogar mit dem völkisch und auch antisemitischen Jungdeutschen Orden; vgl. Peter Lösche / Franz Walter, Die FDP. Richtungsstreit und Zukunftszweifel, Darmstadt 1996, bes. S. 17: Für Peter Lösche und Franz Walter waren es die „sozialimperialistischen Ideen Naumanns, die den Ehering abgegeben haben.“ Gertrud Bäumer, Die Gestalt Friedrich Naumann in der suchenden Gegenwart, in: Die Hilfe 37 (1931), Nr. 35, S. 825–828.
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der nunmehr zweimal im Monat erscheinenden Zeitschrift den Zukunftserwartungen der Zeit an; die Adjektive ‚national‘ und ‚sozial‘ gewannen wieder an Bedeutung. Einen weiteren Aufsatz vom März 1933 nannte Bäumer unmissverständlich: „Unsere nationalsoziale Bewegung und der Nationalsozialismus.“53 Mythen sind immer auch zukunftsweisend.54 Neben den zahlreichen Anekdoten, sticht besonders die politische Publizistik ins Auge, auf die die Naumannianer nun setzten. Trotz den gravierenden Differenzen zwischen diesen beiden Bewegungen wurde Naumann von Bäumer das Zepter des Begründers der nationalsozialen Idee in die Hand gegeben, da er schon vor Hitler, so schrieb sie in dem genannten Aufsatz, die Überwindung der Klassen anstrebte, nur eben auf einem demokratischem Weg.55 Der Parteivorsitzende der DDP scheint vergessen, nun wurde Naumann wieder zum einstigen Führer des gescheiterten Nationalsozialen Vereins ernannt; eine Partei, die laut Bäumer bereits „die Formen eines demokratischen Nationalsozialismus“56 auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Es wurde bewusst der Versuch unternommen, mit dem alten Parteiprogramm des Nationalsozialen Vereins und der Mythologisierung Naumanns als Führer in die Zukunft an die Erwartungshaltungen am Ende der Weimarer Republik anzuknüpfen. Es war die Hoffnung der Naumannianerin Bäumer, dass Naumann wieder relevant werden könnte, da „die Wellenlänge der einen großen Bewegung Friedrich Naumann mit der Gegenwart verbindet.“57 Das Vorhaben, den alten nationalsozialen Naumann wieder auszugraben und damit eine Verbindung mit der nationalsozialistischen Gegenwart herzustellen, scheiterte. Die Naumannianer, die sich auch noch im Jahre 1933 für die Demokratie stark machten und jeglicher Form von Radikalität eine Absage erteilten58, mussten bald resigniert feststellen, dass ein weiterer Kampf für Demokratie vergeblich schien. Der Naumannianer Walter Goetz bemerkte etwa einen Monat nach dem ‚Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich‘, dem auch Theodor Heuss und die anderen restlichen vier liberalen Abgeordneten im Reichstag zugestimmt hatten59: „Wir, die wir jetzt aus der Politik ausgeschaltet sind, vertrauen den Idealen, ohne die kein Volk und kein Staat leben kann. Wir führen keinen Kampf 53
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Gertrud Bäumer, Unsere nationalsoziale Bewegung und der Nationalsozialismus, in: Die Hilfe 39 (1933), Nr. 6, S. 161; vgl. zu Bäumers Rolle während der Zeit des Nationalsozialismus Angelika Schaser, Gertrud Bäumer –„eine der wildesten Demokratinnen“ oder verhinderte Nationalsozialistin? In: Kirsten Heinsohn, Barbara Vogel, Ulrike Weckel (Hg.): Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland. Frankfurt a. M./New York 1997, S. 24–43. Vgl. Nancy, Der Nazi-Mythos (wie Anm. 18), S. 162. Vgl. Bäumer, Bewegung (wie Anm. 53), S. 162. Gertrud Bäumer, Hilfe Kreis, in: Die Hilfe vom 18. Juni 1932, Nr. 25, S. 577; Zitat auch bei Thomas Hertfelder, Von Naumann zu Heuss. Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland,Von Naumann zu Heuss. Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland, Stuttgart 2013, S. 36. Bäumer, Bewegung (wie Anm. 53), S. 163; vgl. dazu wieder Hertfelder, Von Naumann zu Heuss (wie Anm. 54), S. 36. Vgl. Hertfelder, Der Hilfe-Kreis (wie Anm. 41), S. 37. Vgl. dazu Ernst Wolfgang Becker, Ermächtigung zum politischen Irrtum. Die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz von 1933 und die Erinnerungspolitik im ersten württemberg-badischen Untersuchungsausschuß der Nachkriegszeit, Stuttgart 2001, bes. S. 12–16.
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darum, weil er völlig vergeblich wäre.“60 Diese eher passive und resignierte Haltung des Naumannianers Goetz könnte auch auf viele andere ehemaligen Anhänger Naumanns übertragen werden. Deren weitere Lebenswege im nationalsozialistischen Deutschland Hitlers veränderten sich auf gravierende Weise. Nach der ‚Selbstauflösung‘ der DStP, der Übernahme der noch zu behandelnden ‚Deutschen Hochschule für Politik‘ durch das Propagandaministerium und der nationalsozialistischen Unterwanderung des ‚Deutschen Werkbundes‘ ergab sich für viele Naumannianer zwangsläufig eine völlig neue Lebens- und Arbeitssituation. Obwohl ‚Die Hilfe‘ noch bis 1944 formal existierte, war der Inhalt nicht mehr mit dem vor dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen; andere Köpfe hatten von nun an das sagen.61 Nach dem Krieg wurde die Zeitschrift trotz mehrerer Anfragen nicht mehr weitergeführt; diese „Naumann’sche Tradition [blieb für immer] abgerissen“, wie Heuss in einem Brief aus dem Jahre 1946 festhielt.62 Spätestens seit dem Erstarken der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei bedurfte es einer anderen Logik, damit der ehemalige Kreis um Naumann nicht in Vergessenheit geriet. Es musste ein neuer Weg gefunden werden, um den Naumann-Kreis über die Zeit des Nationalsozialismus zu retten. Christian Mergenthaler, ein Nationalsozialist der ersten Stunde, stellte in seinen Lebenserinnerungen fest: „[Ich bin] der Auffassung, dass nach Fichte, Ferdinand Lasalle und Friedrich Naumann die NSDAP Adolf Hitlers der vierte Versuch war, die deutsche Arbeiterbewegung in nationale Bahnen zu lenken. […] [E]s ist unbestritten, dass zahlreiche ehemalige Naumann-Anhänger, darunter auch ich, zur NSDAP gestossen sind, weil sie nach dem Zusammenbruch von 1918 eine Rettung Deutschlands nur in der Synthese von nationaler und sozialer Gesinnung gesehen haben.“63 Der württembergische Ministerpräsident bezog sich in seiner Autobiographie auch auf eine Schrift von Theodor Heuss, die von den Nationalsozialisten 1933 verbrannt wurde. In seinem schon 1932 erschienen Werk „Hitlers Weg“ schrieb Heuss: „Man weiß: Naumann war ein Prediger in der Wüste politischer Vorurteile. Die Oberschicht versagte sich ihm; er war ihr ein Schwärmer. Die Massen hörten den Ausruf nicht, zu sehr schon die Gefesselten einer Anschauungs- und Wortwelt, die nicht Einung, sondern Trennung und Kampf wollte. 1903 zerschlug Naumann die Partei, die er geschaffen, um in ihrem Rahmen die neuen Aufgaben neu durchzudenken. Als er gestorben, meinte ein rechtsstehender Publizist, der von ihm seinen Ausgang genommen, 1924 im Gespräch: ‚Hätte Naumann 1903 nicht resigniert, so wäre Hitler nicht möglich gewesen.‘ Ist das richtig?“64 Was wäre geschehen wenn? Der Historiker muss sich vor solchen Fragen in Acht nehmen. Fest 60 61 62 63 64
Walter Goetz, Im Sturm der Zeit, in: Die Hilfe 39 (1933), Nr. 8, S. 217–218, hier S. 218. Vgl. dazu auch Wolfram Pyta, Die Deutung des Zweiten Weltkriegs in der ‚Hilfe‘, in: Philippe Alexandre, Reiner Marcowitz (Hg.): Die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘, 1894–1944. Ein Ideenlabor in Deutschland, Bern 2011, S. 341–354. Theodor Heuss an Otto Eugen Hasso Becker am 9. April 1946, in: Theodor Heuss, Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949, hg. u. bearb. v. Ernst Wolfgang Becker, München 2007, S. 165. HstASt, Nachlass Max Miller, J 40/7, Bü 161, Kopie der unveröffentlichten Lebenserinnerung des württembergischen Ministerpräsidenten Christian Mergenthaler, S. 55. Theodor Heuss, Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1932, S. 24.
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steht: Der Nationalsoziale Verein Friedrich Naumanns und die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Adolf Hitlers waren zwei verschiedene Bewegungen. Im „Simplicissimus“ vom 12. Februar des Jahres 1933 dichtete der Lyriker und Arzt Erich Blaich unter dem Pseudonym Ratatöskr: „Die grimmen Nationalsozialisten woll’n sich jetzt auch in der Kirche einnisten. […] Weiß Gott, das sind schon andre Pastöre als Friedrich Naumann oder Paul Göhre.“65 Doch der ähnlich klingende Titel schmerzte in den Ohren der alten Weggefährten Naumanns: „Für uns alte Nationalsozialen, deren Titel sich von dem der neuen Machthaber nur durch zwei von diesen hinzugeführten Silben unterschied, war nichts schmerzlicher, als zu sehen, wie die Ideen, die diese von uns übernommen hatten, von ihnen verfälscht wurden. Soziale Volksgemeinschaft, das war unser Ziel, aber nicht diese, Vereinigung mit den Deutschen Österreichs, das war der Traum meiner Jugend, aber nicht diese, Mitteleuropa unter deutscher Führung, das war das Programm Friedrich Naumanns, aber nicht dieses“66. Auch wenn die Differenzen zwischen den beiden Bewegungen gravierend waren, darf man abschließend doch festhalten, dass sich die Naumannianer nicht nur auf Grund ihrer Sozialisation im Nationalsozialen Verein seit dem Jahr 1923 herausgefordert fühlten, sich mit dem „Komplex national-sozial/nationalsozialistisch“ auseinandersetzten.67 Die Naumannianer konnten auf diesem Wegen vermeiden, dass eine Analogie zwischen dem Guten (Friedrich Naumann) und dem Bösen (Adolf Hitler) hergestellt wurde. In nächsten Kapitel gilt es, die übriggebliebenen Reste des Naumann-Kreises in der Zeit des Nationalsozialismus näher unter die Lupe zu nehmen und dabei im Besonderen die von Theodor Heuss 1937 publizierte Naumann-Biographie zu beachten.
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Hans Erich Blaich (Pseud. Ratatöskr), Deutsche Christen, in: Simplicissimus vom 12. Februar 1933, Nr. 46, S. 547. Ludwig Curtius, Deutsche und Antike Welt. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1958, S. 348. Vgl. dazu besonders Jürgen Frölich, National-sozial versus Nationalsozialistisch. ‚Die Hilfe‘ und der Aufstieg des Nationalsozialismus 1923–1933, in: Die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ 1894– 1944. Ein Ideenlabor in Deutschland, hg. v. Philippe Alexandre u. Reiner Marcowitz, Bern, Berlin et. al. 2011, S. 317–339, hier S. 319.
X. NAUMANN IN DER ZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS Der schon erwähnte Historiker Franz Schnabel schrieb in einer Rezension über die Naumann-Biographie von Theodor Heuss kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs: „Was hier vorliegt, ist ein Denkmal, für das die überlebenden Freunde des vor zwanzig Jahren Dahingegangenen dankbar sein werden.“ Eine Interpretation, der man ohne wenn und aber zustimmen kann; denn Denkmäler erinnern sowohl an eine Person, als auch an die damit einhergehenden Ereignisse. Doch dann ergänzte Schnabel: „Wir erwarten von einem Denkmal, daß es nicht nur vom Gewesensein, sondern auch von dessen Ertrag spricht. […] Was wurde aus seinen Anhängern und Jüngern?“1 Kurz nach Naumanns Tod versicherte Wilhelm Heile noch, dass Naumann „Jünger um sich zu sammeln [vermochte], die – von ihm angeregt und gefördert – nicht lediglich in seinen Spuren wandelten, sondern eigene Wege gehend, dem gleichen Ziele zustrebend.“2 Darf man an dieser Stelle auch mit Blick auf das nächste Kapitel fragen, ob die Wege der Naumannianer wirklich so eigen waren? Waren es nicht Naumanns Wege, auf denen sie noch immer standen und nun alles daran setzten, diese zu erweitern und auszubessern? Einer dieser Wege war die ‚Deutsche Hochschule für Politik‘, welche aus der von Naumann gegründeten ‚Staatsbürgerschule‘ hervorgegangen war. Als Friedrich Naumann 1918 die ‚Staatsbürgerschule‘ in Berlin gegründet hatte, waren noch viele Dozenten im Felde. Es war die Zeit, in der Naumann den bereits erwähnten ‚Volksstaat‘ propagierte. Auch Naumanns freie politische Hochschule, sollte in erster Linie die „sozialpolitische Gesinnung“ aller Demokraten schärfen; auch wenn in der ‚Staatsbürgerschule‘ die Köpfe der liberalen Parteien ohne Zweifel den Ton angaben.3 Naumanns Bildungsstätte war ein „Werkzeug für die Wiederaufrichtung des deutschen Staates“4. Somit standen die Türen der freien deutschen Hochschule in Berlin allen offen, die den ‚Volksstaat‘ im Sinne Naumanns unterstützen wollten.5 Der Naumannianer Martin Wenck berichtete darüber in seinen Erinnerungen: „Um so fester fasste nun gerade Naumann die 1 2 3
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Franz Schnabel, Erinnerungen an Friedrich Naumann, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur u. Kunst, Fünftes Heft, 36 (1938/39), S. 437–440. Wilhelm Heile, Friedrich Naumann †, in: Die Hilfe 25 (1919), Nr. 35, S. 406. Vgl. dazu das Standardwerk von Antonio Missiroli, Die Deutsche Hochschule für Politik, Königswinter 1988, hier S. 23; vgl. auch Steven Korenblat, A School for the Republic? Cosmopolitans and theire Enemies at the Deutsche Hochschule für Politik 1920–1933, in: Central European History 39 (2006), S. 394–430. Theodor Heuss, Denkschrift zur Entstehung einer Deutschen Hochschule für Politik, in: Missiroli, Hochschule (wie Anm. 3), S. 140–144, hier S. 140. Vgl. Wilhelm Heile, Nutzen und Notwendigkeit einer politischen Volkshochschule, in: Missiroli, Hochschule (wie Anm. 3), S. 113–120, hier S. 120: „Die ‚Staatsbürgerschule‘ stellt sich […] schon jetzt allen Parteien und sonstigen Verbänden, die den freien Volksstaat wollen, für die Ausbildung von Kämpfern zur Verfügung, die in dieser innerpolitischen Entscheidungsschlacht mithelfen wollen.“
X. Naumann in der Zeit des Nationalsozialismus
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Arbeit für die junge demokratische Partei an der Stelle an, wo sie am Nötigsten schien: bei der Schulung von Kräften, die als Parteisekretäre und Wahlagitatoren im bevorstehenden Wahlkampf für die Nationalversammlung als Redner und Organisatoren tätig sein sollten. Als Basis hierfür benützte er die schon im Herbst ins Leben gerufene Staatsbürgerschule. Es war eine Freude zu erleben, wie viele nach Hunderten zu zählende junge Leute, aber auch schon ältere Männer und Frauen sich meldeten, um in die Gedankenwelt der Demokratie eingeführt und zu Wahlhelfern ausgebildet zu werden.“6 Friedrich Naumann war somit immer auch ein „politischer Erzieher“7 gewesen. Naumanns Schrift „Vier Reden an junge Freunde“8 aus dem Jahre 1918 kann als das theoretische Grundgerüst für seine „Methode zur politischen Schulung“9 angesehen werden. In der Naumannschen Schrift ging es nicht zuletzt um die Frage, ob man zum Politiker ausgebildet werden könne. Ein volkserzieherischer Ansatz, mit dem er in erster Linie gebildete junge Menschen ansprach.10 Die daraus hervorgehende ‚Deutsche Hochschule für Politik‘ wurde am 24. Oktober des Jahres 1920 feierlich eröffnet. In der Berliner Hochschule ging es um drei Dinge: die Ausbildung einer demokratischen Elite, die Einführung neuer Studienfächer, sowie die Schärfung des demokratischen Bewusstseins eines Volkes.11 Naumanns Gedanke einer politischen Erziehung wurde nach 1919 von den Naumannianer konsequent fortgeführt, wobei die ehemaligen Anhänger Naumanns tatkräftig durch renommierte Vertreter des politischen und universitären Lebens unterstützt wurden. Die wichtigsten Posten übernahmen wie zu erwarten die Naumannianer selber. So gehörten dem Vorstand beispielsweise neben dem Staatsminister a. D. Bill Drews, dem späteren Außenminister Walter Simons auch der Naumannianer Ernst Jäckh, oder auch der bekannte Historiker und Naumann-Verehrer Friedrich Meinecke an, der sein Wahlkreuz im Kaiserreich und in der Weimarer Republik immer neben Naumanns Namen platziert hatte.12 Dem Vorstandsrat gehörten unter anderem die Wissenschaftler Hans und Max Emil Julius Delbrück, der zeitweilige Finanz- und Justizminister Eugen Schiffer und ab dem Jahr 1925 – wie nicht anders zu erwarten – der Naumannianer Theodor Heuss an. Auf einer Dozentenliste aus dem Jahre 1930 findet man noch mehr Mitstreiter Naumanns wieder: wie 6 7
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BArch N 3001, 70, Martin Wenck, Wandlungen und Wanderungen. Ein Sechziger sieht sein Leben zurück, S. 210. Vgl. dazu den Aufsatz von Hans-Joachim Schoeps, Friedrich Naumann als politischer Erzieher, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 20 (1968), S. 3–13; vgl. auch Norbert Friedrich, Friedrich Naumann und die politische Bildung, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin/New York 2000, S. 345–360; vgl. auch Theodor Heuss, Friedrich Naumann als politischer Pädagoge, in: Politik als Wissenschaft. Zehn Jahre Deutsche Hochschule für Politik, hg. v. Ernst Jäckh, Berlin 1930, S. 121–133; wieder abgedruckt in: Missiroli, Hochschule (wie Anm. 3), S. 121–129. Friedrich Naumann, Vier Reden an junge Freunde, in: Ders., Werke (Fünfter Band, Schriften zur Tagespolitik), bearb. v. Alfred Milatz, Köln 1967, S. 709–735. Ebd., S. 717. Vgl. bes. Friedrich, Politische Bildung (wie Anm. 7), S. 350–352, So Missiroli, Hochschule (wie Anm. 3), S. 21 f. Vgl. Friedrich Meinecke, Erlebtes. 1862–1901, Leipzig 1941, S. 209.
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X. Naumann in der Zeit des Nationalsozialismus
Gertrud Bäumer, Willy Hellpach, Erich Koch-Weser, Karl Sonnenschein, Gerhard von Schulze Gaevernitz, Walter Goetz, Ernst Troeltsch oder Gustav Stresemann. Aber auch Intellektuelle anderer politischer und gesellschaftlicher Milieus lehrten an der von Naumann gegründeten Berliner Hochschule: wie der marxistische Historiker Alfred Rosenberg oder der Georgianer Edgar Salin.13 Auch der Philosoph und Staatsrechtler Carl Schmitt referierte im Sommersemester des Jahres 1930 über „Die Parteien im Verfassungsstaat“ an der Naumannschen Bildungsstätte. Nebenbei las er mehrmals an der ‚Handelshochschule Berlin‘ in der Spandauerstraße über den Nationalsozialen Verein Friedrich Naumanns.14 Sogar der umstrittene Denker Schmitt hatte sich offensichtlich mit der außergewöhnlichen Figur Naumann auseinandergesetzt. Letzten Endes waren es die Nationalsozialisten, die der politischen Erziehung in der von Karl Friedrich Schinkel entworfenen Bauakademie am Schinkelplatz in Berlin den Todesstoß versetzten. Obwohl die ‚Deutsche Hochschule für Politik‘ noch bis zum Jahr 1939 formal existierte und dann in die ‚Auslandswissenschaftliche Fakultät‘ der Universität Berlin eingegliedert wurde, kam es bereits im verhängnisvollen Jahr 1933 zum Bruch mit der Naumannschen Institution.15 Der Naumannianer Jäckh hatte sich am 1. April 1933 mit Adolf Hitler getroffen. In dem Gespräch erfuhr Jäckh, dass Hitler schon „seit Jahren, die Hochschule als politisch wichtiges Instrument dem Doktor Goebbels versprochen habe“16. Nicht nur der Naumannianer Ernst Jäckh flüchtete nach der Gleichschaltung der Berliner Hochschule in das britische Exil. Viele der zuvor an der ‚Deutschen Hochschule für Politik‘ Beschäftigten gingen diesen Weg.17 Von der Naumannschen Tradition war in Berlin nichts mehr übrig geblieben. Nur wenige eingefleischte Naumannianer waren nach dem Tod ihres Führers in nationalkonservativen oder antisemitischen Parteien wiederzufinden. Gottfried Traub war neben Max Maurenbrecher und August Pfannkuche der bekannteste Naumannianer, der sich von Naumann 1917 trennte, um andere Wege zu gehen. Traub lernte Naumann im Jahre 1895 kennen. Auch er kam in seinen Lebenserinnerungen auf die besondere Ausstrahlung von Naumann zu sprechen: „Ein ganz neues Tempo, eine neue Richtung und ein neuer Geist kamen in diese Bewegung mit der Person des sächsischen Pfarrers Naumann. Er war der Mann, mit dem ich 20 Jahre meines Lebens zusammengearbeitet und fast alle sozialpolitischen Erleb13 14 15
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Vgl. ausführliche Liste aller Dozenten aus dem Jahr 1930, in: Missiroli, Hochschule (wie Anm. 3), S. 204–208. Vgl. Tagebucheintrag von Carl Schmitt am 11. Juni 1931 und 16. Juni 1931, in: Carl Schmitt, Tagebücher 1930–1934, hg. v. Wolfgang Schuller, Berlin 2010, S. 115, S. 117 u. S. 468 f. Vgl. dazu besonders Ernst Haiger, Politikwissenschaft und Auslandswissenschaft im „Dritten Reich“. (Deutsche) Hochschule für Politik 1933–1939 und Auslandswissenschaftliche Fakultät der Berliner Universität 1940–1945, in: Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, hg. v. Gerhard Göhler / Bodo Zeuner, Baden-Baden 1941, S. 94–136. Ernst Jäckh, Meine Unterredung mit Hitler vom 1. April 1933, in: Missiroli, Hochschule (wie Anm. 3), S. 158–169, hier S. 162. Vgl. dazu Peter Walther, Zur Kontinuität politikwissenschaftlicher Fragestellungen. Deutschlandstudien exilierter Dozenten, in: Ebd., S. 137–143.
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nisse geteilt habe, von 1897 bis 1917.“18 Dann wechselte er die Lager; Traub wurde Mitglied der Deutschen Vaterlandspartei. Dazu schrieb Naumann in einem Brief an Traub: „Der alte Kreis zerspaltet sich immer mehr. Das muß wohl Schicksal sein.“19 Obwohl er wusste, dass „diejenigen Liberalen, die sich aus irgend einem Grunde der Vaterlandspartei [anschlossen], dort die Führung in keiner Weise bestimmen“20, zeigte sich Naumann betroffen. Doch Traub und die anderen Abtrünnigen konnten sich nicht mehr hinter die Friedensresolution Naumanns stellen. Im Jahr 1922 nahm der ehemalige Naumannianer Traub am Kapp-Putsch teil.21 Neben Traub kann an dieser Stelle auch der nationalsoziale Theologe August Pfannkuche genannt werden. Auch er betrachtete Naumanns nationalsoziale Politik im Weltkrieg erst mit Wohlwollen; doch nachdem sich Naumann verstärkt für einen möglichen Frieden eingesetzt hatte, wechselte auch Traub zur Deutschnationalen Volkspartei. Diesen Schritt kommentierte er in einer Zeitschrift mit folgenden Worten: „Das, was wir wollten, haben wir nicht erreicht. […] Vielleicht, daß es besser gewesen wäre, wenn wir schon damals […] den Anschluß nach rechts gefunden hätten. […] Jedenfalls sind wir in unserer Hoffnung, den Freisinn, dem wir uns zum größten Teil zuwandten […] kläglich zuschanden geworden […], freuen uns aber, daß wir in der Deutschnationalen Volkspartei mit ihrer freudigen Bejahung des deutschen Freiheitsgedanken und der sozialen Reform auf der Grundlage einer starken deutschen Staatsauffassung eine politische Heimat gefunden haben. […] Den nationalen Gedanken wieder zu wecken und in allen Volksschichten zu festigen, das ist und bleibt der Ausgangspunkt für alles andere.“22 Für die meisten Naumannianer wäre dieser Schritt aber undenkbar gewesen. Aber es gab durchaus einstige Naumann-Wähler, die nach dem Ersten Weltkrieg im völkischen Lager zu finden waren oder gar für Adolf Hitlers Partei stimmten.23 Der schon im letzten Kapitel erwähnte Christian Mergenthaler kam in seinen Memoiren immer wieder auf Naumanns Synthese von nationaler und sozialer Politik zu sprechen. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg sprach der ehemalige Naumann-Wähler in großen Tönen von dem Nationalsozialen Verein Naumanns. Für 18 19
20 21 22 23
Gottfried Traub. Erinnerungen. Wie ich das ‚Zweite Reich‘ erlebte. Tagebuchnotizen aus der Hitlerzeit, Stuttgart 1998, S. 27. BArch Koblenz, Nachlass Traub N 1059, 66, Fol. 182, Friedrich Naumann an Gottfried Traub am 9. Oktober 1917; Zitat auch bei Hans Cymorek, “Wohin sollen wir gehen?“ Liberalismus und Weltkrieg, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin/New York 2000, S. 296–285, hier S. 284. Arbeitsstelle für internationale Herbartianismusforschung am Lehrstuhl für Allgemeine Didaktik der Universität Duisburg-Essen. Wilhelm Rein Archiv, K 6, Nr. 114e, Friedrich Naumann an Wilhelm Rein am 16. Januar 1918. Vgl. dazu ausführlich Frank Fehlberg, Protestantismus und Nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politisches Denken um Friedrich Naumann (zugl. Diss. 2011), Bonn 2012, S. 187–238; vgl. auch Joachim Radkau, Theodor Heuss, München 2013, S. 48. August Pfannkuche, National-soziale Erinnerungen, in: Eiserne Blätter 1 (1919), S. 109–112, hier S. 112. Vgl. dazu Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001, S. 120, Fußnote 12; vgl. auch das Beispiel in HansPeter Klausch, Oldenburg im Zweiten Weltkrieg. Das Kriegstagebuch des Mittelschullehrers Rudolf Tjaden, Oldenburg 2010, S. 242 ff.
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den einstigen württembergischen Kultminister waren Naumanns nationalsoziale Gedanken entscheidend für dessen eigenen Lebensweg. Bis Adolf Hitler auf der politischen Bühne auftauchte – so erklärte er in seinen nie veröffentlichten Lebenserinnerungen – fieberte er Friedrich Naumann entgegen und las dessen Schriften mit großem Eifer und Wohlwollen: „Am Abend der Reichstagswahl im Jahr 1907 sassen [sic!] wir in dem bekannten Tübinger Studentenlokal ‚Goldener Ochsen‘ und warteten auf das Ergebnis der Wahl in Heilbronn, die mit einem Sieg Naumanns endete. Von 1909–1911 war ich als junger Lehrer am Realgymnasium in Heilbronn tätig und hatte dadurch Gelegenheit, Naumann des öfteren als packenden, geistvollen Redner zu hören. Seine Wochenzeitschrift, die ‚Hilfe‘ las ich während vieler Jahre.“24 Im Wesentlichen nichts Neues: Mergenthaler bewunderte wie viele anderen auch, Naumanns Rede- und Schreibqualitäten. Aber es überrascht, wenn Mergenthaler auch auf die Naumann-Biographie von Theodor-Heuss zu sprechen kommt: „Ich wartete nach meiner Rückkehr aus dem I. Weltkrieg Mitte Jan. 1919 darauf, dass die Naumann-Anhänger bei der politischen Neugestaltung hervortreten würden. Naumann selbst war jedoch kurz nach dem Krieg im Jahr 1919 gestorben. Aber ein Mann aus seiner nächsten Umgebung, der nach 1945 zum höchsten Amt in der Bundesrepublik aufstieg, war nach 1918 noch da, Dr. Theodor Heuss. […] Warum hat Theodor Heuss nach 1918 nichts Umfassendes für die Wiedererweckung der Ideen Naumanns getan und ihnen nicht politische Macht erkämpft? Mit einer Naumann-Biographie war es nicht getan.“25 War Mergenthaler eifersüchtig auf den zu Ruhm und Ehren gekommenen Theodor Heuss? Im Gegensatz zu Mergenthaler sprach der erwähnte Traub in seinen Erinnerungen sehr wohlwollend von der Naumann-Biographie von Theodor Heuss. „Sein Leben und Wirken hat jüngst Theodor Heuss in einem umfassenden Werk meisterhaft geschildert und dabei einen geschichtlichen und sozialen Querschnitt der damaligen Zeit geliefert.“26 Mit der nun zu behandelnden Naumann-Biographie wurde Theodor Heuss inmitten der stürmischen Zeiten „zum Mittelpunkt und Erbwalter im Geisterreich der Naumann-Gemeinde.“27 Die Veröffentlichung der Naumann-Biographie von Heuss fiel auf das Jahr 1937. Adolf Hitler war schon mehrere Jahre an der Macht. Zwischen Naumanns Tod und dem Erscheinen der ersten historisch fundierten Naumann-Biographie lag eine ereignisreiche Zeit. Die Zeit, in der Naumann auf die Menschen auf Grund seiner außeralltäglichen Fähigkeiten wirkte, hatte mit der jetzigen nichts mehr gemein.28 Die Nationalsozialisten hatten in den vier Jahren an der Macht bereits eine Diktator nach dem Führerprinzip errichtet, in der für Demo24 25 26 27
28
HstASt J 40/7, Bü 161, Nachlass Max Miller, Kopie der unveröffentlichten Lebenserinnerung des württembergischen Ministerpräsidenten Christian Mergenthaler, S. 4. Ebd., S. 19. Traub, Erinnerungen (wie Anm. 18), S. 27. Radkau, Heuss (wie Anm. 21), S. 215; vgl. dazu auch Ursula Krey, Demokratie durch Opposition. Der Naumann-Kreis und die Intellektuellen, in: Kritik und Mandat. Intellektuelle in der Deutschen Politik, hg. v. Gangolf Hübinger u. Thomas Hertfelder, Stuttgart 2000, S. 71–92, hier bes. S. 72 f. Vgl. die Darstellung von Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 22003 S. 617–623.
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kraten kein Platz übrig war. Nicht nur der Reichstag, in dem Naumann sich einst für eine Demokratisierung des Wahlrechts aussprach, verkam zu einem reinen Akklamationsgremium. Alle gesellschaftlich relevanten Organisationen und Institutionen wurden gleichgeschaltet; was auch viele Naumannianer zu spüren bekamen. Denn durch die Gleichschaltung des ‚Deutschen Werkbundes‘ und der ‚Deutschen Hochschule für Politik‘ und der Selbstauflösung der ‚Deutschen Staatspartei‘ waren wie eben gezeigt wurde nicht nur deren Arbeitsplätze in Gefahr. Ganze Existenzen waren bedroht. Es versteht sich von selbst, dass das Leben der meisten Naumannianer im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme auf den Kopf gestellt wurde. Der Naumann-Kreis war im Begriff zu einem Relikt der Vergangenheit zu verkommen und auch Friedrich Naumann schien immer mehr dem Vergessen einher zu fallen. In einer Rezension der Naumann-Biographie von Theodor Heuss aus der Zeit des Nationalsozialismus aus der Feder des Historikers Wilhelm Mommsens hieß es, dass „kein Student [mehr] etwas von Naumann [wusste], der vor nicht mehr als einem Menschenalter von damals lebenden Politikern den stärksten Einfluss auf die akademische Jugend ausgeübt hatte.“ Und weiter schrieb er: „So wird nicht nur der Fachhistoriker dankbar sein, durch die Biographie [von Heuss] einen tieferen Einblick in diesen Lebenslauf zu bekommen, der zugleich ein gutes Stück Zeitgeschichte ist.“29 Ein klassischer Mechanismus, der in Krisensituationen eine Gemeinschaft am Leben erhält, ist die strikte Abgrenzung gegenüber dem Außen oder um es in den Worten Carl Schmitts zu sagen: die Unterscheidung zwischen Freund und Feind.30 Doch für viele Naumannianer bedeutete die ‚Machtergreifung‘ Hitlers einen Rückzug ins Private. Von einem aktiven oder öffentlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus kann laut Forschungsstand nicht gesprochen werden.31 Geradezu ironisch klingt da beispielsweise die Frage eines Naumannianers in einem Brief an Theodor Heuss wenige Monate nach der Reichstagswahl am 5. März 1933: „Was wird unter den heutigen Verhältnissen aus dem grossen Naumann-Bild, das ich seinerzeit für das Fraktionszimmer der demokratischen Fraktion habe malen lassen?“32 Erkelenz spricht hier von dem Naumann-Bildnis der Malerin Mathilde Battenberg, welches zur Feier des 70. Geburtstages von Friedrich Naumann der DDP-Fraktion überreicht wurde und im Zuge des Reichstagsbrandes Ende Februar 1933 den Flammen zum Opfer fiel.33 Hatte der Naumannianer Erkelenz keine ernsteren Probleme? Eine bewusste Abgrenzung gegenüber den neuen Machthabern 29 30 31 32 33
Wilhelm Mommsen, Zur Biographie Friedrich Naumanns, in: Historische Zeitschrift 3 (1940), S. 539–548, hier S. 539. Vgl. Hartmut Rosa et al., Theorien der Gemeinschaft. Zur Einführung, Hamburg 2010, S. 75– 83; über die Grundstruktur des Politischen bei Carl Schmitt siehe: Ders., Der Begriff des Politischen, Berlin 61996. Vgl. besonders Eric Kurlander, Living with Hitler. Liberal Democrats in the Third Reich, Yale 2009, bes. S. 47–65; Elke Seefried, Einführung, in: Theodor Heuss, In der Defensive. Briefe 1933–1945, hg. u. bearb. v. Elke Seefried, München 2009, S. 15–68. BArch, N 1072, 139, Anton Erkelenz an Theodor Heuss am 15. September 1933. Vgl. Friedrich Naumanns siebzigster Geburtstag, in: Vossische Zeitung vom 26. März 1930, S. 3; vgl. Naumanns Bildnis im Reichstag, in: Frankfurter Zeitung vom 26. März 1930.
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sieht anders aus. Wie konnte unter diesen Umständen der Naumann-Kreis weiter handlungsfähig bleiben? In einer Ausgabe der Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ aus dem Jahre 1929 war man sich einig, dass es eines Buches zu Naumann bedarf, damit er nicht in Vergessenheit gerate.34 Dem heutigen Historiker läge unter anderen Umständen ein Werk von Max Weber über Friedrich Naumann vor. Doch der große Soziologe musste sein Vorhaben letzten Endes auf Grund seines gesundheitlichen Zustandes sein lassen.35 Stattdessen bleibt dem Geisteswissenschaftler neben den stark subjektiv gefärbten biographischen Würdigungen der Naumannianer36 aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, den in dieser Arbeit immer wieder zitierten Aufsätzen und Miszellen, einzig und allein das Standardwerk von Theodor Heuss. Wie wurde Naumann während der Herrschaft Hitlers von Heuss dargestellt? Die Naumann-Biographie von Theodor Heuss war ein Langzeitprojekt, auf das der Schwabe Heuss noch kurz vor seinem Tod stolz zurück blickte: Selbst der griechischen Prinzessin Friederike von Hannover empfahl er in einem Schreiben aus seiner Bundespräsidentenzeit sein Werk über Naumann: „Eure Majestät, […] wenn Sie einmal viel Zeit haben und das Stück deutscher Geschichte kontrollieren wollen, das nach Ihrem Großvater ‚Wilhelminische Epoche‘ genannt wird, dann mag meine Naumann-Biographie hilfreich sein – sie will in dem Leben und in der Art eines bedeutenden Mannes, der mein eigentlicher Lehrer war, das geistige und politische Schicksal Deutschlands spiegeln.“37 Es war ein langer und steiniger Weg, bis das Buch in den Läden erhältlich war. Schon im Jahr 1921 formulierte Heuss in einem Rundschreiben an die Naumannianer: „Der Wunsch der Familie und naher Freunde Friedrich Naumanns, sowie das Gefühl eigener dankbarer Verpflichtung sind sich in dem Plane begegnet, eine umfassende biographische Darstellung und Würdigung Naumanns vorzubereiten. […] Da ich selber Naumann erst nach der Jahrhundertwende kennen gelernt habe, um dann von 1905 bis 1912 als Redakteur der ‚Hilfe‘ mit ihm in nächster Berührung zu sein, bin ich vor allem für die richtige Erkenntnis seiner früheren Tätigkeit und Anschauung, so, wie sie sich aus andern Quellen als dem gedruckten Material erschliessen lässt, auf die freundliche Mitwirkung Anderer angewiesen.“38 Die 34 35 36
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Vgl. [Anton] E[rkelenz], Ein Buch über Naumann, in: Die Hilfe 35 (1929), Nr. 16, S. 395. Vgl. Max Weber an Wilhelm Heile am 4. 12. 1919, in: Ders., Gesamtausgabe (Band II/10,2), hg. v. Gerd Krumeich u. M. Rainer Lepsius, Tübingen 2012, S. 852 f. Vgl. dazu vor allem Heinrich Meyer-Benfey, Friedrich Naumann. Seine Entwicklung und seine Bedeutung für die deutsche Bildung der Gegenwart, Göttingen 1905; Georg Biedenkapp, Friedrich Nietzsche und Friedrich Naumann als Politiker, Göttingen 1901; Martin Wenck, Friedrich Naumann. Ein Lebensbild, Berlin 1920; Fritz Auer, Friedrich Naumann, in: Persönlichkeiten. Illustrierte Essays über führende Geister unserer Tage (Heft 4), hg. v. Willy Leven, Charlottenburg 1908; auf niederländisch Marcus van der Voet, Friedrich Naumann. Een Hoofdstuk uit de sociale Ethiek, Leiden 1934. Theodor Heuss an Friederike von Hannover am 12. Mai 1956, in: Theodor Heuss, Der Bundespräsident. Briefe 1954–1959, hg. v. Ernst Wolfram Becker, Martin Vogt u. Wolfram Werner, Berlin/Boston 2013, S. 303 f. HstASt, Nachlass Conrad Haußmann, Q 1/2, Bü 271, Theodor Heuss an Conrad Haußmann im Juli 1921.
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Naumann-Biographie war in der Tat ein kleines Gemeinschaftsprojekt der Naumannianer, wovon auch folgender an Walter Goetz adressierter Brief aus dem Jahr 1937 zeugt: „Ich werde übrigens in einiger Zeit einen Liebesdienst von Ihnen erbitten, daß Sie mir das Kapitel Vorkriegszeit auf historische Richtigkeit und Begreifbarkeit kontrollieren. Ich will dann auch noch ein mehr theoretisches Kapitel über Naumanns Geschichtsbild versuchen; auch dessen sollen Sie sich liebevoll kritisch annehmen. Traub hat mir jetzt eben das kirchenpolitische Kapitel überprüft und mir in Daten und Personalhinweisen einige erwünschte Ergänzungen und Berichtigungen gemacht.“39 Der sonst schnelle und fleißige Schreiber Heuss kam mit dem Naumann-Buch nur langsam voran. Vor allem der zum Teil vernichtete oder weit verstreute Nachlass Naumanns bereitete dem Journalisten große Schwierigkeiten: „[I]ch habe am gestrigen Bußtag, was auch eine schöne Beschäftigung war, stundenlang Papierkörbe mit den Naumannpapieren angefüllt; seit ein paar Wochen ist ja Frau Naumann zu ihrer Tochter übergesiedelt und ich habe in vier großen Kisten einen erschreckenden Haufen von Papier in die Wohnung bekommen. […] Welche Schwierigkeiten ich mit dem Heranholen früherer Naumannscher Briefe habe, sagte ich Ihnen wohl schon. Göhre hat z. B. vor ein paar Jahren seine ganze Korrespondenz verbrannt.“40 Nach dem Projekt sollte Heuss den gesamten Naumann-Nachlass an das ehemalige Reichsarchiv nach Potsdam übergeben.41 In einem Kondolenzschreiben an Carl Wilhelm Petersens Frau aus dem Jahre 1933 schrieb Heuss im Bezug auf die werdende Naumann-Biographie: „Als wir vor ein paar Jahrzehnten uns in der Gefolgschaft Naumanns begegneten, durfte ich seine menschliche Zuneigung spüren. […] Ich hoffe ihm auch in der NaumannBiographie, an der ich zur Zeit arbeite, ein Denkmal setzen zu können.“42 Doch in erster Linie wollte er natürlich seinem großen Meister Friedrich Naumann ein Denkmal setzen, welches die Zeit überdauern sollte. Nach über fünfzehnjähriger Arbeit konnte das Werk schließlich im Jahre 1937 erscheinen. Noch Jahrzehnte später blickte Heuss mit Stolz auf sein Naumann-Buch zurück, wenn er schreibt: „Es ist meine wichtigste literarische Arbeit, vom Sachlichen und vom Menschlichen.“43 Die Zeit der Veröffentlichung war nicht gerade günstig, dem einstigen Parteiführer, der sich für eine Demokratisierung in einem Kaisertum stark machte, ein Andenken zu setzen. In einem Brief beschrieb Heuss die schwierige Genese der Naumann-Biographie während der Zeit des Nationalsozialismus: „Meine Hoffnung war gewesen, daß das Naumann-Buch, das mit etwa 750 Seiten seit vierzehn Tagen umbrochen vorliegt, werde Mitte Oktober in der Hand der Leser sein können. Aber 39 40 41 42 43
BArch Koblenz, Nachlaß Walter Goetz, N 1215, 86, Theodor Heuss an Walter Goetz am 14. Januar 1937. BArch N 1215, 35a, Theodor Heuss an Walter Goetz am 23. November 1928. BArch, Nachlass Heuss, N 1221, 239, Theodor Heuss an Georg Hohmann am 19. April 1963. Theodor Heuss an Marguerite Petersen am 12. November 1933, in: Carl Petersen, Bürgermeister Carl Petersen 1868–1933. Carl Petersen im Spiegel persönlicher Dokumente, ausgewählt von Hans-Dieter Loose, Hamburg 1971, S. 125. Theodor Heuss am 6. März 1956, in: Theodor Heuss, Tagebuchbriefe 1955/1963, Tübingen/ Stuttgart 1970, S. 154.
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was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe! Die parteiamtliche Prüfungskommission der NSDAP hat die Auffassung, daß das Leben und Wirken von Naumann zu nahe an die Gegenwart heranreiche, um lediglich historisch gesehen werden zu können und hat nach langwierigen Hin und Her der Verhandlungen das fertige Werk zur „Prüfung“ eingefordert (dabei wurde gegen die Biographie Naumanns ausdrücklich keine grundsätzlichen Gedenken gemeldet) wie auch meine Eignung zu dieser Aufgabe mehr oder weniger anerkannt.“44 Dass die Naumann-Biographie schließlich im Dezember 1937 in den Buchläden erhältlich war, lag nicht zuletzt an der Rolle eines alten Parteifreundes, der in der Zwischenzeit für Joseph Goebbels arbeitete: Werner Stephan, ein Naumannianer zweiter Generation.45 Stephan war Leiter der Inlandspresse und zugleich Ministerialrat im Reichspropagandaministerium und Fachprüfer für Öffentlichkeitsarbeit und Propaganda beim Oberkommando der Wehrmacht. In seinen Lebenserinnerungen beschrieb Stephan, dass er sich bewusst für Heuss und dessen Naumann-Biographie einsetzte. In der Nachkriegszeit war es hingegen Heuss, der sich für Stephan bei der Entnazifizierung aussprach.46 Die Naumannianer hielten zusammen. Neben den hagiographieähnlichen Passagen – „vor ihm schweigt die Ehrfurcht“47 – innerhalb des sonst gründlich recherchierten, der ‚Objektivität‘ verpflichtenden Werkes, fällt vor allem auf, dass Heuss darauf aus war, Naumann in seinem Werk zu historisieren. Denn der Bildungsbürger Heuss glaubte auch noch im Jahr 1937 an die großen Vorbilder aus der Vergangenheit, an denen man sich zu orientieren hatte. Es war der Versuch von Heuss, die ‚Größe‘ Naumanns mit literarischen Mitteln unter der Herrschaft Hitlers darzustellen.48 Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei spielte in dem knapp sechshundert Seiten starken Buch keine Rolle, selbst dann nicht, wenn er auf Naumanns Nationalsozialen Verein oder dessen Nationalismus vor und während des Ersten Weltkrieg zu sprechen kam. Nur durch diesen bewussten Verzicht auf jegliche Form von Anknüpfung an das ‚Jetzt‘ ist es wohl zu verstehen, warum die Naumann-Biographie von Heuss in Zeiten der allgemeinen Zensur veröffentlicht werden konnte.49 Es gab während dieser Jahre nur wenige Autoren, die sich mit Friedrich Naumann beschäftigten. Das Kenntnis und das Interesse an Friedrich Naumann haben während der Jahre spürbar abgenommen. Nur wenige Historiker oder Schriftsteller machten sich während der Zeit des Nationalsozialismus die Mühe, eine Abhand44 45 46 47 48
49
BArch, Nachlass Heuss, N 1221, Nr. 73, Theodor Heuss an Johannes Bahner am 12. Oktober 1937. Vgl. Radkau, Heuss (wie Anm. 21), S. 198 u. S. 216. Vgl. Werner Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland. Ein Liberaler in vier Epochen, Düsseldorf 1983 S. 240 und S. 287. Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, München/Hamburg 31968, S. 537. Vgl. dazu schon Kurlander, Liberal Democrats (wie Anm. 28), S. 63; vgl. auch Radkau, Heuss (wie Anm. 18), S. 217; vgl. Ernst Wolfgang Becker, Biographie als Lebensform. Theodor Heuss als Biograph im Nationalsozialismus, in: Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, hg. v. Wolfgang Hardtwig u. Erhard Schulz, Stuttgart 2005, S. 57–89, hier S. 70 f. Vgl. Heuss an Bahner (wie Anm. 44).
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lung über Naumann zu verfassen. Betrachteten die Naumannianer ihren Führer im Kaiserreich als „Organisator und Agitator,“50 so wurde der Politiker Naumann während des ‚Dritten Reiches‘ von dem Großteil der Historikerzunft eher belächelt. In einer Dissertation über Naumann aus dem Jahre 1938 hieß es dazu: „Wenn Naumann stark gewirkt hat, dann geschah das auf Grund seiner literarischen und rednerischen Tätigkeit. [..] Als politischer Gestalter und politischer Führer, Volkstribun, Mann der Tat kann er nie bezeichnet werden.“51 Die Dissertation des späteren Kirchenhistorikers Karl Kupisch stellte Naumann in positiveres Licht. Doch auch Kupisch sprach ihm jegliche Form von politischer Wirksamkeit ab, wenn er gleich zu Beginn feststellte: „Friedrich Naumann ist der heutigen lebenden Generation nahezu ein unbekannter Mann.“52 Nur eine braun gefärbte Dissertation aus dem Jahre 1934 verglich Friedrich Naumann mit Adolf Hitler in großen Teilen auch wohlwollend. Mehr noch, Gertrud Lohmann zog Parallelen zwischen Hitler und Naumann.53 Denn die Autorin sah „viel Ähnlichkeit“ vor allem in „künstlerischer Hinsicht.“54 Wie Grimm hob Lohmann den „vorzüglichen Stil“55 Naumanns hervor und kam in erster Linie auf dessen performative Wirkungsmächtigkeit zu sprechen: „Als Naumann in Erfurt am Gründungstag seiner Bewegung seine Weltauffassung verkündet, springt ein junger Teilnehmer auf mit den Worten: ‚Das ist wie eine Offenbarung!‘ Und: ‚Offenbarung! Offenbarung!‘, so bezeichnet auch Josef Goebbels den Eindruck der ersten Hitler-Versammlung.“56 Es fällt auf, dass Naumanns ästhetische Weltbetrachtung von Lohmann und Grimm positiv rezipiert wurden. Auf Friedrich Naumanns Politikverständnis wurde verständlicherweise kaum eingegangen. Nur der Theologe Johannes Herz sah in Naumann den spiritus rector einer nationalen und sozialen Weltanschauung, indem er meinte, dass „[Naumann] in vieler Beziehung ein Verkünder und Vorkämpfer von Ideen gewesen ist, die erst in der Gegenwart ihre volle Auswirkung gefunden haben.“57 Bei dem humanistisch gebildeten Heuss gab es diese Verbindung definitiv nicht. Um Naumanns Erbe in die Bundesrepublik hinüberzuretten, musste Heuss einer nationalsozialistischen Lesart von Naumann entgegensteuern. Dabei war ihm seine Naumann-Biographie die größte Hilfe. Erst in der zweiten Auflage der Naumann50 51 52 53 54 55 56
57
Georg Biedenkapp, Friedrich Nietzsche und Friedrich Naumann als Politiker, Göttingen 1901, S. 70. Oskar Grimm, Politik und Wehrpolitik bei Friedrich Naumann (zugl. Diss.), Würzburg-Aumühle 1939 S. 128. Vgl. Karl Kupisch, Friedrich Naumann und die evangelisch-soziale Bewegung (zugl. Diss.), Berlin 1938, hier S. 7. Gertrud Lohmann, Friedrich Naumanns deutscher Sozialismus (zugl. Diss.), Berlin 1935, S. 6. Ebd., S. 62. Ebd., S. 20. Ebd., S. 57; Lohmann bezieht sich hier auf einen Passus aus der Autobiographie des Bruders von Friedrich Naumann „Es ist mir unvergeßlich, wie nach der zündenden Rede meines Bruders einer der Teilnehmer aufsprang und ausrief: ‚Das ist wie eine Offenbarung.‘“ Johannes Naumann, Wie wir unseren Weg fanden. Lebenserinnerungen eines Schwesternhausrektors, Gotha 1929, S. 229. Johannes Herz, Nationales und soziales Christentum. Ein Auszug aus Friedrich Naumanns Gedächtnis, Berlin 1935, S. 3.
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Biographie aus dem Jahr 1949 setzte sich Heuss – aus einer „größer gewordenen geschichtlichen Distanz“ – mit den Gemeinsamkeiten von Friedrich Naumann und Adolf Hitler auseinander. Ohne seinem Meister Ähnlichkeiten zuzugestehen, stellte Heuss fest: „Aber eines würde Naumann an Hitler mit Schrecken bewundert haben: die Technik der bewußten Vermassung. […] Die Technik der Allgegenwärtigkeit mit dem Drum und Dran von Flugzeug, Kino, Radio, Sporthallen und Aufmärschen hätten ihm, der für das Technische so anfällig war, imponiert.“ Wahrscheinlich hätte Heuss mit seiner Prognose Recht behalten. Nur zu 99 Prozent richtig lag Heuss mit folgender Feststellung: „Kein einziger [Naumannianer], der irgendwann einmal in einer wenn auch nur bescheidenen Verantwortung gestanden hatte, ist nach 1933 in Hitlers Gefolgschaft als aktive Kraft sichtbar geworden.“58 Bis auf Werner Stephan – und auch hier stellt sich die Frage, ob er als „aktive Kraft“ im NaumannKreis gewertet werden kann – hatte kein Naumannianer während der Zeit des Nationalsozialismus einen wichtigen Posten in einer der vielen nationalsozialistischen Institutionen inne. Nach Heuss war es neben dem „Wunsch der Familie und des Freundeskreises“ vor allem dessen eigene „moralische Dankespflicht“59 gegenüber seinem verstorbenen Meister, diese „große […] Naumann-Biographie“60, wie er einmal selbst sagte, zu verfassen. Doch hatte die Naumann-Biographie auch Auswirkungen auf den Naumann-Kreis? In einem Brief eines Naumannianers an Theodor Heuss aus dem Jahre 1937 wird ersichtlich, dass die Naumann-Biographie großen Einfluss im Hinblick auf den Zusammenhalt der Naumannianer hatte: „Also herzlichen Dank für das Buch, das mir mit der persönlichen Widmung doppelt wertvoll ist. Weisst du noch, wie ich 1916 mit meinem zerschossenen Waffenrock zu Euch auf Besuch kam? Da hat mir Deine Frau erzählt von Soldaten in Lazaretten, die eine Kugel oder einen Splitter, den sie mitgebracht, wie ein kleines Kind gehütet. Daran wurde ich manchmal in den letzten Wochen erinnert. Denn Dein Buch ist doch auch so etwas wie ein Kind, das Du erwartest und so haben auch wir das Kind mit erwartet und uns gefreut, als es endlich geboren ward. Und wie ein Kind, das unter Schmerzen geboren wird, so mag auch Dir dies Buch besonders am Herzen liegen, nachdem es erst nach Überwindung allerhand Schwierigkeiten starten durfte. Es war ein Vermächtnis der Naumanngemeinde, seit Jahren warten die Freunde darauf und manche dachten, der Augenblick sei verpasst. Umso grösser nunmehr die Freude, dass es doch gelungen, und, wie ich Dir schon geschrieben, es spricht schon äußerlich dieser Umstände für das Buch, dass es trotz der scheinbaren Ungunst der Zeit nun doch erscheinen konnte und die ‚Zensur‘ passierte.“61 Wie wichtig die NaumannBiographie für die Naumannianer war, zeigte die Reaktion von Elly Knapp. Theo58 59 60 61
Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, Stuttgart/Tübingen 21949; S. XI u. S. 512 ff.; vgl. dazu bereits ausführlich Thomas Hertfelder, Von Naumann zu Heuss. Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland, Stuttgart 2013, S. 47. Zur Naumann-Biographie von Theodor Heuss, in: Die Hilfe 43 (1937), Nr. 23, S. 515 f. Theodor Heuss an Gerd Mohn am 8. April 1963, in: Theodor Heuss, Privatier und Elder Statesman. Briefe 1959–1963, hg. u. bearb. v. Frieder Günther, Berlin/Boston 2014, S. 474–476, hier S. 474. BArch, Nachlass Heuss, N 1221, 55, Willy Dürr an Theodor Heuss am 12. Dezember 1937.
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dor Heuss lernte seine Elly Knapp über Friedrich Naumann kennen. In der Zwischenzeit waren nahezu dreißig Jahre vergangen, als Heuss Friedrich Naumann bat, Elly Knapp heiraten zu dürfen: „Vielleicht und hoffentlich haben Sie sich in der Zwischenzeit mehr daran gewöhnt, uns beide zusammenzudenken. Denn es wäre mir auf Dauer schwer zu ertragen, daß dieser entscheidende Schritt meines Lebens von Ihnen, der meinem Leben Richtung und Form gegeben, so halb als Experiment einer jugendlichen Schwungkraft genommen würde.“62 Elly Heuss-Knapp brach in Tränen aus, als ihr das Manuskript im Dezember des Jahres 1936 von ihrem Ehemann überreicht wurde. Heuss berichtete darüber: „Daß ich ihm, unter großen äußeren Schwierigkeiten, in einer umfangreichen Biographie ein Denkmal der Dankbarkeit errichten konnte, gehört zu den Beglückungen meines Lebens. Die Pflicht meines Seins schien mir mit dieser Leistung, die ein inneres Stück der Geschichte deutscher Zukunft gerettet haben würde, erfüllt. Als ich den Band Weihnacht 1936 meiner Frau, der er gewidmet war, übergab, begann sie, ergriffen zu weinen.“63 Nicht nur das fertige Werk wirkte sich auf die Naumann-Gemeinde aus. Schon die Vorbereitungsphase schweißte die Naumannianer enger zusammen. Denn die Naumannianer stellten sich demonstrativ hinter Heuss, um die Arbeit ihres einstigen Weggefährten zu unterstützen. Die auch für den heutigen Historiker noch wertvolle Biographie wurde erst durch die finanzielle Unterstützung anderer Naumannianer ermöglicht. Zugleich wurde bewusst versucht, durch weitere finanzielle Spenden der Naumannianer die Kosten und den Verkaufspreis des Werkes zu senken: „Dieses große Ei [Die Naumann-Biographie] gelegt zu haben, ist wirklich fabelhaft. Aus dem alten Kreis kommen viele Spenden, um es zu verbilligen, den Druck, die Verlagsanstalt nimmt es gern; es soll nur nicht zu teuer werden, so daß es viele Menschen kaufen.“64 Dass diese Biographie den Naumann-Kreis noch einmal enger zusammenbrachte, zeigen auch die Geldspenden der Naumannianer. Schon recht früh versicherte beispielsweise der nunmehr im Exil lebende Naumannianer Ernst Jäckh Heuss tausend Dollar, falls er die Arbeit des Werkes nun endlich aufnehme.65 Heuss warb um Spenden, wie in einem Brief an den Historiker Walter Goetz: „Ich habe in den letzten Wochen wie ein Dackel an dem Naumannbuch geschrieben, auf der Reichskanzlei und im Auswärtigen Amt Akten studiert und Briefe kopiert. […] Dann setze ich mich irgendwo hin, vier Wochen, um den ganzen Kram einheitlich zu überarbeiten. Ich nehme an, daß es jetzt schon 600 starke Seiten sind und etwa [sic!] werden, doch rechne ich damit, ein paar tausend Mark Druckkostenbeitrag schnorren zu können, damit der Ladenpreis entsprechend angesetzt werden kann, um für Studienräte und Postinspektoren noch erschwinglich zu sein. Sollte also der unwahrscheinliche Fall vorliegen, daß Sie irgend einen alten Naumann-Freund ‚an Hand‘ haben, der bei einer solchen Beitragsleistung gern mitmacht, bzw. leicht mit62 63 64 65
Theodor Heuss an Friedrich Naumann am 20. Juli 1907, in: Theodor Heuss, Aufbruch im Kaiserreich. Briefe 1892–1917, hg. u. bearb. v. Frieder Günther, München 2009, S. 222 f. Elly Heuss-Knapp, Ausblicke vom Münsterturm. Erinnerungen, Stuttgart 2008, S. 172. Elly Heuss-Knapp an Gertrud Stettiner-Fuhrmann am 9. Juni 1937, in: Elly Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten. Ein Leben in Briefen und Aufzeichnungen, hg. v. Margarethe Vater, Tübingen 21961, S. 262. Vgl. Kurlander, Liberal Democrats (wie Anm. 31), S. 62.
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machen kann, dann habe ich nichts dagegen, wenn Sie ihn in Bewegung setzen.“66 Auch der Versuch, die „Propaganda [des Buches] selber in die Hand [zu] nehmen“67, zeugt von dem Willen der Naumannianer, dieses große Projekt glanzvoll und ohne fremde Unterstützung über die Bühne bringen zu wollen. Dafür war dieses Werk von Heuss für den Naumann-Kreis einfach zu wichtig. Der Naumann-Kreis – so das Fazit dieses Kapitel – konnte durch die Naumann-Biographie von Theodor Heuss noch einmal gerettet werden. Am Ende verkaufte sich die Naumann-Biographie von Heuss im Zweiten Weltkrieg aber nur knappe viertausend Mal.68 Wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, erlebte Naumann im Jahre 1937 noch einmal eine kurze Renaissance. Doch muss im Allgemeinen festgestellt werden, dass Naumann und dessen Werk an Bedeutung verloren. Zu stark wirkte das Charisma und der nationalsozialistische Machtapparat Hitlers und zu klein und ohnmächtig war die Gruppe der übrig gebliebenen Naumannianer, sich dieser nationalsozialistischen Unterdrückung und Unrechtsmechanismen entgegenzustellen. Der Zweite Weltkrieg tat dann sein Übriges, dass der ehemalige Pastor immer mehr in Vergessenheit geriet. Erst die bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 ermöglichte für die Übriggebliebenen einen Neuanfang. Trotz der „totalen Niederlage“ Deutschlands im Zweiten Weltkrieg dauerte es nur wenige Jahre bis die Bundesrepublik Deutschland dank der Währungsreform und den „liberalisierenden Wirtschaftsreformen“ wieder als „Akteur auf dem Weltmarkt“ und „als Mitglied in [der] westlichen Staatenwelt aufgenommen“ wurde.69 Ein ehemaliger Dekan aus Brackenheim veröffentlichte 1950 eine Schrift mit dem Titel „Friedrich Naumann und der Deutsche Sozialismus“. Zumindest für Hans Voelter war Naumann gerade zu Beginn des Kalten Krieges ein „politischer […] Willensbilder von ungeheurer Kraft und Weisheit.“70 Für Voelter nahm Naumann eine vermittelnde Position in einer immer kälter werdenden bipolaren Welt ein. Sowohl Naumanns Nähe zur Arbeiterschaft als auch dessen Furcht vor dem Kommunismus seit dem Ende des Ersten Weltkriegs eigneten sich sehr wohl für dieses Unterfangen. Aber Voelters Büchlein war nicht publikumswirksam. Es mussten andere Optionen auf den Tisch, um das Erbe Naumanns in die Bundesrepublik Deutschland hinüberzuretten.
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BArch N 1215, 86, Theodor Heuss an Walter Goetz am 20. März 1937. Theodor Heuss an den Verleger Gustav Klipper am 20. November 1937, in: Theodor Heuss, In der Defensive. Briefe 1933–1945, hg. u. bearb. v. Elke Seefried, München 2009, S. 309. Becker, Biographie (wie. Anm. 48), S. 65. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bundesrepublik 1949–1990, München 2008, S. 3. Hans Voelter, Friedrich Naumann und der Deutsche Sozialismus, Heilbronn 1950, S. 11.
XI. EXKURS ÜBER DAS CHARISMA (IV): DER NAUMANN-ERBE THEODOR HEUSS Theodor Heuss nahm spätestens seit seiner Naumann-Bographie in der NaumannGemeinde eine besondere Stellung ein; nicht nur, weil Heuss seit 1933 die Naumannsche Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ herausgab, den Naumann-Nachlass verwaltete oder eben die größte und umfangreichste Naumann-Biographie schrieb; auch oder gerade seine besondere Position in der jungen Bundesrepublik Deutschland war ausschlaggebend dafür verantwortlich, dass letzten Endes seine NaumannGeschichte wahrgenommen und rezipiert wurde.1 Bei der Okkupation Naumanns spielte Heuss die tragende Rolle. Am Ende kam Heuss auf über dreißig NaumannArbeiten. Lässt man an dieser Stelle das Leben von Theodor Heuss noch einmal Revue passieren, weiß man warum „Friedrich Naumann für Heuss ein Dauerthema“2 war: Naumann hat das Leben von Heuss „ab ovo“3 bestimmt. Friedrich Naumann kann daher zurecht als der „Ersatzvater“ von Theodor Heuss interpretiert werden.4 Schon am 22. April 1902 zeigte sich der Münchner Student Heuss in einem Brief an den evangelischen Pfarrer Eberhard Goes von Naumann tief beeindruckt: „Die Vorträge, die Sie selbst aus diesem herrlichen Munde hören dürften, sind mir nach ihrer Drucklegung eine Quelle politischer Wahrheiten geworden, ein Genuß an der herrlichen Sprache.“5 Im Oktober 1902 pilgerte der junge Heuss zu Fuß über Berge und Täler nach Hannover, um seinen Meister das erste Mal persönlich auf einer Veranstaltung des Nationalsozialen Vereins sprechen zu hören. Seit diesem performativen Naumann-Erlebnis wich Heuss seinem großen Idol nicht mehr von der Seite. Schon ein Jahr später zog Heuss wegen Naumann nach Berlin, um am 1
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Vgl. dazu schon Ursula Krey, Demokratie durch Opposition. Der Naumann-Kreis und die Intellektuellen, in: Kritik und Mandat. Intellektuelle in der Deutschen Politik, hg. v. Gangolf Hübinger u. Thomas Hertfelder, Stuttgart 2000, bes. S. 72 f.; vgl. auch die wichtigen Beiträge von Thomas Hertfelder, Friedrich Naumann, Theodor Heuss und der Gründungskonsens der Bundesrepublik, in: Jahrbuch für Liberalismus-Forschung, 23 (2011), bes. S. 125; Ders., Von Naumann zu Heuss. Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland, Stuttgart 2013, bes. S. 11 u. S. 28–31; vgl. auch ferner Michael Dorrmann, Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik (Briefe 1918–1933), München 2008, S. 28; vgl. auch Barthold Witte, Theodor Heuss und Naumanns Nachleben in der Bundesrepublik Deutschland, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin/New York 2000, S. 361–368; Ralph Raico, Die Partei der Freiheit. Studien zur zur Geschichte des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1991, bes. S. 219. Joachim Radkau, Theodor Heuss, München 2013, S. 212; vgl. dazu die Aufzählung von Hertfelder, Von Naumann zu Heuss (wie Anm. 1), S. 30 u. Fußnote 137 auf S. 80 f. Theodor Heuss an Walter Schwab am 11. Januar 1960, in: Theodor Heuss, Privatier und Elder Statesman. Briefe 1959–1963, hg. u. bearb. v. Frieder Günther, Berlin/Boston 2014, S. 142. Hertfelder, Von Naumann zu Heuss (wie Anm. 1), S. 11. Theodor Heuss an Eberhard Goes am 22. April 1902, in: Theodor Heuss. Aufbruch im Kaiserreich (Briefe 1892–1917), hg. u. bearb. v. Frieder Günther, München 2009, S. 89.
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Wahlkampf der nationalsozialen Partei teilzunehmen. Wie so viele andere Naumannianer war auch Heuss von dem nationalsozialen Weltbild Naumanns beeindruckt.
Bundespräsident Theodor Heuss (r.) im Gespräch mit Bundeskanzler Konrad Adenauer in seinem Arbeitszimmer (1951) Quelle: BArch, B 145 Bild-00010528
Noch in einem Brief aus dem Jahre 1947 schrieb Heuss an den Naumannianer Wilhelm Heile, dass Naumann „dem Liberalismus sein sozialpolitisches Gewissen zurückgegeben“ habe: „Was ich als Schüler von ihm lernte, war sie, daß die Industriepolitik gewisse weltpolitische Konsequenzen habe, und von dieser Seite her wurde mir die Notwendigkeit der machtpolitischen Stellung klar.“6 Der gebürtige Brackenheimer wanderte seitdem durch alle Naumannschen Institutionen hindurch. Er schrieb und redigierte für Naumanns Zeitschrift ‚Die Hilfe‘, unterrichtete an der ‚Deutschen Hochschule für Politik‘ und war Geschäftsführer und Vorstandmitglied des ‚Deutschen Werkbundes‘. Seine politische Karriere nahm allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg stärkere Konturen an; wie Naumann konnte Heuss erst im fortgeschrittenen Alter sein Wirkungspotenzial voll und ganz ausspielen. Der ehemalige, eher noch unbekannte Reichstagsabgeordnete wurde in der Nachkriegszeit zum Kultminister für Württemberg-Baden ernannt, war Abgeordneter des Parla6
Theodor Heuss an Wilhelm Heile am 22. Mai 1947, in: Theodor Heuss, Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949, hg. u. bearb. v. Ernst Wolfgang Becker, München 2007, S. 273–281, hier S. 275 f.
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mentarischen Rates und ab 1948 auch Parteivorsitzender der Freien Demokratischen Partei.7 Heuss zeigte sich in einem Brief an den ehemaligen Naumannianer Gottfried Traub aus dem Jahr 1948 noch zurückhaltend, ob er als Parteiführer der Liberalen überhaupt die nötigen Voraussetzungen mitbringe: „Daß ich an der Spitze der Partei getreten [bin], ist, von mir aus gesehen, nur ein Opfer, […] denn außer einer gewissen Beredsamkeit […] bringe ich für diese Amt nicht allzu viel mit.“8 Doch spätestens nach der Wahl zum Bundespräsidenten am 12. September 1949 konnte Heuss „mit Hilfe seiner Reden und symbolischen Akte […] performativ ein politischer Faktor werden“.9 Die Redegewandtheit war eine Eigenschaft, die Heuss als Bundespräsident gekonnt auszuspielen vermochte.10 Ein Naumannianer stand nun an der Spitze des jungen Deutschlands. Doch wie viel Naumann steckte zu diesem Zeitpunkt noch in dem Bundespräsidenten Heuss? Zumindest für die Naumannianer war klar, dass Heuss nun die Position einnahm, die Naumann bereits im Jahr 1919 hätte einnehmen sollen. In einem Brief sprach der Naumannianer Georg Hohmann das institutionelle Erbe an: „Nun fällt mir schwer auf die Seele, dass ich Ihnen zu Ihrer Präsidentenwahl nicht gratuliert habe. Ich habe es immer vorgehabt, aber dann kam es doch nicht dazu. Dass ich sehr viel Anteil daran nehme, können Sie mir glauben. Dass einer von uns Naumann-Leuten das werdende Deutschland […] beeinflusst, ist doch auch für mich eine große Freude. Seinerzeit bestand ja einmal die Aussicht, die Reichspräsidentenschaft Naumann zu übertragen, und es wäre auch eine glückliche Lösung gewesen.“11 In einem weiteren Gratulationsschrift an Heuss ging der Naumannianer Hausenstein sogar auf das inhaltliche Erbe Naumanns ein: „Lieber Heuss, ich bin von einer längeren Auslandsreise an meinen Schreibtisch zurückgekehrt, und da ist nun erst, […] der rechte Ort, das zu tun, was ich mir unterwegs vorgenommen habe: Ihnen nämlich zu der Präsidentschaft der deutschen Bundesrepublik von Herzen alles Glück zu wünschen. […] In ihrer Präsidentschaft [hat] sich ein Stück vom Geiste unseres unvergeßlichen Friedrich Naumanns verwirklicht, den wir als den Aristides der neusten deutschen Geschichte verehren.“12 Auch Stimmen aus der Bevölkerung sahen in Heuss einen würdigen Nachfolger des politischen Erziehers Friedrich Naumann: „Sehr geehrter Herr Präsident! Sie genießen das Vertrauen der demokratischen Deutschen aller Richtungen. [Ich wünsche mir], daß die F. D. P. 7 8 9 10 11 12
Vgl. zu diesem Abschnitt Peter Merseburger, Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident, München 2012, S. 42, S. 56 f. und S. 79–82 u. Ernst Wolfgang Becker, Theodor Heuss, Bürger im Zeitalter der Extreme, Stuttgart 2011, S. 19–23. Theodor Heuss an Gottfried Traub am 22. Dezember 1948, in: Erzieher zur Demokratie (wie Anm. 6), S. 448–449. Ernst Wolfgang Becker u. Martin Vogt, Einführung, in: Theodor Heuss, Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954, hg. u. bearb. v. Ernst Wolfgang Becker, Martin Vogt u. Wolfram Werner, Berlin 2012, S. 51. Vgl. zum Redner Heuss die Studie von Ulrich Baumgärtner, Reden nach Hitler. Theodor Heuss Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, München 2001, bes. S. 147–160. BArch, Nachlass Heuss, N 1221, 152, Georg Hohmann an Theodor Heuss am 26. September 1949, Wilhelm Hausenstein an Theodor Heuss am 11. Oktober 1949, in: Wilhelm Hausenstein, Ausgewählte Briefe 1904–1957, hg. v. Hellmut H. Rennert, Oldenburg 1999, S. 235.
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eine wahrhaft demokratische Partei wird und der Geist Naumanns in ihr erhalten bleibt.“13 Wie Naumann zu Beginn der Weimarer Republik wurde Heuss zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland als eine Art „Erzieher zur Demokratie“ wahrgenommen; als ein politischer und historischer Lehrmeister, der durch seine zahlreichen Schriften und Reden die Demokratisierung im Deutschland der Nachkriegszeit vorantreiben sollte.14 Wie Naumann versuchte Heuss in seinen zahlreichen öffentlichen Ansprachen die deutsche Bevölkerung auf ihre demokratischen Rechte und Pflichten hinzuweisen.15 Zudem beherrschte der ehemalige Journalist, Wahlkämpfer, Dozent und Reichstagsabgeordnete Heuss die ars rhetorica wie kaum ein zweiter Politiker in der Nachkriegszeit; schließlich war er über Jahrzehnte durch die Schule Naumanns gegangen. Wie übte Heuss sein Amt im öffentlichen Auftritt aus – und diente ihm dabei Naumann als Orientierung? In einer Rede zum Gedenken an Theodor Heuss kam Emil Dovifat – auch er hatte an der Naumannschen Bildungsstätte ‚Deutsche Hochschule für Politik‘ unterrichtet – auf die Sprachmächtigkeit von Theodor Heuss zu sprechen: „Denn Th. Heuß war ein großer Publizist aber er war auch […] ein großer Künstler [und] Könner der Sprache. Er vermochte mit dieser Sprache die publizistischen Aufgaben auszusprechen u. durchzusetzen.“16 Wie Naumann nahm Heuss eine Doppelfunktion ein; wie Naumann besaß Heuss eine Art Charisma! Ein Charisma der Rede, dass von einem „Charisma des gelassenen Humors, des Selbstbewusstseins im Understatement“17 getragen und unterstützt wurde, wie Radkau in seiner Biographie treffend formulierte. Damit war der oft gemütlich wirkende Heuss zugleich das ideale Gegengewicht zu dem Machtpolitiker und Bundeskanzler Konrad Adenauer.18 Zudem war Heuss sowohl ein Homme de Lettres, als auch – im großen Gegensatz zu Adenauer – ein Gemütsmensch. Wie Naumann verehrte der Bildungsbürger Heuss den Dichter Friedrich Schiller und baute Brücken zwischen der Kultur und der Politik. Egal ob man an dieser Stelle seine Beziehung zu Thomas Mann, Hermann Hesse oder auch Ernst Jünger als Beispiel hervorhebt: Heuss verkörperte „glaubwürdig die Synthese von Geist und Politik“19, wie Becker in seiner kurzen aber wichtigen Heuss-Biographie feststellt. Doch viel stärker als Naumann konnte 13 14 15 16
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Erika Hörmann an Theodor Heuss am 30. November 1952, in: Theodor Heuss, Hochverehrter Herr Bundespräsident. Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. u. bearb v. Ernst Wolfgang Becker, Martin Voigt u. Wolfram Werner, Berlin/New York 2010, S. 221. Vgl. Becker, Heuss (wie Anm. 7), S. 96–111 u. S. 145 u. Ders., Einführung, in: Erzieher zur Demokratie (wie Anm. 6), S. 15–57. Vgl. Becker, Heuss (wie Anm. 7), S. 127. GStA PK, VI HA Familienarchive und Nachlässe, Nl Dovifat, Nr. 1931, Bl. 2, Emil Dovifat, Friedrich Naumann über Rede und Rhetorik; Landesarchiv Berlin, Nachlass Otto Suhr, E Rep. 200–17, Nr. 629, Vorlesungsverzeichnis Sommer-Semester 1955, S. 1–24, hier S. 14: Dovifat leitete im Sommersemester 1955 eine Übung mit dem Titel „Aufbau und Wirkungsgesetze der politischen Reden (mit praktischen Übungen). Radkau, Heuss (wie Anm. 2), S. 324–330, hier S. 329. Vgl. Ebd., S. 375–381. Becker, Heuss (wie Anm. 7), S. 145.
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Heuss bei einem Glas Wein menschliche Züge annehmen. Anders ausgedrückt: Heuss war trotz seines Amtes nicht unnahbar.20 Auch auf Grund dieser menschlichen Eigenschaft ging Heuss als der ideale Bundespräsident in die Geschichtsbücher ein. Für den Direktor des Instituts für Publizistik an der Freien Universität Berlin bestand „seine bundespräsidiale Leistung [auch darin, dass Heuss,] die politische Macht mit [der] menschliche[n] Würde [und der] geistige[n] Größe [verbunden hatte]“21; wovon die zahlreichen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ein Zeugnis ablegen: „Es hat keinen Sinn, um die Dinge herumzureden. Das scheußliche Unrecht, daß sich am jüdischen Volke vollzogen hat, muß zur Sprache gebracht werden.“22 Es gibt wohl kaum eine Rede in der Bundesrepublik Deutschland, die dermaßen folgenreich war; seine Worte von der „Kollektivscham“ aller Deutschen, beeinflusste eine ganze Nachkriegsgeneration.23 Wie bei Naumann ergänzten sich die Performanz und der Inhalt der Reden gegenseitig. Obwohl Naumann als verhinderter Reichspräsident ungleich mehr Gestaltungsraum als ein Bundespräsident gehabt hätte, kann das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland die Öffentlichkeit beeinflussen: „Das gesprochene und geschriebene Wort ist eines der stärksten politischen Mittel, über die der Bundespräsident verfügt. Mit seinen Reden und Ansprachen kann er die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Verantwortlichen in Regierung, Parteien und Verbänden auf bestimmte Themen und Probleme in Politik und Gesellschaft lenken, er kann Anregungen geben und Anstöße.“24 Unter diesem Gesichtspunkt war Heuss in der Tat die Idealbesetzung, da er sowohl „die öffentliche Rede […] zu seinem eigenen Genre kultivierte“25 als auch dem Amt eine eigene „stilbildende Wirkung“26 verlieh. Darüber hinaus fällt auf, dass Heuss wie Naumann darauf aus war, seine Reden historisch zu untermauern.27 In fast jedem seiner Vorträge baute der Bildungsbürger historische Betrachtungen ein, die oft als das eigentliche Fundament seiner weiteren Argumentationsstränge fungierten. Wie Naumann war Heuss in der Lage, komplexe historische Zusammenhänge sprachlich zu veredeln und an den Mann zu bringen.28 Zu guter Letzt waren die eingestreuten persönlichen Anekdoten ein 20 21 22 23 24 25 26 27 28
Vgl. Radkau, Heuss (wie Anm. 2), S. 36–38. Dovifat, Friedrich Naumann (wie Anm. 16), Bl. 5. Theodor Heuss, Mut zur Liebe, in: Ders., Die grossen Reden. Der Staatsmann, Tübingen 1965, S. 99–107, hier S. 100; vgl. zur Geschichtspolitik von Heuss ausführlich Becker u. Vogt, Einführung, in: Der Bundespräsident (wie Anm. 9), S. 39–46. Vgl. dazu ausführlich Baumgärtner, Reden nach Hitler (wie Anm. 10), hier bes. S. 184–208; vgl. auch Karl-Josef Kuschel, Theodor Heuss, die Shoah, das Judentum, Israel. Ein Versuch, Tübingen 2013, S. 264–268. So die offizielle Darstellung des Bundespräsidialamtes, unter http://www.bundespraesident.de/ DE/Amt-und-Aufgaben/Wirken-im-Inland/Reden-und-Ansprachen/reden-und-ansprachennode.html (abgerufen am 3.11.2014). Vgl. Becker, Einführung (wie Anm. 7), S. 41. Becker u. Vogt, Einführung, in: Der Bundespräsident (wie Anm. 9), S. 17. Vgl. Ebd., S. 42 f. So bei Theodor Heuss, Friedrich Ebert zum Gedächtnis, in: Die grossen Reden (wie Anm. 22), S. 108–119.
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weiteres Erkennungsmerkmal, das die Reden von Heuss oft auszeichneten: „Daran darf ich eine kleine Anekdote knüpfen“29, wie Heuss nicht nur bei einem Staatsbesuch in England humorvoll fragte.30 Der gemütliche Humor von Heuss kann auch als eine Stilmittel verstanden werden, um vermeintliche Konflikte zu entschärfen, wovon eine Rede „vor achthundert Leutnants und Fähnrichen“ zeugte: „Es kann einer sagen, wobei eine klassische Bildung vorausgesetzt wird: ‚Spät kommt er, doch er kommt‘ – nämlich der Heuss zur Bundeswehr.“31 Später kam Heuss auch auf Naumann zu sprechen, indem er hervorhob: Auch bei der Militärtechnik habe sich Naumanns „Prophetie […] schaudervoll […], aber zutreffend[…]“ erfüllt.32 Egal ob Heuss über den Lyriker „Hugo von Hofmannsthal“33 sprach, sich in der Aula der „Heidelberger Universität“34 zu der freien Forschung und Lehre bekannte, seinen ehemaligen Parteikollegen und Reichswehrminister „Otto Gessler“35 am Grab ehrte, seinem Freund „Albert Schweizer“36 bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ein Denkmal setzte oder in der Historischen Zeitschrift einfühlende Worte über den Historiker „Friedrich Meinecke“37 verlor; Heuss wollte das geistige Erbe Naumanns zu jeder passenden Gelegenheit aufblitzen lassen. Am deutlichsten zeigte sich das institutionelle Erbe Naumanns bereits während der ersten Ansprache von Theodor Heuss als Bundespräsident am 12. September 1949. Hier wurde deutlich, wem er seiner Meinung nach seine jetzige Stellung verdankte: seinem leiblichen Vater, dem Regierungsbaumeister Louis Heuss, und Friedrich Naumann: „Friedrich Naumann […], des Mannes, der das wachsende Leben gestaltet hat, ohne den ich nicht wäre, was ich bin, dem ich das Wissen zumal verdanke, das als Erbe in mir geblieben ist. […]“38 Ein kluger Schachzug: Denn mit diesem symbolischen Akt machte Heuss seinen geistigen Vater aus dem Kaiserreich „für die Legitimationsdiskurse der jungen Bundesrepublik“39 anschlussfähig. Doch bereits im Jahr 1948 schimmerte das inhaltliche Erbe Naumanns durch. Denn das Engagement von Heuss bei den Grundsatzfragen erinnerte ohne Zweifel auch an Naumanns erfolglose Arbeit im Verfassungsausschuss der Weimarer Nationalversammlung. Für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurde Naumann verfassungsgeschichtlich zu einer parteiübergreifenden „Referenzfigur“, 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Theodor Heuss, Deutschland und England, in: Die grossen Reden (wie Anm. 22), S. 273–280, hier S. 277. Vgl. dazu auch die vorzügliche Studie von Frieder Günther, Heuss auf Reisen, Stuttgart 2006, hier S. 47 f. Theodor Heuss, Soldatentum in unserer Zeit, in: Die grossen Reden (wie Anm. 222), S. 281– 301, hier S. 281. Ebd., S. 295. Theodor Heuss, Hugo vom Hofmannsthal, in: Ders., Würdigungen. Reden und Briefe aus den Jahren 1949–1955, hg. v. Hans Bott, Tübingen 1955, S. 63–76, hier S. 63. Theodor Heuss, Heidelberger Universität, in: Ebd., S. 173–190, hier S. 186. Theodor Heuss, Otto Geßler, in: Ebd., S. 259–263. Theodor Heuss, Albert Schweizer, in: Ebd., S. 271–279, hier S. 277. Theodor Heuss, Friedrich Meinecke, in: Ebd., S. 280–288, hier S. 280 f. Theodor Heuss, Im Bundeshaus, in: Ders., Bonn, 12. September 1949. Zwei Ansprachen von Theodor Heuss, Bonn 1949, S. 3; Text auch abgedruckt in: Die grossen Reden (wie Anm. 22), S. 88–98. Hertfelder, Von Naumann zu Heuss (wie Anm. 1), S. 50.
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wie Hertfelder in seinem Aufsatz hervorgehoben hatte: Nicht nur weil die Naumannianer Wilhelm Heile und Otto Suhr sich für eine verständlichere Formulierung der Grundrechte stark machten.40 Auch Suhr bemerkte einmal während einer Rede: „Theodor Heuss, der damals im Parlamentarischen Rat, auch in dieser Hinsicht ein Nachfolger Friedrich Naumanns, [bei der] Formulierung der neuen Grundrechte der Deutschen mitarbeiten half.“41 Heuss war in der Tat auch unter diesem Gesichtspunkt ein Nachfolger Friedrich Naumanns gewesen. Da der Bundespräsident die Bundesrepublik völkerrechtlich gegenüber dem Ausland vertrat, konnte Heuss auch außerhalb der Grenzen Akzente setzen. Doch erst nach der Übertragung der Souverinätsrechte auf den neuen Staat konnte der „Vertreter des deutschen Bildungsbürgertums“ auf Reisen gehen, um auch im Ausland für das Ansehen Deutschlands durch seine Staatsbesuche zu werben.42 Trotzdem überrascht es fast, dass Heuss erst nach seiner bundespräsidialen Amtszeit auf Naumann außerhalb Deutschlands zu sprechen kam: „Dabei darf ich folgende Bitte aussprechen, daß – wenn ich eingeführt werde – mitgeteilt wird, daß der Vorschlag zu diesem Thema eben von Ihnen ausgegangen ist, denn ich möchte auch in der Spiegelung in Deutschland nicht lediglich als der Missionar Naumanns erscheinen, obwohl ich weiß und immer betont habe, daß er mein Leben entscheidend mitgestaltet hat“43, so der fast zynisch klingende Heuss in einem Brief an den Pariser Professor für Politikwissenschaften. Am 8. März 1960 hielt Heuss an der Sorbonne einen Vortrag über „Friedrich Naumann und die deutsche Demokratie“; eine öffentliche Rede, in der Heuss Naumann als einen wahren Freund Frankreichs darstellte. Lange vor dieser Rede wurde Naumann von Heuss als ein „unermüdlichen Fürsprecher der deutsch-französischen Verständigung“44 dargestellt. So fand der Leser bereits in dem Nachwort seiner Naumann-Biographie aus dem Jahr 1949 folgende Worte wieder: „Das aber, was Naumann heute zur außenpolitischen Problematik zu sagen hätte, ist sehr einfach, er würde mit Leidenschaft für die Bereinigung der deutsch-französischen Beziehungen kämpfen.“45 Auf der Rede an der Pariser Universität Sorbonne betonte Heuss zudem die Parallelen Naumanns mit dem französischen Sozialisten Jean Jaurès, der wie Naumann versucht hatte, die Arbeiter an die „Wehrfragen“ heranzuführen. Deshalb wurde Jaurès „in dem Naumannschen Kreise aufs höchste beachtet“, wie Heuss in einem Brief an den ehemaligen Verteidigungsminister Theodor Blank schon 1953 mitteilte.46 Da während seiner 40 41 42 43 44 45 46
Hertfelder, Von Naumann zu Heuss (wie Anm. 1), S. 48; vgl. auch Becker, Heuss (wie Anm. 7), S. 111–121; vgl. auch Theodor Heuss an Elly-Knapp am 21. September 1948, in: Erzieher zur Demokratie (wie Anm. 6), S. 408 f.; Landesarchiv Berlin, Nachlass Otto Suhr, E Rep. 200–17, Nr. 691–4, Otto Suhr, Rede, o. Datum u. o. Titel, S. 93–94. Vgl. ausführlich Günther, Reisen (wie Anm. 30), S. 7 f. u. S. 58–65. Theodor Heuss an Alfred Grosser am 6. Februar 1960, in: Elder Statesman (wie Anm. 3), S. 158 f., hier. S. 160. So Heuss bereits in einem Brief an Fritz Rörig am 18. Juni 1949, in: Erzieher zur Demokratie (wie Anm. 6), S. 508 f. Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, Stuttgart/Tübingen 21949, S. 515; Zitat auch in: Erzieher zur Demokratie (wie Anm. 6), S. 508 f., Fußnote 4. Theodor Heuss an Theodor Blank am 23. August 1953, in: Hochverehrter Herr Bundespräsi-
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Amtszeit keine französische Einladung erfolgte, zeigte sich Heuss dankbar, dass die „Versöhnungsgeste“47 von Seiten Frankreich endlich nachgeholt wurde: „Glauben Sie mir, es hat für mich etwas Rührendes, in dieser Stunde, an dieser Stelle, über Friedrich Naumann sprechen zu dürfen, der der Lehrer, der Lehrmeister meiner Jugend war und mein eigenes Denken und Leben geprägt hat. […] Naumann hat [Frankreich] aus vielen Reisen wohl gekannt und sein Volk geliebt.“48 Heuss wollte das geistige Erbe Naumanns in Frankreich sichtbar werden lassen und zugleich einen symbolischen Beitrag zur deutsch-französischen Freundschaft leisten. In der Tat: Naumann war bis 1914 ein Bewunderer der französischen Kultur gewesen; immer wieder schrieb der Reiseschriftsteller Naumann über die kulturellen aber auch über die gesellschaftlichen und politischen Leistungen Frankreichs.49 Ein echter Glücksfall, wenn man bedenkt, zu welcher Zeit Heuss diese Rede hielt. Heuss bereitete quasi mit Naumann die Weichenstellung des Élysée-Vertrags vor. Das Erbe Naumanns passte somit in eine bipolare Welt, die Europa und besonders Deutschland bereits in zwei Hälfen getrennt hatte. Naumann wurde somit zu einem Gewährsmann einer immer enger werdenden deutsch-französischen Freundschaft. Man wundert sich erneut, dass Heuss nicht stärker das negative Russland-Bild50 von Naumann in seinen öffentlichen Reden zu betonen versuchte; doch das passte nicht zu Heuss. Abfällige Bemerkungen gegenüber dem Ostblock suchte man bei den öffentlichen Auftritten des Bundespräsidenten vergeblich, obwohl sich Heuss immer als Antikommunist fühlte und sich auch immer hinter die Deutsch- und Europapolitik von Adenauer stellte.51 Aber es liegt auf der Hand, dass Heuss sowohl vor als auch nach seiner Ära als Bundespräsident die liberale Seite von Naumann zu betonen versuchte und dessen imperialistische Grundhaltung zum Teil umdeutete. Naumanns „Mitteleuropa“ passte nicht mehr so recht in das Deutschland der Nachkriegszeit. Selbst gegenüber Naumannianern musste Heuss das Werk Naumanns ab und dann verteidigen. In einem Brief an den Naumannianer Heile schrieb Heuss: „Es hat mir auch leid getan, daß Du Naumanns Mitteleuropa-Konzeption wesentlich wie die Engländer und
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dent (wie Anm. 12), S. 463–464; vgl. zu den Parallelen von Naumann und Jaurès auch Frank Fehlberg, Protestantismus und Nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politisches Denken um Friedrich Naumann (zugl. Diss. 2011), Bonn 2012, S. 444. Frieder Günther, Einführung, in: Elder Statesman (wie Anm. 3), S. 40 f. Theodor Heuss, Friedrich Naumann und die deutsche Demokratie, Wiesbaden 1960, hier S. 15 f.; vgl. auch den Schlusssatz von Heuss in französischer Sprache auf S. 39: „Mon imagination me montre parmi vous Jean Jaurès et Friedrich Naumann. Ils se rencontrent à la sortie, se serrent les mains et confirment que la nature de la démocratie, que le problematique des rapports franco-allemands, j’ ai cherché les interpréter comme eux, ils l’ auraient voulu.“ Vgl. dazu bes. Philippe Alexandre, „Unser Wunsch ist ein befreundetes Frankreich.“ Friedrich Naumann und die deutsch-französische Beziehungen (1899–1919), in: Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, S. 211–244. Philipp Menger, Naumanns Angst. Das Russlandbild der Hilfe (1895–1919) zwischen Furcht und Faszination, in: Die Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ 1894–1944. Ein Ideenlabor in Deutschland, hg. v. Philippe Alexandre u. Reiner Marcowitz, Bern, Berlin et. al. 2011, S. 115–133. Vgl. dazu ausführlich Radkau, Heuss (wie Anm. 2), S. 411–415; vgl. auch Becker u. Vogt, Einführung, in: Der Bundespräsident (wie Anm. 9), S. 25; vgl. auch Günther, Reisen (wie Anm. 30), S. 36–40.
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Franzosen als imperialistische Grundanschauung gedeutet hast. Das war sie nach meiner Auffassung und meiner Darstellung gar nicht, sondern die Überlegung, den Deutschen im europäischen Raum nach dem verlorenen Krieg, Naumann rechnete mit einem Remis-Ausgang, noch eine Aufgabe zu zeigen. Daß Naumann in seiner Frühzeit durchaus imperialistisch war, ist, glaube ich, in meiner Biographie deutlich genug gezeigt.“52 Auf seinem bereits erwähnten Vortrag in Paris startete Heuss einen veritablen Rettungsversuch: „Später, während des Ersten Weltkriegs, wurde mit den Mißverständnissen, die während eines Existenzkrieges zwar nicht erwünscht, so doch verständlich sind, Naumanns Werk ‚Mitteleuropa‘ ins Französische und Englische übertragen und als Dokument des ‚deutschen Imperialismus‘ gedeutet, während das Werk, ich kann es aus persönlichen Gesprächen bezeugen, die die Rückzugslinie der deutschen Politik aus außereuropäischen Aspirationen darstellte.“53 Die persönlichen Erfahrungen und Eindrücke von Heuss waren über jeden Zweifel erhaben. Andere Interpretationen konnten den Naumannianer Heuss ganz schön aus dem Konzept bringen. So beschwerte sich Heuss in einem Brief an einen Parteifreund: „Daß in der Sowjetzone eine Frau Gertrud Theodor ein Buch über Naumann, den ‚Propheten des Profit‘ geschrieben hat, weiß ich. Ich habe mir das Buch auch besorgt und zu lesen begonnen; es ist eine ins Alberne geratene Verzeichnung von Naumanns Persönlichkeit und innerer Entwicklung; ein Musterbeispiel, wohin ein banaler Marxismus die Leute führen kann.“54 Naumann war für Heuss sowohl ein Vertreter der parlamentarischen Demokratie als auch eine Referenzfigur der sozialen Marktwirtschaft und eben kein Vorläufer des Sozialismus. Selbst der ehemalige Bundesvorsitzende der F. D. P., Thomas Dehler, kam während einer Rede zum Gedenken an Heuss auf eine weitere Verbindung zwischen Naumann und Heuss zu sprechen: „Sein politischer Lehrer war Friedrich Naumann. Wir können uns die Kraft, die von ihm ausging, nur schwer vorstellen. Von Friedrich Naumann übernahm Theodor Heuss die Überzeugung, „daß der liberale Gedanke der Ergänzung durch die soziale Verantwortung bedarf und daß Deutschland verloren ist, wenn es nicht gelingt, die Arbeiterschaft in den Staat einzubeziehen und diesen deutschen Staat zum bewußten und ungeteilten Besitz des ganzen deutschen Volkes zu machen.“55 Man muss Dehler in diesem Punkt recht geben; Heuss hatte sich während seiner Amtszeit immer wieder für das Streikrecht oder die Tarifautonomie der Arbeiter eingesetzt, wie Thomas Hertfelder bereits ausführlich gezeigt hat. Wie Naumann versuchte auch Heuss in seiner Amtszeit immer auch gute Kontakte zu den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie zu halten.56 Auch 52 53 54
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Theodor Heuss an Wilhelm Heile am 25.3. 1963, in: Elder Statesman (wie Anm. 3), S. 470– 472, hier S. 471. Heuss, Friedrich Naumann (wie Anm. 48), S. 18. Theodor Heuss an Otto Gönnewein, [Mitte] Juni 1961, in: Elder Statesman (wie Anm. 3), S. 319 f.; vgl. die Studie von Gertrud Theodor, Friedrich Naumann. Oder, Der Prophet des Profits. Ein biographischer Beitrag zur Geschichte des frühen deutschen Imperialismus, Berlin 1957. Dehlers Gedenkrede für Theodor Heuss am 31. Januar 1964 in Bad Godesberg, abgedruckt in: Theodor Heuss, Lieber Dehler! Briefwechsel mit Thomas Dehler, hg. v. Friedrich Henning, München/Wien 1983, S. 178. Vgl. dazu wieder Hertfelder, Von Naumann zu Heuss (wie Anm. 1), hier. S. 54; vgl. auch Theo-
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unter diesem Gesichtspunkt kann Heuss als der wahre Erbe von Naumann betrachtet werden. Wie schon angedeutet formte und bestimmte Heuss das Naumann-Bild nach seinem gusto, ohne dabei die historische Person Naumann ganz aus dem Auge zu verlieren. Neben seinen unzähligen anderen Verpflichtungen kam es Heuss darauf an, die Neuauflage seiner Naumann-Biographie voran zu treiben: „Neben meinen vielen anderen Geschäften muss ich die im Oktober zu erwartende Neuauflage meines Naumann-Buches fertig machen.“57 Immer wieder verkündete er neue Projekte und Aufgaben: „[U]nd dann muss ein grösserer Essay über Naumanns Stellung in der religiös-theologischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts folgen. Ich habe es immerhin erreicht, dass jetzt auch die Theologen wieder sich mit ihm beschäftigen.“58 Wurde einer dieser Aufsätze abgelehnt, konnte Heuss ziemlich unangenehm werden: „So hatte ich natürlich nicht gerechnet. Ich habe die Zusage, Ihnen einen Naumann-Aufsatz zu schreiben, im vergangenen Sommer gegeben, weil Sie in Ihrem ersten Brief mir mitgeteilt hatten, daß Sie Naumanns Wirken und Denken in ihrem exemplarischen Charakter dargestellt wissen wollten. […] Ich denke aber nicht daran, das Manuskript, das ich Ihnen unter allerhand Mühseligkeiten und Krankheiten geschrieben habe, nun isoliert als Arbeit herauszugeben – weder bei Ihnen noch bei Rainer Wunderlich. Denn das war ja gerade für mich das sozusagen Verlockende, Naumann als eine eigenständige Figur neben den anderen Erscheinungs- und Wirkungsformen des Christentums auftreten zu lassen. […] Ich denke auch nicht daran, meinem Freund Leins diese Arbeit anzubieten, der im Laufe dieses Jahres gleich zwei Bücher von mir erscheinen lassen will, darunter meine Erinnerungen gerade auch aus der eigentlichen Naumannzeit, die von 1905–1933 reichen. Ihre Mitteilung, daß eine selbständige Ausgabe meiner Arbeit einen größeren Bezieherkreis erreichen werde – als Ihr geplantes, natürlich teures Sammelwerk –, interessiert mich nun gar nicht. Es sind in meiner Erinnerung ja die kirchengeschichtlichen Kämpfe im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, die ich sehr in der Nähe von Naumann täglich miterlebt habe, auch zur Darstellung gekommen. Es bleibt nun also so: entweder Sie drucken meinen Beitrag ab, von dem ich glaube, daß er sich an die Intention Ihrer ersten Aufforderung hält – oder Sie geben mir das Manuskript zurück, nachdem Sie vorher berechnen ließen, wieviel Seiten im Druck die Arbeit ausmacht, und dann das fällige Honorar auf mein Konto Nr. 46 600 bei der Städtischen Girokasse Stuttgart überweisen lassen […] Ich bin es – verzeihen Sie – nicht gewohnt, daß man so über mich verfügt – und zwar nicht erst, seit ich einmal Bundespräsident gespielt habe.“59 Dieser Brief an den Verleger Gerd Mohn zeigt nicht nur deutlich, dass Heuss selbstbewusst als der NaumannKenner schlechthin auftrat, sondern auch, dass sich der mittlerweile im Ruhestand 57 58 59
dor Heuss, Friedrich Ebert, in: Ders., Würdigungen (wie Anm. 33), S. 209–221. BArch, Nachlass Heuss, N 1221, 152, Theodor Heuss an Georg Hohmann am 23. September 1949. Theodor Heuss an Georg Hohmann am 21. September.1962, in: Elder Statesman (wie Anm. 3), S. 437 f. Theodor Heuss an Gerd Mohn am 8. April 1963, in: Elder Statesman (wie Anm. 3), S. 474– 476; vgl. dazu schon ausführlich Günther, Einführung, in: Ebd., S. 54 f.
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befindende Naumannianer bis zuletzt an Naumann abarbeitete. Noch im Jahre 1958 wurde er von der ‚Friedrich-Naumann-Stiftung‘ um eine Wiederauflage seines Naumann-Buches gebeten.60 Hertfelder schreibt dazu zutreffend, dass Heuss zudem „buchstäblich auf dem Sterbebett“61 das Vorwort der von der ‚Friedrich-NaumannStiftung‘ herausgegebenen sechsbändige Werk-Ausgabe Naumanns diktierte: „Das Werden der […] Werke Naumanns habe ich miterlebt. So konnte ich mich der Bitte nicht entziehen, und ich freue mich, daß die Vielfältigkeit und Selbstständigkeit seiner Arbeiten nun doch […] ein dokumentarisches Denkmal erhalten sollen.“62 Nicht nur anhand dieses Beispieles lässt sich erkennen, dass Heuss selbst das ‚kulturelle Gedächtnis‘ mitbestimmte und formte: „Die Sache ist so, daß die Friedrich Naumann Stiftung beabsichtigt […] eine Sammelausgabe (nicht Gesamtausgabe) der wichtigsten Naumann-Schriften herauszugeben. Den theologischen Teil besorgt der Theologie-Professor Dr. Uhsadel in Tübingen (mit seinem Sohn). Ich habe erst in der letzten Woche eine neue Konferenz mit den Herren gehabt und sie beraten, was nach meiner Meinung weg bleiben kann, was einen überzeitlichen Charakter besitzt.“63 Keinen überzeitlichen Charakter besaßen nach Heuss die Schriften von Naumann gegen den Versailler Vertrag, viele seiner Schriften im Ersten Weltkrieg aber auch viele seiner Aufsätze zur Flotten- und Kolonialpolitik. Auf die imperialistischen und nationalistischen Gedanken Naumanns ging Heuss in seinen vielen Reden und Schriften nach 1945 nur am Rande ein. Heuss war sich jedoch der Zeitbezogenheit mancher Aussagen Naumanns bewusst. Naumann sagte einmal, „wer national sein will, muß deshalb, weil er national ist, sozial sein.“64 Naumanns Versuch, die Arbeiterschaft in den Staat zu integrieren, hatte letzten Endes immer etwas mit Machtpolitik nach außen zu tun.65 Theodor Heuss baute demnach eine Brücke vom ‚kommunikativen‘ zum ‚kulturellen‘ Naumann-Gedächtnis, ohne dabei auf die Konstruktionspläne der Historiker angewiesen zu sein. Am Beispiel der ‚Friedrich-Naumann-Stiftung‘ wird diese Form der Heussschen Erinnerungspolitik im nächsten Kapitel dargestellt.
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Vgl. Vorwort zur Dritten Auflage, in: Theodor Heuss, Friedrich Naumann,. Der Mann, das Werk, die Zeit, München/Hamburg 1968, S. 7. Hertfelder, Von Naumann zu Heuss (wie Anm. 1), S. 31. Theodor Heuss, Geleitwort, in: Friedrich Naumann, Werke (Erster Band, Religiöse Schriften), bearb. v. Walter Uhsadel, Köln/Opladen 1964. Wieder Theodor Heuss an Gerd Mohn am 8. April 1963, in: Elder Statesman (wie Anm. 3), S. 474–476. Friedrich Naumann, Vertiefung der Vaterlandsliebe [Vorwort], in: Patria. Jahrbuch der Hilfe 1903, S. I–II. Vgl. Hertfelder, Von Naumann zu Heuss (wie Anm. 1), S. 35: „Naumanns sozialer Liberalismus lässt sich in Heuss’ Perspektive also nicht ausschließlich funktional als Weg zur Steigerung nationaler Macht und Geschlossenheit interpretieren, sondern davon unabhängig auf einen kulturprotestantisch fundierten, ethischen Kern zurückführen.“
XII. VOM KOMMUNIKATIVEN ZUM KULTURELLEN GEDÄCHTNIS. NAUMANN ALS OBJEKTIVIERTE KULTUR In der Einleitung wurde bereits erwähnt, dass die Gefahr vor Zirkelschlüssen zwangsläufig besteht. Wie geht der Historiker damit um, dass die schriftlichen Quellen zu Naumann nahezu ausschließlich von den Naumannianern geschrieben wurden? Denn nicht nur die größte Naumann-Biographie stammte von Theodor Heuss, auch die Artikel in den einschlägigen biographischen Lexika wurden von dem Alleinerben Friedrich Naumanns geschrieben.1 In dem von Heuss, Hermann Heimpel und Benno Reifenberg herausgegebenen fünfbändigen Lexikon „Die Grossen Deutschen“ war selbst die „fast prophetisch wirkende Kraft“ Naumanns ein Thema: „Weil er mit solcher großen Sprachgewalt die Seelen der Menschen zu bewegen wußte, daß er umschwärmt wurde, galt er den trockenen Leuten selbst als ein Schwärmer, was er ganz und gar nicht war. […] Er war sich dieser seiner politischen Sendung, die auch einen metapolitischen Rang besaß, wohl bewußt, doch bei einer vollkommenen Abwesenheit menschlicher Eitelkeit oder persönlichen Ehrgeizes. […] Hier war eine Stimme aus Deutschland vernehmbar, die wie in den besten deutschen Zeiten auch draußen verwandten Gesinnungen zum Erwecker werden konnte.“2 In den Tagebuchbriefen vermerkte Heuss mit einem ironischen Unterton: „Wir fanden nicht recht den Mann, der schreiben kann und noch eine persönliche Impression besitzt.“3 Heuss konnte die Deutungshoheit über Naumann in der Nachkriegszeit ungestört ausbauen, obwohl es alles andere als einfach für ihn war, sich dem emotional aufgeladenen Gegenstand Naumann zu nähern. Die Naumannianer standen generell vor dem Problem, vergangene Welten durch ihre Schriften präsent zu machen; Vergangenes erneut erfahrbar und erlebbar zu machen. Denn die Schriften waren kaum in der Lage, ein Naumann-Erlebnis herzustellen. Um es an dieser Stelle noch einmal zu wiederholen: „Das Performative existiert nur in diesem Augenblick und als körperliches Moment. Es weist die beiden Aspekte des Ereignens und der Materialität auf.“4 Performativität ist daher immer singulär und zeitlich begrenzt.5 In einer kleinen Miszelle über Naumann stellte Werner Stephan im Bezug auf die 1 2 3 4 5
Theodor Heuss, ‚Naumann, Friedrich‘, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Band 18, Berlin 1997, S. 767–769; vgl. dazu wieder Thomas Hertfelder, Von Naumann zu Heuss. Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland, Stuttgart 2013, bes. 30 f. Theodor Heuss, Friedrich Naumann, in: Die Großen Deutschen. Deutsche Biographie, hg. v. Herrmann Heimpel, Theodor Heuss u. Benno Reifenberg, Band 4, Berlin 1957, S. 143–155, hier S. 154 f. Theodor Heuss am 13. Dezember 1955, in: Ders., Tagebuchbriefe 1955/1963, hg. v. Eberhard Pikart, Tübingen/Stuttgart 1970, S. 114. Dieter Mersch, Posthermeneutik, Berlin 2010, S. 270. Vgl. Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002, S. 217.
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Wirkung des Naumann-Porträts von Max Liebermann fest: „Aber diese Ausstrahlung des Seins kann in späteren Generationen nicht spürbar werden. Selbst Max Liebermanns schönes Naumann-Gemälde ruft nicht die Stimmung hervor, wie die Zeitgenossen sie empfanden. Nicht mehr der Mann kann heute wirken, sondern nur das, was er als Schriftsteller geschaffen hat.“6 Der Passus des Naumannianers zeigt deutlich, dass es eben nicht ohne weiteres möglich war, die Performativität eines Ereignisses in Texte oder Bilder umzuwandeln. Die Singularität des Naumann-Erlebnisses ließ sich nicht ohne weiteres versprachlichen. Was leistete die Naumann-Literatur dann? Um diese Fragen zu beantworten, gilt es im Folgenden auf das von Jan und Aleida Assmann entwickelte Konzept des ‚kommunikativen‘ bzw. ‚kulturellen Gedächtnisses‘ zu blicken. Noch vor der Berlin-Blockade wurde am 15. Januar 1949 die ‚Deutsche Hochschule für Politik‘ wiedereröffnet. Unter anderem hielt der Naumannianer Theodor Heuss eine Rede. Der frühere Dozent (1920–1933) sprach über die „Menschenrechte in der politischen Bildung“. Es war an der Zeit, die Verbrechen des NSRegimes aufzuarbeiten.7 Heuss gab sich in einem Brief an den Naumannianer Ernst Jäckh sehr zufrieden; er war glücklich, dass er diese Rede in der „großen Aula einer unzerstörten Mädchenschule“ halten durfte: „Es war eine sehr nette Idee von ihm [Suhr], mich als den letzten greifbaren Mann einer Traditionskompagnie [sic!] herauszufischen.“8 Der Sozialdemokrat und spätere Berliner Bürgermeister Otto Suhr leitete von nun an die Naumannsche Hochschule, der in einer Rede vom 15. Januar 1952 auch auf den Naumann-Kreis einging und feststellte: „Wie aus dem Naumann-Kreis heraus mit Alfred Weber und Friedrich Meinecke, um nur die beiden ältesten Freunde und Förderer auch der Hochschule zu nennen und zu grüßen, die die Hochschule nach dem Ersten Weltkrieg gründeten, wie unter ihrer Führung die Hochschule rasch zu internationalem Rang und Ruf emporstieg, haben Sie [Ernst Jäckh] eindrucksvoll und lebendig in der Geschichte der alten Hochschule für Politik für diesen Tag uns Jüngeren zur Mahnung und Nachahmung niedergeschrieben.“9 Die ‚Deutsche Hochschule für Politik‘ stand immer noch unter der Schirmherrschaft des Naumann-Kreises. Das institutionelles Erbe Naumanns wurde schließlich 1959 in das ‚Otto-Suhr-Institut‘ der Freien Universität Berlin eingegliedert. Die institutionellen Spuren, die Naumann an der alten Bauakademie am Kronprinzenbau einst hinterlassen hatte, waren somit im geteilten Berlin wieder begehbar.10 6 7
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Werner Stephan, Friedrich Naumann in unserer Zeit, Königswinter 41988, S. 3. Theodor Heuss eröffnet die Berliner-Hochschule für Politik, in: Berliner Montags-Echo vom 17. Januar 1949, S. 2; vgl. dazu Gernhard Göhler, Die Wiedergeburt der Deutschen Hochschule für Politik. Traditionspflege oder wissenschaftlicher Neubeginn, in: Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, hg. v. Gernhard Göhler u. Bodo Zeuner, Baden-Baden 1991, S. 144–164, hier. S. 145. Theodor Heuss an Ernst Jäckh am 22. Januar 1949, in: Theodor Heuss, Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949, hg. u. bearb. v. Ernst Wolfgang Becker, München 2007, S. 461–463. Otto Suhr, Rede, gehalten am 15. Januar 1952, zitiert nach Antonio Missiroli, Die Deutsche Hochschule für Politik, Königswinter 1988, S. 63. Vgl. dazu Hans-Heinz Schneider, Das Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin vor-
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Institutionen lenken und stabilisieren die Regelsysteme einer jeden menschlichen Beziehung. Institutionen rufen eine soziale Ordnung hervor.11 Eine Institutionalisierung, die auch im Zuge der Umbildung des Charisma konsequenter kaum sein konnte. Schon Max Weber hat beschrieben, dass sich das Charisma nicht ohne weiteres auf Dauer stellen lässt. Das Schicksal der „rationale[n] Vergesellschaftung“12 haftete an ihm. Max Weber meinte damit die Veralltäglichung des Außergewöhnlichen: „Flutet die Bewegung […] in die Bahnen des Alltags zurück, so wird […] die reine Herrschaft des Charisma regelmäßig gebrochen, ins ‚Institutionelle‘ transportiert und umgebogen“13. Diese Form der Institutionalisierung findet man auch bei der Geschichte des Naumann-Kreises wieder, an dessen Ende die von Theodor Heuss gegründete ‚Friedrich-Naumann-Stiftung‘ stand.14 Heuss konnte über diesen Weg selbst das ‚kulturelle Gedächtnis‘ an Naumann begründen und formen. Da in der bisherigen Abhandlung der Frage nach der Art und Weise der Erinnerung, Beschreibung und Vermittlung Naumanns durch die Naumannianer ein hoher Stellenwert zugeschrieben wurde, kommt man nicht umhin, den Begriff des Gedächtnisses näher zu bestimmen. Der französische Soziologe Maurice Halbwachs legte mit seiner Schrift über das „kollektive Gedächtnis“15 den Grundstein. In den letzten Jahren wurde das Konzept von Halbwachs – das ‚kollektiven Gedächtnis‘ – im Besonderen von Jan und Aleida Assmann weiterentwickelt, sowie begrifflich und konzeptionell ausdifferenziert.16 Bei dem ‚kommunikativen Gedächtnis‘ unterstützen sich Gedächtnis und Kollektiv gegenseitig, wobei das Kollektiv einer Solidargemeinschaft gleicht. Das ‚kommunikative Gedächtnis‘ ist daher zugleich ein politisch instrumentalisiertes Gedächtnis.17 Das ‚kulturelle Gedächtnis‘ stellt eine Steigerungsform des ‚kommunikativen Gedächtnisses‘ dar: „Wie das [kommunikative] Gedächtnis wird das ‚kulturelle Gedächtnis‘ gebraucht, um Erfahrungen und Wissen über die Generationswellen zu transportieren und damit ein soziales Langzeitgedächtnis auszubilden. Während jedoch beim [kommunikativen] Gedächtnis
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mals Deutsche Hochschule für Politik, herausgegeben zur Einweihung des neuen Institutsgebäudes am 7. Mai 1962, Berlin 1962. Vgl. dazu den Artikel „Institution“ bei Karl-Heinz Hillmann, Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 41994, S. 373. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Herrschaft, hg. v. Edith Hanke, in: Ders., Gesamtausgabe (Band I/22–4), Tübingen 2005, S. 542. Ebd., S. 489. Vgl. dazu schon Ursula Krey, Der Naumann-Kreis. Charisma und politische Emanzipation, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin 2000, bes. S. 127; vgl. Elke Seefried, Einführung. Theodor Heuss in der Defensive. Briefe 1933–1945, in: Theodor Heuss. In der Defensive. Briefe 1933–1945, hg. u. bearb. v. Elke Seefried, München 2009, S. 56. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967; Begriffliche Anmerkung: In der Forschungsliteratur werden die Begriffe ‚kollektives Gedächtnis‘ und ‚kommunikative Gedächtnis‘ oft miteinander vertauscht oder synonym verwendet. Vgl. Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Weimar 2011, S. 30–33. Vgl. Aleida Assmann / Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 41 f.
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diese Stabilisierung durch radikale inhaltliche Engführung, hohe symbolische Intensität und starke psychische Affektivität erreicht [wird], stützt sich das kulturelle Gedächtnis auf externe Medien und Institutionen.“18 Deren Unterscheidung zwischen dem ‚kommunikativen Gedächtnis‘ und dem ‚kulturellen Gedächtnis‘ gilt es nun systematisch auf den Naumann-Kreis zu übertragen, um so einen Anschluss an die historische Gedächtnisforschung zu leisten. Was steckt hinter der Ausdifferenzierung des ‚kollektiven Gedächtnisses‘ in zwei „Gedächtnis-Rahmen“? In erster Linie, dass sich „Inhalte, Formen, Medien, Zeitstruktur und Träger dieser beiden Gedächtnis-Rahmen grundlegend unterscheiden.“19 Während bei dem ‚kommunikativen‘ Gedächtnis Zeitzeugen eine entscheidende Rolle spielen, indem sie durch das Erzählen ihrer Erfahrungen die Alltagskommunikation bestimmen, umfasst das ‚kulturelle Gedächtnis‘ eine objektivierte Kultur, die eine Geschichte offiziell als das Erbe ihrer Kultur anerkannt hat: Hier sprechen nicht mehr die Zeitzeugen, sondern die Texte, Bilder, Gebäude oder Denkmäler.20 Während das ‚kommunikative Gedächtnis‘ also in erster Linie die Geschichtserfahrung einer Gruppe widerspiegelt, die dann beispielsweise informell und mündlich überliefert wird, stellt das ‚kulturelle Gedächtnis‘ in der Regel ein verbindlich geformtes Konstrukt einer Gruppe dar. Das ‚kulturelle Gedächtnis‘ ist geformter, organisierter und verbindlicher als das ‚kommunikative Gedächtnis‘; für die soziale Gruppe eine perfekte Ausgangssituation, um ihre Gruppenidentität auszubauen.21 Das ‚kulturelle Gedächtnis‘ erkennt daher eine Geschichte als das offizielle Erbe einer Kultur an. Thomas Hertfelder hat in seinen Aufsätzen überzeugend dargestellt, dass Heuss darauf aus war, „eine historisierende Sicht auf Naumann zu entwickeln“, die im Besonderen Naumanns sozialliberale Ansichten betonte: Naumann wurde für Heuss „der sozialpolitische Erneuerer des Liberalismus.“22 Eine Erfolgsgeschichte; nicht zuletzt da Heuss es schaffte aus Naumann eine „objektivierte Kultur“23 zu formen. Darüber hinaus leisteten die Erinnerungen der Naumannianer noch einen weiteren wichtigen Beitrag für die Geschichte des Naumann-Kreises. Denn Literatur ist maßgeblich für die kollektive Identität einer Gruppe verantwortlich.24 Über diese Form des Erinnerns wurde die Möglichkeit geschaffen, einen „gruppenspezifischen Vorrat an geteilten Gedächtnisbeständen“ zu konstruieren. Nach Naumanns Tod war die kollektive Identität des Naumann-Kreises zu einem großen Teil „das Resultat der gemeinsamen Vergangenheitsauslegung, das agglomerative Produkt der sich gegenseitig stützenden und ergänzenden [schriftlichen] Erinnerungen der 18 19 20 21 22 23 24
Ebd., S. 49. Erll, Gedächtnis (wie Anm. 16), S. 30. Vgl. Wulf Kansteiner, Postmoderner Historismus – Das kollektive Gedächtnis als neues Paradigma der Kulturwissenschaften, in: F. Jaeger und J. Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2, Stuttgart 2004, S. 123. Vgl. Erll, Gedächtnis (wie Anm. 16), S. 30–32. Hertfelder, Von Naumann zu Heuss (wie Anm. 1), S. 32–35, hier S. 35. Vgl. Kansteiner, Postmoderner Historismus (wie Anm. 20), S. 123. Vgl. Astrid Erll / Marion Gymnich / Ansgar Nünning, Einleitung. Literatur als Medium der Repräsentation und Konstruktion von Erinnerung und Identiät, in: Dies., Literatur-ErinnerungIdentiät. Theoriekonzeptionen und Fallstudien, Tirer 2003, S. III f.
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Gruppenmitglieder an ihre Kollektivvergangenheit.“25 Auch wenn die zahlreichen Autobiographien und Erinnerungen der Naumannianer aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive als Quelle kritisch zu betrachten sind, muss doch deren identitätsstiftende Wirkung hinsichtlich der Vergemeinschaftung des NaumannKreises gesondert hervorgehoben und betont werden. Die autobiographischen Texte der Naumannianer leisteten nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Mythologisierung Naumanns; mit ihren pathetisch gefärbten Erinnerungen errichteten sich die Naumannianer auch gegenseitig Denkmäler.26 Auch wenn das Verhältnis zwischen Heuss und Ernst Jäckh nach 1945 angespannt war, wusste Heuss, was er ihm alles zu verdanken hatte: „In meiner Ansprache an die Bundesversammlung war ich unbefangen genug, das Gedächtnis meines Vaters und das von Naumann zu beschwören. Wenn ich mir es recht überlege, hast Du in den Werdejahren am Entscheidendsten auf meinen Lebensgang eingewirkt. Von der halben Bubenzeit her bis zur Nachfolge in Heilbronn, zum mich wieder nach Berlin-Holen mit all den Zusammenhängen von Werkbund, deutscher Politik und Hochschule für Politik in Deutschland.“27 Zugleich diente dieser sentimentale Naumann Rekurs zur Selbstverständigung der Alt-Naumannianer. Denn allein das Erinnern an sich wirkte auf die nun schon älteren Herren des Naumann-Kreises identitätsstiftend. Ganz in diesem Sinne hob Heuss in einem Brief an Georg Hohmann aus dem Jahre 1950 die gemeinsam erlebte Vergangenheit, die nicht zuletzt von Naumann geprägt worden war, hervor. Der gemeinsame Wahlkampf der Naumannianer war noch über fünfzig Jahre später das prägende Bindeglied: „Lieber Hohmann, in zwei Jahren können wir, wenn wir noch am Leben sind, die 50. Wiederkehr unserer ersten Begegnung feiern. […] Das war so etwa der 8. Oktober 1902 in der Weinstube des Julius-Spitals. Eugen Katz, den ich auf dem nationalsozialen Parteitag in Hannover als damals jüngsten Spross der Naumann-Familie kennengelernt hatte, hatte mit mir gemeinsam die Reise nach Süddeutschland unternommen und in Würzburg wurde Station gemacht, um Ihnen von dem Verlauf der Tafel in Hannover zu berichten. […] Die Begegnung hat dann zu Kameradschaft und Freundschaft geführt und das gemeinsame menschliche Jugenderlebnis ist ja für uns beide zur prägenden Kraft geworden.“28 Vice Versa hieß es in einem Brief des Naumannianers Hohmann an Heuss dreizehn Jahre später: „Heute früh erhielt ich von Oberbürgermeister Mayle den schönen Band über die 25 26 27
28
Birgit Neumann, Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerungen und Identitäten, in: Astrid Erll / Marion Gymnich / Ansgar Nünning, Literatur-Erinnerung-Identiät. Theoriekonzeptionen und Fallstudien, Trier 2003, S. 52 f. Vgl. BArch, Nachlass Heuss, N 1221, 152, Theodor Heuss an Georg Hohmann am 12. Februar 1953. Theodor Heuss an Ernst Jäckh am 21. September 1949, in: Theodor Heuss, Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954, hg. u. bearb. v. Ernst Wolfgang Becker, Martin Vogt u. Wolfram Werner, Berlin 2012, S. 107; vgl. dazu Joachim Radkau, Theodor Heuss, München 2013, S. 390– 394. BArch, Nachlass Heuss, N 1221, 152, Theodor Heuss an Georg Hohmann am 24. Februar1950; vgl. auch BArch, Nachlass Heuss, N 1221, 152, Georg Hohmann an Theodor Heuss am 16. März 1950, in dem Hohmann angibt einen Beitrag über die Jahrhundertwende mit Friedrich Naumann in München schreiben zu wollen.
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Gedächtnisausstellung zu Naumanns hundertstem Geburtstag mit den schönen Erinnerungen. Die Abbildungen haben meiner Frau und mir viel Freude gemacht. Die Bilder von Gerlach, Naumann, Damaschke und Wenck riefen alte Erinnerungen zurück. […] Die Altersbilder Naumanns sind erschütternd.“29 Die Erinnerungen – hier in Form von Fotografien und Aufsätzen – an den nunmehr seit über vierzig Jahren toten Naumann fungierten noch immer als das gemeinsames Bindeglied der Naumann-Gemeinde. Neben der Betonung des kranken Körpers von Naumann, hob der Arzt auch die identitätsstiftende Wirkung des Bildbandes – ein ‚kulturelles Gedächtnis‘ par excellence – hervor. Am Ende der Gedächtnisfeier zu Naumanns hundertsten Geburtstag hielt Heuss eine Rede, auf der er auf das Erbe Naumanns zu sprechen kam: „Das Sterben ist kein Vermächtnis – es wartet ja auf uns alle. Aber dieses Ende dieses Mannes, der im Dienste des Vaterlandes und der Menschen sich verzehrt hatte, gewann Symbolkraft – sie soll nicht verloren gehen. Wollen Sie mir, dem er täglich im Bewußstein steht, der in diesen letzten vier Jahrzehnten oft und oft immer wieder Zwiesprache mit ihm hielt, im Fragen, im Überlegen, im Folgen, im Widerspruch, das ganz einfache persönliche Abschiedswort dieses Abends gestatten: An ihn denken, heißt ihm danken.“30 Heuss kam von Naumann nicht mehr los. Er arbeite ständig weiter an seinem Naumann-Bild und an der Geschichte des Naumann-Kreises: „Anlässlich des 80. Geburtstages von Ely hatten wir hier eine Familienbegegnung, dabei auch eine Abschlusskonferenz über eine Auswahl von Elly- Briefen, die mein Verleger Hermann Keins erbat und die von einer Berliner Familienfreundin durchgeführt wurde, von meinem Sohn gekürzt. Im Juni soll das Buch erscheinen, das auch viel Atmosphäre des Naumann-Kreises (aus Ellys Studienzeit) enthalten wird.“31 Dass Theodor Heuss selbst das ‚kulturelle Gedächtnis‘ formte, kann aus der Institutionengeschichte des politisch organisierten Liberalismus aufgezeigt werden. Die 1958 auf Initiative von Theodor Heuss und Werner Stephan gegründete ‚Friedrich Naumann-Stiftung‘. Das Ableben einer Solidargemeinschaft bedeutet im Normalfall eine Verschiebung der Deutungshoheit über das Erinnerungsobjekt. Anders ausgedrückt: Das Feld der Erinnerung wird meist den Historikern überlassen. Dass das ‚kollektive Gedächtnis‘ oder das ‚kommunikative Gedächtnis‘ in den Händen der Naumannianer lag, bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Begründung mehr. Interessant und einzigartig ist aber, dass Theodor Heuss auf Grund seiner herausragenden politischen Stellung die Möglichkeit hatte, selbst das ‚kulturelle Gedächtnis‘ – per definitionem eigentlich ein objektiviertes Gedächtnis – zu bestimmen und zu formen. Noch viel deutlicher als bei der Naumann-Biographie zeigt die Geschichte der ‚Friedrich-Naumann-Stiftung‘, dass selbst ein Denkmal in Form einer Stiftung 29 30 31
BArch, Nachlass Heuss, N 1221, 239, Georg Hohmann an Theodor Heuss am 10. November 1963, Theodor Heuss, Friedrich Naumann und sein Vermächtnis an unsere Zeit, in: Axel Hans Nuber, D. Friedrich Naumann. Katalog der Gedächtnisausstellung in Heilbronn anläßlich seines 100. Geburtstages am 25. März 1960, Heilbronn 1962, S. 19–26, hier S. 26. BArch Koblenz, Nachlass Heile, N 1132, 27, Theodor Heuss an Wilhelm Heile am 28. Januar 1961.
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von einem Zeitzeugen errichtet wurde. Die heute weltweit unter dem Namen ‚Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit‘ operierende Einrichtung, wurde im Jahre 1958 gegründet. Sowohl die Ziele und Konzepte der Stiftung als auch die Stellung zur F. D. P. waren während der Entstehungsphase noch nicht definitiv geklärt.32 Im April 1959 sollte die Stiftung ihre Arbeit in Bonn aufnehmen. Seit 2001 ist sie in Potsdam ansässig. Die Satzung vom 19. Mai 1958 der ‚Friedrich-Naumann-Stiftung‘ lautete: „Das Gedankengut, das Friedrich Naumann der Nachwelt hinterlassen hat, wird im Bereich des politischen Lebens unabhängig vom Wandel der Zeiten seinen Wert behalten. In dem Bestreben, dieses Gedankengut dem Deutschen Volk nahezubringen [sic!] und dadurch zur Stärkung der liberalen, sozialen und nationalen Ideen beizutragen, errichten die Unterzeichneten hierdurch die Friedrich-Naumann-Stiftung.“33 Theodor Heuss war laut Urkunde der Erste, der seinen Namen unter die Stiftungsurkunde setzte. Obwohl die Quellenlage zur Geschichte der Gründung der Naumann-Stiftung als äußerst problematisch eingestuft werden muss, geht aus den Akten doch hervor, dass Theodor Heuss und Werner Stephan maßgeblich an dem Aufbau der Stiftung beteiligt waren.34 Ohne die beiden Naumannianer Heuss und Stephan sähe das Profil der Stiftung ohne Zweifel anders aus: Sie statteten die Teilnehmer der Seminare mit Naumann-Schriften aus ihrem Privatbesitz aus, kümmerten sich um die Herausgeber der Werkausgabe oder besprachen wie bereits erwähnt die Inhalte dieser sechsbändigen Ausgabe der Schriften von Naumann.35 Darüber hinaus war es auch ein Naumannianer, der über die „Entstehung und Entwicklung“ der Stiftung einen Aufsatz schrieb: „Als Stephan [sic!] berichtete, daß von der Alterspräsidentin des Bundestages Dr. Marie-Elisabeth Lüders angeregt worden sei, der neuen Institution den Namen Gustav Stresemanns zu geben, lehnte Theodor Heuss dies entschieden ab: Friedrich Naumann sei ein Denker und Ideenträger, nicht nur ein Pragmatiker der Politik gewesen, dazu stets auf politische Bildung breiter Schichten bedacht; sein Name werde der Stiftung das Gesicht geben.“36 Die politische Erwachsenenbildung der FDP stand seitdem unter dem Stern des ehemaligen Pastors Friedrich Naumann; besonders in den fünfziger und sechziger Jahren knüpften die Tagungen und Seminare der Stiftung auch inhaltlich an Naumann an.37 Weniger die Parteiarbeit an sich, sondern vielmehr die politische Bildung ganz im Sinne von Naumanns ‚Staatsbürgerschule‘ kann als das eigentli32 33 34 35 36 37
Vgl. dazu Monika Faßbender, „… auf der Grundlage des Liberalismus tätig.“ Die Geschichte der Friedrich-Naumann-Stiftung, Baden-Baden 2009. S. 43–44; Die Stiftungsurkunde der Friedrich Naumann Stiftung aus dem Jahr 1958, in: Ebd., S. 225. Vgl. ebd., S. 28–31; vgl. auch Hertfelder, Von Naumann zu Heuss (wie Anm. 1), S. 93, Fußnote 311. Vgl. Theodor Heuss an Werner Stephan am 8. April 1963, in: Theodor Heuss, Privatier und Elder Statesman. Briefe 1959–1963, hg. u. bearb. v. Frieder Günther, Berlin/Boston 2014, S. 476–477. Werner Stephan, Die Friedrich-Naumann-Stiftung. Entstehung und Entwicklung, in: Kulturpolitik und Menschenbildung. Beiträge zur Situation der Gegenwart, hg. v. Lore Reinmöller, Neustadt/Aisch 1965, S. 81–97, hier S. 83. Vgl. ebd., S. 89 f.
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che qualitative Merkmal der ‚Friedrich Naumann-Stiftung‘ angesehen werden.38 Der baden-württembergische Jurist Walter Erbe leitete ab 1958 die FDP-nahe Stiftung. Neben der schon erwähnten Werkausgabe von Naumann, gab die Stiftung in regelmäßigen Abständen Arbeiten über die sozialliberale Seite des Politikers Friedrich Naumann39 heraus. Man kann daher mit Werner Stephan abschließend feststellen, dass die Stiftung in erster Linie „das Vermächtnis des großen liberalen Denkers [!] in ihre Obhut genommen“40 hat. Die ‚Friedrich Naumann-Stiftung‘ kann als das ‚institutionelles Naumann-Gedächtnis‘ schlechthin bezeichnet werden. Im Zuge des ersten öffentlichen Auftrittes der Stiftung am 14. November 1958 in Bad Godesberg war es dann auch Theodor Heuss, der die Eröffnungsrede einleitete, die dann unter dem Titel „Friedrich Naumanns Erbe“41 vertrieben wurde. Ein Jahr vor seinem Ruhestand hatte er nun noch einmal die Möglichkeit, Worte über Friedrich Naumann auszusprechen; Worte, die er schon so viele Male über den ehemaligen Führer des Naumann-Kreises gesagt hatte: „Es mag daran erinnert werden, wie er, nicht nur durch seine außerordentliche Rednerkraft, sondern durch die unbelastete Befangenheit seines Fragens, ein Erwecker wurde. Männer, die später ihren eigenen Weg gingen, über das parteipolitische Missgeschick enttäuscht, vielleicht auch ungeduldig, verließen seinen Kreis, frühere „Naumannianer“ waren später in anderen Gruppen zu finden, von den Sozialdemokraten bis zu den Deutschnationalen. […] Gleichviel, sie hatten seines Geistes einen Hauch gespürt, und er hatte, da er ein Wecker zum eigenen Sein war, und wohl auch, Enttäuschungen überschlagend, sein wollte, alle Trennungen mit noblem Respekt behandelt.“42 Über die Eröffnungsrede schrieb er nachträglich: „Die Naumannrede, die eine zeitlang so beschwerlich auf mir lag, habe ich nun in den Abendstunden gehalten und dann gab es noch einen Empfang. […] Ein recht anständiges Publikum, alte Naumannianer, ziemlich viele Professoren und ein ganz netter Typ von Studenten.“43 Am 25. März 1962 sprach Heuss in Heilbronn zum 100. Geburtstag von Naumann über „Friedrich Naumann und sein Vermächtnis an unsere Zeit“44, seine letzte öffentliche Ansprache über seinen Mentor und Ziehvater. Am 12. Dezember 1963 starb Heuss in Stuttgart in seinem Haus auf dem Killesberg. Am 31. Januar 1964 veranstaltete die ‚Friedrich-Naumann-Stiftung‘ eine Gedenkfeier zu Ehren des Erben von Naumann. Der Geist Naumanns wirkte in der Bundesrepublik parteiübergreifend weiter.45 Nicht nur auf einer Klausurtagung der F. D. P. konnte im Jahre 1958 von Karl-Hermann Flach folgende Frage gestellt werden: „Tragen wir das geistige Erbe 38
39 40 41 42 43 44 45
Vgl. Norbert Friedrich, Friedrich Naumann und die politische Bildung, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Berlin/New York 2000, S. 345–360, hier bes. S. 357– 359; vgl. auch Hertfelder, Von Naumann zu Heuss (wie Anm. 1), S. 56; vgl. Faßbender, Stifung (wie Anm. 34), bes. S. 26. Wie die Studie von Annerose Gröppler und Paul Gert von Beckerath, Der Begriff der sozialen Verantwortung bei Friedrich Naumann, Bonn 1962. Stephan, Die Friedrich-Naumann-Stiftung (wie Anm. 38), S. 97. Theodor Heuss, Friedrich Naumanns Erbe, Tübingen 1959. Ebd., S. 43 f. Theodor Heuss am 14.11.1958, in: Tagebuchbriefe 1955/1963 (wie Anm. 3), S. 365. Heuss, Naumann und sein Vermächtnis (wie Anm. 32). Dazu schon ausführlich Hertfelder, Von Naumann zu Heuss (wie Anm. 1), S. 50–69.
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von Kant, Humboldt, von Stein, von Friedrich Naumann weiter oder nicht?“46 Auch der sozialdemokratische Politiker Erhard Eppler versuchte Naumanns „Absichten und Träume“47 im Parteiprogramm des SPD (Godesberger-Programm) einzubringen. Genauso wie bei den Christdemokraten, bei denen Hermann Ehlers in einem Vortrag auf einer Veranstaltung des Vereins Deutscher Studenten in Marburg am 17. Juli 1953 Naumanns Erbe aufgriff: „Der Verband bestand nicht nur aus Naumannanhängern, obwohl es gut wäre, wenn wir uns mit jenen Ereignissen bis hin zu den letzten Ausstrahlungen Friedrich Naumanns in der Weimarer Nationalversammlung immer wieder einmal befassen würden.“48 Selbst in der DDR war Naumann weiter lebendig, indem der Naumannianer Otto Nuschke als Vorsitzender der Ost-CDU vor allem die sozialen Ideen Naumanns aufgriff und betonte.49 Obwohl Heuss und der stellvertretende Ministerpräsident der DDR aus verständlichen Gründen nicht mehr viel miteinander zu tun hatten, war Heuss so frei, ihm folgende Sätze in einem Brief zukommen zu lassen: „Es wird Sie vielleicht interessieren, daß kürzlich die Jugenderinnerungen von Theodor Heuss erschienen sind im Verlag von Rainer Wunderlich in Tübingen, weil in diesem Buch die Wirkung von Friedrich Naumann auf die junge Generation um 1900 beschrieben wird. Dort erzählt Heuss auch von seiner ersten Begegnung mit Ihnen bei dem Nationalsozialen Parteitag in Hannover.“50 Eher darf bezweifelt werden, ob Naumann zu diesem Zeitpunkt – wie Koselleck in einem anderen Zusammenhang passend formulierte – bereits zu einer „reinen Vergangenheit“51 geworden ist.
46 47 48 49 50 51
Karl-Hermann Flach, Liberaler aus Leidenschaft, München/Gütersloh/Wien 1974, S. 90 Erhard Eppler, Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik, Frankfurt 2001, S. 128. Hermann Ehlers, Fundament einer neuen Staatsidee, in: Ders., Präsident des Deutschen Bundestages, Ausgewählte Reden, Aufsätze und Briefe 1950–1954, hg. v. Karl Dieter Erdmann, Boppard am Rhein 1991, S. 270. Dazu Frank Fehlberg, Protestantismus und Nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politisches Denken um Friedrich Naumann (zugl. Diss. 2011), Bonn 2012, S. 467–472. Theodor Heuss an Otto Nuschke am 15. Dezember 1953, in: Theodor Heuss, Hochverehrter Herr Bundespräsident. Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. u. bearb v. Ernst Wolfgang Becker, Martin Voigt u. Wolfram Werner, Berlin/New York 2010, S. 515. Diesen Terminus gebraucht Reinhart Koselleck im Bezug auf die Vergangenheit, welche sich ganz der Erfahrung der Zeitzeugen entzogen hat. Ders., Nachwort, in: Charlotte Beradt, Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt 1994, S. 117.
FAZIT Der Naumannianer Werner Stephan hob in einem Vorwort der dritten Auflage der Naumann-Biographie von Theodor Heuss zusammenfassend hervor, dass „Naumann Bewunderer [hatte], junge und alte, männliche und weibliche, in großer Zahl.“1 Verehrer, die noch nach Naumanns Tod von der Zeit im Naumann-Kreis schwärmten. Im Besonderen war es Theodor Heuss, der in seinen unzähligen Schriften und Reden seinen Naumann immer wieder aufs Neue okkupierte und seinen Meister in den Kontext der Zeit stellte. Der Naumann-Kreis konnte auf diesem Wege immer wieder neu gepflegt werden: „Wir haben uns alle irgendwie von Heimat und Familie getrennt, indem wir ihm nachfolgten, und woher wir auch kamen: indem wir uns zu ihm bekannten, waren wir Freunde für immer geworden, eine Gemeinschaft, die sich herzlich verstand und liebte. Was war uns die Partei? Ach ja, wir opferten für den nationalsozialen Verein alle unsere Pfennige, und die Wahlen von 1903 schlugen uns eine Welt des Glaubens in Stücke – aber nicht Programmsätze, sondern dieser Mann, sein Geist und sein Adel, waren der Inhalt unserer Leben gewesen.“2 Die Naumannianer waren eine gebildeter Kreis von Anhängern, die Naumann nicht zuletzt aufgrund seines sprachlichen und körperlichen Charisma mit Erfolg glorifizierten. Fast vierzig Jahre später schrieb Golo Mann in seiner populären Darstellung zur Deutschen Geschichte über den Naumann-Kreis, dass „der ernsteste Versuch, einer deutschen Politik edleren Sinn zu geben, […] von dem Kreis um den Frankfurter Pfarrer Friedrich Naumann gemacht worden [war].“3 Insofern kann festgehalten werden, dass die Schriften der Naumannianer ihren Zweck erfüllten. Denn die Naumannianer – und besonders Theodor Heuss – wussten, dass die „Vergangenheit […] immer ein Konstrukt der Gegenwart [ist. Sie] wird mit den Institutionen der Gegenwart geschaffen und spiegelt die geschichtliche und gesellschaftliche Lage derjenigen, die sich erinnern.“4 Die Geschichte des Naumann-Kreises ist zugleich eine Geschichte, die zu einem großen Teil von den Naumannianern geschrieben wurde. Eine Geschichte, die an eine Meistererzählung im großen Stil erinnert. Mit Max Weber kann man wohl abschließend feststellen, dass Naumanns Wirkungsmächtigkeit größer war als sein politischer Erfolg: „[U]nd sie wissen, daß wir ihn herzlich liebten, ganz abgesehen von Allem, was er uns als Politiker, als Kulturmensch, als deutscher Mensch bedeutete. […] Wie adelnd er auf alle und jede Diskussion und Kämpfe unsres öffentlichen Lebens wirkte, wie ungeheuer viel 1 2 3 4
Werner Stephan, Friedrich Naumann und Theodor Heuss, in: Heuss, Naumann (wie Anm. 20), S. 20. Theodor Heuss, Erinnerungen, in: Die Hilfe, 36 (1919), S. 483; auch in: Theodor Heuss, Naumanns Persönlichkeit, in: Naumann-Kalender 1921, S. 27. Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt 1958, S. 549. Bernhard Giesen, Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2, Frankfurt 1999, S. 183.
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Fazit
größer sein Sein war als sein Wirken und sein Wirken wiederum als sein äußerlicher Erfolg. […]“5 Auch ein Gedicht von Hugo Canditt kann ganz in dem Sinne Webers gelesen werden: „Friedrich Naumann Er war der Meister nicht, zu Rang und Reigen Zu Ordnen das verwirrte vielerlei. Er war der Führer nicht, ein Heer zu eigen Zu schaden sich mit gellem Feldgeschrei. Er war der Seher nicht, emporzusteigen Die Weite schauend von des Berges Rand, Er war der Künder nicht, dem Volk zu zeigen Das allersehnte, das gelobte Land. Doch hat er, der das Alte tief empfunden, Entschlossen sich dem Neuen zugewandt, Er hat, was hart sich trennt, im Geist verbunden Und klaren Auges Haß und Neid gebannt. Er hat im Walde, der der Welt entschwunden Wie Sprache aus der Erde quillt, gelauscht, Und es geschah ihm in versunknen Stunden, Daß Wald und Quell in seiner Sprache rauscht.“6
Es waren zum größten Teil Menschen wie Theodor Heuss, die aus einer bildungsbürgerlichen Kultur stammend, viele Stunden ihres Lebens opferten, ihrem Mentor Friedrich Naumann bei seinem Versuch zu unterstützen, das nationale, das soziale und das liberale Gedankengut in einer demokratischen Bewegung zu bündeln, behilflich waren. Es waren Menschen, die von Naumann mitgerissen wurden: „Nach 1900 – Gymnasiasten, Studenten, wie waren wir noch so jung, die ungewisse Seele auf dem Weg nach Lebenszielen. Da begegnete uns Naumann, eine Rede, ein Aufsatz, eine Andacht, und nun schien alles Schwanken, alle Unfreiheit weggenommen. Ihm zu dienen, wurde Bestimmung, ihn zu lieben eine keusche Freude des Herzens. Vielleicht waren wir alle ein wenig lächerlich für die anderen oder doch nur rührend in Grenzenlosigkeit unserer Hingabe, ich weiß es nicht.“7 Naumann war eine außergewöhnliche Erscheinung. Der prophetische Habitus und die gezielte Mobilisierung einer christlich-ästhetischen Metaphorik waren Naumanns Markenzeichen. Zudem hatte er eine Doppelfunktion inne, da er erstens bildhaft schreiben und zweitens volksnah reden konnte. Darüber hinaus war er 5 6 7
Max Weber an Magdalena Naumann am 27. August 1919, in: Ders., Briefe 1918–1920, hg. v. Gerd Krumeich u. M. Rainer Lepsius, in: Ders., Gesamtausgabe (Band II/10,2), Tübingen 2012, S. 742 f. GStA PK, VI. HA Familienarchive und Nachlässe, Nl. Canditt, Nr. 294, Bl. 9, Hugo Canditt, Friedrich Naumann, Theodor Heuss, Erinnerungen, in: Die Hilfe, 36 (1919), S. 483; auch in: Theodor Heuss, Naumanns Persönlichkeit, in: Naumann-Kalender 1921, S. 27.
Fazit
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auch körperlich eine herausragende Erscheinung. Naumanns öffentliche Auftritte wurden für die Naumannianer zu einem ästhetisches Erlebnis. Der ehemalige Pastor, der Reiseschriftsteller, der Sachbuchautor, der Volkstribun, der ‚Künstlerpolitiker‘, der Kunstverständiger und der politische Erzieher Naumann war eben kein Parteipolitiker im klassischen Sinne. Seine Wahlkämpfe und Reichstagsreden wurden als etwas Besonderes und Außergewöhnliches wahrgenommen. Er brachte frischen Wind in das deutsche Parlament. Nicht zuletzt auf Grund dieser Tatsache wurde er für die Naumannianer ein Führer. Im und nach dem Ersten Weltkrieg schaffte Naumann mit seinen Schriften und Reden den öffentlichen Durchbruch. Mit seiner aufbauenden Art und Weise weckte er Hoffnungen und beseitige Ängste. Für manche Anhänger war Naumann gar die richtige Person für eine klassenlose Gesellschaft, wovon auch sein nationaler Sozialismus zeugt, mit dem er den Liberalismus zu erneuern versuchte. Sein „Bekenntnis zur Nationalität und zur Menschwerdung der Masse [waren für Ihn] nur zwei Seiten ein und derselben Sache“8. Das klang für die Naumannianer neu und aufrichtig. Sowohl Naumanns Zeitschrift ‚Die Hilfe‘ als auch dessen 1896 gegründeter Nationalsozialer Verein hatten eine wichtige vergemeinschaftende Funktion innerhalb der Geschichte des Naumann-Kreises inne. Naumann war in der Tat ein Multitalent, dem der politische Durchbruch nicht nur auf Grund seines frühen Todes im Jahre 1919 verwehrt blieb. Denn für die Gegner war der sonderbar anmutende Naumann eben nie ein richtiger Politiker gewesen. Nach Naumanns Tod wurde eine neue Meistererzählung geboren; ein Naumann-Mythos, der den Kreis weiterhin handlungsfähig machte. Das ‚kommunikative Gedächtnis‘ der Naumannianer konnte durch die Naumann-Biographie von Heuss über den Krieg gerettet werden und in ein ‚kulturelles Gedächtnis‘ umgewandelt werden, ohne dabei auf die Historiker angewiesen zu sein. Diese Form der Erinnerungspolitik ist es zu verdanken, dass Naumann auch heute noch als Bezugsperson einer liberalen Partei (F. D. P.) gilt, obwohl sich die Stiftung von dem Naumann, der im Kaiserreich lebte und wirkte, immer stärker entfernt hatte. Wäre Naumann, mit dem, was er erreicht hatte, zufrieden gewesen? Vielleicht kann eine seiner Aussagen die Frage ein Stück weit beantworten: „Wir können nichts tun, als Denken und Schreiben. Das kann wenig sein oder viel, wenig, wenn es nicht wirkt, viel, wenn es Menschen aufruft, weckt, führt, leitet und begeistert.“9 Das hat Naumann ohne Frage erreicht; auch wenn es nur wenige waren, die der Charismatiker Naumann zu führen und zu leiten vermochte. Ob Max Weber aber wirklich an den Pastor Friedrich Naumann dachte, als er im Zuge seiner Studien zur Herrschaftssoziologie sein Konzept der charismatischen Herrschaft entwickelte, konnte in dieser Arbeit nur vermutet werden. Dass aber ein um kulturelle Komponenten modifiziertes Charisma-Modell dafür prädestiniert ist, sich Naumann und seinem Kreis zu nähern, dürfte auf den vorausgegangenen Seiten deutlich geworden sein. Die Studie über „Friedrich Naumann und sein Kreis“ hat sowohl neue Ergebnisse als auch kaum oder nur am Rande beachtete Facetten über Naumann 8 9
Friedrich Naumann, Das Blaue Buch von Vaterland und Freiheit. Auszüge aus seinen Werken, Leipzig 1913, gleich nach der Titelseite unter seinem Porträt; handschriftlich. Friedrich Naumann, Patria! [Vorwort], in: Patria. Jahrbuch der Hilfe 1907, S. V.
und seine Naumannianer gefördert. Durch die kulturelle Flankierung eines politikgeschichtlichen Themas konnte anhand der bildenden Figur Friedrich Naumann, die Genese des Charisma aufgezeigt werden.
ZUSAMMENFASSUNG/SUMMARY FRIEDRICH NAUMANN UND SEIN KREIS Die zwischen Kultur- und Politikgeschichte angesiedelte Dissertation über „Friedrich Naumann und sein Kreis“ wurde von drei Fragestellungen geleitet. Erstens galt es, sich mit der Wirkungsmächtigkeit Naumanns auseinanderzusetzen: Was war das Besondere an Friedrich Naumann? Nur auf diesem Wege konnten die Mechanismen der Vergemeinschaftung (zweite Frage) aufgezeigt werden, die dazu führten, dass sich um Friedrich Naumann ein nach ihm benannter Kreis bilden konnte: der Naumann-Kreis. Die begriffliche Offerte, die den Erkenntniszuwachs für die ersten beiden Fragestellungen der Dissertation bereithielt, war das von Max Weber entwickelte Charisma-Konzept. Anhand der bildenden Figur Friedrich Naumann konnte mit Hilfe kulturwissenschaftlicher Ansätze die Genese des Charisma aufgezeigt werden. Dabei galt es in erster Linie den systematischen Stellenwert des Ästhetischen im Charisma aufzuzeigen. Es wurde daher der Versuch unternommen, das Charisma-Konzept Webers mit Hilfe kultursoziologischer Ansätze zu erweitern. Besonders hilfreich für die Modifikation des Charisma-Konzeptes erwies sich dabei die Arbeit der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte, die mit ihrem Werk „Ästhetik des Performativen“ nicht nur in der Kulturwissenschaft für neue Denkanstöße sorgte. Die Rede wurde daher z. B. nicht nur als Text, sondern auch als performative Leistung betrachtet. Drittens galt es, sich mit dem Nachleben Naumanns auseinanderzusetzen und dabei gezielt zu fragen, was den Kreis nach dem Tod Naumanns eigentlich noch am Leben hielt. Durch das von Jan und Aleida Assmann entwickelte Konzept des kommunikativen bzw. kulturellen Gedächtnisses konnte diese Form der Traditionsbildung und Mythenbildung systematisch veranschaulicht werden. Dabei wurde vor allem die besondere Rolle des Naumannianers Theodor Heuss in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland herausgearbeitet, da der Lieblingsschüler von Naumann eine Brücke vom ‚kommunikativen‘ zum ‚kulturellen‘ Gedächtnis errichten konnte, die nicht auf die Konstruktionspläne der Historiker angewiesen war. Sowohl dessen Naumann-Biographie aus dem Jahre 1937, als auch die Gründung der ‚Friedrich Naumann-Stiftung‘ im Jahre 1958 zeugen von dieser Historisierung ohne Historiker. Auf diesem Wege wurde der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland der wahre Naumann Erbe; auch weil Heuss wie Naumann von einem Charisma der Rede umgeben war. Die Studie über „Friedrich Naumann und sein Kreis“ hat sowohl neue Ergebnisse als auch kaum oder nur am Rande beachtete Facetten über Naumann und seine Naumannianer gefördert.
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Zusammenfassung/Summary
FRIEDRICH NAUMANN AND HIS CIRCLE This dissertation on Friedrich Naumann and his circle lies at the intersection between cultural and political history and has been motivated by three key questions. First, it was necessary to examine the power of Naumann’s influence: What was so special about Friedrich Naumann? Only by doing so can the mechanisms of community-building, which are the subject of the second question, be demonstrated. These mechanisms enabled the formation of a circle around Friedrich Naumann – the so called Naumann circle. The conceptual offering that enhances the understanding of the first two questions of the dissertation is the concept of charisma developed by Max Weber. Applying approaches of cultural studies to an analysis of the founding figure Friedrich Naumann helped retracing the emergence of charisma. First and foremost, it was necessary to show the systematic importance of the aesthetic aspect of charisma. Therefore this dissertation attempts to expand Weber’s concept of charisma by means of cultural sociology. Particularly useful for the modification of the concept of charisma has proved to be the work of the theatre scholar Erika Fischer-Lichte, whose book “The Transformative Power of Aesthetics. A New Aesthetics” provided new ideas for cultural studies as well as other fields. For example, speech was thereafter treated not only as text but also as a performative output. Thirdly, it was necessary to deal with Naumann’s legacy and to ask what was it exactly that the circle held alive after Naumann’s death. This form of tradition and myth creation has been systematically illustrated by the concept of communicative or rather cultural remembrance developed by Jan and Aleida Assmann. In particular, the specific role of Naumannian Theodor Heuss in the era of National Socialism and the Federal Republic of Germany has been established. Naumann’s favourite disciple created a link between communicative and cultural remembrance, which is something that was not on the agenda of historians. This biography of Naumann from 1937, as well as the founding of the Friedrich Naumann Foundation in 1958, are a testament to this historicisation without historians. In this way, the first President of the Federal Republic of Germany was the true heir of Naumann, also because Heuss just as Naumann was surrounded by the charisma of speech. The study of Friedrich Naumann and his circle has provided new results and has revealed lesser-known facets of Naumann and his Naumannians.
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS I. 1. UNGEDRUCKTE QUELLEN Arbeitsstelle für internationale Herbartianismusforschung am Lehrstuhl für Allgemeine Didaktik der Universität Duisburg-Essen. Wilhelm Rein Archiv, K 6. Bayerisches Hauptstaatsarchiv, MA 3086 (Staatsministerium des Äußeren). Bundesarchiv Berlin, Nachlass Friedrich Naumann, N 3001. Bundesarchiv Berlin, R 8034-II (Reichslandbund – Presseausschnittsammlung). Bundesarchiv Berlin, R 45/III (Deutsche Demokratische Partei – Deutsche Staatspartei). Bundesarchiv Berlin, R 901 (Auswärtiges Amt, Teil: Zentralstelle für Auslandsdienst 1912–1923). Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Gertrud Bäumer, N 1076. Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Anton Erkelenz, N 1072. Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Erich Eyck, N 1724. Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Wilhelm Heile, N 1132. Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Walter Goetz, N 1215. Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Gottfried Traub N 1059. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI. HA Familienarchive und Nachlässe, Nachlass Hugo Canditt. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI. HA Familienarchive und Nachlässe, Nachlass Emil Dovifat. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Nachlass Max Miller, J 40/7. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Nachlass Conrad Haußmann, Q1/2. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Tondokumente des Jahres 1949, R 5/001, D 451087/007. Landesarchiv Berlin, Nachlass Otto Suhr, E Rep. 200–17. Staatsarchiv Hamburg, Nachlass Carl Petersen, 622–1/80. Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Nachlass Theodor Heuss, N 1221 (=Bundesarchiv Koblenz). Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Nachlass Friedrich Naumann, N 3001 (=Bundesarchiv Berlin). Stiftung Schloß Friedenstein Gotha, Museum für Regionalgeschichte und Volkskunde. Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Nachlass Cartellieri, 23/5, F. Naumann. Werkbundarchiv – Museum der Dinge Berlin, Bestand Deutscher Werkbund.
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Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Von der „Deutschen Doppelrevolution bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1894–1914, München 1995. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bundesrepublik 1949–1990, München 2008. Hans-Ulrich Wehler, Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2001. Wolf Volker Weigand, Walter Wilhelm Goetz 1867–1958. Eine biographische Studie über den Historiker, Politiker und Publizisten, Boppard am Rhein 1992. Graf Westarp, Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, Zweiter Band, Berlin 1935. Michael Wildt, Volksgemeinschaft und Führererwartung in der Weimarer Republik, in: Poltische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren, hg. v. Ute Daniel, Inge Marszolek, Wolfram Pyta u. Thomas Welskopp, München 2010, S. 181–204. Peter Winzen, Das Kaiserreich am Abgrund. Die Daily-Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908, Darstellung und Dokumentation, Stuttgart 2002. Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2000. Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main. Vom Ende der Freien Stadt bis zum Ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main 1987. Anna von Zeromski, Ein Führer zu deutscher Zukunft, Jena 1924. Theobald Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1916. Moshe Zimmermann, A Road not Taken. Friedrich Naumann’s Attemp at a Modern German Nationalism, in: Journal of Contemporary History 17 (1982), S. 689–708.
ABBILDUNGSVERZEICHNIS Friedrich Naumann, „Wohnstube in Langenberg“ (1889). Quelle: Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Archiv des Liberalismus, N 46-5 (10) ......................................................................................... Friedrich Naumann, „Lesen Sie die Hilfe“ (1905–1914) Quelle: Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Archiv des Liberalismus, N 46-15 (51) ....................................................................................... Die geheimnisvollen Strandkorb-Konferenzen, in: Kladderadatsch. Humoristisch-satirisches Wochenblatt 60 (1907), S. 650 ............................................................ Friedrich Naumann, Selbstporträt (o. D.) Quelle: Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Archiv des Liberalismus, N 46-5 (33) ......................................................................................... Friedrich Naumann als Redner in einer Frauenversammlung, in: Zeitbilder. Beilage zur Vossischen Zeitung vom 31. August 1919, Titelseite ............................. Naumann spricht gegen den Versailler Vertrag am 15. Mai 1919 © bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Bild-Nr.: 30008698 ............................. Wahlplakat der DDP zur Reichstagswahl 1924 © Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, Inv.-Nr. 7110................................................................. Bundespräsident Theodor Heuss (r.) im Gespräch mit Bundeskanzler Konrad Adenauer in seinem Arbeitszimmer (1951) Quelle: BArch, B 145 Bild-00010528 .........................................................................................
20 36 51 101 124 136 154 174
PERSONENREGISTER Nicht aufgeführt sind Friedrich Naumann und Theodor Heuss. Abdülhamit II., Sultan des Osmanischen Reiches 93 Adenauer, Konrad 176 Ahlfeld, Friedrich 19 Austin, John Langshaw 72 Avenarius, Friedrich 65 Baden, Prinz Max von 67, 129, 130, 142 Baernreither, Joseph Maria 111 Bäumer, Gertrud 17, 34, 40, 49, 53, 131, 149, 150, 151, 156, 157, 162 Barge, Hermann 56 Barth, Theodor 47 Bassermann, Ernst 78, 90, 132 Battenberg, Mathilde 165 Bauer, Gustav 130 Baumgarten, Eduard 43, 46 Baumgarten, Otto 86 Bebel, August 23, 45, 56, 76, 132 Behrens, Peter 106 Bernhard, Georg 35, 58, 91 Bethmann Hollweg, Theobald von 112 Beyerle, Konrad 140 Birnbaum, Immanuel 64 Bismarck, Otto Fürst von 21, 69, 119, 150 Blaich, Erich 159 Blank, Theodor 179 Bonatz, Paul 106 Bonus, Arthur 52 Bousset, Hermann 57, 151 Bousset, Wilhelm 151 Brentano, Lujo 11, 68, 83, 84 Bruckmann, Peter 84, 85, 106, 151 Büchner, Georg 70 Bülow, Bernhard von 28 Burckhardt, Carl Jakob 39 Burschell, Friedrich 75 Canditt, Hugo 31, 62, 194 Carlyle, Thomas 31 Cartellieri, Alexander 95, 130 Chappuzeau, Adolf 148 Charmatz, Richard 37, 78, 111 Classen, Walter 147 Cohnstaedt, Wilhelm 83 Curtius, Ludwig 12, 39, 59, 61, 71
Damaschke, Adolf 32, 44, 46 Dehler, Thomas 181 Deißmann, Adolf 150 Delbrück, Hans 38, 83, 84, 161 Delbrück, Max 161 Dernburg, Bernhard 143, 151 Diederichs, Eugen 79 Dohrn, Wolf 12, 83, 106 Dovifat, Emil 77, 176 Drews, Bill 161 Drews, Paul 78 Durkheim, Émile 13 Ebert, Friedrich 143, 144, 147, 155 Ehlers, Hermann 192 Eppler, Erhard 192 Erbe, Walter 191 Erkelenz, Anton 17, 131, 134, 149, 151, 152, 154, 155, 156, 165 Erzberger, Matthias 130, 137, 138, 143 Eyck, Erich 17, 40, 151 Falkenhayn, Erich von 112 Ferdinand, Franz 111 Fichte, Johann Gottlieb 78 Fischbeck, Otto 139, 141 Fischer, Johannes 85 Fischer-Lichte, Erika 16, 63, 68, 71, 72, 73, 74, 75, 88, 197, 198 Flach, Karl-Hermann 191 Frankfurter, Richard 152 Friedjung, Heinrich 112 Friedrich II., König von Preußen 114 Fuchs, Emil 27 George, Stefan 13, 32, 37, 64 Gerlach, Hellmut von 26, 46, 124, 151 Gessler, Otto 178 Giesberts, Johannes 143 Goebbels, Joseph 162, 168, 169 Göhre, Paul 46, 60, 159, 167 Goes, Eberhard 173 Goetz, Walter 11, 12, 17, 39, 56, 89, 90, 97, 102, 122, 139, 143, 149, 151, 157, 158, 162, 167, 171 Gothein, Georg 47
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Personenregister
Gregory, Caspar René 46 Gröber, Adolf 130 Groener, Wilhelm 142 Gumbrecht, Hans Ulrich 59, 74, 135 Gundolf, Friedrich 33 Haas, Ludwig 149 Hainisch, Michael 112 Halbwachs, Maurice 186 Hallgarten, Charles 38 Hannover, Friederike von 166 Hanssen, Peter 123 Harnack, Adolf 38, 90 Hausenstein, Wilhelm 11, 12, 19, 31, 49, 60, 63, 107, 109, 175 Haußmann, Conrad 17, 130, 133, 140, 141, 142, 143, 147, 149, 155 Heile, Wilhelm 17, 37, 91, 147, 149, 151, 160, 179, 180 Heimpel, Hermann 184 Hellpach, Willy 48, 151, 154, 163 Herrmann, Max 88 Herz, Johannes 97, 169 Hesse, Hermann 176 Heuss, Louis 178 Heuss-Knapp, Elly 34, 35, 38, 49, 65, 74, 86, 110, 151, 170, 171 Hindenburg, Paul von 138, 143 Hitler, Adolf 25, 144, 158, 159, 162, 163, 164, 169, 170, 172 Höpker-Aschoff, Hermann 134, 151 Hofmannsthal, Hugo von 104, 116, 178 Hohmann, Georg 12, 42, 43, 79, 83, 151, 175, 188 Hohmann, Heinrich 17 Honigsheim, Paul 63 Huch, Ricarda 34, 150 Humboldt, Alexander von 192 Jäckh, Ernst 84, 94, 106, 117, 161, 162, 171, 185, 188 Jaurès, Jean 179 Jünger, Ernst 176 Kant, Immanuel 126, 192 Katz, Eugen 78, 83, 188 Kayser, Conrad 25 Kessler, Harry Graf 132 Klemperer, Victor 71 Koch-Weser, Erich 133, 139, 141, 151, 152, 154, 162 Köster, Hans-Curt 95 Kreth, Hermann 128
Kretschmer, Ernst 62 Külz, Wilhelm 151 Kulemann, Wilhelm 24 Kupisch, Karl 160 Langewiesche, Karl Robert 79, 93 Lassalle, Ferdinand 23 Lattmann, Wilhelm 87 Ledebour, Georg 76 Legien, Carl 90 Leutert, Paul 78 Lichtwark, Alfred 108 Liebermann, Max 107, 108, 156, 185 Löbes, Paul 142 Ludendorff, Erich 113 Lüders, Marie-Elisabeth 190 Luhmann, Niklas 16 Luther, Martin 41 Mann, Golo 193 Mann, Thomas 176 Maurenbrecher, Max 12, 162 Marcks, Erich 108 Marx, Karl 23 Meinecke, Friedrich 43, 44, 161, 178, 185 Menzel, Adolph 101 Mercier, Philippe 143 Mergenthaler, Christian 158, 163 Mersch, Dieter 72, 73, 126 Meyer, Carl 114 Meyer-Benfey, Heinrich 27, 43, 97 Meyle, Paul 189 Mohn, Gerd 182 Mommsen, Theodor 47 Mommsen, Wilhelm 92, 126, 127, 165 Müller, Johannes 32 Muthesius, Hermann 105 Naumann, Friedrich Hugo 19 Naumann, Maria Agathe 19 Naumann, Margarete 22 Naumann, Johannes 125 Noske, Gustav 143 Nuschke, Otto 62, 150, 151, 152, 192 Oncken, Hermann 115 Paquet, Alfons 123 Payer, Friedrich von 56, 142, 143 Pernerstorfer, Engelbert 111 Petersen, Carl Wilhelm 17, 30, 68, 139, 152, 153, 154, 167 Pfannkuche, August 162, 163
Personenregister Philippovich, Eugen 112 Poelzig, Hans 106 Potthoff, Heinz 87 Preuß, Hugo 38, 132, 141, 143, 155 Princip, Gavrilo 111 Rathenau, Walther 102 Reifenberg, Benno 185 Rein, Wilhelm 17, 47 Riemerschmid, Richard 106 Riezler, Kurt 130 Riezler, Walter 105 Rijn, Rembrandt van 101 Ripke, Axel 91 Rösicke, Richard 47 Rohrbach, Paul 37, 94 Ruprecht, Wilhelm 79 Rosenberg, Alfred 162 Ruskin, John 31 Salin, Edgar 162 Schairer, Erich 99, 121 Schede, Franz 53, 73, 92 Schiffer, Eugen 148, 152, 161 Schiffer, Karl Matthias 129 Schiller, Friedrich 54, 176 Schinkel, Karl Friedrich 162 Scheidemann, Philipp 130, 137, 143, 148, 151 Schlaikjer, Erich 46 Schmalenbach, Hermann 67 Schmidt-Hellerau, Karl 106, 107, 134 Schmitt, Karl 162, 165 Schmoller, Gustav 50, 76, 83 Schnabel, Franz 69, 73, 160 Schneider, Johannes 53, 102 Schott, Georg 25 Schrader, Karl 47 Schubring, Paul 37, 58, 99, 103 Schulze-Gaevernitz, Gerhart von 151, 162 Schumacher, Fritz 56, 106 Schweizer, Albert 178 von Siemens, Georg 47 Simmel, Georg 149 Simons, Walter 161 Sohm, Rudolph 28, 29, 46, 52, 63 Somary, Felix 64, 83 Sombart, Werner 83, 84 Sonnenschein, Karl 162 Stein, Freiherr von 192 Stephan, Werner 108, 151, 168, 170, 184, 190, 193 Stoecker, Adolf 23, 24
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Stolper, Gustav 117, 151 Stolper, Toni 117 Storz, Christian 87 Stresemann, Gustav 48, 90, 116, 132, 133, 153, 162, 190 Suhr, Otto 179, 185 Theodor, Gertrud 181 Tirpitz, Alfred von 109 Tönnies, Ferdinand 43 Traub, Gottfried 17, 84, 104, 162, 163, 164, 167 Treitschke, Heinrich von 56 Troeltsch, Ernst 149, 162 Uebersberger, Hans 112 Uhsadel, Walter Franz 183 Velde, Henry van de 105 Vershofen, Wilhelm 149 Vietmeyer, Georg 91 Voelter, Hans 172 Voigt-Diederichs, Helene 38 Wagner, Adolph 44 Wagner, Otto 106 Wagner, Richard 32 Watzdorf-Bachoff, Erika von 71 Weber, Alfred 83, 185 Weber, Helene 55 Weber, Marianne 25, 33, 55, 64, 151 Weber, Max 13, 14, 27, 28, 29, 38, 55, 56, 57, 63, 64, 68, 73, 83, 89, 90, 98, 113, 115, 125, 126, 132, 141, 151, 156, 166, 186, 193, 195 Wehberg, Hans 120 Weinhausen, Friedrich 46, 152 Wenck, Martin 27, 36, 37, 46, 145, 151, 160 Wermuth, Adolf 142 Westarp, Kuno von 144 Wichern, Johann Hinrich 22 Wilhelm I., dt. Kaiser 20 Wilhelm II., dt. Kaiser 19, 69, 70, 71 Wolff, Theodor 140, 141, 143 Wunderlich, Rainer 182, 192 Zetkin, Clara 76 Ziegler, Theobald 99 Ziegler, Wilhelm 133
h i s t o r i s c h e m i t t e i lu ng e n
–
beihefte
Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e. V. herausgegeben von Jürgen Elvert. Wissenschaftlicher Beirat: Winfried Baumgart, Michael Kißener, Ulrich Lappenküper, Ursula Lehmkuhl, Bea Lundt, Christoph Marx, Jutta Nowosadtko, Johannes Paulmann, Wolfram Pyta, Wolfgang Schmale, Reinhard Zöllner.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0939–5385
83. Andreas Boldt Leopold von Ranke und Irland 2012. 28 S., kt. ISBN 978-3-515-10198-1 84. Luise Güth / Niels Hegewisch / Knut Langewand / Dirk Mellies / Hedwig Richter (Hg.) Wo bleibt die Aufklärung? Aufklärerische Diskurse in der Postmoderne. Festschrift für Thomas StammKuhlmann 2013. 372 S. mit 12 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10423-4 85. Ralph L. Dietl Equal Security Europe and the SALT Process, 1969–1976 2013. 251 S., kt. ISBN 978-3-515-10453-1 86. Matthias Stickler (Hg.) Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung Neue Forschungen zu Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration 2014. 204 S., kt. ISBN 978-3-515-10749-5 87. Philipp Menger Die Heilige Allianz Religion und Politik bei Alexander I. (1801–1825) 2014. 456 S., kt. ISBN 978-3-515-10811-9 88. Marc von Knorring Die Wilhelminische Zeit in der Diskussion Autobiographische Epochencharakterisierungen 1918–1939 und ihr zeitgenössischer Kontext 2014. 360 S., kt. ISBN 978-3-515-10960-4 89. Birgit Aschmann / Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.) 1813 im europäischen Kontext 2015. 302 S., kt. ISBN 978-3-515-11042-6
90. Michael Kißener Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus Studien zur Geschichte eines mittelständischen chemisch-pharmazeutischen Unternehmens 2015. 292 S. mit 16 Abb. und 13 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11008-2 91. Wolfgang Schmale (Hg.) Digital Humanities Praktiken der Digitalisierung, der Dissemination und der Selbstreflexivität 2015. 183 S. mit 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11142-3 92. Matthias Asche / Ulrich Niggemann (Hg.) Das leere Land Historische Narrative von Einwanderergesellschaften 2015. 287 S. mit 8 Abbildungen ISBN 978-3-515-11198-0 93. Ralph L. Dietl Beyond Parity Europe and the SALT Process in the Carter Era, 1977–1981 2016. 306 S., kt. ISBN 978-3-515-11242-0 94. Jürgen Elvert (Hg.) Geschichte jenseits der Universität Netzwerke und Organisationen in der frühen Bundesrepublik 2016. 276 S. mit 8 Abbildungen, kt. ISBN 978-3-515-11350-2 95. Jürgen Elvert / Lutz Feldt / Ingo Löppenberg / Jens Ruppenthal (Hg.) Das maritime Europa Werte – Wissen – Wirtschaft 2016. 322 S. mit 10 Abb. und 11 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09628-7 96. Bea Lundt / Christoph Marx(Hg.) Kwame Nkrumah 1909–1972 A Controversial African Visionary 2016. 208 S. mit 21 Abbildungen, kt. ISBN 978-3-515-11572-8
Der Politiker Friedrich Naumann übte auf seine Anhänger eine enorme Faszination aus – so sehr, dass selbst nach seinem Tod ein Kreis von „Naumannianern“ bestehen blieb. Frederick Bacher stellt in dieser zwischen Kultur- und Politikgeschichte angesiedelten Studie die Frage nach dem Grund für diese Faszination, die Naumann bei seinen Anhängern hervorrief. Denn sie berichteten nahezu übereinstimmend von der beeindruckenden Wirkung seiner Reden und Schriften und betrieben nach seinem Tod eine aktive Erinnerungspolitik. An vorderster Stelle stand dabei Theodor Heuss, der mit seiner Naumann-Biographie aus dem Jahre 1937 den Grundstein dafür legte, dass 1958 eine politische Stiftung gegründet werden konnte, die nach dem Namen seines Mentors und Ziehvaters benannt wurde. Heuss avancierte dadurch zum Erben Naumanns; nicht zuletzt, weil dem ersten Bundespräsidenten Deutschlands – wie Naumann selbst – ein Charisma der Rede attestiert werden kann. Mit Hilfe eines um kulturwissenschaftliche Ansätze erweiterten Charisma-Konzepts nach Max Weber gelingt Bacher mit dieser Arbeit ein neuer Blick auf das Phänomen Friedrich Naumann.
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ISBN 978-3-515-11672-5
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7835 1 5 1 167 25